Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co. 9783839455159

Putin and Trump are currently considered the most powerful men in the world. Both continuously resort to lies, deception

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German Pages 360 Year 2020

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.
 9783839455159

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Helmut König Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Helmut König

Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5515-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5515-9 EPUB-ISBN 978-3-7328-5515-5 https://doi.org/10.14361/9783839455159 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorbemerkung...................................................................... 7 Einleitung: Ein Übel, das anderen Übeln den Weg bereitet .......................... 9 I.  Lüge und Täuschung in der Politik .............................................. 21 Die Ausnahme und die Regel .................................................... 21 Streifzüge: Sie lügen doch alle .................................................. 31 Die Fähigkeit, nicht gut zu handeln ............................................. 43 Gesinnung, Verantwortung, Dämonie ........................................... 49 Der faule Fleck in der menschlichen Gattung ................................... 55 II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen ....................................... 63 Die Aufklärung, der Irrtum und die Lüge ........................................ 63 Bullshit, heiße Luft, Bluff ....................................................... 70 Postmoderne Lügen? .......................................................... 80 Verlogenheit, Heuchelei, wahre Lügen........................................... 90 Ideologie, Propaganda, Wahrlügen ............................................. 99 Lügen ohne Ideologie ......................................................... 108 In der darwinistischen Wildnis.................................................. 116 III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland ......................................... Schreckbilder: Freiheit und Wahrheit .......................................... Die Lüge als Weltordnung, die Ironie und die Skandale ......................... Ach wie gut, dass niemand weiß ............................................... Die Geheimdienste und die Politik ............................................. Täuschung, Lüge, Gewalt: Hybride Kriege ...................................... Putin und Russland ...........................................................

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IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika ......................................... 205 Tiefengeschichte: Trump der Lügner .......................................... 205 Lügner und Komplizen ........................................................ 222 »Dem Gegner an die Gurgel gehen«............................................ 239 Spalten und Herrschen ........................................................ 248 Outlaw und Unternehmer ..................................................... 258 Die Dreigroschenoper im Weißen Haus ........................................ 272 Despot, Diktator............................................................... 280 V.  Der gekränkte Stolz oder Wodurch Lüge und Täuschung begünstigt werden ............................................... 297 In Trumps Welt ............................................................... 297 Putins Kränkungen ........................................................... 309 Über den Umgang mit Enttäuschungen und Verlusten .......................... 320 Schluss: Der Stolz als Ressource politischen Handelns ........................... 333 Dank ............................................................................. 337 Abkürzungen ..................................................................... 339 Literatur ......................................................................... 341 Personenregister ................................................................ 353

Vorbemerkung

Im Februar 2020 war das Manuskript dieses Buches im Wesentlichen fertig. Überall auf der Welt ist es seitdem zu vielen neuen und aufwühlenden politischen Entwicklungen gekommen. Die Covid-19-Pandemie stellt auch die politischen Systeme der USA und Russlands vor ungeahnte Herausforderungen. Wie unter einem Vergrößerungsglas werden dabei die Eigenarten, die Stärken und Schwächen der Präsidenten und Regierungen, der gesellschaftlichen Einrichtungen und politischen Institutionen sichtbar. Ich verzichte darauf, die Analysen der politischen Bedeutung von Lüge und Täuschung, die ich in diesem Buch vorlege, mit weiteren Beispielen und Belegen aus der unmittelbaren Corona-Gegenwart fortzuführen. Bis in viele Einzelheiten hinein bestätigen die jüngsten Entwicklungen meine Beschreibungen und Diagnosen. Die zur politischen Gewohnheit gewordene Praxis von Lüge und Täuschung ist ein Übel, das vielen anderen Übeln den Weg bereitet. Die Realitäten zu verleugnen, ist niemals eine gute Voraussetzung für erfolgreiches und sinnvolles politisches Handeln.   Berlin, 15. Juni 2020                 Für russische und ukrainische Namen und Begriffe wird nicht die wissenschaftliche Transliteration, sondern die in der deutschen Presse und Publizistik übliche Umschrift benutzt.

Einleitung: Ein Übel, das anderen Übeln den Weg bereitet

Zu den irritierenden und auffälligsten Phänomenen des noch jungen 21. Jahrhunderts gehört die Tatsache, dass im öffentlichen Raum vor aller Augen und Ohren und ganz unverblümt eine Unmenge von Lügen verbreitet wird, und das nicht nur im Alltagsleben und von den gewöhnlichen Leuten der Gesellschaft, sondern von den obersten politischen Amtsinhabern der beiden immer noch mächtigsten Länder der Welt. Wladimir Putin ist seit August 1999 bis heute entweder als Präsident oder als Premierminister der maßgebliche Mann in Russland, und der von ihm praktizierte Regierungsstil wird von vielen Beobachtern mit der durchaus fragwürdigen Ehre eines eigenen Begriffs bezeichnet, als Putinismus. Donald Trump wurde am 8. November 2016 zum Präsidenten der USA gewählt und am 20. Januar 2017 in sein Amt eingeführt. So unterschiedlich diese beiden Männer und die Regierungen, denen sie vorstehen, in vielem sind, so ähneln sie einander doch zweifellos darin, dass sie es – um das mindeste zu sagen – mit der Wahrheit nicht sonderlich genau nehmen.1 Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen und Belegen. Im Falle Russlands unter Putin gelangte der Abschuss der malaysischen Boeing MH 17 am 17. Juli 2014 über der Ostukraine, bei dem alle 298 Insassen ums Leben kamen, zu trauriger Berühmtheit. Kurz nach dem Abschuss verbreiteten russische Medien phantastische Gerüchte, zum Beispiel dass bereits beim Start der Maschine nur Leichen an Bord gewesen seien oder dass ukrainische Abfangjäger das Flugzeug abgeschossen hätten oder dass Kiew das Flugzeug mit der Maschine des russischen Präsidenten Putin verwechselt habe. Alles spricht dafür, dass das Passagierflugzeug von einer aus Russland stammenden Buk-Rakete getroffen und die Rakete von prorussischen Separatisten in der Ostukraine 1

Siehe Laqueur, Putinismus, S. 88ff.

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abgefeuert wurde. Der Kreml verweigerte allen Bemühungen, den genauen Hergang der Katastrophe zu rekonstruieren und die Verantwortlichen namhaft zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen, die Unterstützung. Im Juli 2015 legte Russland sein Veto gegen ein UNO-Tribunal ein, das die Geschehnisse aufarbeiten sollte. Im Juni 2019 benannte die niederländische Staatsanwaltschaft vier Männer als Hauptverdächtige und erhob Anklage gegen sie. Die Anwaltschaft stützte sich auf die Ergebnisse eines Joint Investigation Teams, das von den Niederlanden, Belgien, der Ukraine, Malaysia und Australien gebildet worden war. Bei den Beschuldigten handelt es sich um drei Personen, die aus Russland stammen, um den Ex-Geheimdienstchef der Separatisten in der Ostukraine Sergei Dubinski sowie um die beiden Kommandanten der prorussischen Rebellen Igor Girkin und Oleg Pulatow. Der vierte Tatverdächtige ist der Ukrainer Leonid Chartschenko. Der wichtigste Angeklagte ist Igor Girkin mit dem Kampfnamen »Strelkow« (»der Schütze«), russischer Geheimdienstoberst und Ex-Militärchef der selbsternannten Volksrepublik Donezk, der heute wieder in seiner Heimatstadt Moskau lebt. Am 9. März 2020 begann in den Niederlanden der Prozess, – in Abwesenheit der Angeklagten. Auch angesichts der gut begründeten Ermittlungsergebnisse hatte Moskau jegliche Beteiligung und Verantwortung für den Abschuss von MH 17 abgestritten, jede Kooperation mit dem Ermittlerteam verweigert und hinlänglich klar gemacht, dass man keineswegs bereit ist, die verdächtigten russischen Staatsbürger festzunehmen und auszuliefern.2 Donald Trump, der andere herausragende Protagonist des gegenwärtigen Lügenzeitalters, hat nicht nur während des amerikanischen Wahlkampfs mit einer Fülle von Schmähungen, Beleidigungen und Drohungen gegen seine politischen Konkurrenten von sich reden gemacht, sondern auch reihenweise handfeste Lügen und Absurditäten verbreitet. Dass das nicht als Phänomen des Wahlkampfs abzutun war, sondern auch die Amtsausübung des neuen Präsidenten kennzeichnen sollte, wurde schon in den ersten drei Tagen der Amtsführung sichtbar. Trump behauptete steif und fest, dass seiner Inauguration die größte Menschenmenge aller Zeiten beigewohnt hatte und damit auch die Zahl der Zuschauer übertroffen wurde, die 2009 bei der Amtseinführung Obamas anwesend war. Alle verfügbaren Dokumente widerlegen diese

2

Zum Abschuss von MH 17 siehe Snyder, Unfreiheit, S. 188ff; Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 179, Atai, Wahrheit, S. 146ff, 158ff; zur Aufarbeitung des Falls und Moskaus Haltung dazu siehe SPON, 19.6.2019, SZ-Online, 19.6.2019, NZZ, 20.6.2019; zum Prozessbeginn siehe Tsp, 7.3.2020.

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Behauptung. Dennoch beharrte der neue Amtsinhaber darauf, dass er Recht hatte. Der neue Sprecher des Weißen Hauses Sean Spicer erwies sich bei der ersten Pressekonferenz, die er gab, als getreue Stimme seines Herrn und stellte am Tag nach der Amtseinführung apodiktisch fest: »Dies war das größte Publikum, das je bei einer Vereidigung dabei war. Punkt.« Nach kritischen Rückfragen fügte er später hinzu: »Es ist unsere Absicht, Sie niemals anzulügen.« Und er ergänzte: »Manchmal werden wir uns über die Fakten streiten.« Trumps Beraterin Kellyanne Conway setzte am Tag darauf in der NBCFernsehsendung Meet the Press die surrealen Darbietungen des neuen Weißen Hauses fort. Auf die Frage des Moderators Chuck Todd, warum Trump durch seinen Sprecher gleich am ersten Tag seiner Präsidentschaft »widerlegbar falsche« Anschuldigungen gemacht habe, antwortete sie: »Sie sagen, dass es eine falsche Behauptung ist, und Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat alternative Fakten dazu vorgelegt.« Der Moderator war hellwach und kommentierte trefflich: »Alternative Fakten sind keine Fakten. Es sind Unwahrheiten.« Der Streit um die Zahl der Besucher bei der Amtseinführung war der erste öffentlich ausgetragene Konflikt, der die Wahrheitstreue des Weißen Hauses zum Gegenstand hatte. Er steht am Beginn einer unendlichen Kette von nachweisbaren Lügen, die der neue Präsident unverdrossen und unbeeindruckt von aller Kritik und aller Empörung immer wieder und besonders gern per Twitter in die Öffentlichkeit bringt.3 Die Redaktion des Oxford English Dictionary wählte im November 2016 den Begriff post truth, unter dem die heute gängige Lügenpraxis oft zusammengefasst wird, zum word of the year, und die Gesellschaft für deutsche Sprache tat es dem englischen Vorbild gleich, indem sie analog postfaktisch zum Wort des Jahres kürte. Der Eintritt in die neue postfaktische Zeit wird vor allem mit dem Aufstieg des offenkundig notorischen Lügners Donald Trump in das Amt des US-Präsidenten in Verbindung gebracht. Der russische Präsident Wladimir Putin, der seit 20 Jahren maßgeblich die Geschicke seines Landes bestimmt, ist sicher aus anderem Holz geschnitzt. Der eine ist ein mit vielen fragwürdigen Methoden zu Reichtum gekommener Immobilienhändler, der das Leben wie die Politik als Deal betrachtet, der andere träumte schon als Jugendlicher davon, Tschekist zu werden und für den Geheimdienst seines Landes tätig zu sein. Der Traum ging in Erfüllung: Anderthalb Jahrzehnte lang, zwischen 1975 und 1990, arbeitete Putin für den sowjetischen KGB, im 3

Die Darstellung und die Zitate nach Keil/Kellerhoff, Fake News, S. 8; Comey, Amt, S. 315f.

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Juli 1998 wurde er Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, des Föderalen Sicherheitsdienstes, wie die Nachfolgeorganisation des KGB seit 1995 genannt wird. Die Arbeitsweise der Geheimdienste ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Sie beruht im Kern darauf, sich Vorteile und Informationen zu verschaffen, indem man täuscht, falsche Fährten legt, entlarvt, mit gezinkten Karten spielt, dafür sorgt, dass nichts so ist, wie es scheint, Fallen stellt und Finten anbringt, Verwirrung stiftet, die Mittel des Bluffens einsetzt und alle Welt in die Irre führt. Das Profil der Personen an der Spitze der USA und Russlands korrespondiert auf signifikante Weise mit den Prägungen dieser Länder durch ihre Geschichte und ihre Kultur. In vielerlei Hinsicht ist die Figur des Unternehmers das bestimmende gesellschaftliche Leitbild und vorbildgebende Muster in den USA, der Inbegriff des Amerikanischen Traums. In der Geschichte Russlands haben im Verborgenen agierende Geheimbünde und Gewaltakteure und die sie bekämpfenden staatlichen Geheimdienste immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Berühmt und berüchtigt ist zum Beispiel die »Dritte Abteilung« unter Leitung des Geheimpolizisten Benckendorff, die »erste moderne Geheimpolizei«, die Zar Nikolaus I. als Reaktion auf den DekabristenAufstand 1825 einrichtete und mit der Durchführung einer massiven Ausweitung polizeilicher Überwachung und Bespitzelung beauftragte. Eine der ersten neugegründeten Organisationen nach der Oktoberrevolution 1917 war die Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage (Tscheka), die unter ihrem Leiter Felix Dserschinski zu berüchtigtem Ruhm gelangte und zum Vorbild aller späteren sowjetischen Geheimdienste wurde. Das bedeutet natürlich nicht, dass es in beiden Ländern nicht auch ganz andere Kräfte und Entwicklungslinien gibt, die einen deutlichen Kontrast zu den gegenwärtig dominanten Strömungen und das Bild bestimmenden Phänomenen bilden.4 Die Logik des Unternehmers und die Logik des Geheimdienstes unterscheiden sich voneinander. Der Unternehmer, so wie Trump ihn versteht, boxt die Konkurrenten mit allen erlaubten und wenn nötig und möglich auch unerlaubten Mitteln aus dem Weg und sichert sich auf diese Weise seinen Erfolg, den er auch gerne öffentlich zur Schau stellt. Der Geheimdienstmann arbeitet dagegen im Verborgenen und mit unsichtbaren Netzwerken, er bedient sich der List, um den Gegner auszutricksen und hinters Licht zu führen, er 4

Zur »Dritten Abteilung« unter Benckendorff siehe Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 765ff; »erste moderne Geheimpolizei«: ebda., S. 750.

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setzt gezielte Nadelstiche, um ihn zu verunsichern und nervös zu machen, er möchte alles über seine Feinde, aber auch über die eigenen Freunde wissen und vor allem ihre Schwächen kennen, und er greift gerne zu den Mitteln des Coups, der Überraschung und Überrumpelung, um auf diese Weise vollendete Tatsachen zu schaffen. Lüge und Täuschung sind in der Logik des einen wie des anderen probate Mittel, mit denen man sich Vorteile verschaffen und die eigenen Ziele durchsetzen kann. Aber das Erscheinungsbild von Lüge und Täuschung und die Akzeptanz und Resonanz, die sie in der Gesellschaft finden, sind je nach Kontext und Handlungslogik deutlich voneinander unterschieden. Aus dem Weißen Haus unter Trump dringt ein nicht enden wollender Strom von Schmähungen und Lügen an die Öffentlichkeit, die Mauern des Kreml dagegen sind so dicht wie die Mauern von Jericho, und bislang haben keinerlei Trompeten es vermocht, sie zum Einsturz zu bringen und für mehr Transparenz zu sorgen. Im Vergleich mit Trumps Weißem Haus ist der Kreml ein Schweigekartell. Putin inszeniert sich als verschlossener und verschwiegener Staatsmann, der nur gelegentlich, wohl dosiert und kalkuliert, die neugierige Öffentlichkeit mit Informationen versorgt, aber gleichwohl und in großem Stil der oberste Feldherr eines weltweiten Informationskrieges ist, dessen wichtigste Mittel in Verwirrungsstiftung und Täuschung bestehen. Trump überträgt die Praktiken der Geschäftswelt in die Welt der Politik, Putin versteht staatliche Institutionen als die vergrößerte Ausgabe der Einrichtungen und Verfahren der Geheimdienste. Der Schaden, den beide in der Welt der Politik anrichten, ist immens. Trump legt die Axt an die Wurzeln einer alles in allem einigermaßen intakten politischen Öffentlichkeit, Putin sorgte seit Beginn seiner Präsidentschaft dafür, dass die Ansätze einer unabhängigen Öffentlichkeit, die sich seit der Perestroika und dem Untergang der Sowjetunion entwickelt hatten, zerstört wurden. Man kann den Schaden im Einzelnen und genauer aber nur bestimmen, wenn man über eine einigermaßen klare Vorstellung dessen verfügt, was Politik eigentlich ist und worin das Wesen politischen Handelns besteht. Deswegen muss ich, vor allem in den ersten beiden und im letzten Kapitel dieses Buches, eine Reihe prinzipieller Fragen ansprechen, und ich beziehe mich dabei immer wieder auch auf Positionen aus der großen Tradition der politischen Theorie und des politischen Denkens. Das Wesen von Lüge und Täuschung und ihre Rolle in der Politik zu bestimmen, ist nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, aber es ist durchaus möglich. Lügen und Täuschungen haben unterschiedliche Funktionen und Effekte. Sie können nicht nur zur Irreführung eingesetzt

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werden, sondern dienen zum Beispiel auch als Unterpfand von Komplizenschaft, wie das prototypisch in Gangs und in der Mafia beobachtet werden kann. Dann steht nicht mehr die Irreführung im Zentrum, sondern es geht darum, dass Komplizen bestimmte Lügen miteinander teilen und sich darüber bestätigen, dass sie Komplizen sind. Im vierten Kapitel, das der Lügenpraxis von Donald Trump gewidmet ist, behaupte ich, dass genau das beim amerikanischen Präsidenten der Fall ist. Bei Putin ist es anders. Wie ich im dritten Kapitel zeige, besteht der Effekt der Lüge in Russland vor allem in der Erzeugung von Ungewissheit, die jede Konstitution einer intakten politischen Öffentlichkeit unmöglich macht. Es geht mir in diesem Buch jedoch nicht in erster Linie um eine Systematik der Lüge und ihrer politischen Anwendungsformen, sondern darum, von den Phänomenen ausgehend die gegenwärtige Politik der Lügen in den USA und Russland zu beleuchten und zu verstehen. An den politischen Zuständen auf der Welt kann einem zu Beginn des 21. Jahrhunderts vieles auf die Nerven gehen. Aber die Aufkündigung der Wahrheit und ihre Ersetzung durch die Lüge ist deswegen ein so schlimmes Übel, weil es allen anderen Übeln den Weg bereitet. Tatsachen zeichnen sich dadurch aus, dass alle sie anerkennen müssen, egal ob sie politisch links oder rechts stehen, ob sie jung oder alt, männlich oder weiblich sind. Damit ziehen sie jeglichem Allmachts- und Größenwahn gegenüber eine unüberschreitbare Grenze und sind zugleich das bedeutsamste Fundament dafür, dass die Menschen in einer gemeinsamen Welt leben, diese Welt miteinander teilen und sich über diese Welt miteinander verständigen. Sie können zwar unendlich oft unterschiedlicher Meinung sein, aber sie sind doch unterschiedlicher Meinung immer nur innerhalb eines gemeinsamen Raums, eines gemeinsamen Rahmens, einer gemeinsamen Wirklichkeit. So können wir über die Qualität und Bedeutung der Amtsführung von Putin und Trump vollkommen unterschiedliche Auffassungen vertreten, aber dass die beiden gegenwärtig tatsächlich die Präsidenten ihrer Länder sind, ist sinnvollerweise nicht bestreitbar. Genauso wenig ist bestreitbar, dass es keine »grünen Männchen« waren, die seit Ende Februar 2014 die Krim besetzt haben, sondern Angehörige der russischen Armee sowie bewaffneter Verbände der Geheimdienste. Es ist auch nicht gut bestreitbar, dass Putin diesen Sachverhalt zunächst geleugnet, später damit aber selber geprahlt und sich als den Erfinder der Strategie zur Okkupation der Krim ausgegeben hat. Und es entspricht den Tatsachen, dass Trumps Vorgänger Barack Obama in den USA geboren wurde und nicht, wie Trump und die Birther-Bewegung es in demagogischer Absicht immer wieder behauptet haben, in Kenia.

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Beides, die Anerkennung von Tatsachen und die damit einhergehende Konstituierung einer gemeinsamen Welt wie die Unterschiedlichkeit der Meinungen und Perspektiven, ist für das politische Handeln von zentraler Bedeutung. Deswegen ist es alles andere als eine Marginalie, wenn die Missachtung der Wahrheit gegenwärtig weithin das politische Feld bestimmt. Das gilt ja nicht nur für Russland und die USA, sondern auch für andere Teile Europas und der übrigen Welt. Man kann den Eindruck haben, dass das Lügen so ansteckend ist wie eine unkontrollierbare Infektionskrankheit. In vielen Regionen der Welt werden gegenwärtig mit Schmähungen, Diffamierungen, Spaltungen und offenkundigen Lügen erfolgreich Wahlkämpfe bestritten, sei es in Ungarn, wo der amtierende Ministerpräsident Viktor Orbán die »illiberale Demokratie« zum Modell erklärt hat, sei es in Frankreich, Deutschland oder Italien, wo der rechte Populismus beachtliche Erfolge feiert, sei es in Polen oder in der Türkei. Ende Juli 2019 wurde in London mit Boris Johnson ein Mann zum Premierminister bestimmt, der immer wieder mit nachweisbar irreführenden Behauptungen aufgefallen ist und möglicherweise im September 2019 sogar die Königin angelogen hat, weil er unbedingt das Parlament in eine Zwangspause schicken wollte. Bei der britischen Unterhauswahl im Dezember 2019 errang die Conservative Party unter Johnson eine deutliche Mehrheit. Mit seiner Verachtung der Wahrheit steht der Prime Minister im Mutterland der Demokratie nicht allein. Der Ausschuss für Medienpolitik des britischen Unterhauses hat Ende Juli 2018 in einem ausführlichen Bericht gezeigt, in welchem Ausmaß in der gesamten Kampagne für den Brexit mit irreführenden Meldungen und Unwahrheiten operiert worden ist.5 Ich mache in diesem Buch den Versuch, das Lügen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu verstehen und in den Kontext einer Diagnose unserer Zeit zu stellen. Damit ist schon gesagt, dass es nicht genügt, die Hochkonjunktur der politischen Lüge auf dem fragwürdigen Charakter und der Rolle der Protagonisten Putin und Trump und ihrer Nacheiferer überall auf der Welt zu verbuchen. Sicher ist Trump ein unfreiwilliger Clown und Hochstapler, sicher ist Putin ein von Allmachtswünschen angetriebener Autokrat, – aber beide sind ja nur deswegen die Präsidenten ihrer Länder, weil sie sich auf viele Helfer, auf breite Unterstützung und auf die Zustimmung der Bevölkerung stützen können. Es muss also noch ein wenig mehr dahinter stecken als persönliche Schrullen, Dummheit und Unreife, Gerissenheit, Hang zum 5

Der Bericht ist online zugänglich unter https://publications.parliament.uk/pa/cm20 1719/cmselect/cmcumeds/363/36302.htm

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Entertainment und kühles Kalkül der jeweiligen Amtsinhaber. Es gibt für die gegenwärtige Lügenpraxis nicht die eine Ursache, die alles erklärt. Es gibt eine bestimmte Weltsicht, die ihr zugrunde liegt, und es gibt Umstände, die sie begünstigen, in den Augen der Lügner rechtfertigen und beim Publikum dafür sorgen, dass die Lügen geglaubt und sogar begrüßt werden. Die Weltsicht besteht in der grundlegenden Überzeugung, dass die Welt eine »darwinistische Wildnis« ist und niemals etwas anderes war oder sein wird als ein Kampfplatz, in dem jeder ums Überleben kämpft und dafür alle Mittel einsetzen muss, also auch Lüge und Täuschung. Diese Ansicht hat sich in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wie ein Flächenbrand überall auf der Welt ausgebreitet. Die begünstigenden Umstände bestehen in der gleichermaßen psychologischen wie politischen Erfahrung der Ohnmacht und des verletzten Stolzes, die eine gnadenlose Wut freigesetzt hat und jedes Mittel zur Heilung der erfahrenen Kränkung für legitim hält. Wer ohnmächtig ist und gedemütigt wird, der kämpft um seine Existenz und sein Leben und der nimmt für sich in Anspruch, auch zu den Mitteln von Lüge und Täuschung greifen zu dürfen. Sie sind die reine Notwehr. Beide Elemente, die darwinistische Wildnis wie der verletzte Stolz, sind für Putin und die Lage in Russland nicht weniger charakteristisch als für Trump und die Lage in den USA. Deswegen erscheinen hier wie dort Lüge und Täuschung als probate Mittel im Überlebenskampf und bei dem Versuch, den verletzten Stolz zu heilen, und zwar sowohl auf persönlicher wie auf staatlich-politischer Ebene.6 Für die Analyse liegt die besondere Herausforderung darin, dass Kränkungserfahrungen und verletzter Stolz in den Bereich der Wahrnehmungen gehören, die ganz und gar subjektiver Natur sind und sich von außen vielleicht als ganz harmlos und mehr oder weniger unbegründet ausnehmen. Ich reagiere darauf in meiner Darstellung mit fortlaufenden Perspektivwechseln und mache z.B. den Versuch, die »Tiefengeschichte«, die Trumps Lügenpraxis anleitet, zu erzählen und Putins Lebensgeschichte als Spiegel für das »postimperiale Syndrom« Russlands zu verstehen.   *****   Ich stelle sechs Behauptungen auf. Erstens spricht viel für die Annahme, dass Lüge und Täuschungen in der Politik immer schon eine wichtige Rolle 6

Den Ausdruck »darwinistische Wildnis« übernehme ich von Albright, Faschismus, S. 255.

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gespielt haben, vermutlich jedoch weniger häufig vorkamen als im gewöhnlichen Alltagsleben. Zweitens sind politische Lügen und Täuschungen niemals erfreulich, aber intakte politische Ordnungen kommen mit ihnen einigermaßen gut zurecht. Wenn die Lügen auffliegen, werden sie vom jeweiligen Publikum sehr unterschiedlich bewertet. Selbstsüchtige Lügen von Politikern, die nur der eigenen Karriere dienen oder das eigene Versagen vertuschen, werden normalerweise bestraft und sanktioniert. Lügen im Namen der Nation bzw. im Interesse des Staates werden dagegen, wenn sie erfolgreich sind, akzeptiert und bisweilen sogar für Geniestreiche gehalten. Drittens sind die Lügen, die gegenwärtig das Feld beherrschen, nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel, – mit desaströsen Folgen: Sie unterminieren jede einigermaßen vernünftige und tragfähige politische Ordnung und machen politische Verständigung und kohärentes Handeln unmöglich. Viertens sind die Kontexte und die Folgen der Lügenpraxis in Putins Russland andere als in Trumps Amerika. In Putins Russland sind die politischen Institutionen und Prozesse in sich selber Täuschungen und Irreführungen. Sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Die großen Medien, vor allem das Fernsehen, sind fest in der Hand des Kremls. Gesellschaftliche Organisationen werden drangsaliert, sobald sie sich in die öffentliche Meinungsbildung einschalten. Der lügenhafte Überbau, der sich über dieser Basis erhebt, folgt der Logik der Geheimdienste: Die Lügen bewirken eine fortwährende Verwirrung und Ungewissheit, so dass eine rationale öffentliche Selbstverständigung über die politische Lage und die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen gar nicht erst entstehen kann. In Trumps Amerika – fünftens – trifft die Praxis der inflationären Lüge dagegen auf ein nach wie vor einigermaßen intaktes Institutionengefüge von unabhängiger Justiz, parlamentarischer Kontrolle, zivilgesellschaftlichen Organisationen und vielen unabhängigen Medien, die es jedem erlauben, sich ohne großen Aufwand umfassend zu informieren. Die Lügen und Täuschungen von Trump treten nicht mehr mit dem Anspruch auf, die Wahrheit zu sein, sondern dienen der Spaltung der Gesellschaft und sind, wie in der Mafia, eine Art von Lackmustest auf komplizenhafte Treue und Ergebenheit. Sechstens entspringt die Lügenpraxis Putins und Trumps aber einer gemeinsamen Haltung und wird von ähnlichen Faktoren begünstigt. Die Haltung drückt sich in der Überzeugung aus, dass das Leben und die Politik ein Schlachtfeld sind, auf dem sich immer und überall nur die Starken durchsetzen. Begünstigt und befeuert wird die Lügenpraxis dadurch, dass ihre Protagonisten und Anhänger sich selbst und ihr Land in der Rolle der Gedemütigten und Gekränkten

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sehen. Der gekränkte Stolz ist die mächtige Triebkraft, die das Wasser auf die Mühlen der lügenhaften Praxis der Gegenwart lenkt. Das Buch besteht aus fünf Kapiteln. Ich beginne mit einigen mehr oder weniger intuitiven Eindrücken, historischen Erfahrungen und systematischen Gesichtspunkten über die Rolle von Lügen und Täuschungen in der Politik. Bislang war die Lüge in der Politik die Ausnahme und nicht die Regel. Das ist, wie vor allem Trump unter Beweis stellt, gegenwärtig nicht mehr der Fall. Historische Beispiele zeigen, dass bei der politischen Lüge, nicht anders als bei Lügen im Alltagsleben, manches verziehen und sogar bewundert wird, anderes dagegen nicht. Bei Machiavelli lässt sich lernen, dass politisches Handeln grundsätzlich etwas anderes ist als die Anwendung religiöser Lehren. Max Weber folgert daraus, dass es im politischen Handeln nicht auf die gute Gesinnung ankommt, sondern darauf, die Folgen des eigenen Tuns zu bedenken, die oft völlig andere sind, als man gewollt hat: Aus Gutem entsteht nicht nur Gutes und aus Bösem nicht nur Böses, sondern oft ist es gerade umgekehrt. Für Kant dagegen kann diese Erfahrung der Heteronomie der Ziele gegenüber den Absichten der Handelnden mitnichten ein Grund dafür sein, die Lüge für ein legitimes Mittel des Handelns zu halten. Gerade weil die äußeren Ergebnisse unseres Tuns dem Zufall unterliegen und nicht in unserer Macht stehen, ist die Einsicht umso wichtiger, dass die Menschen autonome Wesen, d.h. jederzeit in der Lage und verpflichtet sind, den moralischen Geboten zu folgen. Das zweite Kapitel grenzt Lüge und Täuschung von benachbarten Phänomenen ab. Die Lüge ist etwas anderes als der Irrtum, mit dem sie im Denken der Aufklärung oft verwechselt wird. Sie ist auch etwas anderes als Bullshit, bei dem ein Redner viel redet, ohne etwas zu sagen. Häufig wird die gegenwärtige Lügenpraxis mit der postmodernen Geisteshaltung und der damit angeblich verbundenen Relativierung der Wahrheit in Verbindung gebracht, – was aber bei näherem Hinsehen nicht überzeugend ist. Die Gewöhnung an die Praxis der Lüge kann sich in die Extremform der Verlogenheit steigern und sieht dann überall in der Welt nur noch Heuchelei. Die gegenwärtig den Ton angebende Lügenpraxis ist etwas anderes als lügenhafte Propaganda im Dienste einer Ideologie oder das totalitäre »Wahrlügen« (Arendt), bei dem die Lüge die Ankündigung einer Handlung ist. Der Satz, dass die Juden Ungeziefer seien, ist hier die Ankündigung, sie wie Ungeziefer zu behandeln und auszurotten. Hinter der gegenwärtigen Lügenpraxis von Putin und Trump steht keine Ideologie, sondern die Behauptung, dass jeder einzelne und jeder Staat einen Kampf um sein Überleben führt, sich auf nichts verlassen kann

Einleitung: Ein Übel, das anderen Übeln den Weg bereitet

und deswegen jederzeit zu den Mitteln der Lüge und der Täuschung greifen darf und greifen muss. Das dritte Kapitel behandelt die Lügenpraxis in Putins Russland. Putin hat Wahrheit und Freiheit zu seinen Hauptfeinden erklärt. Seit der Übernahme des Präsidentenamtes hat er die Unabhängigkeit der Medien drastisch eingeschränkt und allen Ansätzen autonomer zivilgesellschaftlicher Organisation und politischer Opposition einen Riegel vorgeschoben. Es ist aber in Russland kein Überwachungsstaat entstanden, der ausschließlich mit den Mitteln des Verbots und der Repression operiert, sondern ein Staat, der die »Lüge zur Weltordnung« macht und damit Ungewissheit, Fiktionen, Verwirrung verbreitet und Potjomkinsche Fassaden vor die Realität schiebt. Verwirrung und Ungewissheit zu stiften, Doppelbödigkeiten zu erzeugen, Desinformationen zu streuen, gehört zu den typischen Techniken, mit denen Geheimdienste operieren. Daran orientiert sich das vorherrschende Politikverständnis des Kremls, auch im Bereich der internationalen Beziehungen, wo Russland mit den weltweiten (Des-)Informationskriegen ein Schlachtfeld eröffnet hat, in dem die Gegner mit den Mitteln von Lüge und Täuschung handlungsunfähig gemacht werden sollen. In der Biographie und der Person Putins spiegelt sich auf überraschend genaue Weise eine Reihe von Zügen des gegenwärtigen russischen Staats- und Politikverständnisses. Ein zentrales Element darin ist das Verständnis von Loyalität. Sie war vermutlich ein wichtiger Grund dafür, dass die »Kremlfamilie« um den damaligen Präsidenten Boris Jelzin im Jahre 1999 überhaupt darauf verfiel, den weithin unbekannten Apparatschik Putin für den höchsten Posten im Kreml vorzusehen. Putin ist vor allem geprägt durch seine Herkunft aus dem Geheimdienst und den dort ausgeübten Praktiken der Beherrschung durch (Des-)Information und Gewalt. In der Biographie Putins wie in der Außenpolitik Russlands ist auffällig, in welchem Ausmaß die Bereitschaft zur Aggression, zur aggressiven Lüge, mit der Vorstellung verknüpft ist, an allen möglichen Ecken und Enden von fremden Mächten verfolgt zu werden, d.h. eine belagerte Festung zu sein. Im vierten Kapitel behandle ich die Lügenpraxis in Trumps Amerika. Um sie zu verstehen, erzähle ich die »Tiefengeschichte« des Lügens aus der Perspektive von Trump, in der die Lügen nicht mehr nur der Irreführung der Belogenen dienen, sondern als eine Art Lackmustest eingesetzt werden. An ihnen scheiden sich nach Trump die Geister: Wer seine Lügen teilt, gehört zum amerikanischen Volk, wer das nicht tut, gehört auf die Seite der Feinde des Volkes. Die bereitwillige Übernahme der Lügen ist vor allem darin begründet, dass der Präsident allen Gegnern einen rigorosen Kampf angesagt hat

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

und ihnen, in seinen eigenen Worten, »an die Gurgel« geht. Im Unterschied zu Russland, wo Lüge und Täuschung dafür sorgen, dass niemand etwas Genaues weiß und sich sicher fühlen kann, ist die Lügenpraxis bei Trump das bevorzugte Instrument zum Zweck der Spaltung der Gesellschaft, die nach dem alten Prinzip von divide et impera bestens dazu geeignet ist, eine große Anhängerschar und weite Teile der Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Die Begeisterung für den Präsidenten und die Treue zu ihm haben vor allem damit zu tun, dass er zum einen mit Lügen und Pöbeleien die Rolle des Rebellen und Outlaws spielt und zum andern mit der Selbst-Stilisierung als erfolgreicher Unternehmer den Nimbus nährt, dass er alles erreichen kann. Trump und seine Entourage verkörpern in der Kombination von und Unternehmer die Figuration, die Brecht mit der »Dreigroschenoper« auf die Bühne gebracht hat, – mit dem Unterschied freilich, dass die Verwischung der Grenze zwischen Geschäft und Gaunerei im Weißen Haus nicht versteckt wird, sondern voller Zynismus als politisches Erfolgsmodell gelebt und gefeiert wird. Der Wunschtraum Trumps ist zweifellos die völlig unbegrenzte Herrschaft, die sich weder durch freie Medien, noch durch eine unabhängige Justiz, noch durch eine parlamentarische Vertretung aufhalten lässt. Im fünften Kapitel frage ich nach den besonderen Bedingungen, die die gegenwärtige Lügenpraxis begünstigen. Es ist auffällig, dass Lüge und Täuschung immer wieder mit dem Hinweis auf Bedrohungs- und Notlagen legitimiert werden. Lügen sind gerechtfertigt, wenn sie auf erlittene Kränkungen antworten. Ich nehme diese Legitimation ernst und erörtere sie in systematischer Absicht unter der Frage nach dem gekränkten Stolz und seinem Verhältnis zur Lüge. Der Stolz erklärt Trumps Wahlerfolg, und er erklärt auch die Bedeutung der Verschwörungstheorien, die in Trumps Welt und in der Welt seiner Anhängerschaft eine große Rolle spielen. Analog ist es in Putins Russland, wo man den Untergang des sowjetischen Imperiums und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust auf die Aggression der USA oder eines diffusen Westens zurückführt, gegen die man sich jetzt mit allen Mitteln zur Wehr setzen muss. Das wirft die Frage nach dem politischen Umgang mit Enttäuschungen und Verlusten auf, die nach Niederlagen und dem Untergang von Imperien die entscheidende Schlüsselfrage ist, die beantwortet werden muss. Die Zuflucht zu (Selbst-)Täuschungen, Lügen und Fiktionen verspricht eine schnelle Heilung von Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen, führt aber unausweichlich in Sackgassen und Handlungsblockaden.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

Die Ausnahme und die Regel Seit Beginn der überlieferten Geschichte gibt es Lügen, Irreführung und Täuschung. Die Vorschrift im sechsten Gebot des Dekalogs besagt ja beides, dass es die Lüge gibt und dass es nicht gut ist, dass es sie gibt und man nicht lügen sollte, genauer, dass man kein falsches Zeugnis wider seinen Nächsten geben sollte. In Homers »Ilias« hätten die Griechen ohne Lüge und Täuschung niemals Troja besiegt, und in seiner »Odyssee« kann der Held nur deswegen überleben und seine glückliche Heimkehr sichern, indem er zu den Mitteln der List und der Übertölpelung greift, indem er den Cyklopen in die Irre führt, der die Differenz zwischen Lüge und Wahrheit nicht kennt, und indem er bei der Rückkehr in die Heimat die Wahrheit über sich auch dann noch verleugnet, als sein Hund und seine Amme ihn schon erkannt hatten. In den Ereignissen des Peloponnesischen Krieges, von denen Thukydides berichtet, spielen List, Täuschungen und Heimlichkeiten eine große Rolle. Ihre Wirksamkeit ist meistens abhängig von der Überzeugungskraft der Redner. Themistokles führt die Spartaner an der Nase herum, um sie im Ungewissen darüber zu lassen, dass die Athener längst dabei sind, ihre Heimatstadt mit einer Befestigungsmauer zu umgeben. Die Kerkyer hintergehen mit dem Einsatz von List und Lüge ein Abkommen der Athener mit der gegnerischen Bürgerkriegspartei, sperren sodann deren Männer in ein Gebäude und bringen einen nach dem andern um. Im Lager vor Syrakus binden die Athener den Bewohnern der Stadt über einen Mittelsmann das Märchen auf, dass sie die Nächte abseits ihrer Waffen verbringen und deswegen für einen Angriff eine leichte Beute sind. Brasidas, »er war, für einen Spartaner, kein ungeschickter Redner«, brandmarkt jeden Betrug als »Schande«, – was ihn aber nicht daran hindert, selber zur List zu greifen: »Solche Kriegslist trägt den schönsten Ruhm ein: je besser man den Feind täuscht, desto größer der Ge-

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

winn für die Freunde.« Thukydides sieht die Kriegslisten und den Einsatz von Lügen und Irreführungen durchaus kritisch, weil damit die Möglichkeit zur Herstellung egalitärer Beziehungen zwischen den Akteuren enorm erschwert wird. Er weiß, »dass keine Freundschaft unter Männern Bestand hat und keine Gemeinschaft zwischen Staaten, wenn sie nicht gegenseitig von ihrer Redlichkeit überzeugt und auch sonst gleichartig sind«.1 Und um einen gewaltigen Sprung von der Antike ins 20. Jahrhundert zu machen: Kurz nach dem Waffenstillstand am 11. November 1918, mit dem die Kämpfe des Ersten Weltkriegs endeten, verkündete das Preußische Kriegsministerium: »Unsere feldgrauen Helden kehren unbesiegt in die Heimat zurück.« Das war eine glatte Unwahrheit, aber die Ansicht wurde von der Obersten Heeresleitung und im Dezember 1918 sogar vom neuen sozialdemokratischen Regierungschef Friedrich Ebert wiederholt. Dass schließlich die Nazis in systematischer Absicht zum Mittel der Lüge griffen, um ihre Weltsicht zu verbreiten, verwundert uns nicht. Aber auch nach dem Ende der totalitären Herrschaftssysteme ging es mit der politischen Lüge weiter. Der Staatsratsvorsitzende der DDR Walter Ulbricht sagte auf einer internationalen Pressekonferenz am 11. Juni 1961: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen«, die dann aber acht Wochen später doch gebaut wurde. Offenbar gilt nicht nur, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, sondern zugleich, dass die Politik auch in dieser Hinsicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist, also ein schmutziges Geschäft, in dem viel mehr an dreckigem Verhalten erlaubt und geboten ist als im normalen Leben.2 Mithin scheint es tatsächlich so zu sein, wie das landläufige und weit verbreitete Klischee es will: Politische Lügen und Täuschung hat es immer gegeben, politische Akteure nutzen jede Gelegenheit, sich einen Vorteil zu verschaffen, und es gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen einer politischen Karriere, ohne Skrupel und mit Geschick täuschen, betrügen und lügen zu können. Insofern ist die gegenwärtige Lügen- und Täuschungspraxis nichts Neues, es war schon immer so und wird immer so sein. In einem Bereich, in dem sich alles darum dreht, Unterstützer der eigenen Positionen zu gewinnen, Gefolgschaften zu organisieren und die Positionen der politischen Konkurrenten zu schwächen, scheint das auch nicht wirklich verwunderlich

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Siehe Thukydides, Peloponnesischer Krieg, die Themistokles Episode: I 90f, der Betrug der Kerkyer: IV 46ff, im Lager vor Syrakus: VI 64ff, Brasidas: IV 84 und 86, das Lob der Kriegslist: V 9, der Kommentar von Thukydides: III 10. Zur Unwahrheit am Ende des Ersten Weltkriegs siehe Kershaw, Höllensturz, S. 173.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

zu sein. Und wenn man das politische Handeln als reines Nutzenkalkül versteht, ist es auch tatsächlich kaum möglich, vernünftige Gründe dafür zu finden, nicht zu den Mitteln von Irreführung und Lüge zu greifen, solange sie einem klare Vorteile im Konkurrenzkampf verschaffen. Der Eindruck, dass es schon immer so war und auch immer so bleiben wird, ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Nicht ganz richtig deswegen, weil eine solche Darstellung die Kontexte vernachlässigt, in denen Lüge und Täuschung jeweils stehen, weil sie das Erscheinungsbild, die Bedeutung und die Effekte von Lüge und Täuschung in den unterschiedlichen Epochen der Menschheitsgeschichte vernachlässigt und weil sie, nicht zuletzt, vernachlässigt, wie über politische Lüge und Täuschung nachgedacht, wie sie erklärt, gerechtfertigt, entschuldigt oder verurteilt wurden. Schon aus diesen Gründen ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass sich die Täuschungsund Lügenpraxis der Gegenwart nicht von früheren Epochen unterscheidet. Neu an Täuschung und Lüge der Gegenwart ist schon die pure Zahl, die Menge der Unwahrheiten, die etwa von Trump und seinen Gesinnungs- und Politikfreunden unter das Volk gebracht und als handfeste Irreführungen in immer länger werdende Register eingetragen werden. Während des Wahlkampfs um die Präsidentschaft, als alle maßgeblichen Umfragen die demokratische Kandidatin Hillary Clinton vorn sahen, trösteten sich die entsetzten Beobachter damit, dass Trump die Wahl ohnedies nicht gewinnen und sich damit das Problem von selbst erledigen würde. Auch im Lager der Republikaner rechnete noch am Tag der Wahl niemand mit einem Sieg, nicht einmal der Kandidat Trump, – so jedenfalls berichtet es der Journalist Michael Wolff in seinem Enthüllungsbuch »Feuer und Zorn«. Und nach der mit ungläubigem Erstaunen zur Kenntnis genommenen Tatsache, dass der 45. Präsident der USA ganz offenbar nun doch auf den Namen des ausgemachten Ignoranten und Lügners Donald Trump hörte, gab es nur noch die Hoffnung, das ehrwürdige Amt werde schon dafür sorgen, dass sein Inhaber Vernunft annimmt, – getreu dem Motto: Wem der Herr ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Das Lügen und Täuschen ging und geht unvermindert weiter. Nach den Auswertungen der Washington Post, die schon 2007 eine Abteilung mit Faktencheckern eingerichtet hat und penibel Buch über die Falschaussagen des US-Präsidenten führt, hat Donald Trump im ersten Jahr seiner Amtszeit 2.140 Falschaussagen in die Welt gesetzt. In den darauf folgenden sechs Monaten stieg die absolute Zahl auf 4.229, verdoppelte sich also beinahe. Wir kommen dann für diesen Zeitraum von 558

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Tagen im Durchschnitt auf 7,6 Falschaussagen pro Tag. In den Monaten Juni und Juli 2018 verbreitete Trump im Schnitt 16 Falschaussagen pro Tag. Am 20. Juni 2018, an einem einzigen Tag also, hat Trump 77 falsche Aussagen gemacht. Ende April 2019 stellten die Faktenchecker der Washington Post fest, dass der Präsident die Zehntausendermarke geknackt hatte. Zugleich notierte die Zeitung, dass die Frequenz der Falschaussagen des Präsidenten deutlich gestiegen war. Nach 601 Tagen im Amt war die Grenze von 5.000 erreicht, acht pro Tag. Nur 226 Tage später, am 26. April 2019, waren es bereits 10.000 Falschaussagen. In diesen gut sieben Monaten kamen pro Tag im Durchschnitt 26 falsche oder irreführende Behauptungen aus dem Mund oder der Feder des Präsidenten. Die Washington Post sprach von einem »Tsunami der Unwahrheit«. In einem einzigen Interview mit dem Fox News Moderator Sean Hannity stellte Trump 45 falsche Behauptungen auf. Bei einem Wahlkampfauftritt in Wisconsin am 27. April 2019 waren es 61. In den ersten drei Jahren seiner Amtszeit hat der amerikanische Präsident insgesamt 16.214 Lügen oder irreführende Aussagen gemacht, das sind im Schnitt 14,8 pro Tag.3 Einige Beispiele: Trump behauptete, die amerikanische Wirtschaft sei tief im Keller gewesen, als er das Amt des Präsidenten übernommen hatte, – tatsächlich aber war es so, dass er eine der besten Wirtschaftslagen vorfand, die einem neuen Präsidenten je von seinem Vorgänger hinterlassen wurde. Oder er unterstellte, dass die Demokraten mit Russland kooperiert hätten, wofür es keinerlei Belege gibt. Oder er behauptete, dass die USA 90 Prozent der Nato-Kosten zu tragen haben, was nicht der Wahrheit entspricht. Oder er behauptete, dass die britische Queen ihn bei seinem England-Besuch habe warten lassen, – in Wirklichkeit war es umgekehrt. Oder er klagte, dass die Kriminalität in nordamerikanischen Innenstädten ein Rekordniveau erreicht habe, – aber nach der Statistik des FBI befand sich die Kriminalität auf dem niedrigsten Stand seit fast 25 Jahren. Oder er behauptete, im August 2016, dass Barack Obama der Gründer des Islamischen Staates sei.4 Die Washington Post bewertet zweifelhafte Aussagen von Politikern auf einer Skala mit eins bis vier Pinocchios, jener Buchfigur also, deren Nase beim Lügen länger wird. Je mehr Pinocchios vergeben werden, desto unwahrer ist die Behauptung. Für besonders klare Falschbehauptungen gibt es drei oder

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Die Angaben nach SZ, 2.7.2018, WP, 27.4.2019, 20.1.2020. Die Aussagen zur Wirtschaftslage nach SZ, 2.7.2018; die Aussagen zu den Demokraten und Russland und zur Queen nach SPON, 7.8.2019; die Aussagen zur Kriminalität und zu Obama nach Brinkbäumer, Nachruf, S. 133.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

vier Pinocchios. Im Dezember 2018 ergänzte die Zeitung ihre Bewertungsskala mit einer weiteren Kategorie: dem »bottomless Pinocchio«. Dieser »bodenlose Pinocchio« ist jenen Lügnern vorbehalten, die ihre mit drei oder vier Pinocchios ausgezeichneten Falschaussagen mindestens zwanzigmal wiederholten. Bis April 2019 erhielt Trump den bodenlosen Pinocchio bereits einundzwanzig mal. Zum Beispiel für die Aussage, dass die USA bereits mit dem Bau der Grenzmauer begonnen hätten, die Trump im Wahlkampf versprochen hatte. Er sagte das erstmals am 29. März 2018 und wiederholte dann diese Aussage bis Mitte Dezember 2018 insgesamt 86mal, obwohl sie falsch ist. Einen anderen »bottomless Pinocchio« verlieh die Zeitung dem Präsidenten für seine Behauptung, dass die Demokraten im Wahlkampf 2016 mit Russland zusammengearbeitet hätten, um den Wahlausgang zu beeinflussen. Obwohl es für diese Aussage keinerlei Grundlage gibt, hat Trump sie bis Dezember 2018 48mal wiederholt.5 Die Aufstellungen der Zeitungen machen unzweideutig klar, dass die Lügen und Irreführungen von Trump keine Ausnahmen oder Ausrutscher, sondern die Regel sind. Wann immer der Präsident redet, in Interviews, auf Pressekonferenzen, bei Wahlkampfauftritten, wann immer er sich schriftlich zu Wort meldet, vornehmlich per Twitter, – die Wahrscheinlichkeit, dass seine Aussagen nicht stimmen, ist sehr groß. Manche Lügen und Falschaussagen werden unentwegt und gebetsmühlenartig wiederholt, manche Unwahrheiten werden im Nachhinein von Trump selber indirekt eingeräumt. So erklärte er im Sommer 2018, dass es 2016 bei einem Treffen seines Wahlkampfteams mit Vertretern aus Russland tatsächlich um Hillary Clinton gegangen ist, – was er bis dahin immer bestritten hatte. Manchmal werden die Lügen und Falschaussagen von gestern aber nicht dadurch eingeräumt, dass Trump heute die Wahrheit sagt, sondern dadurch, dass eine neue Falschaussage an die Stelle der Falschaussage von gestern tritt. Dann wird klar, dass Trump sein Geschwätz von gestern heute sowieso nicht mehr interessiert, und er beschuldigt die Medien, Fake News zu verbreiten, obwohl sie lediglich das, was er früher gesagt hatte, festgehalten und publiziert haben. So bezeichnete der Präsident bei seinem offiziellen Staatsbesuch in Großbritannien die Herzogin Meghan in einem Interview als »fies« und beschuldigte kurz darauf die Presse, die davon berichtet hatte, Fake News zu verbreiten, – obwohl es einen Mitschnitt des Interviews gibt, der die berichtete Aussage bestätigte. 6 5 6

Siehe Zeit-Online, 29.4.2019, WP, 29.4.2019, SZ, 10.12.2018, WP, 15.12.2018. Das Beispiel nach SPON, 3.6.2019.

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Die Unterscheidung zwischen Ausnahme und Regel ist für die Frage der Bewertung von Täuschung und Lüge von grundsätzlicher Bedeutung. Die weithin geteilte Bestimmung der Lüge besagt, dass der Lügner seine Adressaten täuscht und sich und manchmal auch seinen Adressaten damit einen Vorteil verschaffen will. Die Lüge ist an die beiden miteinander verbundenen Voraussetzungen gebunden, dass sie nicht auffliegt und dass sie die Ausnahme bleibt. Der Nutzen, den der Lügner aus der Lüge zieht, hängt davon ab, dass niemand merkt, dass er die Unwahrheit sagt, sondern die Lüge für die Wahrheit hält, und das ist nur der Fall, solange die Unterstellung gültig ist, dass er normalerweise nicht lügt. Die erfolgreiche Lüge ist davon abhängig, dass sich alle, auch der Lügner, an die Regel halten, die Wahrheit zu sagen, und der Lügner mit seiner Lüge für sich die Ausnahme macht. In dieser Hinsicht verhält es sich mit der Lüge wie mit allen anderen Regel- und Gesetzesüberschreitungen. Immer ist es so, dass Lügner und Gesetzesbrecher für sich eine Ausnahme von einer allgemeinen Regel beanspruchen und sich dadurch einen persönlichen Vorteil sichern. Immanuel Kant hat diese Beobachtung zur Basis seiner weit reichenden und bis heute maßgeblichen Rechts- und Moralphilosophie gemacht. Danach stellen Lügner und Gesetzesbrecher die allgemeine Gültigkeit der Wahrheit und des Gesetzes nicht grundsätzlich in Frage, sondern sind gerade umgekehrt von ihr abhängig. Ein Lügner und Gesetzesbrecher profitiert davon, dass die anderen sich an Wahrheit, Gesetze und Gebote halten, während er sie für sich außer Kraft setzt. Der Vorteil, den er mit der Regelüberschreitung erzielt, ist daran gebunden, dass die anderen die Regel einhalten. Am Beispiel des Diebstahls kann man diesen Gedanken leicht nachvollziehen. Wie selbstverständlich betrachtet jeder Dieb seine Beute als etwas, das jetzt ihm gehört, mithin als sein Eigentum, das er nicht wieder herausgeben möchte. Mit dieser Haltung bestätigt er die Gültigkeit der Eigentumsregel, die er im Akt des Diebstahls ignoriert hatte. Er nimmt also nur für den Akt und Augenblick des Diebstahls für sich die Ausnahme von dieser Regel in Anspruch, deren Gültigkeit er aber sonst gar nicht bezweifelt sehen will. Kant leitet aus dieser Beobachtung die Begründung für regelkonformes und moralisches Handeln ab. Wenn mein Handeln bzw. genauer: die Maxime meines Handelns nicht als allgemein gültiges Gesetz bestehen kann, ist es verwerflich. Die Aufgabe liegt mithin darin, die Maxime des Handelns einem Verallgemeinerungstest zu unterziehen. Ist die Maxime verallgemeinerbar, kann sie als unbedenklich gelten, wenn sie das nicht ist, ist sie verwerflich. Wenn ich dennoch die Regel breche, das Gesetz überschreite, das Gebot igno-

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

riere, die Wahrheit beuge, begebe ich mich unweigerlich in einen Selbstwiderspruch mit mir als vernünftigem Wesen. Dass das den Menschen oft passiert, liegt nach Kant daran, dass sie nicht nur vernünftige, sondern zugleich auch Naturwesen, begehrende und bedürftige Wesen sind. Aber bei Lichte, d.h. mit dem Vermögen der Vernunft und des Denkens betrachtet, können sie das, was sie bei Regelverletzungen tun, nicht wirklich wollen. Dieser Gedankengang gilt nach Kant auch für die Lüge. Jede Lüge erkennt implizit den Vorrang ihres Gegenteils, also der Wahrheit, an. Nur wenn die Adressaten die Lüge des Lügners für die Wahrheit halten, ist die Lüge erfolgreich, nur solange der allgemeine Grundsatz gilt, dass man nicht lügt, kann die Lüge ihren Zweck erreichen. Dieser Sachverhalt ist dem Lügner durchaus, jedenfalls implizit, klar und präsent. Es gehört zur Definition der Lüge unabdingbar dazu, dass der Lügner die Wahrheit kennt, aber wider besseres Wissen und weil er sich davon einen Vorteil verspricht, oder im Fall der pädagogischen und Höflichkeits-Lügen dem anderen einen Vorteil zu gewähren glaubt, die Wahrheit beugt und etwas behauptet, was nicht stimmt. Die Lüge lebt davon, dass die Wahrheit gilt und dass die Belogenen die Lüge für die Wahrheit halten. Deswegen gerät jeder Lügner, indem er lügt, unweigerlich in einen Selbstwiderspruch, in ein absurdum morale. Er macht für sich die Ausnahme »von einer Regel, die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme fähig ist, weil sie sich in dieser geradezu selbst widerspricht«. Damit legt der Lügner ein Verhalten an den Tag, das mit der Selbstachtung, die wir als Menschen immer schon für uns in Anspruch nehmen, unvereinbar ist. Er »macht sich in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung, und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person«, er begeht »eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muss«.7 Der Vorteil, den der Lügner aus der Lüge zieht, hängt daran, dass die anderen nicht lügen. Wenn alle lügen würden, gäbe es den Gewinn nicht mehr und das Resultat wäre vollkommene Verwirrung, Unsicherheit und Desorientierung. Damit wäre auch das Kalkulieren mit Kosten-/Nutzenrechnungen obsolet, das seinerseits auf den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge angewiesen ist. Wenn jeder lügt und jeder weiß, dass jeder lügt, kann niemand mehr den Vorteil aus der Lüge realisieren, den man mit ihr bezweckte. Der

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Die »Ausnahme« in: Kant, Vermeintes Recht, S. 642; die »Verachtung« und die »Nichtswürdigkeit« in: Kant, Metaphysik der Sitten, S. 562f.

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Vorrang der Wahrheit wird auch in jenem berühmten Lügner-Paradox festgehalten, dessen erste Formulierung dem auf Kreta geborenen vorsokratischen Philosophen Epimenides zugeschrieben wird. Das Paradox lautet, frei formuliert: »Alle Kreter sind Lügner, sagte der Kreter Epimenides.« Die starke Lesart des Satzes unterstellt, dass Epimenides meinte, die kretischen Lügner würden niemals die Wahrheit sagen, sondern immer lügen. Dann aber haben wir das Problem, dass offenbar doch immerhin ein Kreter, nämlich Epimenides selbst, der diese Aussage macht, nicht lügt, sondern die Wahrheit sagt. Daraus folgt, dass nicht alle Kreter lügen, – womit die Aussage des Epimenides, nach der alle Kreter lügen, nicht richtig sein kann. Unter der Voraussetzung, dass gemeint ist, die Kreter lügen immer und nicht nur gelegentlich, haben wir es hier tatsächlich mit einem Paradox zu tun. Als paradox verstehen wir eine Mitteilung, »die nicht mittels einer dóxa, einer ›Erscheinung‹ gemacht wird, sondern die parà tin dóxan, d.h. im Gegensatz zu dem, was die Erscheinung als solche zu sagen scheint, verstanden sein will, um überhaupt verstanden zu werden«. Für Kant wäre der Satz des Epimenides weniger ein Paradox als vielmehr ein Selbstwiderspruch, der den Vorrang der Wahrheit bestätigt. Es gibt immer einen (oder mehrere) Kreter, die nicht lügen, jedenfalls nicht immer. Wir wissen nicht, ob Epimenides zu denen gehört, die grundsätzlich nicht lügen. Aber in dieser Sentenz, die nach ihm benannt ist, handelt es sich ganz offenbar um eine Unwahrheit. Vielleicht müssen wir aber vorsichtiger und genauer sein und sagen, dass Epimenides nicht lügt, sondern sich irrt. Der Irrtum ist zwar, wie die Lüge, das Gegenteil der Wahrheit, aber der Irrtum beruht nicht auf der Lüge, sondern darauf, dass jemand etwas nicht weiß oder über einen Sachverhalt nicht lange und intensiv genug nachgedacht hat. Dann lügt er nicht, sondern er irrt sich und weiß es nicht besser. Zu sagen, dass Epimenides lügt, ist deswegen voreilig, weil wir gar nicht wissen, an wen er sich mit seinem Satz gerichtet hat, ob er jemanden hinters Licht führen und betrügen wollte, oder ob er es selber gar nicht besser wusste, als er seinen legendären Satz formulierte. Zum Tatbestand der Lüge gehört jedenfalls immer, dass man die Wahrheit kennt, aber nicht sagt, was man weiß, sondern etwas anderes als wahr behauptet und damit lügt.8

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Das Zitat zum Paradox aus Barth, Dogmatik, S. 172; in seiner allgemeinsten Form lautet das Paradox des Lügens: Ein Mann sagt, dass er lügt. Ist das, was er sagt, wahr oder unwahr? Falls es wahr ist, ist es unwahr, und falls es unwahr ist, ist es wahr. Siehe O’Shaughnessy, Lügner, S. 61.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

Von Kant und Epimenides zurück zu Trump. Es wäre nicht weiter irritierend, wenn der amerikanische Präsident gelegentlich zur Lüge seine Zuflucht nähme. Irritierend ist etwas anderes. Zum einen, dass bei ihm die Lüge zur Normalität und Gewohnheit geworden ist, und zum zweiten und damit zusammenhängend, dass ihn der Nachweis, dass er die Unwahrheit gesagt hat, vollkommen unberührt lässt. Eben dies ist es, was die Washington Post dazu veranlasst hat, den »bottomless Pinocchio« einzuführen. Die meisten Politiker, sagt Glenn Kessler, der Fact-Checking-Verantwortliche der Washington Post, sind peinlich berührt, wenn ihre Aussagen mit vier Pinocchios versehen werden, und sie wiederholen eine einmal nachgewiesene falsche Behauptung dann nicht mehr. Bei Präsident Trump ist das anders. »Er macht mit einer Falschaussage auch dann weiter, wenn die Fakten längst klargestellt wurden.« Trumps Ziel sei offensichtlich, »bewusst falsche Informationen in den öffentlichen Diskurs einzubringen« und eine eigene »Wahrheit« zu konstruieren. Rudy Giuliani, der wichtigste Rechtsberater und ein enger Vertrauter des Präsidenten, darf die zweifelhafte Ehre für sich in Anspruch nehmen, in ganz und gar apologetischer Absicht das Motto der neuen Lügen- und Täuschungspraxis formuliert zu haben, als er in einer Fernsehsendung im August 2018 sagte: »Wahrheit ist nicht Wahrheit.«9 Es stellt sich damit die Frage, ob wir es überhaupt im strengen Sinn bei Trump mit Lügen zu tun haben. Die Washington Post arbeitet in ihrem Faktenchecker nicht mit dem Begriff der Lüge, sondern spricht von Falschaussagen. Der Toronto Star macht es genauso. Der Grund dafür ist, dass Trump offenbar in vielen Fällen in dem Moment, in dem er spricht und die Unwahrheit sagt, tatsächlich an das glaubt, was er sagt, ihm also der Unterschied zwischen der Lüge, die er äußert, und der Wahrheit gar nicht bewusst ist. Er weiß es nicht besser und deswegen ist das, was er sagt, auch keine Lüge, sondern eine subjektive Wahrheit, von deren Richtigkeit er vollkommen überzeugt ist. Zur Lüge im strengen Sinn gehört, dass der Lügner weiß, dass er lügt und die Unwahrheit sagt. Nur jemand, der die Wahrheit kennt, aber wissentlich etwas anderes als wahr ausgibt, erfüllt den Tatbestand der Lüge. Es ist bei Trump ausgesprochen zweifelhaft, ob das der Fall ist. Auf der ersten Pressekonferenz des neuen Weißen Hauses sagte der neue Sprecher Sean Spicer zu den anwesenden Journalisten: »Es ist unsere Absicht, Sie niemals anzulügen.« Auf

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Die Zitate von Kessler stammen aus dem Interview mit der SZ, 19.12.2018; der Satz von Giuliani nach SZ, 21.8.2018.

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

die Frage eines Reporters, ob er dieses Versprechen gehalten habe, antwortete Trump Anfang November 2018: »Wenn ich kann, sage ich die Wahrheit.« Das lässt immerhin darauf schließen, dass ihm die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge nicht vollkommen unbekannt ist. Genau können wir das nicht wissen, weil wir nicht in seinen Kopf hineinsehen können. Entscheidend ist aber, dass die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge für Trumps Verhalten und für seine Sätze keinerlei sichtbare Konsequenzen zeitigt. Deswegen ist es wohl eher so, dass er von seinen jeweils geäußerten Versionen der Wahrheit vollkommen überzeugt ist und sich für die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge überhaupt nicht interessiert. Sie erscheint ihm schlicht als irrelevant, sie ist ihm gleichgültig und er kümmert sich nicht um sie. Eben darin besteht der Unterschied zu jenen anderen Personen, denen in ihren öffentlichen Äußerungen nachgewiesen wird, dass sie die Unwahrheit gesagt haben. Während diese von ihren Falschbehauptungen normalerweise lassen, wenn sie ihnen nachgewiesen werden, zeigt sich Trump davon völlig unberührt. Es interessiert und irritiert ihn einfach nicht, wenn andere ihm nachweisen, dass er die Unwahrheit gesagt hat. Mit anderen Worten: Ob Trump im strengen Sinn ein Lügner ist, können wir nicht genau wissen. Aber dass er die Unwahrheit sagt, ist offenkundig und unbestreitbar.10 Die Frage nach der Lüge ist im Blick auf die Persönlichkeit von Trump natürlich von großer Bedeutung. Eine Reihe renommierter amerikanischer Psychologen und Psychiater hat sich mit Stellungnahmen zu Wort gemeldet und dem Präsidenten unter anderem Züge einer »antisozialen Persönlichkeit« attestiert. Nach dem »Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders«, das das für die USA maßgebliche Klassifikationssystem bei der Feststellung psychischer Erkrankungen enthält, gehören zu einer antisozialen Persönlichkeitsstörung u.a. folgende Merkmale: eine Form von Falschheit, die sich in wiederholten Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert, ferner fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierungen niederschlägt, wenn man andere Menschen gekränkt oder gedemütigt hat, ferner Impulsivität und Unfähigkeit, vorausschauend zu planen, ferner auffällige Reizbarkeit und Aggressivität. Es spricht tatsächlich eine Menge dafür, dass diese Merkmale auf Trump zutreffen, obwohl die Fachärzte ihre Diagnosen natürlich eigentlich erst nach eingehender persönlicher Untersuchung ihrer Patienten und nicht per Ferndiagnose treffen dürfen. Aber diese Frage ist nicht das, was mich 10

»Wenn ich kann, sage ich die Wahrheit«: siehe SPON, 3.11.2018.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

hier interessiert. Ich erörtere nicht die Charakterstruktur des Präsidenten, sondern die Frage der Bedeutung von Lüge und Täuschung in der Politik, vor allem für die politische Öffentlichkeit und das politische Handeln.11

Streifzüge: Sie lügen doch alle Ein landläufiges und beliebtes Urteil lautet: Sie lügen doch alle, – und der Satz zielt auf diejenigen, die Politik als Beruf betreiben. Das Urteil unterstreicht nur die allgemeine Behauptung, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist. Wenn überhaupt, müsste es aber dann heißen: Wir lügen doch alle. Psychologen und Soziologen stellen immer wieder fest, dass wir unentwegt lügen (müssen), und das nicht unbedingt, weil wir uns dadurch einen Vorteil verschaffen wollen, sondern auch aus Gründen »ritueller Sorgfalt«, weil wir andernfalls gar nicht in der Lage wären, fortlaufend miteinander zu kommunizieren und miteinander auszukommen. Wenn es so ist, dass wir alle im Alltagsleben täglich täuschen und lügen, mit welchem Recht erwarten wir dann, dass im politischen Bereich nicht gelogen wird? Oder lautet die Behauptung, dass gerade im politischen Bereich besonders viel gelogen wird und gelogen werden muss, um in diesem schmutzigen Geschäft zu überleben? Und ist das einer der Gründe für die besondere Geringschätzung einerseits und die besondere Faszination, die vom sprichwörtlich schmutzigen Geschäft der Politik ausgeht? – Ich zähle einige spektakuläre Lügen- und Täuschungsmanöver aus der Geschichte auf, um mehr Klarheit über die Bedeutung von Täuschung und Lüge in der Politik zu bekommen.12 Spektakuläre Täuschungs- und Lügenmanöver hat es auch in der jüngeren Geschichte der USA immer wieder gegeben. Die »Pentagon Papers«, die die New York Times von Juni 1971 an in einer Artikelserie publizierte, offenbarten nicht nur folgenschwere Fehler und Versäumnisse der verantwortlichen Politiker im Weißen Haus, sondern auch, in welchem Ausmaß vier US11

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Die Beiträge von Psychologen und Psychiatern sind gesammelt zugänglich in dem von Lee herausgegebenen Band »Wie gefährlich ist Donald Trump?«; zur antisozialen Persönlichkeit aus der Sicht der Psychoanalyse siehe Kernberg, Wut; zur Frage, ob pathologische Lügner therapierbar sind, siehe O’Shaughnessy, Lügner. Soziologen über die Lüge: siehe Heft 5/2019 der Zeitschrift Mittelweg 36, Schwerpunkt Lug und Trug; zur »rituellen Sorgfalt« siehe Lenz, Unvermeidlichkeit, S. 34; eine umfassende Untersuchung der Lüge in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft (Alltag, Berufsleben, Wissenschaft, Politik, Medizin, Erziehung etc.) bietet Bok, Lügen.

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Präsidenten im Zeitraum zwischen 1950 und 1968 die Öffentlichkeit über die Hintergründe, Entscheidungsprozesse und das Ausmaß des Vietnam-Krieges in die Irre geführt und getäuscht hatten. Präsident Richard Nixon, dessen Spitzname Tricky Dicky schon redend genug ist, versuchte, sich über den Watergate-Skandal hinwegzulügen. Bill Clinton, Präsident von 1993 bis 2001, log unter Eid über seine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky. Sein Nachfolger George W. Bush täuschte 2002 die amerikanische Öffentlichkeit und die Vereinten Nationen über den Irak-Krieg, als er behauptete, dass das Regime Saddam Husseins die Welt mit seinen chemischen und bakteriologischen Waffen bedrohe. Eine Koalition der Willigen, vor allem England, stand dabei an der Seite des US-Präsidenten. Bush begann den Angriff der USA auf den Irak am 19. März 2003 mit der Begründung: »Das Volk der Vereinigten Staaten und unsere Freunde und Verbündeten wollen nicht einem Unrechtsregime ausgeliefert leben, das den Frieden mit Waffen für Massenmord bedroht.« Und am 29. Mai 2003 erklärte der Präsident in einem Interview: »Wir haben die Massenvernichtungswaffen gefunden. Wir haben biologische Laboratorien gefunden … Und wir werden im Lauf der Zeit noch mehr Waffen finden.« Diese Behauptungen stimmten nicht und wurden von Anfang an als taktisches Argument dafür genutzt, einen schon länger geplanten Krieg gegen den Irak zu beginnen. Wie die Opposition im amerikanischen Repräsentantenhaus in einer Untersuchung im Jahre 2004 herausfand, machte der Präsident zusammen mit seinen vier wichtigsten Mitarbeitern Cheney, Rumsfeld, Powell und Rice bei 125 öffentlichen Auftritten 237 irreführende Aussagen über die irakischen Massenvernichtungswaffen. Unter der Bush-Regierung spielte vor allem der mächtige Vize-Präsident Richard ›Dick‹ Cheney die Rolle des Kriegstreibers. Er hatte bereits kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erklärt, dass bei der Frage, ob der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt, selbst eine verschwindend kleine Wahrscheinlichkeit von nur einem Prozent genüge, um das Land anzugreifen. Die Rolle des Schurken stand offenbar von vornherein fest, so dass es in den Augen der Regierung dann nur noch darauf ankam, die Öffentlichkeit, auch mit Hilfe von Täuschungen, dazu zu bringen, den Krieg zu unterstützen. Die englische Regierung unter Tony Blair, die treu an der Seite des Weißen Hauses stand, war über die Absichten des amerikanischen Präsidenten und seinen manipulativen Umgang mit der Wahrheit durchaus im Bilde. Das geht aus dem Downing Street Memo hervor, das die Sunday Times am 1. Mai 2005 veröffentlichte. Es handelt sich dabei um das Protokoll eines Treffens vom 23. Juli 2002, bei dem der Direktor des briti-

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schen Geheimdienstes MI6 (Military Intelligence Section 6) Richard Dearlove über den Inhalt seiner Gespräche mit amerikanischen Regierungsvertretern berichtete und ausführte, dass die US-Regierung den Krieg gegen Saddam Hussein für unvermeidlich hielt und Erkenntnisse und Fakten im Sinne dieser Absicht verwendet werden sollten, – was nichts anderes als die Absicht bekundet, Tatsachen für politische Zwecke zurechtzubiegen.13 Für diese Beispiele gilt, dass die Lügen, nachdem sie einmal aufgedeckt waren, nicht weiter aufrechterhalten werden konnten. Welche unmittelbaren Konsequenzen und indirekten Folgen mit der Aufdeckung jeweils verbunden waren, ist aber noch einmal eine andere Frage. Der Vietnam-Krieg, die Watergate-Affäre und der dritte Golfkrieg gehören bis heute zu den tiefsten Wunden im amerikanischen Selbstbild. Die Publikation der geheimen, vom amerikanischen Verteidigungsminister McNamara selbst in Auftrag gegebenen Pentagon-Papiere, an der 36 Autoren aus den Reihen der Regierung seit Mitte 1967 anderthalb Jahre lang gearbeitet hatten und die mehr als 7000 Seiten umfasste, löste in den USA und darüber hinaus ein mittleres Erdbeben aus. Nixon konnte sich, als seine Lügen aufflogen, nicht mehr im Amt halten und trat 1974 zurück. Clinton wurde im Jahre 1999 fast seines Amtes enthoben. Zunächst leugnete er die Affäre mit der Praktikantin, und erst als die Beweise erdrückend wurden, gab er sie zu. Der Senat sprach ihn aber im förmlichen Amtsenthebungsverfahren (Impeachment) frei, weil er zwar einen Meineid geschworen und damit eine Straftat begangen hatte, aber die US-Verfassung nennt Landesverrat, Bestechung oder andere »schwere Verbrechen und Vergehen« als Grundlage für ein Impeachment, und ein Meineid über eine außereheliche Affäre fällt nicht unter diese Tatbestände. Das Impeachment ahndet außergewöhnlichen Machtmissbrauch und nicht Lügen über Seitensprünge, so dass Clinton bis zum regulären Ende seiner Präsidentschaft im Jahre 2001 im Amt bleiben konnte. Colin Powell, der 2002 als 13

Eine Darstellung der Lügen amerikanischer Präsidenten von Roosevelt bis George W. Bush gibt Alterman, Presidents Lie; zu den Pentagon-Papers siehe Arendt, Lüge; zu den Täuschungen und Lügen im Vorfeld des Irak-Kriegs siehe Mearsheimer, Lüge, S. 9f, 63ff, Stöver, Geschichte, S. 629ff; die Bush-Zitate nach Reinhard, Lügengesellschaft, S. 12; zu den irreführenden Aussagen von Bush, Cheney, Rumsfeld, Powell und Rice siehe die Dokumentation »Iraq on the Record«, im Internet zugänglich unter http://democrats. reform.house.gov/IraqOnTheRecord/pdf_admin_iraq_on_the_record_rep.pdf;zur Rolle von Cheney in der Bush-Regierung siehe Stöver, Geschichte, S. 616; das Downing Street Memo ist einsehbar im Internet unter www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article387374.ece.

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Außenminister vor der UNO die ungesicherten Erkenntnisse über den Irak als verlässliche Wahrheiten ausgegeben hatte, kritisierte später öffentlich das Verhalten seines Präsidenten Bush und entschuldigte sich dafür, dass er die Öffentlichkeit in die Irre geführt hatte. Eine zweite Amtszeit war ihm auch aus diesen Gründen dann nicht mehr beschieden. Viele Medien hatten die Behauptungen der Bush-Regierung ohne ernsthafte Prüfung übernommen und verbreitet. Die New York Times hat sich dafür später öffentlich entschuldigt. Die Bush-Regierung bekam trotz ihres riskanten Spiels mit der Wahrheit in der amerikanischen Öffentlichkeit ausreichend Unterstützung für den Krieg gegen den Irak. Das lag aber eher daran, dass nach den verheerenden Anschlägen von 9/11 der Wunsch sehr groß war, die Macht und die Handlungsfähigkeit des eigenen Landes unter Beweis zu stellen. Im übrigen hatte der Vater von George W. Bush mehr als ein Jahrzehnt zuvor, damals in der Rolle des Vize-Präsidenten, eine Art Blaupause für den laxen Umgang mit der Wahrheit und den Tatsachen geliefert. Er erklärte nach dem Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs durch ein US-amerikanisches Kriegsschiff, bei dem alle 290 Insassen und die Besatzung am 3. Juli 1988 ums Leben kamen: »Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten entschuldigen. Die Fakten sind mir egal.«14 Schon diese wenigen Beispiele aus der Geschichte der USA zeigen: Wer für den eigenen Machterhalt und zum Zweck der Vertuschung eigenen Fehlverhaltens zu den Mitteln von Täuschung und Lüge greift, wer damit nur das Sinken seines Sterns aufhalten will, der darf im Allgemeinen nicht auf Nachsicht rechnen. Anders verhält es sich in den Fällen, in denen Amtsinhaber für den höheren Zweck der Durchsetzung wichtiger Interessen ihres Staates die Wahrheit beugen. Das erstere ist bei Nixon und Clinton der Fall, das zweite bei George W. Bush oder beim Vietnamkrieg. Als weitere Komponente für die Beurteilung politischer Täuschungsmanöver kommt hinzu, ob das Ziel, das mit der Täuschung erreicht werden sollte, auch tatsächlich erreicht wurde. Wenn das der Fall ist, werden die Mittel im Allgemeinen unter der Rubrik besonderer politischer Klugheit verbucht. Der Vietnamkrieg passt nicht unter diese Rubrik, – die USA scheiterten kläglich, und es erwies sich, dass die gesamte Geschichte dieses Krieges aus lauter Lügen und Täuschungen bestand,

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Siehe Pentagon-Papiere; zu Powell siehe Stöver, Geschichte, S. 630, Sygar, Endspiel, S. 54; zur Entschuldigung der NYT siehe Neiman, Widerstand, S. 11; die Erklärung von George H.W. Bush nach Seeßlen, Trump, S. 132.

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die eigentlich keine Kriegslist waren, sondern die eigene Bevölkerung manipulierten. Aus dem Irakkrieg gingen die USA als Sieger hervor, aber die hoch gesteckten Ziele, eine prosperierende Zone von Sicherheit und Wohlstand im Nahen Osten zu etablieren, wurden vollkommen verfehlt, ja man kann mit größerem Recht behaupten, dass der Krieg den fundamentalistischen Terrorbewegungen zum Auftrieb verholfen hat. Ein weiterer systematischer Gesichtspunkt betrifft die Frage nach dem Adressatenkreis von Lügen und Täuschungen. Wenn feindliche oder rivalisierende Staaten getäuscht werden, zählt das meistens zu den normalen, unvermeidlichen und akzeptierten Mitteln der Außenpolitik. Wer dagegen in erster Linie die eigene Bevölkerung täuscht, darf weitaus weniger darauf hoffen, dass das für legitim erachtet wird. Das Problem ist dann freilich häufig, dass sich zwischen den Adressaten im Inneren und im Äußeren keine klaren Grenzen ziehen lassen. In den Zeiten des Krieges und zu Zwecken der Kriegsführung ist das sicherlich leichter als in Friedenszeiten. Die Täuschungsmanöver der Bush-Regierung im Vorfeld des Irakkriegs sind auch deswegen so heftig kritisiert worden, weil sie sich an die eigene Bevölkerung und die befreundeten westlichen Länder richteten, – mithin waren sie keine Kriegslist, sondern sollten die eigene Öffentlichkeit für das Vorhaben einnehmen und von der Unvermeidlichkeit des beabsichtigten Krieges überzeugen. Im unmittelbaren Nachfeld der französischen Revolution lieferte Napoleon eine Menge Material für die These, dass gerade die »Großen der Weltgeschichte« mit der Wahrheit höchst manipulativ umzugehen wussten. Zu ihren Erfolgsgeheimnissen scheint geradezu die Fähigkeit zu gehören, mit Täuschungen und Lügen zu operieren, die Bevölkerung mit allerlei Verdrehungen der Wahrheit zu ihren Gunsten zu beeinflussen und die Gegner in die Irre zu führen. Napoleon war darin ein Meister, und das Bild, das er von sich zeichnete und dem viele seiner Zeitgenossen und Nachfahren aufsaßen, war, wie sein jüngster Biograph urteilt, ein »Meisterwerk der Verlogenheit«. So gelang das alles in allem klägliche Schauspiel des Staatsstreichs vom 18. Brumaire, bei dem Napoleon keine gute Figur machte, überhaupt nur deswegen, weil der Hauptakteur mit einer handfesten Lüge aufwartete, mit der er die Soldaten dazu brachte, sich auf seine Seite zu schlagen: Er behauptete, dass die Volksvertreter ihn mit Dolchen angegriffen und versucht hätten, ihn zu ermorden. Seine gesamte militärische und politische Laufbahn über operierte Napoleon damit, die Verluste der Gegner zu übertreiben und die eigenen Siege zu überhöhen. Die Bulletins über seine militärischen Erfolge waren derart überzogen, dass sie irgendwann auch in Paris niemanden mehr

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überzeugten und »lügen wie ein Bulletin« zu einer stehenden Redewendung wurde. Beim Feldzug gegen Russland wurden ihm sein Wunschdenken, seine Großzügigkeit im Umgang mit Zahlen und Tatsachen und sein mangelnder Realitätssinn schließlich zum Verhängnis. Allzulange hatte seine »Fähigkeit, Fakten und Menschen zu manipulieren«, ihm dazu verholfen, die Grenzen seiner Macht zu übersehen.15 Auch in der deutschen Geschichte gibt es spektakuläre Beispiele für die Praxis der politischen Lüge und Täuschung. Eines der berühmtesten ist die Publikation der »Emser Depesche«, die Bismarck durch eine radikale Kürzung so entstellte, »dass der demütigende Charakter des französischen Ansinnens überdeutlich hervortrat«. Bismarck erreichte mit dieser Manipulation und anderen Winkelzügen, was er beabsichtigt hatte: Einen Aufschrei der nationalen Empörung in Frankreich, das vor aller Augen gedemütigt dastand und Preußen am 19. Juli 1870 den Krieg erklärte. Bismarck hielt den Krieg mit Frankreich für unvermeidlich, es war ihm aber alles daran gelegen, den Eindruck zu erzeugen, »dass Preußen durch die Nötigung zum Verteidigungskrieg glaubwürdig überrascht werde«. Preußen erschien als Opfer einer Intrige, der Krieg erschien als Defensivkrieg, die süddeutschen Staaten erkannten den Bündnisfall an und sprangen Preußen zur Seite. Der Krieg wurde zum innenpolitischen Integrationskrieg, zum ersten nationalen Krieg der Deutschen, zum Gründungskrieg des kleindeutschen Nationalstaats. Generationen von Schülern in Deutschland wurde dieses gezielte Täuschungsmanöver als bewundernswerter »Coup« dargestellt, in dem Bismarcks politisches Genie zum Ausdruck kam. Die kultische Verehrung und Huldigung des Staatskanzlers gehört zu den Konstanten im deutschen Geschichtsdenken und ist keineswegs nur von den Historikern der nationalpreußischen Schule, also von Sybel, Droysen und Treitschke, wortreich genährt worden. Einwände und Vorbehalte, die dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg lauter wurden, bezogen sich im Wesentlichen auf Bismarcks Innenpolitik, die schon von einigen seiner Zeitgenossen als eine Art von Diktatur, als Kanzlerdiktatur, bezeichnet worden war.16

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»Meisterwerk der Verlogenheit«: Zamoyski, Napoleon, S. 146, der 18. Brumaire: ebda., S. 285, »lügen wie ein Bulletin«: ebda., S. 507, Wunschdenken und Manipulation: ebda., S. 708. Der »demütigende Charakter« der Depesche: Winkler, Weg, S. 202; glaubwürdige Überraschung: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 317; zur Bewertung Bismarcks durch Zeitgenossen und Historiker siehe Wehler, ebda., S. 319ff, 355ff; Emser Depesche

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Das Beispiel zeigt zwei der angesprochenen Punkte sehr deutlich: Erstens macht der Erfolg, hier der siegreich beendete Krieg und die Gründung des deutschen Reiches, die Täuschung zum Geniestreich, und zweitens war der Adressat bzw. das Opfer der Täuschung nicht die eigene Bevölkerung, sondern Frankreich, das seit langem nicht nur als rivalisierende europäische Großmacht, sondern als Großfeind Deutschlands galt. In der Innenpolitik, in der Bismarck sich auch nicht als zimperlich erwies, wurden die Täuschungsmanöver nicht nur von den Gegnern attackiert, sondern auch von den eigenen Gefolgsleuten nicht so einfach verziehen und akzeptiert. Die »außenpolitische Meisterschaft« Bismarcks dagegen genoss internationale Anerkennung.17 Um den Streifzug durch die Geschichte fortzusetzen: Die Zeit der Sowjetunion, besonders unter Stalin, ist nicht nur eine Geschichte gewalttätiger Repression und Entrechtung, sondern auch eine Geschichte andauernder Indoktrination, Täuschung und Lüge. Dazu gehört als besonders bekanntes Beispiel die Verleugnung des Hitler-Stalin- bzw. Molotow-Ribbentrop-Pakts mit dem geheimen Zusatzprotokoll zur Aufteilung Europas in Interessensphären vom August 1939. Die UdSSR hat die Existenz dieses Protokolls ein halbes Jahrhundert lang geleugnet und die Lüge erst 1989 unter dem Eindruck der Proteste in den baltischen Sowjetrepubliken offengelegt und sich davon distanziert, – ohne damit, wie sie gehofft hatte, die Unabhängigkeitswünsche in Litauen, Lettland und Estland besänftigen zu können. Aber das Abkommen und die Verleugnung des Zusatzprotokolls gehört in die Abteilung der Lüge unter totaler Herrschaft, – und die folgt, worauf ich in einem späteren Abschnitt noch eigens eingehe, ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Für die russische Gegenwartspolitik ist immerhin aufschlussreich, dass unter den Vorzeichen der neuen Großmachtpolitik das Abkommen mitsamt dem Zusatzprotokoll bis hinein in die obersten Regierungskreise nicht mehr als Skandal, sondern als verständlicher und sogar geschickter Schachzug zur Durchsetzung der sowjetischen Interessen gilt. Machen wir schließlich noch einen kurzen Sprung in die Geschichte der Bundesrepublik. Einer der wirklich wichtigen Punkte, an dem die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt wurden, war die Spiegel-Affäre aus dem Jahre 1962. Sie war deswegen so wichtig, weil hier der Grundsatz zur Geltung

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als »Coup«: Winkler, Weg, S. 203; auch für Mearsheimer ist die Depesche das Musterbeispiel einer gelungenen Täuschung: siehe Lüge, S. 123. »Außenpolitische Meisterschaft«: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 3, S. 373.

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kam, dass Freiheit und Unabhängigkeit der Presse ein überaus hohes Gut sind und dass man unliebsame Journalisten und Presseorgane nicht willkürlich und in der Manier eines Polizeistaats verfolgen darf. Aus der Affäre wurde eine veritable Regierungskrise, in deren Verlauf der Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß zurücktreten musste. Strauß hatte das Parlament belogen, als er behauptete, dass er mit der Verhaftung des Spiegel-Redakteurs Conrad Ahlers in Spanien nichts zu tun habe. De facto war sie, und das auch noch in einem eindeutig rechtswidrigen Akt, auf seine Anordnung hin zustande gekommen. Die Täuschung im Parlament sorgte dafür, dass Strauß auch über den Rücktritt hinaus seine Chancen auf die Nachfolge des Bundeskanzlers Adenauer verspielte. Berühmt geworden und über das tragische Ende eines seiner Protagonisten hinaus in Erinnerung geblieben ist hierzulande ferner die BarschelAffäre aus dem Jahre 1987. Der Medienreferent Reiner Pfeiffer, den der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel für den Wahlkampf eingestellt hatte, unternahm eine Reihe hoch fragwürdiger und rechtswidriger Machenschaften, die sich vor allem gegen den Spitzenkandidaten der SPD Björn Engholm richteten. Eine Woche vor der Landtagswahl erschien darüber ein kritischer Artikel im Spiegel, und bei der Wahl verlor die CDU die absolute Mehrheit. Pfeiffer beschuldigte Barschel, ihm den Auftrag für sein kriminelles Vorgehen erteilt zu haben. Auf einer legendären Pressekonferenz gab Barschel sein »Ehrenwort«, dass alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen haltlos seien. Schon eine Woche später aber kündigte er seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten an. Kurz darauf wurde Barschel tot in einem Hotel in Genf aufgefunden. Vieles spricht für einen Suizid, aber das ist nach wie vor umstritten, und es gibt immer wieder auch die Behauptung, dass Barschel einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sei. Zwei Untersuchungsausschüsse kamen zu dem Ergebnis, dass eine Mitwisserschaft Barschels an den Machenschaften Pfeiffers feststehe oder mindestens wahrscheinlich sei bzw. dass Pfeiffer auf jeden Fall mit Billigung Barschels gehandelt habe. Bei der Neuwahl in Schleswig-Holstein im Mai 1988 wurde die SPD stärkste Partei und stellte mit Engholm den Ministerpräsidenten. Fünf Jahre später aber kam heraus, dass Engholm schon früher über die Machenschaften von Pfeiffer bzw. Barschel gegen ihn im Bilde gewesen war, als er bis dahin behauptet hatte. Damit war klar, dass auch Engholm zum Mittel der Täuschung gegriffen und den Untersuchungsausschuss des Kieler Landtags 1988 belogen hatte. Daraufhin trat er im Mai 1993 vom Amt des Ministerpräsidenten zurück und gab auch seinen Posten als SPD-Parteivorsitzender auf, womit sich zugleich

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seine mögliche Kanzlerkandidatur für die Bundestagswahl 1994 erledigt hatte. Im Fall der Barschel-Affäre liegt offen zutage, dass zu unlauteren und rechtswidrigen Mitteln gegriffen worden war, um eine drohende Wahlniederlage der eigenen Partei zu verhindern. Franz-Josef Strauß versuchte das Vorgehen gegen den Spiegel mit dem Vorwurf zu rechtfertigen, dass das Magazin Landesverrat begangen habe. Im Verlauf der Affäre wurde deutlich, dass Strauß den Spiegel, der ihm immer schon ein Dorn im Auge war, mundtot machen wollte, und die Lüge gegenüber dem Parlament war dann nur noch der Versuch, die eigene Haut zu retten. Jedenfalls waren hier höhere Interessen des Staates beim besten Willen nicht mehr zu erkennen. Anders liegt, um ein letztes Beispiel zu nehmen, ein Fall aus dem Jahre 2011. Der Vorsitzende der Eurogruppe Jean-Claude Juncker dementierte im Mai 2011 die Meldung, dass ein Krisentreffen der europäischen Finanzminister über den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone berate. Das Dementi war eine klare Lüge. Juncker wollte damit Verwerfungen an den Finanzmärkten verhindern, die als Reaktion auf die Beratungen zu befürchten gewesen wären. Nachdem die Situation überstanden war, vertuschte Juncker seine Lüge nicht, sondern gab gegenüber Journalisten offen Auskunft über seine Beweggründe. Die Lüge blieb ohne negative Konsequenzen.18 Genug der Beispiele, die leicht um unendlich viele weitere ergänzt werden könnten. Die Beispiele bestätigen zum ersten, dass es ganz und gar nicht im Sinne der Lügner war, dass ihre Lügen ins helle Licht der Öffentlichkeit gezogen wurden und sie mit ihren Lügen und Täuschungen aufflogen (mit der Ausnahme der Lüge von Juncker). Das ist eigentlich eine Binsenweisheit, aber in Zeiten von Donald Trump muss es wiederholt werden, weil sich der amerikanische Präsident durch den Nachweis, dass er Lügen und irreführenden Aussagen verbreitet, ganz und gar nicht davon abhalten lässt, mit dieser Praxis fortzufahren. Die zweite Lehre ist: Wer sich mit seinen Lügen einen persönlichen Vorteil auf Kosten anderer verschaffen will, dem wird das normalerweise nicht verziehen. Lügen, die nur dem eigenen Fortkommen dienen und mit dem Hinweis auf die Zwecke des Gemeinwohls oder höherrangigen nationalen Interessen nicht überzeugend begründet, sondern nur mühsam kaschiert werden, können kaum auf Nachsicht rechnen. Wer dagegen, das ist die dritte Lehre, die Mittel von Lüge und Täuschung nicht für den eigenen Vorteil einsetzt, sondern im Dienste der höheren Interessen des Staates, der 18

Zur Lüge Junckers siehe Dietz, Kunst, S. 156.

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kann nicht nur auf Verständnis rechnen, sondern, jedenfalls dann, wenn er erfolgreich ist, auf Anerkennung, Bewunderung und Ruhm. Das gilt vor allem in den Fällen, in denen die Belange des eigenen Landes gegen andere Staaten durchgesetzt werden und Lüge und Täuschung erkennbar dem Ziel dienen, die äußeren Gegner zu irritieren und zu besiegen, und damit im Grunde eine Kriegslist sind. Deswegen zählen Bismarck und Napoleon bis heute zu den großen Staatsmännern der Geschichte. Generell gilt Außenpolitik als ein Feld voller Widersprüche, in dem am Ende immer Scheinheiligkeiten und Gewalt den Ausschlag geben. Im Namen des Staates wird die Lüge für gut befunden, wenn sie erfolgreich ist. Für sie wird dann eben so viel Verständnis und Lob gezeigt wie für diejenigen Lügen im Alltagsleben, die nicht egoistischen Zwecken dienen, sondern von denen behauptet wird, dass sie im Interesse des Belogenen liegen, etwa wenn ein Arzt dem tödlich erkrankten Patienten die Wahrheit verschweigt. Genauer betrachtet ist es allerdings schwierig, die damit angedeuteten Trennlinien exakt zu ziehen und die Verbreitung einer Täuschung so einzugrenzen, dass gezielt die (potentiellen) Gegner getäuscht werden, nicht aber die eigenen Leute. Es ist ja nicht so, dass nur die Gegner oder Feinde zuhören, während alle anderen weghören. Mit der Manipulation der »Emser Depesche« täuschte Bismarck nicht nur Frankreich, sondern auch die deutschen Länder und sogar den eigenen Kaiser Wilhelm I., dem Bismarck unterstellt war. Der Kaiser hatte sich, im Unterschied zu seinem Kanzler, der andere Pläne verfolgte, längst bereit gezeigt, den französischen Forderungen auf Verzicht der Thronkandidatur eines Vertreters aus dem Hause Hohenzollern in Spanien nachzugeben. Immer wieder ist es so, dass Lügen und Täuschungen eine grundsätzlich unkontrollierbare Dynamik in Gang setzen und einen Flächenbrand des Misstrauens auslösen, verstärken und weiter anheizen können. Jede Lüge ist dazu angetan, weiteren Lügen den Boden zu bereiten, und jeder Lügner kann seine eigenen Lügen gut mit dem Hinweis auf die Lügen der anderen rechtfertigen. Dieser Praxis bedient sich auch der US-Präsident Donald Trump. Als die CIA darüber berichtete, dass russische Hacker in die US-Wahlen 2016 eingriffen, um der Gegenkandidatin Clinton zu schaden und Trump zum Sieg zu verhelfen, tat dieser den Bericht höhnisch ab: »Das sind dieselben Leute, die sagten, Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen.« Was generell für politisches Handeln gilt, ist im Fall von Lügen und Täuschungen besonders augenfällig: Ihre Folgen und Wirkungen können niemals wirklich kontrolliert werden. Und in vielen Fällen ist auf die Dauer der

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Schaden, den sie anrichten, auch für diejenigen, die von ihnen zunächst profitieren, größer als der Nutzen.19 Der Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen John Mearsheimer kommt in einer Untersuchung über die Rolle der Lüge in den Außenkontakten der Staaten zu dem Ergebnis, dass auf dem Terrain der Außenpolitik weitaus seltener gelogen wird, als man vermuten würde, dass, mit den Worten von Mearsheimer, »Staatsführungen anderen Ländern nur selten Unwahrheiten auftischen, stattdessen aber eher geneigt sind, ihr eigenes Volk zu belügen«. Die Erklärung dafür lautet, dass in den Außenbeziehungen der Staaten die Lüge nicht funktioniert, weil hier sowieso niemand den Aussagen des anderen traut und eigentlich alle beteiligten Akteure der Auffassung sind, dass keiner die Wahrheit sagt. Für die sog. Realisten, denen Mearsheimer sich zurechnet, herrscht in der Welt der internationalen Beziehungen die Anarchie, in der es keinerlei Vertrauenserwartung an den anderen gibt. Man kann aber nur dann erfolgreich lügen, wenn der Adressat einem vertraut, und dann gilt auch umgekehrt: Je größer der Verdacht ist, dass alle lügen, desto weniger wird tatsächlich gelogen, weil die Lüge dann ja gar nicht funktioniert.20 Aus zwei Gründen sind diese Überlegungen irritierend und wenig überzeugend. Zum einen sind die empirischen Evidenzen für seine Behauptung, dass in den Außenbeziehungen zwischen den Staaten wenig gelogen wird, nicht sonderlich stark, wie Mearsheimer selbst zugesteht, da man die Häufigkeit von Lügen schon deswegen nicht zweifelsfrei feststellen kann, weil ja niemand etwas von ihnen erfährt, wenn sie erfolgreich waren, also nicht aufgeflogen sind. Hinzu kommt, dass die weitere Behauptung, nach der die Regierungen in Demokratien die eigene Bevölkerung öfter belügen als Autokraten das tun, dem Gegenwartstest sicher nicht standhält. Zum zweiten laufen bei Mearsheimer einige höchst fragwürdige grundsätzliche Implikationen mit. Seine Annahme lautet: Weil alle Staaten erwarten, dass sie belogen werden, werden sie de facto nur sehr selten belogen. Mit anderen Worten: Je weniger wir uns vertrauen, desto weniger wird gelogen, desto weniger haben wir also eigentlich Grund, uns zu misstrauen. Das legt die Quintessenz nahe, dass das Misstrauen ein gutes Mittel gegen die Lüge ist. Nun gibt es sicherlich das sprichwörtliche blinde Vertrauen, das manchmal von anderen 19 20

Das Trump-Zitat nach Neiman, Widerstand, S. 11. Siehe Mearsheimer, Lüge, das Zitat S. 10, die Anarchie in den internationalen Beziehungen: ebda., S. 12f, 36, 39.

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ausgenutzt werden kann. Und natürlich kann man sich dagegen schützen, indem man grundsätzlich jedem und allem misstraut, also aus dem Misstrauen eine allgemeine Haltung macht. Dann ist alles Lüge und alles ist Betrug. Und umgekehrt erscheint es dann so, dass Vertrauen in diesem Gedanken nur deswegen vorkommt, weil sie die Bedingung dafür ist, dass erfolgreich gelogen werden kann. Rein deskriptiv ist das sogar richtig: Der Vorrang der Wahrheit gehört zur Lüge dazu und ist ihre Voraussetzung. Aber es wäre offenkundig absurd, die Lüge dadurch abschaffen zu wollen, dass man den Vorrang der Wahrheit abschafft. Vertrauen ist nicht dazu da, die Voraussetzung für die Lüge zu sein. Es ist kein überzeugendes Argument gegen die Lüge, dass sie das Vertrauen zerstört und die Zerstörung des Vertrauens dazu führt, dass wir nicht mehr erfolgreich lügen könnten. Das ist ungefähr so paradox wie die Aufforderung von Thomas Hobbes, dass die Philosophen auf die Wahrheit verzichten und sich der Herrschaft des staatlichen Leviathan unterordnen mögen, damit dieser ungestört die Bedingungen dafür schaffen kann, dass die Philosophen in Frieden und Ruhe ihrer Wahrheitssuche nachgehen können. Die Wahrheit ist nicht dafür da, die Lüge zu ermöglichen, sondern dafür, dass man sich verständigen und handeln kann. Vertrauen ist nicht nur die Bedingung für die Lüge, sondern, was weitaus wichtiger ist, die Bedingung für wechselseitige Orientierung und gemeinsames Handeln.21 Die Frage nach der Bedeutung von Lüge und Täuschung berührt offenbar so viele grundsätzliche Dinge, dass man die Hoffnung fahren lassen muss, sie mit dem Aufzählen von Beispielen zu beantworten. Um mehr Klarheit zu bekommen, müssen wir uns auf eine kleine Reise in die Geschichte des politischen Denkens begeben und uns auf drei Stationen etwas länger aufhalten. Zum ersten bei Niccolo Machiavelli: Hier geht es darum herauszufinden, warum Machiavelli eigentlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf die provozierende Idee kam, die Menschen zu lehren, nicht gut zu handeln, – womit er sich die Rolle des Schreckgespenstes unter den Theoretikern der Politik einhandelte. Zum zweiten bei Max Weber, der es rund 400 Jahre nach Machiavelli ebenfalls für vollkommen naiv hielt, zu denken, man könnte im politischen Handeln ohne die anrüchigen Mittel der Täuschung auskommen. Weber hatte aber auch einen klaren Blick für die Gefahren, die damit verbunden sind. Um ihnen zu begegnen, suchte er seine Zuflucht in einem eigenartigen Heroismus, der nur starke Naturen für befähigt hielt, die Politik zu ihrem »Beruf« 21

Demokratische Regierungen belügen die Bevölkerung häufiger als Autokraten: siehe Mearsheimer, Lüge, S. 10f, 76f, 88f.

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zu machen. Schließlich drittens Immanuel Kant, der uns deswegen beschäftigen muss, weil ihn das Phänomen der Lüge so tief beunruhigte wie sonst niemanden in der Geschichte der Philosophie und der in seiner Verzweiflung zu einem rigorosen moralischen Verbot der Lüge seine Zuflucht nahm.

Die Fähigkeit, nicht gut zu handeln Machiavelli plädierte auf höchst provokante und zugespitzte Weise dafür, die Prinzipien und Maximen, die das politische Handeln bestimmen, von den Verhaltenslehren des Christentums für ein gutes und Gott ergebenes Leben zu trennen. Das ist das zentrale Anliegen, das ihn umtreibt und das man sich vergegenwärtigen muss, wenn man nicht in das beliebte Spiel der gedankenlosen Verdammung dieses großen Denkers einstimmen will und sich dadurch die Möglichkeit verbaut, der Frage nach der Rolle von Täuschung und Lüge im politischen Handeln näher zu kommen. Grob vereinfacht gesprochen meint Machiavelli: Was Jesus Christus gelehrt hat, ist für die Menschen sicher von großem Wert, wenn sie sich für das ewige Leben im Himmelreich qualifizieren wollen. Aber in der Frage, nach welchen Gesichtspunkten wir handeln sollen, wenn es darum geht, die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln und eine politische Ordnung zu gründen, die über den Tag hinaus Bestand hat, helfen die christlichen Tugenden und Verhaltenslehren überhaupt nicht weiter. Dafür taugen sie nicht, und dafür sind sie auch nicht gedacht. Jesus war kein Politiker, das Reich, um das es ihm ging, war nicht von dieser Welt, und das irdische Leben war für ihn nur insofern von Belang und Interesse, als es die Menschen auf das Dasein nach ihrem Tod vorbereitete, wo sie entweder in der Form von ewigen Höllenstrafen die Quittung für ein sündiges Leben erhalten oder für die strikte Einhaltung der christlichen Gebote mit dem Geschenk des ewigen Lebens im Himmelreich belohnt werden. Im Hintergrund der Überlegungen von Machiavelli steht ein konsequenter und weit reichender Wechsel der Perspektive auf das Politische. Das klingt so einfach, ist aber zu seiner Zeit eine Veränderung der Denkungsart, die an Radikalität der Reformation durch Martin Luther in nichts nachsteht und für das Verständnis des politischen Handelns viel wichtiger ist. Der springende Punkt liegt darin, dass Machiavelli das Politische nicht von der sündigen und mangelhaften Natur des Menschen her denkt, sondern unter dem Gesichtspunkt der Macht und der Frage nach den Fähigkeiten des Menschen, eine befriedigende und dauerhafte politische Ordnung zu errichten. Politik

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ist nicht dazu da, die Menschen von allen möglichen Sünden, zu denen sie neigen, abzuhalten, sondern hat die Aufgabe, die gemeinsamen Angelegenheiten, mit denen es die Menschen in dieser Welt zu tun haben, zu organisieren und zu regeln. Machiavelli streitet keineswegs ab, dass die Menschen tatsächlich sündige und fehlbare Wesen sind, es geht nur darum, dass diese Einsicht politisch nicht weiterhilft. Im Zentrum politischen Handelns steht nicht die Frage, wie man die Sünde vermeidet und gute Werke tut, sondern die Frage, wie ein politisches Gemeinwesen die Macht entwickeln und behalten kann, die es ihm erlaubt, sich auf Dauer und mit Erfolg in einer von vielfältigen Konflikten bestimmten Umgebung zu behaupten. Kurz und alles in allem: Im politischen Handeln geht es nicht um die Sünde, sondern um die Macht, und wer das miteinander verwechselt und durcheinanderbringt, bringt die Menschen um eine ihrer wichtigsten und ehrwürdigsten Fähigkeiten, über die sie eigentlich durchaus verfügen, um die Fähigkeit, politisch zu denken, zu urteilen und zu handeln. Das ist nicht unbedingt und von vornherein eine Kritik des Christentums und schon gar nicht ist es eine Blasphemie oder ein Plädoyer für das Böse. Eigentlich spricht Machiavelli nur aus, was die christliche Lehre ihrem eigenen Selbstverständnis nach im Kern ausmacht, und hält ihr den Spiegel vor. Tatsächlich hat sich das Christentum für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten nie interessiert. Die christliche Lehre hält die Welt apriori für falsch, traut ihr nicht und misst ihr keine eigenständige Bedeutung zu. Im frühen Christentum gab es einen tiefen Widerwillen gegen die res publica, den Tertullian zu Beginn des dritten nachchristlichen Jahrhunderts knapp und präzise formuliert hat: nec ulla magis res aliena quam publica: »keine Angelegenheit ist uns fremder als eine öffentliche«. Und weil das so ist, hat die christliche Lehre für die Regelung der weltlichen Angelegenheiten auch nichts Relevantes beizutragen. Sie richtet sich an Leute, die an sich selbst und ihrem Seelenheil interessiert sind und denen deswegen der Lauf der Welt, die irdischen Belange und das öffentliche Leben als irrelevant, unnötig, anmaßend und gefährlich erscheinen. Wer tugendhaft und gottergeben leben will, sollte sich davon fernhalten, zumal die Welt ohnedies zum Untergang bestimmt ist und nicht dauern kann.22 Die Wirkungen, die mit dieser Haltung verbunden sind, hält Machiavelli für verheerend. Die Entwertung des weltlichen Lebens, die die christliche 22

Das Tertullian-Zitat nach Arendt, Vita Activa, S. 71; für Machiavellis Haltung zur Religion siehe Discorsi II.2, S. 168ff.

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Lehre verlangt, entzieht dem politischen Vermögen des Menschen, seinem Vermögen als staatenbildendes Wesen tätig zu sein, die nötige Aufmerksamkeit, Anerkennung und Achtung, die ihm unbedingt gebühren. Machiavelli ist sich vollkommen darüber im Klaren, dass die Menschen durchaus vergessen und verlernen können, was es heißt, politisch zu handeln, Staaten zu gründen und zu erhalten, gute Verfassungen, Institutionen und Einrichtungen zu schaffen. Es ist keineswegs so, dass der Mensch, wie es die immer wieder falsch verstandene Formulierung des Aristoteles vom zoon politikon nahelegt, ein von Natur aus politisches Wesen wäre. Die Fähigkeit zur Politik ist keine Naturkonstante des Menschen, sondern eine Fähigkeit, die nach allergrößter Aufmerksamkeit und Kultivierung verlangt, weil sie sonst verlorengeht. Die Wertschätzung, die Machiavelli dem klassischen Altertum gegenüber aufbringt, hat ihren Grund genau darin, dass den antiken Autoren dieser Punkt ganz klar war. Wenn man sich um das Politische nicht intensiv kümmert, wissen die Menschen irgendwann nicht mehr, was es heißt, politisch tätig zu sein, und sie überlassen dann das politische Handeln unter Umständen irgendwelchen unfähigen und anmaßenden Dilettanten, die gar keine Ahnung mehr davon haben, worin die Anforderungen der Politik bestehen. Deswegen ist die Entwertung der weltlichen Belange durch das Christentum alles andere als eine unwichtige Kleinigkeit, sondern hat weitreichende Folgen. Das ist der Hintergrund, vor dem man Machiavellis auf den ersten Blick so furchterregenden Satz verstehen muss, er wolle die Menschen lehren, »nicht gut zu handeln und das Gute zu tun und zu lassen, wie es die Umstände erfordern«.23 Dass nach Machiavelli die christlichen Moralvorstellungen für den Bereich des Politischen versagen, heißt nicht, dass er damit grundsätzlich den Einsatz von Lüge, Heuchelei, Gewalt und Betrug empfiehlt, alles andere zur Illusion erklärt und den Menschen beibringen wollte, schlecht zu sein. Es geht nur darum, dass den politisch Handelnden der Einsatz für die öffentlichen Angelegenheiten wichtiger sein muss als der Wunsch nach dem eigenen Seelenheil. Um politisch zu handeln, benötigen die Menschen eine weitaus größere Palette von Verhaltensweisen, Qualitäten und Vermögen als die Befolgung christlicher Prinzipien und der Gehorsam gegen die Zehn Gebote ihnen abverlangt. Im Idealfall ist der politisch Handelnde ein wahrer Virtuose, der über eine Fülle von Qualitäten, Fähigkeiten und Eigenschaften verfügt und der vor allem einen Blick für das hat, was angesichts der jeweiligen Lage das Richtige ist. Das ist nicht prinzipienloser Opportunismus, sondern 23

Machiavelli, Principe, XV. Kapitel, S. 95.

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die durchaus bewundernswerte Fähigkeit, die spezifischen Chancen, Zwänge und Erfordernisse der Umstände, die man selber nicht steuern kann und selber nicht in der Hand hat, zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Im Vergleich dazu ist das, was man braucht, um ein gottergebenes Leben zu führen, ziemlich beschränkt und armselig. Machiavelli hat für das Richtige ein auf den ersten Blick ganz einfaches Kriterium. »Zudem beurteilt man die Taten der meisten Menschen, und insbesondere der Fürsten, die keinen Richter über sich haben, nach dem Erfolg. Ein Fürst braucht nur zu siegen und seine Herrschaft zu behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll gelten und von jedem gepriesen werden.« Wir kennen dieses Erfolgs-Kriterium bereits aus unserem Streifzug durch die Geschichte der politischen Lüge. Machiavelli macht damit aber alles andere als ein Plädoyer für Gewaltherrschaft und Täuschung. Sein Kriterium des Erfolgs und des Nutzens ist viel schwieriger und komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Vor allem muss man den Zeithorizont mit in den Blick nehmen. Auf kurze Sicht kann der Einsatz von Gewalt, List und Tücke durchaus von Vorteil sein und zum Ziel führen, ob man damit auf die Dauer erfolgreich ist, ist eine ganz andere Frage. Die Zeit, sagt Machiavelli, ist »die Mutter aller Wahrheit«, und Lügen haben, wie wir wissen, kurze Beine, tragen also nicht weit.24 Neben dem Erfolg ist es vor allem der Ruhm, der für Machiavelli nach dem Vorbild des klassischen Altertums als Kriterium für die Beurteilung politischen Handelns entscheidend ist. Damit wird die Sache aber nicht einfacher. Denn man kann es keinesfalls Verdienst nennen, »wenn einer seine Mitbürger niedermetzelt, seine Freunde verrät, Treue, Glauben und Gottesfurcht nicht kennt. Auf diese Art kann man wohl Macht erwerben, aber keinen Ruhm.« Ohnedies gilt, dass man im Strudel von Gewalt, Täuschung und Lüge selber sehr schnell hinweggerissen werden und untergehen kann. Aus diesen Gründen muss der Einsatz dieser fragwürdigen Mittel streng begrenzt und eingeschränkt werden. Nur in Ausnahmefällen können und werden sie erfolgreich sein. Bei der Gründung neuer politischer Gemeinwesen hält Machiavelli den Einsatz von Gewalt tatsächlich für unvermeidlich, – und folgt auch darin nur einer in der Antike verbreiteten Auffassung. Aber für ihre Sicherung und dauerhafte Erhaltung sind Gewalt, Lüge und Täuschung ganz ungeeignet. Der springende Punkt, an dem sich alles entscheidet, ist der Übergang 24

Das Erfolgs-Zitat im Principe, XVIII. Kapitel, S. 106; das Zitat über Zeit und Wahrheit in Discorsi, I.3, S. 17.

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von der Herrschaft der Gewalt zur Verteilung und Streuung der Macht. Es kann und muss zwar ein einzelner sein, der eine neue politische Ordnung gründet, aber es wäre »nicht von langer Dauer, wenn ihre Erhaltung nur auf den Schultern dieses einzelnen Mannes ruht«. Ist dagegen ihre »Erhaltung … der Sorge vieler anvertraut, so wird sie dauern«. Mit anderen Worten: Die Chance auf Dauerhaftigkeit einer politischen Ordnung ist in einer Republik, in der die Vielen gemeinsam politisch handeln, viel größer als in einer gesetzlosen Tyrannis, die immer den Keim des Untergangs in sich trägt, weil sie unfähig ist, variabel und flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren.25 Ruhm und Erfolg sind offenbar ziemlich komplizierte Angelegenheiten, und man bewegt sich mit ihnen immer auf einem schwierigen und ungesicherten Terrain. Lüge und Täuschung können kurzfristig Vorteile bringen, aber die Vorteile, die mit ihnen verbunden sind, sind auf Sand gebaut und meistens nur von kurzer Dauer. Wenn sie aufgedeckt werden, ist der Schaden oft größer als der Nutzen. Wie der Volksmund weiß, sieht man sich meistens mehrmals im Leben, und wenn dann die Lüge, mit der man operiert hat, herausgekommen ist, wird man in Zukunft nicht mehr so leicht für vertrauenswürdig gehalten und oftmals geächtet. Nach Montaigne ist klar, dass diese Alltagserfahrung auch in politischen Dingen und für politische Akteure gilt: »man schließt mehr als einen Frieden, mehr als einen Vertrag in seinem Leben.« Zwar kann einen die Aussicht auf kurzfristigen Gewinn zur »ersten Untreue« verlocken, »dieser erste Gewinn aber zieht in der Folge unendlichen Schaden nach sich, indem er diesen Fürsten durch das Beispiel dieser einen Unredlichkeit aus allem Umgang und aller Verhandlungsfähigkeit ausschließt«.26 Dieses Argument Montaignes hätte Machiavelli sicher gefallen und ihn überzeugt. Gerade deswegen ist die Sorglosigkeit, die er beim Nachdenken über den Einsatz fragwürdiger Mittel für die Realisierung politischer Zwecke durchaus an den Tag legt, irritierend. Das ist es ja, was ihm den Ruf eingebracht hat, er lehre Teufelszeug. Im Gegensatz zum landläufigen Urteil über den Machiavellismus plädiert Machiavelli durchaus nicht für Gewaltherrschaft oder Lüge und Täuschung. Aber richtig ist doch auch, dass er nicht

25 26

Das Ruhm-Zitat im Principe, VIII. Kapitel, S. 67; das Zitat über die Dauerhaftigkeit politischer Ordnung in Discorsi, I.9, S. 37. Montaigne, Essais II, zitiert nach Münkler, Im Namen, S. 184f.

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sonderlich stark von der Sorge vor einer dauerhaften Herrschaft von Tyrannei und Betrug umgetrieben wird. Dafür sind mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zum ersten wollte er sicher auf jeden Fall vermeiden, dass man sich angesichts der Aussicht auf die Abgründe der Politik ganz schnell in die mütterlich ausgebreiteten Arme des Christentums zurück begibt und damit der Politik generell entflieht. Die christlichen Lehren sind für Machiavelli alles andere als ein Gegenmittel gegen die Tyrannis, sondern eher umgekehrt wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Einrichtungen und Belangen eine ihrer Entstehungsbedingungen. Deswegen weigert sich Machiavelli, angesichts von Tyrannei, Gewaltherrschaft und politischer Unfähigkeit in die christliche Klage über das irdische Jammertal oder die Falschheit der Welt einzustimmen und alle Hoffnungen auf die Erlösung im Jenseits zu richten. Ferner und zweitens war Machiavelli trotz aller Kritik am Christentum doch immer davon überzeugt, dass Gott existiert. Damit war für ihn die Gewissheit verbunden, dass die Wahrheit auf jeden Fall in Erscheinung treten wird, dass es einen endgültigen Sieg des Betrugs über die Wahrheit niemals geben kann und immer alles schließlich an den Tag kommen wird. Deswegen gehört der Einsatz von Lüge und Täuschung nicht zu den Dingen, die ihn politisch wirklich beunruhigten. Er war sicher, dass sie die Ausnahme bleiben und nicht zur Regel werden. Machiavelli profitiert gleichsam davon, dass zu seiner Zeit das Christentum seine Kraft bewahrt hat und für den Vorrang der Wahrheit sorgt.27 Und schließlich und zum dritten war sich Machiavelli vollkommen der Tatsache bewusst, dass es eine absolute Garantie gegen den Verlust der politischen Urteilskraft niemals geben kann. Wer nach dieser Absolutheit strebt, zerstört damit zugleich immer und unvermeidlich den Raum des politischen Handelns. Machiavelli wusste nicht nur, dass die Menschen Sünder sind, sondern er wusste auch und nur zu gut, dass sie immer wieder von der Fähigkeit, politisch angemessen zu urteilen und zu handeln, verlassen werden. Es ist gerade das: die immer wieder und allezeit zu beobachtende Unfähigkeit politisch zu handeln, die ihn umtreibt, die ihm Sorge bereitet und gegen die er angehen will.28 Dieser Verlust der Fähigkeit politischen Handelns ist aber nicht auf die Regierten begrenzt, sondern kommt gerade auch bei den Regierenden immer wieder vor und ist da sogar besonders augenfällig und verheerend. Das 27 28

Siehe zu diesem Argument Arendt, Revolution, S. 130. Siehe zu dieser Unfähigkeit zum Beispiel Discorsi I.3, S. 17f.

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Gegenmittel, auf das Machiavelli setzt, besteht in der breiten Beteiligung des Volkes an der Regierung und in der Etablierung von Institutionen, die die unvermeidlich vorhandenen Konflikte und die daraus resultierenden Kämpfe in geordnete Bahnen lenken und die Freiheit des Handelns dauerhaft gewährleisten. Das Gegenmittel gegen die Gefahren des politischen Handelns ist also selber politisch. Es liegt darin, dass die Erfahrung der Politik von möglichst vielen in einer Gesellschaft geteilt wird. Auf diese Weise entsteht eine breite Streuung der Fähigkeit zum politischen Handeln, und wer einmal erfahren hat, worin dessen Wesen besteht, der wird den Sirenengesängen einfacher Lösungen, wie sie das Christentum oder Tyrannen versprechen, nicht erliegen. Machiavelli entwirft damit die Grundvoraussetzungen des Bürgerrepublikanismus. Zu ihm gehört die tiefe und bis heute gültige Einsicht, dass politisches Handeln zu den Dingen zählt, die man nicht delegieren und in denen man sich nicht von anderen vertreten lassen kann.29 Welch eindringliche Aktualität liegt in den provozierenden Überlegungen Machiavellis: Gegen die Tendenz, sich entsetzt abzuwenden vom politischen schmutzigen Geschäft, weil es nur aus Lüge, Täuschung und Betrug besteht. Gegen alle Religionen, Kunstreligionen, Sekten, geistige Zitadellen, die mit dem Versprechen locken, uns vor den Zumutungen des politischen Handelns zu schützen. Gegen die Geringschätzung, Entwertung und Verurteilung des Politischen, weil dort doch sowieso immer alle lügen und ihr eigenes Süppchen kochen. Und mit welcher einfachen Klarheit Machiavelli das einzige Gegenmittel gegen die Gefahren von Tyrannei und Gewaltherrschaft apostrophiert: Eine möglichst breite Beteiligung am politischen Handeln, eine wache und urteilsfähige Bürgerschaft, die Erfahrung darin entwickelt, politisch zu handeln.

Gesinnung, Verantwortung, Dämonie Max Webers berühmte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die er in seinem Vortrag »Politik als Beruf« im Januar 1919 entwickelt hat, liegt auf der Linie Machiavellis. Die Qualität des Politikers bemisst sich nicht daran, dass er moralisch betrachtet die besten Absichten hegt, sondern daran, dass er in seine Überlegungen und Handlungen nüchtern einbezieht, wie die Realität aussieht, welche Entscheidungen sie erfor29

Siehe zur Bürgerbeteiligung zum Beispiel Discorsi I.4, S. 18ff.

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dert, wie die Ziele, um die es geht, erreicht werden können und welche Folgen mit dem eigenen Handeln verbunden sind. Der Gesinnungsethiker setzt die Wahrheit über alles, der Verantwortungsethiker hält Lüge und Täuschung unter Umständen für ein legitimes Mittel, nämlich dann, wenn er nur auf diesem Wege die übergeordneten politischen Ziele erreichen kann. Zwischen beiden Haltungen besteht nach Weber »ein abgrundtiefer Gegensatz«. Die gesinnungsethische Maxime lautet, religiös gesprochen: »Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.« Der Verantwortungsethiker weiß, »dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat«. Wenn aus einer guten Gesinnung heraus Handlungen unternommen werden, die zu üblen Folgen führen, redet sich der Gesinnungsethiker damit heraus, dass er daran ganz unschuldig und die Welt offenbar für seine edlen Absichten noch nicht empfänglich ist. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet immer mit der Schlechtigkeit der Welt und mit den »durchschnittlichen Defekten der Menschen«. Er wird die Folgen seines Tuns nicht auf andere abwälzen, sondern sich selbst zurechnen. Die Gesinnungsethiker bei Weber sind ähnlich wie die Christen bei Machiavelli nur an sich und ihrem Seelenheil interessiert. Wie die Welt aussieht und wie man sie verändern und eine vernünftige politische Ordnung errichten und stabilisieren kann, ist ihnen gleichgültig. Und wenn sie sich dann doch gelegentlich ins Feld des politischen Handelns wagen, richten sie nichts als Unheil an, weil sie sich dann an Vorgaben orientieren, die im politischen Leben fehl am Platz sind.30 Weber erläutert seine Haltung am Beispiel der am Ende des Ersten Weltkriegs akuten Kriegsschuldfrage, also an der Frage, ob die deutsche Seite die Akten und Dokumente offenlegen sollte, aus denen dann möglicherweise hervorgehen würde, dass die Regierung in Berlin den Krieg förmlich gesucht hat und keineswegs in ihn hineingezwungen wurde. Weber hält eine »Wahrheitspflicht« in dieser Sache, die von einer absoluten Ethik unbedingt gefordert wird, für abenteuerlich und unverantwortlich. Es gebe ja tatsächlich Leute, die aus der Wahrheitspflicht gefolgert haben: »Publikation aller, vor allem der das eigene Land belastenden Dokumente und auf Grund dieser einseitigen Publikation: Schuldbekenntnis, einseitig, bedingungslos, ohne Rücksicht auf die Folgen.« Auf Betreiben von Kurt Eisner, der sich an die Spitze der Münchener Räterepublik gestellt hatte, wurde im November 1918 eine Reihe

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Alle Zitate ohne weiteren Nachweis stammen hier und im Folgenden aus dem letzten Teil von Webers Schrift, Politik als Beruf, S. 548-560.

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von Dokumenten publiziert, aus denen eine deutliche Beteiligung der deutschen Seite am Beginn des Ersten Weltkriegs hervorging. Weber hielt das für vollkommen töricht. »Der Politiker wird finden, dass im Erfolg dadurch die Wahrheit nicht gefördert, sondern durch Missbrauch und Entfesselung von Leidenschaft sicher verdunkelt wird; dass nur eine allseitige planmäßige Feststellung durch Unparteiische Frucht bringen könnte, jedes andere Vorgehen für die Nation, die derartig verfährt, Folgen haben kann, die in Jahrzehnten nicht wieder gut zu machen sind. Aber nach ›Folgen‹ fragt eben die absolute Ethik nicht.« Das fügt sich in die generelle Haltung von Weber zur Kriegsschuldfrage ein. Er hält die Debatte darüber für eine ganz überflüssige Frage »alter Weiber« und plädiert für die »männliche und herbe Haltung«, die den Ausgang des Krieges akzeptiert und sich nun rasch der Gestaltung der Zukunft zuwendet. Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik und seine Haltung dazu gelten immer noch weithin als das Non-plus-Ultra in Sachen politischer Urteils-, Meinungs- und Entscheidungsbildung. Wenn man näher hinsieht, werden aber einige Punkte erkennbar, die man mit dicken Fragezeichen versehen muss. Es ist mit der Verantwortung kaum weniger kompliziert als mit dem Erfolg und dem Ruhm Machiavellis. Das erste Problem mit der Verantwortungsethik besteht darin, dass ganz unklar ist, von welchem Ort aus hier eigentlich geurteilt wird. Beansprucht der Verantwortungsethiker, wenn er seine Entscheidung mit den Folgen legitimiert, die aus der Handlung entstehen, nicht unvermeidlich eine Position, die weit über den Dingen steht und genau weiß, was aus welcher Handlung folgt? Wieso kann sich Weber so sicher sein, dass die Offenlegung der Akten zur Kriegsschuldfrage genau die Konsequenzen haben wird, von denen er spricht? Könnte es nicht sein, dass eine offene Debatte in Deutschland den Lügen vom Dolchstoß und von der Unschuld der politischen und militärischen Elite und dem verheerenden Mythos, nach dem die deutsche Armee das Opfer feindlicher Machenschaften war, den Boden entzogen hätte? Eigentlich kann das niemand genau wissen. Aber Weber tut so, als ob der Verantwortungsethiker tatsächlich über dieses Wissen verfügt und genau angeben kann, welche Folgen seine Handlungen haben werden. Jedenfalls ist das der Gestus, mit dem er in den Auseinandersetzungen über die Frage der Kriegsschuld immer wieder auftritt. Im Grunde setzt er damit aber einen Akteur voraus, der alles weiß und gleichsam eine Gottesposition für sich beansprucht, einen Akteur, der jenseits der realen Konflikte steht und mehr oder weniger genaue Kenntnis davon hat, wie die Dinge ausgehen werden. Einschränkend spricht er zwar davon,

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dass es um die »voraussehbaren« Folgen geht, und an anderen Stellen konzediert Weber, dass es grundsätzlich keine berechenbare Relation zwischen den Absichten politischer Akteure und den tatsächlich eintretenden Folgen gibt. Wenn man das ernst nimmt, kann es aber nur heißen, dass das Dilemma in der Beziehung zwischen Ethik und Politik nicht nur für die Gesinnungsethiker gilt, sondern auch für die Verantwortungsethiker. Auch sie verfügen nicht über die hellseherische Fähigkeit, die sie bräuchten, um aus dem Einsatz bestimmter Mittel auf das Eintreten des angestrebten Erfolgs zu schließen.31 In der Tat gehört es zu den Grunderfahrungen und Grundbestimmungen politischen Handelns, dass sie zu etwas führen, was keiner der Beteiligten genau so und nicht anders intendiert hat. Niemand kann allein handeln, jeder braucht Mitstreiter, die sich ihm anschließen und dabei ihre eigenen Intentionen und Perspektiven zur Geltung bringen, die sich mit den Intentionen und Perspektiven anderer durchkreuzen und sich unter ihrem Eindruck verändern. Stets ist Handeln »to act in concert« (Edmund Burke), und am Ende steht immer ein Resultat, das sich von den anfänglichen Absichten und Wünschen der Beteiligten unterscheidet. An einer Reihe von Stellen in »Politik als Beruf« betont auch Max Weber die eigentümliche Tatsache, dass die Ergebnisse des politischen Handelns von den Absichten der beteiligten Akteure abweichen. »Es ist durchaus wahr und eine … Grundtatsache aller Geschichte, dass das schließliche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht.« Webers Antwort auf die Frage, woran das liegt, führt uns zur zweiten Kalamität, die in seinen Bestimmungen enthalten ist. In immer wiederkehrenden Wendungen führt Weber nämlich diese Eigentümlichkeit der Politik auf das spezifische Mittel zurück, mit dem sie es zu tun hat: die »Gewaltsamkeit«. Weber wird nicht müde zu betonen, dass sich in der Politik am Ende stets alles an der Frage der Verfügung über den Einsatz von Gewaltmitteln entscheidet. »Für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit.«

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Siehe Weber, Kriegsschuld; zu der Divergenz zwischen Absichten und Resultaten siehe die folgende Stelle aus »Politik als Beruf«: Niemand kommt um die Tatsache herum, »dass die Erreichung ›guter‹ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ›heiligt‹.« (S. 552)

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Dahinter steht die Auffassung, dass man das Politische nicht über den Hinweis auf ihre Gegenstände oder über ihre Ziele und Zwecke bestimmen kann, sondern nur über das Mittel der Gewalt, das sie und nur sie einsetzen darf und einsetzen muss. Die Gewalt ist nach Weber kein Mittel wie jedes andere, sondern etwas, das voller Tücken und Gefahren steckt. Deswegen ist die Politik ein ausgesprochen gefährliches und schwieriges Terrain. Das Mittel der Gewalt bewirkt, dass die Regeln des normalen Alltagslebens und der normalen Rationalität nicht mehr gelten. Für den Bereich der Politik bedeutet das, auch nach dem Zeitalter der Aufklärung, »dass die Welt von Dämonen regiert« wird, dass, »wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einlässt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und dass für sein Handeln es nicht wahr ist, dass aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil.« Wer das nicht sieht, meint Weber, »ist in der Tat politisch ein Kind«. Auch die edelsten Absichten werden in der Welt der Politik verfälscht und in ihr Gegenteil verkehrt, und das führt dann zum Beispiel dazu, dass die bolschewistischen und spartakistischen Ideologen, »eben weil sie dieses Mittel der Politik anwenden, genau die gleichen Resultate herbeiführen wie irgendein militärischer Diktator«. In jeder Gewaltsamkeit lauern die »diabolischen Mächte«. Sie verleihen dem politischen Handeln etwas durch und durch Tragisches und Schicksalhaftes. Sie bewirken jene »Tragik, in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist«. Im Grunde geht es hier um die Erfahrung, dass nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel den Zweck bestimmen und sich verselbständigen. Weber kann sich mit diesen Behauptungen auf die seit langem bekannte Tatsache stützen, dass gerade im Krieg, wo sich alles um den Einsatz von Gewalt dreht, das Zufällige und Nicht- Vorhersehbare noch deutlicher zutage treten als sonst wo. Immer steckt das Kriegsgeschehen voller Überraschungen, und die Prognosen über seinen Ausgang haben mehr als einmal in die Irre geführt. Aber dass Weber das politische Handeln so sehr auf die Gewaltsamkeit bezieht und damit in die Nähe von Krieg und Kampf rückt, ist doch zugleich sehr einseitig, unrealistisch und irreführend. Weber blendet die Rolle und Bedeutung des Sprechens und der Öffentlichkeit in der Regelung der politischen Angelegenheiten vollkommen aus. Das hat die fatale Konsequenz, dass es dann eigentlich gar kein Argument mehr dagegen gibt, auch in Friedenszeiten alles der Gewaltsamkeitsfrage unterzuordnen, also auch die Wahrheit.

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Die dritte Kalamität der Überlegungen von Weber hängt mit der Frage zusammen, welche Mittel und Wege er anbietet, um der »Dämonie« der Gewalt und der Politik zu begegnen. Webers Überlegungen gehen an dieser Stelle in eine Charakterlehre des Politikers über und vertrauen ganz auf die Kraft und den Heroismus großer Persönlichkeiten und Staatsmänner. Weber fragt, »was für ein Mensch man sein muss, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen«. Und seine Antwort lautet: Wer Politik als Beruf wählt, braucht Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß, er benötigt die Fähigkeit zu »innerer Sammlung und Ruhe« und zur »Distanz zu den Dingen und Menschen«. Nur wer über die »Stärke« verfügt, die Dämonie zu ertragen und ihr »innerlich gewachsen« ist, kann die Herausforderungen bestehen, die unweigerlich mit der Politik verbunden sind. Man braucht eine »Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist«. Politik ist nichts für schwache Nerven, nichts für »Windbeutel« und nichts für eitle und egozentrische Personen, die alles zu einer Sache »rein persönlicher Selbstberauschung« machen. Nur derjenige ist den Anforderungen der Politik gewachsen, der im Spiel der Irreführungen, Intrigen und Verstellungen die Übersicht und am Ende die Oberhand behält. Das erfordert gute Menschenkenntnis, Selbstbeherrschung und den physiognomischen Blick für die Stärken und Schwächen des Rivalen und Gegners. Der Gesinnungsethiker kapituliert vor dieser Dämonie, er »erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht« und ist deswegen für die Politik ganz ungeeignet. Bei Machiavelli sorgte die Religion dafür, dass die Beziehung zwischen Lüge, Täuschung und Wahrheit, zwischen Ausnahme und Regel intakt blieb und die Grenzen eingehalten wurden. Für Weber, 400 Jahre später, spielt die Religion in dieser Frage keine Rolle mehr. Das einzige Gegenmittel, das er kennt, ist subjektiver Art. Nur starke Charaktere und große Persönlichkeiten sind den Anforderungen der Politik gewachsen. Die Qualität eines politischen Systems hängt dann vor allem davon ab, ob es dazu angetan ist, große politische Persönlichkeiten hervorzubringen. In diesem Sinn ist das wichtigste Argument, mit dem Weber für die parlamentarische Verfassungsreform in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wirbt, dass das Parlament wie sonst nichts dafür geeignet ist, die für Führungsaufgaben geeigneten politischen Persönlichkeiten hervorzubringen.32

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Siehe die Schrift von Weber über Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland.

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Man wird nicht sagen können, dass Webers Beschreibungen und Anforderungen für Politik als Beruf dazu angetan sind, Lust auf politisches Handeln zu machen. Eher sind sie Hinweisschilder, die uns vor dem Betreten eines unüberschaubaren und mit vielen Minen verseuchten Geländes warnen. Webers Ausführungen sind denkbar weit entfernt vom Vertrauen darauf, die Welt durch politisches Handeln gestalten zu können, denkbar weit entfernt von der Zuversicht, dass die Bürger und Akteure einer politischen Gemeinschaft der Einrichtung der öffentlichen Angelegenheiten aus eigener Kraft eine neue Richtung geben könnten. Sie enthalten auch kaum eine Spur von jenem Glück des öffentlichen Handelns, von der public happiness, die für viele Vertreter des politischen Denkens im 18. Jh. noch so bedeutsam gewesen ist. Dass sich im öffentlichen Handeln ein Horizont öffnet, der zum vollgültigen Glück dazu gehört, ist ein Gedanke, der Weber vollkommen fremd ist. Politik ist bei ihm eine ziemlich einsame und kommunikationslose Angelegenheit, den idealisierten und zugleich tragischen soldatischen Tugenden von Heroen näher als der Freude und dem Glück, von dem etwa die amerikanischen Gründerväter noch so sehr erfüllt waren.

Der faule Fleck in der menschlichen Gattung Niemand in der Geschichte der Philosophie hat die Lüge so ernst genommen und in ihr eine so große Bedrohung der menschlichen Gattung gesehen wie Kant. Solange auch diejenigen, die die Religion kritisierten und sie für Betrug hielten, noch von der Wirksamkeit und Vorherrschaft der Religion überzeugt waren, musste diese eigentümliche menschliche Fähigkeit der Lüge, die Fähigkeit, andere und sich selbst zu täuschen, noch nicht wirklich beunruhigend sein. Selbst in der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, etwa bei Diderot und Voltaire, für die die Kritik der christlichen Religion und Amtskirche so zentral war und gewissermaßen den Kern und Beginn aller Kritik überhaupt ausmachte, war nicht die Lüge das zentrale Thema, sondern der menschliche Irrtum und die Illusion. Und Friedrich Engels berichtet, dass sich die »Pariser Reformisten« auch noch in den 1840er Jahren »einen Menschen ohne Religion nur als Monstrum vorstellen konnten«. Wenn dagegen die Kraft der Religion abnimmt und schließlich fast ganz verlorengeht, wird die Lüge zu einer unvergleichlich größeren Bedrohung.33 33

Das Zitat aus Engels, Ludwig Feuerbach, S. 284.

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Das ist die Situation, wie sie sich bereits für Kant darstellt. Kant durchdenkt mit unbestechlicher Radikalität, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der die Antworten der Religion auf die Grundfragen der menschlichen Existenz keine überzeugende Wirkung mehr haben und ihre Gebote für das, was der Mensch tun soll, immer weniger imponieren. In aller Unbescheidenheit nimmt der Königsberger Philosoph für sich in Anspruch, die Verbindlichkeit und den verpflichtenden Charakter der moralischen Gebote ohne Rekurs auf Religion und Gottesglauben nachweisen zu können. Mit großem Selbstbewusstsein dreht er die Rangfolge zwischen Religion und Vernunft um. Auf göttliche Gebote ist nur dann Verlass, wenn vernünftige Gründe für sie geltend gemacht werden können, sonst nicht. »Wir werden … Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind.« Ebenso wie »Gott kein Urheber ist, dass der Triangel drei Winkel hat«, so gilt auch: »Von moralischen Gesetzen ist also kein Wesen, auch das göttliche nicht ein Urheber.« Moralisches Verhalten ist nicht anders zu begründen als nur dadurch, dass die Menschen als vernünftige Wesen in Anspruch genommen werden, als Wesen, die sich kraft ihrer Vernunft selber ernst nehmen und achten. Nicht die Hoffnung auf den Himmel und nicht die Angst vor der Hölle stehen hinter der Moral, sondern die Autonomie des Menschen, der über die Kraft verfügt, die Prinzipien, nach denen er leben will, aus den Quellen seiner eigenen Existenz zu schöpfen. Die Lücke, die der Tod Gottes hinterlässt, füllt Kant damit, dass er den Menschen selber zum Herrn und Maßstab des Menschen macht.34 Für die Frage nach den moralischen Imperativen lautet Kants Antwort, in aller Einfachheit und Zuspitzung gesprochen, dass ich verwerfliche Handlungen deswegen unterlasse, weil ich mich mit ihnen unweigerlich in einen Widerspruch mit mir selbst begebe. Das kann ich als vernünftiges Wesen niemals wollen und für richtig halten, weil ich damit die Achtung vor mir selbst verliere. Es ist natürlich nicht so, dass Kant die Gesetze des moralischen Handelns neu entdeckt und etwa die Meinung vertreten würde, dass sie in früheren Jahrhunderten unbekannt gewesen wären. Neu ist, dass Kant vernünftige Argumente für sie liefert und ihre Geltungsansprüche damit von der Hoffnung auf den Himmel und die Furcht vor der Hölle ablöst. Implizit ist nach Kant allen Menschen sowieso immer schon bekannt, dass es moralische 34

Das Zitat zu den Geboten Gottes: Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 819; das Zitat zum Triangel und den moralischen Gesetzen: Kant, Vorlesung über Ethik, S. 60.

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Gesetze gibt, denen sie unbedingt folgen sollten. Ein überwältigender Beleg dafür ist in seinen Augen die Tatsache, dass jeder Übeltäter nach der Übertretung moralischer Gebote von Scham- und Schuldgefühlen heimgesucht wird. Damit gibt er unübersehbar zu erkennen: Ich ahne und weiß, dass ich das, was ich getan habe, niemals hätte tun sollen. Auf dem Hintergrund dieser Annahmen wird verständlich, warum Lüge und Täuschung für Kant zu einer so großen Herausforderung werden. Die leicht erkennbare und unhintergehbare Voraussetzung der Vernunftmoral besteht darin, dass sie ein intaktes Verhältnis des Menschen zu sich selbst und das heißt zugleich ein intaktes Erinnerungsvermögen unterstellt. Sie geht mit anderen Worten davon aus, dass niemand sich darüber hinweglügt, was er getan hat. Bei den in der klassischen Literatur präsentierten berühmten Schurken ist das der Fall, und gerade weil sie trotz ihrer Verbrechen die Tugend der Wahrhaftigkeit an den Tag legen und sich nicht selbst belügen, sind sie nicht die Inkarnation des radikal Bösen, sondern haben einen »gewissen Adel«. Das gilt für Raskolnikow in Dostojewskis »Schuld und Sühne« (bzw. »Verbrechen und Strafe«) nicht weniger als für die großen Verbrecher und Übeltäter aus den Dramen von Shakespeare. Niemand von ihnen verfügt über die Fähigkeit, wenn es denn eine Fähigkeit ist, sich selbst zu belügen und seine Taten vor sich selbst zu verleugnen, so sehr es auch ihr Wunsch ist. Macbeth erschrickt »vor dem Gedanken, was ich getan habe« und fleht vergeblich um überirdische Hilfe für den Versuch, den Mord, den er begangen hat, zu vergessen und sich zu belügen: »Wollte der Himmel, ich könnte das Bewußtseyn dieser That oder meiner selbst verlieren!« Und Richard III., der von sich sagt, er habe sich entschlossen, ein Bösewicht zu werden, ergeht es nicht anders: »Was fürcht ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand. … Ich bin ein Schurke – doch ich lüg, ich bin’s nicht.«35 Die Lüge ist dann aber offenbar tatsächlich nicht einfach ein Laster und ein Vergehen neben anderen, also neben Hochmut, Betrug, Geiz oder Kriecherei, neben Diebstahl, Erschleichung von Reichtümern, Unterschlagung, Korruption, Mord und Gier. Die Lüge liegt all diesen Vergehen in gewisser Weise zugrunde. Die Größe des Problems drückt Kant darin aus, dass das wirklich radikal Böse gerade von denen getan wird, die sich nicht erinnern, die nicht nur ihre Umgebung belügen, sondern sich selbst, die unfähig sind 35

Der »gewisse Adel«: Arendt, Über das Böse, S. 76; Shakespeare: Macbeth, II. Akt, 3. Szene, S. 39f; Richard der Dritte, V. Akt, 3. Szene, S. 149. Was man bei Shakespeare über die politische Lage des 21. Jahrhunderts lernen kann, zeigt Greenblatt, Tyrann.

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zu denken, wie Hannah Arendt im Blick auf Eichmann sagt, und sich damit weigern, eine Person zu sein. Das Lügen und die mit ihm verbundene Fähigkeit des Sich-selbst-Belügens ist das Einfallstor für das radikal Böse. Wo die Lüge sich flächendeckend ausbreitet, gibt es weder Scham noch Schuldgefühl, die normalerweise anzeigen, dass der Übeltäter ein intuitives Wissen seiner Verfehlung hat. In diesem Sinn sind Selbstbetrug und Selbsttäuschung, die »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen«, in Kants Augen die »größte Verletzung« der Würde des Menschen, die es gibt. »Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde.« Sie ist die Mutter aller Übel der Welt, die pure »Nichtswürdigkeit«, weil sie »die Gründung echter moralischer Gesinnung in uns abhält«. Sie liegt dem »radikalen Bösen der menschlichen Natur« zugrunde und bildet »den faulen Fleck unserer Gattung«, der, »so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl tun würde, zu entwickeln«. Kant nennt sie unumwunden die »größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst« und ist dann einen Augenblick lang selber darüber verwundert, dass er »diesen harten Namen« verwendet. Aber er bleibt dabei, und man muss die Dinge beim richtigen Namen nennen. Von einer solchen »faulen Stelle« der Falschheit gegen sich selbst aus wird »das Übel der Unwahrhaftigkeit sich auch in Beziehung auf andere Menschen« verbreiten, »nachdem einmal der oberste Grundsatz der Wahrhaftigkeit verletzt worden« ist.36 Wir dürfen Kant so verstehen, dass am Ende mit der Lüge sogar eine der Schlüsselaussagen der abendländischen Vernunft auf dem Spiel steht: der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch. Der Satz geht auf Aristoteles zurück und lautet in seiner klassischen Formulierung: »Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben zugleich und in derselben Hinsicht zukommt und nicht zukommt.« Der Satz ist deswegen von so großer und weitreichender Bedeutung, weil er nicht nur maßgeblich ist für die Fundierung sicherer Erkenntnis, sondern auch hinter dem Prinzip der Selbstachtung steht, das für Kants Begründung der moralischen Gebote in der menschlichen Vernunft unverzichtbar ist. Offenbar hat die Lüge das Potential, dass die Menschen den 36

Zur Unfähigkeit zu denken siehe Arendt, Eichmann, S. 16, 78; zur Personentheorie siehe Arendt, Vita Activa, S. 236f, und Arendt, Über das Böse, S. 101f; der »blaue Dunst«: Kant, Religion, S. 687; »Größte Verletzung« und »Wegwerfung«: Metaphysik der Sitten, S. 562; »Gründung echter moralischer Gesinnung«, »Nichtswürdigkeit«, »radikal Böses«, »fauler Fleck«, »Keim des Guten«: Religion, S. 687; »Verletzung der Pflicht«, »harter Name«: Metaphysik der Sitten, S. 562; »faule Stelle«, »Übel der Unwahrhaftigkeit« und »Grundsatz der Wahrhaftigkeit«: ebda., S. 564.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

Widerspruch mit sich selbst, in den sie sich unvermeidlich verstricken, wenn sie die moralischen Gesetze übertreten, gar nicht mehr wahrnehmen. Dann aber ist tatsächlich die Basis dieser moralischen Gesetze obsolet geworden.37 Der Größe der Bedrohung, die Kant in der Lüge sieht, korrespondiert der Rigorismus, mit dem er diesen Makel in der menschlichen Natur bekämpft und verurteilt. Es gibt für ihn niemals irgendeine Lüge, die für gerechtfertigt gehalten werden könnte. Keinen Augenblick zweifelt er an der Wahrheit des Satzes fiat iustitia, pereat mundus, den er übersetzt: »es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen«. Unverbrüchlich steht fest: Wenn »die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben«. Die Wahrheit zu sagen, ist unabdingbar und immer geboten, »die physischen Folgen daraus mögen auch sein, welche sie wollen«. Wir müssen unter allen Umständen bei der Wahrheit bleiben. Auch Höflichkeitslügen, Notlügen oder gutmütige Lügen sind niemals erlaubt.38 Die Verzweiflung, die Kant angesichts der Lüge befällt, kann man gut verstehen. Trotzdem ist die Lösung, zu der er seine Zuflucht sucht, nicht überzeugend. Nach Kant gilt das Verbot der Lüge ausnahmslos und kategorisch. Es gilt selbst dort, wo sie das Werk eines Mörders verhindern könnte. Das Beispiel, an dem Kant seine Position erläutert, zeigt unfreiwillig eine erschreckende Abstraktheit und Weltlosigkeit. Kant zitiert einen Absatz aus einem Text von Benjamin Constant, in dem dieser den Vorwurf erhebt, Kant gehe so weit zu behaupten, »dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde«. Kant will nachweisen, dass der Vorwurf, den Constant ihm, Kant, macht, vollkommen unberechtigt ist, weil tatsächlich genau das, was den französischen Autor erbost, die einzige Verhaltensweise ist, die vor der vernünftigen Erwägung standhält. Man muss also auch einem Mörder gegenüber immer bei der Wahrheit bleiben. Die Begründung Kants operiert im Kern mit dem Argument, dass man niemals wissen kann, ob die Lüge den Verfolgten tatsächlich vor dem Mörder schützt oder am Ende nicht vielleicht gerade dazu führt, ihn seinem Verfolger auszuliefern. Niemand kann wirklich genau und sicher sagen, ob die Lüge dem Verfolgten hilft. Jederzeit gewiss ist

37 38

Aristoteles, Metaphysik, IV,3, 1005b. »Fiat iustitia«: Kant, Ewiger Friede, S. 241; »Gerechtigkeit«: Metaphysik der Sitten, S. 453; »Physische Folgen«: Ewiger Friede, S. 242; zur Höflichkeitslüge: Metaphysik der Sitten, S. 565; zur gutmütigen Lüge: Vermeintes Recht, S. 639.

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aber, dass die Wahrheit, gleichgültig was aus ihr folgt, demjenigen hilft, der sie ausspricht, – er kann juristisch niemals belangt werden, und moralisch gesehen hat er seine Pflicht gegen die Menschheit in seiner eigenen Person auf tadellose und vorbildliche Weise erfüllt. In Kants Worten, der an dieser Stelle, was nicht eben oft vorkommt, den Leser mit du anspricht: »Es ist doch möglich, dass, nachdem du dem Mörder, auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist, und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die Tat also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen, und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewusst) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine Tat an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wusstest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen, und die Tat verhindert worden.«39 Der Hauseigentümer, der dem Flüchtenden zunächst Schutz gewährt, ihn dann aber gleichsam dem Schicksal überlässt, ist nach Kant auf jeden Fall aus dem Schneider und macht, wenn er die Wahrheit sagt, alles richtig. Und doch ist der Eindruck überwältigend, dass hier alles falsch ist. Offenbar ist der Hausherr nur an sich selbst interessiert, also daran, seine eigene Haut zu retten. Vollkommen außer Acht bleibt, dass der Hausherr, der bei der Wahrheit bleibt und damit seinen Freund dem Mörder ausliefert, seine Selbstachtung nicht weniger verliert als wenn er zur Lüge gegriffen hätte. Jede Intuition und jede Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Mörder, der erfährt, wo sich das Opfer aufhält, das er töten will, auf diese Weise zum Erfolg kommt. Das einzige, was man diesem Beispiel entnehmen kann, ist etwas, das Kant mit ihm gar nicht zeigen wollte, nämlich in welchem Ausmaß sein Autor von der Sorge umgetrieben wird, dass die realen Umstände und Folgen des menschlichen Handelns von Zufällen abhängen, über die die Menschen keinerlei Macht haben. Diese ja durchaus bedenkenswerte und wichtige Einsicht ähnelt in Kants Beispiel freilich eher den phantastischen Exempeln eines Kabinetts der Kuriositäten, die demonstrieren wollen, dass es nichts gibt, was es nicht gibt, und damit den unausgesprochenen Rat verbinden, lieber beim Leisten des Normalen und Gewohnten zu bleiben. Angesichts der Unheimlichkeit der Welt, die sich in diesem Beispiel gegen den Verfolgten verschworen zu haben scheint, hat Kant den biederen Rat, sich auf diese verhexte Welt 39

Das Constant-Zitat: Kant, Vermeintes Recht, S. 637, das Beispiel ebda., S. 639.

I.  Lüge und Täuschung in der Politik

lieber nicht einzulassen. »Bist du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle.« Hier schreckt jemand zurück vor den Ambivalenzen des Handelns und sucht seine Zuflucht in der heiligen Einfalt reiner Gesinnung, die über jeden Zweifel erhaben ist und von niemandem in Frage gestellt werden kann. Kant wäscht seine Hände in Unschuld, aber er bestätigt damit auch auf fatale Weise die Ohnmacht gegen das Böse, das allemal leichter zum Ziele kommen dürfte, wenn der Befragte dem Mörder die Wahrheit sagt.40 Weder ist die Welt normalerweise so verhext, wie Kant es in diesem Beispiel unterstellt, noch ist derjenige, der immer bei der Wahrheit bleibt und auch die gutmütige Lüge als eine Form satanischer Verführung strikt ablehnt, so rein wie die Engel. Sicher ist es so, dass es Unwägbarkeiten, Zufälle und Kontingenzen gibt, die dazu führen, dass wir die Folgen unseres Handelns nicht ausrechnen können. Aber sicher ist auch, dass der Rigorismus der Wahrheit unter Umständen den Mördern in die Hände spielt, ihnen das Heft des Handelns überlässt und nichts für sich geltend machen kann als die Erhabenheit des reinen Gewissens. Bessere Belege für die Berechtigung der Kritik von Machiavelli und Weber kann man sich kaum vorstellen. Kant glaubt tatsächlich, dass seine rigorose Wahrheitsliebe der Menschheit dient, aller Wahrscheinlichkeit aber dürfte sie tatsächlich zunächst einmal nur dem Mörder dienen. Wir bewegen uns, was das Lügen angeht, nach wie vor in einem Raum, der durch die Positionen von Machiavelli, Weber und Kant gut markiert werden kann. Kant: der wie kein anderer die dramatischen Folgen gewohnheitsmäßiger Lüge und Täuschung in den Blick nimmt, aber mit seinem Rigorismus der Wahrheit der Schlechtigkeit der Welt eher in die Hände spielt als gegen sie anzugehen. Max Weber: der mit der Verantwortungsethik nach der Gottesposition des Allwissenden verlangt, nur um dann, weil dies doch unrealistisch ist, beim Heroismus großer Männer zu landen. Machiavelli: der vielleicht das klarste Bewusstsein davon hat, dass die Ambivalenzen und Gefahren, die mit dem politischen Handeln verbunden sind, nicht ein für alle Mal aus der Welt geschafft, sondern allenfalls eingehegt und eingeschränkt werden können, – und zwar am besten dadurch, dass möglichst viele sich am politischen Handeln beteiligen.

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»Bist du aber strenge«: Kant, Vermeintes Recht, S. 639.

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Die Aufklärung, der Irrtum und die Lüge Es ist auffällig, wie wenig in der gegenwärtig vorherrschenden Lügenpraxis der Nachweis der Unwahrheit etwas bewirkt und die ungehemmten Lügner davon abhält, so weiter zu machen, wie sie es gewohnt sind. Die Faktenchecker der amerikanischen Zeitungen verändern mit ihrer Tätigkeit mehr oder weniger – nichts. Weder halten sie den Präsidenten davon ab, auch weiterhin drauflos zu lügen und die nachgewiesenen Lügen unbeeindruckt zu wiederholen, noch sehen sich die Anhänger, Wähler und Gefolgsleute von ihrem Idol betrogen. Auch Putin zeigt sich ganz unbeeindruckt davon, dass er heute das Gegenteil von dem behauptet, was er gestern gesagt hat, und auch er wird dafür von seinen Anhängern nicht zur Rechenschaft gezogen und nicht in Frage gestellt. Freilich scheint Putin eher dem klassischen Lügner in der Politik zu entsprechen, der immer dann, wenn allen klar ist, dass er im Dienste der höheren Zwecke des Vaterlandes die Unwahrheit gesagt hat, mit den Lügen also nur die Feinde in die Irre geführt hat, auf Verständnis und, jedenfalls wenn er erfolgreich ist, sogar auf Bewunderung hoffen darf. Bei der Okkupation der Krim ist das offenbar der Fall gewesen. Das Opfer dieser Aggression, also die Ukraine, und viele weitere Länder, die sich auf ihre Seite geschlagen haben, sehen das natürlich ganz anders und verurteilen dieses Verhalten einhellig. Aber auch das gehört zum Muster der klassischen politischen Lügen immer dazu und ist früher auch nicht anders gewesen. Dass die Angelegenheit im Fall von Putin und Russland darin aber nicht aufgeht, wird uns später, im dritten Kapitel, noch ausführlicher beschäftigen. Die Lügenpraxis des amerikanischen Präsidenten weicht dagegen vom klassischen Muster ab. Zum einen dienen seine Lügen und Täuschungen nicht in erster der Linie der Irreführung äußerer Gegner, Feinde oder Rivalen, sondern sind ganz ungehemmt

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und offensiv nach innen an die eigene Bevölkerung gerichtet. Und zum anderen sind sie, wovon schon die Rede war, nicht die Ausnahme, sondern die Regel, – womit zusammenhängt, dass sie sich in aller Öffentlichkeit und von vornherein als Unwahrheit zu erkennen geben. Wer vom Nachweis der Wahrheit den Effekt erwartet, dass der Lügner aufhört zu lügen und die Belogenen gerne wissen und erfahren wollen, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten und den Lügner zum Teufel schicken, der unterstellt, dass wir es immer noch mit der herkömmlichen Lüge zu tun haben, die die Wahrheit verbergen will. Damit wird die Lüge in die Nähe des Irrtums und der Illusion gerückt. Das entspricht dem Blick, den die klassische Aufklärung auf diese Phänomene richtete und der die Aufklärer bis heute antreibt. Sie unterstellen immer, dass im Prinzip alle Leute an der Wahrheit interessiert sind, dass alle gerne sicheres Wissen und sichere Erkenntnis haben möchten und dass alle sich gerne eines Besseren belehren lassen. Unter der Voraussetzung, dass Irrtum und Illusion die Gegner sind, gegen die man angehen muss, zeigt die Aufklärung in der Tat ihre starken Seiten. Das Problem ist aber, dass Lüge und absichtsvolle Täuschung nicht das gleiche sind wie Irrtum und Illusion. Zwar sind beide, Lüge wie Irrtum, das Gegenteil der Wahrheit, aber im Unterschied zur Lüge beruht der Irrtum nicht auf einer absichtlichen, sondern auf einer unabsichtlichen Täuschung. Die Falschheit des Irrtums und der Illusion ist keine Lüge, sondern resultiert aus unzureichender Information und lückenhaftem Wissen. Gegen den Irrtum kann man tatsächlich angehen, indem man für zusätzliche Informationen sorgt, den Horizont erweitert, unbekannte und unerkannte Kontinente erforscht und erkennbar macht, also Bildungsprozesse in Gang bringt und für Vertiefung, Verbreitung und Sicherung des Wissens sorgt. In der Epoche der Aufklärung, deren Höhepunkt wir im Allgemeinen für das 18. Jahrhundert ansetzen, war der Irrtum das zentrale Thema. Sie bekämpfte nicht die Lüge, die sie kaum interessierte, sondern den Irrtum und die Illusion. Dem Erfolg können dann zwar manchmal auch Privilegien, Vorteile und Interessen entgegenstehen, die mit dem Irrtum verbunden sind und von ihm gefüttert werden, aber auch das kann, daran haben die Aufklärer kaum einen Zweifel, dem menschlichen Wissensdrang auf die Dauer nicht den Weg versperren. Der Wille zur Wahrheit und zu wahrem Wissen ist so stark und so weit verbreitet, dass er durch nichts aufgehalten werden kann. Francis Bacon, um nur einen der frühen großen Protagonisten der Aufklärung zu nennen, wollte in der Bekämpfung von Vorurteilen und Mythen »einen neuen und sichern Weg« der Erkenntnis aufzeigen, um »mit Über-

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

zeugung und Bestimmtheit zu wissen«, statt auf Mutmaßungen angewiesen zu sein. Dazu müssen vielerlei »Vorurteilsgötzen« vernichtet werden. Bacon interessierte vor allem die Frage, welche Methoden am besten dazu geeignet sind, das zu erreichen. Der Erreichung und Sicherung wahren Wissens stehen »Aberglaube«, »Hochmuth« und »Anmaßung« im Wege, die durch eine »zuverlässigere und bessere Verstandesoperation« überwunden werden können, nicht jedoch politische Umstände oder klerikale Interessen. In »Über die Wahrheit«, einem kurzen Text seiner »Essays«, macht das Phänomen der Lüge Bacon zwar erkennbar einige Schwierigkeiten, und er beantwortet die Frage, »woran es liegen könnte, dass die Menschen die Lüge lieben«, einerseits mit dem interessanten Hinweis, dass die Menschen »im Denken wie im Handeln … dem freien Willen den Vorzug« geben, und andererseits damit, dass die Wahrheit bei weitem nicht so spektakulär und vergnüglich ist wie ihr Gegenteil. Aber das hat ihn nicht dazu gebracht, über das Verhältnis von Wahrheit, Freiheit und menschlicher Lust ausführlicher nachzudenken. Diderot und d’Alembert, die Herausgeber der berühmten 35 Bände umfassenden »Enzyklopädie«, sehen ihre Hauptaufgabe darin, wie Diderot schreibt, die »allgemeinen Kenntnisse«, die mit der »Erneuerung der Wissenschaften« erreicht wurden, in der Gesellschaft zu verbreiten. Und selbst wo die Protagonisten der Aufklärungsepoche die Lehre vom Priestertrug vertreten, behaupten sie nicht, dass dahinter eine betrügerische Absicht der Priester steht, sondern in ihren Augen tragen dafür »Fanatismus«, »Aberglaube« und die »Unwissenheit der Völker« die Verantwortung.1 Wie bei der Bekämpfung von Irrtum und Illusion sehen die Aufklärer bis heute auch bei der Bekämpfung von Lüge und Täuschung das Hauptgeschäft ihrer Arbeit in der Widerlegung. Die Erwartung ist: Wenn die Lügen eindeutig widerlegt sind, werden sie nicht weiter verbreitet, wenn die Lügner entlarvt sind, haben sie sich diskreditiert, wenn die Belogenen erfahren, dass sie belogen wurden, werden sie sich empören und dem Lügner nicht mehr vertrauen. Schließlich will niemand gern als Lügner dastehen, niemand will belogen werden, niemand will sich mit Täuschungen abspeisen lassen, niemand will zum Narren gehalten werden, alle sind an der Wahrheit interessiert. Die Schwierigkeit freilich ist, dass all das für politische Lügen und Täuschungen nicht zutrifft. Dabei ist noch das Geringste der Probleme, dass die Lügner 1

Die Bacon-Zitate aus dem Novum Organon, S. 22-36, das Zitat aus On Truth, S. 3; die Zitate von Diderot aus Prospekt, S. 23; die Zitate zum Priestertrug aus dem von D’Holbach verfassten Artikel »Priester« in der Enzyklopädie, S. 887ff.

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keinerlei Interesse daran haben, mit ihren Täuschungsmanövern aufzufliegen. Das versteht sich normalerweise von selbst, weil zum einen die Lüge ja nur funktioniert, wenn sie nicht rauskommt, und zum andern das Lügen zu den Dingen gehört, die im allgemeinen geächtet werden und verwerflich sind. Schon das ist beim Irrtum ganz anders. Wenn jemand einem Irrtum unterliegt und den Irrtum an uns weitergibt, sind wir normalerweise nicht brüskiert oder irritiert. Hinter dem Irrtum steht keine böse Absicht, sondern allenfalls Leichtgläubigkeit. Sie können wir leichter verzeihen, über sie können wir leichter hinwegsehen als über eine Lüge, die wir persönlich nehmen, weil sie in betrügerischer Absicht getätigt wird. Einen Irrtum zu korrigieren, dem wir aufgesessen sind und den wir weiter verbreitet haben, fällt leichter als das Zugeständnis, gelogen zu haben. Irren ist menschlich, niemand kann alles wissen, und wenn wir uns irren, dürfen wir auf Verständnis rechnen. Mit der Aufdeckung der Lüge ist dagegen normalerweise eine nicht so leicht wieder wett zu machende Kränkung verbunden. Deswegen ist es gut verständlich, wenn der Lügner kein Interesse an der Wahrheit hat, jedenfalls in diesem einen Fall nicht. Irritierender ist, dass auch die Belogenen oftmals die Wahrheit nicht wissen wollen, sich nicht von den Lügnern abwenden und ihnen nicht das Vertrauen entziehen, zu schweigen davon, dass die gute und erfolgreiche Lüge sogar als besonders raffinierter Schachzug der Diplomatie gefeiert werden kann. Die Streifzüge durch die Geschichte der politischen Lügen haben gezeigt, dass das immer wieder der Fall ist, und in der Gegenwart gilt es erst recht. Den Lügnern Trump und Putin kommt es nicht darauf an, ihre jeweiligen Zuhörer, ihr Publikum, ihre Adressaten von der Wahrheit ihrer lügnerischen Aussagen zu überzeugen. Und schon gar nicht sind sie an einer Debatte darüber interessiert, wie die Wirklichkeit aussieht und welche Herausforderungen und Probleme man wie am besten bestehen und lösen kann. Sie regen sich deswegen auch nicht auf, wenn ihnen nachgewiesen wird, dass sie die Unwahrheit gesagt haben. Trump will ja nicht darüber diskutieren, wie hoch die Arbeitslosenzahlen tatsächlich sind, wenn er behauptet, die Quote betrage 42 Prozent, so wenig wie es Putin ernsthaft um die Klärung der Frage geht, wer in der Ostukraine den Krieg führt, wenn er sagt, russische Soldaten seien es nicht, höchstens einige Touristen, die sich in Second-Hand-Läden mit Uniformen versorgt hätten. Sie haben nicht einmal ein wirkliches Interesse daran, wie das bei der klassischen Lüge immer der Fall ist, ihre Lüge für die Wahrheit auszugeben. Mit Widerlegung ist dann natürlich gar nichts zu gewinnen.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

Offenbar gibt es im politischen Bereich wichtigeres als die Wahrheit, und das gilt offenbar für Lügner wie Belogene gleichermaßen. Zugleich ist das aber keineswegs immer der Fall, weil es ja auch genügend Beispiele dafür gibt, dass sowohl große wie kleine politische Lügner mit ihren Lügen nicht durchkommen und darüber über kurz oder lang abstürzen. Daraus folgt, dass in politischen Zusammenhängen weitere Gesichtspunkte bedacht und herangezogen werden müssen. Das sind vor allem die folgenden: Wer lügt mit welcher Absicht, mit welchem Zweck, mit welchem Erfolg? An wen sind Lügen und Täuschungen vorrangig gerichtet? Und unter welchen Bedingungen ist es so, dass Lüge oder Wahrheit einer Aussage sowohl für den Lügner wie für die Adressaten der Lüge völlig bedeutungslos werden? Oder anders gefragt: Warum lügt jemand, wenn es auf die Lüge gar nicht ankommt? Und wenn es bei der Lüge nicht darauf ankommt, etwas als wahr auszugeben, was in Wirklichkeit falsch ist, was soll dann mit der Lüge bezweckt werden? Und können wir diese Aussagen dann überhaupt noch als Lüge bezeichnen? Wir haben gesehen, dass es bei Lügen und Täuschungen im Dienste höherer Zwecke einen äußeren, fremden Adressaten gibt. Feinde, Konkurrenten oder Gegner darf man mit Lügen und Täuschungen ausmanövrieren und austricksen. Wenn es um die Realisierung höherer Zwecke geht, fühlen sich diejenigen, die sich mit diesen Zwecken identifizieren, nicht belogen, sondern sie verehren und bewundern sogar den Lügner, wenn er Erfolg hat, weil er in ihrem Namen und für ihre Interessen das Risiko der Lüge auf sich genommen hat. Nicht an sie war ja die Lüge adressiert, sondern an den gemeinsamen Feind oder Gegner. Wer im Dienste und für die höheren Zwecke des Staates lügt, dem er dient, belügt den äußeren Gegner, nicht das eigene Land. Und dann ist die Lüge nicht einmal ein Kavaliersdelikt, das man durchgehen lässt, sondern der Ausweis einer ganz besonderen Qualität und Raffinesse, die aller Ehren wert ist. Dann gilt: Right or wrong, my country. Natürlich zerstört die Lüge die Gemeinsamkeit mit dem Belogenen. Aber diese Gemeinsamkeit mit dem Gegner oder Feind ist ja ohnedies und per definitionem nicht vorhanden, und insofern bestätigt das Lügen- und Täuschungsmanöver, das gegen ihn zum Einsatz kommt, nur noch einmal den Unterschied zwischen Freund und Feind, der in dieser Logik den Kern des politischen Handelns ausmacht. Feinden gegenüber ist es stets erlaubt und geboten, zum Mittel der Täuschung und der Lüge zu greifen. Wer dagegen seine Bündnis- oder Kooperationspartner mit Lügen in die Irre führt, zeigt damit seine Geringschätzung ihnen gegenüber, läuft Gefahr, sie zu verlieren und nimmt das in Kauf oder beabsichtigt es sogar. Putin und Trump, die bei-

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den Lügenprotagonisten der Gegenwart, sind geradezu darauf versessen, die bestehenden völker- und kriegsrechtlichen Regelungen und die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zustande gekommenen internationalen Beziehungen und Bündnissysteme zum Einsturz zu bringen. Der höhere Zweck, dem sie sich jeweils verschrieben haben, ist ausschließlich einzelstaatlich bestimmt. Putin und Trump nehmen, jeder auf seine Weise, alle anderen Staaten nicht nur als Rivalen und Konkurrenten, sondern als Gegner bzw. Feinde wahr, die man nach dem klassischen Muster auch entsprechend täuschen darf. Deutlicher als beim amerikanischen haben wir es beim russischen Präsidenten mit dem klassischen Lügenmuster zu tun. Die Lüge gilt der Irreführung des Feindes, und wenn zugleich die eigene Bevölkerung in die Irre geführt wird, ist das höchstens eine Art von Kollateralschaden, den man leicht in Kauf nehmen kann, zumal Putin die Entwicklung einer unabhängigen Öffentlichkeit, die ja einzig zuständig wäre für die kritische Wahrnehmung der Dinge, erfolgreich torpediert hat. Die Lügen und Täuschungen, mit denen Putin bei der Krim-Okkupation operiert hat und im Krieg in der Ostukraine weiterhin operiert, folgen diesem Muster. Sie werden von ihm selbst und von seinen Anhängern als eine Art Kriegslist verstanden, die legitim und geboten ist. Bei Trump liegt der Fall schon deswegen anders, weil er in seinen Lügenund Täuschungsmanövern offensichtlich nicht die politischen Gegner, Rivalen und potentiellen Feinde im internationalen Raum im Blick hat, sondern die eigene Bevölkerung. In Zeiten des Wahlkampfs ist das nicht weiter verwunderlich, aber es war ja danach nicht zu Ende. Eigentlich steckt dahinter eine Art innerstaatlicher Feinderklärung. Danach sind für Trump die Rivalen, Gegner und Feinde im Inneren kein Stück weniger bedrohlich als die Rivalen, Gegner und Konkurrenten im internationalen System. Ja, in gewisser Weise sind sie sogar die einzigen, auf die das Attribut des Feindlichen in seinen Augen wirklich zutrifft, weil nur sie es sind, die ihm gefährlich werden und ihm seinen Posten nehmen könnten. Dann ist klar, dass man die inneren Feinde auch so behandeln darf und behandeln muss, wie unter den klassischen Bedingungen der äußere Feind behandelt wurde. Die Lügen und Täuschungen nehmen den inneren Feind ins Visier, und die eigenen Leute und Anhänger sehen darin ein Vorgehen, das ihren eigenen Interessen dient. Dann ist auch im Innern im Prinzip alles möglich, was nach herkömmlichen Maßstäben auf die Konflikte und die Bekämpfung äußerer Rivalen und Gegner beschränkt war. Hier wie dort gilt: Wenn man mit Lügen und Täuschungen den politischen Gegner klein hält und besiegt, dann wird das nicht nur geduldet, sondern als besondere Qualität und Raffinesse honoriert und bejubelt. Und die eigenen

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

Anhänger, die die Welt genauso wahrnehmen wie ihr Anführer, sehen natürlich darüber hinweg, wenn die Aussagen nicht der Wahrheit entsprechen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Die Anhängerschaft beruht nicht auf dem Prinzip der Wahrheit, und deswegen ist die Widerlegung der Aussagen des Anführers völlig belanglos und imponiert niemandem. Sie interessiert Trump und seine Anhänger so wenig wie im klassischen Muster der Virtuose der Lüge dadurch irritiert wird, dass die Gegner und Feinde, gegen die sie gerichtet sind, die Täuschungsmanöver irgendwann durchschauen. Neu und erklärungsbedürftig ist allerdings, dass diese Lügen von vornherein gar nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit getätigt werden, sondern sowohl Anhänger als auch Gegner immer schon wissen, dass ihnen lauter Lügen aufgetischt werden. Offenbar geht es gar nicht mehr darum, den Gegner in die Irre zu führen und zu überlisten. Wichtiger ist etwas anderes geworden. Wichtiger ist das Image des rücksichtslosen und starken Helden, das sich der Anführer bei seinen eigenen Anhängern schafft, bestätigt und ausmalt. Was könnte besser zu diesem Image passen als die Erhabenheit über die Banalität der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge? Mit ihr zeigt der Chef und Anführer, dass er immer noch der Herr im Ring ist, keinem Kampf aus dem Wege geht und alles dafür tut, dass die richtige Seite den Sieg davonträgt. Das nehmen die eigenen Anhänger nicht nur nicht krumm, sondern finden es großartig und bewundernswert, weil sie darin den überzeugenden Nachweis sehen, dass ihr Held sie mit allen Mitteln schützt und sich um sie kümmert. Der Wunsch nach Schutz und Aufmerksamkeit ist so groß, dass dahinter alles andere bedeutungslos wird. Was die Anhänger suchen, ist Sicherheit und Fürsorge, und dann spielt es keine Rolle oder gilt sogar als Ausweis eines besonderen Einsatzes, dass dafür die Gegner mit Täuschungs- und Lügenmanövern überzogen werden. Er lügt nicht für sich, sondern für uns, er lügt, um uns zu schützen, er kümmert sich so sehr um uns, dass er dafür alle Register zieht und sogar zu Lüge und Täuschung bereit ist. Für Lüge und Täuschung heißt das, dass ihr Wesen durchaus bestehen bleibt. Nach wie vor bestehen sie aus falschen und irreführenden Behauptungen. Aber es gibt viele sekundäre Funktionen und Anlagerungen, die sich mit dem Wesen der Lüge gut vertragen und verbinden lassen. Man kann Lügen für sehr unterschiedliche Zwecke einsetzen: Man kann mit ihnen die Gegner in Schach halten, ausbooten, verwirren und in die Irre führen, man kann mit ihnen viel Lärm veranstalten und Energien binden, man kann mit ihnen spielen und die Leute vor Vergnügen aufjauchzen lassen, man kann mit ihnen provozieren, und man wird für all das von den einen verachtet und den

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anderen bewundert. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die Unwahrheit, die in der Lüge steckt, ganz bedeutungslos geworden ist. Sicher gibt es auch die herkömmlichen Lügen noch. So, wenn Trump dem Finanzamt gegenüber falsche Angaben macht, – vielleicht war diese Art der Lügen typisch für seine Zeit als Immobilienunternehmer. Da ist es ja nach wie vor sehr wichtig, dass die Wahrheit nicht herauskommt, weil das mit handfesten Nachteilen verbunden wäre. Aber auffälliger und häufiger sind die Lügen, bei denen von vornherein eigentlich jeder weiß, dass es sich um Lügen handelt, und deswegen das Interesse, die Wahrheit nicht herauskommen zu lassen, gar keine Rolle spielt. Wichtig ist nicht die Verleugnung und Verdrehung der Tatsachen, sondern wichtig ist die Drohgebärde und Demütigung des Gegners. Wichtig ist die Kampfansage. Ob das mit wahren oder falschen Aussagen geschieht, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Ob die Waffen, mit denen der Gegner bekämpft wird, Lügen oder Wahrheiten sind, ist gleichgültig. Hauptsache sie funktionieren und erreichen ihren Zweck. Das rückt die Lügen in die Nähe zum Bullshit.

Bullshit, heiße Luft, Bluff Das Wesen des Bullshits liegt dem Philosophen Harry Frankfurt zufolge darin, dass in ihm die Frage nach wahr und falsch gleichgültig geworden ist. Der Wahrheitswert seiner Aussage interessiert den Bullshitter nicht. Das unterscheidet ihn vom Lügner. Dem klassischen Lügner ist daran gelegen, dass seine Aussage für die Wahrheit genommen wird, insofern stellt er die Gültigkeit der Wahrheit nicht in Frage. In der Negation der Wahrheit bleibt die Wahrheit das Maß der Dinge, das auch die Lüge noch anerkennt. Beim Bullshit wird dagegen die Verbindung zur Wahrheit abgeschnitten. Der Bullshitter beachtet sie einfach nicht. Er platziert sich jenseits von Wahrheit und Falschheit. Frankfurt führt als Beispiel einen Redner an, der am Nationalfeiertag der USA in bombastischen Worten das großartige und gesegnete Land preist, dessen Gründerväter unter Gottes Führung eine neue Ära für die Menschheit eingeläutet haben. Der Redner lügt vermutlich nicht. Das wäre nur dann der Fall, wenn er die Zuhörer glauben machen möchte, woran er selbst nicht glaubt: dass die USA groß und gesegnet sind, dass die Gründerväter unter göttlicher Führung gehandelt haben, dass ihnen ein Neuanfang für die Menschheit zu verdanken ist. Aber um derartige Sachverhalte geht es dem Redner gar nicht. Er will keine Lektion über die Geschichte liefern, sondern ihm ist nur wichtig,

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dass sich die Leute ein ganz bestimmtes Bild von ihm machen. Er möchte für einen Patrioten gehalten werden, für jemanden, der tiefgründige Gedanken und Gefühle über den Ursprung und die Mission der USA hegt, der die bedeutsame Rolle der Religion würdigt und empfänglich ist für die großartigen Momente der amerikanischen Geschichte, dessen Stolz und Demut sich mit Demut vor Gott verbindet, und so weiter. Kurz: Eigentlich ist er nur daran interessiert, ein bestimmtes Image von sich zu erzeugen bzw. diesem Image gerecht zu werden.2 Die Unterscheidung zwischen Bullshit und Lüge, die Frankfurt macht, leuchtet ein. Ist Trump also kein Lügner, sondern ein Bullshitter? In einem kleinen Artikel vom Mai 2016 geht Frankfurt dieser Frage nach und kommt zu dem Ergebnis, dass sich der republikanische Präsidentschaftsanwärter beider Varianten der Täuschung bedient, also sowohl ein Bullshitter wie ein Lügner ist. Das ist nicht wirklich überzeugend, und ich plädiere aus mehreren Gründen dafür, in Trump eher den Lügner als den Bullshitter zu sehen. Zum einen ist es so, dass der typische Trumpismus-Bullshit, den es zweifellos auch gibt, immer noch vorwiegend in Gestalt von Lügen auftritt. Es sind fast durchgängig falsche Behauptungen, die der amerikanische Präsident in die Welt setzt, mit dem Unterschied, dass ihre Wahrheitswidrigkeit sofort in die Augen springt, – was den Lügner aber offenbar gar nicht stört und woran er vollkommen desinteressiert ist. Insofern ist es wie beim Bullshit. Aber es handelt sich bei Trump immer noch um ganz handfeste Lügen über Sachverhalte und Tatsachen und nicht um irgendwelche salbungsvollen Reden. Typischer Bullshit besteht nicht aus Lügen, sondern ist leeres Gerede von jemandem, der sich nicht festlegt und sinnleer drauflos plappert. Für Trump sind nicht solche Reden zum amerikanischen Unabhängigkeitstag typisch, wie Frankfurt sie aufspießt, sondern viel direktere Irreführungen, Täuschungen und Lügen. Beiden, dem bullshit artist wie dem Lügner à la Trump, geht es allerdings um das gleiche: um ihr Image und nicht um die Wahrheit. Aber es ist eben doch ein Unterschied, ob jemand ein Image mit solchen Geschichten pflegt, wie Frankfurt sie dem Festredner in den Mund legt, oder ob jemand ein Image pflegt, indem er so auftritt wie Trump und Lügen verbreitet. Der Festredner von Frankfurt ist ein Märchenonkel, gut für die Erbauung, und er bedient das Image eines guten amerikanischen Patrioten. Der Lügner Trump dagegen kündigt an, dass er seine Gegner k.o. schlagen wird, seine Lügen

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Siehe Frankfurt, Bullshit, S. 26f, 44, das Beispiel des Redners S. 16ff.

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stecken voller Aggressionen und sie polarisieren und spalten. Der Geschichtenerzähler von Frankfurt verstellt sich, er tut so, als ob er ein Patriot wäre, er spielt eine Rolle. Trump mit seinen Lügen verstellt sich nicht, sondern zeigt sich so, wie er ist. Der Bullshitter ist eher ein Trottel und Geschichtenerzähler, der Lügner Trump ist ein aggressiver Spalter, der die Lüge zur Waffe macht, mit der er seine Feinde bekämpft.3 Zum zweiten bleibe ich im Blick auf Trump beim Begriff der Lüge auch deswegen, weil Bullshit das Phänomen eher verniedlicht und seine Bedeutung herunterspielt. Frankfurt meint selber, dass wir Bullshit gleichsam weniger persönlich nehmen als die Lüge, und das durchaus zu Recht, weil in der normalen Lüge eine größere Entwertung der Belogenen steckt als im Bullshit. Es erscheint mir aber wichtig zu ergründen, wieso sich eigentlich ein so großer Teil der amerikanischen Bevölkerung mit den Lügen des Präsidenten nicht nur abfindet, sondern ihm sogar dafür zujubelt. Es ist gerade die aggressive Lüge, mit der die Spaltung der Gesellschaften herbeigeführt und verstärkt wird, – mit Bullshit wäre das kaum möglich.4 Schließlich und zum dritten ist Trump auch deswegen kein Bullshitter, weil er nicht nur den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge aufkündigt, sondern zusätzlich auch noch das Versteckspiel, das normalerweise mit dem Bullshit verbunden ist, als antiquiert und überflüssig beiseiteschiebt. Nach Frankfurt erwecken sowohl der Bullshitter als auch der Lügner den falschen Eindruck, dass sie etwas Wahres mitteilen wollen. Der Lügner verbirgt, dass er uns von einer korrekten Wahrnehmung der Wirklichkeit abbringen will. Der Bullshitter verbirgt, »dass der Wahrheitswert seiner Behauptung keine besondere Rolle für ihn spielt. Wir sollen nicht erkennen, dass er weder die Wahrheit sagen noch die Wahrheit verbergen will.« Für Trump trifft das nicht zu. In fast allen Fällen kann jeder mehr oder weniger sofort oder spätestens am nächsten Tag in der Zeitung erkennen, dass der Präsident die Unwahrheit gesagt hat. Nichts wird mehr verborgen und versteckt, sondern es wird alles offensiv und demonstrativ zur Schau gestellt. Trump verbirgt nichts, er hat nicht nur den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit verabschiedet, sondern auch den Unterschied zwischen Verbergen und Offenlegen.5 Wenn es bei Bullshit, Gerede, heißer Luft auf den Wahrheitswert und den Informationsgehalt der Aussagen gar nicht ankommt, worauf kommt es dann

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Siehe Frankfurt, Donald Trump. Bullshit nehmen wir weniger persönlich als die Lüge: Frankfurt, Bullshit, S. 38. Das Zitat: ebda., S. 41.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

eigentlich an? Frankfurt meint: auf den Bluff. Bullshitten stehe dem Bluffen näher als der Lüge. Bei der Lüge geht es um die Wahrheitswidrigkeit. Beim Bluffen dagegen will jemand einen falschen Eindruck erzeugen und Eindruck schinden. Wer blufft, gibt sich kompetenter und stärker als er in Wirklichkeit ist. Er gibt Qualitäten und Kompetenzen vor, über die er gar nicht verfügt, aber er macht das so überzeugend, dass die anderen leicht darauf hereinfallen. Der Bluffer will imponieren und einschüchtern, er will Angst machen, er droht mit Waffen und Armeen, die er gar nicht hat. Das kann beim Gegner oder Rivalen dazu führen, dass er klein beigibt, obwohl er es eigentlich, was die realen Kräfte- und Kompetenzverhältnisse angeht, gar nicht müsste. Im politischen Kontext gehört das Bluffen vorwiegend in das Umfeld der Demonstration von Stärke und Überlegenheit, insbesondere auf dem Gebiet der Gewaltmittel. Es gibt auch das Umgekehrte, dass man Schwäche vorgaukelt und unterschätzt werden möchte, um dann aus der Deckung zu kommen, aufzutrumpfen und alle zu überraschen. Das würden wir aber wohl eher unter der Rubrik der List verbuchen. Man macht sich dann zum David, um den Goliath in Sicherheit zu wiegen und ihn zu überrumpeln. Der Erfolg des Bluffens wie der List hängt daran, dass die Täuschungsmanöver einigermaßen überzeugend und nicht bereits auf den ersten Blick durchschaubar sind. Sie müssen also reale Wahrnehmungen liefern, die dann beim Gegner zu falschen Schlüssen führen. In Shakespeares »Macbeth« befiehlt Malcolm, der Sohn des ermordeten Königs von Schottland, seinen Soldaten, einen Ast vor sich herzutragen, um auf diese Weise die Größe ihres Heeres zu verbergen, die gegnerischen Kundschafter in Verwirrung zu setzen und den Eindruck zu erzeugen, dass der ganze Birnam-Wald gegen das Schloss vorrückt, in dem der Titelheld sich verschanzt hat. Die Differenz des Bluffs zur Lüge besteht ferner darin, dass die Lüge an die Sprache gebunden ist, der Bluff, wie das Shakespeare-Beispiel zeigt, nicht unbedingt. Beim Pokern macht man das mit dem sprichwörtlichen Pokerface. Zum Bluffen braucht man die große Geste, die große theaterhafte Inszenierung, nicht nur die Sprache wie beim Lügen.6 Der Bluff teilt mit der originären Lüge das Bestreben, nicht aufzufliegen. Und wie bei der Lüge besteht das Risiko beim Bluffen darin, dass es rauskommen kann und dann das Gegenteil von dem erreicht wird, was erreicht werden sollte. Wem einmal nachgewiesen wurde, dass er geblufft hat, auf dessen Bluff fällt man beim zweiten Mal nicht mehr so leicht herein. Es spricht 6

Frankfurt über den Bluff: ebda., S. 35f; Shakespeare, Macbeth, Fünfter Akt, Vierte Szene.

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viel dafür, dass wir es sowohl bei Trump als auch bei Putin mit ausgemachten Strategen des Bluffens zu tun haben. Bei Trump gehörte das Bluffen zu seinem Geschäftsmodell als Immobilienhändler (wie wir im vierten Kapitel noch ausführlicher sehen werden). Bei Putin ist das Bluffen ein Teil seines Bestrebens, das Land mit dem Einsatz des Militärs wieder in den Rang einer Großmacht zu erheben und dafür zu sorgen, dass es von den anderen großen Mächten als gleichrangig anerkannt wird. Bei Trump wie bei Putin ist das Bluffen jeweils unverzichtbarer Teil des Images, mit dem sie operieren und erfolgreich sind. Trump inszeniert sich als super erfolgreicher Geschäftsmann, der seinen Reichtum ganz aus eigener Kraft erzeugt hat, und das korrespondiert vortrefflich mit dem Status der USA als größter Wirtschaftsmacht der Welt. Putin unterstreicht den Anspruch Russlands auf den Status einer vor allem auf das Militär gestützten Großmacht mit der Inszenierung eigener körperlicher Stärke. Er erschießt Tiger, er reitet, taucht, schwimmt und spielt Eishockey, er legt beim Judo die Gegner aufs Kreuz und angelt die Hechte mit nacktem Oberkörper. Sowohl bei Putin wie bei Trump gehört die Praxis des Bluffens zum Arsenal einer höchst realen Risiko- und Eskalationsbereitschaft, mit der beide Akteure ihre Mitspieler und Gegner immer wieder überraschen und überrumpeln. Aber das Risiko, das der Bluffer eingeht, ist in gewisser Weise größer als bei der Lüge. Putin hatte in seiner Jahresrede an die Föderalversammlung im März 2018 in einer mit großem Beifall und mit großer internationaler Aufmerksamkeit aufgenommenen Präsentation mit Computerbildern eine neue Wunderwaffe vorgestellt. Sie könne, hieß es, wegen ihres Atomantriebs endlos lang auf niedriger Höhe fliegen und sei unerreichbar für die US-Raketenabwehr. Mit viel Tamtam sammelte das Verteidigungsministerium anschließend im Internet Vorschläge, welchen Namen man ihr geben sollte. »Burewestnik« oder »Sturmvogel« heißt sie für die Russen (Typenbezeichnung 9M730), die Nato nennt sie »Skyfall« mit dem Kürzel SSC-X-9. Am 8. August 2019 kam es dann aus heiterem Himmel auf dem russischen WaffenTestgelände Njonoksa zu einer Explosion, bei der sieben Menschen, darunter fünf Experten eines Atomforschungsinstituts, getötet und viele verletzt wurden. Im 30 Kilometer entfernten Sewerodwinsk wurde anschließend ein Anstieg der Radioaktivität gemeldet. Es folgte die übliche Geheimnistuerei um das Unglück, über das nur äußerst spärliche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben wurden. US-Quellen sprachen zunächst davon, dass es sich bei dem Unglück um die Explosion eines Exemplars der besagten Wunderwaffe gehandelt haben könnte. Schon zum Zeitpunkt der Ankündigung von Putin

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im März 2018 war offenbar eine Reihe von Tests mit dem neuen Marschflugkörper gescheitert. Der amerikanische Präsident kommentierte süffisant auf Twitter: »Die Vereinigten Staaten lernen viel aus der Explosion«, man verfüge nämlich über eine »ähnliche, aber weiter fortgeschrittene Technik«.7 Später wurde es für wahrscheinlicher gehalten, dass das russische Militär am Unfalltag keinen Raketentest, sondern eine Geheimoperation zur Bergung einer Waffe mit Nuklearantrieb durchführte, die bei einem früheren Test ins Meer gestürzt war. Vermutlich ist bei der Hebung etwas missglückt, möglicherweise ist restlicher Raketentreibstoff explodiert und hat dazu geführt, dass die Nuklearexperten ums Leben kamen, und möglicherweise hat der Kernreaktor im Innern des gesunkenen Marschflugkörpers so schwere Beschädigungen erlitten, dass radioaktive Gase austraten. Offizielle Regierungsstellen in Moskau hüllten sich auch Wochen nach dem Unfall in Schweigen oder wiegelten ab.8 Offenbar war die Wunderwaffe, die Putin da im März 2018 präsentiert hatte, ein Bluff, der ihm dann durch das Unglück im Weißen Meer zerschossen wurde und ihn nun als unglaubwürdig dastehen lässt, mindestens dicke Fragezeichen hinter den so gern gepflegten Mythos der waffentechnischen Überlegenheit setzt. Trump, der seine Schadenfreude nicht verbergen konnte, könnte irgendwann ähnliches passieren. Dann nämlich, wenn sich für alle sichtbar und unwiderleglich herausstellt, dass sein großes Immobilienimperium auf Sand gebaut und mit vielen hochgradig fragwürdigen und illegalen Praktiken entstanden ist. Das kann man schon heute in den Biographien über Trump nachlesen, und die aufwendigen Recherchen der New York Times vom Sommer 2018 haben mit vielen Details nachgewiesen, dass der Reichtum, von dem sogar unsicher ist, ob es ihn überhaupt gibt, auf Erbschaften und auf Steuerbetrug im großen Stil beruht. Während es bei Putin eine Nähe von Bluff und körperlicher und waffentechnischer Stärke gibt, steht bei Trump das Bluffen in der Nähe zur Hochstapelei des unglaublich erfolgreichen Geschäftsmanns. In beiden Fällen ist es mit Prahlerei und Angeberei verbunden, und in beiden Fällen kann man damit tief fallen. Das spezifische Risiko des Bluffens besteht darin, dass es sich an Freund und Feind gleichermaßen richtet und nicht, wie bei der Lüge, asymmetrisch verteilt ist. Der Bluffer will aller Welt demonstrieren, wie stark er ist. Das kann der Grund dafür werden, dass die eigenen Leute das Bluffen nicht so 7 8

Siehe SPON, 13.8.2019. Siehe NZZ, 2.9.2019.

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leicht verzeihen wie die Lüge, die sich vor allem an den Gegner richtet und in erster Linie ihn in die Irre führt. Wenn beim Bluffen herauskommt, dass nichts dahinter ist, wird es auch für die eigenen Anhänger schwierig, ihrem Helden weiter zu folgen. Denn die Verehrung der Anhänger zehrt davon, dass ihr Anführer ihnen wirklich den Schutz geben kann, nach dem sie so dringend verlangen und den er ihnen versprochen hat. Wenn sich aber zeigt, dass die vollmundigen Versprechen auf erschwindelter Stärke und erschwindeltem Reichtum beruhen, verliert der Anführer seinen Nimbus der Allmacht. Dann rückt das Bluffen in die Nähe einer Lüge, in der die Anhänger selber die Adressaten und über einen Punkt belogen worden sind, der ihnen überaus wichtig ist, darüber nämlich, dass der Anführer auch wirklich so stark ist, wie er immer getan hat, und also auch wirklich das Versprechen des Schutzes einlösen kann, das er ihnen gegeben hat. Wenn herauskommt, dass hinter diesem Versprechen keine wirkliche Macht steht, kann die Macht der Mächtigen sehr rasch wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Der Bluffer ist dann nichts als ein Angeber, wie man ihn in jeder Kneipe trifft, der große Worte macht, wo aber nichts dahinter ist. Dann sehen auch die Anhänger, dass der Kaiser so nackt ist, wie seine Kritiker es immer schon behauptet haben. Aus der Geschichte des Untergangs von Diktaturen und Autokratien ist dieses Phänomen wohlbekannt. Am Ende seines Essays stellt Frankfurt noch einige Überlegungen dazu an, warum es so viel Bullshit gibt. Die Ursachen und Gründe, die er angibt, sind wenig überzeugend. Bullshit, so meint er, sei immer dann »unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen«. Schon die nachlässige Wortwahl (»unvermeidbar«, »zwingen«), ist mehr als irritierend, zumal am Ende eines Essays, der den Wert genauer Beschreibungen und präziser Begriffe zur Vermeidung von Bullshit so sehr hervorhebt. Die sprachliche Nachlässigkeit wird auch nicht dadurch besser, dass in den darauf folgenden Sätzen statt von »zwingen« von »angeregt« sein, »verpflichtet« sein, »gedrängt« sein die Rede ist, – immer im Blick darauf, dass die Leute über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung haben. Welche Umstände es sein sollen, die Menschen dazu zwingen oder drängen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen, wird aber gar nicht benannt oder ausgeführt, außer in der allgemeinen Formulierung, dass das eben »häufig im öffentlichen Leben« der Fall sei. Wo, bitte schön, sind in einem einigermaßen freien Gemeinwesen die Leute dazu »gezwungen«, »sich eingehend über Gegenstände auszulassen, von denen sie wenig Ahnung haben«? Es ist doch nicht verboten, einfach den Mund zu halten, oder zu sagen:

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

Das weiß ich jetzt nicht, darauf habe ich keine Antwort, darüber muss ich nachdenken.9 Der zweite Grund bzw. die zweite Ursache, die Frankfurt zur Erklärung anbietet, ist kein Stück plausibler. In dieselbe Richtung der Erzeugung zunehmenden Bullshits wirke »die weitverbreitete Überzeugung, in einer Demokratie sei der Bürger verpflichtet, Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind«. Tatsächlich lebt eine einigermaßen funktionierende Demokratie davon, dass ihre Bürger »Meinungen« zu allen möglichen Themen entwickeln und vertreten. Madison, einer der Autoren der »Federalist Papers«, sagt sogar, und sehr zu Recht, »dass alle Regierungssysteme auf Meinung basieren«. Madison ergänzt, »dass die Stärke der Meinung jedes einzelnen und ihr praktischer Einfluss auf sein Verhalten sehr von der Zahl derjenigen abhängt, von denen er annimmt, sie teilten die gleiche Meinung«. Ohne Zweifel ist es so, dass politisches Handeln auf Meinungen und auf dem Austausch über sie basiert. Aber auch hier gilt: Weder ist jemand dazu gezwungen, eine Meinung zu allem und jedem zu äußern, noch haben Meinungen und die Möglichkeit freier Meinungsäußerung irgendwas mit Bullshitten zu tun. Es gibt das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber keine Pflicht dazu. Das Recht auf freie Meinungsäußerung verpflichtet niemanden dazu, Bullshit abzusondern, Lügenmärchen zu erzählen und Täuschungen unter die Leute zu bringen. Aber jeder, der im öffentlichen Raum das Wort ergreift, muss damit rechnen, dass ihm widersprochen wird, dass seine Behauptungen widerlegt, korrigiert und ergänzt werden. Es ist im Prinzip auch nicht so schwer, Tatsachen, Meinungen, Lügen und Bullshitten voneinander zu unterscheiden. Es ist eine Tatsache, dass russische Soldaten eine Militäroperation auf der Krim durchgeführt haben und nicht umgekehrt 9

Alle Zitate bei Frankfurt, Bullshit, S. 45f. Im amerikanischen Original lauten die entsprechenden Sätze: »Bullshit is unavoidable whenever circumstances require someone to talk without knowing what he is talking about. Thus the production of bullshit is stimulated whenever a person’s obligations or opportunities to speak about some topic exceed his knowledge of the facts that are relevant to that topic. This discrepancy is common in public life, where people are frequently impelled – whether by their own propensities or by the demands of others – to speak extensively about matters of which they are to some degree ignorant. Closely related instances arise from the widespread conviction that it is the responsibility of a citizen in a democracy to have opinions about everything, or at least everything that pertains to the conduct of his country’s affairs.« (S. 63f)

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ukrainische Soldaten auf russisches Territorium vorgedrungen sind. Es ist eine Tatsache, dass der amerikanische Präsident ein Märchen verbreiten ließ, als er behauptete, die Zuschauerzahl bei seiner Inauguration sei die größte aller Zeiten gewesen. Und dann können wir ganz unterschiedlicher Meinung sein darüber, was von diesen Tatsachen zu halten ist. Da beginnt das weite Feld der öffentlichen Debatten.10 Die Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart lehren uns allerdings sehr deutlich, dass weder Tatsachenfeststellungen noch eine intensive und facettenreiche öffentliche Debatte selbstverständlich sind. Mehr als einmal sind unangenehme Tatbestände so behandelt worden, als wären sie keine Tatsachen, »sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne«. Das ganze Problem von Lüge und Täuschung im politischen Raum besteht eigentlich darin, dass dadurch die Möglichkeit freier öffentlicher Debatte, die für politisches Handeln unverzichtbar ist, unterlaufen und unterminiert wird. Zu Lügen und Täuschungen kommen in den modernen westlichen Gesellschaften die vielfältigen Techniken des Image-Making und der Public Relations hinzu, die aus dem Bereich der Werbung und des Konsums in den Bereich der Politik hinübergreifen. Diese Techniken, die immer hart am Rande von Täuschung und Irreführung operieren, kommen hier wie dort, in Russland wie in den USA, unentwegt zum Einsatz. Aus den USA und den westlichen Staaten kennen wir das schon sehr lange. In Russland wurde es Mitte der 1990er Jahre entdeckt und eingesetzt, als Präsident Jelzin damit begann, im Kampf um die russische Seele die werbetechnische und strategische Unterstützung von Polittechnologen und Spin-Doktoren in Anspruch zu nehmen. Seitdem hat Russland im Bereich der Public-Relations-Industrie eine nachholende Modernisierung an den Tag gelegt wie in sonst keinem anderen Bereich.11 Es ist nur ein schwacher Trost, dass es im Unterschied zu Russland in den westlichen Staaten kein Regierungs-Monopol im Kampf um die Meinungen und Seelen der Menschen gibt, sondern eine größere Palette von Parteien und Organisationen miteinander konkurrieren und sich gegenseitig in Frage stellen. Es ist immer wieder ein jämmerliches Schauspiel, dass in öffentlichen

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Das Zitat: Frankfurt, Bullshit, S. 46; die Zitate von Madison in: Hamilton et al., Federalist Papers, S. 306. Das Zitat über Tatsachen als Meinungen von Arendt, Wahrheit, S. 336; zu den Polittechnologen in Russland siehe Schmid, Technologien.

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Debatten und vor allem in Zeiten der Wahlkämpfe auch in den Wettbewerbsdemokratien die PR-Berater so sehr das Geschehen dominieren. Überall drängen die Imagemaker mit ihren grandiosen Versprechungen in den politischen Bereich hinein und ersetzen die inhaltliche Debatte durch den Kampf um die Bilder, – ein Übel, das offenbar überhaupt nicht mehr zu stoppen ist. Politik verkommt zur Reklameschlacht, in der die Experten der jeweiligen PR-Büros aufeinander losgelassen werden. Dabei erweisen sich ihre vollmundigen Ankündigungen unvermeidlich als hohl, und sie haben es ja beispielsweise keineswegs vermocht, den Niedergang der Volksparteien in vielen westlichen Staaten aufzuhalten. Offenbar ist die Manipulation der Volksmeinungen in eine festgelegte Richtung und für ein gewolltes Wahlverhalten ein weitgehend vergebliches Unterfangen. Das gilt, wie später noch zu zeigen sein wird, sogar für Russland, wo jegliche Konkurrenz zwischen den PR-Experten ausgeschaltet wird. Gleichwohl ist die Vorherrschaft der Public-Relations-Mentalität, in der es nur um die Wirkung auf das jeweilige Publikum geht, ungebrochen. Und es kann kein Zweifel sein, dass davon auch der Aufstieg der Autokraten der Gegenwart profitiert, die das Spiel mit Reklame, Medien-Lärm und Medien-Images prächtig verstehen. Kommen wir aber noch einmal zurück zu den Erklärungen von Frankfurt für »die gegenwärtige Verbreitung von Bullshit«. Die »tieferen Ursachen«, meint er, liegen nicht im Zwang, zu allem und jedem eine Meinung zu haben, sondern »in diversen Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeit eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht«. Hier ist es vor allem die ›antirealistische‹ Doktrin der »Aufrichtigkeit«, in der nach Frankfurt das Bemühen um Tatsachentreue durch den Versuch, »sich selbst treu zu sein«, ersetzt worden ist. Das ist ein interessanter Punkt, bei dem man freilich gerne wüsste und länger darüber nachdenken müsste, wieso denn die Treue zu sich selbst mit der Treue zu den Tatsachen in Konflikt geraten soll. Für Kant jedenfalls gehören diese beiden Anwendungsgebiete der Treue, wie wir gesehen haben, unabdingbar zusammen. Frankfurts zentraler Einwand geht aber in eine andere Richtung. Für ihn besteht das Problem darin, dass wir über uns selbst eigentlich noch viel weniger wissen können als über die Realität außer uns. Sein Essay endet mit den Sätzen: »Die Tatsachen und Aussagen über uns selbst sind keineswegs besonders solide und resistent gegen eine Auflösung durch skeptisches Denken. In Wirklichkeit sind wir Menschen schwer zu packende Wesen. Unsere Natur ist notorisch instabiler und weni-

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ger eingewurzelt als die Natur anderer Dinge. Und angesichts dieser Tatsache ist Aufrichtigkeit selbst Bullshit.«12 Im Kontext des Essays ist das aber ein irritierendes Argument, weil es genau den Skeptizismus, dem Frankfurt unübersehbar seinerseits mit Skepsis begegnet, noch weiter befeuert. Wenn man den Kult des aufrichtigen und authentischen Subjekts für Bullshit hält, wäre es ein wichtiger Punkt, zu klären, was daraus für den Bereich des politischen Handelns folgt. Darin liegt der Mangel des Essays von Frankfurt, dass in ihm die Bedeutung des Sprechens für das politische Handeln, also die Frage nach der Bedeutung des öffentlichen Raums, gar keine Rolle spielt. Welche Äußerungen als Bullshit, heiße Luft und Bluff gelten dürfen, wo und wann Lüge, Irreführung und Täuschung vorliegen, – all das steht ja nicht apriori fest, sondern kann nur im öffentlichen Raum im Zusammenspiel der Positionen und Meinungen konstatiert und geklärt werden. Für eine freie Öffentlichkeit ist überaus wichtig, dass es ungehinderten Zugang zu Informationen über Tatsachen und Ereignisse gibt und alle sich verlässlich ein Bild machen können. Schwindet dagegen durch die Ausbreitung von Täuschung und Lüge das Vertrauen in die Richtigkeit und Wahrheit der Informationen, dann ist das ein alarmierender Vorgang erster Güte. Wenn man sich nicht verlässlich informieren kann oder verlässliche Informationen keine Rolle mehr spielen, ist es unmöglich, sich eine fundierte Meinung zu bilden und tragfähige Entscheidungen zu treffen.

Postmoderne Lügen? Lassen wir diese Frage aber erst einmal auf sich beruhen und wenden uns einem anderen, in jüngster Zeit nach den Erfolgen des Populismus häufig vorgebrachten Erklärungsversuch für die Zunahme von Lügen und Täuschungen zu. In ihm wird die postmoderne Philosophie und Geisteshaltung, die im Jahrzehnt nach 1980 den Ernst der alten Wahrheiten durch die Aufforderung zum Spiel mit Konstruktionen und Erzählungen ablöste, für die gegenwärtig um sich greifende Lügenpraxis verantwortlich gemacht. Die französischen Philosophen Lyotard, Derrida und Foucault, die eine Fülle höchst anspruchsvoller philosophischer Studien vorgelegt haben, erscheinen als Wegbereiter von Trump, Putin und Co. Die Antwort auf die Frage, wes Geistes Kind die

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Alle Zitate aus Frankfurt, Bullshit, S. 46, 47, 48.

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autoritären Anführer unserer Zeit und ihre Anhänger sind, ist demnach klar: Sie sind die Kinder der Postmoderne. Susan Neiman macht die postmoderne Behauptung, dass »Wahrheitsansprüche immer Machtansprüche sind«, für die Gegenwartskrise verantwortlich. Michiko Kakutani spricht von der »populist Right’s appropriation of postmodernist arguments and its embrace of the philosophical repudiation of objectivity« und behauptet, dass es eine »migration of postmodern ideas from academia to the political mainstream« gegeben hat. Boris Schumatsky meint zwar, dass die Denker der Postmoderne für die großen Lügen Putins so wenig können wie die Philosophie der Aufklärung für den Stalinismus, dass aber doch viele Intellektuelle in Russland seit den 1990er Jahren unter dem Einfluss postmodernen Denkens eine Haltung eingenommen haben, »die Putins Machtergreifung ermöglichte« und seinem Regime »Geburtshilfe« leistete. In den politischen Techniken des Populismus erkennt Schumatsky eine »der Postmoderne entliehene Inhaltsleere«, die den »Einsatz immer neuer Lügen« ermöglicht. Zum »postmodernen Habitus«, der sich »durch alle politischen Lager und Kulturschichten« ausgebreitet habe, gehöre dazu, die »Wahrheit nicht so genau zu nehmen«. Nach Karl-Heinz Ott haben die Anhänger der postmodernen Theoretiker nach der Wahl von Donald Trump allen Grund zum Erschrecken, weil damit im Grunde einer der ihren zum mächtigsten Mann der Welt wurde. Die eifrigen Jünger der französischen Modephilosophen hätten es zwar nicht so gemeint, aber jetzt mache der neue Mann im Weißen Haus aus den postmodernen Spielereien bitteren Ernst und ernte auf dem Boden, den die postmoderne Theorie präpariert hat. Für Andreas Kablitz hat die postmoderne Denkmode »nicht unwesentlich zur Bereitstellung jener Klaviatur« beigetragen, die heute »Faktisches zu Trug und Erfundenes zu Tatsachen« erklärt. Alles habe mit den spielerisch-postmodernen Verabschiedungsfeiern der Wahrheit begonnen und sei nun beim »Ermächtigungsgesetz des Beliebigen« gelandet. Maurizio Ferraris schließlich, um nur ihn noch zu nennen, behauptet kurzerhand in seinem »Manifest des neuen Realismus«: »Das, wovon die Postmodernisten geträumt haben, haben die Populisten verwirklicht.«13 Alle diese Behauptungen und Genealogien sind nicht überzeugend. Zunächst und in einem ganz handfesten Sinn sind die populistischen Bewegungen und Parteien, in denen die Autokraten und politischen Großlügner der 13

Neiman, Widerstand, S. 51; Kakutani, Death, S. 45, 49; Schumatsky, Untertan, S. 111, 141; Ott, Postmoderne; Kablitz, Postmoderne; Ferraris, Manifest, S. 17.

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Gegenwart die Hauptrolle spielen, nirgendwo als intellektuelles Elitenprojekt in Erscheinung getreten. Die Zahl der Intellektuellen und Wissenschaftler, die sich auf die Seite national-aggressiver Abschottung und imperialer Großmachtpolitik geschlagen haben, ist überall ausgesprochen niedrig. Es gibt so gut wie niemanden aus dem Feld der kulturellen Elite, der den populistischen Bewegungen zu Hilfe eilt und ihre geistige Leere füllt. Das ist auch nicht wirklich verwunderlich: Für alle populistischen Bewegungen ist der aggressive Affekt gegen Wissenschaftler, Publizisten, Medienleute und Künstler charakteristisch. Es ist zwar so, dass die Anführer der populistischen Bewegungen ihrerseits auch nicht gerade aus dem Volk stammen, sondern zur gesellschaftlichen Elite gehören, aber Intellektuelle finden sich darunter kaum und intellektuelle Vertreter der Postmoderne schon gar nicht. In Putins Russland scheint die Lage anders auszusehen. Man hat den Eindruck, dass sich dort seit den 1990er Jahren viele Intellektuelle, Künstler und Literaten mit wahrlich abenteuerlichen Ideen gegenseitig zu übertreffen suchen und allesamt darauf hoffen, dass nun bald die Stunde ihrer öffentlichen Einflussnahme gekommen ist. Ihre Weltbilder und Entwürfe tragen die Züge eines wilden Eklektizismus, in dem eine Provokation und Absurdität die vorherige übertrumpft und verzweifelt um Aufmerksamkeit kämpft. Alle möglichen intellektuellen Spielarten schießen ins Kraut und warten mit lauter kleinen verrückten und überambitionierten Ideologien auf. Schriftsteller und Künstler tummeln sich in den Vorzimmern der Macht, hoffen auf höhere Verwendung, und der eine oder andere schafft es dann tatsächlich und erhält den begehrten Zugang zu den oberen Etagen des Staates. Die Verwendung dieser ehrgeizigen Intellektuellen war und ist für die Spitzenakteure im Kreml vor allem deswegen einen Versuch wert, weil keiner von ihnen, weder Jelzin noch Putin, ein überzeugendes politisches Programm zu entwickeln vermochte. Dann liegt es nahe, die Hilfe von Leuten in Anspruch zu nehmen, die von sich behaupten, wie mit Zauberhand die skeptische Bevölkerung in treue Gefolgschaft verwandeln zu können, ohne dass sie es merkt und ohne dass man dazu Blut vergießen muss. Die Aussicht, Politik und Herrschaft als Anwendung von »Technologien der Seele« (Ulrich Schmid) zu verstehen und mit dem Einsatz von Reklame und Marketing in ein vergnügliches Spektakel zu verwandeln, war gerade im postsowjetischen Russland zu verlockend. Zu den unverzichtbaren Voraussetzungen gehörte auf der Seite der Spin-Doktoren ihre Bereitschaft, jede politische Finte mitzumachen und durch entsprechende PR-Maßnahmen abzusichern. Das alles aber hat nichts mit einem irgendwie gearteten postmodernen Denken zu tun, sondern ist durch die Lebens-

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läufe dieser intellektuellen Vagabunden vorbereitet, die mindestens so viele Wendungen und Haken aufweisen wie die gesellschaftliche Geschichte Russlands seit den 1980er Jahren.14 Nehmen wir zum Beispiel Wladislaw Surkow, die »zentrale Figur in der Polittechnologie des Kremls«, mit seiner schillernden Biographie. Zwölf Jahre lang war Surkow als stellvertretender Direktor der allmächtigen Präsidialverwaltung tätig, bevor er nach einem kleinen Intermezzo auf vergleichsweise unbedeutenden Posten im September 2013 von Putin zu seinem persönlichen Berater ernannt wurde. In dieser Position hatte er den heiklen Auftrag, sich um die abtrünnigen Autonomen Republiken Abchasien und Südossetien zu kümmern, die einst Teil Georgiens waren. Vermutlich hat Surkow aber auch das Drehbuch geschrieben, dem der Kreml seit 2014 in seiner Strategie gegen die Ukraine folgt. Die USA und die Europäische Union setzten ihn deswegen auf eine Sanktionsliste, die ihm die Einreise nach Amerika und die Mitgliedsstaaten der EU verbietet. Gleichwohl war er für Putin so wichtig, dass dieser darauf bestand, von Surkow bei seiner Teilnahme an der Konferenz im Normandie-Format über die Lage in der Ostukraine im Oktober 2016 in Berlin begleitet zu werden, – und die deutsche Bundesregierung dafür eine Ausnahme vom Einreiseverbot in die Staaten der EU bewirkte.15 Surkows Herkunft ist geheimnisumwoben, er studierte Metallurgie und Dramaturgie, eine nicht eben alltägliche Kombination. In seiner Zeit beim Militär gehörte er möglicherweise dem Geheimdienst an. In den 1980er Jahren war er für den Oligarchen Michail Chodorkowski tätig, nach dem Untergang der Sowjetunion versuchte er sich im aufblühenden Reklame- und Marketinggeschäft, um anschließend erneut in die Dienste von Chodorkowski zu treten und eine leitende Position in dessen Menatep-Bank zu übernehmen. Zeitgleich mit Putins Amtsantritt als Premierminister wurde Surkow im August 1999 zum stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration ernannt, die erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen hat. Im Jahr 2002 formulierte er in einer Parteischule der Regierungspartei Einiges Russland seine »Februarthesen«, in denen er die Forderung nach strenger Parteidisziplin mit inhaltlicher Wendigkeit und Pragmatismus kombinierte. In

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Schmid, Technologien, S. 177ff, gibt eine schöne Auflistung dieser intellektuellen Wunderwelten. Zu Surkow siehe Schmid, Technologien, S. 92ff, das Eingangszitat ebda., S. 92; siehe auch Pomerantsev, Nichts, S. 89ff.

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einer Rede aus dem Jahre 2006 entwarf er eine »Technologie der Macht«, deren Zweck darin bestehen sollte, größte gesellschaftliche Unterstützung für die staatlichen Entscheidungen zu organisieren. Surkow prägte den seitdem immer wieder benutzten Terminus der »souveränen Demokratie«, in der sich die demokratischen Prinzipien dem Anspruch der russischen Größe und des starken Staates unterzuordnen haben und in der die Harmonie zwischen Regierung und Staatsvolk das Maß der Dinge ist. 2009 veröffentlichte Surkow unter einem Pseudonym den Roman »Nahe Null«, der großes Aufsehen erregte, weil er darin ein düsteres Panorama des postsowjetischen Russland zeichnete, das aber schließlich doch einer strahlend hellen Zukunft entgegengeht und in der am Ende in einer Mischung aus Technokratie und Theologie sogar die Allmacht des Todes überwunden wird. Mit der Rockgruppe Agata Kristi hat Surkow einige Songs eingespielt, für die er selbst die Texte schrieb. Surkow gilt als spiritus rector der patriotischen Jugendorganisation Die Unsrigen, die mit ihren Aktivitäten das Überschwappen der bunten Revolutionen aus Georgien und der Ukraine nach Russland verhindern sollte. Der Eklektizismus seiner Politik- und Staatsauffassung bildet sich in der Sammlung von Porträts ab, mit denen er sich in seinem Arbeitszimmer im Kreml umgab, – eine Art Ahnengalerie berühmter Dichter, Denker, Politiker und Musiker von Jorge Luis Borges über Werner Heisenberg und Joseph Brodsky bis zu Otto von Bismarck, John Lennon und Barack Obama. Es gibt in Russland eine Reihe ähnlich bunter Lebensläufe von Leuten, die es nicht ganz so weit gebracht haben wie Surkow. Derartige Biographien kennen wir zur Genüge auch aus anderen Zeiten und Ländern, gerade in Phasen radikalen Umbruchs und beim Wegbrechen von jahrzehntelang eingeübten Verhaltensweisen und Lehren. Typischerweise sind sie angefüllt mit abrupten Wechseln von einer extremen Position zur anderen, mit Übertritten von der Literatur in die Politik und zurück, mit immer neuen Grenzüberschreitungen und Provokationen. Nehmen wir nur den italienischen Schriftsteller und Dichter Gabriele D’Annunzio (1863-1938). Sein reichlich abenteuerliches Leben changierte zwischen Dichtung, Politik und Sinneslust und fand auch in seiner Vorliebe für den Faschismus und dem Kult des Führertums keine Ruhe. Seine militärischen Abenteuer im Ersten Weltkrieg und bei der Besetzung der Adria-Stadt Fiume nährten seinen Nimbus als Tausendsassa, in seinem späteren Wohnsitz in Gardone Riviera am Gardasee pflegte er einen prahlerischen Lebensstil, und er war voll des Lobes für die territorialen Expansionsbestrebungen der italienischen Faschisten in Afrika. Alles in allem ein Leben für den »Traum von der Erneuerung italienischer Männlichkeit durch

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Gewalt«, den er vor allem im »Freistaat Fiume« fünfzehn Monate lang mit einem zwischen Eros und Thanatos pendelnden Kult zu realisieren suchte und damit zornig-verzweifelte junge Leute aus aller Welt anzog.16 Putin und Trump haben ihre Haltung zur Welt und ihr Politikverständnis nicht in den Büchern, dem kulturellen Klima und den Denkschulen der Postmoderne gelernt, sondern ganz woanders. Putin auf den Straßen Leningrads im Überlebenskampf und in den Schulungen der Geheimdienste, Trump in der Immobilienbranche und mit Geschäftspraktiken, bei denen die Grenze zur Kriminalität immer schon durchlässig war. Und auch ihre jeweiligen Anhänger dürften von aller Postmoderne denkbar weit entfernt sein. In den großen Städten der USA, in denen die intellektuellen Moden zu Hause sind und ihre vielleicht ja wirklich manchmal irritierenden Triumphe feiern, ist Trump bei den Präsidentschaftswahlen auf keinen grünen Zweig gekommen. In Washington D.C. erhielt er 4,1 Prozent der Stimmen, in Manhattan 9,7 Prozent, im texanischen Roberts County dagegen, wo man vermutlich noch nie etwas von postmodernem Gedankengut gehört hat, kam er auf 95 Prozent.17 Vielleicht aber haben die Kritiker, die die Postmoderne für die autoritären Versuchungen und die lügenhafte Politik der Gegenwart verantwortlich machen, gar nicht gemeint, dass es direkte persönliche Verbindungen und Beteiligungen gibt, ablesbar an Biographien und Wahlergebnissen. Vielleicht soll sich ihr Argument eher auf die Inhalte der postmodernen Theorieentwürfe beziehen. Aber auch das ist nicht haltbar. Die postmodernen Denkfiguren und Argumente sind alles andere als ein Plädoyer für Lüge und Täuschung, für Doppelspiele und die Spaltung der Gesellschaft als Mittel der Beschaffung von Mehrheiten. Und kein postmoderner Denker hat jemals etwas in diese Richtung empfohlen oder das organisierte Lügen aus machtpolitischem Kalkül und zur Zerstörung der öffentlichen Debatte zum Programm erhoben. In Wahrheit geht es den postmodernen Denkern um etwas ganz anderes und eher um das Umgekehrte. Im Kern richten sich ihre aufwendigen und ambitionierten Abhandlungen und Überlegungen auf die Mehrdeutigkeit der 16 17

Zu D’Annunzio siehe Mishra, Zorn, das Zitat S. 11. Siehe zu den Wahlergebnissen insgesamt: https://en.wikipedia.org/wiki/2016_Uni ted_States_presidential_election; die Wahlergebnisse in Washington D.C .: https://en. wikipedia.org/wiki/2016_United_States_presidential_election_in_the_District_of_ C olumbia; die Wahlergebnisse in Manhattan: https://en.wikipedia.org/wiki/2016_ United_States_presidential_election_in_New_York#Results_by_C ounty; die Wahlergebnisse in Roberts C ounty: https://en.wikipedia.org/wiki/2016_United_States_pre sidential_election_in_Texas#By_county.

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Sprache. Damit haben sie unser Wissen von der Doppelbödigkeit sprachlicher Botschaften und Zeichen und damit auch von Ironie, Lüge und Täuschungen enorm erweitert. Die Zielrichtung dieser Analysen ist nicht der Gebrauch der Sprache für Verschleierung und Verdunklung, für Diffamierung und Drohung, sondern die kritische Einsicht in die komplizierte Logik von Sprache, Texten und Zeichen. In der Tat spielt dabei die Skepsis gegenüber der vorgeblichen Eindeutigkeit eine große Rolle und damit auch die Frage, wie weit wir der Sprache vertrauen dürfen und warum sie auch als Instrument für Verdummung und Irreführung dienen kann. Wenn die postmodernen Analysen die Uneindeutigkeit der Sprache aufweisen, folgt daraus aber nicht, dass sie Rezepte für Lüge und Täuschung ausstellen. Aber die Lüge ist sicher ein gutes Exempel für diese Mehrdeutigkeit und für einen Bezug auf die Wirklichkeit, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass in der Sprache nicht einfach ein Protokoll der Realität erstellt wird. Die Aussage, dass in diesem Augenblick draußen die Sonne scheint, obwohl es in Wirklichkeit grau in grau ist und regnet, liefert kein Abbild der Wirklichkeit des Wetters, sondern ist eine Lüge, die aber zugleich ein Ausweis der wesensmäßigen Freiheit des Menschen ist. In seinem Buch über das postmoderne Wissen aus dem Jahre 1979, einem Meilenstein in den Debatten der Postmoderne, unterzieht Lyotard die »großen Erzählungen« der Aufklärung, des Idealismus und des Marxismus wegen ihrer Absolutheitsansprüche einer eindringlichen Kritik und plädiert für einen Polytheismus der Sprachspiele und Welterklärungen. Vielleicht ist das der Hintergrund für den Fehlschluss, dass die Theoretiker der Postmoderne für die Lügenpraxis der Gegenwart verantwortlich sind. Tatsächlich wendet sich die Postmoderne in den Geisteswissenschaften gegen geschlossene weltanschauliche Rahmenerzählungen, die wie die klassischen Ideologien von einem Punkt aus operieren und ein alles einschließendes Erklärungsangebot versprechen. Man kann dann leicht übersehen, dass Lyotard in den letzten Sätzen seines Buches eine »Politik« skizziert, »in der der Wunsch nach Gerechtigkeit und der nach Unbekanntem gleichermaßen respektiert sein werden«, und dies mit der Forderung nach einer Öffentlichkeit verbindet, »die freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten« muss. Die postmoderne Theorie von Lyotard ist kein Plädoyer für Lügen und Täuschungen, für Relativismus und Zynismus, sondern ein Plädoyer für Pluralismus und öffentliche Debatten, in der keine Seite apriori einen Wahrheitsanspruch für sich geltend machen kann. In der zitierten Passage über die Öffentlichkeit ist nicht die Rede davon, dass die Speicher und Datenbanken gefälschte und ge-

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logene Informationen enthalten. Lyotard glaubt sogar im Gegenteil an »Spiele mit vollständiger Information«. In diesen Äußerungen ist die Nähe zu einem naiven Positivismus deutlich größer als die Nähe zu Beliebigkeit und Relativismus.18 Nach Wolfgang Welsch, einem der besten Kenner der postmodernen Theorien, besteht der Kern ihrer Position in der Anerkennung des »Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen«. Allerdings wird das Ende der großen Erzählungen nicht als Tragödie, sondern als Chance und als »Gewinn an Autonomie und einer Befreiung des Vielen« verstanden. Es geht den Vertretern des postmodernen Denkens um eine »positive Vision der Vielfalt unterschiedlicher Sprachspiele, Handlungsformen, Lebensweisen, Wissenskonzepte« und um eine »grundsätzliche Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit. Dafür ist entscheidend, dass Pluralität als Grundverfassung der Wirklichkeit erkannt und bejaht wird. Nicht mehr die unbedingte Richtigkeit des Eigenen, sondern das prinzipielle Recht des Differenten – von dem das eigene nur ein Fall ist – bildet die Basis der Weltsicht und des Handelns.« Das Wesen der Demokratie besteht dann darin, dass sie die »Organisationsform für eine derartige Heterogenität« ist. Postmodernes Denken, wenn man es auf das Politische bezieht, ist im Kern die Lehre und die Erkenntnis, dass es eindeutige Gewissheit im politischen Raum nicht gibt und dass das Absolute den öffentlichen Raum gerade zerstört. Es richtet sich gegen den Dogmatismus jeglicher Couleur und befördert die Fähigkeiten, Bullshit zu durchschauen, heiße Luft zu erkennen, Lügen, Irreführungen und Täuschungen wahrzunehmen und sich von ihnen nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.19 Wer freilich jeden Zweifel an der Sicherheit des Wissens und der Sprache für den Anfang vom Ende hält, findet in den postmodernen Denkern einen dankbaren Gegner. Aber dann könnte man die populistische Verabschiedung und Relativierung der Wahrheit auch und mit gleichem Recht auf Descartes, Marx oder Wittgenstein zurückführen. Vor dem kartesischen Zweifel ist nichts sicher, kein Gedanke und keine Erfahrung, und Descartes zweifelte daran, ob es überhaupt so etwas wie Wahrheit gibt. Marx bestand in diesem spezifisch modernen Sinn darauf, dass Erscheinung und Wesen voneinander getrennt sind und der Unmittelbarkeit sinnlicher Wahrnehmung keineswegs zu trauen ist. Wäre es anders, wäre jegliche Wissenschaft überflüssig. Nichts 18 19

Siehe Lyotard, Postmodernes Wissen, S. 157. Welsch, Einleitung, S. 10, 12, 37, 39.

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ist, was es scheint, und auch das Elend ist nicht einfach nur das Elend, sondern die unvermeidliche Voraussetzung für den fortschrittlichen Gang der Weltgeschichte. Und Wittgenstein meinte, Lügen sei ein »Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre«.20 Immer schon gilt natürlich für die Werke der Literatur und Kunst, dass sie keine realistischen Abbilder der Wirklichkeit liefern, sondern Geschichten erfinden und erzählen und Bilder malen, die stets Fiktionen sind. Die Kulturund Kunstgeschichte rechnet die »Lust der Täuschung« zu ihren bevorzugten Sujets und arbeitet und spielt unentwegt und gerne mit Schein, Täuschungen und Illusionen aller Art. Berühmt ist das Bild einer Tabakspfeife von René Magritte aus dem Jahre 1929, unter das er schrieb: »Das ist keine Pfeife.« Das Phänomen ist altbekannt, und immer wieder setzen die Künste ihren Ehrgeiz darein, unsere Wahrnehmungen zu irritieren, zu verblüffen und uns vor Augen zu stellen, wie leicht wir zu täuschen sind. Es wäre absurd, sie deswegen in eine Reihe mit den Politikern der Lüge zu stellen. Das aber geschieht, wenn man sich mit der Aussage begnügt, dass beide mit Fiktionen operieren. Es ist ein Unterschied, ob Trump, vor Kriegsveteranen in Kansas City im Juli 2018, sagt: »Merkt euch: Was ihr seht und lest, passiert nicht wirklich.« Oder ob Lewis Carroll seine Alice auf eine Abenteuerreise durchs Wunderland schickt, bei der sie aus dem Staunen nicht herauskommt. Bei Trump ist die Aussage in eine Aggression gegen unabhängige Medien und zuverlässige Informationen eingebaut, die mit dem Gestus operiert, dass eigentlich nur der Präsident selber weiß, was wirklich passiert und er insofern das Monopol über die Wahrheit hat. Carrolls Kinderbuch ist keine Anleitung dafür, die Welt in ein Durcheinander von Chaos und Absurditäten zu verwandeln, genauso wenig wie George Orwells » « ein Rezeptbuch für die Durchführung totalitärer Kontrolle und Unterwerfung ist. Es gilt vielmehr umgekehrt, dass hier mit den Mitteln der Phantasie und der Fiktion erhellt wird, wohin es führt, wenn Fiktionen an die Stelle der Realität treten. Daniel Kehlmann weist in seinem Nachwort zur Neuausgabe des Romans von Orwell auf die Nähe der Zustände, die dort geschildert werden, zu den Kunstströmungen des 20

Zu Descartes siehe Arendt, Vita Activa, S. 267ff; Marx, Kapital, Bd. 3: »alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen« (S. 825); im »Elend der Philosophie« (S. 143) macht Marx dem utopischen Sozialisten Proudhon zum Vorwurf, dass er »im Elend nur das Elend« sieht, »ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werden wird«; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I, Nr. 249.

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Dadaismus und Surrealismus hin. Aber damit sind diese Kunstströmungen natürlich nicht für die politischen Entwicklungen verantwortlich, sondern es ist umgekehrt so, dass sie uns helfen können, die politischen Entwicklungen zu sehen, zu beschreiben und zu verstehen. »1984 demonstriert …, dass die eigentlich apolitische, experimentelle Literatur Techniken entwickelt hat, die ideal zur Beschreibung absurder politischer Strukturen taugen.« Also geht es nicht um die Täuschung, sondern um die Aufklärung über sie.21 Sicherlich ist die Sensibilität berechtigt, mit der die Kritiker der postmodernen Theorien auf alle Anzeichen einer Normalisierung von Lüge und Täuschung reagieren. Aber man muss aufpassen, dass man dabei die Einwände an der richtigen Stelle platziert. Formal gesehen, kann man durchaus sagen, wie Wittgenstein das tut, dass die Lüge ein Sprachspiel ist wie jedes andere, und dass, wie die Soziologen und Psychologen das tun, wir ohne Lüge nicht durch den Alltag und das Leben kommen würden. Aber man muss diesen Positionen gegenüber hinzufügen, dass die Lüge zugleich ein Sprachspiel ist, das alle weiteren Sprachspiele zerstören kann, – und das ist regelmäßig dann der Fall, wenn es nicht um Alltagskommunikationen geht, sondern um »Diskurse«, in denen wir uns über den Zustand der Welt verständigen und erörtern, wie wir leben und auf welche Weise wir die politischen Angelegenheiten regeln wollen. In Diskursen dieser Art sind wir darauf angewiesen, dass wir den Äußerungen der anderen trauen und ihnen aus Überzeugung zustimmen oder sie mit Argumenten und mit der Angabe von Gründen bestreiten. Ein Diskurs in diesem Sinn kann nur gelingen, wenn alle Teilnehmer wechselseitig unterstellen können, dass jeder nur das behauptet, was er selbst glaubt und von dem er selber überzeugt ist. Jeder Versuch sich zu verständigen hängt daran, dass die Teilnehmer zurechnungsfähig und aufrichtig sind und sich als gleichberechtigt anerkennen. Die Lüge gehört zu den Sprechakten, die die Verständigung zerstören und unmöglich machen. Mit einer Lüge kann niemand überzeugt, allenfalls überredet und dazu gebracht werden, etwas für richtig zu halten, das in Wirklichkeit falsch ist und dessen Falschheit er auch sofort erkennen würde, wenn er nicht belogen worden wäre.22

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»Lust der Täuschung« lautet der Titel einer Ausstellung in München und Aachen aus dem Jahr 2019; siehe den Katalog zur Ausstellung von Beitin und Diederen; zur Frage der Lüge in der Literatur siehe Strässle, Fake; das Zitat aus der Trump-Rede in Kansas City nach SZ-Online, 11.8.2018; das Kehlmann-Zitat im Nachwort zu Orwell, 1984, S. 381. Siehe Habermas, Diskursethik, S. 98ff.

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Es versteht sich, dass reales politisches Handeln unter Bedingungen stattfindet, die nicht identisch mit der idealen Sprechsituation sind, sondern ganz anderen Imperativen gehorchen, von der Durchsetzung eigener Interessen gegen den Widerstand anderer Interessen geprägt sind und unter dem Vorzeichen von Asymmetrie und Gewalt stehen. In dieser Realität haben wir es mit den Aporien zu tun, die wir in der Geschichte des politischen Handelns immer wieder beobachten können und die jeder erfährt, der sich in die Arena der Politik begibt. Sie liefern den Stoff, den die politischen Denker aufgreifen und bearbeiten. Die Aporien politischen Handelns lassen sich weder in die eine noch in die andere Richtung auflösen. Die Verpflichtung darauf, immer die Wahrheit zu sagen, würde, wie das Beispiel von Kant, gegen seine Absicht, zeigt, dem Mörder in die Hände spielen. Die gegenwärtige Lügenpraxis aber ist das andere Extrem, das auf das gleiche hinausläuft. Auf zynische Weise sieht sie in Unwahrheit und Täuschung das Modell und Muster aller Politik, erhebt das Faustrecht und das Recht des Stärkeren in den Rang der Normalität und zerstört damit die Beziehung zwischen Freien und Gleichen, die am Anfang allen politischen Handelns steht, das diesen Namen verdient.

Verlogenheit, Heuchelei, wahre Lügen Lüge, List und Täuschung sind intentionale Handlungen, die auf Seiten der Akteure mit Bewusstsein und Willen zur Erreichung bestimmter politischer Zwecke eingesetzt und, wenn sie erfolgreich sind, vom eigenen Publikum bewundert werden. Bei der Verlogenheit liegen die Dinge in mehrfacher Hinsicht anders. Verlogenheit ist eine Vokabel, die von vornherein eine deutliche Verurteilung enthält. Ferner wird bei näherer Betrachtung schnell deutlich, dass der Begriff nicht auf den Akt des Lügens zielt, sondern den Lügner als Person in den Blick nimmt. Die Bezeichnung Lüge bezieht sich auf den Akt, in dem die Unwahrheit gesagt wird, die Bezeichnung Verlogenheit bezieht sich auf das Habituelle, sie ist die Kennzeichnung eines Charakters. Otto Friedrich Bollnow unterscheidet zwischen Lüge und Unwahrhaftigkeit. »Während Wahrheit und Lüge der einzelnen Aussage zukommen, insofern der Mensch entweder in ihr zum angemessenen Ausdruck bringt, was er für wahr hält, oder etwas anderes vorgibt, von dem er weiß, dass es nicht wahr ist, charakterisieren die Begriffe der Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit überhaupt nicht den Menschen in Bezug auf diese oder jene bestimmte Aussage, sondern sie treffen den Menschen im ganzen. Sie bezeichnen zwei

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verschiedene Haltungen des betreffenden Menschen.« In diesem Sinne gibt es dann sogar eine »ehrliche Lüge«, – das ist jene Lüge, bei der der Lügner weiß, dass er lügt, sich nicht selbst, sondern nur andere täuscht und die Verantwortung für sein Verhalten übernimmt. Die Unwahrhaftigkeit setzt da ein, »wo der Mensch sich selbst etwas vormacht, wo er auch sich selbst gegenüber nicht zugibt, dass er lügt, wo er sich die Verhältnisse vielmehr so zurechtlegt, dass er auch sich selbst gegenüber den Schein der Ehrlichkeit wahrt«. Kurz: Die Begriffe Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit bzw. Verlogenheit zielen auf die »Beziehung des Menschen zu sich selbst«.23 Wer verlogen ist, lügt gleichsam absichtslos, ohne Anstrengung, er lügt ohne jede Mühe, ohne dass er sich überwinden muss, wie von selbst, ohne eigenes Zutun. Das Lügen ist dem Verlogenen zur zweiten Natur geworden. Es ist dann aber nicht nur so, wie Bollnow meint, dass der Verlogene sich selbst täuscht, also zum Opfer seiner eigenen Lügen wird, zum oft beschriebenen betrogenen Betrüger, der seinen eigenen Lügen auf den Leim geht. Präziser beschrieben ist es so, dass der Verlogene das Selbst verloren hat, das er belügen könnte. Der Verlogene ist mit seinen Lügen identisch geworden und kann davon gar nicht mehr unterschieden werden. Kant nimmt diese Unterscheidung und die intakte Beziehung des Menschen zu sich selbst für die Begründung der Moral aus den Quellen der Vernunft in Anspruch. Wie wir gesehen haben, ist die Lüge dann deswegen so außerordentlich beunruhigend, weil sie dazu angetan ist, diese Beziehung zu zerstören. Verlogenheit bezeichnet jenen Zustand, in dem diese Zerstörung vollendet ist. Sie untergräbt damit nicht nur die Vernunftmoral, sondern zugleich die Möglichkeit des Strafens und des Verzeihens, deren Bedingung immer darin besteht, dass die Person mehr ist als ihre Tat und ihre Lüge. Nur einer Person, die in dem, was sie getan hat, nicht aufgeht, können wir verzeihen, nur unter dieser Bedingung kann sie bestraft werden. Der Verlogene aber lügt nicht nur, sondern ist von den Lügen, die er äußert, gar nicht mehr zu unterscheiden.24 Auf den ersten Blick macht Augustinus, der sich als erster in der abendländischen Philosophiegeschichte zu Beginn des 5. Jahrhunderts dezidiert mit dem Phänomen der Lüge auseinandergesetzt hat, eine ähnliche Beobachtung. Er unterscheidet acht Klassen von Lügen, die er in einer Rangfolge je nach der Schwere ihrer Schuld auflistet. In sieben Kategorien haben wir es 23 24

Bollnow, Tugenden, S. 139f. Zum Unterschied zwischen Lügen und Verlogenheit siehe auch Arendt, Wahrheit, S. 358f.

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mit Fällen zu tun, in denen mithilfe der Lügen ein bestimmter Zweck erreicht werden soll. Die Unwahrheit dient dazu, ein Ziel zu erreichen, von dem der Lügner meint, dass es ohne die Lüge nicht oder nicht so leicht erreichbar ist. Lügen dieser Art werden nicht aus Vergnügen erzählt, sondern weil sie wie ein Werkzeug oder Instrument gute Dienste leisten können. Daneben gibt es bei Augustinus eine Klasse von Lügen, die nicht im Dienste der Realisierung anderer Zwecke steht, sondern Selbstzweck ist. Das ist die »Lüge in Reinkultur«, die »allein durch die Lust am Lügen und Täuschen« zustande kommt. Augustinus meint, dass Lügner dieser Kategorie »ohne Grund lügen«, also nicht, um damit ein Ziel zu realisieren. »Gerade diese muss man im eigentlichen Sinne als lügenhafte Menschen bezeichnen. Es besteht ja ein Unterschied zwischen einem Menschen, der lügt, und einem lügenhaften Menschen. Zur ersten Gruppe gehört auch, wer ungern lügt; ein lügenhafter Mensch hingegen lügt gern und lebt geistigerweise in der Lust zu lügen.«25 Aber es ist keineswegs so, dass diese »Lüge in Reinkultur« in der Kasuistik, die Augustinus nach der Schwere der Sünde einteilt, den Spitzenplatz belegen würde. Sie nimmt die vierte Position ein, so dass sie weniger schlimm ist als die vorhergehenden drei und schlimmer als die folgenden vier. Die verwerflichste Klasse der Lügen ist die, die »in der religiösen Unterweisung ausgesprochen wird« und die »Glaubensdisziplin« betrifft. Die »Lüge in Reinkultur«, die Lüge »ohne Grund« ist immer noch, wie die anderen Klassen der Lüge auch, eine Täuschung, für die gilt, dass der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bestehen bleibt, und damit auch die klassische Definition der Lüge, die Augustinus gibt, erfüllt. »Eine Lüge liegt vor, wenn jemand durch Worte oder sonstige Zeichen etwas zum Ausdruck bringt, was seinem Denken nicht entspricht.« Oder, mit der Hinzunahme des Kriteriums der Täuschung: »Demgemäß ist offensichtlich eine unwahre mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage eine Lüge.« Von Selbsttäuschung oder von Verlogenheit, die die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge unterläuft, ist bei Augustinus nirgendwo die Rede. Weil die Lügner im Grunde immer wissen, was sie tun, gehören sie alle zur Kategorie der »ehrlichen Lügner«, von denen Bollnow spricht.26 Es ist nicht leicht, eine klare Trennung zwischen Verlogenheit und ehrlicher Lüge zu ziehen. Für Kant wäre die Rede von ehrlichen Lügen eine con25 26

Augustinus, Die Lüge, S. 37, 28. »Religiöse Unterweisung«: ebda., S. 36; »Glaubensdisziplin«: ebda., S. 19; die klassische Definition: ebda., S. 2; die Definition mit dem Willen zur Täuschung: ebda., S. 7.

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tradictio in adiecto und verwerflich. Bei vielen anderen findet man das Argument der abschüssigen Bahn, auf der jeder Lügner ins Rutschen kommt. Hier dominiert die Sorge, dass der Abstand zwischen gelegentlichen Lügen und Verlogenheit sehr klein ist und es einen unmerklichen und fließenden Übergang zwischen ihnen gibt. So sagt z.B. Thomas Jefferson: »Wer sich gestattet, einmal zu lügen, dem wird es beim zweiten und dritten Mal schon leichter fallen, bis es ihm schließlich zur Gewohnheit wird. Dann erzählt er Lügen, ohne darauf zu achten, und Wahrheiten, die die Welt ihm nicht glaubt. Diese Falschheit seiner Zunge führt zu Falschheit des Herzens und verdirbt mit der Zeit all dessen gute Eigenschaften.« James Comey, der in seinem Buch über Trump diese Sätze zitiert, spitzt das Argument noch weiter zu und meint, dass die Lüge im politischen Raum so gefährlich ist, weil sie sich gerade hier immer wieder auszahlt und belohnt wird. »Im Laufe der Jahre habe ich oft erlebt, dass Lügner so gut im Lügen werden, dass sie die Fähigkeit verlieren, zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden. Sie umgeben sich mit anderen Lügnern. Der Kreis wird enger und kleiner, denn diejenigen, die nicht bereit sind, ihren moralischen Kompass zu ignorieren, werden ausgeschlossen, während diejenigen, die Betrug bereitwillig tolerieren, dem Zentrum der Macht immer näher kommen. Vergünstigungen und Zugang gewährt man jenen, die willens sind, selbst zu lügen und Lügen zu tolerieren. Das erzeugt eine Kultur, die sich zu einem regelrechten Lebensstil entwickelt. Die leichtfertigen, lässigen Lügen sind eine sehr gefährliche Sache. Sie bereiten den Weg für größere Lügen an wichtigeren Orten, wo die Folgen weniger harmlos sind.«27 Bei den gegenwärtig das politische Bild bestimmenden Lügen kommen wir nicht um den Eindruck herum, dass der Übergang von der ehrlichen Lüge zur Verlogenheit längst vollzogen ist. Die notorischen Lügner haben im Dickicht ihrer Lügen den Überblick verloren und scheren sich nicht darum. Möglicherweise wissen sie, dass sie lügen, aber nicht weil sie die Wahrheit kennen, sondern weil sie alles für Lüge halten, auch die Wahrheit. Die Lüge ist ihnen zum Habitus geworden, sie setzen die Lüge nicht mehr nur intentional und kalkuliert und in gut begründeten Ausnahmesituationen ein, sondern lügen gewohnheitsmäßig. Dass es sich so verhält, dafür gibt es jenseits der Intuition eine Reihe sicherer Hinweise. Auf die unendliche Zahl der Lügen, die die Relation zwischen Ausnahme und Regel völlig durcheinander bringt, 27

Das Jefferson-Zitat nach Comey, Amt, S. 79; das Zitat über die Lüge als Lebensstil: ebda., S. 81f.

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habe ich im ersten Kapitel schon hingewiesen. Ein weiterer Indikator ist, dass der Verlogene sich heute schon nicht mehr an die Lüge erinnert, die er gestern gesagt hat bzw. heute das, was er gestern gesagt hat, selber zur Lüge erklärt, ohne dass man sicher sein kann, dass er morgen nicht das gleiche mit der Aussage von heute macht. Trump hat offensichtlich keine Mühe damit, seine eigene Äußerung kurze Zeit später der von ihm so genannten Lügenpresse in die Schuhe zu schieben. Mitte Juli 2018 gab er bei seinem Besuch in London der Boulevard-Zeitung Sun ein Interview, in dem er die englische Regierungschefin Theresa May bloßstellte, am Tag darauf erklärte er bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Premierministerin das Interview kurzerhand zu Fake-News. Ein untrügliches Kennzeichen für Verlogenheit besteht darin, dass jemand auch dort noch lügt, wo es nach allen irgendwie nachvollziehbaren Kosten-Nutzen-Kalkülen völlig unnötig ist und eigentlich auch aus der Perspektive des Lügners, salopp gesagt, überhaupt nichts bringt. Comey berichtet von einem Gespräch beim Abendessen mit Trump unter vier Augen. »Erst sagte der Präsident beispielsweise, sein Stabschef Reince Priebus wüsste nichts von unserem Treffen, was mir unglaublich erschien. Ein Stabschef sollte wissen, wenn der Präsident unter vier Augen mit dem FBI-Direktor zu Abend isst. Dann, später im Verlauf desselben Essens, sagte Trump dann ganz nebenbei: ›Reince weiß, dass wir uns treffen.‹« Vielleicht kann man das, wohlwollend, auch mit einer temporären Konzentrationsschwäche erklären. Aber es gibt andere Beispiele, wo das nicht mehr zutrifft. Etwa die Lüge über die Anzahl der Besucher bei der Amtseinführung. Eigentlich war sonnenklar, dass diese Lüge dem Weißen Haus nur Scherereien einbringen konnte, da es für jeden einigermaßen Klarsichtigen auf der Hand lag, dass die Aussage nicht stimmte und damit die Kosten der Lüge viel höher werden würden als ihr Nutzen jemals hätte sein können. Solche Lügen, die nach normalen Kriterien bewertet nichts nützen, sind der Punkt, bei dem man als Beobachter darauf aufmerksam wird, dass der Übergang von der Lüge zur Verlogenheit stattgefunden hat und die Lüge habituell geworden ist. Das gilt auch für jene Lügen, mit denen sich jemand verteidigt, obwohl er gar nicht angegriffen wurde. Die Bibel weiß: »Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt.«28 An solchen Stellen liegt es nahe, mit Begriffen aus der ärztlichen Welt der Psychiatrie zu operieren und Krankhaftes zu attestieren. Viele Beobachter wollen das unbedingt vermeiden, weil sie meinen, dass damit die politische 28

Comey, Amt, S. 330f; Bibel, Sprüche 28.1.

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Zweckrationalität dieser Art von Lügen unterschätzt wird. Einen politischen Zweck erfülle eben auch noch die völlig überzogene Behauptung über die Zuschauerzahl bei der Amtseinführung. Der neue Präsident wollte damit seinen typisch populistischen Anspruch unterstreichen, die lebendige Verkörperung des Volkswillens zu sein. Das Argument übersieht aber die Tatsache, dass es bei diesem Beispiel nun wirklich keiner großen Anstrengung bedarf, um das als reine Fantastik zu durchschauen. Wer der Überzeugung ist, den Willen und die Meinung des Volkes zu verkörpern und im Ernst dafür empirische Belege beibringen möchte, wäre gut beraten, besser geeignete und nicht schon auf den ersten Blick völlig absurde Belege anzuführen. Sonst liegt die Vermutung viel zu nahe, dass man unter gravierendem Realitätsverlust leidet, also Charakterisierungen aus der Welt der Pathologie und Psychiatrie geradezu herausfordert.29 Das Problem mit der Diagnose der Verlogenheit ist sicherlich, dass sie eine Fremdzuschreibung und Pathologisierung ist, die dazu führen kann, das Phänomen politisch nicht ernst zu nehmen und es zur weiteren Behandlung den Psychologen, Psychiatern oder Therapeuten zu überlassen. Wie auch immer es sich damit verhalten mag, etwas anderes ist wichtiger und aufschlussreicher. Es lohnt sich, der Frage nachzugehen, wie sich aus der Perspektive der verlogenen Lügner eigentlich die Welt ausnimmt, wie sie sich selber sehen und wie sie mit dem Vorwurf der Verlogenheit umgehen. Die Vermutung ist, dass sie sich selber keineswegs für verlogen halten, sondern für durch und durch ehrlich. Immer wieder geben sie ja den Vorwurf der Verlogenheit direkt an die zurück, die ihn erheben und ergänzen ihn mit dem Vorwurf der Heuchelei. Heuchler sind diejenigen, die im Gewande der Tugend auftreten und damit aus der Perspektive der verlogenen Lügner die wahrhaft Verlogenen sind. Die gegenseitige Wahrnehmung, in der die einen die anderen als Verlogene betrachten und umgekehrt die Verlogenen ihre Kritiker und Gegner als Heuchler, vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr die Lager jeweils in einer eigenen Welt leben, wie tief die Gräben zwischen ihnen sind und wieso es so schwierig ist, sie zu überbrücken. Den Spieß umzudrehen und die jeweiligen Vorwürfe an die zurückzugeben, die sie äußern, kann man in diesem Fall zureichend nur verstehen, wenn man es nicht als reines taktisches Manöver verbucht, das der Devise folgt, nach der Angriff immer besser ist als Verteidigung. Es handelt sich nicht 29

Gegen die Verwendung psychiatrischer Begriffe ist z.B. Müller, Populismus, S. 20; siehe auch ders., Wahrheit?

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um Taktik, sondern um wirklich fest verankerte Überzeugungen. In den Augen der Heuchelei-Kritiker steht fest: Die kritische Presse ist tatsächlich eine Lügenpresse, die nichts als Fake-News verbreitet, unbotmäßige Journalisten sind tatsächlich Volksfeinde, politische Gegner sind wirklich Verräter, Terroristen und Kriminelle, die man einsperren muss, bestenfalls sind sie Wölfe im Schafspelz. Und das Schlimmste ist, in dieser Perspektive, dass sie ihr wahres Wesen nicht nur nicht zugeben, sondern sogar meinen, sie wären ehrlich, unbescholten, tugendhaft und gut. Gerade deswegen erfüllen sie den Tatbestand der Heuchelei. Heuchler sind sie, weil sie nicht nur lügen, sondern so tun, als würden sie nicht lügen. Das erst ist wirklich verlogen. Der Vorwurf der Heuchelei ergeht hier nicht im Namen einer Tugend der Aufrichtigkeit, wie wir das aus der Geschichte kennen und wie es im Tugendterror der Französischen Revolution eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Tugend, die die verlogenen Lügner gegenüber den von ihnen als heuchlerisch wahrgenommenen Lügnern in Anspruch nehmen, besteht vielmehr darin, sich offensiv zur Lüge zu bekennen und alles in der Welt von vornherein und immer für verlogen zu halten. Dann ist es tatsächlich so, dass sie die einzigen sind, die das Attribut der Ehrlichkeit verdienen. Und diejenigen, die allen Ernstes von sich behaupten, sie seien ehrliche und tugendhafte Leute, die nicht lügen, sind dann besonders verlogen, weil sie nicht zugeben, dass sie ebenfalls lügen. Der Heuchler ist nicht nur verlogen, sondern möchte vor anderen und vor sich selbst auch noch als tugendhaft erscheinen, und damit ist die Heuchelei die eigentliche Verlogenheit. Wenn man die Welt mit der Brille betrachtet, dass sie apriori, unvermeidlich und immer verlogen ist, ist diese Position vollkommen verständlich und nachvollziehbar. Es ist die paradoxe Position ehrlicher Verlogenheit, die hier in Anspruch genommen wird. Der ehrlich Verlogene bevölkert die Welt mit Lug und Trug, und überall dort, wo er mit etwas konfrontiert wird, was diese Sicht der Dinge nicht bestätigt, wittert er Heuchelei. Das erweist sich als perfektes Mittel, um die kognitive Dissonanz auszugleichen, die entsteht, wenn der Verlogene auf etwas trifft, das dem Bild, das er sich von der Welt gemacht hat, nicht entspricht. Der Verlogene ist ehrlich, weil er weiß und sagt, dass die ganze Welt von Verlogenen bevölkert ist. Wer das leugnet, ist ein Heuchler und bestätigt damit eigentlich nur noch einmal, dass alle Welt verlogen ist. Vom gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten wird man nicht sagen können, dass er ein Heuchler ist. Er ist tatsächlich so lügnerisch, vulgär, aggressiv und großsprecherisch, wie er sich zeigt. Umgekehrt aber ist es so, dass Trump seine Gegner für Heuchler hält. Es könnte sogar sein, dass in die-

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ser eigentümlichen Verteilung der Rollen eines der Geheimnisse dafür liegt, dass er bei seinen Anhängern so erfolgreich ist. Wenn es nur die Alternative zwischen ehrlicher Verlogenheit und Heuchelei gibt, werden Vulgarität und Aggressivität, Lügenhaftigkeit und Rohheit auf wunderbare Weise vom Geruch des Unzulänglichen und Minderwertigen befreit und zum Ausweis ihres Gegenteils gemacht, also zum Ausweis besonderer Ehrlichkeit und höherer Einsicht. Wer heuchelt, gibt vor, anders und besser zu sein, als er ist. Jemand heuchelt Interesse, obwohl er es gar nicht hat, er gaukelt etwas vor, er spielt, er verbirgt, was er wirklich denkt und meint, er verstellt sich. Wie die Verlogenheit ist auch die Heuchelei immer eine Fremdzuschreibung, die mit der Selbstwahrnehmung nicht übereinstimmt. Im Unterschied zur Verlogenheit löst aber jemand, den man als Heuchler wahrnimmt, den Wunsch aus, ihn zu entlarven. Das liegt vor allem daran, dass der (angeblich) Tugendhafte einem die eigene Unzulänglichkeit vor Augen führt. Umso größer ist die Entlastung, wenn sich herausstellt, dass die Tugend in Wirklichkeit auch nur ein Laster ist. Heuchelei ist Verstellung, sie besteht darin, sich als gut darzustellen, ohne es zu sein, als unschuldig, obwohl man es nicht ist, als Lamm, das nichts Böses tun kann, obwohl man mit allen Wassern gewaschen ist, als Musterdemokrat, obwohl man von der Demokratie gar nichts hält, als Freund der Armen, obwohl man sie verachtet. Da der Augenschein jeweils dem Wesen widerspricht, muss man aber dem Tugendhaften die Maske wegreißen, um sein wahres Gesicht sehen und dann erkennen zu können, dass er in Wahrheit ein Heuchler ist. Der springende Punkt dieser Logik, aus dem sich alles weitere ergibt, ist die Behauptung, dass die Welt tatsächlich ein durch und durch grausamer Ort ist. Das ist das Apriori, das im Zentrum dieser Weltanschauung steht. Die Welt ist von Raubtieren bevölkert und man hat in ihr nur eine Chance zu überleben, wenn man stärker ist als die anderen, ihnen zuvorkommt und sich mit allen Mitteln in die Position des Überlegenen bringt. So ist das Leben. Alle, die das anders sehen, wollen sich damit nur ihrerseits im allgemeinen Überlebenskampf einen Vorteil verschaffen. Sie sind die Heuchler, die diese elementaren Kräfte, die das Leben bestimmen, verleugnen und so tun, als gäbe es etwas anderes und als wäre etwas anderes möglich. Und gerade die, die so tun, als ob sie anderen Prinzipien folgen, verfolgen damit nur eine besonders raffinierte Form der Tarnung. Das ist ihr doppeltes Spiel, auf das man nicht hereinfallen darf.

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Unversehens gewinnen in dieser Sicht der Welt die Lügen eine andere Bedeutung. Die Lügen sind dann keine Lügen mehr, sondern sagen die verborgene Wahrheit, indem sie den Heuchlern die Maske vom Gesicht reißen. Sie sind in diesem Sinne, aus der Perspektive der Kritik an den Heuchlern, wahre Lügen, weil sie aufdecken, wie es in der Welt wirklich zugeht. In diesem Sinne sind die Lügen über den Geburtsort von Barack Obama oder die Lügen über den Charakter von Hillary Clinton das Resultat einer Jagd nach der Wahrheit und die Aufdeckung eines tieferliegenden Faktums. Clinton ist in Wahrheit eine Verbrecherin und eine Perverse, die mit Kindern handelt, Obama ist ein Schwarzer, der überhaupt nicht nach Amerika gehört, die kritische Presse ist eine Lügenpresse, die nur so tut, als ob sie der Wahrheit verpflichtet wäre. Hinter den wahren Lügen steckt, dass es in dieser Sicht eine Welt, die nicht von Vulgarität, Brutalität und Gier beherrscht wird, nicht gibt und auch nicht geben kann, und dass alle, die etwas anderes behaupten und sich anders darstellen, Heuchler sind. Immer ist es so, dass Tugend und Ehrlichkeit nur vorgetäuscht werden und auf Scheinheiligkeit beruhen. Insofern ist in den Augen Trumps die Heuchelei, die so tut, als ob es Tugend wirklich geben könnte, das einzige wirkliche Laster, das es gibt. Eigentlich lautet die Botschaft: Das sind Phantome und Scheinbilder, mit denen man uns zum Narren halten will, auf die wir aber nicht (mehr) hereinfallen. Das Leben ist immer und überall von raubtierhaften Instinkten bestimmt, und wer das leugnet, ist ein Heuchler. Ich, Trump, leugne es nicht, ich weiß, dass es so ist. Und ich sage, dass alle, die etwas anderes sagen, Heuchler sind. Alle, die diese wölfische Weltsicht und das, was daraus folgt, mit mir teilen, gehören auf meine Seite. Und die, die das nicht tun, sind unsere Gegner. Wer sich zur wölfischen Weltsicht bekennt, der folgt der Maxime: Je roher und vulgärer und rücksichtsloser, desto besser, desto richtiger und desto wahrer. Wer das leugnet, ist ein Heuchler, und das sind die schlimmsten. Zweifellos ist das eine zynische Haltung, – sofern man darunter nicht nur die »ölhäutige Gelassenheit« angesichts der Schlechtigkeit der Welt versteht, sondern das aktive Einverständnis mit diesem Zustand der Welt, die eine Welt von Wölfen ist, in der es immer nur Gewinner und Verlierer gibt und wo alles darauf ankommt, zu den Gewinnern zu gehören. Das ist eine Welt, in der das abgrundtiefe Misstrauen regiert, jeder den anderen als verlogen wahrnimmt und ihm kein Wort glaubt. Wahre Lügen sind immun gegen ihre Widerlegung. Hinter ihnen liegt eine ganze Weltsicht, mit der sie stehen und fallen. Aber diese Weltsicht ist keine Ideologie mit einem allumfassenden Erklärungsangebot. (In den Abschnitten über die darwinistische Wildnis und

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die Dreigroschenoper im Weißen Haus greife ich diese Überlegungen wieder auf.)30

Ideologie, Propaganda, Wahrlügen In den Ideologien, deren große Zeit in das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt, spielt die Lüge eine gewichtige Rolle. Ideologien sind Weltanschauungen, »die, von einer Prämisse ausgehend, behaupten, den Schlüssel für alles Geschehen in der Hand zu haben«. Ideologien wollen den Lauf der Welt im umfassenden Sinn erklären, sie sind überzeugt davon, die Gesetze, nach denen sich alles richtet, erkannt zu haben. Das 19. Jahrhundert war reich an allumfassenden Erklärungsangeboten dieser Art. Zu weit reichender politischer Geltung gekommen sind von ihnen nur der dialektisch-historische Materialismus und der Rassismus. So unterschiedlich beide Ideologien sind, so stimmen sie doch in der Behauptung überein, dass in Geschichte und Natur eine gewaltige und unaufhaltsame Kraft am Grunde allen Geschehens liegt, sämtliche Ereignisse bis ins kleinste determiniert und ihnen eine unzweideutige Funktion zuweist. Der historische Materialismus nimmt für sich in Anspruch, die Bewegungsgesetze der Geschichte erkannt zu haben. Der Rassismus ist davon überzeugt, dass sich in der Natur immer der Stärkere durchsetzt. Der Anspruch vollkommener Welterklärung richtet sich in beiden Denksystemen nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf Vergangenheit und Zukunft. Wer sich ihnen anschließt, kann das Vergangene genauestens erklären, verfügt über eine präzise Orientierung im Gegenwärtigen und kann das Zukünftige verlässlich vorhersagen. Im »Kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« aus dem Jahre 1934 heißt es: »Die Kraft der marxistisch-leninistischen Theorie besteht darin, dass sie der Praxis die Möglichkeit gibt, sich in der jeweiligen Situation zu orientieren, den inneren Zusammenhang der um sie herum geschehenden Ereignisse zu verstehen, den Gang der Ereignisse vorauszusehen, und nicht nur zu erkennen, wie und wohin sich die Ereignisse gegenwärtig entwickeln, sondern auch, wie und wohin sie sich künftig entwickeln müssen.«31

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»Ölhäutige Gelassenheit«: siehe Heinrich, Versuch, S. 201. Das Zitat zur Ideologie aus Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 708. Ich folge in diesem Unterkapitel Arendts Darlegungen auch dort, wo ich es nicht eigens nachweise. Das Zitat aus dem Kurzen Lehrgang nach Schmid, Technologien, S. 58.

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Wenn derartig anspruchsvolle und geschlossene Weltanschauungen mit der Realität in Konflikt kommen und kognitive Dissonanzen entstehen, liegt die Lösung stets darin, der Realität dafür die Schuld zu geben, – was darauf hinausläuft, sich über die Tatsachen hinwegzulügen. Dann werden die Ideologien zu Dogmen, und ihre Anhänger richten sich mehr und mehr in einer fiktiven Irrealität ein und kappen die Verbindungen zur Wirklichkeit und zu realen Erfahrungen. Ideologien biegen die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen zurecht, misstrauen den Wahrnehmungen durch die fünf Sinne und führen alles auf verborgene, aber absolut gültige Gesetzmäßigkeiten zurück. Der Soldat der Roten Armee Lew Kopelew, der im Winter 1932/1933 und im Frühjahr 1933 in den ukrainischen Dörfern die Menschen mit eigenen Augen verhungern sah, glaubte nicht, verhungernde Menschen zu sehen, sondern unvermeidliche Opfer auf dem Weg der Geschichte und des Fortschritts zum vollendeten Kommunismus. Die Antikommunisten und die Anhänger der Totalitarismustheorie sahen während des Vietnamkriegs nicht die brennenden Dörfer und getöteten und vergifteten Menschen, sondern nur den Krieg gegen den Feind. In beiden Fällen schieben sich ideologische Überzeugungen vor die unvoreingenommene Wahrnehmung der Realität.32 Die Immunisierung gegen widerstreitende Erfahrungen wird durch aufwendige Propaganda vorbereitet. Propaganda ist eine Art organisierter Lüge, die die Wahrheit der Ideologie belegen und unter die Leute bringen soll. Im Bolschewismus ist sie das Mittel, wie Merleau-Ponty, durchaus zustimmend, in seiner Abhandlung über »Humanismus und Terror« schreibt, »die Massen in den Staat und in die Geschichte hineinzuführen«. Orwell ist genauer und präziser: »Die Partei befahl einem, das Zeugnis der eigenen Augen und Ohren zu verwerfen. Das war ihr letztes, wesentlichstes Gebot.« »Und wenn alle anderen die von der Partei oktroyierte Lüge akzeptierten – wenn alle Berichte gleich lauteten –, dann ginge die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.« Das berühmteste und berüchtigtste Beispiel aus der Propaganda- und Lügenküche des Rassismus sind die »Protokolle der Weisen von Zion«, die 1903 erstmals in einer russischsprachigen Version erschienen und zu einem weltweiten Bestseller wurden, – eine äußerst wirkungsreiche Fälschung, die in der Forschung lange dem zaristischen Geheimdienst zugeschrieben wurde,

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Siehe Kopelew, Aufbewahren, S. 50f.; das Beispiel des Vietnamkriegs bei Walzer, Mut, S. 716f.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

die aber nach jüngsten aufwendigen Recherchen vermutlich einen anderen Ursprung hat.33 Die Wahrheit der Ideologien muss eifersüchtig gehütet und jede Abweichung geächtet werden. Die Absurditäten, in die das hineinführt, sind gut bekannt. Die jeweilige Parteidoktrin ist die Wahrheit und das N . Der Überwachungsstaat setzt Verfahren ein, die mit heute antiquiert wirkenden Methoden die Unwahrheit in Wahrheit und die Wahrheit in Unwahrheit verwandeln. Die neu festgelegten und verkündeten Wahrheiten treten jeweils mit dem Anspruch auf, die einzig gültigen Aussagen zu sein, – weswegen die alten Wahrheiten und alles, was an sie erinnern könnte, aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Darin besteht die Arbeit, die Winston, der Held in Orwells Roman, und mit ihm eine ganze Abteilung im »Ministerium für Wahrheit«, zu erledigen hat. Insofern gilt auch unter diesen entsetzlichen Bedingungen immer noch die Orientierung am Vorrang der Wahrheit, deren Gehalte und Sprache (»Neusprech«) eingehalten werden müssen. Die drei zentralen Parolen der Partei: »Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke« gelten als universale Wahrheiten. Und das bedeutet zugleich, dass sämtliche Hinweise darauf, dass das einmal anders gewesen sein könnte, getilgt werden müssen. Wenn die Tilgung erfolgreich vergessen ist, ist das Ziel erreicht: »die Lüge wurde Wahrheit«, weil eine andere Aussage niemals existiert hat. Im Roman von Orwell erledigt diese Operation der lückenlose Kontrollapparat des Überwachungsstaats, in der Realität kann das nur gelingen, wenn sich die totale Herrschaft auf die gesamte Welt erstrecken würde.34 Wie aufwendig und zugleich stümperhaft in der Sowjetunion unter Stalin die Lüge zur Wahrheit gemacht wurde, zeigt ein Beispiel von dem Masha Gessen berichtet: Im Band fünf der Großen Sowjet-Enzyklopädie mit den Einträgen von »Beresna« bis »Botokudy« gab es auch ein Porträt über Lawrenti Beria, Stalins obersten Henker. Er wurde auf vier Seiten gepriesen als »herausragender Führer der Allsowjetischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki und des Sowjetstaates, getreuen Schüler und Genossen J.W. Stalins« und so weiter. Nachdem aber Beria selbst hingerichtet worden war, hatten die Subskribenten der Enzyklopädie ein Schreiben erhalten: »Der Staatliche Wissen-

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34

Merleau-Ponty, Humanismus 2, S. 30; Orwell, 1984, S. 100, 45; die jüngsten wissenschaftlichen Forschungen zu den Protokollen der Weisen von Zion: Horn/Hagemeister, Fiktion; Hagemeister, Protokolle. Orwell, 1984, S. 10, 93.

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schaftsverlag ›Große Sowjet-Enzyklopädie‹ empfiehlt, die Seiten 21, 22, 23 und 24 sowie das zwischen den Seiten 22 und 23 eingebundene Porträt zu entfernen und durch die diesem Schreiben beigefügten neuen Seiten zu ersetzen. Entfernen Sie die genannten Seiten mit einer Schwere oder Rasierklinge und achten Sie darauf, Innenränder zu lassen, auf die die neuen Seiten geklebt werden.«35 Ausschlaggebend für die Schlagkraft der Ideologien und der an sie anschließenden politischen Bewegungen ist, dass sie mit Handlungsrezepten aufwarten, die den eigenen Erfolg garantieren. Ideologien sind nicht nur ein Instrument der Welterklärung, sondern zugleich eine Art Rezeptsammlung und Anleitung zur Praxis. Ihr großer Vorteil auf diesem Gebiet besteht darin, dass sie ihre Praxis durch übermenschliche Gesetzmäßigkeiten vollkommen getragen, gestützt und legitimiert sehen. Sie in Frage zu stellen und gegen sie anzugehen, wäre Verrat und Hybris zugleich. Das einzige, was den Menschen zu tun übrig bleibt, besteht darin, sich in ihren Dienst zu stellen und die Hürden und Hindernisse, die ihrer Wirksamkeit im Wege stehen, beiseite zu räumen. Wer sich mit voller Überzeugung im Besitz sicherer Kenntnis über das Ziel der Geschichte und der Natur sieht, glaubt sich damit zugleich legitimiert dazu, die Mittel der Lüge, der Täuschung und der Unterdrückung einzusetzen. Politisches Handeln wird damit zu einer Art Technik, die dem breiten Strom der Geschichte den Weg bereitet und dafür sorgt, dass er möglichst reibungslos sein Ziel erreichen kann. Man muss die Hindernisse aus dem Weg räumen, so wie man einen umgestürzten Baum von der Fahrbahn räumt, damit der Verkehr weiter laufen kann. Das alles beherrschende Gesetz von Natur und Geschichte besteht darin, Schädliches, Überflüssiges, Abgelebtes und Lebensuntaugliches zu eliminieren. Die Aufgabe der Politik ist es, den Naturgesetzen zum Durchbruch zu verhelfen und den Prozess, der ohnedies ablaufen wird, zu beschleunigen. Wenn man diesen Politikbegriff vertritt, gibt es gegen politische Lügen und Täuschungen kein Argument mehr. Warum sollte ich nicht lügen, wenn ich damit die Kosten senke und den Nutzen steigere und vollkommen von der absoluten Wahrheit meiner Weltanschauung überzeugt bin? Per definitionem steht die Lüge hier nicht im egoistischen Interesse einzelner Personen, sondern im Dienst der Realisierung übermenschlicher Natur- oder Geschichtsgesetze. Wenn die Bourgeoisie eine Klasse ist, die nach der Vollendung ihrer historischen Mission sowieso von der Bühne der Geschichte abtritt und 35

Gessen, Zukunft, S. 194f.

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dem Sieg des Proletariats im Wege steht, ist es selbstverständlich sinnvoll und nötig, sie hier und heute schon mit allen Mitteln zu bekämpfen und zu vernichten. Mit allen Mitteln zu bekämpfen sind dann aber auch jene Teile der Arbeiterklasse, die sich noch nicht zur wahren Einsicht in den Gang der Dinge emporgearbeitet haben und dazu auch niemals in der Lage sein werden, – wie das nach Lenin der Fall ist, der genau weiß, dass nur die Berufsrevolutionäre die höheren Gesetze der Weltgeschichte erkennen und die Arbeiter zu mehr als einem trade-unionistischen Bewusstsein nicht gelangen können. Deswegen müssen die Kommunisten »zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar … alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.« Trotzki schließt sich dieser Anweisung an und verallgemeinert sie: »Ein Kampf auf Leben und Tod ist undenkbar ohne militärische List, das heißt ohne Lüge und Betrug.«36 Jean-Paul Sartre und Bertolt Brecht haben die Lehre vom Vorrang des Ziels über alle moralischen Bedenken in der Verwendung der Mittel in berühmten Theaterstücken auf die Bühne gebracht. In »Die Maßnahme« und »Die schmutzigen Hände« vertreten sie die Auffassung, dass derjenige, der politisch etwas bewirken will, nicht umhin kommt, sich die Hände schmutzig zu machen und ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit zu pflegen. Der literarische Rang der beiden Autoren zeigt sich freilich darin, dass ihre Dramen zugleich gehörige Zweifel an der Plausibilität dieses Dogmas enthalten. In beiden Stücken wird politisches Handeln unter dem Vorzeichen eines instrumentellen Eingreifens in den Lauf der Welt gedacht. Der Inhalt der »Maßnahme« ist in Brechts eigenen Worten kurz folgender: »vier kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit dieser Maßnahme der Erschießung eines Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, dass der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zu wenig seinen Verstand sprechen ließ, so dass er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren.« Und die 36

Lenin, Linker Radikalismus, S. 425; Trotzki, Moral, S. 150.

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Lehre für das richtige Verhalten lautet, wie der »Kontrollchor« im Stück sagt: »Wer für den Kommunismus kämpft, der muss kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die Wahrheit nicht sagen; Dienste erweisen und Dienste verweigern; Versprechen halten und Versprechen nicht halten. Sich in Gefahr begeben und die Gefahr fliehen; kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.« Aber womöglich wollte Brecht mit dem Stück nicht Propaganda betreiben und zur Identifizierung mit dieser Logik auffordern, sondern die Logik offenlegen, so dass der ihr zugrunde liegende Irrwitz deutlich wird und man sich davon distanzieren kann.37 Auch in Sartres Theaterstück geht es darum, dass man sich die Hände schmutzig machen muss, wenn man etwas verändern will. Die Rechtfertigung von Täuschung und Lüge besteht darin, dass man mit ihrer Hilfe eine Gesellschaftsordnung errichtet, in der nicht mehr gelogen werden muss. In den »Schmutzigen Händen« vertritt Hoederer, der sich vorbehaltlos in den Dienst der Partei und der Befolgung der von ihr befohlenen Maßnahmen stellt, diese Position: »Nicht ich habe die Lüge erfunden; sie ist entstanden aus einer in Klassen aufgeteilten Gesellschaft, und jeder von uns hat sie schon bei der Geburt geerbt. Wir werden die Lüge nicht dadurch abschaffen, dass wir sie persönlich ablehnen, sondern nur dadurch, dass wir mit allen Mitteln die Klassen zum Verschwinden bringen.« »Mit allen Mitteln«, – d.h. eben auch mit den Mitteln der Lüge. Bei Sartre werden aber zugleich die absurden Konsequenzen vorgeführt, in die es mündet, wenn man meint, dass es unvermeidlich ist zu lügen, um die Lüge abzuschaffen. Wenn jeder jeden als Instrument begreift und jedes Mittel recht ist, die eigenen Ziele durchzusetzen, entsteht ein abgrundtiefes Misstrauen, in dem am Ende niemand mehr dem anderen trauen kann, auch den Mitgliedern der eigenen Partei nicht.38 Merleau-Ponty, der mit »Humanismus und Terror« gleichsam das philosophische Buch zu den »Schmutzigen Händen« geschrieben hat, bügelt die Abgründe dieser Position beiseite. »In der Diskussion über den Kommunismus wird oft der Lüge oder der List die Achtung vor der Wahrheit entgegengehalten«, so lautet der erste Satz des Buches. Diesen Gegensatz hält Merleau-Ponty aber für ganz falsch. Da der Kommunist im Besitz der

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Brechts eigene Zusammenfassung des Inhalts: Maßnahme, S. 237; das Zitat aus dem Stück ebda., S. 11; zur Frage, ob Brecht sich identifiziert oder offenlegt: Weißpflug, Arendt, S. 176ff. Sartre, Schmutzige Hände, S. 164.

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Wahrheit ist, kann es ihn tatsächlich nicht geben. Deswegen ist vollkommen klar und unerlässlich: »Aus Methode weigert sich der Kommunist, den Anderen aufs Wort zu glauben, sie als vernünftige und freie Individuen zu behandeln.« Wer sich aus lauter Eigensinn dieser Logik verweigert, an den ergeht die Aufforderung, seine Einwände nicht so wichtig zu nehmen, sondern sich lieber »unter einem historischen Blickwinkel zu sehen«, mithin sich selber, wie die Ideologie es lehrt, als ein Instrument zu betrachten, dessen sich die Geschichte zur Realisierung ihres kommunistischen Ziels bedient.39 Die letzte und vernichtende Konsequenz im Verhältnis von Lüge und Wahrheit in den Ideologien tritt aber erst dann zutage, wenn nicht mehr nur behauptet wird, dass X in Wirklichkeit ein U ist, sondern das X realiter und tatsächlich in ein U verwandelt und das X ausgelöscht wird, die Lüge also nicht nur als Wahrheit behauptet, sondern im wörtlichen Sinne wahr gemacht wird. Hannah Arendt nennt dies das »Wahrlügen« und sieht darin das wesentliche Charakteristikum der totalen Herrschaft. »Man kann sagen, dass der Faschismus der alten Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante hinzugefügt hat – die teuflischste Variante, die man sich denken kann – nämlich: das Wahrlügen.« Dann geht es nicht mehr nur darum, jemanden zu überzeugen und die Plausibilität der Ideologie mit Lügen zu untermauern. Aus der »Verachtung für Tatsachen«, die das Stadium der Propaganda auszeichnet, wird die aktive Herstellung einer Wirklichkeit, die den Lügen entspricht. Das Wesentliche an den totalitären Lügen ist nicht, dass sie die Realität verzerren und Fiktionen an die Stelle von Wahrheiten setzen, sondern dass sie Ankündigungen von Handlungen und Taten sind. Die totalitären Lügner glauben so fest an die Wahrheit ihrer Lügen, dass sie entschlossen sind, sie wahr zu machen. Sobald sie Zugriff auf das staatliche Gewaltmonopol haben, setzen sie die dazu nötigen Mittel bedenkenlos ein und richten die Realität solange zu, bis sie den lügenhaften Aussagen über sie entspricht. Wir haben es dann nicht mehr mit der Flucht in eine fiktive Welt zu tun, sondern vor allem damit, dass die Wirklichkeit mit dem Einsatz von Gewalt und Terror in einen Zustand versetzt wird, der tatsächlich so aussieht, wie es die Lüge behauptet hatte. Die totalitäre Lüge begnügt sich nicht mit der Transformation von Tatsachen in Fiktionen, sondern geht dazu über, die Fiktionen zu Tatsachen zu machen. Das ist der Kern ihrer Mission, 39

Der erste Satz: Humanismus 1, S. 7; »aus Methode weigert sich der Kommunist«: Humanismus 2, S. 10; der historische Blickwinkel: Humanismus 2, S. 9.

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und in diesem Sinne ist es der totalitären Ideologie nie auf Inhalte oder Originalität ihrer Aussagen angekommen, sondern immer nur darauf, über die Macht und die Gewaltmittel zu verfügen, mit denen Lügen und Fiktionen in Tatsachen verwandelt werden können.40 Die Menschen verfügen nicht nur über das Vermögen der Lüge, sondern auch über das Vermögen, Tatsachen zu erzeugen, die diesen Lügen entsprechen. Die Lügen wie die Tatsachen hängen nur von dem ab, der die Macht hat, sie zu etablieren. »Die Behauptung, dass nur Moskau eine Untergrundbahn habe, ist nur so lange eine Lüge, als die Bolschewisten nicht die Macht haben, alle anderen Untergrundbahnen zu zerstören.« Die Behauptung, dass die östlichen Völker als Untermenschen keine Intelligenz haben, kündigt die Aktionen an, in denen die Intelligenzschicht dieser Länder ausgerottet wird. Die Behauptung, dass niemals ein Trotzki die Rote Armee organisiert hat, ist die Ankündigung, ihn zu ermorden. Die Behauptung, dass die Juden eigentlich nur Ungeziefer sind, ist die Ankündigung, sie wie Ungeziefer zu behandeln und zu vernichten. Die Behauptung, dass die Kulaken eine aussterbende Klasse sind, ist die Ankündigung, sie zu liquidieren. Das Problem der Arbeitslosigkeit, die es in der Planwirtschaft definitionsgemäß nicht gibt, kann man dadurch lösen, dass man die Arbeitslosen festnimmt und ins Gefängnis steckt. Die Nazis behaupten nicht nur, dass die Juden die Welt beherrschen und man gegen sie vorgehen muss, sondern handeln danach. Die Rasselehre sagt, dass es absterbende Rassen gibt, und die totalitäre Praxis zieht daraus die Konsequenz, die minderwertige Rasse umzubringen. Die Lügen, die zur Ideologie dazugehören, kündigen Handlungen an, in denen sie wahr gemacht werden, »wie bei dem Mörder, der sagt, Frau Schmidt sei gestorben, und der dann hingeht und sie umbringt«. Wer von absterbenden Klassen spricht, die den Zug der Geschichte verpassen, erklärt sie zu lebenden Leichnamen und gibt sie zur Ermordung frei. »Die Bolschewisten lassen angeblich nur die Millionen in Arbeitslagern verrecken, die vorher bereits ›abgestorben‹ waren, während die Nazis nur diejenigen in die Gaskammern schickten, die es nach den ewigen Gesetzen der Natur gar nicht hätte geben dürfen.« Am Ende werden die

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»Wahrlügen«: Arendt, Deutsches Problem, S. 29f; »Verachtung für Tatsachen«: Arendt, Elemente, S. 557.

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Lügen so sehr zur Gewissheit und zur Realität, dass sie nicht mehr von der Behauptung, nach der zwei mal zwei vier ist, unterschieden werden können.41 Wirklich funktionieren kann dieses grauenhafte Unternehmen freilich nur, wenn die totalitären Gewalthaber die ganze Welt beherrschen und es gar keine Bereiche mehr gibt, die nicht ihrem Kommando gehorchen. »Daher verrät die Propagandamethode der unfehlbaren Voraussage, verbunden mit der inhärenten Verachtung aller Tatsachen, mehr als jeder andere totalitäre Propagandatrick, dass die Beherrschung des Erdballs das notwendige Endziel der totalitären Bewegungen ist; denn nur in einer vollständig kontrollierten und beherrschten Welt kann der totalitäre Diktator alle Tatsachen verachten, alle Lügen in die Wirklichkeit umsetzen und alle Prophezeiungen wahr machen.« Wer aus Prinzip lügt und über die Machtmittel und den Willen verfügt, die Wirklichkeit entsprechend zuzurichten, kann damit auf Dauer nur durchkommen, wenn es tatsächlich niemanden mehr gibt, der ihm machtvoll widerspricht, Einhalt gebietet oder als Zeuge berichtet, was geschehen ist. Totalitäre Herrschaft kann deswegen keinerlei Widerspruch dulden und muss stets danach streben, die ganze Welt zu beherrschen und alle, die ihr im Wege stehen, auszurotten. Die Nazis wollten sämtliche Juden töten, auch die Kinder, nicht nur um spätere Racheakte zu vermeiden, sondern auch um jegliche Art von Zeugenschaft zu verhindern. Sie wollten mithin auch das Gedächtnis an die Toten ausrotten, und das ging nur, wenn buchstäblich alle Juden vom Erdboden vertilgt wären. Das Wahrlügen ist eine Form des Lügens, die »nur mittels Terror funktionieren kann, das heißt dadurch, dass das schiere Verbrechertum in die politischen Vorgänge eindringt.«42 Es ist immerhin ein Trost, wenn auch nur ein kleiner, dass das Unternehmen des Wahrlügens nicht bis zur letzten Konsequenz zu Ende gebracht werden konnte. Aber dass es damit ein für allemal unmöglich gemacht wurde, ist überhaupt nicht ausgemacht. Putin, Trump & Co. zeigen keinerlei Hemmungen im Gebrauch von Lügen und Täuschungen. »Alle diese Lügen, auch wenn ihre Urheber sich dessen nicht bewusst sind, sind potentiell gewaltsam; jedes organisierte Lügen tendiert dahin, das zu zerstören, was es zu

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Moskauer U-Bahn: Arendt, Elemente, S. 557f; Untermenschen: ebda., S. 547; der Mörder von Frau Schmidt: Arendt, Lüge, S. 329; das Zitat über die Bolschewisten und die Nazis: Arendt, Elemente, S. 551. Die Beherrschung des Erdballs: Arendt, Elemente, S. 558; das Verbrechertum: Arendt, Amerikanische Revolution, S. 360.

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negieren beschlossen hat, wiewohl nur die totalitären Gewalthaber das Lügen bewusst als den Beginn des Mordens zu handhaben wissen.« Putin und Trump sind freilich keine Ideologen, die eine allumfassende Weltanschauung vertreten und diese unbedingt realisieren wollen. Sie sind Techniker der Macht, sie zerstören, jeder auf seine Weise, den öffentlichen Raum, der als einziger in der Lage ist, politisches Handeln in den Grenzen zu halten, in denen es sinnvoll und dauerhaft möglich ist. Sie sind immerzu dabei, Tatsachen in Fiktionen zu verwandeln. Aber sie sind immer noch weit davon entfernt, eine Wirklichkeit zu erzeugen, die ihren Lügen entspricht. Beide begnügen sich damit, den öffentlichen Raum zu zerstören und ihre Macht zu erhalten. Sie lösen die Öffentlichkeit und die in ihr mögliche Verständigung soweit auf, dass nichts wahr und alles möglich ist. Aber bislang reicht ihnen dieser Möglichkeitsraum, und sie füllen ihn nicht mit dem eisernen Willen, die Fiktionen zu Tatsachen zu machen.43

Lügen ohne Ideologie Die politische Lüge der Gegenwart ist nicht die Lüge im politischen Normalzustand. Sie unterscheidet sich aber auch von der ideologischen Lüge und vom Wahrlügen der totalen Herrschaft. Hinter der typischen politischen Gegenwartslüge steht keine festgefügte Weltanschauung, die ihre Anhänger unfähig macht, die Wirklichkeit zu erkennen und dazu zwingt, die Tatsachen so zurecht zu biegen, dass sie ins Weltbild passen. Die typischen Gegenwartslügen sind auch keine Propagandalügen, die immerhin formal durch einen bestimmten Grad von Organisiertheit und Rationalität charakterisiert waren, also im Dienst der Verbreitung einer umfassenden ideologischen Lehre standen, die mit dem Anspruch auf Wahrheit auftrat. Die Lügen, die die Gegenwart charakterisieren, sind im Vergleich dazu undogmatisch, pragmatisch, flexibel und beliebig. Zugleich erreichen sie eine quantitative Dimension, die alle frühere Lügenpraxis weit hinter sich lässt. Es ist, als wenn die Ideologien das Ausmaß der Lügen und Unwahrheiten noch eingehegt, geregelt und begrenzt hätten und erst ihr Ende die Lüge von allen Schranken freigesetzt hätte. Alles in allem ist es deswegen nicht verwunderlich, dass die echten Ideologen und Fanatiker, die auch in der Gegenwart nicht ausgestorben sind, mit 43

Alle Lügen sind potentiell gewaltsam: Arendt, Wahrheit, S. 356.

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der mehr oder weniger undogmatischen politischen Praxis ganz und gar nicht einverstanden sind. Die neuen Formen des politischen Handelns sind ihnen nicht ernst genug, sie haben keine Ordnung und kein System, sie orientieren sich zu wenig am Vorbild einer geschlossenen Weltanschauung, die die Wahrheit der eigenen Sicht unter die Leute bringen soll und alle Abweichungen davon als Verrat wertet und ächtet. Echte Ideologen sind Fundamentalisten, die von der Wahrheit ihrer Lehre absolut überzeugt sind und auf die Jongleure der Politik, die das Gegenwartsbild bestimmen, eher geringschätzig herabsehen. In gewisser Weise haben es die gegenwärtigen Populisten sicherlich besser als etwa die Stalinisten und Faschisten vor ihnen, die an ihre Ideologie gefesselt waren, besser auch als die heutigen Islamisten, die von einem neuen Kalifat träumen. Das sind Formen einer totalen Herrschaft im konventionellen Sinne des absoluten Glaubens an die eigene Wahrheit. Da wird nicht mit Wahrheit und Lüge jongliert, sondern ein blutiges und vollkommen ernstes Spiel gespielt. Andererseits ist es so, dass die politischen Zentralideologien des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Nachfahren im 21. Jahrhundert eine Sicherheit und Selbstgewissheit, eine enorme Aufwertung des eigenen Daseins vermittelt haben, die jenseits dieser Ideologien und Religionen niemals zu erreichen sind. Für Russlands Dogmatiker und Fundamentalisten, die in unterschiedlichen Varianten von der Wiedererrichtung eines großen heiligen russischen Reichs träumen, ist die gegenwärtige politische Praxis des Kremls bestenfalls halbherzig zu nennen. Eduard Limonow und Alexander Dugin beispielsweise, die gemeinsam im Jahre 1994 die »Nationalbolschewistische Partei« (NBP) gründeten, hatten für die postsowjetischen Herren im Kreml lange Zeit nur Verachtung übrig. Sie favorisierten einen maßlos expansiven Kurs, dessen Ziel, wie es in ihrem Parteiprogramm hieß, in der »Errichtung eines Imperiums von Wladiwostok bis Gibraltar auf der Grundlage der russischen Zivilisation« bestand. Dugin wie Limonow haben noch abenteuerlichere Lebensgeschichten absolviert als der bereits erwähnte Wladislaw Surkow. Bei Dugin gibt es darin nur die eine große Konstante der entschiedenen Ablehnung der modernen Welt, die er freilich lediglich in der Darstellung und Behandlung durch Nietzsche, Heidegger und den französischen Philosophen René Guénon kennengelernt hat und gegen die er nach einem absoluten Halt sucht. Die »Wege des Absoluten« (so ein Buchtitel von Dugin) führten ihn zu Positionen der Neuen Rechten, zu einer antieuropäischen Auffassung des »Heiligen Russland« und zu den Altgläubigen der russisch-orthodoxen Religiosität. Dugin organisierte später eine neue politische Bewegung und näherte sich mit

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einer geopolitisch und autoritär argumentierenden Eurasienkonzeption den außenpolitischen Vorstellungen des Kremls an. Er beansprucht für den eurasischen Großraum neben dem Territorium der Russländischen Föderation nicht weniger als Belarus, die Ukraine, den gesamten Kaukasus, Zentralasien und die Mongolei. Die Beherrschung eines derartigen multinationalen imperialen Gebildes kann seiner Ansicht nach nur mit einer echten Form sakraler Herrschaft gelingen, wie sie im byzantinischen Reich und im Moskauer Fürstentum bereits einmal immerhin annäherungsweise verwirklicht war. Nach Dugin ist der gegenwärtige russische Staat nur auf der Oberfläche religiös geprägt und muss deswegen eine gründliche Metamorphose vollziehen. Und für Surkow, den er als grauen Kardinal bezeichnet, hat er nur Schmähungen übrig: »Dort, wo Surkow ist, sind Lüge, Intrigen, Spoiler, Simulakren, Sowjetpropaganda und Bankrott.«44 Limonow wandte sich wie Dugin von allen gesellschaftlichen und politischen Konventionen ab und stürzte sich in ein exzentrisches und haltloses Leben, in dem er kaum eine Spielart ausließ. Aber Kritiker der in seinen Augen grundsätzlich viel zu wenig radikalen Positionen des Kremls blieb auch er. Er forderte, dass die russische Aggression gegen die Ukraine bei der Besetzung der Krim nicht stehen bleiben dürfe. Wie Dugin plädierte er ganz unumwunden für die Eroberung des Donbass und meinte, dass man auch seiner Heimatstadt Charkiw nicht länger zumuten könne, unter dem »Kiewer Okkupationsregime« zu leben. Dem Präsidenten im Kreml halten Dugin wie Limonow vor, dass er zu unentschlossen vorgeht und statt mit regulären Truppen in die Ukraine einzumarschieren, den Konflikt auf einer viel zu niedrigen Stufe austrage. Aus Dugins Sicht kann das nur den Grund haben, dass in der Umgebung Putins eine Reihe von im Grunde prowestlichen Beratern am Werk sind, die eine »sechste Kolonne« bilden und zu viel Einfluss auf den Präsidenten bekommen haben. Man könnte auch sagen, dass Dugin und seinesgleichen die taktischen Lügen von Putin etwa im Blick auf die Okkupation der Krim und die grünen Männchen, die dort Urlaub machen, für ganz überflüssig und vielleicht auch für unter ihrer Würde halten und gerne offen ihr wahres Wesen und ihre Ansprüche, auf die sie alles Recht der Welt zu haben beanspruchen, zeigen möchten. Richtige russische Männer erzählen

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Zu Limonow und Dugin und zu ihrer Partei siehe Schmid, Technologien, S. 136ff; das Zitat aus dem Parteiprogramm nach ebda., S. 136; zu Dugin siehe ferner Gessen, Zukunft, S. 774f, Leggewie, Anti-Europäer, S. 61ff, Laqueur, Putinismus, S. 102ff; die Schmähung gegen Surkow zitiert nach Schmid, Technologien, S. 110.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

keine Märchen, sondern lassen Truppen marschieren und regeln die Dinge mit militärischer Gewalt.45 In den USA unter Trump spielt Steve Bannon, der frühere Leiter von Trumps Wahlkampfteam, die Rolle des kompromisslosen Ideologen und Hardliners. Bannon will mithilfe einer populistisch-nationalistischen Bewegung die amerikanische Ordnung radikal umstürzen. Daran gemessen hat Trump in seiner bisherigen Präsidentschaft auf ganzer Linie versagt und ist im Gestrüpp der Alltagspolitik von seiner Republikanischen Partei eingefangen worden. Im ersten Jahr der Präsidentschaft von Trump war Bannon einer der wichtigsten Berater im Weißen Haus, aber Anfang 2018 ließ der Präsident ihn fallen. Bannon hatte offensichtlich zu viel mit dem Journalisten Michael Wolff gesprochen und war damit zu einer Hauptquelle für dessen Enthüllungsbuch »Feuer und Zorn« geworden, in dem Trump alles andere als gut aussieht. Das hatte für den Präsidenten wohl das Fass zum Überlaufen gebracht.46 Von der Basis einer festgefügten ideologischen Position aus betrachtet, können die politischen Haltungen und Unternehmungen des amerikanischen wie des russischen Präsidenten tatsächlich nur als mehr oder weniger prinzipienloser Opportunismus erscheinen. Putin bedient sich in seinen Reden zwar immer mal wieder des einen oder anderen Versatzstücks aus dem Vorrat der phantastischen Entwürfe der radikalen Ideologen Russlands. Aber es ist nicht erkennbar, dass er sich auf eine der in seinem Land kursierenden umfassenden politischen Dogmen wirklich festlegt. Einer fest gefügten Ideologie zu folgen, würde den Spielraum des politischen Handelns viel zu sehr einengen. Es ist aber nicht die Frage der Lüge, an der sich die Wege trennen. Es geht nur darum, ob die Lügen auf der Basis einer vorgeblich absoluten Wahrheit getätigt werden oder nicht. Der springende Punkt ist, dass die ideologische Lüge auf dem Boden einer für wahr gehaltenen Weltanschauung operiert und stets im Dienst der Verabsolutierung dieser Weltanschauung steht, indem sie sie gegen die widerstreitende Realität absichert. Wenn auch auf perverse Weise, haben wir es hier immer noch mit dem Vorrang der Wahrheit zu tun, und insofern bleibt die uns wohl vertraute Oberhoheit der Wahrheit über die Lüge bestehen. Die populistische Lüge hingegen bevorzugt das Spiel mit Beliebigkeiten, sie verfährt pragmatisch, undogmatisch, flexibel und legt sich niemals auf eine Position wirklich fest. Weder bei Putin 45 46

Die Aussagen über die sechste Kolonne nach Gessen, Zukunft, S. 532. Siehe Woodward, Furcht, S. 384ff.

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noch bei Trump hat man den Eindruck, dass sie von ihren Lügen und Täuschungen sonderlich überzeugt wären und an ihnen hängen. Sie sind gerne und stets bereit, wenn es ihnen opportun erscheint, zu neuen Täuschungsmanövern überzugehen. Der einzigen Festlegung, der sie dabei folgen, ist die nihilistische Überzeugung, dass im Grunde sowieso alles Lüge ist. Mitte August 2017 veranstalteten ca. 250 weiße Nationalisten auf dem Campus der University of Virginia in Charlottesville einen gespenstischen Fackelzug und skandierten Parolen wie »Die Juden werden uns nicht vertreiben« und »Blut und Boden«. Ein Nationalist lenkte sein Auto in eine Gruppe von Gegen-Demonstranten, tötete eine Frau und verletzte weitere 19 Personen. Trump reagierte auf die Ausschreitungen mit der Äußerung, dass es auf »vielen Seiten« einen »schrecklichen Ausbruch von Hass, Fanatismus und Gewalt« gegeben habe. Die darin zum Ausdruck kommende Weigerung, die Rassisten zu verurteilen, führte selbst bei vielen republikanischen Parteifreunden zu empörter Kritik. Der inzwischen verstorbene Senator John McCain äußerte in einem Statement: »Weiße Rassisten und Neonazis sind definitionsgemäß die Feinde des amerikanischen Patriotismus und der Ideale, die uns prägen.« Auch Mitt Romney fand klare Worte: »Rassenvorurteile, dann Hass, dann eine abscheuliche Sprache, dann ein grauenhafter Aufmarsch, dann Mord; sie halten sich für überlegen und sind nichts als Barbaren.« Nach massivem Druck seiner unmittelbaren Umgebung im Weißen Haus ließ sich Trump missmutig und widerwillig darauf ein, in einer fünfminütigen Fernsehansprache eine deutlichere Verurteilung der Rassisten und Neonazis auszusprechen, – nur um sich anschließend in internen Äußerungen davon sofort wieder zu distanzieren. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass er sich mit dieser Rede von seinen ersten spontanen Einlassungen distanziert und damit eine unverzeihbare Schwäche gezeigt habe: »Das war der blödeste Scheißfehler, den ich je gemacht habe. Solche Eingeständnisse macht man nicht. Man entschuldigt sich nicht. Ich habe doch nichts falsch gemacht. Wozu dann Schwäche zeigen?« Und einen Tag später sprach er dann auch wieder in aller Öffentlichkeit bei einer Pressekonferenz in gewohnter Manier von »beiden Seiten«, die Schuld an den gewaltsamen Ausschreitungen gehabt hätten.47 Knapp zwei Jahre später, im Juli 2019 schmähte Präsident Trump vier schwarze demokratische Abgeordnete des Kongresses in mehreren Tweets mit Verbalattacken, die in der Aufforderung gipfelten, die Frauen sollten dahin zurückgehen, wo sie hergekommen seien. Das Repräsentantenhaus kri47

Die Darstellung folgt Woodward, Furcht, S. 314-323 und S. 328-331.

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tisierte diese Äußerungen in einer Resolution als rassistisch, und immerhin stimmten auch vier republikanische Abgeordnete dieser deutlichen Missbilligung ihres Präsidenten zu. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Greenville in North Carolina skandierten die Anhänger des Präsidenten nach dessen Attacken gegen die in Somalia geborene Abgeordnete Ilhan Omar die Parole »Send her back«. Kurz darauf ruderte der Präsident zurück und behauptete, er sei nicht glücklich mit dieser Parole gewesen und habe sofort versucht, sie zu stoppen, – eine Behauptung, die durch Video-Aufnahmen eindeutig widerlegt und als Lüge erkennbar wird. Kurz darauf setzte sich Trump dann aber für den afroamerikanischen Rapper ASAP Rocky ein, der in Schweden wegen des Vorwurfs der Körperverletzung in Untersuchungshaft saß, und gefiel sich in der Pose des Kämpfers für »unsere afroamerikanische Community in den Vereinigten Staaten«. Nicht dass Trump nun seine besondere Zuneigung zur schwarzen Bevölkerung seines Landes entdeckt hätte, aber es schien ihm offenbar von Nutzen zu sein, sich in diese Angelegenheit höchstpersönlich einzuschalten: um die Schlagzeilen zu bestimmen, die Öffentlichkeit mit Gesprächsstoff zu versorgen und zu verwirren, sich in den Vordergrund zu spielen, bekannte Stars der Pop-Kultur für sich zu vereinnahmen, kurz: einen Gewinn zu verbuchen.48 Fraglos waren die Schmähungen des Präsidenten gegen die vier schwarzen Abgeordneten rassistisch, aber Trump ist kein Rassist. Ein überzeugter Rassist fragt nicht danach, ob ihm seine Haltung einen kurzfristigen Nutzen einbringt, sondern ist vollkommen überzeugt davon, dass er Recht hat. Trump ist natürlich auch kein Anti-Rassist. Wer sich stets nach seinem eigenen Nutzen richtet, ist weder das eine noch das andere. Er hat überhaupt keine Überzeugungen, die er mit Argumenten und Haltungen untermauern könnte. Aus der Perspektive ausgemachter Ideologen ist er ein unsicherer Kantonist, auf den kein Verlass ist. Nationalisten, Rassisten und Neo-Nazis mit antisemitischen Parolen – das ist Trump im Grunde alles völlig gleichgültig. Er ist nicht Goebbels und auch nicht der Herausgeber 48

Siehe die Darstellung der Schmähungen, des Wahlkampfauftritts und der damit zusammenhängenden Behauptungen von Trump in der NYT, 20.7.2019. Zu Trumps Einsatz für ASAP Rocky siehe Spiegel 32/2019. Manigault Newman, Entgleisung, berichtet, wie sie als afroamerikanische Vorzeigefrau im Wahlkampfteam um die Stimmen schwarzer Wähler für den republikanischen Kandidaten warb, Trump eng verbunden war und ihn gegen die Vorwürfe von Rassismus und Frauenfeindlichkeit in Schutz nahm, um dann nach einem Jahr im Weißen Haus doch zu der Einsicht zu kommen, dass »Donald Trump wirklich ein Rassist, Fanatiker und Frauenhasser war« (S. 28).

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des Stürmer. Irgendeiner programmatischen Disziplin unterwirft er sich nicht, und deswegen geht er auch in seiner Lügenpraxis nicht gezielt und kalkuliert vor, sondern lügt schlafwandlerisch drauflos, wie seine Instinkte und Launen es ihm eingeben. Im Dienste einer kohärenten Ideologie zu stehen, würde bedeuten, dass man dazu eine rationale Planung benötigt, eine organisierte und vorausschauende Strategie, Schulungen, Programme, Erklärungen, Schriften, mit einer systematisierten Sicht auf die Geschichte und einer mehr oder weniger geschlossenen Meistererzählung, an der sich der Propaganda-Apparat ausrichtet. Alles das würde Trump, um in seiner Terminologie zu sprechen, schlicht für Blödsinn halten, dadurch wäre er niemals zu bändigen, dem würde er sich niemals unterwerfen. Es ist für Trump nicht so, dass Schwarze oder Juden oder Chinesen generell minderwertig, zum Aussterben verdammt und die ausgemachten Verlierer des ewigen Kampfes wären, der die Welt vermeintlich charakterisiert. Der Ausgang ist offen, jeder kann unter die Räder kommen, wenn er nicht aufpasst, jeder kann zu den Siegern gehören, wenn er gut ist, und das ist nicht genetisch determiniert und auch nicht durch irgendein mysteriöses Gesetz der Geschichte vorherbestimmt. Diese Auffassung taugt nicht als Basis für einen ideologischen Rassismus, aber auf der Basis dieses Weltbildes hat Trump auch gegen Rassisten nichts einzuwenden, – die greifen zum Rassismus, um erfolgreich zu sein. Warum sollten sie nicht? Und er greift auch selber zu rassistischen Diffamierungen, – warum sollte er nicht, wenn das erfolgreich ist und man damit Punkte im Überlebenskampf machen kann? So wenig Trump einer kohärenten Ideologie anhängt oder Rassist ist, so wenig ist sein Pendant auf russischer Seite ein überzeugter Anhänger des Christentums und der Russischen Orthodoxen Kirche. Das sind nur vorübergehende Festlegungen, die auch wieder aufgegeben werden können. Da sich generell in Russland seit längerem ein neuer Mystizismus breitmacht, ist es kein Wunder, dass der Kreml angefangen hat, sich für die Religion und das Übernatürliche zu interessieren und das Metaphysikbedürfnis der Leute für seine Zwecke nutzen möchte. Entsprechend sucht Präsident Putin die Nähe zum Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche und hat vermutlich auch nichts dagegen einzuwenden, dass es dem Einfluss seines Beichtvaters, Archimandrit Tichon Schewkunow, zugeschrieben wird, wenn die Kampagnen gegen die Homosexualität in den Rang einer neuen Staatsräson erhoben werden, also so getan wird, als ob das Wohl und Wehe Russlands vom Kampf gegen angebliche sexuelle Laster abhängt. Dahinter steht kaum mehr als Attitüde und taktisches Verhalten, in denen es um die Fassade und die Errichtung

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

eines weiteren Potjomkinschen Dorfes geht, nicht um gefestigte, umfassende Lehren und Überzeugungen. Schon die pure Tatsache, dass die Kontakte des Präsidenten zu den Würdenträgern der Kirche derart offensiv und demonstrativ ins Rampenlicht der Kameras gezogen und ausgestellt werden, macht das deutlich. Nichts ist einem wahrhaft gläubigen Christen so verdächtig wie das Erscheinen seines Glaubens und seiner guten Taten vor den Augen der Öffentlichkeit. Frömmigkeit und Nächstenliebe werden dadurch, dass sie öffentlich präsentiert werden, unweigerlich korrumpiert und in ihrem Wesensgehalt unterlaufen.49 Generell und bis heute ist für Putin eine programmatische Inhaltsleere charakteristisch. Als er seine politische Laufbahn im Kreml begann, war er ein »Mann ohne Gesicht«, und die Beobachter »bemühten sich vergeblich, bei Putin ein konsistentes Weltbild auszumachen. Sie sahen keine Ideologie, kein Programm hinter Putins Gesicht, nur eine ›leere Ausbuchtung‹.« Da er selber kein kohärentes inhaltliches Programm verfolgte, konnte er auch gar nicht in Versuchung kommen, das Seelenleben der russischen Bevölkerung im Sinne einer bestimmten politischen Richtung zu indoktrinieren, wie das seine Vorgänger bis zum Ende des sowjetischen Regimes getan hatten. Ihm reicht es, wenn er einigermaßen ungestört und ohne dass man ihm zu viel an Rechenschaft abverlangt, seinen Vorstellungen nachgehen kann, die allesamt um die Obsession kreisen, dass Russland die durch den Untergang der Sowjetunion verloren gegangene Größe zurückgewinnen muss. Bei der Frage, mithilfe welcher Instrumente das geschehen kann, ist der Präsident flexibel. Die Maximalforderungen der nationalen Rechten hat er nur begrenzt übernommen. Bei der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ukraine durch den Krieg im Donbass hat er sich auf sie gestützt, weil sie ihm nützlich waren, aber darüber hinaus legt er sich nicht auf sie fest, weil das den außenpolitischen Spielraum Russlands in seinen Augen viel zu sehr einschränken würde. Der Kreml arbeitet nicht mit vollkommener Blindheit und in Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten an einer Realisierung des Projekts Neurussland. Nach Putins Verständnis, meint Laqueur, »muss Außenpolitik zwar tatkräftig und aggressiv betrieben werden, aber auch pragmatisch«. Der Kreml träumt nicht und schreibt auch nicht die Errichtung einer perfekten Gesellschaft auf seine Fahnen, wie das in der Zeit der totalitären Ideologie der Fall war. Er sendet stattdessen nicht nur nach innen, sondern auch nach außen »willkürlich wechselnde Botschaften, die seinen Zielen nutzen, bedient alle und jeden: 49

Über Putin und die Religion siehe Schmid, Technologien, S. 194ff.

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Die rechten Nationalisten Europas werden mit EU-feindlichen Botschaften gelockt; die extreme Linke wird durch den angeblichen Kampf gegen die Vorherrschaft Amerikas vereinnahmt; religiöse Konservative in den USA werden durch den Kampf des Kremls gegen Homosexuelle überzeugt.«50 Nach innen werden auch gesellschaftliche Randgruppen mit ausgeprägt antisozialem Verhalten nach allen Regeln der Kunst und soweit es irgendwie geht, vereinnahmt und für die Zwecke der Machterhaltung gekapert. Die Nachtwölfe, das russische Pendant der Hells Angels, haben sich auf wundersame und vom Kreml nachdrücklich beförderte Weise von Outlaws in religiöse Patrioten verwandelt, sie donnern auf ihren Harleys mit Ikonen, auf denen die heilige Mutter Maria, Gott oder Stalin zu sehen sind, durch Moskau und veranstalten auf der Krim zur Feier der »Wiedereingliederung« in das »Heilige Russland« eine Riesenshow. Die Buntheit der verschiedenen kulturellen Konzepte und Experimente in Literatur, Film und bildenden Künsten wird nicht eingedämmt, sondern zugelassen und instrumentalisiert. Im Vergleich zum Zeitalter der politischen Ideologien ist das eine weiche und smarte Methode. Abweichende Stimmen werden nicht mehr generell mit den Mitteln des Polizeistaats unterdrückt und mundtot gemacht. Dann aber werden plötzlich doch und mit lauter fadenscheinigen Begründungen und Anklagen immer wieder einzelne Akteure der Kunstszene, Journalisten, Publizisten, Demonstranten, Oppositionelle festgesetzt, angeklagt und verurteilt. Die Botschaft dieses Katz- und Mausspiels lautet: Wir zwingen niemandem unsere Wahrheit auf, die wir ja auch gar nicht haben, aber natürlich halten wir stets Wache, sind jederzeit die Herren der Lage und des Verfahrens und stehen über allem.51

In der darwinistischen Wildnis Eine fest gefügte Ideologie spielt weder beim amerikanischen noch beim russischen Präsidenten wirklich eine Rolle. Das bedeutet aber ganz und gar nicht, dass ihrem Verhalten kein Muster zugrunde liegt. Ihr Weltbild

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Siehe Gessen, Mann ohne Gesicht; Putin ohne konsistentes Weltbild: Mommsen, Putin-Syndikat, S. 48; das taktische Verhältnis Putins zum Projekt Neurussland: Aust, Schatten, S. 129; das Zitat von Laqueur: Putinismus, S. 22; die wechselnden Botschaften: Pomerantsev, Nichts, S. 296. Zu den Nachtwölfen siehe Pomerantsev, Nichts, S. 233ff.

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gehorcht einer sehr simplen und klaren Logik, die man in vier Grundsätzen zusammenfassen kann: 1. Die Welt ist ein grausamer Ort. 2. In dieser grausamen Welt kämpft jeder gegen jeden, jeder will gewinnen und keiner will verlieren, jeder will sich nach oben kämpfen und oben bleiben. Siegen heißt immer: Vorherrschaft auszuüben und die Position des Überlegenen einzunehmen und zu halten. 3. In diesem Kampf aller gegen alle setzt jeder sämtliche Mittel ein, die ihm zur Verfügung stehen oder in seiner Reichweite sind. 4. Diese Grundsätze gelten für das Verhalten jedes einzelnen im Inneren der Staaten und für das Verhalten der Staaten zu anderen Staaten gleichermaßen. Dieses Weltbild ist sicher keine Ideologie im Sinne der totalen Herrschaft des 20. Jahrhunderts, weil es keine Aussagen darüber macht, wer in diesem Kampf triumphieren wird und welche Rasse oder Klasse den eigenen Siegen im Wege steht. Das kann jeder sein und ist nicht im Vorhinein durch ein Natur- oder Geschichtsgesetz festgelegt. Das heißt zugleich, dass diese Weltsicht nicht, wie es für die maßgeblichen Ideologien des 20. Jahrhunderts typisch war, dem weltlichen Getümmel von einem entfernten archimedischen Punkt aus gleichsam wie einem Schauspiel zusieht und von diesem alles überblickenden Punkt aus seine Handlungsanweisungen herleitet. Es ist eher eine Position, die unmittelbar aus dem Kampf aller gegen alle heraus formuliert wird. Eigentlich wird sie auch gar nicht formuliert, sie ist nirgendwo ausgearbeitet und niedergelegt worden, und das wird sich sicher auch in Zukunft nicht ändern. Das hat den Vorteil, dass sie sich keinen argumentativen Einwänden aussetzen muss. Sie ist eher Ausdruck eines Lebensgefühls, sie entspringt den Lebenserfahrungen und der Lebenspraxis, von denen ihre Protagonisten meinen, dass alle auf dieser Erde sie teilen. Gerade deswegen ist sie fest verankert, sie wird gelebt, sie ist ein kognitives Muster, das die Wahrnehmungen steuert, das Denken bestimmt, die Entscheidungen anleitet und das Verhalten dirigiert. Das bedeutet zugleich, dass man als Beobachter das Weltbild der »darwinistischen Wildnis« nicht unmittelbar in Form eines Programms oder eines Manifests zu Gesicht bekommt, sondern es sich aus den Verlautbarungen und dem Handeln der Akteure erschließen muss. Nicht nur das Weltbild teilen Trump, Putin & Co. miteinander, sondern auch die jeweiligen Ziele, die sich daraus herleiten. Dieses Ziel ist so einfach und klar wie das zugrundeliegende Weltbild: Jeder will und muss im Kampf aller gegen alle zu den Siegern gehören. Siegen kann aber nur derjenige, der über die nötige Stärke und Größe verfügt. Also besteht das entscheidende Ziel

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des Handelns darin, alle Konkurrenten, Gegner und Feinde im Inneren wie im Außenverhältnis der Staaten an Größe und Stärke zu übertrumpfen. Das ist der Leitstern, der alles antreibt, und zwar in der eigenen Biographie nicht weniger als im jeweiligen politischen Handeln. Wie dieses Ziel erreicht werden kann und welche Mittel es sind, die den Präsidenten und ihren Ländern zur Verfügung stehen und sie jeweils »stark« bzw. »groß« machen, darin unterscheiden sie sich erheblich voneinander. Für Trump bestehen diese Mittel in der Innen- wie in der Außenpolitik vor allem im Deal, ergänzt durch Einschaltquoten und gutes Kino, in dem er immer die Hauptrolle spielen will. Politische Vorherrschaft heißt für ihn: Marktbeherrschung, Geld, Reichtum und alle Augen und alle Aufmerksamkeit auf ihn bzw. auf Amerika. Bei Putin bestehen die Mittel vor allem in Gewalt, DesInformationen und Kalkül. Die Währung ist für ihn die körperliche Überlegenheit und die Bereitschaft zum Einsatz der verfügbaren Gewaltmittel, bei Trump ist die einzige Währung, an die er glaubt und die er kennt, das Geld. Trump ist sich sicher, dass man mit Geld alles und jeden kaufen und notfalls mit Erpressung, Drohung, Schikane die Widerspenstigen gefügig machen kann. Putin weiß, dass Gewalt jedes Hindernis aus dem Wege räumt, dass aber auch der Besitz von (vertraulichen und geheimen) Informationen und der geschickte Einsatz von Desinformation für die Erreichung der Ziele sehr gut geeignet sind. Im Unterschied zu Trump spielt bei Putin ferner das Kalkül eine wichtige Rolle. Trump ist impulsiv, er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, twittert drauflos, redet und schreibt Bücher (bzw. lässt sie schreiben und publiziert sie unter seinem Namen), liefert einen unendlichen Schwall von Sätzen, von Wörtern ohne Sinn und Verstand, ohne Kalkül und Überlegung und ohne jede Rücksicht auf Wahrheit und Lüge. Putin ist im Vergleich dazu überlegt, kalkuliert und selbstbeherrscht. Er folgt der Devise, dass man sich nicht durch impulsive Reaktionen zu erkennen geben darf, dass es gut ist, stets mehr zu wissen als die andern ahnen und dass es gut ist, auf diesem Gebiet den Gegnern immer mindestens einen Schritt voraus zu sein, – das lernt man im Geheimdienst. Zum effektiven Einsatz der Mittel gehört für Putin auch, dass man manchmal auf den richtigen Augenblick warten muss. Wenn er sich allerdings nicht von selber einstellt, ist es möglicherweise unumgänglich, ihn selber herbeizuführen, auch mit dem Einsatz von Gewalt. Wie überhaupt zur Effektivität politischen Handelns in Putins Augen vor allem die Bereitschaft und die Fähigkeit gehören, die Mittel der Gewalt jederzeit und skrupellos einzusetzen.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

Bei der Wahl der Mittel, bei der sie sich sonst so sehr unterscheiden, stimmen die beiden Präsidenten nur an einer Stelle miteinander überein: im Einsatz von Lüge und Täuschung. Das liegt nahe, weil der Einsatz der Lüge nicht von materiellen Ressourcen abhängig, sondern vergleichsweise kostengünstig zu haben ist. Während allerdings bei Trump das Lügen habitualisiert ist und den Tatbestand der Verlogenheit erfüllt, spricht bei Putin einiges dafür, dass er noch nicht zum Opfer seiner eigenen Lügen geworden ist, sondern sie kalkuliert und zielgenau einzusetzen vermag. Unabhängig von diesem Unterschied ist es aber so, dass das Misstrauen, das ohnedies das zentrale Element der Weltsicht ist, um die es hier geht, durch das Mittel von Lüge und Täuschung noch einmal erheblichen Auftrieb erfährt. Das Misstrauen wird auf diese Weise keinen Millimeter überwunden, sondern ohne Unterlass bestätigt und vertieft. Weder hier noch dort geht es darum, die Welt oder zumindest das eigene Publikum und die eigenen Anhänger von der eigenen Wahrheit zu überzeugen und eine brillante und attraktive Erzählung anzubieten. Die Beliebigkeit der Lüge unterstreicht nur, was ohnedies feststeht: Wir glauben an gar nichts, außer an den Kampf aller gegen alle. Es gibt keine Wahrheit, keine Sicherheit, keine Gewissheit. Zu dieser Weltsicht passt, dass auch die Verschwörungstheorien gegenwärtig nicht mehr als geschlossene Weltanschauungen in Erscheinung treten, sondern sich in Verschwörungsgerüchte verwandelt haben. Ihre Vertreter begnügen sich damit, Zweifel zu säen, alles in Frage zu stellen, unterschiedliche Versionen nebeneinander zu stellen. Sie versuchen erst gar nicht mehr, ihre Sicht der Dinge mit (pseudo-)wissenschaftlichen Belegen plausibel und überzeugend zu machen, zu erläutern und gegen Einwände und andere Erklärungsmodelle abzusichern. An die Stelle von mehr oder weniger plausiblen Annahmen, Argumenten und Belegen treten vage Vermutungen, die jeder gesicherten Annahme damit begegnen, dass alles aber doch auch ganz anders sein könnte, und generell die Existenz gesicherten Wissens abstreiten. Wo sich die Auffassung durchsetzt, dass alles gleich wahr und unwahr ist, ist für die populistische Lüge der Boden gut bereitet. Kohärenz und Stringenz sind unwichtig, das Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch ist antiquiert. Die Innovation des gegenwärtigen Populismus besteht in der Entdeckung, dass man lügen kann, ohne an die Wahrheit zu glauben. Wenn Putin eine seiner früheren Lügen mit einer neuen Lüge oder ausnahmsweise vielleicht auch mit der Wahrheit korrigiert, äußert er gerne monoton den einen Satz: »Wir haben nie etwas anderes gesagt.« Die Faktenlage wird nicht geleugnet, sondern pluralisiert, und in Anwendung des legendären dadaistischen Grundsatzes,

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nach dem jedermann sein eigener Fußball ist, gilt nun, dass jeder seine eigenen Fakten hat.52 Trump hat aus seiner darwinistischen Weltsicht nie einen Hehl gemacht. 1981 erklärte er: »Der Mensch ist das grausamste aller Tiere und das Leben ist eine Reihe an Schlachten, die entweder mit Sieg oder Niederlage enden.« Nach dem Zeugnis eines früheren Mitarbeiters ist »Killer« das höchste Kompliment, das es in Trumps Welt gibt. Über seinen älteren Bruder Freddy, der im September 1981 nach Jahren des Alkoholismus an einem Herzinfarkt starb, äußerte er: »Freddy war einfach kein Killer.« Es gibt nur ein Gesetz auf Erden, das ist das Gesetz des Dschungels, in dem Konflikt, Kampf und Krieg die maßgeblichen Kräfte sind. Nur die Starken überleben, und sie überleben deswegen, weil sie in der Lage sind, ihre Feinde zu zerstören. »Die Welt ist ein gemeiner und brutaler Ort. Wir denken, wir seien zivilisiert. Aber in Wirklichkeit ist die Welt grausam und sind die Leute rücksichtslos. … Die Leute werden schäbig und gemein sein und versuchen, dich aus purer Lust und Laune zu verletzen.« »Die gleiche brennende Habgier, die Menschen dazu bringt, in Notfällen wie Bränden und Überschwemmungen zu plündern, zu töten und zu stehlen, ist auch bei normalen Menschen im Alltag am Wirken. Es lauert unter der Oberfläche, und wenn du es am wenigsten erwartest, erhebt es seinen fiesen Kopf und beißt dich. Akzeptiere das. Die Welt ist ein grausamer Ort. Ich liebe es, das Gegenüber zu zerquetschen und die Vorteile daraus zu ziehen. Warum? Weil es nichts Besseres als das gibt. Für mich ist das besser als Sex, und ich liebe Sex.« »Wenn dich jemand bescheißt, bescheiße zurück mit Zins und Zinseszins. … Spring ihm an die Gurgel, so dass Leute, die dich beobachten, sich nicht mit dir messen wollen.« »Wenn Ihnen jemand weh tut, dann sollten Sie so hart und gewaltsam zurückschlagen wie Sie können. Wie es in der Bibel heißt: Auge um Auge. Seien Sie misstrauisch. Diese Bemerkung hört sich zwar nicht gut an, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Möglicherweise will Ihnen sogar Ihr bester Freund Ihre Frau und Ihr Geld abjagen. Wie ich jede Woche in The Apprentice sage: Die Welt ist ein Dschungel. Wir sind schlimmer als Löwen – sie tun es schließlich, um Nahrung zu bekommen. Wir tun es wegen des Jagdfiebers.« Am 22. November 2018 erklärte Trump, nun schon Präsident der Vereinigten Staaten, bei einem Pressetermin in seinem Ferienclub Mar-a-Lago in Florida auf die Frage, wer

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Verschwörungstheorien als Verschwörungsgerüchte: siehe Butter, Nichts, S. 199ff; der Putin-Satz nach Schumatsky, Untertan, S. 98.

II.  Abgrenzungen, Variationen, Erklärungen

für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi in der Botschaft SaudiArabiens in Istanbul zur Rechenschaft gezogen werden sollte: »Vielleicht sollte die Welt zur Rechenschaft gezogen werden, weil die Welt ein grausamer Ort ist.«53 Es kommt vor, dass im Haifischbecken der Welt einige Leute aufgefressen werden. Darüber muss man sich nicht wundern, das passiert. Die haben nicht aufgepasst oder Pech gehabt. Schon früher hatte Trump von Khashoggi als einem »Staatsfeind« gesprochen. Dann schlägt der Staat schon mal zurück. »Die Welt ist ein grausamer Ort«: Verträge werden nicht eingehalten, Versprechen gebrochen, wechselseitiger Betrug ist der Normalzustand, jeder boxt sich alleine durch, jeder verfolgt jeden, – so ist das Leben, so ist die Politik, so sind die Staaten, so sind die Staatsmänner. Jeder muss für sich sorgen und sehen, dass er nicht unter die Räder kommt. Jeder tut was er kann, jeder holt für sich das Beste heraus. Die Welt ist wie die Natur: grausam, roh und düster und nichts für zarte Seelen. Am Ende sind Lust und Gewalt die wahren Lebensmächte, die alles entscheiden. Dafür muss man sich wappnen, im Überlebenskampf ist jedes Mittel recht, was mir nützt, ist gerechtfertigt. Größe zeigt der, der sich in diesem Dschungel zu behaupten weiß und zu Siegen fähig ist. Es geht darum, der Stärkere zu sein, und Regeln und rechtliche Vorschriften sind dafür immer nur ein Hindernis, eine Fessel, derer man sich entledigen muss, wenn es passt und die man allenfalls solange respektiert, wie es einem von Vorteil ist. Not kennt kein Gebot, und Not besteht immer. Die Haltung ist exakt die gleiche, der auch die Chefs und Unternehmer der Camorra folgen. Roberto Saviano, der jahrelang in diesem Milieu recherchiert hat und es so gut kennt wie sonst niemand, beschreibt die Haltung der neapolitanischen Mafiabosse so: »Das Zentrum allen Handelns sein, das Zentrum der Macht. Alles als Mittel verwenden und sich selbst als Zweck. Wer behauptet, das sei unmoralisch, ein Leben ohne Ethik sei undenkbar, die Wirtschaft müsse sich an Grenzen und Regeln orientieren, der hat es einfach nicht geschafft, sich durchzusetzen, und ist vom Markt geschlagen worden.

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»Der Mensch ist das grausamste aller Tiere«: zitiert nach Kranish/Fisher, Wahrheit, S. 141; »Killer« als »the single highest compliment that Donald Trump … could pay another human being«: Sims, Vipers, S. 130; »Freddy war einfach kein Killer«: Kranish/ Fisher, Wahrheit, S. 140; »die Welt ist ein gemeiner und brutaler Ort«: Trump/Zanker, Think Big, S. 29; die »brennende Habgier«: ebda., S. 48; »spring ihm an die Gurgel«: ebda., S. 199; »wenn Ihnen jemand weh tut«: Trump/McIver, Wie man reich wird, S. 148; die Erklärung zur Ermordung Khashoggis: SZ, 23.11.2018.

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Die Ethik ist die Grenze des Verlierers, der Schutz des Unterlegenen, die moralische Rechtfertigung derjenigen, die nicht auf volles Risiko gespielt und alles gewonnen haben. … Alles übrige ist Glaube und Beichtstuhl. … Leben, um wirklich zu herrschen, ist das einzige, was zählt.«54

54

Saviano, Gomorrha, S. 138f.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Schreckbilder: Freiheit und Wahrheit Jedes autokratische Regime hat zwei Gegner, vor denen es sich am meisten fürchten muss. Erstens die Spontaneität des Handelns, in der sich das Verlangen nach Freiheit meldet und sichtbar wird. Zweitens die Wahrheit, die sich in dem einfachen Wunsch der Bürger ausdrückt, wissen zu wollen, welches Spiel gespielt wird und den Lügen und Gerüchten, die verbreitet werden, keinen Glauben mehr schenkt. Freiheit und Wahrheit hängen untrennbar zusammen. Unter Bedingungen der Unfreiheit gibt es den ungehinderten Austausch von Informationen und Meinungen nicht, in dem die Öffentlichkeit sich über die Wirklichkeit verständigen und Schlüsse für eventuell notwendige und sinnvolle Veränderungen ziehen kann. Wo dagegen die Freiheit existiert, geht es immer auch um die Feststellung der Wahrheit und damit um die Orientierung über die öffentlichen Angelegenheiten. Wo die Wahrheit zur Sprache kommen kann, muss es zugleich die Möglichkeit geben, ungehindert und frei darüber nachzudenken und zu entscheiden, welche Konsequenzen aus ihr gezogen werden sollen. Ohne die Freiheit des Handelns ist die Meinungsfreiheit halbiert, ohne Zugang zu verlässlichen Informationen ist die Öffentlichkeit blind und hilflos, ohne nicht manipulierte Tatsacheninformationen wird der öffentliche Raum zu einem gigantischen Betrug. Freiheit und Wahrheit sind in der gegenwärtigen politischen Ordnung Russlands nicht nur theoretisch-abstrakte Bedrohungen und Schreckgespenster, die die Herrscher im Kreml getrost ignorieren könnten. Dafür gibt es zu viele Beispiele realer Bestrebungen, in denen sich die Freiheit zu erkennen gibt und der Wunsch nach Wahrheit in Erscheinung tritt, – im eigenen Land so gut wie im nahegelegenen Ausland, das bis zum Untergang des sowjetischen Imperiums noch mit Russland derselben politischen Einheit der

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UdSSR angehörte. Die erfolgreichen Aufstände und Revolutionen in Georgien 2003/2004 und der Ukraine 2004, zu schweigen von der Maidan-Revolution in Kiew 2013/2014 dürften Putin und seinen Gefolgsleuten deutlich gemacht haben, dass man stets auf der Hut sein muss, wenn man nicht vorzeitig davongejagt werden will. Und natürlich entging der Aufmerksamkeit des Kremls auch nicht, dass die Opposition im eigenen Land auf die Umstürze in der Ukraine mit Enthusiasmus reagierte und sich davon Aufwind für die eigenen Bestrebungen versprach. Dass Protestbewegungen auch für den von Anfang an scheinbar so sicher im Sattel sitzenden Putin eine ernst zu nehmende Gefahr sind, zeigten vor allem die Proteste, die im Dezember 2011 im ganzen Land aufflammten und sich bis in den Mai 2012 hinzogen, als Putin zum dritten Mal als Präsident der Russländischen Föderation vereidigt wurde. Unübersehbar wurde klar, dass selbst das angeblich so geduldige und langmütige russische Volk sich nicht alles bieten lässt und die Lust auf Freiheit und Wahrheit in ihm lebendig ist. Auch wer, mit knapp 65 Prozent der Stimmen, zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wird, muss damit rechnen, dass wichtige und aktive Teile der Bevölkerung den Verlockungen der Freiheit erliegen, dass sie sich nicht mit dem privaten Glück, das man ihnen gerne zugestehen will, zufrieden geben, sondern auch das öffentliche Glück einfordern, jene public happiness, die in der Tradition des westlichen Nachdenkens über die Polis immer schon mit der Beteiligung an der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten verbunden war. Das gilt zumal dann, wenn allgemein bekannt wird, dass die Wahlen, mit denen der Staatspräsident nach vier Jahren als Premierminister in sein altes Amt zurückkehrte, unter unfairen Bedingungen stattgefunden hatten und mit massiven Fälschungen verbunden waren. Noch am 6. Mai 2012, am Tag vor der Vereidigung des neuen alten Präsidenten, kam es zu einer Demonstration, die als »Marsch der Millionen« in die Protestgeschichte Russlands einging. Seitdem ist es nicht nur wegen der massiven Repressionen, die von einigen Beobachtern als »präventive Konterrevolution« charakterisiert wurden, sondern auch wegen der Begeisterung für die aggressive Außenpolitik, mit der sich Russland angeblich »von den Knien erhoben« hat, ruhiger geworden im Land. Aber die »Kirschen der Freiheit« (Alfred Andersch) wachsen immer wieder nach und sind nicht so leicht kleinzuhalten. Dass es zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen in einem Land mit einer langen Geschichte zaristischer, autokratischer, totalitärer und diktatorischer Herrschaft nicht leicht haben, versteht sich von selbst. In Russland konnte sich die Zivilgesellschaft niemals über einen längeren

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Zeitraum hinweg entwickeln und Wurzeln schlagen. Zwar kam es im letzten halben Jahrhundert des Zarenreichs, vor allem seit den 1890er Jahren, zu einer großen Vielfalt und einer deutlichen Verbreitung und Vermehrung gesellschaftlicher Organisationen, und mit der Entstehung freier Medien waren die wichtigsten Voraussetzungen für eine freie politische Öffentlichkeit gegeben. Diese Entwicklung war der Ausdruck »wachsender Eigenaktivität einer zunehmend selbstbewussten, differenzierten und qualifizierten Gesellschaft, die ihr Interesse für öffentlich-politische Angelegenheiten entdeckte und dies zumindest durch lesende Anteilnehme, wenn nicht tätiges Engagement dokumentierte«. Aber all das hatte in der Sowjetunion keinen Bestand. Während Lenin sich noch dafür einsetzte, Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung und Strukturierung und auch die nationalen Identitäten und Interessen zu fördern, wurden alle Ansätze dazu von Stalin zerschlagen und zunichte gemacht. Das erneute Aufblühen und die Förderung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Vereinigungen seit Gorbatschow blieb eine kurzzeitige Episode, die in den Augen Putins so schnell wie möglich kanalisiert und kontrolliert werden musste. Heute gibt es eine Fülle von Vereinigungen, Verbänden und bürgerschaftlichen Initiativen im Bereich von Wohltätigkeit, Selbsthilfe, Bildung und Umwelt, die von staatlicher Seite wohlwollend und konstruktiv aufgegriffen werden. Sobald sie sich aber politisch verstehen und öffentlich und grundsätzlich werden, ist es damit vorbei. Es ist klar, dass eine atomisierte Gesellschaft leichter zu steuern, zu manipulieren und zu beherrschen ist als eine Gesellschaft, die sich in vielen Vereinigungen und Organisationen eine eigenständige und handlungsfähige Form gegeben hat. Offenkundig hat die gegenwärtige politische Elite in Russland keinerlei Interesse daran, das fatale Erbe der totalitären und despotischen Herrschaft zu überwinden. Seit der erneuten Übernahme des Präsidentenamtes im Mai 2012 hat Putin nicht mehr nur das Schreckbild der Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine vor Augen, sondern auch die Massenproteste im eigenen Land, die den Winter 2011/2012 geprägt haben. Seine Reaktion bestand darin, mit verschärften Sanktionen gegen tatsächliche und potentielle Opponenten vorzugehen und mit einer wahren Flut von Dekreten und Gesetzen eine »repressive Stabilisierung« der Gesellschaft herbeizuführen.1

1

Zur Entwicklung gesellschaftlicher Vereinigungen und einer freien Öffentlichkeit seit den 1890er Jahren siehe Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 1077, 1261ff, zusammenfassend S. 1338f, das Zitat ebda., S. 1262; zu Vereinigungen, Verbänden, gesellschaftlichen Initiativen heute siehe Bidder, Generation Putin, passim; Lipman, Kon-

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Schon im Januar 2007 hatte Putin als Reaktion auf massive Proteste ein Gesetz unterzeichnet, mit dem die Tätigkeit der NGOs deutlich erschwert wurde. Nun folgte ein Gesetz, nach dem sich Nichtregierungsorganisationen als »ausländische Agenten« registrieren lassen mussten, wenn sie finanzielle Unterstützungen aus dem Ausland erhielten und politisch tätig waren, – wobei im Unklaren blieb, was unter »politischer Tätigkeit« zu verstehen ist. Das war für diese Organisationen nicht nur enorm zeit- und energieaufwendig, sondern bedeutete eine massive Stigmatisierung, weil der Begriff »ausländischer Agent« in Russland traditionell mit Verrat oder Spionage in Verbindung gebracht wird. »Er erinnert an die Denunziationen angeblicher antisowjetischer Spione unter Sowjet-Diktator Josef Stalin, in einer Zeit, als der bloße Kontakt mit einem Ausländer ein Vorwand für Haft und Hinrichtung sein konnte.« Da der Kreml den Westen und vor allem das amerikanische State Department unter Hillary Clinton im Verdacht hatte, die Proteste im Winter 2011/2012 gesteuert und gefördert zu haben, ging es besonders gegen die USA. Die Regierung wurde ermächtigt, Nichtregierungsorganisationen zu schließen, wenn sie für politische Aktivitäten Finanzmitteln von Organisationen oder Einzelpersonen aus den USA erhielten. Human Rights Watch bewertete die Entwicklung im Jahre 2012: »Seit Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt drangsaliert die russische Regierung die Zivilgesellschaft mit einer Vehemenz, die beispiellos ist in der postsowjetischen Geschichte des Landes.«2 Wie eng die Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit ist, zeigt sich im russischen Fall daran, dass die das gesamte politische Leben beherrschende Praxis der Korruption und Bereicherung zu den bevorzugten Feldern gehört, in dem sich die Protestbewegung um die Aufdeckung und Offenlegung der Fakten bemüht und damit den Punkt betrifft, an dem die gesellschaftliche und politische Elite des Landes angreifbar ist. Korruption ist das zentrale

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trolle, S. 229; zu Klubs, Verbänden, strategischen Allianzen von Unternehmen und ihrer Schwäche siehe Burkhardt/Kluge, Kampf; zu den Kampagnen gegen NGOs unter Putin siehe Ochotin, Agentenjagd; die »repressive Stabilisierung« bei Mommsen, Putin-Syndikat, S. 110. Zum Gesetz über die NGO siehe die Liste der Nichtregierungsorganisationen, die Russland als »Ausländische Agenten« bezeichnet, in der Zeitschrift Osteuropa 6-7/2016, Osteuropa 8-9/2018; siehe ferner Gessen, Zukunft, S. 296ff, 458; »ausländischer Agent« als Stigmatisierung: siehe Atai, Wahrheit, S. 25; das Urteil von Human Rights Watch nach ebda., S. 459.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Thema der Opposition in Russland, weil es weitaus mehr als die allgemeinen Forderungen nach Demokratisierung und Liberalisierung zum Ausdruck bringt, was vielen auf die Nerven geht. Der gegenwärtig bekannteste Vertreter der russischen Oppositionsbewegungen, Alexei Nawalny, hat sich ganz auf das Thema der Korruption und des Machtmissbrauchs konzentriert. Er durchforstet öffentlich zugängliche Informationen und fördert immer wieder die beiden gleichen skandalösen Sachverhalte zutage: »Die russische Regierung zahlte absurd hohe Beträge für die einfachsten und billigsten Dinge, wie etwa Toiletten. Und russische Staatsbeamte besaßen Immobilien und Autos, die sie sich von ihrem offiziellen Gehalt nie und nimmer leisten konnten.« Die Korruption ist nicht nur das System der persönlichen Bereicherung, sondern auch das Schmiermittel des politischen Systems, mit dem über Gefälligkeiten und Abhängigkeiten die vielfältigen gegenseitigen Loyalitäten abgesichert werden. Im Oktober 2008 prägte Nawalny für die Kreml-Partei Einiges Russland die Formel: »Partei der Gauner und Diebe«, die bis heute den Sachverhalt präzise festhält. Und nicht minder präzise und einfach ist die Maxime, an der sich die oppositionellen Strömungen orientieren: »Nicht lügen, nicht stehlen.«3 Das Verlangen nach der Wahrheit stand hinter den Protesten 2011/2012 gegen den zwischen Putin und Medwedew ausgehandelten erneuten Ämtertausch und gegen die Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl Anfang Dezember 2011. Es war eine Situation, in der die Protestierenden es persönlich nahmen, dass sie belogen und betrogen wurden. Viele von ihnen hatten sich zeitaufwendig und sorgfältig mit dem Thema der Wahlen beschäftigt und sich auf ihre Rolle als Wahlbeobachter vorbereitet. Die Fälschungen, die sie dann zu Gesicht bekamen, erlebten sie als Missachtung ihrer Integrität, als persönlichen Affront, den sie nicht hinzunehmen bereit waren und der sie in Moskau wie in der Provinz auf die Straße trieb. Es ist bei den Wahlen wie bei den anderen Einrichtungen des politischen Systems in Russland: Sie weisen zwar die äußeren Kennzeichen einer liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung auf, aber in der Substanz haben sie davon nichts. Sie sind Fiktionen und Maskeraden. Sämtliche Institutionen und politischen Verfahren sind vom Bazillus der Imitation, der Simulation und der Korruption unterhöhlt und ihrer Substanz beraubt. Es sind keine Lügen im engeren, wörtlichen Sinn, mit denen wir es hier zu tun haben, sondern gleichsam materialisierte Lügen, Kulissen und Fassaden, die vor die Wirklichkeit geschoben 3

Siehe Gessen, Zukunft, S. 406.

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werden und sich für die Wirklichkeit ausgeben, aber mit lauter blendendem Schein eine ganz andere und höchst unerfreuliche Realität verdecken. Dieses Kulissen-Realität-Spiel sorgt bei allen Beteiligten für Verwirrung und Unklarheit, so dass am Ende niemand mehr wissen kann, woran er ist.4 Politische Institutionen haben normalerweise die Funktion, Erwartungssicherheit und Verlässlichkeit zu gewährleisten. Sie sollten halten, was sie versprechen. Die Justiz sollte Recht sprechen und für alle gleich zuständig sein, also keine Rücksicht auf den Status des Angeklagten nehmen, nicht bestechlich sein und dafür sorgen, dass niemand außerhalb oder gar über dem Gesetz steht. Das Bildungssystem sollte leistungsorientierte Karrierewege ermöglichen und eröffnen, und seine Abschlüsse und Benotungen sollten nicht käuflich sein. Die Öffentlichkeit sollte die Arena sein, in der man sich frei und ungehindert informieren und äußern kann. Eine Opposition sollte alternative politische Programme entwickeln, in die öffentliche Diskussion einbringen und zur Abstimmung stellen können. Wahlen sollten nicht gefälscht, gekauft oder manipuliert werden. Ein Referendum sollte eine wirkliche Alternative zum Gegenstand haben, ohne Drohungen auskommen, zureichende Möglichkeiten der Information und des Meinungsaustauschs bieten. Die russische Verfassung garantiert Gewaltenteilung, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Doch in Wirklichkeit ist sie eine leere Schale. Die autokratischen Herrscher im Kreml bedienen sich der Sprache der Demokratie und des Verfassungsstaates, um sie auszuhebeln, sie erlassen Gesetze, um die Herrschaft des Gesetzes zu torpedieren. Parteien, Opposition und Parlament, Gouverneure und Presse sind genuin demokratische Institutionen, die aber in der von Putin durchgesetzten Machtvertikale einer autoritären Einmannherrschaft zur scheindemokratischen Fassade verkommen. Wer sie beim Wort nimmt und sich auf sie verlässt, wird in die Irre geführt. Sie geben vor, etwas zu sein, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Sie wirken damit nicht anders als Lügen und Täuschungen. Sie errichten ein Reich des Scheins, eine Kulissenwelt, der man nicht vertrauen kann. Das Leben im »als ob« hat eine lange Tradition in Russland. Fürst Potjomkin ließ für Katharina die Große die legendären blühenden Dörfer auf der Krim errichten, hinter denen die düstere Realität geschickt verborgen wurde. Die sowjetischen Spitzenfunktionäre ließen sich von jubelnden Menschenmengen feiern, die vorher auf ihre eigene

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Wahlfälschungen und Proteste: siehe Gabowitsch, Putin kaputt, S. 77ff.

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Anordnung hin zu den Straßen und Versammlungsplätzen gebracht worden waren.5 Im Unterschied zu den Zeiten der Sowjetunion sind die gegenwärtigen Institutionen und Regierungspraktiken nicht durchgehend und ausschließlich repressiv, sondern zeigen gelegentlich wie ein Chamäleon auch noch eine andere, freundlichere Seite. Die Dekorationen können wechseln und ausgetauscht werden. Sie sind heute so und morgen ganz anders, sie sind einmal nachgiebig und kooperativ und dann wieder gnadenlos und voller Willkür. Die gesamte Herrschaftszeit des Präsidenten Putin steht unter dem Vorzeichen einer repressiven Politik, die aber nicht alle Schlupflöcher schließt, sondern der Administration in vielen Bereichen die Möglichkeit lässt, auf zivilgesellschaftlichen Druck zu reagieren und bei der Lösung lokaler Probleme zu kooperieren. Es ist ein eigentümliches Wechselspiel zwischen Freiräumen und Bereitschaft zur Kooperation und zum Entgegenkommen einerseits sowie Repression und Willkür andererseits. Ohnedies können viele unbehelligt leben und ihre Lebensentwürfe verfolgen, vorausgesetzt, sie verbinden damit keinerlei politischen Ziele. Zugleich kann man sich immer noch gut informieren, wenn man den Aufwand nicht scheut und Fremdsprachen versteht. Das ist weit entfernt von jenem eisernen Band des Terrors, das die Zeiten der totalen Herrschaft charakterisiert. Aber es ist zugleich weit entfernt von einer Ordnung der Freiheit, die diesen Namen verdient. Im Titel eines Buches von Peter Pomerantsev über seine »Abenteuer in Putins Russland« wird die Lage trefflich in eine Formel gefasst: »Nichts ist wahr und alles ist möglich.«6 Die oppositionellen Gruppierungen und die immer wieder aufflammenden politischen Proteste machen dieses Spiel nicht mit. Sie riskieren den Blick hinter die Fassaden und machen ihn zum Ausgangspunkt politischen Handelns. In diesen Bestrebungen meldet sich das an, was normalerweise die Aufgabe und die Rolle einer freien politischen Öffentlichkeit ausmacht. Eine freie Öffentlichkeit ist im Prinzip das einzige Gegenmittel gegen die Missachtung gesellschaftlicher, historischer und politischer Tatsachen. Sie bietet die Möglichkeit, sich über die gesellschaftlichen und politischen Zustände ins Bild zu setzen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Damit gehört sie zu den unverzichtbaren Bedingungen für die Möglichkeit freien politischen Handelns.

5

6

Zur Sprache der Demokratie, um sie auszuhebeln, siehe von Gall/Kujus, Menschenrechtspolitik, S. 306f; zum Leben im »als ob« und zu Potjomkin siehe Bidder, Generation, S. 88; Stent, Putins Russland, S. 244. Zu den Möglichkeiten sich zu informieren siehe Lipman, Kontrolle, S. 229.

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Freie Öffentlichkeit heißt immer, dass nicht nur eine Position gilt, sondern dass eine Vielzahl von Perspektiven und Meinungen zu Worte kommt. Solange zuverlässige Informationen und Tatsachenwahrheiten zur Verfügung stehen, ist das kein Verwirrspiel, sondern elementare Voraussetzung und Bedingung politischen Handelns. Ohne den freien und ungehinderten Austausch im öffentlichen Raum gibt es keine Mittel gegen kleine und große Lügen, gegen das phantastische Zurechtrücken der Wirklichkeit, gegen Realitätsverlust und Mythisierungen, die im politischen Handeln immer möglich sind. Nur auf diesem Wege kann einer auf Illusionen und Realitätsverkennungen aufbauenden Politik begegnet werden, können Irreführungen, Täuschungen und Halbwahrheiten korrigiert, kann zwischen Anschein und Realität unterschieden werden. Und nur durch einen lebendigen und beständigen Austausch kann vermieden werden, dass sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure in ihren jeweils eigenen und abgeschotteten Wahrnehmungen verschanzen. Eigentlich müsste auch in Russland die Rolle der Medien darin bestehen, hinter die Kulissen und Fiktionen zu schauen und im Durcheinander der politischen Welt für Klarheit, Orientierung und Verlässlichkeit zu sorgen. Sie müssten ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, Informationen und verlässliches Wissen zu erzeugen und zu vermitteln. Das ist in einem politischen System, in dem nichts davor gefeit ist, eine Fiktion zu sein, und niemand dem, was er sieht oder hört, trauen kann, eine Herkulesaufgabe. Aber die Medien in Russland durchkreuzen das Spiel der Fiktionen und Kulissen nicht, sondern spielen es mit, besser gesagt: Sie müssen es mitspielen. Sie sind nicht dazu da, die gesellschaftliche, ökonomische und politische Lage des Landes zu durchleuchten, zu kommentieren und zu kritisieren. Sie bieten der Gesellschaft nicht den Raum und die Mittel, die sie so dringend braucht, um sich über die politische und soziale Welt und sich selbst zu verständigen und zu Positionen, Entschlüssen und Vorhaben zu kommen. Statt Aufklärung zu betreiben, sind die wichtigsten Medien zu staatlichen Instrumenten geworden, mit denen der Kreml die Zustimmung zu seiner Politik organisiert. Sie sind ein Teil der Machtvertikale und in ihr wegen ihrer potentiellen Aufklärungsmacht nach Ansicht der maßgeblichen Kräfte des Kremls auch ganz unverzichtbar. Unabhängige Medien, die kritisch recherchieren und kommentieren, was, wie und von wem getan und beabsichtigt wird, sind in der Ausrichtung der Politik an der Wiedererringung von Größe und Stärke nichts anderes als Staatsfeinde, die die Realisierung dieses Ziels behindern und unterminieren. Die Medien sollen keine Fragen stellen und Licht ins Dunkel bringen,

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sondern als getreue Werkzeuge der Staatsführung fungieren und alle ihre Kräfte in die Unterstützung der patriotischen Aufgaben stellen. Die Öffentlichkeit ist in der Vorstellungswelt des Kremls eine Arena, auf deren Bühne das Spiel von Politik und Gesellschaft für alle sichtbar zur Aufführung kommt und orchestriert wird. Keinesfalls aber ist sie der Ort und der Raum für sattelfeste, zuverlässige, faktengestützte Recherche und kritische Auseinandersetzung mit den Zuständen. Die Medien arbeiten nach Kräften daran mit, die Kulissenwelt der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu vervollständigen und als möglichst unterhaltsames Spektakel zu präsentieren. Hier kann und darf alles stattfinden, außer ernsthafte politische Kritik, Debatte und Verständigung. Unabhängige und abweichende Medien werden zum Schweigen gebracht oder marginalisiert. Das gilt besonders für das Fernsehen, von dessen politischer Allmacht Putin so überzeugt zu sein scheint wie Trump. Mittlerweile befindet es sich mehr oder weniger vollkommen in der Hand des Kremls und trägt auf das kräftigste zur allgemeinen Desorientierung und Konfusion bei. Und es sorgt zugleich dafür, dass es im Autoritarismus des neuen Russland niemals langweilig wird. Es setzt seinen Ehrgeiz darein, »sowjetische Kontrolle und westliches Entertainment miteinander zu verbinden«. In einer Mischung aus Showbusiness und Hofberichterstattung ist es zu einer Art Public-Relations-Agentur des Kremls geworden, die am besten als »Potemkin Productions« bezeichnet werden kann.7 Als letzte Bastion, in der unabhängige Berichterstattung und Information noch am ehesten möglich sind, hat sich der Kreml schließlich auch das Internet vorgenommen. Mitte März 2019 unterzeichnete Putin ein Gesetz, das hohe Geldstrafen und Arrest für die digitale Verbreitung von Falschinformationen vorsieht. Das Gesetz trat am 1. November 2019 in Kraft. Die Kritiker, von Amnesty International über den von Putin selber eingesetzten Menschenrechtsrat bis hin zu Tausenden von Demonstranten, sehen darin die Gefahr einer willkürlichen Sperrung von Internetseiten. Auch eine »eklatante Respektlosigkeit« gegenüber dem Staat, den Behörden, der Verfassung und der Landesfahne kann geahndet werden. Die Versuche, das Internet einzuzäunen, dienen dazu, der Bevölkerung den Zugang zu kritischen Informationen möglichst schwer zu machen und im Notfall vollständig zu kappen. Schon im 7

Zur Medienpolitik des Kremls unter Putin siehe Schmid, Technologien, S. 15ff und passim; »Sowjetische Kontrolle und westliches Entertainment«: Pomerantsev, Nichts, S. 15; »Potemkin Productions«: ebda., S. 62.

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Jahre 2000 hatte Putin in aller Deutlichkeit gesagt, dass ein regierungskritischer Blogpost, der von Russen gelesen werden kann, ein Cyberangriff ist. Cybersicherheit besteht für ihn darin, der Lektüre und Verbreitung unkontrollierter Berichte, Reportagen, Kommentare und Meinungen einen Riegel vorzuschieben.8 Die Maßnahmen und Entwicklungen laufen nicht auf die Indoktrination mit einer einzigen und unzweifelhaften Wahrheit hinaus, sondern bewirken Misstrauen, Konfusion und Verwirrung. Da jeder weiß, dass die wichtigen Fernsehsender in der Hand des Kremls sind, ist ihre Glaubwürdigkeit beim Publikum nicht wirklich groß. In einer Umfrage aus dem Jahre 2018 bezeichneten nur noch ca. 40 Prozent der Befragten das Fernsehen als vertrauenswürdigste Informationsquelle. Das einzige, was wirklich hängen bleibt, ist, dass es zu jeder Geschichte unendlich viele andere Geschichten gibt, die das Gegenteil behaupten, so dass man nichts und niemandem trauen kann und auch die nicht-offiziellen Informationsquellen diskreditiert sind. Das bewundernswerte internationale Recherchenetzwerk Bellingcat, an dem auch russische Journalisten beteiligt sind und das immer wieder Machenschaften, Täuschungen und Lügen des Kremls aufdeckt, findet an vielen Orten der Welt große Aufmerksamkeit, nicht aber in Russland. Die Mehrheit der Russen vertritt die Haltung: »Wir machen uns keine Illusionen über die Korruption und andere Verfehlungen der Regierung und scheuen uns nicht, solche Dinge untereinander zu diskutieren. Aber wir glauben nicht, dass diejenigen, die ›Staub aufwirbeln‹, indem sie sich den Mächtigen entgegenstellen, in der Lage sind, unser Leben zu verbessern.« Der Effekt ist, wie der Direktor des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow, in einem Interview mit der Zeitschrift The Village im Dezember 2015 erläutert: »Man kann niemandem trauen, alle sind Schweine. … Und was kann jemand zu dem sagen, was in der Ukraine geschehen ist, auf dem Maidan oder im Donbass, wenn er alle Informationen nur über die Glotze bezieht? … Er kann es nur glauben, oder auch nicht – überprüfen kann er es nicht. Dadurch ist in der Gesellschaft ein Gefühl des Halb-Glaubens, Halb-Misstrauens entstanden, und die Wahrnehmung, dass alle lügen.« Das Ergebnis ist ein kollektiver »Erregungszustand«, der durch Argwohn, Angst und Ohnmacht charakterisiert ist, aber weder eine tragfä-

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Zur Bedeutung der Internetmedien siehe Lipman, Kontrolle; zum Internet-Gesetz und den Protesten dagegen siehe SPON, 18.3.2019, NZZ, 1.11.2019; zu Putins Verständnis von Cybersicherheit siehe SZ, 20.2.2019.

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hige Verständigung über die Realität noch vernünftiges politisches Handeln erlaubt.9 Hinzu kommt, dass auch die Geistes- und Sozialwissenschaften im öffentlichen Raum kaum eine Rolle spielen, zunehmend um ihre Unabhängigkeit fürchten müssen und jede internationale Kooperation im Verdacht der Spionage steht und durch den Geheimdienst FSB kontrolliert wird. Die Geschichtswissenschaft wird wegen ihrer Bedeutung für das offiziell gewünschte Bild der Vergangenheit an die Kandare genommen, das Lewada-Zentrum, das sich als unabhängiges soziologisches Institut mit der Erforschung des homo sovieticus und seiner Erbschaft nach dem Ende der UdSSR einen Namen gemacht hat, und die Menschenrechtsorganisation Memorial, die den Terror der Stalinzeit dokumentiert und sich mit bewundernswerter Energie um die Entwicklung einer kritischen Erinnerungskultur in Russland bemüht, werden als »ausländische Agenten« diffamiert, diskreditiert und drangsaliert. Am 11. Februar 2019 hat der russländische Minister für Wissenschaft und höhere Bildung einen Erlass herausgebracht, der die Zusammenarbeit mit ausländischen Wissenschaftlern unter verschärfte Kontrolle stellt und unter anderem eine Berichtspflicht über Gespräche mit Ausländern zur Auflage macht. So ist es kein Wunder, wenn im allgemeinen politischen Bewusstsein Russlands die Begriffe fehlen, mit denen die Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart festgehalten und weitergegeben werden könnten. Auch darin setzt sich der Mangel aus der Zeit der Sowjetunion fort, in der die Gesellschaft nichts über sich erfahren durfte, keine eigene Sprache ausbilden konnte, um sich über sich zu verständigen und die Dinge, die sich in Gesellschaft und Politik des Landes abspielten, zu beschreiben, einzuordnen und zu bewerten.10 Alles in allem ist es eine Gesellschaft und eine Welt, in der die Show und die Fiktionen über die Realität triumphieren. Das Resultat ist eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft. Kaum jemand, der im Durcheinander von Lügen, Halbwahrheiten, Intransparenz und Schikane nicht die Orientierung verliert. Es ist eine Gesellschaft, in der man sich auf nichts und niemanden verlassen kann, nicht auf die politischen Institutionen und Amtsinhaber, nicht auf die 9 10

Die Zahl zur Glaubwürdigkeit des Staatsfernsehens nach Lipman, Kontrolle, S. 225; das Zitat zur Haltung gegenüber unabhängigen Medien ebda., S. 226; Gudkow, Interview. Siehe Gessen, Zukunft, S. 127; zu den Tendenzen und Schizophrenien der Wissenschaftspolitik siehe Dubrovskij, Skylla und Charybdis; zu den Angriffen auf das Lewada-Zentrum siehe die C hronik sowie die Erklärung des Direktors des LewadaZentrums Lew Gudkow unter www.zeitschrift-osteuropa.de/support-levada/; zur Lage von Memorial siehe zuletzt Ščerbakova, Unter Druck.

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Justiz und nicht auf die Medien. Kaum jemand legt sich auf irgendetwas verbindlich fest, kaum jemanden kann man beim Wort nehmen. Im Zwielicht der offiziellen und halboffiziellen Informationen verliert die Realität ihre Konturen und verschwindet im Ungefähren von Vermutungen, Behauptungen, Lügen, Intrigen, Versicherungen, Dementis. Die Zustände werden unwirklich und ohne sicheren Grund, in denen jeder eher umherirrt als dass er sich zurechtfindet. Es ist eine Gesellschaft, die politische Aktivität grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet und in der jede eigenständige Aktivität im Verdacht steht, die Stabilität des Staates zu bedrohen, – eine Gesellschaft, der der Realitätssinn ausgetrieben worden ist. Diejenigen, die der Willkür direkt zum Opfer fallen, indem sie unter falschen und fadenscheinigen Beschuldigungen verhaftet und vor Gericht gestellt und verurteilt werden, sind die sichtbaren Exempel für die Maxime, dass niemand sich sicher fühlen soll, dass niemand verlässlich Wurzeln schlagen darf, weder im ökonomischen noch im gesellschaftlichen oder geistigen Bereich. Die Welt wird zur Theaterkulisse und Fassade. Immer wieder gibt es aber auch Bröckchen der Freiheit, die das System erlaubt. Auch das gehört zum Spiel, dessen Ziel und Logik offenbar darin besteht, niemandem den Luxus von Wahrheit und Gewissheit zu erlauben. Der vorherrschende Zug besteht nicht in Repression, sondern in Verunsicherung, die dadurch eintritt, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit immer wieder zum Verschwimmen gebracht werden. Das Ideal ist eine Gesellschaft vereinzelter Einzelner, die außer in ihrem unmittelbaren privaten Umfeld nichts haben, was sie verlässlich zusammenbringt und befähigt, sich mit ihrer Stimme in eine öffentliche Debatte einzubringen. Die Welt wird zur Realityshow, der das Wichtigste, nämlich die Gewissheit der »Realität der Realität« abhandengekommen ist. Dann wird die Welt zum Gerücht über sie. Das Gerücht ist ein Diskurs ohne Subjekt, bei dem niemand den Wahrheitsgehalt gewährleistet oder auch nur am Wahrheitsgehalt interessiert ist.11

Die Lüge als Weltordnung, die Ironie und die Skandale Der Schriftsteller, der am ehesten dazu angetan ist, die russische Gegenwartssituation zu erschließen und zu kommentieren, ist nicht Dostojewski oder Solschenizyn, sondern Kafka. Es ist wie im »Prozeß«, diesem Ur-Roman des 11

Zur »Realität der Realität« und zur Logik des Gerüchts siehe Boltanski, Rätsel, S. 51, 397.

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20. Jahrhunderts: Die Verhaftung ist keine Verhaftung, die Advokaten sind keine Advokaten, die Richter sind keine Richter, die Verhandlungen sind keine Verhandlungen, die Welt bekommt alptraumhafte Züge, Züge des Irrealen und Phantastischen. Niemand, der sich in ihr zurechtfindet, niemand, der weiß, um was es sich handelt und um was es geht. Josef K. wird verhaftet, ohne dass er etwas Böses getan hätte. Der Verhaftete kennt nicht den Grund der Verhaftung und wird ihn nie erfahren. Er kennt das Gesetz nicht, gegen das er verstoßen haben soll, und kann es nicht kennen. Die Hilfe, die er sucht und bekommt, ist keine. Niemand kann sagen und wissen, was erforderlich, nötig und angebracht ist, um sich zu wehren und sich zu orientieren. Jeder lebt in Unsicherheit, jeder bewegt sich auf schwankendem Boden, die Auskünfte des Auskunftsgebers sind keine Auskünfte. Es ist wie auf einem Schiff, das sich in schwerem Seegang befindet und auf dem alle seekrank sind. Das Klima der Ungewissheit breitet sich über die gesamte Realität aus. Man kann sich nur resignativ mit den Verhältnissen abfinden, ohne jede Aussicht und Hoffnung auf Besserung. In der bedrohlichen Welt voller Schrecken und Entsetzen gibt es keinerlei Grundsätze und Orientierungspunkte für ein sinnvolles und vernünftiges Verhalten. Jeder ist für sich allein, und gemeinsame Interessen oder gar Freundschaften sind unmöglich. Am Ende erweisen sich die Herren, die wie freundliche Gäste auftreten, als die Henker, die K. das Messer ins Herz stoßen. Im vorletzten Kapitel des Romans, überschrieben »Im Dom«, erklärt ein kurzer Dialog zwischen dem Geistlichen und dem Angeklagten das Grundprinzip, nach dem diese Welt funktioniert: »›Nein‹, sagte der Geistliche, ›man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.‹ ›Trübselige Meinung‹, sagte K. ›Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.‹«12 Was Kafka zur Darstellung bringt, ist nicht die Funktionsweise totaler Herrschaft, in der jede menschliche Spontaneität und Eigenständigkeit liquidiert wird und die im Lager ihre deutlichste Ausprägung erfährt. Es ist bei Kafka vielmehr, wie Hannah Arendt erklärt, die altmodische bürokratische Herrschaft der Vorkriegszeit, die die Szenerien und Alpträume bestimmt. Dafür ist typisch, im Unterschied zur totalitären Herrschaft, dass sie sich »mit der Lenkung der äußeren Geschicke ihrer Untertanen, soweit sie dem politischen Raum angehörten, zufriedengaben und niemals versuchten, ihr Seelenleben zu beherrschen«. Das entspricht der Lebenserfahrung im heutigen Russland. Es ist eine Realität, die irreal und undurchdringlich geworden 12

Kafka, Prozeß, S. 302f.

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ist, ein Simulakrum, eine Welt, die die Orientierung und logische Erklärung verweigert und für deren Realerfahrungen prototypisch der Traum steht, den willkürlich Verhaftete so oft träumen: »Sie versuchten, jemanden anzurufen, und kamen nicht durch.« Es ist zwar eine Welt, in der jeder verhaftet werden kann, ohne dass er etwas Böses getan hätte, eine Welt, die für den Einzelnen unkalkulierbar, unsicher, unberechenbar geworden ist, die ihm entlastende Routinen und Verlässlichkeiten kaum erlaubt und den Gedanken an gemeinsames politisches Handeln gar nicht erst aufkommen lässt. Aber es ist auch eine Welt, in der die meisten Leute in Ruhe gelassen werden und machen können, was sie wollen, solange sie sich nicht ins politische Geschäft einmischen. Und es ist zugleich eine Welt, die mit vielen Annehmlichkeiten, einer deutlichen Verbesserung der Versorgung mit Konsumgütern und der Erhöhung des Lebensstandards aufwartet. Auch die Erscheinungsformen und Gesichter der großen Städte sind freundlich, bunt und vielversprechend geworden. So hat sich Moskau in den letzten Jahren unübersehbar in eine moderne, kunden- und bewohnerfreundliche Metropole verwandelt, die Einheimische wie Besucher umschmeichelt und verwöhnt. Der Um- und Aufbau Moskaus zu einer modernen Metropole war das Zuckerbrot neben der Peitsche, die der Präsident nach den Protesten im Winter 2011/2012 und seiner Wiederwahl im März 2012 zum Einsatz brachte. Es erinnert ein wenig an die Modernisierung von Paris durch Baron Haussmann nach der Pariser Kommune von 1871. Aber wo in Paris die verwinkelten Straßen den gradlinigen Boulevards zu weichen hatten, damit die Polizei gegen Aufständische im Wiederholungsfall leichteres Spiel haben sollte, da umwirbt das neue Moskau die Einwohner und Besucher mit Kunst-, Kultur- und Konsumangeboten.13 Das ist für die politische Führung nicht ohne Risiko. Vielleicht verbindet sich mit der Lust zum Promenieren der Wunsch, die neue Stadtlandschaft auch für Versammlungen und Demonstrationen zu nutzen. Tatsächlich wurde Anfang August 2019 der zehn Kilometer lange und mit Geranien bepflanzte Gartenring zum Ort einer Spaziergangs-Demonstration gegen die bevorstehenden Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, bei der die oppositionellen Kandidaten aus fadenscheinigen und willkürlichen Gründen nicht zugelassen waren. Wie schon eine Woche zuvor bei einer ebenfalls nicht genehmigten

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Das Zitat von Arendt über Kafka: Elemente, S. 394; der Traum der willkürlich Verhafteten: siehe Pomerantsev, Nichts, S. 119; zum neuen Moskau siehe z.B. Holm, Parklandschaften; Bota, Leuchtet, frohlocket.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Demonstration reagierten Polizei und Sondereinsatzkräfte mit großer Härte und Willkür und nahmen mehr als tausend Menschen fest. Die meisten wurden kurz darauf wieder freigelassen, andere vor Gericht gestellt. Ihnen drohen mit der Anklage, Massenunruhen angestiftet und organisiert zu haben, mehrere Jahre Haft. Wie bei der Protestwelle von 2011 und 2012 machte die Staatsführung auf diese Weise von vornherein klar, dass sie zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist. Und wie damals sah der Kreml auch dieses Mal in den Protesten das Werk ausländischer Kräfte. Nach wie vor ist die Regierung offenbar von der Befürchtung getrieben, dass schon die kleinsten Liberalisierungen das gesamte politische System zum Einsturz bringen könnten, und greift deswegen in maßloser Angst von Anfang an zum Mittel der Einschüchterung, Verunsicherung und Schikane.14 Kafkas Romane enthalten Elemente einer »Satire auf den Schicksalsaberglauben und den mit ihm zusammenhängenden Stolz, in irgendeine furchtbare, dunkle Notwendigkeit verstrickt zu sein, in deren Unglück sich der Sinn des Lebens offenbart«. Satire, Ironie, Spott, Witz und Humor sind in der Geschichte vielfältig bewährte Mittel, mit denen man sich gegen die »Lüge als Weltordnung« zur Wehr setzen und ihr das Lachen entgegensetzen kann. Das sind nicht gering zu schätzende Möglichkeiten, die Freiheit des Denkens zu wahren, sich die Aufdringlichkeiten der Dummheit vom Halse zu halten und denen, die einen drangsalieren, wenigstens ein Stück der Macht zu nehmen, die sie zu haben meinen. Tatsächlich können es Autokraten im Allgemeinen überhaupt nicht gut ertragen, dass man sich über sie, ihre Lügen und Täuschungsmanöver lustig macht. Sie haben ein übergenaues Gespür dafür, dass sich der Ironiker im Lachen über sie erhebt und damit ihrem Anspruch, über allem zu stehen, ein Schnippchen schlägt. Putin macht da keine Ausnahme. Die ersten Sendungen, die nach seiner Übernahme des Präsidentenamtes aus dem Fernsehen verschwinden mussten, waren Satire-Sendungen über den Kreml. Russlands Präsident konnte und kann mit öffentlicher Kritik an seiner Person nicht umgehen, und schon gar nicht kann er es ertragen, wenn man sich über ihn lustig macht. Unter Jelzin war die satirische Fernsehsendung Kukly (Puppen) sehr beliebt gewesen. Jelzin hatte es hingenommen, dass er darin regelmäßig karikiert wurde. Ganz anders Putin. Als er ins Fadenkreuz des Spotts geriet, muss das bei ihm geradezu Panik ausgelöst haben. Dass er in der Figur des ›Kleinen Zaches‹ von E.T.A. Hoffmann lächerlich gemacht wurde, war für ihn unerträglich. Es war nicht nur eine Anspielung auf die 14

Zu den Demonstrationen siehe die Berichte in SPON, 3.8.2019 und Bota, Staat.

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bescheidene Körpergröße des neuen starken Mannes im Kreml, sondern zugleich damit wurde auch der manipulierte Übergang der Macht von Jelzin auf Putin aufs Korn genommen. »Putin soll darüber vor Wut geschäumt haben. Er setzte nun alles daran, um eine weitere öffentliche Verspottung seiner Person zu unterbinden.«15 Humor und Ironie und das Lachen, das sie auslösen, sind Ausdruck von menschlicher Freiheit und Unbekümmertheit. In der russischen Literatur spielte der ironische Protest gegen die Zumutungen der zaristischen Bürokratie immer eine große Rolle, – Gogol war darin ein wahrer Meister: unvergessen „Der Revisor«, in dem die Betrüger betrogen und die ganze korrupte zeitgenössische Gesellschaft lustvoll aufs Korn genommen werden, unvergessen »Die Nase«, in der ein Mann seiner Individualität beraubt ist. Er ist gleichsam der Vorläufer des Mannes »ohne Gesicht«, als den Masha Gessen den Präsidenten Putin charakterisiert hat. Aber der gegenwärtige Herrscher im Kreml unterbindet die Ironie nicht nur, sondern geht einen Schritt darüber hinaus, indem er sie für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert und in das Arsenal seiner Herrschaftstechniken der Desorientierung, der Drangsalierung, der Schikane und der Demütigung integriert. Dadurch wird die Ironie ihrer Substanz beraubt, mit Sarkasmus gemischt und in Zynismus verwandelt. Dann werden die Anschuldigungen und Berichte über unangenehme Tatsachen und Ereignisse nicht mehr nur mit lügnerischen Gegenbehauptungen relativiert, wie das in den Reaktionen auf den Abschuss von MH 17 über dem Kriegsgebiet in der Ostukraine der Fall war, sondern zusätzlich ins Lächerliche und Alberne gezogen.16 Eigentlich ist die Ironie ein Kommentar zur Lage, den die Ohnmächtigen abgeben, um sich nicht völlig der Übermacht der Verhältnisse auszuliefern. Sie machen sich in der Ironie unabhängig von den Drangsalierungen, die sie verspüren, und erhalten sich in dieser Reaktionsweise einen kleinen Spielraum von Autonomie. Das Vermögen, das hinter der Ironie steht, ist das gleiche wie bei der Lüge. Hier wie dort zeigt sich, dass es zum Wesen des Menschen gehört, über die Kette der Kausalitäten und Determinationen, die

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Das Zitat zu Kafka und Satire stammt von Arendt, Elemente, S. 395; Putins Verhältnis zur Satire und das Zitat dazu: Mommsen, Putin-Syndikat, S. 50; siehe ferner Myers, Putin, S. 254f. Zur Instrumentalisierung der Ironie durch den russischen Präsidenten siehe Markwardt, Postmoderne.

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ihn festzulegen und zu fesseln scheinen, hinausgehen zu können. Im Unterschied zur Lüge gibt sich die Ironie aber zu erkennen. Die Lüge verbirgt sich, indem sie sich als Wahrheit maskiert. Die Ironie dagegen liefert, gleichsam augenzwinkernd, immer die Signale mit, die sie erkennbar machen, und sie ermöglicht es dadurch dem Gegenüber, mitzuspielen oder auch dem Spiel ein Ende zu machen. Ironie arbeitet mit grotesken Übertreibungen, mit Spott und Unverständlichem. In ihr probieren wir unterschiedliche und ungewöhnliche Perspektiven auf Phänomene und Ereignisse aus, mit Vorliebe solche, in denen wir uns dümmer stellen als wir sind. Wir übertreiben, spitzen zu, sind einseitig, aber auch bereit, andere Einseitigkeiten mitzumachen. Das alles nicht, um zu betrügen und zu täuschen, sondern, ein wenig wie in der Mäeutik des Sokrates, um Eigenständigkeit zu erreichen, Eigensinn zu bewahren, das Denken zu üben und einen Zuwachs an Erkenntnis der Lage zu gewinnen. Insofern ist Ironie per se immer liberal. Sie setzt die eigene Position nicht absolut, sondern lädt den Gesprächspartner ein, seinerseits in das Spiel der einseitigen Zuspitzungen einzusteigen und das Interesse an Neubeschreibungen und Anreicherungen der Perspektiven zu teilen. Sie impliziert damit so etwas wie ein Bündnis mit dem Anderen. Das teilt die Ironie mit dem von Richard Rorty so genannten »Ironismus« und der »Ironikerin«, die bei ihm das Gegenmodell zum absoluten Universalismus- und Wahrheitsanspruch der Erkenntnis sind. Auch in ihnen geht es darum, »die Möglichkeiten massiver Neubeschreibung zu erkunden« und darum, »dass wir unsere Kenntnisse erweitern«. Auf ähnliche Weise preist Vladimir Jankélévitch die Ironie als Gegenmittel zu erkenntnistheoretischen Absolutheitsansprüchen. Ironisch zu sein bedeutet, »nacheinander eine Unendlichkeit von Standpunkten einzunehmen, so dass sie sich gegenseitig berichtigen; so entgehen wir allen einseitigen ›Zentrismen‹, finden die Unparteilichkeit und die Gerechtigkeit der Vernunft wieder«. Der Lügner »verachtet seinen Partner oder, genauer, behandelt ihn als Sache oder abstrakten Begriff, der höchstens gut genug dazu ist, in sein Spiel einzutreten und seinen persönlichen Interessen zu dienen; man schätzt nicht, was man täuscht!« Bei der Ironie ist es anders. Sie behandelt den anderen als »den echten Partner eines echten Dialogs: Denn der Ironiker steht auf gleicher Höhe wie seinesgleichen, er ehrt in ihnen die Würde des Geistes, er gibt ihnen die Ehre, dass sie ihn verstehen können.« Die Ironie enthält die Aufforderung, die uns sagt: »ergänzen Sie selbst, berichtigen Sie selbst, urteilen Sie selbst!«17 17

Rorty, Kontingenz, S. 135, 138; Jankélévitch, Ironie, S. 32, 65f.

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Wenn dagegen ein autokratischer Präsident zum Mittel der Ironie greift, verliert sie ihre befreiende Wirkung und wird zum Element der Herrschaft. Aus dem befreienden Lachen wird ein Lachen, das den Anderen verhöhnt und entwürdigt. Putin macht aus der Ironie eine Herrschaftstechnik und setzt sie in zwei Richtungen ein. Zum einen, um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, und zum anderen, um die Affären und Skandale, in die sich der Kreml immer wieder verstrickt, durch das Mittel ironischer Kommentierung ins Leere laufen und im Nebel einer Komödie verschwinden zu lassen. In beiden Fällen dient die Ironie nicht mehr der Relativierung und der Kritik von Absolutheitsansprüchen, sondern gerade umgekehrt dem Ausbau der Herrschaft und der Immunisierung gegen jede Art von Nachfragen, Kritik, Relativierung und Einwänden. Die Ironie tritt in den Dienst der Verhöhnung und nimmt die Züge eines »triumphalen Zynismus« an.18 Mit dieser Art von Ironie reagierte Putin z.B. im Dezember 2011 auf die Massendemonstrationen, die mit unerwarteter Vehemenz und Wucht, wie aus dem Nichts und zur Überraschung aller Beobachter, in ganz Russland in Erscheinung getreten waren. Putin beantwortete fünf Tage nach den ersten großen Protesten im staatlichen Kanal Rossija mehrere Stunden lang Fragen von Studiogästen und zugeschalteten Bürgern. Er wurde aufgefordert, sich zu den Protesten zu äußern, und antwortete, dass er die weißen Bändchen der Demonstranten zuerst für Kondome gehalten habe: »Ich sage Ihnen ehrlich, auch wenn es nicht ganz stubenrein ist: Ich dachte erst, es geht um Aids-Aufklärung. Ich dachte, pardon, sie hätten sich Präservative an die Brust geheftet. Mir war nur ein Rätsel, warum sie sie aus der Verpackung genommen hatten.« Und er fuhr fort mit der Behauptung, dass ein Teil der Demonstranten im Sold des Auslands steht. Zu ihnen sage er, »kommt zu mir, Bandar-Logs«, – eine Anspielung auf die Äußerung der Pythonschlange Kaa an die räuberischen Affen aus Kiplings »Dschungelbuch«, das in Russland sehr bekannt ist und Putin nach eigener Aussage als Junge sehr geliebt hat. Die Demonstranten reagierten mit einer Art Gegenironie, indem sie die Bilder aufgriffen. Am 24. Dezember waren Dutzende Plakate mit Aufschriften wie ›Bandar-Logs gegen das Gesetz des Dschungels‹ zu sehen, und solche, die davor warnten, ein Präservativ zum dritten Mal zu verwenden oder ein Kondom gegen den Präsidenten empfahlen. Das weiße Band war zum Symbol der Protestbewegung geworden. Es erinnerte an die Farbe der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahre 2004, sollte sich davon aber zugleich absetzen, 18

Von triumphalem Zynismus spricht Pomerantsev, Nichts, S. 223.

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weil es nichts Aggressives enthalten und alle Farben in sich einschließen wollte. Die Demonstranten signalisierten damit, dass sie nicht im Namen einer politischen Partei oder Bewegung auf die Straße gingen und sich gar nicht als politisch verstanden.19 So wie Putin mit den Mitteln der Ironie (und der Repression) den Protesten gegen sich und seine Politik das Wasser abgraben möchte, so versucht er, über die Ironisierung der Affären und Skandale die Aufmerksamkeit, die diese sonst auf sich ziehen würden, von vornherein zu unterlaufen. Der Sprengsatz, der für autoritäre Herrschaftsformen in Affären steckt, wenn sie denn aufgedeckt werden und die Wahrheit ans Licht kommt, ist nicht zu unterschätzen. Für das Wirken der Aufklärer im Frankreich des späten Ancien Régime waren Affären von zentraler Bedeutung, wie man besonders gut an Voltaire erkennen kann. Er wurde in verschiedenen Kriminalfällen aktiv, deckte die skandalösen Fehlurteile der Gerichte auf und stellte damit nicht nur das Verhältnis zwischen der religiösen und politischen Macht in Frage, sondern zugleich die Legitimität der herrschenden Elite. Mit der weit reichenden Konsequenz, dass die Hoheit über die Bestimmung dessen, was tatsächlich der Fall ist und was auf das Konto von Betrug, Täuschung und Lüge geht, nicht mehr auf der Seite der Kirche und der staatlichen Organe liegt, sondern in die Kompetenz der Öffentlichkeit fällt, also in öffentlichen und für alle zugänglichen Debatten geklärt werden muss.20 In offenen Gesellschaften und liberalen politischen Systemen sind Affären und Skandale eine Art Alarmsystem, über das sich eine erfahrene und intakte politische Ordnung der Freiheit regeneriert. Die Öffentlichkeit wird aufmerksam auf Schwachstellen, auf Gefahren und Gefährdungen, die ihr drohen, von welcher Seite auch immer, meistens dadurch, dass Personen oder Institutionen die Grenzen ihrer Tätigkeiten und Aufgaben auf unzulässige Weise überschreiten und missbrauchen. Auf diese Weise führt die Aufklärung von Affären und Skandalen zur Revitalisierung und trägt dazu bei, dass sich die politische Gemeinschaft über die Prinzipien ihres politischen Lebens verständigt, sie bestätigt, sie variiert und verändert und sie gerade dadurch stärkt. Sie sind tatsächlich ein Ausweis, vielleicht der wichtigste, der Überlegenheit

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Siehe Gabowitsch, Putin kaputt, S. 39f; das wörtliche Zitat nach Gessen, Zukunft, S. 424; die Erklärung zum weißen Band ebda., S. 417f; siehe auch Myers, Putin, S. 514f. Zur Rolle der Affären siehe Boltanski, Rätsel, S. 121 ff; berühmte Pamphlete Voltaires sind: Über die Toleranz, veranlasst durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762; Bericht vom Tode des Chevalier de la Barre, beide in: Voltaire, Recht und Politik.

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einer liberalen politischen Ordnung der Freiheit gegenüber autoritären Systemen, in denen es Skandale nur auf Kommando und Veranlassung von oben gibt, sonst nicht. Im politischen System Russlands haben Affären im liberalen Sinn keinen Platz. Was eine Affäre und ein Skandal ist und wie mit ihnen umgegangen werden soll, unterliegt der alleinigen Definitionsmacht des Kremls. Er inszeniert Affären zur Diskreditierung von Personen, die in Ungnade gefallen sind oder fallen sollen. Skandale und Affären aber, in denen der Dilettantismus, der Egoismus und die Verlogenheit der staatlichen Institutionen und des staatlichen Personals öffentlich sichtbar werden, darf und soll es nicht geben. Wo in einer funktionierenden liberalen Öffentlichkeit eine Affäre vorliegt, ein Missbrauch aufgedeckt wird, illegitime Machenschaften und Seilschaften angeprangert werden, wird das in autoritären Systemen so weit es geht mit ironischen Kommentaren überspielt und im Nebel von Beschweigen und Vertuschen zum Verschwinden gebracht. Typischerweise war das so im Fall Skripal. Am 4. März 2018 wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury in Südengland vergiftet aufgefunden. Skripal hatte während seiner Karriere beim russischen Militärgeheimdienst GRU zugleich dem britischen Auslandsgeheimdienst zugearbeitet. In Russland wurde er, nachdem seine Tätigkeit als Doppelagent aufgeflogen war, fünfeinhalb Jahre lang inhaftiert, bevor die britische Regierung dafür sorgte, dass er im Rahmen eines Agentenaustausches freikam. Nach dem Anschlag in Salisbury äußerte die britische Premierministerin Theresa May die Vermutung, dass Russland dahinterstecke und forderte Moskau zur Aufklärung auf. Viele Staaten verhielten sich solidarisch mit der Londoner Regierung und beschlossen Sanktionen gegen Moskau. Bis Ende März 2018 wurden insgesamt rund 150 russische Diplomaten ausgewiesen, allein 60 davon aus den Vereinigten Staaten. Russland stritt von Anfang jede Verantwortung ab und gab sich erbost darüber, dass London seine Erkenntnisse nicht mit der russischen Polizei teilen wollte. Die russische Botschaft in London, die immer wieder bemüht ist, in Sachen Ironie mit dem Präsidenten im Kreml mindestens gleichzuziehen, schrieb auf Twitter, man müsse nun offenbar Poirot, den berühmten Detektiv von Agatha Christie, anfordern, um die Dinge zu klären. Nach der Ausweisung der russischen Diplomaten aus den USA ließ die Vertretung Moskaus in Washington die Nutzer des Kurznachrichtendienstes darüber abstimmen, welches US-Konsulat man nun im Gegenzug schließen solle. Der staatlich finanzierte Auslandssender Russia Today (RT) warb dann sogar mit dem Slogan

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»Blame it on us«, – »gebt uns die Schuld«. Im September 2018 nahm der Fall dann eine dramatische und aufsehenerregende Wendung. Die britische Polizei präsentierte die Fotos und Passdaten zweier Tatverdächtiger: zwei Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU namens Boschirow und Petrow, die an zwei Tagen in Folge nach Salisbury gefahren und in der Nähe des Hauses von Skripal gesehen worden waren. Der russische Präsident erklärte das alles bei einem Auftritt in Wladiwostok umgehend für Unsinn und behauptete, die von London verdächtigten Männer seien in Wahrheit unschuldige Zivilisten. Im Übrigen sei es am besten für alle, so Putin, »wenn die selbst auftauchen und alles erzählen«. Daraufhin kam es zu einem mittlerweile legendär gewordenen Interview mit den beiden Tatverdächtigen, in dessen Verlauf die beiden Männer ganz und gar unglaubwürdige Angaben machten. Sie behaupteten, sie seien Händler von Sportlernahrung und als Touristen nach Salisbury gereist, um sich die gotische Kathedrale mit ihrem 123 hohen Turm anzusehen. Der Schneematsch am ersten Tag habe sie gezwungen umzukehren und am folgenden Tag noch einmal anzureisen.21 Einige Tage später fiel den Beteiligten dann diese ganze Märchengeschichte unsanft auf die Füße. Die britische Regierung schaltete für die Untersuchung des Giftstoffs die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag ein. Von dort wurde bestätigt, dass es sich um ein Nowitschok-Gift handelte, – ein weiteres Indiz, das die These von der russischen Urheberschaft des Anschlags untermauerte. Russland aber setzte unbeirrt sein Verwirrspiel fort. Außenminister Sergei Lawrow streute die Fehlinformation, die OPCW habe ein westliches Gift identifiziert. Kurz darauf wurde die wahre Identität der beiden verdächtigten Männer entschlüsselt, ermittelt vom Recherchenetzwerk Bellingcat und dem Moskauer Medium The Insider. Boschirow und Petrow waren in Wahrheit Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin. Beide waren hochrangige und hoch dekorierte Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Die Identität der beiden Männer ließ sich offenbar relativ leicht durch Recherchen im russischen Pass- und Melderegister ermitteln, und ehemalige Nachbarn in ihren Heimatorten hatte keine Mühe, die Informationen zu bestätigen. Tschepiga und Mischkin hatten 2014 die höchste Auszeichnung Russlands erhalten, die normalerweise vom Präsidenten überreicht wird – den Titel ›Held Russlands‹. Einige Zeit später wurde auch ein dritter Tatbeteiligter als Mitarbeiter des GRU identifiziert. 21

Gebt uns die Schuld: siehe Markwardt, Postmoderne.

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Später kamen weitere Schnitzer des Geheimdienstes ans Tageslicht. Im Oktober 2018 machten die Niederlande öffentlich, dass im April eine Aktion des GRU in Den Haag unterbunden worden war. Vier Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes hatten versucht, von einem Hotelparkplatz aus in das Computernetzwerk der OPCW einzudringen, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf Londons Bitte hin den Giftstoff aus Salisbury untersuchte. Wegen ihres leichtsinnigen Vorgehens waren sie eine einfache Beute: Sie waren mit Diplomatenpässen angereist und von einem Mitarbeiter der russischen Botschaft abgeholt worden. Im Gepäck fanden sich Hinweise auf frühere Computerattacken und sogar eine Taxiquittung mit der Adresse einer GRU-Einrichtung. Das alles trägt die Züge einer grotesken Stümperei der Geheimdienste, in der die Unfähigkeit und Unprofessionalität einer zentralen Säule der russischen Macht sichtbar wurden. Das wird den Präsidenten, den Geheimdienstmann, nicht erfreut haben. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, könnte auch ein Zeichen für Überheblichkeit sein, für ein ›niedriges Risikobewusstsein‹, das pikanterweise die Ausbilder im KGB dem jungen Wladimir Putin in seinen Lehrjahren im Geheimdienst attestiert hatten. (Darauf komme ich unten noch zu sprechen.) Trotz oder wegen der internationalen Blamage blieb es bei der obersten Maxime, mit der solche Fälle in Russland behandelt werden: Nichts ist wahr, alles ist möglich, nichts wird aufgeklärt. Wenn es eng wird, kann man immer noch den Kopf aus der Schlinge ziehen, indem man die Anzahl der Versionen vervielfacht, die man solange unter das Volk bringt, bis alle den Überblick verloren haben und sich niemand mehr dafür interessiert. Eine Studie des King’s College in London zählte 138 verschiedene Geschichten, die russische Staatsmedien über den angeblich wirklichen Grund des Giftanschlags auf die Skripals veröffentlicht haben.22 Wenn Aufklärung und Tatsachenwahrheiten torpediert werden, treten Gerüchte an ihre Stelle. Und wenn erst einmal ein Gerücht in der Welt ist, ist die Gefahr groß, dass es wie in einer Kettenreaktion immer weitere Gerüchte hinter sich herzieht. Auch das kann man an der Affäre Skripal sehen. Als der Tod von Igor Korobow, dem Chef des Militärgeheimdienstes gemeldet wurde, schossen sofort die Spekulationen darüber ins Kraut, woran er wohl

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Zur Lebensgeschichte des Doppelagenten Skripal siehe Urban, Akte Skripal, – das Buch endet aber, bevor die beiden Tatverdächtigen identifiziert und enttarnt wurden; zur Skripal-Affäre und zur Aktion in Den Haag siehe Spiegel 55/2018, SPON, 28.9.2018, Atai, Wahrheit, S. 330ff; vom Zeugnis ›niedriges Risikobewusstsein‹ durch den KGB berichtet Gessen, Mann, S. 81; zur Studie des King’s College siehe SPON 3.3.2019.

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gestorben ist. Denn erstens war er noch relativ jung und zweitens war der GRU für die grotesken und blamablen Fehlleistungen verantwortlich. Nach den laienhaften Aktionen in Salisbury und Den Haag kamen erste Gerüchte auf, Korobow könnte bald gefeuert werden. Mitte September 2018 soll Putin den Chef des GRU in einer Weise abgekanzelt haben, dass dieser angeblich zu Hause einen Kollaps erlitt und zusammenbrach. Über Details der Karriere des Generaloberst Korobow, der ebenfalls die höchste Auszeichnung ›Held Russlands‹ trug, ist wenig bekannt. Erst Anfang 2016 hatte Putin ihn zum Leiter des GRU ernannt, nachdem der damalige Chef unerwartet, offiziell nach Herzproblemen, gestorben war. Igor Korobow starb laut Verteidigungsministerium am 21. November 2018 nach ›langer und schwerer Krankheit‹ in Moskau. Was entspricht der Wahrheit? Was ist erfunden? Überall Rätsel, Spekulationen, Nebel, – alles bleibt im Ungefähren.23

Ach wie gut, dass niemand weiß Um die Spontaneität des Handelns, jegliche spontane Betätigung zu unterbinden, muss sich die politische Herrschaft zur totalen Herrschaft wandeln, die mit dem Einsatz von Terror jede unkontrollierte Regung im Keim zu ersticken sucht. Nach Kant ist Spontaneität der Ausweis der menschlichen Freiheit, die Unterbrechung der Kette der Kausalitäten. Freiheit ist die »Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen … von selbst anzufangen«. Für Kant gehört sie zum Wesen und zur Natur des Menschen. Nach den Erfahrungen der totalen Herrschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seit den Eingriffen der Gentechnologie ins menschliche Erbgut können wir nicht mehr ohne Weiteres annehmen, dass das wirklich so ist und dabei bleiben wird.24 Aber es ist nicht die terroristische Unterdrückung oder die Gentechnologie oder ein digitaler Überwachungsstaat (wie in China), zu denen der Kreml seine Zuflucht nimmt, um sich gegen Freiheit, Wahrheit und Opposition zu wappnen. Es ist stattdessen die Erzeugung einer permanenten Ungewissheit, die mit Hilfe einer Reihe von Mitteln herbeigeführt wird. In ihrem Zentrum

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Zum Tod des Geheimdienstchefs und den Gerüchten siehe NZZ, 22.11.2018 und Spiegel 48/2018. Kants Freiheitsdefinition: Kritik der reinen Vernunft, B 474.

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steht der Versuch, den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge in Indifferenz aufzulösen, alle unangenehmen Wahrheiten und Tatsachen zu leugnen und zur Lüge zu erklären und mit Lügen zu kontern. Für die Lügen-, Täuschungs- und Verleugnungsgeschichten nimmt der Kreml vollkommen absurde Widersprüche in Kauf. Es ist eine immer wiederkehrende Erfahrung: Nichts wird aufgeklärt, überall hat man es mit Finten, Willkür, Verschleppen zu tun, niemals kommt die Wahrheit ans Licht, die Realität versinkt im Nebel von Halbwahrheiten und Gerüchten. Immer wieder werden einzelne Personen, auch Prominente aus dem näheren Umfeld des Präsidenten, verhaftet, ohne dass wirklich klar wird, warum sie verhaftet werden, und auch die anschließenden Gerichtsverfahren klären das nicht. Andere, die aus neutraler Sicht weitaus näher am Rande der Illegalität operieren, bleiben verschont. Und hin und wieder gewährt der Präsident auch Amnestien, wie z.B. kurz vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2013. Die Frauen von Pussy Riot wurden freigelassen, dreißig Greenpeace-Aktivisten ebenfalls, am 20. Dezember dann auch Michail Chodorkowski. Hinter der Willkür steht das Muster, dass man einzelne Personen verhaftet und verurteilt und auch wieder freilässt, um alle zu verunsichern.25 Autoritäre Systeme wie das russländische zeichnen sich grundsätzlich durch eine eigentümliche Ungleichzeitigkeit aus. Ihre Ambition ist nicht, alles bis ins Kleinste zu kontrollieren. Sie zeigen sich an einigen Stellen großzügig, um an anderen nur umso härter einzugreifen. »Politologen kritisieren die manipulative Geschichtspolitik im Radio, zeitgleich werden Prozesse gegen Historiker angestrengt, die Verbrechen aus der Stalin-Zeit aufdecken. Russische Regisseure machen Filme über den Krieg in der Ostukraine, während einer ihrer Kollegen, der ukrainische Regisseur Oleg Senzow, unter fingierten Vorwürfen seit vier Jahren im Gefängnis sitzt. Kritisches Theater wird mit Staatsgeld inszeniert, und doch kursieren schwarze Listen, auf denen steht, welche Künstler bei prestigereichen Kunstforen unerwünscht sind.« Oftmals dürfen sie zwar weiterarbeiten, aber ihre Freiheit wird ausgehöhlt, und sie können jederzeit unter Angabe fadenscheiniger Gründe gestoppt werden. Es ist eine irritierende Mischung aus Repression und Toleranz. Nie kann man sagen, wen es wann, wie und warum trifft, wie weit die Verfolgung geht und welcher Spielraum für Offenheit und Liberalität gewährt wird. Der Effekt ist hier wie dort, dass alle im Ungewissen sind. Es ist eine unkalkulierbare Mischung 25

Eine erdrückende Fülle von Belegen für die absurden Widersprüche, die der Kreml in die Welt setzt, gibt Atai, Wahrheit, S. 151ff und passim.

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aus Großzügigkeit und Duldung einerseits und Verfolgung, Verhaftung und Verurteilung andererseits. Das eine ist so undurchschaubar wie das andere, – woraus folgt, dass die Undurchschaubarkeit das eigentliche Prinzip ist, das dahinter steht. Nach dem Urteil von Gessen folgen zum Beispiel die neuen Gesetze, die nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 verabschiedet wurden, genau diesem Muster: »Sie waren vage genug formuliert, um Millionen Menschen in Alarmbereitschaft zu versetzen, und zugleich brauchten sie nur selektiv angewendet zu werden.« Die Politik der Nadelstiche, die gezielte, aber nicht wirklich durchschaubare und kalkulierbare Repression hier und die Großzügigkeit dort, knüpft nahtlos an die weithin geübte Praxis der Post-Stalin-Ära an: »Um die Vielen auszuschalten, genügte es, einige wenige zu bestrafen.« Verlässlichkeit, Sicherheit, Gewissheit oder gar Freiheit können auf diese Weise überaus wirksam verhindert werden.26 Wie sich der Präsident selber an der Nebelproduktion beteiligt, sie trägt, bestimmt und praktiziert, zeigt ein Interview, das der österreichische Journalist Armin Wolf mit ihm Anfang Juni 2018 geführt hat. Wolf fragte den Präsidenten nach der Trollfabrik in St. Petersburg, die einem Freund Putins gehört und in der die Mitarbeiter gegen gute Bezahlung über Soziale Medien destruktive Kommentare versenden, die die Öffentlichkeit im Westen täuschen und in die Irre führen. Wolf fragte den Präsidenten, warum Russland nicht die Verantwortung für den Abschuss von MH 17 übernimmt, wo doch die Indizien erdrückend sind, dass die Rakete von einem russischen Konvoi stammte. Wolf fragte, warum Russland die Giftgaseinsätze von Assad in Syrien deckt und die UN-Untersuchungskommission, die den Sachverhalt ermittelt hat, an der weiteren Arbeit blockiert. Die Antworten Putins waren stereotyp immer die gleichen: Der russische Staat hat damit nichts zu tun, es ist nichts bewiesen, unsere Ermittlungen besagen etwas anderes. Aber er verschweigt den entscheidenden Punkt, der darin besteht, dass er selber alles Erdenkliche dafür getan hat, die Ermittlung der Wahrheit zu torpedieren. Wenn also das eine oder andere tatsächlich nicht bis ins Kleinste belegt ist, so liegt es in vielen Fällen genau daran, dass Russland die Untersuchungen mehr oder weniger erfolgreich unterlaufen hat. Mit anderen Worten: Es war die russische

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Das Zitat zur Ungleichzeitigkeit von Bota, Einen schlagen. Senzow war zu 20 Jahren Haft verurteilt worden, er kam im September 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Russland und der Ukraine frei. Die beiden Zitate zur Alarmbereitschaft und zur Bestrafung weniger, um die vielen auszuschalten, stammen von Gessen, Zukunft, S. 469, 461.

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Seite, die nach dem Abschuss von MH 17 die Durchführung unabhängiger Untersuchungen zu unterbinden versucht hat, gleiches gilt für die Untersuchung der Giftgaseinsätze in Syrien.27 An der Nichtaufklärung von Tatbeständen, die das Zeug zu Affären und Skandalen haben, zeigt sich so klar wie sonst nirgendwo, dass der Staat mit seinen Institutionen keinerlei Interesse an der Feststellung der Tatsachen hat, sondern für das Gegenteil sorgt, also nach Kräften an der Undurchsichtigkeit, Fiktionalisierung und Irrealisierung des Geschehens mitspielt, um all das dann anschließend auch noch zu beklagen. Es ist nach innen und nach außen ein sich stets wiederholendes Muster, die immer gleiche Strategie der Verbreitung eines undurchdringlichen und lügenhaften Nebels, in dem alles undeutlich wird und verschwimmt. Nach Mordanschlägen und nach dem Bekanntwerden von Korruption und Straftaten in großem Stil gibt es regelmäßig die Verlautbarungen des Kremls, dass man den Sachverhalt aufklären, die Täter ermitteln und vor Gericht stellen will, – aber verläuft dann alles im Sand. Die willkürlich Verhafteten, ihre Helfer und Unterstützer sowie die Angehörigen und Freunde der Opfer von Gewalttaten machen immer wieder die Erfahrung, die Kafka prototypisch im »Prozeß« dargestellt hat. Auf der Suche nach dem wahren Grund der eigenen Verhaftung findet Josef K. heraus, dass sich hinter der Verhaftung eine große Organisation befindet. »Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigstenfalls bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern. … Und der Sinn dieser großen Organisation…? Er besteht darin, dass unschuldige Personen verhaftet und gegen sie ein sinnloses und meistens wie in meinem Fall ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird.« Die Erfahrung in den bürokratischen Regierungsformen in den Zeiten Kafkas wie in den Phantasmagorien im heutigen Russland besteht darin, dass auf höchst mirakulöse Weise »die Auslegung des Gesetzes zum Instrument der Gesetzlosigkeit« wird.28

27

28

Das Interview ist bei Youtube verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v= Z2B0hmBhhmI (mit Übersetzung ins Deutsche) und https://www.youtube.com/ watch?v=t6PxQW0f6T4 (ohne Übersetzung). Siehe die Zusammenfassung und Bewertung bei Bota, Neo-Propaganda. Kafka, Prozeß, S. 69; Arendt, Sechs Essays, S. 100.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Zum Beispiel der Fall des Oppositionspolitikers Boris Nemzow, der am 27. Februar 2015 auf einer Brücke über die Moskwa ermordet wurde. Nemzow gehörte zu den schärfsten Kritikern des Präsidenten. In einem Interview mit der ARD am 10.12.2014 bezeichnete er Russland als Mafiastaat, und noch vier Tage vor seiner Ermordung nannte er Putin in einem Interview einen pathologischen Lügner. Nemzow wurde auf einer Brücke ermordet, die unmittelbar vor dem Kreml liegt und deswegen ständig überwacht wird. TV-Journalisten, die dort zu filmen versuchen, machten die Erfahrung, dass die Präsidentengarde innerhalb von Sekunden zur Stelle war. Die Leiche von Nemzow aber lag mindestens zehn Minuten lang auf der Brücke, ohne dass jemand erschien. Nach der Tat begannen Hunderte von Bots damit, das russische Internet mit den aberwitzigsten Interpretationen des Verbrechens zu überschwemmen. »Nemzow wurde von den Ukrainern umgebracht. Angeblich hat er irgendeinem Ukrainer die Freundin ausgespannt.« Oder: »An alle Verräter des Vaterlands: Euer Leben ist euren Herren nichts wert.« Die Tweets waren mit dem Hashtag #SakralesOpfer versehen, – ein Begriff, den der Chefermittler Alexander Bastrykin, der als enger Freund Putins gilt, ins Spiel gebracht hatte. Damit wurde insinuiert, dass ukrainische Faschisten ihren Freund Nemzow geopfert hätten, um einen russischen Maidan auszulösen. Das Gerichtsverfahren war alles andere als zufriedenstellend. Im Juli 2017 verurteilte ein Moskauer Gericht fünf Männer aus Tschetschenien wegen Mordes an Nemzow zu Gefängnisstrafen zwischen elf und zwanzig Jahren. Die Motive dieser Männer wurden nicht ermittelt. Die Ankläger vertraten die Version, dass sie den Mord ohne ersichtlichen Grund begangen hatten. Die Tochter von Nemzow und ihre Anwälte stellten den Antrag, tschetschenische Amtsträger als Zeugen anzuhören. Dazu kam es nicht. Letztlich wurde der Mord nie wirklich aufgeklärt.29 Zum Beispiel der Fall des ehemaligen russischen Geheimdienstoffiziers Alexander Litwinenko, der im Herbst 2006 in London mit radioaktivem Plutonium vergiftet wurde, – ähnlich wie dann mehr als 10 Jahre später der Doppelagent Skripal. Kurz zuvor, im Sommer 2006, hatten das Parlament und der Föderationsrat in Moskau ein Gesetz verabschiedet, das die Tötungen von verdächtigen Personen im Ausland durch die Spezialkräfte des FSB ausdrücklich erlaubte. Litwinenko starb an den Folgen der Vergiftung. Der Fall wurde in 29

Zu Nemzow siehe Mommsen, Putin-Syndikat, S. 179; die Tatumstände nach Gessen, Zukunft, S. 556; die Tweets nach Schmid, Technologien, S. 337; die Beurteilung des Gerichtsverfahrens und der Ermittlungen nach Gessen, Zukunft, S. 578.

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England über Jahre hinweg untersucht, zu einem Teil in Kooperation mit der russischen Polizei. Das Resultat war alles in allem enttäuschend. Durch die Klagen der Witwe Litwinenkos kam es in England zu weiteren Untersuchungen. Es wurden eindeutige Beweise dafür vorgelegt, dass die Vergiftung durch Russen verübt worden war. Der Kreml verweigerte ihre Auslieferung. Einer der mutmaßlichen Täter wurde später Abgeordneter der Duma und erhielt dadurch Immunität. Der Leiter der englischen Untersuchungen kam zu dem Ergebnis, dass der russische Geheimdienst den Mord in Auftrag gegeben hatte. Die Anordnung sei »wahrscheinlich« vom Leiter des FSB und »wahrscheinlich« von Präsident Wladimir Putin persönlich in Auftrag gegeben worden. Moskau reagierte mit Häme und setzte allerlei abenteuerliche Spekulationen in die Welt. Mommsen urteilt: »Insgesamt spiegelt sich in dem Fall Litwinenko auf besonders drastische Weise der Charakter des heutigen Russland als Geheimdienststaat wider. Der Ablauf der Affäre bis hin zur ruchlosen Beseitigung eines illoyalen und aufmüpfigen Agenten brachte typische Merkmale dieses Systemtyps an den Tag: die undurchsichtigen staatlichen Macht- und Entscheidungsmuster, verdeckte Kriminalität und Vermengung von Mafiaund Geheimdienststrukturen, dazu die politische Kultur der Lüge, die notorische Vertuschung aller Missetaten und Exkulpation der Verantwortlichen, wobei man so weit ging, die Vollstrecker krimineller Taten auch noch auszuzeichnen.«30 Zum Beispiel der Fall des Mordes an dem Georgier Selimchan Changoschwili im Berliner Kleinen Tiergarten am 23. August 2019, in dem alle Indizien auf einen gezielten Auftragsmord russischer Geheimdienste hinweisen. Die deutschen Ermittler baten Moskau vergeblich um Kooperation bei der Aufklärung des Falls. Daraufhin wies die Bundesregierung zwei russische Diplomaten aus, einen Vertreter des GRU und einen des FSB. Auf einer Pressekonferenz am 10. Dezember 2019 in Paris erklärte Putin, dass Russland mit dem Mord nichts zu tun habe, dass der Getötete aber ein »Krieger« gewesen sei, ein »blutrünstiger und brutaler Mensch«, der an Terroranschlägen in Russland beteiligt gewesen sei. Das Verhalten Moskaus und das Statement von Putin in Paris machten klar: Wir haben mit dieser Sache zwar nichts zu tun, aber solche Leute lassen wir natürlich nicht davon kommen.31

30 31

Zum Fall Litwinenko siehe Urban, Akte Skripal, S. 147ff; Walther, Neuer Adel, S. 111f; Myers, Putin, S. 394ff; das Zitat von Mommsen: Putin-Syndikat, S. 176f. Siehe Zeit 52/2019, Spiegel 50/2019.

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Zum Beispiel der Fall des Theatermachers Kirill Serebrennikow, der im August 2017 verhaftet wurde, seitdem im Hausarrest festsaß und dem mit drei weiteren Mitangeklagten seit November 2018 wegen angeblich betrügerischer Veruntreuung von Staatsgeldern der Prozess gemacht wurde. Die Vorwürfe sind an den Haaren herbeigezogen. Serebrennikow hatte in der Zeit, als Medwedew Präsident im Kreml war, für seine radikalen und provozierenden Unternehmungen, seine Inszenierungen und seine Experimentalbühne, die Tanz, Film, Musik, Schauspiel vereinte, die Unterstützung des Machtapparats. Dann aber wurden wie aus heiterem Himmel die Spielräume immer enger, und es begannen die Schikanen und Behinderungen hier, die durch gelegentliche Großzügigkeit dort konterkariert wurden. Serebrennikows Aufführung am Bolschoitheater über den schwulen legendären Balletttänzer Rudolf Nurejew, der sich aus der Sowjetunion in den Westen abgesetzt hatte, wurde zuerst kurzfristig abgesagt, konnte dann aber doch stattfinden und wurde sogar ausgezeichnet. Sein im Hausarrest fertig gestellter Film Leto (»Sommer«) über den Rockstar Wiktor Tsoi wurde bei einem vom russischen Staat mit finanzierten Festival gefeiert. Ebenfalls im Hausarrest wurde Serebrennikow mit der russischen ›Goldenen Maske‹ ausgezeichnet, dem wichtigsten staatlichen Theaterpreis in Russland. Als seine Mutter im Sterben lag, durfte er jedoch nicht zu ihr. Anfang April 2019 wurde Serebrennikow überraschend aus dem Hausarrest entlassen, musste aber bei der Polizei um Erlaubnis bitten, wenn er Moskau verlassen wollte, und sein Reisepass blieb eingezogen. Eine Woche zuvor erst war der Hausarrest um drei Monate verlängert worden. Mitte August 2019 entlastete eine vom Gericht in Auftrag gegebene weitere Expertise den Künstler vollständig vom Vorwurf, staatliche Fördergelder in Millionenhöhe veruntreut zu haben. Der Gerichtsprozess ging aber zunächst dennoch weiter. Mitte September 2019 wurde der Fall dann für weitere Ermittlungen an die Generalstaatsanwaltschaft zurückgegeben, alle Einschränkungen der Reise- und Bewegungsfreiheit wurden aufgehoben, und der Kulturberater des Präsidenten nannte diese Entscheidungen »wunderbare Neuigkeiten«.32 Und natürlich beginnt dann stets das berühmte Kaffeesatzlesen, die Kreml-Astrologie, die die Beobachter der Moskauer Regierungen immer schon praktizieren mussten, um sich mithilfe mehr oder weniger kühner Spekulationen einen Reim auf den Gang der Dinge zu machen. Einige stellten 32

Zum Fall Serebrennikow siehe Bota, Einen schlagen; Esch, Eigene Rechnung; SZOnline, 8.4.2019; SPON, 16.8.2019, 11.9.2019.

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fest, dass alle Angeklagten in diesem Prozess Juden sind, also Antisemitismus dahinter steckt. Andere behaupteten, dass der mächtige Bischof und Beichtvater Putins Schewkunow der eigentliche Anstifter war, weil Serebrennikow schwul ist und Schewkunow mit Feuer und Eifer gegen Homosexuelle im Kulturbetrieb und Nacktheit auf den Theaterbühnen vorgehen will. Wieder andere mutmaßten, dass die Verhaftung Serebrennikows ein Schlag gegen den liberalen Flügel im Kreml gewesen ist. Sind es Finten und falsche Fährten, absichtsvoll oder zufällig, taktische Manöver der Sicherheitsapparate, einsetzende Repressionen und das Ende der Toleranz oder der Beginn eines Tauwetters? Niemand weiß es, niemand kann es wissen, niemand soll es wissen. Fest steht nur: »Niemand ist sicher. Jeden kann es erwischen.«33 Zum Beispiel der Fall der Brüder Magomedow, die es nach dem Ende der Sowjetunion aus kleinen Anfängen zu riesigem Reichtum brachten, einen kometenhaften Aufstieg bis in die höchste Moskauer und Kreml-Gesellschaft vorweisen konnten, im Jahre 2017 von der Zeitschrift Forbes zu den zehn reichsten Familienclans Russlands gezählt, dann aber im März 2018 von Agenten des Geheimdienstes FSB festgenommen wurden und denen nun mit dem Vorwurf, den Staat um rd. 37 Millionen Euro betrogen zu haben, der Prozess gemacht wird. Die Brüder, so heißt es in der Anklage, sollen spätestens 2010 eine kriminelle Vereinigung gegründet und angeführt haben und u.a. beim Bau der Anlagen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 viel Geld in die eigenen Taschen abgezweigt haben. Das ist ein Sündenregister, das sich mehr oder weniger von allen Superreichen, Oligarchen und Angehörigen des Putin-Syndikats in ähnlicher Weise anlegen ließe. Warum ausgerechnet die Brüder Magomedow in Ungnade gefallen sind, weiß niemand. Dass es im Strafverfahren gegen sie mit rechten Dingen zugeht, glaubt ebenfalls niemand. Und wieder blühen die Spekulationen und Gerüchte. Einigen erscheint der Fall als Warnung an Geschäftsleute, was ihnen passieren kann, wenn sie ihr Geld, das sie mit Staatsaufträgen und Staatsbankkrediten erworben haben, nicht freiwillig im Sinne des Kremls anlegen. In einer anderen Version, die von FSB-Kreisen gestreut wurde, sind die Magomedows schlicht Verräter und müssen bestraft werden. Die Brüder hätten nämlich französischen Ermittlern belastendes Material über ihren alten Rivalen Suleiman Kerimow zukommen lassen. Diesem Milliardär, der ebenfalls aus Dagestan stammt, wurden in Frankreich Geldwäsche und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Die französischen Behörden ließen ihre Vorwürfe gegen Kerimow im Juni 33

»Niemand ist sicher«: Atai, Wahrheit, S. 11.

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fallen, offenbar nachdem Staatspräsident Macron interveniert hatte. Belegt ist davon freilich nichts. »So lässt sich das Ermittlungsverfahren nutzen, um einschüchternde, abschreckende Botschaften an verschiedene Adressaten zu senden. Diese Ungewissheit ist Putins Herrschaftsinstrument.«34 Zum Beispiel und andererseits dann aber, Anfang Juni 2019, der Fall Iwan Golunow. Da wurde ein investigativer Journalist, der über Korruption in der Moskauer Stadtverwaltung recherchiert hat, mit fadenscheinigen Begründungen festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Nach Angaben der Polizei waren in seinem Rucksack und in seiner Wohnung große Mengen an Drogen sichergestellt worden. Dafür musste er mit bis zu 20 Jahren Arbeitslager rechnen. Offenbar aber waren ihm die Rauschmittel untergeschoben worden. Es kam zu einer großen Welle der Solidarität und der öffentlichen Aufmerksamkeit für den Fall. Journalisten demonstrierten vor der Polizeizentrale, prominente Rapper, Schriftsteller und Publizisten riefen in Videoclips zur Solidarität auf. Die drei wichtigsten Wirtschaftszeitungen Russlands veröffentlichten gemeinsam auf ihren Titelseiten die Parole »Ich/Wir sind Golunow«. Tatsächlich geschah nach einer Woche, womit kaum jemand gerechnet hatte: Golunow kam am 11.6.2019 wieder frei. Der Innenminister erklärte persönlich alle Vorwürfe für gegenstandslos, und zwei hohe Polizeibeamte wurden per Dekret von ihren Aufgaben entbunden. Wer darin aber das Vorzeichen einer grundsätzlichen Veränderung gesehen hatte, wurde schon am Tag nach der Freilassung Golunows enttäuscht. Bei einer nicht genehmigten Solidaritätskundgebung für den Journalisten wurden in Moskau mehr als 400 Personen von der Polizei festgenommen, darunter der prominente Kreml-Kritiker Alexei Nawalny, der einen Tag später wiederum auf freien Fuß gesetzt wurde.35 Der Fall zeigt: Es läuft in Russland nicht alles reibungslos autoritär. Offenbar war die Verhaftung von Golunow am Kreml vorbei angeordnet worden. Das weist darauf hin, dass es auch in Russland das für Autokratien typische Syndrom von Machtkämpfen, Rivalitäten und Konflikten hinter den Kulissen gibt. Und es gibt immer wieder und immer noch einzelne Journalisten und einzelne Medien, die unabhängig sind und nicht mundtot gemacht wurden. Sie nutzen vor allem das Internet und kritisieren und kommentieren mutig

34 35

Schmidt, Geschäftsrisiko Gefängnis. Ein Beispiel für die Recherchen von Golunow ist in englischer Übersetzung zugänglich unter https://meduza.io/en/feature/2019/07/01/bad-company; die Darstellung des Verlaufs im Fall Golunow nach Bota/Smirnova, Willkür; SPON, 12.6.2019, 13.6.2019.

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und offen die Lage und die Entwicklung des Landes. Das nimmt der Kreml bislang in Kauf. Und er kann sich das leisten, weil die Praktiken der Erzeugung und Perpetuierung von Unsicherheit alles in allem und trotz einiger Reibungsverluste sehr gut funktionieren. Das liegt auch daran, dass es niemanden gibt, der nicht in irgendeiner Form gegen bestehende Bestimmungen und Gesetze verstoßen würde und gegen den deswegen bei Bedarf auch vorgegangen werden kann. Weder im Beruflich-Geschäftlichen noch im Privaten kommt man ohne das gelegentliche Ignorieren von Vorschriften zurande. Es gibt eine Fülle von Verhaltensweisen, die offiziell verboten sind, bei denen aber jeder weiß, dass man die Verbote im normalen Lebens- und Arbeitsalltag nicht einhalten kann. Der willkommene Nebeneffekt dieses Zustands besteht darin, dass es niemanden gibt, der nicht kompromittiert, angreifbar und verletzbar ist. Wen es dann wirklich trifft, wer wirklich in die Fänge des Gewalt- und Justizapparats gerät, das erscheint aus der Perspektive der Opfer als reine Willkür, – und es ist tatsächlich die reine Willkür, die freilich ihre eigene Logik und ihre eigenen Effekte hat. Jederzeit können Exempel statuiert werden an Unternehmen und Organisationen, an Medien und Einzelpersonen im In- und Ausland. Immer kann man ihnen vorwerfen, irgendwelche Vorschriften und ungeschriebene Regeln missachtet zu haben. Da weder für Einzelpersonen noch für Unternehmen und Organisationen der Alltag ohne Bestechung zu bewältigen ist, da die Korruption allgegenwärtig, aber zugleich natürlich offiziell untersagt ist, kann daraus jedem jederzeit ein Strick gedreht und er mit ebenso stichhaltigen wie zugleich leeren und erfundenen Anschuldigungen konfrontiert werden. Anklagen und Verhaftungen haben mit dem realen Handeln der Beschuldigten nichts zu tun, sondern erfolgen häufig deswegen, weil zum Beispiel die Steuerfahndung vorher festgelegte Quoten erfüllen muss oder weil sie an Kleinunternehmen ein Exempel statuiert, um jemand anderen einzuschüchtern, jemanden, der größer war. Verhaftungen der Inhaber als ein Mittel der Übernahme von Firmen sind eine häufig geübte Praxis. Für die Verhafteten ist dann der übliche und aussichtsreichste Weg, sich den Schlingen zu entziehen, wiederum die Bestechung: »Es gab ein ganzes Netzwerk, ein regelrechtes Schmiergeldgewerbe. Gute ›Anwälte‹ zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie ihre Mandanten vor Gericht verteidigen konnten – die Urteile waren vorher festgelegt –, sondern dadurch, dass sie die richtigen Beziehungen hatten und wussten, wer in Justiz und Ministerien geschmiert werden musste. Es war ein kom-

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pliziertes Spiel. Wer die falsche Person bestach, warf sein Geld zum Fenster hinaus. Es kam darauf an, die wahren Entscheidungsträger auszumachen.«36 Die Logik dieses unwürdigen Spiels sollte nicht damit verwechselt werden, dass in einem sehr allgemeinen Sinn kein Mensch frei von Schuld ist. Niemand, wo auch immer auf der Welt, ist ganz und gar unschuldig, jeder Mensch ist angreifbar und hat seine Schwächen. Schuld in diesem sehr allgemeinen Sinn ist politisch gesehen harmlos, und juristisch gesehen kann sie natürlich niemals ein Grund für Verhaftung und Anklage sein. In der russischen Situation der Gegenwart haben wir es aber nicht mit dieser Art der Schuld zu tun, für die der Begriff ganz unangemessen ist. Es geht vielmehr um organisiertes und bösartiges kompromittierendes Material, das gezielt erzeugt und perpetuiert wird, das in allerlei Machtspielen und Intrigen absichtsvoll und kalkuliert eingesetzt werden kann, um andere zu erpressen, gefügig zu machen oder auszuschalten. Das ist das legendäre Kompromat, das in der russischen Geschichte immer wieder eine große Rolle gespielt hat. Im Alltag der Gesellschaften, die von Korruption durchzogen sind, lauern Fallen, in die jeder mehr oder weniger unvermeidlich hineintappen muss. Es gehört zur perfiden Logik der Lüge und der Korruption, dass sie sich wie ein Pilzgeflecht ausbreiten und von einer bestimmten Größenordnung an alle in ihren Bann ziehen, alle bedrohen, alle zugleich zu Tätern und Opfern machen. Jeder ist angreifbar und existiert allenfalls zur Hälfte legal, jeder sitzt immer schon mit einem Bein im Gefängnis. In einem zutiefst korrupten und lügenhaften System ist es kaum möglich, durchs Leben zu kommen, ohne sich selber zu kompromittieren. Die verlogene Notwendigkeit und das unvermeidliche Lügen spielen in unheilvoller Weise zusammen. Die Gesellschaft verwandelt sich in eine Art Sündergemeinschaft, in der die kleinen und großen Leute dadurch miteinander verbunden sind, dass weder die einen noch die anderen leben können, ohne die Regeln immer wieder zu überschreiten.37 Pomerantsev schildert das am Beispiel der jungen Leute, die sich dem schikanösen und gefürchteten Militärdienst entziehen wollen und sich zu diesem Zweck gegen Bestechungsgelder für einige Wochen in die Psychiatrie einweisen lassen. »Das ist das Geniale an dem System: Selbst wenn du es schaffst, dich vor der Einberufung zu drücken, wirst du – zusammen mit deiner Mutter und allen anderen in deiner Familie – Teil des Netzwerks aus Bestechung und Angst und Verstellung. Du wirst zum Schauspieler, der in 36 37

Pomerantsev, Nichts, S. 121f. Zur Frage der Schuld und der Angreifbarkeit siehe Arendt, Sechs Essays, S. 99f.

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seinem Verhältnis zum Staat verschiedene Rollen spielt, wohl wissend, dass der Staat die große Kolonialmacht ist, die du fürchtest, die du meiden oder betrügen oder bestechen willst. Du bist bereits halb legal, ein Übeltäter. Und dem System ist das nur recht: Solange du simulierst, wirst du nie etwas Reales tun, wirst du immer nach einem Kompromiss mit dem Staat suchen, was wiederum genau das richtige Maß an Unbehagen bei dir auslöst. So oder so hat das System dich am Haken. Ja, man könnte sogar sagen, dass ein Jahr in der Armee der offenkundige Prozess ist, der junge Russen prägt, dass aber die Rituale der Vermeidung des Militärdienstes eine sehr viel stärkere Bindung an das System entstehen lassen.«38 Bei der Korruption sind alle Verlierer und alle Gewinner, jedenfalls erscheint es so, wenn man von sehr weit oben auf dieses Phänomen schaut. Aber es sind auch in dieser Nacht der Gesellschaft nicht alle Katzen grau. Die privilegierten Teile profitieren davon in einem ganz anderen Maße, und sie diktieren auch die Bedingungen, unter denen die Korruption abläuft. Wenn Eltern aus einfachen Verhältnissen über Bestechung einen Kindergartenplatz für ihre Sprösslinge ergattern, ist das von einer etwas anderen Qualität, als wenn sich die Mitglieder der Gewaltapparate aus staatlicher Administration und Politik gegenseitig die Positionen und Pfründe zuschustern. Die Trümpfe sind in diesem Spiel sehr ungleich verteilt. Deswegen hat es, obwohl es von allen durch das Mitmachen getragen wird, in den unteren Bereichen der Gesellschaft ganz andere Formen und Konsequenzen als in den oberen. Wer im Besitz von Privilegien ist, dem bietet das System vielfältige Möglichkeiten, seine Wünsche und Bedürfnisse und Interessen an den offiziellen Bestimmungen vorbei durchzusetzen. In den unteren Bereichen der Gesellschaft sind die Ressourcen dafür weitaus geringer, obwohl gerade hier die Menschen darauf viel stärker angewiesen sind. Wenn sie keine Möglichkeiten haben, zu stehlen oder Tauschhandel mit Mangelwaren zu betreiben, instrumentalisieren sie ihre Position für eine Art von Zusatzeinkommen, indem sie die kleine Macht, die sie zum Beispiel als Verkehrspolizist besitzen, gegen zusätzliches Entgelt im Sinne des Bezahlers einsetzen und dessen Wünsche erfüllen. Immer gehört es zum Leben in korrupten Gesellschaften dazu, dass die Korruption kritisiert wird, die Leute sie aber auch mitmachen. Das sind die mehr oder weniger unvermeidlichen Alltagsparadoxien des Lebens in dieser Art von Gesellschaften. Mit ihnen sind die Russen durch ihre Erfahrungen und Lebenspraktiken aus den Zeiten der Sowjetunion wohl vertraut. Nach 38

Pomerantsev, Nichts, S. 159.

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einer Phase der Verunsicherung und des Aufbruchs erlebte der von den Wissenschaftlern des Lewada-Zentrums so genannte homo sovieticus als anthropologischer Idealtyp auch in dieser Hinsicht unter Putin eine Wiederauferstehung. In repressiven Systemen leben fast alle Bewohner zwei Leben, ein offenes und ein geheimes, privates, verborgenes. Der homo sovieticus hat es wegen seiner langen Lebenszeit darin zu beachtlicher Virtuosität gebracht. Im offenen und sichtbaren Teil seines Lebens operiert er mit Lippenbekenntnissen, schluckt die Zumutungen ohne mit der Wimper zu zucken, stimmt allem zu und nimmt die Haltungen ein, die von ihm verlangt werden. Im privaten und verborgenen Leben kann dann aber alles ganz anders sein. Hier zeigt er, was er wirklich denkt, aber er zeigt es eben nicht allen und nicht öffentlich, sondern nur im engen Kreis von Freunden und Vertrauten.39 In diesem Sinn ist »Doublethink«, wie George Orwell es in » « bezeichnete, das zentrale Kennzeichen des homo sovieticus. Auf diesem Charaktertypus bauen die gegenwärtigen Herrschaftspraktiken Russlands auf. Mithilfe des »Doublethink« kann man einerseits die Privatsphäre bewahren und andererseits und zugleich den offiziell verlangten Vorgaben folgen und mitspielen. Das ist dann allerdings nicht nur aus der Perspektive der einfachen Leute eine zwiespältige Angelegenheit, sondern auch aus der Perspektive der politischen Führung. Die Praxis des »Doublethink« mag den Regierungen jenen Grad an Zustimmung sichern, der in einigermaßen gewöhnlichen Zeiten ausreicht, um die Amtsgeschäfte über die Runden zu bringen und sich am Ruder zu halten. Aber eine stabile Basis ist das natürlich nicht, weil unter der auf der Oberfläche geäußerten Zustimmung eine andere Haltung und Position vorhanden sein kann. Zum »Ach wie gut, dass niemand weiß« gehört, dass auch niemand weiß, wie es in den Köpfen der Leute wirklich aussieht. Da helfen noch so viele Meinungsumfragen nichts. Denn warum sollten Befragte den Demoskopen sagen, was sie wirklich denken, wenn sie sonst überall daran gewöhnt sind, das eine zu sagen, aber etwas ganz anderes für richtig zu halten? Das dürfte auch dem Kreml nicht unbekannt sein. Er hat jedenfalls ein intuitives Wissen darüber, dass auf das Erbe des homo sovieticus keineswegs für alle Ewigkeit ausreichend Verlass ist. Deswegen sind die regierungstreuen Akteure und Planungsstäbe immer auf der Hut, um alle oppositionellen Strömungen im Keime zu ersticken, und wenn sie es für angebracht halten,

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Zum homo sovieticus siehe Lewada, Sowjetmenschen; Gudkov, Wahres Denken; Dubin, Das Unmögliche.

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auch mit dem Einsatz von Polizeigewalt und willkürlichen Verurteilungen für Einschüchterung und die Vergrößerung der Angst zu sorgen. Aber es ist klar, dass auf diese Weise niemals eine Loyalität zustande kommt, die wirklich belastbar wäre. Sie ist vom Bazillus der Simulation und des ›so tun als ob‹ angefressen. Was man mit diesen Mitteln allenfalls erreichen kann, ist, durch entsprechende Kampagnen mobilisiert, die Zustimmung in Wahlen. Man könnte dem Muster des »Doublethink« und der Macht, die die Deformationen des homo sovieticus über die Menschen bis heute ausüben, nur dann entkommen, wenn in einer breiten gesellschaftlichen Verständigung die Aufarbeitung der Vergangenheit in Angriff genommen würde. In dem verzweifelten Versuch, die verlorene Größe wiederherzustellen, ist sie im postsowjetischen Russland auf der Strecke geblieben. Die Verständigung über die eigene Herkunft und Erbschaft wäre im Russland der Gegenwart die Voraussetzung dafür, ein realistisches Bild über sich selbst zu gewinnen. Schon zu Zeiten der Sowjetunion verbarg das Land die Tatsachen und Realitäten hinter einem Wall aus Geheimnissen, Lügen und Täuschungen. Das ist gegenwärtig kaum anders, und die meisten Bewohner des Landes haben sich damit offenbar abgefunden oder arrangiert. Man muss es nicht so verstehen, dass politischem Handeln und demokratischen Verfahren eine Art Erziehungsprogramm vorauszugehen hat, in dem die Bürger in einer Art von Purgatorium auf die Einrichtung einer Ordnung der Freiheit vorbereitet werden müssten, – als ob, wie Rousseau meinte, eine republikanische Regierungsform nur etwas wäre für ein Volk von Engeln. Sie ist, wie Kant nüchtern und trocken entgegnete, auch etwas für ein Volk von Teufeln, »wenn sie nur Verstand haben«. Politik ist eine Sache, die nicht in den Menschen spielt, sondern zwischen ihnen. Deswegen sind auch die Ergebnisse von Meinungsumfragen nur von begrenztem Wert. Die Demoskopen behandeln die Meinungen und Werte, die sie abfragen und vorfinden, wie ontologische Gegebenheiten oder unabhängige Variablen. In Wahrheit sind sie aber flexibel und veränderlich und mit ganz unterschiedlichen politischen Präferenzen vereinbar. Wäre es anders, könnte man kaum erklären, dass in anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion, etwa in Georgien, der Ukraine oder dem Baltikum, wo der homo sovieticus vermutlich nicht weniger zu Hause war als in Russland und den Gebieten der heutigen russländischen Föderation, ganz andere politische Zustände herrschen.40 40

»Volk von Teufeln, (wenn sie nur Verstand haben)«: Kant, Ewiger Frieden, S. 224; Politik als etwas, das zwischen den Menschen stattfindet: Arendt, Was ist Politik? S. 11.

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Die Geheimdienste und die Politik Das Staatsverständnis, das im heutigen Russland dominiert, hat eine lange Tradition. Seine Kernaussage besteht darin, dass der Staat und seine Institutionen dazu da sind, die Gesellschaft zu kontrollieren und nicht umgekehrt, wie es in der liberalen Auffassung der Fall ist. Der liberalen Staatstheorie zufolge ist der Staat mit seinem Gewaltmonopol, seinen administrativen Befugnissen und seinen Institutionen eine Form der Selbstregierung und Selbstregulierung der Gesellschaft. Der politische Prozess der Meinungsund Willensbildung in der Gesellschaft hat demnach die Aufgabe, die staatlichen Gewalten und Entscheidungsprozesse in seinem Sinn zu programmieren, zu steuern und zu kontrollieren. Im liberalen Staatsverständnis, das sich im Westen nach und nach durchgesetzt hat, sind die staatlichen Institutionen und Amtsinhaber zurückgebunden an die Kontrolle durch gesellschaftliche Instanzen und Verfahren. Die Gesellschaft bzw. wie es früher hieß: das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, steht unter dem Vorzeichen von Pluralität und Vielheit, nicht unter dem Vorzeichen von Homogenität, Gemeinschaft und Einheit. Das gilt ganz unabhängig davon, ob die politische Willensbildung der Gesellschaft eher nach dem Modell des Marktes und im Sinne einer Konkurrenzdemokratie gedacht wird oder, wie in der Tradition des Republikanismus, nach dem Modell eines Gesprächs, in dem die Gesellschaft sich über sich selbst verständigt und im Prozess einer beständigen Kommunikation die staatlichen Formen und Funktionen festlegt, die sowohl effiziente Entscheidungsfindung wie Selbstregierung erlauben. Im autokratischen Staatsverständnis ist es immer umgekehrt. In ihm erscheint das Volk unter dem Vorzeichen von Homogenität und Einheit, und Pluralität und Vielheit sind hochgradig mit Angst besetzt, weil sie stets als Vorstufen von Zerwürfnis, Schwächung und Bürgerkrieg gelten. Folgerichtig sind die staatlichen Institutionen nicht dafür da, die Wünsche und Interessen der Bevölkerung zu erfüllen, sondern die Gesellschaft zu kontrollieren und zu steuern, und wenn es sein muss auch in Form einer Tyrannis, also ohne Bindung an gesetzlich oder verfassungsrechtlich vorgegebene Regelungen. In Russland hat ein liberales Staatsverständnis weder im politischen Denken noch in der politischen Praxis jemals wirklich Fuß fassen können. Im Grunde ist es immer dabei geblieben, in der Gesellschaft eine »staatliche Veranstaltung« zu sehen. Wenn überhaupt einmal die Vertragsidee des Staates aufgegriffen wurde, dann in der Form eines Begünstigungsvertrags, bei dem der Akt der Vertragsschließung ein einmaliges Ereignis ist, das nicht auf Dau-

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er gestellt werden kann, – weswegen der Vertrag ein für alle Mal abgeschlossen und unkündbar ist. Stets soll die Aufgabe des Staates vor allem darin bestehen, die Gesellschaft zu unterwerfen und zu kontrollieren. Dafür ist die Drohung mit dem Einsatz von Gewalt das zentrale Mittel, und von ihm haben sowohl der zaristische wie der sowjetische Staatsapparat immer ausgiebig Gebrauch gemacht. In diesem System spielen Polizei, Geheimdienste, Militär und die Rechtsschutzbehörden eine besondere und herausragende Rolle. Wenn die staatlichen Amtsinhaber in der Gesellschaft vorwiegend den Feind sehen, den man ausschalten und unter Kontrolle halten muss, sind vor allem die Geheimdienste im System der physischen Unterdrückung und Verfolgung ein unverzichtbares Instrument. Wer die Gesellschaft generell unter dem Vorzeichen von Illoyalität, Gefahr und Bedrohung wahrnimmt und sie deswegen neutralisieren will, wer in ihr ein Objekt sieht, dem man grundsätzlich nicht trauen kann, für den liegt es nahe, die Geheimdienste für den innersten Kern des Staates und der politischen Führung zu halten. In der Metaphorik der Lehre von der Staatsräson sind die Geheimdienste der Fuchs, der mit den Mitteln der List, der Schlauheit, der Information und des Wissens regiert. Während sein Pendant, der Löwe, für die rohe, physische Gewalt steht, erscheint der Fuchs in der Gestalt von zahllosen Augen und Ohren, die alles sehen, hören und wissen wollen. Die tausend Augen und Ohren des Staates werden zum Inbegriff des Ausspähungs- und Überwachungsapparats, der stets im Verborgenen operiert. Kein Fürst, so meinen die Vertreter der Staatsräsonlehre, kann darauf verzichten zu wissen, was im Volk vor sich geht, zumal die Menge stets unruhig, voreilig und unbedacht ist.41 Nachrichtendienste befassen sich vor allem mit der »Beschaffung von Informationen über den Gegner (oft auch über Konkurrenten und Freunde)« und mit verdeckter Beeinflussung. Ihre Aufgabe ist es, Erkenntnisse zu sammeln und auszuwerten. Mit ›verdeckten Aktionen‹ oder ›operativen Maßnahmen‹, wie das im Geheimdienstjargon heißt, wird aber die Grenze zwischen der Erhebung von Informationen und aktivem Eingreifen in das Geschehen ständig überschritten. Die Geheimdienste beschränken sich nicht auf das Abhören und Beobachten, sondern operieren mit Falschinformationen, Begünstigung, Bestechung und Erpressung von Einzelnen oder Gruppen und erzeu-

41

»Gesellschaft als staatliche Veranstaltung«: Geyer, Das russische Imperium, S. 28; zur Geschichte des politischen Denkens in Russland siehe Utechin, Politische Ideen; zur Metaphorik von Löwe und Fuchs siehe Machiavelli, Principe, 18. Kapitel, siehe dazu Münkler, Im Namen, S. 198.

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gen damit nicht selten erst die Gefahrenlagen, die sie auskundschaften sollen und für deren Bekämpfung und Abwehr sie zuständig sind. Ihre Faustregel, die Alexander Schuwalow, der Kopf der Geheimpolizei unter der Zarin Elisabeth im 18. Jh. aufgestellt hat, ist bis heute gültig: »Bei dem Beschuldigten für ständige Verwirrung sorgen.« Dazu nutzt man die Schwächen des Gegners aus, täuscht und überrascht ihn, schafft vollendete Tatsachen, provoziert ihn zu Handlungen, die das Bild, das man von ihm hat, bestätigen und damit den Einsatz von polizeilicher Gewalt gegen ihn rechtfertigen.42 Dass sich die Geheimdienste verselbständigen und eine Art »Staat im Staat« werden, ist stets eine große Gefahr, und ihre Kontrolle ist deswegen für Rechtsstaaten eine enorme Herausforderung. In Diktaturen und Tyranneien kann man regelmäßig beobachten, dass die Denk- und Arbeitsweisen der Geheimdienste den gesamten Bereich des politischen und staatlichen Handelns gleichsam kapern und kontrollieren. Sie bestimmen das politische Geschehen nicht nur dadurch, dass ihre Organe und Einrichtungen aufgewertet werden und eine institutionelle Sonderstellung bekommen, sondern auch dadurch, dass die Autokraten regelmäßig in einer Vorstellungswelt leben, in der Lüge, Betrug, Täuschung und Gewalt zu den vorherrschenden Zügen zählen. Auch die Übergänge zu den Praktiken des organisierten Verbrechens geraten dann leicht in Fluss. Zum einen lassen sich lästige politische Gegner und Konkurrenten mit kriminellen Mitteln ausschalten. Zum andern gehört es zum Arsenal geheimdienstlicher Mittel, selber Terroranschläge und Attentate zu organisieren bzw. zu veranlassen, auf die der Herrscher dann mit harter Hand reagieren kann. In Diktaturen und Tyranneien unterliegen die Mittel, mit denen Agenten und Spione operieren, keiner prinzipiellen Begrenzung. Zum Arsenal ihrer Verfahren gehören mehr oder weniger raffinierte Zermürbungs- und Zersetzungstaktiken aller Art, das Anzetteln von Intrigen, das Streuen von Gerüchten, die Anwendung von Gewalt bis hin zum Mord. Politische Gegner, kritische Journalisten und Verdächtige werden eingeschüchtert, überfallen, bedroht, drangsaliert, ihre Wohnungen und Büroräume werden observiert, ihre Autos für Unfälle präpariert, man hängt ihnen irgendwelche Vergehen an, streut desavouierende Gerüchte, inszeniert Vorfälle aller Art, man sorgt dafür, dass sie zu keiner Zeit allein sind, dass sie rund um die Uhr beobachtet werden und sich niemals sicher fühlen können. In einer »Richtlinie« des 42

Zu den Aufgaben der Geheimdienste siehe Krieger, Geheimdienste, S. 14; das Schuwalow-Zitat nach Pomerantsev, Nichts, S. 124.

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Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zur »Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge« vom Januar 1976 werden »Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung« folgendermaßen beschrieben: »systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; … Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, … Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder.«43 Die Geschichte der Bolschewiki, der russischen Revolution und der Sowjetunion ist zutiefst imprägniert von Geheimdiensten und Geheimpolizei und getrennt von ihnen gar nicht zu verstehen. Mehr als jede andere Oppositionsgruppe im zaristischen Russland waren die Bolschewiki mit Spitzeln des Geheimdienstes Ochrana durchsetzt, zu dessen bevorzugten Methoden es gehörte, Attentate zu inszenieren, mit denen die Notwendigkeit der eigenen Existenz demonstriert werden sollte, die dann aber in Wahrheit auch zu Wasser auf den Mühlen der Revolutionäre wurden. Die Oktoberrevolution selbst wurde nach Kräften durch den deutschen Geheimdienst gefördert, nicht nur durch die legendäre Zugreise Lenins aus dem Exil in der Schweiz nach Petrograd, sondern auch durch erhebliche finanzielle Zuwendungen an die Parteikasse. So ist die Russische Revolution von 1917 auf nicht unwesentliche Weise das eigentümliche Produkt eines unbeabsichtigten Zusammenspiels zwischen den zaristischen und den deutschen Geheimdiensten. So waren die Bolschewiki zugleich Objekte wie Profiteure geheimdienstlicher Aktivitäten, bevor sie dann selber daran gingen, die Sowjetunion in ein Land zu verwandeln, in dem die Tscheka und ihre Nachfolgeorganisationen als zentrales Herrschaftsmittel fungierten. In der Blütezeit des stalinistischen Terrors wurden die Geheimdienste dann eher unwichtiger. Totalitäre Staaten, die nur noch mit terroristischen Mitteln operieren, können auf agents provocateurs getrost verzichten, weil in ihnen der jeweilige Führer selber darüber entscheidet, wer der nächste Gegner ist, der liquidiert werden muss. Die normalen 43

Die Richtlinie ist abgedruckt im MfS-Handbuch, Teil V/5, S. 245ff, die Auflistung mit den Formen der Zersetzung dort S. 287.

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Aufgaben des sowjetischen Geheimdienstes fasste Wadim Bakatin, der im August 1991, unmittelbar nach dem Putschversuch, unter Gorbatschow bzw. Jelzin den KGB übernahm und die Aufgabe hatte, die Organisation aufzulösen, so zusammen: Das »KGB in der Form, wie es existierte, konnte man nicht als Geheimdienst bezeichnen. Es war eine Behörde der totalen Überwachung und Unterdrückung. Sie war wie geschaffen für die Inszenierung von Verschwörungen und Staatsstreichen und verfügte über alles, was dazu erforderlich ist – Spezialeinheiten, Kontrolle der menschlichen Kontakte und Hirne, Mitarbeiter in allen Schlüsselinstitutionen, Informationsmonopol usw.«44 Die Geheimdienste wurden seit der Oktoberrevolution zwar vielfach umgestaltet und umbenannt, aus der Tscheka wurde GPU, NKWD, KGB und schließlich FSB. Aber die vielfachen Namensänderungen haben an der Struktur und vor allem an der herausragenden Bedeutung der Geheimdienste und der Geheimpolizei nichts geändert. Sie blieben nicht nur bis zum Ende der Sowjetunion im Kern erhalten, sondern bestehen bis heute fort und sind nie wirklich reformiert worden. Damit ist die Tscheka »die einzige zu Sowjetzeiten eingerichtete wichtige Institution, die den Kollaps von 1991 ohne Bedeutungsverlust überstand«. Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion, so meinte ein ehemaliger FSB-Chef in einem Interview im Jahre 2007, war es der Geheimdienst, der Russland vor dem Absturz bewahrte. Unter Putin sind die Dienste erneut in vielfacher Hinsicht in die Rolle der zentralen Stütze der politischen Führung des Landes aufgestiegen. Das Gemisch von Irreführung, Lüge, Täuschung, operativen Maßnahmen, Coups und verdeckter Gewalt ist bis heute prägend für den Regierungsstil des Kremls.45 Aller Wahrscheinlichkeit nach stand schon der Anfang der Präsidentschaft Putins unter diesem Vorzeichen. Seit Ende August 1999 kam es innerhalb von

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Zu Bolschewiki und Geheimdienste siehe Krieger, Geheimdienste, S. 183ff; zur Rolle der Geheimpolizei unter den Bedingungen totaler Herrschaft siehe Arendt, Elemente, S. 647ff; das Zitat: Bakatin, Im Innern, S. 61. (Der Übersetzer des Buches von Bakatin, Alfred Frank, wählt für KGB das Neutrum.) Tscheka als Institution lebt bis heute unverändert fort: Plaggenborg, Bolschewismus, S. 66; der Geheimdienst bewahrte Russland vor dem Absturz: Sygar, Endspiel, S. 210ff; zur Kontinuität der Geheimdienste siehe ferner Gudkov, Wahres Denken, S. 167ff; Walther, Neuer Adel; zur Tätigkeit des KGB im Ausland siehe Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch; zur Tätigkeit der russländischen KGB-Nachfolgeorganisationen seit 1991 siehe Lucas, Deception.

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zwei Wochen zu einer Serie verheerender Sprengstoffanschläge auf Wohnblöcke in Bujnaksk, Moskau und Wolgodonsk. Dabei starben 293 Menschen, über tausend wurden verletzt. Für die Anschläge wurden Tschetschenen verantwortlich gemacht. Die Anschläge boten Putin, der erst am 9. August 1999 zum Premierminister ernannt worden war, die Gelegenheit, sich als den neuen starken und entschlossenen Mann zu inszenieren, als der er erscheinen wollte und als den ihn die Spin-Doktoren des Kremls in Szene setzten. Am 24. September 1999 erließ er den Befehl, der Truppen zu Kampfhandlungen in Tschetschenien ermächtigte, – obwohl die Verfassung einem Ministerpräsidenten, der Putin zu diesem Zeitpunkt war, gar keine Befehlsgewalt über das Militär einräumt. Am selben Tag absolvierte Putin seinen ersten Fernsehauftritt als Premierminister, bei dem er über die Terroristen sagte: »Wir werden sie verfolgen, wo immer sie sich aufhalten. Und wenn wir sie, verzeihen Sie, auf dem stillen Örtchen antreffen, dann werden wir sie auf dem Abort auslöschen.« Putins Popularitätskurve schoss daraufhin sofort in die Höhe. Er, dessen Namen bis dahin im Land kaum jemand gehört hatte, wurde auf einen Schlag bekannt und populär. Das war die Sprache eines Führers und starken Mannes, der hier signalisierte, dass er mit eiserner Faust regieren wollte. Vulgäre Aussagen dieser Art, die er oft mit Anspielungen unterhalb der Gürtellinie spickte, wurden bald »zu Putins sprachlichem Markenzeichen«. Die angespannte Atmosphäre, die die Anschlagsserie in Russland hervorgerufen hatte, und der daraufhin begonnene zweite Tschetschenienkrieg hatten maßgeblichen Anteil daran, dass Putin nun im Land als derjenige gefeiert wurde, der entschlossen und energisch für Sicherheit sorgt und die Feinde mit aller Kraft verfolgt.46 Aufmerksame Beobachter und kritische Kenner Russlands stimmen in der Vermutung überein, dass die Sprengstoffanschläge auf die Wohnblöcke in Wahrheit nicht von tschetschenischen Terroristen verübt wurden, sondern mit Duldung des FSB oder gar auf seine Anweisung hin stattfanden. Dafür gibt es eine Reihe plausibler Gründe. Am 22. September fand die Polizei in Rjasan, einer etwa 100 Kilometer von Moskau entfernten Stadt, unter der Treppe einer Mietskaserne versteckt drei Säcke mit Sprengstoff. Es gelang, den Zeitzünder zu entschärfen und den Inhalt der Säcke zu analysieren. Die Experten stellten fest, dass es sich um Hexogen handelte, einen 46

Das Zitat nach Myers, Putin, S. 210; zur Schwierigkeit, diese Äußerung Putins mit ihren Anspielungen auf den Gossen- und Gangsterjargon angemessen zu übersetzen, siehe ebda., S. 658 (Anmerkung 451); das sprachliche Markenzeichen: Gessen, Mann, S. 37.

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starken Sprengstoff, der seit dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch war. Zwei Tage später ereignete sich dann jedoch etwas völlig Unerwartetes und Unerklärliches. Der Direktor des FSB erklärte, dass es sich gar nicht um einen Anschlagsversuch gehandelt habe, sondern um eine Übung, und dass die Säcke nicht Sprengstoff enthielten, sondern Zucker. Und zugleich wurde erklärt, dass die Personen, die die Säcke im Treppenhaus platziert hatten, in Wahrheit FSB-Mitarbeiter aus Moskau waren. Die gesamte Übung sei nur ein Testlauf gewesen, um die Wachsamkeit der Bevölkerung in Rjasan und die Einsatzbereitschaft der dortigen Behörden auf die Probe zu stellen. Alles in allem eine unglaubhafte Geschichte voller dubioser Ungereimtheiten. Hinzu kam, dass der Sprecher der Duma schon öffentlich von einer der Explosionen gesprochen hatte, bevor sie überhaupt passiert war. Den Verdacht, dass hinter den tödlichen Bombenattentaten tatsächlich der FSB selber steckte, wies Putin dann weit von sich, wirklich ausgeräumt wurde er nicht.47 Panik, Angst und Schrecken zu erzeugen, um sodann als derjenige in Erscheinung zu treten, der als einziger in der Lage ist, gegen sie vorzugehen, wenn man ihn nur lässt und ihm möglichst unbegrenzte Mittel einzusetzen erlaubt, – das ist zweifellos ein beachtliches Kunststück aus der subversiven Wunderküche der Geheimdienste. Es ist ein in der Geschichte immer wieder zu beobachtendes Phänomen, dass Autokraten enorm an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen, wenn sie in extrem bedrohlichen Situationen als entschlossene Hüter der Ordnung in Erscheinung treten können. Diese Logik ist bis heute im Kern erhalten geblieben: Je krisengeschüttelter und verunsicherter ein Land, je verwirrter und ohnmächtiger, je ängstlicher und vereinzelter die Leute sind, desto notwendiger erscheint der starke Staat mit seiner Machtvertikale, desto mehr müssen die Fäden in der Hand eines strengen Mannes, Helden und Heilsbringers zusammenlaufen. Im Modus des Ausnahmezustandes zu regieren und damit ermächtigt zu allen Maßnahmen zu sein, ist Putin auf den Leib geschnitten.48 47 48

Siehe die Schilderung der Vorgänge bei Gessen, Mann, S. 34f, 49ff; Pomerantsev, Nichts, S. 76f; Putins Zurückweisung des Verdachts: Geworkjan et al., Gespräche, S. 174. Zur Frage, wie Sicherheitskrisen von Autokraten ausgenutzt bzw. selbst herbeigeführt werden, siehe Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 110ff, dort auch weitere Beispiele. – Die im Text getroffene Aussage gilt allerdings nicht, wenn es sich beim Gegner um ein hoch ansteckendes Virus handelt, das mit Gewaltandrohungen nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Die Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie sind hoch interessant, können aber hier nicht erörtert werden. Siehe für Putin und Russland: Lipman, Coronavirus.

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Generell hat die Bedeutung der Geheimdienste unter dem neuen starken Mann des Kremls nicht ab-, sondern zugenommen. Nach dem Urteil von Mommsen wurde die russische Machtzentrale im Übergang von Jelzin zu Putin regelrecht zur »Geisel der Geheimdienste«, und es kam zur »Entstehung eines Staats der Geheimdienstler«. Das hat vor allem damit zu tun, dass Putin lange im Geheimdienst tätig war und dessen Logik verinnerlicht hat. Eine effiziente Regierung, eine »effektive Staatsmacht«, die er in den biographischen Interviews als sein politisches Ziel bezeichnet, kann er sich offenbar ohne permanente Einbeziehung der Geheimdienste gar nicht vorstellen. Es ist deswegen nur folgerichtig, dass er die Schlüsselpositionen in seiner unmittelbaren Umgebung mit Vertrauten, Gefolgsleuten und Personen aus den Diensten und Gewaltapparaten besetzt hat. Die Silowiki (von sila für Kraft, Gewalt) sitzen heute gemeinsam mit den Oligarchen, die ihre frühere Unabhängigkeit verloren haben, an den Schalthebeln der Macht. Nach Laqueur ist das ein vollkommen beispielloser Vorgang. »In der Geschichte hatten in verschiedenen Regimen Reiche und Superreiche politische Machtpositionen erklommen, und in Militärdiktaturen waren Oberste und Generale an die Spitze gelangt. Aber die politische Polizei hatte noch nie das Kommando gehabt, nicht im Faschismus und in anderen politischen Regimen ohnehin nicht. Etwas Ähnliches war auch in keinem anderen kommunistischen Land in Europa und Asien geschehen.« Auch im formellen Institutionengefüge hat der FSB seine Stellung ausgebaut. Die Staatspartei, die früher den KGB kontrollierte, ist weggefallen, ohne dass neue, etwa parlamentarische, Kontrollinstanzen an ihre Stelle getreten wären. Bereits seit 2000 hat der FSB uneingeschränkten Zugang zu jeglichem Telefon- und Internetverkehr, ohne dass es dafür einer richterlichen Anordnung bedarf. Im Juli 2010 wurden die Befugnisse des FSB noch einmal ausgebaut. Seitdem ist es dem Geheimdienst offiziell erlaubt, »Warnungen« gegenüber Einzelpersonen auszusprechen und »prophylaktische Maßnahmen« gegen sie zu ergreifen, auch wenn kein Straftatbestand vorliegt. Damit kann schon die bloße Anwesenheit politischer Gegner bei öffentlichen Aktionen leicht verhindert werden.49

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Die Besetzung wichtiger Positionen mit Leuten aus dem KGB ist oft beschrieben worden: siehe Urban, Akte Skripal, S. 117, Aust, Schatten, S. 66f.; die »effektive Staatsmacht« als Ziel: siehe Geworkjan et al., Gespräche, S. 207; die Zitate von Mommsen, Putin-Syndikat, S. 15, 12; das Zitat zum beispiellosen Vorgang: Laqueur, Putinismus, S. 52; die Stellung und die Befugnisse des FSB nach Gabowitsch, Putin kaputt, S. 309ff.

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Damit sind die Wege für eine weitgehend ungehinderte Anwendung der typischen geheimdienstlichen Methoden geebnet, wie sie aus den Zeiten des KGB bekannt sind. Das Staats- und Institutionenverständnis folgt dem Vorbild des Militärs, bei dem Hierarchie, monolithische Strukturen, Besitz und Anwendung der Gewaltmittel, Gleichschritt, Unterordnung und Gehorsam die charakteristischen Elemente sind. Das Politikverständnis von Putin und den zentralen Kräften im Kreml orientiert sich dagegen eher an der Handlungslogik der Geheimdienste. Das bedeutet, dass nicht immer alle Mittel ausgereizt und sofort offen mit Repression gedroht und Gewalt eingesetzt wird, wie das für die Zeit der Sowjetunion nach innen wie nach außen typisch war. Die Verwandlung der wichtigsten Fernsehanstalten in Sprachrohre des Kremls beispielsweise wurde unter Putin mit verschiedenen Taktiken, zum Teil mit demonstrativem Einsatz von Gewalt, zum Teil subtiler und ohne großes Aufsehen erledigt. Die beiden wichtigsten Medienoligarchen wurden gezwungen, Russland zu verlassen und ihre Anteile an den Medienfirmen abzugeben. Soweit es geht, beruht das Fernseh-Management des Kremls »auf Kooptation, nicht auf Zwang«. Aber zugleich können gegen allzu dreiste Medien jederzeit auch härtere Methoden zur Anwendung kommen. Sie wurden bislang selten eingesetzt und dienten »eher als Mahnung für die nicht regierungstreuen Medien, dass der Kreml nach Gutdünken mit ihnen verfahren konnte. Dieser machte ihnen damit klar: Geht ihr zu weit, wird es nichts geben, was euch schützt.«50 Alles in allem huldigt der Kreml einem Politikverständnis in GeheimdienstManier und hat unter der Regie von Putin einen Staat errichtet, in dem die gesamte Klaviatur aus Zersetzung, Lüge, Bestechung, Verfolgung, Gewaltanwendung und Mord zum Einsatz kommen kann, einen Staat, der flächendeckend für Verunsicherung sorgt, der seine Gegner und Kritiker diffamiert, drangsaliert, verfolgt, ins Gefängnis steckt und ins Exil treibt. Im Stil tschekistischer Sondereinsätze können politische Gegner, Homosexuelle oder Personen, die aus welchen Gründen auch immer in Ungnade gefallen sind, jederzeit ausgegrenzt und verfolgt werden. Das gesamte Arsenal der Mittel steht zur Verfügung: Den Gegner in die Irre führen, ihn verwirren, im falschen Glauben wiegen, ihn mit Lügen, Desinformation, Intrigen, Einschüchterung korrumpieren oder erpressen, auf nützliche Idioten setzen 50

Zur Methode bei der Übernahme der wichtigsten Medien siehe Lipman, Kontrolle, die Zitate S. 218, 220; generell zur Rolle der Geheimdienste siehe Gudkov/Zaslavsky, Russland, S. 175ff; zur Rolle des Militärs siehe Gol’c, Oberkommandierender, S. 209.

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wie auf Überzeugungstäter oder bezahlte Agenten, auf Einschüchterung, Verunsicherung wie auf Mord. Die wichtigste Währung der Geheimdienste besteht in Information und Desinformation, die in ihren Händen zur Waffe werden. Wenn andere Mittel versagen, ist die Anwendung von Gewalt die ultima ratio, die jederzeit als Drohung im Hintergrund steht und zum Einsatz kommen kann. In jedem Fall kennen die Geheimdienste die Gesellschaft nur als ein Objekt, das eine permanente Gefahrenquelle für die effektive Staatsmacht ist und das sie flächendeckend überwachen müssen. Sie selber aber sind davor geschützt, dass die Justiz oder ein Rechtsstaat ihnen Grenzen zieht. Kein Wunder, dass die Geheimdienste vor Selbstbewusstsein nur so strotzen, von jedem Anflug von Selbstkritik angesichts ihrer unseligen Geschichte meilenwert entfernt sind und sich zum neuen Adel Russlands verklären. Mit Putins Berufung zum Regierungschef im Sommer 1999 wurde dessen Weggefährte Nikolai Patruschew neuer Chef des FSB. Er charakterisierte in einem Interview im Jahre 2000 die Bedeutung seiner Organisation mit folgenden Worten: »Ich möchte keine extravagante Rede halten, aber unsere besten Mitarbeiter, die die Ehre und der Stolz des FSB sind, verrichten ihre Arbeit nicht des Geldes wegen. … Da gibt es die hochintellektuellen Analysten, die breitschultrigen, sturmerprobten Männer der Spezialeinheiten, die schweigsamen Sprengstoffexperten, die sorgfältigen Ermittler und die Mitarbeiter der operativen Spionageabwehr. … Sie sind alle verschieden, aber sie haben ein ganz bestimmtes Merkmal, das sie alle vereint, und dieses ist eine sehr wichtige Eigenschaft: Es ist ihre Dienstauffassung. Sie sind, wenn Sie so wollen, unser neuer ›Adel‹.«51

Täuschung, Lüge, Gewalt: Hybride Kriege Nicht nur nach innen, sondern auch im Feld der internationalen Politik kommen die Geheimdienste in der Politik der russischen Staatsführung systematisch zum Zuge. Im Dezember 2014 setzte Putin eine neue Militärdoktrin in Kraft, in der offiziell die Geheimdienste in ein Organ der Kriegführung erhoben wurden. Seitdem ist klar, dass der Kreml die Wiederherstellung von Russlands weltpolitischer Größe auf die Kombination von geheimdienstlichen und

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Zitiert nach Walther, Neuer Adel, S. 22.

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militärischen Mitteln stützt. Bereits im Jahre 2011 hatte das russische Verteidigungsministerium ein Strategiepapier »Aktivitäten der russischen Verteidigung im Informationsraum« veröffentlicht. Darin werden neue Techniken und Methoden der Kriegführung gefordert und entworfen, mit denen Russland gegen die informationellen, propagandistischen und psychologischen Operationen des Feindes vorgehen kann. Im Glossar des Papiers wird der Begriff »Informationskrieg« so definiert: »Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten zum Zweck der Schädigung von Informationssystemen, Prozessen und Ressourcen, von wichtigen Strukturen; Unterminierung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems; massenhafte psychologische Bearbeitung der Bevölkerung, mit dem Ziel der Destabilisierung von Gesellschaft und Staat sowie mit dem Ziel, Entscheidungen im Sinne des Gegners herbeizuführen.«52 Genauer vorgedacht und vorformuliert wurde die Militärdoktrin sodann in Überlegungen, die der Generalstabschef der Armee Waleri Gerassimow im Februar 2013 vorstellte. Gerassimow machte allgemeine konzeptionelle Ausführungen zur Kriegführung im 21. Jahrhundert, aber im Lichte der späteren Ereignisse lesen sie sich wie eine Regieanweisung für das russische Vorgehen gegen die Ukraine, das die erste ernsthafte Probe auf die Chancen und Möglichkeiten der neuen Doppelstrategie wurde. Im Kern geht es um nicht-lineare Formen der Kriegführung, die im westlichen Sprachgebrauch meistens unter dem Titel hybride Kriege zusammengefasst werden. Für Gerassimow sind sie das charakteristische Merkmal der gegenwärtigen und zukünftigen Konfliktaustragung zwischen den Staaten, die aus einer Kombination von Propaganda, Desinformation, Cyberattacken, Geheimdienstanschlägen und militärischer Konfrontation bestehen werden. Die nicht-militärischen Mittel werden im Krieg der Zukunft genauso wichtig sein wie die herkömmlichen Gewaltmittel. Diese Vorstellungen dürften für Putin schon deswegen attraktiv gewesen sein, weil es sich bei den neuen Mitteln um die typischen Methoden der Geheimdienste bzw. der Geheimpolizei handelt. bewegt sich Gerassimow mit seinen Vorschlägen und Überlegungen im Terrain geheimdienstlicher Methoden, indem er von »Maßnahmen des Informationskampfes« und von »Spezialoperationen« spricht. Das sind die wohlbekannten

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Das Strategiepapier ist in einer englischen Übersetzung online zugänglich unter https://ccdcoe.org/strategies/Russian_Federation_unofficial_translation.pdf, die Übersetzung nach Schaeffer, Fake, S. 192f.

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verdeckten Aktionen der Geheimdienste. Der »typische Krieg des 21. Jahrhunderts« besteht nach Gerassimow darin, dass in ihm die Tätigkeit von Geheimdiensten und die traditionellen Kampfformen der Armeen auf phantasievolle und effektive Weise miteinander kombiniert werden. Wenn man zum Objekt solcher Kriege wird, sind damit ganz neue Gefahren verbunden, wenn man sie selber effektiv und klug einzusetzen versteht, eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten und Chancen. Bei Gerassimow heißt es: »Ein völlig wohlbehaltener Staat kann binnen weniger Monate oder sogar Tage zum Schauplatz erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen werden, zum Opfer einer militärischen Intervention, kann in den Strudel des Chaos, einer humanitären Katastrophe oder eines Bürgerkriegs geraten.«53 Die Militärdoktrin mit ihrer Betonung von »information warfare« ist nicht nur eine Reaktion auf die Schwäche Russlands nach dem Ende des Kalten Krieges, sie knüpft nicht nur an spezifisch sowjetische Erfahrungen an, sondern erlaubt es zudem, die Wahrnehmungen der Bedrohungen des eigenen Landes auf plausible Weise mit der Suche nach neuen Möglichkeiten eigener Kriegführung unter einen Hut zu bringen. Sie liefert in den Augen der politischen Führung einerseits eine gute Erklärung für die revolutionären Umtriebe in den postsowjetischen Gebieten, z.B. in Georgien und der Ukraine, indem sie sie zu Schlachten eines ideologisch motivierten Feldzugs macht, den der Westen, allen voran die USA, gegen Moskau führe. Und andererseits eröffnet sie dem Kreml neue Wege eigener verdeckter Kriegführung mit nichtmilitärischen Mitteln. Nach Gerassimow liegt der Schwerpunkt in diesem Bereich »beim breit gestreuten Einsatz von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nicht-militärischen Maßnahmen, die unter Zuhilfenahme des Protest-Potentials der Bevölkerung zu realisieren sind«. Mit asymmetrischen Aktionen dieser Art sei es sogar möglich, die militärische Überlegenheit eines Gegners auszugleichen. Es komme darauf an, den »Einsatz inländischer Opposition für die Schaffung einer Front, die immer in Aktion ist«, und die »Einwirkung durch Informationen, deren Formen und Methoden ständig perfektioniert werden«, zu organisieren. Wenn der Gegner mithilfe dieser Methoden geschwächt wird und die inneren Konflikte, Zerreißungen und Spal-

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Eine deutsche Übersetzung der Militärdoktrin ist zugänglich unter www.darmstaedter-signal.de/wp-content/uploads/2015/04/Milit %C3 %A4rdoktrin-RF-2014offz.pdf; eine englische Übersetzung unter http://rusemb.org.uk/press/2029; zur Analyse siehe Klein, Militärdoktrin; die Gerassimow-Zitate nach Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 23, 110f.

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tungen auf die Spitze getrieben werden, kann man seinerseits unter dem Vorwand der »Krisenbewältigung« und »friedensschaffender Maßnahmen« zum Einsatz von Gewalt übergehen und einen vollständigen Sieg erringen.54 Die Kriege der Zukunft werden also zu nicht geringen Teilen auf dem Schlachtfeld der Information und mit den Mitteln der Irreführung, Täuschung und Lüge geführt. Der Informationskrieg wird zu einem eigenen Operationsfeld. Daraus folgt, dass IT-Technologien für das Militär in absehbarer Zeit genauso wichtig sein werden wie Panzer, Raketen oder Flugzeugträger. Es sind die Methoden der geheimdienstlichen und geheimpolizeilichen Zersetzung, die bislang eher im Innern eingesetzt wurden, nun aber auch im Vorgehen gegen andere Staaten zum Einsatz kommen sollen. Die Waffen dieses Informations- und Cyberkriegs müssen nicht eigens hergestellt werden, sondern stehen in Gestalt der neuen Informationstechnologien des Internets und der Sozialen Medien schon bereit. Sie müssen nur noch geschickt und effektiv bespielt und eingesetzt werden. Zuständig für dieses Operationsfeld sind in Russland insbesondere pseudoprivate Organisationen wie die Internet Research Agency (IRA) in St. Petersburg und der Militärgeheimdienst GRU. Sie nutzen die Sozialen Medien Facebook, Instagram, Twitter und Google für vielfältige Zermürbungs- und Verwirrungsangriffe und dringen mit Hackerattacken systematisch in ausländische Netzwerke ein. Offenbar hat es Russland tatsächlich geschafft, auf diesem Gebiet eine gewisse Vorreiterrolle einzunehmen. Nach Expertenmeinung liegt im Ranking der erfolgreichsten Hackergruppen Russland ganz vorn. Die Russen »haben ein großartiges Bildungssystem für Hacker, sie haben außergewöhnliche IT-Forschung und sind exzellente Militärplaner. Cyberattacken von staatlich unterstützten Hackern sind nichts anderes als Geheimdienstoperationen. Und wenn du das in der physischen Welt gut kannst, wie Russland, dann wirkt sich das auch auf deine Cyber-Operationen aus.«55

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Die Zitate nach Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 111f; zum »information warfare« als russische Spezialität siehe Rotte, Krieg, S. 314ff; einen guten Überblick über die verschiedenen Akteure und Strategien des russischen Desinformationskriegs gibt Galeotti, Controlling. Interview der SZ vom 20.2.2019 mit Dmitri Alperovitch, dem Mitgründer und Technikchef der amerikanischen Firma für Cybersicherheit Crowdstrike, die bei der Aufdeckung des russischen Hacker-Angriffs auf die Demokratische Partei im amerikanischen Wahlkampf 2016 eine wichtige Rolle spielte. Siehe ferner Galeotti, Controlling.

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Bei einer Reihe von Gelegenheiten hat Russland vorgemacht, wie man einen Desinformationskrieg führt und Lügen und Täuschungen als Waffen benutzt. Vermutlich standen russische Akteure hinter den Cyberangriffen auf den Deutschen Bundestag und deutsche Sicherheitsbehörden im Herbst 2014 und im Mai 2015. Sie standen auch hinter dem Fall Lisa F., in dem im Januar 2016 um ein 13jähriges deutsches Mädchen russischer Herkunft ein Entführungs- und Vergewaltigungsmärchen aufgebaut wurde, das erlogen war, an dem sich aber nicht nur das russische Fernsehen beteiligte, sondern auch die russische Botschaft in London und sogar der Außenminister Lawrow, der meinte, zum Handeln für »unsere Lisa« gezwungen zu sein. In Wirklichkeit hatte es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung gegeben: Im Juni 2017 verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen 24jährigen Mann wegen sexuellen Missbrauchs und der Herstellung von Kinderpornographie. Der Mann hatte gestanden, im Herbst 2015 einvernehmlich Geschlechtsverkehr mit der damals 13jährigen Lisa, Tochter russlanddeutscher Zuwanderer aus Berlin-Marzahn, gehabt und als Video auf seinem Handy festgehalten zu haben.56 Im April 2018 beschuldigten Großbritannien und die USA den Kreml, einen groß angelegten Cyberangriff russischer Hacker auf die Netzwerke von Bundesbehörden, Firmen, Nichtregierungsorganisationen und kritische Infrastrukturen der beiden Länder durchgeführt zu haben. Früher schon wurde der russische Staat für Cyber-Angriffe auf den britischen Gesundheitsdient NHS oder amerikanische Stromanbieter verantwortlich gemacht. Zu den russischen Aggressionen im Netz zählt auch eine Desinformationskampagne beim Brexit-Votum in England. Eine der größten Cyberattacken war die russische Einmischung in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016, die dank des Mueller-Reports akribisch und mit vielen Details belegt ist. Der Report weist nach, dass sich Russland hauptsächlich zweier Verfahren bedient hat. Erstens »lancierte eine russische Organisation eine Social-MediaKampagne, die den Präsidentschaftskandidaten Donald J. Trump begünstigte und die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verunglimpfte. Zweitens führte eine Einheit des russischen Geheimdienstes Operationen durch, in deren Verlauf sie Computer von Organisationen, Angestellten und Freiwilligen

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Zu den russischen Cyberattacken und zum Fall Lisa siehe Snyder, Unfreiheit, S. 208ff, Schaeffer, Fake, S. 167ff, 185ff; Atai, Wahrheit, S. 324ff.

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hackte, die in den Clinton-Wahlkampf involviert waren, und dann gestohlene Dokumente veröffentlichte.«57 Die Social-Media-Kampagne wurde maßgeblich von der Internet Research Agency (IRA) von St. Petersburg aus betrieben, die Jewgeni Prigoschin und von ihm kontrollierte Firmen finanzieren. Prigoschin werden enge Verbindungen zu Putin nachgesagt. Von einem kleinen Bürogebäude in St. Petersburg aus haben die russischen Trolle dem Mueller Report zufolge ihre Aktionen organisiert, gesteuert und durchgeführt. Die Aktionen der IRA waren »aktive Maßnahmen«, d.h. Operationen, die normalerweise von russischen Sicherheitsdiensten durchgeführt werden, um den Verlauf internationaler Angelegenheiten zu beeinflussen. Mitte 2014 waren IRA-Mitarbeiterinnen in die USA gereist, um Informationen und Fotos zu sammeln, die sie in ihren Posts und Sozialen Netzwerken verwenden wollten. Sodann bediente sich die IRA verschiedener Social-Media-Accounts und der Accounts von Interessengruppen, um mit einem von ihr selber so genannten Informationskrieg für Unfrieden im politischen System der USA zu sorgen. Die Kampagne ging auf einen allgemeiner gefassten Plan zurück, der 2014 und 2015 entwickelt worden war und zum Ziel hatte, das Wahlsystem der USA zu diskreditieren. Ab Anfang 2016 wurde mit konkreten Operationen begonnen. Im Namen von US-amerikanischen Bürgern und Firmen wurden politische Anzeigen in Sozialen Netzwerken geschaltet sowie politische Kundgebungen in den USA veranstaltet. Um sie zu organisieren, gaben sich Angestellte der IRA als USamerikanische Vertreter von Graswurzelbewegungen aus und kontaktierten Trump-Unterstützer und Trump-Wahlkampffunktionäre in den USA. Gegen Ende des Wahlkampfs gelang es der IRA offenbar, mithilfe ihrer Social-MediaAccounts viele Millionen von US-Bürgern zu erreichen. Im November 2017 sagte ein Facebook-Vertreter aus, dass das Unternehmen 470 von der IRA gesteuerte Facebook-Accounts ausfindig gemacht habe, die zwischen Januar 2015 und August 2017 insgesamt 80.000 Posts eingestellt hätten. Facebook schätzte, dass die IRA durch ihre Facebook-Accounts bis zu 126 Millionen Personen erreicht hatte. Im Januar 2018 gab Twitter bekannt, dass es 3.814 von der IRA gesteuerte Twitter-Accounts ausfindig gemacht und ungefähr 1,4 Mil-

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Zu den Cyberangriffen vom April 2018 und früheren Angriffen siehe NZZ, 17.4.2018; zur Einmischung in die Brexit-Abstimmung siehe SPON, 5.11.2019; die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf ist der Gegenstand des gesamten ersten Teils des Mueller-Reports, das Zitat dort S. 93.

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lionen Personen benachrichtigt hatte, die nach Twitters Ansicht in Kontakt mit einem der von der IRA gesteuerten Accounts gekommen sein könnten.58 Die Cyberangriffe und die Veröffentlichung von gehacktem Material, die das Ziel hatten, dem Clinton-Wahlkampf zu schaden, wurden nicht von der IRA, sondern direkt vom russischen Militärgeheimdienst GRU (Hauptverwaltung Aufklärung) ausgeführt. Im März 2016 begann der GRU damit, die E-Mail-Accounts von Helfern und Mitarbeitern des Clinton-Wahlkampfs zu hacken, u.a. den des Wahlkampfleiters John Podesta. Im April 2016 hackte der GRU die Computer-Netzwerke des Democratic Congessional Campaign Committee (DCCC) und des Democratic National Committee (DNC). Dabei wurden Hunderttausende Dokumente von den gehackten Computern und Netzwerken gestohlen. Mitte Juni 2016 begann der GRU damit, gestohlenes Material über die von ihm fingierten Online-Identitäten DCLeaks und den Account Guccifer 2.0 zu streuen, und später veröffentlichte der GRU weiteres Material über WikiLeaks. Ende Dezember 2016, also bereits nach dem Ende der Wahl, verhängten die Vereinigten Staaten gegenüber Russland wegen dessen Einmischung in den Wahlkampf eine Reihe von Sanktionen. Seit Anfang 2017 untersuchten mehrere Ausschüsse im amerikanischen Kongress die Einmischung Russlands in die Präsidentschaftswahlen. Die Nachforschungen des Sonderermittlers Mueller führten zu Anklagen gegen 13 russische Staatsbürger und drei russische Organisationen, darunter die IRA, hauptsächlich wegen Verabredung zur Begehung einer Straftat gegen die Vereinigten Staaten. Auch gegen 12 Beamte des russischen Militärgeheimdiensts, die sich in die Computer und persönlichen E-Mail Accounts von Personen aus dem Umfeld des Clinton-Wahlkampfs hackten, wurde Anklage erhoben.59 Die Annexion der Krim und der unerklärte Angriffskrieg gegen die Ukraine präsentierten dann gleichsam in Reinform die neue Strategie der hybriden Kriegführung, wie sie sich der Kreml auf seine Fahnen geschrieben hat. Das gilt zum einen für die propagandistische Rechtfertigung und die autoritäre Mobilisierung der Bevölkerung im Innern und zum andern auch und vor allem für die Durchführung der Okkupation und des Krieges im Stile einer Geheimdienst-Operation mit Desinformationen und der verdeckten Intervention mit Waffengewalt. Nach innen wurde die Annexion der Krim als legi-

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Siehe Mueller-Report, S. 97f; detailliert wird die Kampagne beschrieben ebda., S. 119161; die Zahlen über die Reichweite ebda., S. 121. Siehe Mueller-Report, S. 98f; detailliert werden die Angriffe des GRU beschrieben ebda., S. 162-217; zu den Anklagen siehe ebda., S. 93, 108.

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timer politischer Akt dargestellt, in dem Russland nur die Rolle als militärische Großmacht, die ihm durch seine Geschichte und sein Schicksal bestimmt ist, wieder einnimmt. Die offizielle Begründung lautete, dass Russland auf der Krim die russischsprachigen Landsleute schützen müsse. Die Russländische Föderation hat in dieser Sicht der Dinge geradezu die höhere Pflicht, die verlorenen Landsleute und die verlorenen Länder wieder einzusammeln und Großmachtziele zu verfolgen. Die Propaganda war ein voller Erfolg. Die meisten Russen waren stolz darauf, wie die ›grünen Männchen‹ der Truppen des GRU handstreichartig die Halbinsel Krim unter ihre Kontrolle brachten. In einer Umfrage waren etwa 80 Prozent der Bevölkerung mit dieser Handlungsweise vollkommen einverstanden. 40 Prozent gaben an, dass Russland zwar formal nicht das Recht zur Okkupation besessen, aber dennoch richtig gehandelt habe. Ebenfalls 40 Prozent teilten die Auffassung, dass Russland überall dort, wo Russen leben und sich unter Druck fühlen, wie z.B. in Transnistrien, das Recht habe, genauso vorzugehen wie auf der Krim.60 Die Erzählung hinter dieser Wahrnehmung sieht so aus: Wir leben in Russland seit Jahren im Belagerungszustand. Der Westen und insbesondere die Amerikaner bedrohen uns. Sie sind Aggressoren, die sich das Recht herausnehmen, alle Länder der Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Euromaidan war nur eine weitere Station in der langen Kette von Unruhen und Umstürzen, die der Westen mit Hilfe des Internets und der Sozialen Medien, mit Hilfe von Geld, Stiftungen und NGOs überall anzettelt, um prowestliche Regime zu etablieren. Im Westen denken sie, dass sie allmächtig sind, dass sie alles machen dürfen und immer Recht haben. Jetzt aber ist es damit vorbei. Wir mussten in der Ukraine eingreifen, um Europa vor dem Faschismus zu schützen. In Kiew hatte sich eine faschistische Junta an die Macht geputscht, und in der Ostukraine war ein Genozid am russischen Volk im Gang. Die Europäische Union errichtete gemeinsam mit der ukrainischen Regierung Konzentrationslager, in denen Angehörige der ›Volkswehr‹ eingekerkert wurden. Das lassen wir nicht zu. Von sofort an verteidigen wir uns offensiv gegen die imperialistische und faschistische Aggression. Wenn die Leute im Westen nicht hören wollen, müssen sie fühlen. Jetzt setzen wir den Großen Vaterländischen Krieg gegen die Faschisten fort, den wir schon einmal siegreich geführt haben. Wir können das, wir fragen niemanden danach, ob wir das dürfen, und wir werden zeigen, dass wir die Stärkeren im Ring

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Die Ergebnisse der Umfrage nach Dubin, Das Unmögliche, S. 220.

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sind. Wir sind eine Großmacht, wir lassen uns nicht auf der Nase herumtanzen, wir haben eine große historische und religiöse Mission zu erfüllen, wir verteidigen das Christentum und damit das geistig-religiöse Fundament der Zivilisation, das in den dekadenten euroatlantischen Ländern nur noch verächtlich gemacht und verraten wird. Die Reaktion des Westens auf die Vorgänge in der Ukraine und die Verhängung von Sanktionen bestätigte in den Augen der meisten Russen, dass sich ihr Land tatsächlich im Belagerungszustand befindet. Eigentlich trägt damit der Westen für die Ereignisse in der Ostukraine die Verantwortung. Er hat den Krieg in die Ukraine getragen und bedroht nun Russland ganz unmittelbar. Entsprechend erklärt eine Mehrheit der Bevölkerung, dass sie zum Krieg bereit ist.61 Auf der Basis dieser Haltung wurden die Okkupation der Krim und der Krieg gegen die Ukraine wie ein Geheimdienstcoup in einer dreisten Kombination von Irreführung, Lüge und militärischer Gewalt in Szene gesetzt. Zugleich sollte nicht übersehen werden, dass die Sache in einem längeren Vorlauf vorbereitet worden war. Schon viele Jahre vor der Okkupation und der Intervention im Osten der Ukraine hatte der Kreml damit begonnen, die auf Russland ausgerichteten Kräfte in der Ukraine zu fördern. Seit Herbst 2013 liefen die Fäden dieser Förderung in der Präsidialverwaltung im unmittelbaren Umkreis Putins zusammen. Und schon im Juli 2006 hatte sich der Präsident vom Föderationsrat in Moskau dazu ermächtigen lassen, die Sondereinsatzkommandos der Geheimdienste und der Streitkräfte auch im Ausland einsetzen zu dürfen. Der GRU ist kein reiner Aufklärungsdienst, sondern enthält auch Einheiten für militärische Spezialoperationen, sog. Speznas. Tatsächlich lagen die Operationen zur Einverleibung der Krim und der Krieg in der Ostukraine im Kern in den Händen des GRU. Die Entscheidung, die Krim in den Bestand Russlands zurückzuholen, fiel nach Putins Worten am 23. Februar 2014 um sieben Uhr morgens. In der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014 tauchten auf der Halbinsel Krim plötzlich Soldaten ohne militärische Erkennungszeichen auf. Sie waren in zehn Flugzeugen nach Sewastopol gebracht worden und besetzten noch in der Nacht das Gebäude des Obersten Sowjets und der Regierung der Krim. Der Luftraum wurde geschlossen und das ukrainische Militär in seinen Stützpunkten blockiert. Die russischen Behörden bestritten zunächst, dass es sich um russische Soldaten handelte, wie sie überhaupt behaupteten, dass sie mit den Vorgängen nichts zu tun hätten.

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Siehe Dubin, Das Unmögliche, S. 220f.

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Es könne sich bei ihnen nur um Freiwillige handeln, jedenfalls nicht um Angehörige der russischen Armee. Die als »grüne Männchen« bezeichneten Soldaten waren Angehörige von GRU-Sondereinheiten, wie Moskau selber später zugab. Und kurz nach der Operation auf der Krim hatte der GRU auch bei der Inszenierung eines Aufstands in der Ostukraine seine Hand im Spiel. Die EU erließ deswegen Sanktionen gegen den damaligen GRU-Leiter und den unter dem nom de guerre Strelkow operierenden GRU-Offizier Igor Girkin.62 Am 4. März 2014 behauptete Putin russischen Journalisten gegenüber, dass ein Anschluss der Krim an Russland nicht geplant sei. Wie der Verteidigungsminister beteuerte auch er, dass es keine russischen Truppen auf der Krim gebe. Am 11. März erklärte das Parlament in Simferopol die Halbinsel für unabhängig. Am 16. März fand ein sogenanntes Referendum über den Status der Krim statt. Auf dem Stimmzettel hatten die Bewohner der Krim die Alternative: entweder Anschluss an Russland oder die Rückkehr zur Verfassung von 1992. Diese Verfassung freilich hätte per Parlamentsbeschluss den Anschluss an Russland ermöglicht. Mithin gab es überhaupt nicht die Möglichkeit, sich gegen den Anschluss zu entscheiden. Nach der Annexion bestritt Putin noch für längere Zeit, dass bei der Operation auf der Krim russische Militärs eingesetzt worden wären. Später, in dem Film »Der Krieg. Weg in die Heimat« aus dem Jahre 2015, sagte er dann aber voller Stolz, dass »unsere Militärangehörigen« auf der Krim »sehr korrekt und zugleich sehr entschlossen und professionell agierten«. Er selber habe dem Verteidigungsministerium den Auftrag erteilt, »unter dem Vorwand einer Verstärkung der Bewachung unserer Militärobjekte auf der Krim Sondereinheiten der GRU dorthin zu schicken und Marineinfanterie sowie Fallschirmjäger«.63 Auch der unerklärte Angriffskrieg, den Russland seit 2014 in der Ostukraine führt, trägt alle Züge der nicht-linearen Strategie, die Gerassimow entworfen hatte und die zu wesentlichen Teilen in die offizielle Militärdoktrin eingegangen war. Es gibt eindeutige Belege dafür, dass die Separatisten in der Ostukraine direkte Weisungen aus Moskau bekamen. Ukrainische Hacker

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Die langjährige Vorbereitung wird belegt durch die Beiträge in der Zeitschrift Osteuropa 3-4/2019; zur Ermächtigung durch den Föderationsrat siehe Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 112; die Vorgänge bei der Okkupation der Krim nach Sygar, Endspiel, S. 326ff; Snyder, Unfreiheit, S. 166ff; Myers, Putin, S. 596ff; zur Rolle des MilitärGeheimdiensts siehe Lucas, Deception, S. 112ff, siehe ferner NZZ, 9.9.2018. Zum »Referendum« siehe Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 107; zum Film über den Krieg siehe Schumatsky, Untertan, S. 97, Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 108.

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starteten einen Angriff auf die Mailbox von Wladislaw Surkow, dem hochrangigen Berater Putins für das Vorgehen gegen die Ukraine. Die Hacker sichteten 10.000 Mails aus dem »Informationsministerium« der prorussischen Separatisten in der Ostukraine, in denen direkte Anweisungen des Kremls an die Separatisten zur Informationspolitik enthalten waren. Es ist ferner eindeutig belegt, dass Russland im Sommer 2014 in die Kämpfe in der Ostukraine immer direkter intervenierte, und zwar mit Waffen, Munition, Geld und Beratern. Und es kann auch kein Zweifel darüber herrschen, dass ohne diese direkte Intervention von Seiten Russlands der Aufstand der prorussischen Kräfte im Osten der Ukraine zusammengebrochen wäre. Nach wie vor aber bestreitet Putin die systematische Beteiligung Russlands. Er spendete Kerzen zum Andenken an die getöteten Soldaten, die, wie er sagte, »beim Schutz der Menschen in Neurussland zu Schaden gekommen sind«, aber dass es sich dabei um Angehörige des Militärs handelte, das in seinem eigenen Auftrag dort kämpfte, wird von ihm und dem Kreml bis heute nicht bestätigt. Und die Familien der gefallenen Soldaten erhalten zwar eine Entschädigung vom russischen Staat, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht mit Reportern sprechen. Ob Krim, Donbass oder Syrien, – wohin man sieht, ergibt sich das gleiche Bild. Ständig werden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, Wahrheit und Lüge, Geheimhaltung und Täuschung, Krieg mit militärischer Gewalt und Krieg mit Informationen zum Verschwinden gebracht. Und die Fülle der Widersprüche, in die man sich dabei verstrickt, scheinen nicht nur keine Rolle zu spielen, sondern geradezu willkommen zu sein, weil sie dazu beitragen, dass die allgemeine Verwirrung auf keinen Fall behoben wird.64 Mit den hybriden Kriegen stellt Russland mit Putin unter Beweis, dass die lange Jahre virtuellen und rhetorischen Großmachtansprüche Moskaus reale Folgen zeitigen. Der Anspruch, Großmacht zu sein und als Großmacht auf dem internationalen Parkett auch wahrgenommen zu werden, stützte sich nach dem Untergang des Sowjetimperiums nur auf Verklärung der »großen« Vergangenheit. Der Einsatz militärischer und nicht-militärischer Mittel, die Okkupation der Krim, der Krieg gegen die Ukraine, das Eingreifen in den syrischen Krieg, die Desinformationskampagnen gegen Europa und gegen die USA, – all das führte und führt zu gravierenden Veränderungen

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Zu den Anweisungen zur Informationspolitik aus dem Kreml siehe Schaeffer, Fake, S. 196; siehe ferner Sygar, Endspiel, S. 343ff, Mitrokhin, Im Namen. Atai, Wahrheit, S. 131ff und passim, gibt eine Fülle von Beispielen dieser Art der hybriden Kriegführung.

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der weltpolitischen Lage. Unübersehbar zeigt sich daran, dass und wie man mit der Verachtung von Tatsachen und im Schatten der Verbreitung von Lüge und Täuschung neue Tatsachen schaffen und Wirkung erzielen kann. Auch Potjomkin war nicht nur, wie die Sage es will, der Errichter Potjomkinscher Dörfer, der seiner Herrin Katharina II. blühende Landschaften vorgaukelte, sondern zugleich Feldherr und Gründer Neu-Russlands, der Tatsachen schuf. Die Flucht in eine nostalgische Scheinwelt, in eine Welt von Lüge und Täuschung, ist nicht der reine folgenlose Kitsch, die Übermalung einer enttäuschenden Wirklichkeit, die der Realitätsprüfung nicht standhält, sondern die Hülle, hinter der auf skrupellose Weise neue Tatsachen geschaffen werden. Obwohl die Effekte höchst real sind, behält die Entwicklung Züge des Gespenstischen und Fiktiven. Es ist dieser Zug ins Fiktive und Gespenstische, der die Außenpolitik des Landes mit dem Zustand im Inneren verbindet. Wer Außenpolitik so betreibt wie der Kreml es tut, der behandelt sein eigenes Volk nicht anders. Und vice versa. Und so wie die eigene Bevölkerung nicht wissen soll, woran sie ist, so ist auch das Auftreten Russlands auf der internationalen Bühne der Versuch eines Verwirrspiels. Die Realität daran ist, dass Russland immer noch stark genug ist, anderen Mächten und Staaten ins Gehege zu kommen und gegen Entwicklungen, die der Führung des Landes nicht passen, eine Art von Veto einzulegen. Das hat der Kreml unter Putin nun ausgiebig aller Welt demonstriert, und das war eigentlich auch der wichtigste Antrieb des ganzen aufwendigen Unternehmens. Andererseits ist unübersehbar, dass Russland immer nur durch negative Interventionen auf sich aufmerksam macht, mit militärischen wie nicht-militärischen Interventionen, die auf Destruktion und Zerstörung gerichtet sind. Es geht um die Okkupation und Einverleibung von Territorien, um Destabilisierung von Staaten, die sich die Freiheit herausnehmen, selber über ihren Weg zu bestimmen, um die Herbeiführung von Unordnung in den internationalen Beziehungen. Im Grunde sind es Interventionen nach der Logik des Partisanenkriegs, in dem der Schwächere durch List, Lüge und Täuschung und durch Verletzung der Regeln seine Nachteile ausgleicht. Es sind negative Interventionen, die anderen Akteuren in der Welt, allen voran den USA und Europa, aber auch und nicht zuletzt den neu entstandenen Staaten vor der eigenen Haustür die Handlungsfähigkeit nehmen wollen. Russland ist stark genug für die Destruktion, das Land sorgt für Turbulenzen und zieht die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich, aber für die Konstitution einer stabilen politischen Ordnung im Innern und zwischen den Staaten ist das alles vollkommen ungeeignet.

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Der Überbrückung der Leere, die hinter der Destruktion sichtbar wird, der Überbrückung der Diskrepanz zwischen Großmachtanspruch und realer Konzeptionslosigkeit dienen einerseits die Kulissen- und Fassadenproduktionen und andererseits die Ritualisierungen des politischen Spiels, das in dieser Kulissenwelt aufgeführt wird. Mit Ritualisierungen versuchen wir uns mächtig zu machen über eine Realität, der wir in Wirklichkeit ohnmächtig gegenüberstehen. Die bis ins kleinste öffentlichkeitswirksam inszenierten Auftritte des neuen Zaren im Kreml, die Vorliebe für militärische Paraden und Aufmärsche im Stechschritt, die Lust am Dekor und am Lichtermeer erzeugen die Illusion einer Mächtigkeit, hinter der die Realität weit zurückbleibt. Wenn die Illusionen und Täuschungen mit der ganz anderen und in den meisten Fällen gar nicht rosigen Realität konfrontiert werden, kommt es zum Realitätsschock, der aber von russischer Seite rasch auf dem Konto böser Machenschaften des überheblichen Westens verbucht wird. Das lässt sich immer wieder im Bereich der Sportpolitik beobachten. Als russischen Sportlern bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 reihenweise die Medaillen aberkannt wurden, war die Empörung in Russland groß. Kaum weniger groß waren die Reaktionen auf den Ausschluss russischer Sportler wegen fortgesetzter Doping-Manipulationen von allen internationalen SportGroßereignissen, die im Dezember 2019 von der Welt-Anti-Doping-Agentur verhängt wurde. Prompt sprach Premierminister Medwedew von der »Fortsetzung der antirussischen Hysterie, die eine chronische Form angenommen« habe. Bei diesen Anlässen im vergleichsweise harmlosen Bereich des Sports zeigt sich, wie überempfindlich Russland reagiert, wenn seine Großmachtträume unsanft auf den Boden der Tatsachen geholt werden.65

Putin und Russland Der Mann, der seit zwanzig Jahren die Geschicke Russlands maßgeblich bestimmt, verkörpert in seiner Biographie und Person das Politik- und Staatsverständnis des Landes auf das genaueste. Wladimir Putin wurde 1952 im sowjetischen Leningrad geboren, einer Stadt, die damals immer noch von Hunger, Zerstörung, Gewalt und Tod bestimmt war. Die Hungerblockade von September 1941 bis Januar 1944, bei der über eine Million Zivilisten starben, 65

Zur Reaktion auf Salt Lake City siehe Mommsen, Wer herrscht, S. 222f; die Reaktion Medwedews auf die Sanktionen im Dezember 2019 nach SPON, 9.12.2019.

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gehört zu den grausamsten Verbrechen des deutschen Militärs im Zweiten Weltkrieg. Putin wuchs unter erbärmlichen, von Armut, Entbehrungen und Aggression geprägten persönlichen Bedingungen auf, die allerdings im Vergleich zu seiner Umgebung sogar noch als milde gelten können. Als Kind und Jugendlicher trieb er sich mit anderen Straßenjungen und Raufbolden mit Vorliebe in den Hinterhöfen der Stadt herum. Nach dem Ende der Schulzeit absolvierte er ein Jurastudium in Leningrad, verwirklichte mit seinem Eintritt in den Geheimdienst KGB seinen Jugendtraum und war neben anderen Stationen fünf Jahre für die sowjetische Auslandsaufklärung in Dresden im Einsatz, wo er den Untergang der DDR und des Kommunismus erlebte. 1990 kehrte er zurück nach Leningrad, das jetzt wieder St. Petersburg hieß, und avancierte 1994 zum Ersten Stellvertretenden Bürgermeister der Stadt. Nach der Wahlniederlage des Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, dem er eng verbunden war, wurde Putin 1996 nach Moskau in die Kremlverwaltung geholt und stieg hier rasch auf. Seit August 1998 stand er an der Spitze des FSB, im März 1999 übernahm er zusätzlich den Posten des Sekretärs des Nationalen Sicherheitsrates. Im August 1999 ernannte ihn der russische Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten, nach dem überraschenden Rücktritt Jelzins vom Amt des Staatspräsidenten übernahm Putin vom 1. Januar 2000 an diese Position zunächst geschäftsführend, bevor er in der Wahl vom März 2000 mit 53 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Seitdem ist er ununterbrochen in den beiden höchsten Staatsämtern tätig, zwischen 2008 und 2012 als Ministerpräsident, sonst als Staatspräsident. Bei der Wahl 2018 bekam er 77 Prozent der abgegebenen Stimmen. Fast alles was wir über Putins Kindheit und Jugend, sein Studium und seine Zeit im KGB sowie seine Tätigkeit in der Stadtverwaltung von St. Petersburg und anschließend in der Kremlverwaltung wissen, geht auf seine eigenen Aussagen zurück. Es gibt kaum unabhängige Quellen und Dokumente, die Informationen sind spärlich, vieles liegt im Dunkeln und wird auch absichtsvoll dort belassen. Als Putin im Jahr 2000 für die Wahl zum Staatspräsidenten antrat, wurden rasch drei Journalisten damit beauftragt, innerhalb von wenigen Wochen eine Broschüre über ihn zu schreiben, deren wesentliche Quelle in sechs langen Interviews der Autoren mit Putin bestand. Einige weitere Auskunftsgeber kamen hinzu: seine Frau, sein bester Freund, ein ehemaliger Lehrer und eine ehemalige Sekretärin aus dem Sankt Petersburger Rathaus. Dass Putin weitgehend die Kontrolle über das ausüben konnte und kann, was über sein Leben bekannt ist, korrespondiert vortrefflich mit seiner Haltung und Weltsicht, die stets davon bestimmt war, möglichst alle Fäden

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in der Hand und die Oberhoheit über die Informationen und ihre Deutungen zu haben. Viele Details, die Putin seinen drei Biographen erzählte, sind aller Wahrscheinlichkeit nach schlicht gelogen, z.B. seine Schilderung des Verhaltens, das er während des Putschversuchs im August 1991 an den Tag legte. Entgegen seinen eigenen Schilderungen stand Putin vermutlich auf der Seite der Hardliner, die den Putsch angezettelt hatten, aber schmählich scheiterten.66 Dass Putin soz. aus dem Nichts kam und niemand etwas über ihn wusste, hatte den großen Vorteil, dass die Polittechnologen des Kremls im Jahre 1999 daran gehen konnten, für die Öffentlichkeit einen Kandidaten zu kreieren, der ganz den eigenen Vorstellungen entsprach und nicht durch die Rücksicht auf frühere Festlegungen und programmatische Äußerungen des neuen Helden eingeengt war. Als Putin zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, war er ein junger, in der Öffentlichkeit vollkommen unbekannter Geheimdienstler und im politischen Feld, also mit politischen Urteilen, Programmen und Projekten überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Niemand wusste und konnte wissen, wo er politisch stand, ob er das Ende des Kommunismus begrüßt hatte oder nicht, ob er die Morgenröte der Demokratie und des Liberalismus in den 1990er Jahren unterstützt hatte oder nicht, ob er die freie öffentliche Debatte schätzte oder nicht, ob er die unter Gorbatschow und Jelzin begonnene Öffnung gegenüber dem Westen begrüßte oder nicht. Für Michail Sygar ist Putin nicht viel mehr als das Retortenprodukt der maßgeblichen Imagemaker im Kreml. Eigentlich gibt es ihn gar nicht, er ist eine Kreation, die sich sein Gefolge ausgedacht und in die Welt gesetzt hat. Nach und nach wurde ihm die Aura des charismatischen Retters zugewiesen, der je nach Bedarf als gottesfürchtiger Zar und Landesvater, als heldenhafter Sportler, als Verkörperung von Macht, Stärke und Virilität erscheint. Für jedermann in Russland gibt es einen eigenen Putin, der auf jeweils spezifische Weise sympathisch und bewundernswert ist. Auch Mommsen hält Putin für ein Konstrukt, und der Personenkult, der in den letzten Jahren um ihn betrieben wird, bestätige dieses Urteil nur noch einmal. Nach Pomerantsev ist Putin eine für das Fernsehen entworfene Projektion, die jeden russischen Archetyp in sich vereint, »sodass er jetzt scheinbar prallvoll mit ganz Russland ist, immer schneller hin und her wechselt zwischen Gangster-Staatsmann-Eroberer-Biker-Glaubender-Kaiser, mal diplomatisch66

Die biographischen Interviews erschienen schon 2000 auch auf deutsch: Geworkjan et al., Gespräche; zu Putins Verhalten im August 1991 siehe Gessen, Mann, S. 150ff.

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rational auftritt und mal von Verschwörungen geifert«. Für die Publizistin Masha Gessen war Putin zwar zunächst ein »Mann ohne Gesicht«, der aber dann rasch zu erkennen gab, dass seine Politik- und Staatsvorstellung durch und durch autoritär war, und dessen Politik seit 2012 konsequent auf die Errichtung einer neuen Tyrannei hinauslief. Westliche Medien sprachen schon zu Anfang seiner Amtszeit wegen seiner »extremen Wendigkeit« von einem Playmobil-Präsidenten, der sich ganz unterschiedliche Kostüme überstreift und ob als Soldat, Polizist oder Cowboy immer eine gute Figur macht. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Hill und Gaddy sprechen in ihrem Buch über Putin von sechs verschiedenen Identitäten, die sie ihm zuschreiben: Vertreter des starken Staates, geschichtsbewusster Akteur, Überlebenskünstler, Außenseiter, Anhänger einer freien Marktwirtschaft, Geheimdienstoffizier. Die ersten drei Identitäten, so meinen Hill und Gaddy, sind nicht spezifisch für Putin, sondern in Russland generell weit verbreitet. Die letzten drei seien eher typisch für Putin und hätten ihm sehr dabei geholfen, in den Kreml einzuziehen.67 Wohin man auch schaut: Putin erscheint wie eine Zwiebel, die aus vielen Schalen besteht, aber keinen Kern hat. Und wie der Magier Cipolla (ital. Zwiebel) in Thomas Manns berühmter Erzählung »Mario und der Zauberer« scheint er in der Lage zu sein, je nach Situation und Bedarf einmal diese und im nächsten Augenblick eine ganz andere Eigenschaft in den Vordergrund zu stellen und auf diese Weise alle in seinen Bann zu ziehen. Damit wäre er ein gutes Beispiel jenes Herrschers, der nach Machiavellis »Il Principe« in der Lage sein muss, wie ein Virtuose die unterschiedlichsten Elemente seiner Person hervorzukehren und zum Einsatz zu bringen, wie ein Fuchs aufzutreten und List und Intelligenz einzusetzen oder wie ein Löwe die Gegner mit körperlicher Stärke in die Knie zu zwingen. Das setzt freilich voraus, dass der politische Herrscher souverän auf der Klaviatur seiner Eigenschaften und Qualitäten spielen, dass er wie ein Schauspieler problemlos von einer in die andere Rolle wechseln kann, dass er mithin fraglos der Herr seiner Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten ist und alle seine Triebregungen und Affekte auf das Kommando seiner kühl durchkalkulierten Entscheidung hören. Putin wird in diesen Beschreibungen einerseits überschätzt, andererseits unterschätzt. Überschätzt, weil es niemanden gibt, schon gar keinen Autokra67

Siehe Sygar, Endspiel, S. 7; Mommsen, Putin-Syndikat, S. 32ff, 187ff; Pomerantsev, Nichts, S. 294; Gessen, Mann; Gessen, Zukunft, S. 452ff; der Playmobil-Präsident nach Mommsen, Wer herrscht? S. 99; zu den sechs Identitäten siehe Hill/Gaddy, Mr. Putin.

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ten, der sich selber so durchsichtig wäre, dass er ganz unberührt und unbewegt alle seine Entscheidungen vollkommen transparent in einer durch nichts getrübten Kosten-Nutzen-Analyse treffen könnte. Vielleicht ist das ein Bild, das Putin selber gerne von sich zeichnen würde. Aber damit würde er sich nur in die Reihe derjenigen Herrscher einreihen, die immer wieder an der Überdosis von Selbstherrlichkeit, Allmachtsanwandlungen und Realitätsblindheit gescheitert sind. Das ist freilich auch im Falle von Putin gar nicht so unwahrscheinlich. Man kann dann tatsächlich darauf warten, an welcher Stelle er in maßloser Selbstüberschätzung eine folgenschwere und nicht revidierbare Fehlentscheidung trifft. Sicher ist, dass sich geschlossene politische Systeme niemals auf Dauer halten können, aber niemand kann den Zeitpunkt ihres Zerfalls vorhersagen. Unterschätzt wird Putin, wenn er als pures Retortengeschöpf seiner Imagemaker gezeichnet wird. Das mag anfangs so gewesen sein und funktioniert haben, als Putin aus dem Nichts wie ein unbeschriebenes Blatt auftauchte, auf das man alle möglichen Eintragungen machen konnte. Aber nach nunmehr 20 Jahren an der Spitze Russlands hat er vor aller Augen so viele Spuren hinterlassen und Zeichen gesetzt, dass eine weitere creatio ex nihilo ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist und er es nicht schaffen wird, sich noch einmal neu zu erfinden. Putin hat das Präsidentenamt sicher nicht mit einem klaren Programm oder Plan übernommen. Diese Annahme würde im Nachhinein der Entwicklung eine Logik und Linie unterstellen, die die »Metamorphosen des Wladimir Putin«, von denen Sygar im Untertitel seines Buches spricht, nicht gehabt haben. Aber unterhalb der Metamorphosen sind in der Biographie des Präsidenten in den letzten 20 Jahre drei Elemente erkennbar, die für ihn durchgängig charakteristisch sind: (1) der Glaube an die Macht der Loyalität, (2) der Glaube an die Macht der Geheimdienste, die freilich doch noch von der Kommandogewalt der Politik übertroffen wird, (3) der Glaube an die Bedeutung der Gewalt, der gegenüber Putin ein hochgradig ambivalentes Verhältnis an den Tag legt. In seiner Kindheit und Jugend war er ein mehr oder weniger verwahrloster Schläger, der dann aber seine gewalttätige Impulsivität einer strengen Disziplin unterwarf und auf dieser Basis seine Karriere im Geheimdienst und im Kreml entwickelte. Das ambivalente Verhältnis zu Gewalt und Aggression ist jedoch erhalten geblieben. Es zeigt sich heute darin, dass der Präsident wie von einem Automatismus getrieben auf jeden Gegenwind, auf alle Grenzen und Gegenbewegungen seiner Macht mit einer weiteren Umdrehung der Spirale von Repression, Drohung und Unterwerfung reagiert. Mit diesen drei Elementen ist ein viertes verbunden, auf das ich erst im letzten

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Kapitel ausführlicher zu sprechen komme: Putin ist überaus leicht kränkbar, und im gekränkten Stolz, den er gleichsam in sich trägt, spiegelt sich auf das genaueste die Gefühlslage des postimperialen Russlands. Alle vier Elemente stehen im Hintergrund der Praxis von Lüge und Täuschung, die Putin förmlich zur zweiten Natur geworden ist.

(1) Loyalität Vermutlich war es der Ruf der Loyalität und das Verständnis der Loyalität, die ausschlaggebend dafür waren, dass der politisch völlig unbekannte einstige Vizebürgermeister von St. Petersburg am Ende der Jelzin-Ära den maßgeblichen Kräften im Kreml als geeigneter Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten und dann des Staatspräsidenten erschien. Der amtierende Präsident Jelzin suchte vor allem einen Nachfolger, der ihn und seine »Familie«, d.h. seine engere Umgebung im Kreml, vor Strafverfolgung bewahren würde. Er wollte die Sicherheit haben, dass er von allen gegen ihn und seine Entourage gerichteten Nachforschungen und Ermittlungen wegen Korruption und anderer Machenschaften verschont würde. Putin ging der Ruf voraus, dass er stets absolute Loyalität gegenüber Höhergestellen an den Tag gelegt hatte. Der Ruf stützte sich vor allem auf die Tatsache, dass er nicht dem Angebot erlegen war, unter dem Nachfolger seines unmittelbaren früheren Vorgesetzten nach dessen Abwahl vom Amt des Bürgermeisters in St. Petersburg einfach weiterhin als Vizebürgermeister tätig zu sein. Auch als Leiter des FSB stellte Putin rasch unter Beweis, dass ihm für den Schutz des Präsidenten jedes Mittel recht war. Er sorgte für die Herstellung bzw. Weitergabe eines Videos, mit dem der Generalstaatsanwalt Juri Skuratow, den Jelzin wegen KorruptionsErmittlungen fürchtete, diskreditiert wurde. Das Video zeigte Skuratow oder, wie es hieß, eine Skuratow ähnliche Person, mit zwei Prostituierten. Der Zweck des Unternehmens stellte sich rasch ein: Der Generalstaatsanwalt wurde aus dem Amt gedrängt, und als weiterer Effekt wurde auch die Fortüne seines Freundes und politischen Verbündeten Jewgeni Primakow ruiniert, den Teile des Kremls ebenfalls für einen aussichtsreichen Kandidaten für das Präsidentenamt hielten. Jelzins »Kremlfamilie« wurde nach dem Wechsel Putins ins Präsidentenamt sofort von jeglicher Strafverfolgung freigestellt.68

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Siehe Mommsen, Wer herrscht, S. 95f; Mommsen, Putin-Syndikat, S. 31; Myers, Putin, S. 180ff; zu Primakow als weiteres Opfer der Affäre siehe Urban, Akte Skripal, S. 110.

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Die Art der Loyalität, um die es hier geht und die in Russland generell in höchstem Ansehen steht, hat die Züge der Komplizenschaft von Mitgliedern einer Gang oder der Mafia. Es geht darum, sich mit Posten zu versorgen und sich gegenseitig den Rücken frei zu halten. Loyalität in diesem Sinne ist die Solidarität von Leuten, die etwas zu verbergen haben, die angreifbar und darauf angewiesen sind, sich gegenseitig vor Anfeindungen und Angriffen von außen und innen zu schützen. Wichtig in Putins Fall ist vor allem, dass er auch in den 1990er Jahren, in einer Zeit also, in der es nach Demokratie und Umstellung der Ämtervergabe auf Wahlen und auf das Prinzip der Leistung roch, die Loyalität des Untergebenen gegen die höheren Amtsinhaber an den Tag legte. Er gehörte mithin nicht zu denen, die als niedriger Gestellte auf die Schwächen der Vorgesetzten lauerten, um sie abzuschießen und vielleicht sogar an ihre Stelle zu treten, sondern hielt ihnen die Treue, auch und gerade in Situationen, in denen sie in die Bredouille gerieten. Das war freilich weniger uneigennützig, als es zunächst erscheint. Denn der Untergebene verdankt möglicherweise dem Vorgesetzten, den er deckt, die eigene Position oder darf von ihm mit gutem Grund erwarten, dass er sich in Zukunft als dankbar erweisen wird und die erwiesene Treue reich belohnt. In Putins Fall ging diese Rechnung perfekt auf. Natürlich gehört zum Kodex dieser Loyalität, dass auch Lügen gedeckt und mit weiteren Lügen vertuscht werden. Man versteht sich als Familie, deren Mitglieder sich, bei strenger Einhaltung der Hierarchie, gegenseitig schützen und unter feindlichem Beschuss immer so eng zusammen rücken, wie es die Situation erfordert. Man kann sicher sein, dass Geheimdienstleute die Befehls- und Loyalitätskette stets fest im Blick haben. Es gehört zu Putins Staatsverständnis, dass er Loyalität auch von den Medien erwartet. Wer ihr nicht entspricht, wer den Präsidenten kritisiert und ihm Inkompetenz und Fehler vorrechnet, wird aussortiert. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Untergang der Kursk, als Putin noch nicht lange im Präsidentenamt war. Im August 2000 war das Atom-U-Boot mit 118 Matrosen durch die Explosion eines mitgeführten Torpedos in der Barentssee gesunken. 23 Matrosen hatten die Explosion zunächst überlebt, erstickten dann jedoch zwei Tage später. Gegen die Bestimmungen verfügte das Boot nicht über einen Ausstiegsschlauch im entsprechenden Abschnitt des Schiffs. Angebote britischer und norwegischer Taucher, bei der Rettung zu helfen, wurden ausgeschlagen. Putin hatte mehrere Tage während der Katastrophe geschwiegen, seinen Urlaub nicht unterbrochen und dann rechthaberisch und sogar wütend auf Vorhaltungen reagiert. Schließlich wurde ihm in einer kriti-

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schen Fernsehsendung nachgewiesen, dass er schlicht die Unwahrheit gesagt hatte. Der Moderator beschloss die Sendung mit den Worten: »Das Regime hat keinen Respekt vor uns, und deshalb belügt es uns.« Das dürfte der Präsident als eine Art von Majestätsbeleidigung empfunden haben. Jedenfalls war es der Anfang vom Ende der Pressefreiheit in Russland. Alle wichtigen Fernsehanstalten wurden von nun an nach und nach der Kontrolle des Staates unterstellt.69 Beziehungen, die auf dieser Art von Loyalität beruhen, sind anfällig und sensibel. Im Prinzip muss jeder ständig unter Beweis stellen, dass er bereit ist, das Spiel weiterhin mitzuspielen. Der Höherrangige kann schon auf kleinste Abweichungen und kleinste Anzeichen von Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit in seiner Umgebung damit reagieren, dass er die Betreffenden verstößt. Wer nicht bedingungslos loyal ist, wer sich der Kontrolle entzieht, wenn der oberste Patron seine Position zu verlieren droht, der muss damit rechnen, dass er mit Sanktionen und mit Ausschluss bedroht wird. Es spricht einiges dafür, dass Phänomene dieser Art im Hintergrund der spektakulären Degradierungen standen, die den einen oder anderen Oligarchen oder Amtsinhaber zu Fall gebracht haben. Im Juli 2000, also gut ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt als Präsident, hatte Putin 21 der reichsten russischen Unternehmer in den Kreml einbestellt, um ihnen mitzuteilen, dass sie auch unter seiner Präsidentschaft weiterhin ihr Geld verdienen könnten, aber sich aus sämtlichen Belangen der Politik herauszuhalten hätten. Die meisten hielten sich daran. Aber der Milliardär Boris Beresowski, der Mehrheitsaktionär des Fernsehsenders ORT, tat das nicht. Daraufhin wurde er wegen Betrugs verhaftet und angeklagt, er floh ins Ausland und vermachte seinen Medienbesitz an seinen Juniorpartner, der Putin vollkommen ergeben war. Ähnlich erging es Michail Chodorkowski, dem reichsten Mann Russlands und Chef des riesigen Erdölkonzerns Yukos, nur dass er fast zehn Jahre lang im Gefängnis saß.70 Im Ehrenkodex der Loyalität gibt es nichts Schlimmeres als Unehrenhaftigkeit und Verrat. Loyalität richtet sich nicht nach Verdiensten, Leistungen oder Qualifikationen. Und die Währung der Loyalität ist auch nicht in erster Linie das Geld. Jeder weiß, dass Geld ohnedies normalerweise aus unsauberen Quellen stammt, und dafür wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Natürlich sollte man als Mitglied von Familien, Clans, Cliquen, Banden, Orden oder 69 70

Siehe Gessen, Mann, S. 208ff, das Zitat S. 218. Siehe Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 101f.

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Geheimdiensten sein Handwerk verstehen, und dazu gehört auch, dass man professionell und clever vorgeht und dass man sich nicht erwischen lässt. Aber Dilettantismus kommt vor, so wie die Fehler der Geheimdienstleute, die den Doppelagenten Skripal im englischen Salisbury zur Strecke bringen sollten. Sie arbeiteten unprofessionell, und auch die Schadensbegrenzung, nachdem die Sache mehr oder weniger aufgeflogen war, wirkte ausgesprochen laienhaft. Trotz der vielen Versuche, falsche und verwirrende Spuren zu legen, andere zu beschuldigen und der Justiz sowie der internationalen Öffentlichkeit einen falschen Schuldigen in den Rachen zu werfen, zogen sich die Schlingen um die russischen Agenten, jedenfalls in den Augen einigermaßen neutraler Beobachter, immer nur enger zu. Das wird den Präsidenten im Kreml nicht gefreut haben. Schlimmer jedoch als all das zusammengenommen, schlimmer als jede Stümperhaftigkeit ist für ihn mit Sicherheit der Verrat. Verrat ist der worst case, der in einer von mafiotischem Klientelismus beherrschten Beziehungswelt niemals geduldet werden kann. Deswegen werden Stümper, die sich haben erwischen lassen, gedeckt. Der mutmaßliche Mörder von Litwinenko kann dann einen Sitz im russischen Parlament einnehmen. Den Agenten, die den Giftanschlag auf Skripal so laienhaft ausgeführt haben, wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht viel passiert sein. Aber ein Überläufer wie der Doppelagent Skripal ist für Putin nur eines: »ein Verräter, ein Drecksack, sonst nichts«. Deswegen darf und muss er vernichtet werden.71

(2) Der Agent Es ist nicht einfach die gewöhnliche Loyalität eines mafiotischen Klientelismus, mit der wir es bei Putin zu tun haben, sondern es geht um die Loyalität eines Mannes, der aus dem Geheimdienst kommt und sogar an der Spitze des Geheimdienstes FSB stand. Das bedeutet zum einen, dass Putin mit den Methoden, Arbeitsweisen und Zielen der mächtigsten und gefürchtetsten staatlichen Institution unterhalb der kommunistischen Partei sehr gut vertraut war und sich mit ihnen identifizierte, und zum zweiten, dass er zu dem Zeitpunkt, als er Ministerpräsident und Staatspräsident wurde, zu denen gehörte, die am besten darüber informiert waren, was in Russland vorging und wer aufgrund welcher Vergehen und Ungereimtheiten in seiner Biographie für welche Aufgaben verwendungsfähig oder angreifbar und erpressbar war und von wem Gefügigkeit und Loyalität erwartet werden konnten. 71

Zitiert in SZ, 5.10.2018.

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Es kann keinen Zweifel geben, und Putin hat daraus auch seinen Biographen gegenüber kein Geheimnis gemacht, dass die Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB sein Traumberuf gewesen ist, und es liegt auf der Hand, dass die mindestens 15 Jahre beim Geheimdienst ihn zutiefst geprägt haben. Der Eintritt in den KGB im Alter von 23 Jahren war bei Putin nicht das Ergebnis einer Verlegenheit, weil er sonst nichts mit sich anzufangen wusste oder weil es sich aufgrund von Zufällen so und nicht anders ergeben hatte. Nein, Putin war als Jugendlicher vom Geheimdienst förmlich fasziniert, und der Beruf des Agenten war für ihn die Erfüllung eines Traums. Was er den Journalisten in den biographischen Interviews anvertraute, klingt viel zu nüchtern und wie ein Understatement: »Noch bevor ich die Schule abgeschlossen hatte, wollte ich bereits beim Geheimdienst arbeiten, obwohl das für mich unerreichbar schien, wie ein Flug zum Mars. Ich habe Bücher gelesen und Filme angesehen. Bald wollte ich zur See fahren, dann wieder zum Geheimdienst. Und ganz zu Anfang wollte ich Pilot werden. … Aber dann taten Actionfilme das ihre.« In Wirklichkeit »schwärmte« er geradezu für die Agententätigkeit, wie er im Interview mit Oliver Stone bestätigte. Und als Schuljunge hatte er auf seinem Schreibtisch in der Datscha seiner Familie ein Porträt von Jan Bersin stehen, der den Ehrentitel Held der Revolution trug und der Gründer des sowjetischen Militärgeheimdienstes war.72 In den Beurteilungen seiner Ausbilder und Vorgesetzten beim KGB galt Putin als nicht besonders zugänglich, aber als energisch, flexibel und mutig und als jemand, der sich rasch auf andere Menschen einstellen konnte, – eine Eigenschaft, die nach seiner eigenen späteren Aussagen als Schlüsselqualifikation für einen KGB-Offizier zu gelten hat. Die ersten Jahre der Ausbildung und der Tätigkeit im Geheimdienst waren für Putin offenbar ausgesprochen öde und langweilig. Immerhin wurde er im Jahre 1984 für ein Jahr auf die Spionageschule nach Moskau geschickt. Dort attestierte ihm ein Ausbilder ein nicht wirklich gut ausgebildetes Risikobewusstsein, er neigte also offenbar dazu, Risiken zu unterschätzen und zu übersehen. Im Alter von 35 Jahren wurde er zu einem Auslandseinsatz nach Dresden abkommandiert. Aber auch dort handelte es sich für Putin um einen eher langweiligen Job, in dem es darum ging, Informationen über den feindlichen Westen zu beschaffen und die

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Das Putin-Zitat in Geworkjan et al., Gespräche, S. 32f; für Bücher und Filme über den KGB »schwärmte ich wirklich«: Stone, Putin-Interviews, S. 18; das Bersin-Porträt in der Datscha: siehe Gessen, Mann, S. 71.

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Militärstützpunkte der USA in Westdeutschland auszukundschaften. Eigentlich verbrachte er seine Zeit wohl hauptsächlich damit, Zeitungsausschnitte zu sammeln. Putin war einer Einheit für illegale Informationsbeschaffung zugeteilt, die mit falschen Identitäten und gefälschten Dokumenten arbeitete. Das klingt aufregender als es war. Die Mitarbeiter sollten unter den ausländischen Studenten in der DDR künftige Geheimagenten rekrutieren, und sie hatten dabei offenbar nur mäßigen Erfolg.73 Was reizte Putin so sehr an der Tätigkeit für den Geheimdienst, dass er trotz der ernüchternden Realerfahrungen nach allem, was wir wissen, niemals auf die Idee kam, sich nach einer anderen Tätigkeit umzusehen? Seinen Biographen gegenüber machte er eine bemerkenswerte und aufschlussreiche Aussage: »Am meisten erstaunte mich, wie man mit relativ wenig Kraft, das heißt mit der Kraft eines einzigen Menschen, das erreichen konnte, was ganze Heere nicht vermochten. Ein einziger Geheimagent entschied über das Schicksal von Tausenden. So habe ich es mir jedenfalls vorgestellt.« Was ihn faszinierte, war die Aussicht, aus der Unsichtbarkeit eine unvergleichlich große Macht entfalten zu können, – und zwar als Einzelperson, ohne also auf andere angewiesen zu sein. Das bewegt sich nahe an einer Allmachtsphantasie: Als Agent bewirke ich mehr als eine ganze Armee. Die Aussage erklärt zugleich, warum Putin nicht den Weg durch die Armee suchte und ging, und insofern ist die Behauptung, er sei »ein Kind« des »alltäglichen Militarismus« im Russland der Nachkriegszeit, eher irreführend. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass Putin vom Einsatz militärischer Gewalt nichts hielt. Aber er nahm am sowjetischen Krieg in Afghanistan zwischen 1979 und 1989 nicht teil, und während des ersten Tschetschenienkriegs (1994-1996) war er bereits ein hoher Verwaltungsmitarbeiter im Kreml und hatte in dieser Funktion mit dem Krieg kaum etwas zu tun. Den zweiten Tschetschenienkrieg, der 1999 begann, leitete er dann allerdings schon selber in die Wege, und er inszenierte sich bei dieser Gelegenheit als entschlossener Kriegsherr. Dennoch ist es ihm offenbar noch lieber, aus der Sicherheit des Schweigens und der Unsichtbarkeit heraus zu operieren, also nicht den offenen Kampf zu suchen, sondern den verdeckten, bei dem er von vornherein und schon aufgrund der Ausgangsposition im Vorteil ist. Der Unterschied zwischen militärischem Einsatz und Geheimdienstoperationen besteht immer darin, dass der Krieg, jedenfalls in seiner klassischen Ausprägung, eine prinzipiell symmetrische Situation ist. 73

Siehe Gessen, Mann, S. 81; zu Putins Zeit in Dresden siehe Stent, Putins Russland, S. 121f.

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Jeder Soldat einer Armee, und sei sie noch so überlegen, geht das Risiko ein, dass er selber getötet wird. Die Situation, die die Tätigkeit von Geheimdienstagenten charakterisiert, ist dagegen immer asymmetrisch. Dass Putin davon nachhaltig beeindruckt ist, kann gut erklären, warum ihn die erfolgreiche Aggression gegen die Ukraine so sehr euphorisierte. Sowohl der Überfall auf die Krim als auch der unerklärte Krieg in der Ostukraine folgten nicht dem Modell des konventionellen Krieges, sondern trugen, wie wir gesehen haben, die typischen Züge eines Überraschungscoups und einer Geheimdienstoperation. Und sogar die Verfassungsreform, die Mitte Januar 2020 angekündigt wurde, nahm die Züge eines Coups an, der das eigene Land überrumpelte und die internationale Öffentlichkeit überraschte. Am 10. März schlug die Abgeordnete Valentina Tereškova, die 1963 als sowjetische Kosmonautin die erste Frau im Weltall gewesen war und danach verschiedene politische Posten bekleidete, in der Duma bei den Beratungen über mögliche Änderungen im letzten Moment eine Regelung vor, die Putins bisherige Amtszeiten »auf null stellen« und ihm damit die Möglichkeit eröffnen sollte, bis zum Jahre 2036 im Präsidentenamt zu bleiben.74 Putin hat in anderen Äußerungen weitere Auskünfte darüber gegeben, was seiner Ansicht nach an der Agententätigkeit das Besondere und Wichtige ist und was ein Agent lernen, tun und können muss. Der Cellist Sergei Roldugin, angeblich einer seiner besten Freunde, berichtet, dass er Putin einmal fragte, wer er ist, was er kann und was es für ihn bedeutet, beim Geheimdienst zu arbeiten. Putin habe mit nur einem Satz geantwortet: »Ich bin Spezialist für den Umgang mit Menschen.« In einem Interview vom Juni 2001, in dem er von einem amerikanischen Journalisten danach gefragt wurde, worin die nützlichste Erfahrung aus seiner Zeit im KGB bestehe, sagte Putin: »(The) main thing is the experience of working with people. … To be able to work with people effectively, you have to be able to establish a dialogue, contact; you have to activate everything that is the best in your partner. You need to make that person an ally; you have to make that person feel that you and he have something that unites you, that you have common goals. That is the skill, if you will, which is the most important. … (The second skill is) the ability to work with a large amount of information. That’s a skill that is cultivated in

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Das Putin-Zitat in Geworkjan et al., Gespräche, S. 33; Putin als Kind des alltäglichen Militarismus: siehe Eltchaninoff, Putins Kopf, S. 20; zum Procedere der Verfassungsänderung siehe Lipman, Coronavirus, S. 89f; die Verfassungsänderung als Coup: siehe SZ, 10.3.2020.

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the analytical services and special services, the skill of selecting what is most important from a huge flood of information, of processing information and being able to use it.«75 Die Äußerungen klingen, als wenn hier ein Coach, Moderator oder Therapeut seine Tätigkeit beschreiben würde. Um Putin zu verstehen, müssen wir seine Sätze natürlich auf die Tätigkeit des Geheimdienstes beziehen, um die es hier geht. »Mit Leuten kommunizieren,« »mit Leuten arbeiten«, hat, wie Hill und Gaddy zeigen, im Geheimdienst-Jargon normalerweise zwei Bedeutungen. Zum einen ist es die euphemistische Umschreibung für die Überwachung der Bevölkerung und den Versuch, die Gefühle, Meinungen und Haltungen der gesamten Gesellschaft zu kontrollieren, Herde von Unzufriedenheit auszutrocknen und gegen aufkeimenden Protest hart durchzugreifen. Das war schon die Aufgabenbestimmung, als Zar Nikolaus I. als Reaktion auf den Aufstand der Dekabristen 1825 die sog. Dritte Abteilung als geheime Staatspolizei eingerichtet und die Leitung dem Armeegeneral Alexander von Benckendorff anvertraut hat. Zum zweiten zielt die Aussage auf die Anwerbung neuer Agenten, mit der Geheimdienstler immer beschäftigt sind. Um gezielt neue Leute für ihre Dienste zu gewinnen oder sie mit Drohungen und Erpressungen zur Mitarbeit zu nötigen, brauchen sie ein möglichst genaues Bild ihrer Zielobjekte, ein genaues Bild ihrer Stärken, Schwächen und Verletzbarkeiten.76 Hinzu kommt in Putins Beschreibung der Umgang mit Informationen. Was die Sammlung von Informationen, das Anlegen von Dossiers und Aktenvermerken angeht, so war das im vordigitalen Zeitalter in weiten Teilen eine unspektakuläre Tätigkeit, bei der Zeitungsausschnitte gesammelt und gehortet werden und kein Mensch weiß, ob sie überhaupt irgendwann einmal zu irgendwas nutze sein können. Aber sobald es daran geht, gezielt Informationen zur Diskreditierung von Personen und Institutionen zum Einsatz zu

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Der »Spezialist für den Umgang mit Menschen«: Geworkjan et al., Gespräche, S. 55; die Äußerung im englischen Interview zitiert nach Hill/Gaddy, Mr. Putin, S. 183. Siehe zum Vergleich die Beschreibung, die Lucas, Deception, S. 125, gibt: »Successful spies tend to be good at dealing with people – unobtrusively, imaginatively and persuasively. They could easily be executive coaches, psychotherapists, salesmen, confidence tricksters or (scraping the barrel) journalists. Their job is to extract information and consent by concocting and administering the right cocktail of pressure, ideology, flattery and money.« Siehe Hill/Gaddy, Mr. Putin, S. 185; Zar Nikolaus und die Geheimdienste: Nolte, Geschichte Russlands, S. 130; Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 750.

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bringen, sieht die Sache dann schon auch wieder anders aus. Da verwandelt sich der Geheimdienstler in jenen mächtigen Agenten, von dem Putin so sehr fasziniert ist. Er kann unendlich viel bewirken, mehr als eine ganze Armee, – und zwar nicht mit physischer Gewalt, sondern mit dem Rohstoff Information und Desinformation, die dann, wie die russische Militärdoktrin festhält, in geschickter Kombination mit dem Einsatz herkömmlicher militärischer Mittel sogar im Feld der internationalen Beziehungen herausragende Erfolge erzielen kann. Es ist eine naheliegende Frage, warum Putin, der ja nicht nur als Jugendlicher vom KGB fasziniert war, sondern auch als Präsident noch voller Befriedigung und Bewunderung über die spezifischen Qualitäten des Agentenberufs spricht, überhaupt in den Bereich der Politik gewechselt ist. Mehr Macht als der Geheimdienst-Agent, der in den Augen Putins als Einzelner so viel bewirken kann, ist eigentlich nicht vorstellbar. Nach sehr langer Anlaufzeit war ja die Karriere von Putin auch noch ordentlich in Schwung gekommen, und er war als Chef des FSB zu einem der mächtigsten Männer Russlands geworden. Allerdings ist es doch auch so, dass formal gesehen der Geheimdienst in der Hierarchie der Institutionen eine nachrangige Position einnimmt. Er kontrolliert und überwacht, er sammelt eine Unmenge an Informationen, aber am Ende müssen sie doch an übergeordnete Instanzen weiter gereicht werden, entweder an die Partei, wie zu Zeiten der Sowjetunion, oder an die Regierungen und den Präsidenten. Die Entscheidungen darüber, was getan werden soll und getan werden muss, trifft normalerweise nicht der Geheimdienst, sondern eine andere übergeordnete politische Instanz. Und von diesen Entscheidungen ist der Geheimdienst dann abhängig, auf sie ist er angewiesen. Wir dürfen sicher sein, dass Putin diese Abhängigkeit ganz und gar nicht gefallen hat, zumal es so war, dass die politischen Amtsinhaber in seinen Augen an den wirklich wichtigen Punkten und Schlüsselfragen schlicht und ergreifend die falschen Entscheidungen getroffen, dass sie versagt haben und unfähig waren. Er wird auf sie herabgesehen und sie wegen ihrer Feigheit und ihrer Ohnmacht verachtet haben, der sie sich wehrlos ergaben oder in die sie sich durch viele Fehler selber erst hineinmanövrierten. Sie waren es, die die geopolitische Katastrophe der kampflosen Preisgabe des sowjetischen Imperiums zu verantworten hatten und Russland in die internationale Bedeutungslosigkeit absinken ließen. Die Erfahrung der eigenen Abhängigkeit, das Urteil, dass die politischen Amtsinhaber ihr Metier nicht verstehen, dass sie falsche Entscheidungen treffen, kurz: das Versagen der politischen Klasse wird in der Schilderung sichtbar, die Putin von der Situation gibt, als De-

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monstranten 1989 das Stasi-Gebäude in Dresden besetzten und sich auch vor der in der Nähe gelegenen KGB-Villa, in der Putin seinen Arbeitsplatz hatte, versammelten. Putin brauchte dringend Hilfe, er rief das sowjetische Militärkommando in Dresden an und bat um Verstärkung zum Schutz des Gebäudes. Der diensthabende Offizier aber teilte ihm mit: »Ohne Erlaubnis aus Moskau können wir nicht eingreifen. Und Moskau schweigt.« Diese Formulierung ging Putin nicht mehr aus dem Kopf, und 12 Jahre später fiel sie ihm sofort ein, als er nach seinen Erinnerungen an die Zeit in Dresden gefragt wurde: »Aber dieses ›Moskau schweigt‹. Ich hatte damals das Gefühl, als ob das Land nicht mehr existierte. Mir war klar geworden, dass auch die Sowjetunion krankte. Und zwar an einer tödlichen, unheilbaren Krankheit: der Paralyse. Der Paralyse der Macht.« Man spürt die emotionale Kränkung, man spürt das Gefühl, allein gelassen zu werden, das Putin in dieser Situation ergriffen hat. Putins Freund Roldugin erinnerte sich, dass Putin nach seiner Rückkehr aus Dresden nach Moskau einmal sagte: »Das kann man doch nicht machen! Wie ist das nur möglich!? Ich kann mich ja irren, aber wie können die sich irren, die wir für die allergrößten Profis hielten?« In diesen Sätzen drückt sich zwar auch die kindliche Erwartungshaltung aus, dass die Vorgesetzten wie die eigenen Eltern immer alles richtig machen sollen. Aber sie signalisieren damit doch auch sehr deutlich die weit reichende Enttäuschung über die Entscheidungsträger in der eigenen Organisation und vor allem in den politischen Entscheidungszentralen.77 Vielleicht gibt es aber bei Putin auch noch ein zweites Motiv für den Wechsel in die Politik. So sehr die Tätigkeit im Geheimdienst und schon gar an seiner Spitze auch den Wunsch der Machtausübung befriedigt, stößt er dort doch auch zugleich auf eine Grenze. Wer über eine solche Fülle an Macht verfügt, dass er als einzelne Person so viele andere zu etwas bringen kann, was sie von sich aus niemals wollen, der möchte doch vielleicht auch, dass er in dieser mächtigen Position gesehen und wahrgenommen wird, dass sich die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf ihn richten. Die Verborgenheit garantiert einerseits eine besonders intensive Erfahrung der Macht über andere, andererseits markiert sie insofern eine Grenze, als man dafür keine öffentliche Anerkennung und Bewunderung erfährt. Nach außen tritt man nicht groß

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Die Putin-Zitate in Geworkjan et al., Gespräche, S. 93f; das Roldugin-Zitat ebda., S. 97; zur Demonstration vor der KGB-Villa in Dresden und Putins Verhalten: Myers, Putin, S. 67ff.

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in Erscheinung, sondern ist eine durchschnittliche graue Maus, in Wirklichkeit aber ist man doch ein Mensch von erheblicher Bedeutung und im Besitz unvermuteter Macht. Man wird dafür nicht öffentlich bewundert, es merkt einfach keiner, und dass es keiner merkt, ist geradezu die Bedingung dieser Tätigkeit und dieser Macht. Aber dass niemand sieht, welche Stärke und welche Kraft hinter der Gewöhnlichkeit stecken, die der Agent nach außen zeigt, ist auf die Dauer einfach unbefriedigend. Auch der Agent will bewundert werden. Er will sich zeigen und der Welt demonstrieren, wer er ist und was er kann. Die Grenze, die in der Struktur der Agententätigkeit liegt, kann man überschreiten, wenn man in das Terrain des Politischen wechselt. Geheimdienstler sind konstitutionell Männer ohne Gesicht. Gesichtslosigkeit ist der Segen, aber doch auch ein Fluch, sie ist das Reizvolle und zugleich das Unbefriedigende, jedenfalls für Leute, denen ein Schuss Eitelkeit nicht abgeht. Nur zu gut kann man sich vorstellen, dass auch der Agent ohne Gesicht gerne ein Gesicht hätte, erkennbar wird und den Beifall und die Bewunderung bekommt, von der er überzeugt ist, dass er sie verdient.78 Geheimdienste, der Name sagt es, arbeiten im Verborgenen. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Tarnung, nicht das Erscheinen mit dem eigenen Profil. Politisches Handeln dagegen findet immer im Lichte der Öffentlichkeit statt. Das gilt auch für Regime, die eine eigenständige öffentliche Debatte und Kritik für Teufelszeug halten, denn auch sie können nicht darauf verzichten, dass die politischen Akteure und ihre Entscheidungen sichtbar und bekannt werden. Am liebsten ist ihnen das sicherlich in der Pose von Sonnenkönigen. Aber auch für die vermeintlich absoluten Herrscher besteht die Kehrseite der Öffentlichkeit darin, dass zumindest einige Personen im Publikum erkennen könnten, dass sie in Wirklichkeit nackt sind. Niemand, der im öffentlichen Raum in Erscheinung tritt, ist in der Lage, seine Erscheinung bis in alle Einzelheiten hinein zu kontrollieren und die Wirkungen zu berechnen, die er hat. Das wird schon daran deutlich, dass man niemals wissen kann, mit welchen Fragen und Situationen man hier konfrontiert wird. Die zwei Seiten der Öffentlichkeit, einerseits dass sie zum Profil des Präsidentenamtes unvermeidlich hinzugehört, andererseits dass sie unkalkulierbar und bedrohlich ist, sind bei Putin gut erkennbar. Der Drang und das Vergnügen, in der Öffentlichkeit zu stehen und sich in ihr zu präsentieren, ist 78

»Glamour of secrecy« (Lucas, Deception, S. 124) gibt es nur in Spionageromanen und -filmen, für Arbeit und Leben der Agenten ist »discretion« (ebda., S. 130) das oberste Gebot. Ausführlich zu »spycraft: fact and fiction« siehe ebda., S. 123ff.

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ihm sicherlich keine Herzensangelegenheit, die ihm Freude bereitet und Befriedigung verschafft. Nichts aus seiner Kindheit und Jugend und aus seinem Berufsleben spricht dafür, dass er den öffentlichen Auftritt suchte, in ihm jemals zu großer Form aufgelaufen ist und ihn genossen hätte. Für jemanden, der mit Fleisch und Blut ein Mann des Geheimdienstes ist, ist das kein Wunder. Im öffentlichen Raum ist man nicht mehr derjenige, der nicht gesehen wird und selber alles sieht, wie der Agent, sondern man wird seinerseits von anderen gesehen, wahrgenommen und beurteilt, ohne sie zu sehen. Das ist immer mit einer Art von Kontrollverlust verbunden. Deswegen ist der öffentliche Raum für Putin nichts, was er sonderlich liebt. Der Kreml hat alsbald dafür gesorgt, dass der Präsident bei seinen öffentlichen Auftritten vor Überraschungen sicher ist, indem schon das Arrangement stets so eingerichtet wurde, dass er das Sagen hat und das Risiko, dass man ihn in Verlegenheit bringt, minimiert ist. Das ist sicherlich auch eine Reaktion auf Erfahrungen besonders aus der Anfangszeit der politischen Karriere Putins in Moskau. Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass er in vergleichsweise freien öffentlichen Situationen die Kontrolle verlor, dass er den angemessenen Ton nicht traf, dass er zynischer und vulgärer wurde als gut war. Das war, wie erwähnt, der Fall beim Untergang der Kursk, als ihn öffentlich geäußerte Kritik und Vorhaltungen herausforderten und aus der Fassung brachten. Es war auch der Fall, als er kurz nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 auf einer Pressekonferenz nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Dresden aufgefordert wurde, das Verbrechen zu kommentieren und dabei heillos überfordert wirkte. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, dass Politkowskaja mit ihrem Urteil über Putin nicht hinter dem Berg gehalten hatte. Der Präsident war in ihren Augen »ein typischer Oberstleutnant des sowjetischen KGB mit der beschränkten, provinziellen Weltanschauung eines Oberstleutnants und dem unansehnlichen Aussehen eines Oberstleutnants, der es nicht einmal zum Oberst geschafft hat, mit den Manieren eines Offiziers der sowjetischen Geheimpolizei, der es gewöhnt ist, seinen Mitmenschen nachzuspionieren, mit seiner Rachsucht (zur feierlichen Amtseinsetzung wurde kein einziger Politiker der Opposition und keine einzige Partei, die nicht mit Putin im Gleichschritt marschiert, eingeladen), ein kleiner Beamter wie Gogols Akaki Akakijewitsch aus der Novelle ›Der Mantel‹, dieser Mensch also wird wieder den Thron besteigen. Den großen russischen Thron.« Wie auch immer, – die Konsequenz aus diesen Erfahrungen, in denen der Präsident alles andere als souverän auftrat, war, dass er fortan derartigen

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Situationen so weit wie möglich aus dem Weg gehen und an ihrer Stelle lieber nur noch ausgeklügelte Pressekonferenzen und Bürgergespräche abhalten sollte, wohl vorbereitete Veranstaltungen mit ausgesuchten Fragen und ausgesuchten Fragern. Da ist sichergestellt, dass der Präsident der Überlegene ist, und er braucht nicht die Angst zu haben, dass er aufs Glatteis geführt wird. Am liebsten hat er zweifellos jene öffentlichen Auftritte, die wie die bis ins Detail festgelegten Inszenierungen eines Alleinherrschers wirken.79 Putin betrachtet seine politische Tätigkeit im Kreml von Anfang an als Fortsetzung der Arbeit der Geheimdienste mit anderen Mitteln. Er versteht und macht Politik nach dem Muster des Agenten. Geheimdienste sind für den Präsidenten nicht nur der zentrale Pfeiler der Macht, auf die er sich stützt, sondern sie liefern ihm zugleich das Modell und das Muster für sein Verständnis des Lebens, der Welt und der Politik. Ohnedies hat sich Putin niemals aus politischen oder moralischen Gründen von den Praktiken des KGB distanziert. Eine derartige Distanzierung dürfte in seinen Augen ganz und gar unangebracht sein. Aber immerhin war der KGB die Institution, die in der Sowjetunion den größten Schrecken verbreitete. Putin behauptete seinen Biographen gegenüber, dass er im Jahre 1990 aus dem KGB ausgetreten ist, in der Zeit also, als er begann, für den Bürgermeister Anatoli Sobtschak in St. Petersburg tätig zu sein. Aber es ist unklar, ob die Auskunft Putins nicht auch nur wieder eine Lüge war. Wahrscheinlicher nämlich ist, dass der KGB in den 1990er Jahren seine umfassenden verdeckten Operationen einfach fortsetzte und prominente Demokraten, etwa Boris Jelzin, rund um die Uhr ausspionierte und Putin als Spitzel im Leningrader Stadtsowjet platziert wurde. Offenkundig hat Putin niemals, auch nicht in den ersten zehn Jahren nach dem Ende der Sowjetunion, an die Demokratie geglaubt, sondern war im Grunde immer ein Anti-Demokrat. Nach dem Ende der Sowjetunion dauerte seine Loyalität gegenüber dem KGB jedenfalls unvermindert an. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er sich jemals über die Prinzipien liberaler politischer Ordnung und der untergeordneten Rolle, die Geheimdienste darin einnehmen, Gedanken gemacht hätte.80 Es ist gerade umgekehrt: Bis heute sieht Putin die Welt des politischen Handelns aus der Sicht eines Agenten. Man erkennt das vor allem daran, dass Verschwörungsannahmen, zu denen Geheimdienste immer und von Natur

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Politkowskaja, Putins Russland, S. 290. Siehe Gessen, Mann, S. 127ff.

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aus neigen, mittlerweile von Seiten des Kremls die beliebteste Erklärung aller Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten, denen er sich gegenüber sieht, geworden sind. Bei allen Dingen, die gegen den Strich laufen, gibt es immer einen Drahtzieher im Hintergrund, den man namhaft machen kann und der die Schuld dafür trägt. Er sitzt vor allem im Ausland und dort wiederum besonders in den USA. Die CIA hat die Maidanproteste in Kiew angezettelt, die Außenministerin Hillary Clinton hat die russischen Demonstranten im Winter 2011/2012 bezahlt und gesteuert, die zivilgesellschaftlichen Organisationen leben von westlichen Geldgebern und werden von ihnen zum Zwecke der Destabilisierung Russlands eingesetzt. So sieht die Welt aus, wie sie sich Geheimdienstler vorstellen, auch wenn sie zu Politikern geworden sind.

(3) Aggression, Gewalt, Paranoia Aber Putin ist nicht nur der Untergebene und Vorgesetzte, der alles über Loyalität und Kontrolle regelt, er ist nicht nur der kühl und aus dem Verborgenen heraus operierende Agent. Er hat zugleich Züge von Impulsivität, Gier und Aggressivität, er ist unbeherrscht, wütend und ungeduldig. Diese Züge haben ihn nicht nur in seiner Kindheit und Jugend stark geprägt, sondern er will sich auch noch als erwachsener Mann seinen drei Biographen gegenüber im Jahre 2000 unbedingt und voller Stolz als der Schläger präsentieren, der er war. Er beharrt darauf, dass er seinerzeit völlig zu Recht wegen seiner Schlägernatur nicht bei den Jungen Pionieren aufgenommen wurde. Die Biographen fragen: »Man hat Sie erst in der sechsten Klasse bei den Pionieren aufgenommen? War bis dahin wirklich alles so schlecht?« Antwort: »Natürlich war ich ein Rowdy und kein Pionier.« Frage: »Jetzt kokettieren Sie aber.« Antwort: »Sie beleidigen mich. Ich war wirklich ein Gassenjunge.« Der sachliche Gehalt der Aussage wird von seinen Kindheits- und Jugendfreunden bestätigt. Die vielen Schlägereien und Faustkämpfe sind das, was sie von dem jungen Wladimir in Erinnerung haben. Obwohl er eher eine schwache körperliche Konstitution hatte und von schmaler Statur war, ließ er sich nichts gefallen und schlug sofort zu. Er erscheint als jemand und er will als jemand erscheinen, der ständig reizbar und wütend war, der sofort gewalttätig wurde und seinen Kontrahenten die Augen auskratzte, wenn sie ihm in die Quere kamen und die Dinge nicht so liefen, wie er es wollte.81 81

Die Interviewpassage: Geworkjan et al., Gespräche, S. 27; zur Einschätzung siehe Gessen, Mann, S. 68.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Es ist ganz offenbar so, dass Putin sich seinen Biographen gegenüber gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft als Herrscher mit eiserner Faust präsentieren wollte und dieses Bild mit dem Bild eines jugendlichen Schlägers und Hooligans authentifizierte, der niemals einem Kampf aus dem Weg ging. Der sprachliche und physische Habitus eines zwar geläuterten, aber immer doch auch noch halbstarken Schlägers geht bestimmend in die Ikonographie ein, die die Imagemaker des Kremls ihm Anfang der 2000er Jahre auf den Leib schneiderten und zu seinem Markenzeichen machten. Nur zu gern präsentiert er sich als ungehobelter Rowdy, der ohne Blick fürs Risiko sofort zurückschlägt und sadistischen Fantasien anhängt. Er pflegt die Sprache der Gosse und hat seine reine Freude daran, roh und vulgär zu sein. Die beste Kostprobe davon ist die Äußerung, mit der er die Anschläge auf die Wohnhäuser im August/September 1999 kommentierte und die ich oben schon zitiert habe. Das Halbstarke und Unflätige, ein ungehobeltes Männlichkeitsgebaren und eine aggressive Frauenverachtung, das Rohe und Vulgäre gehen eine ungute Mischung ein. Putin hat einmal die Vergewaltigungsvorwürfe gegen seinen israelischen Kollegen Mosche Katzav mit dem charakteristischen, höhnischen Spruch abgetan: »Was für ein starker Kerl! Zehn Frauen hat er vergewaltigt. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er hat uns alle überrascht. Wir beneiden ihn alle.«82 Das Bild wird aber erst vollständig, wenn wir hinzunehmen, dass Putin schon als Kind und Jugendlicher gegen diese rohe und gewalttätige Seite seines Wesens ankämpfte. Er zwang seine brachialen Impulse unter die Vorherrschaft von Disziplin und Kalkül. Er lernte es zu warten, unterwarf sich einer strengen Ordnung und bereitete sich zielstrebig darauf vor, die Gelegenheiten, die sich ihm bieten würden, zu nutzen. Im Alter von elf Jahren begann er mit dem täglichen Training in verschiedenen Kampfsportarten, zuerst Boxen, dann Sambo, ein Akronym für »Selbstverteidigung ohne Waffen«, eine russische Kampfkunst, eine Mischung aus Judo, Karate und Ringen. Die Zielstrebigkeit und der lange Atem, mit dem er an seinen Zielen festhielt, zeigt sich vor allem daran, wie unbeirrt er seinen Traum vom Eintritt in den Geheimdienst verfolgte. Im Alter von 16 Jahren, ein Jahr vor seinem Abschluss an der Sekundarschule, suchte Putin die KGB-Zentrale in Leningrad auf, um sich zu bewerben. Er wurde mit der Information abgespeist, dass es am besten sei, erstmal an die Universität zu gehen und ein Jurastudium zu absolvieren. Statt

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Das Zitat über Katzav nach Schumatsky, Untertan, S. 52.

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zu resignieren, verfolgte er von jetzt an konsequent das Ziel, einen Studienplatz an der Universität in Leningrad zu erhalten, obwohl seine Chancen dort angenommen zu werden angesichts seiner bescheidenen schulischen Leistungen nicht groß waren. Sein Abschluss an der Sekundarschule fiel trotz aller Anstrengungen dann tatsächlich eher mittelmäßig aus, aber gegen alle Erwartungen schaffte er die universitäre Aufnahmeprüfung und konnte das Studium beginnen. Aus der weiteren Biographie als Student und im KGB sind keine gewalttätigen Ausfälle und Disziplinlosigkeiten bekannt. Es scheint so zu sein, dass Putin es schaffte, die in jungen Jahren unbändige aggressive und gewalttätige Energie zu zähmen und zu verwandeln. Die Verwandlung vollzog sich auf zwei Ebenen. Zum einen trat die Neigung zur Gewalt in den Dienst eines höheren Zieles, wurde also dadurch legitimiert, dass sie für die Erhaltung und Stabilisierung des sowjetischen Staates nützlich ist. Zum andern durchlief sie aber auch in sich selbst eine Metamorphose. Potentielle Gegner und Feinde wurden nicht mehr mit physischer Gewalt niedergeschlagen, sondern einer raffinierten und kalkulierten Form von Kontrolle unterworfen, sie wurden nicht mehr mit den Fäusten, sondern mithilfe von Intrigen, Verleumdungen, Machenschaften und Finten aus dem Weg geräumt. Putin war nun nicht mehr der halbstarke Schläger, der sich nicht beherrschen und sich nicht kontrollieren kann, sondern der undurchschaubare, kalte und emotionslose Agent, der seine operativen Objekte in Sicherheit wiegt und sie doch in Wirklichkeit ganz und gar in seiner Gewalt hat. Die betont maskuline Bilderwelt, die seit dem Jahre 2000 um die Person des Präsidenten entstanden ist, greift sowohl die rohen und aggressiven Züge wie die strenge und asketische Disziplin Putins auf und setzt sie effektvoll in Szene. Er jagt Tiger oder harpuniert Wale, er ist der Inbegriff eines starken Naturburschen, sportlich, ausdauernd, er taucht in Gewässern nach verborgenen Schätzen, er steuert selber den Sattelschlepper zur Einweihung der neuen Brücke zur Halbinsel Krim im Mai 2018, er setzt sich gegen alle Widrigkeiten und Untiefen entschlossen zur Wehr, er nimmt es mit allen Gefahren auf. Putin auf Fotos mit nacktem Oberkörper im Urlaub in der nördlichen Region Tywa, Putin beim Auftauchen aus dem Schwarzen Meer mit zwei Vasen aus dem 6. Jahrhundert (die allerdings, wie später herauskam, dort zuvor von Archäologen deponiert worden waren), Putin beim Aktiv-Urlaub, Putin als Wanderer in Sibirien, Putin beim Eishockey, – mehr aus der Bilderwelt eines starken und disziplinierten Mannes geht kaum.

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

Aber es spricht viel dafür, dass dem Agenten und Präsidenten die Verwandlung der gewalttätigen Aggression in Eigen- und Fremdkontrolle nicht durchgängig gelungen ist. Die Verwandlung ist damit verbunden, dass die gewaltbereite Aggression nicht mehr roh und unvermittelt, sondern nur noch als legitimer Akt der Selbstverteidigung gegen drohende reale Gefahren in Erscheinung treten soll und treten darf. Das ist sicher ein großer Schritt der Zivilisierung: Gewalt auszuüben ist nicht mehr der quasi natürliche und selbstverständliche Modus des Lebens, sondern wird einem rationalen Kalkül und der Realitätsprüfung unterworfen. Sie soll nur noch im Fall der persönlichen Selbstverteidigung zum Einsatz kommen, und was für jeden Einzelnen gilt, gilt natürlich auch für den Staat, für den der Geheimdienstmann Putin an der mächtigsten Stelle, die er zu vergeben hat, tätig ist. Dass unter diesem zivilisierenden Schritt möglicherweise aber doch noch ein Stück der alten aggressiven und gewaltbereiten Wut unkontrolliert weiterhin am Werke ist, wird daran deutlich, dass in eigentümlicher Weise die Position der Defensive und der Verteidigung universalisiert wird. Man sieht sich nun auch dort noch angegriffen und in seiner Existenz in Frage gestellt, wo es gar nicht der Fall ist. Wer sich unentwegt von Feinden umstellt sieht und dafür die Wirklichkeit extrem einseitig und verzerrt wahrnimmt, setzt sich dem Verdacht und Eindruck aus, dass für ihn die Position des Angegriffenen nicht so sehr ein Schrecken ist, sondern ein Bedürfnis. Wenn man von aller Welt angegriffen und bedroht wird, darf und muss man sich zum Zwecke seiner Selbsterhaltung und Selbstverteidigung auch mit allen Mitteln wehren. Der Bedrohte braucht die Bedrohung, damit er aus der Position der Verteidigung heraus die Aggression einsetzen kann, die ihm zur zweiten Natur geworden ist. Das ist der tiefere Grund für die Inflation an Verfolgungsphantasien, die heute in Russland zu beobachten ist und die ganz offenbar auch von Putin selber Besitz ergriffen hat. Kurz gesagt, hat sich hier die Aggression mit einer Paranoia ausgestattet, die es ihr ermöglicht, weiterhin eine dominante und bestimmende Position einzunehmen. Putin erscheint dann wieder als der kleine, rachsüchtige Mann, der es nicht ertragen kann, wenn andere mehr oder weniger prominente und wichtige Leute sich gegen ihn stellen oder auch nur eine andere Position vertreten als er und andere politische Präferenzen haben. Er misstraut allen, wittert überall Verrat und beginnt mit Rachefeldzügen. Die Logik, die hier am Werke ist, funktioniert so: Die Vorstellung, verfolgt zu werden, angegriffen zu werden, im Fokus der Verfolgung der anderen zu stehen, die ihr Mütchen an einem kühlen wollen, ist in Wirklichkeit nicht der Alptraum, der den Präsi-

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denten und sein Land nicht schlafen lässt, sondern sein Wunsch und sein Bedürfnis. Warum? Weil sie die Möglichkeit bietet, zurückzuschlagen, aggressiv zu sein, zur Gewalt zu greifen und Stärke zu demonstrieren. Ohnmacht wird zum Bedürfnis, weil sie den alten Wunsch nach Aggression weckt und aufruft, der sich auf die Notwendigkeit von Gegenwehr und Gewaltausübung berufen kann und sich damit tarnt. In der Gewaltausübung, die sich in Gegenwehr maskiert, kann ich die Stärke und Gewaltbereitschaft wieder zeigen, die mich auszeichnet, kann zeigen, was ich kann und wer ich bin. Das ist ja das, was der Präsident seinem Land als das große Ziel verordnet hat: Stärke zu zeigen und die verlorene Größe wieder zu erringen. Wirkliche Größe wäre etwas anderes. Sie bestünde darin, diesen Dualismus von Schwäche und Stärke, von Demütigung und Aggression, von Auf-den-Knien-Winseln und Zuschlagen zu überwinden und einen dritten Ort jenseits dieser Gegensätze in den Blick zu nehmen. Dazu ist Putin gleichsam konstitutionell nicht in der Lage. Größe ist für ihn identisch damit, Angst zu verbreiten. Im Blick auf Putin und das Problem der Lüge ist eine interessante Frage, ob die Behauptung, verfolgt zu werden und von Feinden umstellt zu sein, eine bewusste Tarnung und ein Deckmantel ist, die den Zweck verfolgen, im Schatten dieser Behauptungen umso klarer und legitimierter seinen Obsessionen zu folgen und sowohl nach innen als auch nach außen eine aggressive Politik zu verfolgen. Wenn der Präsident davon nicht selber wirklich überzeugt ist, ist es eine Lüge, die dann die Funktion einer Rationalisierung hätte. Weil diese Weltsicht so tief in seiner Person verankert ist, liegt aber die Vermutung nahe, dass er selber tatsächlich glaubt, was er sagt. Im Blick auf das politische Handeln, und nur darauf kommt es hier an, sind die Folgen aber in beiden Fällen desaströs. Und zwar nicht deswegen, weil die Praxis des Lügens und Täuschens scheiterte, sondern weil sie nur allzu gut funktioniert und erfolgreich ist. Im Innern erscheint die Herrschaft Putins als ganz und gar alternativlos. Im März 2020 wurde, wie schon erwähnt, in einer großen Inszenierung eine Verfassungsänderung auf den Weg gebracht, die Putin die Möglichkeit gibt, auch über das bislang vorgesehene Ende seiner Präsidentschaft im Jahre 2024 hinaus für zwei weitere Amtszeiten die höchste Position im Staat zu bekleiden. International hat das Land auf so vielen Konfliktschauplätzen der Welt seine Hände im Spiel, dass eigentlich niemand mehr auf die Idee kommen kann zu sagen, Russland müsse sich wieder von den Knien erheben und endlich wieder zeigen, wer es ist. Das Problem besteht vielmehr darin, dass nirgendwo erkennbar ist, wozu der wieder errungene Status einer Großmacht eigentlich nützen und dienen soll. Der Kreml scheint sich

III.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Putins Russland

immer noch und mit Vorliebe an die Vorstellung zu klammern, dass Russland grundsätzlich und immer Spielball der anderen ist und sich dagegen zur Wehr setzen muss. Damit betrügt das Land sich selbst, und es ist damit zwar nicht das erste Opfer der Lügen und Täuschungen, mit denen es operiert, aber doch das zweite Opfer. Es ist der betrogene Betrüger, es wird zum Opfer seiner eigenen Täuschungsmanöver, es täuscht und belügt nicht nur die anderen, sondern immer auch sich selbst. Es ist der Bumerang, der bei jeder Lüge droht: Nicht nur der Adressat geht der Täuschung auf den Leim, sondern der Lügner wird selber zum Opfer seiner eigenen Lügen und glaubt ihnen. Da es dem Kreml gar nicht um angemessene und vernünftige Antworten auf reale Bedrohungen und Verluste geht, sondern darum, Auslöser für das Agieren der eigenen Gewaltbereitschaft und Großmachtwünsche zu identifizieren, sind die Reaktionen auf Herausforderungen immer die gleichen: Unterjochen, Bestrafen, Schikanieren, weitere Repressionen. Es ist wie ein Automatismus, der keinen Spielraum für die Suche nach anderen und realitätsgerechteren Lösungen lässt. Deswegen geht der Weg in das Unterdrücken und Abwürgen aller alternativen und oppositionellen Positionen weiter. Sobald der Präsident mit seinen Ansprüchen und Vorstellungen irgendwo in Schwierigkeiten gerät, greift er zu den in seinen Augen einzig möglichen Mitteln: Angst machen, Schrecken verbreiten, mit Gewalt drohen und Gewalt anwenden. Putin ist davon überzeugt, dass die Suche nach Verhandlungslösungen in Konflikten prinzipiell nichts bringt und allenfalls die zweitbeste Lösung ist. Der Präsident ist tatsächlich von seinem ganzen Naturell her so unfrei, autokratisch und unfähig zu jeder Kommunikation, wie Anna Politkowskaja ihn am Ende seiner ersten Amtsperiode im Jahre 2004 beschrieben hat: »Putin hatte bereits mehrmals öffentlich gezeigt, dass er grundsätzlich nicht begreift, was eine Diskussion ist, schon gar nicht, wenn ein Rangniederer mit einem Ranghöheren über Politik zu debattieren versucht. So etwas, meint Putin, darf es nicht geben. Und falls ein Rangniederer sich das mit ihm als Staatsoberhaupt erlaubt, dann ist er ein Feind. Putin verhält sich so, nicht weil er von Geburt an ein Tyrann und Despot wäre, sondern weil er dazu erzogen wurde. Dieses Verhalten hat man ihm beim KGB eingetrichtert, dessen Drillsystem er für ideal hält, was er schon mehrmals öffentlich bekundet hat. Wenn daher jemand nicht mit ihm einer Meinung ist, verlangt Putin kategorisch, mit ›dieser Hysterie‹ aufzuhören. Das erklärt auch, warum er sich im Wahlkampf nicht der Diskussion stellte. Da ist er überhaupt nicht in seinem Element, er ist nicht fähig zu debattieren, er kann keinen Dialog führen.

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Seine Sache ist der Monolog, und zwar nach militärischem Muster: Solange du ein Untergebener bist, halt den Mund. Wirst du zum Vorgesetzten, bist du derjenige, der Monologe hält, und alle Untergebenen müssen so tun, als wären sie mit allem einverstanden.«83 Das Problem im Innern des Landes ist, dass es keine Institutionen gibt, die dem Präsidenten Paroli bieten könnten, dass es keine freie Öffentlichkeit gibt, die in der Lage wäre, die Ideen- und Konzeptionslosigkeit und die immensen Kosten des Großmachtwahns zum Thema zu machen, die Realität in den Blick zu nehmen und den Lügen und Täuschungsmanövern, mit denen das Land andere und sich selber unentwegt hinters Licht führt, ein Ende zu machen. Bislang hat Russland unter Putin den Weg ins postsowjetische 21. Jahrhundert nur mit Lügen und (Selbst-)Täuschungen gesucht. Damit aber bleibt das Land im Bann der Vergangenheit und im Bann von Illusionen. Warum die Täuschungen und Selbsttäuschungen auf so fruchtbaren Boden fallen, werde ich im letzten Kapitel ausführlicher erörtern.

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Politkowskaja, Putins Russland, S. 298.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

Tiefengeschichte: Trump der Lügner Trump ist ein notorischer Lügner, ein Lügenbaron. Nicht einmal seine Anhänger in aller Welt und seine US-amerikanischen Wähler dürften in Frage stellen, dass ihr Anführer und Held immer wieder das Mittel der Lüge auffährt, um seine Gegner in Schach zu halten, auszubooten und in die Irre zu führen. Die Kritiker finden die wilde Lügenpraxis, mit der Trump das Land und die Welt überzieht, schwindelerregend und abenteuerlich, und sie möchten am liebsten gar nicht mehr hinsehen und hinhören. Anhänger wie Gegner verlieren angesichts der täglichen Lügenkaskaden, die der Präsident verbreitet, leicht den Überblick darüber, welche Lüge jetzt grade gilt und welche neu aufgetischt wurde. Sicher ist bei alldem nur, dass es unumstößliche Tatsachen in der Welt von Donald Trump nicht gibt. Wie bei Putin ist es aber auch im Fall von Trump so, dass er keine fest stehende Ideologie vertritt, die hinter den tausend kleinen und gar nicht so kleinen Lügen steht, die Verkennung der Tatsachen diktiert und die Dinge so zurechtbiegt, dass sie in eine apriori gegebene Weltsicht hineinpassen. Trump ist kein Ideologe, er lügt munter drauflos und gibt seinen Lügen nicht einmal mehr den Anschein von Plausibilität. Sie sind so verwirrend, chaotisch und launisch, wie seine ganze Welt mit Phantasmagorien, Fiktionen und Wunschphantasien bevölkert ist. In der Vergangenheit schlüpfte er wiederholt in die Haut nicht existierender Personen und versorgte die Presse inkognito unter dem Namen John Baron bzw. Barron oder John Miller mit allerlei Insider-Informationen. Auch diesen Trick, am Telefon seine Identität zu verleugnen und sich unter einem anderen Namen zu melden, hatte er sich bei seinem Vater aneignen können. Nach seinem Einzug ins Weiße Haus entfacht er ständig aufs Neue einen wahren

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Wirbel von Behauptungen, bei denen die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge und zwischen Wunsch und Wirklichkeit keine Rolle mehr spielt.1 Wenn man sich die Lügenpraxis genauer ansieht, erkennt man aber, dass sie durchaus einem Muster folgt. Man kann in ihr eine Art »Tiefengeschichte« erkennen, die klarmacht, welche Logik der chaotischen Lügenpraxis Trumps zugrunde liegt. Nach Arlie Russel Hochschild enthalten Tiefengeschichten »die gefühlte Sicht der Dinge, die Emotionen in Symbolsprache erzählen«. Eine Tiefengeschichte »blendet das Urteilsvermögen und die Tatsachen aus und erzählt, wie Dinge sich anfühlen«. Sie bringt das »subjektive Prisma« zum Ausdruck, durch das jemand auf die Welt sieht. Ich erzähle die Tiefengeschichte von Donald Trump, indem ich seine Perspektive einnehme und die Welt so zu sehen versuche, wie er sie sieht und erlebt, ohne Rücksicht auf Kohärenz, Tatsachen, Widersprüche oder Unsinn. Ich will seine Weltsicht erkunden und sichtbar machen. Dazu wechsle ich immer wieder in die IchForm und übernehme damit auch sprachlich seinen Blick auf die Welt. Mit Beurteilungen halte ich mich zunächst weitgehend zurück und will erst einmal nur verstehen und nachzeichnen, welche Grundüberzeugungen Trump antreiben und hinter seinem tagtäglichen Tun und Lassen stehen.2 Die Tiefengeschichte von Donald Trump besteht aus sechs im Grunde sehr einfachen Kapiteln und Lektionen, die sich in Kurzform folgendermaßen zusammenfassen lassen: (1) Am Anfang von allem steht immer und überall mein Interesse. (2) Meine Lügen sind überhaupt keine Lügen, sondern »wahrheitsgemäße Übertreibungen«. (3) Das einzige, was wirklich zählt für mich, ist die Gegenwart, nicht was ich gestern gesagt habe und was daraus in Zukunft entsteht. (4) Ich habe natürlich viele Feinde, und die bekämpfe ich mit allen Mitteln. (5) Mein Erfolg gibt mir Recht, und ich habe unglaublich großen Erfolg. (6) Ich verlange absolute Loyalität von meinen Leuten, und der beste Test für ihre Loyalität ist, dass sie meine Lügen übernehmen und zu ihren eigenen Lügen machen. (1) Das erste Kapitel beinhaltet die Behauptung, dass die oberste Maxime allen Handelns in der Verfolgung und Durchsetzung der eigenen Interessen besteht. Meine Interessen sind das Alpha und Omega, und sie stehen über allem, also auch über der Wahrheit. Was meinen Interessen nicht dient, kann nicht wahr sein. Mein Interesse steht fest, – wie ich es durchsetze, darin bin 1 2

Inkognito am Telefon: siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 174ff; die gleiche Praxis des Vaters: D’Antonio, Wahrheit, S. 37. Hochschild, Fremd, S. 187.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

ich durchaus flexibel, das ist eine Kunst, in der alles erlaubt ist und auch Täuschungen, Übertreibungen, Drohungen und Lügen zum Einsatz kommen müssen. Das Interesse selber lügt dagegen nicht: Interest will not lie. Dieses Prinzip, mit dem die ehrwürdige schottische Schule der Moralphilosophie im 18. Jahrhundert die Durchsetzung des ökonomischen Liberalismus rechtfertigte, versteht Trump in seinem Sinne so: Für meine Interessen macht es keinen Unterschied, ob ich sie mithilfe der Lüge oder mithilfe der Wahrheit durchsetze. Wenn die Wahrheit mir dabei hilft, ist das schön und gut. Wenn die Lüge mir dabei hilft, ist das aber auch schön und gut. Es hängt alles einfach davon ab, was mir grad nützlich ist oder nicht. Das Interesse, das mich leitet, ist immer das gleiche: Ich will gute Geschäfte machen. Ich habe es dabei allerdings immer mit Leuten zu tun, die auch ihre Interessen haben und die zudem ganz unterschiedliche Typen sind. Um mich gegen sie durchzusetzen, muss ich mich auf diese jeweiligen Partner und Gegner einstellen und ihnen stets die Informationen, Wahrheiten und Geschichten auftischen, mit denen ich sie in die Position der Unterlegenen bringen und selber die Oberhand gewinnen und behalten kann. Da kann es dann auch immer wieder passieren, dass es zu ganz unterschiedlichen Wahrheiten kommt. Was wahr ist und gilt, richtet sich einfach danach, was mir nutzt. Es geht nicht um die Korrektheit meiner Angaben, sondern darum, dass ich im Lebenskampf, der nun einmal ist, wie er ist, den Sieg davontrage.3 Trump machte zur Höhe seines Vermögens immer wieder erstaunlich voneinander abweichende Aussagen, bei denen nur sicher ist, dass sie nicht alle stimmen können. Manchmal unterschieden sich die Beträge innerhalb weniger Tage um Millionen Dollar. Wie Michael Cohen, sein früherer Anwalt und Mann fürs Grobe, in einer Anhörung vor dem Kongress ausführte, taxierte Trump eine seiner Immobilien auf einen Wert von 291 Millionen Dollar und bei einer anderen Gelegenheit sollte dieselbe Immobilie dann Trump zufolge nur noch einen Wert von 25 bis 50 Millionen Dollar haben. In einem Gerichtsverfahren äußerte Trump allen Ernstes, dass die Höhe seines Vermögens eine Sache des Gefühls sei und manchmal höher und manchmal niedriger ausfalle. Und deswegen »fühlte es sich für mich immer so an«, wie er sagte, dass mir 50 Prozent Anteile an einem Immobilienprojekt gehörten, obwohl es in Wirklichkeit nur 30 Prozent waren. In einem anderen Fall vermutete er, dass ihm eine Immobilie zu 100 Prozent gehörte, obwohl er in Wirklichkeit daran überhaupt keine Anteile besaß und dem Hotel nur seinen Namen überlassen 3

Zu »interest will not lie« siehe Hirschman, Leidenschaften, S. 45.

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und die Aufgabe übernommen hatte, es gegen ein Honorar zu verwalten. In einem Gerichtsentscheid wurde förmlich festgehalten, dass Trump einerseits den Wert seiner Immobilien häufig übertreibt und andererseits bestehende Schulden, Verbindlichkeiten und Belastungen zu niedrig angibt oder sogar ganz verheimlicht hat. Ähnlich hielt er es bei der Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse gegenüber dem Kongress, als er noch Präsidentschaftskandidat war. Trump gab eine 92-seitige Erklärung ab, in der er eine seiner bekanntesten Immobilien mit mehr als 50 Millionen Dollar bewertete. Gegenüber den Steuerbehörden bezifferte er den Wert derselben Immobilie jedoch nur mit rund einer Million Dollar. Immer wieder jonglierte Trump mit Zahlen über die Höhe seines Vermögens, und bis heute weiß niemand, wie hoch oder niedrig es wirklich ist.4 Die Logik ist klar: Trump hat die Angaben über die Höhe seines Vermögens je nach Situation und Ziel immer wieder verändert, wie es gerade von Vorteil ist. Den Steuerbehörden gegenüber war das Vermögen vergleichsweise klein. Wenn es darum ging, Kredite von Banken zu erhalten, war es viel größer. Im einen Fall ging es darum, Steuern zu sparen, im andern Fall musste die eigene Bonität unter Beweis gestellt und die Banken sollten dazu gebracht werden, Kredite zu gewähren. Weder die eine noch die andere Angabe entsprach (vermutlich) der Wahrheit, die Größe des Vermögens wurde je nach Opportunität untertrieben oder übertrieben. Falsche Angaben zu machen, ist allerdings in beiden Fällen gesetzlich verboten und gilt als Straftat. Kein Wunder, dass Trump um die Steuererklärungen gerne ein Geheimnis macht und sich gegen die Gepflogenheiten, an die sich seine Vorgänger im Weißen Haus gehalten haben, zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident geweigert hat, seine Steuererklärungen offenzulegen. Auch an anderen Stellen bediente sich Trump dieser Strategie. Beim Abriss des Bonwit-Teller-Geschäftshauses in der Fifth Avenue in New York hatte er zugesagt, einen wertvollen Wandfries des Art-déco-Bauwerks zu erhalten und einem Museum zu schenken. Er hielt sich dann aber doch nicht an dieses Versprechen, und als das ruchbar wurde, rechtfertigte er sich damit, dass die Erhaltung viel zu teuer geworden wäre und sich nicht gelohnt hätte. Die

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Zur Aussage von Cohen siehe SPON, 14.3.2019; zur Höhe des Vermögens als Frage des Gefühls siehe D’Antonio, Wahrheit, S. 421; zum Gerichtsentscheid siehe Johnston, Akte Trump, S. 125; zur Höhe des Vermögens gegenüber dem Kongress und den Steuerbehörden siehe ebenfalls Johnston, ebda., S. 128; zu Trumps Jonglieren mit den Zahlen siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 416ff.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

Kosten für die Erhaltung bezifferte er zunächst auf 32.000 Dollar. Kurze Zeit später gab er an, dass es ihn 500.000 Dollar gekostet hätte, den Wandfries zu erhalten. Bei dieser Gelegenheit bediente sich Trump des Tricks, dass er sich bei der Benennung der Summe von 32.000 Dollar als John Baron bzw. Barron ausgegeben hatte, so dass offiziell nur die Angabe der 500.000 Dollar von ihm stammte und er sich selbst gar nicht widersprochen hatte.5 In die gleiche Kategorie des Lügens gehört die Praxis, Geschäftspartner mit falschen Informationen und Versprechungen auf seine Seite zu ziehen. In Verhandlungen sagte Trump dem einen potentiellen Partner, den er zu gewinnen hoffte, dass ein dritter Beteiligter bereits in das Geschäft eingestiegen sei und dem dritten Partner gegenüber erzählte er es einfach umgekehrt. In den meisten Fällen kam er damit irgendwie durch. Wenn es aufflog, setzte er darauf, dass die Banken oder politische Akteure und staatliche Stellen schon so tief beteiligt waren, dass sie keinen Rückzieher mehr machen konnten. Im Frühjahr 1990 war Trump pleite und konnte seine Rechnungen nicht mehr bezahlen. Seine Rettung kam von der Regierung des Bundesstaats New Jersey, die ihn für zu groß befand, um ihn in den Bankrott gehen zu lassen. So blieb es ihm erspart, die Quittung dafür zu bezahlen, dass er sich mit seinen Ausgaben fahrlässig übernommen hatte. Er wäre sonst in einem Meer von Schulden untergegangen.6 Dass man zur Durchsetzung seiner Interessen und Vorteile auch zu Mafia-Methoden greift und mit Mafia-Kontakten operiert, versteht sich dann schon beinahe von selbst. Beim Abriss des Bonwit Teller ließ er hunderte illegaler polnischer Einwanderer arbeiten und beutete sie gnadenlos aus. Im Frühjahr und Sommer 1980 schufteten sie 12 bis 18 Stunden am Tag sieben Tage die Woche mit Vorschlaghämmern und Schweißbrennern, aber ohne Helme. Oft schliefen sie einfach auf dem Boden der Baustelle. Sie verdienten weniger als fünf Dollar die Stunde und wurden manchmal in Form von Wodka bezahlt. Vielen wurde aber der Lohn auch ganz vorbehalten, und es wurde ihnen mit Abschiebung gedroht, wenn sie sich beschwerten. Um den Bau des Trump Towers möglichst schnell voranzutreiben, ließ Trump sich mit einem mafiakontrollierten Kartell aus Gewerkschaften und Subunternehmern ein.7 5 6

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Siehe D’Antonio, Wahrheit, S. 245; Kranish/Fisher, Trump, S. 130ff. Falsche Informationen und Versprechungen nach Brinkbäumer, Nachruf, S. 84; Kranish/Fisher, Trump, S. 114; zur Zahlungsunfähigkeit 1990 siehe Johnston, Akte Trump, S. 140f; Kranish/Fisher, Trump, S. 271ff. Zum Abriss des Bonwit Teller siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 132; zum Bau des Trump Tower ebda., S. 134f.

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(2) Das zweite Kapitel der Tiefenerzählung zeigt, dass die Lügen in Trumps Augen eigentlich gar keine Lügen sind, sondern aus Übertreibungen und »Superlativen« bestehen, in denen ich, Trump, gerne »schwelge«. In meinem Buch »The Art of the Deal« habe ich offen gesagt, dass darin der »Schlüssel zum Erfolg meines Werbekonzepts« besteht. »I call it truthful hyperbole.« Wer Publicity bekommen und sich durchsetzen will, muss übertreiben. In der Übertreibung liegt schließlich die Wahrheit. Manchmal muss ich die Wahrheit so sehr übertreiben, dass die anderen sie tatsächlich für Lügen halten. Aber das ist dann doch ihr Problem und nicht meins. Was ich mache, ist Werbung und Reklame, und wenn man beachtet werden will, muss man sehr laut und sehr schrill auftreten. Das ist nicht verboten und auch nicht unmoralisch. »Ich will bewusst die Fantasie anregen. Auch Menschen, die nicht den Drang verspüren, in höheren Dimensionen zu schweben, lassen sich von denen mitreißen, die dazu neigen. Deshalb kann ein wenig ›Hypertrophie‹ nie schaden. Wir Menschen möchten ja gerne glauben, dass wir das Größte, das Beste und das Spektakulärste besitzen.« In diesem Sinne dienen die einfachsten Manipulationen der Durchsetzung meiner Interessen. Trump behauptete wiederholt, dass sein Tower in New York 68 statt wie in Wahrheit 58 Stockwerke hat. Und auch an vielen anderen Stellen ist ihm die wahrheitsgemäße Übertreibung zur zweiten Natur geworden, ob es um die Zahl und den Preis der verkauften Apartments geht, um die Verluste der Spieler in seinen Casinos oder darum, aus den billigen Betonkonstruktionen seiner Häuser hochwertige Bauten zu machen. In die Kategorie der wahrheitsgemäßen Übertreibungen gehören auch die immer wiederkehrenden Superlative, mit denen Trump sich selber charakterisiert und anpreist. (Einige Beispiele dafür zitiere ich unten im fünften Kapitel dieser Tiefengeschichte.)8 (3) Die Botschaft des dritten Kapitels der Tiefengeschichte lautet: Wenn man auf so vielen Geschäftsfeldern tätig ist, wenn man aus Reklamegründen so viele Geschichten und Märchen erfinden und erzählen muss, wenn man von Ereignissen berichtet, die nie stattgefunden haben, sich für andere Personen ausgibt und unter erfundenem Namen weitere Geschichten und Märchen erzählt, dann ist doch klar, dass man sich immer mal wieder verheddert und den Überblick verliert. Aber man darf das niemals als Schwäche verstehen, sondern muss daraus eine Stärke machen. Ohnedies ist klar: Niemals 8

Die Zitate stammen aus Trump, So werden Sie erfolgreich, S. 70; die Beispiele nach Johnston, Trump im Amt, S. 101 und Kranish/Fischer, Trump, S. 130.

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gibt man etwas zu, niemals schämt man sich für etwas, niemals bedauert man etwas, niemals sagt man, dass man sich geirrt haben könnte. Was zählt, ist immer nur die Gegenwart, nicht das, was gestern oder vorgestern war. Das bedeutet auch, dass mich meine Aussagen von gestern heute nicht mehr interessieren. Zum Job der erfolgreichen Leute gehört, dass sie sich täglich neu erfinden, und das heißt natürlich, dass ich mich durch das, was gestern war, heute nicht in irgendeiner Form binden, festlegen und begrenzen lasse. Wenn meine Aussagen von gestern heute nicht mehr von Nutzen sind, bestreite ich sie einfach. Auch die Leute in meiner Umgebung haben mit Sicherheit ein kurzes Gedächtnis und vergessen ganz schnell, was ich in der Vergangenheit gesagt und getan habe. Sicher: Es gibt Leute, die einem das dann vorhalten, sie machen Videoclips von Sachen, die lange vorbei sind, und behaupten, ich hätte mir widersprochen, und es gibt Comedy-Sendungen und Late-NightFormate, die sich dann darüber lustig machen. Aber das ist doch nur ein Spiel, und die machen das auch nur, weil sie damit ihrerseits Geld verdienen und berühmt werden wollen. Eigentlich sind sie Parasiten, weil ich ihnen das Material für ihre Shows liefere, mit denen sie dann möglicherweise auch noch reich werden. Aber am Ende und alles in allem ist es sogar noch gut für mich, weil es dazu führt, dass ich in aller Munde bin und meine Berühmtheit weiter steigt. Manchmal aber meinen sie das offenbar auch ernst und halten mir unentwegt vor die Nase, dass ich mir angeblich widerspreche. Zum Beispiel habe ich gesagt, dass ich mich frühzeitig gegen den Irakkrieg ausgesprochen habe. Und jetzt weisen sie mir nach, dass ich 2002, kurz vor der Invasion, gegenüber dem Radiomoderator Howard Stern auf dessen Frage, ob ich den Irakkrieg unterstütze, geantwortet habe: Ja, ich glaube schon. Oder sie behaupten, ich hätte gesagt, dass die Mexikaner die Mauer an der Grenze selber mit einem Scheck bezahlen werden. Es ist aber so, wie ich es im Januar 2019 gegenüber Journalisten gesagt habe: »Natürlich habe ich das nie gesagt, ich meinte nie, dass sie einen Scheck schreiben würden. Ich habe gesagt, sie werden dafür zahlen. Das werden sie.« Und nun behauptet die Washington Post, dass sie 212 Gegenbeweise gefunden hat. Und sie beruft sich darauf, dass ich zum Beispiel in einem Interview mit dem US-Fernsehsender Fox News 2016 im Vorwahlkampf gesagt habe: »Sie werden für die Mauer zahlen. Werden sie. Vielleicht werden sie uns sogar einen Scheck schreiben.«9 9

Trump zum Irakkrieg: siehe Brinkbäumer, Nachruf, S. 133; Mexiko bezahlt die Mauer: siehe SPON, 11.1.2019.

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Aber das ist doch kleinlich und nachtragend. Wer mir diese Sachen vorhält, zeigt damit nur, dass er gegen mich ist, dass er eigene Interessen vertritt und ihm meine Interessen und Vorhaben nicht gefallen. Diese Leute können eigentlich nur von ihren negativen Gefühlen getrieben werden, sie sind neidisch, böswillig, feindselig und rachsüchtig. Sie wollen sich dafür rächen, dass sie immer nur Verlierer sind. Die Welt ist wirklich voll von rachsüchtigen Leuten, die einem schaden wollen. Man muss ihnen zuvorkommen, man muss sie hart und entschlossen bekämpfen, man muss ihnen Angst einjagen, ihnen drohen und sie fertig machen. (4) Das vierte Kapitel der Tiefengeschichte beinhaltet die unbezweifelbare Tatsache und Wahrheit, dass es Leute gibt, die mich nicht mögen, mich nicht verstehen und mich unentwegt beschuldigen. Damit muss ich rechnen und das weiß ich. Das sind meine Feinde. Und natürlich können sich auch meine Freunde und Partner von heute in meine Feinde von morgen verwandeln. Deswegen ist es gut, immer ein gehöriges Maß von Paranoia an den Tag zu legen, auch den eigenen Mitarbeitern gegenüber. Im Grunde wollen die Leute nicht, dass es mir gut geht, sondern sie wollen, dass es mir schlecht geht, und sie wollen mein Geld. Die Welt ist voller Feinde, die mich kleinkriegen wollen. Die Feinde muss man mit aller Härte bekämpfen. Dazu ist jedes Mittel recht: Man kann sie irreführen, man kann allerlei Ablenkungsmanöver gegen sie starten, man attackiert sie gnadenlos in der Presse, überzieht sie mit Anklagen und bringt sie vor Gericht. Nur einen Rückzieher darf man niemals machen. Im Grunde ist das dann wie ein Krieg, und das Ziel ist, den Gegner zu vernichten. Das ist das, was mir am meisten Spaß macht, das mache ich am liebsten und das kann ich am besten. Im Krieg gibt es natürlich auch keine Tatsachen. Es gibt nur Freunde oder Feinde. Tatsachen, die gegen mich sprechen, sind die Lügen meiner Feinde. Und wenn ich den Krieg gewonnen habe, und ich gewinne immer, gilt ohnedies nur noch das, was ich behaupte und sonst nichts. Der größte Teil der Erfolgsgrundsätze, die Trump in seinen Büchern und öffentlichen Auftritten zum Besten gibt, lässt sich hier gut zuordnen. Zum Beispiel, dass man immer »ziemlich hart zurückschlagen« muss, wenn man angegriffen wird, und dass es immer am besten ist, wenn man »keinem traut«. Ferner: Niemals etwas zugeben, immer angreifen. Man muss immer in die Offensive gehen, man muss alles, was im Wege steht, als Schwindel charakterisieren und beiseite räumen. Und natürlich ist es reiner Schwindel, wenn meine Gegner behaupten, mein Erfolg bei der Präsidentschaftswahl hätte etwas mit der Einflussnahme Russlands zu tun. Einer der wichtigsten

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

Erfolgsgrundsätze ist, dass man immer sein Heil in der Offensive sucht. Trump verteidigt seine Unwahrheiten mit Verve und Vehemenz. Er lebt und praktiziert die Devise, nach der man niemals etwas zugeben darf und man immer attackieren muss. Man muss drohen und vor allem mit Klagen drohen. Trump und seine Unternehmen reichten in 30 Jahren mehr als 1.900 Klagen ein und waren in 1.450 Fällen selbst angeklagt. Manchmal waren die Gerichtsverfahren die Folge verschachtelter Businessdeals. Bei anderen ging es darum, diejenigen zu verklagen, die seinen Reichtum oder auch nur seinen Geschmack in Frage stellten. So überzog er einen Kritiker der Chicago Tribune, der es gewagt hatte, die Haupthalle des Trump Tower als kitschige Einkaufsmeile mit greller Extravaganz zu charakterisieren, mit einer Verleumdungsklage über 500 Millionen Dollar. Seitdem Trump Präsident ist, hält er es ähnlich. Die Deutsche Bank wird verklagt, wenn sie sich dazu bereit erklärt, Unterlagen über ihre Geschäfte mit Trump herauszugeben. Wenn der Vorsitzende des Ausschusses für Aufsicht und Reformen im Repräsentantenhaus Elijah Cummings Dokumente einsehen möchte, wird er von Trump verklagt.10 Das Prinzip, immer den Spieß herumzudrehen und gegen den Kritiker, Ankläger und Gegner zu richten, hat Trump bei Roy Cohn kennen und bewundern gelernt. Cohn galt als »Gangster-Advokat und politischer Mann fürs Grobe«, der schon als Berater des berüchtigten Kommunistenhetzers Joseph McCarthy tätig gewesen und wie sein Chef zu äußerst fragwürdiger Bekanntheit gekommen war. Über Cohn liefen die Verbindungen Trumps zur Mafia, ihn engagierte Trump, als es seit Ende 1973 darum ging, die Klage abzuwehren, dass seine Familie bei der Vermietung der 14.000 Wohnungen in ihren Häusern in Brooklyn weiße Mieter systematisch bevorzugte und damit gegen den Fair Housing Act von 1968 verstieß. Cohn und Trump konterten die Klage wegen rassischer Diskriminierung im Gegenzug mit einer Klage gegen den Staat New York auf 100 Millionen Dollar als Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Rufschädigung. Zwei Jahre später kam es zu einem Vergleich, aber Vater und Sohn Trump hielten sich offenbar nicht daran, und so ging der Konflikt mit dem Justizministerium mehrere Jahre lang weiter. Trump war von Cohns »Fahr-zur-Hölle« Strategie regelrecht fasziniert und nahm sie begeistert in das Repertoire seiner Lebensregeln auf: »Wenn man angegriffen wird, 10

Die Zitate aus Trump, So werden Sie erfolgreich, S. 70, 144; zu den Klagen als Unternehmer siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 425; die Klagen als Präsident nach Brinkbäumer, Hofjurist.

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muss man mit aller Kraft zurückschlagen.« Cohn wurde nun zu Trumps ständigem Begleiter, er wurde sein wichtigster Anwalt, sein inoffizieller Berater und der Mittelsmann, der ihm Kontakte zu den Mächtigen New Yorks verschaffte. Vom Berufungsgericht des New York State Supreme Court wurde Cohn später der Unehrlichkeit, des Betrugs, der Täuschung und der Unterstellung beschuldigt, und 1986, kurz vor seinem Tod, wurde Cohn aus der Anwaltskammer ausgeschlossen.11 Die Lektion, immer im »klassischen Roy-Cohn-Stil« zu reagieren, lernte Trump überaus gründlich. Immer wenn er unter Druck gerät, heißt die Antwort, mit erhöhtem Einsatz und erhöhter Aggression zu antworten. Die Devise ist: »Ich gehe zum Angriff über, wenn man mir an den Kragen will, selbst wenn die ganze Sache teuer, verfahren und höchst riskant ist.« Für Trump gelten diese Devisen auch nach seinem Wechsel in die Politik und der Übernahme des Präsidentenamtes. Bei einer Wahlkampfveranstaltung Ende 2015 sagte er: »Das sollte auch für unser Land gelten. Jeder, der sich uns in den Weg stellt, ab in den Mülleimer.« Die Nachforschungen des Sonderermittlers Mueller sind eine »Hexenjagd«, die kritischen Medien sind eine »Lügenpresse«, die Gegenkandidatin Clinton ist die »betrügerische Hillary«, der politische Gegner ist in jedem Fall korrupt. Das gesamte Repertoire der Gegenattacken kam auch zum Einsatz, als die Demokratische Partei im Repräsentantenhaus im September 2019 damit begann, die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens zu prüfen, nachdem das Telefonat des Präsidenten mit seinem ukrainischen Amtskollegen Selenski bekannt geworden war, in dem Trump die ukrainische Seite dazu drängte, gegen den Sohn des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden zu ermitteln. Auch das war wieder eine »Hexenjagd«, die von der »Lügenpresse« nach Kräften unterstützt wurde.12 Eine weitere gute Erfolgsstrategie besteht darin, die Leute und die Öffentlichkeit mit möglichst vielen Informationen und Behauptungen zu fluten. 11

12

Cohn als Gangster-Advokat: siehe D’Antonio, Wahrheit, S. 39; zur Biographie Cohns siehe ebda., S. 61f; zur Klage gegen Trump und zum Gerichtsverfahren siehe Kranish/ Fisher, Trump, S. 84ff; die Lebensregel ebda., S. 98; C ohns Bedeutung für Trump: ebda., S. 105; die Beschuldigungen des New York State Supreme Court und der Ausschluss aus der Anwaltskammer: ebda., S. 164; siehe ferner zu Cohn: Winkler, Albtraum. Roy-Cohn-Stil: Kranish/Fisher, Trump, S. 484; die Devise: Trump, So werden Sie erfolgreich, S. 252; die Wahlkampfveranstaltung Ende 2015: Kranish/Fisher, Trump, S. 19; zu Vorermittlungen und Verlauf des Impeachments siehe die Aufstellung in NZZ-Online unter https://www.nzz.ch/international/impeachment-trump-und-dieukraine-affaere-die-hintergruende-ld.1511124

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Trump kann es überhaupt nicht gut haben, wenn Journalisten seine Lebensgeschichte recherchieren und ihn nach Dingen aus seiner Vergangenheit fragen, die sein glänzendes Marketing-Image trüben könnten. Dann ist die Inflationierung der Lügen sehr hilfreich, das kostet nichts und ist effektiv. Man kann die Anzahl der Unwahrheiten so weit steigern, dass bei den Gegnern die Neigung sinkt, sich damit zu beschäftigen, und es wird dann ja auch immer aufwendiger, nachzuweisen, dass ich wirklich gelogen habe. Das ist ein altes Gesetz, eine alte Wahrheit: Lügen in die Welt zu setzen, ist vergleichsweise einfach und wohlfeil. Mir nachzuweisen, dass ich tatsächlich gelogen habe, ist dagegen aufwendig und teuer. Wie Churchill einst sagte: »Eine Lüge ist einmal um die halbe Welt, bevor die Wahrheit es auch nur schafft, sich die Hosen anzuziehen.« Das ist natürlich in den Zeiten des Internet noch viel wahrer als zu den Zeiten von Churchill. Also besteht eine gute Strategie darin, die Informationen zu verzerren, mir selbst zu widersprechen und möglichst viele wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Dinge zu behaupten. Damit kann ich die Nachforschungen von Journalisten, Strafverfolgungs- und Aufsichtsbehörden und Anwälten meiner Gegner gut blockieren. Man kann auch Dinge, die eigentlich schon feststanden, immer mal wieder in Frage stellen und so tun, als wenn gar nichts gewesen wäre. Ein gutes Verfahren besteht also darin, so viele alte und neue Behauptungen und Unwahrheiten aufzustellen, dass auch die besten Faktenchecker unter Druck geraten, – und wenn sie mir das eine nachgewiesen haben, bin ich schon längst bei einer anderen Behauptung.13 Ferner kann man eine Lüge, die ruchbar wurde, dadurch aus dem Verkehr nehmen, dass man sie durch eine noch viel spektakulärere Unwahrheit ersetzt. Trump hat fraglos eine Meisterschaft darin entwickelt, schnell das Thema zu wechseln, eine Lüge mit einer weiteren Lüge zu übertreffen und sich selber zu übertrumpfen. Dadurch entsteht ein kaum noch durchschaubares Gewebe von Lügen, Gegenlügen und Steigerungslügen. Es ist ein Wettlauf von irrwitzigen Fiktionen, die in die Welt gesetzt werden, die einander relativieren, voneinander ablenken, sich gegenseitig stützen oder widersprechen, und die nur das Ziel haben und den Effekt erreichen, die Realität in einem Meer von Ungewissheiten aufzulösen. Dabei tut das Unwahrscheinliche der Behauptungen gar nichts zur Sache. Die Lüge über den Geburtsort von Obama, die wahnwitzige Pizzagate-Geschichte über Hillary Clinton, die

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Siehe Johnston, Akte Trump, S. 216; D’Antonio, Wahrheit, S. 245; das Churchill-Zitat nach Bidder, Generation, S. 238.

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Behauptung, dass führende Politiker der Demokraten sich an SatanismusRitualen beteiligten, – je absurder die Behauptungen sind, desto besser.14 Und selbstverständlich kann und muss man auch immer dazu bereit sein, die Gegner niederzumetzeln. Viele Medien und viele einzelne Leute haben sich gegen mich verschworen. Diese Medien verbreiten unentwegt »Fake News«, und sie sind wirklich, was ich immer wieder sage, »die größten Feinde unseres Landes«. Bei fast jeder öffentlichen Rede und in fast jedem Tweet wiederholt Trump die wüsten Attacken gegen die Presse. Nachdem er beispielsweise die Geheimdienste seines Landes ausgiebig diskreditiert und die Presse darüber berichtet hatte, bestand Trump darauf, die Medien hätten seine Aussagen einfach erfunden. Die Journalisten bezeichnete er als »unehrlich«, als »einige der unehrlichsten menschlichen Wesen auf der Welt« und als »total unehrlich«. Die Beschimpfung der Presse bei jeder Kritik an seiner Person und seiner Amtsführung ist so sicher wie sonst nur das Amen in der Kirche.15 Systematisch gesehen ist der springende Punkt dieses vierten Kapitels der Tiefenerzählung, dass die Welt in Freunde und Feinde aufgeteilt ist und dass die Position eines unparteiischen Dritten und Neutralen nicht existiert. Die Annahme, dass es so etwas wie unbezweifelbare Tatsachen gibt, setzt diese neutrale Position des Dritten voraus oder setzt zumindest voraus, dass man sich in einem öffentlichen Meinungs- und Wahrnehmungsaustausch über die Welt, die wir miteinander teilen, verständigen kann. Die Weltsicht von Trump sieht anders aus: Es gibt nur die, die für mich sind, und auf der anderen Seite die, die das nicht sind und die ich deswegen bekämpfen muss. Wer etwas anderes sagt, wer also behauptet, dass es so etwas wie Tatsachen gibt, die für Freunde und Feinde gleichermaßen gelten, der will betrügen, und er hält diese Behauptung auch nur solange aufrecht, wie er von ihr profitiert. Deswegen ist auch klar, dass die Behauptung, Trump habe in absoluten Zahlen weniger Stimmen bekommen als Hillary Clinton, nur auf Lügen beruhen kann. Trump wurde von 62.984.825 US-Amerikanern gewählt, Clinton erhielt fast drei Millionen Stimmen mehr, nämlich 65.863.516 Stimmen. Das kann nach Trump nur das Resultat einer Fälschung sein, obwohl niemand den Nachweis von Wahlmanipulationen erbringen konnte.16

14 15 16

Siehe Snyder, Wege, S. 259ff. Siehe Johnston, Trump im Amt, S. 409. Die Zahlen nach Johnston, Trump im Amt, S. 14; zur Frage der Wahlmanipulation siehe Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 229.

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(5) Das fünfte Kapitel der Tiefengeschichte besteht in der einfachen, aber entscheidenden Tatsache, dass der Erfolg immer im Recht ist und natürlich auch der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge gegenüber der Frage, ob ich erfolgreich bin, ganz unwichtig ist. Das ist das Bauprinzip nicht nur der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft, sondern liegt allem Leben und Handeln überall auf der Welt zugrunde: the winner takes it all. Der Sieger hat immer Recht, der Sieger darf alles. Deswegen muss ich alles daran setzen, erfolgreich zu sein. Das einzige was zählt, ist der Erfolg. Dem Erfolgreichen wird alles verziehen, der Erfolgreiche darf alles. Diese Haltung teilt Trump mit den totalitären Herrschern des 20. Jahrhunderts. Hitler sagte bei einem Treffen mit etwa 50 Befehlshabern des Heeres, der Marine, der Luftwaffe und der SS am 22. August 1939, also am Vorabend des Überfalls auf Polen: »Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.« Wenn man Erfolg hat, fragt kein Mensch mehr danach, wie er zustande kam.17 Das Gute am Erfolg, so wie ich, Trump, ihn verstehe, ist, dass man ihn messen kann, dass es für ihn eine eindeutige Währung gibt. Die Währung des Erfolgs ist Reichtum, also Geld, und Berühmtheit. Wer reich und berühmt ist, für den gelten keine Grenzen. Damit man es zu Reichtum und Ruhm bringen und sich in dieser Liga auf Dauer halten kann, muss man immer skrupellos sein. Trump ist grundsätzlich und buchstäblich zu allem bereit, was sich lohnt. Auch die Berühmtheit ist am Ende vor allem deswegen erstrebenswert, weil sie sich auszahlt und in Geld umgerechnet werden kann. Insofern gilt, was sein Vater von ihm sagte: Donald ist ein wahrer König Midas, was er anfasst, verwandelt sich in Geld. Die eigentliche Wahrheit dieser Sentenz besteht in Trumps Fall aber darin, dass er das, was sich nicht zu Ruhm und zu Geld machen lässt, auch gar nicht erst anfasst. Noch wichtiger als erfolgreich zu sein ist es, als erfolgreich zu erscheinen. Zu diesem Zweck erfindet man am besten eine Marke, die vom Publikum unauflösbar und automatisch mit Erfolg identifiziert wird, ganz unabhängig davon, ob sie es in der Realität wirklich ist oder nicht. Erfolg ist also in erster Linie eine Frage der erfolgreichen Selbstdarstellung und des Image-Making. Das ist vielleicht tatsächlich die Krönung aller Fiktionen, die Fiktion, auf die alle Fiktionen hinauslaufen müssen und die alle weiteren Fiktionen stützt und absichert: Ich bin der Erfolgreiche schlechthin, der Inbegriff des Erfolgs, der König des Erfolgs. Die wichtigste und erfolgreichste Lügengeschichte, die 17

Das Zitat nach Bullock, Hitler und Stalin, S. 817.

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Trump je in die Welt gesetzt hat, ist die Erzählung über die eigene Karriere, die er als eine einzige Erfolgsgeschichte ausgibt und ihn als einzigartig erfolgreichen Geschäftsmann ausweisen soll. Da für ihn das Geschäftemachen der Kern des Lebens und der Welt ist, verfügt er natürlich auch als Politiker und Staatenlenker über die Fähigkeit, alle Dinge wieder ins Lot bringen. Der Erfolg als Unternehmer qualifiziert wie nichts anderes dazu, das höchste Amt der Welt auszuüben und es besser auszuüben, als jeder Amtsinhaber zuvor. Zur Berühmtheit wird man vor allem dadurch, dass man von sich selber vollkommen überzeugt ist und sich selber unentwegt rühmt. Das mag anderen als Prahlerei und Hochstapeln erscheinen, aber es ist einfach nur der Ausdruck eines starken Selbstbewusstseins. Es ist so, wie ich es in meinem Tweet vom 6. Januar 2018 noch einmal betont habe, weil Michael Wolff in seinem Buch Fire and Fury die Frechheit hat, an meiner geistigen Gesundheit zu zweifeln: »Actually, throughout my life, my two greatest assets have been mental stability and being like, really smart.« Und, am gleichen Tag: »I went from VERY (sic!) successful businessman to top T.V. Star to President of the United States (on my first try). I think that would qualify as not smart, but genius … and a very stable genius at that.« Und immer wenn ich unter Druck gerate, wie das z.B. der Fall war, als die Demokraten anfingen mit dem Impeachment-Verfahren gegen mich, was in Wahrheit ein »Putsch« war, wiederhole ich es: »Manche halten mich für ein sehr stabiles Genie.« Es ist einfach so, dass ich stets der Größte war und sein werde, dass ich das beste Gedächtnis habe, die besten Noten in der Schule und auf dem College bekam und der erfolgreichste Immobilien-Händler aller Zeiten bin. Alles in allem, das habe ich dem Sender Fox News gegenüber erklärt, der mich nach der hohen Zahl unbesetzter hochrangiger Stellen im Außenministerium gefragt hat: »Ich bin eh der Einzige, der zählt.« Und es ist auch so, wie ich es dem Magazin Time gesagt habe: »Ich bin ein sehr instinktgeleiteter Mensch, aber mein Instinkt erweist sich als richtig.« Oder wie ich es in meiner Reaktion auf die Kritik an der Entscheidung, amerikanische Truppen aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet abzuziehen, Anfang Oktober 2019 gesagt habe, dass ich in meiner »großartigen und beispiellosen Weisheit« schon dafür sorge, dass die Türken sich nicht unangemessen verhalten.18

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Das stabile Genie nach Brinkbäumer, Nachruf, S. 407; die Reaktion auf die Vorbereitung des Impeachment nach SPON, 2.10.2019; die Reaktion auf die Kritik an der Entscheidung über den Abzug amerikanischer Soldaten aus Syrien nach SPON, 8.10.2019; die anderen Selbstaussagen nach Albright, Faschismus, S. 258.

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Als sich Trump im Herbst 1999 als Präsidentschaftskandidat der Reform Party of the United States of America für die Wahlen im Jahr 2000 ins Spiel brachte, prahlte er damit, dass er den Wählern den »(scharfen) Blick eines Geschäftsmanns für das, was unter dem Strich herauskommt«, anzubieten hat. Da tut es nichts zur Sache, dass seine Firma Trump Hotels & Casino Resorts bald darauf einen Verlust von 34,5 Millionen Dollar für das letzte Quartal 1999 ausweisen musste. Umso besser, dass die Wahlkampagne, die Trump dann startete, eine Tour war, die ihn nicht, wie es in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen der Fall ist, viel Geld kostete, sondern zu einem Unternehmen wurde, mit dem er Geld verdienen wollte und tatsächlich Geld verdiente. Bevor es dann aber wirklich Ernst hätte werden können, beendete Trump seinen Wahlkampf und beschimpfte die Reform Party als einen »Haufen totaler Chaoten«, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte. Die Anhänger der Partei wiederum waren nun überzeugt davon, dass Trump nur deshalb kandidiert hatte, damit die Leute seine Bücher kauften, Eintrittskarten für seine Auftritte lösten und ihr Geld in seinen Spielhallen ließen.19 Beim Image-Making, das so wichtig ist, darf man nichts dem Zufall überlassen. Man kann es zum Beispiel auch dadurch optimieren, dass man sich selber Preise verleiht und dabei die Hilfe eines Freundes mit krimineller Vergangenheit in Anspruch nimmt. Man kann sich auch mit Dingen hervortun, von denen niemand erwartet hätte, dass man sich für sie interessiert und sie beherrscht, z.B. mit der Gründung einer Universität. Diese Geschichte geht im Fall von Trump so: Die Universität, die Trump U, wurde im Jahre 2005 mit Pauken und Trompeten ins Leben gerufen, und sie endete kurz vor dem Amtsantritt des Präsidenten in einem schmählichen Desaster. Auf einem Video aus dem Gründungsjahr machte Trump wie gewohnt mit allerlei Superlativen und viel Tamtam Werbung für sein neuestes Unternehmen: »Auf der Trump University lehren wir Erfolg. Darum geht es: Erfolg. Du wirst es erleben. Wir werden Professoren und Dozenten haben, die absolut herausragend sind – herausragende Menschen, herausragende Gehirne, erfolgreich. Wir werden die Besten der Besten haben, handverlesen durch mich.« Und natürlich würde seine Universität besser sein als Harvard, nämlich praxisorientiert, weil er, Donald Trump, ja der beste Geschäftsmann der Welt ist und er das Wissen und die Erfahrung, wie man das wird, nun weitergibt.20 19 20

Die Zitate bei D’Antonio, Wahrheit, S. 383-385. Die Preisverleihung an sich selbst: siehe Johnston, Akte Trump, S. 223; zur Trump University: ebda., S. 175ff.

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In Wirklichkeit war das ganze Unternehmen von Anfang an ein einziger Schwindel und Betrug. Im Jahre 2010 wurden die Beschwerden immer lauter. Eine Gruppe von Studenten reichte bei einem kalifornischen Gericht Klage gegen Trump und die Trump U ein. In insgesamt sechs verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten waren Strafanzeigen anhängig. Es war von Praktikumsplätzen die Rede gewesen, die nie zur Verfügung standen, oder es waren vorteilhafte Kontakte versprochen worden, die niemals zustande kamen. Der New Yorker Generalstaatsanwalt verklagte Trump und die Trump U auf 40 Millionen Dollar Schadensersatz, weil die Universität ihre Studenten nach seiner Einschätzung schlicht und ergreifend betrogen hatte. Keiner der Dozenten war »handverlesen«, einige von ihnen waren als Immobilienunternehmer in Konkurs gegangen. In einer Presseerklärung fasste der Generalbundesanwalt zusammen: »Mr. Trump instrumentalisiert seinen Prominentenstatus. Er tritt persönlich in Werbespots auf, um Menschen dazu zu bringen, Zehntausende von Dollar, die sie eigentlich nicht haben, für einen Unterricht auszugeben, der so nie stattfand.« Ein Handbuch, das den Verhaltenskodex für die Angestellten der Trump University in Texas enthielt, machte unmissverständlich klar, dass das wichtigste Ziel des Unternehmens darin bestand, aus den Interessenten und Studenten so viel Geld herauszuholen wie möglich. Das Handbuch riet den Angestellten der Universität außerdem, Journalisten zu meiden und sofort den zuständigen Pressesprecher zu informieren, wenn bei einer Veranstaltung ein Staatsanwalt auftauchen sollte. Trump schaffte sich die Sammelklagen seiner ehemaligen Studenten mit einem Scheck über 25 Millionen Dollar vom Halse. Das kostete ihn der außergerichtliche Vergleich, der das Verfahren wenige Tage vor seiner Amtseinführung im Januar 2017 beendete.21 Trump war sein Leben lang ein Trickbetrüger. Und Trickbetrüger wissen, wie sein Biograph Johnston schreibt: »Menschen sehen, was sie sehen wollen, sie hören, was sie hören wollen, und sie glauben, was sie glauben wollen. Sie lassen es zu, dass ihre Hoffnungen und Wünsche jede Skepsis im Keim ersticken. Solange ihnen Fakten, auf die sie sich keinen Reim machen können, nicht direkt ins Gesicht springen, werden die Bewunderer von Trickbetrügern die Welt immer durch die vertrauensselige, verzerrte Brille sehen, die sie sich selbst zurechtgebastelt haben.« Trump macht daraus aber kein Geheimnis, 21

Siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 322ff; D’Antonio, Wahrheit, S. 428ff; das Zitat des Generalbundesanwalts ebda., S. 431; Johnston, Akte Trump, S. 175ff; Brinkbäumer, Nachruf, S. 128f.

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sondern empfiehlt es aller Welt als Erfolgsmodell. Er ist stolz darauf, Bankkredite über Milliarden Dollar einfach nicht bedient zu haben. Und man muss es erst einmal schaffen, den Leuten, die so gerne auf der Trump Universität erfahren wollten, wie man reich und erfolgreich wird, für insgesamt etwa 40 Millionen Dollar etwas zu verkaufen, was eigentlich nicht mehr war als eine aggressive Vertriebsschulung.22 Wenn man erfolgreich darin ist, eine derartige Unverschämtheit und solch ein Desaster wie die ä n der Öffentlichkeit mehr oder weniger unsichtbar zu machen oder besser noch: in eine Erfolgsgeschichte zu verwandeln, dann hat man wahrlich die Meisterprüfung der Selbstdarstellung und des Image-Making bestanden. Ein Schuldeingeständnis, sagte Trump, seien die 25 Millionen Dollar, die er für den Vergleich im Prozess um die Universität zu zahlen hatte, keineswegs, aber ein langwieriger Prozess, in dem er seine Unschuld beweisen würde, würde ihn von seinem Einsatz in seinem neuen Amt ablenken. Und deswegen habe er sich darauf eingelassen. Am liebsten sieht Trump sich in der Rolle, die er in der Reality-Show The Apprentice spielte. Dort durfte er die Leistungen der Kandidaten bewerten, die sich für eine Position in seinem Unternehmen beworben hatten, und einen nach dem andern genüsslich mit dem Urteilsspruch »Sie sind gefeuert« rausschmeißen, bis einer übrigblieb, der als Preis einen Arbeitsvertrag in seiner Firma erhielt. Trump wandte sich zu Beginn der Show in einer Eröffnungsszene, in der er in seiner Limousine in Kontrast zu einem Obdachlosen auf einer Parkbank gesetzt wurde, direkt an die Zuschauer, – und das ist der wahre Trump, wie er sich sieht und wie er gesehen werden möchte: »Mein Name ist Donald Trump, und ich bin der größte Immobilieninvestor von New York. Mir gehören hier alle möglichen Gebäude. Modelagenturen, der Miss-Universe-Schönheitswettbewerb, Passagierflugzeuge, Golfplätze, Spielbanken und private Ferienresorts wie Mar-a-Lago, eines der spektakulärsten Anwesen der ganzen Welt. Doch ich hatte es nicht immer so leicht. Vor etwa 13 Jahren war ich in ziemlichen Schwierigkeiten. Ich hatte Milliarden von Schulden. Doch ich habe gekämpft und gewonnen. Im ganz großen Stil. Ich habe meinen Kopf benutzt und mein Verhandlungsgeschick und habe alle Probleme gelöst. Heute ist mein Unternehmen größer, als es jemals gewesen ist, und ich habe mehr Spaß als je zuvor. Ich habe es in der Kunst

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Das Zitat zum Trickbetrug und zum Erfolgsmodell: Johnston, Trump im Amt, S. 37; die »aggressive Vertriebsschulung«: Johnston, Akte Trump, S. 180.

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des Geschäftemachens zum Meister gebracht und den Namen Trump als Nobelmarke etabliert.«23 Ein eigenes Kapitel in der Geschichte der Betrügereien sind die Steuergepflogenheiten Trumps. Alle öffentlich verfügbaren Aufzeichnungen darüber sind »im höchsten Maße bedenklich« und einige Akten entlarven ihn »ganz klar als Einkommensteuerbetrüger«. Ein Reporterteam der New York Times hat darüber 18 Monate lang eine aufwendige Recherche betrieben und das Ergebnis in einer Artikelserie im Oktober 2018 publiziert. Die Serie, die im April 2019 mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, weist detailliert nach, dass Trump im großen Stil an Steuermanipulationen und Steuerbetrug beteiligt war und dass er, entgegen seinen immer wiederkehrenden Behauptungen und dem Image des vollkommenen , der alles nur sich selber und seinen eigenen Leistungen verdankt, erhebliche Summen aus dem Vermögen seines Vaters geerbt hat. Um Steuern zu vermeiden, flossen Gelder in Höhe von etwa 413 Millionen Dollar zum Teil über eine Scheinfirma. Ferner wird belegt, dass Trump seinen Eltern dabei geholfen hat, ihren Immobilienbesitz kleinzurechnen, um Steuern zu sparen. Kurz: Die Reportage belegt, dass der Reichtum Trumps in wesentlichen Teilen auf Betrug beruht.24

Lügner und Komplizen (6) Das sechste und letzte Kapitel der Tiefengeschichte der Lüge verdient eine ausführlichere Darstellung, weil es für die Frage der Lüge im politischen Raum das wichtigste ist. Es markiert einen weit reichenden Funktionswandel der Lüge und bezeichnet den Punkt, an dem die unmittelbaren politischen Konsequenzen und Implikationen der Lügenpraxis des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten am deutlichsten hervortreten. Der Inhalt dieses Kapitels besagt, dass es bei der Lügenpraxis à la Trump nicht darum geht, die Lüge für die Wahrheit zu nehmen, sondern darum, dass sie gleichsam das ticket ist, auf dem alle, die sie übernehmen, in dem Unternehmen, dessen Mitglieder sie sind, mitfahren und damit zeigen, dass

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Kein Schuldeingeständnis: siehe Brinkbäumer, Nachruf, S. 128f; zur Reality-Show The Apprentice siehe Kranish/Fisher, Trump, S. 301ff; zur Eröffnungsszene siehe D’Antonio, Wahrheit, S. 405. Die Zitate: Johnston, Trump im Amt, S. 138; die Artikel der NYT wurden publiziert in einer Serie, die am 2. Oktober 2018 begann; Pulitzerpreis: siehe SPON, 16.4.2019.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

sie dazu gehören, dass sie Teil des Lagers sind. Der wichtigste Zweck der Lüge ist nicht, eine Unwahrheit für die Wahrheit auszugeben, sondern sie als Unterpfand für Treue und Loyalität einzusetzen. Wer die Lügen übernimmt und vertritt, zeigt damit, dass er auf meiner Seite ist. Dazu muss niemand sie für wahr oder wahrscheinlich halten. Je absurder meine Lügen sind, desto deutlicher scheidet sich an ihnen Spreu vom Weizen, trennen sich an ihnen die Wege derjenigen, die mir treu ergeben sind, von den Wegen derer, die im Lager der Feinde stehen. Die Lüge ist ein Lackmustest, an dem sich erkennen lässt, wer zu mir gehört und wer nicht. Sie zu übernehmen, ist wie ein Schwur und ein Gelöbnis. Sie zeigt, dass ich der Boss bin, meine Leute mir folgen und ich mich auf sie verlassen kann. Und genau in diesem Sinne setze ich sie ein, und ich erfreue mich daran, dass meine Gegner sich darüber so aufregen. Dass die Wahrheit in dem täglichen Lügen-Spektakel untergeht, ist ganz ohne Bedeutung, weil es darauf gar nicht ankommt. Wichtig ist, dass ich meine Anhänger mobilisiere, bei der Stange halte und wir im Kampf gegen unsere Feinde und Gegner nicht nachlassen. Es geht auch nicht darum, irgendeine größere inhaltliche Agenda voranzubringen oder ein politisches Programm umzusetzen, sondern darum, weiterhin als großer Boss alle Fäden in der Hand zu halten und die Getreuen täglich zur bedingungslosen Loyalität zu verpflichten. Als oberster Herr im Haus und im Land erwarte ich und sorge ich natürlich dafür, dass meine Mitarbeiter und Getreuen meine Sicht der Dinge übernehmen, mir dienen, mir bedingungslos folgen und meine jeweilige Version der Wahrheit für richtig halten. Gerade daran erkenne ich, ob jemand für mich ist oder gegen mich. Mir zu schmeicheln reicht nicht, obwohl ich für Schmeicheleien aller Art überaus empfänglich bin. Der Lügentest ist aussagekräftiger. Einige sind ihm nicht gewachsen und bestehen ihn nicht, sie erweisen sich damit als das, was sie wirklich sind: Schwächlinge und Verlierer. Sie werfen dann von sich aus das Handtuch oder werden über kurz oder lang von mir aussortiert. Die Lackmustest- und Loyalitätslüge begleitet die gesamte berufliche und öffentliche Karriere von Trump, von seiner Tätigkeit als Immobilienunternehmer über die Wahlkampagnen bis zum Präsidentenamt. Sie ist charakteristisch für die Beziehung zwischen dem Präsidenten und seinen Mitarbeitern im Weißen Haus, sie steht im Hintergrund der ständigen Rauswürfe und Neuernennungen auf allen Ebenen. Der Präsident ist der Lügner, der alle in seiner Umgebung zum Lügen anhält. Wer so lügt, wie er es vormacht, stellt gerade damit seine Loyalität unter Beweis. Auch in der gewöhnlichen Lüge, die dazu dient, die Adressaten zu täuschen, kann etwas von einem Loyalitäts-

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test enthalten sein. Der Lügner erwartet von seinen Freunden, dass sie ihm besonders bereitwillig glauben, ihm vertrauen und die Wahrheit seiner Lüge nicht bezweifeln. Umso tiefer kann die Vertrauenskrise dann gehen, wenn der Schwindel auffliegt. Aber normalerweise steht dieser Aspekt nicht im Vordergrund, er begleitet die gewöhnliche Lüge wie ein Schatten, ohne sie zu dominieren. Die Loyalitätslügen des gegenwärtigen US-Präsidenten unterscheiden sich davon, weil das, was bei den gewöhnlichen Lügen ein untergeordnetes und eher nebensächliches Element ist, nun das wichtigste wird. Wenn aller Welt bereits von vornherein klar ist, dass der Lügner sowieso lügt, geht es nicht mehr um die Wahrheit der Lüge, sondern nur noch darum, dass die Lüge, obwohl sie längst als solche erkannt wurde, von den eigenen Leuten und dem eigenen Lager übernommen, vertreten, weitergegeben und geteilt wird. Auf diese Weise zieht ein notorischer Lügner in mächtigen Positionen wie ein Magnet weitere Lügner an. Die Lügenpraxis wird dann zum Flächenbrand, der die gesamte nähere und fernere Umgebung erfasst. Die spektakulären Beispiele für Loyalitätslügen mit dem Pressesprecher Sean Spicer und der Beraterin Kellyanne Conway, die vor der Öffentlichkeit die offensichtliche Unwahrheit über die Anzahl der Besucher von Trumps Inauguration am 20. Januar 2017 übernahmen, habe ich schon erwähnt. Es gibt viele weitere Belege. Rudy Giuliani, den Trump im April 2018 zum Leiter seines persönlichen Anwaltsteams berief, hatte sich schon während des Wahlkampfs auf die Seite von Trump geschlagen und sich wie der Spitzenkandidat der Lüge befleißigt, als er z.B. über die Regierung Obama sagte: »In diesen acht Jahren, bevor Obama kam, fanden keine erfolgreichen radikalislamischen Terroranschläge in den Vereinigten Staaten statt. Sie begannen, als Clinton und Obama ins Amt kamen.« Im August 2018 verteidigte Giuliani dann im Fernsehen seinen Präsidenten dafür, dass er sich lieber nicht von Sonderermittler Robert Mueller über die Frage der Russlandkontakte seines Wahlkampfteams befragen lassen wollte und den oben bereits zitierten Satz sagte: »Wahrheit ist nicht Wahrheit.« Hope Hicks, die Kommunikationsdirektorin im Weißen, trat im Februar 2018 von ihrem Amt zurück. Einen Tag vor dem Rücktritt räumte sie in einer Anhörung vor dem Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses ein, ihre Arbeit für Trump erfordere es, manchmal zu lügen.25 25

Das Zitat von Hope Hicks steht auf der Online-Seite »Hire and Fire unter Trump« der SZ, zugänglich unter https://www.sueddeutsche.de/politik/trump-regierung-usa1.3826240 (30.4.2019).

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Lügen gegenüber Presse und Öffentlichkeit sind nicht strafbar. Lügen gegenüber dem FBI und dem Kongress allerdings schon, und Lügen, die die Justiz in ihrer Tätigkeit behindern, sind es auch. Eine Reihe von Lügen und strafbaren Handlungen kam durch die Arbeit des Sonderbeauftragten Mueller ans Licht, der knapp zwei Jahre ermittelte und Ende März 2019 seinen Abschlussbericht dem Justizminister übergab. Im Zuge der Nachforschungen waren neben dem Präsidenten selbst auch mehrere hochrangige enge frühere Mitarbeiter von Trump ins Visier geraten. Zum Beispiel Trumps Sicherheitsberater Michael Flynn, der im Februar 2017 nach 24 Tagen im Amt zurücktreten musste, als herauskam, dass er die Öffentlichkeit und den Vizepräsidenten Mike Pence über seine Begegnungen mit dem russischen Botschafter Kisljak in Washington angelogen hatte. Im Dezember 2017 bekannte er sich schuldig, auch dem FBI gegenüber diese Begegnungen abgestritten zu haben.26 Zum Beispiel Michael Cohen, von 2007 an Vizepräsident des TrumpKonzerns und Berater und persönlicher Anwalt des Präsidenten, der viele Jahre lang als »Fixer« und Ausputzer seinem Boss mit allen Mitteln den Rücken frei gehalten hat, mit Lügen, Drohungen und mit der Zahlung von Schweigegeldern. Als sich die Belege dafür häuften, dass er für seinen Chef lauter Drecksarbeiten getätigt und dabei auch die Grenzen des gesetzlich Erlaubten überschritten hatte, entschloss er sich zur Kooperation mit den Ermittlungsbehörden, sagte sich von seinem früheren Chef los und berichtete in einer spektakulären Anhörung vor dem Kongress im Februar 2019 mit vielen Details über seine Machenschaften und die Machenschaften Trumps. Er führte u.a. aus: »In der Trump-Organisation hat jeder vor allem einen Job: Es geht darum, Donald Trump zu beschützen. Wir kamen jeden Tag ins Büro und wussten, wir würden für ihn an irgendeiner Stelle lügen. Das war die Norm. Und das ist das gleiche, was jetzt in der Regierung passiert.« Cohen hatte das Bauvorhaben eines Trump-Towers in Moskau betrieben und in dieser Sache eine Reihe von Kontakten zu einflussreichen Leuten in Russland, die er auch noch in der Kernzeit des Wahlkampfs 2016 weiter verfolgte. Cohen belog den Kongress über diese Kontakte und wurde deswegen im Dezember 2018 zu drei Jahren Gefängnis und Geldstrafen in Höhe von knapp zwei Millionen Dollar verurteilt.27 26 27

Siehe Mueller-Report, S. 518ff, 949ff. Das Zitat aus der Anhörung nach SPON, 28.2.2019; ausführlich zu Cohen siehe MuellerReport S. 721ff, 1082ff.

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Zum Beispiel Paul Manafort, der von April bis August 2016 Trumps Wahlkampfleiter war und 2018 in einem Prozess wegen Banken- und Steuerbetrug verurteilt wurde. In der Hoffnung auf Strafmilderung bekannte er sich in einem weiteren Verfahren des Betrugs und der Justizbehinderung für schuldig. Er hatte sich zuvor, im September 2018, zur Kooperation mit den Ermittlern bereit erklärt, diese Kooperationsbereitschaft aber durch fortgesetztes Lügen anschließend unterlaufen. Im März 2019 wurde er zu Haftstrafen von insgesamt 7,5 Jahren verurteilt.28 Die Beispiele sind nur die Spitze des Eisbergs, aber sie lassen das Muster, um das es hier geht, deutlich genug sichtbar werden. Bei einer ganzen Reihe von Mitgliedern des inneren Zirkels von Trump ist die Beteiligung an der Lügenpraxis nicht nur die Bedingung für die Mitgliedschaft im Lager des Geschäftsmanns, Kandidaten und Präsidenten, sondern hat auch gegen bestehende Gesetze verstoßen. Zum Nachweis der Loyalität gehört in diesem Milieu offenbar wie selbstverständlich hinzu, moralische, politische und rechtliche Prinzipien zu ignorieren. Loyalität wird dadurch zu Komplizenschaft. Immer wenn der Präsident von Loyalität spricht, müsste es eigentlich Komplizenschaft heißen. Komplizenschaft ist Loyalität und Treue im gemeinschaftlichen Betrügen und Täuschen. Sie ist das zentrale Kriterium bei der Auswahl des Personals für die zu vergebenen Positionen, die erkennbar nicht nach Kompetenz und Erfahrung erfolgt, sondern nach der Logik persönlicher Ergebenheit und Folgebereitschaft. Wenn Loyalität zu Komplizenschaft wird, ist damit stets verbunden, dass Eigenständigkeit, abweichende Meinungen und ungewöhnliche Perspektiven nicht geduldet werden. Personen, die keine Gefolgsleute sind, kann Trump nicht ertragen. Im zweiten Teil des Mueller-Berichts, in dem es um die Frage der möglichen Justizbehinderung durch den Präsidenten geht, gibt es dafür eine Fülle von Belegen. Mit Loyalität im eigentlichen und nachdrücklichen Sinn hat das nichts zu tun. Zu ihr gehört die Eigenständigkeit und Legitimität unabhängiger Perspektiven, abweichender Meinungen und Haltungen unabdingbar hinzu. Eigentlich ist Loyalität nicht blinde Folgebereitschaft, sondern das Bemühen, unter Einhaltung unverzichtbarer Regeln und Prinzipien gemeinsam eine Aufgabe zu bewerkstelligen und voranzubringen. Im politischen Raum kann es sich dabei nur um Vorhaben handeln, die die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten betreffen und für alle von Bedeutung sind.

28

Siehe Mueller-Report S. 695ff, 1048ff.

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Zu den unverzichtbaren Regeln und Prinzipien gehört hinzu, dass die Pluralität von Meinungen in der Verständigung nicht widerwillig hingenommen wird, dass sie nicht zum Bestandteil eines Machtkampfs mutiert, sondern als elementarer Bestandteil einer umsichtigen politischen Urteilskraft gilt und entsprechend geschätzt wird. Die Verkommenheit der gegenwärtig in den USA vorherrschenden politischen Praxis zeigt sich in nichts so deutlich wie darin, dass der Präsident gleichsam konstitutionell unfähig ist, die Pluralität von Positionen und Meinungen zu schätzen oder sie mindestens zu ertragen. Sein Verständnis von Loyalität ist, nicht anders als bei Putin, immer damit verbunden, keinen substantiellen Widerspruch zu äußern, sondern zuzustimmen, zu befolgen und zu bewundern. Loyalität und Eigenständigkeit, Loyalität und kritische Distanz können in diesem Verständnis niemals zusammen gehören. Auch die Vorstellung, dass Loyalität im politischen Raum nicht so sehr den jeweiligen Amtsinhabern, sondern in erster Linie dem Amt und den Prinzipien der Amtsführung gegenüber an den Tag gelegt werden sollte, hat hier keinen Platz. Wer Trumps Sicht der Dinge nicht teilt, ist illoyal, und wer illoyal ist, muss damit rechnen, mit aller Härte sanktioniert zu werden. Oder er tritt von sich aus zurück, sucht das Weite und Offene und entzieht sich auf diese Weise dem Bannkreis der manipulativen Macht des Mannes, dem er vorher loyal gegenüberstand. Einigen fällt es dann wie Schuppen von den Augen, und sie fragen sich, warum um alles in der Welt sie sich an diesem unwürdigen Spiel nur beteiligen konnten. Sean Spicer soll nach seinem Rücktritt die Lüge über die Zahl der Teilnehmer bei der Inauguration immerhin bedauert haben. Tony Schwartz, der Co-Autor des ersten Buches von Trump (»The Art of the Deal«), hat sich viele Jahre später über seine Erfahrungen mit Trump beim Schreiben des Buches überaus kritisch geäußert. Michael Cohen sagte in seiner Anhörung vor dem Kongress: »Ich schäme mich für meine Schwäche und für meine falsche Loyalität zu Trump.« Die Abtrünnigen dürfen sich der Verachtung des Präsidenten sicher sein. Als die Veröffentlichung des Artikels im New Yorker über den Co-Autor des Trump-Buches kurz bevorstand, rief Trump im Juli 2016 bei Schwartz an und beschimpfte und bedrohte ihn. Was in den Bannfluch mündete: »Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie sehr illoyal sind.« Als Gary Cohn, der ranghöchste Wirtschaftsberater des Präsidenten, nach den blamabel uneindeutigen Stellungnahmen Trumps zu den rassistischen Ausschreitungen in Charlottesville zurücktreten wollte, wurde er von seinem Chef in einer Tirade voller Gehässigkeit abgekanzelt und des Verrats beschuldigt. Cohn blieb trotzdem zunächst im Amt, trat dann aber im

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März 2018 wegen unüberbrückbarer Differenzen in der Handelspolitik zurück. Nach Michael Cohens Aussagen vor Gericht im November 2018 warf Trump seinem früheren Anwalt vor, ein »schwacher Mensch« und Lügner zu sein und durch seine Aussage eine geringere Strafe erreichen zu wollen. Kurze Zeit später, im Dezember 2018 nannte er ihn eine »Ratte«, – die schlimmste Verfluchung, die im Mafia-Slang den Verrätern vorbehalten ist. Schon lange vor diesen Ereignissen hatte Trump gegenüber einem seiner Biographen das Prinzip benannt, dem er ganz instinktiv folgt: »Wenn jemand etwas gegen mich unternimmt, ist er für mich gestorben. Es ist vorbei. Es gibt kein Zurück. Das ist okay. Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt. Du brauchst sie nicht.«29 Die Frage, was Loyalität ist und worin sie sich äußert, ist explizit das Thema in der Auseinandersetzung Trumps mit James Comey, die im Mai 2017 zur Entlassung des FBI-Chefs führte. Comey hat darüber in seinem Buch ausführlich berichtet. Schon der Titel macht deutlich, dass es um prinzipielle Fragen geht: »A Higher Loyalty. Truth, Lies, and Leadership«. Der deutsche Titel des Buches gibt das nicht wieder und ist eher irreführend: »Größer als das Amt. Auf der Suche nach der Wahrheit – Der Ex-FBI-Direktor klagt an«. Auch Comey selber ist in der Verwendung der Begriffe nicht immer kohärent und neigt dazu, Loyalität mit Komplizenschaft in eins zu setzen. Aber in der Sache ist er vollkommen unbestechlich und klar. »Nur diejenigen, die mit Furcht herrschen – wie ein Mafiaboss –, fordern persönliche Loyalität.« Für Amtsinhaber, schon gar für den Inhaber des mächtigsten Amtes der Welt, muss dagegen etwas anderes gelten. Sie »kennen ihr Talent, aber auch ihre Grenzen – wenn es darum geht, zu verstehen und zu argumentieren, darum, die Welt so zu sehen, wie sie ist, nicht wie sie sie gern hätten. Sie sagen die Wahrheit und wissen, dass man, um kluge Entscheidungen zu treffen, Menschen braucht, die einem die Wahrheit sagen. Und damit sie diese Wahrheit zu hören bekommen, erzeugen sie eine Umgebung mit hoher Motivation und gründlicher Überlegung.« Die persönlichen Treffen mit Trump hinterlassen bei Comey aber einen ganz anderen Eindruck, – einen Eindruck, der ihm aus seiner Zeit als Antimafia-Ermittler in New York bekannt vorkam, als er mit den Beziehungen der Mafia-Mitglieder untereinander Bekanntschaft machte:

29

Zu Spicers Bedauern siehe Johnston, Trump im Amt, S. 409; Cohen vor dem Kongress nach SPON, 28.2.2019; zum Bannfluch Trumps siehe Schwartz, Zusammen, S. 97; die Beschuldigungen gegen Cohn nach Woodward, Furcht, S. 327; Trump über Cohen siehe Mueller-Report, S. 753, 484, 756; das Prinzip Trumps nach D’Antonio, Wahrheit, S. 25.

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»Der Schweigekreis des Einverständnisses. Der Boss mit der absoluten Kontrolle. Die Treueschwüre. Die Weltanschauung nach dem Prinzip ›Wir gegen Die‹. Die Lügerei über alles, egal wie groß, im Dienst irgendeines Loyalitätskodex, der die Organisation über die Moral und über die Wahrheit stellt.« Comey verweigerte sich der »Aufforderung zum Treueschwur« durch Trump und fiel in Ungnade.30 In den Untersuchungen des Sonderermittlers Mueller spielt das Verhalten des Präsidenten gegenüber Comey eine wichtige Rolle. Am Abend des 27. Januar 2017 kam es zu einem Essen des Präsidenten mit dem FBI-Direktor, bei dem Trump dafür sorgte, dass niemand anderes dabei war. »Laut Comeys Darstellung erklärte der Präsident einmal während des Essens: ›Ich brauche Loyalität, ich erwarte Loyalität.‹ Comey gab keine Antwort, und so wandte sich die Unterhaltung anderen Themen zu, aber der Präsident kam gegen Ende des Essens noch einmal auf Comeys Amt zu sprechen und wiederholte den Satz: ›Ich brauche Loyalität.‹ Comey antwortete: ›Sie werden von mir immer Ehrlichkeit bekommen.‹ Der Präsident sagte: ›Das ist, was ich haben will, ehrliche Loyalität.‹ Comey sagte: ›Das werden Sie von mir bekommen.‹« Nachdem Comeys Darstellung des Essens und des Gesprächs mit dem Präsidenten an die Öffentlichkeit gelangt waren, leugnete Trump, dass er Comey um Loyalität gebeten habe. Ferner deutete er an, dass die Initiative zum gemeinsamen Essen nicht von ihm ausgegangen war, sondern dass Comey um das Essen gebeten habe, weil er im Amt bleiben wollte. Der Mueller-Report kommt zu folgender Bewertung: »Es gibt jedoch gewichtige Beweise, die Comeys Darstellung der Einladung zu dem Essen und den Loyalitätsersuch stützen. Der Terminkalender des Präsidenten bestätigt, dass der Präsident am 27. Januar Comey gegenüber ›eine Einladung zum Abendessen aus(sprach)‹. In Bezug auf den Inhalt der Unterredung während des Essens dokumentierte Comey die Bitte des Präsidenten, ihm Loyalität zu erweisen, in einer Gesprächsnotiz, die er in der Nacht des Abendessens anfertigte; ranghohe FBI-Beamte erinnerten sich, dass Comey ihnen von dem Loyalitätsersuch kurz nach dem Essen erzählt hatte; und zudem beschrieb Comey die Loyalitätsaufforderung unter Eid in Sitzungsprotokollen im Kongress sowie in einem nachfolgenden Interview mit Ermittlern, in dem er … unter Strafe für Meineid gestanden hätte. Comeys Erinnerung an die Details aus dem Abendessen, inklusive

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Comey, Amt, S. 334, 343f.

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dem Loyalitätsersuch des Präsidenten, haben sich durchweg als nicht widersprüchlich erwiesen.«31 Am 14. Februar 2017 kam es zu einem weiteren Vier-Augen-Gespräch des Präsidenten mit Comey, in dem Trump den Direktor des FBI dazu aufforderte, die Ermittlungen gegen Mike Flynn wegen dessen Lügen über seine Kontakte zum russischen Botschafter fallen zu lassen. Auch hier war es dem Präsidenten wieder wichtig, dass niemand anderes beim Gespräch anwesend war. Der Präsident erklärte: »Ich hoffe, Sie sehen einen Weg, die Sachen fallen zu lassen, von Flynn die Finger zu lassen. Er ist ein guter Kerl. Ich hoffe, Sie können es fallen lassen.« Comey stimmte zu, dass Flynn »ein guter Kerl ist«, wollte sich aber nicht darauf festlegen, die Ermittlungen gegen ihn einzustellen. Nach diesem kurzen Gespräch bat Comey den Justizminister darum, ihn »nicht noch einmal mit dem Präsidenten allein zu lassen«. Auch diese Darstellung der Geschehnisse durch Comey wurde von Trump anschließend in Frage gestellt. Und auch in dieser Sache kommt der Mueller-Report zu dem Ergebnis, dass es »ausreichende Belege« gibt, »die Comeys Darstellung stützen«.32 Am 9. Mai 2017 wurde Comey vom Präsidenten entlassen. Das geschah, ohne einen Rat oder eine Empfehlung des Justizministeriums abzuwarten. Zugleich aber billigte Präsident Trump eine erste öffentliche Darstellung, die die Entlassung, wahrheitswidrig, auf eine Empfehlung des Justizministeriums wegen Comeys Umgang mit der Clinton-E-Mail-Untersuchung zurückführte. Der Stellvertretende Justizminister Rod Rosenstein weigerte sich aber, diese Darstellung zu akzeptieren. Der Präsident räumte später ein, dass er die Kündigung Comeys in Wahrheit nicht von einer Empfehlung des Justizministeriums abhängig gemacht hatte, sondern die Russland-Ermittlungen durch das FBI ausschlaggebend waren. Am Tag nach der Entlassung Comeys sagte der Präsident zum russischen Außenminister Lawrow bei einem Treffen im Weißen Haus: »Ich habe gerade den FBI-Chef gefeuert. Er war verrückt, ein echter Vollidiot. Ich stand wegen Russland unter großem Druck. Der ist weg … Es wird nicht gegen mich ermittelt.«33 Wenn die Mitarbeiter und die persönliche Umgebung das Spiel von Lüge und Komplizenschaft bereitwillig mitspielen, befördert das die Tendenz,

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Zu Trumps Verhalten gegenüber Comey siehe Mueller-Report, S. 534ff; das Zitat S. 537f; die Bewertung S. 538-540. Siehe die Darstellung im Mueller-Report, S. 547f, die Bewertung S. 555. Siehe Mueller-Report, S. 587; Rucker/Leonnig, Trump, S. 75ff.

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dass die Lügenpraxis in Selbsttäuschung übergeht und der Lügner seinen eigenen Lügen glaubt. In Trumps Fall spricht viel dafür, dass es so ist. Seine gesamte Biographie ist dadurch gekennzeichnet, dass er mit seinen Lügen- und Täuschungsmanövern fast durchgängig erfolgreich gewesen ist. Sogar gelegentliche Niederlagen hat er durch fortgesetzte Falschaussagen in grandiose Siege verwandelt. Amerikanische Psychiater haben sich deswegen die Frage gestellt: »Is Trump crazy like a fox oder crazy like a crazy?« Im ersten Fall würde Trump seine Lügen gezielt im Sinne eines Nutzenkalküls einsetzen, im zweiten Fall ist er in einem klinischen Sinn verrückt, lebt im Wahn und ist selber ein Opfer seiner Lügen. »Die Beschreibung ›crazy like a fox‹ definiert eine Person, deren nach außen zur Schau getragene Irrationalität das ihrem Verhalten zugrundeliegende rationale Denken lediglich maskiert. ›Crazy like a crazy‹ dagegen charakterisiert eine Person, deren äußerliche Rationalität ein zugrundeliegendes irrationales Denken maskiert.« Was zutrifft, ist ohne eine ausführliche und professionell durchgeführte ärztliche Anamnese kaum zu entscheiden. Aber im Fall von Trump spricht alles, was man von außen sagen kann, dafür, dass die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge unwichtig geworden ist und keine Rolle spielt.34 Ob Trump selber die Lüge nun bewusst als Eintrittskarte für den Zugang zu seinem inneren Zirkel und Mitarbeiterstab versteht oder nicht: Offenbar ist vielen von denen, die in seiner unmittelbaren Umgebung im Weißen Haus und in der Regierung tätig sind, durchaus bewusst, dass sie mit ihrem Eintreten in den Bannkreis des Präsidenten das ticket der Lüge übernehmen müssen, also, um die Terminologie der Psychiater aufzugreifen, »crazy like a fox« sind und nicht »crazy like a crazy«. Das legen jedenfalls die Enthüllungsbücher der Journalisten Michael Wolff und Bob Woodward nahe, die auf der Basis der Mitteilungen von Beteiligten die Situation im Weißen Haus beschreiben, und es wird durch die beiden ausführlichen Insider-Berichte von Omarosa Manigault Newman und eines hochrangigen anonymen Mitarbeiters bestätigt. Manigault Newman war schon im Wahlkampfteam Trumps aktiv, und im Weißen Haus hatte sie als höchstrangige schwarze Mitarbeiterin einen Kommunikationsposten inne, bevor sie im Dezember 2017 gefeuert wurde. Der Anonymus ist offenbar im direkten Umfeld des Präsidenten tätig und verfügt über genaue Kenntnisse der Arbeitsabläufe, Personen und Situationen in der Regierungszentrale der USA. Übereinstimmend und eindrucksvoll dokumentieren die Bücher das beängstigende Durcheinander im Weißen Haus. 34

Tansey, Unterschied, S. 152.

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Es wissen im Grunde alle, dass unentwegt getäuscht und gelogen wird, und jeder ist daran mehr oder weniger beteiligt. »Lügen ist die zweite Natur dieser Administration«, sagt Manigault Newman, und der anonyme Mitarbeiter berichtet detailliert, welche grotesken Konflikte, Kämpfe und Verrenkungen den Arbeitsalltag im Weißen Haus bestimmen und für eine »kannibalische Kultur« sorgen. Für eine zahlenmäßig nicht geringe Anzahl unter den Beratern, Ministern und Mitarbeitern gilt, dass sie ihrem Chef mehr oder weniger aus Überzeugung oder reinem Opportunismus treu ergeben sind, sich in der Rolle von Höflingen und Speichelleckern gefallen, von keinerlei Skrupeln oder Zweifeln geplagt sind und ihrem Chef nach dem Munde reden. Manigault Newman schildert diese Anhänger Trumps als Mitglieder einer Sekte, die einen wahren Kult um ihr Idol veranstalten. Die anderen hingegen, zu denen auch der gehört, handeln nach der berühmten Devise, dass sie sich beteiligen, um Schlimmeres zu verhindern und den Präsidenten zu kontrollieren. Sie bleiben im Weißen Haus aus Loyalität dem Land gegenüber und sind dann gelegentlich illoyal dem Präsidenten gegenüber, bringen das aber nicht offen zum Ausdruck, sondern nur verdeckt. Das hat karnevaleske Züge, geht in den meisten Fällen nicht lange gut, und es kann den Naturzustand, in dem niemand dem anderen traut, nicht beseitigen, sondern trägt ihn mit.35 Ein Beispiel aus dem Buch von Woodward: Es gibt Besprechungen zu Handelsfragen, in denen Verteidigungsminister James Mattis, Handelsberater Gary Cohn und andere mit dem Präsidenten über »das große Problem« sprechen wollten, das einige Berater und Mitarbeiter umtreibt: »Der Präsident verstand weder die Bedeutung der Alliierten in Asien und Europa noch den Wert der Diplomatie oder der Beziehungen zwischen den militärischen, wirtschaftlichen und geheimdienstlichen Partnerschaften mit ausländischen Regierungen.« Alle Versuche, den Präsidenten doch noch von den Vorzügen eines freien Handels zu überzeugen, waren fehlgeschlagen, und »die Verbitterung nahm immer mehr zu«. Dann wurde für den 20. Juli 2017 im Pentagon eine Sitzung organisiert, bei der es um grundlegende Fragen der internationalen Beziehungen gehen sollte. Anwesend waren neben dem Präsidenten u.a. der Außenminister Rex Tillerson, der Finanzminister Steven Mnuchin und der Verteidigungsminister James Mattis, ferner die Präsidentenberater 35

Siehe Wolff, Feuer; Woodward, Furcht; Anonymus, Warnung, die »kannibalische Kultur« dort auf S. 282; Manigault Newman, Entgleisung, das Zitat dort auf S. 331, zum Sektencharakter der Trumpworld siehe ebda., S. 25, 122, 266f.

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Steve Bannon und Gary Cohn. Mattis und Tillerson legten dar, dass eine auf Regeln basierende internationale Ordnung auch für die USA nach wie vor von großem Vorteil ist. Cohn, der wichtigste Berater in Sachen Handelspolitik, betonte die Bedeutung des freien Handels. Finanzminister Mnuchin sprach über die Bedeutung von Sicherheitsverbündeten und Handelspartnern. Dann wurde es dem Präsidenten und dem Chefberater Bannon zu viel. Sie warfen ein, dass nicht einer dieser angeblich so wichtigen und treuen Alliierten bereit sei, die USA wirklich als Verbündeten zu verstehen und das Land zum Beispiel im Vorgehen gegen den Iran zu unterstützen. Diese sog. Alliierten, meinte Trump, wollten nur Geld verdienen, und zwar auf Kosten der USA. Und im Blick auf Afghanistan sagte der Präsident: »Wann werden wir endlich mal ein paar Kriege gewinnen?« Dann kam die Rede wieder zurück auf den Iran. Der Außenminister äußerte die Überzeugung, dass sich das Land nach allem, was man wissen könne, an das Atomabkommen halte. Der Handelsberater Cohn insistierte im Blick auf China, dass Zölle keine gute Sache wären. »Die Spannungen im Raum nahmen zu«, kommentiert Woodward. Trumps Antwort auf sämtliche Ausführungen und Vorschläge lautete: Nein. Und er blieb dabei: Die Europäer sind einfach zu nichts zu gebrauchen. Und im Blick auf den Vorschlag, keine Zölle gegen China zu verhängen: »Das will ich nicht hören. Das ist kompletter Blödsinn.« Ende der Sitzung. Danach sagte der Außenminister über seinen Präsidenten, so laut, dass alle es hören konnten: »Er ist ein verdammter Vollidiot.« Woodward fasst zusammen: »Das Misstrauen in dem Raum war greifbar und ätzend gewesen, die Atmosphäre unzivilisiert; obwohl alle vordergründig auf derselben Seite standen, hatten sich alle gepanzert, vor allem der Präsident.« Ein leitender Beamter im Weißen Haus, der kurz darauf mit Teilnehmern der Sitzung gesprochen hatte, notierte folgende Zusammenfassung des Treffens: »Der Präsident fuhr fort, alle Anwesenden zu belehren und zu beleidigen, dass keiner von ihnen Ahnung hätte, wenn es um Verteidigung oder nationale Sicherheit ginge. Offenkundig haben viele der höheren Berater des Präsidenten, vor allem jene aus dem Bereich der nationalen Sicherheit, größte Bedenken, wenn es um seine sprunghafte Art, seine relative Unwissenheit und seine Unfähigkeit geht, etwas hinzuzulernen, aber auch hinsichtlich seiner in ihren Augen gefährlichen Ansichten.«36

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Die Schilderung des Treffens und die Zitate nach Woodward, Furcht, S. 289-299; siehe zu diesem Treffen auch den Bericht von Rucker/Leonnig, Trump, S. 172ff.

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Eines der Lieblingsprojekte Trumps in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft bestand darin, das Handelsabkommen mit Südkorea zu kündigen. Noch so viele Argumente konnten ihn davon nicht abbringen, und er verlangte, dass man ihm ein entsprechendes Dekret zur Unterzeichnung vorlegte. Mindestens zweimal ließ der Handelsberater Cohn das von Trump gewünschte Dekret aufsetzen, nur um dann gemeinsam mit dem Stabssekretär Robert Porter dafür zu sorgen, dass es von Trumps Schreibtisch wieder verschwand und das ganze Vorhaben mindestens hinausgezögert wurde. Wie man sieht, kann das Durcheinander manchmal von denjenigen ausgenutzt werden, die eigentlich nicht mitmachen möchten und eine Art von stillem Widerstand praktizieren. Mitglieder des Stabes tun sich offenbar gelegentlich zusammen, »um vorsätzlich die nach ihrem Dafürhalten gefährlichsten Impulse des Präsidenten abzublocken«. Anfang September 2018 machte der anonyme Mitarbeiter, der 2019 das Buch » « herausbrachte, in einem Artikel der New York Times dieses Verhalten erstmals publik. Trump tobte und beschimpfte die Indiskretion als reine Feigheit, aus seiner Sicht natürlich völlig zu recht. Aber er bekommt damit nur die Quittung dafür, dass er mit seinem Verhalten und seinem Arbeitsstil den »Nervenzusammenbruch der politischen Exekutive des mächtigsten Landes der Welt« herbeigeführt hat. Die USA sind damit »zur Geisel der Worte und Taten eines emotional überreizten, sprunghaften und unberechenbaren politischen Führers geworden.«37 Reince Priebus, bis Juli 2017 als Stabschef zuständig für die Abläufe im Weißen Haus, gab Monate nach dem Weggang ein bitteres Resümee seiner Erfahrungen. Er glaubt, »von lauter hochkarätigen rücksichtslosen Machtmenschen umgeben gewesen zu sein, Menschen ohne jeden Anspruch, irgendwelche handfesten Ergebnisse zu produzieren – einen Plan, eine Rede, den Entwurf einer Strategie, ein Budget, einen Tages- oder Wochenplan. Vagabundierende Eindringlinge, ein desperater Trupp, der nichts als Chaos verursachte.« Es seien »lauter Raubtiere« beisammen gewesen, »nicht nur Rivalen, nein, Raubtiere«. Woodward kommentiert: Die Besprechungen, die sie hatten, »dienten nicht dazu, andere zu überzeugen, sondern, genau wie beim

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Der Diebstahl vom Schreibtisch nach Woodward, Furcht, S. 307; alle Zitate aus ebda., S. 21; der Artikel in der NYT erschien unter dem Titel »I Am Part of the Resistance Inside the Trump Administration« am 5.9.2018, siehe www.nytimes.com/2018/09/05/opinion/ trump-white-house-anonymous-resistance.thml.

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Präsidenten, zu siegen – jemanden niederzuringen, zu zertreten und zu erniedrigen«. »Chaos und Durcheinander waren unzureichende Begriffe, um die Situation zu beschreiben. Es war ein wildes Gerangel.« Alle Versuche, im Weißen Haus klare Strukturen und funktionierende Abläufe einzuführen, scheiterten. Auch der Nachfolger von Priebus als Stabschef, John Kelly, der von Juli 2017 bis Januar 2019 amtierte, beklagte sich bald nach der Übernahme der Position: »Der Präsident versteht einfach nichts davon. Er weiß nicht, wovon er redet.« Und Gary Cohn sagte zu Porter: »Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier bleiben kann, hier ist es einfach verrückt. Die sind alle so chaotisch. Er wird sich nie ändern. Es bringt überhaupt nichts, dem Präsidenten eine durchdachte, substanzielle Vorlage zu erstellen, durchorganisiert und mit Folien versehen. Man weiß ja, dass er sowieso nicht zuhört. Wir werden niemals durchdringen. Er arbeitet zehn Minuten daran, aber dann will er über ein anderes Thema reden. So werden wir eine Stunde bei ihm sein, aber diese Vorlage kriegen wir nie durchgearbeitet.« Und noch einmal Reince Priebus: »Die Vorgehensweise des Präsidenten besteht darin, die Leute aus dem Gleichgewicht zu bringen. … Er benutzt Druck auf eine Weise, wie ich das noch nie zuvor erlebt habe.«38 Summa summarum: Im Weißen Haus ist der Naturzustand des Misstrauens und des Kampfes aller gegen alle ausgebrochen. Im Arbeits- und Entscheidungszentrum des mächtigsten Mannes der Welt geht es drunter und drüber, es ist das reine Durcheinander, niemand blickt durch, am allerwenigsten der Präsident. Er führt sich auf wie ein Mafia-Boss, wird aber offenbar von Teilen seiner Umgebung eher wie ein unreifer, pubertierender, kaum zu kontrollierender, unberechenbarer, beratungsresistenter und missratener Junge behandelt. So ist das, wenn die Regeln halbwegs vernünftiger Kommunikation und Verständigung über den Haufen geworfen werden, so geht es zu, wenn sich keiner auf den anderen verlassen kann, so geht es zu, wenn es nicht darauf ankommt, langfristige Perspektiven zu entwickeln, Probleme und Aufgaben zu bewältigen, nach Lösungen zu suchen und sich auf die anstehenden Fragen möglichst umfassend vorzubereiten, sondern jeder nur daran denkt, als Sieger vom Platz zu gehen. Was jene Akteure tun, die sich im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten um Schadensbegrenzung und Kontrolle bemühen, trägt die Züge eines 38

Der Rückblick von Priebus nach Woodward, Furcht, S. 311f; die Kommentare von Woodward S. 312, 341; die Klage von Kelly nach ebda., S. 344; die Äußerung von Cohn nach ebda., S. 352; das Zitat von Priebus nach ebda., S. 372f.

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»paradoxen loyalen Verhaltens«, das Albert O. Hirschman in einer berühmten Analyse über »Abwanderung und Widerspruch« analysiert hat. Gerade weil »Widerspruch« und offene Artikulation von Bedenken und Einwänden im Weißen Haus nicht möglich sind, wird die Überzeugung stärker, dass man bleiben und die »Abwanderung«, d.h. die Kündigung, hinauszögern muss. Der Grundsatz ist dann: Je schlimmer es wird, desto weniger kann ich es verantworten zu gehen. Der Anonymus schildert in seiner »Warnung aus dem Weißen Haus« einen Dialog mit einem Freund kurz nach der empörenden Stellungnahme des Präsidenten zu den Gewalttaten neonazistischer Demonstranten in Charlottesville. Der Freund sagte: »›Warum bleiben die Leute? … Ihr solltet alle kündigen. Der Mann ist eine Katastrophe.‹ ›Und genau das ist der Grund‹, antwortete ich. ›Wir bleiben, weil er eine Katastrophe ist.‹« Der Anonymus berichtet auch, dass Top-Berater und Kabinettsmitglieder sich mit dem Gedanken trugen, zur Halbzeit der Präsidentschaft von Trump geschlossen zurückzutreten, »um die Aufmerksamkeit auf Trumps Fehlverhalten und seine erratische Führung zu lenken«. Die Idee sei von den BeinaheVerschwörern nur aus Angst davor aufgegeben worden, »dass sie eine schlimme Situation nur noch verschlechtern würden«. Resigniert und zugleich realistisch fügt der Autor hinzu: »Aber schlimmer ist es auch so geworden.« Und im Blick auf die Entscheidung, auch nach den Ereignissen um Charlottesville nicht zu kündigen, lautet sein Kommentar: »Heute fühlt sich diese Antwort einfach nur hohl an. Vielleicht hatte mein Freund ja recht. Vielleicht war das die letzte Gelegenheit, da ein sofortiger Rücktritt Sinn ergeben hätte.« Ein ums andere Mal war die Begründung, dass man doch vielleicht die Entwicklung einer schlimmen Situation in eine noch schlimmere verhindern könne. Ein ums andere Mal wurde die Gelegenheit verpasst, durch eine Aufsehen erregende Aktion etwas zu bewirken. Und ein ums andere Mal wurde die Situation de facto schlimmer als zuvor.39 Im Fall der gegenwärtigen Zustände im Weißen Haus kommt hinzu, dass es zum Aufbau dauerhafter und verlässlicher Kooperationen der Opponenten untereinander kaum kommen kann, weil sich dafür das Personenkarussell viel zu schnell dreht. In atemberaubendem Tempo werden Amtsinhaber ausgetauscht, treten von sich aus oder auf Druck, der oftmals mit öffentlicher Diffamierung durch den Präsidenten verbunden ist, zurück und werden gefeu39

Siehe Hirschman, Abwanderung, S. 87; der Dialog mit dem Freund: siehe Anonymus, Warnung, S. 116; zu den Plänen für einen geschlossenen Rücktritt zur Halbzeit der Präsidentschaft: siehe ebda., S. 12.

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ert. Um nicht den Überblick zu verlieren, führen auch die Zeitungen hierzulande mittlerweile Online-Portale mit Listen und Übersichten, die sie laufend ergänzen und mit Angaben über die Amtsdauer und die Umstände der jeweiligen Entlassung versehen. Die Verweildauer in den Ämtern hat mitunter absurde Züge. Mit ganzen 10 Tagen im Amt ist der Kommunikationschef Anthony Scaramucci der gegenwärtige Rekordinhaber. Für die Machtvollkommenheit eines Gangsterbosses ist es durchaus gut, wenn sich die Mitarbeiter und Untergebenen ordentlich beharken und die Besetzung permanent wechselt. Das führt dazu, dass der Präsident unbehelligt bleibt und niemand seinen überraschenden Wendungen und Volten etwas entgegenzusetzen vermag.40 Es sind diese Volten, auf die der Präsident so stolz ist und die er zum Muster seiner Art des Regierens erklärt. Die fiebrige Erregung und das Durcheinander prägen nicht nur die Zeit seiner Präsidentschaft, sondern ziehen sich durch seine gesamte Biographie. Trump agiert chaotisch, sprunghaft, unkalkulierbar, intuitiv, ohne jede Vernunft und Langsicht. Er weiß das auch und hält das für eine große Stärke: »Ich bin gerne unberechenbar«, so lautet seine Devise. Es ist am besten, die anderen im Unklaren darüber zu lassen, was man will und was man für ein Blatt in der Hand hat. Wenn nichts wahr und alles möglich ist, kann der Präsident jederzeit mit einem feurigen Schwert dazwischen gehen und seinen Willen durchsetzen. Viele Getreue und Gefolgsleute in der Regierung und im Weißen Haus sind davon offenbar fasziniert und der Illusion der Allmacht erlegen, die der Präsident verbreitet. Sie denken sich: Wer als Geschäftsmann so erfolgreich ist, wie dieser Mann, wer eine Wahl gegen alle Vorhersagen und gegen eine übermächtig erscheinende Gegnerin gewinnt, der kann auch sonst noch einige Wunder bewirken. Es ist doch offenbar tatsächlich so, dass bei diesem Supermann alles möglich ist, auch noch die verrücktesten Vorhaben und Versprechen. Angesichts der alles überragenden Größe dieser Person sind die eventuell vorhandenen Vorbehalte und die eigene Skepsis unangebracht und nicht wirklich ernst zu nehmen. Es kann ja wirklich sein, dass die Klimakrise eine Erfindung der Chinesen ist, mit der sie uns in die Irre führen wollen und mit der sie ihr Programm der Desindustrialisierung der USA auf geschickte Weise tarnen. Und wer weiß, vielleicht verfügt der Präsident doch über die wundersame Fähigkeit, dafür zu sorgen,

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Siehe z.B. die »Hire and Fire«-Portale von SZ und NZZ: https://www.sueddeutsche.de/ politik/trump-regierung-usa-1.3826240; https://www.nzz.ch/international/waehrendtrumps-amtszeit-herrscht-ein-koepferollen-in-atemberaubendem-tempo-ld.1308 725.

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dass die Mexikaner für die Mauer bezahlen und sich dafür auch noch glücklich schätzen. Schon so oft hat der Präsident unter Beweis gestellt: Es ist nichts wahr, und alles ist möglich.41 Paradoxe Loyalität spielte eine ausschlaggebende Rolle in der UkraineAffäre, die die Demokraten im Abgeordnetenhaus dazu brachte, mit Ermittlungen für ein Impeachment des Präsidenten zu beginnen. Die Sache kam nur deswegen ins Rollen, weil einige Opponenten oder Skeptiker im Weißen Haus geblieben waren und nicht von der Option der Abwanderung Gebrauch gemacht hatten. Offenbar kann es doch eine vernünftige Option sein, wenn einzelne Opponenten im Zentrum der Macht anwesend sind, das Geschehen beobachten und in wichtigen Augenblicken das Richtige tun. Sie können dann quasi im Alleingang sehr viel bewirken. In den USA ist die Weitergabe von Informationen über Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten in staatlichen Stellen per Gesetz geregelt, und Personen, die sich intern mit ihrem Wissen an zuständige Instanzen richten, sind gesetzlich geschützt. In der Ukraine-Affäre ist der Whistleblower namentlich nicht bekannt. Er richtete am 12. August 2019 eine offizielle Beschwerde an den Generalinspekteur der Geheimdienste, dem die Aufgabe einer internen Aufsicht für die USSpionagebehörden zukommt. Dort war die Rede davon, dass der Präsident die Macht seines Amtes dazu nutzte, die Einmischung eines anderen Landes in die Wahlen 2020 zu fordern. Außerdem wird der Trump-Regierung Vertuschung vorgeworfen. Nach dem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten hätten sich mehrere führende Mitarbeiter des Weißen Hauses darum bemüht, den Zugang zu den Aufzeichnungen rund um das Gespräch, insbesondere die wörtliche Mitschrift, zu sperren. Der Absender des Beschwerdebriefs hat das Telefonat nicht direkt mitgehört, sondern stützte seinen Bericht auf Informationen von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld des Präsidenten, die Ohrenzeuge des Gesprächs waren. Ungeachtet der Tatsache, dass das vom Abgeordnetenhaus in Gang gesetzte Impeachment Anfang Februar 2020 im Senat scheiterte, zeigt das Beispiel, dass paradoxe Loyalität unter Umständen viel in Gang setzen und bewirken kann.42 Wenn nicht alles täuscht, sind die Potentiale der paradoxen Loyalität nunmehr aber ausgereizt. Es gibt zwei Felder, in denen sie wirksam sein kann. Zum einen können Augen- und Ohrenzeugen auf authentische Weise

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»Ich bin gerne unberechenbar«: siehe Trump, Great Again, S. 64. Siehe den Bericht im Spiegel 40/2019.

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die Zustände dokumentieren und die Öffentlichkeit informieren und aufklären. Zum andern können sie durch kluges und entschlossenes Handeln besonders fragwürdige Entscheidungen verhindern. Im Blick auf Dokumentation und Information gilt, dass sich jeder, der es wissen will, ein Bild der Zustände machen und sich auf dieser Basis ein Urteil bilden kann. Im Blick auf die Absicht, Schlimmeres zu verhindern, zeigen alle Berichte übereinstimmend, dass der Präsident am Ende doch immer macht, was er will. Er ist unbelehrbar, resistent gegen jede Beratung und Abwägung, und die Mitarbeiter können allenfalls gelegentlich einen Aufschub der Vorhaben bewirken, die der Präsident im Sinn hat. Wenn sie ihn dauerhaft an der Realisierung seiner Absichten hindern, sorgen sie sogar gelegentlich dafür, dass er sein Amt behalten kann, in das er ihrer eigenen Einschätzung nach eigentlich nicht gehört. Das war der Fall, als enge Mitarbeiter sich explizit weigerten, dem Wunsch des Präsidenten zu folgen und den Sonderermittler Mueller zu entlassen. Die Entlassung Muellers, die Trump beabsichtigte, hätte ihn nach Meinung vieler Beobachter vermutlich das Amt gekostet. Und umgekehrt: »Ironischerweise sind viele von jenen, die dem Präsidenten den Job gesichert haben, die Leute, die er am liebsten feuern will.« Was für ein paradoxes Ergebnis der paradoxen Loyalität.43

»Dem Gegner an die Gurgel gehen« America first verheißt nichts Gutes. Je näher man den Slogan ansieht, desto weniger. Schon seine Geschichte ist ungut. In den 1930er Jahren wurde er von einer Bewegung benutzt, die gegen den von Franklin D. Roosevelt intendierten Wohlfahrtsstaat und gegen den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg opponierte. Der bekannteste Vertreter der America-First-Bewegung war der Pilot Charles Lindbergh, der der Ansicht war, dass die USA sich mit den Nationalsozialisten verbünden sollten. Hinter der Parole, die neben Make America Great Again zur Kennmarke des Trump-Lagers geworden ist, steckt eine eigentümlich irritierende Beschreibung der Lage. Wir erfahren durch sie vor allem, dass Amerika einmal groß war, aber es nicht mehr ist, und wir erfahren ferner, dass Amerika über allem stehen muss und dem Land der erste Platz in der Rangfolge der Staaten gebührt. Offenbar sind die Amerikaner in der

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Das Zitat: Anonymus, Warnung, S. 62.

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jüngsten Zeit immer schlecht weggekommen, während das früher ganz anders war. Es ist also die Geschichte eines Niedergangs, die hier erzählt wird. Früher war es besser, früher waren wir die ersten und die besten, heute sind wir klein und schwach, wir müssen und können aber in Zukunft wieder groß und stark werden.44 Dagegen ist in dieser Allgemeinheit eigentlich wenig zu sagen, schließlich handelt es sich um Wahlparolen, die nicht mit fundierter Analyse glänzen müssen. Man wird kaum behaupten können, dass die Slogans Yes We Can oder It’s Time For Change, mit denen Obama einst in den Wahlkampf zog, mit mehr Inhalt aufwarteten. Die Probleme beginnen, wenn es um die Fragen geht, welche Gründe und Ursachen für den Niedergang des Landes namhaft gemacht werden, worin die Größe begründet ist, die das Land anstreben sollte, und wie es möglich gemacht werden kann, die alte oder eine neue Größe wieder zu erringen. Die ausführlichste zusammenhängende Krisendiagnose und Therapie, die wir von Trump haben, ist sein Buch »Great Again: How to Fix Our Crippled America«, auf deutsch »Great Again! Wie ich Amerika retten werde«. Das Buch ist eine Art Wahlkampfprogramm, das Trump im November 2015 veröffentlichte, nachdem er bekanntgegeben hatte, dass er für die Republikaner als Präsidentschaftskandidat ins Rennen gehen wollte. Die Lektüre ist ernüchternd und schwer erträglich. Es wird nicht einmal auch nur der Anschein einer zusammenhängenden Beschreibung, Begründung und Analyse erweckt. Der Text ist eine Ansammlung von Floskeln, Behauptungen und Sprechblasen, hinter der zwar kein Gedanke, aber doch eine sehr einfache und sehr eingängige Botschaft erkennbar ist. Sie besteht aus drei Punkten: 1) Amerika geht es schlecht, es läuft alles falsch; 2) Mir geht es glänzend, ich habe alles richtig gemacht, bei mir läuft alles prächtig; 3) Ich werde dafür sorgen, dass es Amerika bald genauso glänzend geht wie mir, ich weiß, wie man das macht. Deswegen will ich Präsident werden.45 Dass es Amerika schlecht geht und alles falsch läuft, hat nach Trump im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen wird Amerika von anderen Ländern im Handel ausgestochen: »Dieses Land steckt in großen Problemen. Wir gewinnen nicht mehr. Wir verlieren gegen China. Wir verlieren gegen Mexiko, sowohl im Handel als auch an der Grenze. Wir verlieren gegen Russland und den Iran und Saudi-Arabien.« (S. 23) Wer will schon gern verlieren: Wir müssen also, was die Handelsbeziehungen angeht, dafür sorgen, »dass Amerika 44 45

Zu America first in den 1930er Jahren siehe Snyder, Wege, S. 283. Die Seitenangaben in den folgenden Absätzen beziehen sich auf Trump, Great Again.

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wieder anfängt zu gewinnen« (S. 20). Zum anderen ist es so, dass die falschen und viel zu viele Leute zu uns kommen. »Der Zustrom tötet uns.« (S. 34) Früher dagegen sind die richtigen Leute gekommen, schließlich stamme seine eigene Mutter aus Schottland und seine Großeltern kamen aus Deutschland. Das ist die große Erzählung des Präsidentschaftskandidaten: Alle wollen uns übers Ohr hauen, alle wollen uns töten, ich werde es verhindern. Dem Desaster des Landes setzt Trump seine eigene strahlende Erfolgsgeschichte und Größe entgegen. »Wenn ich sage, dass ich ein Gewinner bin, ist das kein Angeben. Ich habe Erfahrung darin zu gewinnen. Das nennen wir Führungskraft. Es bedeutet, dass mir Menschen folgen werden und sich von meinen Handlungen inspirieren lassen. Woher ich das weiß? Weil ich mein gesamtes Leben lang ein Anführer gewesen bin.« (S. 23) »Ich sage den Menschen immer, sie sollten sich ansehen, was ich während meiner ganzen Karriere getan habe: Seht euch an, wie erfolgreich ich damit war, die Dinge auf meine Weise zu erledigen. Sie haben also die Wahl: Sie können so tun, als würde irgendeine völlig unausführbare Lösung tatsächlich vom Himmel fallen, oder Sie können auf die Person hören, die unter Beweis gestellt hat, dass sie tatsächlich Probleme lösen kann.« (S. 95) »Ich weiß, wie man Arbeitsplätze generiert. Ich habe im Laufe meiner Karriere Zehntausende Arbeitsplätze geschaffen. Heute arbeiten Tausende Menschen für mich, viele weitere Tausende sind bei meinen Partnern angestellt. Ich bin buchstäblich in Hunderten Firmen involviert, von denen fast alle wunderbar laufen, neue Maßstäbe setzen und wirtschaftliche Rekorde aufstellen.« (S. 106) Am Ende des Buches, nüchtern und bescheiden unter dem Titel »Über den Autor«, werden als Beleg und zur Glaubhaftmachung der Erfolgsgeschichte auf 15 Seiten akribisch die grandiosen Erfolge und Auszeichnungen von Trump aufgelistet. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Es gibt keinen besseren als Trump, der für die Wiederkehr der guten Zeiten aus der Vergangenheit sorgen kann. Im Zentrum von allem steht das Ökonomische: »It’s still the economy, stupid!« (S. 97) Und: »Vom Geschäftemachen versteht niemand mehr als ich. … Wenn wir meiner Logik folgen, wird es unserem Gesundheitssystem – und unserer Wirtschaft – sehr bald wieder gut gehen.« (S. 96) »Wir reden hier über Führungsqualitäten. Wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen und unserer Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, bin ich der einzige Experte, der nicht bloß mit theoretischem Wissen um sich wirft. Ich spreche mit gesundem Menschenverstand und dem praktischen Realismus, den mich die harte Schule des Lebens gelehrt hat. Ich habe das alles miterlebt, alles mitgemacht, habe Anfeindungen über mich ergehen lassen

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müssen, habe mich verschuldet, habe mich wieder nach oben gekämpft und es bis ganz nach oben geschafft und bin jetzt stärker und einflussreicher als je zuvor. … Unser Land durchlebt gerade harte Zeiten – ich kann da mitfühlen und ich weiß, wie man da wieder herauskommt.« (S. 100) »Was dem Weißen Haus meines Erachtens allerdings tatsächlich fehlt, ist eine ordentliche Prise Geschäftssinn.« (S. 159) »Ich mache keine Versprechen, die ich nicht halten kann. Ich drohe nicht, wenn ich meinen Worten nicht auch Taten folgen lassen kann. Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten mich herumschubsen. Meine Geschäftspartner und meine Angestellten wissen, dass mein Wort so viel gilt wie ein Vertrag. Das sollte für das Wort der Gegenseite besser ebenso gelten.« (S. 162) Es ist also vollkommen klar, was zu tun ist. Amerika muss mit allen Mitteln dafür sorgen, dass seine Wirtschaft weltweit wieder besser dasteht. Damit das erreicht werden kann, müssen den Unternehmen alle Hürden aus dem Weg geräumt und ihnen die besten Produktions- und Handelsbedingungen gegeben werden. Also müssen alle Vorschriften und Abgaben, die ihnen das Leben schwermachen, abgeschafft werden. Ferner muss Washington dafür sorgen, dass die Produkte aus den anderen Ländern nicht mehr so einfach auf unseren Märkten ankommen können. Dafür sind Zölle das ideale Mittel. Und gegen die unerwünschten Einwanderer, die vor allem aus Mexiko über die Grenze strömen, errichten wir eine unüberwindbare Mauer. »Baubeginn für den Zaun muss so bald wie möglich sein. Und Mexiko muss dafür bezahlen. Lassen Sie mich das noch einmal wiederholen: Wie auch immer, Mexiko wird dafür bezahlen. Wie? Wir könnten die verschiedenen Grenzgebühren erhöhen, die wir erheben. Wir könnten die Gebühren für befristete Visa erhöhen. Wir könnten sogar Geldanweisungen beschlagnahmen, deren Ursprung illegal verdiente Gehälter sind. Ausländische Regierungen könnten ihre Botschaften anweisen, uns zu helfen, wenn sie nicht die Beziehungen zu Amerika gefährden wollen. … Aber egal wie – dafür bezahlen wird Mexiko.« (S. 39f) Der Rest, über das Wirtschaftliche hinaus, ist eine Frage der militärischen Stärke, also der Waffen. »Alles beginnt mit dem Militär. Alles. Wir werden über das stärkste Militär in unserer Geschichte verfügen und unsere Leute werden die besten Waffen und den besten Schutz haben, den es gibt. Punkt.« (S. 64) Alles in allem ergibt das ein Bild, das man mit den Stichworten Isolationismus und Protektionismus gut zusammenfassen kann und dessen Titel Make America Great Again durchaus passend ist. Trump macht ein großes Schutz-, Zugehörigkeits- und Sicherheitsversprechen: Schutz vor der auslän-

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dischen Handelskonkurrenz, Sicherheit vor der Bedrohung durch die Invasion der Migranten, Zugehörigkeit durch Ausgrenzung und Spaltung. Der effektive Schutz, den Trump verspricht, ist an Stärke gebunden. Stärke ist eine individuelle Qualität, keine kollektive. Stark ist man nur allein, und Stärke bedeutet, dass man nie von anderen abhängig sein darf. Stärke dieser Art ist das, was Trump als erfolgreicher und milliardenschwerer Geschäftsmann wie kein anderer zu verkörpern beansprucht. Es fällt jedoch auf, dass in »Crippled America« die Bedrohung des Landes noch nicht als übermenschlich erscheint. Eher steht das ganz und gar unbescheidene Lob der eigenen Leistung im Zentrum, der Lobgesang auf den eigenen Reichtum und Ruhm, auf die eigene Kraft und Stärke. Eine genaue Analyse der Reden, Verlautbarungen und Twitter-Gewitter würde vermutlich zeigen, dass die Macht der inneren und äußeren Gegner erst seit der Übernahme des Präsidentenamtes nach und nach in bedrohlicher Weise angewachsen ist. Unüberhörbar beherrschen sie nun die Szenerien und Reden, mit denen Trump vor allem auf den großen Wahlkampfveranstaltungen seine Anhänger förmlich in Ekstase versetzt. Die Dramaturgie, die zum Einsatz kommt, beherrscht Trump mit schlafwandlerischer Sicherheit, ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Sie besteht aus Slogans, die das Schema von Bedrohung, Versprechen, Diffamierung der Gegner und Feier der eigenen Grandiosität in ermüdender Ähnlichkeit wie in einem ewig gleichen Refrain wiederholen. Nehmen wir als Beispiel die erste öffentliche Rede vor seinen Anhängern nach der Fertigstellung und Übergabe des Mueller-Berichts Ende März 2019. Dort haben wir erstens die Bedrohung: »Eine Million Ausländer will in unser Land einmarschieren.« Zweitens das Versprechen von Schutz, Sicherheit und Wohlstand: »Wir bauen die Mauer bereits – besser und schneller und viel billiger.« »Wir befinden uns in einem beispiellosen Wirtschaftsaufschwung.« Drittens die Diffamierung des Gegners: Das Klimaprogramm der Demokraten erlaube »keine Flugzeuge« und »nur ein Auto pro Familie«. »Wie kommt man dann nach Europa? Keiner weiß es.« Die Demokraten sind »die Partei des Radikalismus, des Widerstands und der Rache«, und sie wollen »Kinder aus dem Mutterleib reißen«, um sie zu »exekutieren«. Viertens die eigene Großartigkeit: »Ich habe eine bessere Ausbildung als sie, ich bin klüger als sie, ich besuchte bessere Schulen, ich habe ein viel schöneres Haus, ich habe eine viel schönere Wohnung, alles, was ich habe, ist viel schöner. Und ich bin Präsident, und sie nicht.«46 46

Alle Zitate nach SPON, 29.3.2019.

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Ähnlich ist es in der kurzen Videobotschaft, die Trump als Reaktion auf die Ankündigung des Impeachment gegen ihn per Twitter am 28.9.2019 verbreitete. Danach ist das von den Demokraten angestrebte Amtsenthebungsverfahren der »größte Betrug in der Geschichte der amerikanischen Politik«. Die Demokraten machen das nicht, um ihm, Trump, zu schaden, sondern um seinen Anhängern und dem amerikanischen Volk die Macht und die Stimme zu nehmen. »Sie versuchen, mich zu stoppen, weil ich für euch kämpfe. Und ich werde das niemals zulassen.« Sie »wollen euch eure Waffen wegnehmen, sie wollen euch eure Gesundheitsversorgung wegnehmen, sie wollen eure Stimme wegnehmen, sie wollen eure Freiheit wegnehmen«. Aber der Präsident wird das zu verhindern wissen. »Wir dürfen das niemals zulassen. Weil unser Land wie niemals zuvor auf dem Spiel steht.«47 Es ist unverkennbar, dass sich Trump auf den Wahlkampfveranstaltungen in seinem ureigenen Element fühlt. Das sind die Stunden und Auftritte, in denen die Feinde und Gegner ohne jede Hemmungen am heftigsten attackiert werden. Nichts beherrscht er so gut wie die Beschimpfungen, in denen er deutlich machen kann, wie sehr er seine Gegner hasst und verachtet. Intensität und die Zahl der Schimpftiraden nehmen nicht ab, sondern zu, je länger der Präsident im Amt ist. Sie verhalten sich umgekehrt proportional zum Mangel an vorzeigbaren Erfolgen, die zwar mit allen Superlativen gefeiert werden, wenn sie sich nur irgendwie als solche ausgeben lassen. Aber der Theaterdonner kann auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass sehr vieles davon nur Fiktionen sind. Das liegt auch daran, dass die großen Institutionen, Organisationen und Amtsinhaber im nationalen wie im internationalen Raum sich nicht wie willenlose Schachfiguren hin und her schieben lassen. Weder die Börse an der Wall Street, noch der nordamerikanische Diktatur Kim Jong-un, noch Wladimir Putin, noch der Autokonzern General Motors, noch der französische Präsident Macron oder die deutsche Bundeskanzlerin Merkel oder die versammelten Regierungschefs der G-20 Gipfel sind durch Schimpftiraden, demonstrativ zur Schau gestellte Verachtung oder großspurige Freundschaftsdeklamationen wirklich und dauerhaft zu beeindrucken. Und natürlich wird die Sache auch nicht dadurch einfacher, dass sich die vollmundig versprochenen Lösungen als widersprüchlich erweisen, wie es der Fall ist, wenn die Schließung der Grenzübergänge zu Mexiko, die Trump Ende März 2019 androhte, zwar vielleicht das Sicherheitsversprechen 47

Das Video ist zugänglich auf Youtube unter https://www.youtube.com/watch?v= GKtRKqCs7VE

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einlöst, zugleich aber mit großer Wahrscheinlichkeit wirtschaftlich gesehen auf ein Minusgeschäft hinausläuft, weil die Grenze mit Mexiko nicht nur im Personenverkehr, sondern auch im Warenhandel eine der am meisten frequentierten Staatsgrenzen der Welt ist.48 Hinter der steigenden Anzahl der Feinde und Gegner steht das grundlegende Dilemma jeder autoritären Herrschaft, das um so sichtbarer wird, je länger Autokraten an der Macht sind. Da jeder Autokrat das sprichwörtlich Blaue vom Himmel verspricht, aber diese Versprechen normalerweise nicht halten kann, muss er mächtige und zahlreiche Feinde namhaft machen, um Erklärungen für das Ausbleiben der Erfolge zu haben und sich an der Macht zu halten. Nur die Existenz starker Feinde kann erklären, warum eigene Erfolge nicht oder nicht in vollem Umfang eingetreten sind. Zum anderen liefern sie aber auch den willkommenen Vorwand dafür, im eigenen Lager die Reihen zu schließen, die Zweifler bei der Stange zu halten und weitere Machtbefugnisse zu fordern. Nur damit kann der Autokrat die Erregung erzeugen, die er braucht, um die Massen in Angst und Schrecken zu versetzen und Zustimmung zu bekommen. Dann sind wir rhetorisch im Krieg oder nähern uns ihm unaufhaltsam an. Der Kriegs- und Ausnahmezustand ist der wichtigste und beliebteste Operationsmodus aller Autokraten. Er hat den Vorteil, dass er außergewöhnliche Maßnahmen plausibel und erforderlich macht. Schließlich wäre es eine Form von Vaterlandsverrat, wenn nicht sämtliche Ressourcen mobilisiert und jede Opposition mundtot gemacht werden würden. Alles wird dann eine Frage von Sein oder Nichtsein, stets geht es um alles oder nichts. Diese Sicht der Dinge ist sicher eine schöne Bestätigung für die Lehre, nach der Anfang und Wesen des Politischen in der Unterscheidung von Freund und Feind liegen, – nur dass die mehr als zweitausendjährige Erfahrungsgeschichte gezeigt hat, dass mit dieser Unterscheidung die Politik höchstens insofern anfängt, als sie der Anfang vom Ende ist und regelmäßig die Selbstzerstörung freier politischer Ordnungen einläutet. Nicht Politik generell, sondern ein spezifischer Typus politischer Ordnung, den wir gemeinhin als Autokratie charakterisieren, hat einen unstillbar großen Bedarf an Feinden. Das ist auch der Grund dafür, dass jede Autokratie vor der Versuchung steht, zur totalen Herrschaft überzugehen. Dieser Schritt wird dann vollzogen, wenn die inneren Feinde längst besiegt sind, und sich der Terror, der gegen die Feinde eingesetzt worden ist, verselbständigt und zum Selbstzweck wird. 48

Siehe NZZ, 1.4.2019.

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Davon sind die USA sicher weit entfernt. Das ist freilich kein Verdienst des gegenwärtigen Präsidenten, sondern ein Verdienst der nach wie vor im Kern intakten Institutionen und vieler politischer Gegenkräfte. In seinen Reden und Verlautbarungen operiert der Amtsinhaber jedoch durchaus im Modus des Kriegszustands. Hier zeigt er, wer er wirklich ist, was er unter Politik versteht und wie er sie am liebsten machen möchte. Der Krieg der Worte ist natürlich etwas anderes als der Krieg der Waffen und der reale Einsatz von Gewalt. Aber auch der verbale Bürgerkrieg ist folgenreich. Die sprachliche Aufrüstung, die den Gegner, Konkurrenten und Mitbewerber zum Feind erklärt und attackiert, ist ein permanentes Spiel mit dem Feuer, das jederzeit Gewalt freisetzen kann und in sich selber schon eine Verrohung an den Tag legt, die alle vernünftigen politischen Prinzipien und jegliche politische Rationalität untergräbt. Je mehr die Anzahl und das Gewicht der Feinde steigen, desto mehr wird eine Wagenburgmentalität erzeugt und unter Strom gesetzt, die öffentlichen Debatten und freier Auseinandersetzung den Boden entzieht, indem sie zu Intrigen, Lügen und Täuschungen greift und sich dazu legitimiert sieht, weil der Feind so gefährlich und anders nicht zu besiegen ist. Und viele Anhänger Trumps sind gewaltbereit und gut bewaffnet. Ständig vermittelt Trump in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass er verfolgt wird, nur weil er das Richtige tut. Millionen Amerikaner glauben ihm, dass die demokratische Partei, die mit den meisten Journalisten gemeinsame Sache macht, ihn mit allen Mitteln zu Fall bringen will und damit zugleich den Wiederaufstieg Amerikas zu alter Größe verhindert. Trump nennt sie einfach »Volksfeinde«, und die Anwälte und Ermittler, die im Auftrag seines eigenen Justizministers tätig sind, um das Ausmaß der russischen Einflussnahme auf die amerikanischen Wahlen zu klären, veranstalten eine »Hexenjagd«. »Hitch Hunt« ist eine der Lieblingsvokabeln, mit denen er hundertfach in Reden, Erklärungen und Tweets operiert hat, vor allem im Blick auf den Sonderermittler Mueller und dann in gleichem Ausmaß, nachdem die Demokraten Ende September 2019 damit begannen, ein Amtsenthebungsverfahren in Gang zu setzen. Das eigene aggressive Verhalten wird auf diese Weise zum Widerstand, zu einer Art von Notwehr und Rache für vorangegangene Demütigungen. Wenn man Objekt von Verfolgungen, Feinden und Hexen ist, ist man von vornherein im Ausnahmezustand und darf und muss zu Mitteln greifen, die unter halbwegs normalen Umständen nicht erlaubt wären. Not aber kennt kein Gebot.49 49

Zu den Volksfeinden siehe Johnston, Trump im Amt, S. 38.

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Das eigene Verhalten als Rache für Verrat und als Gegenschlag gegen Verfolgung und Übervorteilung zu verstehen, ist ein zentrales Motiv in der Lebens- und Politikauffassung von Trump. Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Eine seiner zentralen Obsessionen besteht darin, Feinde und Jäger zu jagen. Am liebsten ist er auf der Jagd, nur die Jagd interessiert ihn und versetzt ihn in Erregung, nicht die Beute. Es sei eben so veranlagt, »dass dieselben Güter, die mich während der Jagd auf sie in Erregung versetzen, kaltlassen, sobald ich sie besitze. In Mar-a-Lago, meinem 118-Zimmer-Haus in Palm Beach, war ich in den Jahren, seit ich es besitze, vermutlich höchstens zwei dutzendmal. Und was meine Yacht, die Trump Princess, angeht, so ist sie zweifellos eine blendende Trophäe und ein großartiges Hilfsmittel für Geschäfte, doch sie wurde nie wirklich zu einem Teil meines persönlichen Lebens. Sie sehen also, für mich ist es das wichtigste, etwas zu bekommen, nicht, es zu haben.« Am liebsten verfolgt er seine Feinde. Und am allerliebsten attackiert er die Komplizen von einst, die abtrünnig geworden sind. »Ich revanchiere mich richtig gerne.« »Du musst dem Gegner an die Gurgel gehen, volle Kanne!« Wiederholt spricht Trump von der Freude, die es ihm bereitet, wenn er das Leben von Menschen zerstören kann, die sich seiner Meinung nach illoyal verhalten haben.50 Diese Handlungsweisen sind das Gegenteil von dem, worauf es in Demokratien ankommt. Damit Demokratien dauerhaft existieren können, muss nicht nur die Verfassung eingehalten, sondern es müssen auch ungeschriebene Regeln beachtet werden. Dazu gehört an vorderster Stelle, wie jüngst die Politikwissenschaftler Levitsky und Ziblatt herausgestellt haben: »gegenseitige Achtung oder, anders ausgedrückt, das Einvernehmen darüber, dass konkurrierende Parteien einander als legitime Rivalen betrachten, und Zurückhaltung, das heißt, Politiker sollten ihre institutionellen Vorrechte vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl ausüben«. Und sie fahren fort: »Im 20. Jh. konnte sich die amerikanische Demokratie fast immer auf diese beiden Normen oder Gebote stützen. Die Führer der beiden großen Parteien akzeptierten sich gegenseitig als legitime Vertreter des Volkes und widerstanden der Versuchung, ihre zeitweilige Macht zu nutzen, um die Vorteile für ihre eigene Partei zu maximieren. Die Gebote der Achtung und Zurückhaltung dienten als Leitplanken der amerikanischen Demokratie, die dazu beitrugen,

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Das Zitat über die erregende Jagd: Trump, Überleben, S. 13; die anderen Zitate nach Johnston, Trump im Amt, S. 32.

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dass die Parteien sich nicht bis aufs Messer bekämpften und dabei die Demokratie zugrunde richteten, wie es anderswo auf der Welt geschehen ist, etwa in Deutschland in den 1930er Jahren und in Südamerika in den 1960er und 1970er Jahren.«51

Spalten und Herrschen Reale Probleme gibt es in den USA und in den Beziehungen des Landes zum Rest der Welt zur Genüge. So vieles müsste angepackt, erneuert und verändert werden: Da ist die Kluft zwischen reich und arm, die obszöne Züge angenommen und viele in ein Leben ohne ökonomische Sicherheit getrieben hat: Ein amerikanischer Firmenchef verdient heute 350-mal so viel wie ein Arbeiter, 1950 war es 30-mal so viel; die ungleiche Verteilung der Vermögen ist seit den 1980er Jahren noch einmal rasant angestiegen; den obersten 10 Prozent der Bevölkerung gehören heute sagenhafte 77 Prozent des Gesamtvermögens; 40 Prozent der Amerikaner hatten nach einer aktuellen Studie der Notenbank Fed 2017 nicht genug Ersparnisse, um eine unvorhergesehene Ausgabe von 400 Dollar zu bewerkstelligen. Da sind immer noch die Mängel der Gesundheitsversorgung, die auch Obamacare nicht behoben hat. Da ist die Drogenkrise, die allein 2017 die Rekordzahl von 70.000 Menschen in den Tod und viele Tausende von Menschen in die Abhängigkeit getrieben hat. Da ist ein Bildungssystem, das die Chancenungleichheiten nicht ausgleicht, sondern zementiert. Da ist der tief verwurzelte, immer weiter grassierende Rassismus, der die Gesellschaft zersetzt und in den vielen gewaltsamen und tödlichen Übergriffen der Polizei gegen Schwarze seinen deutlichsten Ausdruck findet. Da ist die Einwanderung, die einer umsichtigen und verantwortlichen Regulierung bedarf. Da ist die Umweltzerstörung, die ganze Regionen vergiftet hat. Da sind die Amokläufe, denen immer wieder Schüler, Gläubige, Unbeteiligte zum Opfer fallen. Da ist der Niedergang klassischer Wirtschaftssektoren, der dazu geführt hat, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie in der Zeit von 1980 bis 2016 um rund ein Drittel zurückging. Da sind die Folgen der dramatischen Finanzkrise und der

51

Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 17f.

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geplatzten Immobilien-Blase seit 2008, als der amerikanische Traum sich in Luft auflöste.52 Auch in den internationalen Beziehungen, in denen sich die USA nach dem Untergang der Sowjetunion und des Warschauer Pakts zunächst als strahlender Sieger des Kalten Krieges sehen durften, sind viele alte Gewissheiten ins Rutschen geraten. In China wächst eine neue Weltwirtschaftsmacht heran, die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus sind nicht unter Kontrolle, die eigene Verletzlichkeit, die durch 9/11 schockartig sichtbar wurde, kollidiert nach wie vor massiv mit dem Selbstbild einer vermeintlich allmächtigen Supermacht, die Lage im Nahen Osten erscheint ausweglos, die Kriege in Syrien und in Libyen wollen nicht enden, Russland hat unter Putin mit einer abenteuerlichen neo-imperialen Außenpolitik begonnen, auf die die USA und Trump keine vernünftige Antwort haben, die Bedrohungen durch den Klimawandel sind allgegenwärtig, können nur in internationaler Kooperation bearbeitet und gleichwohl so leicht weggeschoben werden, weil sie in der Lebensrealität der meisten Menschen noch nicht unmittelbar erfahrbar sind. Und wir haben es nicht nur zu tun mit einer Krise der amerikanischen Gesellschaft, des amerikanischen Kapitalismus im Kontext der Globalisierung und weltpolitischen Umbrüchen. Auf dem Tisch liegt auch die auf den ersten Blick viel kleinere Frage nach der Leistungsfähigkeit, den Qualitäten und Grenzen des politischen Systems der USA. Bei aller Bewunderung, die das ausgeklügelte System der checks and balances im Grundsatz verdient, ist einiges schwer verständlich und trägt zur gegenwärtigen Paralyse politischen Handelns nicht wenig bei. Zum Beispiel bestimmt das Wahlrecht, dass jeder Bundesstaat zwei Senatoren in den Kongress entsendet, also Wyoming mit seinen 580.000 Einwohnern eben so viele wie Kalifornien mit seinen fast 40 Millionen. Das führt dazu, dass die kleinen Staaten sich zusammentun und alle Vorhaben der großen auflaufen lassen können. Dafür gibt es den gut nachvollziehbaren Grund, dass die bevölkerungsschwächeren Staaten bei den Entscheidungen in Washington nicht übergangen werden sollten. Die Einrichtung des Wahlmännerkollegiums bei den Präsidentschaftswahlen, hinter

52

Zum Verdienst der Arbeiter und der Firmenchefs siehe Brinkbäumer, Nachruf, S. 445; zur Ungleichheit der Vermögen siehe Stöver, USA, S. 347, Rudzio/Schieritz, Verantwortung; die Studie über die Ersparnisse nach SPON, 29.5.2019; die Opferzahlen der Drogenkrise nach SZ, 26.6.2019; zur Umweltzerstörung siehe Hochschild, Fremd; der Rückgang der Zahl der Arbeitsplätze nach Snyder, Wege, S. 277.

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der ein ähnliches Motiv steht, führt dann in Wahrheit nur noch zum Gegenteil, nämlich zu the winner takes it all, – was im Sport seine Berechtigung und seinen Unterhaltungswert haben mag, im Politischen aber eher zu Verwerfungen und Spaltungen führt. Wenn der Kandidat Trump die drei demokratischen Hochburgen im Rostgürtel des Mittleren Westens, also die Staaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania knapp gewinnt, gewinnt er 100 Prozent ihrer Wahlmänner und damit die Wahl, obwohl er landesweit und in absoluten Zahlen fast drei Millionen Stimmen weniger bekommen hat. Immerhin viermal kam es in der Geschichte der USA dazu, dass der Präsident weniger Stimmen erhielt als der unterlegene Gegenkandidat. Die Gründerväter verfolgten mit der Einrichtung des electoral college, die auf den Vorschlag von Alexander Hamilton zurückgeht, ganz andere Absichten. Hamiltons Argument im 68. Artikel der »Federalist Papers« lautete, dass »Kabalen, Intrigen und Korruption« auf diesem Wege »jedes erdenkliche Hindernis« in den Weg gelegt werden kann und dass damit ferner ein bestens geeignetes Mittel gegen die Angriffe »ausländischer Mächte, die ungebührlichen Einfluss auf unsere Gremien gewinnen möchten«, gefunden ist. Der zweite Artikel der amerikanischen Verfassung führt entsprechend aus: »Es ist … wünschenswert, dass die direkte Wahl von Männern vorgenommen wird, welche am besten dazu befähigt sind, die dem Amt entsprechenden Eigenschaften zu beurteilen. Außerdem sollten diese Männer unter Bedingungen arbeiten, die eine sachliche Beratung und eine kluge Verbindung all der Gründe und Antriebe begünstigen, die ihre Wahl sinnvollerweise bestimmen sollten.« Die Idee funktionierte jedoch auf die Dauer nicht gut. Das lag zum einen daran, dass die Verfassung nicht regelte, wie die Kandidaten für das Präsidentenamt ausgewählt werden sollten und das Wahlmännerkollegium bei der Kandidatenkür keine Rolle spielt. Und zum zweiten daran, dass die Rolle der Parteien, die seit dem frühen 19. Jahrhundert zu bestimmenden Größen wurden, keine Berücksichtigung fand. Der Aufstieg der Parteien führte dazu, dass statt unabhängiger und weithin anerkannter Bürger mit ausgewiesener politischer Urteilskraft nur noch ergebene Parteianhänger, die keinerlei eigenen Spielraum bei ihrer Entscheidung mehr haben, ins Wahlmännerkollegium entsandt wurden. Es zeigte sich, dass die Parteien seit Ende der 1960er Jahre zunehmend mit der Aufgabe überfordert waren, gefährliche Demagogen vom Weißen Haus fernzuhalten.53 53

Zum Wahlsystem und seinen Folgen siehe Brinkbäumer, Nachruf, S. 475, Stöver, USA, S. 325; Hamiltons Begründung in den Federalist Papers, S. 412; der zweite Artikel der

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Eine der schlimmsten Fehlentwicklungen des politischen Systems besteht im übermäßigen Einfluss des großen Geldes auf die Politik. Im Jahre 2010 entschied der Oberste Gerichtshof im Verfahren »Citizens United«, dass Unternehmen wie Einzelpersonen zu behandeln sind und ihre Wahlkampfspenden eine Ausübung des Rechts auf Redefreiheit sind, das vom Ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten geschützt wird. Wahlkampfspenden an Parteien und Personen sind damit in unbegrenzter Höhe möglich. Das Urteil ermöglichte es echten Unternehmen, aber auch vielen Scheinfirmen und fingierten Körperschaften, die Parteien und Wahlkämpfe mit riesigen Geldbeträgen in ihrem Sinn zu beeinflussen und das öffentliche Gut der politischen Meinungsbildung und der Wahlen in ein privates Gut zu verwandeln, das man kaufen kann. Der Wahlkampf, bei dem am Ende Trump zum Präsidenten gewählt wurde, kostete 6,5 Milliarden Dollar, – das ist fast das Hundertfache der Ausgaben für den deutschen Bundestagswahlkampf 2017.54 Für das weit verbreitete Gefühl der Krise, des Niedergangs und des Bedeutungsverlusts, das hinter dem Erfolg von Donald Trump steckt, gibt es also genügend Gründe und Anhaltspunkte. Was Amerika angesichts dieser Lage dringend bräuchte, ist eine tief greifende Debatte über sein Selbstbild, sein Verständnis von Politik, seine Rolle in der Welt, die Logik seiner Institutionen und die Prinzipien politischen Handelns. Das Land hat dafür genug Ressourcen, es kann an eine große Tradition politischen Denkens anknüpfen, um den verlorenen Schatz der Revolution, von dem Hannah Arendt im Blick auf die amerikanische Geschichte sprach, zu bergen und für die Erneuerung des politischen Denkens und Handelns zu nutzen. Diese Tradition ist keineswegs vollkommen tot. In den vielen lokalen politischen Initiativen und der Fülle der townhall meetings wird sie fortgeführt. Vielleicht sind sie die Keimzellen einer politischen Erneuerung, so wie sich auch viele der großen Städte den ignoranten Vorgaben der Washingtoner Zentrale entziehen und unabhängig davon zum Beispiel ihre klimafreundliche Politik fortsetzen oder die Abschiebung von Migranten verweigern.55 Aber wenn man die gesamte Lage in den Blick nimmt, sieht es nicht gut aus. Vor allem die zentrale und unverzichtbare Voraussetzung für eine breite

54 55

Verfassung nach Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 49f; zum Versagen der Idee und zur Rolle der Parteien siehe ebda., S. 50ff; siehe ferner Spivak, Failure. Siehe Snyder, Wege, S. 267; Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 67, 262. Siehe Arendt, Revolution, S. 277ff; »der verlorene Schatz der Revolutionen«: Arendt, Lücke, S. 9; zum Politikverständnis Arendts und zum Verhältnis von Freiheit und Institution siehe Förster, Sorge.

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öffentliche Debatte zum Zweck der Realitätsprüfung und der Bestandsaufnahme geht zunehmend verloren. Diese Voraussetzung besteht darin, dass alle gleichberechtigt ihre Stimme erheben können, und dass es gerade die Pluralität und Vielfalt der Meinungen ist, die zum Gelingen der Debatte und zur Stabilisierung der politischen Ordnung beiträgt. Die gemeinsame Wertschätzung der Pluralität ist nötig, damit auf dieser Basis eine produktive politische Auseinandersetzung stattfinden kann. Wertschätzung der Pluralität bedeutet, dass die anderen nicht als Feind betrachtet werden, den man besiegen und vernichten muss, sondern als gleichberechtigter Partner, dessen Perspektiven, Meinungen und Haltungen nicht weniger Existenzberechtigung haben als die Positionen, die man selber einnimmt. Die Anerkennung der politischen Gemeinschaft der Freien und Gleichen gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen für den Austausch von Meinungen, Perspektiven und Positionen. Gerade diese Haltung aber ist dem gegenwärtigen Präsidenten und seinen getreuen Mitstreitern zutiefst fremd. Schon habituell und von seiner gesamten Lebenspraxis her stellt sie für Trump eine reine Zumutung dar. Die Annahme, dass wir uns im politischen Raum immer unter Gleichen und Freien bewegen, wird von ihm nicht nur geleugnet, sondern widerspricht seinen Anschauungen, seinem Verhalten, seinen Reden und Taten bis in jede Faser hinein. Weil er meint, im Besitz eines universalen Erfolgsrezepts zu sein, ist für ihn alles nur noch eine Frage der Technik und der Umsetzung, für die man möglichst viel Macht braucht und bei der der Umstand, dass andere Akteure legitimer Weise ihre Hand mit im Spiel haben, nur hinderlich ist. Folgerichtig setzt der Präsident alles daran, diese Akteure, die seine Allmacht begrenzen, auszuschalten. Im Grunde versteht Trump Politik nach innen als Einpersonenherrschaft, und analog dazu besteht im Blick auf die Außenbeziehungen seine Idealvorstellung darin, dass alles sich dem Prinzip von America first, das eigentlich America alone meint, unterordnet. Im Grunde möchte Trump so regieren, wie er in der Fernsehsendung The Apprentice auftrat. Dort war er der Sonnenkönig, der allein über die Zukunft von Menschen entscheiden konnte, indem er sie für sein Unternehmen engagierte oder sie aus dem Rennen warf. So stellt er sich auch das politische Handeln vor. Dass kein einziges der internationalen Probleme von den USA im Alleingang bearbeitet und bewältigt werden kann, macht den Präsidenten völlig verrückt und führt zu seinen aberwitzigen Auftritten auf der internationalen Bühne, wo er die Autokraten umschmeichelt, die Amtsinhaber befreundeter und verbündeter Natio-

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nen unverhohlen mit Spott und Häme bedenkt und beide, Autokraten wie Bündnispartner, mit rabiaten Forderungen und Drohungen überhäuft.56 Die politische Agenda des Präsidenten wird ganz offenkundig nicht von der Klärung von Sachverhalten und der Bemühung um Lösungen bestimmt, sondern davon, sich selber und das eigene Land in die Position der Überlegenheit zu bringen und die Anderen auszumanövrieren. Wenn man Politik als das Unternehmen versteht, in dem alles darauf ankommt, den eigenen Willen gegen Widerstände und Widerstreben durchzusetzen, ist das durchaus folgerichtig. Denn dann kommt es natürlich im Kern immer darauf an, sich selber stark zu machen, indem man die Anderen, die widersprechen könnten, klein macht. Dass sich die Vereinigten Staaten, das mächtigste Land der Welt, angesichts der Fülle ihrer Probleme auch nur einen Tag lang über die Frage erregen, ob ihr 44. Präsident Barack Obama wirklich als amerikanischer Staatsbürger gelten darf, ist und bleibt vollkommen absurd. Gleiches gilt für die offenkundig widersinnige Forderung, die jeglichem gesunden Menschenverstand widerspricht, dass Mexiko für eine Grenzmauer bezahlen soll, die es gar nicht will. Die Logik hinter diesen Absurditäten ist nicht nur die Ablenkung von den eigentlich wichtigen Aufgaben, sondern die Stärkung der eigenen Position durch die Schwächung und Diffamierung von Opponenten, deren Eigenständigkeit, deren Interessen und Perspektiven von vornherein als illegitim gelten. Jede Maßnahme, jede Verordnung, jede Initiative, national wie international, die gegenwärtig vom Weißen Haus in Washington ausgeht, ist stets mit der Abwertung und Diffamierung aller Mitspieler, Partner und Gegner verbunden. Alles in allem ist die politische Situation im Land so, dass das Drama um Loyalität und Komplizenschaft nicht nur das unmittelbare Umfeld des Präsidenten prägt, sondern auch auf nationaler wie internationaler Ebene täglich zur Aufführung kommt. Die prinzipielle Frage, um die es dabei immer geht, besteht darin, ob die Rivalen und Konkurrenten im Inneren des Landes überhaupt noch etwas haben, das sie miteinander verbindet und das sie miteinander teilen. Auf der politischen Ebene drückt sich Loyalität im gemeinsamen Interesse an der vernünftigen Regelung der öffentlichen Angelegenheiten aus. Loyalität betrifft die Frage, mit wem man in der Bearbeitung und der Lösung der Probleme verbunden ist, wie politische Gegner und Mitstreiter behandelt werden, ob es eine Grenze gibt, die man auch in heftigen Auseinandersetzungen oder im Streit nicht überschreitet, ob die Standards fairer Konfliktaustra56

America first als America alone: siehe Frum, Trumpocracy, S. 147ff.

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gung, die dafür sorgen, dass Gegnerschaft nicht in Feindschaft umkippt, eingehalten werden. Bei der Russlandaffäre, die der Sonderermittler Mueller untersucht hat, stand genau diese Frage im Zentrum. Der Bericht stellt fest, dass es keine aktiven Kooperationen und Absprachen des Trump-Wahlkampfteams mit Russland gegeben hat, die strafrechtlich von Belang sind und eine aussichtsreiche Anklage vor Gericht ermöglichen. Das ist die juristische Seite der Sache, die sich aber bei Lichte besehen für Trump viel weniger schmeichelhaft liest als sein Justizminister Barr und er selbst es Glauben machen möchten. Unabhängig davon ist der Mueller-Bericht in seinem ersten Teil eine wahre Fundgrube für die Bedeutung von Loyalität im politischen Handeln. Der Bericht listet eine Fülle von Ereignissen auf, die allesamt im politischen Sinne nur als klare Illoyalität charakterisiert werden können. Der Sachverhalt, um den es geht, ist eigentlich recht einfach: Eine ausländische Regierung erklärt gegenüber einigen Personen aus dem engeren Kreis der Getreuen und Vertrauten des Präsidentschaftskandidaten, dass sie im Besitz »dreckiger« Informationen über die Kandidatin der anderen Partei ist und signalisiert die Bereitschaft, die Informationen zum freien Gebrauch zur Verfügung zu stellen. Sofort ist dann die Frage, wie die auf diese Weise Informierten mit dem Angebot umgehen, ob sie daraus ihre parteipolitischen Vorteile ziehen oder ob sie die Angelegenheit öffentlich machen und den zuständigen Behörden melden, dass sich eine fremde Macht in die inneren Angelegenheiten einmischt. Wenn die Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei zum Objekt von russischen Cyber-Attacken wird, kann das nach allen informellen Regeln politischen Handelns im Sinne der Loyalität gegenüber der gemeinsamen politischen Ordnung nur dazu führen, die Konkurrentin gegen diese Angriffe in Schutz zu nehmen und zu verteidigen. Dass es im Juni 2016 zu einem Treffen von Trumps Sohn Donald Jr. und seinem Schwiegersohn Jared Kushner mit einer Russin kam, die angab, im Besitz dieser schmutzigen Informationen über Hillary Clinton zu sein, stellt eindeutig die Interessen am eigenen Wahlsieg über die Interessen des Landes und ist in diesem Sinn eine klare Missachtung des politischen Prinzips der Loyalität. Ähnlich liegt der Fall, wenn sich der designierte Nationale Sicherheitsberater Mike Flynn im Dezember 2016 mit dem russischen Botschafter darüber verständigt, wie die von der Obama-Regierung verhängten Sanktionen gegen Russland ausgehebelt werden könnten. Und ähnlich ist es natürlich auch, wenn der Präsidentschaftskandidat seine persönlichen Geschäftsinteressen über die Interessen seines Landes stellt, wie Trump das praktizierte, als er seine kommerziellen Absichten in Russland auch während der Hochphase

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des Wahlkampfs noch weiter verfolgte und das gegenüber der Öffentlichkeit vertuschte. Wer so handelt, folgt der Maxime, nach der der Gegner der konkurrierenden Partei automatisch der willkommene Helfer und Bündnispartner der eigenen Partei ist, gleich, welche Interessen er im Blick auf die Belange des Landes im Schilde führt. Mit dieser Maxime ist in unendlich vielen Fällen in den unterschiedlichsten außenpolitischen Zusammenhängen, besonders im Kriegszustand, überall auf der Welt und zu allen Zeiten operiert worden. Das ging nur in den seltensten Fällen wirklich gut und im Sinne der Absichten des jeweiligen Akteurs aus. Da wurden zum Beispiel radikale Islamisten unterstützt, etwa während der sowjetischen Besetzung Afghanistans, und selbst Osama Bin Laden gehörte in den 1980er Jahren zu den Nutznießern dieser Unterstützung, also der Al-Qaida-Gründer, der dann hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 stand. In der Welt der internationalen Beziehungen mag es vielleicht im Sinne des Realismus manchmal nicht anders gehen. Aber für die Beziehungen zwischen politischen Konkurrenten eines demokratischen Spektrums im Inneren eines Landes ist diese Logik vollkommen fatal. Sie führt unvermeidlich zur inneren Spaltung und zerstört den gemeinsamen Boden, der eine lebendige politische Diskussion und eine freie öffentliche Debatte erst möglich macht. Unvermeidlich begibt sich derjenige, der mit dem Feind seines innenpolitischen Konkurrenten kooperiert, in eine Komplizenschaft mit diesem Feind und macht sich erpressbar. Für einen kurzfristigen partikularen Vorteil werden dann alle weiteren Rücksichten und Gesichtspunkte über Bord geworfen. Der unmittelbare parteipolitische Nutzen lässt die Frage nach dem Nachteil dieses Nutzens und den destruktiven Effekten, die das für das eigene Land und damit, langfristig, auch für einen selber haben kann, außer Acht. Der springende prinzipielle Punkt hinter dieser ganzen Sache ist das Verhältnis von Loyalität und Pluralität. Die Loyalität dem eigenen Land gegenüber kann sich gerade darin am deutlichsten ausdrücken, dass die Aufrechterhaltung der inneren Pluralität zum wichtigsten Gebot wird. Tatsächlich ist Pluralität, d.h. die Anerkennung der Legitimität abweichender politischer Meinungen, die Anerkennung von Kritik, Widerspruch und Differenz die zentrale Bedingung dauerhafter und stabiler politischer Ordnung. In Amerika wird aber gegenwärtig das Feld weithin von der gegenteiligen Überzeugung beherrscht. Dann tritt an die Stelle der Pluralität die Spaltung. Spaltung bedeutet, dass die Elemente, die eine lebendige Pluralität ausmachen, zu Gegensätzen werden, die einander ausschließen und sich mit allen Mitteln be-

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kämpfen. Spaltung zielt auf Beseitigung der Pluralität, indem sie die Bestandteile, die die Pluralität ausmachen, der Verachtung preisgibt und sich selbst die absolute Wahrheitsposition zuspricht. Pluralität in Spaltungen zu verwandeln, über Spaltungen Mehrheiten zu organisieren, und über die Mehrheit die Spaltung zu perpetuieren und zu vertiefen, – darin ist Trump ein wahrer Meister. Er konnte überhaupt nur Präsident werden und im Feld der Politik erfolgreich sein, weil er eine amerikanische Gesellschaft vorfand, die tatsächlich bereits tief gespalten war. Instinktiv wusste und weiß er, dass er von der Spaltung profitiert, deswegen perpetuiert er sie, heizt sie weiter an und gießt Öl ins Feuer, wo er kann. Freie Gesellschaften und freie politische Ordnungen brauchen aber eine Haltung der Bürger, die wissen, dass sie zwar in vielen Fragen nicht übereinstimmen, aber dennoch und gerade deswegen als Freie und Gleiche gemeinsam die Institutionen und Normen verteidigen, die ihnen die Unterschiedlichkeit ihrer Lebensformen und Meinungen erst ermöglichen. Die gegenwärtig die USA dominierende Politik der Spaltung kann sich auf die soziale Segregation in der Gesellschaft stützen, die die Soziologen schon seit längerem beschreiben. Die Bürger schicken ihre Kinder auf Schulen, in denen sie je nach Schicht und Lebensstil unter sich sind, sie feiern getrennte Feste, sie sprechen kaum mehr miteinander, schon gar nicht, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, sie ziehen zunehmend in Straßen und Stadtviertel, wo Gleichgesinnte wohnen, sie bowlen lieber allein und nicht im Verein, sie kommunizieren in den Sozialen Medien vorwiegend mit Leuten ihres eigenen Milieus und verlassen die dadurch entstehenden Blasen kaum noch. Die Schnittmengen, über die Gemeinsamkeiten entstehen könnten und Leute unterschiedlicher Milieus und Meinungen miteinander in Kontakt treten, nehmen ab, und die Gesellschaft klafft auseinander. »Im letzten Vierteljahrhundert sind Demokraten und Republikaner weit mehr geworden als nur miteinander konkurrierende Parteien, die ein liberales und ein konservatives Lager um sich scharen. Ihre Wähler sind heute durch Rasse, Religion, Geographie und sogar Lebensweise voneinander getrennt.«57 Interessanterweise wurde die Politik der Spaltung in Amerika gerade zu einem Zeitpunkt vorherrschend, als marginalisierte Gruppen und Minderheiten in der Gesellschaft stärker und vernehmlicher auftraten und erfolgreicher wurden. Eine wachsende Zahl einflussreicher und bekannter Personen 57

Siehe Putnam, Bowling Alone; Lütjen, Echokammer; das Zitat zu Republikanern und Demokraten: Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 196.

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stammt heute aus diesen Gruppen, ist in ihren Positionen weithin sichtbar, erhebt ihre Stimme und macht auf diese Weise klar, dass sie dazugehört. Immerhin hatte es Colin Powell als Sohn einfacher afroamerikanischer Immigranten aus Jamaika in den Jahren 2001 bis 2005 bis zum Außenminister gebracht, immerhin war Barack Obama der erste schwarze Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten geworden. Offenbar wurde und wird diese Erfolgsgeschichte von vielen Bürgern, die etwas ganz anderes gewohnt waren, als Bedrohung und Provokation wahrgenommen. Anders kann man die Intensität und Irrationalität der Wut auf den ersten schwarzen Präsidenten in der amerikanischen Geschichte kaum erklären. Und anders kann man auch nicht den Hass auf Hillary Clinton erklären, die als erste Frau drauf und dran war, in das Oval Office einzuziehen. Vieles spricht dafür, dass gerade der soziale Aufstieg von Angehörigen der Marginalisierten und Ausgegrenzten der Anlass für unverblümten Hass und blanke Wut war. Frederick Douglass, der große Kämpfer gegen die Sklaverei, der selbst als Sklave geboren wurde, hat das im Blick auf die Schwarzen knapp und klar zusammengefasst: »Bleibt der Schwarze unterdrückt, wird er toleriert; erst sein Aufstieg treibt die Rassisten zur Wut.« Dass Amerika im Bewusstsein vieler Anhänger des gegenwärtigen Präsidenten so klein und unbedeutend geworden ist, hängt für sie offenbar entscheidend damit zusammen, dass in ihren Augen die Falschen immer erfolgreicher wurden. Insofern ist Trump tatsächlich die Rache für Obama und für Hillary Clinton und für den Aufstieg von Leuten, die nach Ansicht großer Teile der Bevölkerung da nicht hingehören.58 Nichts ist so gut dazu angetan, die Politik der Spaltung zu befeuern wie Lügen und Täuschungen. Sie knüpfen an vorhandene Ressentiments an, bedienen die Vorurteile und verstärken sie. Sie treiben die Elemente der Gesellschaft in die Spaltung, sie befördern das Misstrauen. Viele alltägliche Lügen des gegenwärtigen US-Präsidenten gehören in die Rubrik der Spaltungslügen. So die Lügen über die Demokraten in der oben bereits erwähnten Rede von Trump nach der Übergabe des Mueller-Berichts, so die Lügen über Hillary Clinton, so die Lügen über Obamas Herkunft oder die frei erfundene Aussage, Obama habe angeordnet, das Wahlkampfteam von Trump abzuhören, oder die Behauptung, Obama stecke hinter dem Islamischen Staat, oder die Behauptung, dass die südamerikanischen Länder eine Invasion ihrer Leute

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Das Zitat von Douglass nach Neiman, Vernunft, S. 29; zur Bedeutung von Douglass in der Geschichte siehe Henningsen, Mythos, S. 28ff und passim.

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in die USA beabsichtigen. Lügen dieser Art erzeugen und perpetuieren Spaltungen, und sie sorgen dafür, dass die Gemeinsamkeit des Bodens, auf dem eine Gesellschaft steht, ins Wanken gerät und irgendwann vollständig erodiert. Lügen zerstören jegliche Art der Gemeinsamkeit und damit die Basis dafür, dass wir uns über die gemeinsame Welt verständigen. Immer hat die Politik der Spaltung, die mit den Mitteln der Lüge betrieben wird, die Züge einer self-fulfilling-prophecy. Sie erzeugt den Zustand, den sie für naturgegeben hält: die Differenz und Hierarchie zwischen den Rassen, Ethnien und Geschlechtern. Das ist nahe am Wahrlügen, aber davon doch insofern unterschieden, als die Mittel von Gewalt und Terror, die unter der totalen Herrschaft die Lüge zur Wahrheit machen, bislang nicht zum Einsatz gekommen sind. Das Wahrlügen besteht im Kern aus der Ankündigung von Gewaltakten, die die Aussagen der Lüge zur Wirklichkeit machen. Die Lügen, die als self-fulfilling-prophecy auftreten, wirken subtiler. Sie vertiefen die Spaltungen, indem sie die Köpfe besetzen, kognitive Muster etablieren, Emotionen der Abgrenzung und Abwertung, Abneigung, Verachtung, Wut und Hass freisetzen und verstärken. Dadurch wächst der Grad der Erregung in der Gesellschaft, die Nervosität wird auf allen Seiten größer, und manchmal genügen dann kleine Funken, um Explosionen auszulösen, die zu unabsehbaren Konsequenzen führen können.

Outlaw und Unternehmer »Wie ist es möglich, dass Millionen von Menschen Trump nicht so sehen, wie er ist? Als narzisstischen, ungebildeten alten Angeber, der andere bestiehlt und hinters Licht führt?« Diese Frage stellt, völlig zu Recht, Johnston in seinem Buch »Trump im Amt«, in dem er mit einer ganzen Fülle von Informationen und Details aufwartet, die das Bild bestätigen, das er selber in einem früheren Buch und auch andere Autoren über Trump gezeichnet haben. Übereinstimmend beobachten die Autoren, die sich mit Trumps Biographie und seinem Verhalten beschäftigt haben, den verzweifelten Wunsch nach Bewunderung und Anerkennung, extreme Formen von Egozentrik, blamable Unkenntnis der einfachsten Grundlagen von Diplomatie, Wirtschaft und Geopolitik, einen Hochstapler, der den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht, einen Betrüger, der andere nach Lust und Laune drangsaliert und belügt. In der Tat: Worin liegen die Gründe für den Wahlsieg und für den Einzug dieses Lügners, Betrügers und Hochstaplers ins Weiße Haus? Und warum halten

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ihm seine Anhänger und Wähler immer noch und dauerhaft die Treue? Etwa 40 Prozent der Bevölkerung unterstützt unbeirrt den Präsidenten, der notorisch lügt, rassistische Töne anschlägt, Opfer sexueller Übergriffe verhöhnt, Journalisten und Richter zu Volksfeinden erklärt. Trump ist nachweislich ein skrupelloser Geschäftsmann aus der Immobilien-Branche, der mehrmals in seiner Karriere auf äußerst fragwürdige Mittel zurückgegriffen und sich dafür auch noch gerühmt hat. Er arbeitet mit Drohung, Einschüchterung und Unwahrheit. Er ist der reich und mächtig gewordene Junge aus dem New Yorker Stadtteil Queens, der im Habitus ein pubertärer großmäuliger Halbstarker geblieben ist, ein Mensch ohne Prinzipien, vollkommen selbstbezogen und ungebildet und ganz und gar unfähig zu denken.59 So kann man ihn beschreiben, – aus der Perspektive der kritischen Beobachter erscheint er so und ist er so. Die Beschreibung hat aber den Nachteil, dass sie die Attraktion nicht erklären kann, die von Trump ausgeht, dass sie nicht die breite Welle der Zustimmung versteht, die ihn ins Weiße Haus getragen hat. Und es ist ganz sicher eine viel zu einfach gestrickte Erklärung, wenn man den Wahlsieg Trumps auf die Wirkungen der russischen Einflussnahme zurückführen würde, die es zweifelsfrei gab, die aber die USA und Trump nicht zur Marionette Moskaus gemacht hat. Warum aber ist er aus der Perspektive seiner Bewunderer so anziehend? Sicher kann man sagen, dass die Anhänger ihrer eigenen Phantasie in die Falle gehen. Aber was sind das für Phantasien, denen sie aufsitzen? Wie kann man sie beschreiben? Vielleicht reicht es schon, die Akzente und Perspektiven geringfügig zu verschieben, um deutlicher zu sehen, warum Trump so populär geworden ist und bewundert wird, warum er zur Projektionsfläche seiner Anhänger und damit zugleich zum Inbegriff der gegenwärtig in Amerika offenbar vorherrschenden Befindlichkeiten werden konnte. In dieser Beschreibung ist Trump erstens kein pubertärer und unreifer Rabauke, sondern der furchtlose Rebell, der Außenseiter und , der zum Angriff auf das Establishment aufruft (1). Zweitens ist er der Garant dafür, dass sich der Aufstand lohnen und von Erfolg gekrönt sein wird, jedenfalls dann, wenn ihm, Trump, die Position des mächtigen Anführers übertragen wird (2). Mit den beiden Elementen des Rebellen und des Erfolgreichen knüpft Trump an mächtige Mythen Amerikas an. Um die Dynamik, die hier am Werk ist, besser zu verstehen, präsentiere ich 59

Die Eingangsfrage siehe Johnston, Trump im Amt, S. 405; die frühere Biographie Trumps: Johnston, Akte Trump; weitere Biographien: D’Antonio, Wahrheit und Kranish/Fisher, Wahrheit.

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hier erneut eine Tiefengeschichte, nunmehr die Tiefengeschichte von Trumps Wahlerfolg. Dazu wechsele ich wieder in einigen Abschnitten der Darstellung in die Ich-Form, um das, was da vor sich gegangen sein könnte und weiterhin vor sich geht, verständlicher zu machen. (1) Vor allem anderen sehe ich, Trump, mich »als Außenseiter … (wie ich es wirklich bin)«. Schon als Kind und Jugendlicher war ich das. »Ich bin in Queens aufgewachsen und war ein recht toughes Kind. Ich wollte der härteste Junge in der Nachbarschaft sein und habe immer große Reden geschwungen. Nachgeben war ein Fremdwort für mich. Ganz ehrlich: Ich war schon ein ziemlicher Unruhestifter. Schließlich nahmen mich meine Eltern aus der Schule und steckten mich in die Militärakademie des Staates New York. Und auch dort bin ich mit dem einen oder anderen zusammengerasselt.« Irgendwann in dieser Zeit lernte ich es, mich zu disziplinieren. »Man machte mich zum Cadet Captain – einer der höchsten Ränge, die ein Kadett erreichen kann.« Schon in jungen Jahren stieg ich dann in die Firma meines Vaters ein und unterstützte ihn. Er schenkte mir nichts, ich musste sehr hart arbeiten. »Meine Arbeitsmoral habe ich von meinem Vater. Ich kenne niemanden, der so hart arbeitet wie ich. Ich arbeite ständig. Es geht mir nicht ums Geld – ich kenne einfach kein anderes Leben und es gefällt mir so.« Bald waren mir die Immobilienprojekte, mit denen mein Vater sein Geld verdiente, zu klein und zu unscheinbar. Ich wollte höher hinaus, und deswegen stieg ich in großem Stil in den Markt in Manhattan ein. Aber die Methoden, mit denen mein Vater operierte, sind für mich stets vorbildlich geblieben. Und zum Arsenal seiner Methoden gehörte immer auch, dass man sich am Rand, in der Grauzone und jenseits des gesetzlich Erlaubten bewegt. Also darf man keine Angst davor haben, als u gelten. Ich weiß jedenfalls aus der Geschichte meiner Familie, dass man es nur auf diese Weise zu etwas bringen kann. Mein Vater war sehr clever, er verstand es, die Gesetze zu beugen, wenn er damit saftige Profite aus staatlichen Programmen erzielen konnte, die eigentlich dafür da waren, Kriegsveteranen und Mittelklasse-Amerikaner mit erschwinglichem Wohnraum zu versorgen.60 Außenseiter mit der Bereitschaft, die Grenzen der Wohlanständigkeit zu überschreiten, war ich nicht nur als junger Mann und Unternehmer, sondern bin ich auch geblieben, als ich mich entschloss, in die Politik und in das Rennen um die Präsidentschaft einzusteigen. Ich bin der einzige, der sagt, wie 60

Die Zitate stammen aus Trump, Great Again, S. 22, 153f; die Beugung des Gesetzes durch den Vater nach: D’Antonio, Wahrheit, S. 36.

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es wirklich ist und wie es zugeht, und ich mache die verlogenen Spiele der Presse und der etablierten Politik nicht mit. »Ich spiele nicht nach den üblichen Regeln des Establishments. Ich bin kein Politiker, der Umfragen einholt und abhängig davon festlegt, an was ich ›glaube‹ oder was ich sage.« Ich bekämpfe das Establishment, wo ich kann, und ich verachte es. Hillary Clinton ist wirklich eine Vertreterin des Ostküsten-Establishments in Reinform. Sie ganz besonders, aber nicht nur sie, alle diese Berufspolitiker sind verlogen und selbstsüchtig, und sie wirtschaften alle nur in die eigene Tasche, im Grunde sind sie Parasiten. Das macht mich wütend. »In der Politik heißt es: Wenn man jemanden gewählt hat, wird man ihn nur noch schwer wieder los. Es fehlt die Motivation, irgendetwas zu erledigen. Wenn die amerikanische Öffentlichkeit eine Ahnung hätte, wie die Dinge wirklich laufen, dann wäre sie noch wütender, als sie es ohnehin bereits ist. Die Beliebtheit des Kongresses wäre noch geringer, als sie es jetzt schon ist. Berufspolitikern gefällt das so, Politiker zu sein ist Beruf. Ich kenne viele und glauben Sie mir: In der freien Wirtschaft bekämen die keinen Job. Das Einzige, was die interessiert, ist ihre großartige Altersversorgung und ihre Krankenversicherung – für die Sie bezahlen.«61 Weil ich der einzige bin, der sich traut und sich erlaubt, die Wahrheit zu sagen, stehe ich ständig unter Beschuss. »Von allen Seiten werde ich angegriffen, denn sie alle wissen, dass ich der Einzige bin, der wirklich darüber redet, dieses Land zu verändern und Amerika wieder groß zu machen.« »Um das einmal festzuhalten: Ich finde, CNN und Fox haben mich schlecht behandelt.« Aber sie können mich nicht erschrecken, mir macht das überhaupt nichts aus. »Eines der Probleme, das die politischen Medien mit mir haben, besteht darin, dass ich keine Angst vor ihnen habe. Andere Leute laufen herum und betteln quasi um Aufmerksamkeit. Ich nicht.« »Ich? Ich spreche für das Volk. Also greift mich das Establishment an. Es kann mich nicht kaufen, es kann mir nichts vorschreiben, also sucht es nach Wegen, mich kleinzukriegen.« Ich bin nämlich unabhängig, ich bin sehr reich und sehr erfolgreich, und gerade deswegen kann ich es mir erlauben, allen die Meinung zu sagen, ich kann der Außenseiter und bleiben, der ich bin, mein Erfolg spricht nicht dagegen, sondern ist die Bedingung dafür, dass es dabei bleibt. »Ich mache dieses Spiel nicht mit, denn ich bin ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann.« Und ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden, weil ich das

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Alle Zitate: Trump, Great Again, S. 19, 115.

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Spiel nicht mitgespielt habe, und jetzt erlaubt mir der Erfolg, dass ich unabhängig bleiben kann und immer noch nicht mitspiele.62 Ich bin ganz furchtlos und unerschrocken. Hemmung, Symptom und Angst sind für mich Fremdwörter. »Angst vor Kämpfen hatte ich nie.« »Ich bin ein Kämpfer. Schlagt mich zu Boden und ich stehe wieder auf, stärker als zuvor. Ich liebe das!« Ihr könnt mir vertrauen, weil ich nicht von diesem System abhänge, sondern es trotz dieses Systems zu was gebracht habe, und weil ich weiß, wie man dieses System betrügt. Man muss bereit sein, die Grenzen zu überschreiten, sonst bringt man es zu nichts. Dann gehört es allerdings zum Geschäfts- und Lebensrisiko, dass man auch mal Prügel bezieht. Aber davon lasse ich mich nicht klein kriegen. Und natürlich lasse ich mich auch nicht von irgendwelchen erfolglosen Richtern und sog. Wissenschaftlern beirren. Die Sache mit dem Klimawandel, von dem sie reden, ist doch Blödsinn. Was sie sich da zusammenphantasieren, ist in Wirklichkeit eine Erfindung der Chinesen, die uns nur schaden wollen. Diese Daten und Fakten und Zahlen und Tabellen und Graphiken, mit denen die uns da immer kommen, davon glaube ich kein Wort, das sind alles FakeNews. Mir können sie damit nicht imponieren. Ich habe, wie alle normalen Leute, eine natürliche Abneigung gegen alles, was ich nicht verstehe. Und im Unterschied zu den meisten, die kuschen und die in der Presse, die auch in der Hand der Etablierten ist, nicht zu Wort kommen, sage ich das auch allen, die es hören wollen und besonders auch denen, die es nicht hören wollen. Ich nehme nie ein Blatt vor den Mund. Deswegen gibt es Leute, die mich glatt für ein Monster halten, – sollen sie. Ich habe vor nichts und niemandem Angst und Respekt, ich sage immer, was ich denke, ich muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Deswegen kann es auch Leute aus meinem eigenen Stall treffen, aus meiner eigenen Partei. Da kenne ich nichts. Und dann attackiere ich auch den Senator McCain, der sich so viel darauf einbildet, im Vietnamkrieg gewesen und dort verletzt worden zu sein, der aber eigentlich gar kein richtiger Patriot ist. Sie behaupten dann, dass ich lüge. Aber in Wirklichkeit sind sie es, die lügen. Und ich werde niemals aufhören, ihnen das auch zu sagen. Ich lüge nicht, und wenn ich lüge, dann an den richtigen Stellen. Aber vor allem mache ich einen Aufstand. Was sie Lüge nennen, ist der Ausdruck einer tiefer liegenden Wahrheit, von der sie keine Ahnung haben, weil sie gegen ihre Privilegien verstößt. Ich bin tatsächlich politisch vollkommen inkorrekt. Und das will ich auch, und das 62

Alle Zitate: Trump, Great Again, S. 23f, 29, 119.

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ist auch gut so. Und ich bin ein Kämpfer und ein Siegertyp, niemals gebe ich klein bei.63 Von politischen Parteien und dem ganzen Politikbetrieb, wo einem immer nur Fesseln angelegt werden sollen, halte ich sowieso nichts. Ich bin nicht der Anführer einer Partei, sondern der Anführer einer Bewegung. Schaut Euch meinen Film » « an, den ich drei Tage vor der Wahl publik gemacht habe. Da ist alles zu sehen und zu hören, worum es geht. Es ist, wie ich es dort sage: »Unserer Bewegung geht es nur um eines: ein gescheitertes und korruptes politisches Establishment durch eine neue Regierung abzusetzen, die von euch, dem amerikanischen Volk, kontrolliert wird.« »Das Establishment hat Milliarden in diese Wahl gepumpt … für diejenigen, die in Washington an den Hebeln der Macht sitzen.« »Die einzige Macht, die stark genug ist, um unser Land zu retten, sind wir.« »Das einzige Volk, das mutig genug ist, um gegen dieses korrupte Establishment zu stimmen, seid ihr, das amerikanische Volk. Ich mache meinen Job für euch. Wir werden dieses Land für euch zurückerobern.«64 Wechseln wir zurück zur Distanz und zur Analyse. Alles in allem erscheint Trump in dieser Erzählung als der tatkräftige Rebell im Gestus eines Supermanns, der die Ohnmächtigen und Beleidigten einsammelt und zum Sieg über ein ganz und gar korruptes politisches System führt. Die reine Negation und Rebellion würden freilich nicht ausreichen. Hinzukommen muss die Aussicht auf Erfolg, hinzukommen müssen Stärke, Kraft und Macht, um mit der Rebellion erfolgreich zu sein und Anhänger zu gewinnen. Wenn diese Seite fehlt, funktioniert es nicht. Das kann man an der Position und dem Schicksal von Steve Bannon sehen, dem früheren Chef des Wahlkampfteams von Trump, der als Berater mit in das Weiße Haus einzog, dann aber im August 2017 aussortiert wurde. Man kann sich Bannon nicht als attraktive Gallionsfigur einer Rebellion vorstellen. Ihm fehlt dazu der Nimbus der Stärke und des Erfolgreichen. Er verkörpert die reine Destruktion. Er will die staatlichen Institutionen nicht auf Erfolg trimmen, sondern jeglichen Staat zerstören. Sein Bekenntnis (vom November 2013) ist destruktiv, die reine Lust am Zerschlagen: »Ich bin Leninist. Lenin wollte den Staat zerstören, und das ist auch mein Ziel. Ich will das System krachend kollabieren lassen und das gesamte Establishment gleich mit.« Bei Breitbart News, dem rechtsextremen Medium,

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Alle Zitate: Trump, Great Again, S. 154, 100, 29. Die Zitate aus dem Film nach Jens, Bannon, S. 160ff.

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dessen Bannon eine Zeit lang war, wird unverhohlen zum totalen Krieg gegen den großen Satan des Islam aufgerufen. Das Vaterland werde heimgesucht von einer schleichenden Epidemie, von »Horden geistesgestörter Muslime, die vergewaltigen, morden, plündern und in die Brunnen unserer Städte scheißen. Sie sind eine Belästigung für unsere Bürger, für die ältere Bevölkerung vor allem.« »Wir sind im Krieg gegen den Islam und gegen die Muslime in Europa.« Und gegen die Plutokratie: »Die Plutokraten im Silicon Valley wollen ohne Hindernisse Leute aus der ganzen Welt in die USA bringen. Diese Oligarchen füllen unsere technischen Universitäten mit Leuten aus Südostasien und Ostasien. Die nehmen unseren Kids die Studienplätze und die Jobs weg.« Trump dagegen will den Staat nicht zerstören, sondern erfolgreiche Deals machen und den Staat wie ein Unternehmen auf die Erfolgsspur bringen. Bannon will nicht einmal das. Er ist ein verkommener MöchtegernIntellektueller und Abenteurer, von denen wir analog auch im heutigen Russland schon einige kennengelernt haben. Die bringen es meistens nicht über das Dasein als Anführer einer Sekte hinaus. Bannon war in Washington offenbar wie ein Landstreicher unterwegs, dem der ganze Betrieb im Weißen Haus auf die Nerven ging und der die Trump-Kinder nicht aushielt. Er machte dann den Fehler, »allzu offen zu erzählen, dass Trump seine Marionette sei und dass die Trump-Kinder außergewöhnlich dumm seien – er verließ das Weiße Haus wieder und kehrte zu Breitbart zurück, ehe er von Trump und den Gönnern der Republikaner ganz und gar verstoßen wurde und auch diesen Job verlor«.65 Zwar ist auch Bannon nicht der arme Mann, als der er gerne erscheint. Seine Jahreseinkünfte 2016 wurden vom Weißen Haus pflichtgemäß offengelegt: 1,3 Millionen Dollar. Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzte Bannons Vermögen im April 2017 auf bis zu 48 Millionen Dollar, bestehend aus Kapital, Firmenbeteiligungen, Immobilien. Auch er gehört damit zum obersten Einkommensprozent der USA. Aber die Rolle des Supermanns und des Schutzpatrons kann er nicht spielen. Er ist immer nur der Teufel, der alles negiert und zerstört, voller Lust an der Destruktion, der zügellose Berserker, nichts sonst. Trump dagegen ist beides: Er ist einer aus dem Volk, aber zugleich jemand, der weit über dem Volk steht und die Leute schützen kann. »Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, wie man direkt mit den Leuten spricht, auf 65

Das Bekenntnis nach Jens, Bannon, S. 15; die Zitate aus Breitbart News nach ebda., S. 21, 25; das Zitat über den Abgang Bannons aus dem Weißen Haus und sein Ende bei Breitbart aus Brinkbäumer, Nachruf, S. 245.

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die es ankommt – mit den gewöhnlichen Amerikanern, die die Nase voll haben von Berufspolitikern. Vermutlich für Menschen wie Sie – für waschechte Amerikaner –, habe ich dieses Buch geschrieben.« Und ich kann Euch schützen, weil ich wirklich ein Supermann und sehr, sehr mächtig bin, und weil ich tatsächlich die etablierten Mächte zum Zittern bringe.66 Der unverhohlene Gestus des Rebellischen machte Trump populär. Damit erscheint er als authentisch, unabhängig, direkt und stark, als derjenige, der kein Blatt vor den Mund nimmt und der nicht käuflich ist. Er spricht die Sprache des Volkes. Das Image des Anti-Politischen, die Wut über den verdorbenen Zustand des politischen Systems ist der vorherrschende Zug, der ihn mit dem Volk verbindet. Und er gibt seinen Affekten gegen das Establishment freien Lauf. Die New York Times erstellte im Februar 2017 eine seither regelmäßig aktualisierte Liste von über 300 Personen, Orten und Gegenständen, die Trump seit Juni 2015 auf Twitter beschimpft oder beleidigt hat. Er schimpft und beleidigt und unentwegt und das ist das, was er ausgezeichnet kann. (2) Wer den Rebellen gibt, wird diese Rolle nur dann in politisches Kapital ummünzen können, wenn er zugleich damit überzeugend die Botschaft transportiert, dass er in der Lage ist, das korrupte politische Personal und das herrschende System auch tatsächlich zur Strecke zu bringen. Er darf auf keinen Fall als ohnmächtiger Spielball erscheinen, der sich von allerlei Verrätern und Drahtziehern in die Irre führen lässt, sondern muss mit einer mächtigen Kraft ausgestattet sein, an der die Gegner zugrunde gehen werden. Der Anführer braucht also eine Doppelnatur, er ist beides: Er ist der Rebell und in dieser Rolle erst einmal im Vergleich zu den etablierten Kräften ohnmächtig und schwach, aber er ist zugleich sehr mächtig und in der Lage, die Gegner, die heute die Macht haben, morgen in die Knie zu zwingen. Er ist einer aus dem Volk und zugleich steht er weit über ihm, er kennt genau dieses Gefühl, wie es ist, von fremden Mächten verfolgt und verhöhnt zu werden, aber er hat sich davon nicht unterkriegen lassen, sondern sie in ihre Schranken gewiesen und sich über sie erhoben. Einerseits ist die Botschaft: Ich bin einer von Euch, ich bin wie Ihr. Und andererseits lautet die Botschaft: Ich bin zugleich Euer großer, starker und wohlwollender Beschützer. Ich bin so mächtig, dass ich sogar die Wirklichkeit mit ihren Fakten außer Kraft setzen und einen post-

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Die Angaben zum Vermögen nach Jens, Bannon, S. 26; das Zitat von Trump aus Great Again, S. 32.

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faktischen Raum schaffen kann, eine Realität, in der nur meine Realität gilt und sonst nichts. Die Bedingung dafür, dass jemand das Zeug zu einem großen Anführer hat, ist also nicht nur, dass er einer von uns, aus dem Volk ist, sondern auch einer für uns. Er ist nicht nur unser Bruder, sondern zugleich unser Vater, er ist Rebell und Autorität in einem, Aufrührer und Ordnungsstifter zugleich. Ich werde die Mächtigen und Korrupten zu Fall bringen, und ich werde zugleich »der großartigste Jobproduzent sein, den Gott je geschaffen hat« (Trump). Ich bin der Heilsbringer, der Euch auf die »Reise in den Himmel« (Trump) mitnimmt. Wenn der Anführer sich daneben benimmt, spielt er die Rolle des Rebellen und ist einer von uns. Zugleich aber ist er ein Magier, ein Übervater und Heilsbringer, der uns schützen kann und uns schützen will und der sich für uns und nicht für sich in die Bresche schlägt. »Jahrelang habe ich darüber nachgedacht, für das Präsidentenamt zu kandidieren, habe aber immer gezögert. Freunde, Kollegen und Kunden haben mich ermutigt, etwas zu unternehmen. Ich dachte: ›Ich bin kein Politiker und habe schließlich ein riesiges, erfolgreiches Unternehmen zu leiten.‹ Aber dann ist mir klar geworden, dass ich das nicht länger mit ansehen konnte. Ich konnte die Scheinheiligkeit und die Tatenlosigkeit der Washington-›Insider‹ nicht fassen. Ihnen war nur wichtig, sich ein schönes Stück vom Kuchen zu sichern, während außerhalb der Hauptstadt Amerikaner bittere Not leiden. Die Bürger empörten sich zu Recht angesichts dieses Mangels an Führungs- und Gestaltungskraft.«67 Während die politische Elite des Establishments den Abgehängten gegenüber die Nase rümpft und sie als Abschaum bezeichnet, gibt sich Trump als ihr Anwalt und Fürsprecher. Hillary Clinton schmähte die Anhängerschaft von Trump: »You know, to just be grossly generalistic, you could put half of Trump’s supporters into what I call the basket of deplorables. Right? The racist, sexist, homophobic, xenophobic, Islamophobic – you name it. And unfortunately there are people like that. And he has lifted them up.« Da zuckt Trump nur mit den Schultern und sagt: Wir sind halt so, wie wir sind. Was wir verlangen ist nur, dass die einfachen Leute geschützt werden müssen, und zwar viel mehr als die Schwulen, die feindlichen Ausländer und die Migranten. Trump macht sich mit Vergnügen und Überzeugung zum Anwalt derjenigen, denen andere mit Hohn und Spott begegnen. Gemeinsam mit ihnen hat er ein unbändiges Vergnügen an der Übertretung des guten Ge-

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Das längere Zitat aus Trump, Great Again, S. 191.

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schmacks und der Regeln der guten Gesellschaft. Seine Botschaft ist einfach: Die Clinton verachtet Euch, ich schütze Euch.68 So ist er antiautoritärer Rebell und zugleich der Inhaber großer Macht und Autorität. Zum Anführer ist derjenige prädestiniert, der beides verkörpert: den jungen rebellischen Sohn und zugleich denjenigen, der schon gezeigt hat, dass er die Rebellion erfolgreich bewerkstelligen kann. Als er in die Politik einstieg, war er »ein interessanter, vielleicht einzigartiger Mix aus cleverem Showman und launischem, dünnhäutigem Straßenkämpfer«. In der Rolle des Rebellen nennen ihn seine Anhänger The Donald, in der Rolle des Schutzpatrons nennen sie ihn Big Daddy. Der Gestus der Rebellion verlangt nach fortwährenden Tabubrüchen, die so pubertär und unerwachsen anmuten. Aber der Rebell ist nicht nur ein Trickser und Schwindler, sondern zugleich derjenige, der lauter erfolgreiche Deals gemacht hat und ganz oben steht. Und von dort aus, von ganz oben aus, wird er wie ein Schutzpatron dafür sorgen, dass wir nicht untergehen. Das Charisma des Kandidaten und des Präsidenten Donald Trump, wenn man von Charisma hier reden will, speist sich aus beidem, aus der rebellischen Disziplinlosigkeit und der Autorität des Erfolgs.69 Es ist diese Mischung, die für den Erfolg des politischen Rebellen und Demagogen ausschlaggebend ist. Trump verkörpert beide Seiten. Er hat die Ohnmacht in Rebellion verwandelt und ist zugleich allmächtig. Das erklärt, wieso seine Grobheit, seine Vulgarität, seine Lügen nicht abschreckend wirken, sondern anziehend. In ihnen steckt das Signal: Ich bin und bleibe der Rebell, der den Mut hat, ungehemmt und offensiv die Regeln zu brechen, die eigentlich nur dazu ausgedacht sind, uns klein zu halten. Ich passe mich nicht an, ich lasse mich durch Konventionen nicht aufhalten, ich bin und bleibe vulgär, aggressiv und wütend. Und damit bin und bleibe ich einer von Euch. Das bedeutet zugleich, dass irgendwelche Enthüllungen, solange sie nur diese Seite von Trump zutage fördern, nicht gegen ihn zu Buche schlagen, sondern für ihn. Sie befeuern geradezu das Bild des Rebellen und Tabubrechers, der der guten Gesellschaft ans Bein pinkelt und ihr den Vogel zeigt. Der antibürgerliche und anti-seriöse Habitus ist für einen Rebellen nicht peinlich, sondern ein Baustein seines Erfolgs. Es ist dann so, wie Leo Löwenthal es in seinen »Studien zur faschistischen Agitation« in den 1940er Jahren an den damaligen Demagogen beobachtet hat: »Seine schlechten Manieren werden zum 68 69

Das Clinton-Zitat nach NYT, 10.9.2016. Showman und Straßenkämpfer: Kranish/Fisher, Wahrheit, S. 15.

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Garant seiner Aufrichtigkeit. Sie können ihm trauen, denn er schmeichelt ihnen nicht.« Er hat nichts zu verheimlichen, und gerade das ist es, was ihn von seinen Gegnern und Feinden unterscheidet. Das gilt ganz unabhängig von der Frage, ob der Agitator gezielt und kalkuliert vorgeht oder ob sein Verhalten und seine Rhetorik nicht-intentional und habituell sind. »Als der anständige Kerl, der er ist und der nichts zu verbergen hat, dessen Überschwänglichkeit und Gesprächigkeit keine Grenzen hat, wird er auch nicht durch Überlegungen des guten Geschmacks gehindert, ungeniert sein Privatleben und seine Selbsteinschätzung offen auszubreiten.«70 Häufig ist in den politischen Diagnosen der Gegenwart die Rede von autoritären Politikmodellen, von Autokratien, von der Sehnsucht nach Ordnung und Unterordnung. Das ist zweifellos richtig. Aber es wird dabei das Element der Rebellion übersehen, das der erfolgreiche autoritäre Ordnungsstifter für sich reklamieren muss. Im Fall von Trump ist das besonders groß. Das ist die Lust am Tabubruch, am Aufbegehren, daran, Grenzen zu überschreiten, nicht erwachsen zu werden. Das Autoritäre ist rebellisch, und die Rebellion unterfüttert die Autorität. Es sind gerade gesellschaftliche Außenseiter und Quereinsteiger, die diesen Typus verkörpern. Wenn sie es bis an die Spitze geschafft haben, besteht für sie die besondere und paradoxe Herausforderung darin, das Rebellische beizubehalten, zugleich aber für Disziplin zu sorgen und durch reale Erfolge den Nimbus des Machtvollen zu nähren. Auf die Dauer geht das nicht gut. Das Problem ist nur, dass bis zum offenkundigen Scheitern eine so große Menge an Scherben erzeugt wird, dass die Gesellschaft danach auf lange Dauer mit deren Beseitigung zu tun hat. Es ist also sehr wichtig, dass auch die Funktion des mächtigen Schutzpatrons überzeugend ausgeübt werden kann. Und es kann kein Zweifel sein, dass Trump neben dem Rebellen keine zweite Rolle so gut beherrscht wie die desjenigen, der am Ende immer erfolgreich ist. Das erscheint von außen als maßlose Arroganz, als Hochmut, als der Größenwahn eines Hochstaplers. In der Bilderwelt der Popkultur ist er der Supermann, der alles kann, der alles bekommt, für den es keine Grenzen gibt, er ist der Messias und Erlöser, der alle zu Gewinnern macht und die Gegner zu Losern. Er wirft sich in die Bresche für die Armen und für die fleißigen Leute aus der Mittelschicht, er kümmert sich »um die Menschen, für die der American Dream ausgeträumt ist, weil in diesem Land vor allem die Reichen mit staatlicher Unterstützung rechnen können«. Da Trump im Staat nichts anderes als ein Wirtschaftsunternehmen 70

Löwenthal, Falsche Propheten, S. 38, 126f.

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oder ein Instrument der Wirtschaftsförderung sieht, ist sein ewig wiederkehrender Hinweis darauf, dass er als erfolgreicher Unternehmer auch in der Politik alles kann, durchaus folgerichtig. Er ist der Gewinner, er gewinnt immer, er weiß wie es geht, er kennt alle Tricks und Kniffe, er ist wirklich stark, ihm nimmt man das Schutzversprechen ab. »Ich habe genug eigenes Geld, also kann ich die richtigen Entscheidungen treffen. Ich diene den Menschen, nicht den Lobbyisten. Vom Geschäftemachen versteht niemand mehr als ich.« So stellt er sich dar, so wird er gesehen, so will er gesehen werden.71 Mit dieser Rolle ist Trump sicherlich auch deswegen so erfolgreich, weil die »Ideologie des Erfolgs« im amerikanischen Selbstverständnis von außerordentlich großer Bedeutung ist. Das Image des , das Bild des Tat- und Erfolgsmenschen ist als festes Ideal tief in Tradition und Gegenwart der US-Gesellschaft verankert. Der erfolgreiche Unternehmer, der alles sich selber verdankt, der aus kleinsten Anfängen ganz nach oben gekommen ist, ist der Inbegriff des American Dream. Dazu gehört auch eine gehörige Portion Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit. Einer der reichsten Amerikaner, Cornelius Vanderbilt, der im 19. Jahrhundert zu den Ikonen des Aufstiegs gehörte, schrieb an seinen damaligen Geschäftspartner Charles Morgan: »Mein Herr! Sie haben es gewagt, mich zu betrügen. Ich werde nicht klagen, denn die Justiz ist zu langsam. Ich werde Sie ruinieren. Hochachtungsvoll, Ihr Cornelius Vanderbilt.« Das könnte von Trump stammen. Die meisten der zu großem Geld gekommenen Superreichen beschränkten sich jedoch darauf, sich durch die Gründung von Stiftungen für gemeinnützige Zwecke einen Namen zu machen, der das Wirtschaftliche überstieg, so zum Beispiel John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und der zitierte Cornelius Vanderbilt. Das hat immerhin den Vorteil, dass hier nicht die Regeln, die das wirtschaftliche Handeln bestimmen, unbesehen auf den politischen Raum übertragen wurden, wo sie vollkommen fehl am Platze sind. Es ist nun einmal so, dass die Haltungen der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft im politischen Handeln nichts zu suchen haben.72 Während der erfolgreiche Unternehmer und Superreiche das Idealbild des American Dream verkörpert, ist der Rebell, jenes zweite Element der Tiefenerzählung von Trumps Wahlsieg, in der amerikanischen Kulturindustrie und

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Die Menschen, für die der American Dream ausgeträumt ist: Trump, Great Again, S. 101; »ich habe genug eigenes Geld«: ebda., S. 96. Zur Ideologie des Erfolgs siehe Stöver, USA, S. 337ff, das Zitat von Vanderbilt, ebda., S. 340.

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Popkultur allgegenwärtig. In der populären Literatur, in Filmen, im Fernsehen, in C omics avancieren die Outlaws des Wilden Westens wie die Outlaws der Organisierten Kriminalität zu Helden, die verehrt werden und denen gehuldigt wird. In unterschiedlichen Figuren und Varianten setzt sich das bis heute fort. Die Kombination des Outlaws und Rebellen mit dem Unternehmer und rgibt den unternehmerischen Gesetzlosen oder gesetzlosen Unternehmer, der hier zum Archetyp wird. Oder wie Trumps Vater zu ihm sagte: Du bist ein »König«, und Du musst ein »Killer« werden in allem, was Du tust.73 Trump bedient die beiden Seiten des amerikanischen Mythos, die Seite des erfolgreichen Unternehmers und die Seite des rebellischen auf geradezu verblüffend perfekte Weise. Und er tut das wie selbstverständlich auch noch nach seinem Einzug in das Weiße Haus. Schon am Tag seines Amtsantritts machte er klar, dass er als Inhaber des mächtigsten Amtes der Welt der Rebell bleiben wird, der die Etablierten attackiert und brüskiert. In der Rede zu seiner Inauguration am 20. Januar 2017 sagte er den Politikern in der Hauptstadt offen den Kampf an: »Zu lange hat eine kleine Gruppe die Vorteile der Regierung genossen, während das Volk die Kosten zu tragen hatte. Washington florierte, aber das Volk hatte keinen Anteil an diesem Reichtum. Politikern ging es immer besser, aber die Arbeitsplätze verschwanden und die Fabriken schlossen. All das ändert sich von genau diesem Moment an und genau von diesem Ort aus, denn dieser Moment ist Ihr Moment.« Und die andere Seite, die Seite des Erfolgs und der Erfolgreichen, bediente Trump nicht minder offensiv, indem er unmittelbar nach seinem Wahlsieg für sein Kabinett eine illustre Reihe von Milliardären und Multimillionären nominierte und das ausdrücklich damit rechtfertigte, dass er Menschen um sich haben will, die reich geworden sind und damit den Amerikanischen Traum verwirklicht haben.74 Die Tiefenerzählung geht also auch im Amt weiter. Sie besteht aus den immer wiederkehrenden zwei Kapiteln von Rebellion, Provokation, Hemmungslosigkeit, Unverschämtheit einerseits und Erfolg, Geld, Reichtum, Allmacht andererseits. Es ist die Aura des Staatsmanns, des Entscheiders,

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Trump als Figur der Popkultur: siehe Seeßlen, Trump; zum unternehmerischen Gesetzlosen siehe D’Antonio, Wahrheit, S. 70; »König« und »Killer« nach Kranish/Fisher, Wahrheit, S. 60. Das Zitat aus der Inaugurationsrede nach Keil/Kellerhoff, Fake News, S. 7; zur Rechtfertigung seiner Kabinetts-Nominierungen siehe Stöver, USA, S. 679f.

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der im Oval Office mit großer Geste und unter dem Beifall anwesender Delegationen die Verordnungen unterschreibt, die Amerika wieder aufrichten, zu dem die Staatsmänner aus aller Welt kommen und ihre Aufwartung machen und vom Präsidenten am liebsten wie Bittsteller oder wie Angeklagte behandelt werden. Als Macher und Erfolgsmensch springt er mit Besuchern und Mitarbeitern um wie mit Vasallen, feuert die Leute und stellt neue ein und erscheint damit als entscheidungsfreudig, mächtig und durchsetzungsfähig. Und im zweiten Register seines Regierungsstils gibt er den Halbstarken, der sich aufführt wie ein Raufbold im Wirtshaus, der keine Manieren hat und unentwegt provoziert, attackiert und hemmungslos aggressiv ist. Der Präsident ist der Raufbold geblieben, der er als Kind und Jugendlicher war. Niemand ist sicher vor seinen Pöbeleien, auch seine eigenen Getreuen nicht, wenn er mitbekommt, dass sie ihm irgendwie schaden könnten oder dabei sind, sich von ihm abzuwenden. Dann kanzelt er sie ab wie Schuljungen auf dem Pausenhof. Der Einsatz von Lügen und Täuschungsmanövern bedient beide Facetten gleichermaßen, das Rebellische und das Erfolgreiche. Die Lüge hat das Element des Aufsässigen und des Protests, in dem wir gegen die Wirklichkeit, wie sie ist, ankämpfen können und mit der wir zeigen, wie sehr wir unsere Gegner, die uns zum Schweigen bringen wollen, missachten und bekämpfen. In der Lüge überheben wir uns über die Realität und überschreiten ihre Grenzen. Wir lassen uns von solchen Kleinigkeiten wie der Wirklichkeit oder von Tatsachenwahrheiten niemals aufhalten. In der Rebellion ist der Anführer mit seinen Getreuen vereint und kann seinem Publikum die unglaublichsten Märchen auftischen. Die Rebellion ist stärker als die Fakten. Und wenn es sich erweist, dass sich die Schwerkraft der Wirklichkeit wider Erwarten doch nicht aushebeln lässt, hat das Publikum das natürlich längst gewusst und nimmt die Position der überlegenen Einsicht und der Wissenden ein, die das Geheimnis immer schon durchschaut haben und wissen, wie es in der Welt zugeht. Das wichtigste ist, dass der Anführer für uns und nicht für sich gelogen hat. Dann kann man durchaus stolz darauf sein, Führer zu haben, die so mächtig sind, dass sie andere Leute in die Irre zu führen verstehen. Die Anhänger finden sich nicht nur mit den Lügen ab, sondern haben an ihnen ihren Spaß. Je faustdicker die Lügen, desto faustdicker der Spaß.

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Die Dreigroschenoper im Weißen Haus Trump passt sehr gut in das Bild der autoritären Bewegungen und Personen, das die Autoren der Frankfurter Schule seit Ende der 1920er Jahre gezeichnet haben. Erich Fromm entdeckte in seinen für das Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführten Untersuchungen über »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches« den »rebellisch-autoritären« Charaktertyp, für den »die rebellischen Tendenzen und die latente Sehnsucht nach einer umfassenden Unterordnung« gleichermaßen bestimmend sind. In seinem Beitrag zu den »Studien über Autorität und Familie«, die das Institut 1936 in Paris publizierte, beschäftigte sich Fromm erneut mit dem Typus des »rebellischen Charakters«, hinter dessen Rebellion im Grunde eine tiefe »Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung der Mächtigen« steckt. Ganz ähnlich sah Theodor W. Adorno in der »Authoritarian Personality« den Typus des Rebellen dadurch charakterisiert, dass bei ihm trotz aller Auflehnung und allen Aufbegehrens »die autoritäre Struktur im Wesentlichen unberührt bleibt«. Diese Überlegungen zielten auf die psychische Disposition der Beteiligten. Politisch gesprochen ging es um die aus der Politik- und Revolutionsgeschichte wohl bekannte Tatsache, dass die Rebellionen gegen Unterdrückung entweder schon von vornherein unter dem Vorzeichen der Unfreiheit standen oder in ihrem Verlauf immer wieder in neue Formen von Unterdrückung und Unfreiheit übergegangen sind. Die Aufklärungshoffnung, die die Kritische Theorie seinerzeit bei ihren Forschungen antrieb, bestand in der Annahme, dass die Aufdeckung der simplen Tricks, mit denen die autoritären Anführer arbeiten, ihre potentiellen Anhänger gegen die Versuchungen, ihnen zu folgen, immunisieren kann.75 Nach dem Wahlsieg Trumps im November 2016 stieß George Orwells »1984« aus dem Jahre 1949 in den USA und in vielen weiteren Teilen der Welt auf großes Interesse. Allein in der Woche nach der Inauguration im Januar 2017 mussten 70.000 Exemplare von Orwells Klassiker nachgedruckt werden. Die Käufer und Leser wollten offenbar wissen, wohin die Reise geht. Anfang April 2017 wurde dann in fast 180 Kinos in den USA an einem und demselben Tag die Verfilmung von Orwells Schreckensroman gezeigt, um ein Zeichen der Empörung über Trumps Präsidentschaft zu setzen.76 75 76

Fromm, Arbeiter und Angestellte, S. 249; Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S. 131; Adorno, Autoritärer Charakter, S. 328. Siehe Jens, Bannon, S. 36.

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Der erhellende und passende Kommentar zur gegenwärtigen Lage in den USA sind aber weniger die Untersuchungen der Frankfurter Schule über den autoritätsgebundenen Charakter oder Orwells Dystopie, sondern eher die »Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht, die 1928 uraufgeführt wurde. Der Präsident im Weißen Haus ist eine Mischung aus dem Unterweltkönig Mackie Messer, der eine gute Komplizenschaft mit dem Polizeichef unterhält, und dem Bettlerunternehmer Peachum, der sein Kapital aus dem Elend der Anderen schlägt. Auf der Bühne Brechts führen sich die Gangster wie Möchtegern-Bürger auf, und natürlich wollte Brecht damit zum Ausdruck bringen, dass die Bürger in Wirklichkeit kriminell sind. Mackie Messer, den Brecht als »den größten Verbrecher Londons« vorstellt, der »nimmt, was er will«, führt seine Gang wie ein seriöses Geschäftsunternehmen, wie eine Vereinigung von Kaufleuten und rationalen Egoisten, die alles sein wollen, aber keine Kannibalen. Dass sich die Verbrecher wie ehrbare Bürger und Geschäftsleute geben, will aber vor allem sagen, dass die Wirklichkeit des Bürgerlichen und des Geschäfts das Verbrechen ist. In den Worten von Mackie Messer: »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?« Demnach sind die Methoden des bürgerlichen Geschäftslebens eigentlich die Methoden von Gangs und Rackets, nur effektiver.77 Brecht verfocht bei aller aufwendigen Theater- und Verfremdungstheorie eine sehr einfache Auffassung von Aufklärung und Widerstand. Er glaubte daran, dass die bürgerliche Gesellschaft zusammenbricht, wenn die Bürger (und die Gangster) als das erkennbar werden, was sie wirklich sind. Wenn die Bürger in den Spiegel schauen, den er ihnen vorhält, erschrecken sie vor dem eigenen Anderssein, verlieren ihre Selbstgewissheit und taumeln unter den Schlägen, die die Ausgebeuteten ihnen versetzen, rasch ihrem Untergang entgegen. Brecht wollte den Bürgern den schönen Schein und das gute Gewissen nehmen und sie delegitimieren. Da das Leben im Kapitalismus für die meisten nicht angenehm und nicht bequem ist, erheben sich die Benachteiligten und Entrechteten und bereiten diesem gigantischen Spuk eines ausbeuterischen Wirtschaftssystems sein verdientes Ende. Brecht und mit ihm die künstlerische Avantgarde seiner Zeitgenossen waren der Überzeugung, dass sie die gute Gesellschaft ordentlich schockieren und aus dem Gleich-

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Brecht, Dreigroschenoper, S. 41, 94.

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gewicht bringen können, indem sie die Amoralität der Bourgeoisie und ihre Heuchelei demonstrativ sichtbar und nachvollziehbar auf die Bühne bringen. Aber in Wirklichkeit passierte dann mit der »Dreigroschenoper« etwas ganz anderes. Es zeigte sich, dass das, was den Bürgern vorgeführt wurde und sie schockieren sollte, längst zum Bestandteil ihres eigenen Selbstverständnisses geworden war, etwas, das sie nicht verleugneten, sondern mit Vergnügen in ihr Selbst- und Weltbild integrierten. Als sie auf der Theaterbühne vorgeführt bekamen, dass die Welt niederträchtig ist, stimmten sie lustvoll und voller Enthusiasmus zu. Arendt schreibt in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« über die Aufnahme von Brechts Werk, das zum erfolgreichsten Theaterstück seiner Zeit wurde: »Die Ironie des Stücks ging ein bisschen verloren, wenn achtbare Geschäftsleute in der Zuhörerschaft das ›Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral‹ als tiefe Einsicht in den Lauf der Welt beklatschten, während der Mob in der ganzen Sache nur eine erfreuliche Sanktionierung des Gangstertums begrüßte. An der Entlarvung bürgerlicher Heuchelei freute sich keineswegs nur die Elite, sondern vorerst einmal die bürgerliche Gesellschaft selbst, da sie die Heuchelei, das ›Kompliment des Lasters an die Tugend‹, ohnehin als überflüssigen Ballast abzuwerfen im Begriffe stand. Die Wirkung des Stückes war das genaue Gegenteil von dem, was Brecht mit ihm gewollt hatte; sein einziges politisches Ergebnis war, dass jedermann ermutigt wurde, die unbequeme Maske der Heuchelei fallen zu lassen und offen die Maßstäbe des Pöbels zu übernehmen.«78 Trump steht in der Linie dieser vollends aufgeklärten Bürger, die über die Illusion hinaus sind, dass es im Geschäftsleben mit rechten Dingen zugeht, und die sich nicht vor Scham verkriechen, wenn ihnen der Spiegel vorgehalten wird. Geschäftsleute vom Schlage Trumps verleugnen nichts mehr, sie wissen, dass der Mensch ein Raubtier ist, sie bekennen sich zu den Methoden der Unterwelt und feiern sich für die Aufrichtigkeit, die sie damit beweisen. Sie verfallen darüber nicht in Schockstarre, sondern verstehen sich als Vorreiter eines ehrlichen und authentischen Realismus, fern von Heuchelei und Scheinheiligkeit. Diese Haltung macht sie in ihren eigenen Augen und in den Augen ihrer Anhänger nicht abstoßend, sondern verhilft ihnen im Gegenteil zum Ruf authentischer Ehrlichkeit und sichert ihnen begeisterte Unterstützung. Die Haltung dahinter ist: Die Verbrecher und Gangster sind viel näher an der Wirklichkeit, weil sie etwas ausdrücken, was die feinen Leute sich nicht eingestehen wollen: dass es in der Welt raubtierhaft zugeht und 78

Arendt, Elemente, S. 539.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

jeder selber sehen muss, wie er sich über Wasser hält. In diesem Sinne kann man Trump als Aufklärer verstehen, der den Schleier der Illusionen von der Wirklichkeit wegzieht und damit sichtbar macht, wie sie tatsächlich ist. Und mehr noch ist diese Haltung zugleich mit einer Attacke auf das Establishment der Wohlanständigkeit verbunden. Diese feinen Leute der Elite wissen nicht nur nicht, wie die Wirklichkeit aussieht, sondern sind ihrerseits der Inbegriff der Heuchelei, denen man die Maske vom Gesicht reißen muss. Dann wird klar, dass ihre angebliche Tugendhaftigkeit nur dazu dient, den anderen etwas vorzumachen und sie umso effektiver auszunehmen. Sie verdecken mit ihrer Berufung auf Tugend, Wohlanständigkeit und Menschenrechte also nur, dass sie in Wirklichkeit selber unter Einsatz aller Mittel in die eigene Tasche wirtschaften, – und das ist viel schlimmer, weil es geheuchelt ist. In der Perspektive dieser vollends aufgeklärten Bürger gilt: Wenn die andern so gut wären, wie sie tun, würden sie mein Weltbild wirklich gründlich widerlegen. Das kann nicht sein. »Wer Menschheit sagt, will betrügen«, meinte auch Carl Schmitt, der sich damit in die Reihe der vollends Aufgeklärten einreiht. Tugend ist in dieser Perspektive immer Lüge und Betrug. Es lügen sowieso immer alle, die Tugendhaften sind die größten Lügner, und eigentlich sind nur die Leute aus der Halb- und Unterwelt ehrlich. Jemanden, der keine egoistischen Interessen verfolgt, kann es in dieser Weltsicht niemals geben. Es ist eben eine Welt, in der Täuschung und Argwohn überall die Regel sind, und in einer solchen Welt liefert sich jeder, der ehrlich bleibt, der Vernichtung aus. In einer Welt, die aus Lügnern und Gaunern besteht, wäre es selbstmörderisch, dieser Logik nach, wenn man selber nicht lügt und nicht gaunert.79 Trump folgt diesem Prinzip und dieser Haltung. Unter seiner Ägide ist das Weiße Haus mit Charakteren aus der Halbwelt bevölkert, die in der Grauzone zwischen Gangstertum und Wohlanständigkeit agieren und das politische Geschäft und das öffentliche Leben für das eigene Fortkommen instrumentalisieren. Die Schamlosigkeit des Präsidenten, seine Verschlagenheit, Schlauheit und Gaunerei, seine brutale Rücksichtslosigkeit und Unaufrichtigkeit, seine krummen Touren, – dieses ganze Arsenal der Niedertracht, das den Präsidenten auszeichnet, macht Schule. Die Biographie Trumps zeigt, dass er keine Hemmungen hatte, die Nähe des organisierten Verbrechens zu suchen. In seiner Geschichte mischt sich die bürgerliche Welt des Geschäfts mit den kriminellen Methoden der Halb- und Unterwelt, des Gangstertums und der Mafia. 79

»Wer Menschheit sagt, will betrügen«: Schmitt, Begriff, S. 55.

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Es ist eine Räuberbande in Zivil, die das Weiße Haus okkupiert hat. Ihr Anführer verkörpert die Doppelnatur, die die »Dreigroschenoper« vorführt. Der Gangster ist ein guter Geschäftsmann, und der gute Geschäftsmann ist ein Gangster und denkt sich nichts dabei. Beide, den Gangster und den Geschäftsmann, eint die gemeinsame Weltsicht, die Brecht dem Gangsterkönig Mackie Messer in den Mund legt: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Vielleicht sieht Trump die Geschäftspraktiken des Weißen Hauses manchmal wie Mackie Messer, d.h. betont liberal: »Es geht auch anders, doch so geht es auch.« Vielleicht betrachten einige Weggefährten und Gangmitglieder ihren Präsidenten mit einer Mischung aus Sorge, Bewunderung und der Vorahnung, dass der Spuk bald auffliegen könnte, so wie es der Polizeichef über seinen Freund Mackie zum Ausdruck bringt: »Aber er ist ja so leichtsinnig, wie alle großen Männer.« Aber freiwillig und ohne Gegenwehr wird Trump seine Beute: das Präsidentenamt, und die riesigen Chancen, die es ihm eröffnet, nicht wieder hergeben. Zu sehr schmeichelt es seinem unstillbaren Narzissmus und seinem »Genie«, und zu lukrativ ist die Verquickung von Amt und Geschäftsinteresse. Es wäre gegen alle Cleverness, die der Präsident in Geschäftsdingen immer wieder an den Tag gelegt hat, wenn er nicht einen Weg finden würde, die Amtsgeschäfte so zu führen, dass sie zugunsten der privaten Geschäfte seiner Firma ausschlagen. Die persönliche Bereicherung durch die Übernahme des Amtes, begann mit dem Tag der Inauguration. Es ist kein Geheimnis, dass der Präsident es gern sieht und es auch für die Staatsgäste von Vorteil ist, wenn sie in Washington in seinem Luxushotel Quartier nehmen. Die Ernennung der eigenen Tochter zur Beraterin und des Schwiegersohns zum obersten Diplomaten für das hochgradig explosive und schwierige Gebiet des Nahen Ostens, womit er den dafür zuständigen Ministern übergeordnet ist, folgt nun auch nicht gerade irgendwelchen Kriterien von besonderer politischer Kenntnis, Qualifikation und Erfahrung. Der amerikanische Geheimdienst ist dabei, die Verbindungen von Trump nach Saudi-Arabien zu prüfen, und dabei gerät dann auch die Frage ins Visier, ob die privaten Firmenkontakte von Trump zu saudischen Geschäftspartnern nicht doch eventuell seine Haltung zu diesem Land und dessen Regierung beeinflusst haben könnten und umgekehrt die politischen Beziehungen den privaten Geschäftsinteressen äußerst dienlich sind.80 80

Brecht, Dreigroschenoper, S. 69, 55, 57; zu Trumps Vermischung von Geschäftsinteressen und Amtsführung siehe Johnston, Trump im Amt, S. 45; zu Trumps Firmenkontakten nach Saudi-Arabien siehe NZZ, 24.11.2018.

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Das trägt die Züge eines mafiotischen Klientilismus, eines Mafia-Staates, zu dem, wie der ungarische Soziologe und Ex-Bildungsminister Bálint Magyar gezeigt hat, die Autokraten generell stets eine große Neigung haben und der im Falle Orbáns in Ungarn schon weit vorangeschritten ist, kaum anders als in Erdoğans Türkei. Der engere Kreis der Unterstützer erhält einen privilegierten Zugang zu staatlichen Ressourcen, persönliche Beziehungsnetzwerke und so genannte Patron-Klient-Beziehungen gewinnen zentrale Bedeutung, formal-rationale Institutionen, Qualifikationen, Leistungsnachweise und Karrierewege werden entsprechend abgewertet. Dennoch ist das Weiße Haus nicht das Zentrum einer Kleptokratie. Zweifellos pflegen der Präsident, seine Gönner und engsten Gefolgsleute einen pompösen Lebensstil, den sie auch gerne unverhohlen zur Schau stellen. Aber ihr Reichtum ist für sie Ausdruck ihres Erfolgs und ihres Könnens, der sie für die Übernahme politischer Positionen qualifiziert und ihre Ambitionen beglaubigt, und es ist nicht so, dass die politische Karriere ihnen zu Reichtum verholfen hat oder verhelfen soll. Kleptokratische Züge hat demgegenüber eher das gegenwärtige Regime in Moskau. Es gibt die durchaus begründete Vermutung, dass Putin mithilfe seiner politischen Ämter zu einem der reichsten Männer Russlands geworden ist. Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen der Lage, dass diese Vermutung zu den Amtszeiten des heutigen Präsidenten mit Sicherheit nicht verifiziert oder falsifiziert werden wird. Aber unabhängig davon gilt, dass weder die Herrschaft Trumps noch die Herrschaft Putins als Verschleierung einer Kleptokratie zureichend charakterisiert ist. Beide müssen ja die Zustimmung ihrer jeweiligen Gesellschaften finden und nicht nur die Schar ihrer unmittelbaren Helfer zufriedenstellen, sondern auch die Millionenschar der Anhänger bei der Stange halten und dazu bringen, ihnen bei den Wahlen ihre Stimme zu geben.81 Im Fall der USA ist es keineswegs das Naturell des gegenwärtigen Präsidenten, das vor der Verwandlung des Staates in den Mafia-Staat schützt, im Gegenteil. In Mentalität, Habitus und Rhetorik, in der Missachtung der Institutionen ist der Präsident ein ganzes Stück weit in diese Richtung vorangekommen. Bislang halten im Großen und Ganzen die institutionellen Barrieren. Hinzu kommt aber vor allem, dass Trump bei aller Vorliebe für die

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Zu Ungarn und zum Mafia-Staat siehe Magyar, Post-Communist; zu Putins Reichtum siehe Dawisha, Cleptocracy; siehe ferner Laqueur, Putinismus, S. 65, Aust, Schatten, S. 66; zur Frage der Patron-Klient-Beziehungen und der Rolle der Kleptokratie als Herrschaftstyp siehe Heinemann-Grüder, Ressourcen, S. 109ff.

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Methoden der Mafia doch der Charakterzug der Verschwiegenheit fehlt, den die Mafia-Paten unbedingt an den Tag legen müssen. Trump ist nicht gerade ein Musterbeispiel für die Anforderung der Selbstbeherrschung, die selbst für Mafiosi unverzichtbar ist. Er ist das Gegenteil des geheimnisumwitterten und verschwiegenen Paten, der seine Dinge im Verborgenen mit kleinen Gesten und Kommandos anordnet. Ein Mafia-Boss äußert sich nur überlegt und ist nicht geschwätzig. Trump dagegen muss unentwegt alles ausplaudern und alles in die Welt hinausposaunen. Er schreckt nicht einmal davor zurück, seine hochrangigen russischen Staatsgäste mit Geheimdienst-Informationen zu versehen, wie er es offenbar unmittelbar nach der Entlassung von James Comey als Chef des FBI getan hat. An einer Stelle allerdings ist der Präsident instinktiv ausgesprochen geschickt und raffiniert. Wie ein kluger Mafiaboss spricht er nicht offen aus, was er will und von seinen Untergebenen verlangt. So sagt er in seinem Telefongespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski am 25. Juli 2019 nicht offen, dass die Ukraine die Militärhilfe nur dann erhält, wenn sie vorher in aller Form bekannt gibt, Korruptionsermittlungen gegen Hunter Biden, den Sohn seines innenpolitischen Konkurrenten Joe Biden aufzunehmen. Er begnügt sich mit Andeutungen und kann darauf vertrauen, dass seine Gefolgsleute daraus ziemlich genau entnehmen, was ihr Chef von ihnen erwartet. Falls was herauskommt und die Öffentlichkeit oder die politische Konkurrenz sich aufregt, kann er dann seine Hände immer in Unschuld waschen.82 Wenn man den Hang zum Ausposaunen und zum Exhibitionismus abzieht, ist in Mentalität, Verhalten und Weltsicht beim Präsidenten und seinem Umfeld eigentlich alles da, was die Mafia charakterisiert. Im Selbstbild gilt das natürlich nicht als Bekenntnis zur Mafia und zum Gangstertum, sondern als Ehrlichkeit und Offenheit. Brutalität, Rohheit und Rücksichtslosigkeit im Umgang miteinander und nach außen sind dann die einzig angemessenen Verhaltensweisen, wenn feststeht, dass darin ohnedies das Wesen der Welt besteht. Man macht also der Welt nichts vor, sondern verhält sich genau so, wie die Gesetze es verlangen, die in ihr die vorherrschenden sind. Was die Gangster machen, hat in dieser Sicht den großen Vorteil, dass sie grundehrlich sind und alle anderen Verhaltensweisen als pure Heuchelei ausgegeben und verachtet werden. Von außen beobachtet ist das nicht Ehrlichkeit, sondern Zynismus. Bei Brecht war es sicherlich nicht zynisch, sondern als Anklage gemeint, wenn er auf die Bühne brachte, dass die Geschäftsleute mit 82

Trump als Mafiaboss, der alles nur andeutet: siehe NZZ, 4.12.2019.

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Gangstermethoden arbeiten. Zum Zynismus wird es dann, wenn das Aufdecken der brutalen Bewegungsgesetze der Wirklichkeit in das offene Einverständnis mit diesem Lauf der Welt übergeht. Dann wird der Spiegel, der die Wahrheit zeigen soll, als Erlaubnis und als Freibrief verstanden, ohne alle Skrupel zu Gangstermethoden zu greifen. Dann wird die Tatsache, dass es Gangster und Verbrechen in der Welt gibt, in die Aussage verwandelt, dass die ganze Welt nach den Gesetzen des Verbrechertums funktioniert. Wenn es nun einmal so ist, dass immer und überall die Gesetze des Stärkeren gelten, dass die Alternative immer nur ist, ob man frisst oder gefressen wird, dann ist die einzig relevante Frage nur noch, wie man es schafft, zu den Fressern zu gehören und nicht zu denen, die gefressen werden. Mackie Messer weiß es: »Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.« Und der Chor bestätigt es bereitwillig: »Der Mensch lebt nur von Missetat allein.«83 Brecht wollte mit der Aussage, dass das Verbrechen das Wesen der bürgerlichen Wohlanständigkeit und der bürgerlichen Gesellschaft ist, beim Zuschauer eine schockartige Selbsterkenntnis bezwecken. Trump ist damit nicht zu schockieren. Er weiß längst, dass das Leben ein Kampf ist, er weiß, dass es in der Welt zugeht wie im Reich der Raubtiere, und er weiß, dass alle, die das leugnen, entweder Heuchler oder Narren und Verlierer sind. Man muss dafür sorgen, und dafür ist jedes Mittel recht, dass man zu den Gewinnern gehört. »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!« »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Das weiß doch jeder, das unterschreiben alle, der Präsident, seine Gefolgsleute, seine Anhänger im Land. Die strahlende Macht des Erfolgs ist das einzige, was zählt und alles andere unwichtig macht. Alle Personen, die sich dem Präsidenten vorbehaltlos anschließen, legen damit ein Bekenntnis zu dieser mafiotischen Weltsicht ab. Eine Hand wäscht die andere, und es gibt nichts, was man nicht richten kann. Mit Trump ist die Mischung aus Geschäfts- und Unterwelt zum Vorbild und Muster der Existenzund Politikform in den USA erhoben worden.84

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Brecht, Dreigroschenoper, S. 70. Brecht, Dreigroschenoper, S. 59, 69.

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Despot, Diktator Auch wenn die Regeln des politischen Systems im Kern noch unangetastet sind, kann sich ihr Niedergang in der Missachtung der Prinzipien ankündigen, die ihnen zugeordnet sind. Eben das ist in den USA der Fall, und zwar nicht nur in den Niederungen der Gesellschaft, sondern an ihrer Spitze. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Präsident am liebsten eine Staatsform hätte, in der es nicht mehr gesetzesförmig zugeht und in der nur er selber die Macht besitzt zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Habituell und in seinen Verlautbarungen gibt sich Trump als Despot zu erkennen, der alle in seiner Umgebung am liebsten wie Befehlsempfänger und Lakaien behandelt. Trump überträgt den Despotismus, den er in seiner Unternehmer-Karriere und seinem Firmen-Imperium an den Tag gelegt hat, umstandslos auf die Welt des politischen Handelns. Der Despotismus ist nach Aristoteles eine Erscheinungsform im Bereich der privaten Ökonomie, in der wir es immer mit Hierarchien zu tun haben. Despotismus bezeichnet das Verhältnis des Herrn zu seinen Sklaven. Die politische Welt dagegen ist die Sphäre der Freien und Gleichen, und wer die Hierarchie aus der privaten Welt des Haushalts in die öffentliche Sphäre der Politik überträgt, macht aus dem Gemeinwesen sein Hauswesen und verwandelt damit den Despoten in den Diktator oder Tyrannen, dem das alleinige Recht der Herrschaft zukommt.85 Dass Trump das Präsidentenamt am liebsten als Diktator ausüben würde, dafür muss man nicht seine geheimsten Wünsche zu erraten versuchen, sondern dafür reicht es, sich eine Reihe seiner Verlautbarungen und Auftritte anzusehen. In ihnen stellt er sich als die Person dar, die als einzige weiß, was zu tun ist, und die deswegen auch die freie Bahn haben muss, ihren Willen in die Realität umzusetzen. Der Präsident will und kann allein entscheiden, und die Unmenge anderer Personen, Amtsinhaber und Institutionen, die vielen gesetzlichen und verfassungsmäßigen Regeln und die öffentlichen Diskussionen sind in seinen Augen lauter unnötige Störungen, die nur aufhalten, alles künstlich kompliziert machen und am Ende sogar dazu führen, dass die hervorragenden Entscheidungen, die der Präsident zum Besten der Nation getroffen hat, überhaupt nicht mehr umgesetzt werden können. Die amerikanische Verfassung enthält ein ausgeklügeltes System von checks and balances, das der Einhegung eines zu starken Präsidenten dient, zumal dann, wenn er den autoritären Versuchungen nicht widerstehen kann. 85

Siehe Aristoteles, Politik, 1253 b 4-11, 1259 a 37ff, 1253 b 33.

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Sie ist der Versuch, die Maxime the winner takes it all, die den Amerikanern im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben alles andere als fremd ist, im politischen Bereich nicht zur Geltung kommen zu lassen. Alles, worüber Trump sich aufregt: die Unabhängigkeit der Justiz und der Gerichte, die Kontrollfunktion des Kongresses gegenüber dem Weißen Haus, die grundsätzlich freie und ungehinderte Berichterstattung durch die Presse und eine breite und unkontrollierbare öffentliche Diskussion, – all das sind Eckpfeiler der politischen Verfassung Amerikas. Trump rennt gegen die Gesetzesförmigkeit des Regierens an, die die Verfassung ihm vorschreibt, und will sie nicht akzeptieren. Sein Ideal ist eine von allen verfassungsmäßigen und überkommenen Beschränkungen befreite Herrschaft. Deswegen attackiert er die Justiz, das Parlament, die freie Presse, die Wissenschaften und alles, was er nicht versteht und sich seiner Kontrolle entzieht. Er sieht sich in einem Bürgerkrieg und arbeitet daran, die Pfeiler der Republik einzureißen und die Alleinherrschaft zu errichten, in der unabhängige Gerichte ihm nicht unentwegt Ketten anlegen können, in der die Presse nur noch seine Version der Wahrheit verbreitet und in der der Kongress seine kontrollierende Tätigkeit einstellt. Auch im politischen Leben folgt er dem Grundsatz, den er als Unternehmer zur Maxime erhob: Ich bin der Boss, ich tue, was mir gefällt, ich nehme mir, was mir gefällt, ich lasse mich von nichts und niemandem bremsen, ich lasse mir von niemandem sagen, was ich glauben und tun soll. Der Präsident kann es nicht akzeptieren, dass es unabhängige und eigenständige Instanzen gibt, die nicht auf sein Kommando hören. Er versucht, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, den Staatsapparat zu einem Instrument seiner persönlichen oder parteipolitischen Interessen zu machen. Er glaubt nicht einmal seinen Geheimdiensten, jedenfalls dann nicht, wenn sie seiner Weltsicht widersprechen, und gibt das auch öffentlich zum Besten. Als sie sagten, dass sie Beweise für russische Einflussnahme auf den Wahlkampf 2016 hätten, wurden sie von Trump beschimpft, und als Trump behauptete, dass Barack Obama sein Telefon habe abhören lassen, und die Dienste sagten, dass es dafür keine Belege gibt, ignorierte er das und erteilte im Mai 2019 seinem Justizminister offiziell den Auftrag, getreu der Maxime, dass Angriff die beste Verteidigung ist, eine mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Untersuchung über ein angebliches Komplott des FBI und der Obama-Administration gegen sein Wahlkampfteam durchzuführen. Trump läuft Sturm gegen die unabhängige Presse (1), gegen die Justiz (2), gegen den Kongress (3).

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(1) Die unzähligen und zur täglichen Gewohnheit gewordenen Ausfälle Trumps gegen die kritische Presse und unliebsame Journalisten sind so bekannt, dass man sie eigentlich kaum noch erwähnen und dokumentieren muss. Unabhängige Medien wie die New York Times, die Washington Post oder der Nachrichtensender CNN werden von Trump regelmäßig verteufelt. In Kansas sagte er bei einer Veranstaltung: »Glaubt nicht den Mist, den ihr von diesen Leuten seht.« Bei einer anderen Gelegenheit nannte er die Journalisten »schreckliche, abscheuliche Leute«, die für die »widerwärtigen Fake News« verantwortlich sind. Immer wieder diffamiert er die kritischen Medien als »Feinde der Menschheit« und als »Feinde des Volkes«. So 2017 bei seiner Rede vor der Conservative Political Action Conference: »Vor einigen Tagen habe ich die Fake News als Feinde der Menschheit bezeichnet, und das sind sie. Sie sind die Feinde der Menschen. Weil sie auf keinerlei Quellen zurückgehen, sie erfinden sie einfach, wenn es keine gibt … Ich bin gegen solche Menschen, die Geschichten und Quellen erfinden.« In einem Tweet vom 17. Februar 2017 sagte er: »Die FAKE NEWS Medien (failing@nytimes, @NBCNews, @ABC, @CBS, @CNN) sind nicht meine Feinde, sondern die der amerikanischen Bürger!« Das zieht sich wie ein roter Faden durch bis in die Gegenwart. In einer Verlautbarung am 2.10.2019 machte der Präsident die Medien maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Abgeordneten der Demokratischen Partei im Abgeordnetenhaus mit den Vorbereitungen für ein Amtsenthebungsverfahren begonnen hatten. »Die Medien in diesem Land sind korrupt. Sie sind die wahren Staatsfeinde.«86 Im Januar 2017 untersagte Trump auf einer Pressekonferenz einem CNNJournalisten, eine Frage zu stellen und begründete sein Verhalten so: »Dein Arbeitgeber ist furchtbar. … Sei ruhig! Sei ruhig! … Ich werde keine deiner Fragen beantworten. Du bist Fake News.« Ähnlich hat er am Tag nach den Midterm-Wahlen im November 2018 bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus den CNN-Chefreporter Jim Acosta als »unhöfliche und schreckliche Person« beschimpft, ihm das Stellen einer Frage untersagt und die Akkreditierung für das Weiße Haus entzogen. Nachdem der Sender dagegen klagte, entschied ein Gericht, dass Acosta wieder zu den Pressekonferenzen ins Weiße Haus eingeladen werden muss. Die stellvertretende Chefin des Meinungsressorts beim Boston Globe, Marjorie Pritchard, eine der Organisatorinnen ei86

Die Beispiele für die Beschimpfung der Medien nach SZ, 11.8.2018, 16.8.2018; das Zitat aus der Rede und der Tweet nach Fuchs, Digitale Demagogie, S. 220f; Medien als Staatsfeinde nach SPON, 3.10.2019.

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ner gemeinsamen Leitartikelaktion vieler Zeitungen gegen die fortwährenden Diffamierungen durch den Präsidenten, beharrte darauf, dass die Medien nicht die Feinde des Volkes sind. Acosta ersuchte Trumps Sprecherin Sarah Huckabee Sanders um eine Bestätigung für diese Aussage und fragte sie während einer Pressekonferenz mehrmals, ob sie öffentlich erklären könne, dass die freie Presse der USA nicht der Feind des Volkes sei. Vergeblich. Kritische und negative Berichterstattung ist für den Präsidenten immer gelogen. Die Unverzichtbarkeit von freier und unabhängiger Presse, die nach ihren eigenen Maßstäben die Regierenden kommentieren und kritisieren und loben, ist ihm vollkommen fremd.87 Die Diffamierungen richten gravierende Verheerungen in den Köpfen der Leute an. Eine Umfrage vom Sommer 2018 ergab, dass 44 Prozent der republikanischen Wähler der Meinung waren, der amerikanische Präsident solle die Macht haben, unliebsame Medienhäuser zu schließen. Bei den Massenveranstaltungen beschimpfen Trumps Anhänger die Vertreter der Medien und brüllen sie mit wutverzerrten Gesichtern an. Dennoch ist der Präsident von der Gleichschaltung der Presse, die zweifellos sein Wunschbild ist, weit entfernt. Aber immerhin steht ihm mit Fox News ein Quasi-Regierungssender zur Seite, der es an Regierungstreue durchaus mit dem russischen Staatsfernsehen aufnehmen kann. Und der »Krieg mit den Medien«, von dem der Präsident ganz unverblümt spricht, ist in vollem Gange. Das Arsenal der möglichen Eskalation ist noch längst nicht ausgeschöpft. Das zeigte sich in der erweiterten Anklageschrift gegen den WikiLeaks-Gründer Julian Assange, die das Weiße Haus Ende Mai 2019 vorlegte. Danach hat Assange gegen ein Anti-SpionageGesetz verstoßen, das bei seiner Verabschiedung im Jahre 1917 das Ziel verfolgte, Staatsgeheimnisse nicht in die Hände von feindlichen ausländischen Mächten gelangen zu lassen. Schon unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama diente die Berufung auf dieses Gesetz dazu, Mitarbeiter in Regierungsstellen zu belangen, wenn sie Informationen an Journalisten weitergereicht hatten. Jetzt aber, im Fall Assange, wurden unter Berufung auf das Gesetz nicht die Informanten angeklagt, sondern zum ersten Mal in der Geschichte die Journalisten, die die Informationen publizierten. Im Grunde wird Assange in dieser neuen Anklageschrift gleichgestellt mit Agenten, die

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Für die Pressekonferenz im Januar 2017 siehe Fuchs, Digitale Demagogie, S. 220; für die Pressekonferenz nach den Midterms siehe SZ, 9.11.2018; für die Anfrage von Acosta und die Reaktion von Sanders siehe SZ, 16.8.2018.

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als Spione im Dienste feindlicher ausländischer Mächte tätig sind. Das entspricht ziemlich genau dem Bild, das die Trump-Regierung von der Freiheit der Presse vor Augen hat. Wenn Journalisten kritisch berichten, dienen sie den Feinden, verraten das eigene Land und sind damit tatsächlich Spione und Feinde des Volkes. In Wirklichkeit hat sich Assange im Jahre 2010 keine US-Geheimnisse beschafft, um sie an andere Staaten weiterzugeben, sondern um die Öffentlichkeit zum Beispiel über Praktiken der amerikanischen Kriegführung zu informieren.88 Man muss bei alldem immer bedenken, dass eine unabhängige und nicht korrupte Presse eine ungeheuer wichtige Aufgabe erfüllt. Sie gilt zu Recht als vierte öffentliche Gewalt, sie gehört zu den zentralen politischen Freiheiten, sie ist als Medium der Verständigung der Gesellschaft über sich selbst, über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und für das Recht auf nicht manipulierte Tatsacheninformationen unverzichtbar und durch nichts zu ersetzen. (2) Dass Trump auf ähnliche Weise wie gegen die Presse auch gegen die Justiz Sturm läuft, ist nicht wirklich verwunderlich. Jedes Rechtssystem, das seinen Namen verdient, basiert auf der Wertschätzung von Fakten und Belegen. Urteile der Gerichte dürfen nicht auf Mutmaßungen, Gerüchten und Verdächtigungen beruhen, sondern arbeiten mit der Eindeutigkeit von Geständnissen und Beweisen. Ermittlungsbehörden tun im Prinzip den ganzen Tag nichts anderes, als Fakten festzustellen und die Wahrheit zu ermitteln. Deswegen ist die Unabhängigkeit der Justiz den Autokraten jeglicher Couleur, deren Herrschaft mit Lügengebäuden, Willkür und Betrügereien einhergeht, ein unerträglicher Dorn im Auge. Das gilt für Trump nicht weniger als für Putins Russland. Beispiele dafür gibt es in Hülle und Fülle. Als der muslim ban, also das Einreiseverbot für Bürger aus einer Reihe von vorwiegend muslimischen Staaten von mehreren Gerichten als verfassungswidrig eingestuft und für unrechtmäßig erklärt wurde, sprach Trump in diffamierendem Tonfall von »sogenannten Richtern« und twitterte: »Kann einfach nicht glauben,

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Die Umfrage nach SZ, 16.8.2018; frühere Umfragen mit ähnlichen Ergebnissen zitiert Frum, Trumpocracy, S. 103f; für die Rolle von Fox News siehe SPON, 7.11.2018, 5.3.2019; über enge Kontakte und Absprachen zwischen Fox News und dem Wahlkampfteam von Trump bzw. Weißem Haus berichtet Manigault Newman, Entgleisung, S. 155; »Krieg mit den Medien« nach Keil/Kellerhoff, Fake News, S. 283; zur Anklage gegen Assange siehe SZ-Online, 24.5.2019.

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dass ein Richter unser Land einer solchen Gefahr aussetzt. Wenn etwas passiert, macht ihn und unser Gerichtssystem dafür verantwortlich.« Und an anderer Stelle: »Ich habe Homeland Security angewiesen, Menschen, die in unser Land kommen, SEHR GENAU zu überprüfen. Die Gerichte machen diesen Job sehr schwierig.« Der erichtet, dass der Präsident intern eines Morgens meinte: »Können wir die Richter nicht einfach loswerden? Lass uns die beschissenen Richter loswerden… Es sollte überhaupt keine Richter geben.«89 Tatsächlich machen die Gerichte dem Präsidenten den »Job« sehr schwer. Sie stoppen nicht nur Einreiseverbote, sondern auch seine Pläne zum Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko, indem sie ihm untersagen, dafür finanzielle Mittel aus dem Haushalt verschiedener Behörden zu verwenden. Trump, so sah es das Gericht, überschreite mit dieser Finanzierungsidee seine Befugnisse und ignoriere die Prinzipien der Gewaltenteilung. Ein anderes Gericht entschied, dass es der Deutschen Bank durchaus erlaubt ist, ihre Unterlagen über das finanzielle Gebaren Trumps an den Kongress weiterzugeben, – was Trump und weitere Angehörige seiner Familie mit einer Klage hatten verhindern wollen. Trump hetzt gegen die unabhängige Justiz, wo er kann, aber er hat die Urteile der Gerichte bislang nicht ignorieren und die Richter nicht ihrer Posten entheben und ins Gefängnis stecken können. Freilich hat er viele treue Gefolgsleute in den Gerichten installiert, bis hinein in den Supreme Court. Gleichwohl haben wir es nach wie vor mit einer gesetzesförmigen Regierung zu tun, nicht mit Gesetzlosigkeit. Das ist aber nicht das Verdienst von Trump, es entspricht ganz und gar nicht seinen Vorstellungen, sondern ist ein Sachverhalt, den er liebend gerne ändern würde.90 Für Trumps Verständnis der Justiz und seine Angst vor ihr ist der zweite Teil des Mueller-Berichts sehr aufschlussreich. In seiner Haltung zur Presse gibt es ein spielerisches Element, schließlich braucht er nichts so sehr wie ihre Aufmerksamkeit, schließlich kann er sie nach Lust und Laune diffamieren und in der Öffentlichkeit alles mögliche behaupten, was sich vor den akribischen Faktencheckern der Washington Post als erlogen herausstellt, ohne dass er wirkliche Konsequenzen zu befürchten hat, die er ernst nehmen müsste.

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Der erste Tweet nach Klein, Gegen Trump, S. 223; der zweite Tweet nach Brinkbäumer, Nachruf, S. 327; der Wunsch, die Richter loszuwerden nach Anonymus, Warnung, S. 180. Zur Klage gegen die Deutsche Bank siehe SZ, 25.5.2019; die Beziehung der Deutschen Bank zu Trump wird detailliert untersucht von Enrich, Dark Towers.

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Das ist der Justiz gegenüber anders. Wenn er sie bei Ermittlungen belügt und in die Irre führt, ist der Tatbestand der Justizbehinderung erfüllt, der strafrechtlich geahndet werden kann. Das ist dann schon noch eine Macht, die auch dem Präsidenten einigen Respekt abnötigt, und das macht verständlich, warum Trump so große Angst vor dem Sonderermittler Mueller hatte, dass er nach dessen Ernennung im Mai 2017 fluchte: »Mein Gott, das ist ja furchtbar. Das ist das Ende meiner Präsidentschaft. Ich bin im Arsch.« Dass die Ermittlungen nicht das Ende der Präsidentschaft einläuteten, lag vermutlich an den cleveren Beratern, die mit allerlei Finessen dafür sorgten, dass Trump nicht persönlich vor dem Sonderermittler erscheinen musste, wo er sich ziemlich sicher in seinem Lügengeflecht verheddert hätte. Und die Berater hielten den Präsidenten offenbar auch davon ab, den Sonderermittler zu feuern, was Trump vermutlich ebenfalls den Kragen gekostet hätte.91 Der Trump ergebene Justizminister William Barr sah in seiner Bewertung des Mueller-Berichts den Präsidenten vollkommen entlastet. In einigermaßen neutralem Licht betrachtet, stellt sich die Sache sehr viel anders dar. Was der Bericht in seinem zweiten Teil zur Frage der möglichen Justizbehinderung auflistet, ist für den Präsidenten eines Rechtsstaates verheerend und von einem Gewicht, das für die Anklage vor Gericht allemal ausreicht. Der Bericht drückt es vorsichtiger aus: »Wenn wir nach einer gründlichen Untersuchung der Fakten genug Vertrauen hätten, dass der Präsident offensichtlich keine Justizbehinderung begangen hat, würden wir das so darlegen. Gemessen an den Fakten und geltenden gesetzlichen Bestimmungen, können wir dieses Urteil nicht fällen. Obwohl dieser Bericht nicht zu dem Schluss kommt, dass der Präsident ein Verbrechen begangen hat, entlastet er ihn daher auch nicht.« Damit endet der Bericht. An einer früheren Stelle des Berichts heißt es: »Wenn wir uns … nach einer gründlichen Untersuchung der Fakten sicher wären, dass der Präsident die Justiz offensichtlich nicht behindert hat, würden wir das so feststellen. Auf der Grundlage der Tatsachen und der geltenden Rechtsnormen aber ist es uns nicht möglich, zu diesem Urteil zu gelangen. Die Beweise, die wir über die Handlungen und Absichten des Präsidenten gesammelt haben, stellen schwierige Sachverhalte dar, die uns daran hindern, abschließend festzustellen, dass kein kriminelles Verhalten stattgefunden hat. Demgemäß kann dieser Bericht, auch wenn er nicht zu

91

Der Fluch des Präsidenten nach: Mueller-Report, S. 617; der Versuch, den Sonderermittler abzusetzen, ist ausführlich dokumentiert: ebda., S. 615ff.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

dem Ergebnis kommt, dass der Präsident eine strafbare Handlung begangen hat, ihn auch nicht entlasten.«92 Dass die Versuche des Präsidenten zur Justizbehinderung nicht erfolgreich waren, liegt nicht daran, dass er die Justiz nicht behindern wollte, sondern ist darauf zurückzuführen, »dass die Personen im Umfeld des Präsidenten Anweisungen nicht ausführten beziehungsweise seinen Ersuchen nicht entsprachen«. Comey stellte die Ermittlungen gegen Flynn nicht ein, die schließlich zur Anklageerhebung und zur Verurteilung des Sicherheitsberaters wegen Falschaussage gegenüber dem FBI führten. Der Rechtsberater des Weißen Hauses McGahn weigerte sich, den Geschäftsführenden Justizminister dazu aufzufordern den Sonderermittler zu entlassen, – was Trump von ihm gewünscht hatte. McGahn wollte lieber zurücktreten, als dieser Aufforderung nachzukommen. Andere Mitarbeiter unterließen es, an den Justizminister die Aufforderung des Präsidenten zu übermitteln, nach der er die Russland-Ermittlungen auf zukünftige Einmischungsversuche bei Wahlen beschränken sollte. Und obwohl Trump den Rechtsberater des Weißen Hauses McGahn mehrfach dazu aufforderte, Trumps Version der Ereignisse zu übernehmen, die mit seinen eigenen Erinnerungen nicht übereinstimmte, gab McGahn diesem Ansinnen nicht nach.93 Mueller sieht nicht die Möglichkeit, den Präsidenten zu verklagen. Das aber hat nichts mit den ermittelten Sachverhalten zu tun, sondern ausschließlich mit dem Amt des Präsidenten, das der Beschuldigte bekleidet. Mit anderen Worten: Wenn die Person, um die es geht, nicht das Präsidentenamt innehätte, würde es zweifellos zur Anklage kommen. Es ist einzig das Amt, das Trump vor der Anklage bewahrt. Der Bericht schließt sich der Auffassung an, dass ein Präsident während seiner Amtszeit strafrechtlich nicht belangt werden kann. Ein Beschuldigter müsse stets die Chance haben, sich vor Gericht gegen die Behauptungen der Anklage zu verteidigen. Weil es aber grundsätzlich nicht möglich sei, einen Präsidenten vor ein ordentliches Gericht zu bringen, ganz unabhängig von der Schwere und Plausibilität der Vorwürfe, werde ihm die Möglichkeit genommen, sich zu verteidigen. Das würde gegen die Gebote der Fairness verstoßen. Das Argument also lautet: Weil der Präsident sich nicht verteidigen kann, wenn wir ihm Straftaten zur Last legen, deswegen, und nur deswegen, sehen wir von einer Anklage ab. Wörtlich: »Für gewöhnlich kann eine Person auf Anschuldigungen reagieren, indem sie 92 93

Das erste Zitat im Mueller-Report, S. 821, das zweite Zitat ebda., S. 475. Mueller-Report, S. 769f.

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sich einer baldigen öffentlichen Verhandlung stellt, mit allen verfahrensrechtlichen Absicherungen, die eine Strafsache umgeben. Eine Person, die sich zu Unrecht beschuldigt glaubt, kann versuchen, sich in einem solchen Prozess zu rehabilitieren. Im Gegensatz dazu bietet das Urteil eines Strafverfolgers, wonach strafbare Handlungen begangen wurden, aber keine Anklage erhoben wird, keine solche Möglichkeit, sich kontradiktorisch vor einem unparteiischen Richter öffentlich zu rehabilitieren.« Tatsächlich listet der Bericht mit äußerster Akribie eine ganze Reihe von Tatbeständen auf, die mit Sicherheit bei jeder Person, die nicht zufällig das Amt des Präsidenten innehat, für eine Anklageerhebung wegen Justizbehinderung ausgereicht hätten.94 Nach der Übergabe des Berichts entschied Justizminister Barr, keine weiteren Schritte gegen den Präsidenten zu unternehmen, – und wartete dafür mit einer kuriosen Begründung auf. Es habe keine Beweise für illegale Absprachen oder Vereinbarungen mit Russland gegeben, wie der erste Teil des Mueller-Berichts ja eindeutig feststelle. Der Justizminister folgert daraus, dass »die Abwesenheit solcher Beweise eine Bedeutung für die Absichten des Präsidenten in Hinsicht auf die Justizbehinderung hat«. Für eine Anklage müsse man nachweisen, »dass eine Person eine die Justiz behindernde Handlung mit unlauterer Absicht ausgeführt hat und dabei eine ausreichende Verbindung zu einem schwebenden oder beabsichtigten Verfahren besteht«. Das sei aber beim Verhalten des Präsidenten nicht zu erkennen. Offenbar lautet das Argument: Weil es keine Verabredung Trumps mit Russland und also keine Straftat gab, hatte der Präsident doch gar keinen Grund dafür, die Justiz zu behindern, und deswegen kann eine Justizbehinderung gar nicht vorliegen. Diese Logik ist abenteuerlich. Sie läuft auf die Aussage hinaus, dass jemand, der keinen Grund hat, die Justiz zu behindern, per definitionem diese Straftat nicht begehen kann. Eine Straftat kann man der Argumentation des Justizministers zufolge offenbar nur dann begehen, wenn man dafür ausreichend gute Gründe hat. Eigentlich erklärt Barr damit alle Fakten, die der Mueller-Bericht im zweiten Teil zur Frage der Justizbehinderung auflistet, für Hirngespinste, – für Hirngespinste entweder des Präsidenten oder der Ermittler.95 (3) Am Ende seines Berichts spielt Sonderermittler Mueller den Ball dem Kongress zu, der die Ermittlungen fortführen und zu eigenen Bewertungen

94 95

Mueller-Report, S. 474. Das Schreiben des Justizministers Barr ist abgedruckt am Ende der Buchausgabe des Mueller-Reports, S. 1161ff, die Zitate: S. 1166.

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kommen könne. Der Report zitiert das Grundprinzip der Regierung, dass keine Person in diesem Land so einen hohen Stand hat, dass sie über dem Gesetz steht. Und das Prinzip der Gewaltenteilung sieht vor, dass dem Parlament die Aufgabe zukommt, eine korrupte Machtausübung des Präsidenten zu prüfen. Dass der Kongress neben der Presse und der Justiz die Institution ist, die ihm die angestrebte diktatorische Führung seines Amtes unmöglich macht, weiß natürlich auch Trump und erfährt es so gut wie täglich, seit die Demokratische Partei bei den Midterms im Herbst 2018 im Abgeordnetenhaus die Mehrheit stellt. So überschneidet sich der Versuch des Präsidenten, den Kongress auszuschalten, mit seinem Kampf gegen die Demokratische Partei. Auch in diesem Kampf zieht Trump alle Register und ist um keine Eskalation verlegen. Wo immer er kann, erklärt er seine Vorhaben zu einer Sache, in der die nationale Sicherheit des Landes auf dem Spiel steht, – was dem Präsidenten die Möglichkeit einräumt, ohne die Beteiligung des Kongresses zu handeln.96 So geschah es zum Beispiel bei der Frage von Waffenlieferungen an SaudiArabien. Üblicherweise hat der Kongress ein Mitspracherecht bei Waffenexporten und kann sie auch blockieren. Ende Mai 2019 erklärte Außenminister Pompeo den nationalen Notstand wegen der Spannungen mit Iran. Das erlaubte es dem Weißen Haus, mit sofortiger Wirkung die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien im Wert von 8 Milliarden Dollar zu tätigen, ohne sich der Prüfung des Vorhabens durch den Kongress aussetzen zu müssen. Abgeordnete beider Parteien hatten sich schon im Vorfeld kritisch zu den Plänen geäußert, sehr zum Ärger des Präsidenten. Die Begründung für den Notstand lautet: Die Aktivitäten Irans stellen eine fundamentale Bedrohung der Stabilität im Nahen Osten dar und gefährden die amerikanische Sicherheit. Es ist keineswegs auszuschließen, dass die Trump-Regierung die Spannungen und den Konflikt mit Iran auch deswegen anheizte, um den Notstand zu haben, den sie braucht, um den Kongress auszuschalten. Zuvor schon hatten das Abgeordnetenhaus und der Senat dafür gestimmt, die US-Unterstützung der durch Saudi-Arabien angeführten Militäroffensive im Jemen zu beenden, – wogegen Trump wiederum sein Veto eingelegt hatte. Beim Projekt des Mauerbaus an der Grenze zu Mexiko versuchte der Präsident auf ähnliche Weise den Kongress auszuschalten. Im Februar 2019 deklarierte er den nationalen Notstand, weil ihm das erlaubte, am Kongress vorbei mehrere Milliarden Dol-

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Keine Person steht über dem Gesetz: Mueller-Report, S. 820.

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lar für den Bau der Mauer zu erhalten. Auch diese Frage landete dann wieder vor Gericht, und ein Ende des Streits ist nicht abzusehen.97 Das zweite Instrument, von dem Trump Gebrauch macht, um den Kongress auszuschalten, ist das Instrument der unitary executive-Theorie. Sie besagt, dass der Präsident als Chef der Exekutive dem Kongress gegenüber nicht alle Vorgänge seiner Amtsführung offenlegen muss und weitgehend unabhängig von den Verfahren und Einrichtungen des Kongresses seinen Aufgaben nachkommen kann. Tatsächlich soll das Exekutivprivileg die Regierungsfähigkeit der Präsidenten gewährleisten und räumt ihnen eine Macht ein, die einst von den Gründervätern ganz und gar nicht beabsichtigt war. Nach der Verfassung sind die beiden Häuser des Parlaments die zentralen Institutionen, die niemals übergangen werden dürfen. Die Präsidenten, gleich ob Republikaner oder Demokraten, haben aber nach und nach die Befugnisse ihres Amtes ausgebaut und damit die Balance zwischen dem Kongress und der Exekutive gekippt. Daran haben sich zuletzt auch die demokratischen Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama beteiligt. Immer wenn die Präsidenten einem Kongress gegenüberstehen, in dem die konkurrierende Partei die Mehrheit hat und damit die jeweiligen Vorhaben der Präsidenten blockieren kann, berufen sie sich auf dieses Exekutivprivileg. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Mitglieder des Kongress sich nicht mehr als Einheit verstehen, die die Exekutive kontrolliert, sondern dass die Vertreter der jeweiligen Partei des Präsidenten ihre Aufgabe umgekehrt darin sehen, dem Amtsinhaber den Rücken frei zu halten. Die Praxis des gegenwärtigen Präsidenten läuft darauf hinaus, dem Kongress seine Rolle als Kontrollinstanz der Regierung weiter zu beschneiden. Im Mai 2019 kündigte Trump an, mit den Demokraten so lange an keiner Stelle mehr zusammenarbeiten zu wollen, bis sie sämtliche Untersuchungen gegen ihn einstellen. Seitdem die Demokratische Partei im Abgeordnetenhaus daran ging, ein Amtsenthebungsverfahren vorzubereiten, hat der Konflikt noch einmal eine neue Qualität erreicht. Ende September 2019 drohte Trump auf Twitter dem Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses im Abgeordnetenhaus, Adam Schiff, in dessen Händen die Prüfung eines Impeachment gegen den Präsidenten vorwiegend lag, eine »Verhaftung wegen Verrats« an. Außenminister Pompeo erklärte, dass die Beamten, die das Abgeordnetenhaus zur Anhörung in dieser Sache vorgeladen hatte, aus formalen Gründen außerstande seien, der Vorladung zu folgen. Die Vorsitzenden der drei Unter97

Die Waffenexporte nach Saudi-Arabien: SZ, 25.5.2019.

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suchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses, die die Ukraine-Affäre untersuchten, warnten den Außenminister vorsorglich in einem Schreiben davor, dass ihm bei Behinderung der Ermittlungen mehrere Jahre Haft drohen. Anfang Oktober 2019 hat das Weiße Haus in einer achtseitigen Mitteilung an das Repräsentantenhaus jegliche Kooperation bei den Vorermittlungen zu einem Impeachment gegen Trump verweigert. Es war nicht bereit, Dokumente zu überstellen oder Zeugenaussagen zuzulassen. Die Vorermittlungen, so hieß es in der Begründung, hätten allein das Motiv, den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2016 nachträglich zu kippen. Sie seien in diesem Sinne allein politisch motiviert und entbehrten jeder verfassungsrechtlichen Grundlage. Zuvor hatte die Trump-Regierung bereits die Aussage eines Top-Diplomaten in der Ukraine-Affäre blockiert. Der US-Botschafter bei der EU, Gordon Sondland, war für den 8.10.2019 zu einer Anhörung im Kongress vorgeladen, erschien aber nicht. Trump verteidigte die Blockade auf Twitter: Er würde Sondland ja gerne schicken, dieser würde aber vor einem »komplett korrupten Gericht« aussagen, das den Republikanern ihre Rechte genommen habe und in dem wahre Tatsachen für die Öffentlichkeit nicht zugänglich seien. Die Demokraten reagierten darauf mit scharfer Kritik und gingen dazu über, mit dem Mittel der Strafandrohung eine Aussage Sondlands zu erzwingen. Offenbar hielt die Regierung auch Textnachrichten oder E-Mails von Sondland zurück. Die Verweigerung der Aussage und der Dokumente werteten die Demokraten als weiteren starken Beweis »für die Behinderung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Kongresses«. Trump bezichtigte Schiff, befangen zu sein und forderte mehrfach seinen Rücktritt. Nancy Pelosi, die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, schrieb am 8.10.2019 auf Twitter: »Mr President, Sie stehen nicht über dem Gesetz. Sie werden zur Verantwortung gezogen.« Und weiter: »Der Brief des Weißen Hauses ist nur der letzte Versuch, seinen (Trumps) Verrat an unserer Demokratie zu vertuschen und darauf zu beharren, dass der Präsident über dem Gesetz steht.«98 Der Präsident konnte die Ermittlungen und Anhörungen nicht stoppen, und am 19.12.2019 eröffnete das Abgeordnetenhaus mit einem förmlichen Beschluss das Impeachment. Auch Sondland erschien schließlich vor dem Ausschuss und sagte aus. Aber Trump und die Republikanische Partei suchten das

98

Die Ankündigung vom Mai 2019 nach SZ, 23.5.2019; die Drohung mit Verhaftung nach Kohlenberg, Präsidenten stoppen; zum Konflikt mit Pompeo siehe SPON, 2.10.2019; die Tweets von Nancy Pelosi nach SZ, 9.10.2019.

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Verfahren zu torpedieren, wo sie konnten. Es ist unverkennbar: Der Systemkonflikt ist in vollem Gang und spitzt sich weiter zu. Generell hat die Entwicklung seit langem dazu geführt, dass die Exekutive in nicht mehr zu rechtfertigender Weise eine Fülle juristischer, administrativer, etatmäßiger, nachrichtendienstlicher und militärischer Kompetenzen übernommen hat. Das Präsidentenamt hat damit Züge einer »imperialen Präsidentschaft« angenommen, wie der Historiker Arthur M. Schlesinger urteilte. Unter Trump gibt es in dieser Entwicklung noch einmal einen Sprung. »Kein anderer Präsidentschaftskandidat der großen Parteien in der modernen Geschichte der Vereinigten Staaten, einschließlich Nixons, hat eine derartige Geringschätzung der verfassungsmäßigen Rechte und der demokratischen Normen an den Tag gelegt. Trump war genau eine jener Figuren, vor denen Hamilton und anderen Gründungsvätern graute, als sie das amerikanische Präsidentschaftssystem schufen.« Sicherlich lassen sich 230 Jahre Demokratie und Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Pressefreiheit nicht so einfach aushebeln. Aber der Präsident hat nicht nur der Presse den Krieg erklärt, sondern operiert auch gegen die Justiz und den Kongress im Modus der innerstaatlichen Feinderklärung. Was die Medien angeht, so ist der Erste Zusatzartikel der Verfassung, in dem die Freiheit der Presse garantiert wird, nicht mehr sakrosankt. Der Eindruck erhärtet sich, dass Trump im Grunde auf eine richtige Krise lauert, die er als Vorwand dafür nutzen könnte, endlich ohne alle Einschränkungen seine Absichten durchzusetzen. Daran schließt sich sofort die Frage an, ob er selber irgendwann, mit Bewusstsein und Willen oder mehr oder weniger unbeabsichtigt, diese Krise herbeiführt und dann auch an diesem Punkt dem Vorbild anderer Autokraten folgt, die ihm das erfolgreich vorgemacht haben. Ein Ausnahmezustand könnte es ihm endlich ermöglichen, ohne alle Einschränkungen seinen Willen und seine Vorstellungen durchzusetzen. Je stärker er unter Druck gerät, desto größer ist diese Gefahr.99 Es passt nur allzu gut ins Bild, dass Trump die Diktatoren und Tyrannen dieser Welt unverhohlen bewundert und um ihre Machtfülle beneidet. Sie müssen sich nicht mit den vielfältigen Begrenzungen herumschlagen, die ihm in seinem Land das Leben schwer machen. Während der Präsident die Regierungs- und Staatschefs der westlichen Demokratien und Verbündeten ein ums andere Mal brüskiert, drückt er ohne Bedenken und Reserve seine Hochachtung für Diktatoren und Tyrannen jeglicher Couleur aus: Erdoğan in 99

Die allgemeine Entwicklung und das Schlesinger-Zitat nach Levitsky/Ziblatt, Demokratien, S. 150; die Einschätzung zu Trump ebda., S. 77.

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der Türkei, El-Sisi in Ägypten, Duterte auf den Philippinen, Kim Jong-un in Nordkorea, Putin in Russland. Den nordkoreanischen Tyrannen Kim Jong-un nannte Trump im Februar 2019 beim Treffen in Hanoi seinen »Freund« und einen »großartigen Führer«, dem er »vertraue«. Schon im Wahlkampf hatte Trump über ihn gesagt: »Das müssen Sie ihm zugutehalten … als sein Vater starb, übernimmt er die Kontrolle über diese strammen Generäle und er ist der Boss. Es ist unglaublich. Er löscht seinen Onkel aus, löscht diesen und jenen aus. Es ist unglaublich.« Die Bewunderung über diesen skrupellosen Einsatz der Gewalt ist unüberhörbar. Nach allem, was wir wissen, verhält es sich so: Kim Jong-un ließ seinen Onkel mit sieben Mitarbeitern von einem mit Maschinengewehren bewaffneten Erschießungskommando hinrichten, Kims Tante wurde vergiftet, alle ihre Kinder und Enkel wurden umgebracht, und auch Generäle ließ er kurzerhand exekutieren. Die Bevölkerung seines Landes hungert, leidet Mangel am Nötigsten und ist Repressionen übelster Art ausgesetzt, – während der Tyrann zugleich voller Größenwahn sein Atomwaffenprogramm vorantreibt. Zugleich spielt Trump mit diesem Tyrannen pubertäre Machtspiele. Über Kim sagte er Anfang 2018 zu Porter, dem Sekretär des Stabschefs im Weißen Haus: »Er ist ein brutaler Kerl. Ein harter Knochen. Die einzige Art, mit solchen Leuten umzugehen, ist, genauso hart zu sein. Und ich werde ihn kleinkriegen, und ich werde ihn austricksen.« Und er postete den berühmten Tweet: »Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un hat soeben erklärt, dass auf seinem Schreibtisch der Atomknopf immer bereit ist. Jemand aus seinem verarmten und hungernden Regime soll ihn bitte darüber informieren, dass ich auch einen Atomknopf habe, aber der ist viel größer & mächtiger als seiner, und mein Knopf funktioniert.«100 Für den russischen Präsidenten Putin hat Trump viele lobende Worte. Bei seiner ersten großen Asien-Reise auf dem Weg nach Hanoi im November 2017 sagte er zu den Reportern, die ihn begleiteten, über ihn im Blick auf die Frage einer russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen: »jedes Mal, wenn er mich sieht, sagt er: ›Ich habe das nicht getan.‹ Ich glaube tatsächlich, dass er das, was er mir sagt, auch meint. Er sagt: ›Ich habe das nicht getan.‹ Ich glaube, er ist wirklich gekränkt, wenn Sie die Wahrheit

100 Für die Gewalttaten von Kim Jong-un und die Äußerungen Trumps über ihn siehe Tansey, C razy, S. 143; siehe die Informationen in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/ Kim_Jong-Jong-un, Kim un#cite_ref-BBC 2_37-1 und https://de.wikipedia.org/wiki/ Menschenrechtssituation_in_Nordkorea. Die Äußerungen Trumps zu Porter und der Tweet über die Atomknöpfe nach Woodward, Furcht, S. 388.

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wissen wollen.« Im gleichen Atemzug nannte Trump die Behauptung der russischen Einmischung einen »künstlichen Prügelangriff der Demokraten«, der nun auch noch dazu geführt habe, dass in Syrien Menschen sterben müssen, weil ein gekränkter Putin dort den Krieg nicht beende. Seinen eigenen Geheimdiensten, die von der Einmischung Russlands überzeugt waren, glaubte Trump dagegen kein Wort. Die früheren Direktoren des FBI, der CIA und des Nationalen Sicherheitsrats nannte er »political hacks«, was frei übersetzt bedeutet: politische Nichtsnutze, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Bei seinem Treffen mit dem russischen Außenminister Lawrow und Botschafter Kisljak im Oval Office unmittelbar nach der Entlassung von FBI-Präsident Comey enthüllte Trump seinen Gästen gegenüber streng geheime Informationen über Terroristen, die sich damit beschäftigen, wie man mit Hilfe von Computern Flugzeuge in die Luft jagen kann. Bei einer anderen Gelegenheit äußerte er über Putin: »Wenn er großartige Dinge über mich sagt, werde ich auch großartige Dinge über ihn sagen. Er hat wirklich außerordentlich große Führungsqualitäten… sehr strenge Kontrolle über sein Land … und schauen Sie, er hat eine Zustimmungsrate von 82 Prozent.« Auch Bashar al-Assad, der in seinem Land einen grausamen Bürgerkrieg führt und vor nichts zurückschreckt, bescheinigte Trump vorbildliche Führungsqualitäten, von denen Obama weit entfernt sei: »Für mich zählen Führungsqualitäten; er bekommt die Note A, unser Präsident kann da nicht mithalten.« Anerkennung und Bewunderung gibt es auch für den Amtskollegen Rodrigo Duterte auf den Philippinen, der seine Ziele mit rücksichtslosen und mörderischen Mitteln durchzusetzen versucht. Und last but not least fallen ihm zu Saddam Hussein, immerhin einem der monströsesten Tyrannen der letzten Jahrzehnte, außergewöhnliche und rühmenswerte Eigenschaften ein: »Okay, er war ein sehr schlimmer Kerl. Aber wissen Sie, was er sehr gut gemacht hat? Er tötete Terroristen. Das hat er sehr gut gemacht! Er hat ihnen nicht ihre Rechte vorgelesen. Sie redeten nicht. Wenn einer ein Terrorist war, dann war es eben aus mit ihm!«101   *****  

101

Die Äußerungen über Putin nach Brinkbäumer, Nachruf, S. 393, Tansey, Crazy, S. 144; die Äußerungen über Assad, Duterte und Hussein ebenfalls nach Tansey, Crazy, S. 143f; zur Weitergabe streng geheimer Informationen an Lawrow und Kisljak siehe Stent, Putins Russland, S. 442.

IV.  Nichts ist wahr, alles ist möglich: Lüge und Täuschung in Trumps Amerika

Alles das ist gut dokumentiert und bekannt, und jeder, der es wissen will, kann ohne viel Aufwand in Erfahrung bringen, was Trump unter Politik versteht, wie er die Amtsgeschäfte im Weißen Haus führt und wie und womit er sein Leben zugebracht hat. Umso drängender ist die Frage, wieso um alles in der Welt dieser Mann zum Präsidenten gewählt werden konnte und gute Chancen hat, ein zweites Mal gewählt zu werden. Immerhin ist es im Fall Amerikas so, dass wir es mit einer Verfassung und einem Land zu tun haben, das mit einer langen Geschichte von Demokratie, Verfassung, Gewaltenteilung und Freiheit aufwarten kann und damit trotz aller Mängel für viele Länder dieser Welt zu Recht zum Vorbild und Muster avancierte. Woran also liegt es, dass Trump erfolgreich war und erfolgreich ist (»erfolgreich«, wenn man als Erfolgskriterium den Grad der Zustimmung als Maßstab nimmt)? Immer noch ist fast die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung Umfragen zufolge mit der Amtsführung des Präsidenten einverstanden, und die Republikanische Partei, die stolz als Grand Old Party firmiert, hat sich beinahe widerstandslos einem offenkundigen Lügner und Antidemokraten unterworfen. Der Druck der kritischen Öffentlichkeit hat die republikanischen Senatoren nicht dazu veranlasst, für die Amtsenthebung des Präsidenten ihrer eigenen Partei zu stimmen. Im Vergleich zu den USA ist Putins Erfolg einfacher erklärbar. Putin musste nicht gegen gefestigte politische Institutionen, gegen eine erfahrene Zivilgesellschaft und eine freie Öffentlichkeit ankämpfen, er wurde, begünstigt von den chaotischen Zuständen in den 1990er Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion, relativ leicht an die Spitze des Staates getragen, wo er sich dann mit Glück, manipulativem Geschick und Repression behauptet hat. Trotz dieser großen Unterschiede zwischen den USA und Russland stimmen die beiden Präsidenten nicht nur in der Missachtung der Wahrheit und der Selbstverständlichkeit überein, mit der sie zu Lügen und Täuschungen greifen, sondern auch darin, dass sie beide ihr Verhalten als eine Art von Notwehr rechtfertigen, als Reaktion auf Demütigungen und Niederlagen. Trump versteht sich als Anwalt der erniedrigten und gedemütigten Amerikaner, die er wieder aufrichtet, so wie er Amerika insgesamt wieder groß zu machen verspricht. Putins Erfolgsgeschichte lebt davon, dass er Russland als Opfer ausländischer Machenschaften betrachtet, die er sich nicht länger gefallen lassen will und gegen die jedes Mittel recht ist. Beide, Trump wie Putin, sehen ihre Länder in einem Not- und Ausnahmezustand, der ihr Vorgehen legitimiert und ihre Politik begünstigt. Beide folgen dem Prinzip: Not kennt kein Gebot. Amerika hat gelitten, ist immer wieder übervorteilt worden

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und muss das Siegen wieder lernen. Russland ist fortwährend gedemütigt worden und muss wieder groß werden. Trump wie Putin rechtfertigen ihr anmaßendes Verhalten damit, dass den Staaten, deren Präsidenten sie sind, ein großes Unrecht angetan worden ist. Die Instanz, an die sie damit appellieren, ist der Stolz, der in ihren Augen auf vielfache Weise durch fremde Kräfte so sehr in Frage gestellt und gekränkt worden ist, dass nunmehr jedes Mittel gerechtfertigt ist, um den Niedergang zu stoppen. Shakespeare hat mit Richard III. eine Figur auf die Bühne gebracht, die ganz und gar von der Logik getrieben wird, dass Demütigungen und Kränkungen jede Art der Reaktion legitimieren, und sei sie noch so grenzen- und rücksichtslos. Im berühmten Einleitungsmonolog rechtfertigt der Herzog von Gloster seinen Beschluss, »ein Bösewicht zu werden« und »verschmitzt, falsch und verräterisch« zu handeln vor sich selber damit, dass er durch seine körperliche Missbildung »von der Natur … betrogen, entstellt, verwahrlost« wurde, »und zwar so lahm und ungeziemend, dass Hunde bellen, hink ich wo vorbei«. Das Gebrechen und die vielen Nachteile, die damit verbunden sind, haben den Stolz des späteren Königs so sehr gekränkt, dass er nun meint, als blindwütiger Rächer auftreten und sämtliche gesellschaftlichen Regeln, Gesetze und Vorschriften überschreiten zu dürfen. Wer Unrecht erlitten und Demütigungen erfahren hat, hat Anspruch auf Entschädigung und leitet daraus die Befugnis ab, anderen Unrecht zuzufügen. So münzt derjenige, der sich betrogen und übervorteilt sieht, den Nachteil in Vorteile und Vorrechte um. Shakespeare zeigt in seiner Tragödie, wie der verletzte Stolz zu Handlungen führt, die alle Grenzen überschreiten und in eine Katastrophe münden.102 Wie ich im nächsten Kapitel darlege, folgen Trump und Putin einer ähnlichen Logik. Sie sehen in ihren Ländern verwundete und missachtete Mächte, die mit allen Mitteln um ihre Integrität und Unversehrtheit kämpfen müssen. Das ist natürlich nicht das persönliche Problem von Putin und Trump, sondern dahinter steht ein altes und grundsätzliches politisches Problem, nämlich die Frage, wie wir mit Enttäuschungen, Niederlagen und Verlusten so umgehen können, dass sie nicht als Freifahrtschein und Vorwand für Rache und Vergeltung benutzt werden, sondern als Vorbedingung dafür, einen wirklichen Neuanfang zu machen.

102 Shakespeare, Richard III., S. 7f.

V.  Der gekränkte Stolz oder Wodurch Lüge und Täuschung begünstigt werden

In Trumps Welt Das Erfolgsrezept der Autokraten und Despoten aller Jahrhunderte ist immer das gleiche, und es ist immer so einfach wie verlockend. Es beruht darauf, die Angst, die man selber hat, in eine Angst zu verwandeln, die man anderen macht. Despoten greifen die Angst der Gesellschaft auf und besänftigen sie, indem sie andere mit Drohungen überziehen und dadurch als stark erscheinen. Dieses Rezept funktioniert nach innen wie nach außen gleichermaßen. Es beinhaltet im Kern einen simplen Dreischritt: Ein erfolgreicher Despot muss erstens die Gefahren und Bedrohungen, die einen niederhalten und ohnmächtig und ängstlich machen, identifizieren und in grellen und drastischen Farben zeichnen, also den Gegner dämonisieren; er muss zweitens glaubhaft machen, dass er selber über ein enormes Drohpotential verfügt, vor dem die Gegner zittern; und er muss drittens überzeugend darlegen, dass seine Drohungen nur dann erfolgreich sein werden, wenn er sich auf die bedingungslose und dauerhafte Unterstützung seiner Anhänger verlassen kann. Immer liegt dem Rezept die Logik der darwinistischen Wildnis zugrunde, nach der es nur die Alternative zwischen Fressen und Gefressenwerden, zwischen Angsthaben und Angstmachen, Herrschen und Beherrschtwerden gibt, sonst nichts. Alles was ein Despot machen muss, ist, den Spieß herumzudrehen und die Angst gewissermaßen neu zu verteilen. Trump antwortete im Wahlkampf 2016 auf die Frage, was in seinen Augen Macht ist: »Wirkliche Macht ist – ich möchte dieses Wort eigentlich gar nicht benutzen – Furcht.« Das einzig Ungewöhnliche an diesem Satz ist das für Trump sonst gar nicht charakteristische Zögern und ein Anflug von Vorsicht. Was gemeint ist, ist dennoch klar: Man kann sich nur durchsetzen, wenn man den Gegnern Angst

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macht, sie unter Druck setzt, ihnen droht. Das ist Trumps Lebens-, Geschäftsund Politikprinzip. Mit ihm gewinnt er seine große Anhängerschaft unter den Ängstlichen, Ohnmächtigen und Unzufriedenen. Trump erlöst sie aus ihrer quälenden Einsamkeit und ihren nagenden Gefühlen der Ohnmacht, und sie danken es ihm mit Begeisterung und mit der Bereitschaft, sich für ihn in die Bresche zu schlagen.1 Es ist aber eigentümlich, dass die Erlösung, die Trump seinen Anhängern zukommen lässt, von ihnen in gar keiner Weise als Bevormundung oder Erniedrigung wahrgenommen und erfahren wird. Dieses Faktum korrespondiert auf höchst eindrucksvolle Weise mit dem »großen Paradox«, von dem die Soziologin Arlie Russell Hochschild im Blick auf die amerikanische Rechte spricht. Das Paradox besteht darin, dass es gerade dort, wo die Republikaner ihre Hochburgen haben, den Leuten besonders schlecht geht, sie aber rundheraus und konsequent jede Art staatlicher Hilfe, Unterstützung und Förderung aus Washington ablehnen. Hochschild hat über fünf Jahre hinweg die Lebens- und Denkweise von deutlich rechts eingestellten Anhängern der Republikaner im Bundesstaat Louisiana erkundet, – einem Bundesstaat, in dem es verglichen mit dem übrigen Land mehr Armut, mehr minderjährige Mütter, mehr Scheidungen und einen schlechteren Gesundheitszustand der Bevölkerung gibt. Hinzu kommen dramatische Umweltprobleme, die im übertragenen wie im wörtlichen Sinn den Bewohnern des Landes den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Sie wurden Opfer einer der erschütterndsten Umweltkatastrophen der USA, in der ein Krater 30 Meter hohe Bäume verschluckte und 16 Hektar Sumpfland von oben nach unten kehrte. Der Urheber der Katastrophe war eine Bohrfirma, die nur geringen gesetzlichen Regulierungen unterlag. Warum wehrt sich der größte Teil der Bevölkerung von Louisiana gegen staatliche Regulierungen, gegen Umweltauflagen für die großen Konzerne, gegen den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, gegen Investitionen in Bildung und Infrastruktur, – obwohl es sich dabei allesamt um Maßnahmen handelt, die von außen betrachtet so dringend nötig wären und den Bewohnern helfen würden, mit der schwierigen Lage und den Krisen zurechtzukommen? Die Anhänger und Wähler der Republikaner empören sich nicht nur darüber, dass der Staat anderen hilft, sondern wollen auch für sich selbst keinerlei Hilfe in Anspruch nehmen. Wer tatsächlich staatliche Hilfe erhält, um eine Notlage zu überstehen, schämt sich dafür und möchte nicht, dass es 1

Das Zitat nach Woodword, Furcht, S. 11.

V.  Der gekränkte Stolz oder Wodurch Lüge und Täuschung begünstigt werden

bekannt wird. Der Grund dieses paradoxen Verhaltens ist für ein Denken in Kategorien von Nutzenmaximierern schwer verständlich, aber auf den zweiten Blick durchaus plausibel. Die Bewohner erleben die Hilfsmaßnahmen des Staates als Akte der Entmündigung, mit denen sie zum Opfer gemacht würden, und lehnen sie deswegen rundheraus ab. Als Opfer behandelt zu werden, sich selbst als Opfer zu sehen, widerspricht zutiefst ihrem Stolz. Sie wollen nichts geschenkt, sondern in ihrer Würde, ihrer Selbständigkeit und ihrer Unabhängigkeit anerkannt werden. Wer Geld bekommt, ohne etwas zu tun, hat keinen Grund stolz zu sein. In staatlicher Hilfe sehen diese Anhänger der Rechten ein vergiftetes Geschenk, das sie entmündigt, entwertet, kränkt, passiv macht, infantilisiert und zu Empfängern von Gnadenakten degradiert. Sie wittern darin eine Asymmetrie, in der ihnen die Rolle der Unterlegenen und Schwachen zugeschoben wird. Nichts ist ihnen so wichtig wie Stolz und Anerkennung. Je weniger sie auf den Staat angewiesen sind, desto mehr steigt ihr Selbstbewusstsein. Unschwer erkennen wir in dieser Haltung das Leitbild des , der mit viel Selbstbewusstsein auf das schaut, was er mit eigener Anstrengung und aus eigener Kraft erreicht hat und der die Dinge selbst regeln möchte und selbst regeln kann.2 Es spricht viel dafür, in diesem unbändigen Stolz das Geheimnis für Trumps Wahlerfolg und für seinen Rückhalt in der amerikanischen Bevölkerung zu sehen. Offenbar reagiert Trump auf die Erfahrungen von Ohnmacht, Angst und Scham in einer Weise, die seine Anhänger nicht als Kränkung und Erniedrigung erleben, sondern als starke Befriedigung ihres Stolzes. Seine Gefolgsleute in Louisiana jedenfalls halten ihn nicht für denjenigen, der sie als Opfer behandelt und für seine eigenen Zwecke funktionalisiert, sondern für einen Helden, von dem sie sich als wichtige Verbündete, als Mitstreiter einer großen Sache, als bedeutsame Teilnehmer eines vitalen Kampfes geachtet und anerkannt sehen. Damit hat er die Welle von Begeisterung und Zuversicht entfacht, auf der er ins Weiße Haus eingezogen ist. Er verteilt keine Geschenke, sondern verspricht Größe, er sucht keine Schwächlinge, sondern Kämpfer, er verwandelt die Ohnmächtigen in Glieder einer machtvollen Bewegung und erweckt die Müden und Ausgelaugten zum Leben und facht ihren Elan an, er entwertet seine Anhänger nicht, er ist nicht paternalistisch, sondern ein wahrer Anführer, der sie aufrichtet. Und das ist das, wonach seine Anhänger verlangen. Sie suchen nicht Geld, Hilfe und Förderung, sondern »Geld und Stolz«. Sie »sehnen sich nach Stolz, 2

Siehe Hochschild, Fremd, S. 161.

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verspüren aber nur Scham«, solange sie niemanden weit und breit sehen, der sie versteht, ohne sie zu demütigen. Als Anhänger von Trump überwinden sie ihre Isolation und Einsamkeit und werden zum Bestandteil einer starken Gruppe, Bewegung und Partei. Und zusammen mit anderen, »die so sind wie sie, fühlen sie sich nun von Hoffnung und Freude erfüllt und beschwingt«. Je größer die Menge der Leute ist, die sich um Trump scharen, desto größer ist die Begeisterung, die sie ihrem Helden entgegenbringen. Die Bewegung mit und für den großen Anführer wirkt wie ein starkes Antidepressivum. In diesem Sinn sind die amerikanischen Rechten und ihre Anhänger weniger eine offizielle politische Gruppierung mit einem klaren politischen Programm und politischen Prinzipien und Absichten, als vielmehr eine Kultur, eine Sichtweise und Einstellung zu Land und Leuten.3 Der Stolz, den ihnen der mächtige Präsident zurückgibt, ist so groß und überwältigend, dass sie dafür über vieles hinwegsehen und auf vieles verzichten, nicht nur auf das Geld aus dem fernen Washington, das sie verachten, sondern auch auf den Schutz der Umwelt, den sie durchaus nicht für unwichtig halten. Nur das findet ihre Unterstützung, was mit ihrem Selbstbild vereinbar ist und sie nicht demütigt. Für sie ist vollkommen selbstverständlich, dass auch Verzicht, Härte und Durchhaltevermögen eine Ressource ist, aus der man Selbstbewusstsein schöpfen kann. Der einfache und bequeme Weg ist nicht immer der beste. Wie ein Stoiker die Härten des Lebens zu ertragen, wie ein Draufgänger den Stier bei den Hörnern zu packen und niemals auch nur einen Dollar vom Staat zu nehmen, das ist im Selbstbild dieser Menschen wichtiger als alles andere. Harte Arbeit kann einem mehr zur Ehre gereichen als Können, Reichtum und Einkommen, und sie zählt natürlich viel mehr als irgendwelche Geschenke.4 Zweifellos sind die Anhänger der Tea-Party, die Hochschild uns vorstellt, in ihrem Gespür für Demütigung überaus empfindlich und anfällig. Sie sehen auch schon dort Angriffe auf ihre Integrität und ihren Stolz und fühlen sich beleidigt, wo es vielleicht nur so ist, dass andere Leute anders leben wollen als sie selber. Sie suchen Zuflucht hinter einem Schutzwall, obwohl eigentlich niemand da ist, der sie attackieren will. Tatsächlich nehmen sie die Liberalen, die Linken und die Demokraten ihres Landes so wahr, als wenn die ihnen diktieren wollten, was sie zu tun und zu fühlen hätten. Sie erleben nicht den jederzeit zu jeder Lüge bereiten Politikunternehmer Trump, sondern die 3 4

Die Zitate aus Hochschild, Fremd, S. 129, 301f, die Rechte als Kultur: ebda., S. 40. Siehe Hochschild, Fremd, S. 248.

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Liberalen aus den großen Städten im Westen und Osten des Landes als die Kolonialherren, von denen sie entmündigt, entwertet, verhöhnt und bevormundet werden. Umso größer ist das Gefühl der Befreiung und Erleichterung, wenn ihnen endlich bestätigt wird, dass sie ganz in Ordnung sind, ihr Leben nicht ändern müssen und so bleiben können, wie sie sind. Endlich gibt es mit Trump wieder einen Präsidenten, der es ihnen ermöglicht, sich als gute, moralische Amerikaner zu empfinden. »Diese berauschende, reinigende Erleichterung sorgte für eine ›Hochstimmung‹, die sich gut anfühlte.« Hochschild entdeckt bei ihren Erkundungen im Milieu der rechten Republikaner »die grundlegende Bedeutung des emotionalen Eigeninteresses – einer berauschenden Befreiung von dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein.« Wer sich in seinem Stolz verletzt sieht, verspürt Scham. Trump befreit seine Anhänger nicht nur von Ohnmacht und Angst, sondern auch von der Scham, den Lebensauffassungen und Idealen, die die liberalen eingebildeten Eliten so gelehrt und weltgewandt predigen, nicht zu genügen. Trump befreit sie von der Scham über ihre eigene Natur und ihre Wünsche, von der Scham darüber, dass sie nun einmal so sind, wie sie sind. Trump ist der einzige, von dem sie den Eindruck haben, dass er sie hört und ihnen eine Stimme gibt, der einzige, der sie schützt, sich um sie kümmert und sie versteht, ohne sie zu entwerten. Er weiß ganz genau, wie sie ticken und was sie bewegt und beschäftigt.5 Sicher beruht das auf einer Illusion, sicher ist es ein durch und durch lügenhaftes Versprechen, das Trump ihnen macht, und sicher verleugnen sie die Realität, die ihnen so viel Unlust bereitet, dass sie jeder Lüge auf den Leim gehen, weil in ihren Augen schon die Fakten und die Tatsachenwahrheiten nichts anders als eine Verhöhnung der eigenen Person, Lebensweise und Gefühle sind. Aber mit diesen überlegenen Einsichten ist die Triebkraft des Stolzes, die Demagogen ansprechen und anzapfen, keineswegs besänftigt oder auch nur verstanden. Wenn man dem Stolz auch noch die Illusionen nimmt, bei denen er seine Zuflucht sucht, wenn man ihm nicht eine Perspektive und Realität anbieten kann, die befriedigender, dauerhafter und attraktiver ist als die Illusion, dann steht die Aufklärung der Lüge auch an dieser Stelle wieder auf verlorenem Posten. Sie sieht dann in der Lüge wiederum nur den Irrtum, den jeder ohne Weiteres zu korrigieren bereit ist. Der Appell von Liberalen und Demokraten, doch nicht jedem Versprechen zu glauben und nicht jedem politischen Rattenfänger auf den Leim zu gehen, hilft nur wenig. Es ist ja keineswegs so, dass die Anhänger von Trump nur darauf warten, dass man sie 5

Die Zitate bei Hochschild, Fremd, S. 305f.

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eines Besseren belehrt und ihnen die Informationen gibt, die sie brauchen, um ihren Irrtum einzusehen. Ihre politische Haltung hängt nicht vom Wissen oder von Informationen ab, und sie unterliegt auch nicht irgendwelchen simplen Kosten-Nutzen-Kalkülen. Dass es keine Frage unzureichender Informationen ist, wenn sich die Hälfte der Amerikaner auf die Seite von Trump schlägt, sondern dass ganz andere Triebkräfte am Werke sind, sieht man auch und vor allem an den Verschwörungsannahmen und -theorien, die sich bei Trump selber wie bei seinen Anhängern großer Beliebtheit erfreuen. Verschwörungsannahmen sind ausgesprochen unwahrscheinliche Behauptungen über mehr oder weniger verborgene Verbindungen und Absprachen zwischen grenzüberschreitend und weltweit agierenden Akteuren, die darauf abzielen, mir zu schaden. Sie erklären das sonst Unerklärbare, sie dichten das Weltbild mit Erfolg gegen widerstreitende Erfahrungen und Realitäten ab, so dass sie für Korrekturen unzugänglich sind. Auch hinter den Verschwörungsannahmen steht der Stolz, auch sie werden von der Antriebskraft des Stolzes gespeist. Der Stolz ist ein großer Manipulator der Weltsicht, und Verschwörungsannahmen sind Balsam für den Stolz und für die Seele. Sie sind dazu angetan, die eigenen Misserfolge zu erklären, sie zeigen, wie machtvoll die Gegner und Feinde sind, sie stellen unter Beweis, dass die darwinistische Wildnis niemals zur Ruhe kommt und man immer und überall misstrauisch sein muss. Also sind auch die Verschwörungsannahmen alles andere als ein Irrtum, der mit ein paar soliden Informationen aus der Welt zu schaffen wäre. Sie antworten auf einen tief sitzenden Wunsch nach einer Erklärung für die eigene schmerzliche Lage, die den eigenen Stolz nicht angreift. An dem Faktum selber, dass es bei Trump eine ausgemachte Vorliebe für Verfolgungs- und Verschwörungsannahmen aller Art gibt, kann kein Zweifel sein. Bevor er ins Weiße Haus einzog, war die paranoide Disposition seine eigene private Obsession, die seinen Lebens- und Geschäftsstil prägte, aber politisch keine Bedeutung hatte. Mit seinem Wahlsieg hat sich das geändert. Nach wie vor prägt die Paranoia seine Wahrnehmung der Welt, aber sie zieht nun weitere Kreise und ist bestimmend eingegangen in die Art, wie in den USA die inneren politischen Auseinandersetzungen betrieben werden, und sie prägt auch die Außenpolitik, die Beziehungen zu anderen Staaten und die Wahrnehmung des Weltgeschehens. In der Ukraine-Affäre trat das verdichtet ans Licht. Dabei ist die Überzeugung Trumps, dass er als Präsident alles Recht der Welt hat, andere Staaten um tatkräftige Mithilfe bei der Aufklärung korrupten Verhaltens zu er-

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suchen, das sich zufällig auf einen möglichen Rivalen in den kommenden Präsidentschafts-Wahlen bezieht, nur die Spitze eines Eisbergs, der aus viel weiter reichenden Annahmen besteht. Ende September 2019 wurde publik, dass Trump am 25. Juli 2019 mit seinem ukrainischen Amtskollegen telefoniert und diesen darum gebeten hatte, Ermittlungen gegen Joe Biden und dessen Sohn Hunter Biden wegen Korruption und Amtsmissbrauch aufzunehmen. Trump hegte den Verdacht, dass Biden in seiner Zeit als Vizepräsident der USA unter Obama seinen Sohn Hunter, der seit 2014 im Aufsichtsrat des ukrainischen Energie-Unternehmens Burisma saß, vor Ermittlungen wegen Korruption beschützt hat. Als der Inhalt des Telefonats zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenski durch ein Inhaltsprotokoll bekannt wurde, begannen die demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus damit, die Möglichkeit eines Impeachment gegen den Präsidenten zu prüfen. Ihr Vorwurf lautete, dass der Präsident sein Amt missbrauche, um ausländische Mächte für parteipolitische Zwecke und Vorteile im Innern einzuspannen. Erschwerend kam der Verdacht hinzu, dass Trump die Überweisung einer Militärhilfe in Höhe von knapp 400 Millionen Dollar an die Ukraine, die vom Kongress bereits bewilligt, vom Weißen Haus aber auf Eis gelegt worden war, von der Bereitschaft Selenskis abhängig machte, seinen Wünschen nachzukommen. Ein anonymer Mitarbeiter, vermutlich aus der CIA, hatte auf Umwegen von diesem fragwürdigen Telefongespräch erfahren und in einer mehrseitigen schriftlichen Beschwerde an den Generalinspekteur der Geheimdienste dessen Inhalt zusammengefasst und damit die ganze Affäre ins Rollen gebracht. Das Schreiben enthielt auch die Information, dass man die wörtliche Mitschrift des Telefonats in einer streng geheimen Datenbank für sicherheitspolitisch besonders sensible Dokumente gespeichert hatte. Das wurde später vom Weißen Haus bestätigt. Der anonyme Informant stellte dieses Vorgehen in seiner Eingabe als Abweichung von der sonstigen Praxis dar. Von mehreren Ausschüssen des Repräsentantenhauses wurde sodann geprüft, ob die Voraussetzungen für ein Impeachment, nämlich »high crimes und misdemeanors«, von denen die amerikanische Verfassung spricht, vorliegen. Im Dezember 2019 stimmte das Repräsentantenhaus mit seiner demokratischen Mehrheit für die Eröffnung des Impeachments wegen Machtmissbrauch und Behinderung der Ermittlungen des Kongresses. Durch erste Anhörungen wurden Textnachrichten bekannt, in denen der zurückgetretene Ukraine-Sondergesandte Kurt Volker starken Druck auf den ukrainischen Präsidenten ausgeübt hatte. Die Aufnahme von Ermittlungen gegen Joe und Hunter Biden wurde darin als Bedingung für einen Empfang

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des Präsidenten Selenski im Weißen Haus genannt. Auch für den Verdacht, dass Trump die Frage der Militärhilfe als Druckmittel einsetzte, wurden neue Belege vorgelegt. Der frühere amerikanische Geschäftsträger in Kiew, Bill Taylor, war jedenfalls davon überzeugt, dass Washington die Gewährung der Militärhilfe an die Einleitung von Ermittlungen gegen Vater und Sohn Biden knüpfte. »Ich denke, es ist verrückt, Militärhilfe vorzuenthalten, um Hilfe für eine politische Kampagne zu bekommen«, schrieb Taylor am 9. September an Gordon Sondland, den Botschafter der USA bei der Europäischen Union.6 Der Ausgangspunkt dieser Affäre war aber nicht die Absicht Trumps, den wahrscheinlichen Konkurrenten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Joe Biden zu diskreditieren. Das war nur ein kleiner Baustein in einer Unternehmung, die tiefere Wurzeln und weiter zurückliegende Anlässe hat. Der Ausgangspunkt lag in der festen Überzeugung Trumps, dass er seit seinem Eintritt in den Wahlkampf für das Präsidentenamt ins Kreuzfeuer einer international agierenden Verschwörung geraten ist, die bis heute anhält und ihn unbedingt ausschalten will. Im Bündnis mit den engsten Getreuen, vor allem mit seinem persönlichen Anwalt Giuliani und seinem Justizminister Barr, sieht Trump sich in einem für ihn selbst und für Amerika überlebenswichtigen und noch nie dagewesenen Abwehrkampf. Die Verschwörung, die gegen ihn im Gange ist, reicht in seiner Sicht zurück mindestens bis in den Wahlkampf 2016, und sie, nicht die angebliche Einmischung Russlands, ist für ihn der eigentliche Skandal, der nach wie vor der Aufklärung harrt. Daraus wird ersichtlich, dass Trump mit dem ganzen Russland-Komplex noch keineswegs abgeschlossen hat. Die Nachforschungen des Sonderermittlers Robert Mueller und das Verhalten des FBI-Direktors James Comey, die sich in der Sicht von Trump so illoyal verhielten und die Hexenjagden gegen ihn veranstalteten, lassen ihm bis heute keine Ruhe. So wenig er ertragen konnte, dass bei seiner Amtseinführung weniger Zuschauer dabei waren als bei seinem Vorgänger Obama, so wenig kann er es ertragen, dass über seiner Präsidentschaft der Makel hängt, er verdanke sie der Einmischung einer ausländischen Macht. Diesen Makel möchte er tilgen und unbedingt loswerden. Zwar war es so, dass Mueller bei seinen Nachforschungen keine eindeutigen Belege für eine Absprache zwischen Trumps Wahlkampf und Russland namhaft gemacht

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Die Darstellung der Ukraine-Affäre nach der fortlaufenden Berichterstattung von NZZ-Online: https://www.nzz.ch/international/impeachment-trump-und-die-ukraineaffaere-die-hintergruende-ld.1511124

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hat, was Trump immer wieder als vollkommenen Freispruch für sich feiert. Aber die Ukraine-Affäre zeigte, dass ihm dieses Ergebnis keineswegs genügt. Trump ist offenbar nach wie vor damit beschäftigt, die Existenz einer internationalen Verschwörung gegen ihn nachzuweisen, als deren zentralen Drahtzieher er die Demokratische Partei betrachtet. Im Telefongespräch mit Selenski ging es nicht nur um das Ersuchen, Ermittlungen gegen Biden aufzunehmen, der im Zweifelsfall auch nur ein weiterer Knotenpunkt der Verschwörung ist. Es war in einer reichlich kryptischen Passage auch davon die Rede, Selenski solle prüfen, was es mit der Firma Crowdstrike auf sich habe. Crowdstrike ist ein Unternehmen für Cybersicherheit, das 2016 den Hackerangriff auf die Demokraten untersuchte und sehr schnell davon überzeugt war, dass Russland hinter den Angriffen steckte. Offenbar hat Trump den Verdacht, dass das Unternehmen ein Teil der Verschwörung ist, und offenbar denkt er immer noch, dass Crowdstrike ein ukrainisches Unternehmen ist, – obwohl es in Wahrheit seinen Sitz in den USA hat, aber einer seiner Gründer ein US-Amerikaner russischer Abstammung ist. Ein weiterer Verdacht Trumps gegen die Ukraine rührt daher, dass ukrainische Quellen die Demokraten mit Material über Trumps damaligen Wahlkampfchef Paul Manafort versorgten. Manafort stand auf einer Liste mit Schwarzgeldzahlungen, die nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowytsch aufgetaucht war. De facto freilich war es so, dass Manafort aufgrund von Ermittlungen einer neuen ukrainischen Antikorruptionspolizei aufflog, die in Kiew mit tatkräftiger Unterstützung durch das FBI und die EU aufgebaut worden war. Trump hält diese Polizei aber offenbar für ein Instrument der US-Demokraten.7 Eine Reihe weiterer Ersuchen und Aufforderungen an ausländische Mächte reiht sich hier ein. Schon kurz nachdem die Ukraine-Affäre publik wurde, forderte Trump ganz ungeniert und öffentlich China dazu auf, ebenfalls Ermittlungen gegen Joe Biden und seinen Sohn in die Wege zu leiten. Der Anlass dazu war auch hier wieder ein Geschäft von Hunter Biden, bei dem es nach Trump nicht mit rechten Dingen zugegangen war und bei dem der Vizepräsident Joe Biden sicher seine Hände im Spiel gehabt haben wird. Ferner hat Trump auch den australischen Ministerpräsidenten in einem Telefonat um Mitarbeit gebeten. Aus Australien war 2016 der Hinweis gekommen, dass ein Trump-Berater verdächtige Russland-Kontakte unterhielt. Damit waren die langwierigen Untersuchungen zur Russland-Affäre erst in Gang gekommen, bei denen sich nach Trump die amerikanischen Geheimdienste vollkommen 7

Die Darstellung nach Spiegel 41/2019; zur Rolle von Crowdstrike siehe SZ, 25.9.2019.

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illoyal und anmaßend verhalten hatten. Ferner stand der Justizminister Barr mit den Regierungen Italiens und Großbritanniens in Kontakt, um den weiteren Verästelungen der Verschwörung auf den Grund zu gehen. Barr hatte schon beim Umgang mit dem Mueller-Report gezeigt, dass er sein Ministeramt als eine Art juristischen Bodyguard für den Präsidenten versteht. Barr wird in der Beschwerde des Informanten über das Telefonat Trumps mit Selenski ebenfalls erwähnt. Er soll mitgeholfen haben, die ukrainische Führung unter Druck zu setzen, um Biden zu schaden. Dass er auch mit Großbritannien in dieser Sache den Kontakt suchte, erklärt sich daraus, dass es Christopher Steele war, ein ehemaliger höherer Mitarbeiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, der ein 35-seitiges Dossier mit detaillierten Informationen über Aktivitäten Russlands im amerikanischen Wahlkampf und mit pikanten Anmerkungen über Trump und einige russische Prostituierte verfasst hatte, das im Dezember 2016 der CIA zugespielt worden war und im Januar 2017 publik wurde. Auch dahinter steckt nach Trumps Überzeugung wieder die Demokratische Partei, die ihn unbedingt kaltstellen und vernichten will. Eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen, diese weitreichende Verschwörung offenzulegen, spielt offenbar der schon mehrfach erwähnte Rudy Giuliani, der nach dem Ausfall von Michael Cohen als Rechtsberater immer stärker dessen Rolle als »Fixer«, Ausputzer und Mann fürs Dreckige übernahm. Im Telefonat mit Selenski bat Trump den ukrainischen Staatspräsidenten darum, sich mit Giuliani zusammenzusetzen und zu sehen, was man gegen Biden in der Hand habe. Die Washington Post berichtete, dass nach Ansicht einiger hochrangiger Mitarbeiter des Außenministeriums die ganze Idee, die Ukraine um Mithilfe bei der Diskreditierung des innenpolitischen Widersachers und Konkurrenten Joe Biden zu bitten, auf Giuliani zurückgeht. Ferner berichtete Trumps früherer Berater für Inlandsicherheit, Tom Bossert, dass Giuliani eine der wichtigsten Quellen für Trump ist, wenn es um Verschwörungstheorien wie im Fall der Ukraine geht. Tatsächlich war Giuliani damit beschäftigt, den ukrainischen Anteil der Verschwörung aufzudecken. Er traf dabei auf den ehemaligen Kiewer Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin, dessen Entlassung Vizepräsident Joe Biden gefordert hatte, – aber nicht deswegen, weil Schokin Korruptionsermittlungen gegen das Unternehmen Burisma durchführte, sondern umgekehrt deswegen, weil er jegliche Nachforschungen in Sachen Korruption in der Ukraine für überflüssig hielt. Auch die Europäer und der Internationale Währungsfonds waren deswegen daran interessiert, Schokin zu entlassen. Mit dem neuen Kiewer Generalstaatsanwalts, Juri Luzenko, traf sich Giuliani dann in New York, um von ihm Munitionen für sei-

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nen Kampf gegen die Demokraten und die Verschwörung zu erhalten. Das erschien kurzfristig als so vielversprechend, dass Trump twitterte: »Während sich die Russland-Affäre in Luft auflöst, taucht nun das Ukraine-Komplott zugunsten Hillarys auf.« Aber dann erwies es sich doch auch wieder nur als heiße Luft, von der nichts blieb. Anfang August 2019 traf sich Giuliani in Madrid mit Vertretern aus dem unmittelbaren Umfeld des neuen ukrainischen Präsidenten, darunter dessen außenpolitischer Berater Jermak. Aus den inzwischen publik gewordenen Textnachrichten geht hervor, dass Jermak einwilligte, eine Überprüfung der Burisma-Ermittlungen anzukündigen, wenn es im Gegenzug einen festen Besuchstermin für Selenski bei Trump gebe. Jermak verweist dazu auch auf Absprachen bei seinem Treffen mit Giuliani in Madrid. Ende August 2019 wurde in Kiew ein neuer Generalstaatsanwalt eingesetzt, ein angesehener Antikorruptions-Aktivist, der tatsächlich ankündigte, die Ermittlungen gegen den Gaskonzern Burisma einer Überprüfung zu unterziehen.8 Giuliani versteht es nicht weniger als Trump, sein Vorgehen in öffentlichen Verlautbarungen zu verteidigen und die Kritiker zu attackieren. Als er bei Fox News mit seinem Verhalten konfrontiert wurde und ein Journalist ihm Rechtsbruch vorwarf, reagierte er mit einem Wutausbruch und brüllte: »Halten Sie den Mund, Sie Volltrottel! Halten Sie den Mund, Sie wissen nicht, was Sie sagen! Sie Idiot!« Und in einem anderen Interview behauptete er: »Unmöglich, dass dieser Whistleblower ein Held ist, aber ich nicht! Ich werde der Held sein! Diese Volltrottel! Wenn das alles vorbei ist, dann bin ich der Held! Ich sollte gepriesen werden, für das, was ich getan habe!« Warum? Natürlich weil er sich als denjenigen sieht, der die Verschwörung gegen den Präsidenten und das amerikanische Volk aufdecken wird.9 Trumps Reaktionen stehen dem in nichts nach. Sie offenbaren aber zusätzlich, dass er in den Vorbereitungen eines Impeachments nur eine weitere Etappe der Verschwörung gegen sich zu sehen vermochte. In Tweets behauptete er, dass der anonyme Verfasser des Telefonprotokolls seine »perfekte Unterhaltung« mit dem ukrainischen Präsidenten auf »völlig ungenaue und betrügerische Weise« dargestellt und zudem »Informationen aus zweiter und dritter Hand« präsentiert habe. Das war noch eine vergleichsweise moderate

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Siehe WP, 25.9.2019; die Darstellung insgesamt nach Spiegel 41/2019 und NZZ, 1.10.2019. Beide Zitate nach SZ, 27.9.2019.

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Reaktion. Im Blick auf denjenigen, der den Informanten über Trumps Telefonat ins Bild gesetzt hatte, wurde er dann schon deutlicher: »Hat diese Person den US-Präsidenten ausspioniert? Große Konsequenzen!« In einem weiteren Tweet vom gleichen Tag, am 29.9.2019, attackierte er die Demokraten: »Sie lügen und betrügen wie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes.« Und: »Sie und die Fake-News-Medien sind gefährlich und schlimm!« Auf die Ankündigung, dass es einen zweiten Informanten gebe, der die Angaben des ersten bestätige und selber Ohrenzeuge des Telefonats mit Selenski war, reagierte Trump mit dem Hinweis darauf, dass hier die Washingtoner Bürokratie ihr Haupt zeige. Im Blick auf Adam Schiff, den Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses, brachte Trump eine Verhaftung wegen Landesverrats ins Spiel. Und auf Twitter verbreitete er eine Nachricht, in der von einem Bürgerkrieg die Rede ist, falls er tatsächlich seines Amtes enthoben würde.10 Damit haben wir die wichtigsten Akteure der Verschwörung auf amerikanischer Seite zusammen: In erster Linie die Demokraten, die Verräter und Spione in die unmittelbare Nähe des Präsidenten eingeschleust, zur Illoyalität angestiftet und mit Sicherheit weitere Agenten in der Administration platziert haben. Sie stecken unter einer Decke und bilden den »deep state«, der überall seine Finger im Spiel hat, wo es darum geht, den gewählten USPräsidenten zu torpedieren. Zur Verschwörung gehört immer natürlich auch die Presse, die sich an den Umsturzplänen beteiligt. Denn in Wahrheit ist ein Impeachment gegen ihn nichts anderes als ein Putsch, ein Staatsstreich. Das ist der Inhalt eines Statements, das Trump am 1. Oktober 2019 nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen ihn per Twitter versandte: »As I learn more and more each day, I am coming to the conclusion that what is taking place is not an impeachment, it is a COUP, intended to take away the Power of the People, their VOTE, their Freedoms, their Second Amendment, Religion, Military, Border Wall, and their God-given rights as a Citizen of the United States of America!« Für Trump ist klar, dass Teile der Administration und vor allem auch der CIA und des FBI an einer Verschwörung beteiligt sind, die darauf abzielt, den Präsidenten zu kippen. Es ist ein Staatsstreich im Gang, der von Demokraten gesteuert wird, den politischen Sumpf in Washington ergriffen hat und dessen Verzweigungen in die ganze Welt ausgreifen.11

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Die Tweets nach SPON, 30.9.2019, 7.10.2019; der Vorwurf des Landesverrats nach Tsp, 8.10.2019; die Prognose des Bürgerkriegs nach WP, 3.10.2019. Siehe https://www . vox . com/policy-and-politics/2019/10/1/20894377/trump-impeach ment-coup-tweet-authoritarian

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Am 5. und 6. Oktober 2019 beschimpfte Trump in mehreren Tweets auch den bekannten Senator aus Utah, Mitt Romney, der seiner eigenen Partei angehört, aber das Sakrileg begangen hatte, Trumps Aufforderung an China und die Ukraine, gegen Biden zu ermitteln, als falsch und empörend zu bezeichnen. Auch die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi wurde attackiert. Sie habe gewusst, dass der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses Adam Schiff den »parteiischen Whistleblower rechtswidrig« getroffen habe. Romney, Schiff und Pelosi müssten dafür umgehend »impeached« werden. Das ist noch beinahe harmlos. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte Trump deutlich gemacht, wie sehr er sich nach den Zeiten sehnt, in denen man mit Spionen kurzen Prozess gemacht hatte.

Putins Kränkungen Die Rolle von Stolz, Demütigung und Kränkung tritt nicht nur zutage, wenn man den Versuch macht, Trumps Resonanz und Wahlerfolg und seine Vorliebe für Verschwörungsannahmen zu verstehen. Sie ist auch im zweiten großen Lügenfall, den ich hier behandle, also bei Putin und Russland, von ausschlaggebender Bedeutung. Der Stolz wird vor allem dann besonders herausgefordert, wenn es darum geht, mit Niederlagen und Verlusten zurechtzukommen, die dem Selbstbild arg zusetzen und seinen Glanz trüben. Niemand erleidet gerne Niederlagen, aber jeder erlebt sie, und immer erleben wir sie als Kränkungen. Das gilt sowohl für jede einzelne Lebensgeschichte wie für Gruppen, Kollektive und Nationen. Die Frage ist dann stets, wie wir mit ihnen umgehen, welche Reaktionen wir an den Tag legen, ob wir sie schamvoll verleugnen und auf mehr oder weniger magische Weise ungeschehen machen wollen, ob wir mit Wut, Aggression, Empörung und Rache reagieren, ob wir uns als Opfer von Verschwörungen sehen und Dolchstoßlegenden in die Welt setzen, ob wir in Lethargie und Melancholie versinken, oder ob wir in einem Prozess der Trauer den Verlust nach und nach anerkennen, verkraften, als einen Bestandteil in unsere Erfahrungen integrieren und etwas Neues beginnen können.12 Im Sprachgebrauch machen wir intuitiv einen Unterschied zwischen Kränkung und Demütigung. Der Unterschied bezieht sich im Kern auf

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Zur Wirkung und Bedeutung von Stolz, Kränkung, Demütigung in historischer Perspektive siehe Frevert, Demütigung.

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die Frage, wer oder was hinter den Ereignissen steht, die den Stolz herausfordern. Kränkungen sind Zumutungen, die uns mehr oder weniger subjektlos von außen oder von innen zustoßen können. Für sie gilt, dass nicht unbedingt ein benennbarer externer Akteur verantwortlich ist, sondern der Gekränkte auch selber das Geschehen bewirkt haben kann, das er als Kränkung erlebt. Das ist so bei einem Unfall, den man durch ein kleines oder größeres Fehlverhalten, z.B. durch eine Unaufmerksamkeit, selber ausgelöst hat, bei dem man selber der Leidtragende ist und für den man schlecht andere verantwortlich machen kann. Die Kränkung kann auch durch eine unglückliche Folge von Umständen zustande kommen, die niemand beherrscht, die niemand in einer monokausalen Verbindung von Ursache und Wirkung ausgelöst hat, die vielmehr eine Kettenreaktion ist und über eine Reihe von mehr oder weniger anonymen Stationen hinweg verläuft, an deren Ende aber immer eine einzelne Person oder eine Gruppe das Opfer ist. Auch Krankheiten, die einen aus heiterem Himmel ereilen, sind eine Kränkung, vor allem schwere und chronische Krankheiten. Sie lösen fast immer die Frage aus: Warum ausgerechnet ich? Die Frage signalisiert, dass wir uns in Vergleich und in Bezug zu unserer Umgebung setzen und in diesem Vergleich den Kürzeren gezogen haben. Das Vergleichen liegt auch dem zugrunde, was wir als Demütigung bezeichnen, aber bei der Frage, wer für sie verantwortlich ist, ist sie anders gelagert als die Kränkung. Bei Demütigungen schwingt immer mit, dass es jemanden gibt, der mich demütigt, einen Akteur, der mir mit Willen und Bewusstsein eine Zumutung aufgetischt hat, der in voller Absicht und als direkt Verantwortlicher übergriffig geworden ist und meinen Stolz und meine Selbstachtung verletzt hat. Hinter der Demütigung steckt ein Akteur, dem ich sie zurechnen kann. Eine Demütigung passiert nicht einfach, sondern es gibt jemanden, der sie intentional herbeiführt. Den größten weltpolitischen Bedeutungsverlust seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat zweifellos Russland zu verkraften. Die Bolschewiki hatten das Riesenreich von den Zaren übernommen und es unter ganz anderen Vorzeichen, aber eben doch als Imperium fortgeführt. 1989 löste sich das Vorfeld in Ostmitteleuropa vom Zentrum, ehe auch die einzelnen Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit erklärten und die Sowjetunion 1991 wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Was übrigblieb, war gemessen an der einstigen realen und eingebildeten imperialen Größe der Sowjetunion ein Trümmerfeld. Ihre Geschichte erschien nunmehr als ein einziger Niedergang, in dem auch die zwischenzeitlichen Siege noch zu dem wurden, was sie waren: Scheinsiege, die durch zufällige äußere Konstellationen begünstigt wurden und eigent-

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lich nur über die selbst gemachten inneren Schwächen, Anfälligkeiten und Probleme hinwegtäuschten. 1991 wurde das Militärbündnis des Warschauer Pakts offiziell aufgelöst, und beginnend mit den Unabhängigkeitserklärungen von Litauen, Lettland und Estland machten sich 1990/1991 die Republiken der UdSSR selbständig und gründeten eigene unabhängige Staaten. Was aus der Perspektive dieser Neugründungen ein Erfolg und eine Wunscherfüllung war, stellte sich für Russland ganz anders dar, nicht als Befreiung, sondern als Niederlage und Verlust. Die Satellitenstaaten und die Sowjetrepubliken wandten sich nicht nur ab, um fortan ihren eigenen Weg zu gehen, sie gaben Russland und dem Moskauer Zentrum auch noch die Schuld für eine Geschichte voller Gewalt und Unterdrückung. Zweifellos ist der Untergang des sowjetischen Imperiums die gegenwärtig alles beherrschende übergreifende politische Erfahrung in Russland. Auf sie muss man zurückgehen, wenn man die Lage verstehen will. Die »Imperialtragödie« ist die Kränkung, die den Stolz so sehr herausgefordert und das politische Bewusstsein so sehr und so intensiv imprägniert hat wie sonst nichts. Zwei Sätze Putins markieren die Pole, zwischen denen sich das bewegt. Der erste lautet, dass der Untergang der Sowjetunion die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« ist. Putin hat diesen Satz am 25. April 2005 in einer vielbeachteten Jahresbotschaft an die Föderalversammlung geäußert. Der zweite Satz lautet: »Es wird Zeit für Russland, sich endlich von den Knien zu erheben.« Der erste Satz ist die Diagnose, der zweite Satz liefert die dazugehörige Therapie. Die beiden Sätze fassen verdichtet zusammen, was auch in vielen anderen Äußerungen und Reden des russischen Präsidenten enthalten ist. Wenn man hinzunimmt, was aus seiner Biographie bekannt ist, dann wird klar, dass Putin das klägliche Scheitern des sowjetischen Imperiums, dem er Zeit seines Lebens gedient und seine Arbeit gewidmet hatte und dem er seine Karriere verdankte, als eine schmachvolle und persönliche Erniedrigung erlebt hat und dass seine Präsidentschaft deswegen von Anfang an von dem Bemühen geprägt war, die verlorene Größe wiederherzustellen.13 Als 1989 die realsozialistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa kollabierten, stand Putin als Mitarbeiter des KGB im Auslandseinsatz in Dresden auf

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Von »Imperialtragödien« spricht Plaggenborg, Bolschewismus, S. 79; die »größte geopolitische Katastrophe« nach Schmid, Technologien, S. 117; »Russland erhebt sich von den Knien« stammt nicht von Putin, sondern aus der Antrittsrede von Jelzin als Präsident im Jahre 1991, aber Putin hat die Formulierung in einer programmatischen Rede aus dem Jahre 1999 prominent platziert, siehe Schmid, Technologien, S. 178.

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verlorenem Posten. Die Geschehnisse in seiner Heimat, vor allem die Perestroika, in der die sowjetische Außen- und Innenpolitik neu bewertet und die Verbrechen des Stalinismus aufgearbeitet wurden, konnte er nur aus der Ferne und ohnmächtig und verständnislos zur Kenntnis nehmen. Alles, wofür Putin gearbeitet hatte und was ihm wichtig gewesen war, stand nun auf dem Spiel und wurde in Zweifel gezogen, kritisiert und verhöhnt. Und er konnte und musste hautnah mit ansehen, wie in der untergehenden DDR die Demonstranten damit begannen, Einrichtungen des Ministeriums für Staatssicherheit zu stürmen und damit die Geheimdienst-Organisationen ins Visier zu nehmen, für die er selber tätig war. Putins Erinnerungen daran habe ich oben bereits zitiert. Bevor das Militär eintraf, brachte er mehrere Stunden im belagerten Gebäude damit zu, Papiere in einen Ofen zu schaufeln, bis dieser durch die ungeheure Hitze fast explodiert wäre. Putin vernichtete also das Geheimdienstmaterial, an dem er und seine Kollegen über mehrere Jahre hinweg mühsam gearbeitet hatten: Überwachungsberichte, persönliche Akten, Informationen über Kontaktpersonen und Objekte. Es spricht vieles dafür, dass diese Erfahrung der Demütigung und der Ohnmacht für Putin eine Erfahrung war, die tiefe Spuren in ihm hinterlassen hat und ihn dazu gebracht hat, alles dafür zu tun, dass sich die »Paralyse der Macht« nicht wiederholt.14 Selbstverständlich ist es kein Naturgesetz, so auf den Verlust imperialer Größe zu reagieren, wie Putin es vorgemacht hat und wie es dann in Russland zur vorherrschenden Auffassung wurde. Dass der Untergang des sowjetischen Imperiums ein tiefer politischer Einschnitt ist, ein kränkendes Ereignis, das verarbeitet und bewältigt werden muss, kann man nicht gut bezweifeln. Wie man darauf reagieren kann und soll, ist aber eine andere Frage. Man kann einerseits die Reaktion von Putin, der den Untergang als Kränkung seines persönlichen Stolzes erlebte, für übertrieben, neurotisch und falsch halten, und man kann im Blick auf den Stolz sagen, dass man, so wie man eigentlich nur stolz sein kann auf etwas, das man sich selber als Verdienst zurechnen kann, umgekehrt auch den Untergang eines Imperiums nicht als persönliche Niederlage erleben muss. Andererseits gilt aber auch, dass niemand gerne auf einem untergehenden Schiff sein will und jeder doch in besonderer Weise davon tangiert ist, wenn es das eigene Land ist, das Schiffbruch erleidet. In diesem Sinne lasten auch die Menschheitsverbrechen der Nazis auf den Deutschen in besonderer Weise, und die Deutschen haben dafür auch dann noch die politischen Konsequenzen zu tragen, wenn sie durch 14

Siehe Geworkjan et al., Gespräche, S. 90; siehe die Darstellung bei Gessen, Mann, S. 90f.

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das Datum ihrer Geburt von aller persönlichen und kriminellen Schuld von vornherein frei sind. Die Vergangenheit und die Schicksale des Volkes, dem man selber durch Geburt und Wohnsitz angehört, berühren einen intensiver als die Taten und Leiden fremder Völker. Der wirklich wichtige Punkt ist aber ein ganz anderer. Er betrifft die Frage, worin die politische Reaktion auf die Verluste und Kränkungen sinnvoller- und klugerweise bestehen sollte. Sich für die Belange des eigenen Landes besonders verantwortlich zu fühlen, ist kein Nationalismus. Nationalismus ist erst die Politik des America first oder, wie bei Putin, der verzweifelte und um jeden Preis vorangetriebene Versuch der Wiederherstellung alter Größe. In beiden Fällen handelt es sich um hoch fragwürdige, unproduktive und eigentlich unpolitische Reaktionen auf Kränkung und Erniedrigung. In der Zeit der Perestroika (1986-1991) und im ersten Jahrzehnt nach dem Untergang der Sowjetunion war keineswegs entschieden, dass die nostalgische Sehnsucht nach der Wiederkehr des Imperiums zum beherrschenden Imperativ des politischen Bewusstseins und der politischen Praxis in Russland werden würde. Mit der Öffnung des sowjetischen Regimes unter Gorbatschow und der Lockerung der Zensur hatte in der Gesellschaft ein ernsthafter Prozess der Selbstverständigung über die eigene Geschichte und ihre Abgründe begonnen, der immer auch mit der Frage nach den Prinzipien einer neuen politischen Ordnung verbunden war. Und in den 1990er Jahren schien auch Russland gewillt, liberale politische Ordnungsvorstellungen für die eigene Entwicklung als maßgeblich anzusehen und sich an ihnen zu orientieren. Das demonstriert nicht zuletzt die Verfassung von 1993. Kaum jemand schien dem untergegangenen Imperium eine Träne nachzuweinen und die Rolle der imperialen Großmacht zu vermissen, kaum jemand schien an einer neuen Konfrontation mit dem Westen oder mit der Nato interessiert zu sein. betonte Präsident Jelzin, dass »ein starkes und demokratisches Russland … niemals mehr ein Imperium« sein wird. In diesem Satz wird das Attribut der Stärke gerade nicht mit dem Status der Großmacht identifiziert, – und darin liegt im Kern der ganze Unterschied zur Vorstellungswelt Putins, die dann seit der Jahrtausendwende maßgeblich wurde.15 Freilich gab es auch in den 1990er Jahren einige Strömungen, denen die Orientierung nach Westen und die Übernahme einer liberalen politischen Ordnung als Verrat an der russischen Geschichte erschienen. Zum einen waren die Kommunisten und Nationalisten ganz und gar nicht mit der West15

Der ganze Absatz nach Mommsen, Putin-Syndikat, S. 23 ff, das Jelzin-Zitat dort S. 23.

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orientierung einverstanden. Zum andern setzte sich im Kreml der Eindruck fest, dass dem Westen die Rückkehr Russlands nach Europa reichlich gleichgültig war oder er diese Rückkehr für so selbstverständlich hielt, dass er ihr viel zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteil werden ließ. Doch versuchte der Kreml immer noch, das Interesse der EU und selbst der Nato für eine enge Partnerschaft und vielleicht sogar Mitgliedschaft Russlands zu wecken. Im Juni 1994 wurde ein Vertrag für Partnerschaft und Kooperation zwischen der EU und Moskau geschlossen, der 1997 ratifiziert wurde. Und sogar die Vorstellung, dass Russland der Nato beitreten könnte, erschien zu diesem Zeitpunkt nicht von vornherein so vollkommen phantastisch, wie es heute der Fall ist. Die seit 1993 einsetzende Entwicklung zur Erweiterung der Nato nach Osten, in deren Verlauf bis 2009 zwölf Staaten aufgenommen wurden, stieß in Moskau jedoch auf allergrößte Vorbehalte. »Man sah in der NATO-Osterweiterung eine schmachvolle Zurücksetzung Russlands und einen gewaltigen internationalen Statusverlust.«16 Nach und nach und auch im Zusammenhang der Bemühungen, das postsowjetische Russland mit einer integrierenden und stabilisierenden Idee auszustatten, wurde der herkömmliche Großmachtstatus für das russische Selbstverständnis immer wichtiger. Der neue und noch junge russische Staat benötigte nach Einschätzung von Präsident Jelzin dringend ein überzeugendes Bild von sich selbst, das die vielen Fliehkräfte nach dem Untergang des Imperiums zusammenhalten könnte. Zum Wendepunkt wurde der Sommer 1998, als eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise über Russland hereinbrach. Am 17. August 1998 teilte der Internationale Währungsfonds dem Kreml mit, dass Russland keine Kredite mehr erhalten könne. Damit war das Ende der liberalen Ära markiert, und das Land suchte nun in allen Bereichen zunehmend sein Heil in der Ausrichtung auf eine autoritäre Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsvorstellung. Hinzu kamen Ereignisse, die dem neuen Staat, der so gerne eine Großmacht sein wollte, deutlich vor Augen führten, dass dieser Anspruch beim maßgeblichen Rest der Welt auf taube Ohren stieß. Moskau hatte deutlich gegen die Nato-Intervention in Jugoslawien Position bezogen, war mit dieser Haltung aber isoliert und ohne Wirkung geblieben. Der russische Einspruch wurde ohne Weiteres übergangen, was das Gefühl einer tiefen und anhaltenden Demütigung hinterließ. Man sieht das an der Reaktion auf das militärische Eingreifen der Nato. Der damalige russische Premierminister Primakow, der im März 1999 16

Mommsen, Putin-Syndikat, S. 24; ferner Mommsen, Wer herrscht, S. 137ff.

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im Flugzeug auf dem Weg in die USA von dem Beginn der Bombardierung Serbiens erfuhr, machte über dem Atlantik kehrt und brach den Besuch in Washington ab, bevor er begonnen hatte. Und eine weitere mehr oder weniger symbolische Aktion kam hinzu: Ein Kontingent der an der Friedensmission im Kosovo beteiligten russischen KFOR-Truppe besetzte im Juni 1999 vorzeitig und im Alleingang den Flughafen von Pristina. Alles in allem war 1999 das Jahr, so resümiert Mommsen, in dem deutlich wurde, »dass das Syndrom der gekränkten Großmacht ein fester Bestandteil des russischen Nationalbewusstseins geworden war«.17 Das Terrain war also für Putin schon gut bereitet, als er zu Beginn des neuen Jahrtausends zum Präsidenten wurde. Putin bewirtschaftet seitdem das zitierte Syndrom der gekränkten Großmacht mit Entschlossenheit und Geschick und hat den Kampf dagegen in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben. Das Syndrom bestimmt das Geschichtsbild, in dem der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazi-Deutschland die Barbarei der stalinistischen Terrorherrschaft in den Hintergrund drängt, Stalin als Feldherr und Modernisierer des Landes reüssiert und damit in einer Reihe mit Iwan dem Schrecklichen in die Liste der verdienstvollen Staatsmänner aufgenommen wird, die zwar Gewalt angewandt haben, aber das doch stets im Dienst der russischen Größe taten. Alles, was nach Meinung der maßgeblichen Kräfte im Kreml geeignet ist, den verlorenen Stolz wieder herzustellen, die Kränkung zu mildern, die Demütigung zu bekämpfen, wird dankbar aufgegriffen und stark gemacht. Einen kritischen Blick auf die Verbrechen und Grausamkeiten der eigenen Vergangenheit zu werfen, die Geschichte von Terror, Unterdrückung und Gewalt kritisch zu bearbeiten, gilt als unentschuldbare Schwäche. Stärke ist in dieser Logik identisch mit einer nach innen und außen militarisierten Großmacht, und eine solche Großmacht kann abweichende Meinungen, öffentliche und kontroverse Diskussionen und Opposition nicht vertragen. Putin verwandelt die Kränkung in Demütigung, indem er unterstellt, dass der Untergang der Sowjetunion und alles, was dann folgte, im Grunde auf ein Komplott des Westens zurückzuführen ist und die Reaktion darauf nur in massiven Gegenschlägen bestehen kann. Putin erneuert damit den alten und nach Laqueur tief in der russischen Geschichte verankerten »Glaubenssatz«, dem zufolge »alles, was in Russland schiefging und -geht, die Schuld von Ausländern ist«. Der Übergang zur Politik der Stärke wurde zusätzlich dadurch 17

Der gesamte Absatz nach Mommsen, Putin-Syndikat, S. 23ff, das Zitat zur gekränkten Großmacht dort S. 28.

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erleichtert, dass es nach der Jahrtausendwende zu einem erheblichen Anstieg der Erdölpreise auf dem Weltmarkt kam und die russische Wirtschaft sich rasch und umfassend konsolidieren konnte. Wie ein roter Faden durchzieht die Haltung, dass sich Russland nun nicht mehr länger demütigen lasse, die Stellungnahmen und Reden Putins. Und es gab von amerikanischer Seite einige Bemerkungen, die gut dazu angetan waren, den Stolz herauszufordern. Zum Beispiel die Feststellung Obamas, Russland sei eine »Regionalmacht«, oder die Aussage des Vizepräsidenten Biden, Russland sei jetzt ein »schwaches Land«, oder die von Obama kolportierte launische Bemerkung, Putin komme ihm wie ein Schüler vor, »der sich in der letzten Schulbank herumlümmelt«. Der starke Mann im Kreml kann seine neo-imperiale Politik gut als eine Art von Gegenwehr gegen demütigende Äußerungen dieser Art und als eine Notwehr gegen äußere Aggression ausgeben, als einen Akt der Selbstverteidigung, der deutlich macht, dass sich dieses so stolze und traditionsreiche Land nicht (mehr) alles gefallen lässt. Es erscheint dann nur als folgerichtig, dass sich Russland nicht mit gelegentlichen raffinierten Nadelstichen gegen die Nato wie dem Coup von Pristina begnügt, sondern den Anspruch, eine international respektierte Großmacht zu sein, mit entsprechenden spektakulären militärischen Operationen und hybrider Kriegführung untermauert, von der Annexion der Krim über den nicht-erklärten Krieg in der Ostukraine bis zur militärischen Intervention in den Syrien-Krieg.18 In einem Interview vom Dezember 2007 mit dem Magazin Time, das Putin zum Mann des Jahres gekürt hatte, klang der Präsident noch vergleichsweise harmlos. Putin beklagt, wie herablassend Amerika sich gegenüber Russland verhält, er ironisiert dieses Verhalten und will damit zeigen, dass er darüber erhaben ist und dass es ihm und seinem Land nichts anhaben kann. Aber es ist schon auch deutlich und hörbar und lesbar, wie beleidigt und empört er ist. »Manchmal haben wir den Eindruck, Amerika brauche keine Freunde. Manchmal haben wir den Eindruck, Amerika braucht Vasallen, die es kommandieren kann.« Unentwegt, so meint Putin, suchen die Amerikaner nach Problemen und Schwierigkeiten, die sie den Russen vorhalten können und die ihr Vorurteil bestätigen. »Deshalb wird uns und anderen gesagt, es ist in Ordnung, die ein wenig zu zwicken und zu kritisieren, weil sie immer noch nicht richtig zivilisiert sind, sie sind immer noch ein bisschen wild, wir müssen sie deshalb ein wenig striegeln, weil sie das selbst nicht können. Wir müssen sie 18

Das Zitat von Laqueur, Putinismus, S. 271; die Bemerkungen von Obama und Biden nach Teltschik, Russisches Roulette, S. 189f.

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rasieren und ihnen den Schmutz abwaschen. Das ist unsere zivilisatorische Mission.«19 Sehr viel deutlicher trat die Haltung Putins im Jahre 2014 zutage, als er sich auf seiner alljährlichen Pressekonferenz bitter darüber beklagte, dass Russland so wenig für die Anstrengung und Leistung, die hinter der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Sotschi stand, gelobt und anerkannt wird. Russland hat sich so angestrengt, und niemand sieht es, nimmt es wirklich wahr, würdigt und achtet das. »Bei allem, was auch immer wir tun, immer werden wir bekämpft. … Erinnern Sie sich, mit welcher Begeisterung, welchem Enthusiasmus wir uns vorbereitet haben. Wir wollten eine Feier machen nicht für unsere Sport-Fans, sondern für alle auf der Welt. Aber es ist ein unbestreitbarer Fakt, dass beispiellose Versuche unternommen wurden, klar koordiniert, die Vorbereitung und die Olympiade selbst zu diskreditieren. Wozu? Wer braucht das? Und so ist es ohne Ende!« Putin zeichnete damit das Bild eines Musterknaben, der alles richtig gut machen wollte, der sich vor aller Welt als guter Gastgeber präsentieren wollte, – und die Gäste erkennen das nicht nur nicht an, sondern diskreditieren es, machen es schlecht. Warum? Weil sie grundsätzlich etwas gegen uns haben. Wir können machen, was wir wollen, niemand honoriert es, man nimmt uns einfach nicht für voll. Um dieses Gefühl deutlich zu machen, griff Putin zu einem bemerkenswerten Bild, indem er Russland mit einem Bären verglich. »Ich denke manchmal, vielleicht muss der Bär nur ruhig in der Taiga sitzen, sich von Beeren und Honig ernähren, und es wird Ruhe einkehren.« Aber es ist von vornherein klar, dass auch dieses betont zivilisierte Wohlverhalten und die Selbstbeherrschung des russischen Bären die andere Seite nicht dazu bringen wird, das zu würdigen und anzuerkennen. »Nein, es wird keine Ruhe einkehren, weil sie versuchen werden, den Bären in Ketten zu legen. Und ihm dann die Zähne und die Krallen herausreißen.« Es ist nach Putin nicht die Okkupation der Krim, sondern diese grundsätzliche Geringschätzung und die Tatsache, »dass wir unsere Souveränität verteidigen und unser Existenzrecht«, die die Sanktionen des Westens gegen sein Land ausgelöst haben.20 Ein Höhepunkt dieser Haltung und Denkweise wurde in der Rede sichtbar, die Putin am 18. März 2014, zwei Tage nach dem sog. Referendum auf der Krim, vor den Abgeordneten der beiden Parlamentskammern, den Gouverneuren der Regionen und anderen Honoratioren im Kremlpalast hielt. In 19 20

Zitiert nach Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 53. Zitiert nach Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 71.

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dieser Rede versucht er, das tief verwurzelte Russentum der Halbinsel nachzuweisen, und er begründet, warum das »Referendum« seiner Ansicht nach den Vorschriften der Legalität entsprach. Daneben und darüber hinaus wird aber vor allem die Wahrnehmung der Weltlage erkennbar, die Russland dazu gezwungen habe, so zu agieren, wie es agiert hat. Putin wirft den westlichen Ländern, insbesondere den USA, vor, hinter den »farbigen Revolutionen« zu stecken, in denen diesen Ländern »Maßstäbe aufgezwungen (wurden), die der Lebensweise, den Traditionen und der Kultur der jeweiligen Völker in keiner Weise entsprachen«. Als »Hintermänner« der Proteste auf dem Euromaidan identifiziert Putin »Nationalisten, Neonazis, Russenhasser und Antisemiten«, die »Terror, Mord und Pogrome« anzettelten und die »geistigen Erben Banderas« sind, »Hitlers Handlanger im Zweiten Weltkrieg«. Letzten Endes sind sie alle miteinander von »ausländischen Sponsoren« abhängig. All diese Entwicklungen fanden statt, während in Putins Augen »Russland sich aufrichtig um einen Dialog« mit dem Westen bemühte, »ständig in allen Schlüsselfragen Kooperation« und »offene und ehrliche Beziehungen auf Augenhöhe« anbot. »Doch auf unsere Angebote ging niemand ein. Im Gegenteil, wir wurden ein ums andere Mal betrogen, Entscheidungen wurden hinter unserem Rücken gefällt, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der Osterweiterung der Nato, mit der Errichtung von militärischer Infrastruktur an unseren Grenzen. Und immer wieder hat man uns dasselbe erzählt: ›Aber das betrifft euch doch nicht.‹ Das sagt sich so leicht, dass uns das nicht betrifft.«21 Die Missachtung und Demütigung Russlands durch den Westen steht nach Putin in einer Tradition, die weit zurückreicht, und immer schon das Ziel verfolgt hat, das Land zu drangsalieren und zu isolieren. »Wir haben allen Grund zur Annahme, dass die sattsam bekannte Politik der Eindämmung, die bereits im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert gegen Russland angewendet wurde, bis heute fortgeführt wird. Ständig versucht man, uns in irgendeine Ecke zu drängen, nur weil wir eine unabhängige Position einnehmen, weil wir dazu stehen, weil wir nicht heucheln, sondern die Dinge beim Namen nennen.« Damit aber, so macht Putin in den nächsten Sätzen klar, soll es jetzt ein für alle Mal vorbei sein, das lässt sich das Land unter seiner Führung nicht mehr bieten. Wenn man so sehr in die Defensive gedrängt wird, wenn man

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Die Rede ist im Original mit englischen Untertiteln zugänglich bei Youtube. Die deutsche Übersetzung der Rede ist abgedruckt im Heft 5-6/2014 der Zeitschrift Osteuropa, die Zitate dort S. 90 und 94.

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so sehr gedemütigt und schikaniert wird, muss man einfach zurückschlagen. »Aber alles hat seine Grenzen. In der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Linie überschritten, sie haben sich rüde, verantwortungslos und unprofessionell verhalten. … Russland stand mit einem Mal an einer Grenze, hinter die es nicht mehr zurück konnte. Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie irgendwann mit aller Kraft auseinander schnellen. Das sollte man nie vergessen.« Zuvor hatte der Präsident noch einmal in drastischen Tönen deutlich gemacht, welche Kränkung der Verlust der Krim nach dem Ende der Sowjetunion für Russland bedeutet hat. Ganz zu Recht hatte Russland nach Putin den Eindruck, »als wäre es nicht nur bestohlen, sondern regelrecht ausgeraubt worden«. »Millionen von Russen gingen in einem gemeinsamen Land schlafen – und wachten im Ausland auf.« Damals sei der russische Staat praktisch abwesend gewesen. Mit Formulierungen, in denen die Dresden-Erfahrung des KGB-Offiziers wiederhallt, als er um Hilfe rief, aber Moskau schwieg, fährt Putin fort: »Wo war denn damals der russländische Staat? Wo warst Du, Russland? Russland hat den Kopf sinken lassen und resigniert, es hat die Kränkung heruntergeschluckt«. Die Okkupation der Krim, so stellt Putin heraus, hat vor aller Welt deutlich gemacht, dass es damit nun zu Ende ist. Nun muss die »offensichtliche Tatsache anerkannt werden«, die zu untermauern das zentrale Anliegen der Aggression gegen die Ukraine ist: »Russland ist ein selbständiger, aktiver Akteur der internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und respektieren muss.« Russland sei nunmehr bereit und in der Lage, seine »nationalen Interessen konsequent zu verteidigen«.22 Das grundsätzlich in der Welt unbeliebte Russland, so macht Putin klar, wird sich jetzt nicht weiter um seinen schlechten Ruf scheren, sondern voller Stolz als selbständiger Akteur und selbständige Großmacht auf die Bühne der Weltpolitik zurückkehren. Ohnedies ist es so, dass sie uns nicht deswegen drangsaliert haben, weil wir aggressiv und neo-imperial sind, sondern weil sie es nicht ertragen können, dass wir anders sind: Sie sind Heuchler, wir sind ehrlich und sagen, was wir denken, wollen und tun, und wir haben alles Recht, uns zu nehmen, was uns gehört. Darin besteht die Genugtuung, die Putin in seiner Rede zum Ausdruck bringt. Die Okkupation der Krim ist die Reaktion auf die Missachtung durch den Westen. Was Putin mit der Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 angekündigt hatte, wurde mit der Krim-Okkupation in die Tat umgesetzt. Endlich ist das Land 22

Die Zitate ebda., S. 88f, 95, 97.

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in Putins Wahrnehmung nun wieder die allseits respektierte Großmacht, mit der man in der Welt rechnen muss, – wobei interessanterweise der Respekt darin besteht, dass Russland nun wieder gefürchtet wird.

Über den Umgang mit Enttäuschungen und Verlusten Enttäuschungen entstehen immer dann, wenn Erwartungen und Realität, Kosten und Nutzen, geleisteter Einsatz und erreichte Ziele, erbrachte Opfer und erhoffte Belohnungen sehr weit auseinander klaffen. Man kann auf Enttäuschungen und Verluste prinzipiell unterschiedlich reagieren. Man kann realisieren, dass man selber derjenige war, der einer Illusion erlegen ist, der die eigenen Möglichkeiten überschätzt und die Möglichkeiten, Vorstellungen und Potentiale der anderen unterschätzt und falsch bewertet hat. Man kann jedoch auch die eigenen Erwartungen absolut setzen, die anderen für die eingetretenen Enttäuschungen verantwortlich machen und sich an ihnen für die verlorenen Illusionen rächen, sich dafür rächen, dass sie nicht so sind, wie man sie haben wollte. Im persönlichen Leben werden wir dann zu Misanthropen. Der Prototyp dafür ist Timon von Athen, dessen Grabstein Shakespeare in seiner Tragödie mit der Inschrift versieht: »Hier liegt ein unglücklicher Leichnam, von einer unglücklichen Seele verlassen; sucht meinen Namen nicht! Verderben über euch Bösewichter alle, die ich hinter mir lasse! Hier liegt Timon, der alle Menschen hasste; geh’ vorbei, und fluch’ ihm bis du genug hast, nur verweile dich nicht hier.« Der Misanthrop hat niemanden mehr, mit dem er das Leben teilen möchte. Im Politischen ist man in solchen Fällen nicht mehr gut handlungsfähig und beginnt mit der Suche nach Drahtziehern, Spionen und Agenten und sieht überall Verschwörungen. Eine andere Erklärung für den eigenen Misserfolg und die damit verbundenen Enttäuschungen scheint es nicht zu geben, anders vermag man sich keinen Reim auf die Dinge zu machen. Es war offenbar nicht mit rechten Dingen zugegangen, es mussten Verräter am Werke gewesen sein.23 Die Erfahrung der Entwertung des eigenen Lebens durch die großen politisch-gesellschaftlichen Umbrüche in der späten Sowjetunion ist das Thema, um das das Werk der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch kreist. Ihre

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Shakespeare, Timon von Athen, S. 140; zum Grundsätzlichen siehe Reemtsma, Freud, S. 35ff.

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Bücher vermitteln auf eindringliche und anschauliche Weise, wie tief Kriege, politische Katastrophen und Zeitenwenden in die persönlichen Lebensgeschichten der Menschen hineinreichen: der Zweite Weltkrieg, Tschernobyl, der Afghanistan-Krieg und schließlich und vor allem die Zeit des größten Umbruchs zwischen 1986 und 1993, also der Untergang der Sowjetunion. Was passiert im Leben einfacher Leute, wenn die Ziele, für die man gekämpft und gearbeitet und gelitten hat, entwertet werden, sich als Illusion, ja sogar als Lug und Trug herausstellen? Was passiert, wenn alte Sicherheiten, Gewohnheiten und Sinnstiftungen wegbrechen, weil der Gang der großen Politik und der Weltgeschichte andere Wendungen nimmt und das Imperium, von dessen unerschütterlicher Größe und ewiger Existenz alle überzeugt waren, innerhalb kürzester Zeit zusammenstürzt? Was bedeutet das »Leben auf den Trümmern des Sozialismus«? Wie kann man weiterleben, wenn das, was dem Leben, seinen Zumutungen und Entbehrungen, bislang Sinn und Bedeutung gab, nichts mehr wert ist und plötzlich ganz andere Muster, Werte und Idealvorstellungen an die Stelle der alten treten?24 Das Material und die Gespräche, die Alexijewitsch dokumentiert und aufzeichnet, sind einzigartige Manifestationen der Kränkungen und Schläge, die die politischen Großereignisse den einfachen Leuten beigebracht haben. Es sind die Erfahrungen des Scheiterns, des Ehrverlusts, der Hilflosigkeit und Ohnmacht, der Überwältigung und der Scham, Dokumente einer zutiefst schmerzenden Erfahrung, die nicht selten das gesamte eigene Leben im nachhinein unter das Vorzeichen der Vergeblichkeit stellen. Die eigenen Anstrengungen, die Schufterei, die Entbehrungen und Zumutungen, das unendliche Leid, die persönlichen Opfer, die Armut, – alles umsonst, alles nichts mehr wert, alles bar jeden Sinns und ohne Zukunft, der ganze Sozialismus eine einzige Täuschung, ein Irrtum, eine Lüge, eine Tragödie, gestern waren wir noch Helden und Gewinner, heute sind wir nur noch Dummköpfe und Verlierer. Für viele ist das unerträglich und nicht auszuhalten, – auch deswegen, weil es, wie Alexijewitsch in ihrer Vorbemerkung zur »Secondhand-Zeit« schreibt, für ein Leben »ohne große Idee« in der russischen Geschichte und Literatur überhaupt keine Vorbilder gibt. Eine ältere Frau, am Ende des Krieges 16 Jahre alt, sagt: »Den Kommunismus aufbauen! (Sie schweigt.) Und jetzt … ach! Also … also … Alles umsonst … wir haben uns vergebens gequält … Das 24

»Leben auf den Trümmern des Sozialismus« ist der Untertitel des Buches »Secondhand-Zeit«. Zu Alexijewitsch siehe das Themenheft der Zeitschrift Osteuropa, 12/2018: Nackte Seelen. Svetlana Aleksievic und der »Rote Mensch«.

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ist schwer einzugestehen … und es ist schwer, damit zu leben … Wir haben so viel gearbeitet! Aufgebaut. Alles mit den Händen. Eine harte Zeit!« »Das Leben ist vergangen, verflogen. Keine Spur ist davon geblieben.« »Wir haben den Sozialismus aufgebaut, und nun sagen sie im Radio, dass der Sozialismus zu Ende ist. Aber wir … wir sind noch da …« Und es wird deutlich, dass die, die noch da sind, nach wie vor ihren Stolz haben, empfindlich gegenüber Kränkungen und herablassender Hilfe sind. »Vor einer Weile hat man mir ein deutsches Paket ins Haus gebracht, mit Geschenken: Grieß, Schokolade, Seife … Von den Besiegten für die Sieger. Ich brauche keine deutschen Pakete. Nein, nein … Ich habe es nicht genommen … (Sie bekreuzigt sich.) Nein, ich will keine deutschen Süßigkeiten und keine deutschen Kekse! Wo ist das, was mir zusteht? Für meine Arbeit? Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde.«25 Wie kann es nach all den Enttäuschungen und Verlusten weitergehen? Wie findet man einen Ausgang aus diesem Desaster, und welche Wege kann es geben für einen neuen Anfang? Alexijewitsch berichtet von Depressionen und Suiziden, von Protest und Widerstand, von trotzigem Stolz und resignierter Anpassung an die neuen Zeiten. Der Ausgang der Bemühungen, die Selbstachtung zurückzugewinnen, hängt wesentlich davon ab, welche Sicht die vorherrschende ist: Wurde ich betrogen oder ich habe mich getäuscht? Wer das Gefühl hat, betrogen worden zu sein, reagiert leicht mit Wut, wendet sie nach außen und sucht nach Anlässen, die Wut zu zeigen. Wer die Kraft hat, den eigenen Anteil an den Täuschungen zu sehen, kann über seine eigene Dummheit verzweifelt sein, hat aber zugleich eine größere Chance, sie zu überwinden. In den Äußerungen, die Alexijewitsch dokumentiert, ist es meistens eine kaum aufzulösende Mischung aus beidem. Die Gesprächspartner schwanken »zwischen Selbstanklage über die eigene Gutgläubigkeit und Klage über die massenhafte Täuschung durch Autoritätsfiguren«. Sie beklagen, dass sich beim Untergang der Sowjetunion niemand um sie kümmerte und ihnen sagte, was zu tun sei. »Als das Reich zerbröckelte, sind wir allein geblieben.« Über Nacht ist alle Gewissheit verflogen, aber nicht verflogen ist

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Leben »ohne große Idee«: Alexijewitsch, Secondhand-Zeit, S. 10, die Gesprächs-Zitate ebda., S. 102-104 (die Auslassungspunkte stehen so im Text des Originals).

V.  Der gekränkte Stolz oder Wodurch Lüge und Täuschung begünstigt werden

die Sehnsucht nach dem Staat, der sich sorgt und einen schützt und einem den Glauben gibt, an einer großen Sache teilzuhaben.26 Eigentlich sind die Bücher von Alexijewitsch der Versuch, einen Raum zu schaffen und die Zeit zu gewinnen, die die reale Entwicklung mit ihren sich überschlagenden Ereignissen nicht zugelassen hat, einen Raum für Trauer, Erkenntnis und Selbsterkenntnis und die Zeit dafür, die Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen wieder und wieder zu erzählen und abzuwarten, was sich aus ihnen ergibt. Alexijewitsch schreibt und arbeitet damit gegen die Antwort an, die zur vorherrschenden Antwort im postsowjetischen Russland geworden ist und an der Putin auf maßgebliche und entscheidende Weise mitgewirkt hat. Diese Antwort lautet: Wir haben uns nicht getäuscht, sondern wir sind betrogen worden, so wie wir immer schon, wenn wir Niederlagen erlitten haben, betrogen worden sind. Wir werden nur dann nicht betrogen, wenn wir stark sind, und stark sind wir, wenn und solange wir absolut wissen und überzeugt sind, dass wir Recht haben. Auf die Frage eines russischen Journalisten, der wissen möchte, ob das mit der Krim gutgehe und ob der Präsident die Konsequenzen seiner Handlungen einkalkuliere, antwortete Putin Ende des Jahres 2014: »Wir sind einfach stärker als alle anderen, weil wir im Recht sind. Die Macht liegt in der Wahrheit. Wenn ein Russe fühlt, dass er im Recht ist, ist er unbesiegbar.« Mit anderen Worten: Schwäche dürfen wir niemals zeigen, weil unsere Feinde sie sofort ausnutzen werden. Und natürlich wäre es eine Schwächung unserer Kräfte zur Selbstverteidigung, wenn wir es zulassen würden, die eigenen Anteile an unseren Niederlagen oder die Preise zum Thema zu machen, die wir für unsere Siege bezahlt haben.27 Es ist eine eigentümliche Logik, die diesen Argumentationsgang bestimmt. Je größer die Enttäuschungen über den Untergang des einstigen Imperiums und der einstigen Größe, desto größer der Wunsch nach seiner Wiederkehr. Die Erfahrung des Verlusts und der Entwertung wird zur Antriebskraft für die neuen Erzählungen und die neue Politik der alten Größe. Putin teilt nicht nur die Alltagserfahrung so vieler Russen, beim Untergang des Sowjetreichs schmählich verraten und allein gelassen worden zu sein. Er hat es zugleich verstanden, die Ursachen für die schmerzhaften Enttäuschungen allein bei anderen zu lokalisieren, im feindlichen Ausland,

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Für die Frage des Umgangs mit Enttäuschungen bei Alexijewitsch siehe Tippner, Enttäuschung; das Zitat zum Schwanken zwischen Selbstanklage und Klage ebda., S. 39; das Zitat »Als das Reich zerbröckelte…« stammt aus Alexijewitsch, Tschernobyl, S. 269. Das Putin-Zitat nach Atai, Wahrheit, S. 153.

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namentlich im Westen, und diese Antwort zum Muster und Modell zu machen, über die sich die überwältigende Mehrheit in Russland einig ist. Die Antwort hat den Vorteil, dass das eigene Selbstwertgefühl zunächst stabil bleibt und man sich die allergrößte Kränkung erspart, die darin besteht, dass man niemandem außer sich selber die Erfahrung des Scheiterns zurechnen kann. Aber Verleugnung der Realität und Flucht in Illusionen sind keine gute Basis für den Versuch eines Neuanfangs, weder in individuellen Lebensgeschichten noch im politischen Handeln. Sie tragen eher die Züge einer Schmerzbetäubung, die zwar wirksam und folgenreich ist, aber das Gefühl, immer und überall betrogen zu werden, nur eine weitere Umdrehung vorantreibt. Wenn und solange dieses Gefühl nicht auf seinen Realitätsgehalt hin befragt und durchgearbeitet wird, bleibt die Ahnung bestehen, dass man auch gegenwärtig von den Sirenengesängen eines neuen großen Imperiums erneut betrogen wird und eine unheilvolle Geschichte nur durch eine unheilvolle Gegenwart und Zukunft abgelöst worden ist. Eine verlässliche Basis für einen neuen Anfang ist das nicht.28 Dennoch bleibt die Frage, ob es nicht tatsächlich so ist, wie Putin es immer wieder darstellt, dass nämlich der Westen Russland nach 1989/1991 gedemütigt hat, wo er nur konnte. Über diese Frage gibt es seit längerem eine kontroverse Debatte. Da ist zum einen die Position, die alle Ereignisse, die Putin anführt, für vorgeschoben hält und die Auffassung vertritt, dass sich der russische Präsident ganz unberechtigt und auf rational nicht zu rechtfertigende Weise in der Pose einmauert, nach der der Westen den russischen Staat verfolgt, demütigt und kleinhält. Ferner sei es einfach eine Tatsache, dass die Sowjetunion im Kalten Krieg besiegt worden ist und der aus der Konkursmasse des Imperiums hervorgegangene russische Staat sich schlicht damit abfinden muss, dass er weltpolitisch nicht mehr die erste Geige spielt, den Status der Großmacht vertan hat und seine Stimme im internationalen Zusammenhang unbedeutend geworden ist. Im Grunde, so lautet die Behauptung, sucht der russische Präsident nur nach Anhaltspunkten und Vorwänden, um seine von vornherein und ganz unabhängig davon feststehende aggressive Großmachtpolitik mit dem Mäntelchen der Gegenwehr gegen einen angeblich schon immer antirussisch eingestellten Westen zu legitimieren.

28

Zur Beziehung zwischen Enttäuschung und der Sehnsucht nach der Wiederherstellung der alten Größe siehe Tippner, Enttäuschung, S. 42; siehe ferner Gudkow im Interview über die Wirksamkeit der Propaganda.

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In diesem Sinne diagnostiziert Brian Taylor im »Code of Putinism« eine Hypersensibilität gegenüber Kränkungen und Erniedrigungen durch äußere Mächte. Ähnlich meint Boris Reitschuster, das ganze Problem liege eigentlich nur darin, dass Russland weiterhin wie eine Großmacht behandelt werden wollte, aber keine mehr war. Erst derjenige, der deswegen von Erniedrigung spricht, füge Russland wirklich eine Erniedrigung zu. Die Alternative wäre, so zu tun, als hätte Moskau keinen Bedeutungsverlust erlitten. Dann hätte man das Land aber behandelt »wie ein Psychiater einen greisen Boxer oder Politiker, der nicht mit dem Verlust seiner alten Stärke oder Macht klarkommt und den man deshalb hätschelt und so tut, als sei er weiter wichtig, um zu vermeiden, dass er aus Frust sich selbst oder anderen Leid zufügt«. Auch Mommsen diagnostiziert unter Berufung auf den russischen Soziologen Lew Gudkow bei Putin »einen ausgeprägten Unterlegenheitskomplex«, der »letztendlich seinen Ausfällen gegen den Westen« zugrunde liegt und ihnen die Züge einer Überkompensation verleiht. Ich selber habe oben ähnlich argumentiert und dafür auch auf Belege aus der Biographie von Putin verwiesen.29 Gut möglich, dass es sich so verhält, wie in dieser Position behauptet wird. Gut möglich auch, dass Putin zwar sehr cool tut, aber es in Wirklichkeit nicht ist. »Hüte dich, deine Feinde zu hassen, denn es trübt dein Urteilsvermögen«, lautet ein berühmter Satz aus Francis Ford Coppolas Film-Klassiker Der Pate. Möglicherweise glaubt Putin tatsächlich, dass Russland von Feinden umstellt ist und die USA danach streben, wie er im Februar 2012 sagte, »Russland zu zerstören«. Dann würde Russland in reiner Notwehr handeln und der Präsident müsste natürlich mit allen Mitteln unter Beweis stellen, »dass uns niemand etwas aufzwingen kann, auch nicht die USA«. Wenn es sich so verhält, ist die Gefahr irrationalen Handelns ausgesprochen groß.30 Trotzdem lohnt es sich, die Frage auch in ihrer grundsätzlichen Dimension in den Blick zu nehmen. Zwar spricht in der Biographie Putins vieles dafür, dass er tatsächlich allergisch auf das mindeste Anzeichen von Herablassung reagiert und sofort zum Gegenschlag ausholt. Dann sind die als Kränkung wahrgenommenen Ereignisse in der Tat kaum mehr als willkommene Anlässe dafür, die eigene Stärke und Aggressivität zu demonstrieren. Wenn wir aber diese Beobachtung allzu schnell von der persönlichen Ebene auf das

29 30

Taylor, Code, S. 34; Reitschuster, Verdeckter Krieg, S. 171f.; Mommsen, Putin-Syndikat, S. 143. Das Putin-Zitat nach Ennker, Wende, S. 96.

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Land übertragen, kann das leicht dazu führen, dass die Größe der Herausforderung unterschätzt wird, die tatsächlich im Untergang des sowjetischen Imperiums und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust liegt. Sehen wir davon ab, dass ohnedies die Haltung des Psychiaters, wie Reitschuster sie beschreibt, die reine Karikatur ist, weil kein Psychiater dieser Welt, der sein Handwerk versteht, seine Patienten darin bestärken würde, die Realität zu verleugnen. Es geht natürlich nicht um die herablassende Haltung des Märchenonkels, der den Kindern erzählt, was sie hören wollen, sondern um eine Haltung, die ein Auge für die Herausforderung hat, mit der der Besiegte und Gekränkte konfrontiert ist, ihn bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützen und ihn dabei weder zu bevormunden noch zu demütigen. Das Ziel besteht nicht in Verleugnung, sondern in der Anerkennung der Realität und dem Versuch, auf dieser Basis eine neue und befriedigende Beziehung zu sich selbst und zu den anderen Mächten der Welt zu suchen. Und natürlich gilt der Grundsatz, dass der, der sowieso schon am Boden liegt, und sei es durch eigenes Verschulden, nicht auch noch getreten wird. Die Aufgabe besteht darin, zwischen demütigendem Nachtreten und komplizenhafter Beihilfe zur Verleugnung der Realität den Weg in eine neue Normalität zu bahnen, in die der Gekränkte einbezogen ist und die nicht hinter seinem Rücken oder über ihn hinweg verfügt wird. Die entgegengesetzte Position wurde in den Diskussionen im Anschluss an die Annexion der Krim von dem amerikanischen Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer vertreten. Mearsheimer sieht die Ursache der Okkupation der Krim und des Angriffs auf die Ostukraine im Affront Russlands durch den Westen. Die europäischen Länder und die USA hätten die Sicherheitsinteressen Russlands in sträflicher Weise ignoriert und sich dazu hinreißen lassen, »die Ukraine in einen Stützpunkt des Westens direkt an der russischen Grenze zu verwandeln«. Die Nato-Osterweiterung, die EU-Osterweiterung und die Förderung der Demokratie in diesen Ländern sind allesamt Unternehmungen, so Mearsheimers geopolitische Perspektive, die unverantwortlich waren, und der »Staatsstreich« der Maidan-Erhebung hat in dieser Sicht für Putin dann das Fass zum Überlaufen gebracht.31 Klaus von Dohnanyi hat jüngst im Kern noch einmal die gleiche Position vertreten. Er behauptet, dass die USA einen »sinnlos verletzenden Umgang mit russischen Interessen und Gefühlen nach 1990« an den Tag gelegt und damit genau das bewirkt hätten, was sie anschließend beklagten. Nach von 31

Mearsheimer, Putin reagiert, S. 1f.

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Dohnanyi spielt dabei die große russische Empfindlichkeit und der Wunsch nach Sicherheit durchaus eine wichtige Rolle, – was ihm zufolge aber angesichts der Geschichte, in der nun einmal der Westen häufiger gegen Russland zu Felde zog als umgekehrt, nur zu gut verständlich ist. Allzu oft habe der Westen bei seinen Entscheidungen und Handlungen in der Jelzin-Ära die Wirkungen auf die russische Politik nicht bedacht. Von Dohnanyi stützt sich vor allem auf Aussagen, nach denen der US-Außenminister James Baker in seinen Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung mit Gorbatschow Anfang Februar 1990 vereinbarte, dass es über die damaligen Ostgrenzen der DDR hinaus keine Erweiterung der Nato geben werde. Baker hielt dieses mündliche Versprechen in einer Notiz fest, und auch die damalige Reaktion von Gorbatschow wurde aktenkundig. Der Inhalt des Vermerks, dass »jede Erweiterung der Nato über ihren bisherigen Bereich inakzeptabel« wäre, wurde einen Tag später in einem Brief an Kanzler Kohl anlässlich von dessen Besuch in Moskau übermittelt. Deswegen dürfe man zu Recht davon ausgehen, meint von Dohnanyi, »dass Gorbatschow und Kohl die von Baker eingegangenen Verpflichtungen auch ihren Beratungen zugrunde legten. Und aufgrund des amerikanischen Versprechens gab Gorbatschow dann Kohl die Zustimmung zur Währungsunion – und damit zur Wiedervereinigung.« Summa summarum sei für die russische Seite das eindeutige Versprechen des USAußenministers Baker die vereinbarte Ausgangslage gewesen, und deswegen hätte die russische Seite es nur als Verrat empfinden können, dass die Nato später doch nach Osten erweitert wurde. Nach von Dohnanyi hat die NatoErweiterung damit »das schwierigste Hindernis für eine Wiederbelebung der Entspannungspolitik geschaffen: die Annexion der Krim«. Man hätte »diese Kränkung der verwundeten Seele Russlands vermeiden und die Folgen voraussehen können«, und den tiefsten Grund dafür, dass das nicht geschah, sieht von Dohnanyi in der Hybris des amerikanischen Unilateralismus.32 Diese Schlussfolgerungen sind nun freilich nicht weniger problematisch als die Position, in der Russland eine vollendete Verkennung der Wirklichkeit unterstellt wird. Die Behauptung, dass die Nato-Osterweiterung die Annexion der Krim »geschaffen« habe, ist Ausdruck einer tiefen Konfusion und einer Geschichts- und Politikauffassung, nach der im politischen Raum ein Ereignis aus dem anderen so sicher hervorgeht wie die Wirkung aus einer Ursache. Es

32

Von Dohnanyi, Russland, – bei der Darstellung der Verhandlungen Bakers bezieht sich von Dohnanyi auf das Buch von Sarotte, 1989.

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erscheint dann so, dass die Nato dem russischen Präsidenten gar keine andere Wahl gelassen hätte, als die Krim zu annektieren. Diese Perspektive läuft darauf hinaus, politisches Handeln in automatisierte Abläufe und Aktionsund Reaktionsketten aufzulösen und dadurch abzuschaffen. Politische Entscheidungen werden so zum Anwendungsfall von Kausalitäten und Ursachen, die zu bestimmten Wirkungen führen und für die Gründe offenbar gar keine Rolle mehr spielen und jedwede Freiheit ausgedient hat. Es ist eine wirklich absurde und naive Vorstellung, dass Russland und Putin im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends keine Alternative mehr gehabt hätten und vom Westen in die Richtung, die der Kreml dann einschlug, förmlich gedrängt und gezwungen worden wären. Hinzu kommt, dass wir uns auf beiden Seiten dieser Kontroverse im Reich von hoch fragwürdigen Verallgemeinerungen bewegen. Dann sind die USA so antirussisch wie Russland antiwestlich ist, und zwischen diesen Zuschreibungen kommt alles andere ins Gedränge. Pauschale Zuschreibungen dieses Zuschnitts erklären wenig und bestärken eigentlich nur den Dogmatismus, den sie vorgeben in Frage stellen zu wollen. Hilfreicher dürfte es sein, die selektiven Wahrnehmungen herauszustellen, die mit den jeweiligen Positionen verbunden sind. Der Dogmatismus zeigt sich daran, dass jede Position die Phänomene und Ereignisse, die ihr widersprechen, ignoriert oder in ihrer Bedeutung gering schätzt. Es gehört generell zum Stolz und zur Erfahrung der Demütigung, dass sie als erste Reaktion immer dazu verleiten, die Dinge einseitig zu sehen und andere Perspektiven und Gesichtspunkte auszublenden. Wir haben es auf beiden Seiten mit dem Phänomen subjektiver Wahrheiten zu tun, bei dem sich die Beteiligten extrem schwer damit tun, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen. Für das Syndrom der gekränkten Großmacht auf russischer Seite liegt ferner die Annahme nahe, dass die hohe Sensibilität für die Missachtung durch den Westen auch die Kehrseite der Weigerung ist, der katastrophalen eigenen Geschichte mit den dazu gehörenden Verbrechen in der Ära der Sowjetunion ins Auge zu sehen. Die Empfindlichkeit für die Demütigung durch den Westen ist deswegen so groß, weil sie den willkommenen Nebeneffekt hat, die Auseinandersetzung mit den Kränkungen und Demütigungen, die in der eigenen Geschichte stecken und für die man niemanden außer sich selber verantwortlich machen kann, als überflüssig erscheinen zu lassen. Die Kränkungen, die man sich selber beigebracht hat, sind so schmerzhaft, dass man die Demütigungen, die man von anderen erfahren hat, förmlich herbeisehnt, damit man ungestört weiterleben kann und die eigenen Verbrechen nicht zur

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Kenntnis nehmen muss. Generell ist die Vorstellung überaus verlockend, dass hinter den vielen Problemen, die man hat, nur ein einziges steckt und hinter diesem Problem ein einziger Feind. Aus der westlichen Perspektive bzw. der Perspektive der USA erscheinen die 1990er Jahre ganz anders als Putin sie sieht. Der amerikanische General H.R. McMaster, der zwischen Juli 2017 und März 2018 als Nationaler Sicherheitsberater im Weißen Haus tätig war, fasste diese Sicht im Juni 2019 knapp und klar zusammen. Danach ist es so, dass die USA sich bemüht haben, Russland dabei zu helfen, eine freie Marktwirtschaft zu errichten, dass sie Moskau »mehrmals tatkräftig« dabei unterstützten, den Bankrott zu verhindern. Putin aber sieht diese Zeit McMaster zufolge nur als eine Periode, in der der Westen versuchte, Russland Schaden zuzufügen. »Er glaubt an diese Darstellung und propagiert sie unablässig weiter.« Wie hier gerne die Züge der Herablassung übersehen werden, mit denen die USA, die Nato und der Westen der russischen Seite gegenübertraten, so sehr wird dort übersehen, wie illusionär und selbstschädigend das Bestreben ist, die einstige Großmachtstellung wieder zu erringen. So entsteht die Spirale, in der jede Seite auf die Kränkung und Demütigung durch die anderen mit der Strategie der Demütigungsumkehr reagiert und zum Gegenschlag ausholt. Kluges politisches Handeln würde darin bestehen, diesen Kreislauf zu stoppen und den pseudokausalen Automatismus von Aktion, Reaktion und Gegenreaktion zu durchbrechen. Dass das so ungeheuer schwierig ist, liegt an der allseits und immer wieder unterschätzten Macht des Stolzes.33 Horst Teltschik, der selber als außenpolitischer Koordinator im Bundeskanzleramt 1989/90 an den Verhandlungen über die deutsche Einheit beteiligt war, hat der Darstellung von Dohnanyis widersprochen. Nach Teltschik ist es so, »dass es in den Gesprächen von Baker mit Gorbatschow und Schewardnadse ausschließlich um den Prozess einer möglichen Vereinigung und um den zukünftigen Status eines geeinten Deutschland« ging und in den Verhandlungen zwischen Kohl und Gorbatschow »das Thema Nato-Mitgliedschaft mit keinem Wort angesprochen« wurde. Das ist nach Teltschik auch alles andere als verwunderlich, weil im Februar 1990, als die entscheidenden Verhandlungen stattfanden, niemand voraussehen konnte, dass sich der Warschauer Pakt am 1. Juli 1991 auflösen und die UdSSR im Dezember 1991 in fünfzehn unabhängige Staaten zerfallen würde. Zudem habe Gorbatschow 2014 selber öffentlich erklärt, »dass in keinem seiner Gespräche 1990/91 mit westlichen 33

Siehe McMaster, Interview.

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Partnern über eine Erweiterung der Nato über das Gebiet der DDR hinaus gesprochen worden sei«. Deswegen handelt es sich bei den anderslautenden Vermutungen, die Sarotte und von Dohnanyi vertreten, um eine »Überinterpretation des Briefes und der Aktennotiz von Außenminister Baker«.34 Die amerikanische Zeithistorikerin Mary Elise Sarotte, auf deren Publikationen von Dohnanyi seine Stellungnahme stützt, geht seit 15 Jahren der Frage nach, ob es tatsächlich im Zug der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands ein Versprechen der USA und des Westens gegeben hat, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Ihre Antwort lautet, kurz gesagt: Das Thema ist in den Verhandlungen im Jahre 1990 wiederholt aufgekommen. »Doch eine schriftliche Zusicherung der USA oder der Allianz selbst, die Nato nicht zu erweitern, gab es nicht.« Die Dokumente zeigten aber auch, dass die Frage der Nato-Osterweiterung durchaus von den westlichen Diplomaten diskutiert wurde. Und Kohl persönlich informierte den amerikanischen Präsidenten Bush 1990, Gorbatschow habe »große Probleme. Seine osteuropäischen Verbündeten sagen, sie wollen in die Nato.« Im Februar 1990, so Sarotte, ging Außenminister Genscher deswegen davon aus, »dass Gorbatschow als Preis für seine Einwilligung zur deutschen Widervereinigung eine Garantie einfordern würde, die Nato nicht zu erweitern«. Der damalige amerikanische Außenminister Baker traf am 9. Februar 1990 in Moskau den sowjetischen Außenminister Schewardnadse und den Präsidenten Gorbatschow und erklärte, die Nato werde »keinen Inch von ihrer derzeitigen Position ostwärts rücken«. Gorbatschow habe laut Baker geantwortet, dass eine Verschiebung der Nato nach Osten inakzeptabel wäre. Aber es wurde nichts schriftlich vereinbart, wie überhaupt offenbar im ganzen Verhandlungsprozess nie etwas schriftlich über diese Frage förmlich festgehalten und vereinbart wurde. Einen Tag später war Kohl in Moskau und bekräftigte im Gespräch mit Gorbatschow diese Linie und bekam danach »grünes Licht« für die Wiedervereinigung. Auch dieses Gespräch mündete nicht in eine förmliche schriftliche Vereinbarung. Kohl begann sofort mit den Vorbereitungen der Wirtschafts- und Währungsunion.35 Präsident Bush und seine Berater waren aber offenbar mit diesem Verhandlungsstand nicht einverstanden und forderten den US-Außenminister Baker auf, die Zusage der Nicht-Erweiterung nicht zu wiederholen. Kurze Zeit später kam es zu einem Gipfeltreffen zwischen Präsident Bush und 34 35

Teltschik, Legende. Alle Zitate aus Sarotte, »Wir haben uns durchgesetzt«.

V.  Der gekränkte Stolz oder Wodurch Lüge und Täuschung begünstigt werden

Bundeskanzler Kohl in Camp David, bei dem Bush dem deutschen Kanzler die Marschroute deutlich machte. Bush vertrat die Auffassung, dass die Sowjets nicht in der Position seien, das deutsche Verhältnis zur Nato zu bestimmen und meinte: »Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. We can’t let the Soviets clutch victory from the jaws of defeat (wir können es nicht zulassen, dass die Sowjets in allerletzter Minute eine Niederlage in einen Sieg wandeln).« Kohl, so Sarotte, sei wohl etwas überrascht gewesen, habe sich aber gefügt. Die neue Verhandlungsstrategie war nun, »to bribe the Soviets out (die Sowjets auszukaufen)«, – wie es der spätere US-Verteidigungsminister Robert Gates, damaliger stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater, in seinen Memoiren formulierte. Kohl bot dann 15 Milliarden Deutsche Mark als Ausgleich an, und Gorbatschow willigte ein, alle sowjetischen Truppen aus dem Osten Deutschlands abzuziehen und dem vereinigten Deutschland die volle Souveränität zu geben. »Eine schriftliche Zusicherung über die Nicht-Erweiterung der Nato erhielt er nicht, im Gegenteil. Die Übereinkunft, die er unterschreibt, erlaubt es der Nato explizit, die Grenze von 1989 zu überschreiten.«36 Es geht hier nicht darum zu entscheiden, welche Seite in dieser Debatte richtig liegt. Die Kontroverse ist aber ein deutlicher Beleg dafür, mit welcher Empfindlichkeit die Verhandlungspartner die Situation bewerteten. Die Beendigung von Kriegen ist immer ein hochgradig mit Emotionen aufgeladener Augenblick, – das gilt nicht nur für die Beendigung von heißen, sondern auch für die Beendigung eines kalten Krieges. Beide Seiten beäugen sich voller Argwohn, Misstrauen und Skepsis. Es sind Augenblicke, in denen der Stolz auf der einen Seite leicht in Hochmut und Überheblichkeit kippt, wie das bei Bush offenbar der Fall war, und auf der anderen Seite, auf der Seite der Besiegten und Verlierer, sind es wenig willkommene Augenblicke von Ohnmacht, Entwertung, Schwäche und Hilflosigkeit, was offenbar der Fall war bei Gorbatschow, der es versäumte, auf einer schriftlichen Vereinbarung zu bestehen. Beide Haltungen richten gleichermaßen Unheil an, ziehen Verwerfungen nach sich, trüben die politische Urteilskraft und sind dazu angetan, sinnvolles politisches Handeln zu erschweren. Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Versailler Vertrag bieten dafür eine Fülle von Belegen. Laqueur betrachtet die Geschichte Deutschlands nach seiner Niederlage 1918 als den »offensichtlichen Präzedenzfall« für die gegenwärtigen Versuche Russlands, seinen Status als Weltmacht wiederzuerlangen. Es ist schon so, wie Putin in 36

Alle Zitate wiederum aus Sarotte, »Wir haben uns durchgesetzt«.

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seiner Rede vom 18. März 2014 sagte: Die Sieger stehen immer in der Versuchung zu denken, »dass sie auserwählt und einzigartig sind, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und dass sie grundsätzlich immer recht haben«. Aber er versäumte hinzuzufügen, dass auch der Besiegte und Unterlegene in der Niederlage nicht den Freibrief sehen sollte, der es ihm erlaubt, keinerlei Grenzen seines Handelns mehr anzuerkennen und mit allen Mitteln den Versuch zu machen, die verlorene Größe wiederherzustellen, den nächsten Waffengang vorzubereiten und dann das Ergebnis des letzten Krieges zu seinen eigenen Gunsten zu korrigieren.37

37

Zum Präzedenzfall Deutschland siehe Laqueur, Putinismus, S. 10; das Putin-Zitat findet sich in der Rede auf S. 93; zum Ende des Ersten Weltkriegs und zum Versailler Vertrag siehe König, 100 Jahre.

Schluss: Der Stolz als Ressource politischen Handelns

Im Stolz setzen wir uns zu uns selbst in Beziehung. Der Stolz ist das Bewusstsein bzw. das Gefühl, in dem wir uns einen hohen Wert zuerkennen. Anderen gegenüber zeigt sich der Stolz entweder in Großmut oder in Hochmut. Großmut ist Ausdruck eines gesunden Stolzes, Hochmut ist Ausdruck eines unangemessenen Stolzes, einer Selbstüberhebung, die von der Realität nicht gedeckt wird. Stolz kann eigentlich nur Menschen zugesprochen werden, nicht Gruppen oder Kollektiven oder Nationen. Andererseits aber lassen die Schicksale der Kollektive und Gruppen, denen wir angehören, unser Selbstwertgefühl und unser Selbstbewusstsein nicht unberührt. Hier wie dort, in der kollektiv-politischen wie in der individuellen Dimension, wird die kulturelle und politische Bedeutung des Stolzes im öffentlichen Diskurs seit langem vernachlässigt. Vielleicht ist das ein spätes Erbe der christlichen Ablehnung des Stolzes. Das Christentum hat den Stolz immer verurteilt und als superbia, als Hochmut und Selbsterhöhung gebrandmarkt und unter die schlimmsten Sünden eingereiht. Nach Augustinus ist der Stolz ein »Streben nach falscher Hoheit« und ein schweres Laster. Stolz ist für ihn identisch mit Anmaßung und Überheblichkeit.1 Wenn der Stolz jenseits des Christentums und mit positivem Beiklang überlebte, dann am ehesten in der höfischen Kultur und ihren Derivaten. Im ritterlichen und aristokratischen Tugendkatalog ist der wahre Stolz identisch mit Großmut und steht in dieser Qualität in der Nachbarschaft von Ehre und Würde. Hinzu kommt vor allem der Gleichmut, der nach Joseph Roth, der sich in diesen Dingen ziemlich gut auskannte, das wichtigste Kennzeichen einer aristokratischen Haltung ist. Der aristokratische Stolz begegnet den Zumutungen des Lebens mit Gleichmut und Noblesse, er verbirgt seine Gebrechen 1

Augustinus, Gottesstaat, 14. Kapitel, S. 183.

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und Verluste, statt sie auszustellen, Aufmerksamkeit mit ihnen zu erwecken und psychischen oder materiellen Gewinn aus ihnen zu schlagen. Im Zuge der Verbürgerlichung des Lebens verlor dieser Stolz rasch an Ansehen und fand im Kanon dessen, was im bürgerlichen Zeitalter unter gutem Benehmen und gutem Leben verstanden wurde, kaum noch Berücksichtigung.2 Ganz ging der Stolz freilich auch in der Neuzeit nicht unter. Thomas Hobbes, der maßgebliche politische Denker des 17. Jahrhunderts, befreite ihn aus seiner exklusiven Beziehung zum Aristokratischen. Für ihn unterscheidet der Stolz nicht den Höfling vom Pöbel, sondern den Menschen vom Tier. Der Stolz mitsamt den zugehörigen Pathologien von Hochmut und Eitelkeit ist eine universal den Menschen charakterisierende Größe, mit der man immer und überall rechnen muss. Im Unterschied zu Ameisen und Bienen, die so gerne als politische Lebewesen par excellence betrachtet werden, weil sie gesellig zusammenleben, stehen die Menschen nach Hobbes »in einem ständigen Wettkampf um Ehre und Würde«, fühlen sich ohne Unterlass durch die anderen beleidigt und sind selbst dann untereinander verfeindet, wenn sie ungestört sind.3 Da der Stolz das Verhältnis zwischen mir und mir selbst bezeichnet, scheint er eine Qualität zu sein, in der die Außenwelt und die Haltung der anderen zu mir keine Rolle spielen. Es zeigt sich aber, dass er sowohl gegenüber anderen wie auch gegenüber den allgemeinen Schicksalsschlägen des Lebens eine ausgesprochen anfällige und verletzliche Größe ist. So sehr wir im Stolz versuchen, die Wertschätzung nur aus uns selbst zu beziehen, so sehr machen wir die Erfahrung, dass wir keine Insel sind, – es sei denn, wir praktizieren erfolgreich den Stoizismus und den Rückzug in die Zitadelle, in der wir uns der vermeintlichen Schlechtigkeit der Welt entziehen. Sonst sind und bleiben wir anfällig für Misserfolge und Kränkungen durch andere, und deswegen leiden wir, wenn Ohnmacht und Angst zu Grunderfahrungen des Zeitalters werden.4 Um die Bedeutung des Stolzes angemessen zu verstehen, müssen wir hinzunehmen, dass er nicht nur durch jene Kränkung herausgefordert wird, die einer Person unmittelbar und direkt widerfährt, sondern auch dann, wenn sie »in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs

2 3 4

Roth, Kapuzinergruft, S. 31: »Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut.« Hobbes, Leviathan, S. 133. Zum Rückzug in die Zitadelle siehe Berlin, Freiheitsbegriffe, S. 215ff.

Schluss: Der Stolz als Ressource politischen Handelns

oder ihres Namens« besteht, also jenen sozialen und politischen Einheiten gegenüber, denen wir angehören. Und ferner müssen wir hinzunehmen, dass der Stolz eine überaus empfindsame, reizbare und leicht verwundbare Größe ist, die nicht selten schon bei der kleinsten Andeutung einer Kränkung zu den stärksten Reaktionen greift. Es gehört zum Wesen des Stolzes, dass er schnell maßlos werden kann, sowohl in seinen Ansprüchen wie in seinen Empfindlichkeiten. Ihm reichen »Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung«, um zutiefst gekränkt zu sein und gewaltige Reaktionen in Gang zu setzen.5 Hobbes, der auf die Gefahren des Stolzes mit so starken Worten hinweist, ist in diesem Zusammenhang nicht irgendwer. Als Zeitgenosse des englischen Bürgerkriegs und des 30jährigen Kriegs, die ungeheuerliche Verheerungen zur Folge hatten, registrierte er mit seismographischer Sensibilität die Ursachen von Zwist, Uneinigkeit und Krieg, und seine gesamte politische Theorie verfolgt das eine große Ziel, auf diese Erfahrung eine tragfähige Antwort zu geben. Zu ihr gehört die Einsicht, dass wir in der politischen Praxis und in der politischen Urteilsbildung immer mit dem Stolz zu rechnen haben und dass die Menschen die Verletzung ihres Stolzes allenfalls kurzfristig, aber niemals auf Dauer ertragen. Dem Stolz, der durch keinerlei vorgegebene Regeln und Prinzipien eingehegt wird, ist im Falle einer Beleidigung alles recht, womit er sich Genugtuung verschaffen und sich schadlos halten kann. Er greift umstandslos zu jedem Mittel, das ihm zur Verfügung steht. Damit ist er die Quelle von Zerwürfnis, er polarisiert und spaltet und bringt die Konkurrenten gegeneinander auf, und er ist verantwortlich dafür, dass wir für Lüge und (Selbst-)Täuschungen so anfällig sind. Aber der Stolz ist nicht nur die Ressource, die die Lügner und Täuscher instrumentalisieren, indem sie auf Kränkungen mit dem Schüren von Rachewünschen und Schuldzuweisungen reagieren und ihn auf diese Weise als Brandbeschleuniger benutzen. Er ist zugleich Quelle und Antrieb für ganz andere Erfahrungen und Handlungsweisen, er ist das wichtigste Gegenmittel zu Ohnmacht, Mutlosigkeit und Angst, das wichtigste Gegenmittel zu Passivität und Schicksalsergebenheit. Um ein letztes Mal Hobbes zu zitieren: »Freude, die von der Vorstellung eigener Macht und Fähigkeit herrührt, ist jenes Hochgefühl des Geistes, das man Stolz nennt. Liegt ihm die Erfahrung früherer eigener Taten zugrunde, so ist er dasselbe wie Selbstvertrauen.« Wer die Erfahrung macht, dass er im gemeinsamen Handeln mit anderen tatsächlich etwas 5

Beide Zitate aus Hobbes, Leviathan, S. 96.

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bewirken kann, der hat es nicht nötig, zu fragwürdigen Mitteln zu greifen, der wird nicht List, Lüge und Täuschung einsetzen, bei denen die Beleidigten und Gedemütigten reflexartig ihre Zuflucht nehmen. Und er wird auch nicht denjenigen auf den Leim gehen, die unter der Flagge von Notstandsmaßnahmen zur Rettung ihrer Länder trügerische Versprechen machen, aber damit in Wirklichkeit die Chancen eines Neuanfangs, die immer und überall vorhanden sind, verspielen.6

6

Hobbes, Leviathan, S. 44.

Dank

Heike Dörrenbächer und Manfred Sapper haben frühere Fassungen des Manuskripts gelesen und mich vor allem in den Teilen über Putin und Russland vor einigen Irrtümern bewahrt. Bernd Gutmann hat mich in Gesprächen auf die Bedeutung des Stolzes für mein Thema aufmerksam gemacht und mich dazu angeregt, über diesen Aspekt intensiver nachzudenken. Das war der Ausgangspunkt für das fünfte Kapitel dieses Buches. Wolfgang Rathert hat durch stetiges Nachfragen und nicht nachlassendes Interesse dazu beigetragen, dass das Manuskript in einem einigermaßen überschaubaren und vertretbaren Zeitraum fertig wurde. Viele weitere Freunde und Bekannte, die ich hier nicht aufzählen kann, haben mir wertvolle Anregungen gegeben. Beinahe hätte die Corona-Pandemie das Erscheinen des Buches vor den nächsten US-Präsidentschaftswahlen im November 2020, das mir wichtig war, unmöglich gemacht. Dann aber hat der transcript Verlag mit hoher Professionalität und mit einem sonst im Verlagswesen nicht eben oft anzutreffenden Tempo dafür gesorgt, dass es nun doch noch rechtzeitig vorliegt. Allen Genannten und allen Beteiligten gilt mein herzlicher Dank.

Abkürzungen

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung NYT – New York Times NZZ – Neue Zürcher Zeitung SPON – Spiegel-Online SZ – Süddeutsche Zeitung Tsp – Der Tagesspiegel WP – Washington Post

Literatur

Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M. 1982. Albright, Madeleine: Faschismus. Eine Warnung, Köln 2018. Alexijewitsch, Swetlana: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, München 2015. Alexijewitsch, Swetlana: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Berlin 2015. Alterman, Eric: When Presidents Lie. A History of Official Deception and its Consequences, New York 2004. Andrew, Christopher/Wassili Mitrochin: Das Schwarzbuch des KGB, 2 Bände, Berlin 1999/2006. Anonymus: Warnung aus dem Weißen Haus. Ein hochrangiger TrumpMitarbeiter packt aus, Köln 2019. Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 1974. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem, Reinbek bei Hamburg 1978. Arendt, Hannah: Vita Activa, München 1981. Arendt, Hannah: Das »deutsche Problem«, in: Dies., Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986. Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994. Arendt, Hannah: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994. Arendt, Hannah: Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den PentagonPapieren, in: Dies., In der Gegenwart, München 2000. Arendt, Hannah: Zweihundert Jahre Amerikanische Revolution, in: Dies., In der Gegenwart, München 2000.

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Personenregister

Nicht berücksichtigt sind Personen aus den Fußnoten und aus dem Literaturverzeichnis. A Acosta, Jim 282, 283 Adenauer, Konrad 38 Adorno, Theodor W. 272 Ahlers, Conrad 38 Alexijewitsch, Swetlana 320-323 Andersch, Alfred 124 Arendt, Hannah 18, 58, 105, 135, 251, 274 Aristoteles 45, 58, 280 Assad, Bashar 147, 294 Assange, Julian 283, 284 Augustinus, Aurelius 91, 92, 333 B Bacon, Francis 64, 65 Bakatin, Wadim 163 Baker, James 327, 329, 330 Bandera, Stepan 318 Bannon, Steve 111, 233, 263, 264 Barr, William 254, 286, 288, 304, 306 Barschel, Uwe 38, 39 Bastrykin, Alexander 149

Benckendorff, Alexander von 12, 192 Beresowski, Boris 187 Beria, Lawrenti 101 Bersin, Jan 189 Biden, Hunter 278, 303-305 Biden, Joe 214, 278, 303-306, 309, 316 Bin Laden, Osama 255 Bismarck, Otto von 36, 37, 40, 84 Blair, Tony 32 Bollnow, Otto Friedrich 90-92 Borges, Jorge Luis 84 Bossert, Tom 306 Brasidas 21 Brecht, Bertolt 20, 103, 104, 273, 274, 276, 278, 279 Brodsky, Joseph 84 Bush, George H.W. 34 Bush, George W. 32, 34, 35, 283, 330, 331 C Carnegie, Andrew 269 Carroll, Lewis 88 Changoschwili, Selimchan 150

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Chartschenko, Leonid 10 Cheney, Dick 32 Chodorkowski, Michail 83, 146, 187 Christie, Agatha 142 Churchill, Winston 215 Clinton, Bill 32-34, 290 Clinton, Hillary 23, 25, 40, 98, 126, 172-174, 198, 214-216, 224, 230, 254, 257, 261, 266, 267 Cohen, Michael 207, 225, 227, 228, 306 Cohn, Gary 227, 232-235 Cohn, Roy 213, 214 Comey, James 93, 94, 228-230, 278, 287, 294, 304 Constant, Benjamin 59 Conway, Kellyanne 11, 224 Coppola, Francis Ford 325 Cummings, Elijah 213 D D’Alembert, Jean-Baptiste 65 D’Annunzio, Gabriele 84 Dearlove, Richard 33 Derrida, Jacques 80 Descartes, René 87 Diderot, Denis 55, 65 Dohnanyi, Klaus von 326, 327, 329, 330 Dostojewski, Fjodor 57, 134 Douglass, Frederick 257 Droysen, Johann Gustav 36 Dserschinski, Felix 12 Dubinski, Sergei 10 Dugin, Alexander 109, 110 Duterte, Rodrigo 293, 294

E Ebert, Friedrich 22 Eichmann, Adolf 58 Eisner, Kurt 50 Elisabeth, Zarin 161 Engels, Friedrich 55 Engholm, Björn 38 Epimenides 28, 29 Erdoğan, Recep Tayyip 277, 292 F F., Lisa 172 Ferraris, Maurizio 81 Flynn, Michael 225, 230, 254, 287 Foucault, Michel 80 Frankfurt, Harry 70-73, 76, 77, 79, 80 Fromm, Erich 272 G Gaddy, Clifford G. 183, 192 Gates, Robert 331 Genscher, Hans-Dietrich 330 Gerassimow, Waleri 169, 170, 177 Gessen, Masha 101, 138, 147, 183 Girkin, Igor 10, 177 Giuliani, Rudy 29, 224, 304, 306, 307 Goebbels, Joseph 113 Gogol, Nikolai 138, 196 Golunow, Iwan 153 Gorbatschow, Michail 125, 163, 182, 313, 327, 329-331 Gudkow, Lew 132, 325 Guénon, René 109

Personenregister

H Hamilton, Alexander 250, 292 Hannity, Sean 24 Haussmann, George-Eugène Baron 136 Heidegger, Martin 109 Heisenberg, Werner 84 Hicks, Hope 224 Hill, Fiona 183, 192 Hirschman, Albert O. 236 Hitler, Adolf 37, 217, 318 Hobbes, Thomas 42, 334, 335 Hochschild, Arlie Russel 206, 298, 300, 301 Hoffmann, E.T.A. 137 Homer 21 Huckabee Sanders, Sarah 283 Hussein, Saddam 32, 33, 40, 294 I Iwan der Schreckliche, Zar 315 J Jankélévitch, Vladimir 139 Janukowytsch, Wiktor 305 Jefferson, Thomas 93 Jelzin, Boris 19, 78, 82, 137, 138, 163, 166, 181, 182, 185, 197, 313, 314, 327 Jermak, Andrei 307 Johnson, Boris 15 Johnston, David Cay 220, 258 Jong-un, Kim 244, 293 Juncker, Jean-Claude 39 K Kablitz, Andreas 81 Kafka, Franz 134, 135, 137, 148

Kakutani, Michiko 81 Kant, Immanuel 18, 26-29, 43, 5561, 79, 90-92, 145, 158 Katharina II., Zarin 128, 179 Katzav, Mosche 199 Kehlmann, Daniel 88 Kelly, John 235 Kerimow, Suleiman 152 Kessler, Glenn 29 Khashoggi, Jamal 121 Kipling, Rudyard 140 Kisljak, Sergei 225, 294 Kohl, Helmut 327, 329-331 Kopelew, Lew 100 Korobow, Igor 144, 145 Kushner, Jared 254 L Laqueur, Walter 115, 166, 315, 331 Lawrow, Sergei 143, 172, 230, 294 Lenin, Wladimir Iljitsch 103, 125, 162, 263 Lennon, John 84 Levitsky, Steven 247 Lewinsky, Monica 32 Limonow, Eduard 109, 110 Lindbergh, Charles 239 Litwinenko, Alexander 149, 150, 188 Löwenthal, Leo 267 Luther, Martin 43 Luzenko, Juri 306 Lyotard, Jean-Francois 80, 86, 87 M Machiavelli, Niccolo 18, 42-51, 54, 61, 183

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

Macron, Emmanuel 153, 244 Madison, James 77 Magomedow, Magomed 152 Magomedow, Sijawudin 152 Magritte, René 88 Magyar, Bálint 277 Manafort, Paul 226, 305 Manigault Newman, Omarosa 231, 232 Mann, Thomas 183 Marx, Karl 87 Mattis, James 232, 233 May, Theresa 94, 142 McCain, John 112, 262 McCarthy, Joseph 213 McGahn, Don 287 McMaster, Herbert Raymond 329 McNamara, Robert 33 Mearsheimer, John J. 41, 326 Medwedew, Dmitri 127, 151, 180 Meghan, Herzogin von Sussex 25 Merkel, Angela 196, 244 Merleau-Ponty, Maurice 100, 104 Mischkin, Alexander 143 Mnuchin, Steven 232, 233 Molotow, Wjatscheslaw M. 37 Mommsen, Margareta 150, 166, 182, 315, 325 Montaigne, Michel de 47 Morgan, Charles 269 Mueller, Robert 172-174, 214, 224226, 229, 230, 239, 243, 246, 254, 257, 285-288, 304, 306 N Napoleon 35, 40 Nawalny, Alexei 127, 153

Neiman, Susan 81 Nemzow, Boris 149 Nietzsche, Friedrich 109 Nikolaus I., Zar 12, 192 Nixon, Richard 32-34, 292 Nurejew, Rudolf 151 O Obama, Barack 10, 14, 24, 84, 98, 215, 224, 240, 253, 254, 257, 281, 283, 290, 294, 303, 304, 316 Omar, Ilhan 113 Orbán, Viktor 15, 277 Orwell, George 88, 100, 101, 157, 272, 273 Ott, Karl-Heinz 81 P Patruschew, Nikolai 168 Pelosi, Nancy 291, 309 Pence, Mike 225 Pfeiffer, Reiner 38 Podesta, John 174 Politkowskaja, Anna 196, 203 Pomerantsev, Peter 129, 155, 182 Pompeo, Michael 289, 290 Porter, Robert 234, 235, 293 Potjomkin, Grigori 19, 115, 128, 179 Powell, Colin 32, 33, 257 Priebus, Reince 94, 234, 235 Prigoschin, Jewgeni 173 Primakow, Jewgeni 185, 314 Pritchard, Marjorie 282 Pulatow, Oleg 10 Putin, Wladimir 9, 11, 13-20, 63, 6668, 74, 75, 80-83, 85, 107, 108, 110, 111, 114, 115, 117-119, 123-205, 227,

Personenregister

244, 249, 277, 284, 293-296, 309, 311-313, 315-320, 323-326, 328, 329, 331 R Reitschuster, Boris 325, 326 Ribbentrop, Joachim von 37 Rice, Condoleezza 32 Rockefeller, John D. 269 Rocky, ASAP 113 Roldugin, Sergei 191, 194 Romney, Mitt 112, 309 Roosevelt, Franklin D. 239 Rorty, Richard 139 Rosenstein, Rod 230 Roth, Joseph 333 Rousseau, Jean-Jacques 158 Rumsfeld, Donald 32 S Sarotte, Mary Elise 330, 331 Sartre, Jean-Paul 103, 104 Saviano, Roberto 121 Scaramucci, Anthony 237 Schewardnadse, Eduard 329, 330 Schewkunow, Georgi Alexandrowitsch 114, 152 Schiff, Adam 290, 291, 308, 309 Schlesinger, Arthur M. 292 Schmid, Ulrich 82 Schmitt, Carl 275 Schokin, Wiktor 306 Schumatsky, Boris 81 Schuwalow, Alexander 161 Schwartz, Tony 227 Selenski, Wolodimir 214, 278, 303308

Senzow, Oleg 146 Serebrennikow, Kirill 151, 152 Shakespeare, William 57, 73, 296, 320 Sisi, Abdel Fatah 293 Skripal, Sergei 142-144, 149, 188 Skuratow, Juri 185 Sobtschak, Anatoli 181, 197 Sokrates 139 Solschenizyn, Alexander 134 Sondland, Gordon 291, 304 Spicer, Sean 11, 29, 224, 227 Stalin, Josef 37, 101, 116, 125, 126, 146, 147, 315 Steele, Christopher 306 Stern, Howard 211 Stone, Oliver 189 Strauß, Franz-Josef 38, 39 Surkow, Wladislaw 83, 84, 109, 110, 178 Sybel, Heinrich von 36 Sygar, Michail 182, 184 T Taylor, Bill 304 Taylor, Brian 325 Teltschik, Horst 329 Tereškova, Valentina 191 Tertullian 44 Themistokles 21 Thukydides 21, 22 Tillerson, Rex 232, 233 Todd, Chuck 11 Treitschke, Heinrich von 36 Trotzki, Leo 103, 106 Trump, Donald 9-20, 23-25, 29, 30, 39, 40, 66-72, 74, 75, 80, 81, 85,

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Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.

88, 93, 94, 96, 98, 107, 108, 111-114, 117-121, 131, 172, 173, 205-309 Trump, Donald, Jr. 254 Tschepiga, Anatoli 143 Tsoi, Wiktor 151 U Ulbricht, Walter 22 V Vanderbilt, Cornelius 269 Volker, Kurt 303 Voltaire 55, 141 W Weber, Max 18, 42, 49-55, 61 Welsch, Wolfgang 87 Wilhelm I., Kaiser 40 Wittgenstein, Ludwig 87-89 Wolf, Armin 147 Wolff, Michael 23, 111, 218, 231 Woodward, Bob 231-234 Z Ziblatt, Daniel 247