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German Pages [368] Year 2010
Leonardo da Vinci im Orient
Studien zur Kunst 18
Dietrich Seybold
Leonardo da Vinci im Orient Geschichte eines europäischen Mythos
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus CA 393v [ex145v-b] (nach R II, Tafel CXVII)
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20526-3
Inhalt Vorwort und Dank . ........................................................................................... I.
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Einleitung . ................................................................................................ 13
1. «…haben Sie einstweilen Alles in Erstaunen gesetzt» – Jacob . Burckhardt und die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung............ 2. Exzeptionell und exemplarisch: Leonardo da Vinci als eine Figur . der europäischen Erinnerung.................................................................... 3. ‹Unlesbare Schrift›: Ein Linkshänder schreibt ‹nach Manier der . Orientalen›............................................................................................... 4. Die ‹orientalische Frage› als Gesamtkomplex: Fünf Leitgedanken.............. 5. Leitbegriffe: ‹Orient›, ‹Europa›, ‹Mythos›................................................... 6. Zur Anlage des Buchs............................................................................... 7. Anmerkungen zur Zitierpraxis..................................................................
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II. Leonardo da Vinci im Orient. Geschichte eines europäischen Mythos................................................................................. 36 1. Erste Etappe: Ein Gelehrtenstreit im Fin de siècle – die ‹Richter-Debatte› und ihr Personal............................................................ 1.1 «…dass Lionardo thatsächlich im Orient sich aufgehalten hat». . Jean Paul Richter (1847–1937) und der versuchte Nachweis . einer These......................................................................................... 1.2 Befremdung, Skepsis und Formierung einer Gegenmeinung.............. 1.3 Positionsbezüge bis zum Ende des Jahrhunderts................................. 1.4 Von der Jahrhundertwende bis zum Gedenkjahr von 1919................ 1.5 Nach dem Gedenkjahr: Entwicklungen bis 1939............................... 2. Zweite Etappe: Leonardo prosatore (I). Die ‹orientalische Frage› als Thema der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte............... 2.1 ‹Diodario› – ein Wort und seine Geschichte....................................... 2.2 Imagination und Welterfahrung: Leonardo da Vinci und . das Reisen.......................................................................................... 2.3 Grade der Phantastik: Die Deutungsproblematik im . Paradigma ‹Literatur›.........................................................................
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3. Dritte Etappe: Leonardo, Michelangelo und die Brücke über das Goldene Horn.......................................................................................... 3.1 Auftakt: Eine «Kraftwagenfahrt» von Pera nach Stambul.................... 3.2 Nach heutigem Kenntnisstand: Die Faktenlage.................................. 3.3 Epilog: Zur Nachgeschichte eines Dokumentenfunds........................
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4. Vierte Etappe: Leonardo prosatore (II). Leonardo da Vinci im Kontext von Sintflutprognostik und Prophetismus.................................... 162 4.1 «Unser angsterfülltes Jahrhundert»: Leonardo-Rezeption zur . Zeit des Kalten Krieges...................................................................... 162 4.2 Eine Neueinschätzung des ‹Diodario-Materials› unter . Einbeziehung aller aktuell bekannten Hintergründe.......................... 171 5. Fünfte Etappe: Vom ‹Kolumbusjahr› 1992 zur Jahrtausendwende – Leonardo-Rezeption im Zeichen von Multikulturalismus und . Postmoderne............................................................................................. 5.1 Auftakt: New York, Hotel Algonquin................................................. 5.2 Der Orient als ‹theatre of war›: Die Kathedrale der Erinnerung in der Geschichte des Leonardo-Romans........................................... 5.3 Vom Kriegsingenieur zum pazifistischen Symbol: Leonardo da . Vinci als Brückenbauer in Europa...................................................... 5.4 Zum Stand der Diskussion am Ende des Jahrtausends.......................
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III. Die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung – ein Gesamtfazit................................................................................................. 217 IV. Anhang . ...................................................................................................... 226
Anhang A: Leonardo da Vinci und die orientalische Welt................................... 226
1. 2. 3. 4. 5.
Der Orient im geographischen Weltbild von Leonardo da Vinci........ 1.1 Der Orient-Begriff im Denken und Schreiben Leonardos.......... 1.2 Klärendes zur Amerika-Problematik.......................................... 1.3 Spuren kultureller Selbstverortung............................................. Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance....................... 2.1 Verlangen nach dem Fremden: Die Exotik des Orients.............. 2.2 Abwehr des Bedrohlichen.......................................................... Arabische Autoritäten im Denken und Schreiben Leonardos............. Dante, Mandeville und der Islam....................................................... Synopse: Orientbezüge im Werk und in den Aufzeichnungen . Leonardo da Vincis............................................................................
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Inhalt | 7
a) Al-Andalus (Das ‹maurische› Spanien); b) Der Maghreb-Raum; c) Ägypten; d) Das Heilige Land; e) Das Osmanische Reich; f ) Das Zweistromland; g) Arabien; h) Persien; i) Indien; j) Der Ferne Osten
Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen / Auswahlbibliographie ................ 357 Abbildungsverzeichnis. ................................................................................. 360 Hinweis auf die beigelegte CD-ROM.............................................................. 361
Anhang B: Die Texte aus dem ‹Diodario-Material› in einer kommentierten Zusammenschau......................................................................... CD-ROM
V. Bibliographie .............................................................................................. CD-ROM Jean Paul Richter (Hg.), The Literary Works of Leonardo da Vinci, 2 Bde., London 1883............................................................................................ CD-ROM Personenregister................................................................................................ 362
Vorwort und Dank Eine größere Menge eines besonderen ‹Rohstoffs›, nämlich Papier, gelangte um 1480 in die deutsche Stadt Ulm. Die Lieferung kam aus Mailand, und in Ulm sollte daraus ein Atlaswerk entstehen, nämlich der so genannte Ulmer Ptolemäus (erstmals 1482), der früheste Druck dieses antiken Atlaswerkes im deutschsprachigen Raum. Man vermutet, dass die Lieferung des ‹Rohstoffs› teilweise sogar mit Exemplaren dieses Buches bezahlt worden ist, denn es ist in den italienischen, insbesondere den Mailänder Bibliotheken stark vertreten. Ein Exemplar des Ulmer Ptolemäus findet sich nun auch in der Universitätsbibliothek Basel, und im Frühjahr 2006, in einem frühen Stadium der Forschungsarbeiten, die diesem Buch zugrunde liegen, fiel mein Blick auf eine Glasvitrine, in der sich dieser Atlas aufgeschlagen darbot. Aufgeschlagen war – es könnte allerdings die Erinnerung auch täuschen – eine Europa-Karte, mit Sicherheit aber eine Karte, auf der auch die Randzonen Europas, Kleinasien, die Taurus-Region, zu finden waren. Ich wusste damals schon, dass man davon ausging, dass auch Leonardo da Vinci mit einem Exemplar des Ulmer Ptolemäus (oder mit Kartenmaterial, das damit eng verwandt war) gearbeitet hatte. Nicht mit diesem, dem Basler Exemplar natürlich –, aber ein ‹Ptolemäus› hatte sich nachweislich in seinem Besitz befunden. Die berühmte Weltkarte, aber auch die Karten Kleinasiens, die Karten, auf denen eben die Randzonen Europas zu finden waren, dürften ihm ein Hilfsmittel gewesen sein, eine Art geographischer Erzählung in Briefform zu Papier zu bringen – eine Erzählung, die einst für den Beleg gehalten worden ist, dass er, Leonardo da Vinci, im Orient gewesen war. Kein anderes gedankliches Bild darf daher, als eine Art Frontispiz, diesem Buch vorangestellt sein als eben dieses: Leonardo da Vinci, über einem Atlas sitzend, schreibend und zeichnend auf Blättern, die heute dem so genannten Codex Atlanticus inkorporiert und – nach neuester Indexierung – mit den Chiffren 393r, 393v und 573a-v belegt sind. Leonardo da Vinci, gedanklich – immerhin – im Orient, auf imaginären Reisen, die nicht zuletzt ein Atlas möglich macht. Denn mit diesem Bild beginnt auch die eigentliche Vorgeschichte zu diesem Buch. Viele Jahrhunderte später, im 19. Jahrhundert, als die europäische Gelehrtenwelt begann, sich anhand der allmählich edierten Aufzeichnungen Leonardos ein genaueres Bild von seiner Gesamtpersönlichkeit zu machen –, damals formulierte sich auch dieser Gedanke zum ersten Male explizit aus: dass Leonardo, als ein historisches Individuum, d.h. physisch, im Orient gewesen sei. Die so genannte ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung, im engeren Sinne eine rein biographiehistorische Frage, weitete sich in der Folge aus zu einem regelrechten Problemknäuel, zu einem Rezeptionsphänomen, zu einem kulturellen Gesamtphänomen. Denn die kulturelle Identität Leonardo da Vincis war hier im Innersten berührt. Diesem Gesamtphänomen – das keineswegs nur aus Phantasmagorien und Trugbildern besteht, obschon Teile davon sicherlich zur Geschichte der europäischen Imagina-
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tion gehören – ist dieses Buch gewidmet. Den Forschern, die damit befasst gewesen sind, den Dichtern und Denkern, die bestimmte Bilder und Gedanken daraus aufgenommen und sich anverwandelt haben – all diesen spürt es nach. Indem es sich der Geschichte einer vermeintlich überholten und ad acta gelegten Forschungskontroverse annimmt, diese Geschichte nacherzählt und aufbereitet – in einem wissenschaftsgeschichtlichen Längsschnitt, der auch als Leitfaden zur Geschichte der Leonardo-Forschung gelesen werden kann. Nicht um mit reißerischen Thesen aufzuwarten und die ‹orientalische Frage› im engeren Sinne – also als eine biographische Frage – erneut positiv zu beantworten, sondern um über den Stand der Diskussion hinauszuführen, um das letztlich nur in einer kulturgeschichtlich erweiterten Perspektive fassbare kulturelle Gesamtphänomen durchsichtiger zu machen und besser zu begreifen und: um damit eine Ausgangslage zu schaffen zu eingehenden, systematischen und umfassenden Erörterungen aller Orient-Bezüge im Werk und in den Schriften Leonardos (wie im Anhang dieses Buchs versucht). Mein Dank gilt in erster Linie einer Schweizer Institution, die ihr Vertrauen in das Forschungsprojekt eines eben promovierten Nachwuchswissenschaftlers gesetzt hat. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat mir ein intellektuelles ‹Abenteuer› ohnegleichen erst ermöglicht. Ein ‹Abenteuer›, das mich von West nach Ost geführt hat, vom Alten Orient bis in die Postmoderne, durch die Welten der Bildenden Kunst, Literatur, Wissenschaftsgeschichte und durch noch so manches andere Sachgebiet. Keine filmische oder romanhafte Schnitzeljagd könnte damit verglichen werden – auch nicht im Entferntesten. Ein Gefühl der inneren Stimmigkeit hat dieses Unterfangen von Anfang an begleitet. Günstige Zufälle kamen hinzu: Nicht wenige Standardwerke der Leonardo-Forschung, einst im Besitz eines Basler Kunsthistorikers, sind infolge eines Zufallsfunds in einem Antiquariat in meinen Besitz gekommen. Alles in allem haben sich mir – und ich hoffe der zukünftigen Forschung nicht minder – neue Perspektiven in Hülle und Fülle eröffnet. Im Rahmen der Arbeit an diesem Projekt habe ich die Schwierigkeiten der Leonardo-Forschung kennen gelernt, aber auch die unbeschreiblichen Momente, die etwa dann möglich sind, wenn sich Leonardos immense Neugierde auf die Welt und auf die Dinge dem Forscher wirklich mitteilt, d.h. sich auf ihn auch überträgt. Diese Momente zu erleben setzt eine Bereitschaft voraus, in die Details zu gehen, eine Bereitschaft, die dann durch unbeschreiblich lohnende Momente erneut stimuliert werden kann. Es ist dies eine Erfahrung, die – in der Leonardo-Literatur hin und wieder zu beobachten – auch eine ganz besondere Art des Schreibens inspirieren kann – ein Schreiben, getragen von Euphorie, Staunen, Demut angesichts der Perspektiven, die sich auftun, und einen die Welt mit neuen Augen erleben lassen. Vielleicht ist dieser Erfahrung der Fülle einzig die Textform der Miszelle eine angemessene Form. Weil sie davon Abstand nimmt, die Fülle in ihrer Gesamtheit zu vermitteln, die sie – in Verknappung und Konzentration – andeutungsweise und aspekthaft doch in sich trägt. Dieses Buch stellt – in einem gewissen Sinne – eine solche Art Miszelle dar. Einem Seitenthema der Leonardo-Forschung ist es gewidmet. Doch bei näherem Hinsehen
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stellt man fest, dass doch der ‹ganze› Leonardo – Leonardo in allen seinen hauptsächlichen Tätigkeitsbereichen – darin enthalten ist: Leonardo da Vinci – in seinem Verhältnis zu den Kulturräumen des Orients. Die Fokussierung auf diesen Aspekt des Orientalischen hat sich als ein zwar anspruchsvoller, aber doch als ein gangbarer und vor allem als ein wahrhaftig lohnender Weg erwiesen. Vieles scheinbar Abseitige konnte erstmals ausgeleuchtet werden, und oft ergab sich von daher auch eine neue Beleuchtung des Allbekannten. Denn dieses Buch handelt nicht zuletzt von Geschichten aus dem ‹symbolischen Zentrum› der Renaissance, also aus dem kulturellen Raum der kurz nach 1500 die Mona Lisa und den David hervorbringt. Es sind Geschichten, die seltsamerweise – aber auch bezeichnenderweise – kaum bekannt sind (oder bloß für sich, d.h. in isolierter Form behandelt werden), obschon auch sie ein Teil dieses Zentrums und damit ein Teil eines kulturellen Gesamtgewebes sind. Mein ganz besonders herzlicher Dank gilt Professor Kaspar von Greyerz (Basel), der mein Projekt letztlich in die richtigen Bahnen gelenkt hat, indem er mich auf ein spezifisches Förderprogramm des SNF erst aufmerksam gemacht hat. In diesem formalen Rahmen, in einem Gefühl der Stimmigkeit und nicht zuletzt auf manchen Fußwanderungen durch die Region Basel, ist dieses Buch über zwei Jahre hinweg letztlich entstanden. Sodann gilt mein herzlicher Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Basler Bibliotheken und natürlich vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Basel. Die Fernleihe hat mir die erwünschten Materialien stets prompt (und so kostengünstig wie immer möglich) beschafft. In der Handschriftenabteilung wurde mir das so wunderbar reich vor Ort vorhandene Material stets vertrauensvoll zugänglich gemacht. Dieses Buch sei daher den Mirabilia – den Wundern der Basler Bibliotheken – auch gewidmet. Und mein Dank an den Schweizerischen Nationalfonds, mein wiederholter Dank, sei – dieses Buch. Dietrich Seybold, im Sommer 2008
I. Einleitung I’m never surprised to be surprised by Leonardo, but I’m always surprised by what the surprises are, if that makes sense. Martin Kemp1
1. «…haben Sie einstweilen Alles in Erstaunen gesetzt» – Jacob Burckhardt und die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung Im Frühjahr 1881 erhielt der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt eine unerwartete Postsendung aus Paris. Jean Paul Richter, ein junger Gelehrter aus Dresden – er ist nicht zu verwechseln mit dem Schriftsteller Jean Paul –, übersandte Burckhardt «mit ehrerbietigen Empfehlungen des Verfassers» einen Sonderdruck. Der neunseitige, am 17. Februar 1881 in der Leipziger Zeitschrift für bildende Kunst erschienene Aufsatz trug den Titel Lionardo da Vinci im Orient; und das Exemplar des Sonderdrucks, das damals durch Burckhardts Hände ging, versehen mit Richters Respektsbezeugung, findet sich heute in der Basler Universitätsbibliothek.2 Einige Lesespuren – zwei Bleistiftanstreichungen am Rande – dürften von Jacob Burckhardt stammen wie auch die schwungvolle Notiz «Richter Lionardo im Orient» auf der Rückseite des Sonderdrucks. Es sind dies Spuren, die von einer Lektüre zeugen, die geeignet war, nicht wenig Befremden, Skepsis, Unbehagen auszulösen. Denn in dem Aufsatz hatte Richter sich bemüht, den Nachweis zu führen, dass der junge Leonardo da Vinci nicht bloß eine Orientreise gemacht und eine Weile im Orient gelebt hatte, sondern – in Zuspitzung der These – dass er darüber hinaus – nämlich für die Zeit dieses Aufenthalts – den islamischen Glauben angenommen hatte, d.h. zum Islam konvertiert war. Am 15. März 1881 antwortete Burckhardt Richter in einem Brief, wovon Letzterer – mit offenkundigem Stolz – sogleich seinen Mentor, den italienischen Senator Giovanni Morelli, in Kenntnis setzte.3 Morelli, Doyen der ‹Kunstkenner› und als solcher Promotor einer neuen, positivistisch inspirierten Methode der Bilderbestimmung, war Richter in einem Freundschaftsbündnis und in einer fruchtbaren Arbeitsbeziehung verbunden, 1 Martin Kemp, Leonardo da Vinci: The Marvellous Works of Nature and Man [Transkription eines Radiointerviews mit Martin Kemp vom 15. Februar 2006], [http://www.abc.net.au/rn/bookshow/stories/2006/1817397.htm], o.S. 2 LdViO. – Das Erscheinungsdatum erwähnt Richter in: Jean Paul Richter, La question orientale dans la vie de Léonard de Vinci, in: La Chronique des arts et de la curiosité 11/1881, S. 87. 3 M/R, S. 156. – Ob eine Begegnung zwischen Richter und Burckhardt später zustande kam (vgl. ebd., S. 225), ist nicht bekannt. Richter war im Übrigen 1879 von Wilhelm Bode gebeten worden, an einer Neuauflage des Cicerone mitzuwirken (siehe ebd., S. 73).
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hatte den Tatendrang seines Schützlings in Sachen Leonardo-Forschung aber hin und wieder auch mit einem Anflug von Sorge registriert.4 Von der orientalischen These seines Schützlings hielt er, wie wir noch sehen werden, wahrscheinlich nicht eben viel.5 Jacob Burckhardts Antwort war allem Anschein nach – vordergründig – durchaus positiv gewesen, enthielt aber doch schon alle Ambivalenzen, die in dieser Sache noch zu reden geben sollten: «Verehrtester Herr Während die ganze artistische Welt durch Ihre bevorstehende Herausgabe der Schriften des Lionardo in froher Erwartung lebt, haben Sie einstweilen Alles in Erstaunen gesetzt durch den Nachweis, dass der große Mann geraume Zeit im Orient gewohnt hat. Und zwar ist der Nachweis so geleistet dass gar kein Widerspruch möglich bleibt. Bei Sultan Kaid-Bey und noch später bei Kanssa Gauri lebten eine Menge Abendländer, aber Lionardo hätte man doch nicht vermuthet! Er hat hernach Alles wieder abschütteln und das Cenacolo malen können! […].» 6
Mit einem Abstand von gut 125 Jahren – und mit einem Überblick über das weitere Geschehen – lässt sich wie folgt zusammenfassen: Jean Paul Richter (1847–1937), der eben im Begriffe war, die Beschäftigung mit Leonardo da Vinci auf eine neue Textgrundlage zu stellen, hatte sich im Frühjahr 1881 – als ein noch junger Gelehrter – mit einer gewagten, zudem fast tollkühn zugespitzten These exponiert. Seine spätere Editionsleistung rechtfertigt es, ihn rückblickend einen Pionier der Leonardo-Edition zu nennen, ohne die durchaus vorhandenen problematischen Komponenten dieser Leistung deshalb zu unterschlagen.7 Und die Orientthese, eine ‹Nebenfrucht der Quellenforschung›8, gehörte ganz eindeutig zu diesem letzteren Komplex. 4 Morelli riet wiederholt, sich nicht zu übereilen (M/R, S. 120 und 197). – Bezüglich Morelli siehe zuletzt Ulrich Pfisterer, Giovanni Morelli (1816–1891), in: ders., Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 1, München 2007, S. 92–109, sowie DoA (Jaynie L. Anderson). – Genau genommen handelte es sich bei Morellis methodischer Innovation weniger um eine ‹Rezeptur› zur Bilderbestimmung als um ein Kontrollverfahren zur Überprüfung von Zuschreibungshypothesen. Im Zuge der Morelli-Rezeption hat sich dieser Unterschied allerdings verwischt. 5 Siehe Haupttext, Kap. 1. 6 Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. 7, Basel 1969, S. 233f. (Kommentar: S. 482f.). Für einen ersten Hinweis auf diesen Brief – vor Jahren – möchte ich an dieser Stelle Hans-Peter Wittwer ganz herzlich danken. – Mit dem Hinweis auf die beiden mamlukischen Sultane gab Burckhardt im Übrigen auch zu erkennen, dass er Leonardos Leben – als Ganzes – im Auge behielt. Nachträglich liest sich dies auch als ein kluger Vorbehalt, was die Datierung von Leonardos mutmaßlicher Reise angeht, die man allgemein zunächst als eine Reise des jugendlichen Leonardo ansah (vgl. diesbezüglich Haupttext, vor allem Kap. 1, 2 und 5). 7 Richters Bedeutung als Leonardo-Forscher, dies sei hier nochmals unterstrichen, erschöpft sich nicht in der hier verhandelten Problematik. Seine Leistung war von vielfältigerer Bedeutung, als in diesem Buch, das vordringlich einer ganz besonderen ‹Hinterlassenschaft› gewidmet ist, deutlich gemacht werden kann. Bezüglich Richters Vita siehe Haupttext, Kap. 1; bezüglich der Problematik ‹Anthologie› siehe vor allem Kap. 2. 8 Die Formulierung in Anlehnung an Max Burckhardt (a.a.O., S. 482).
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In Jacob Burckhardt hatte Richter dann sogleich einen subtilen Kritiker seiner These gefunden, der seine starken Vorbehalte in scheinbare Zustimmung zu kleiden wusste, aller Skepsis zum Trotz aber doch bereit war, sich die Dinge doch einmal anders zurechtzulegen, als man es gewohnt war.9 Ganz leicht vom Tisch zu wischen war die These also auch nicht. Was vorlag, war vordergründig ein biographisches Problem, hinter dem sich in Wirklichkeit aber ein regelrechtes Problemknäuel verbarg, das die Forschung auch heute noch beschäftigt und das nicht vollständig entwirrt ist: die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung. Die Vorstellung, Leonardo da Vinci in den Orient ziehen zu sehen, hatte es in sich. Kein Wunder, dass schon Jean Paul Richter erwartet hatte, Anstoß zu erregen mit seiner These, insbesondere mit der Vorstellung eines Renegatentums auf Zeit. «Man wird sich natürlich nicht gern mit dem Gedanken vertraut machen, auch Leonardo sei Renegat geworden, wenn auch nur im Interesse seiner wissenschaftlichen Zwecke für die Dauer seines Aufenthaltes im Orient.»10
Ob sich Richter indessen bewusst war, dass er mit diesem Verdacht ganz richtig lag, insbesondere auch in Bezug auf Jacob Burckhardt, auf den die Passage ohne Weiteres hätte gemünzt sein können, wissen wir nicht. Burckhardts Gesamtwerk ist erst in jüngster Zeit auf seine antisemitischen und – was in diesem Zusammenhang auch ruchbar wurde – islamophoben Züge hin durchmustert worden.11 Burckhardts Antwortbrief enthielt möglicherweise auch deswegen ein starkes, allerdings untergründiges Moment von Abwehr. Die hauptsächliche Frage aber lautete: Hatte sich Leonardo da Vinci wirklich zeitweilig aus dem christlichen Kulturraum (auch innerlich) entfernen können, der ihm mit dem Cenacolo doch eine mustergültige Ausformung eines Zentralmotivs der christlichen Bildtradition verdankte? In vier Texten, und auch in seinem Cicerone, hatte Burckhardt das ‹Abendmahl› behandelt.12 Im Rahmen der Bildenden Künste war es ihm ein Symbol der Modernität, und seine entsprechenden Ausführungen im Cicerone stehen zu den programmatischen Ideengehalten auch eines anderen Hauptwerks, der Kultur der Renaissance in Italien, in einem denkbar engen Bezug. Denn hatte die Renaissance gleichsam den Schleier abgeworfen, der einer – verglichen mit dem dem Mittelalter – abgeklärteren Weltbetrach 9 Siehe Fortsetzung des Brieftextes (a.a.O.). Burckhardt gab sich immerhin redliche Mühe, die ‹Neuigkeit› mit seinem Leonardo-Bild in Einklang zu bringen, indem er (ähnlich wie später etwa Moritz Thausing) über den Grund mutmaßte, der Leonardo womöglich aus Florenz fortgetrieben hatte. 10 LdViO, S. 141. 11 Aram Mattioli, «Jacob Burckhardt und die Grenzen der Humanität», Wien etc. 2001. In eine weitere Perspektive gerückt ist diese Debatte bei: Heiko Haumann, «Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch». Ein Versuch über historische Maßstäbe zur Beurteilung von Judengegnerschaft an den Beispielen Karl von Rotteck und Jacob Burckhardt, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55 (2005), S. 196–214. – Auch Jean Paul Richter ist von derlei Affekten nicht ganz frei gewesen (vgl. Haupttext, Kap. 1.4). 12 Siehe Christine Tauber, Jacob Burckhardts ‹Cicerone›. Eine Aufgabe zum Genießen, Tübingen 2000, S. 163ff.
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tung noch hinderlich war, so schien es Burckhardt, dass mit dem Cenacolo eine lange Phase träumerischen Dahindämmerns in der Malerei gleichsam beendet worden war: «Ja sieht man bloß auf die Hände, so ist es als hätte alle Malerei vorher im Traum gelegen und wäre nun erst erwacht.»13
Das Cenacolo fungierte nun – in der Antwort an Richter – nicht eigentlich als ein Gegenargument zu dessen These. Es fungierte vielmehr als ein Zeichen und als ein Symbol des Vorbehalts.14 Ohne das eigentliche Argument auszubuchstabieren und gewissermaßen stellvertretend für alle Skeptiker gelang es Burckhardt auszudrücken: Leonardo da Vinci im Orient – das war, angesichts der Verwurzelung dieses Künstlers in der Vorstellungs- und Bilderwelt des christlichen Abendlandes, eigentlich nur schwer, eigentlich nicht recht oder eigentlich gar nicht vorstellbar –,15 wenn es nicht gelang, den Vorbehalt zu überwinden. Widerstreben und Begeisterung Richter hatte somit einen Teil der möglichen Reaktionen auf seine These ganz richtig vorweggenommen. Jacob Burckhardt widerstrebte es – merklich, wenn auch nicht sehr deutlich –, in Leonardo einen «kulturellen Überläufer»16 sehen (wenn auch nur einen ‹kulturellen Überläufer› auf Zeit). Doch nimmt man andere Reaktionen zum Maßstab, so scheint es eher, dass Leonardo nicht erst im Jahre 1881, sondern schon immer, schon 13 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, hrsg. von Bernd Roeck, Christine Tauber und Martin Warnke, Bd. 2, München/Basel 2001 [Kritische Gesamtausgabe Bd. 3], S. 121, [Zeile] 14f. (originale Interpunktion). 14 Max Burckhardt – in der Briefedition – kommentierte trocken (a.a.O., S. 483): «Abschütteln … Cenacolo. Ohne in eine Kontroverse zu geraten, brachte B. [Jacob Burckhardt] damit das nach seiner Auffassung stärkste Bedenken vor.» 15 Indirekt scheint Burckhardt hier auch zum Ausdruck zu bringen, dass er nicht gewillt war, das Cenacolo zu säkularisieren und, vom spezifisch christlichen Gehalt gewissermaßen abstrahierend, als eine Darstellung der Wirkung des Worts aufzufassen (es sei denn, seine Reaktion wäre rein strategischer Natur gewesen). Denn eine solche Deutung war weit einfacher mit Richters These (und der Auffassung eines freigeistigen Leonardo) in Einklang zu bringen als die den theologischen Gehalt – also Verratsankündigung, Einsetzung des Sakraments der Eucharistie – betonenden Deutungstraditionen (bezüglich Letzterer vgl. Z I, S. 185f.). Einen Vorbehalt zum Ausdruck zu bringen, eignete sich die säkulare Auffassung nämlich keineswegs, eher im Gegenteil. – Bezüglich einer Aktualisierung der Tradition des ‹gottlosen Leonardo›, die allerdings signifikanterweise von einer Auseinandersetzung mit den Notizen Leonardos fast gänzlich absieht, siehe Jörg Traeger, Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels, München 1997, S. 400f. Vgl. zu diesem thematischen Segment auch Annex, Kap. ‹Dante, Mandeville und der Islam›. – Bezüglich einer neueren – und neuerlichen – Thematisierung der Hand des Christus siehe Jack Wassermann, Rethinking Leonardo da Vinci’s Last Supper, in: artibus et historiae 55 (2007), S. 23–35. 16 Vgl. Karl-Heinz Kohl, «Travestie der Lebensformen» oder «kulturelle Konversion»? Zur Geschichte des kulturellen Überläufertums, in: ders., Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie, Frankfurt a.M./ New York 1987, S. 7–38 (der Begriff geht auf den Schweizer Historiker Urs Bitterli zurück).
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seit jeher, im Orient vermutet worden war; und dass man auf die Nachricht wie auf die Bestätigung eines schon länger gehegten Verdachts reagierte. Die Reaktionen waren widersprüchlich und ein Meinungsspektrum entfaltete sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Auch für Zustimmung war Raum. Nicht nur abendländische Abwehrängste kamen zum Tragen, sondern auch abendländische Wunschvorstellungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts: ein Bedürfnis beispielsweise, das Abendland mit dem Orient (was immer damit gemeint war) in der Person Leonardo da Vincis verschmelzen zu sehen. Und seitdem ein überschwänglicher Multikulturalismus der 1990er Jahre die Renaissance-Epoche als eine multikulturelle Szenerie entdeckt hat – einem Wunschbild gleich, das man in seiner eigenen Umgebung nicht vorfindet –,17 dürfte man erst recht gewarnt sein, mit welch starken Wunschvorstellungen man es in Zusammenhang mit der ‹orientalischen Frage› der LeonardoForschung auch zu tun hat. Man muss erkennen, dass es mit dieser scheinbar abseitigen Forschungskontroverse eine ganz besondere Bewandtnis hat, dass ihr ein ganz besonderes Faszinationspotential innewohnt und dass es mit dieser Kontroverse – nicht nur, aber auch aus diesen Gründen – bislang noch kein Ende hatte. Den Gegenpol zu Burckhardts Reserviertheit bildete also eine zustimmende, bisweilen überschwängliche Emphase, die über eine allgemeine Aufgeschlossenheit weit hinausging. Die Faszinationskraft der bloßen Idee, Leonardo sei im Orient gewesen, war also geeignet, in ganz unterschiedlicher Weise die kollektive Phantasie zu stimulieren und in die Geschichte des Imaginären hineinzuwirken. Identitätspolitische Leitideen Was auf der individuellen Ebene als bloß individuelle Meinung oder Neigung erscheint, hat ins Soziale und Politische gewendet eine unübersehbar identitätspolitische Tragweite. Es ging nicht nur um ein historisches Individuum, dessen kultureller Identität man sich plötzlich nicht mehr sicher war: Es ging auch um die Symbolfigur ‹Leonardo da Vinci›, die von ganz unterschiedlichen, auch identitätspolitischen Meinungslagern als eine Symbolfigur für sich in Anspruch genommen wird. Wenn die bloße Vorstellung, Leonardo da Vinci sei ein Wanderer zwischen den Welten gewesen, Begeisterung und Widerstreben ausgelöst hat, so ist aus diesen Reaktionen auch die Begeisterung und das Widerstreben bestimmter identitätspolitischer Meinungslager herauszuhören, denen sich eine der bekanntesten Symbolfiguren überhaupt zu entfremden – oder eben anzunähern – schien. Die individuelle Schwierigkeit, die Idee einer Orientreise mit einem Bild von Leonardo da Vinci zu vereinbaren, rührte somit auch von den immer schon vorhandenen identitätspolitischen Vorstellungen her. Sah man ihn beispielsweise als eine Zentralfigur des Abendlandes (oder des ‹Westens›) an, so war es befremdlich, ihn plötzlich zwischen den Welten wandeln zu sehen. Nicht bloß ein faktisches Wissen über Leonardo galt 17 Ausführlich siehe Haupttext.
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es – scheinbar – anzupassen, auch ein jeweiliges Grundverständnis von Leonardo war plötzlich zu überprüfen. Und wie jemand auf Richters These reagierte, gab in der Regel zu erkennen, wie ein solcher Jemand sich – in einer identitätspolitischen Meinungslandschaft – jeweils positionierte. Die Forschungskontroverse hatte also einen sachlichen, aber gewissermaßen auch einen identitätspolitischen Kern. Sie handelte vom Itinerar einer historischen Figur, also von Leonardos physischen Bewegungen im Raum, aber auch von der Vereinbarkeit bestimmter Leonardo-Bilder mit der ‹Neuigkeit›. Alles in allem: Die Idee, dass Leonardo da Vinci im Orient gewesen sei, hat sich – in Vergangenheit und Gegenwart – als geeignet erwiesen, widersprüchliche Impulse in wissenschaftliche und identitätspolitische Räume hineinzugeben. Es diskutierte die identitätspolitische Meinungslandschaft einer jeweiligen Gegenwart immer auch mit, wenn scheinbar ‹bloß› wissenschaftliche Fragen besprochen wurden. Von gewissen identitätspolitischen Diskursen her kam Richters These somit eine Art Sog von Aufnahmebereitschaft entgegen, andere Weltanschauungen hingegen entwickelten eine Dynamik der Abstoßung – und dies ganz unabhängig von den sachlichen Argumenten, in denen eine Position jeweils fundiert war. Schlummernde Ideenkeime Jean Paul Richters These hatte 1881 wie ein Katalysator gewirkt. Die bloße Idee einer Orientfahrt Leonardos stimulierte nicht nur einen Gelehrtenstreit im Fin de siècle, der bis heute nachwirkt; die Idee erregte vor allem – auch weil sich die These weder ganz einfach vom Tisch wischen noch erhärten ließ – die kollektive Phantasie, auch weil diese seit jeher von ähnlichen Ideen bewegt, also gewissermaßen vorbereitet war. Richter hatte gleichsam Verdacht geschöpft und diesen Verdacht so explizit wie bislang noch niemand vor ihm als (s)eine Gewissheit formuliert. Doch im Grunde wurde damit bloß eine schon allegmein vorhandene Disposition erneut angeregt, die einerseits schon darauf vorbereitet war, Leonardo das Ungewöhnliche tun zu sehen, und die andererseits schon ganz ähnliche Verdachtsmomente gehegt hatte. Ähnliche Ideen, wie sie Richter erst auf den Punkt gebracht hatte, waren also der Leonardo-Überlieferung schon eingeschrieben. Jean Paul Richter hatte so gesehen nur mit einer bisher ungekannten Deutlichkeit artikuliert, was andere bereits geahnt, gemutmaßt oder gedacht hatten. Im Hinblick auf diese früheren Verdachtsmomente, aber auch in ihren ganz grundsätzlichen Dispositionen sei daher im Folgenden die europäische Leonardo-Überlieferung betrachtet, d.h. im Rückblick auf die Ära, bevor Jean Paul Richter – mit der Unbefangenheit des jungen Gelehrten (und nicht ohne eine Prise Tollkühnheit) – mit seiner These auf den Plan trat.
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2. Exzeptionell und exemplarisch: Leonardo da Vinci als eine Figur der europäischen Erinnerung Dass Leonardo da Vinci ‹zu allem fähig› gewesen sei, hat nicht ein Theoretiker der Moderne geschrieben, der – im Rückblick auf das 19. und 20. Jahrhundert – einen entschieden kritischen Unterton in diese Formulierung legte. Es hatte dies Goethe geschrieben; und ob hier ein ambivalenter Unterton herauszuhören ist, steht gar nicht fest.18 ‹Zu allem fähig zu sein› bedeutet die höchste Steigerung des Außergewöhnlichen, mit oder ohne einen Beiklang des Suspekten; und Leonardo da Vinci verkörpert exemplarisch diese dem Durchschnittsmenschen per se ein Rätsel darstellende Steigerung, ob man nun das Suspekte – die Technik, insbesondere die Kriegstechnik – ausklammerte oder nicht. Leonardo ist zum Inbegriff des außergewöhnlichen Menschen geworden, er ist der aussergewöhnliche Mensch schlechthin, und er ist – in dieser Sonderstellung, die ihm fast, aber nicht ganz alleine zukommt – paradoxerweise exemplarisch. Das heißt auch: Ihm und einigen wenigen anderen war zuzutrauen, dass sie sich auch über Ost und West, über die Unterschiedlichkeiten der verschiedensten Kulturräume einfach hinwegsetzten (und sich von einem Raum in den anderen überraschenderweise auch absetzten). Es war dies eine Leistung, ein Vermögen, das zwar überraschte, aber doch prinzipiell für möglich gehalten wurde. Das Bild einer Synthese aus Ost und West stellte sich vor aller Augen dar: das Bild eines Mannes, der die kulturellen Unterschiedlichkeiten und Gegensätze, die Konfrontation mit dem Anderen auszuhalten und die entsprechenden Grenzen ohne Weiteres zu überschreiten wusste, das Bild eines Genies der kulturellen Grenzüberschreitung. Wie genau aber Leonardo da Vinci – wenn überhaupt – dazu befähigt war, stand auf einem ganz anderen Blatt. Goethe hatte sich noch fast ausschließlich aufgrund von Vasaris Leonardo-Vita ein Bild von Leonardos Gesamtpersönlichkeit gemacht und sicherlich nicht die Ambivalenzen überhört, die diesem unzweifelhaft wirkungsmächtigen Grundtext der LeonardoÜberlieferung, eingeschrieben sind.19 Bei aller Bewunderung der Leistungen des Künstlers war Leonardo Vasari – in seiner Vielgestaltigkeit – auch bizarr und undurchschaubar und in religiöser Hinsicht ganz buchstäblich verdächtig vorgekommen. Mit einem Wort: Er war ihm – bei aller Bewunderung – auch mehr oder weniger suspekt gewesen. Zwischen den Entstehungsdaten der beiden Fassungen von 1550 und 1568 – nämlich 1566 – datiert allerdings ein eher selten erinnerter Besuch Vasaris bei Leonardos Schüler Francesco Melzi, dem Hüter des Nachlasses.20 Aber ob sich Vasaris Bedenken 18 Zitiert hier nach Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Reinbek 1983 [engl. Originalausgabe 1939], S. 178 (das Zitat stammt aus der Italienischen Reise). 19 Giorgio Vasari, Das Leben des Leonardo da Vinci, hrsg. von Sabine Feser, Berlin 2006. – Bezüglich Goethe und Leonardo vgl. jüngst: Monica Taddei, Das deutsche Leonardo-Bild im 19. Jahrhundert, in: Maren Huberty / Roberto Ubbidiente (Hg.), Leonardo da Vinci all’Europa. Einem Mythos auf den Spuren, Berlin 2005, S. 109–130, S. 111–114. 20 Vgl. Carmen C. Bambach, Leonardo, left handed draftsman and writer, in: dies (Hg.), Leonardo da Vinci, Master Draftsman, [Kat.] New York 2003, S. 32. Vasari, a.a.O., S. 96 [Kommentar], Fn 90 (zu S. 34).
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aufgrund dieses Besuches teilweise, ganz oder gar nicht zerstreuten (und gar noch verstärkten), wissen wir nicht. Die Zweitfassung ist, in einem anderen Zeitkontext entstanden, jedenfalls nicht mehr von offenen Bedenken hinsichtlich Leonardos christlicher Gesinnung gekennzeichnet. Aber verschwunden ist der Grundton deshalb nicht. Zudem: Die Vasari-Philologie, welche die Unterschiede zwischen den Fassungen herausgearbeitet hat, hat Vasaris Bedenken stets zurückgeholt. Walter Pater – im 19. Jahrhundert – wusste sehr genau um die Diskrepanzen zwischen den beiden Fassungen der Vita.21 In seinem Leonardo-Essay von 1869, dem in Bezug auf Verbreitung und Wirkungsmächtigkeit vielleicht zweitwichtigsten Grundtext der Leonardo-Überlieferung, nahm Pater diesen Stimmton gleichsam auf. Den Verdacht der Vasari-Tradition, wiewohl ihr Pater auch verbunden blieb, erachtete er als ein gegen den singulär Herausragenden gerichtetes «Massenvorurteil».22 Und dennoch: Noch einmal verbreiteten sich – aufgrund der ungemeinen Popularität des Textes – alle Grundbestandteile der althergebrachten Leonardo-Legende. Und gut ein Jahrzehnt vor Richter brachte Pater auch zum Ausdruck, dass es ihm vorkam, als ob die Hintergrundlandschaften auf den berühmtesten Gemälden Leonardos ferne, nicht-westliche und zudem nicht bloß von der Phantasie entworfene Landschaften seien. «[S]taffelförmige Basaltklippen» sah Pater, «welche das Wasser in merkwürdige Lichtflecken zerteilen, – das genaue Gegenstück zu unseren westlichen Meeren – […].» Und er stellte fest: «Das sind Landschaften, nicht geträumt oder erfunden, aber an weitentlegenen Orten und zu Tagesstunden, die mit einer unglaublich feinen Berechnung ausgewählt sind.»23
An welchen entlegenen Orten war Leonardo gewesen? Oder verdankten sich die Landschaften ihrer Gestaltung nach bloß Informationen aus zweiter Hand? Pater gab darauf keine Antworten, in seiner sich auf den Gegenstand gleichsam einschwingenden subjektivistischen Prosa. Weitergehende Schlüsse aus seinem Eindruck zog der Essayist noch nicht. Der Eindruck, die Impression, war ihm, Pater, noch genug. Die Suche nach dem Maßstab Es stellte seit jeher ein Problem dar, der Größe oder der Eigenart Leonardos sprachlich gerecht zu werden. Oder in anderen Worten: Seit jeher artikulierte sich diese ganz eigene Verlegenheit auch sprachlich. Zu der Grundtendenz, Leonardo als den Inbegriff des Außergewöhnlichen zu sehen, addierte sich von daher ein ganz eigener Ton, indem man nämlich buchstäblich ins Exotische ausgriff um der Fremdheit Leonardos dergestalt gerecht zu werden. Man könnte auch sagen: Man wich, indem man exotische Vergleich suchte, in entferntere Regionen aus. 21 Der Hinweis darauf bildet den Einstieg zu dem Essay, hier zitiert nach: Walter Pater, Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie, Leipzig 1902, S. 135–177. Vgl. auch A. Richard Turner, Inventing Leonardo, New York 1993, S. 10ff. 22 Pater, a.a.O., S. 135. 23 Ebd. (beide Zitate auf S. 153).
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Ironischerweise steht am Anfang einer Tradition, die Leonardo da Vinci in einen wie auch immer gearteten orientalischen Zusammenhang stellt, eine Umkehrung dieses Motivs: Andrea Corsali, ein Indienfahrer des frühen 16. Jahrhunderts, der Leonardo im Umfeld Papst Leos X. begegnet sein mag,24 bezog sich nicht auf etwas Fremdes, um Leonardo fasslicher zu machen, sondern er bezog sich auf Leonardo, um die Fremdartigkeit der Bewohner von Gujarat den Daheimgebliebenen vor Augen zu stellen: Sie erschienen dem Indienfahrer – in ihren Ernährungsgewohnheiten, in ihrem Vegetarismus – wie ‹unser Leonardo›; sie standen außerhalb der vertrauten Norm, aber durch den Vergleich mit dem ungewöhnlichen Einzelnen zuhause wurden sie fasslich.25 Corsali – in seiner Vergleichsoperation – griff demnach aus in einen Raum, nur dass er sich eben in der Fremde schon befand und an Heimisches erinnert wurde. Beiläufig machte er Leonardo da Vinci so zu einem ‹Exoten› und brachte seine, Leonardos, Gewohnheiten mit den Sitten und Bräuchen Indiens in einen Zusammenhang. Giovanni Ambrogio Mazenta, der Mailänder Theologe und Architekt, durch dessen Hände viele Aufzeichnungen Leonardos gegangen sind,26 prägte im frühen 17. Jahrhundert einen Vergleich in der typischeren Form, indem er nämlich Leonardo gute Kenntnisse in Sachen Alter Geschichte zuschrieb, um dann seine Leistungen auf dem Gebiet der Wasserbaukunst auf die Ptolemäer zurückzuführen, deren Wissen demnach in seinem Tun zum Ausdruck komme.27 Das irritierend Außergewöhnliche, das in Leonardos Zeichnungen von Kriegsmaschinen zum Ausdruck kommt, veranlasste sodann Carlo Amoretti, einen wichtigen Vorläufer der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren eigentlichen Aufschwung erlebenden Leonardo-Forschung um 1800, zur Mutmaßung, Leonardo habe seine Kenntnisse vielleicht Indienreisenden zu verdanken, die mit ihren Berichten bei anderen Zuhörern keinen rechten Glauben hatten finden können. Diese Vermutung – wir kommen der Richter-Debatte zeitlich schon sehr nahe – griff dann auch Jean Paul Richter auf.28 24 Siehe DBI und V, S. 274. Bedauerlicherweise ist über Corsalis Vorleben wenig bekannt. Über etwaige Reisen, bevor ein Kontakt mit Leonardo zustande kam, wissen wir nichts. 25 Giovanni Battista Ramusio (Hg.), Navigazioni e viaggi, a cura di Marica Milanesi, Bd. 2, Torino 1979, S. 31. 26 Siehe [Ambrogio Mazenta], Le memorie su Leonardo da Vinci di Don Ambrogio Mazenta, hrsg. von Luigi Gramatica, Milano 1919 (Einleitung); R II, S. 393f., sowie P II, S. 393f. und Anhang A, Synopse, Sektion ‹Ägypten›. 27 Ausgeklammert bleibt hier (noch) der Fall ‹Lomazzo›. Denn der Mailänder Maler und Kunsttheoretiker Giovan Paolo Lomazzo verglich Leonardo – aufgrund von dessen äußerer Erscheinung – nicht bloß mit dem Weisen Hermes (in der Auffassung der Renaissance ein Ägypter und Zeitgenosse des Moses), er verfasste um 1560 auch die erste literarische Fiktion einer Reise Leonardos in den Nahen Osten, die eine Fantasie über den Wechsel der Geschlechtlichkeit darstellt. Der Spezialforschung vollumfänglich bekannt wurde dieser seinerzeit nicht veröffentlichte Text erst 1973. Siehe Kap. 5.2 und – bezüglich Hermes Trismegistos – auch Anhang A (Synopse, Sektion ‹Ägypten›). 28 Carlo Amoretti, Memorie storiche su la vita, gli studi, e le opere di Lionardo da Vinci, Milano 1804 [zitiert nach der im Rahmen einer Edition des «Trattato della pittura» veröffentlichten Version], S. 151; LdViO, S. 140.
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Schon viel früher als Richter bediente man sich also weit ausgreifender Bezüge, um den Leistungen des ganz Außergewöhnlichen gerecht zu werden, und dies vor dem Hintergrund der ganz generellen Tendenz, Leonardo viel, womöglich alles, zuzutrauen. Die Bewegung des Geistes, der etwas fasslich zu machen sucht, das sein Fassungsvermögen übersteigt, muss über das ihm Vertraute hinausgehen, um sich im Übersteigen der Normalität ein Maß zu suchen. Das europäische 19. Jahrhundert suchte oder schuf sich gar ein Maß im Orient, und in diesem ganz allgemeinen Kontext hat auch die eigentliche Diskussion um Leonardos Reisen ihren Ort. Eine Eigenart des historischen Leonardo aber, die noch nicht zur Sprache kam, war ganz besonders geeignet, eine Hinwendung des suchenden Verstandes in den Raum des Orients zu fördern, nämlich seine Schrift. Ist über den Linkshänder Leonardo des Öfteren zwar schon verhandelt worden, so gilt es hier, eine ganz besondere Substruktur der Überlieferung herauszuarbeiten, die der Schrift des Linkshänders, seiner Spiegelschrift eine ganz eigentümliche orientalische Konnotation verlieh.29
3. ‹Unlesbare Schrift›: Ein Linkshänder schreibt ‹nach Manier der Orientalen› Leonardo da Vinci dürfte sich – aufgrund seiner eigenwilligen Art des Schreibens – schon früh und auf eine sehr spezifische Art und Weise als ein Außenseiter vorgekommen sein, wiewohl es keine Quelle gibt, die von einer derartigen, sich im Alltag womöglich ständig reproduzierenden Erfahrung zeugt.30 Aber Spiegelschrift zu schreiben, also linksläufige Schrift in linksläufiger Verbindung der Buchstaben,31 stellte eine zweifellos außergewöhnlich eigenwillige Art des Schreibens dar; und aus einem anderen Fall ist uns bekannt, dass ein linksläufiges Schreiben – in der 29 Grundlegend ist Bambach, a.a.O. Dieser Aufsatz legt den Schwerpunkt allerdings auf den Aspekt der Linkshändigkeit (und nicht auf den Aspekt der Spiegelschrift). Orientalische Konnotationen sind nur ganz am Rande berührt. 30 Bereits die frühesten uns vorliegenden Textzeugnisse (einige Worte im sog. ‹Verrocchio-sketchbook› bzw. vor allem die Beschriftung der Arno-Landschaft von 1473) sind in Spiegelschrift gehalten. Siehe Bambach, a.a.O., S. 44 sowie Carlo Vecce, Word and Image in Leonardo’s Writings, in: Carmen C. Bambach (Hg.), Leonardo da Vinci, Master Draftsman, [Kat.] New York 2003, S. 63. 31 Augusto Marinoni machte darauf aufmerksam, dass Leonardos Buchstaben tendenziell eher für sich stehen, als dass sie verbunden sind (Augusto Marinoni, Leonardos Schriften, in: Silvio A. Bedini et al., Leonardo. Künstler, Forscher, Magier, München 2002, S. 81). Dies gilt allerdings nicht uneingeschränkt. – Carlo Pedretti hat festgehalten, dass Leonardo, wenn er ein zweiteiliges Blatt beschrieb, in der Regel – also nicht ausnahmslos – auf der rechten Seite begann (P II, S. 355; bezüglich Leonardos Handschrift siehe auch P I, S. 91f.). – Ganze Bücher bzw. lange Texte, die zusammenhängend über viele Seiten fortlaufen, liegen bekanntlich nicht vor, so dass es schwierig wäre, Leonardo auch für den ‹orientalischen› Typus des Buchs zu behaften. – Interessant wäre der Vergleich mit der etruskischen Schrift, die linksläufig ist und einer Spiegelschrift ähnelt, da einzelne Buchstaben ‹gespiegelten› Formen der Buchstaben entsprechen, wie sie uns heute gebräuchlich sind.
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ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – als ein Schreiben ‹nach der Art der Juden› wahrgenommen wurde.32 In Alltagssituationen dürfte Leonardo so oft mit dieser – wenn man so will – orientalischen Konnotierung konfrontiert worden sein, dass er gewissermaßen damit lebte.33 Und aus späteren Zeiten, nämlich aus dem frühen 17. Jahrhundert und aus der Zeit um 1800, gibt es auch Belege, die eine entsprechende Außenwahrnehmung – im Hinblick auf Leonardo – dokumentieren.34 Möglicherweise hat sich also – gewissermaßen im Alltag eines ‹Universalgenies› – ein Muster ausgebildet. Und vielleicht hat eine Überlieferung hier auch einen Ursprung. Um 1800 – und im Verlaufe des 19. Jahrhundert vor allem – hat sich dann der eigentliche Topos ausgebildet und verbreitet, dass Leonardo ‹nach Art der Orientalen› geschrieben habe – und kaum ein Autor, der ihn nicht verwendete.35 Aufgrund der Häufigkeit dieses Vergleichs ist es gerechtfertigt, von einer Konvention zu sprechen. Und im Rahmen dieser Konventionalität ist es auch signifikant, dass ein Aspekt von Leonardos Schreiben – als ein Effekt des Vergleichs – gewissermaßen systematisch ausgeblendet wurde. Denn: Der Vergleich bezog sich vor allem auf einen einzelnen Aspekt der Schrift: Vom linksläufigen Schriftbild her gesehen rechtfertigte es sich, von einer quasi-orientalischen Schrift zu sprechen. Aber Voraussetzung dieses Schriftbildes war ein – in den orientalischen Schriften nicht minder unkonventioneller – Akt der Spiegelung, der ein rechtsläufiges Buchstabenmaterial in ein quasi-orientalisches linksläufiges und in ein quasi-orientalisches linksläufiges Schriftbild verwandelte. Ein – im Wortsinne – halb-durchsichtiger Akt der Verwandlung, denn gegen das Licht 32 Bambach, a.a.O., S. 45 (Bezug auf Raffaello da Montelupo). – Vasari erachtete Leonardos Schrift im Übrigen als ‹hässlich› (Vasari, a.a.O., S. 34). 33 Die hebräische Schrift, auch in ihrer rein graphischen Qualität, scheint Leonardo nie aufgegriffen zu haben. Sie kommt, als gestalterisches Element in Bildschöpfungen der Renaissance, etwa in Form von Inschriften, ja durchaus vor. 34 Siehe Mazenta, a.a.O., S. 27 (dieser Beleg nicht in Bambachs Aufsatz) und Bambach, a.a.O., S. 33 (für den späteren Beleg, einer Notiz auf dem nicht zeitgenössischen Einband des CL). 35 Zuerst wahrscheinlich bei J.-B. Venturi, Essai sur les ouvrages physico-mathématiques de Léonard de Vinci, Paris 1797, S. 4, sowie bei Amoretti, a.a.O., S. 10. Weitere Beispiele unter anderem bei: Charles Ravaisson-Mollien, Les écrits de Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 49 (1881), S. 226; Henri de Geymuller, Les derniers travaux sur Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 28 (1886), S. 366, 372, 376 [Bd. 33]; Eugène Müntz, Léonard de Vinci. L’Artiste, le penseur, le savant, Paris 1899, S. 38; Gustavo Uzielli, Ricerche intorna a Leonardo da Vinci, Serie prima, Volume primo, Torino 1896, S. 85. – Auch Jean Paul Richter nahm, allerdings bloß ein einziges Mal, in einer Rezension, auf den Topos Bezug (Jean Paul Richter, [Rezension von] Charles Ravaisson-Mollien, Les Manuscripts de Léonard de Vinci [Faksimileausgabe von Ms. A], Paris 1881, in: Zeitschrift für bildende Kunst 16 (1881), S. 234): «Gegen einen Spiegel gehalten, verliert die von rechts nach links laufende Originalschrift den fremdartigen, man darf wohl sagen orientalischen Typus, […]». Gegenüber Heinrich von Geymüller scheint er sich auch dahingehend geäußert zu haben, dass man gut beraten sei, sich über längere Zeit im Lesen von Leonardos Schrift zu üben wie beim Erlernen der orientalischen Sprachen (vgl. Geymüller, a.a.O., S. 376; der Vergleich könnte aber vom Autor selbst gewählt worden sein). – Im 19. Jahrhundert bildete der spezifischere Vergleich mit der hebräischen Schrift eher die Ausnahme (so aber bei Jean Paul Richter, Leonardo da Vinci, London 1895 [zuerst 1880], S. 15: «as in Hebrew or Arabic»; und bei Ludwig [Ergänzungsband], S. 13).
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gehalten konnte diese quasi-orientalische Schrift auf dem Papier ja ohne Weiteres gelesen werden (wie schon Luca Pacioli konstatiert hatte, der Leonardo gewissermaßen über die Schulter hatte sehen konnte).36 In einem gewissen, durchaus oberflächlichen Sinne, schrieb Leonardo da Vinci also ‹nach Art der Orientalen›. Aber der Akt der Spiegelung, als die Voraussetzung der Illusion, blieb ein Spezifikum. Vielleicht waren es auch dieser Hauch von Illusionskunst und die Möglichkeit eines leichthändigen Verwandelns von Unlesbarkeit in Lesbarkeit gewesen, die eine ohnehin schon gegebene Disposition, Leonardo zu orientalisieren, noch verstärkte. Denn zur Eigenwilligkeit des Schriftgebrauchs gesellte sich so ein suggestives Fluidum orientalischer Buchstabenmagie, die einer ganz planen alltäglichen Praxis, dem Schreiben, gleichsam innewohnte. Im Nu konnte dieses Potential – gewissermaßen von jedermann – aktiviert und nachvollzogen werden, wenn man nur ein Blatt in Spiegelschrift gegen das Licht hielt und von der Rückseite her betrachtete. Im Nu verlor sich dann – aber auch nur dann – was linkshändiges, linksläufiges Schreiben und der darin enthaltene Akt der Spiegelung möglich gemacht hatten: Es verlor sich dann – und das heißt auch: wenn man Leonardo verstehen wollte – die eher oberflächliche orientalische Konnotation. Unlesbare Schrift37 Eine scheinbare Kultursynthese, könnte man sagen, wohnte Leonardos Schreiben inne, das so ganz anders war, als es die Norm, insbesondere die pädagogische Norm der Zeit, gebot. Aber auch diese Synthese enthielt eine Komponente des Suspekten. 36 Siehe Bambach, a.a.O, S. 32. 37 Vgl. Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, S. 316ff. und 331ff., im Hinblick auf Goethes Aneignung der arabischen Schrift. – Auch die Renaissance kannte im Übrigen diesen Topos, und zwar im Zusammenhang sowohl mit den Hieroglyphen als auch mit der etruskischen Schrift (vgl. Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von Max Theuer, Darmstadt 1988 [Nachdruck der Ausgabe von 1912], S. 428f.). – Mit der reinen Materialität griechischer Buchstaben (in Spiegelschrift) scheint Leonardo in Ms. B zu spielen (2r). Er fügt den Buchstaben, deren Folge keinen Sinn ergibt, zudem diakritische Zeichen hinzu, aber nicht bloß über den Buchstaben, sondern zugleich auch – und gleichermaßen variiert – darunter. Der Effekt der Zeichenanordnung ist das Entstehen einer ‹Pseudo-Schrift›, einer als ‹Schrift› qualifizierbaren Folge von Zeichen, die aber keinen erkennbaren Sinn vermittelt (und womöglich auch keinen Sinn hat als eben den, scheinbare Zeichenhaftigkeit zu sein bzw. visuelle Qualität zu haben). – Eine Art Zeichenwirrwarr ist bekanntlich – erst bei starker Vergrößerung wird es ersichtlich – ein Element in Leonardos Verkündigung (siehe Z I, Abb. auf S. 26f.; vgl. auch N, S. 139 und David Alan Brown, Leonardo da Vinci. Origins of a Genius, New Haven/London 1998, S. 195, Fn 11). Wir sehen gewissermaßen hinein in eine Bibel, die vor Maria auf dem Pult liegt. Aber die Buchstaben scheinen keinen anderen Sinn zu haben als visueller Ausdruck von (vielleicht orientalisch konnotierter) Zeichenhaftigkeit zu sein. – Arabische Buchstaben zur Wiedergabe einiger türkischen Brocken, vermutlich nicht von Hand Leonardos, finden sich in Ms. I (zum bislang neuesten Fortschritt in Sachen Entzifferung siehe Carlo Pedretti, Leonardo in Sweden, in: ALV 6 (1993), S. 210).
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Denn wer nur oberflächlich damit konfrontiert war, hielt die Schrift für unlesbar, für eine Geheimschrift oder eben für ‹unverständlich wie Chinesisch›.38 Es handelte sich – soviel schien klar – um Schrift. Aber ihr Sinn entzog sich – wie im Falle orientalischer Schriften, die in dekorativer Funktion ja auch in der Kunst der Renaissance adaptiert worden sind – dem Betrachter und wohlgemerkt nicht bloß dem abendländischen. Nicht ob einer Verwilderung, sondern ob einer – wahrscheinlich einer pädagogischen Vernachlässigung im Schulalter geschuldeten – Extravaganz eines Linkshänders aus der ländlichen Umgebung von Florenz. Und so entwickelte sich eine Rezeptionsweise, die Leonardos Schreibduktus eben so wahrnahm, wie konventionellerweise orientalische Schriften von Nicht-Schriftkundigen wahrgenommen werden: als eindrückliche Beispiele von Schrift, auch und insbesondere in ihrer flächigen Gestaltung, aber ihrem Sinn nach unzugänglich, so dass sich ein Betrachter auf die rein optische Qualität, auf das rein Gestalterische zurückgeworfen sieht. Eben dieser Effekt stellt sich auch ein, wenn – wie in der visuellen Kultur der Gegenwart, in Werbung und Design – Leonardos Schrift als rein dekorativer Hintergrund verwendet wird. Die Schrift allein vermag die Aura des Leonardo-Mythos zu evozieren, zumal wenn sie von Skizzen oder Zeichnungen durchsetzt ist, was den Wiedererkennungswert noch steigert. Aber ihr Sinn – was weithin nicht zu stören scheint – entzieht sich uns. Es ist ‹unlesbare Schrift›, symbolhaft eingesetzt, nicht als ein Vehikel des Verständlich-Machens, sondern um der suggestiven Qualität willen, die ihr auch innewohnt.39 Diese suggestive Qualität verliert sich als ein Effekt der Transkription. Man könnte auch sagen, und dies ist in der Vorausschau auf das Weitere bedeutsam: Die ‹orientalische Komponente› verliert sich als ein Effekt der Entzifferung und der Lektüre Leonardos. Mit einem Wort: Wer sich um ein Verstehen Leonardo da Vincis bemüht, läuft weniger Gefahr, suggestiven Vergleichen – oder auch Thesen – zu erliegen. Am Beispiel der Schrift lässt sich dies modellhaft zeigen. Aber in Übertragung dieses Denkmodells auf andere Beispiele wird uns dieser Effekt der Entzauberung im Weiteren noch ein manches Mal vor Augen treten. Nachdem nun eine Generaldisposition der Überlieferung betrachtet worden ist, außerdem auch rhetorische Konventionen und problematische Vergleiche, können wir vor diesem Hintergrund den Gesamtkomplex ‹orientalische Frage› betrachten. Nicht dass dieser Fragenkomplex auf nur einen einzigen Nenner gebracht werden könnte, aber fünf analytische Grundgedanken reichen aus, um das Gesamtdispositiv der ‹orientalischen Frage› gedanklich zu erfassen. Diese fünf Gedanken seien in der Folge ausgebreitet. 38 Julius von Schlosser würzte seine Ausführungen im Rahmen seines Überblicks über die Leonardo-Literatur seinerzeit mit dem Hinweis, dass man Leonardos Aufzeichnungen einst für Chinesisch gehalten habe (Julius [von] Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 141). 39 Auch in der seriöseren Literatur sind Reproduktionen von Blättern, die nebst Skizzen oder Zeichnungen auch Text enthalten, eher selten konsequent die entsprechenden Transkriptionen und Übersetzungen beigegeben.
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4. Die ‹orientalische Frage› als Gesamtkomplex: Fünf Leitgedanken Die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung, die in sich ein sehr vielschichtiges Phänomen darstellt, lässt sich in Formulierung von fünf Leitgedanken gewissermaßen gedanklich rekonstruieren. Jeder Gedanke versucht, je einen analytisch isolierten Sachverhalt – und zwar meist einen dynamischen Sachverhalt – zu fassen. Als Konglomerat entsteht ein auf das Wesentliche reduziertes gedankliches Modell. Zunächst seien die fünf Leitideen – in knappster Fassung und nacheinander – vorgestellt. Danach sei das analytische Potential, das ihnen innewohnt, im Einzelnen entwickelt. Die These, dass Leonardo da Vinci im Orient gewesen war, bestätigte in ihrer Extravaganz und Phantastik – erstens – eine allgemeine Erwartung an diese Figur. Allerdings bestätigte sich diese Erwartung – zweitens – um den Preis einer ungekannten Entfremdung des Publikums von ihr. Als an sich selbst erklärungsbedürftig – also als ein Explanandum – leiteten sich von der These – drittens – Erklärungen diverser, meist biographischer sowie kunsthistorischer Sachverhalte ab. Bisher Unerklärtes schien weniger rätselhaft und die Figur gleichsam in ein neues Licht getaucht. Viertens zeigte sich auch, dass die These geeignet war, ein allgemeines Ausgreifen der kollektiven Phantasie zu stimulieren. Man griff aus ins Sinnbildhafte und Symbolische: Leonardo, ohnehin schon eine schillernde Figur des europäischen Bewusstseins, ein Repräsentant der europäischen bzw. westlichen Kultur, konfrontierte sich gleichsam stellvertretend mit dem Anderen und setzte sich neuen, in seinem Kulturkreis nicht erlebbaren Erfahrungen aus. Je freier allerdings die stimulierte Phantasie sich regte, desto deutlicher öffnete sich – fünftens – auch eine Kluft: Leonardo, entworfen als eine sinnbildhafte Figur, erschaffen nach Maßgabe des Wünschbaren oder des Träumerischen, war mit dem historischen Vorbild, mit dem historischen Individuum Leonardo tendenziell immer weniger in Deckung zu bringen. Auf das Vorbild, also auf den historischen Leonardo, fielen freilich stets die Erwartungen zurück, die auf der Grundlage der imaginativ stark überformten populären Leonardo-Bilder sich bildeten. Der erste Gedanke fasst die Erwartungsbildung zusammen, die oben erläutert worden ist. Stets außerhalb des Gewöhnlichen operierend kann Leonardo im Grunde gar nicht anders, als stets aufs Neue für Überraschungen zu sorgen. Er ist ein Inbegriff des. Staunen Erregenden und das europäische Publikum hat sich seit Langem darauf eingestellt. Der Inhalt der Überraschung, dass es ihn in den Orient gezogen hatte, irritierte allerdings das Identifikationsbedürfnis all jener Kreise, die ihr Selbstbild in Abgrenzung zum Orient entworfen hatten. Einem Grenzgänger mochten manche folgen, manche sogar mit Begeisterung. Anderen widerstrebte die Vorstellung aber zutiefst. In diesem Spektrum möglicher Reaktionen bildete ein Spektrum europäischer Identitätsvorstellungen sich ebenfalls ab.
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Sich mit der Vorstellung zu befreunden fiel umso leichter, als anderes Befremden dadurch entfiel. Es gab nun einen neuen Denkansatz, aus dem Entwicklungen – im Werk Leonardos oder in der europäischen Kunstgeschichte überhaupt – sich neu und anders denken ließen. Die poetische Freiheit, die sich manche nahmen, ausgesprochen oder insgeheim, zeigte sich beflügelt von dem ‹Bild›. Wen anders als Leonardo mochte man ausschicken – als einen Stellvertreter oder Kundschafter – in einen Raum, den man als Gegenseite, komplementäre Ergänzung oder als lockende Fremdheit imaginierte?40 Und zwei Typen der Imagination begegnen immer wieder: Einmal wurde die Reise als fruchtbare Begegnung gedacht, ein anderes Mal als Konfrontation. Schließlich exemplifiziert sich – in der fünften Tendenz – das ganz allgemeine Paradox der historischen Imagination, die an eine ‹historische Wahrheit› zwar rückgebunden bleiben will, aber andererseits doch die Freiheit der Phantasie, also die ‹poetische Lizenz› (‹artistic licence›) für sich beansprucht.41 Ein innerer Haken der Überlieferung Eine bloße Auflistung der fünf Tendenzen macht noch nicht genügend deutlich, dass einige der Tendenzen auch in einen spannungsreichen Widerstreit gerieten und in ihrer Wirkung gleichsam aufschaukelten. Insbesondere von einem ‹inneren Haken› der Überlieferung muss nochmals vertieft die Rede sein, weil das kollektive europäische Bewusstssein immer von Neuem in diesen Widerstreit, in dieses Dilemma geriet. Leonardo entfremdete sich, wenn er tatsächlich in den Orient gereist war, für eine gewisse Zeit oder sogar auf Dauer, seiner Herkunftskultur, die dazu tendiert, sich mit ihm als ihrem womöglich größten Leistungsträger zu identifizieren. Es entsprach dies auch der Erwartung, von Leonardo überrascht zu werden – und doch auch wieder nicht, denn der Inhalt der Überraschung unterminierte die Möglichkeit einer unbefangenen Identifikation. Ein nervöses Suchen nach Erklärungen, angetrieben von dem Wunsch, über den Zwiespalt hinwegzukommen, war die Folge. Die eigentliche Tragweite der ‹orientalischen Frage› – sie war nicht einfach einzuschätzen – ergab sich von diesem inneren Widerstreit her. Die Sache erschien zwar einerseits bloß kurios zu sein, aber sie berührte doch die kulturelle Identität einer Identifikationsfigur im Kern. Und das allein stellte jede, auch die nationale Identifikation potentiell in Frage. Alles hatte man erwartet, aber dass Leonardo die Zugehörigkeit zum europäischabendländischen Kulturkreis aufs Spiel gesetzt haben sollte, erschien doch als eine (zu) 40 Wie wir noch sehen werden – aber es ist zu früh, dies hier schon auszuführen – hat sich Leonardo da Vinci als eine solche Kundschafterfigur im Orient literarisch selbst erschaffen. 41 Vgl. im Rahmen dieser Studie insbesondere Kap. 5 des Haupttextes. – Diese fünfte Tendenz stellt ein ganz allgemeines Phänomen der Leonardo-Rezeption dar, das sich hier am Beispiel der ‹orientalischen Frage› exemplifiziert.
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starke Zumutung. Fast war es gleichgültig, ob es sich wirklich so verhielt: Die Idee, einmal gedacht, artikuliert und formuliert, war nicht zurückzunehmen. Re-Lektüren einer Rezeptionsgeschichte Es lohnt sich, den Gesamtkomplex ‹orientalische Frage› aus der Geschichte der Leonardo-Rezeption herauszuarbeiten. Unsere fünf Leitideen dienen dabei als ein analytisches Raster, geeignet, eine komplexe, vielschichtige Wirklichkeit analytisch zu durchdringen. Unser Blick wird dabei auf ein kulturelles Gesamtgefüge gerichtet sein, nicht bloß auf Wissenschaftsgeschichte. Im Bewusstsein, dass Repräsentationen des historischen Leonardo in vielen Welten gleichsam koexistieren, blicken wir vielmehr auch auf die Wechselwirkung der populären und der von der Institution ‹Wissenschaft› geschaffenen Leonardo-Bilder. Hier den Standpunkt wissenschaftlicher Hybris zu wählen, die sich einbildet, gegen den Mythos ihr eigenes, wahres Leonardo-Bild zu setzen, verbietet sich von selbst. Anzustreben ist vielmehr eine Betrachtungsweise, die jedem Traditionsstrang für sich angemessen ist. Der Donquichotterie, den Mythos gleichsam auszukehren, wollen wir nicht verfallen; vielmehr wollen wir mythische Strukturen, sofern wir es mit ihm zu tun bekommen, in ihrer ureigenen Funktion verstehen, was eine Begriffsklärung voraussetzt. Diese Klärung sei im Folgenden im Hinblick auf die drei Leitbegriffe, die auch im Titel dieser Studie stehen, unternommen.
5. Leitbegriffe: ‹Orient›, ‹Europa›, ‹Mythos› Bezeichnungen für Himmelsrichtungen sind – über die Richtungsangabe hinaus – meist Chiffren für Komplexeres.42 Dies gilt für die Paarung zweier Begriffe – Nord-Süd oder West-Ost – wie für deren einzelne Bestandteile. Es gibt viele Möglichkeiten, den Begriff ‹Osten› mit Inhalt zu füllen. Und deshalb ist dieser erste Leit- und Titelbegriff hier zunächst ein bloßer Platzhalter. Nicht ein vorbestimmter Inhalt spielt hier eine Rolle, sondern die Problematisierung des Begriffs in Form der Frage: Wessen Orient bzw. wessen Bild vom Orient ist jeweils evoziert? Vom Orient zu reden ruft fast unverzüglich und unweigerlich auch die Orientalismus-Kritik auf den Plan, also die Kritik an westlichen bzw. europäischen Konstruktionen des Orients.43 In ihrem Entlarvungsgestus hat diese Kritik sich auf zwei Fassungen des Orient-Begriffs (bzw. auf zwei Formen des Orientalismus) sozusagen spezialisiert 42 Vgl. C. D. Kernig, [Art.] Osten, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, Darmstadt/Basel 1984, Sp. 1394–1396. 43 Die Orientalismus-Kritik ist auf dem Wege zu ihrer eigenen Historisierung. Eine sachkundig-nüchterne Einschätzung gibt: Reinhard Schulze, Orientalistik und Orientalismus, in: Werner Ende / Udo Steinbach (Hg.), Der Islam in der Gegenwart, München 2005 [5. Auflage; ursprünglich 1984], S. 755–767.
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und auch fixiert: auf die Kritik an einem Orient als Projektionsfläche zum einen, auf die europäische Wunsch- und Angstvorstellungen projiziert worden sind (dieser Orient ist also immer bloßes Spiegelbild des Eigenen); und auf die Kritik eines – wie auch immer verzerrten – Orient-Bildes, das als Legitimationsinstrument einer realen Beherrschung des damit bezeichneten Raumes dienlich war und ist. Orientalismus-Kritik sollte allerdings nicht an die Stelle eines eigentlichen Sprechens über den Orient treten, es also ersetzen, und in genau diese Falle ist die OrientalismusKritik mitunter geraten. Dabei erspart sie sich zweierlei: Erstens geht häufig die Erkenntnis verloren, dass ein Hinsehen auf einen kulturgeographischen Raum immer nur von einem bestimmten Standpunkt aus möglich ist – und Europa ist (neben anderen) eben ein möglicher Standpunkt. Und zweitens bedarf die Kritik am Orient-Begriff eines anderen stets einer Referenz. Sie ist nicht ohne Maßstab zu haben und setzt die Wahl eines eigenen Maßstabs voraus, an dem die Haltbarkeit des Orientbildes eines anderen bemessen wird (sofern man sich ein Urteil anmaßt). Mit einem Wort: Das Zerrbild ist nur dann als solches zu erkennen, wenn es mit einem (richtigeren, angemesseneren) Bild oder gar dem Vorbild selbst verglichen wird. Dieser Maßstab kann nun nur ein haltbareres, verantwortlicheres Sprechen sein. Es kann also nie von Orientalismus allein die Rede sein, sondern es bedarf stets auch der Referenz. Das eigene Sprechen über den Orient muss einer Kritik am Orientalismus eines anderen beigegeben sein. Zusammenfassend auf eine kurze Formel gebracht: Die beste Kritik an mangelhaften und fragwürdigen Sprechweisen über den Orient ist die differenzierte und informative Sprechweise, die zudem um die Unhintergehbarkeit einer Perspektivwahl weiß.44 Im Rahmen dieses Buchs wird von den unterschiedlichsten Sprechweisen und Orient-Vorstellungen die Rede sein. Diese Vielfalt kann nicht über den einen Leisten einer stereotypen Orientalismus-Kritik geschlagen werden (ohne deshalb ein kritisches Bewusstsein gleich aufgegeben zu müssen). Die Vielfalt eröffnet vielmehr die Chance zum Vergleich. Es relativiert sich die einzelne Sprechweise in der Fülle der Alternativen. Differenzierung ist möglich; und ein ganz spezifisches Sprechen steht im Vordergrund. Es ist zu zeigen, wie Leonardo da Vinci als ein historisches Individuum, als ein Kind seiner Zeit, aber auch in eigenwilligen Abweichungen von zeitüblichen Sprechweisen, selbst vom Orient gesprochen hat. Weder ist dieses konkrete Sprechen von einer etwaigen Kritik an ihrem ‹orientalistischen› Gehalt auszunehmen, noch ist die Chance zu verspielen, gerade an diesem Sprechen einer für ihre Neugierde und Sensibilität berühmten Persönlichkeit ein kritisches Bewusstsein auch zu schärfen.45 44 Drei Hauptschwerpunkte im Rahmen der Gesamtthematik ‹Leonardo und der Orient› haben sich herausgebildet. Indem der Rezeptionsgeschichte gefolgt wird, verlagert sich der Fokus zwischen drei Hauptthemenfeldern – drei Spannungsfeldern – hin und her: ‹die islamische Welt und der Westen›; ‹China und der Westen› und als ein Teilthema des erstgenannten Feldes: ‹die Türkei und der Westen›. In Anhang A kommt eine kulturgeographische Auffächerung des Orient-Begriffs zum Tragen. – Russland bzw. der osteuropäische Kulturraum ist hier eher am Rande berücksichtigt (vgl. aber die Ausführungen zu Dimitri Mereschkowski in Kap. 1). 45 Dieser Aspekt ist Thema einer eigenen Erörterung im Rahmen des Anhangs.
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Gegenbegriff ‹Europa›? Obschon Leonardo da Vinci natürlich eine europäische Symbolfigur par excellence darstellt, verkörpert er – dies ist paradox – eigentlich keine spezifische, identitätspolitische Idee von Europa. Vielmehr nimmt ihn – als eine Art Allgemeingut – fast jeder politischkulturelle Zusammenhang für sich in Anspruch: der kommunale, regionale, nationale und eben auch der supra-nationale, d.h. europäische.46 Meist scheint in den Zusammenhängen dieser Indienstnahmen bloß ein Teilaspekt der Gesamtpersönlichkeit von Interesse zu sein (der es allerdings jeweils rechtfertigt, die Gesamtpersönlichkeit für x-beliebige Interessenlagen in Dienst zu nehmen).47 Leonardo da Vinci ist allerdings zweifelsohne eine Figur, die seit jeher der europäischen Kulturgeschichte zugeordnet worden ist. Er gilt als der Inbegriff des Malers, und er gilt als der Inbegriff eines Künstler-Ingenieurs.48 Man verortet ihn – auch außerhalb von Europa – in der Kulturgeschichte der italienischen Renaissance, wie auch immer man sie sieht; und eben diese Verortung – indem man die ‹orientalischen Frage› aufwarf – war prekär geworden. ‹Europa› ist nicht notwendigerweise ein Gegenbegriff zum Orient. Aber das Denken in diesem Gegensatz ist ein Kontinuum der europäischen Kulturgeschichte, die im Rahmen einer historisch orientierten Untersuchung nicht einfach übergangen werden kann.49 Der Begriff ‹Europa› hat sich auch zur Zeit der Renaissance – nämlich unter dem Eindruck der Türkenbedrohung und damit in Abgrenzung zum realen wie imaginären Feind – mit einem spezifischen Inhalt gefüllt. Und das Denken in dem besagten Gegensatz ist nicht zuletzt ein Erbe dieser konfrontativen Geschichte, die zwar überformt oder vergessen werden kann, aber deshalb nicht einfach entfällt, sondern eben unterschwellig weiterwirkt, auch und beispielsweise in der Denkblockade, ‹Europa› und den ‹Orient› nicht als ein Gegensatzpaar denken zu sollen, weil es politisch opportun erscheint.50 Erneut steht hier zu fragen, wie denn der historische Leonardo selbst, der im Laufe seines Lebens in vielfältiger Weise persönlich mit der Türkenbedrohung konfrontiert worden ist, dieses Verhältnis gedacht hat. Ferner ist zu fragen, wie es im 19. Jahrhundert gedacht worden ist, als das Osmanische Reich Teile des geographischen Kontinents Europa noch beherrschte. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist im Rahmen dieser Untersuchung ein reiches Anschauungs46 Leonardo da Vinci fungiert als Namensgeber eines Programms der Europäischen Gemeinschaft zur Förderung der grenzüberschreitenden beuflichen Bildung und unter dem Patronat des Europarats steht ‹The Universal Leonardo› – als ein multinationales Ausstellungsprojekt. – Daneben gehört insbesondere der so genannte Vitruv-Mann zur gemeineuropäisch Gemeinschaft stiftenden Symbolik bzw. zum visuellen Gemeingut. 47 Spezifische, fast noch zeitgenössisch zu nennende Indienstnahmen sind Thema von Kap. 5. 48 Als Universalgenie gedacht verkörpert er allerdings auch einen Typus, der in den verschiedensten Kulturräumen aufgefunden werden kann. Vgl. diesbezüglich die ‹Bilanz›. 49 Vgl. Gereon Sievernich / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800–1900, Gütersloh/München 1989. 50 Von diesen Opportunismen und Ambivalenzen ist in Kap. 5 die Rede.
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material zu durchmustern. Nicht nur der Inhalt einzelner Begriffe relativiert sich in einem Pluralismus der Anschauungen, auch das Verhältnis, die Verhältnisbestimmung zwischen einzelnen Begriffen, gerät hier in Bewegung. Mythos ‹Leonardo› Als dritter Eckpunkt eines Dreiecks der Leitbegriffe fungiert der Mythos-Begriff, der hier als ein ähnlicher Platzhalter aufgefasst ist wie der Begriff ‹Orient›. Allerdings stehen hier weit weniger begriffliche Fassungen zur Debatte. Im Grunde genommen sind es bloß drei: Mythos kann verstanden werden als eine ‹irrige Vorstellung›. Und die Debatte über die ‹orientalische Frage› ist als eine Geschichte durchaus auch durchsetzt von – aus heutiger Sicht – irrigen Vorstellungen. Aber ihre Geschichte kann nicht als die Geschichte einer irrigen Vorstellung, also eines ‹Märchens› im abschätzigen Sinne, geschrieben werden. Dazu ist der Gesamtzusammenhang, der hier im Folgenden aufgefächert werden wird, zu komplex. Und vor allem ein Befund wird zu vergegenwärtigen sein: Gedanklich hat sich auch Leonardo da Vinci in den Orient begeben. Der Grundgedanke, der hier allem zugrunde liegt, entsteht, wie wir noch genauer sehen werden, buchstäblich im Kopf des historischen Leonardo. Dieser Befund ist mindestens so interessant wie die Idee einer eigentlichen Reise (die sich allerdings als Mythos im Sinne einer ‹irrigen Vorstellung› entpuppt). Denn man fragt sich, ob vielleicht schon Leonardo auch Vorstellungen vom Orient gleichsam aufgesessen ist, die man heute als Orientalismen kritisieren würde. Ein zweiter Mythos-Begriff überformt den ersten: Als Mythos ist hier vor allem auch ein wild wucherndes Erzählkonstrukt bezeichnet, das sich aus immer wieder ähnlichen Bestandteilen stets neu zusammensetzt, irrige Vorstellungen enthält, vor allem aber auch sinnbildlichen Gehalt. Und genau diese Ambivalenz zeichnet sich ab in der Geschichte der ‹orientalischen Frage›. Und drittens geht es um eine Figur von außerordentlicher Prominenz, um eine ‹Schlüsselfigur der europäischen Imagination›, deren Allbekanntheit es rechtfertigt, sie einen ‹europäischen Mythos› zu nennen.51 Der Mythos ‹Leonardo› bildet die vielleicht umfassendste Struktur, die alle beiden anderen Begriffe in sich beschließt. Der MythosBegriff erscheint so – ob seiner Ambivalenz – als geeignet, in der Konfrontation mit dem historischen Material die Differenzierung hervorzutreiben (ganz ähnlich wie der OrientBegriff). Und auf die Differenzierung, aus der letztlich auch Klarheit und Transparenz hervorgeht, ist dieses Buch seinem Impetus nach aus. 51 Vgl. Christine Strobl / Michael Neumann (Hg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 4 (Renaissance), Regensburg 2006 [mit einem Beitrag von Thomas Frangenberg zu Leonardo]. In dieser Reihe kommen auch sinnbildliche Aspekte von historischen und fiktiven Figuren zur Sprache. – Im englischsprachigen Raum scheint man eher den Terminus ‹legend› zu bevorzugen. Vgl. Turner, a.a.O. (als die bislang umfassendste, allerdings nicht bis in die jüngere Gegenwart geführte Darstellung).
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6. Zur Anlage des Buchs Das vorliegende Buch gibt eine Darstellung des Gesamtkomplexes ‹orientalische Frage› in einem problemgeschichtlichen Längsschnitt. Es orientiert sich – chronologisch – an den markanten ‹Stationen› der Forschungsgeschichte, also der fachlichen Diskussion, erweitert die Betrachtung aber auch auf Phänomene des außerwissenschaftlichen, gesellschaftlichen Raums. In diesen Raum gibt die Forschung Impulse hinein und wirkt somit auch auf die Künste und auf die Literatur ein. Sie empfängt aber auch Impulse, die aus diesem Außenraum in die Forschung hineinwirken; und beides ist – in dem hier gesteckten kulturwissenschaftlichen Rahmen – gleichermaßen zu berücksichtigen. Wissenschaftsgeschichte ist vom jeweils aktuellsten Stand der Forschung her zu schreiben, denn von diesem Standpunkt aus ist die Geschichte zu problematisieren. Dies heißt nicht, dass per se ein überlegener Standpunkt beansprucht werden würde, sondern bloß der neueste, verantwortlich haltbare Stand der Forschung. Es kommt – nebenbei bemerkt – auch vor, dass richtige Ideen nur in Vergessenheit geraten sind und sich in der Rückschau als Bahn brechende Ideen entpuppen. Diese Arbeit ist in einer Doppelperspektive gehalten: Sie blickt – vom Standpunkt der heutigen Forschung – in die Forschungsgeschichte zurück. Und sie arbeitet der weitergehenden Klärung aller aufgeworfenen Fragen damit auch vor. Dies vornehmlich in Form von zwei umfangreicheren Beiträgen, die dem Haupttext eingearbeitet sind, und in Form des Anhangs, aber auch indem viele kleinere, neu gewonnene Einsichten in die eigentliche Darstellung der Forschungsgeschichte eingewoben sind. Formal ist die Darstellung als eine Erzählung gehalten, die das Erzählte stets auch problematisiert. Reflexive und rekapitulierende Abschnitte wechseln also einander ab oder sind ineinander verwoben. Der problemgeschichtliche Längsschnitt, der auch als ein Leitfaden zur Geschichte der Leonardo-Forschung als solcher gelesen werden kann, gliedert sich in insgesamt fünf Etappen: – Das erste Kapitel führt ein in die eigentlich grundlegende Diskussion, die 1881 angestoßen worden ist. Es macht mit dem ‹Personal›, den Leonardisten des ausgehenden 19. Jahrhunderst bekannt und rekonstruiert den eigentlichen Diskussionszusammenhang. Es gilt dabei, die grundlegenden Positionen, Ideen und Tendenzen aufzuzeigen, denn die grundlegenden, auch im 20. Jahrhundert nachwirkenden Ideen haben sich in dieser Zeit, dem Fin de siècle, ausgebildet. – Nach einer eigentlichen ‹Tendenzwende› der Diskussion – die ‹orientalische Frage› verlagerte sich von einem biographiegeschichtlichen Problem hin zu einem Problem der Literaturwissenschaft und -geschichte, stellte die ganze Problematik sich neu: Dieser literaturgeschichtlichen Problematik, auch der Entdeckung Leonardos als eines Autors und Lesers, ist das zweite Kapitel gewidmet. – Mitte des 20. Jahrhunderts verkomplizierte sich die ‹orientalische Frage› erneut, als man von Leonardos Ansinnen und eigentlichen Bemühungen erfuhr, in Istanbul
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eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen. In diesem, dritten Kapitel, ist Leonardo- und Michelangelo-Forschung parallel zu führen. In einem eigentlichen Herzstück der Untersuchung ist eine neue Darstellung der Angelegenheit gegeben, die mitten hinein führen in das symbolische Zentrum der Renaissance, in das Florenz der Jahre 1501–1506. – In verschiedene Stränge fächerte sich die Rezeption der ‹orientalischen Frage› sodann auf, obschon auch einige Gedanken zwecks einer Synthesebildung entwickelt wurden. Es entstanden freie Fortschreibungen von Leonardos Texten und neue Deutungen, bis – erst in den 1980er Jahren und auf einem ganz anderen Forschungsfeld – die Grundlagen gelegt worden sind, die ‹orientalische Frage› – als einer Frage der Literaturwissenschaft und -geschichte – wirklich einer Klärung zuzuführen. Das vierte Kapitel führt zu einer solchen Klärung hin, indem es eine Deutung präsentiert, die alle heute bekannten Hintergründe einbezieht. – Das letzte Kapitel thematisiert sodann die Leonardo-Rezeption der 1990er Jahre, im Rahmen derer die im Fin de siècle gesäten Ideenkeime neue Blüten getrieben haben. Der Leonardo-Roman entdeckte nun die ‹orientalische Frage› für sich; und in der Kunstwissenschaft erlebte die Suche nach dem Exotischen und Orientalischen im Innenraum der Renaissance in den späten 1990er Jahren einen eigentlichen Boom. Die Darstellung schließt mit einem Fazit und einem Anhang, der auch für sich gelesen werden kann. Eingeleitet durch vier themenspezifische Erörterungen und eine methodische Vorbemerkung ist abschließend ein synoptischer Überblick über sämtliche auffindbaren Orientbezüge im Werk und in den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis gegeben. Die Thematik in ihrer engeren Fassung ‹Leonardo im Orient› weitet sich zur Thematik ‹Leonardo und der Orient›. In dem Anhang vervollständigt sich also die komplementäre Grundstruktur des Buchs. Es blickt auf Forschung in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung zurück und schreibt Forschung – im problemorientierten Dialog mit der eigenen Geschichte – auch weiter. Es arbeitet somit an einer weiteren Klärung aller aufgeworfenen Fragen auch mit.
7. Anmerkungen zur Zitierpraxis Die Editionssituation auf dem Felde der Leonardo-Studien ist nicht ganz leicht zu überblicken, die Zitierpraxis uneinheitlich; alles in allem ergibt sich – von außen betrachtet – ein ziemlich verworrenes Bild. In dieser Verworrenheit liegt aber auch, wiewohl nicht auf den ersten Blick erkennbar, eine Chance. Es liegen die verschiedensten Werkzeuge bereit, die es erlauben, sehr flexibel zu arbeiten, vorausgesetzt, dass man um Stärken und Schwächen dieser diversen Werkzeuge, die oft in einer Konkurrenz der Methoden, Editionsphilosophien und Ressourcen entstanden sind, auch weiß.
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Grob gesagt gibt es drei hauptsächliche Typen von Werkzeugen, was die unmittelbare Arbeit mit Texten Leonardos angeht (andere Hilfsmittel wie etwa Chroniken und Bibliographien einmal beiseite gelassen): Es gibt zunächst die monumentalen, autoritativen Faksimile-Editionen der Handschriften und Zeichnungen samt den autoritativen Transkriptionen, die sie enthalten. Auf sie ist zurückzugreifen, wenn höchste philologische Genauigkeit erforderlich ist, doch Orientierung in der Leonardo-Forschung bieten diese Editionen, die keine Übersetzungen enthalten und auch nicht jedermann ganz einfach verfügbar sind, nicht per se. Vielmehr lassen sie den Nicht-Fachmann stets etwas ratlos zurück. Zum Zweiten gibt es die Anthologien, deren Problematik im zweiten Hauptkapitel ausführlich ausgebreitet werden wird. Sie liegen in großer Zahl und in vielen Sprachen vor, sind in der Regel auch viel einfacher greifbar, bieten ein Weniger an philologischer Genauigkeit, aber ein Mehr an Überblick (vor allem dann natürlich, wenn sie gute Indices enthalten). Ihr Nachteil (oder jedenfalls ihre Besonderheit) ist es, dass sich die Sichtweisen der jeweiligen Herausgeber auf Leonardo den jeweiligen Editionen auch eingeschrieben haben (was im Hinblick auf die Faksimiles weniger zum Tragen kommt). Schließlich gibt es eine Form der Edition, die man als ‹Sonderedition› bezeichnen könnte. Ein bestimmtes thematisches Material ist – oft in eigentlichen Monographien – unter bestimmten Gesichtspunkten zusammengezogen und ediert worden. Solche Sondereditionen behandeln jeweils thematisch geschlossene Teilkomplexe des Werks aufgrund einer besonderen Fragestellung. Im Rahmen dieser Studie kommen nun alle diese Werkzeuge zur Geltung: Wenn höchste philologische Exaktheit gefragt ist, ist auf die Faksimiles Bezug genommen. Der Beleg nach dem Ort im Manuskript zeigt – im Rahmen dieser Studie – immer eine tatsächliche Konsultation der Faksimiles auch an (was in der Leonardo-Literatur keineswegs die Regel ist). Wenn es allerdings darum geht, thematische Zusammenhänge bloß überblicksweise aufzuzeigen, oder wenn höchste Genauigkeit nicht vordringlich erscheint, kommen demgegenüber auch die Anthologien zu ihrem Recht (je nach Wichtigkeit der Stelle ist zudem in Klammern ein Verweis auf die entsprechende Stelle im Manuskript gegeben). Und auch bezüglich der ‹orientalischen Frage› gibt es eine Sonderedition, die in einer Monographie enthalten und hier beigezogen ist.52 Alles in allem ist so ein flexibles Arbeiten möglich, das einem Anspruch an philologische Genauigkeit ebenso gerecht wird, wie es einer Pedanterie entrinnt, die sich in endlosen Auflistungen von Textstellen ergeht. Zitiert wird nach den Quellen, sofern es sich um Schlüsselquellen handelt, und nach den Sekundärquellen bzw. Anthologien, sofern es um thematische Zusammenhänge im Leonardo-Kosmos geht. 52 In: Joseph Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958. Vgl. [auf beigelegter CD-ROM] auch Anhang B, der sich an diese Studie anlehnt.
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Verwiesen wird darüber hinaus auf weiterreichende Möglichkeiten, nötige Informationen zu finden, falls ein bestimmter thematischer Zusammenhang weiter verfolgt werden will. Es ist beispielsweise unerheblich, sämtliche Manuskriptstellen zu kennen und aufzulisten, an denen Leonardo da Vinci den Nil erwähnt; aber es ist gut zu wissen, wie ein solcher Gesamtüberblick rasch gewonnen werden könnte, falls es denn nötig wäre. Der Codex Atlanticus, dies sei abschließend erwähnt, ist sowohl nach neuer wie nach alter Zählung ausgewiesen, denn in einem Durchgang durch die Forschungsgeschichte, wie hier unternommen, ist es von höchster Wichtigkeit, nach allen Seiten hin – zur Vergangenheit wie zur Gegenwart – anschlussfähig zu sein und zu bleiben. Und zum Schluss: Da es sich bei dem vorliegenden Buch um eine kulturhistorische und kulturwissenschaftliche Studie handelt, die einer weiten Perspektive auf Kunst, Literatur, Wissenschaft und Politik verpflichtet ist, ist die Zitierweise nicht an den Zitierkonventionen der Kunstgeschichte im engeren Sinne orientiert, sondern an der in der Allgemeinen Geschichte üblichen Praxis. Die Wiedergabe der türkischen, persischen und arabischen Namen orientiert sich an den in der deutschsprachigen Standardliteratur üblichen Konventionen und zielt eher auf Lesbarkeit, als auf allerhöchste philologische Genauigkeit.
II. Leonardo da Vinci im Orient. Geschichte eines europäischen Mythos 1. Erste Etappe: Ein Gelehrtenstreit im Fin de siècle – die ‹RichterDebatte› und ihr Personal …and it is to be hoped that the question having been raised will be fairly threshed out by competent scholars.1 Douglas W. Freshfield
1.1 «…dass Lionardo thatsächlich im Orient sich aufgehalten hat». Jean Paul Richter (1847–1937) und der versuchte Nachweis einer These Wer war nun der Mann, der sich der Aufgabe verschrieben hatte, den Nachlass Leonardos zu edieren, und der gewissermaßen en passant, d.h. im Zusammenhang mit diesem Hauptgeschäft, die eine, die ganz besondere Frage aufwarf? Zunächst: Ein überspannter Phantast war Jean Paul Richter nicht. Aber auch nicht nur ein eminent fleißiger, grundsolider, zu philologischer Genauigkeit und Disziplin erzogener Privatgelehrter von Ehrgeiz und mit einem regelrecht heiligen Feuer für die Kunst. Dem Unternehmen Leonardo-Forschung kam vielmehr noch ein anderer, nur hin und wieder sichtbar werdender Charakterzug dieser Gesamtpersönlichkeit zugute: Jean Paul Richter ließ sich verschiedentlich in seinem Leben in nachgerade tollkühner Verwegenheit zu abenteuerlichen Unternehmungen auch hinreißen.2 Ein Quentchen Tollkühnheit und Hasardeurtum war ihm neben einer protestantischen Selbstdisziplin, wie sie im Buche steht, also auch eigen; und man fragt sich, ob das Unternehmen Leonardo-Edition je in Gang gekommen wäre, hätte Richter über diese Bereitschaft zum Risiko nicht auch verfügt, eine Bereitschaft allerdings, die eben hin und wieder auch zur Folge hatte, dass er sich verrannte. In den 1870er Jahren – Richter wurde 1877 dreißig Jahre alt – war er auf eine damals neue Denkrichtung aufmerksam geworden. Es war die Kunstkennerschaft Morelli’scher Prägung, die es ihm in ihrer positivistischen Ausrichtung und wissenschaftlichen. . 1 Das Zitat von Douglas W. Freshfield ist enthalten im Anhang zu: Charles W. Wilson, Notes on the Physical and Historical Geography of Asia Minor, Made during Journeys in 1879–82, in: Proceedings of the Royal Geographical Society and Monthly Record of Geography 6 (1884), S. 324. 2 Im Folgenden können diese Unternehmungen freilich nur angedeutet werden. Es handelt sich, neben dem Unternehmung Leonardo-Forschung, um Reisen, berufliche Entscheidungen, aber auch wissenschaftliche Positionsnahmen.
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Strenge antat. Vor allem nach seiner Bekanntschaft mit Morelli schickte Richter sich an, ein Kunstkenner zu werden. Dies erforderte zuallererst ein Bilderstudium. Aber es zog Richter gleichermaßen, immer noch und gewissermaßen auch komplementär zum Studium der Formdetails zu den schriftlichen Quellen, d.h. zu den Schriftquellen der Kunstgeschichte. Paradoxerweise war die Idee, dass Leonardo im Orient gewesen war, somit nicht von einem Gelehrten formuliert worden, der eine generelle Neigung zeigte, über die Quellenlage großzügig hinwegzusehen, sondern ganz im Gegenteil: Diese Idee war, wie wir noch genauer sehen werden, eine ‹Nebenfrucht des Quellenstudiums›; und es war die Idee eines Gelehrten, der ob seines eher trockenen Schreibstils in England eher in den Ruf zu geraten drohte, ein ‹Dryasdust› zu sein, also ein steifer Pedant, der zumal langweilte. 1880 hatte Richter in England eine kleine Leonardo-Biographie veröffentlicht (was er mit einem Anflug von Bedauern später rückblickend als verfrüht erachtete).3 Einem Rezensenten war signifikanterweise aufgefallen, dass Richter, allem Anschein nach nicht ein einziges Mal auf Walter Pater Bezug genommen hatte, dessen Leonardo-Essay seit gut einem Jahrzehnt Furore machte.4 Aber ein Einschlag ins Lyrische, subjektiv sich Einschwingende und Einfühlende – all das, was typisch für die musikalische Prosa eines Pater war – all dies war Richters Sache nicht.5 Und Walter Pater, aller Kritik an der Vasari-Tradition zum Trotz, war dieser Hauptlinie der Leonardo-Überlieferung in seiner Paraphrase der Vita Leonardos noch immer stark verbunden geblieben. Richter hingegen schickte sich an, die Beschäftigung mit Leo-. nardo auf eine ganz neue Grundlage, nämlich auf eine neue Textgrundlage zu stellen: Als Handschriftenforscher und Philologe sollte er das ausgehende 19. Jahrhundert mit den nachgelassenen Notizen und Schriften (und auch vielen Zeichnungen) Leonardos im großen Umfang erstmals bekannt machen. Leonardo da Vinci, in der Sprache seiner Notizen, war damit dem breiteren Publikum wie auch der Fachwelt ganz neu zugänglich gemacht. Zu Recht wird Jean Paul Richter ob dieser Verdienste um die Leonardo-Edition erinnert. Doch vorgezeichnet war dieser Weg für ihn mitnichten, was man erkennt, wenn man auf seine Vita blickt:
3 M/R, S. 119. 4 [Anon.], [Rezension von] Jean Paul Richter, Leonardo da Vinci, London 1880, in: The Academy, Nr. 435 (4. September 1880), S. 178. Bezüglich Pater vgl. A. Richard Turner, Inventing Leonardo, New York 1993, S. 119ff. und insbesondere S. 128ff. (Paters Subjektivismus, rezipiert von Oscar Wilde) und Paul Barolsky, Walter Pater’s Renaissance, University Park/London, 1987. 5 Auch John Ruskin spielte, als Autorität, keine große Rolle für ihn: Vgl. M/R, S. 91 (und S. 101). Wohl teilte Jean Paul Richter die allgemeine zeittypische Vorliebe für die Kunst der Renaissance, er neigte aber auch zugleich – als ‹Kenner› – stark dem Positivismus zu, der als eine komplementäre, auf wissenschaftliche Strenge zielende Gegenströmung zum schwärmerischen Ästhetizismus aufgefasst werden kann.
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Von der Theologie zur Kunstgeschichte Jean Paul Richter6 war von Haus aus Theologe und deswegen auch philologisch vorgebildet. Sein Vater, der indes früh verstarb, amtete zuletzt als Superintendent der evangelisch-lutherischen Kirche in Leipzig. Seine Mutter stammte aus Frankreich. Geboren 1847 in Dresden hatte Richter in Leipzig, wie sein Vater, zunächst Theologie studiert. Danach wurde er im Hause Hessen-Kassel für drei Jahre als Hauslehrer beschäftigt. Aus dieser Zeit, in der es ihm möglich war, auch zu promovieren, stammten erste, auch später noch gepflegte Kontakte zu Kreisen der europäischen Aristokratie.
1 Jean Paul Richter (1847–1937) (nach RV 15/16 (1934–1939), S. VIII)
Von der Theologie herkommend war es ein eher kleiner Schritt hin zur Beschäftigung mit frühchristlicher Kunst und Archäologie, jenem Feld der Kunstgeschichte (bzw. teilweise der Theologie), auf dem sich Richter zuallererst hervortat, bevor er nach und nach – auf vielen Reisen – die Kunst der Renaissance als sein hauptsächliches Lebensthema entdeckte. Vollständig fixieren auf dieses letztere Feld der Kunstgeschichte sollte sich Richter Zeit seines Lebens aber nie.
6 Die hier gegebene Vita stützt sich in ihren Grundzügen vor allem auf drei Hauptquellen: Louise M. Richter, Recollections of Dr. Ludwig Mond, London 1910 [Privatdruck]; Gisela M. A. Richter, My Memoirs. Recollections of an archaeologist’s life, Rome 1972 sowie auf die Korrespondenz Morelli-Richter [zitiert M/R]; ferner auf Nekrologe, auf die wenigen vorhandenen Lexikoneinträge (DoA, DoAH) und natürlich auf die Publikationen. Teilweise ist die Literatur allerdings mit Fehlern behaftet und vor allem lückenhaft. Eine monographische Würdigung Richters in Form einer Biographie ist in Vorbereitung. Diese wird auch aus zahlreichen ungedruckten Quellen – Briefen und Tagebüchern – schöpfen können.
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Jean Paul Richter hatte also promoviert und im Laufe der 1870er Jahre – und im Hinblick auf eine zunächst anvisierte akademische Karriere – eine rege Publikationstätigkeit auf kunsthistorischem und archäologischem Gebiet entwickelt.7 Zudem verfasste (oder revidierte) er – auch dies eher ein Ausweis für Verlässlichkeit – Beiträge für Reiseführer aus dem Hause Baedeker.8 Im Jahre 1876 – nach einer Reise in den Orient –9 suchte und fand Richter in Italien jenen Kontakt zu Giovanni Morelli, der sich im Hinblick auf seine Laufbahn als so überaus wichtig erweisen sollte. Richter avancierte zum Schüler und Schützling Morellis, der, unter dem Pseudonym ‹Ivan Lermolieff› schreibend, die Gruppe der ‹Lermolieffianer› um sich scharte und die einleitend erwähnte kunstpositivistische, morphologische Methode der Bilderbestimmung lehrte (wobei ihm Richter alsbald in enthusiastischer Hilfsbereitschaft zur Seite stand).10 Aller polemischen Fronten zum Trotz und wiewohl man ihn zum Lager der ‹Lermolieffianer› durchaus zählen durfte, zeichnete sich Richter immer auch durch ein gewisses Maß an Unabhängigkeitsbestreben aus. Er war alles andere als ein Dogmatiker, obwohl er – im Rahmen einer Geschichte der Kennerschaft – als Morellis Schüler vornehmlich erinnert wird. Richter pflegte Kontakte, auch über polemische Fronten hinweg (etwa mit Wilhelm Bode und mit Eugène Müntz, die ohne Weiteres Gegner oder Gegenspieler Morellis genannt werden können) und ging immer auch seine eigenen Wege – als Kunstforscher11 und dann auch als marchand amateur; er ließ es andererseits aber an Verehrung und Ehrerbietung für den ‹Meister› – und auch an Dank – nicht fehlen. Wiewohl die Freundschaft sich kurz vor Morellis Tod noch einzutrüben schien – im Ganzen gesehen hatte sie Bestand. Ende der 1870er Jahre begannen sich Richters berufliche und private Verhältnisse allmählich zu klären. 1878 hatte er in Baden-Baden Louise (Luise) M. Schwab geheiratet,12 die in der Türkei geborene Tochter eines süddeutschen Fabrikanten. Das 7 Sein Doktortitel ist schon auf dem Titel seiner frühesten fassbaren Publikation angezeigt (Jean Paul Richter, Christliche Architectur und Plastik in Rom vor Constantin dem Großen. Ein kunstgeschichtlicher Essai, Jena 1872). Wo und wie er seinen Doktortitel erlangte, steht aber noch zu klären. Möglicherweise erfolgte die Promotion in Rostock (vgl. [John Foster Kirk]: [Eintrag] Jean Paul Richter, in: John Foster Kirk, A Supplement to Allibone’s Critical Dictionary of English Literature and British and American Authors, Bd. 2, London 1899, S. 1278; mit einem Hinweis auf die Universitätsausbildung in Leipzig und Rostock). 8 [Anon.], Necrology [Nekrolog Jean Paul Richter], in: American Journal of Archaeology 41 (1937), S. 607. 9 Eine Frucht dieser Reise war unter anderem der Aufsatz Abendländische Malerei und Plastik in den Ländern des Orients, in: Zeitschrift für bildende Kunst 13 (1878), S. 205–210. 10 Siehe Ulrich Pfisterer, Giovanni Morelli (1816–1891), in: ders., Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 1, München 2007, S. 92–109 sowie DoA (Jaynie L. Anderson). 11 Richter zeigte – wie schon gesagt und im Gegensatz zu Morelli – eine starke Neigung auch zur kunsthistorischen Archivforschung. Auch scheint er sich, von der Theologie und der christlichen Archäologie herkommend, stärker für die geistigen Bedeutungsgehalte von Bildern interessiert zu haben. Wiewohl erklärter Morelli-Anhänger war Richter – im Ganzen gesehen – eher eklektisch orientiert. 12 Hochzeit: M/R, S. 69. Biographische Informationen über Louise [Luise] M. Richter finden sich in: Sophie Pataky (Hg.), Lexikon deutscher Frauen der Feder, Bd. 2, Berlin 1898, S. 190.
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Paar siedelte nach London über, wo man sich fürs erste – im Herzen des viktorianischen Kunstlebens – häuslich niederließ. In bescheidenen Verhältnissen lebend, aber nicht zuletzt durch die Empfehlungen Morellis gut eingeführt in die Londoner Kreise, erstellte Richter zunächst – jeweils im Auftragsverhältnis – diverse Sammlungskataloge. Im Jahre 1880 ließ ihm auch Ludwig II. von Bayern, interessiert an den Beständen der Wallace Collection in London bzw. Paris, einen entsprechenden Katalogisierungsauftrag zukommen, dem Richter ebenfalls Folge leistete.13 Indem sich Richter dergestalt als ein Privatgelehrter weiter umtat, dürfte er schon bald auch mit der internationalen Welt des Kunsthandels in Kontakt gekommen sein. Zwar ist Richter als ein marchand amateur erst ab ca. 1884 wirklich fassbar; doch die wissenschaftliche Erforschung der Kunst und das Geschäft mit ihr sollten schon bald jene zeittypische, engere Verbindung eingehen, wobei hier auch anzudeuten ist, dass Richters Ruf als Händler, etwa im unmittelbaren Umfeld der Londoner National Gallery, später nicht der beste war.14 Betrachtet man jedoch allein das Feld der Kunstforschung, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass sich die Familie Richter – als eine Familie – der Geschichte der Kunstliteratur auch eingeschrieben hat – zumal wenn man die späteren Leistungen der beiden Töchter Irma und Gisela einbezieht. Auch Louise M. Richter tat sich in späteren Jahren – ganz wie ihr Ehemann – kunstpublizistisch hervor. Darüber hinaus ist sie ihrerseits – als die erste Übersetzerin einer Schrift Morellis ins Englische – von einiger Bedeutung im Rahmen einer Geschichte der Kennerschaft.15 Zur Fristung der familiären Existenz dürfte aber spätestens ab Mitte der 1880er Jahre der Kunsthandel und die Beratertätigkeit von entscheidender Bedeutung gewesen sein und Richter operierte – auf kommerziellem Gebiet – auch zunehmend professioneller. Nach der Bekanntschaft mit Morelli war es die Bekanntschaft mit dem Industriekapitän Ludwig Mond, einer Pionierfigur der chemischen Industrie in England, die Richters Karriere in neue Bahnen lenkte. Mond, von jüdisch-deutscher Herkunft, hatte Richter schon 1881 kennen gelernt und ihn einige Jahre später, 1884, mit der Aufgabe betraut, eine erstrangige und repräsentative, d.h. möglichst alle Regionalschulen umfassende Sammlung italienischer Kunst aufzubauen.16 Ein wesentlicher Hauptteil dieser Sammlung, mit deren Zusam13 M/R, S. 68f. und 117. Die Wünsche des Bayernkönigs kamen Richter in die Quere, als er hauptsächlich mit Leonardo befasst war (vgl. ebd., S. 216: «täglich frug der König nach»); aber Ludwig II. kommt allem Anschein nach auch das Verdienst zu, Richter durch ein überraschendes Geldgeschenk zur Rückkehr nach London und zur Fortsetzung des großen Leonardo-Projektes motiviert zu haben (siehe Louise M. Richter, a.a.O., S. 5). Richter hatte zu diesem Zeitpunkt noch eher mit einer Universitätskarriere in Deutschland geliebäugelt bzw. gerechnet. 14 Siehe DoA. – Richters Tätigkeit als Kunsthändler, Vermittler und Berater ist noch sehr unzureichend beleuchtet. 15 Bezüglich aller kunstpublizistisch tätigen Familienmitglieder siehe DoAH. Insbesondere die älteste Tochter Irma, die sich zur Malerin ausbilden ließ, hatte später Anteil an den Leonardo-Studien des Vaters und tat sich auf diesem Gebiet auch selbständig hervor. – Das familiäre Leben der Richters, dies sei hier bloß angedeutet, war auch von heftigen innerfamiliären Spannungen durchzogen. 16 Siehe DoA (Art. ‹Ludwig Mond›) und Louise M. Richter, a.a.O., S. 7ff. und S. 13ff.
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menstellung Richter in den Jahren 1885 bis etwa 1895 beschäftigt war, wurde später in Form des so genannten ‹Mond-Bequest› der Londoner National Gallery vermacht.17 Bevor Richter allerdings seine Tatkraft in den Dienst des Aufbaus dieser Sammlung stellte, hatte er die ihm eigene Energie – wie auch Risikobereitschaft und philologische Disziplin – in den Dienst einer anderen Aufgabe gestellt, und zwar in den Dienst der Leonardo da Vinci-Edition. Das ‹Abenteuer› Leonardo-Edition Nach ausgedehnten Wanderjahren, die fast ausschließlich der Kunst und der Archäologie gewidmet waren, fand sich Jean Paul Richter also gegen Ende der 1870er Jahre in den Schlössern, Salons, Auktionshäusern und Bibliotheken Englands wieder. Am 14. Oktober 1879 schrieb er an Morelli: «In der Bibliothek [auf Schloss Windsor] habe ich mehrere Tage Leonardo da Vinci gewidmet, dessen Handzeichnungen ich immer wieder von neuem durchgesehen habe. Es sind deren vier starke Bände. Außerdem drei Konvolute mit Handschriften, in denen ich auch fleißig mit dem Spiegel gelesen habe; denn seit Monaten ist Leonardo mein täglich Brot, und mit seiner Schrift bin ich jetzt so ziemlich vertraut.»18
Richters Leonardo-Studien, die sich hier erstmals anzeigten, standen im Zusammenhang mit Publikationswünschen, die von verschiedenen Seiten an ihn herangetragen worden waren. Im Zuge dieser Studien geriet Richter dann in ein ganz besonderes Fahrwasser. Denn es schien ihm, insbesondere nach einem Besuch auf dem Adelssitz Holkham Hall im Jahre 1880,19 dass unter den in England befindlichen Manuskripten Leonardos auch das ursprüngliche ‹Malerbuch›, also sozusagen die Originalhandschrift, zu finden war. Wie sich nach und nach herausstellte, gab es allerdings kein solches, gleichsam von letzter Hand des Autors redigiertes Original. Was Richter – mit enormer Arbeitsenergie und wachsender Leidenschaft – zusammenzustellen sich anschickte, war ‹bloß› «Trattato-Material». Es waren Leonardos Notizen zur Malerei, die teilweise in die im 16. Jahrhundert entstandene Kompilation ‹Malerbuch› eingegangen waren, teilweise aber auch nicht. Jedenfalls stellten diese Notizen – entgegen der Erwartung – kein wohlgefügtes, wohlgeordnetes Ganzes dar, mit einem Wort: kein Buch. Das Verhältnis des Handschriftenmaterials (in Leonardos Spiegelschrift) und der Kompilation, wie sie (in ‹normaler› Schrift von anderer Hand) im so genannten Codex Urbinas vorliegt, war ungeklärt; und Richter, der durchaus in öffentlichen Ankündigungen den Eindruck erweckt hatte, er habe das originale ‹Malerbuch› gefunden (was den Wert und die Bedeutung des Codex Urbinas natürlich zu mindern drohte), verwickelte sich in der Folge in eine sehr heftige und teilweise giftig geführte Auseinandersetzung 17 Siehe J. M. Cohen, The Life of Ludwig Mond, London 1956, S. 171ff. und Charles Saumarez Smith, Ludwig Mond’s Bequest. A Gift to the Nation, London 2006. 18 M/R, S. 81; später las Richter Leonardos Schrift auch ohne Spiegel (ebd., S. 112). 19 Ebd., S. 108.
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mit dem Maler und Kunstpublizisten Heinrich Ludwig, der 1882 eine Edition des Codex Urbinas besorgte.20 Auf den sachlichen Kern reduziert kreiste diese Kontroverse um die Prinzipien der Leonardo-Edition und den Status der diversen Quellen. Aber damit stand auch die Wichtigkeit und die Publikationswürdigkeit der Letzteren – und damit das Prestige der Herausgeber – in Frage. Insbesondere Ludwig, der sich infolge einer gesundheitlichen Beeinträchtigung von der Ausübung der Malerei auf die editorischen Studien hatte verlegen müssen,21 ging – in aggressiver Verletztheit – mit seinen Invektiven gegen Richter weit.22 Jean Paul Richter hatte nicht von Anbeginn seiner Leonardo-Studien an ein festes Konzept gehabt, was mit dem Material überhaupt anzufangen war. Der Plan einer Leonardo-Anthologie, die alles für die Kunstgeschichte relevante Material enthalten sollte, reifte in Schritten.23 Und auch dieses Konzept, wiewohl der Plan letztlich gelang, ließ sich mit letzter Konsequenz gar nicht befolgen. Denn wo sollte man auch die Grenze ziehen zwischen dem naturwissenschaftlich bedeutsamen Material (das Richter – wie auch Technik und Mathematik – mehr oder minder beiseite ließ),24 und dem für die Kunstgeschichte relevanten Material? War es nicht beliebig, ja regelrecht sinnwidrig, die diversen Tätigkeitsbereiche Leonardos dergestalt voneinander zu trennen und isoliert voneinander zu behandeln? Das kunstinteressierte Publikum jedenfalls war frühzeitig schon, wie auch aus dem einleitend erwähnten Schreiben Jacob Burckhardts hervorgeht, in freudige Erwartung versetzt worden. Und noch um das Jahr 1880 erwartete man im Grunde eine philologisch besser fundierte Neuausgabe des ‹Malerbuchs›, während Richter – seine Pläne laufend korrigierend – allmählich darauf zusteuerte, all jenes Material zu entziffern, zu 20 Die posthume Publikation von Heinrich Ludwigs Ueber Erziehung zur Kunstuebung zum Kunstgenuss (Straßburg 1907) enthält einleitend einen Lebenslauf des Autors, erstellt von seinem Mitarbeiter P. Knapp. 21 Ludwig, a.a.O., S. 20. 22 Bereits Julius von Schlosser hatte allerdings mit einiger Gelassenheit auf diese Kontroverse zurückgeblickt (siehe Julius [von] Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 145). Richters Reputation dürfte seinerzeit allerdings nachhaltigen Schaden erlitten haben, insbesondere durch Ludwigs Invektiven von 1885, im Ergänzungsband zu seiner Edition des ‹Malerbuchs›. Darin bezeichnete Ludwig das Richter’sche Editionswerk von 1883 als «Hocuspocus, der so keck ist, im Gewande deutscher Wissenschaftlichkeit die Wissenschaft und Kunst zugleich zu höhnen» (Ludwig [Ergänzungsband], S. 66). – Richters Edition war in der Tat nicht frei von Mängeln, zumal in der Erstausgabe. Doch zum einen schoss Ludwig, in Anbetracht der sachlich wirklich gerechtfertigten Kritikpunkte, weit übers Ziel hinaus und zum anderen ist heute ohnehin die zweite, verbesserte Auflage von 1939 (bzw. 1970) maßgeblich [R I/II]. Sowohl Ludwigs wie Richters Edition – dies bestätigt Schlossers gelassenere Auffassung – bewähren sich nach wie vor – und in ihrer je eigenen Weise – als Arbeitswerkzeuge der Leonardo-Forschung. 23 Siehe M/R, S. 94, 111f., 121f., 197, 236, 244f. 24 Vgl. ebd., S. 112 («All und jedes was auf naturwissenschaftliche Studien sich bezieht, bin ich fest entschlossen, beiseite liegen zu lassen. Dagegen hoffe ich keine auch noch so beiläufige Notiz unberücksichtigt zu lassen, die für die Kunstgeschichte von Wert sein kann.»).
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transkribieren und in einer Anthologie zu edieren, das ihm für die Kunstforschung – in irgendeiner Weise – von Belang zu sein schien.25 Er hatte sich im Grunde – und wahrscheinlich zum Glück – auf ein flexibles Konzept verlegt; um den Preis allerdings, dass die Erwartungen des Publikums an das Endprodukt diffus blieben und sich auch Erwartungen bildeten, die später nicht erfüllt werden konnten.26 Ohne es von Beginn an – oder gar von Hause aus – angestrebt zu haben, im Zuge eines dynamischen Forschungsprozesses ‹entdeckte› somit Jean Paul Richter Leonardo da Vinci als den Autor eines vielseitigsten ‹Notizen-Werks› (Joseph Gantner)27, das bis dato nur ganz wenigen, dem breiteren Publikum und auch weiten Teilen der Fachöffentlichkeit so überhaupt noch nicht bekannt gewesen war. Vorgezeichnet gewesen war ihm wie gesagt dieser Weg in keiner Weise: Richter hatte sich – wie er es später selbst nennen würde – auf eine «verwegene Kahnfahrt» begeben.28 Im noch jugendlichen Tatendrang und Eigensinn unternommen, entpuppte sich das Unternehmen Leonardo-Edition als eine Jahre in Anspruch nehmende Herkulesaufgabe – entwickelte sich aber wohl auch zur Herzensangelegenheit. Richter jedenfalls übertrug sich diese Aufgabe gleich zweimal in seinem Leben, und zwar im jungen Erwachsenenalter und dann später nochmals in seiner letzten Lebensphase, als er – unterstützt von seiner Tochter Irma – eine zweite, revidierte Auflage besorgte. Es wurde ihm dieses Unternehmen also zum Hauptgeschäft, zum Lebensthema und zu der Leistung, die seinen Namen mit dem Namen Leonardo da Vincis dauerhaft verbinden sollte. Er hatte sich eine Aufgabe aufgebürdet – und auf seine Art auch bewältigt –, der sich vor ihm noch keiner – in dieser Weise – angenommen hatte. Die Geschichte der Leonardo-Rezeption, der fachlichen, aber auch der populären Beschäftigung mit Leonardo, sollte er aufs Nachhaltigste damit beeinflussen, denn seine Anthologie setzte einen der Maßstäbe aller späteren Bestrebungen der Leonardo-Edition. Und die Abstriche, die – auch im Rahmen dieses Buchs – an der Leistung Richters vorzunehmen sind – es sind Abstriche an einer im Grunde singulären Leistung, die begünstigt von einigen Zufällen und Fügungen letztlich der Risikobereitschaft und dem enormen Arbeitseinsatz eines Einzelnen geschuldet war, der außerdem in der Lage gewesen war, sich vielseitiger Unterstützung auch zu versichern.29 Es war und ist ein Opus magnum der 25 Siehe den Plan ebd., S. 121f. 26 Man vergleiche die Verlagsankündigung von 1881 mit dem redaktionellen Hinweis auf die erfolgte Publikation in Kunstchronik Nr. 36 (16. Juni 1881), Sp. 589, bzw. Nr. 38 (12. Juli 1883), Sp. 645f. 27 Joseph Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958, S. 72. 28 M/R, S. 255. Später, als der Wert der Anthologie sich auch im Rückblick bestätigt hatte, sprach man von einer ‹Kolumbusfahrt› (Frank Jewett Mather Jr., [Rezension von] Jean Paul Richter, The Literary Works of Leonardo da Vinci, London 1939, in: Art Bulletin 21 (1939), S. 291). 29 Siehe Richters Dankadressen in R I, S. xiii f. Erwähnenswert ist Richters Verbundenheit mit zwei viktorianischen ‹Altmeistern›, nämlich mit Frederic Leighton und Edward Poynter. Wichtiger noch ist aber seine Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Clara Courtenay Poynter Bell, der Schwester Edward Poynters (‹Mrs. R. C. Bell›), denn diese bewerkstelligte die Übersetzung des italienischen Textes ins Englische, eine Übersetzung, die auch von ihrem Bruder durchgesehen wurde. – Der Maler Ludwig,
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Leonardo-Philologie, das dabei zustande kam. Und nicht zuletzt war es ein zu philologischer Beharrlichkeit erziehendes Universitätsstudium der Theologie gewesen, das dem Handschriftenforscher dabei zu Gute kam. Die Problematik ‹Leonardo-Edition›30 Ein offenkundiges, wenn auch selten eigens herausgestelltes Grundproblem der Leonardo-Edition ergab sich aus dem vertrackten Sachverhalt, dass sich der schriftliche und zeichnerische Nachlass auf hauptsächlich drei Länder verteilte, nämlich auf England, Frankreich und Italien; und dass in zumindest in zwei dieser Länder – in Italien und Frankreich – die Edition der Bestände als eine Sache von nationaler Bedeutung angesehen wurde.31 Des Weiteren wirkte sich verkomplizierend aus, dass es eben nicht ‹ein› Bild von Leonardo gab, sondern unterschiedliche Auffassungen einer Gesamtpersönlichkeit und daher auch unterschiedliche Ausgangspositionen für das Vorhaben ‹Edition›. Und schließlich lagen – aus ganz prinzipiellen Gründen – die Verfechter unterschiedlicher methodischer Grundprinzipien miteinander in Streit. Wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Gründe wirkten also bei dem Umstand zusammen, dass bis weit ins 19. Jahrhundert keine umfassende Textedition entstanden war.32 Vor diesem Hintergrund gesehen verfügte Jean Paul Richter über die besten Voraussetzungen, um – als ein Einzelkämpfer – eine Edition zu wagen: Er hatte sich der Kunst verschrieben, war voller Ehrgeiz, Tatendurst und Eigensinn; er verfügte über philologische Bildung, war polyglott und fand – ganz buchstäblich – Zugang zu den Orten, wo das Material lag. Eine patriotische Komponente, so vorhanden, dürfte sich im Laufe eines in Internationalität geführten Lebens relativiert oder gar verflüchtigt haben. National, könnte man sagen, war Richter mehr oder minder ungebunden. Den sich daraus ergemit seinen Invektiven, griff also indirekt, und wohl auch ohne es zu wissen, den Sachverstand des Malers Poynter an, wenn er aus der Sicht des kundigen Praktikers Richters Lesarten von Leonardos kunsttechnischen Anweisungen dem Gespött seiner Leserschaft preiszugeben versuchte (Ludwig [Ergänzungsband], passim). 30 Eine konzise Darstellung der Editionsgeschichte hat Carlo Pedretti gegeben (P I, S. 3–8). Ausführlicher, aus vornehmlich italienischer Perspektive geschrieben und nur bis zum Gedenkjahr von 1919 geführt, ist: Antonio Favaro, Passato, presente e avvenire delle Edizioni Vinciane, in: RV 10 (1919), S. 165–219. – Ein nuanciertes Gesamtbild ergibt sich allerdings weniger aus dem sekundären Schrifttum als aus der Arbeit mit dem Material. 31 Vgl. die Andeutungen im Vorwort zu R I/II, S. viii (Irma Richter). – Im französischsprachigen Schrifttum gibt es eine Tendenz, Leonardo für Frankreich in Anspruch zu nehmen (vgl. auch den Abschnitt über Gabriel Séailles Leonardo-Monographie weiter unten). Dies ist teilweise von Leonardos Verhältnis zu seinen französischen Auftraggebern bzw. von seinem französischen ‹Exil› her zu erklären. Teilweise aber auch durch das Vorhandensein von Teilen des Nachlasses in Frankreich (dies allerdings ist bekanntlich eine Folge der Beutezüge Napoleons in Italien). 32 Die erwähnte Zusammenfassung der Geschichte der Leonardo-Edition aus der Feder Pedrettis, der klugerweise immer den Ertrag von bestimmten Kontroversen im Blick hat, gewichtet die außerwissenschaftlichen Komponenten in dieser Geschichte möglicherweise zu wenig.
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benen Nachteil, auf nationale Unterstützung verzichten zu müssen, machte er wett, indem es ihm gelang – als Einzelpersönlichkeit – sich vielfältiger Unterstützung von Einzel-. persönlichkeiten auch zu versichern und – als letztlich allein verantwortlicher Herausgeber – gewissermaßen eine Kollektivleistung zu organisieren. Ohne berufliches und damit persönliches Risiko war die Sache gleichwohl nicht. Ganz abgesehen von der Problematik, als Privatgelehrter kein regelmäßiges Einkommen zu haben, riskierte Richter nicht zuletzt – in seinem forschen Vorgehen – den Zorn der Patrioten zu erregen.33 Während in Frankreich ein längerfristiges Editionsprojekt – nota bene ebenfalls von einem Einzelnen – eben begonnen wurde und ein lähmender Methodenstreit die italienischen Editionsbemühungen immer neu ins Stocken brachte, kam Jean Paul Richters Unternehmen rasch in Gang. Sozusagen in einem Dreischritt, der schließlich in abseitigeren Entdeckungen auch resultieren sollte, arbeitete sich Richter durch die Materialien vor: In England hatte er begonnen, dann in Paris längere Zeit über den dort befindlichen Quellen verbracht, als von Giovanni Morelli, seinem Mentor, der Ratschlag kam: «Nachher müssen Sie aber auch die in Italien sich vorfindenden Leonardoschen Manuskripte sich ansehen, vor allem den großen Codex Atlanticus in der Ambrosiana […].»34
Im Herbst 1880 dürfte dann die sich schon in England und in Paris anbahnende ‹Entdeckung› erfolgt sein, in deren Folge sich der großen Orientalischen Frage – wie sie die Staatenwelt Europas beschäftigte – eine kleinere, spezifischere ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung zugesellte. Jean Paul Richter hatte, wahrscheinlich im Oktober und November 1880 in Mailand, wie von Morelli empfohlen den Codex Atlanticus durchgearbeitet und dabei erstmals das Material vor Augen gehabt, auf das er seine Thesen nachmals gründen sollte.35 Die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung sollte in der Folge oft als ein Seitenthema der viel umfassenderen Editionsproblematik behandelt werden, in der Richter hauptsächlich ja engagiert war; aber als ein Seitenthema, das – wie alle spürten – radikale Implikationen in sich barg. Es ging um die kulturelle Identität und das mutmaßliche kulturelle Überläufertum einer Figur, die zur gleichen Zeit – nicht zuletzt durch die diversen Editionsvorhaben – zu einer eigentlichen Leitfigur der Moderne avancieren sollte.
33 Wütende Reaktionen – zu einem späteren Zeitpunkt – sind belegt: Siehe M/R, S. 432 (Wut des Exministers Correnti). – Richters Editionswerk wurde allerdings auch dank Subskriptionen in Italien finanziert. Morelli wusste unter anderem einige seiner Senatorenkollegen dafür zu gewinnen. 34 Ebd., S. 116. 35 Der ungefähre Zeitpunkt kann aus der Korrespondenz nur indirekt erschlossen werden.
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Eine ‹Nebenfrucht› der Quellenforschung: Der Aufsatz Lionardo da Vinci im Orient36 Wer den so folgenreichen Aufsatz, der am 17. Februar in der Leipziger Zeitschrift für bildende Kunst erschien, heute zur Hand nimmt, wundert sich über den Ausblick in eine orientalische Landschaft, der sich ihm zuallererst eröffnet: Dem Text war eine Vignette, ein gezeichnetes, ornamental umrahmtes Bild vorangestellt, auf dem Kuppelbauten, Türme – vielleicht Minarette –, Palmen, ein Fluss, und am Horizont auch Pyramiden zu erkennen sind. Hier wurde – mit einigen wenigen Symbolen – eine orientalische Szenerie evoziert, bevor sich Richter anschickte, den erwähnten Dreischritt von England, über Paris nach Mailand im Rahmen des Textes – gedanklich – nochmals zu gehen. Dem Aufsatz eignet eine ziemlich klar kalkulierte Dramaturgie, die sich aber erst beim wiederholten Lesen wirklich erschließt. Unvermittelt, das heißt ohne weitere Einleitung, begann Richter damit, diverse Texte Leonardos zu besprechen, die er in italienisch-deutscher Parallelübersetzung vor Augen führte, ähnlich wie später auch in seiner Anthologie. In vier Anläufen, in immer neuen Varianten, stellte Richter im Grunde immer bloß die eine Frage: In welchem Verhältnis stand Leonardo – als Autor – zu den Phänomenen, die er beschrieb? Beschrieb er die Dinge als ein Augenzeuge? Standen ihm die Phänomene selbst vor Augen? Oder waren die Kenntnisse, über die er zu verfügen schien, vermittelt? Stammten sie, anders als das Primärwissen eines Augenzeugen, bloß aus zweiter Hand? Diese Hauptlinie verunklarte Richter allerdings durch zahlreiche Abschweifungen, Textkommentare und den einen oder anderen Hinweis, die Gegenden, auf die Leonardo sich bezog, auf einer Reise – der oben erwähnten Orientreise – selbst gesehen zu haben. Dennoch hatte die Reihung ihren ganz eigenen Sinn: Die Beispiele37 schienen immer offenkundiger primäre Kenntnisse über orientalische Verhätnisse zu verraten. Und schließlich gelangte Richter – im vierten Anlauf – zu jenem zentralen Komplex aus Texten und Zeichnungen, der seiner Meinung nach den entscheidenden ‹Beweis› enthielt, dass Leonardo die Länder, von denen er sprach, selbst gesehen – dass er sich in ihnen also auch aufgehalten hatte. Denn Leonardo – als ein Ich-Erzähler – sprach in Bezug auf orientalische Gegenden – in identifikatorischer Rede – von «unseren Gebieten» und 36 Hier zitiert als LdViO. – Der Aufsatz war Teil einer Folge von Artikeln zur Leonardo-Forschung, die Richter in den Jahren 1880 bis 1882 in der Leipziger Zeitschrift für bildende Kunst veröffentlichte. 1880 waren Lionardo-Studien erschienen, 1881 der Orient-Aufsatz sowie eine Rezension. 1882 veröffentlichte er Arbeiten zur Bibliographie der Handschriften und zum ‹Malerbuch› (siehe Bibliographie). 37 Richter beginnt mit dem berühmten ‹Höhlengleichnis› (so genannt bei Agnes Heller, Der Mensch der Renaissance, Frankfurt a.M. 1988, S. 21), auch als ‹Fragment der Höhlenforschung› bekannt (vgl. Gantner, a.a.O., S. 100), in dem Leonardo sich, hin und her gerissen zwischen Furcht und Neugier, vor dem Eingang einer Höhle imaginiert und positioniert. Richters zweites Beispiel ist die Beschreibung von Zypern und sein drittes die Skizze einer Brücke über das Goldene Horn, der weiter unten ja ein eigenes Kapitel gewidmet ist. – En passant nahm Richter auch die ‹Weinfabel› Bezug, die er um das Degoutante jedoch kürzte (dieser Text ist in Anhang A ausführlich behandelt).
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«unseren Grenzen» und richtete sich damit zugleich an einen Würdenträger, den er als ‹Diodario von Syrien und Statthalter des heiligen Sultans von Babylon› ansprach:38 Neben dem ‹Ich› in diesen Texten gab es somit ein rätselhaftes ‹Wir›. Betraut von einem Würdenträger der Mamluken mit einer nicht näher bezeichneten Aufgabe oder Mission war Leonardo in der Taurus-Region gewesen, also in Hochmesopotamien, jener gebirgigen Region im Oberlauf von Euphrat und Tigris, die historischen gesehen eine Grenzzone darstellt: eine von Lokalfürsten beherrschte Pufferzone zwischen dem Machtbereich der Osmanen zum einen und dem Reich der über Ägypten, das Heilige Land und Syrien herrschenden Mamluken zum anderen. Leonardo da Vinci – dies der Punkt, auf den Richter von Beginn an zugesteuert hatte – war also im Orient gewesen. Das ‹Diodario-Material› Damit steht uns jener Werkkomplex vor Augen, der schon im Vorwort angesprochen worden ist und hier im Weiteren als ‹Diodario-Material› (oder alternativ als die ‹armenischen Briefe›) bezeichnet werden soll. Es exemplifiziert dieser, hier etwas eingehender, auch aus moderner Perspektive betrachtete Komplex gleichsam die drei Register der Geographie: Beschreibung in Form von Sprache, mehr oder minder illusionistische Zeichnung, abstrahierende Kartografie.39 38 Richter – und mit ihm einstimmig die ganze Tradition – ging davon aus, dass hier von einem mamlukischen Würdenträger die Rede war. Denn Syrien wurde zu dieser Zeit von der Mamlukendynastie beherrscht; und ‹Babylon› war ein zwar veraltetes, aber noch anzutreffendes Synonym für ‹Kairo› (siehe diesbezüglich vor allem Kap. 2). 39 Siehe auch die folgende Tabelle sowie – für die Texte im Wortlaut – Anhang B. – Der Einfachheit halber kann bei der Betrachtung dieses Materials mit einer ‹Rückseite› begonnen werden, nämlich mit CA 393v [ex145v-a; v-b]: Man erblickt ein in der Mitte gefaltetes Blatt, das am unteren Rand beschädigt ist (ohne dass allerdings ein Textverlust vorzuliegen scheint), und auf dem – nicht chaotisch, sondern in einer Art Auslegeordnung – ein Ideenfundus ausgebreitet ist. Sowohl auf der linken wie auf der rechten Hälfte sehen wir Landschaftszeichnungen, die einen gewissen Vorrang gegenüber dem Text gehabt zu haben scheinen, denn der Text umfließt oder überlagert an manchen Stellen die zeichnerischen Elemente. Mehrere Zeichnungen scheinen sich des Weiteren ebenfalls zu überlagern. Der linke Teil des Blattes enthält, in Kolonnenform, das so genannte ‹Inhaltsverzeichnis› (‹Einteilung des Buchs›), sowie – zuoberst – die Anrede des Briefempfängers; darunter folgt ein Teil des Textes an diesen Empfänger (die Initiale ‹R› kennzeichnet den eigentlichen Textbeginn nach einer Überschrift). Der rechte Teil enthält weitere zwei Textfragmente, die dem Inhaltsverzeichnis (‹Beschreibung des Taurus-Berges›) zugeordnet werden können. Insgesamt sind also auf der Verso-Seite, gemäß der Zählung Gantners (der die Zeichnungen nicht eigens berücksichtigt) vier Fragmente vorhanden (‹Inhaltsverzeichnis›, drei weitere Textfragmente mit dazugehörigen Zeichnungen). Zwei weitere enthält die eigentliche ‹Vorderseite› des Blattes (CA 393r [ex145r-b; r-a]), nämlich die beschriftete Kartenskizze der Taurusregion und die Skizze einer Felsstruktur, versehen mit drei Namen. Die Zahl von sieben Fragmenten ergibt sich in Zuzählung des Textfragments auf CA 573a-v [ex214v-d] (auf diesem Blatt ein eindeutiger Textverlust, denn eine Randglosse zur Linken ist durchteilt und hälftig abgeschnitten). Alle Texte enthalten Durchstreichungen, die den Eindruck einer Überarbeitung erwecken. – Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Zahl der Einzelteile dieses Werkkomplexes fortlaufend erhöht, nämlich durch die Hinzuzählung einer
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2 Codex Atlanticus 393v [ex145v-a; v-b] (nach Ernst H. Gombrich, Leonardo e i maghi: polemiche e rivalità, Firenze 1984 [LV 23], Tavola 14)
In der Leonardo-Literatur genießt dieser Komplex heute eine Art Sonderstatus, nicht bloß wegen der ‹orientalischen Frage›, die sich seit Richter damit traditionell verbindet, sondern auch, weil sich darin die Leistungen und Fähigkeiten Leonardos gleichsam verdichten und die Fäden mannigfacher Tätigkeiten (die Technik allerdings ausgenommen) in einem zentralen Punkt zusammenlaufen. Aus einer ganzen Reihe von Gründen wohnt diesem Material eine ganz besondere Faszinationskraft inne: – Die Landschaftszeichnungen scheinen, wie oft vermerkt worden ist, zu den Hintergrundlandschaften der bedeutendsten Gemälde in engster Beziehung zu stehen;40 zudem sind Texte und Bilder aufeinander bezogen. Das heißt: Wir sehen Leonardo, unwesentlichen formelhaften Notiz auf CA 705v [ex262v-a] (siehe P II, S. 293), einer Stelle in Ms. F, nämlich auf Blatt 86r (siehe Francesco P. Di Teodoro, ‹Stupenda e dannosa maraviglia›, in: ALV 2 (1989), S. 126; vgl. zudem ders., Geografia Vinciana, in: ALV 5 (1992), S. 138) sowie durch Assoziierung der Kartenskizze auf CA 1106r [ex397r-b] (siehe L-A, S. 133; P II, S. und Carlo Pedretti, Leonardo in Sweden, in: ALV 6 (1993), S. 210). – Ferner sind (oft in ganz andere thematische Bereiche führende) Hinweise auf die Verwandtschaft des Materials mit Texten und Zeichnungen zum Thema ‹Sintflut› und ‹Weltuntergang› zu erwähnen (Gantner, a.a.O., S. 244f. mit Hinweis auf CA 418b [ex155r-c] und CA 981c [ex354v-b; siehe auch v-c] und passim; Frank Fehrenbach, Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen 1997, S. 319, Fn 164, mit Hinweis auf Popp bzw. auf W 12388). 40 Exemplarisch siehe Roy McMullen, Mona Lisa. The Picture and the Myth, London 1976, S. 97.
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dem Autor des ‹Paragone›, eines ‹Vergleichs der Künste›, gleichsam dabei zu, wie er das Verhältnis von Text und Bild gestaltet. – Wir sehen den Naturforscher, hier den kundigen Geologen, dem es um die Formationen des Geländes zu tun ist, aber auch um klimatische Verhältnisse und vor allem auch um katastrophenhafte Vorgänge. So gesehen steht hier eine Motivik zur Debatte, die in den so genannten Sintflutzeichnungen wiederkehrt. – Dies alles ist in eine anscheinend orientalische Szenerie eingebettet, die alles – auch die rätselhafte Beobachtermission – in ein mysteriöses Licht taucht. – Und: Es sind ‹bloß› Fragmente, die uns vorliegen, weshalb die Frage nach einem Gesamtplan und nach allenfalls einstmals vorliegenden Teilen im Raum steht. Gewissermaßen liegt somit eine Art Einladung an die ergänzende Phantasie auch vor. Die vorliegenden Teile scheinen auf einen Gesamtplan zu verweisen, der von Leonardo stammt und sich in dem Material zudem tatsächlich andeutet. Und dennoch gibt es Lücken, die sich – zudem wenn man Spekulation vermeiden will – nicht einfach füllen lassen. Dies alles, summa summarum, dürfte dazu beigetragen haben, dass diesen Werkkomplex eine ganz eigene Aura – ein Fluidum von Geheimnis auch – umgibt. Tabelle 1 Das ‹Diodario-Material› im Überblick41 Ort in den Manuskripten
Thematische Stichworte Datierung (gemäß Carlo Pedretti, Studi Vinciani. Documenti, Analisi e Inediti leonardeschi, Genf 1957, S. 271; W; P I, S. 94)
CA 393v [ex145v-a; v-b]
1497–1500
Linke Seite des Folios: ‹Einteilung des Buchs›; Adressierung an den Würdenträger; zwei Teile des in der ersten Person gehaltenen Schreibens aus Armenien (Motiv des vermeintlichen Kometen); Landschaftsskizzen; Rechte Seite des Folios: weitere Teile des Schreibens (insbesondere die Natur und die Gestalt des Taurusgebirges betreffend); Verwahrung gegen den Vorwurf der Saumseligkeit; Landschaftsskizzen
CA 393r [ex145r-b; r-a]
r-a: 1497–1500; r-b: ca. 1500
Linke Seite des Folios: Kartenskizze der Taurus-Region; Skizze einer Felsstruktur mit Beischrift von drei Namen; ansonsten ‹Prophezeiungen› und thematisch nicht verwandtes Material [vor allem auf der rechten Seite des Folio, d.h. r-b]
41 Die am einfachsten zugängliche und sorgfältigste deutschsprachige Edition der Texte ist – wie gesagt – in Gantners klassischer Studie enthalten (Gantner, a.a.O.), in der die Texte allerdings wiederum in eine ganz eigenes Interpretationsschema eingebettet sind (vgl. diesbezüglich – weiter unten – Kap. 4).
50 | Leonardo da Vinci im Orient Ort in den Manuskripten
Thematische Stichworte Datierung (gemäß Carlo Pedretti, Studi Vinciani. Documenti, Analisi e Inediti leonardeschi, Genf 1957, S. 271; W; P I, S. 94)
CA 573a-v [ex214v-d]
1497–1500
Schilderung einer Naturkatastrophe aus der Perspektive eines Miterlebenden
CA 705v [ex262v-a]
1497–1500
Isoliert: Formelhafte Briefanrede ‹fedelissimo amico…›
Ms. F 86r
1508
Bezug auf den Kaukasus42 (aufgefasst nicht als ein Gebirge, sondern als ein Berg) und auf seine Höhe
CA 1106 [ex397r-b]
1497–1500
Kartenskizze des östlichen Mittelmeerraums (siehe diesbezüglich Anhang A, Synopse, Sektion ‹Das Heilige Land›)
In weniger direktem oder offensichtlichem Zusammenhang stehend (nicht berücksichtigt sind hier allerdings die ‹Prophezeiungen›, weiteres ‹apokalyptisch› gestimmtes Material sowie Bezüge zum Motiv des Kometen):
CA 418b [ex155r-b; r-c]; CA 1511–12; 1516–17 981c [ex354v-b];
Fragmente der Beschreibung einer Sintflut
W 12388
Ein Beispiel – pars pro toto – aus der Serie der Sintflutzeichnungen
ca. 1511–12
Jean Paul Richter – in seinem Aufsatz, auf den wir nun wieder zurückkommen – fand einen ersten Zugang zu diesem Material in dem ‹Inhaltsverzeichnis›, in dem sich eine Gliederung der Texte anzuzeigen scheint. Und damit kommen wir zur entscheidenden Weichenstellung für eine jede Interpretation: Richter, nicht geneigt, von diesem ‹Inhaltsverzeichnis› auf ein literarischen Vorhaben im engeren Sinne zu schließen, fasste die Texte vielmehr als Dokumente auf. Als Entwürfe von ganz realen Berichten, wie sie ein Abgesandter – im Rahmen eines realen Auftragsverhältnisses – an seinen Auftraggeber zu richten pflegt. Es handelte sich, seiner Ansicht nach also um eine biographische Quelle (und nicht um eine Fiktion bzw. um Literatur). Richter fasste in seinem Text nicht einen über einen längeren Zeitraum hinaus gereiften Gedankengang zusammen. Er schien seine Gedanken vielmehr im Schreiben unmittelbar zu entwickeln. Im Lesen hat man Teil an der ganz unmittelbaren Entwick42 Der Kaukasus findet außerdem im CA Erwähnung (siehe TuA, S. 259).
Ein Gelehrtenstreit im Fin de siècle | 51
lung dieser Gedanken, und Richter schien seiner Sache nun immer sicherer zu werden: Nachdem er zunächst einzelne Texte betrachtet hatte, begann er damit, die Dinge – im Zusammenhang – sich jetzt zurecht zu legen: Wenn man annahm, dass Leonardo im Orient gewesen war, schwand auf einmal das Befremden, wie er von den entferntesten Dingen so genaue Kenntnis haben konnte: «Es ist mir längere Zeit befremdlich gewesen, warum Lionardo, besonders in der Handschrift, im Besitz des Earl of Leicester in Holkham Hall,43 so häufig Veranlassung nimmt, vom Nil zu reden, wie er dazu kam, eine Karte der Landenge von Suez zu entwerfen, und worauf seine Bekanntschaft mit der Anatomie des Affen beruht, von der Handschriften in Windsor Castle handeln.»44
Hier entfaltete sich – ziemlich spontan – ein gewisses, mutmaßliches Erklärungspotential der These. Nun musste noch ein Grund gefunden werden, warum sich Leonardo über die biographische Episode an sich, deren Dauer Richter auf mindestens zwei Jahre veranschlagte und zunächst ‹zwischen 1477 und 1485› datierte, anscheinend ausgeschwiegen hatte. Damit allerdings begab sich Richter auf noch gefährlicheres Terrain. Denn er schickte sich an, zu guter Letzt noch mit einem eigentlichen Überraschungseffekt aufzuwarten, nahm aber zugleich in Kauf, sich mit einer nochmaligen Zuspitzung der Orient-These tollkühn zu verrennen – mit der Hypothese nämlich, dass Leonardos Schweigen damit zu tun hatte, dass er sich den Verhältnissen im Orient eben hatte anpassen müssen: Er war, zumindest für die Dauer seines Aufenthalts, Muslim geworden.45 Er war zum Islam konvertiert, denn eine Tätigkeit als Dienstmann eines orientalischen Würdenträgers war nicht gut denkbar «ohne die Annahme einer Accomodirung an orientalische Sitten und Gebräuche.» Und Richter weiter: «Der Fanatismus einer hierarchischen Despotie, wie die mohammedanisch-ägyptische es war, konnte zu Konzessionen hier sich nicht herbeilassen. Dass Lionardo, zu solchen vielleicht gezwungen, als Christ keine religiösen Bedenken haben konnte, wird man bei seiner freigeistigen Richtung nur natürlich finden.»46 43 Der heute im Besitz von Bill Gates befindliche (und wieder so genannte) Codex Leicester (vormals Codex Hammer). 44 LdViO, S. 139. 45 Den Ankerpunkt für die These eines Renegatentums auf Zeit gab das ‹Inhaltsverzeichnis› mit seinen Einträgen «Predigt und Überzeugung zum Glauben» und «Auftreten des Propheten» (vgl. Anhang B). «Wie ein Blitz» sei es ihm «durch die Seele» geschossen, teilte Richter Morelli mit, dass hier nicht der christliche, sondern der muslimische Glaube gemeint sei (M/R, S. 137). In der Anthologie sollte er folgerichtig dann aus dem Koran zitieren (siehe auch Kap. 2). Die These stützte sich also auf einen Textbefund und auf das Nichtvorhandensein von weiteren Texten, also – bildlich gesprochen – auf das ‹Schweigen›. – Renegatentum auf Zeit scheint indes keine bloße historische Fiktion gewesen zu sein: Gegen nutznießerische Religionsübernahme wurden im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts – Renegaten stellten einen Großteil der Funktionseliten – in der Tat Maßnahmen ergriffen (siehe AuA III, S. 308ff.). 46 LdViO, S. 141. Richter, selbst der evangelisch-lutherischen Tradition entstammend, schätze Leonardo also durchaus noch als einen Christen ein, wenn auch als einen ‹freigeistigen›.
52 | Leonardo da Vinci im Orient
Der ganz eigene Gestus dieses Aufsatzes leitete sich somit von einer eigenartigen Dialektik her, die auch im Fortgang der Debatte weiter wirkte: Einerseits leiteten sich aus der Orientthese, die Richter mit einer Apodiktik vertrat, die leise Zweifel vielleicht auch überdeckte, Erklärungen ab. Andererseits mussten für die Seltsamkeiten, die man als Folge der Blickverschiebung nun gewahrte, noch weitere Erklärungen gefunden werden. Ein hin und herschweifendes Denken war die Folge, und und zuletzt auch – eine Verstiegenheit. Damit war – nichtsdestotrotz – Effekt gemacht. Seinem Artikel vom 17. Februar ließ Richter später, im März, einen Brief an den Chefredaktor der Chronique des Arts et de la Curiosité nachfolgen, der einerseits den Zweck verfolgte, auf erste Kritik zu reagieren, beiläufig aber auch das französische Publikum auf das eigentliche Editionsvorhaben hinwies.47 Richter nahm für sich in Anspruch, ‹Beweise› («preuves») für seine These zu präsentieren (ohne allerdings mit neuen Argumenten aufzuwarten), und er gab einige Präzisierungen bezüglich der Chronologie: Zwei Zeitfenster für einen möglichen Aufenthalt Leonardos im Orient schienen ihm nun möglich: Die Jahre 1473–77 und 1481–85.48 Zum ersten Mal begegnet hier auch – im Rahmen der allmählich in Gang kommenden Debatte – jene Formulierung, die wir – im Rahmen dieser Studie – übernommen haben: Es stellte sich die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung – «la question orientale dans la vie de Léonard de Vinci».49 Erste Reaktionen auf die Richter-These In der Pariser Presse hatte es schon begonnen zu rumoren, bevor Richters Aufsatz im Druck erschienen war. Die Angelegenheit gab also zuerst in der französischen Öffentlichkeit zu reden,50 was sich auch aus den Kontakten erklärte, die Richter in der franzö47 Jean Paul Richter, La question orientale dans la vie de Léonard de Vinci, in: La Chronique des Arts et de la Curiosité Nr. 11 (12. März 1881), S. 87–88. 48 In der Anthologie – womöglich Zeichen einer gewissen Unschlüssigkeit – nannte Richter später einen Zeitrahmen von 1482–86. Diesen übernahm – viel später – ein Romancier, der Richters These als eine Inspirationsquelle im ausgehenden 20. Jahrhundert wieder entdeckte (siehe Kap. 5). – Richters Schwanken hatte insbesondere damit zu tun, dass er sich im Rahmen der Arbeit an seiner Anthologie auch mit der in Bayonne befindlichen Zeichnung des im Dezember 1479 in Florenz gehängten PazziVerschwörers Bernardo di Bandino Baroncelli befasste (vgl. im Hinblick auf die Zeichnung Anhang A, Synopse, Sektion ‹Das Osmanische Reich›). Denn ein Resultat seiner Studien zu dieser Zeichnung war es gewesen, dass man, bezogen auf diesem Zeitpunkt, eine Anwesenheit Leonardos in Florenz postulieren musste (vgl. R I, Fn zu Nr. 663 auf S. 379). Leonardo war demnach – auch hier – ein Augenzeuge. 49 Der Titel, unter dem Richters Brief erschien, dürfte von der Redaktion der Zeitschrift gesetzt worden sein. Richter selbst verwendete die Formulierung «la question d’un voyage de Léonard en Orient» (ebd., S. 87). 50 Ein reißerischer Artikel, gezeichnet ‹Veha›, war am 2. Februar im Figaro erschienen; am 7. Februar erschien ein Text in Le Temps (vgl. Gustavo Uzielli, Ricerche intorna a Leonardo da Vinci, Serie prima,
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sischen Gelehrtenwelt gesucht und – als Sohn einer aus Frankreich stammenden Mutter der Sprache mächtig – auch gefunden hatte.51 Vor diesem Hintergrund – dem vorauseilenden ‹Lärm› der Tagespresse – kam die eigentliche Debatte – das Gespräch der Fachleute – in Gang. Die Reaktionen auf die ‹Entdeckung› in Richters unmittelbarstem Umfeld waren gemischt (und teilweise durchwachsen). Der ‹Dreibund› – Morelli und seine zwei Schüler, Jean Paul Richter und Gustavo Frizzoni umfassend – war geteilter Meinung: Auf des Senators väterliche Unterstützung hatte Richter immer zählen können, aber in dieser Sache lagen ihre Meinungen doch auseinander. Offen hatte Morelli Richter sein Befremden in Bezug auf die These einer mutmaßlichen Apostasie Leonardos dargetan und damit ein allgemeines Befremden zum Ausdruck gebracht, was die Zuspitzung von Richters These anging;52 und sehr zurückhaltend – fast diplomatischer noch als Jacob Burckhardt – äuVolume primo, Torino 1896 [urspr. 1872; zweite, erweiterte Auflage], S. 70f.). In einem Brief an den Chefredaktor des Figaro beklagte Charles Ravaisson-Mollien, Herausgeber der Pariser Manuskripte Leonardos, die Unkenntnis des Figaro-Autors (der von den französischen Editionsbestrebungen nichts zu wissen schien) und kritisierte die Tendenz zur haltlosen Spekulation. Der unbekannt gebliebene Autor war offenbar von einem elfjährigen Orientaufenthalt Leonardos – von 1472–1483 – ausgegangen und hatte ein Bild von Leonardo als eines Abenteurers (und Piraten) vermittelt. Siehe [Anon.], Les manuscrits de Léonard de Vinci, in: La Chronique des Arts et de la Curiosité Nr. 7 (12. Februar 1881), S. 51–52 [in diesem Rahmen erschien der Brief von Ravaisson-Mollien]. 51 Den Kontakt zum Institut de France hatte ihm einer der beiden viktorianischen ‹Altmeister›, nämlich der Maler und Bildhauer Frederic Leighton, vermittelt (siehe R I, S. xiii), der seinerzeit auch als Präsident der Londoner Royal Academy amtierte. – Zugang fand Richter namentlich zu den Professoren C. Defrémerie und Ch. Schéfer, die ihm mit verschiedenen Auskünften behilflich waren (siehe R II, S. 317 und 319, jeweils Apparat; zudem: LdViO, S. 136, Fn 2, und Richter, La question, a.a.O., S. 88) Außerdem erwähnte er – als Auskunftspersonen oder Gesprächspartner – Marquis Melchior de Vogüé, L. Lalanne und François Lenormant (LdViO, S. 135, Fn 2, S. 136f., Fn 3 und S. 140, Fn 1). Letzterer, Professor der Archäologie an der Bibliothèque Nationale, teilte Richter mit, nachdem ihm der ‹Fund› bekannt geworden war, Leonardos Maschinenzeichnungen seien ihm schon früher ‹altägyptisch› vorgekommen. – Ohne Namen zu nennen erwähnte Richter auch gegenüber Morelli, dass die Gelehrten des Institut de France lebhaft Anteil an der Frage einer eventuellen Reise Leonardos in den Orient genommen hatten (M/R, S. 136). – Das Verhältnis zu Charles Ravaisson-Mollien, dem Herausgeber der Pariser Manuskripte Leonardos, scheint zwar nicht störungsfrei, im Ganzen gesehen aber doch respektvoll gewesen zu sein, ohne dass es indes besonders herzlich wurde. 52 Im Brief vom 29. Dezember 1880 (M/R, S. 139): «Was Sie mir über Leonardos Apostasie sagen, hat mich sehr befremdet – sind Sie aber Ihrer Sache dabei ganz gewiss? Wie die gelehrte Welt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hier in Italien über das Christentum dachte, ist bekannt, und man dürfte sich daher auch nicht wundern, dass ein freier Geist, wie der des Leonardo, kein großes Gewicht auf das katholische Dogma legte und legen konnte –, dass er aber zur Erreichung seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke so weit gehen konnte, den mohammedanischen Kultus anzunehmen, das hätte ich mir, wahrlich, von ihm doch nicht erwartet. Diese disinvoltura, die ererbte Religion abzuwerfen, um eine andere religiöse Livrée anzulegen – erwiese sich dieses Faktum als unleugbar – würde einen neuen, unerwarteten Blick in die Denk- und Gefühlsweisen jener merkwürdigen italienischen Gesellschaft vom Ende des 15. Jahrhunderts uns gewähren. […]» – Die zugespitzte Form der These scheint, von Richter abgesehen, keine erklärten Anhänger gefunden zu haben. Aber manche Aussagen – im Laufe der Debatte – lassen sich in dem Sinne doch deuten, dass die Zuspitzung nicht allen vollkommen absurd erschien (vgl. etwa den Exkurs zu Friedrich Nietzsche weiter unten).
54 | Leonardo da Vinci im Orient
ßerte Morelli seine Skepsis in Bezug auf die eigentliche Hauptthese einer Orientfahrt.53 Gegenüber Dritten könnte er sich deutlicher ausgesprochen haben.54 Nichtsdestotrotz unterließ es Morelli, die Sache mit dem Schützling weiter auszufechten, auf den er seinerseits auch angewiesen war. In rühriger Weise, arbeitsam und schon vor geraumer Zeit hatte es Richter nämlich auf sich genommen, Morellis – in der Kunstwelt ebenfalls einschlägige – Manuskripte im Hinblick auf den Druck noch durchzusehen.55 Morelli ließ es also ein Bewenden haben mit der Sache, und er stand seinem Schützling gar nach Möglichkeit bzw. indirekt noch bei: Denn Überlegungen Morellis zur mutmaßlichen Lebenschronologie Leonardos sind in Richters Positionsnahmen mit eingegangen.56 Als Richters Mentor sah sich Morelli also nicht eigentlich hineingezogen in einen Streit, aber nolens volens doch als eine Art Gewährsmann in Sachen Chronologie. In Gustavo Frizzoni – ‹Freund Frizzoni› – fand Richter hingegen einen Sekundanten, der ihn in seiner inhaltlichen Stoßrichtung auch unterstützte. In einem in der Mailänder La Perseveranza veröffentlichten Artikel wandte sich Frizzoni, der die Angelegenheit seriöser behandelt wissen wollte, kritisch gegen die Pariser Presse. Er – seinerseits – teilte zwar die Renegaten-These auch nicht, aber er sekundierte Richter doch in seiner Hauptstoßrichtung und kann von daher als Anhänger der These einer Orientreise Leonardo da Vincis bezeichnet werden. Drei Jahre später – in einem zweiten Artikel in dem gleichen Blatt – hieb Frizzoni nochmals in die gleiche Kerbe, zum nicht geringen Erstaunen des bedeutenden italienischen Leonardisten Gustavo Uzielli, der auf dem Felde der biographiehistorischen Forschung Bedeutendes geleistet hat.57 Ein nachhaltiges allgemeines Befremden zog sich als ein Grundton durch die gesamte Debatte – von ihrem Anfang an. Und es gab viele Formen, dieses Befremden 53 Morelli hatte den Aufsatz erhalten, während er selbst dabei war, Richter einen Brief zu schreiben, den er indes erst nach erfolgter Lektüre dann fortsetzte (M/R. S. 151): «Einige Stunden später. Ich erhielt soeben Ihren höchst interessanten Aufsatz «Lionardo da Vinci im Orient» – und habe denselben auch sogleich lesen wollen. Tausend Dank dafür. Dieser Artikel wird großen Lärm machen, und Sie werden dadurch wahrscheinlich in eine Polemik hineingezogen. Er ist ganz vorzüglich geschrieben, wozu ich Ihnen von Herzen gratuliere.» – Morelli ging sodann zu einem anderen Thema über. 54 Freshfield zählte ihn später zu den Gegnern der These (Wilson, a.a.O., S. 324). 55 Vom bereitwilligen Eifer Richters hatte Morelli sich sehr gerührt gezeigt (M/R, S. 91). Dies schlägt im – noch warmherzigeren – Ton der weiteren Korrespondenz auch merklich durch. 56 Siehe LdViO, S. 139, Fn 1. Dies blieb auch nicht unbemerkt, etwa bei Karl Woermann (Alfred Woltmann / Karl Woermann, Geschichte der Malerei, Bd. 2 (Die Malerei der Renaissance), Leipzig 1882, S. 549). – Ähnlich wie Burckhardt suchte sich Morelli die Lebensumstände Leonardos hypothetisch neu zurechtzulegen (M/R, S. 139f.; ‹das Lebensknäuel Leonardos abhaspelnd›; sowie S. 157). – Morelli gratulierte, wie gesehen, später zum Stil, nicht zum Inhalt des einschlägigen Aufsatzes (M/R, S. 151; vgl. auch das Lob des ‹wundervollen›, ‹mit viel Takt geschriebenen› Chronique des arts-Aufsatzes auf S. 157). 57 Gustavo Frizzoni, Leonardo da Vinci nell’Oriente, in: La Perseveranza (26. Mai 1881) [Seitenangabe nicht vorhanden; gezeichnet ‹G. F.›]; ders., Delle Relazioni di Leonardo da Vinci coll’Oriente, in: La Perseveranza (29. Februar/1. März 1884), [Seitenangaben nicht vorhanden]. Siehe auch Uzielli, a.a.O., S. 82 (Frizzoni schrieb – in der zweiten Wortmeldung und wohl versehentlich – auch von einem Aufenthalt Leonardos in Amerika). – Bezüglich Gustavo Frizzoni siehe DBI.
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zu artikulieren. Baron Heinrich von Geymüller, um eine weitere kosmopolitische Persönlichkeit aus Richters unmittelbarem Umfeld zu nennen (er hatte die Edition im Bereich ‹Architekturzeichnung› unterstützt bzw. Richter auf diesem Felde zugearbeitet) – er sollte sich mehrere Jahre Zeit lassen, bevor er öffentlich (und in sehr distinguierter Weise) zu verstehen gab, dass er Richters Meinung nicht teilte. Dennoch deutete er an, beim allfälligen Vorliegen neuer Beweise seine Meinung möglicherweise revidieren zu wollen.58 Prompt – wie wir einleitend gesehen haben – hatte Jacob Burckhardt auf Richters Zusendung geantwortet. Doch ohne Rückhalt – wie wir auch gesehen haben – ohne kluge Absicherungen, war auch diese scheinbar zustimmende Stellungnahme nicht gewesen. Doch andererseits: Auch der Anteil an Zustimmung in Burckhardts Brief an Richter war immerhin so groß gewesen, dass der spätere Herausgeber der BurckhardtBriefe, Max Burckhardt, im Hinblick darauf um eine Erklärung rang.59 Wenn ein Teil des Publikums also mit Befremden reagierte, Richter – dies muss auch gesagt sein – stand keineswegs alleine, wenn es auch erklärte Anhänger seiner These nicht eben viele gab. Es gab immerhin – in diversen Abstufungen – Zuspruch; und es gab – vereinzelt – auch den fast ungeteilten Zuspruch. Dieser kam zum Beispiel von Moritz Thausing, dem Wiener Kunsthistoriker und Albertina-Direktor, der sowohl Morelli wie auch Richter freundschaftlich verbunden war.60 In einem Feuilleton, ganz frei von skeptischen Zwischen- oder Untertönen, sprach Thausing freimütig von einer Versuchung, der er hier – schreibend – nachgegeben hatte: «[…] es ist zu verlockend, als dass man es nicht versuchen sollte, sich die Persönlichkeit des großen Menschen im Lichte der neuen Entdeckung Jean Paul Richters wieder einmal zu vergegenwärtigen.»61 58 Henri de Geymuller, Les derniers travaux sur Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 28 (1886), S. 357–376 [Bd. 33], 143–164 und 274–293 [Bd. 34]. Das Fazit auf S. 275. – Bezüglich Heinrich von Geymüller siehe vor allem Josef Ploder, Heinrich von Geymüller und die Architekturzeichnung. Werk, Wirkung und Nachlass eines Renaissance-Forschers, Wien etc. 1998. 59 Siehe Kommentar zu Brief Nr. 839 (Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. 7, Basel 1969, S. 397): «Die Rolle des rein Visionären bei L. [Leonardo da Vinci] hat B. [Burckhardt] noch nicht völlig ermessen, sonst hätte er auch der neuen Hypothese J. P. Richters (vgl. Nr. 915) [dies der in unserer Einleitung zitierte, hier vor allem interessierende Brief ] nicht sofort zugestimmt.» – Diese Auffassung scheint von Joseph Gantner beeinflusst zu sein. Vgl. dagegen Walter Paters einleitend zitierte Sicht der Landschaften und zu diesem Thema generell auch Kap. 2 und 4 sowie Anhang A, Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›. 60 Siehe Peter Betthausen et al., Metzler Kunsthistoriker Lexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart/Weimar 1999, S. 410–411 (Peter H. Feist). – Hier ist die modernisierte Schreibweise des Namens verwendet (‹Moritz› statt ‹Moriz›). – Entschieden zustimmend äußerte sich später beispielsweise Edward McCurdy, Herausgeber einer viel aufgelegten und mehrfach übersetzten, ursprünglich englischsprachigen Leonardo-Anthologie (siehe Kap. 2), obwohl er die Texte – ob ihres zweifelhaften Status’ – seiner Anthologie zunächst nicht hatte inkorporieren wollen. Siehe für den Beleg der Zustimmung: Edward McCurdy, Leonardo da Vinci, London 1908 [zuerst 1904], S. 14. 61 Moritz Thausing, Wiener Kunstbriefe, Leipzig 1884, S. 191ff. (Zitat S. 192). – Als Feuilleton in der Neuen Freien Presse war dieser Text, der Buchfassung gemäß, im Jahre 1880 erschienen. Wahrschein-
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Worin bestand – für Moritz Thausing – diese Verlockung? – Leonardos Wesen wurde fasslicher (und zugleich noch faszinierender). Das Rätsel ‹Leonardo›, das heißt: mancher rätselhafte Zug an ihm, wurde erklärbar. Thausings frühe Einlassung – unter diesem Gesichtspunkt gesehen – war paradigmatisch. Denn sie breitete – in einem feuilletonistischen Stil – diverse Erklärungen vor allem aus, die sich aus der These zu ergeben schienen. Sie nahm den Impuls auf und dachte ‹Richter› sozusagen weiter: Zum einen war es die Gesamterscheinung Leonardos, die von einer kulturellen Befruchtung von außerhalb des europäischen Kulturkreises her nun gesehen werden durfte; zum anderen waren es Einzelzüge, die ihre Erklärung nun fanden, spezifische Gewohnheiten, wie etwa der Leonardo nachgesagte Hang zu luxuriöser Kleidung, die linksläufige, quasi-orientalische Schrift und – etwas kurios – Leonardos Distanz zum weiblichen Geschlecht.62 Dies war der alte, neue Leonardo, wie er Moritz Thausing im Lichte von Richters These nun erschien – wie er auch der Allgemeinheit nun erschien, ob der Einzelne dieser Erscheinung zu trauen geneigt war oder nicht.
1.2 Befremdung, Skepsis und Formierung einer Gegenmeinung Gilberto Govi (1826–1889),63 Galilei-Forscher, säkulärer Radikaldemokrat, Vertreter und Anwalt der exakten Wissenschaften und seinerzeit auch der wohl renommierteste Leonardist Italiens – er hatte es eilig mit einer Replik.64 Nicht nur weil er anderer Meinung war als Richter, sondern weil es offenkundig seinen Stolz als Patrioten verletzte, dass bestimmte Texte Leonardos im Ausland schon publiziert und diskutiert wurden, lich liegt hier ein Versehen vor. Denn Thausing spielt auf die einschlägige Wirkung von Richters ‹Entdeckung› an. Dies kann nur bedeuten, dass der Text in Wirklichkeit im Sommer 1881 erschienen ist. 62 Ebd., S. 197, 193 und 200. – Ein Rest von Zweifel deutete sich vielleicht darin an, dass auch die Reise ein Explanandum darstellte: Leonardos ‹Wanderlust› erklärte sich für Thausing aber schlicht von seinem problematischem Status als unehelich Geborener her (ebd., S. 194). 63 Siehe DBI. – Heinrich von Geymüller schätzte Govi als einen ‹ebenso distinguierten wie sympathischen› Gelehrten (Geymüller, a.a.O., S. 275). – Richter selbst hatte kein besonders enges Verhältnis zu den italienischen Leonardisten. In seinem Aufsatz (LdViO, S. 138f., Fn 1) hatte er einen Kontakt zum Herausgeberkreis des so genannten «Saggio» (1872) durchblicken lassen (dabei handelte es sich um eine Art Anthologie mit photographischen Reproduktionen ausgewählter Folios aus dem Codex Atlanticus). Auch Govi gehörte zu diesem Herausgeberkreis (und man hatte – Richter zufolge – die Angabe ‹Sultan von Babylon› für absurd befunden und von einer weiteren Entzifferung des Briefmaterials abgesehen). – Gustavo Uzielli, den italienischen Leonardisten, der im Schatten Govis stand und – im Unterschied zu diesem – keine prestigeträchtige Funktionen in der Wissenschaftslandschaft Italiens innehatte, hatte Richter im Winter 1880/81 zu kontaktieren versucht (siehe Francesco P. Di Teodoro, Il carteggio vinciano di Gustavo Uzielli, in: ALV 5 (1992), S. 141). Im Austausch gegen eine Monographie Uziellis hatte er seine Publikation betreffend Leonardos Orientreise in Aussicht gestellt. Uzielli gehörte später – anders als Govi – zu den Subskribenten der Anthologie (siehe die diesbezügliche Liste in R I, Erstausgabe). Dennoch scheint ein eigentlicher Kontakt nicht zustande gekommen zu sein, womöglich weil Uzielli sich einem solchen auch entzog. 64 Gilberto Govi, Alcuni frammenti artistici, letterari e geografici di Lionardo da Vinci, in: Atti della r. Accademia dei Lincei, Serie 3, Transunti, Vol. V (1880–1881), S. 312–317.
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bevor man in Italien davon Kenntnis hatte und bevor man Leonardo in Italien jenes Denkmal gesetzt hatte, das man ihm schuldete.65 Seine eilige und recht eigentlich improvisierte Publikation war somit auch von gewichtiger symbolischer Bedeutung. Und schon früh lag mithin ein Grundtext vor, in dem sich eine Gegenposition zu Richter formulierte, in den Veröffentlichungen der altehrwürdigen Römer Accademia dei Lincei aktenkundig wurde und als ein nachmaliger Referenztext dienen konnte: «Quanto alle notizie sul monte Tauro, sull’Armenia e sull’Asia minore che si contengono negli altri frammenti, esse vennero prese da qualche geografo o viaggiatore contemporaneo. Dall’indice imperfetto che accompagna quei frammenti, si potrebbe dedurre che Leonardo, volesse farne un libro, che poi non venne compiuto. A ogni modo, non è possibile di trovare in questi brani nessun indizio di un viaggio di Leonardo in oriente, nè della sua conversione alla religione di Maometto, come qualcuno pretenderebbe. Leonardo amava con passione gli studî geografici, […], non è quindi strano che egli, abile narratore com’era, si fosse proposto di scrivere una specie di Romanzo in forma epistolare, svolgendone l’intreccio nell’Asia Minore, interno alla quale i libri d’allora, e forse qualche viaggiatore amico suo, gli avevano somministrato alcuni elementi più o meno fantastici.»66
Govis Text kann als der Grundtext angesehen werden, in dem sich eine dezidierte Gegenposition zu Jean Paul Richter zum ersten Mal artikulierte. Govi lancierte den alternativen Deutungsvorschlag, der es den Skeptikern von nun an erlauben sollte, ein anderes Paradigma zu entwickeln. Doch die ‹neue› Perspektive stellte die Allgemeinheit vor nicht viel weniger Probleme, wenn auch vor ganz andere. Dem Maler, dem Ingenieur,. dem Naturforscher war Leonardo als Literat zur Seite zu stellen. Dass Leonardo die. theoretische, zugleich praxisorientierte Seite der Malerei zur Geltung hatte bringen wollen – sein ‹Malerbuch›, obschon eine Kompilation, kann als sein Erbe bezeichnet werden –,. war allgemein bekannt. Neu war, dass Leonardo sich als ein Literat auch anscheinend versucht hatte, wenn auch nicht gleich fasslich wurde, von welcher Art diese Literatur nun war: Ernsthaft oder scherzhaft, illusionistisch-realistisch oder phantastisch, bloß für den ‹Hausgebrauch› – für die Bottega – oder für den Hof oder gar eine eigentliche literarische Öffentlichkeit bestimmt. 65 Ebd., S. 312 und 313. – Govi vertrat in Sachen Leonardo-Edition eine nicht ganz einfach fassbare, vielleicht auch widersprüchliche Position. Es scheint, als ob er weder der ‹integralen› noch – als Mitinitiant des «Saggio» – der ‹auszugsweisen› Editionsmethode ganz abgeneigt gewesen ist; und er sorgte sich zudem auch um das Bild von Leonardo, das sich in Anwendung der einen oder anderen Methode vermitteln würde. Damit brachte er einen Gesichtspunkt ins Spiel, der heute als überwunden gelten kann: Sollte man auch Aussagen Leonardos publizieren, die mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaften offenkundig in Widerspruch standen? – Tendenziell und vorläufig sprach sich Govi für eine von Experten bewerkstelligte auszugsweise Edition aus, die jedoch sicher stellen musste, dass man kein unwesentliches Material veröffentlichte und auch nur solches, welches eben für sich allein stehen konnte und nicht – womöglich aus dem Zusammenhang gerissen – eine problematische Bedeutung erhielt. Govi hatte für sich bereits eine Fülle von Transkriptionen erstellt und bahnte so auch einer – wohlgemerkt integralen – Edition des Codex Atlanticus den Weg. 66 Ebd., S. 312. Die etwas inkonsequente Rechtschreibung ist belassen. – Den Abschnitt hat auch Richter nachmals in den Apparat seiner Anthologie übernommen.
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Eine Position der Unschlüssigkeit In einem polarisierten Meinungsklima ist eine Position der Unschlüssigkeit schwer zu behaupten. Unschlüssigkeit an sich erscheint als schwach; und nur zu leicht wird der Unschlüssige für die eine oder andere Seite des Meinungsspektrums reklamiert. Dennoch stellt sich – vor allem aus heutiger Sicht – die Frage, ob sich Unschlüssigkeit im Nachhinein nicht als die klügere Haltung entpuppt als Meinungsfreudigkeit. Unschlüssigkeit jedenfalls kennzeichnete von Anbeginn an auch die Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung. Es ging darin auch um Ungesagtes, um die Implikationen von Ideen, die man nicht gerne aussprach. Und es wurde allmählich ersichtlich, dass die These einer Orientreise nicht einfach vom Tisch zu kehren war, so wenig sie sich im strengen Sinne erhärten ließ – und eine Position der Unschlüssigkeit vetrat Charles RavaissonMollien67, der erste Herausgeber der Pariser Manuskripte Leonardos. Seine Position war ambivalent, sie erschien manchen als schwankend, während andere ihm Sympathien für die sozusagen andere Seite unterstellten.68 Und außerdem warf er im Zusammenhang seiner Darlegungen selbst kuriose Fragen auf, die ihrerseits – kleinere – Kontroversen stimulierten.69 Wenn Festlegungen aufgrund von Meinungsfreudigkeit effektvoll waren – in Unschlüssigkeit wohnte Ambivalenz, das heißt es wurde auch der Möglichkeit, die andere verabschiedet hatten, der Rang einer realen Möglichkeit zuerkannt. Ravaisson-Mollien 67 Die biographischen Informationen sind spärlich (siehe für das Folgende: Gustave Vapereau, Dictionnaire universel des contemporains, Paris 1893, S. 1302; und Jean-Claude Polet, Patrimoine littéraire européen, Bd. 12, Bruxelles 2000, S. 531): Charles Ravaisson-Mollien (1840 oder 1848–1919), «curateur adjoint» in der Sammlung der griechischen und römischen Skulpturen des Louvre, war ein Sohn des berühmten Philosophen und Archäologen Félix Ravaisson-Mollien und steht bis heute in dessen Schatten (bezeichnend ist, dass er in Vapereaus Dictionnaire nur im Eintrag des Vaters gewürdigt und nicht mit einem eigenen Eintrag bedacht ist). Gemäß beiläufigem Zeugnis des Sohnes hatte sein Vater einen regelrechten häuslichen Leonardo-Kult gepflegt (Charles Ravaisson-Mollien, Les écrits de Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 49 (1881), S. 231). Charles realisierte dann – mit Unterstützung des französischen Staates – den Lebenstraum des Vaters: die Herausgabe der Pariser Manuskripte Leonardos in Faksimile, Transkription und Übersetzung. 1881 war der erste Band dieser auch mit Preisen bedachten Reihe erschienen. 1883, im gleichen Jahr wie Richters Anthologie, erschien der nächste Band (siehe BV, Bd. 1, S. 29ff.). Ravaisson-Mollien wurde im Übrigen 1894 Ehrenbürger von Vinci (siehe ebd., S. 335), Jean Paul Richter dagegen – soweit bekannt ist – nie. 68 Geymüller sah in dieser Unschlüssigkeit etwas Signifikatives (a.a.O., S. 274f.; Zitat S. 275): «Les fluctuations de l’opinion de M. Charles Ravaisson sur cette question sont un miroir fidèle des hesitations et de l’embarras que l’on éprouve, en présence de ces documents aussi inattendus que nouveaux.» Hier kommt der Irritationsaspekt der ‹orientalischen Frage› geradezu mustergültig und konzis zum Ausdruck. – Wilhelm Lübke (siehe unten) äußerte sich später in dem Sinne, dass Ravaisson-Mollien versucht hätte, die These zurückzuweisen (Wilhelm Lübke, Lionardo da Vinci als Architekt, in: ders.: Kunstwerke und Künstler. Dritte Sammlung vermischter Aufsätze, Breslau 1886, S. 222). 69 Dies betriff die kuriose Hypothese einer Schweizer Reise Leonardos bzw. einer ‹Rigifahrt› (siehe BV, Bd. 1, Nr. 792, 799, 828, 861). Diese alsbald verworfene Vermutung ging auf die bloße Assoziation der Datierung von Leonardos früher Arno-Landschaft (nämlich auf den Tag ‹Maria zum Schnee›) mit einer Kapelle – Maria zum Schnee – auf dem Rigi-Berg zurück. Die besagte Kapelle war allerdings – wie Heinrich von Geymüller zu zeigen vermochte – erst später, d.h. nach Leonardos Tod, entstanden.
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– wie später der italienische Leonardist Edmondo Solmi – hielt es für angebracht, die Frage in der Schwebe zu halten; und damit allein war Ideen eine Dignität verliehen, die andere verabschiedeten (den Unschlüssigen als Gegner nun auch wähnend). Ob Leonardo als Augenzeuge geschrieben hatte – Jean Paul Richter hatte sich dies von Anbeginn an gefragt. Und auf diesen Aspekt legte nun, lange bevor eigentliche Studien über das Schreiben Leonardos vorlagen, Charles Lévêque sein Augenmerk.70 Leonardo hatte sich eines rhetorischen Kunstgriffs bedient, der auf Anschaulichkeit aus ist: Er schrieb über manche Dinge so, als ob er sie vor Augen hätte.71 Befand er sich auch nicht am Nil, so gab er dem Leser doch zu verstehen, was man sah, wenn man vom Nildelta gen Süden blickte. Der ‹Schüler der Erfahrung›, könnte man auch sagen, verarbeitete und veranschaulichte auch Informationen aus zweiter Hand, denn wenn er nicht vor Ort gewesen war, bedeutete ‹wir sehen› oder ‹es zeigt sich dort› nichts anderes als ‹wir glauben zu wissen› (ohne dass wir es selbst aber gesehen haben). Eine besonders originelle rhetorische Strategie war dies beileibe nicht, und andere hatten sich ihrer im literarischen Zusammenhang weit elaborierter bedient, etwa Petrarca. Kennzeichen Leonardos – oder seine Eigenheit – war es vielleicht eher, nicht durchblicken zu lassen, ob er selbst gesehen hatte, was er schilderte. Vielleicht auch nur, weil er es für selbstverständlich hielt, etwas vor Augen zu führen, was er vor dem ‹inneren Auge› (aufgrund seines Wissens) sah – ein Etwas, von dem er – als Augenzeuge, als Epiriker – aber keine direkte Kenntnis hatte. «Comme étant sous ses yeux» sprach er also – gelegentlich – reale Phänomene an. Die Literatur tat dies seit jeher und ganz unbefangen. Aber im Falle von Leonardo war es neu und aufregend, sich ihn als einen Reisenden vorzustellen, auch wenn er vielleicht in Wirklichkeit als ein ‹Schriftsteller› und als ein Lehnstuhlreisender sprach. Mit Petrarcas Begleitbuch für eine Pilgerreise lag gar eine Art Modell vor, wie man eine Orientreise gewissermaßen durchspielen konnte, ohne sich selbst auf eine solche Reise zu begeben.72 Und Petrarca ließ auch durchblicken, was ihn davon abgehalten hatte.73 Die Entdeckung Leonardos als eines Autors deutete sich also an, ohne dass man schon in der Lage gewesen wäre, aus rhetorischen Eigenheiten elaborierte Theorien abzuleiten. Erst musste die Grundlage geschaffen werden, Leonardo als Autor, als Philosophen, Kunsttheo-. retiker – und eben auch als einen Literaten (und zudem als Leser) – neu zu entdecken.74 70 Charles Lévêque, Les manuscrits de Léonard de Vinci, in: Journal des Savants 7/1882, S. 373–386. 71 Fünf Belegstellen: Ludwig Nr. 8 (‹Könige des Orients›; vgl. auch Anhang A, Kap. 1) und Nr. 936 (‹ägyptische Wüste›; vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Ägypten›); TuA, S. 247 (‹Sizilien›), S. 267 (‹Zypern, von Kilikien aus gesehen›); CA 901 [ex328v-b]: hier verwendet Leonardo, mit ‹Blick› auf die Meerenge von Gibraltar, die Formel ‹heute zeigt sich dort›. 72 Francesco Petrarca, Reisebuch zum Heiligen Grab, hrsg. von Jens Reufsteck, Stuttgart 1999. – Eine Lektüre Leonardos ist allerdings nicht belegt und das Werk hat auch in der Richter-Debatte keine Rolle gespielt. 73 Letztlich war es die Furcht vor Seekrankheit gewesen, jedenfalls lieferte dieser Grund im Rahmen der literarischen Konstruktion eine Entschuldigung (ebd., S. 8f.). 74 Diese Entdeckung vollzog sich in Schüben, vor allem nach Erscheinen von Richters Anthologie. Die Richter-Debatte kann von daher – in ihrer ersten Phase – auch als eine Art ‹Vorspiel› angesehen werden.
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Leonardo als Autor: The Literary Works of Leonardo da Vinci Wie Gustavo Uzielli treffend bemerkte, antwortete Richter auf seine Kritiker in seiner Anthologie.75 Genau genommen tat er dies sogar zweimal, nämlich 1883 und – posthum – 1939, in der zweiten Auflage. 1883 erschien also die Frucht der langjährigen Bemühungen Jean Paul Richters um Leonardo. Es erschien ein Werk, dessen Bedeutung im Grunde erst in der Rückschau angemessen gewürdigt werden konnte.76 Jean Paul Richter – nach durchstandenem ‹Abenteuer› – stellte die Beschäftigung mit Leonardo auf eine neue Textgrundlage, mit zweifelsohne weit reichenden (aber auch schwer überblickbaren) Folgen. Es handelte sich um eine thematisch geordnete Anthologie der schriftlichen (und teilweise zeichnerischen) Hinterlassenschaft von Leonardo da Vinci, die auch ein reiches und erlesenes Bildmaterial in einer herausragenden Reproduktionsqualität enthielt und erschloss.77 Es vermittelte dieses Werk also einem breiten Publikum jenen Zugang zu dem Material, den Jean Paul Richter selbst aufgrund seiner Beharrlichkeit, seines feux sacré und auch aufgrund von günstigen Umständen gefunden hatte. Gab es von Anbeginn an auch günstige, ja begeisterte Reaktionen (Morelli, in diesem Fall, zeigte sich restlos begeistert),78 so war die Aufnahme im Ganzen gesehen doch eher durchmischt, denn das Spektrum der begeistert lobenden bis feindlich-ablehnenden Po75 Uzielli, a.a.O., S. 72. 76 Siehe BV, Bd. 1, S. 47f. (Nr. 77). – An dieser Anthologie führt auch heute noch kein Weg vorbei, ganz einfach deshalb, weil Carlo Pedretti, der – zusammen mit Augusto Marinoni – bedeutendste italienische Leonardist des 20. Jahrhunderts, ihr einen großen, zweibändigen Kommentar beigestellt hat (P I/ II; vgl. etwa Joseph Gantner, Höhepunkte der Leonardo-Forschung. Carlo Pedrettis Kommentar zu Richters Anthologie, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 284 (3./4. Dezember 1977), S. 65). Wer immer sich Pedrettis Wissen zunutze machen will, geht zuerst auf den ‹Richter› zurück, dessen Textanordnung der Ausgangspunkt ist, um den ‹Pedretti› zu erschließen. Pedrettis Kommentar, der oft auch bloß auf Richters Kommentare verweist, berücksichtigt zwar systematisch auch andere Anthologien in seinen Stellenverweisen; doch mangelt es an einer Konkordanz, so dass eine andere Anthologie nie Ausgangspunkt sein kann, um im ‹Pedretti› nachzusehen. Kurz: Der Weg von jeder Originalstelle oder Faksimile-Edition hin zum ‹Pedretti› führt immer über ‹Richter›. Und zu Pedrettis Kommentar andererseits gibt es schlicht keine Alternative. Schließlich: Kaum einem Forscher und schon gar nicht dem allgemeinen Publikum sind dauerhaft die sehr teuren Faksimile-Ausgaben verfügbar. Das bedeutet: Auch an der Arbeit mit Anthologien führt kein Weg vorbei, und Richters Anthologie ist nach wie vor die einzige, die einen italienisch-englischen Paralleltext enthält, ganz abgesehen von dem sehr substanziellen Kommentar. Weder Faksimile-Ausgaben noch andere Anthologien haben Richters Werk somit ersetzt. Temporär, mit dem Vorliegen von Alternativen, hatte sich die Bedeutung zwar relativiert, dank der ‹Nobilitierung› durch Pedrettis Kommentar aber wieder verfestigt. 77 Richter hatte sich des seit Kurzem verfügbaren Heliogravure-Verfahres bedient (im Englischen auch als ‹Photogravure› bezeichnet; vgl. R I, S. xiii f.), eines manuellen Tiefdruckverfahrens, das eine für die Zeit hervorragende Reproduktionsqualität erreichte. Die Pariser Firma Dujardin (vgl. M/R, S. 183 und 191) verfertigte, auf Basis von fotografischen Negativen, die Reproduktionen, die so vorteilhaft gerieten, dass diese Reproduktionen ihrerseits als Vorlagen herhielten (vereinzelt beispielsweise in Eugène Müntz, Léonard de Vinci. L’Artiste, le penseur, le savant, Paris 1899). 78 M/R, S. 260–262: «Mein lieber und hochverehrter Freund – und Sieger, ja, als solchen dürfen Sie sich mit allem Recht betrachten, nachdem Sie nun Ihren «Leonardo» haben vom Stapel gehen lassen. Herrlich,
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sitionen war weit. Das Werk wurde wie schon erwähnt auch heftig angefeindet. Doch als ein neues Arbeitsinstrument – und aller Schwächen zum Trotz, derer man sich schon bald bewusst wurde –79 begrüssten doch auch viele diese Anthologie, offen oder insgeheim. Damit deutet sich das Urteil der Geschichte in diesem Fall schon an: Man könnte die begeisterten Stimmen zitieren, die das Werk als ‹unentbehrlich› oder gar als ‹Offenbarung› bezeichneten,80 aber das eigentliche Urteil hat die Geschichte gesprochen: Die LeonardoForschung arbeitet bis heute – unter anderem – eben mit diesem Instrument.81 Zu einem Prüfstein und Referenzwerk in Bezug auf die Fragen und ungelösten Probleme der Leonardo-Edition avancierte die Anthologie auch in der Perspektive der Zeitgenossen sofort. Diese Debatte war ab sofort auf einer neuen Grundlage zu führen. Es blutete den Patrioten zwar das Herz, aber in diesem Schmerz artikulierte sich womöglich auch ein Gutteil der Anerkennung für Jean Paul Richters Leistung. Die These einer Orientfahrt Leonardos verbreitete sich nun mit und in diesem Werk. Denn Richter hatte seine Ideen in dem Opus magnum gleichsam deponiert. Kam man an dem Referenzwerk nunmehr nicht vorbei, so eben auch nicht an den skandalösen Gedanken, die es nebst vielem anderen auch enthielt. Auch Charles Ravaisson-Mollien kam so – im Vorwort der von ihm besorgten Faksimiles der Pariser Manuskripte – auf die These Richters zu sprechen, und ein weiteres Referenzwerk verbreitete sie dergestalt weiter.82 Zwar gab es inhaltlich nichts Neues zu berichten, aber in gedrängter Form hatte Richter einen Ideenvorrat hinterlegt – und der umfangreichen Kommentierung des ‹Diodario-Materials› war die Bedeutung anzumerken, die Richter der Sache immer noch beimaß.83 Und in einer Bemühung um eine faire Auseinandersetzung fand auch die Position des Antipoden Govi ihre Berücksichtigung im Anmerkungsapparat. Sehnsuchtsbilder und Entdeckungsreisen Die Kunstkenner und Kunstforscher des 19. Jahrhunderts mochten sich selbst als eine Art Entdeckungsreisende fühlen. In fast ungebremster Mobilität – d.h. auch auf der Hut vor den gelegentlichen Ausbrüchen der Cholera – bereiste diese immens bewegli-
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herrlich, herrlich! Ich habe eine wahrhaft kindliche Freude an diesen zwei schönen Bänden, und lese jeden Tag ein paar Stunden darin. […].» Ein Hauptkritikpunkt ist und bleibt die Vernachlässigung der exakten Wissenschaften und der Technik. Siehe Leonardo da Vinci. Der Denker, Forscher und Poet, hrsg. von Marie Herzfeld, Leipzig 1904, S. iv, bzw. Scritti scelti di Leonardo da Vinci, hrsg. von Anna Maria Brizio, Torino 1952, S. 38. Herzfeld sprach – in einem allgemeinen Bezug auf die Wiederentdeckung Leonardos auf Basis seiner Schriften – von einem ‹Osterwunder› (ebd., S. ii). Vgl. exemplarisch Z I/II. Hier ist das Zitieren nach den Paragraphen der Anthologie eine Technik des Belegens neben anderen. Vgl. Ms B, ed. Ravaisson-Mollien, S. 2, Fn 1. – In Karl Woermanns Geschichte der Renaissance-Malerei (Woltmann/Woermann, a.a.O., S. 549), war der Orientaufenthalt 1882 – etwas vorschnell – bereits zum Handbuch-Stoff geworden. R II [Erstausgabe], S. 386ff., Nr. 1336 und 1337. Auch der einleitende Text zu der Sektion (‹Letters. Personal Records. Dated Notes›) ist zu berücksichtigen (S. 381–383).
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che Gruppe der Kunstenthusiasten, Privatgelehrten, Professoren, Händler und Museumsleute die Sammlungen Europas.84 Von einem anderen Schlag aber waren doch die Entdeckungsreisenden, die sich in buchstäblich unwegsames Gelände begaben, noch unerforschte Gebiete kartografierten – nicht ohne ein Bewusstsein, dass Kartografieren auch ein mentales In-Besitz-Nehmen bedeutete – und die sich (etwa im Kaukasus) die im europäischen Alpinismus gewonnenen Erfahrungen zunutze machten. Für die Sehnsuchtsbilder sorgten derweil – auch und insbesondere in Verarbeitung der Erkenntnisse der Wissenschaft – die Reiseschriftsteller, und einer, der diesbezüglich im deutschsprachigen Raum die wohl größtmögliche Wirkung entfaltete, stammte – wie Jean Paul Richter – aus Sachsen.85 Ein Zentrum der wissenschaftlichen Verarbeitung neuer Erkenntnisse war die Royal Geographical Society in London, und in einer Sitzung im Jahre 1884 – die Ära des Hochimperialismus war angebrochen –86 standen dort die Ergebnisse einer Reise durch Kleinasien zur Diskussion.87 Wie das Protokoll verlautet, meldete sich im Verlaufe der Diskussion auch der Bergsteiger Douglas W. Freshfield zu Wort, nicht um den eigentlichen Vortrag zu kommentieren, sondern um – vielleicht zur Überraschung der Anwesenden – zu einer eigentlichen Darlegung in Sachen ‹orientalische Frage› der LeonardoForschung auszuholen.88 Freshfield war ein erfahrener, renommierter Bergsteiger, der im Kaukasus geklettert war. Er war auch ein Geograph, der um die Bedeutung von gutem Kartenmaterial wusste und um die Geographie der Alten, die – was unerforschtes Gebiet anging – auch im 19. Jahrhundert, auch im Empire noch eine Grundlage darstellte.
84 Bezüglich der Cholera siehe M/R, S. 336, 340, 344 etc. 85 Karl May hatte just im Jahre 1881 begonnen, jene Reiseerzählungen zu publizieren, aus denen in den 1890er Jahren der so genannte ‹Orientzyklus› hervorgehen sollte (vgl. etwa Eckehard Koch, «Was haltet Ihr von der orientalischen Frage?». Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Mays Orientzyklus, in: Dieter Sudhoff / Hartmut Vollmer (Hg.), Karl Mays Orientzyklus, Paderborn 1991, S. 64–82). Darin verarbeitete er auch die Berichte des Archäologen, Assyriologen und Kunstsammlers Sir Austen Henry Layard, mit dem Jean Paul Richter im Übrigen persönlich gut bekannt, wenn auch nicht unbedingt befreundet war (vgl. M/R, S. 128, 131 etc.). 86 Richters Aufsatz war 1881 erschienen. Ein Jahr später sollte das Britische Imperium sich Ägyptens bemächtigt haben; Frankreichs Expansionismus griff aus nach Tunesien, und zugleich begann auch Italiens ‹Landnahme› in Ostafrika. 1884 nahm die Berliner Afrika- bzw. Kongo-Konferenz ihren Anfang, welche den ‹Wettlauf um Afrika› auch völkerrechtlich sanktionierte. 87 Wilson, a.a.O. 88 Ebd., Protokoll ab S. 323. – In der Diktion der Wortmeldung bzw. des Protokolls klingt – indem von einem Interesse an der ‹italienischen Präsenz› an der anatolischen Küste die Rede ist, – der Geist des kolonialistischen Zeitalters auch merklich an. – Die englische Dürer-Biographin Mary Heaton (siehe DoAH), des Deutschen offenbar gut mächtig, hatte Richters Aufsatz für ein englischsprachiges Publikum konzis zusammengefasst (Mary M. Heaton, Leonardo da Vinci in the East, in: The Academy Nr. 462 (12. März 1881), S. 194–195). In den ‹Periodicals› der Zeit finden sich im Übrigen häufig Besprechungen von aktuellen Reiseberichten, die gewissermaßen den Kontext abgeben für die Debatte der ‹orientalischen Frage› in den Spalten der Wochenschriften.
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Freshfield zeigte sich beiläufig sehr angetan von Richters Anthologie89 und kommentierte nun die vor einigen Jahren lancierte Debatte vom Standpunkt des Alpinisten, Geographen und Entdeckungsreisenden. Um imaginäre Reisen – um einen bloßen Flug der Phantasie – habe es sich gehandelt, soweit kam Freshfield zu keinem anderen Schluss als Govi. Freshfield legte jedoch auch den Finger auf die geographischen Namen, die Leonardo verwendet hatte, und machte offenkundig, dass es sich um bloße Übernahmen aus der antiken Tradition handelte, mit denen ein Reisender in den betreffenden Gebieten auf Unverständnis gestoßen wäre. Leonardo war demnach – hier ist das Wort auch angebracht – ein Lehnstuhlreisender gewesen, ein ‹armchair-traveler›, der zwar um die Geographie Kleinasiens wusste, aber sicher nicht mit der dortigen Bevölkerung in Kontakt getreten war90 und der auch keine Erfahrungen aus erster Hand in seinen Texten verarbeitete, sondern ‹old-world-fables›. Man nahm dies mit Erleichterung zur Kenntnis. Freshfields klare Darlegungen, die an einem so ungewöhnlichen Ort erschienen waren, wurden zu einem Referenzpunkt. Aufgrund kluger Textbeobachtungen konnte man Richters ‹mere flight of fancy› nun zurückweisen. Und die Möglichkeit einer Orientfahrt Leonardos schien so widerlegt. Aus berufenem Munde waren – gelassen ausgesprochen – klare Worte gekommen, aus denen jene nun Stärke bezogen, die Govis Meinung waren: Man mochte ihn einen Entdecker nennen –91 ein Entdeckungsreisender indes war Leonardo da Vinci nicht gewesen. Kronzeuge dieser Meinung war von nun an Douglas W. Freshfield, Bergsteiger und als ein solcher ein Entdeckungsreisender des Fin de siècle.
1.3 Positionsbezüge bis zum Ende des Jahrhunderts Welche Tragweite hatte die ‹orientalische Frage›? Dessen war man sich nicht sicher. Die Angelegenheit konnte nicht als bloßes Kuriosum abgetan sein, denn in den Referenzwerken der Forschung, in Richters Anthologie und alsbald auch in der FaksimileEdition der Pariser Manuskripte, die Charles Ravaisson-Mollien verantwortete, war sie aktenkundig geworden. Es entstand die Notwendigkeit, sich dazu zu äußern, aus Gründen des Prestiges oder weil der Gedanke eben zu radikale Implikationen barg, als dass man sich einer Äußerung hätte enthalten können. Diese Implikationen schienen es gleichermaßen opportun zu machen, sich zu exponieren oder sich besser nicht oder nur vorsichtig – vielleicht mündlich – dazu zu äußern, denn dem Fortschritt der Forschung zum Trotz – man bewegte sich biographisch doch auf einem unsicheren Grund, und die möglichen Schlussfolgerungen waren zu radikal. In dem historischen Raum, in dem die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung aufgekommen war, wurden parallel dazu nicht wenige, ähnlich aufwühlende Debatten geführt, die sich allerdings eher auf 89 A.a.O, S. 323 («sumptuous form»). 90 Eine Textpassage im ‹Diodario-Material› handelt von der Absicht einer Kontaktnahme mit den Bewohnern nördlich des Kaspischen Meeres (siehe Gantner, a.a.O., S. 240): «[…] wollte ich erst mit einigen von denen sprechen, die oberhalb des Kaspischen Meeres wohnen, […]». 91 Vgl. M/R, S. 198.
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einzelne Kunstwerke bezogen: 1880 hatte die Londoner National Gallery eine Fassung der Felsgrottenmadonna gekauft, und es entstand die Dringlichkeit, diese Fassung zu der bekannteren Pariser Fassung in ein wie auch immer geartetes Verhältnis zu setzen, eine Frage, die bis heute beschäftigt.92 1897 ‹stellte› Paul Müller-Walde das heute als Dame mit dem Hermelin bekannte Porträt der Cecilia Gallerani der Forschung ‹vor›.93 Und auch in diesem Zusammenhang waren Zuschreibungsfragen zu klären, die Identität der Dargestellten zu diskutieren. Und ab dem Jahre 1909 – um ein drittes Beispiel zu nennen – machte der Ankauf einer mit dem Namen Leonardos assoziierten Wachsbüste durch die Berliner Museen von sich reden, eine Angelegenheit, die heute als ‹FloraStreit› bekannt ist.94 All diese Streitfragen – und es sind hier nur einige genannt – zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, aber keine dieser Themen barg die Sprengkraft der ‹orientalischen Frage›, die Leonardos kulturelle Identität betraf und – zwar scheinbar kurios – von weit größerer Tragweite in Bezug auf das Bild des Künstlers war, dessen einzelne Leistungen man daneben – nicht minder streitlustig – ins Auge fasste. Ausdifferenzierung der Fragestellung Mit Richters Opus lag ein Referenzwerk vor, auf dessen Grundlage die allgemeinen Probleme der Leonardo-Edition nun neu besprochen werden konnten; und in den abschließenden, nachgeordneten Erörterungen kam das von Richter unter anderem aufgeworfene Sonderproblem wieder und wieder zur Sprache. Man drehte und wendete das Problem und entdeckte dabei – wenn auch nicht grundlegend neue Gesichtspunkte – so doch neue Teilaspekte. Lévêque hatte gleichsam den Anfang gemacht, indem er den Finger nochmals auf eine Eigenheit von Leonardos Stil gelegt hatte – als Quasi-Augenzeuge zu sprechen, auch wenn ihm die evozierte Landschaft gar nicht vor Augen stand. Im Abstand von einigen Jahren äußerte sich auch Heinrich von Geymüller, der den architekturgeschichtlichen Teil der Richter’schen Anthologie beigesteuert, ‹komponiert›, ‹redigiert› und kommentiert hatte, wie er selber schrieb.95 Im Rahmen eines Literaturberichts nahm er persönlich Stellung zu dem Sonderproblem, fasste aber auch die ihm mehrfach mündlich bekannt gewordenen – offenbar dringlichen, aber nicht in schriftlicher Form artikulierten – Überlegungen des Sammlers, Antiquars und Zeitschriftengründers Eugène Piot (1812–1890)96 zusammen, der sich heftig gegen die Möglichkeit
92 Vgl. Z I, S. 179 und 184; M, S. 123ff. Fast zeitgleich beschäftigte sich Richter zum einen mit der Orientthematik, zum anderen mit den Fragen, die das Londoner Bild aufwarf (siehe etwa M/R, S. 113). 93 Z I, S. 182 (die Formulierung ist von Zöllner übernommen). 94 Ulrike Wolff-Thomsen, Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturengalerie und das System Wilhelm Bode. Leonardo da Vinci oder Richard Cockle Lucas?, Kiel 2006. 95 Geymüller, a.a.O., S. 360. 96 Siehe DoA.
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einer Orientreise ausgesprochen hatte.97 Geymüller fand den Gedanken mehr als problematisch und neigte Govis Meinung zu, man habe es hier mit einer Fiktion zu tun.98 Die nun in unregelmäßigen Abständen gegebenen Zusammenfassungen der Debatte unterschieden sich in groben Zügen wenig voneinander, so dass sich leicht ermitteln lässt, welche eigenständigen Beiträge ein jeweiliger Autor der Debatte hinzufügte. Fast jeder Autor steuerte hier eine eigene Note bei. Und Geymüller legte den Finger auf ein methodisches Problem, auf die problematische Tendenz, aus dem Nicht-Vorhandensein von einschlägigen Dokumenten Schlüsse zu ziehen, die den etablierten Gewissheiten völlig zuwiderliefen. Geymüller insistierte kämpferisch auf diesem Punkt: «Nous combattrons constamment et de toute notre énergie une certaine école toujours prête à ériger la seule absence de documents en preuves négatives à l’égard de faits que la tradition ou d’autres indices ont établis ou ont rendus probables.»99
Geymüllers Kritik konnte – wenn man so will – auf beide Seiten des Streits bezogen werden. Das Schweigen Leonardos, ein Motiv das mehrfach noch zur Sprache kommen wird, war den einen ein Indiz oder gar ein Beleg, dass die Reise stattgefunden hatte, denn dieses Schweigen wurde mit dem vermeintlich skandalösen Sachverhalt zusammengedacht, sich als kultureller Überläufer in den Orient begeben zu haben. Die Reise erklärte das Schweigen, das Schweigen belegte die Reise. Hier bewegte man sich tatsächlich im Kreise. Aber auch die Absenz von Dokumenten – der Mangel von Spuren einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem Orient, und so gesehen auch ein Schweigen – machte andererseits die Reise wenig plausibel, wobei allerdings (verkomplizierend) angemerkt werden muss, dass auch umstritten blieb, ob es nun eine Fülle von Materialien war, die vorlag, oder ob nun doch eher Mangel herrschte. Es lag dies – wie noch so manches andere – im Auge des Betrachters.100 97 Die hauptsächlichen Gründe von Piots ablehnender Haltung fasste Geymüller folgendermaßen zusammen (a.a.O., S. 275, Fn 1): «[…] des impossibilités matérielles, puis le silence des contemporains, de Vasari surtout […], l’animosité des musulmans, la grande expérience des Arabes en matière d’irrigation et leur éminence dans les travaux mathématiques, enfin l’état de guerre entre les sultans du Caire et l’empereur de Constantinople qui rendaient l’accès de l’Arménie difficile.» – Ohne allzu beckmesserisch zu sein, sei doch daran erinnert, dass 1453, als Leonardo da Vinci ein Jahr alt war, das byzantinische Reich unterging, und es keinen Kaiser von Konstantinopel mehr gab. 98 Ebd., S. 279. 99 Ebd., S. 275. 100 Wie viel im Auge des Betrachters liegt, was die Identifizierung eines im Porträt dargestellten Menschen angeht, d.h. wie ‹Sehen› und (vermeintliches) Wissen also zusammenwirken, kann am Beispiel der seinerzeit so genannten ‹armenischen Köpfe› verdeutlicht werden, drei Rötelzeichnungen Leonardos, in denen wohl ein und derselbe Mann in drei Ansichten dargestellt ist (Turin, Biblioteca Reale, Nr. 15573 bzw. DT; R II, Tafel CXX; P II, S. 292, Fn 1, im Rückblick auf Richters Deutung als ‹drawing of oriental heads›; M, S. 196). Es herrscht heute zwar die Meinung vor, dass es sich hierbei um Cesare Borgia handelt (ohne hier weiter auf die entsprechenden Begründungen einzugehen), doch dieser Vorschlag steht bloß am vorläufigen Ende einer langen Reihe von Deutungsvorschlägen (siehe Carlo Pedretti, im Kommentar zu DT). Und zudem erwarteten manche – im Zusammenhang mit diesem Namen – das Antlitz eines ‹tropischen Ungeheuers›. Wieder andere allerdings erwarteten einen eher nordischen
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Folgte man Richters Überlegungen, so war es der junge Leonardo, den die Reiselust gepackt hatte, bzw. den es aus Florenz fortgetrieben hatte. In Jacob Burckhardts Nachfolger am Züricher Polytechnikum, in Wilhelm Lübke, fand die These nochmals einen Anhänger.101 Der Elsässer Kunsthistoriker Eugène Müntz, der in Sachen Leonardo sehr produktiv war und gegen Ende des Jahrhunderts – und auf Basis seiner vielen Aufsätze – eine synthetisierende Monographie vorlegte, verhielt sich sehr reserviert. Doch das Thema ‹Leonardos Jugend› hatte es ihm angetan und in einem Aufsatz nahm er sich das Thema, im Grunde nun ein Synonym für die ‹orientalische Frage›, eingehend vor.102 Andere, auch Sigmund Freud, sollten ihm auf diesem Pfad noch folgen.103 Und Müntz, obschon er nicht zu grundlegend neuen Schlüssen kam, warf so als erster die Frage auf, ob die eventuelle Hinwendung zum Orient etwas mit mangelnder Mobilität, d.h. mit unerfüllter Reiselust zu tun hatte, die sich in imaginativen Formen einen Ausgleich schuf. Die Grundgedanken waren ausgesprochen und fanden manche Variation. Bis auf Weiteres interessierten Einzelmotive, Einzelfragen, und man konzentrierte sich darauf – vielleicht auch deshalb, weil man auf Grundlage der vorliegenden Texte nicht weiter kam oder bloß unwillkürlich neue, noch kuriosere Fragen aufwarf. Es zeichneten sich Entwicklungslinien, Tendenzen und auch Meinungslager in der Diskussion ab. Dies allerdings abgesehen von einer markanten singulären Einzelstimme, die in ganz demselben historischen Raum sich äußerte, in dem – in Fachkreisen – die ‹orientalische Frage› behandelt wurde und die als Einzelstimme dennoch außerhalb dieses Diskussionszusammenhanges zu stehen schien, wiewohl das Gesagte sich wiederum doch unwillkürlich darauf bezog. Typus (und glaubten diesen in der Zeichnung gar zu erkennen): Vgl. Robert Wallace / Redaktion der Time-Life Bücher, Leonardo da Vinci und seine Zeit. 1452–1519, o.O. 1971, S. 122: «Cesare Borgia war in seiner Erscheinung mehr ein nordischer als ein mediterraner Typ. Es besteht daher guter Grund, diese Rötelzeichnung Leonardos als Porträt des Condottiere anzusehen. Leonardos Darstellung des lockigen, blonden Bartes, wie ihn Cesare getragen haben soll, unterstützt diese Annahme.» – Richter hatte – vor dem Hintergrund seiner These – ‹drei orientalische Köpfe›, ‹vielleicht Armenier›, gesehen (LdViO, S. 140; vgl. auch Seidlitz, a.a.O., S. 212). Noch Olschki bezog sich – wiewohl er der These Richters kritisch gegenüberstand – affirmativ auf diese Deutung (Leonardo Olschki, Asiatic Exoticism in Italian Art of the Early Renaissance, in: Art Bulletin 26 (1944), S. 97. 101 Vgl. Lübke, a.a.O., S. 222. – Burckhardt folgend – aber die Quelle im Wortlaut auch zitierend – verwies auch Lübke auf Felix Fabri, den Ulmer Dominikaner, der im Mamlukenreich deutsche Handwerker gesehen bzw. von ihren Leistungen gehört hatte. Wichtiger war hier der Subtext, den die Aussage enthielt: Prinzipiell war es möglich gewesen als deutscher, als europäischer Handwerker oder Ingenieur außerhalb des eigenen Kulturkreises zu wirken. Andere hatten es getan – warum also nicht auch Leonardo? Das Widerstreben, diesem Gedanken zu folgen, kann Heinrich von Geymüller vielleicht am besten illustrieren: Andere ließe man wohl gerne ‹ziehen›; aber da es sich um Leonardo handelte, war man nicht geneigt, sich mit diesem Gedanken so rasch zu befreunden (a.a.O., S. 279). 102 Eugène Müntz, Une éducation d’artiste au XVe siècle. La Jeunesse de Léonard de Vinci, in: Revue des Deux Mondes 83 (1887), S. 647–680. 103 Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Werke aus den Jahren 1909–1913), London 1943 [urspr. 1910], S. 201: «[…] phantastische Produktionen des jugendlichen Künstlers, die er zu seiner eigenen Unterhaltung schuf, in denen er vielleicht seine Wünsche, die Welt zu sehen und Abenteuer zu erleben, zum Ausdruck brachte.»
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Exkurs: Nietzsches Leonardo104 Jacob Burckhardt hatte auf die Zusendung von Richters Aufsatz am 15. März 1881 brieflich geantwortet. Zwei Tage vorher, am 13. März 1881, hatte auch Friedrich Nietzsche, Burckhardts ehemaliger Kollege an der Basler Universität, einen Brief geschrieben, allerdings nicht an Burckhardt und auch nicht in Sachen Leonardo. Friedrich Nietzsche, der Basel 1879 verlassen hatte, schrieb aus Genua an seinen Adlatus und Freund Heinrich Köselitz (alias Peter Gast): «Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff, ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen […]. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen.»105
In anderen Worten: Wo es am andersartigsten war, dort sah Nietzsche – jedenfalls theoretisch und weit davon entfernt, diese Idee jemals in die Tat umzusetzen – die ideale Beobachterposition, um auf den europäischen Kulturraum zu blicken und aus dem Kontrast Erkenntnis zu beziehen. Nietzsche, heißt dies auch, sah Europa und den Islam in seiner reinsten, strengsten Ausprägung, in einem scharfen Gegensatz;106 und theoretisch spielte er mit dem Gedanken – den man rückblickend auch Leonardo zugetraut hatte – sich diesem Gegensatz für eine Dauer von etwa zwei Jahren auch auszusetzen. Wir wissen nicht, ob Friedrich Nietzsche jemals von der ‹orientalischen Frage› der Leonardo-Forschung gehört hat. Nachdem er Basel verlassen hatte, begab er sich noch zweimal – sporadisch – auf Besuch dorthin, begegnete – 1882 und 1884 – wahrscheinlich auch Jacob Burckhardt.107 Doch die beiden hatten sich zunehmend entfremdet, und ob Jacob Burckhardt – in der Verlegenheit, über den Zarathustra, das etappenweise im Entstehen begriffene philosophisch-literarisch Großwerk des ‹Freundes›, etwas sagen zu müssen – auf das Thema ‹Leonardo› auswich, muss offen bleiben. Wenn uns Nietzsche zwar nicht explizit überliefert hat, dass er mit dem Debattenstoff vertraut war – es hat immerhin den Anschein, dass er es war: Im Frühjahr 1885 begab der damals noch keineswegs europaweit bekannte Friedrich Nietzsche sich nach Venedig und kam zu Besuch zu Köselitz, der eben die Druckfahnen des vierten, privat erscheinenden Teil des Zarathustra gegenlas.108 Dem Zeugnis Köse104 Dieser Exkurs steht in einem komplementären Verhältnis zum Exkurs ‹Rainer Maria Rilke in Toledo› in Abschnitt 1.4 und sollte im Hinblick auf diesen gelesen werden. 105 Zitiert nach Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996, S. VIII (Bezug auf KGB III/1, S. 68, Brief vom 13. März 1881). 106 Diese Position im Gegensatz zu Rainer Maria Rilke (siehe unten). 107 Edgar Salin, Vom deutschen Verhängnis. Gespräch an der Zeitenwende: Burckhardt – Nietzsche, Hamburg 1959, S. 106. 108 Raymond J. Benders et al., Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten, München/Wien 2000, Nietzsche-Chronik, S. 606ff. – Im März 1885 hielt sich im Übrigen auch Jean Paul Richter in Venedig auf (M/R, S. 387).
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litz’ zufolge erblickte Nietzsche in seiner Wohnung eine Reproduktion des damals noch nicht allbekannten ‹Selbstporträts›, erblickte also Leonardo, wie man ihn sich weithin bis heute vorstellt, und reagierte mit dem Ruf «Aah! das ist ja Zarathustra! so ungefähr hab’ ich ihn gedacht!».109 Ebenfalls in diesem Frühjahr, wann genau ist unbekannt, versuchte Nietzsche dann, sich seiner Anschauung bezüglich des ‹Dreigestirns› der Renaissance (also Raffael, Michelangelo und Leonardo) zu vergewissern, und er notierte über Leonardo jenen Gedanken, den dann auch Karl Jaspers – in einer Gedenkrede auf Leonardo im Jahre 1952 – wieder aufgreifen sollte:110 «L‹eonardo› da Vinci hat vielleicht allein von jenen Künstlern einen wirklich überchristlichen Blick gehabt. Er kennt «das Morgenland», das innewendige so gut als das äußere. Es ist etwas Über-Europäisches und Verschwiegenes an ihm, wie es Jeden auszeichnet, der einen zu großen Umkreis von guten und schlimmen Dingen gesehn hat.»111
Nietzsche scheint hier, ob in Zusammenhang mit der oben erwähnten Bildbegegnung oder nicht, einen Leonardo zu evozieren, der besagte Gegensätze ausgehalten hatte, der über die Grenzen Europas (oder des christlichen Abendlands) hinausgeblickt hatte und der – ganz wie Jean Paul Richter es sich vorgestellt hatte – darüber Schweigen bewahrte. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Ob Nietzsche um die Forschungskontroverse wusste, lässt sich nicht mehr feststellen. Aus seinen Äußerungen über Leonardo, aus dem Wissen auch, das wir über seine Lektüren besitzen, geht dies nicht hervor; doch er stand noch in einem, allerdings sehr sporadischen und nicht mehr sehr vertrauten Kontakt zu Jacob Burckhardt, der seinerseits – buchstäblich – Kenntnisse aus erster Hand besaß. Nietzsche sah des Weiteren den europäischen Kulturkreis seiner Zeit in einem scharfen Kontrast zum islamischen Kulturkreis, und er stellte sich Leonardo da Vinci als einen kulturellen Grenzgänger vor, der gewissermaßen eine Synthese verkörperte, eine Synthese aus Ost und West, und in sich die Spannungen aushielt, die sich aus diesem Gegensatz ergaben. Kennzeichnend für Nietzsches Umgang mit der Historie ist es, dass er um eine Rückbindung an die Quellen nicht weiter besorgt war, wenn er historische Figuren oder ganze Epochen als Sinnbilder entwarf. Für Nietzsche kennzeichnend ist es auch, dass er eine Grenze vielleicht nicht bewusst verwischte, aber doch nicht eigens kennzeichnete: die 109 Mazzino Montinari, Ein neuer Abschnitt in Nietzsches «Ecce Homo», in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 395, Fn 27. Leider zitierte Montinari ohne Quellenangabe, bezog sich aber vermutlich auf den in Weimar befindlichen Nachlass ‹Heinrich Köselitz›. – Für einen ersten Hinweis auf die Thematik ‹Nietzsche und das Turiner Selbstporträt› danke ich Miguel Skirl. 110 Karl Jaspers, Lionardo als Philosoph, Bern 1953, S. 70. Auch Ernst Bertram hatte den – nie zur Publikation bestimmten – Gedanken in seinem Nietzsche-Buch aufgegriffen (Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Bonn 91985, S. 267f.). 111 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1884 – Herbst 1885, in: KGA, Abteilung 7, Band 3, Berlin/New York 1974 [vgl. auch den Nachbericht zur siebenten Abteilung, zweiter Halbband (Frühjahr 1884 – Herbst 1885), Berlin/New York 1986], Fragment 34 [149], S. 190f. (erste Fassung: S. 354).
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Grenze zwischen historischer Realität und Nachschöpfung in Form eines Sinnbildes.112 Dazwischen öffnet sich jedoch, wenn man der Grenze sich bewusst wird, eine Kluft – hier eine Kluft zwischen dem historischen Leonardo und dem von Nietzsche evozierten oder ins Allgemeine gewendet: die Kluft zwischen dem historischen Leonardo, wie er in Rückbindung an die biographischen Quellen vergegenwärtigt werden kann, und dem ‹Leonardo› der Überlieferung, der sich nach den Wunschvorstellungen bestimmter Interessen formt (und so gesehen eine Manipulation von Geschichte darstellt). Nietzsches Leonardo kann für sich als ein Sinnbild einer kulturellen Synthese bestehen; doch es steht zu fragen, ob diese Vorstellung von Leonardo sich mit einem Leonardo-Bild, wie es die Leonardo-Forschung entwirft, noch deckt. Dazu ist in die Forschungskontroverse zurückzugehen – in jene Kontroverse, die von der Frage handelt, ob dem historischen Leonardo in der Tat etwas ‹Über-Europäisches› eignete, das von einer bestimmten Erfahrung zeugen musste, über die der historische Leonardo ein Schweigen gebreitet hat. In Florenz, soviel ist bekannt, suchte Nietzsche noch im gleichen Jahr 1885, sich seines Verhältnisses zu Leonardo weiter zu vergewissern113 – zu einem Leonardo, wie er ihm auf Köselitz’ Zimmer erschienen war, einem Verwandten der literarisch-philosophischen Spielfigur, die er im Begriffe war weiter zu entwickeln (obschon dieser Prozess im Weiteren dann abbrach), einem Verwandten des Zarathustra. Die Anstreichungen in seinem Reiseführer sind uns Indiz, was Nietzsche in Florenz im Jahre 1885 sah. Und wir wissen, dass er Bilder sah, die man zu jener Zeit für Gemälde Leonardos hielt, aufgrund von Zuschreibungen, die heute nicht mehr haltbar sind. So öffnet sich erneut eine Kluft zwischen Imagination und historischer Realität, die daran erinnert, dass es im Rahmen von Forschung um die Haltbarkeit von Behauptungen geht und nicht um das Verfertigen von suggestiven Sinnbildern, die in ihrem eigenen Recht stehen mögen, doch mit ‹haltbaren› Aussagen nicht verwechselt werden sollten. In den 1890er Jahren schien die Debatte sich auf einen Schlusspunkt hin zu entwickeln. Weniger ein dramatischer denn ein nüchterner Schlussakkord schien zu erwarten, denn der Positivismus hatte Leonardo entdeckt. Auguste Comte, der Begründer der Soziologie, hatte einen Kalender entworfen, in dem eine Vielzahl historischer Größen die katholischen Heiligen ersetzen sollte. Comte hatte Leonardo zwar nicht als einen Wissenschaftler, sondern als einen Maler aufgefasst und ihm – zusammen mit Tizian – einen Tag gewidmet bzw. zugeeignet,114 doch für die Entdeckung des Naturforschers und Ingenieurs, der zur Leitfigur der wissenschaftlich-technischen Welt noch avancieren 112 Bezüglich Nietzsches Renaissance-Bild im Allgemeinen siehe Volker Gerhardt, Die Renaissance im Denken Nietzsches, in: August Buck / Cesare Vasoli (Hg.), Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania / Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, Bologna/Berlin 1989, S. 93–116. 113 Siehe Tilman Buddensieg, Nietzsches Italien. Städte, Gärten und Paläste, Berlin 2002, S. 135. Die Vorgeschichte vom Frühjahr ist hier allerdings kein Thema. 114 Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 2002 [frz. Originalausgabe 1989], S. 634f.
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sollte, war man bereit. In den 1890er Jahren erschien die Leonardo-Monographie von Gabriel Séailles, der die positivistische Grundhaltung deutlich anzumerken ist.115 Und die ‹orientalische Frage› fand ihren Ort in einer gesonderten Erörterung im Anhang; ja diese Erörterung eröffnete gar den Anhang als einen solchen.116 Und – in einer eleganten Form nationaler Beschlagnahmung – schloss die solide Zusammenfassung der Debatte mit einem abwehrenden Urteil, indes im gleichen Zusammenhang die Möglichkeit einer frühen Frankreich-Reise Leonardos aufgeworfen wurde, von der man noch keine allgemeine Kenntnis hatte. Der Leonardist Gustavo Uzielli (1839–1911),117 auch ein Erforscher des mit Leonardo vielleicht bekannten Geographen Paolo Toscanelli, verfügte nicht über die Publikationsmöglichkeiten seines Antipoden Govi. Zwar veröffentlichte er in Abständen von Jahren seine Dokumentenstudien, doch in die Debatte eingegriffen hatte er nicht. Vielleicht hatte er es nicht gewollt, vielleicht nicht vermocht. Mit einem Abstand von vielen Jahren lieferte er eine der – in bibliographischer Hinsicht – genauesten Bestandsaufnahmen. Und auch er neigte schließlich einer ablehnenden Haltung zu, unterschied sich aber in einer Nuance von seinem Gegenspieler und Konkurrenten Govi, der in weit besseren Positionen saß. Uzielli mochte nicht an die Möglichkeit glauben, dass Leonardo einen phantastischen Roman – wie Mandeville, den Uzielli in diesem Zusammenhang erwähnt – hatte schreiben wollen. Vielmehr musste es sich seiner Meinung nach um ein – ernsthaftes – Projekt gehandelt haben. Und Uzielli dachte in diesem Zusammenhang an einen Reisenden, an eine literarisch-legendenhafte Figur des Anacharsis, der – ein Skythe – die griechische Kulturwelt bereiste und – als Heimkehrer – sich als Philhellene geschmähnt sah. Herodot erwähnt diesen Reisenden; und vielleicht ist Leonardo in der Tat diesem Namen einmal begegnet. In Diogenes Laertios jedenfalls findet er Erwähnung, und Leonardo – was Uzielli gewusst haben könnte –118 besaß eine Ausgabe der Leben der Philosophen.119 Im frühen 20. Jahrhundert mochte es scheinen, dass Carl Brun, Privatdozent in Zürich, den endgültigen Schlussstrich unter die Debatte über die ‹orientalische Frage› gezogen bzw. ein eigentliches Schlusswort gesprochen hatte. In Wirklichkeit fasste er sie bloß so zusammen, dass es den Anschein hatte, dass die Frage nun erledigt war. Im Jahre 1897, also noch vor der Jahrhundertwende, hielt Brun im Zürcher Rathaus einen Vortrag, über den auch die Neue Zürcher Zeitung ausführlich berichtete.120 Denn zu 115 Gabriel Séailles, Léonard de Vinci. L’Artiste & le savant 1452–1519. Essai de biographie psychologique, Paris 1912 [ursprünglich 1892]. Ein expliziter Bezug auf Auguste Comte findet sich auf S. 202. 116 Ebd., S. 225ff. 117 Neben der oben schon erwähnten Literatur vgl. auch Ettore Verga, [Nekrolog] Gustavo Uzielli, in: RV 7 (1912), S. 149–150. 118 Es scheint sich allerdings eher um einen klugen intuitiven Wink gehandelt zu haben als um einen in der Arbeit mit den Quellen gewonnenen Befund. 119 Dies ist schon vor Entdeckung der CM I/II (CM II mit der umfangreichen Bücherliste Leonardos) bekannt gewesen. Siehe R II, S. 366 (insbesondere Apparat). 120 E.M. [Emil Müller], War Leonardo da Vinci im Orient oder nicht?, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 50 (19. Februar 1897), Morgenblatt, o.S. [S. 2].
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einer Zeit, da ‹aller Augen auf den Orient gerichtet waren›,121 interessierte sich – in der Einschätzung der Zeitung – auch ein breiteres Publikum für die Frage, ob Leonardo da Vinci im Orient gewesen war. In einer Druckfassung lagen die Ausführungen erst sechzehn Jahre später und im Rahmen einer Festschrift vor.122 Von einem Schlusspunkt in der damaligen Debatte kann deshalb keine Rede sein, auch wenn Brun – im Selbstbewusstsein, jene Frage entschieden zu haben, die er unmittelbar nach Erscheinen von Richters Anthologie noch nicht für «spruchreif» gehalten hatte –123 eine Abschiedsrhetorik bemühte: «Sollen wir uns darüber grämen, dass die Orientreise Leonardos, diese romantischste Episode seines Lebens, meteorgleich, wie sie in seiner Biographie auftauchte, wieder verschwand?»124
Brun verneinte diese Frage. Es war zwar schade um die Episode, aber es tat der Größe Leonardos keinen Abbruch. Doch wenn Brun in der Wir-Form hier sprach, so schloss er doch all jene aus, die mit Befremden, ja vielleicht Entsetzen das Auftauchen dieser Episode in der Biographie eines europäischen Helden gesehen hatten. Gerne gesehen hätte es nur ein Teil des Publikums – und nicht jener Teil, dessen Unwillen schon Richter antizipierte –, wenn die Realität die romantischste Phantasie noch überboten hätte. Am Ende des Jahrhunderts standen zwei Paradigmen zur Debatte: Entweder gehörte Leonardos Reise in einen Atlas der Künstlerreisen, soweit Richters Position. Oder sie gehörte in eine Anthologie imaginärer Künstlerreisen, dies gleichsam die Gegenmeinung. Von Beginn an hatte man, um sich von den Möglichkeiten ein Bild zu machen, auf andere Künstler verwiesen, deren Reisen nicht umstritten waren. Gentile Bellini, dies stand unzweifelhaft fest, war in Istanbul/Konstantinopel gewesen;125 Atalante Fioravante 121 Dieses einleitende Wort des Rezensenten dürfte sich auf den 1896/97 um Kreta geführten griechischtürkischen Krieg bezogen haben. – Im Übrigen nahm Brun, indem er auf Leonardos vermeintliches ‹Schweigen› bezüglich seiner Reise zu sprechen kam, Bezug auf ein Thema, das – über Frankreich hinaus – für Aufsehen gesorgt hatte, nämlich auf den Einzug des ersten muslimischen Abgeordneten, Philippe Grenier aus Pontarlier, in die französische Nationalversammlung. Brun schrieb launig trocken (S. 315): «Er [Leonardo] brauchte ja nicht seinen Mohammedanismus […] öffentlich zu affichieren und im Arno, wie der Deputierte Dr. Grenier in Paris in der Seine, seine Fußbäder coram populo zu nehmen; […].» Bezüglich des in Algerien zum Islam konvertierten Grenier siehe Jean Jolly (Hg.), Dictionnaire des parlementaires français, Paris 1960–1977, Bd. 4, S. 1881. 122 Carl Brun, Die Orientreise Leonardos, in: Festgabe für Gerold Meyer von Knonau, Zürich 1913, S. 305– 320. 123 Siehe Carl Brun, [Rezension von] Jean Paul Richter (Hg.), The Literary Works of Leonardo da Vinci, 2 Bd., London 1883, in: Zeitschrift für bildende Kunst 19 (1884), S. 330. 124 Ebd., S. 320. 125 Daran lässt auch die aktuelle Forschung keinen Zweifel, die sich allerdings eines möglicherweise daran anschließenden Aufenthalts Bellinis im Heiligen Land nicht sicher ist. Siehe bezüglich Istanbul jüngst: Alan Chong, Gentile Bellini in Istanbul: Myths and Misunderstandings, in: Caroline Campbell / Alan Chong (Hg.), Bellini and The East, London 2005, S. 106–129 (und S. 132–135). Die Möglichkeit einer Pilgerfahrt hatte Jürg Meyer zur Capellen ins Auge gefasst (siehe Jürg Meyer zur Capellen, Gentile Bellini, Stuttgart 1985, S. 94 und seinen Artikel ‹Gentile Bellini› in AKL). Man vergleiche auch: ders., Gentile Bellini im Orient, in: Hermann Fillitz / Martina Pippal (Hg.), Europa und die Kunst des Islam. 15. bis 18. Jahrhundert, Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Band 5,
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(Aristotele Fioravanti) ging nach Moskau (und kehrte nicht mehr heim).126 Und oft fand der Architekt Michelozzo Erwähnung, den man in Zypern wähnte. In diesem Zusammenhang ist es nicht erstaunlich, dass sich die Spezialforscher ihre je eigenen Gedanken machten: Camille Enlart zum Beispiel erwog nun den Gedanken, dass Leonardo einen Zwischenhalt in Zypern gemacht hatte. Auf den Bahnen der Künstlerreisen folgte man den Entwicklungen der Kunstgeschichte; Reisen – abstrakter gefasst als Routen – stellten so gesehen Einflussnahmen oder Beeinflussungen dar, aus denen man sich verschiedenste Entwicklungen und Phänomene erklärte. Eins führte zum anderen: Wenn Leonardo in Armenien gewesen war, war er – wie wir noch sehen werden – als Einflussnehmer aufzufassen. In Enlarts Bezug auf die Debatte klang es bloß an – aber nicht nur im Rahmen einer Debatte um die kulturelle Identität einer Leitfigur war die ‹orientalische Frage› von Bedeutung. Auch die Weltkunstgeschichte oder zumindest die Geschichte der Renaissance-Kunst, gesehen in einer erweiterten Perspektive, stand vor der Frage, welche Bedeutung eine mutmaßliche Reise wohl gehabt haben mochte. Beziehungsweise: Sie stand auch vor der Frage, welche Bedeutung sie mutmaßlich gehabt haben mochte, falls es sie gegeben hätte. So gesehen bereicherte auch die bloße Denkmöglichkeit ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen den verschiedenen Kunstlandschaften Europas und des Orients und – wenn es auch mit einer Klärung nicht weit her war – die Fragestellung regte doch ungemein an. Ein Feld von Möglichkeiten hatte sich erweitert, und solange es sich noch um eine ungeklärte Frage handelte, hielt man sich dieses Feld auch offen.
1.4 Von der Jahrhundertwende bis zum Gedenkjahr von 1919 Ein Schlussakkord – indes – war ausgeblieben. Leonardos Itinerar – das Ausmaß und die Art seiner Reisetätigkeit – blieb auch nach der Jahrhundertwende umstritten. Unermüdlich sichtete und erfasste der italienische Leonardist Ettore Verga die Neuerscheinungen auf dem Feld der Leonardo-Forschung; und allem Anschein nach fast unerschütterlich (da einiges gewohnt) registrierte er, Verga, die Auffassungen des einen oder anderen Autors: «Confutazione del preteso viaggio in Svizzera nel 1472, […]. Confutazione del preteso viaggio a Roma sostenuto dal Calvi. […] Confutazione del preteso viaggio a Napoli ed in Oriente.»127
Dieses ‹Registrar› bezog sich auf eine Veröffentlichung des Neapolitaners Nino Smiraglia Scognamiglio, der sich erneut das Thema der Jugend Leonardos vorgenommen hatte. Wien 1983, S. 137–145, insbesondere was den Titel angeht, der an LdViO angelehnt zu sein scheint (aber nicht unbedingt sein muss). 126 Siehe AKL (und DoA). Ein Versuch, die Stadt zu verlassen, führte 1483 zu seiner Verhaftung. Fioravanti starb in Moskau. 127 [Ettore Verga], [Rezension von] Nino Smiraglia Scognamiglio, Ricerche e documenti sulla giovinezza di Leonardo da Vinci, 1452–1482, Napoli 1900, in: RV 3 (1907), S. 74f.
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Die Studie ist hier, abgesehen von den Widerlegungen der einen oder anderen These, von Belang, weil darin erstmals eine Lesart Jean Paul Richters korrigiert wurde, die mit der ‹orientalischen Frage› indirekt zu tun hat. Leonardo hatte einen burlesken Brief offenkundig phantastischen Inhalts an einen Adressaten gerichtet, den Smiraglia nun als Benedetto Dei zu identifizieren vermochte.128 Dieser Name war bzw. wurde allmählich bekannt, denn es handelte sich um eine schillernde Persönlichkeit des Quattrocento. Benedetto Dei – man darf sagen – war ein Florentiner Original, eine Generation älter als Leonardo, Chronist, Briefschreiber, aber vor allem ein Reisender, der für eben diese Briefe aus entfernten Weltregionen bekannt war. Schon die Zeitgenossen dürften aber – wie auch die Nachwelt – im Unklaren über das tatsächliche Ausmaß seiner Reisetätigkeit geblieben sein. War Dei wirklich, wie er behauptete, nach Timbuktu gelangt? Hatte er – in Konstantinopel – mit dem Sultan parliert? Als eine Person des öffentlichen Lebens dürfte Leonardo da Vinci Benedetto Dei sicherlich gekannt haben. Dieser war auch ein Freund von Luigi Pulci, dem Autor des Versepos Morgante, der seinen Freund Dei im Rahmen brieflicher Kommunikation mit einem «Salamalec» zu grüßen beliebte.129 Ob Leonardo Benedetto Dei wirklich persönlich gekannt hat, wissen wir nicht mit Sicherheit. Es ist dies durchaus möglich, zumal Dei in Mailand tätig war, als auch Leonardo sich dort aufhielt. Aber da Dei Leonardo nie erwähnt hat, können wir nicht sicher davon ausgehen. Leonardo jedenfalls – in einem Briefentwurf – sprach Dei an, teilte ihm Neues mit, und zwar scheinbar aus dem Orient. Diesen Brief, der ganz offenkundig phantastischen Inhalts ist – er handelt von einem Giganten, der letztlich den Briefschreiber verschlingt – hatte Richter zwar nicht ignoriert gehabt, doch gerade weil der Brief eindeutig phantastischen Inhalts war, hatte er ihn auch nicht gerade in den Vordergrund seiner Betrachtungen gerückt. Beide Texte erschienen in der Sektion ‹Briefe› im Rahmen der Anthologie. Aber er hatte keinen Anlass gesehen, die Texte – im Horizont der ‹orientalischen Frage› – aufeinander zu beziehen. Es waren beides ‹Briefe›, doch in Bezug auf Realitätsgehalt, Funktion und literarische Gattung hob er sie voneinander ab. Man musste nun nicht zu der Auffassung gelangen, dass auch das ‹Diodario-Material› phantastischen Charakters war, was immer dies (im Horizont moderner Literaturwissenschaft) bedeutete. Aber in der Korrektur der Lesart, die Smiraglia vorlegte, liefen doch einige Tendenzen der Forschung der vergangenen Jahrzehnte in einem Punkt zusammen:
128 Siehe Gerolamo Calvi, Leonardo da Vinci e il Conte di Ligny ed altri appunti su personaggi Vinciani, in: RV 3 (1907), S. 99–110. Richter hatte die Anrede als ‹Benedetto de’ Pertari› gelesen. In der zweiten Ausgabe der Anthologie wurde dies korrigiert (R II, S. 339, Nr. 1354). 129 Paolo Orvieto, Un esperto orientalista del ’400: Benedetto Dei, in: Rinascimento 9 (1969), S. 211, Fn 3. – Auf Pulcis Morgante ist in Kap. 2 und vor allem in Anhang A häufig Bezug genommen, da dieses Werk eine Art ‹Speicher› der unterschiedlichsten Diskurse und populären Wissensinhalte darstellt, auch im Besitz von Leonardo nachgewiesen ist und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit von ihm gelesen wurde.
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Man hatte – als ein selbst außerordentlich mobiles Zeitalter und nicht erst seit dem Kolumbusjahr von 1892 – die Reisen und die Reisenden vergangener Epochen neu entdeckt. Man war im Begriff – über die geographische Kritik hinaus – auch eine neue Sensibilität zu gewinnen im Hinblick auf die Gattung ‹Reisebericht›, und zwar eine auch literarische Sensibilität.130 Und – hier vielleicht die wichtigste, aber nur vor dem Hintergrund des Gesagten zu wertende Dimension: Man entdeckte Reisende im Umfeld Leonardos und die Reiseliteratur in seiner Bibliothek, d.h. in seinem Buchbesitz.131 Wenn Richter Leonardo als einen ‹Autor im weitesten Sinne des Wortes› fassbar gemacht hatte – dies war ja auch der Sinn gewesen, in dem Richter die Vokabel ‹literarisch› im Titel seiner Anthologie verstanden hatte –, so wurde Leonardo nun als Leser fassbar, als ein Leser, der sich die literarischen Formen seiner Zeit anzuverwandeln versuchte und der höchstwahrscheinlich auch ein aufmerksamer Ohrenzeuge der literarischen Kommunikation in seiner Umwelt gewesen war.132 Entsprechendes Hintergrundwissen wurde nun allmählich fassbar. Und erneut – im Rückblick – stellt sich die Frage, ob es an diesem Hintergrundwissen nicht zu einem guten Stück noch fehlte, um die ‹orientalische Frage› wirklich angemessen zu beantworten. Alles in allem schien man einer Lösung eher auf dem Felde der Literaturgeschichte näher zu kommen. Jedenfalls machte die Entdeckung, dass Leonardo sich an einen anderen Briefschreiber und Reisenden gewandt hatte, es doch wahrscheinlicher, dass auch das ‹Diodario-Material›, wenn nicht als dokumentarisches Material, so eben als ein literarisches Projekt zu werten war. Die ‹orientalische Frage› und der Renaissancismus Zur Darstellung der Renaissance in Prosa, Lyrik und Drama hatte das Fin de siècle seit geraumer Zeit gedrängt. Diese europäische Erscheinung, eine allgemeine Vorliebe für die Stoffe und die Ästhetik der Renaissance, die man – oft in einem vulgär-nietzscheanischen Sinne – als Szenerie gestaltete, die von lauter Gewalt- und Übermenschen bevölkert und bewohnt war,133 ist – vor allem mit Blick auf die deutsche Literatur mit 130 Die verstärkte Beschäftigung mit einem der erfolgreichsten Reisebücher des Mittelalters, mit Mandevilles Reisen, mag hier als Beispiel dienen. 131 Bereits Freshfield erwähnte – mit Verweis auf Richter – Mandevilles Reisen im Zusammenhang mit Leonardo (Douglas W. Freshfield, The Alpine Notes of Leonardo da Vinci, in: Proceedings of the Royal Geographical Society and Monthly Record of Geography 6 (1884), S. 336). Vgl. sodann die Hinweise von Geymüller auf mehrere italienische Reisende der Renaissance-Epoche (a.a.O., S. 280, Fn 1). 132 Man kann sich leicht vorstellen (auch wenn Belege fehlen), dass Leonardo die ‹literarischen Fehden› seiner Zeit durchaus im Blicke hatte. Man denke etwa an Luigi Pulci, der gegen andere Dichter, insbesondere aber auch gegen Marsilio Ficino ins Felde zog – also gegen eine Persönlichkeit, die – wie Pulci – zum Kreis der von den Medici protegierten ‹Kulturschaffenden› gehörte. 133 Siehe als Ausgangspunkt Henning Ottmann, [Art.] Renaissance/Renaissancismus, in: ders. (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 311–312.
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dem Begriff ‹Renaissancismus› belegt worden.134 Doch es handelt sich um ein übergreifendes Phänomen, das national (und auch gattungsspezifisch) je eigene Ausprägungen gefunden hat.135 Parallel zum Aufschwung der Leonardo-Forschung hatte dieses Phänomen sich entwickelt und teilweise waren Forschung und literarische Aktivität in eine sehr enge Beziehung getreten. Der russische Autor Dimitri Mereschkowski beispielsweise – zeitweilig ein Anhänger Nietzsches,136 wiewohl er sich dann von dem Philosophen wieder entfernte – war in den 1890er Jahren mit dem Leonardisten Gustavo Uzielli bekannt geworden und gestaltete – sichtlich unter Benutzung der einschlägigen Anthologien – einen LeonardoRoman, der zum Weltbestseller avancierte.137 Später sollte er zum Stichwortgeber eines sich radikalisierenden deutschen Konservativismus avancieren.138 Von einigen zwar einprägsamen, aber eher marginalen Motiven abgesehen hatte die orientalische Exotik, hatte der Orient aber in diesem Buche keinen Raum.139 Anders dagegen der ‹Osten›, verstanden als russischer Kulturraum, in dem die allgemeine Menschheitsentwicklung, wie Mereschkowski sie sah, einer Synthese zustrebte, einer Synthese aus Heidentum und Christentum.140 Die Figur Leonardo da Vinci – in seinem Roman – hatte Mereschkowski ganz ähnlich wie Nietzsche als eine sinnbildliche Figur gedacht. In 134 Vgl. etwa Achim Aurnhammer, «Zur Zeit der großen Maler». Der Renaissancismus im Frühwerk Hugo von Hoffmannsthals, in: August Buck / Cesare Vasoli (Hg.), Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania / Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, Bologna/Berlin 1989, S. 232–260. Stärker auf den politischen Gehalt fokussiert ist Frank-Rutger Hausmann, Renaissance und Renaissancismus im 19. Jahrhundert, in: Freiburger Universitätsblätter 38 (Dezember 1999) [Thema: Europäische Renaissancen. Grundlagen zur Begriffsbildung], Freiburg 1999, S. 9–16. Eine theatergeschichtliche Perspektive hat Gerd Uekermann, Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin/New York 1985. 135 Vgl. Adam Wandruszka, Der internationale Renaissancismus, in: Buck / Vasoli (Hg.), a.a.O., S. 37–43. – Gelegentlich wurden in diesen Renaissancismus auch orientalische bzw. orientalistische Motive verwoben. Vgl. hier insbesondere Bernhard Fehr, Walter Paters Beschreibung der Mona Lisa und Théophile Gautiers romantischer Orientalismus, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 70 (1916), S. 80–102. 136 Vgl. Bernice Glatzer Rosenthal, D. S. Merezhkovsky and the Silver Age: The Development of a Revolutionary Mentality, Den Haag 1975; und insbesondere auch dies., Stages of Nietzscheanism: Merezhkovsky’s Intellectual Evolution, in: dies. (Hg.), Nietzsche in Russia, New Jersey/Guildford 1986, S. 69–93. 137 Dmitri Mereschkowski, Leonardo da Vinci, Berlin o.J. [1973] [übersetzt von Erich Boehme; russ. Originalausgabe 1901]. – Mereschkowski war im Übrigen, bevor er diesen Roman vollendete, in Kontakt mit dem Leonardisten Gustavo Uzielli gekommen. Siehe Romano Nanni, Le ragioni di una mostra, in: Roberto Paolo Ciardi / Carlo Sisi, [Kat.] L’immagine di Leonardo. Testimonianze figurative dal XVI al XIX secolo, Vinci/Firenze 1997, S. 14. 138 Volker Weiss, Dostojewskijs Dämonen. Thomas Mann, Dmitri Mereschkowski und Arthur Moeller van den Bruck im Kampf gegen «den Westen», in: Heiko Kauffmann / Helmut Kellershohn / Jobst Paul (Hg.), Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie, Münster 2005, S. 90– 122. 139 Zum Beispiel zeigt der Roman einen abergläubischen Moro, der ein Stück einer ägyptischen Mumie als Talisman in einem Amulett mit sich führt (Mereschkowski, a.a.O., S. 240). Vgl. auch Anhang A (Motiv des asiatischen Katers). 140 Siehe nochmals den konzisen Aufsatz von Glatzer Rosenthal, a.a.O.
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dieser Figur bereitete die besagte Synthese sich vor. Und die Begegnung Leonardos mit den Ikonenmalern aus dem russisch-orthodoxen Kulturkreis wies in diesem Denkmodell voraus auf das noch Kommende. In diesem Ansatz hatte das Orientalische – im Sinne einer Berücksichtigung des muslimischen Kulturraums – keinen Platz. Die ‹orientalische Frage›, wie sie hier verstanden wird, hatte in diesem Buch keinen Ort und fand keinen Widerhall. Und dies gilt im Grunde ganz allgemein auch für den Renaissancismus als eine kulturelle Tendenz. Es mag erstaunen, dass der Renaissancismus das Motiv einer Orientfahrt Leonardos, wie es scheint, nicht aufgegriffen hat. Doch beim näheren Hinsehen finden sich durchaus Gründe, aus denen dieses ‹Desinteresse› sich erklärt: Zum einen gelangte die Fragestellung, die ja vor allem in gelehrten Zirkeln behandelt wurde, nicht in die Grundtexte des europäischen Renaissancismus hinein. Diese Grundtexte waren erschienen, bevor Richter auf den Plan getreten war und bevor die Leonardo-Forschung – nicht nur, aber auch dank ihm – einen allgemeinen Aufschwung erlebte. Weder über Burckhardt, Pater oder Gobineau, deren Renaissance-Bilder sich im Renaissancismus variiert, vergröbert oder mit einem vulgarisierten Nietzscheanismus angereichert hatten, gelangte die Motivik der ‹orientalischen Frage› in die Hauptströmungen des Renaissancismus hinein. Der Leonardo der Renaissance-Moden war zudem schon gestaltet, und er war schwerlich jener kulturelle Grenzgänger, den Richter – man darf sagen – sich erfand. Der Inbegriff des Malers, dessen Interessen auf das Schöne und das Bizarre gerichtet waren, interessierte als Leitfigur eines Kults der Schönheit (und komplementär auch des Abseitigen und Schrecklichen) und nicht als Leitfigur des Kosmopolitismus oder gar als Symbol kulturellen Grenzgängertums. Der Leonardo des Ästhetizismus und der Dekadenz war von einem anderen Schlag als jener, den Nietzsche sich in seinen privaten Aufzeichnungen als Über-Europäer entwarf. Und mit dem historischen Leonardo, dessen kompliziertes Wesen die historische Forschung sich zu erfassen bemühte, hatten die zumeist eindimensionalen Kunstfiguren des Renaissancismus schon gar nichts zu tun. Andererseits verdankte es sich vielleicht auch Zufällen, dass kein ‹seelenkundiger Romanschreiber› – ein Wort, das Sigmund Freud auf Mereschkowski münzte –141 diese Motivik gestalten mochte, die – ein gutes Jahrhundert später, und in einem vielfachen
141 Freud, a.a.O., S. 175. Vgl. auch Manfred Clemenz, Freud und Leonardo. Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation, Frankfurt a.M. 2003, S. 111ff. – Freud nahm – in seinem Leonardo-Aufsatz von 1910 – auf die ‹orientalische Frage durchaus Bezug, betrachtete Richters These aber als widerlegt (S. 200f.). Bemerkenswerterweise spekulierte er über die Motivation des (vermeintlich) jungen Leonardo, eine exotische Erzählung zu schreiben und er vermutete, wie oben vermerkt, Reiselust als Motiv (bezüglich der diesem Denkansatz zugrunde liegenden problematischen Datierung des Materials siehe weiter unten). Nebenbei warf Freud zudem noch eine neue, gleichsam ‹orientalische› Frage auf (S. 156ff.): Ob nämlich Leonardo da Vinci mittelbar oder unmittelbar von den Hieroglyphika des Horapoll Kenntnis gehabt haben mochte (was eine Rolle spielte im Rahmen seiner Deutung der berühmten ‹Kindheitserinnerung› und was man nach heutigem Kenntnisstand vorsichtig bejaht). Eingehender behandelt ist die Thematik im Anhang A, Synopse, Sektion ‹Ägypten›.
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Bezug auf den europäischen Renaissancismus – doch in einen Roman hineinfand, aber erst im Renaissancismus der Postmoderne, d.h. erst in den 1990er Jahren.142 Forschung und literarische Produktion waren und blieben enger aufeinander bezogen, als es der Wissenschaft im Rückblick zu sehen vielleicht lieb ist. Manche Forscher verkörperten geradezu die Doppelbewegung, den Aufschwung der Forschung und die Anreicherung des im Raum vom Forschung gedachten mit den literarischen Imaginationen der Zeit. Edmondo Solmi, der in einem Referenzwerk die literarischen und wissenschaftlichen Quellen Leonardos ausgebreitet hat –143 was es bis heute erleichtert, Leonardos Vorbilder und Abhängigkeiten herauszuarbeiten –, bediente sich im Rahmen seiner Leonardo-Biographie quasi-literarischer Darstellungsformen. Und mit Solmi trat – vielleicht bezeichnenderweise – wieder ein Autor in Erscheinung, der sich dafür entschied, die ‹orientalische Frage› als eine offene Frage zu betrachten.144 Wenn Meinungsfreudigkeit konkrete Szenarien entwarf und ausgestaltete, so bedeutete Unschlüssigkeit in dieser Frage eine ganz bestimmte Haltung, die der verführerischen und zugleich schreckenden Phantasie nicht gleich eine Absage erteilen wollte. Unschlüssigkeit bedeutete auch Ambivalenz, und in Ambivalenz waren mehr Denkmöglichkeiten enthalten als in nüchternen Absagen auf Basis von philologischen Erkenntnissen. Es konnte an der Frage selber liegen, dass Unschlüssigkeit ihrer im Grunde gemäß war. Aber es konnte auch an den Dispositionen der Forscher, Philosophen und 142 Siehe Kap. 5. 143 Edmondo Solmi, Le fonti dei manoscritti di Leonardo da Vinci, Giornale Storico della Letteratura Italiana, supplemento 10–11, Torino 1908 [Solmi]. Bald darauf erschienen auch die Nuovi contributi alle fonti dei Manoscritti di Leonardo da Vinci, in: Giornale Storico della Letteratura Italiana 58 (1911), S. 297–357. 144 Edmondo Solmi, Leonardo da Vinci, Berlin 1908, S. 50ff.: «Einige moderne Biographen, die sich nicht damit begnügen, dieses umherirrende Genie zu beobachten, wie es stets danach strebt, der Wissenschaft und Kunst ein Denkmal zu setzen […], wollen Leonardo noch nach dem Orient und nach Armenien verschlagen. Von Neapel aus, wohin er teils zu Land, teils zu Wasser gelangte, und wo auch die herrliche Beschreibung der Insel Zypern entstand, soll er nach Armenien gegangen sein, ‹um in jenem Staate mit Ruhe und Musse seine Kräfte zu betätigen›. Von dort soll er dann vom Devadâr des Sultan Kait Bey (1468–1496) nach Kairo berufen worden sein. Hier bewunderte er die Größe der Natur, machte Skizzen armenischer Typen, Zeichnungen von Felsen und Bächen, Beschreibungen hoher Berge und Landschaften und zeichnete den Lauf des Euphrat und Tigris. Aber mehr noch als von dem Schauspiel der Natur fühlte er sich von den glühenden Predigten eines ‹neuen Propheten› gefesselt, vor dem sich Menschen und Dinge in Verehrung neigten. Dieser Prophet war von der Bevölkerung Kleinasiens eingekerkert worden und verkündete großes Elend, das dem Lande als Strafe von dem allmächtigen Gotte geschickt werden wird. Und wirklich verwüstete eine Überschwemmung und ein zu gleicher Zeit stattfindender Einsturz des Berges Taurus das ganze westliche Armenien. […]». – Die verunglückende Paraphrase gerät hier zu einer eigentlichen Erzählphantasie. Solmi referiert des Weiteren die Argumente, die gegen die Historizität des Geschilderten sprechen. Aber er schließt (S. 52): «Das ist alles richtig, aber wenn man hin und wieder einige plumpe und gleichzeitig genaue Skizzen von Menschen und Dingen aus dem Orient, unklare Aussprüche über asiatische Persönlichkeiten und Gebräuche findet, so befällt die Seele des Kritikers wieder der Zweifel und die Unzulänglichkeit dieser Beweise bestätigt sich. […]».
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Literaten liegen, dass zwischen historischer Imagination und Wissenschaft eine klare Trennlinie zu ziehen bisweilen schwierig war. Ganz im Kontrast zu Solmi kompilierte Woldemar von Seidlitz dann die Informationen, die im Hinblick auf die ‹orientalische Frage› nun vorlagen und inkorporierte sie in einem noch heute lesenswerten Werk, das gewissermaßen die Klärungsversuche nochmals Revue passieren ließ, ohne dass von einem eigentlichen Prozess der Klärung die Rede sein konnte.145 Einem Fortschritt der Forschung zum Trotz, denn es wurde – je mehr Details gesammelt worden waren – auch immer anspruchsvoller, noch einen Überblick zu wahren. Um einen solchen bemühte sich von Seidlitz, fügte aber neue Gedanken seiner Rekapitulation der Debatte nicht eigentlich hinzu. Vielleicht war es doch die Sache der Dichter, der allmählich ‹alten› Frage noch neue Aspekte abzugewinnen. Um 1910 verengte sich schließlich – aufgrund eines Dokumentenfunds – das für eine Orientreise Leonardos noch in Betracht zu ziehende Zeitfenster: Der Vertrag von 1483 über die Verfertigung der so genannten Felsgrottenmadonna wurde bekannt gemacht und publiziert.146 Exkurs: «Eine Art Ansichtskarte» – Rainer Maria Rilke in Toledo In einem kurzen Schreiben aus Toledo wusste der Dichter Rainer Maria Rilke alle Register der Briefkunst zu ziehen. Das Schreiben ging im November 1912 an die befreundete hochschwangere Malerin Mathilde Vollmoeller, Ehefrau des Malers Hans Purrmann, die kurz darauf ihr Kind gebären sollte.147 Rilke gab sich alle Mühe, zusammen mit seiner in Stuttgart befindlichen Briefpartnerin – und durch das Geschriebene hindurch – Toledo zu sehen, das heißt imaginativ zu evozieren. Rilke arrangierte Bilder und Gedanken zu einem kunstreichen dichterischen Gewebe, zu einer Textur, innerhalb derer auch ein Auftritt Leonardos seinen Platz erhielt: «[…] und, da man doch nun einmal immer von einer räthselhaften Reise fabelt, die ihn [Leonardo da Vinci] z.B. nach Arabien gebracht hat, so macht es mir Freude zu erfinden, er sei hier gewesen, hätte hier die arabische Schrift und die verschlungene Vegetation ihrer alten Geheimnisse durchforscht, hätte sich das Profil dieser Brücken eingeprägt und den reinen Begriff dieser Mauern; denn ich kann mir keinen Ort vorstellen, der seinem Herzen so genügt 145 Woldemar von Seidlitz, Leonardo da Vinci, der Wendepunkt der Renaissance, 2 Bd., Berlin 1909 [eine Ausgabe letzter Hand erschien 1935 in Wien]. 146 Siehe M/V, S. 343f., Nr. 14; auch bezüglich der Bibliographie. – Sidney Colvin – in einem autoritativen Lexikonartikel aus dem Jahre 1911, der auch die ‹orientalische Frage› berührte (siehe Sidney Colvin, [Art.] Leonardo da Vinci, in: The Encyclopaedia Britannica, Bd. 16, 11New York 1911, S. 446) – nahm darauf noch nicht Bezug. Als ein Argument gegen die Hypothese eines Orientaufenthaltes verwies Colvin aber auf Spuren einer sozusagen propagandistischen Tätigkeit Leonardos in den Diensten des Moro, von denen – im Rahmen des ins Auge gefassten Zeitraums – auf eine Anwesenheit Leonardos in Mailand zu schließen war. 147 Barbara Glauert-Hesse (Hg.), «Paris tut not». Rainer Maria Rilke Mathilde Vollmoeller Briefwechsel, Göttingen 2001, S. 108f.
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hätte, indem hier das bloß Entsprechende so vollkommen entsprach, dass es, vorhanden, nicht mehr sich bedeutete, sondern über sich hinaus gültig wurde, – etwa wie die Erde, wo sie nur Erde ist, aber dieses rein und dringend und unbeirrt, am nächsten daran ist, als Gestein zu wirken und im Raum ein sternisches Gesicht zu haben. – […].»148
Auf engstem Raume sind hier eine Reihe von Vorstellungen versammelt – bzw. in das Gesagte hinein verwoben –, die alle in einem Gegensatz stehen zu Vorstellungen, die oben – im Zusammenhang mit ‹Nietzsches Leonardo› – eigens behandelt worden sind. Wenn Nietzsche uns im Unklaren darüber ließ, ob er um die Forschungskontroverse wusste – Rilke lässt es uns bzw. seine Briefpartnerin indirekt wissen: ‹Man› fabelte – zwar nicht über eine Reise nach Arabien –, aber in der Tat fabelte man über eine Reise in den Orient im Allgemeinen und nach Kleinasien, nach Armenien und die Taurus-Region im Besonderen.149 Rilke, ganz im Gegensatz zu Friedrich Nietzsche, bekannte sich freimütig zu seiner ‹dichterischen Lizenz›, verwischte nicht den Unterschied zwischen imaginativer Nachschöpfung und historischer Realität, sondern stellte ihn vielmehr heraus. Er gab zu verstehen, dass er seinerseits gleich ‹fabeln› würde, wenn er einen Aufenthalt Leonardo da Vincis in Toledo sich erfand. Und er dachte sich einen Leonardo, der nicht – als Verkörperung einer Synthese von Abendland und Orient – sozusagen ‹goethisch› über den Gegensätzen thronte, sie aushielt und in sich beschloss, sondern er dachte einen Leonardo, der eintauchte in eine ihm fremde Welt (und insbesondere eine ihm fremde visuelle Kultur). Schließlich (und dies vielleicht ein besonders signifikanter Gegensatz) dachte Rilke an ein Eintauchen Leonardos in eine muslimische Kultur, die auf europäischem Boden gediehen war, an die Kultur von Al-Andalus,150 während Nietzsche – für sich selber und bezogen auf seine Zeit – Islam und Europa als zwar aufeinander bezogen, aber als ein Gegensatzpaar gedacht hatte. Die beiden Positionen – in ihrer Polarität – veranschaulichen, dass die Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung im Kern von einer Verhältnisbestimmung handelte, von der Frage nach dem Verhältnis von Europa und Islam. Die Frage ließ sich variieren und auffächern in mehrere Komplexe: Wie hatte man zu Zeiten Leonardos – wie hatte er selbst – dieses Verhältnis gedacht? Wie dachte man im Fin de siècle – im Hinblick auf die Gegenwart – darüber? Und machte man sich den
148 Ebd., S. 107 (Brief vom 14. November). – Sich des eigenen Höhenfluges gewahr werdend brach Rilke dann ab, kehrte zu einer konventionelleren Briefsprache zurück, fragte nach dem Befinden und qualifizierte – in einer Art Understatement – das Geschriebene als «nur so eine Art Ansichtskarte» (ebd.). 149 Rilke hatte kunsthistorische Studien bei Richard Muther betrieben (vgl. die einschlägigen thematischen Abschnitte in Manfred Engel (Hg.), Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2004, S. 88ff. bzw. S. 130ff.). Auf welche Weise er jedoch mit der Thematik in Berührung kam, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Dokumentiert ist jetzt aber seine Korrespondenz mit der Übersetzerin und Leonardo-Herausgeberin Marie Herzfeld. Siehe Karen Gallagher / Herbert Lehnert (Hg.), Elf Briefe Rilkes an Marie Herzfeld. Mit einem Brief Stefan Zweigs an Marie Herzfeld, in: Blätter der RilkeGesellschaft 26 (2005), passim und insbesondere S. 224. 150 Vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Al-Andalus›.
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Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart bewusst? Oder war man geneigt, die eigenen kulturellen Orientierungen auf die Renaissance zu projizieren? Nietzsches und Rilkes Positionen, führt man sie in einem imaginären Gespräch zusammen, markieren die Gegensätze, die auch die ‹orientalische Frage› der LeonardoForschung, gesehen als eine Gesamtkonstellation, kennzeichnen. Gewissermaßen gehörten sie auch zu diesem Gesamtkomplex, den sie – von den Aussenpositionen der Dichter und Philosophen her – zu verstehen helfen. Bemerkenswerterweise bedeutete der Erste Weltkrieg auf dem Felde der Leonardo-Studien keinen radikalen Einschnitt oder gar Bruch. Ein Jahr nach dem Krieg – anlässlich des 400. Todestages des großen Italieners – war man in der Lage, eine beeindruckende Fülle von Aktivitäten zu entfalten.151 Ein Rückblick auf die Geschichte – auf die Gründerära – der Leonardo-Edition war möglich;152 man erfuhr, was an Aktivitäten auch während des Krieges möglich gewesen war,153 und weder die Folgen der kriegerischen Verheerungen noch die Vorzeichen des Kommenden zeichneten sich in den Entwicklungen der Forschung schon ab – jedenfalls nicht offensichtlich.154 Die Orientalische Frage, die große, politische Frage im Hinblick auf den Nahen Osten, stellte sich neu;155 das Osmanische Reich war Vergangenheit, und ein türkischer Nationalstaat war im Begriffe zu entstehen. Der Nahe Osten blieb eine Einflusszone der europäischen Nationalismen und Imperialismen, während sich – in der Nachgeschichte des Ersten Weltkrieges – die faschistische Epoche Europas vorbereitete. In diesem Zeitklima ist es nicht überraschend, eine allmählich beharrlichere nationalistische Beschlagnahmung von Leonardo da Vinci zu sehen, doch ausgerechnet im Gedenkjahr von 1919 – auch das Jahr von Marcel Duchamps ‹Eingriff› in die Mona Lisa-Tradition –156 stellte die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung – potentiell ein Stachel für jede nationalistische Beschlagnahmung – sich neu. Die Debatte erfuhr nicht eine eigentliche 151 Siehe Ettore Verga, Il Quarto Centenario dalla morte di Leonardo da Vinci, in: Archivio storico lombardo 46 (1919), S. 330–334, sowie [Anon.], Cronaca del Centenario Vinciano, 1919, in: RV 11 (1923), S. 221–225. 152 Favaro, a.a.O. 153 Außerdem erfuhr man von den sensationellen Entdeckungen, die jede Zeit auf ihre Weise hervorzutreiben scheint: Im Kaukasus, hieß es, sei in einer Kirche eine Natività – vielleicht von Hand Leonardos – gefunden worden, die – womöglich – von missionierenden Mönchen dorthin verbracht worden sei (siehe BV, Bd. 2, S. 583 bzw. Nr. 2202 sowie [Anon.], Una scoperta sensationale, in: RV 9 (1918), S. 174). Die Spur dieser ‹Entdeckung› hat seitdem niemand zu verfolgen vermocht; sie verliert sich schlicht im Dunkeln. Ob ein Zusammenhang dieser ‹Sensation› mit der ‹Sensation› einer mutmaßlichen Reise Leonardos in diese Region besteht, lässt sich nicht mehr feststellen. 154 In New York organisierte man 1919 eine Gedenkveranstaltung, die zugleich eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der Opfer des eben zu Ende gegangenen Krieges war (siehe [Anon.], a.a.O, S. 225). 155 Als neuer Zentralbegriff der politischen Semantik löste der ‹Nahostkonflikt› gewissermaßen die ‹Orientalische Frage› ab. 156 Man vergleiche Eduard Hüttinger, Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de siècle, in: Roger Bauer et al. (Hg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1977, S. 143–169, auch und gerade im Hinblick auf die Gegenreaktionen auf den Mona-Lisa-Kult.
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Reprise, aber ein einzelner Gelehrter war doch gewillt – und dies vor einem ganz neuen Denkhintergrund – die Frage nochmals aufzunehmen und sie ganz explizit neu aufzurollen: Josef Strzygowski (1862-1941)157 wird im Allgemeinen als ein Kunsthistoriker erinnert, der zwar neue Wege zu bahnen versuchte, im Rahmen dieser Bemühungen aber teilweise auf politisch-ideologische Abwege geriet. Hatte er sich ganz grundsätzlich der Aufgabe verschrieben, die orientalische Traditionsverbundenheit der frühchristlichen Kunst herauszuarbeiten (und gegenüber der üblicherweise betonten römischen Traditionsverbundenheit zur Geltung zu bringen),158 so engagierte er sich auch – der Wiener Schule der Kunstgeschichte in Feindseligkeit verbunden – für eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs des Fachs. Strzygowski wollte in der Betrachtung der Kunst, ins Globale ausgreifend, wie man heute sagen würde, über die europäischen Grenzen hinausgehen. Doch in seinem Bild von Weltkunstgeschichte machten sich zunehmend auch spekulative Komponenten und rassistische Vorstellungen bemerkbar, die ihn als einen Vorbereiter nationalsozialistischer Kunstanschauungen erscheinen lassen, obwohl er nicht im eigentlichen Sinne einer Verherrlichung des Germanentums das Wort redete. Doch er propagierte einen ‹nordischen Mythos› und setzte die Leistungen des Nordens gegen jene des Südens, auch des mediterranen Raums, scharf ab. 1919, gewissermaßen als eine ‹Nebenfrucht› seines Engagements in der ‹Orient oder Rom›-Debatte, die also die Bedeutung des orientalischen Einflusses auf die christliche Kunst verhandelte, veröffentlichte Strzygowski einen Aufsatz, der das Ziel verfolgte, eine
157 Siehe DoAH und Peter Betthausen et al., a.a.O., S. 400–403 (Peter H. Feist). 158 Vgl. Carola Jäggi, [Art.] Orient-Rom-Frage, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Hans Dieter Betz et al., Bd. 6, Tübingen 42003, Sp. 656f.; Edmund Weigand, Die Orient-oder-Rom-Frage in der frühchristlichen Kunst. Ein Rückblick und Ausblick, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 22 (1923), S. 233–256. – Jean Paul Richter hatte Orient oder Rom, Strzygowskis ‹Programmschrift›, 1902 besprochen, nicht geradewegs ablehnend, aber doch verhalten kritisch (Jean Paul Richter, [Rezension von] Josef Strzygowski, Orient oder Rom. Beiträge zur Geschichte der spätantiken und frühchristlichen Kunst, Leipzig 1901, in: Byzantinische Zeitschrift 11 (1902), S. 562–564). Wiewohl Richter die Anregung zu einer Debatte über die ‹orientalische Frage der Leonardo-Forschung› gegeben hatte, neigte er keineswegs per se dazu, europäische Kunstentwicklungen aus orientalischen Einflüssen heraus zu erklären. – In der Rezension kommt im Übrigen ein antisemitisches Stereotyp zum Tragen. Siehe S. 564: «Auf Tafel V macht S. [Strzygowski] mit einem Petrustypus aus Ägypten bekannt, […]. Fast möchte man glauben, eine tendenziöse Karikatur vor sich zu haben: ein wankender Greis mit wolligem Lockenhaar und Vollbart, eine stark gebogene Nase, ein satyrhafter Mund, listige Augen; der ganze Gesichtsschnitt einem semitischen Börsenspekulanten zum verwechseln ähnlich. […].» Aus der Passage geht allerdings nicht mit letzter Sicherheit hervor, ob Richter die tatsächliche Existenz dieses ‹Spekulantentyps› in der Realität selbst voraussetzte oder ob er lediglich die Karikatur evozierte (ohne die darin zum Ausdruck kommende Tendenz zu teilen). Auf jeden Fall benutzte er, eine anfänglich angedeutete Distanznahme anscheinend aufgebend, das Stereotyp, um seinem Publikum den in Strzygowskis Buch abgebildeten ‹Petrustypus› vor Augen zu führen. Es hat somit den Anschein, dass er der Tendenz selbst anhing. – Richter hatte – etwa mit Henriette Hertz und dem Ehepaar Ludwig und Frida Mond – etliche Freunde, die jüdischer Herkunft waren. Umso mehr befremdet die Passage.
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historische Analogie zu analysieren (und diese Analogie mithin durch Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zu erklären).159 Zweimal, so Strzygowski, erlebte die Geschichte des Kirchenbaus eine Entwicklung hin zur Überkuppelung eines Zentralbaus, und zwar im frühchristlichen Kirchenbau Armeniens und in der italienischen Renaissance. Als erstes Glied der Trias ‹Leonardo, Bramante, Vignola› kam ihm Leonardo da Vinci als ein Einflussnehmer der erstmaligen, ursprünglich armenischen Bewegung in Frage. Und wo, wenn nicht in Armenien, hatte Leonardo, diese Einflüsse in sich aufgenommen? Zu erklären galt es ihm ein zweifach auftretendes Phänomen der Architekturgeschichte. Und die Erklärung vereinfachte sich beträchtlich, wenn man eine Reise Leonardos annahm, eine Reise hin zum mutmaßlichen Ursprung des Phänomens. Das Explanandum ‹Orientfahrt› wandelte sich hier zu einem Explanans. Und umgekehrt schienen Strzygowski die Ähnlichkeiten armenischer Kirchenbauten mit architektonischen Entwürfen Leonardos ein Indiz dafür zu sein, dass diese Reise wahrscheinlich – wie er annahm – stattgefunden hatte: «Ich habe schon [in] «Die bildende Kunst des Ostens» S. 47f. darauf aufmerksam gemacht, dass die Handzeichnungen Leonardos sich ausnehmen wie Entwürfe jenes armenischen Architekten, der in den Jahren 624–631 die Kathedrale von Bagaran […] gebaut hat.»160
Beteuerte Strzygowski zwar, dass es im Grunde nicht darauf ankam, ob Leonardo da Vinci tatsächlich im Orient gewesen war – die These stellte doch eine zentrale Verstrebung seines Gedankengebäudes dar, denn ohne diese Annahme verkomplizierten sich die Dinge wieder enorm (da auf andere, italienische, Mailänder und Florentiner Vorbilder Leonardos rekurriert werden musste).161 Die Hypothese einer Reise erleichterte die Erklärung des Ablaufs der Entwicklungen in der Geschichte der Architektur, die hier in eine geographisch weite Perspektive gerückt war. Ein großes Echo war dem Aufsatz nicht beschieden. Die Diskussion – im Rahmen der Leonardo-Forschung – flackerte nicht auf und die Debatte erlebte keine neue Auflage.162 Die Referenzpunkte der ‹Orient oder Rom›-Debatte waren ohnehin andere, gewichtigere Werke. Und auch die Forschung, die sich heute um eine Wiederentdeckung Strzygowskis bemüht, hat den eher marginalen Text nicht neu gelesen.163 Die Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung, im Grunde eingeschlafen, erlebte nur zum Schein eine kleine Renaissance, am Rande einer Diskussion über die Entwicklungsgeschichte der Kunst im europäisch-asiatischen Raum und im Rahmen eines 159 Josef Strzygowski, Leonardo-Bramante-Vignola im Rahmen vergleichender Kunstforschung, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Institutes in Florenz 3 (Winter 1919 bis Januar 1932), S. 1–37. 160 Ebd., S. 9. 161 Ebd., S. 12; Beispiele, etwa Mailand, S. Satiro, werden auf S. 8f. genannt. 162 Jean Paul Richter – in der zweiten Auflage seiner Anthologie – wies noch auf den Aufsatz hin (R II, S. 27, Fn 1). 163 Christina Maranci etwa thematisierte Strzygowskis Bild armenischer Baukunst aus heutiger Sicht (Christina Maranci, Medieval Armenian Architecture. Constructions of Race and Nation, Leuven/Paris/ Sterling (Virginia) 2001). Diese Studie berührt jedoch die Frage einer Beziehung zwischen der armenischen Kirchenbaukunst und der italienischen Renaissance in keiner Weise.
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Aufsatzes, der einem sehr spezifischen architekturgeschichtlichen Thema gewidmet war. Wieder war zwar ein Gelehrter geneigt, die These für mehr oder weniger erwiesen, d.h. den Aufenthalt Leonardos im Orient für immerhin wahrscheinlich anzusehen.164 Und Richters Thesen fanden Aufnahme in einem Text, der einen weiten Bogen schlug, der aber – vielleicht auch gerade deshalb – kein großes Echo nach sich zog. Doch um einen ganz abseitigen Text – der speziellen Fragestellung zum Trotz – handelte es sich dennoch nicht, vielmehr um einen Text, dem auch eine gewisse paradigmatische Qualität innewohnte, wie es scheint. Denn ein Peter Burke – in seinem Überblick über die Bestrebungen der zeitgenössischen Renaissance-Forschung, thematisch-geographische Begrenzungen zu überwinden und (wie Strzygowski) ins Globale auszugreifen – erwähnte den Aufsatz gleich auf der ersten Seite als ein Beispiel und verlieh dem Text damit die Dignität eines Pionierwerks (ohne allerdings bei dieser Gelegenheit das Werk Strzygowskis als Ganzes oder die Möglichkeiten ideologischer Verirrungen ins Auge zu fassen).165 Wenn also die Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung mehr oder weniger eingeschlafen war – Strzygowski hatte, in einer Art Bewusstsein des Spätgeborenen, trefflich bemerkt, dass in praktisch jeder Leonardo-Biographie diesem Thema ein Abschnitt gewidmet worden war.166 Die Kerngedanken der Debatte waren (wie in Richters Anthologie) nun auch in seinem Aufsatz aufgehoben, in einem Text also, der – unter ganz neuen Umständen – einer anderen Generation als ein Pionierwerk dargeboten worden ist. Der Leonardo, der sich diesem Publikum empfahl, Strzygowskis Leonardo, stand unter dem Einfluss des Orients und war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Einflussempfänger (und damit zugleich ein Einflussnehmer): Nicht nur die Adaptation armenischer Modelle des Kirchenbaus, also der Import bestimmter Varianten des überkuppelten Zentralbaus, war ihm zu verdanken, auch von den Bäderanlagen Konstantinopels zeigte er sich angeregt,167 und noch im Alter, in seinem Wirken in Frankreich und namentlich in seinem (schwer verifizierbaren) Anteil an der Architektur von Schloss Chambord hatte er sich demnach orientalische Einflüsse anverwandelt: Strzygowski – in diesem Falle, und wohl auch in Hinblick auf ein gewichtiges Alterswerk Leonardos – hatte hier den aus dem 9. Jahrhundert stammenden Balkuwara-Palast bei Samarra (im heutigen Irak) im Auge.168 Im Ganzen gesehen erachtete er Leonardo, vielleicht ohne dass ihm dies bewusst war, als eine Art Sammellinse. Er kam – als der ‹übliche Verdächtige› – für jeden (auch bloß scheinbaren) orientalischen Einfluss in Frage, den man im europäischen Kunstraum ausgemacht hatte. Doch erneut ist hier zu unterstreichen: All dies war hinfällig (wenn auch in methodischer Hinsicht vielleicht innovativ), wenn Leonardos Reise (über Kon164 Strzygowski, a.a.O., S. 9. 165 Peter Burke, Renaissance Europe and the World, in: Jonathan Woolfson (Hg.), Palgrave Advances in Renaissance Historiography, Basingstoke 2005, S. 52. 166 Strzygowski, a.a.O., S. 33. 167 Ebd., S. 7. 168 Ebd., S. 14.
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stantinopel) nach Armenien gar nicht stattgefunden hatte. Und wenn nicht hinfällig, so musste eine allfällige Rezeption orientalischer Architekturmodelle in aufwändigen Nachweisen eben anders und auf Umwegen erklärt werden und auch dies – es sei erneut betont – ist bis heute nicht geschehen.169 Dass Strzygowskis Beitrag seinerzeit eher folgenlos blieb, hatte wahrscheinlich auch damit zu tun, dass sich die rein äußerlichen Verhältnisse gewandelt hatten. Strzygowskis eigenwillige Wortmeldungen waren geeignet, konventionelle Vorstellungen nationaler und europäischer Identität – in ihrer seltenen Ambivalenz – zu verwirren und auch zu unterminieren. Aber es herrschte nun ein Klima, in dem von Leonardo als einem Empfänger von orientalischen Einflüssen kaum noch die Rede war. Seine Verwurzelung in der europäischen Kultur stand weniger denn je in Frage. Das vermeintliche Genie des kulturellen Grenzgängertums verwandelte sich zurück in ein italienisches Genie, in eine europäische Gestalt, in einen universellen Geist vielleicht, aber jedenfalls nicht in jene Gestalt, die ein Rilke oder ein Nietzsche sich imaginiert hatten. Ein ‹kultureller Überläufer› oder gar ein Kosmopolit, dies war Leonardo weniger denn je. Auch in den Vorstellungen von Leonardo da Vinci – im Leonardo-Mythos als einer Schöpfung jeder historischen Epoche – machten sich nun allmählich jene Kräfte bemerkbar, die im Begriffe waren, Europa überhaupt gewaltsam umzuformen.
1.5 Nach dem Gedenkjahr: Entwicklungen bis 1939 Wenn man sich hatte vorstellen konnte, dass Leonardo da Vinci im Orient gewesen war und dass er – wie Richter dachte – zeitweilig sogar den islamischen Glauben angenommen hatte – konnte man sich dann auch vorstellen, dass Dante Alighieri, der Autor der Göttlichen Komödie, zeitweilig Muslim gewesen war? Zur Beschäftigung mit dieser provozierenden Frage nötigte – scheinbar – ein Buch, das ebenfalls im Jahre 1919 erschienen war, und damit im Vorfeld eines anderen Gedenkjahres. 1921 jährte sich zum 600. Male Dante Alighieris Todestag; und wie so oft im Vorfeld von historischen Gedenkjahren entzündete sich eine Kontroverse, die man als die ‹orientalische Frage› der Dantistik bezeichnen könnte, eine Debatte, die zwar
169 Vgl. Anhang A, insbesondere die Bemerkungen zum Feld der Architekturgeschichte in den methodischen Bemerkungen, welche die Synopse einleiten. – Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen allfällige orientalische Einflüsse im Bereich der Architektur, wenn überhaupt, viel vorsichtiger zur Sprache. Nicht von Anregungen vor Ort und gewonnen auf Reisen, sondern von Anregungen durch frühchristliche Kirchenbauten auf norditalienischem Boden und von Anregungen durch die byzantinische Kultur ging man nun aus (die ‹imaginäre Architektur› einmal beiseite gelassen). Vgl. exemplarisch: Jean Guillaume, Léonard et l’architecture, in: Léonard de Vinci, ingénieur et architecte, [Kat.] Montréal 1987, S. 237. Einmal mehr war es der ‹Orient in Italien› bzw. der ‹Orient auf europäischem Boden› aus dem sich Leonardos Errungenschaften alternativ erklären ließen (vgl. diesbezüglich auch Anhang A, Synopse, Sektion ‹Al-Andalus›).
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1919 ihren Anfang nahm, aber im Grunde bis heute nicht abgeschlossen ist und zum einen die Dantisten, zum anderen die Arabisten beschäftigte.170 Dante war nun in keiner Weise eine Gestalt der Geistesgeschichte, die stets für Überraschung gesorgt hatte. Dante hatte den Status eines (nationalen) Klassikers erlangt und war als ein solcher unumstritten, wenngleich die unterschiedlichsten politischen Positionen vor und nach der Entstehung des italienischen Nationalstaates ihn für sich in Anspruch zu nehmen suchten.171 Auch war die eingangs gestellte Frage bloß rhetorisch aufgerufen worden. Miguel Asín Palacios, ein führender spanischer Arabist, hatte – ursprünglich in seiner Antrittsvorlesung – ‹bloß› die Genese der Commedia von muslimischen Vorbildern her zu erklären versucht. Und im Rückblick auf die von ihm ausgelöste Lawine von Wortmeldungen und von harscher Kritik auch, hatte er seinerseits seinen schärfsten Kritikern unterstellt, dass sie in einen Irrtum verfielen, wenn sie annahmen, dass sich eine Konversion Dantes zum Islam aus seinen Thesen als eine Schlussfolgerung ergab. Er selbst hielt diesen Gedankengang nämlich für falsch. Ein Seitenblick auf diese Kontroverse, auf die ‹orientalische Frage› der Dantistik, ist angebracht, da lehrreich: Wenn Dante von literarischen Vorbildern abhängig war, die aus dem muslimischen Kulturraum entstammten, stand seine zentrale Leistung in Frage, die Originalität seiner literarischen Schöpfung, die eine Summa der abendländischen Kultur darstellte. In der Debatte über Leonardo bildete die Frage einer Abhängigkeit von orientalischen Kultureinflüssen keinen zentralen Bereich. Es gab diesen Bereich auch, und nach der Jahrhundertwende trat dieser auch hervor, als man sich etwa zu fragen begann, ob seine unkonventionellen Landschaftsdarstellungen sich fernöstlichen Vorbildern verdankten,172 aber: Es war ein nachgeordneter, sekundärer Fragenkomplex. Den Kern der Debatte betraf es nicht, denn es ist an Burckhardts Wort zu erinnern: Für das Cenacolo konnte es muslimische Vorbilder schlicht nicht geben (denn es gab keine entsprechende visuelle Kultur figürlicher Darstellung und selbst wenn man Leonardos Schöpfung säkular auslegte – als Darstellung der Wirkung des Worts – war es absurd, den Säkularismus ausgerechnet in der muslimischen Kultur zu verorten). Anders im Falle Dantes: Literarische Modelle von Jenseitsreisen, wie auch die Commedia eine darstellt, gab es in Hülle und Fülle; die von Asín unterstellte Abhängigkeit – und wenn man so will Epigonalität (zuletzt ist die Abhängigkeit von einer hebräischen Popularisierung einer allegorischen Schrift von Avicenna postuliert worden)173 betraf Dantes zentrale Leistung. Kultureller Stolz war betroffen, während antiklerikalen Kreisen, denen 170 Siehe etwa Dieter Kremers, Islamische Einflüsse auf Dantes «Göttliche Komödie», in: Klaus von See (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 5 (Orientalisches Mittelalter, hrsg. von Wolfhart Heinrichs), Wiesbaden 1990, S. 202–215 [Literatur]. 171 Thies Schulze, Dante Alighieri als nationales Symbol Italiens (1793–1915), Tübingen 2005. 172 Siehe Anhang A, Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›. 173 Gotthard Strohmaier, Die angeblichen und die wirklichen orientalischen Quellen der «Divina Commedia», in Deutsches Dante Jahrbuch 68/69 (1993/94), S. 183–198; vgl. auch ders., Avicenna, München 1999 und zuletzt ders., Dante – gelesen mit den Augen eines Orientalisten, in: Deutsches Dante Jahrbuch 79/80 (2004/05), S. 63–71.
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Dante schon immer ‹zu katholisch› war, diese Idee eher brauchbar erschien.174 Und – dies wiederum eine Gemeinsamkeit mit der ‹orientalischen Frage› der Leonardo-Forschung – die kulturelle Identität einer europäischen Symbolfigur stand in Frage. Und wieder stellt sich die Eingangsfrage: War Dante nun ein Muslim, ein Weltenbürger, ein kultureller Grenzgänger? Die fundamentalste Ebene der Zuschreibung von Identität war hier betroffen. Dante konnte man als Florentiner definieren, als Italiener und als Europäer. Aber wenn er – einmal angenommen – im Orient gewesen war und sich orientalischen Kultureinflüssen ausgesetzt hatte, wer war er dann? Welchen Sinn hatten noch nationale oder regionale Zuordnungen, wenn sich ein Dante, ein Leonardo der europäischen Herkunftskultur entfremdet hatte? Entzog man diesen ihre Grundlage? Während ein relativ überschaubarer Kreis von Leonardisten sich einem Sonderproblem der Forschung gewidmet hatte, so diskutierte von nun an gleichsam die Internationale der Dantisten die Frage der muslimischen Vorbilder der Commedia. Die Geschichte dieser Debatte ist von Zeit zu Zeit geschrieben worden, das heißt: wie im Falle von Leonardo hatte man von Zeit zu Zeit versucht, rückblickend einen Überblick zu gewinnen und vielleicht auch geglaubt, die Angelegenheit habe sich inzwischen erledigt. Doch die doppelte Hartnäckigkeit des Sonderproblems ‹orientalische Frage› ist bemerkenswert. Ganz abgesehen vom sachlichen Gehalt der Debatten, die sich auf der Grundlage von komplexen Argumentationen entwickelt haben – die Hartnäckigkeit dieser Sonderprobleme hat mit der unterschwelligen Radikalität zu tun, mit der fundamentale Zuschreibungen von Identität betroffen sind – Ideen von kultureller Zugehörigkeit und Ausschließung. Letztlich sind es diese Ideen, die hier sichtbar werden. Es macht sich bemerkbar, wie schwer zuträglich eindeutigen kulturellen Identitätszuschreibungen die Ambivalenz ist. Das ambivalente und unbeschwerte Aufkündigen von kultureller Identitäten passte schwerlich ins Zeitklima der 1920er und 1930er Jahre (während dies in anderen historischen Zusammenhängen und Situationen erwünscht sein mag). In der faschistischen Ära erlebte der italienische Dante-Kult vielmehr – Thies Schulze zufolge – einen letzten Höhepunkt.175 Und auch wenn das Schul- und Bildungswesen vom Faschismus erst gegen Ende der 1930er Jahre durchdrungen wurde – es entwickelten sich Tendenzen, Leonardo erneut stärker zu vereinnahmen, und dies nicht im Sinne eines Kosmopolitismus. Ein Federstrich des Philologen In den 1920er Jahren erschien noch ein Meilenstein der Leonardo-Forschung: die Summe der Arbeit des italienischen Leonardisten Gerolamo Calvi, der ein Referenzwerk vorlegte, was den philologischen Umgang mit den schriftlichen Hinterlassenschaften angeht.176 Leichthin schien er die ‹orientalische Frage› ad acta zu legen, mit den 174 So wie den Säkularisten des 19. Jahrhunderts ein Leonardo da Vinci als Renegat zupass kam: Man weidete sich – eingestandenermaßen – am Schauder der ‹frommen Seelen› (siehe Müntz, a.a.O., S. 292). 175 Schulze, a.a.O., S. 219. 176 Gerolamo Calvi, I manoscritti di Leonardo da Vinci dal punto di vista cronologico, storico e biografico, hrsg. von Augusto Marinoni, Busto Arsizio 1982 [urspr. 1925].
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Mitteln des Philologen, der – aufgrund von Handschriftenvergleichen – schlicht eine Spätdatierung vorschlug: Wenn das ‹Diodario›-Material aus einer späteren Zeit stammte und nicht vor dem Jahr 1494 entstanden war, wie Calvi meinte,177 so wurden all die Erklärungen, die man sich zurechtgelegt hatte, um einen Aufenthalt im Orient von seiner Motivation her zu verstehen, obsolet. Der biographische Einschnitt, die Zäsur zwischen Florentiner Jugendzeit und Ausbildung und der ersten Mailänder Epoche, stand noch immer im Blick. Doch hier war kein Ausscheren aus Unlust zu gewärtigen, kein grimmiges Den-Rücken-Kehren, kein «coup de tête» (wie Jacob Burckhardt geschrieben hatte),178 jedenfalls hatte Leonardo um 1482 Italien nicht den Rücken gekehrt. Es galt sich mit der Möglichkeit vertraut zu machen, dass Leonardo diese Texte nicht aus einer unausgelebten Reiselust heraus verfasst hatte. Denn von Jugendlichkeit konnte, legte man Calvis Datierung zugrunde, nicht mehr die Rede sein. Es war demnach Leonardo in seinen Vierzigern, der sich gedanklich in den Osten transferierte.179 Die These einer Orientfahrt, so legte Augusto Marinoni im Vorwort zu einer Neuauflage von Calvis Klassiker von 1925 dar, hatte zu einer Zeit entstehen können, da die biographischen Belege noch spärlich waren. Marinoni verengte das Problem auf das historisch-philologische, von Calvi beispielhaft beherrschte Handwerk. Darin war etwas Richtiges, doch eine solche Beschreibung wird dem Gesamtkomplex offenkundig nicht gerecht. Und ganz außerhalb des Blicks blieb schließlich eine Frage: Hatte man denn inzwischen einen Schlüssel zum Verständnis von Leonardo als Autor, oder hatte man ihn nicht? Hatte es den Klärungsprozess gegeben, der Forschungskontroversen rückblickend immer einen Sinn verleiht? Bruns Abschiedsrhetorik klang nach einer Bereinigung im Laufe eines Prozesses. Doch eine andere Frage war, ob man sich nicht darüber hinwegtäuschte, dass in der Sache schon alles gesagt war. Nun – in den 1920er Jahren – entstanden jedenfalls – in einem ganz anderen Zusammenhang – bahnbrechende Arbeiten von Aby Warburg, die seinerzeit in den Leonardo-Studien zwar keine Rolle spielten, auf die aber zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen ist.180 Zweimal ‹Leonardo› Jean Paul Richter war 1937 verstorben. Zweimal im Rahmen eines langen Lebens, geprägt von Internationalität, hatte er Leonardo da Vinci zu seiner hauptsächlichen Beschäftigung gemacht: In den frühen 1880er Jahren und in der letzten Phase seines Lebens, die der Revision des großen Werks gewidmet war. 177 Ebd., S. 68. 178 Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. 7, Basel 1969, S. 234. 179 Alle weiteren Datierungsvorschläge, die später gemacht worden sind (siehe vor allem Kap. 4), datieren noch später. Sigmund Freuds spekulative Überlegungen bezüglich der darin zum Ausdruck kommenden Reiselust des jungen Leonardo, dies ist hier zu wiederholen, müssen demnach als obsolet bezeichnet werden. Es ist schlicht nicht der jugendliche Leonardo, der die ‹armenischen Briefe› verfasst. 180 Siehe Kap. 4. Es handelt sich um den Aufsatz über die europäische Sintflutprognostik.
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Richter hatte um 1920 sein ‹Hauptquartier› nach Lugano verlegt, d.h. einen mehr oder weniger festen Wohnsitz in der Schweiz genommen. Unweit von Mailand, d.h. unweit dieses einen Haupt-Knotenpunkts im Netzwerk der Leonardo-Forschung, verbrachte er seinen Lebensabend und arbeitete an der Revision des großen Werks, das ihm – anders als gewisse Transaktionen als Händler und anders als eine kleine Edition zur Kunstgeschichte Veronas, die 1935 erschienen war –181 mehrheitlich Ruhm und Ansehen gebracht hatte. Die Enge seiner Verbundenheit mit Leonardo geht in anrührender Weise auch daraus hervor, dass Richter sich gar einen Paragraphen aus dieser Anthologie zu seinem Grabspruch offenbar erwählte. Es handelte sich um einen Aphorismus, den Leonardo auf Seite 32 des Codex Trivulziano notierte, einem Epitaph nicht unähnlich, denn wie Richter getreulich transkribiert hatte, waren die Worte und Satzteile auf mittlerer Höhe durch Punkte getrennt:182 «Siccome · vna · giornata · bene spesa dà lieto dormire, così una vita · bene · vsata · dà lieto morire.»183
Leitstern seines Lebens war also Leonardo da Vinci geblieben, auch wenn Richter zeitweise wieder zur intensiven Beschäftigung mit frühchristlicher Kunst zurückgefunden hatte. Das Opus magnum für die zweite Auflage noch selbst in den Druck zu bringen war ihm nicht mehr vergönnt gewesen. Diese Aufgabe ging in die Hände der Tochter Irma über, die eine Edition des ‹Paragone› beisteuerte,184 um die Drucklegung des ganzen Werks besorgt war, und das eigentliche Vermächtnis ihres Vaters so der Nachwelt überantwortete. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, im Jahre 1939, war es soweit. Posthum, wiederum in England, erschienen so in zweiter Auflage jene beiden voluminösen Bände, die zu Beginn der 1880er Jahre, in dem noch relativ leeren Feld der Leonardo-Forschung wie ein Portal gewirkt hatten. Ein halbes Jahrhundert später nahm die architektonische Umgebung sich ungleich reicher aus. 1930 war eine umfangreiche mustergültig erarbeitete Bibliographie erschienen, die als Führer durch das Schrifttum ein unschätzbares Werkzeug darstellt und von der Distinguiertheit ihres Autors, Ettore Verga, ein beredtes Zeugnis gibt. Monumentale Architektur war ein Signum der Zeit, in der ein Generationswechsel in der Forschung sich deutlich ankündigte.185 Die monumentale Edition des Codex 181 Ein Manuskript, das Richter publizierte, entpuppte sich nachmals als eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Fälschung (siehe DoA sowie exemplarisch: H. Beenken, [Rezension von] J.P. Richter, Altichiero, Sagen, Tradition und Geschichte, Originaltext und Übersetzung einer Veroneser Handschrift mit Kommentar, Leipzig 1935, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 5 (1936), S. 78–80). 182 Vgl. auch M/R, S. 235f. («Die einzelnen Punkte zwischen den Worten (nicht unten, sondern in den mittleren Höhen) möchte ich gern stehen lassen, weil sie Leonardo nach 1500 aufgibt und um 1480 fast bei jedem Wort hat. Es ist das also ein wichtiges äußeres chronologisches Zeichen.»). 183 Es handelt sich um Paragraph Nr. 1173 in R II, S. 244; das obige Zitat nach der dort gegebenen Transkription (einschließlich der Verwendung des v für u). 184 Der ‹Paragone› ist im ‹Malerbuch› überliefert, fehlt aber im handschriftlichen Originalmaterial. Es fehlte dieser ‹Vergleich der Künste› daher in der ersten Auflage der Anthologie, die sich auf das Studium der originalen Manuskripte abstützte. 185 Den Index zur zweiten Auflage der Anthologie besorgte der junge Ernst Gombrich.
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Atlanticus war abgeschlossen und 1939 erschien der dazugehörige Index, ein weiteres unschätzbares Hilfsmittel.186 Monumental war die Begleitpublikation der großen Schau, die man in Mailand, unter internationaler Beteiligung zu Ehren Leonardos und zur Feier des italienischen Geistes eingerichtet hatte.187 Dieses Werk wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch vielfach wieder aufgelegt, obschon ihm noch die Spuren anhafteten, die es als in der faschistischen Ära entstandenes Werk ausweisen. Zwar war das in der deutschsprachigen Ausgabe enthaltene Geleitwort von Hermann Göring entfallen, doch den diesbezüglichen Hinweis im Inhaltsverzeichnis hatte man – sicherlich aus Versehen – nicht getilgt.188 Im gleichen Jahr 1939 trat Kenneth Clark in Erscheinung und veröffentlichte seine für lange Zeit mustergültige Leonardo-Biographie, die im deutschen Sprachraum in der Reihe, in der sie erschien, erst im Jahre 2007 durch eine neue Monographie ersetzt worden ist.189 Auch mit Clarks Namen – er war eine Zeitlang Protegé von Bernard Berenson gewesen –190 verbindet sich der Generationenwechsel in der Forschung. Überblickt man die markanten Neuerscheinungen des Jahres 1939, so scheint es, dass die ‹orientalische Frage› mehr oder weniger vom Tisch war. Nur in Richters Anthologie fand sie sich wieder aufgehoben, zum zweiten Male deponiert. Clarks Biographie war zwar anzumerken, dass die europäische Kunstbetrachtung sich hin zum Fernen Osten geöffnet hatte – schon auf der ersten Seite fanden sich entsprechende Bezüge – doch auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte man diese, seitdem stets eher untergründig präsente Vergleichsperspektive erst zögerlich erschlossen.191 Wenn man so will, setzte Richter auch den Schlusspunkt einer Debatte, die er selbst eröffnet hatte. Doch es war ein unwillkürlicher vorläufiger und auch tragischer Schlusspunkt, denn der Zweite Weltkrieg markierte in Wirklichkeit das Ende einer fruchtbaren Ära auf dem Felde der Leonardo-Forschung. Nach dem Krieg war – einiger Kontinuitätslinien zum Trotz – neu anzusetzen. An eine Debatte unmittelbar anzuknüpfen, die in einem ganz besonderen Klima, unter bestimmten historischen Bedingungen stattge186 Giovanni Galbiati, Dizionario Leonardesco. Repertorio generale delle voci e cose contenute nel codice Atlantico, Milano 1939. 187 Die Schau wurde offenbar auch nach Japan verbracht und dort, wie es heißt, durch Bomben zerstört (siehe Einleitung von Carlo Pedretti in Marco Cianchi, Die Maschinen Leonardo da Vincis, [Kat.] Florenz 1988, S. 5). 188 Leonardo da Vinci. Das Lebensbild eines Genies, Wiesbaden/Berlin 1972 [ital. Originalausgabe 1955; basiert auf Arbeiten anlässlich der Mailänder Leonardo-Ausstellung von 1939]. 189 Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Reinbek 1983 [engl. Originalausgabe 1939]; Daniel Kupper, Leonardo da Vinci, Reinbek 2007. 190 Die Beziehung ist Thema bei Frank Fehrenbach, Leonardos Vermächtnis? Kenneth Clark und die Deutungsgeschichte der ‹Sintflutzeichnungen›, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 28 (2001), S. 7–51. – Berenson war einstmals als junger Mann in Florenz mit dem um 18 Jahre älteren Richter in Kontakt gekommen, der ihm wohl auch die Symbiose von Kennerschaft und Kunsthandel vor Augen führte und selbst exemplifizierte. Eine kollegiale, allerdings nicht sehr warmherzige Beziehung hielt über Jahre, bis man sich mehr und mehr entfremdete. 191 Clark, a.a.O., S. 160. – Der Drachenschirm des Bostoner Museums wird heute als eine japanische Arbeit des 16. Jahrhunderts geführt (siehe unter http://www.mfa.com).
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funden hatte, war nicht möglich und wohl auch nicht gewollt. So ist im Jahre 1939 jene Zäsur zu setzen, die eine erste Etappe der Geschichte einer Motivik, einer Idee, einer Vorstellungswelt markiert. Die ‹orientalische Frage› hatte sich gestellt, und es fragt sich in der Rückschau, ob man sie zu diesem Zeitpunkt schon angemessen beantwortet, das Problem also bewältigt hatte. Und somit stellt sich – auf vertrackte Weise – auch die Frage, was eigentlich der Ertrag dieser Debatte bis zu diesem Zeitpunkt hin gewesen war. Ein erster Haltepunkt sei hier gesetzt, um – rückblickend – ein erstes Fazit nun zu ziehen. Zwischenfazit: Ein Klärungsprozess oder eine Potenzierung von Ambivalenz? Schauplätze der Debatte waren eine ganze Reihe europäischer Städte und Metropolen gewesen: Paris, Rom, London, Wien, Mailand, Venedig, Zürich, Basel, Toledo und andere mehr. Man könnte die Debatte mit einer Spur vergleichen, die sich durch die Leonardo-Rezeption des Fin de siècle zieht. Konsultiert man die ältere Literatur – und zahlreiche Werke der älteren Literatur sind Referenzwerke der Forschung geblieben – so quert man sozusagen diese Spur. Man sieht sie bloß in Teilen, denn woher sie kommt und wohin sie führt, bleibt unklar – wenn der Zusammenhang nicht explizit gemacht ist. Folgt man dieser Spur, wie hier versucht, über eine längere Strecke und rekonstruiert die Debatte, so stellt sich also die Frage, welches eigentlich ihr Ertrag gewesen ist. Man kommt zu einem paradoxen Schluss: Ein Klärungsprozess hat – partiell – zwar stattgefunden, aber Klarheit in einem umfassenden Sinne hat sich nicht eingestellt. Positionen haben sich geklärt und Standpunkte einen markanten Ausdruck gefunden, doch als eigentlichen Ertrag der Debatte könnte man auch ein sich kumulierendes Anregungspotential bezeichnen. In der von Anfang an zu beobachtenden Unschlüssigkeit wohnte die Ambivalenz. Eine Lösung im Sinne einer Beweisfindung und einer eindeutigen Beantwortung hat die ‹orientalische Frage› nicht gefunden. Teillösungen haben bloß neue Fragen aufgeworfen. Und eine wirklich überzeugende Deutung von Leonardos Texten, in ihrem Bezug auf zeitgenössische Wirklichkeit, stand – zum Ende der Ära, die hier betrachtet worden ist – noch aus. Was Leonardo eigentlich im Sinne hatte, als er Fragmente eines Materials zusammentrug – es war dies bloß annäherungsweise beantwortet worden. Ganz abgesehen vom argumentativen Fortgang der Debatte: Betrachtet man die Debatte als ein kulturelles Phänomen, kommen auch die darin sich ausdrückenden emotionalen Impulse – Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Befürchtungen – in unseren Blick. Einleitend wurde versucht, diesem Gesamtkomplex in der Formulierung von fünf Grundgedanken Rechnung zu tragen: Diese Struktur hat sich mit Inhalt nun gefüllt. Selbst ein Skeptiker wie Jacob Burckhardt war zum Teil bereit, sich mit der Möglichkeit – wenn nicht zu befreunden – so doch abzufinden, dass Leonardo im Orient gewesen war. Die Umrisse des großen Florentiners waren zu Zeiten Burckhardts so unscharf,
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die Bewunderung so groß, und die Neigung, ihm das Außergewöhnliche zuzutrauen, so stark, dass man von einer Möglichkeit auch dann noch Kenntnis nahm, wenn man von Leonardo im Grunde ein ganz anderes Bild hatte (wie etwa Heinrich von Geymüller). Aus der These Richters – so erklärungsbedürftig sie ihrerseits war – wurde ein Explanandum, aus dem man auch Klarheit bezog. Es überraschte nun nicht weiter, dass Vasari Leonardo bei aller Bewunderung mit einem gewissen Befremden begegnet war. Es fanden sich auch Erklärungen und Interpretationshilfen für manchen Teil von Leonardos Œuvre. Und man konnte sich Entwicklungen der Kunstgeschichte besser fasslich machen, wenn man annahm, dass Entwicklungen von reisenden Künstlern ausgegangen waren, die sich in fremden Räumen andersartigen Erfahrungen ausgesetzt hatten wie etwa Leonardo (wenn man sich vorstellte, dass er den armenischen Kirchenbau oder die maurische Architektur samt ihren ‹sprechenden Wänden› studiert habe). Mit dem Zugewinn an Erkenntnis ging Irritation einher. Das Explanandum war um den Preis einer Entfremdung bloß zu haben. Nicht gern ließ man ihn ziehen, wenn einzelne sich auch begeistert zeigten oder sich ausmalten, wie die ‹frommen Seelen› in Anbetracht dieser Aussicht erschauderten. Hier schimmerten doch einige phantastische Möglichkeiten kultureller Verschmelzung auf, die anderen allerdings ein Gräuel waren oder völlig absurd erschienen. Vieles blieb ungesagt in der Debatte und ein Schweigen – wie gesagt – kann nicht als solches als Beleg herangezogen werden. Aber es gab doch viele Anzeichen, dass Bewunderer Leonardos sehr gemischte Gefühlen entwickelten, wenn sie sich vorstellten, dass dieses Universalgenie sich – gen Osten ziehend – in Kulturäume absetzte, die man als fremdartig wahrnahm. Verlockende Sinnbilder ließen sich finden. Und Leonardo schien als einige der wenigen historischen Figuren wirklich geeignet zu sein, um Synthesen aus Ost und West – versinnbildlicht durch ihn – zu erträumen. Es schien zumindest nicht von vornherein und nicht für jedermann absurd, Leonardo als ein Genie des kulturellen Grenzgängertums zu denken. Ob man sich allerdings der Erkenntnisse der historischen Wissenschaft noch rückversicherte, war eine andere Frage. Und je weiter man ausgriff, je mehr man das Szepter der Phantasie überließ, desto schwieriger ließen sich Vorstellungen von Leonardo, wie sie ein Friedrich Nietzsche sich entwarf, mit dem historischen Leonardo noch in Einklang bringen. Um Leonardos Werke ging es auch, und zwar von Anfang an. Doch erst allmählich trat die Frage in den Vordergrund: Wie verhielt es sich mit den Schöpfungen des Originalgenies, wenn er fernöstlichen Einflüssen etwa mutmaßlich ausgesetzt gewesen war? Zu Beginn der 1880er Jahre gab es noch kaum eine Grundlage, um sich diesen Fragen zuzuwenden. Aber je stärker die fernöstliche Kunst ins Bewusstsein des europäischen Kunstpublikums drang, desto häufiger wurden auch die Bezugnahmen auf deren Werke, ohne dass die eventuelle Rezeption chinesischer Malerei durch Leonardo allerdings zu einer zentralen Frage in der Auseinandersetzung über die ‹orientalische Frage› avancierte. Aber das Thema hatte sich – beiläufig – auch verselbständigt und eines führte zum anderen. Die Analogie war entdeckt und sollte von Zeit zu Zeit wieder und wieder neu
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entdeckt werden, ohne dass die These einer Orientreise Leonardos zunächst als Erklärung dieser Analogie aufgegriffen werden sollte. Erst viele Jahrzehnte später kam es, wie wir noch sehen werden, zu einer entsprechenden Rückkopplung, die man im Fin de siècle schon hätte erwarten können. Mit dem Bruch des Zweiten Weltkriegs war eine erste Etappe abgeschlossen. Alles Weitere war auf die grundlegenden Ausformungen von Ideen bezogen, die sich im Fin de siècle ausgeformt hatten. Eine Debatte war abgeschlossen, aber Reprisen blieben immer möglich, wenn es auch nicht denkbar ist, dass jene Entwicklung ein zweites Mal durchlaufen würde, die sich in der Debatte abgezeichnet hatte. Eine Tendenzwende hin zu einer Entdeckung von Leonardo als einem Autor, nicht als einem Reisenden war erfolgt. Hinter diesen Stand der Diskussion kann im Grunde nicht zurückgegangen werden, obschon auch von solchen Rückfällen noch die Rede sein wird. Wissenschaftsgeschichte – die einen Teil der Geschichte der Debatte ausmacht – hat etwas beunruhigend Ambivalentes, wenn sie nicht als Leistungsschau und nach dem Muster einer Fortschrittsgeschichte betrieben wird, sondern als eine Betrachtung der Einbettung von Forschung in den Kontext des Sozialen und Kulturellen. Im Rückblick zeigt sich: Wissenschaft – und auch der Forschritt von Wissenschaft – hat viel mit abenteuerlichen Denkmöglichkeiten zu tun, die einen Teil der Wissenschaft dazu verleiten, sich – erst im Rückblick nimmt man es wahr – gehörig zu verrennen. Wenn Leonardo im Orient vermutet wurde – in Literatur, Philosophie und Wissenschaft – so verdankte sich der gedankliche Impuls, der dazu führte, der Wissenschaft und nicht der fiktionalen Literatur, wie man betonen muss. Die Vorstellung, die bloße Idee war im Raum von Wissenschaft entstanden und nicht im ungebundeneren Denken eines Romanciers. Die Idee wirkte aber hinein in die Literatur und in die allgemeine Vorstellungswelt, wenn man von einer flächendeckenden Verbreitung doch nicht sprechen mag. Die Wellen, die eine Forschungskontroverse warf, blieben – alles in allem – überschaubar, aber vielleicht hatte dies auch mit der Radikalität der Implikationen zu tun, die in der Ideenwelt dieser Debatte enthalten waren. In den nächsten Etappen werden wir sehen, wie neue Situationszusammenhänge und neue Fragestellungen entstanden, in denen die Grundtendenzen und Motive der Debatte, nicht ohne die alte latente Radikalität, wieder in neuen Konstellationen zusammen fanden.
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2. Zweite Etappe: Leonardo prosatore (I). Die ‹orientalische Frage› als Thema der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte Damit dieser Name [ORIENT] in jemandes Vorstellung seine vollständige, umfassende Wirkung erzielen kann, darf dieser Jemand auf keinen Fall jemals in dieser so vage umrissenen, durch den Namen bezeichneten Gegend gewesen sein. Auf möglichst wenig gelehrte, ungenaueste, ja sogar konfuseste Art sollte er sie durch Bild, Erzählung, Lektüre und einige Gegenstände kennen. So stellt man sich den Stoff zum Träumen zusammen. Dazu bedarf es einer Vermischung von Raum und Zeit, von Halbwahrem und falscher Gewissheit,. von kleinsten Details und übermäßig ausgedehnten Ansichten. Gerade das ist der ORIENT in der Vorstellung. Paul Valéry192
2.1 ‹Diodario› – ein Wort und seine Geschichte Die Beschäftigung mit der ‹orientalischen Frage› – auch in der Nachkriegszeit – hielt an. Man war nun daran gewöhnt – und Jean Paul Richter hatte seinen Anteil daran gehabt –, in Leonardo da Vinci auch einen Autor ‹literarischer› Schriften zu sehen. Man billigte ihm allmählich einen Ort im Rahmen der italienischen Literaturgeschichte auch zu, nicht nur als Autor des ‹Malerbuchs› und nicht nur als Autor eines ‹Notizen-Werks›. Es lagen allem Anschein nach – dies war auch ein Ergebnis der Orient-Debatte – literarische Texte im ganz eigentlichen Sinne auch vor. Leonardo war auch ein Prosaist gewesen, ein Autor von Erzählliteratur in Prosa. Ein Effekt dieser Tendenz war es jedoch gewesen, dass man eine nicht ganz unwichtige Detailfrage mehr oder weniger aus den Augen verloren hatte. Und diese schlichte Frage lautete: Wie – wenn er nicht im Orient gewesen war – kam Leonardo da Vinci auf das Wort – auf das seltsame, unvertraute und ausgefallene Wort ‹Diodario›, das in seinen Texten vorkam? Dies war nur scheinbar eine Detailfrage, die sich auf Leonardos Wortschatz bezog und von daher den Spezialisten überantwortet werden konnte. In Wirklichkeit war die Antwort von grundsätzlicher Bedeutung, was die Einschätzung der ‹armenischen Briefe› anging: Wenn man davon ausgegangen war, dass Leonardo im Orient gewesen war, so hatte man auch davon ausgehen können, dass ihm das Wort – im Direktkontakt mit der Kultur vor Ort –bekannt geworden war. Wenn er aber in Italien (als ein Prosaist) auf dieses Wort gekommen war, stellte sich doch die Frage nach dem Woher. Oder war es eine Eigenschöpfung Leonardos? Stammte somit das Wort, wie der literarische Gesamtentwurf auch, aus der Imagination des historischen Leonardo? 192 Paul Valéry, Orientem versus, in: ders., Werke, Bd. 7 (Zur Zeitgeschichte und Politik, hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt), Frankfurt a.M./Leipzig 1995, S. 489.
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Im italienischen Wortschatz schien jedenfalls, zu Jean Paul Richters Zeiten, das Wort sprachgeschichtlich nicht belegt zu sein,193 aber seit Richter war man sich dennoch sicher, dass ‹Diodario› die italienische Entsprechung einer Amtsbezeichnung im Institutionengefüge der bis ins frühe 16. Jahrhundert über Ägypten und Syrien herrschenden Mamluken gewesen war. Ein ‹Diodario› war der Inhaber eines sehr hohes Staatsamtes, nämlich gewissermaßen der Staatssekretär (oder simpler: der ‹Außenminister›). Gemeinsam hatte sich das Ehepaar Richter – Louise Richter war ja im Orient geboren worden – die Bedeutung erschlossen. Dabei ging man vom türkischen Wort ‹defterdar› aus, setzte es – problematischerweise – mit dem arabischen Ausdruck ‹devatdar› gleich und kam so dem Wortsinn auf die Spur.194 Bis heute ist zu diesem Thema von Seiten der Leonardo-Forschung im Grunde nichts Neues beigetragen worden. Die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung war nach der Richter-Debatte im engeren Sinne, deren Ende wir mit dem Jahre 1939 angesetzt haben, der Literaturwissenschaft überantwortet worden. Aber die Herkunft des Wortes ‹Diodario› blieb ungeklärt. Nicht weil man sie nicht eruieren konnte oder wollte: Man hatte die Frage schlicht und einfach aus den Augen verloren, die Frage stellte sich nicht mehr. Was ist aber zu diesem Thema aus heutiger Sicht zu sagen? War das Wort ‹Diodario› doch eine Eigenschöpfung Leonardos? Oder bezog er sich auf andere Texte und wenn ja, auf welche? Konnte Leonardo mit einem Verstehen der Zeitgenossen rechnen, wenn er dieses ungewöhnliche Wort verwendete? Oder erklärte sich die Wortwahl aus noch ganz anderen, noch im Dunkeln liegenden Zusammenhängen?195 Im Folgenden sei versucht, dieses Sonderproblem – in einem wortgeschichtlichen Exkurs – möglichst vollständig zu entwirren, d.h. die nur scheinbar schlichte Frage einer Klärung zuzuführen.196 Das Wichtigste vorweg: Leonardo hat das Wort nicht selbst erfunden, denn es ist im Italienischen seiner Zeit, anders als Richter meinte, belegt, wenn auch eher selten. Es bezeichnet in der Tat, wie angenommen, den Amtsträger in der mamlukischen Hofhierarchie, und man findet das Wort in Quellen, die von den politischen Verhältnissen im 193 R II, S. 317, Fn 1 (zu Nr. 1336). 194 Vgl. auch M/R, S. 136f. 195 Einzig Eugène Piot, Sammler und Conaisseur, hatte einen alternativen Vorschlag gemacht. Siehe Henri de Geymuller, Les derniers travaux sur Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 28 (1886), S. 275, Fn 1 [Bd. 34]. Piots Ansicht nach war ein ‹diodario› nichts anderes als einer der AlexanderNachfolger, also der Diadochen. 196 Die hier gegebenen Erläuterungen basieren vor allem auf den beiden Artikel ‹Daftardār› und ‹Davātdār› in EI. – Die problematische Gleichsetzung könnte sich im Gespräch mit den angefragten französischen Sachverständigen gewissermaßen eingeschlichen haben. Richter könnte auf die Frage, ob ‹Diodario› und ‹defterdar› sich entsprachen, zur Antwort erhalten haben, er habe Recht, in der Tat sei ‹Diodario› eine Entsprechung von ‹devatdar›/‹davadar›. Ob die Gleichsetzung allerdings nur problematisch oder ganz einwandfrei falsch ist, in anderen Worten: ob eine wortgeschichtliche Verwandtschaft besteht oder ein synonymer Wortgebrauch belegt ist, dies steht hier nicht zu klären. – In der zweiten Auflage der Anthologie entfiel im Übrigen der Hinweis auf die Erinnerungsleistung von Louise Richter, die ihre Kindheit und einen Teil ihrer Jugend in der Türkei verbracht hatte und sich erinnerte, den Begriff ‹defterdar› gehört zu haben.
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Orient berichteten, und zwar insbesondere nach Venedig berichteten, wo bekanntlich viele Nachrichtenflüsse zusammenliefen. Das Ehepaar Richter behielt also – abgesehen von der problematischen Gleichsetzung zweier Begriffe und der dadurch gestifteten Verwirrung – in der Hauptstoßrichtung doch recht: Der ‹Außenminister› der Mamluken – zu jener Zeit – wurde – in italienischsprechenden Kreisen – mit dem Wort ‹Diodario› bezeichnet. Die beiläufig angerichtete Verwirrung hat nachträglich aber auch ihr Gutes, denn sie zwingt zu einer – lange aufgeschobenen – genaueren begrifflichen Klärung, zu einer eingehenderen historischen Recherche und damit zum Studium desjenigen Quellenkorpus’, aus dem eben Leonardo seine Anregungen bezogen haben mochte. ‹Register› und ‹Tintenzeug› Die Tätigkeit eines ‹defterdar› – wörtlich ‹Registerhalter› – war im Bereich der Finanzverwaltung zu verorten. Der höchste Träger dieses Titels amtierte im Osmanischen Reich als ein ‹Finanzminister›, rangmäßig beinahe auf der Stufe der Wesire. Aber auch der einfache Finanzbeamte, Buchhalter oder Registerführer trug diesen Titel, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass ‹Diodario› eine Italianisierung des türkischen ‹defterdar› war, vor allem wenn es sich um einen ‹Diodario von Syrien› handelte.197 Ein ‹devatdar›198 hingegen, auch hier sind niedrigere und höhere Ämter zu differenzieren, war ein ‹Halter des Tintenzeugs› bzw. des ‹Tintenfasses›.199 In der Wortbedeutung klang nicht das ‹Register› an, sondern das ‹Schreibzeug›. In der mamlukischen Verwaltung, insbesondere zur Zeit der tscherkessischen Sultane des 15. Jahrhunderts, gab es einerseits den niederen Beamtenrang, der mit diesem Titel bezeichnet wurde, aber andererseits auch den Titel eines ‹Groß-Devatdar›. Bei Letzterem handelte es sich um
197 Auch im Mamlukenreich gab es natürlich den äquivalenten Funktionsbereich eines ‹deftardar›, doch es ist fraglich, ob die entsprechende Funktionsbezeichnung sich zugleich auch mit einem Amt von höchsten Würden verband, wie Leonardo es – von einem ‹Stellvertreter des Sultans› sprechend – im Auge hatte. 198 Auch die Formen ‹Davadar› und insbesondere ‹Divitdar› kommen vor (vgl. Der fromme Sultan Bayezid. Die Geschichte seiner Herrschaft (1481–1512), [Chroniken des Oruç und des Anonymus Hanivaldanus] hrsg. von R. F. Kreutel, Graz/Wien/Köln 1978 [Osmanische Geschichtsschreiber, Bd. 9], S. 39). Möglicherweise ist diese letztere Form – oder auch eine dialektale Lokalform – Vorbild der italienischen Begriffsbildung. 199 So übersetzte der große Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall einst den Begriff (Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Goldenen Horde in Kiptschak, das ist: der Mongolen in Russland, Pesth 1840, S. 230). – Um das Jahr 1500 entwarf Leonardo da Vinci im Übrigen ein Tintenfassemblem mit den Initialen ‹B. T.› (vgl. L-A, S. 308). Daraus allein sollten allerdings keine falschen oder abenteuerlichen Schlüsse gezogen werden, obschon natürlich genau derlei Koinzidenzien dazu einzuladen scheinen, über abenteuerliche Verbindungen zu mutmaßen.
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eine Art ‹Staatssekretär›, um einen ‹Großkanzler› – wie die neuere Mamlukenforschung den Begriff übersetzt –200 und damit um einen der allerersten Männer im Staate.201 Ganz in diesem Sinne verweist die Bezeichnung ‹Diodar› oder ‹Diodario› in den italienischen Quellen der Zeit auf einen hohen Würdenträger im mamlukischen Machtbereich; und zudem ist dem Ausdruck hin und wieder die Bezeichnung ‹groß› beigegeben, so dass mit einiger Sicherheit angenommen werden kann, dass die Bezeichnung ‹Großdevatdar› in diesem Fall den Ursprung der Übersetzung bildet und dass ‹Diodario› also tatsächlich dem Wort ‹devatdar› entspricht. Ein Quellenkorpus Es gab einen Italiener – einen Altersgenossen Leonardos zumal –, dem alle oder doch viele dieser Nuancen geläufig waren; und es handelt sich dabei um Giovan-Maria Angiolello, einen Vicentiner Patriziersohn, der in den Krieg gegen die Türken gezogen und beim Fall von Negroponte auf der Insel Euböa in Kriegsgefangenschaft geraten war.202 Man nahm ihn mit in die Türkei, und er verlebte lange Jahre in verschiedenen Funktionen am Osmanischen Hof, ein Umstand, dem wir etliche Quellentexte zur Türkischen Geschichte verdanken. Angiolello begleitete einen Lieblingssohn Mehmeds II. auf militärischen Kampagnen, und – er amtierte in der osmanischen Finanzverwaltung als ein ‹defterdar›, was er im Italienischen mit «Testerdari» wiedergab (und nicht mit ‹Diodario›).203 Doch auch das Wort ‹Diodaro› kommt vor in Texten Angiolellos, bzw. in einem Text, einer ‹Türkischen Geschichte›, die sich mit Angiolellos Namen auch verbindet.204 Von einem ‹gran diodar›, namentlich von Taman Bay, dem nachmaligen – letzten – Sultan der Mamluken, ist die Rede in Angiolellos Bericht über das ‹Leben und die Taten von Uzun Hassan›.205 Aber da sich die entsprechende Textpassage auf das Jahr 1516 be200 Vgl. Henning Sievert, Der Kampf um die Macht im Mamlūkenreich des 15. Jahrhunderts, in: Stephan Conermann / Anja Pistor-Hatam (Hg.), Die Mamlūken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur. Zum Gedenken an Ulrich Haarmann (1942–1999), Schenefeld 2003, z. B. S. 358. 201 Eine Entsprechung in einem ganz allgemeinen Sinne konnte sich also höchstens dadurch ergeben, dass sowohl ein ‹defterdar› – als ein ‹Finanzminister› bei den Osmanen – wie ein ‹Devatdar› – als ein Staatssekretär bei den Mamluken – sehr hohe Ämter im jeweiligen Herrschaftssystem innehatten. 202 Siehe DBI (Franz Babinger); Stéphane Yerasimos, Les voyageurs dans l’Empire Ottoman (XIVe – XVIe siècles). Bibliographie, itinéraires et inventaire des lieux habités, Ankara 1991, S. 114f. – Die neueste Forschung hat sich im Internet organisiert (siehe unter: http://angiolello.net/). 203 Siehe [Giovan-Maria Angiolello], Angiolello, historien des Ottomans et des Persans, hrsg. von Jean Reinhard, Buenos Aires o. J., S. 66f. Diese einzige mir zugängliche Ausgabe des betreffenden Textes, eines Berichts über den Fall von Negroponte, die Gefangennhme und die Gegebenheiten am Osmanischen Hof, steht allerdings nicht im Ruf hoher philologischer Genauigkeit. 204 Siehe Pierre A. MacKay, The Content and Authorship of the Historia Turchesca, in: Sümer Atasoy (Hg.), 550th anniversary of the Istanbul University, International Byzantine and Ottoman Symposium (XVth century), 30–31 May 2003, Istanbul 2004, S. 213–223 [http://angiolello.net/]. 205 Giovanni Battista Ramusio (Hg.), Navigazioni e viaggi, hrsg. von Marica Milanesi, Bd. 3, Torino 1980, S. 413 («il gran diodar detto Tomombei» [Kursivierung im Original]). Es handelt sich um den
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zieht, ist sie hier – im Zusammenhang mit der Frage nach Leonardos Wahrnehmungshorizont – weniger von Belang.206 In der ‹Türkischen Geschichte› dagegen, im Zusammenhang mit den osmanischmamlukischen Grenzkriegen um die Taurusregion,207 kommt die Rede auf einen rebellischen syrischen Lokalfürsten zur Zeit Mehmeds II.: «Il gran Turco tuttavia preparava grand’ essercito per terra per andar in persona a danni del gran Soldano, il quale era in gran differenza col Signore di Damaso et Diodaro d’Aleppo, et non era possibile intendere dove volesse andare, ne mai li suoi viziri lo puotero intendere […] [Hervorhebung hinzugefügt].»208
Hier, in der ‹Türkischen Geschichte›, verknüpfte sich also, ähnlich wie bei Leonardo, die Amtsbezeichnung mit einer geographischen Bezeichnung (hier: dem Städtenamen); und es ist unklar, ob sich der Autor oder der Redaktor bewusst war, dass er eine Amtsbezeichnung übernahm (und nicht einen Eigennamen) und zwar eine, die nicht in jeder beliebigen Stadt besetzt war (denn es gab bloß einen hochrangigen ‹Diodario› im ‹Staate› der Mamluken, bloß einen ‹Großkanzler›). Es macht sich hier eine signifikante Unschärfe der Wahrnehmung bemerkbar, die auch bei Leonardo auffällt. Und generell stellt sich – in einem weiteren Zusammenhang – die Frage, ob Leonardo ein bestimmtes historisches Individuum, einen ganz bestimmten ‹Diodario› im Auge haben konnte oder ob er bloß den Typus ‹orientalischer Würdenträger› evozieren wollte. Analog stellt sich die Frage, ob er auf ein ganz bestimmtes historisches Geschehen anspielen wollte – auf einen bestimmten Grenzkrieg – oder bloß ganz allgemein auf das Thema ‹Grenze› bzw. ‹Herrschaftsgebiet›.209 Bericht über ‹das Leben und die Taten von Uzun Hassan› (a.a.O., S. 357ff.). – Bezüglich Taman Bay siehe EI. 206 Ein ‹diodar grande› ist auch erwähnt in [Domenico Malipiero], Annali veneti dall’anno 1457 al 1500 del Senatore Domenico Malipiero, hrsg. von Francesco Lungo, Firenze 1844 [Archivio storico italiano, Bd. 7], S. 636. – In einem weiteren Reisebericht aus Ramusios Sammlung, nämlich dem anonymen Bericht eines Kaufmanns in Persien (a.a.O., S. 421ff.), kommt ebenfalls ein gegen den Sultan rebellierender ‹Diodar› vor (S. 426). Das Wort findet sich außerdem bei Giosafat Barbaro, dem venezianischen Gesandten bei Uzun Hassan (siehe [Giosafatte Barbaro], Lettere al senato veneto, hrsg. von Enrico Cornet, Wien 1852, S. 27). 207 Vgl. etwa Ulrich Haarmann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, hrsg. von Heinz Halm, München 5 2004 [urspr. 1987], S. 247. 208 Die Textstelle wurde 1888, im Rahmen einer Bellini-Monographie, publiziert und – theoretisch – bekannt gemacht. Siehe Louis Thuasne, Gentile Bellini et sultan Mohammed II. Notes sur le séjour du peintre vénetien à Constantinople (1479–1480) d’après les documents originaux en partie inédits, Paris 1888, S. 48, Fn 1 (Fol. 46v im Manuskript). Die Episode datiert auf das Jahr 1481. – Eine eigentliche Edition der ‹Türkischen Geschichte› erschien erst 1909. 209 Es stellt sich die Frage, ob Leonardo von diesen Grenzstreitigkeiten gewusst haben kann. Fiktiv ordnete er sich jedenfalls fraglos einer Partei, nämlich den Mamluken zu, indem er sich auf das besagte Amt, auf Syrien – und in identifikatiorischer Rede – auf ‹unsere› Grenzen und auf ‹unser› Gebiet bezog. – Jean Paul Richter hatte auf eine historisch verbürgte Reise des späteren Mamluken-Sultans Kaytbey in die Region verwiesen (R II, S. 317, Fn 5 zu Nr. 1336). Kaytbey hatte in der Tat – während seines Aufstiegs zum allerhöchsten Staatsamt – auch einmal das Amt des ‹sahrir devatdar›, eines Stell-
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Es fragt sich – was hier allerdings nicht beantwortet werden kann –, ob es ein historisches Individuum gab, das im mamlukischen Reich zeitgleich in Rang und Würden eines ‹devatdar› stand und einen Stellvertreter- oder Gouverneursposten in Syrien innehatte. Es mochte ein Zeitgenosse Leonardos sein oder eine historische Figur (was als der denkbar stärkste Beweis für die tatsächliche Literarizität der Texte Leonardos erschiene). Die italienischen Quellen der Zeit erwecken allerdings nicht den Eindruck, dass es abendländischen Beobachtern möglich war, individuelle historische Physiognomien einzelner orientalischer Funktionsträger wirklich zu unterscheiden. War Leonardo von diesen Quellen abhängig, so dürfte es auch ihm nicht möglich gewesen sein, und er war folglich auf Erfindung angewiesen, sofern er eine literarische Figur überzeugend gestalten wollte. ‹Kairo› und ‹Babylon› So hat es nicht den Anschein, dass Leonardo eine konkrete historische Figur und eine konkrete zeitgenössische politische Realität im Auge hatte, wenn er sich in seiner Anrede auf den ‹Heiligen Sultan von Babylon› bezog. Es mochte Kairo gemeint sein und also das Herrschaftszentrum der Mamluken – aber in Venedig, unter venezianischen Kaufherren jedenfalls, wusste man, dass Kairo ‹Kairo› hieß.210 Warum also diese Abweichung, ein eigentlicher Rückfall in eine sozusagen altväterliche, biblisch konnotierte Geographie?211 In der Adressierung seiner Berichte – dies ist im Weiteren bewusst zu halten – legte Leonardo eine eigenartige Mischung aus einerseits guter Informiertheit und andererseits einem Desinteresse an der zeitgenössischen Geographie und Politik an den Tag. Er kannte zwar ein in seinem Lebensumfeld sicherlich sehr ausgefallenes Wort, er ergänzte es auch vertreters des großen ‹devatdar›, innegehabt (siehe EI, Art. ‹K ā’it Bāy›, sowie Carl F. Petry, Twilight of . Majesty. The Reigns of the Mamlūk Sultans al-Ashraf Qāytbāy and Qānūh al-Ghawrī in Egypt, Seattle/ London 1993). Doch dies bedeutete – soweit bekannt ist – nicht, ein Stellvertreter des Sultans oder ein Gouverneur von Syrien zu sein. 210 Es genügt, die Indices von Marino Sanudos/Sanutos Tagebüchern zu konsultieren ([Marino Sanuto, I diarii di Marino Sanuto, hrsg. von Federico Stefani, Guglielmo Berchet und Nicolò Barozzi, 58 Bd., Venezia 1879–1902). – Der Reisende Arnold von Harff hatte für Kairo gleich drei Namen, einer davon war ‹Babylon› (siehe [Arnold von Harff], Rom – Jerusalem – Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498), hrsg. von Helmut Brall-Tuchel und Folker Reichert, Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 112). 211 John Mandeville, der urtypische Reisende und zugleich der paradigmatische ‹travel-liar›, hatte zwar differenziert, aber seinerseits für eine weitere Konfusion gesorgt: Denn er hatte zum einen ‹Kairo› als Ortsbezeichnung, nämlich als Ort eines Sklavenmarktes ([John Mandeville], Reisen des Ritters John Mandeville. Vom heiligen Land ins ferne Asien 1322–1356, hrsg. von Christiane Buggisch, Lenningen 2004, S. 94); er sprach aber auch von ‹(Klein-)Babylon› als Residenzstätte des ägyptischen Sultans (S. 81, 90, 100; vgl. auch Fn auf S. 81), und er unterschied dieses wiederum vom ‹(Groß-)Babylon› der Bibel (S. 86ff.). – Benedetto Dei hatte – den Mamlukensultan meinend – in seiner Chronik vom ‹soldano da Bambillona› gesprochen (Benedetto Dei, La Cronica dall’anno 1400 all’anno 1500, hrsg. von Roberto Barducci, Firenze 1984, S. 120 und 166). Möglicherweise ist auch dies eine Inspirationsquelle Leonardos (ohne dass wir allerdings von einer Lektüre dieser Chronik wüssten).
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durch eine erläuternde Information (denn ‹Statthalter› war verständlicher als ‹Diodario›), aber er schöpfte bei Weitem nicht aus, was an Information – vor allem auch geographische Information – seinerzeit in Bezug auf den Nahen Osten schon zugänglich war. Es erscheint alles in allem wahrscheinlicher, dass Leonardo einen Typus ‹orientalischer Würdenträger› im Auge hatte. Eine konkrete Person, der eigentliche Träger dieses bestimmten, von ihm evozierten Amtes, konnte ihm schwerlich bekannt gewesen sein, wenn er – wie man ja allgemein jetzt annahm – mit diesem eben nicht persönlich in Kontakt gekommen war. Ein ‹Diodario von Syrien› Es liegt nun zumindest eine Quelle vor, in der – wahrscheinlich ein venezianischer Kaufmann, dessen Namen wir nicht kennen – von einem ‹Diodario von Syrien› spricht, so wie eben Leonardo. Und vielleicht kommen wir hier der Quelle – bzw. einer der Inspirationsquellen Leonardos, sofern es mehrere gab – am nächsten. Von dieser Quelle her erklärt sich auch sehr deutlich, warum die italienischen Kaufleute einen Grund hatten, sich für die Ämterhierarchie der Mamluken zu interessieren: Sie hatten in Hinblick auf die Abwicklung des Fernhandels ein Interesse an berechenbaren Verhältnissen und nicht an innerstaatlichen Wirren, die sich in Nachfolgekämpfen und ob der Rivalität der hohen Würdenträger potentiell ergaben. Außerdem kam dem ‹Groß-Devatdar› eine Rolle als eine Art ‹Außenminister› zu: Er beaufsichtigte den diplomatischen Verkehr mit dem Ausland.212 Die Quelle, ein Brief, der im Dezember 1497 abgeschickt und am 25. März 1498 in Venedig eingetroffen war, fand in die Tagebücher Marino Sanudos hinein. Es handelt sich um einen Brief, der an Alovisio Arimondo, einen ehemaligen Konsul im ägyptischen Alexandria, gerichtet war, und der Absender berichtete von inneren Wirren – und von einem Sultan, der mit einem aufmüpfigen ‹Devatdar› befasst war: «Ha cerchato de far molte provision da veder de mandar a cazar el diodar de la Soria, tamen nulla è sta fatto, perchè ne son de quelli che tira et de quelli che molla [Kursivierung im Original].»213
Hier findet sich die wohl frappanteste Übereinstimmung mit Leonardos Wortwahl, denn es findet sich hier die typische Unschärfe im Sprachgebrauch: die problematische Kombination einer im Grunde überregional zu denkenden Amtsbezeichnung mit einer Landesbezeichnung; und es ist hier ist ein Geschehen angesprochen, das damals allgemein zu reden gab: die Nachfolgewirren nach dem Tode Sultan Kaytbeys im Jahre 1496, auf den vier ephemere Sultane folgten, bis sich mit Sultan Al-Ghauri im Jahre 1501 wieder ein Herrscher dauerhaft zu etablieren wusste.214 212 Haarmann, a.a.O., S. 231f. 213 Sanuto, a.a.O., Bd. 1 (Teil II), Sp. 911. 214 Auf Sultan Kaytbey folgte – dies eine anstössige Novität im Herrschaftssystem der Mamluken – dessen Sohn An-Nasir, der allerdings von einem Onkel – eben dem Groß-Devatdar – heftig angefeindet
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Aber ein Unterschied im Sprachgebrauch – gleichwohl – lässt sich nicht leugnen, wenn man bedenkt, dass Leonardo den ‹Diodario› auch als einen Statthalter des ‹heiligen Sultans von Babylon› tituliert hatte.215 Für Sanudo oder für seine Informanten machte es nämlich wenig Sinn, von Kairo als von ‹Babylon› zu sprechen. Dies hätte unnötigerweise verunklart, um was es ging, nämlich um nüchterne Evaluation der politischen Verhältnisse aus der Sicht von Akteuren im Levante-Handel. Die Bezeichnung ‹Babylon› schuf ein Assoziationsfeld, das unnötig war. Und es war überkommene, obsolete Geographie des 14. Jahrhunderts, die man in Mandevilles Reisen etwa noch vorfand. In Leonardos Rede deutete sich dergestalt möglicherweise an, dass es um etwas anderes ging als um die nüchterne Berichterstattung und um eine Geographie auf der Höhe der Zeit. Hier war jedenfalls willentlich oder unwillentlich auch noch auf andere Texttraditionen Bezug genommen. Damit ist hier allerdings innezuhalten mit der Rekonstruktion einer Wortgeschichte, die im Zuge der Institutionenbildung der großen arabischen Dynastien beginnt, die sich sodann auffächert und ausdifferenziert, bis das Wort, ins Italienische eingeführt, um 1500 in einen literarischen Entwurf von Leonardo da Vinci hineinfand. In der Debatte über die ‹orientalische Frage› hatte es eine Tendenzwende gegeben, und nach und nach war aus einer biographischen Frage ein literaturwissenschaftliches Deutungsproblem geworden. Abgesehen von diesem Deutungsproblem hatte aber auch die Tendenzwende an sich etwas Problematisches gehabt: Man kümmerte sich immer weniger um die historischen Realitäten, aus denen heraus Leonardo gesprochen hatte, auf die er sich möglicherweise bezog und von denen her seine Texten ihren Sinn erhielten.216 Ein grundsätzliches methodisches Problem stellte sich hier: Wie sollte man den Texten Leonardos gerecht werden, wenn man von ihren Weltbezügen mehr oder minder absah? Indem man die ‹orientalische Frage› aber an die Literaturwissenschaft und -geschichte gleichsam delegiert hatte, wurde aus nahe liegenden Gründen weniger nach den vielfältigen – verwaltungstechnischen, ökonomischen, politischen und militärischen – Bezügen gefragt, in denen die Texte und einzelne Worte eben standen. Schon dadurch, dass ‹Diodario› eben ein Wort ist, das einem bestimmten Quellenkorpus entstammt, stellten sich Bezüge zu zeitgenössischen Realitäten her, wenngleich nicht mehr genau wurde (siehe Petry, a.a.O., S. 125f.). – In seinem Reisetagebuch berichtete auch der Ritter Arnold von Harff von diesem Geschehen (siehe [Arnold von Harff], a.a.O., S. 114f. (mit Fn 216) sowie S. 176). Von einer Reise ins Heilige Land heimkehrend hielt sich Arnold zwischen März und Oktober 1498 sogar in Mailand auf, also – wie festzustellen ist, ohne über einen entsprechenden Nachrichtentransfer zu spekulieren – in Leonardos Nähe. In Arnolds Bericht findet sich die Bezeichnung ‹Thodar› für den ‹Diodario› (ebd.). – Für eine weitere Möglichkeit der Verbreitung von Nachrichten aus der Levante siehe weiter unten. 215 Für die Texte im Wortlaut siehe Anhang B. 216 Ein letzter Bezug auf die Realhistorie war Solmis Hinweis auf das Auftreten des ‹neuen Propheten› Schah Ismaels gewesen, auf den sich Leonardo, seinerseits von einem ‹Propheten› sprechend, möglicherweise – oder möglicherweise: auch – bezogen hatte. Vgl auch Kap. 4 (der Gedanke wurde in den 1970er Jahren wieder aufgenommen).
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zu klären ist, wo und wann – vielleicht in Venedig – Leonardo dieses Wort de facto zu Ohren oder unter die Augen kam. Und ganz offenkundig enthielten die Texte noch mehr solcher und auch ganz anders gearteter Bezüge auf die äußere Realität: Denn Leonardo hatte sozusagen – und wohl nicht ohne Selbstironie – auf eine interne Problematik angespielt: Die Langsamkeit, die Sorgsamkeit seines Arbeitens trug ihm den Vorwurf der Saumseligkeit ein. Und indem er diesen Vorwurf seines imaginären Auftraggebers antizipierte, legte er ein beachtliches Maß an Selbstreflexion an den Tag. In seinem Text spiegelte sich gleichsam der typische Konflikt, der manche seiner Arbeitsverhältnisse gekennzeichnet hat. Und wer wusste um diesen typischen Konflikt, wenn nicht sein persönliches Umfeld von Schülern und Assistenten, die sich verstehend anblicken mochten, wenn Leonardos Rede im Rahmen einer Erzählung auf dieses Thema kam. 217 Über die Bedeutung des einzelnen Wortes und des einzelnen Erzählmotivs hinaus: Man konnte auch nicht von dem literarischen Umfeld absehen, in dem das Material entstanden war. Denn Leonardo – wenn er als Prosaist agierte – musste sich literarischer Strategien bedienen und Erzähltechniken gebrauchen, die, sollten sie ihr Ziel nicht verfehlen, in seinem Umfeld auf irgendeine Art und Weise etabliert sein mussten. Um welche Strategien es sich handelt, ist vergleichend bloß zu eruieren. In der Wahrnehmung des einen Meinungslagers hatte Leonardo sich als ein Reisender ja unter anderem dadurch beglaubigt, dass er ein Wort verwendet hatte, das auf einen direkten Kontakt mit einem orientalischen Würdenträger schließen ließ. Aber wenn man den Sachverhalt im Paradigma ‹Literatur› betrachtete, stellte man fest, dass sich ganz eben so ein ‹travel liar› beglaubigte, der einem Publikum den Eindruck vermitteln wollte, wirklich in den Verhältnissen gelebt zu haben, von denen er berichtete. War Leonardo da Vinci nun ein ‹travel liar› gewesen? Hatte er in einer Täuschungsabsicht agiert und nicht bloß die Nachwelt getäuscht und in die Irre geführt, sondern auch die Zeitgenossen, die – ganz wie ein Teil der Nachwelt – disponiert waren, seine Erfindungen für bare Münze zu nehmen? Im Kern geht es in diesem zweigeteilten Hauptkapitel darum, wie man – die Literaturwissenschaft, die Leonardo-Forschung – sich der Texte Leonardos annahm, deren grundsätzliche Literarizität nicht mehr in Frage stand. Es handelte sich um Literatur, aber aus diesem Befund ergaben sich eben ganz andere und neue Fragen. Man hatte – wie im letzten Kapitel schon angedeutet – nach und nach die Reisenden im Umfeld Leonardos aufgespürt, die man als potentielle ‹Quellen› ansah. Man hatte nach und nach die Reiseliteratur, die potentiellen literarischen Vorbilder in seinem Buchbesitz auch entdeckt. Es stellte sich also nunmehr ganz grundsätzlich die Frage, wie sich Leonardos Texte zu anderen Texten verhielten. Eine Rekapitulation der Deutungs- und Debattengeschichte im Paradigma ‹Literatur ist daher im Weiteren so angelegt, dass wir zunächst die Reisenden im Umfeld Leonardos Revue passieren lassen und – teilweise erstmals – überhaupt von ihnen als 217 Vgl. das Motiv der Wette auf die grösste Verspätung, bzw. das Setzen auf Leonardo als auf den ‹sicheren Kandidaten› (zitiert bei N, S. 475).
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Figuren im Umfeld Leonardos sprechen. Sodann – nach einer Betrachtung von Beziehungen zwischen Personen – sind die Beziehungen zwischen Texten zu betrachten, bevor wir zu einer eigentlichen Rekapitulierung der Deutungsgeschichte im engeren Sinne gelangen. Ein Bezugsfeld von Leonardo da Vinci als einem Autor von Prosaschriften ist somit zunächst zu rekonstruieren; und da die alles umschließende Thematik hier das Reisen ist, stellen wir den nächsten Abschnitt unter den Titel ‹Imagination und Welterfahrung. Leonardo da Vinci und das Reisen›. Obschon hier natürlich zuallererst dem Prosaisten Leonardo unsere Aufmerksamkeit gelten soll, ist doch auch daran zu erinnern, dass mancher im Folgenden zur Sprache kommende Aspekt – man denke an das Thema ‹Leonardos Landschaften› – auch den Künstler Leonardo – teilweise ganz grundsätzlich – betrifft.
2.2 Imagination und Welterfahrung: Leonardo da Vinci und das Reisen Im Schatten des ‹Entdeckers› – als eines Typus des Reisenden der Renaissance – steht der ‹Mönch›, insbesondere als weltzugewandter Bettelmönch, d.h. als Prediger und Missionar. Wie Leonardos Freund Luca Pacioli, Mathematiker und Franziskanermönch, berichtete, fand im Mailand Leonardos im Jahre 1498 ein Generalkapitel des Franziskanerordens statt, «wobei eine sehr große Anzahl berühmtester und gefeiertster Doctoren und Baccalauren der heiligen Theologie und anderer Wissenschaften aus dem ganzen Universum und von jedweder Nation, die unter dem Himmel ist, zugegen war.»218 Die Stadt, üblicherweise bloß Durchgangsort des Reisenden,219 war hier für einmal Ort eines ‹Symposions› der Wanderprediger, Missionare und Ordensbrüder; die Stadt war ein Ziel der Reise, ein Begegnungszentrum und ein Ort des Austauschs von Erfahrung in der Fremde. Und es ist gut möglich, dass an diesem Ort die Kunde von den inneren Wirren im Mamlukenreich eintraf, von denen auch der Ritter Arnold von Harff berichtete (der im Übrigen im gleichen Jahr durch Mailand reiste). Luca Pacioli selbst war von der älteren Forschung einst im Orient vermutet worden; die neuere Forschung hat diese Vorstellung, die wohl nur aufgrund von Paciolis Rezeption von arabischer Mathematik entstanden ist, indes verworfen.220 Aber hier in 218 [Fra] Luca Pacioli, Divina Proportione. Die Lehre vom goldenen Schnitt, hrsg. von Constantin Winterberg, Wien 1889 [Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit], S. 281. – Als einen ‹multikulturellen› Ort erinnert Leonardo – wenig überraschend – Venedig (siehe CM I 0r, d.h.: vorderer Einband). 219 Als einen solchen Durchgangsort sah Leonardo, der oft als Florentiner angesehen wird, überraschenderweise die Stadt Florenz (siehe N, S. 88, mit Bezug auf CA 887r [ex323r-b]). – Paolo Giovio hatte Leonardos Herkunft explizit in dem ‹unbedeutenden› Dorf Vinci in der Toskana verortet; der Anonymo Gaddiano titulierte ihn hingegen als einen ‹Bürger› von Florenz (siehe Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hrsg. von André Chastel, München 1990, S. 71 bzw. S. 76). Die unterschiedlichen Weisen und Möglichkeiten, Identität zu konstruieren, deuten sich hier an. 220 Pacioli, a.a.O., S. 2 (Einleitung von Constantin Winterberg).
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Mailand war, in eben diesem Jahr, in dem auch Spanier und Portugiesen ihre jeweiligen kolonialen Interessensphären im Vertrag von Tordesillas voneinander abzugrenzen suchten,221 die Gelegenheit gegeben, von Reisen in aller Herren Länder zu vernehmen. Und auch Pacioli, als ein überaus praktisch veranlagter Mathematiker und Ordensbruder, hatte seinen Mitbrüdern etwas zu geben, denn seiner ‹Summe der Mathematik› hatte er ein Hilfsmittel integriert, das auf Reisen, zumindest in Italien, zu benützen war: eine Umrechnungstabelle der Maße, Gewichte und Währungen.222 Franziskanermönche fungierten – wegen ihrer Mobilität – als die klassischen Zwischenträger, die auch Aufträge an Künstler-Ingenieure vermittelten, und im Zusammenhang mit Konstantinopel und dem Projekt einer Brücke über das Goldene Horn werden wir davon noch hören. Mission und Nachrichtenwesen waren jedenfalls keineswegs scharf voneinander zu scheidende Funktionen; und ganz generell eignete sich der Reisende per se dazu, auch Botenfunktionen zu übernehmen, als Kundschafter zu operieren oder als ein Augenzeuge – nolens volens – ausgefragt zu werden. Einer physischen Bewegung im Raum entsprach am ehesten eine Bahnbrechung der kommerziellen, militärischen, politischen und auch wissenschaftlichen oder kreativen Möglichkeiten. Und ganz besonders galt dies für den Typus des ‹Entdeckers›. ‹Entdecker› im Umfeld Leonardos? Alle großen Fernreisen der Renaissance waren in einem gewissen Sinne Reisen in den Orient. Denn sie waren dies in den Augen der Zeitgenossen und in den Augen der Reisenden selbst.223 Alle Wege führten nach Asien bzw. Indien, das man – vermeintlich – auf der Westfahrt wie Kolumbus oder auf der Route um das Kap der Guten Hoffnung wie Vasco da Gama erreichte. Man sah in der Tat der unvermeidlichen Begegnung der Spanier und der Portugiesen in oder vor Indien entgegen. Indes: Davon gab es keine Nachricht. Eine erste Irritation setzte ein, indem man erkannte, dass ‹ein› Indien dem ‹anderen› offenbar nicht entsprach.224 Aber eine Auflösung der geographischen Konfusion war noch in weiter Ferne.225 221 Ein Echo dieser Ereignisse kann in den ‹Prophetien› Leonardos aufgefunden werden. Vgl. Anhang A. 222 Siehe N, S. 386. Bezüglich der Thematik ‹Pacioli und das Reisen› siehe Robert Emmett Taylor, No Royal Road. Luca Pacioli and His Times, Chapel Hill 1942, S. 121. – In De divina proportione gibt Pacioli im Übrigen eine Anekdote zum Besten, die von ‹interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten› bzw. von der Übertölpelung eines ‹Mohren›/‹Mauren› in Venedig handelt (a.a.O., S. 322). – Zahlreiche Notizen von Leonardo beziehen sich auf Reisevorbereitungen (TuA, S. 911, 922). Diverse Reisenotizen betreffend Gasthäuser etc. – die vom Charakter her ganz anders sind als Leonardos Beschreibungen der Taurus-Region – sind etwa in TuA, S. 260 gegeben. 223 Siehe auch Anhang A (‹Klärendes zur Amerika-Problematik›). 224 Folker E. Reichert, Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), S. 1–63. 225 Einen guten Aufschluss über das geographische Weltbild im Umfeld des Moro gibt ein Brief an denselben, abgedruckt in Eberhard Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2 (Die großen Entdeckungen), München 1984, S. 251–253.
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Nur wenige Indizien haben sich erhalten, die darauf hindeuten, dass Leonardo von den Westfahrten der ‹Entdecker› seiner Zeit überhaupt Kenntnis genommen hat. Wenn seine Aufzeichnungen zwar Hinweise auf eine gewisse Nähe zu Paolo dal Pozzo Toscanelli enthalten, dem Florentiner Arzt und Kosmographen,226 so sind sich Leonardo da Vinci und Kolumbus, nach heutigem Stand des Wissens, nie begegnet und standen auch sonst in keinem Kontakt,227 und auch von Beziehungen zu Amerigo Vespucci wissen wir nichts.228 Besser ist die Quellenlage, was die tatsächlichen Indienfahrten angeht.229 Von einem Kaufmann, der eine Karte eines Eilandes vor der indischen Westküste besaß – viele Jahre, bevor diese Insel ‹Elephanta› zum ersten Male beschrieben wurde – hatte Leonardo Kenntnis;230 und ein wenig prominenter ‹Entdecker›, aber ein Teilnehmer einer Indienfahrt im Jahre 1516, war Andrea Corsali, jener Florentiner, der im Umfeld von Papst Leo X. – und damit im Umfeld Leonardos – belegt ist,231 und dem – in Indien und angesichts der Bewohner von Gujarat – Leonardos Vegetarismus in Erinnerung kam.232 Wer des Weiteren an Indienfahrer im Umfeld eines Künstlers denkt, mag nicht zuletzt auch an die Tagträume von Michelangelos jüngerem Bruder Giovansimone erin226 Siehe V (Index). 227 Aufgrund eines Missverständnisses hatte Charles Ravaisson-Mollien einst angenommen, dass Leonardo Briefe an Kolumbus verfasst hatte (vgl. Gustavo Uzielli, Ricerche intorna a Leonardo da Vinci, Serie prima, Volume primo, Torino 1896, S. XVII, Fn 2). – Auch Kolumbus ist im Übrigen im Orient, das heißt: im eigentlichen Osten, vermutet worden (siehe Hans Joachim Kissling, Dissertationes Orientales et Balcanicae collectae II. Sultan Bajezid II. und der Westen, München 1988, S. 214f.). Es scheint sich jedoch – zumindest teilweise – um Quellen ‹trüber› Natur zu handeln. Vgl. außerdem, um einer möglichst vollständigen Berücksichtigungen ‹orientalischer Hypothesen› willen: A. Bartscherer, War Paracelsus in Ägypten?, in: Deutsches Ärzteblatt 71 (1941), S. 329–331, und insbesondere S. 330 (Paracelsus hat einem entsprechenden Gerücht selbst widersprochen). 228 Bei dem Amerigo Vespucci, den Vasari erwähnt, scheint es sich um einen Namensvetter zu handeln (siehe Giorgio Vasari, Das Leben des Leonardo da Vinci, hrsg. von Sabine Feser, Berlin 2006, S. 26 und S. 76, Fn 52). – Die Gegenüberstellung der Typen ‹Künstler› und ‹Entdecker› hat seit jeher – die Wissenschaft nicht minder wie die Roman-Literatur – gereizt. In KdE (siehe Kap. 5) kommt auch Kolumbus vor, allerdings als eine unbedeutendere Nebenfigur und als ein bloßer Teil einer RenaissanceGesamtgesellschaft, die sich – im Szenario dieses Romans – in den Osten transferiert. 229 Die geographischen Innovationen der Zeit – wie etwa die Entdeckung, dass der Indische Ozean kein Binnenmeer war, wie Ptolemäus gemeint hatte – haben eigentümlicherweise keine sichtbaren Spuren in den Aufzeichnungen Leonardos hinterlassen (siehe Anhang A). 230 Vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Indien›. 231 Im Umfeld Leos X. erscheint auch Bonsignore Bonsignori, ein Priester, der zusammen mit einem Sohn des Architekten Michelozzo, in den Jahren 1497–98 über Konstantinopel nach Jerusalem gereist war (siehe Yerasimos, a.a.O., S. 121f.). 232 Vgl. auch Einleitung. – Ludovico di Varthema berichtete in seinem Reisebericht (erschienen 1510) von zwei Geschützmachern aus Mailand, denen er in Indien begegnet sein wollte (Ludovico de Varthema, Reisen im Orient, hrsg. von Folker Reichert, Sigmaringen 1996, S. 240). Der Bericht neigt allerdings streckenweise in seinem Charakter stark der zeittypischen Novellistik zu und könnte, um den Erwartungen eines Publikums besser zu entsprechen, auch fiktional ‹angereichert› worden sein.
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nert sein, der den insistierenden Ermahnungen des Bruders zum Trotz nicht in ein tätiges Leben als Kaufmann hineinfand.233 Aber ‹Indien› war nicht zuletzt ein Fluchttraum und damit – in Rechtfertigungsprozessen – auch eine rhetorische Möglichkeit, wie es für den berühmten Bruder die Türkei war.234 Künstlerreisen in den Orient Wenn Leonardo auch in einem internationalen Umfeld operierte – es sind Künstler aus Spanien und Schüler aus Deutschland in seiner unmittelbarsten Nähe dokumentiert – Orientreisende sind unter den Künstlern in seinem Umfeld keine auszumachen. Es sei denn, man konstruierte eine Begegnung mit dem reiseerfahrenen Gentile Bellini235 anlässlich von Leonardos Venedig-Aufenthalt im Jahre 1500. Ein denkbarer Vermittler einer solchen Begegnung war einmal mehr Luca Pacioli.236 Aber einmal mehr ist auch in diesem Zusammenhang einzugestehen, dass wir darüber keine Kenntnis haben. Es gab zwar Künstler, die zu Lebzeiten Leonardos in die Levante reisten,237 es gab Künstler, die – nach Anweisung – Reiseberichte illustrierten;238 aber keiner stand mit ihm, soviel wir wissen, in Kontakt. Informationen über die visuellen Kulturen in anderen, ihm fremden Kulturräumen musste Leonardo, sofern er sich dafür interessierte, Büchern entnehmen, und lief so in Gefahr, insbesondere im Hinblick auf die visuellen Kulturen im muslimischen Raum, einigen grundlegenden Irrtümern auch aufzusitzen.239 233 Antonio Forcellino, Michelangelo. Eine Biographie, München 2006, S. 143. – Auch an den Indienreisenden und kulturellen Grenzgänger Bonajuto d’Albano ist hier zu denken, von dem allerdings kein eigentlicher Bericht erhalten ist. Siehe DBI (‹Bonaiuto di Albano›) sowie Folker E. Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 171. 234 Siehe eingehend Kap. 3. 235 Vgl. Jürg Meyer zur Capellen, Gentile Bellini im Orient, in: Hermann Fillitz / Martina Pippal (Hg.), Europa und die Kunst des Islam. 15. bis 18. Jahrhundert, Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Band 5, Wien 1983, S. 137–145, und ders., Gentile Bellini, Stuttgart 1985. 236 Gentile betätigte sich im Vorstand der Scuola Grande di San Marco (ebd. [Monographie], S. 24 sowie Dokumentenanhang, S. 116f.). 237 Man denke an Erhard Reuwich (siehe DoA sowie Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320–1520), Tübingen 1990, S. 79f.). – Eine ‹orientalische Frage› treibt auch die Lucas Cranach-Forschung um (vgl. Armin Kunz, Die Jerusalemfahrt Lucas Cranachs d. Ä. Quellenkritische Untersuchung der Überlieferungsgeschichte eines (kunst)historischen Topos, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 87–114). – Bezüglich Carpaccio ist ähnlichen Hypothesen schon früh widersprochen worden (siehe Gustavo [Gustav] Ludwig / Pompeo Molmenti, Vittore Carpaccio. La Vita e le Opere, Milano 1906, S. 66ff.; sowie Julian Raby, Venice, Dürer and the Oriental Mode, London 1982, S. 66). 238 Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 177 (im Hinblick auf Hans Burgkmair). 239 Pulcis Morgante enthält auch Imaginationen von Kunstwerken des Orients. Man unterstellte dem Islam jedoch gemeinhin, was man selber fürchtete, nämlich die Idolatrie (siehe diesbezüglich auch Anhang A: ‹Dante, Mandeville und der Islam›).
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Kaufmänner und Zwischenträger Ob Benedetto Dei ein Spion genannt werden darf, ist umstritten.240 Fest steht, dass er als Kaufmann tätig war, und in dieser Unschärfe liegt die ganze Problematik des Reisens zur Zeit der Renaissance beschlossen. Auch Benedetto Dei war erst in den 1880er Jahren ins Gesichtsfeld der Forschung getreten.241 Im Vorfeld des Kolumbusjahres von 1892 war die Zeit reif, das Reisen in vergangener Zeit neu zu entdecken. Dei, bekannt als Kenner der Levante, ist zuweilen als Freund Leonardos bezeichnet worden.242 Doch verantwortbarer ist es festzuhalten, dass Dei Leonardo erstens nie erwähnte, dass hingegen zweitens Leonardo einen burlesken Brief, eine eigentliche Travestie eines brieflichen Berichtes aus der Fremde, an Dei adressierte,243 und dass Dei ein ‹Original› war, eine Art Korrespondent und Briefschreiber,244 also eine weithin bekannte Figur mit einem schillernden Namen und eine Figur der öffentlich-literarischen Kommunikation, den Luigi Pulci in einem Sonett mit dem Gruß «Salamalec» ansprach.245 Zusammenfassend sei gesagt: Man musste Dei nicht persönlich kennen, um einen Text an ihn zu ‹adressieren› (zumal wenn es sich um einen Text handelte, der die Briefe des Dei vielleicht sogar parodierte). Andererseits war in Mailand durchaus die Möglichkeit einer Begegnung zwischen dem Reisenden, der angeblich in Timbuktu gewesen war und in Konstantinopel mit dem Sultan parliert hatte, und dem Künstler-Ingenieur gegeben.246
240 Franz Babinger hielt dies – ganz apodiktisch – für einen unzweifelhaften Tatbestand (siehe Franz Babinger, Mehmed der Eroberer. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1987 [urspr. 1953], S. 193). Vgl. dagegen DBI. Man muss dazu sagen, dass Babinger im 1. Weltkrieg einst selbst ein Verbindungsoffizier gewesen war, und dass ihm später, als Wissenschaftler, eine Vorliebe für ‹nachrichtendienstliche Angelegenheiten› eigen war (vgl. etwa AuA I, S. 255). Bezüglich seiner Vita siehe die weiter oben, in Kap. 3, gegebenen Belege. 241 Siehe Bibliographie in DBI. 242 Siehe etwa Leonardo da Vinci, ed. Chastel, a.a.O., S. 175, Fn. – Es gibt auch einen Trivialroman, der einen fiktiven Briefwechsel zwischen dem ‹Weltenbummler› Dei und Leonardo enthält (Michael Ennis, Die Herzogin von Mailand. Ein Roman aus der Lombardei der Renaissance, Bern 1993 [engl. Originalausgabe 1992], passim). Der Inhalt desselben, im Rahmen der Fiktion, ist allerdings nicht phantastischer, sondern durchaus ernsthafter Natur. 243 R II, S. 339f., Nr. 1354. 244 Vgl. etwa Dei, a.a.O., S. 34 (für einen Brief aus der Levante). 245 Generell siehe DBI; und darüber hinaus auch: Maria Pisani, Un avventuriero del Quattrocento. La vita e le opere di Benedetto Dei, Genova etc. 1923, sowie Paolo Orvieto, Un esperto orientalista del ’400: Benedetto Dei, in: Rinascimento 9 (1969), S. 205–275. 246 Bezüglich des Gesprächs siehe den nächsten Abschnitt. – Wenn Dei auch in seiner Selbstdarstellung zu Übertreibungen neigte, so vermittelte er doch auch Hinweise, die für sich genommen interessant sind. So erwähnte er beispielsweise eine Variante der Annäherung an das wilde Tier, wie man sie auf den Strassen von Florenz – zu Schauzwecken und unter Zuhilfenahme einer Art Gehäuse – darbot, als eine Nachahmung von Praktiken, wie man sie ‹in den Ländern des Sultans und in Syrien› gesehen hatte (siehe Dei, a.a.O., S. 67f., Folio 23r; die Meldung bezieht sich auf das Jahr 1460).
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Kontakte zu Kaufmännern und kommerziell tätigen Seefahrern dürfte Leonardo – über den Kontakt mit dem Kaufmann Antonello hinaus – hin und wieder gehabt haben.247 Sein Vater war Mieter der Familie Gondi, die sich auch im Fernhandel betätigte – ein Sohn war in Konstantinopel stationiert.248 Und um 1504 sind entsprechende Geschäfte im Levante-Handel auch dokumentiert.249 Gewährsmänner und Augenzeugen Weltkundige Reisende sind für Leonardo interessant gewesen. Dies ist nicht bloß eine allgemeine, von der allbekannten Neugierde des Künstleringenieurs her begründete Annahme; dies belegt auch jene Anfrage an einen Bartolomeo, genannt ‹Il Turco›, bezüglich der Gezeiten im Schwarzen und im Kaspischen Meer. Der Adressat, wie wir seit Solmi wissen, dürfte ein Italiener gewesen sein, ein Autor von Sonetten,250 vielleicht auch ein Kastellan im Mailand der Sforza.251 Welcher Art die Beziehung zwischen Bartolomeo und Leonardo gewesen ist, wissen wir nicht, und können deshalb auch über den Grund – über den Kontext – der Anfrage bloß spekulieren. Der Übername ‹Turco› jedenfalls, wie er auch im Umfeld Michelangelos, und zwar unter den Steinmetzen von Settignano, belegt ist,252 lässt nicht zwingend auf eine ‹türkische› Herkunft des Adressaten schließen. Es konnte andere Gründe geben, eine Person damit zu belegen.253 In der Verwaltung der Sforza, einer wie sich zeigt in sich keineswegs nach außen abgeschotteten Gesellschaft, begegnet ferner und besser fassbar ein Edelmann, der als Autor eines Berichts von einer Pilgerfahrt bekannt geworden ist. Santo Brasca, Kanzler und gelegentlich auch Diplomat des Moro, unternahm die betreffende Reise im Jahre 1480.254 Und schon 1481 wurde der Bericht, später noch zweimal aufgelegt, in Mailand gedruckt. Man hat sich zwar stets schwer getan, Leonardo da Vinci mit den Ausdrucksformen der zeitgenössischen Frömmigkeit in Zusammenhang zu bringen, aber auch der 247 Man könnte annehmen, dass sich Informationen über die Gezeiten in Tunis (siehe TuA, S. 268) entsprechenden Zwischenträgern verdankten. – Die ‹Seefahrer› – als ein Kollektiv – erwähnte Leonardo als Importeure des Rohstoffs Gummi arabicum (siehe Anhang A, Kap. ‹Exotik und Exotismus in Innenraum der Renaissance›). 248 R II, S. 361, Fn zu Nr. 1450. 249 Richard A. Goldthwaite, Private Wealth in Renaissance Florence. A Study of Four Families, Princeton (New Jersey) 1968, S. 176. 250 Solmi, S. 87ff. 251 So die Vermutung bei Woldemar von Seidlitz, Leonardo da Vinci, der Wendepunkt der Renaissance, 2 Bd., Berlin 1909, S. 397, Fn 30. Dem Herzog beliebte es offenbar einmal, nämlich 1498, diesen Kastellan als Partner zum Schachspielen mit ihm, dem Herzog, ‹abzukommandieren›. 252 William E. Wallace, Michelangelo at San Lorenzo. The Genius as Entrepreneur, Cambridge etc. 1994, S. 35 und 40 (‹Giovan Turco›). 253 Vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Das Osmanische Reich›. 254 Siehe DBI; Ganz-Blättler, a.a.O., S. 77f., S. 387 und passim; sowie Rosamond E. Mack, Bazaar to Piazza. Islamic Trade and Italian Art, 1300–1600, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 221, Fn 3.
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Typus des Pilgers, als potentielle Informationsquelle, begegnet de facto in seinem unmittelbarsten Umfeld, und konkret sogar ein Gewährsmann und Augenzeuge, der im Heiligen Land gewesen war – und davon Zeugnis geben wollte: in einem Bericht, dem auch ganz praktische Informationen beigegeben wurden, im Hinblick auf ein Publikum potentieller Pilger oder ganz generell im Hinblick auf ein interessiertes Publikum. Der ‹Orient› im Innenraum des Eigenen Die ‹Notwendigkeit› einer Reise Leonardos in den Orient war unter anderem mit dem Argument bestritten worden, dass es Orientalisches auf italienischem Boden ja durchaus gab – dass Aneignung also leicht möglich war, auch ohne außer Land zu gehen.255 Man dachte an die Reisenden, die fremden Kaufleute,256 die Exilanten,257 die Fahrenden258 und – vielleicht auch an die Sklaven.259 Ferner ist an die gelegentlichen Ankömmlinge zu denken, die Reisenden, die aus der Fremde nach Italien kamen, und die Gesandtschaften, die eigens als Einzüge von großer Prachtentfaltung – auf Schauwerte ‹hin› – inszeniert worden sind. Im Florenz Lorenzos des Prächtigen traf – wohl in Abwesenheit Leonardos – im Jahre 1487 jene berühmte Gesandtschaft der Mamluken ein;260 in möglicher oder gar wahrscheinlicher Anwesenheit Leonardos aber boten die Gesandten Portugals Papst Leo X. im Jahre 1514 ihre Geschenke dar, die symbolisch auf die durch den Papst zu legi255 Vgl. etwa Charles Ravaisson-Mollien, Les écrits de Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 49 (1881), S. 340. 256 Vgl. Claudia Naumann-Unverhau, Die Aufnahme türkischer Kaufleute bei Senat und Bevölkerung Venedigs, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 157–166. 257 Es ist an die griechischen Exilanten in Italien zu denken, aber auch an die Affäre ‹Dschem›, d.h. an den Bruder Sultan Bayezids II., der auf italienischem Boden, als potentieller Thronprätendend und daher als Faustpfand, festgehalten wurde (siehe Ferec Majoros / Bernd Rill, Das Osmanische Reich (1300–1922). Die Geschichte einer Großmacht, Regensburg etc. 1994, S. 201ff.). – Einen Spezialfall des Reisenden stellt zudem der flüchtige Verbrecher dar, der sich – im Falle von Bernardo Baroncelli, Mitverschwörer gegen die Medici – als politischer Flüchtling verstanden haben dürfte. Nachdem man ihn in Istanbul verhaftet, nach Florenz überstellt und dort hingerichtet hatte, wurde er von Leonardo – als Gehängter – gezeichnet. Vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Das Osmanische Reich›. 258 Siehe Anhang A (‹Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance›). Man sah die Fahrenden bisweilen als Pilger aus Ägypten an. 259 Bezüglich der lange vernachlässigten Geschichte der Sklaverei in Oberitalien – und damit auch im Umfeld Leonardos – siehe ebenfalls Anhang A, ebd. – Der Novellist Matteo Bandello hat Leonardo da Vinci als Erzähler eines – von Vasari wohl übernommenen – Berichts von der angeblichen Versklavung Fra Filippo Lippis durch ‹maurische› Piraten (siehe Otto Kurz, Zu Vasaris Vita des Fra Filippo Lippi, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 47 (1933), S. 1–12 [und Nachtrag S. 136]). Der Künstler – dies die Pointe der Erzählung – erlangt dank seines wunderbaren zeichnerischen Könnens die Freiheit wieder. 260 Claudia Lazzaro, Animals as Cultural Signs: A Medici Menagerie in the Grotto of Castello, in: Farago, Claire (Hg.), Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America 1450–1650, New Haven/London 1995, S. 219.
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timierenden Besitznahmen in Übersee verwiesen.261 Nie, so scheint es, waren die ‹Entdecker› im Umfeld Leonardos präsenter als bei dieser Gelegenheit: Die Gesandtschaft wurde geführt von dem berühmten Tristan da Cunha. Der ‹Soldat› Die Kunde von einem Soldatenschicksal, verbunden mit dem Namen ‹Angiolello›, verbreitete sich im Italien Leonardos,262 und damit verbunden Kenntnisse über den von den Osmanen beherrschten Orient, aber auch über die Regionen im Grenzgebiet zwischen den beiden Herrschaftsgebieten der Osmanen und der Mamluken. Aber auch von einem weiteren Soldatenschicksal ist noch zu reden, und zwar betreffend die Familie der Pacioli. Denn ein Neffe Luca Paciolis, wie dieser berichtete, war gegen die Türken gezogen.263 Es ist nicht auszumachen, ob derlei Familienbeziehungen Leonardo bekannt geworden sind. Aber wenn Leonardo da Vinci und Luca Pacioli in einer engen und vertrauten Arbeitsbeziehung kooperierten und sporadisch gar zusammen wohnten, ist doch anzunehmen, dass Leonardo von derlei Hintergründen, die von der Leonardo-Forschung eher vernachlässigt worden sind, doch Kenntnis gehabt haben dürfte, auch wenn er von persönlichen Beziehungen in seinen Aufzeichnungen wenig oder gar nicht sprach. Aber Leonardos Vorhaben zwecks Abwehr der Türkenheere bzw. seine Vorhaben in Istanbul, von denen wir noch sprechen werden, könnten vor diesem Hintergrund gesehen werden.
261 Siehe Silvio A. Bedini, Der Elefant des Papstes. Rom zur Zeit der Medici und der Hochrenaissance, Stuttgart 2006, sowie Anhang A, Synopse, Sektion ‹Leonardo und der Ferne Osten›. – Russische Gesandte sind im Übrigen im Jahr 1493 in Mailand dokumentiert (Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 110), und der in vieler Hinsicht wohldokumentierte Dmitri Mereschkowski imaginierte – in seinem LeonardoRoman von 1901 – eine Begegnung Leonardos mit Repräsentanten des russischen Kulturraums an der Tafel des Moro (Dmitri Mereschkowski, Leonardo da Vinci, Berlin o.J. [1973], S. 247f.): «Der großsprecherische Mantuaner erzählte von den Wundern, die er in Moskowien gesehen, wobei er Wahrheit mit Dichtung vermischte. Leonardo hoffte von Karatschjarow Zuverlässigeres zu hören und wandte sich durch den Dolmetscher an ihn. Er befragte ihn über das ferne Land, das seine Neugier reizte, wie alles Maßlose und Rätselhafte: über seine endlosen Steppen, die grimmigen Fröste, die mächtigen Ströme und Wälder, über die Flut am Hyperboräischen Ozean und am Hyrkanischen Meere, über das Nordlicht, – und auch über seine nach Moskau gegangenen Freunde: den lombardischen Maler Antonio Solari, der am Bau der ‹Granowitaja Palata› mitgearbeitet, und den Baumeister Aristotile Fioravanti aus Bologna, der den Kremlplatz mit prächtigen Bauten geschmückt hatte.» – Bezüglich (Pietro) Antonio Solari und Aristotile Fioravanti siehe jeweils DoA. 262 Erstmals taucht dieser Name in der Leonardo-Literatur im Übrigen bei Heinrich von Geymüller auf (Henri de Geymuller, Les derniers travaux sur Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 28 (1886), S. 280, Fn 1), dem architekturgeschichtlich spezialisierten Kollaborationspartner von Jean Paul Richter. 263 Pacioli, a.a.O., S. 289.
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Das Problem der Intertextualität: Reisende und ihre Berichte Leonardos Reiseprosa konnte Anregungen empfangen von den mündlichen Berichten seiner Zeitgenossen und von den schriftlich niedergelegten Reiseberichten aller Zeiten.264 Und natürlich konnte sie auch Anregungen empfangen von ‹fingierter› Reiseprosa, die sich zwar ihrerseits in ihren literarischen Techniken an authentischen Reiseberichten orientierte, aber dergestalt eben Literatur aus Literatur schuf. Dieses Subgenre des ‹fingierten Reiseberichts› ist seinerseits zu gliedern in Texte, die aus einer Täuschungsabsicht heraus geschrieben sind und ihre ‹Gemachtheit› verschleierten, und solche, die ihre ‹Gemachtheit› ganz deutlich zu erkennen gaben, nämlich durch Fiktionalitätssignale, den Inhalt als Erfindung ausweisend.265 Solche Signale konnten formaler Natur sein, etwa formelhafte Einleitungen wie ‹man erzählt sich›, oder auch inhaltlicher, wenn das Geschilderte – etwa eine Reise zum Mond – das Menschenmögliche (noch) überstieg. Die Möglichkeiten, aus denen Leonardo schöpfen konnte, erweiterten sich so ungemein. Die Literatur seiner Zeit erwies sich als ein Fundus gedanklicher und literarischhandwerklicher Möglichkeiten, die es erlaubten, die Begrenztheit des eigenen Lebens imaginär zu übersteigen, während zugleich auch das Wissen um die eigenen Zeitumstände und das Wissen über die Welt darin verarbeitet werden konnten. Es fällt auf, dass sich in Leonardos Bibliothek, obschon man ihm doch eine Neigung zu allem Exotischen unterstellte, eigentliche Reiseberichte der Gattung ‹authentischer Bericht› ganz fehlen. Und auch Zitate aus den Epoche machenden Berichten der Zeit scheint es nicht zu geben. Nachweisbar ist bloß – im Anhang ist es ausgeführt – ein spätes, ungefähr aus dem Jahr 1513 stammendes Echo eines Berichts über die erste Kolumbusfahrt. Der Italiener Peter Martyr, der selbst nicht in Amerika gewesen war, aber zum Umfeld des Kolumbus gehörte und als spanischer Hofhistoriograph die Berichte der See264 So wie auch der Novellist Matteo Bandello nachgewiesenermaßen in seinen Texten auch aus Reiseberichten geschöpft hat (siehe – auch bezüglich dieses spezifischen Aspekts – DBI). 265 Der ‹fingierte Reisebericht› ist eine in der Literaturwissenschaft eher vernachlässigte Gattung. Es dominiert seit jeher die Auseinandersetzung mit eindeutig fiktiven oder eindeutig ‹authentischen› Berichten (vgl. aber Wolfgang Griep, Lügen haben lange Beine, in: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1999, S. 131–136). Die grundlegende Dichotomie ist allerdings in den letzten Jahrzehnten vermehrt unterlaufen worden. Als ein diesbezüglicher Referenztext, in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft, gilt Wolfgang Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1989, S. 50–67. – Vgl des Weiteren den monumentalen Literaturüberblick von Brenner: Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsbericht als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2. Sonderheft, Tübingen 1990, sowie Zweder von Martels (Hg.), Travel Fact and Travel Fiction. Studies on Fiction, Literary Tradition, Scholarly Discovery and Observation in Travel Writing, Leiden/New York/Köln 1994.
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fahrer kompilierte, hatte einen sehr spezifischen Kannibalen-Topos geprägt, der besagte, dass die karibischen Kannibalen auf fremden Inseln Jagd nach Beute machten, dass sie gefangene Knaben kastrierten, mästeten und danach verspeisten. Eben dieser Topos kommt – wie der nahezu vollständige Abdruck einer Form – in einer Tirade Leonardos gegen die Untugenden der menschlichen Rasse vor, die auf einem Anatomie-Folio notiert ist und zwei Zeichnungen des menschlichen Herzens gewissermaßen als ein Text ‹umfließt›.266 Diesem Mangel an eigentlichen Spuren einer Auseinandersetzung mit den großen Reisen seiner Zeit steht ein Korpus von Büchern gegenüber, die man alle unter dem Genre ‹Reise- und Abenteuerprosa› rubrizieren muss. Leonardo da Vinci hatte auch den populären Abenteuer- und Reiseroman im Bücherschrank, und die diesbezüglichen Lektüren lassen sich besser nachweisen als die Rezeption der sich mit den ‹Entdeckungen› verbreitenden ‹neuen Geographie›. Es handelte sich hauptsächlich um Autoren des 14. und des frühen 15. Jahrhundert,267 aber mit Luigi Pulci, dem Autor des Ritterepos Morgante, war auch ein Zeitgenosse vertreten.268 Reisebericht und Ritterepik Ein kleines Skandalon war ‹Mandeville›, jedenfalls aus Sicht des späten 19. Jahrhunderts.269 Denn damals stand dieser Text aus dem 14. Jahrhundert im Ruch eines Betrugs. Es handelte sich (aus heutiger Sicht) um einen Text, der seine ‹Gemachtheit› so gut verschleiert hatte, dass noch das 19. Jahrhundert sich über die Entdeckung dieser ‹Gemachtheit› erregte. Dieser Text war eines der erfolgreichsten Reisebücher des Mittelalters überhaupt gewesen, und sein Inhalt wurde durchaus ernst genommen, in seinem Informationsgehalt. Heute ist indes wenig Aufsehen mit der Feststellung zu erregen, dass erstens die Reise, die darin beschrieben ist, in dieser Weise nie stattgefunden hat, dass zweitens auch das Weltwissen, das Mandeville verbreitete, aus einer Vielzahl von Quellen kompiliert war, und dass es drittens den vorgeschobenen Autor womöglich nicht gab, dass es sich 266 Siehe Anhang A, auch bezüglich der möglichen Überlieferungswege. 267 Ritterepik ist etwa mit Niccolò da Casola vertreten (siehe ders., La Guerra d’Attila, hrsg. von Guido Stendardo, 2 Bd., Modena 1941). Siehe auch Anhang A, Kap. ‹Dante, Mandeville und der Islam›. 268 Im Folgenden zitiert als Morgante mit Angabe von Canto und Strophe. Zugrundegelegt ist der italienische Text (Luigi Pulci, Morgante, Milano 1989 [http://www.liberliber.it/]); beigezogen ist außerdem die englische Übersetzung, deren Kommentierung die umfangreiche Forschungsliteratur mustergültig verarbeitet (Luigi Pulci, Morgante. The Epic Adventures of Orlando and His Giant Friend Morgante, hrsg. von Edoardo A. Lèbano, Bloomington 1998). 269 Zur Forschungsgeschichte siehe M. C. Seymour, Sir John Mandeville, Aldershot/Brookfield 1994 [Authors of the Middle Ages 1]. Vgl. auch W. Günther Rohr, Johann von Mandeville, Reisen. peregrinatio et curiositas, in: Ulrich Müller et al. (Hg.), Mittelalter-Mythen, Bd. 4 (Künstler, Dichter, Gelehrte), S. 375–390.
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vielleicht bloß um eine Autorfiktion handelte. Demnach hätte ein ‹Lehnstuhlreisender› einen fahrenden Ritter sich erdacht. Gegen Ende des 19. Jahrhundets war man geneigt, darin ein Problem zu sehen, obschon man damals gar nicht wusste, wie denn das Mittelalter, wie die Renaissance das Buch in Wirklichkeit gelesen hatte. Hatte man alles für bare Münze genommen? Auch die Autorenkonstruktion? Oder hatten sich schon zur Zeit Leonardos Zweifel eingeschlichen, im Hinblick auf den Autor, die Reise, den Gehalt an Wissen? Es hat nicht unbedingt den Anschein. Denn Leonardo notierte – zumindest einmal – ein Bruchstück des Wissens, das aus ‹Mandeville› stammte, wenn auch nicht in wörtlich genauester Wiedergabe: Lange Fingernägel gereichten den fernöstlichen Honoratioren zur Ehre, während sie in Europa als schimpflich galten.270 Das Exzerpt allerdings spricht nicht für sich. Denn es könnte auch sein, dass Leonardo der bloße Gedanke, das Muster einer Gegenüberstellung der Sitten und Bräuche, faszinierte. Ob er der Information aber Glauben schenkte, steht auf einem anderen Blatt. Doch erneut: Es ist nicht überliefert. Man spürte schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass hier ein mögliches literarisches Modell vorlag, das auf die eine oder andere Weise mit dem ‹Diodario-Material› in Zusammenhang stand. Und Gustavo Uzielli, der diese Möglichkeit erwog, versuchte sie abzuwehren. Es passte nicht zum Bild von Leonardo als einem ernsthaften Forscher und allenfalls Autor eines geographisch-didaktischen Werks, dass er mit der Phantastik eines Mandeville sich abgab.271 Was mit diesem Text vorlag, war das Problem des Reiseberichts schlechthin. Wer gereist war und als Heimkehrer Bericht erstattete, war auf den guten Glauben der Daheimgebliebenen angewiesen und war mit den Erwartungshorizont seiner Hörer konfrontiert. Darauf zu reagieren gab es viele Möglichkeiten: Das Erwartete zu liefern, oder bei der Wahrheit zu bleiben – und die Ungläubigkeit der Hörer und Leser zu riskieren. Was Leonardo also auch vorlag, war ein formales Modell, an dem man einen ‹fingierten Bericht› orientieren konnte, ob das Vorbild nun glaubwürdig war oder nicht. Mandeville, heute sozusagen das personifizierte Glaubwürdigkeitsproblem, führte vor Augen, dass literarische Rezeption sich in einer komplizierten Kommunikationssituation zwischen Autor und Publikum vollzog. Und Mandeville hatte, um die Sache zu komplizieren, auch eine ganz besondere Kommunikationssituation in seinem Text inszeniert: nämlich ein Gespräch zwischen dem vorgeschobenen Autor, dem Ritter Mandeville, und einem Sultan.272 Leonardo fand also auch ein Modell vor für die Kommunikationssituation, die er selbst ganz ähnlich entwarf, wenn bei ihm auch sein 270 Siehe Anhang A, vor allem Synopse, Sektion ‹Indien›. 271 Uzielli, a.a.O., S. 83. 272 [Mandeville], a.a.O., S. 163f. – Dieses Motiv kommt auch im Typus des ‹authentischen›, als Quelle gelesenen Reiseberichts vor. Vgl. Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turk (1453–1517), Nieukoop 1967, S. 194ff., beziehungsweise [Arnold von Harff], Rom – Jerusalem – Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498), hrsg. von Helmut BrallTuchel und Folker Reichert, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 220. Möglicherweise entsprach Arnold von
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Gesprächspartner, der ‹Diodario von Syrien›, zumindest in den überlieferten Texten, nicht zu Wort kam. Ganz allgemein gesprochen handelte es sich bei Mandevilles Reisen um einen Text, der keine deutlichen, unmissverständlichen Fiktionalitätssignale enthielt; und die Folge war, ganz ähnlich wie bei Leonardo, ein fortgesetzter Streit über die Frage, welche Anteile des Textes nun als reale Berichte behandelt und welche als fabulös abgetan werden mussten. Auch im Hinblick auf die Gesamtanlage war man sich nicht klar, aus welcher Absicht heraus der Text geschrieben war. Aber im Falle Leonardos hatte die Unklarheit deutlich dramatischere Folgen gehabt. Und ausgerechnet ein Autor, der auch für den Inbegriff des Reiseführers, den Baedeker, gearbeitet hatte, nämlich Jean Paul Richter, war einer unhaltbaren, irrigen Vorstellung aufgesessen. Strukturell war die Frage in Bezug auf beide vergleichbar: Hatte man es mit einem biographischen Dokument zu tun oder bloß mit einer fingierten Biographie: Es blieb im einen wie im anderen Fall mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen in der Schwebe. Im einen wie im anderen Fall schien es sich um Konstrukte zu handeln, die auf Illusionsbildung aus waren, die ihre Quellen nicht nannten und ihre ‹Gemachtheit›, ihre Verfertigung zum Teil aus Texten zweiter Hand, verschleierten. Ganz anders verhielt es sich demgegenüber mit dem Werk von Luigi Pulci. Der Morgante, ein Inbegriff burlesker Ritterepik, taucht sogar zweimal auf Bücherlisten Leonardos auf.273 Ganz unterschiedliche soziale Schichten fanden Gefallen an dem Buch. Denn wenn es den Künstlern einerseits Vergnügen bereitete, bestellte andererseits auch Herzog Ludovico Sforza sich das Buch, das von den Paladinen Karls des Großen handelte, von ihren Abenteuern und Kämpfen mit den Sarazenen und daher auch von ständigen Ortsverschiebungen auf die eine oder andere Art, mit einem Wort: vom Reisen. Als Autor beanspruchte er nicht selbst, gereist zu sein, aber er konstruierte hintersinnig die Reise seines Buches, das er bei Gelegenheit als ein ursprünglich im Alten Ägypten entstandenes Werk auswies, das nach zahllosen Übersetzungsvorgängen schließlich im Florentinischen vorlag.274 Allein schon aus diesem Detail wird deutlich: Pulci war nicht zuletzt auf Komik aus; er karikierte das Bestreben der Renaissance-Kultur, sich altägyptische Genealogien zu geben,275 und indem er den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Erzählkonstruktion unterminierte, die ja von den Rittern Karls des Großen handelte, setzte er ein Zeichen. Er nahm sich selbst nicht ernst und wies die Schilderung, die ja auf historischen Stoffen basierte, auch als durchaus unernst aus. An Fiktionalitätssignalen also mangelte es nicht. Als komische Nebenfiguren oder besser als die wahren Haupthelden agierten Morgante, der Riese mit dem Glockenschwengel, und Margutte, der verfressene ‹Halb-Gigant› mit dem kulinarischen ‹GlauHarff, indem er von einem solchen Gespräch berichtete, aber schlicht einer allgemeinen Erwartung an einen Bericht aus dem Lande des Sultans. 273 CA 559/560 [ex210r]; CTr, S. 3. 274 Morgante XIX, 153f. 275 Vgl. auch Anhang A, Synopse, Sektion ‹Ägypten›.
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bensbekenntnis› und Bekenner von rund 77 Todsünden. Das offenkundig vorhandene Burleske sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pulcis Morgante durchaus auch ein vielschichtiges Weltwissen eingearbeitet war: das Wissen eines Pferdekenners etwa, wie schon Jacob Burckhardt bemerkt hatte,276 und überhaupt das Wissen eines regelrechten Tiernarrs, der im Rahmen seines Ritterabenteuers, wie man gezählt hat, auch 360 Tierarten vorkommen ließ.277 Ganz wie Mandevilles Reisen ist auch Pulcis Morgante von der interreligiösen Spannung zwischen Christentum und Islam durchdrungen, was sich allerdings je unterschiedlich ausprägte. Während Mandeville eine Art islamkundliche Lektion erteilte und ein eher günstiges Bild dieser Religion vermittelte, was sich auch als ein Effekt des Kunstgriffs interpretieren lässt, dem Sultan die Kritik an der Christenheit in den Mund zu legen (denn der Sultan erscheint aufgrund dieser Konstruktion als der ‹bessere Christ›),278 ist bei Pulci ein nervöser, polemisch-angriffiger Grundcharakter schon durch das Grundmotiv, den Heidenkampf der Paladine Karls des Großen, vorgegeben. Allerdings ist auch diese nervöse Angriffigkeit wiederum unterlaufen durch die allgemein respektlose Behandlung des Religiösen überhaupt, oder jedenfalls eines Schilderung von Respektlosigkeit gegenüber dem Religiösen, die man dem von den frommen Medici-Frauen protegierten Autor unterstellen konnte, aber nicht notwendigerweise unterstellen muss.279 Mit diesen beiden Texten hatte Leonardo bereits einen Fundus literarischer Strategien zur Verfügung, aus dem er sich bedienen konnte. Es war möglich, eine Reise zu fingieren, egal ob man den Akt des Fingierens nun transparent machte oder nicht. Ironischerweise scheint sich Leonardo, indem er auf Fiktionalitätssignale verzichtete – und der Verwirrung Vorschub leistete – eher an Mandeville orientiert zu haben, dessen Bericht er womöglich für einen zumindest teilweise authentischen und gehaltvollen Text hielt. Wenn dem so war, hatte er nicht die Strategien eines gleichsam postmodernen Textes kopiert, sondern hatte sich – aus seiner Sicht – bloß den einen oder anderen Kunstgriff aus einem vermeintlich ‹authentischen› Bericht geliehen, indem er zum Beispiel die Begegnung eines Abendländers mit einem orientalischen Würdenträger inszenierte. Auch Benedetto Dei kam hier als Vorbild in Frage, und möglicherweise war schon dessen Unterredung mit dem türkischen Sultan im Jahre 1463 nicht ohne einen Seitenblick auf Mandeville gestaltet worden. Nicht eine Kritik des Christentums formulierte allerdings dieser ‹literarisierte› Sultan, sondern eine politische, als eine Drohung verpackte Kritik der Uneinigkeit der italienischen Mächte, die es ihm ermöglichen würde, Italien dereinst zu erobern. Der Benedetto Dei dieser Inszenierung hatte ihm indessen mit dem Hinweis widersprochen, 276 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928 [urspr. 1860], S. 290, Fn 5 (Bezug auf Morgante XV, 105–108). Es handelt sich um die Beschreibung eines Araberhengstes. 277 Morgante, [Kommentarteil], S. 827. 278 [Mandeville], a.a.O., S. 163f. 279 Eine ausgewogene Haltung vertritt diesbezüglich Constance Jordan, Pulci’s Morgante. Poetry and History in Fifteenth-Century Florence, Washington/London/Toronto 1986.
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dass Einigkeit im Falle des Angriffs möglich werden würde, und er hatte – wer immer ihm dies glauben mochte – das letzte Wort behalten: «Glaub’ das dem Benedetto Dei!» hatte dieses letzte Wort gelautet.280 Dass er in der Lage war, ein eindeutiges Fiktionalitätssignal zu setzen, wenn er dies wollte, bewies Leonardo in seinem an Benedetto Dei adressierten Brief, in dem er, ähnlich wie Pulci, die Erzählkonstruktion ad absurdum zu führen wusste, nämlich indem er Bericht gab, wie ein Riese ihn verschlang. Erzählt wurde also letztlich aus einer absurden Erzählerposition heraus, nämlich aus dem Schlund (und hernach Bauch) des Riesen. Was die Briefform angeht, konnte Leonardo also von Dei gelernt haben; andererseits veranschaulichten Mandeville, Pulci und auch weitere Autoren,281 wie man einer Fiktion – zum Zwecke der Belehrung eines Publikums bzw. zum Nachweis der Gelehrsamkeit des Autors – Weltwissen einarbeitete. Weite Teile der Erzählfragmente im ‹Diodario-Material› waren Beschreibungen der Taurus-Region, die man im Allgemeinen für realistisch hielt. Fabulös, aber nicht im eindeutigen Sinne wirklich unglaubwürdig, war hingegen das Katastrophenszenario. Hier fehlte womöglich noch die wirklich einleuchtende Referenz, von der sich auch die Gesamtanlage erklärte, denn um die interreligiöse Spannung war ihm nicht zu tun. Dieses Grundelement der Reiseprosa fehlte ganz. Oder die Rezeption hatte es gleichsam selbst beigesteuert, indem man vom ‹Schweigen› Leonardos sprach, das Ausdruck einer Verarbeitung der Spannungen sei, die sich aus dem ihm unterstellten Renegatentum ergaben. Und es gab diese Spannung tatsächlich in den Reiseberichten aus dem Orient, denn mancher Reisende musste sich aus Zwang, mancher Gefangene musste sich dauerhaft an fremde Lebensverhältnisse gewöhnen.282 Doch im Falle von Leonardo hatte man dem eigentlichen Narrativ ein Element hinzugefügt, auf Basis eines negativen Beweises. Und man hatte Literatur, die sich zwar als Literatur nicht selbst kenntlich gemacht hatte, einen falschen Status zugeschrieben. Literatur, im Rahmen von Leonardos kunsttheoretischen Überlegungen, ist stets ein Widerpart, an dem die Nobilität der Bildenen Kunst, der Malerei erwiesen wird. Eine Theorie der Literatur hat Leonardo so nicht überliefert, doch der Techniken der Literatur hat er sich bedient. Er hatte sich der Techniken der Illusionsbildung, wie sich in der Nachgeschichte zeigte, sogar äußerst erfolgreich bedient, wenn ihm auch eine Täuschungsabsicht nicht unterstellt werden kann. Denn wir wissen nicht, wem das ‹Diodario-Material› wirklich zugedacht war, wenn überhaupt ein Adressat anvisiert war. 280 Dei, a.a.O., S. 129. Zitiert hier nach Babinger, a.a.O., S. 193. 281 Insbesondere ist hier noch ein weiteres Ritter- und Abenteuerepos zu nennen, das gar als eine ‹geographische Enzyklopädie gelesen werden kann: Andrea da Barberinos Guerino Meschino ([Andrea da Barberino], Guerino detto il Meschino. Storia in cui si tratta delle grandi imprese e vittorie da lui riportate contro i Turchi, Napoli 1834). Vgl. hinsichtlich des darin verarbeiteten geographischen Wissens: Rudolf Peters, Über die Geographie im Guerino Meschino des Andrea de’ Magnabotti, in: Romanische Forschungen 22 (1908), S. 426–505. 282 Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 132, 134f.
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Und falls es sich tatsächlich um Entwürfe handelte, aus denen eine literarische Kommunikation und Interaktion hätte entstehen sollen, wissen wir nicht, ob nicht vielleicht die ‹Gemachtheit› dieser Texte den Zeitgenossen doch so offenkundig war, dass es eines Fiktionalitätssignals ganz einfach nicht bedurfte. Es stellte sich somit erneut die grundsätzliche Frage der hier verhandelten Gesamtproblematik: War die bloße Idee einer Reise Leonardos in den Orient nicht phantastisch genug? Um daran zu zweifeln? Beziehungsweise: Um daran zu glauben?
2.3 Grade der Phantastik: Die Deutungsproblematik im Paradigma ‹Literatur› Da ist eine Fahrt nach Armenien, Jules Verne könnte dieselbe nicht besser erfinden. Heinrich Ludwig283
Nicht ein plötzlicher Beleuchtungswechsel nach 1939 hatte übergeleitet in eine neue Phase der Debatte über die ‹orientalische Frage›. Im Laufe der Zeit hatte sich seit 1883 ganz allmählich der Blick auf das Problem verändert. Eine schon früh vorhandene Position hatte sich allmählich mehr oder weniger durchgesetzt, und der weitere Rahmen war die Entdeckung von Leonardo da Vinci als Autor eines wahrhaft labyrinthischen und teils rätselhaften Notizen-Werks gewesen. Wenngleich es einige Vorläufer gegeben hatte, mit Jean Paul Richters Anthologie hatte die eigentliche Ära der Leonardo-Anthologie begonnen.284 Und trotz des offenkundigen Fortschrittes der Leonardo-Edition gab es auch eine Kehrseite der Medaille: Erstmals in der Geschichte der Leonardo-Literatur, könnte man sagen, stellte sich auch das Problem ‹Anthologie›. Ein neuer Zugang zu Leonardo war nun auf der einen Seite möglich, indem man ihn über seine vielfältigen, auch dem Alltag entstammenden Aufzeichnungen nun kennen lernen konnte. Aber man lernte ihn andererseits eben kennen in einer Auswahl, die von einem Herausgeber – und bald auch von Herausgeberinnen – eben aus diesen Aufzeichnungen getroffen worden waren. Und der Darbietungsweisen waren viele, so dass sich auf subtile Weise in jede Anthologie das Bild von Leonardo einschrieb, wie ein Herausgeber es jeweils präsentieren wollte. Vordergründig ‹redete› Leonardo. Aber als seine Übersetzer und Interpreten im Hintergrund fungierten doch Experten, die nicht bloß vermittelten, sondern, indem sie Gefäße der Vermittlung gestalteten, das Geschriebene unter bestimmte Bedingungen der Vermittlung stellten. Dem Ausgesagten schrieben sich diese Bedingungen auch ein, was sich am Beispiel von Jean Paul Richter am besten 283 Ludwig [Ergänzungsband], S. 12. – Auf S. 281 findet sich eine Anspielung auf die ‹morgenländische Hypothese›. 284 Es gibt Vorläufer der Leonardo-Edition, aber keine eigentlichen Vorläufer dieser Textform und Gattung ‹Anthologie›.
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exemplifizieren lässt: Er hatte Leonardo reden lassen – und dieser ‹Leonardo› bezog sich auf den Koran.285 Jean Paul Richter hatte auf die kunsttheoretischen Schriften fokussiert und sich von diesem thematischen Zentrum her auch in andere Gebiete vorgearbeitet, aber die Technik und die exakten Wissenschaften hatten ihn weniger interessiert. Seine Anthologie war so opulent ausgestattet gewesen, dass sich ein Kernproblem zunächst nicht dringlich stellte: Wie war dem Verhältnis von Bild und Text gerecht zu werden, wenn in den Aufzeichnungen, teils fliegenden Blättern, doch eins ins andere überging, ja fast immer Text und Bild aufeinander bezogen waren? Aus einem komplexen Zusammenspiel von Bild und Text konnte ein Bild von Leonardo als eines reinen Prosaisten gerinnen, wenn man das Textmaterial aus dem Gesamtzusammenhang herauslöste. Zwar hatte Richter die hauptsächlichen Fragmente des ‹Diodario-Materials› auch in Reproduktion gegeben – die Reproduktionsqualität war wie gesagt hervorragend gewesen –, aber das Problem sollte sich schon alsbald neu stellen, als die ersten kostengünstigeren Anthologien erschienen, die auf Bildmaterial weitgehend oder vollständig verzichteten.286 Auf das Material in seiner Gesamtheit konnte bisweilen auch verzichtet werden. Jedenfalls hielten längst nicht alle Experten eine Berücksichtigung für nötig, insbesondere wenn man sich Leonardo von Seiten der Kunstwissenschaft näherte.287 Aber eine solche Haltung konnte sozusagen auch in ihr Gegenteil umschlagen, wenn nämlich das ‹Diodario-Material› zu den ‹Schriften zur Malerei› gezählt wurde, und dies war möglich, wenn man in der verwirrenden Heterogenität des Nachlass-Materials doch eine Einheit sah, einen Gesamtzusammenhang, in dessen Rahmen schlicht alles, da Teil eines geistigen Gesamtzusammenhanges, von Bedeutung war. Im Grunde eignete sich die Anthologie ganz hervorragend, um der Art der Aufzeichnungen Leonardos gerecht zu werden, wenn sie flexibel genug organisiert war. Denn einzelne Bruchstücke konnten in sinnhaften Zusammenhängen dargeboten werden. Aber gleichzeitig lag in dieser Möglichkeit auch die Gefahr, mit dem Material ganz nach Belieben zu verfahren. Welches Bild von Leonardo sich nun in den Anthologien präsentierte, ist hier nicht die Frage. Es interessiert vielmehr, wie das ‹Diodario-Material› behandelt wurde. Rubrizierungsweisen Bestimmten Darbietungsweisen entsprachen bestimmte Deutungen und umgekehrt. Die Deutungen unterschieden sich um Nuancen. Aus herausgeberischer Perspektive waren hauptsächlich drei Fragen zu beantworten: 285 R II, S. 319f., Fn 40 zu Nr. 1336. 286 Vgl. etwa Leonardo da Vinci: Frammenti letterari e filosofici, hrsg. von Edmondo Solmi, Firenze 1899, sowie Leonardo da Vinci. Der Denker, Forscher und Poet, hrsg. von Marie Herzfeld, Leipzig 1904. 287 Zum Beispiel überging Heydenreich das Material in seiner großen Monographie (Ludwig Heinrich Heydenreich, Leonardo da Vinci, 2 Bd., Basel 1953 [urspr. Berlin 1943]).
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– Unter welcher Rubrik sollte das Material bzw. sollten die Texte erscheinen? – Welche Zusammenhänge mit anderen Texten Leonardos waren herzustellen, explizit (durch Kommentare) oder implizit (durch eine bestimmte Reihung)? – Welche Bezüge zu äußeren Gegebenheiten oder zu Texten anderer Autoren waren herzustellen? Darüber hinaus erlaubte die Textgattung der Anthologie eine ganze Reihe subtilerer Eingriffe. Beispielsweise konnten einzelnen Textfragmenten eigene Titel gegeben werden, oder es konnten in Randglossen Anmerkungen untergebracht sein, die etwa auf die Deutungsgeschichte, auf überkommende, veraltete Deutungen verwiesen. Grundsätzlich zeichnete sich die Tendenz ab, auf einen bestimmten einzelnen Aspekt des Materials zu fokussieren, eine Gesamtdeutung darauf zu gründen und die Präsentation entsprechend zu gestalten. Von einzelnen Textbeobachtungen wurde somit abhängig, wie man das Material als Ganzes sah und darbot. Nicht alle Herausgeber legten sich allerdings fest: Auch der prekäre Status des Materials, seine Ambivalenz, konnte der Grund sein, es einer Sektion unterzuordnen, wenn man nicht in dem prekären Status ohnehin den Grund sah, die Texte einfach wegzulassen.288 Leonardos ‹Briefe› Jean Paul Richter hatte das Material der Sektion ‹Briefe› einverleibt und damit ein Beispiel gegeben. ‹Briefe› konnten Dokumente sein, aber auch Texte mit literarischem Anspruch. Konkret waren es ‹fingierte Briefe› nicht weniger als privatestes Material, aber auch Sendschreiben an öffentliche Körperschaften, Bewerbungs- und Protestbriefe, die Leonardo manchmal – in rechtsläufiger Normalschrift – von anderen helfenden Händen hatte aufsetzen lassen. Wenn man Richter auch darin nicht folgen mochte, dass es sich um Dokumente handelte, die sich einer realen Mission im Orient verdankten, so genügte eine interne Differenzierung, und die ‹Briefe› waren gleichsam umcodiert. Man stellte sie dem burlesken Brief an Dei gegenüber, und unversehens hatte man eine Vorliebe für das märchenhaft Exotische entdeckt. Andererseits konnte man in quasi-offiziellen Briefen ein Ringen um den angemessenen Ausdruck, ein Ab- und Neu-Ansetzen beobachten; und ein ebensolches Ringen schien auch die Briefe an den ‹Diodario› zu kennzeichnen, wie Richter bemerkt hatte. In der Sektion ‹Briefe› war das Material so gesehen nicht schlecht aufgehoben. Es handelte sich um einen weiten Rahmen, aber die Möglichkeiten (und Gefahren) interner Differenzierungen waren gegeben. Eine Einreihung unter den ‹Briefen› hielt die Frage offen, sie entsprach unter Umständen einer Position der Unschlüssigkeit in der 288 So McCurdy in der ersten Auflage seiner nachmals sehr verbreiteten und unter anderem auch ins Japanische übersetzten Anthologie (Leonardo da Vinci’s Note-books, hrsg. von Edward McCurdy, London/ New York 1906; siehe Vorwort S. vii; betreffend der Übersetzungen siehe BL).
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säkularen Debatte, die womöglich klug war, aber das Problem vorläufig auch keiner Lösung zuführen konnte. Vom ‹Bericht› zur ‹Vision› Entscheidungsfreudiger waren die Editoren, die sich eindeutig auf das Paradigma ‹Literatur› festlegten und unter dieser Voraussetzung für das Subgenre ‹phantastische Literatur› oder ‹geographische Literatur› optierten. So verlegte man sich stärker auf das Inhaltliche. Es gab in dem Material einen sozusagen länderkundlichen Aspekt, der es rechtfertigte, beispielsweise eine Rubrik ‹Paesi› zu kreieren. Es gab aber auch die phantastischeren Elemente, die Motivik der Naturkatastrophe oder gar des Weltuntergangs. Der Moment des Visionären konnte betont werden oder in einer Differenzierung des Visionären in eine gleichsam schwerblütige ernste und eine spielerisch phantastische Variante – zwei Rubrizierungen, die einem ernsthaften, fast schwerblütigen Leonardo entsprachen bzw. einem spielerisch tändelnden, kapriziösen und verträumten.289 Die Datierungsfrage war in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, wurde aber tendenziell vernachlässigt. Dies hatte zur Folge, dass oft übersehen wurde, dass die ‹armenischen Briefe› höchstwahrscheinlich keine Briefe des jungen Leonardo waren. Niemand hatte mehr für eine Frühdatierung optiert, nachdem Sigmund Freud als einer der letzten jugendliche unausgelebte Abenteuerlust als ein Motiv Leonardos erwogen hatte. Tendenziell wurde nun übersehen, dass Leonardo – als Urheber des ‹Diodario-Materials› – schon über vierzig war, wenn nicht gar älter. Ein literarisches ‹Projekt› Schließlich konnte man sich der Unfertigkeit des Vorhabens erinnern. Es handelte sich – mutmaßlich – um ein nie fertiggestelltes Projekt. Und wenn es ein literarisches Projekt war, konnte man die nüchterne, planerische Seite des Autors Leonardo hervorheben. Ein ‹Roman-Projekt› war etwas, das auf einen Kreis von Adressaten zielte, auf einen Markt. Dies berührte die Deutungsproblematik zutiefst, ließ aber doch offen, mit welchem Genre der Maler-Schriftsteller beabsichtigt hatte, auf den literarischen Plan zu treten: mit einer lehrhaften Erzählung, mit einem Abenteuerroman oder einer Mischung von beidem? Manche Editoren gaben den Texten Hinweise auf die einstige, vermeintlich abgeschlossene, historisierbare Debatte bei. Andere hoben einzelne Aspekte, eigentliche Sonderprobleme hervor: Probleme der Intertextualität vor allem, aber indem man die Texte – noch und noch – auf andere Texte bezog, stellte sich doch nicht plötzlich von selbst 289 Giuseppina Fumagalli klassifizierte die Texte als ‹märchenhafte Visionen› (Leonardo omo sanza lettere, hrsg. von Giuseppina Fumagalli, Firenze 1952 [zuerst 1939], S. 171ff.).
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eine wirklich überzeugende Rubrizierung her. Man strebte weiteren Klärungen zwar zu, aber verlegte sich doch auf eine sekundäre Ebene, indem man Sonder- und Detailprobleme ansprach. Fazit: Ein prekärer Status Als Johann Wolfgang Goethe im Jahre 1819 den West-östlichen Divan veröffentlichte, samt umfangreicher ‹Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis›, da reihte er auch die Reisen des Ritters Mandeville in seine Präsentation einiger wertvoller Berichte von Orientreisenden ein.290 Doch ganz sicher ob des Realitäts- bzw. Fiktionalitätsgehalts des Inhalts war er sich nicht. Zwar stellte Goethe nicht den damaligen Konsens in Frage, dass es einen Autor namens ‹Johannes von Montevilla› gegeben hatte, doch dessen offensichtliches Fabulieren beschädigte die Glaubwürdigkeit des Ganzen. Es warf einen Schatten des Zweifels auf das vielleicht Wahre, das in dem Bericht – wie Goethe annahm – auch enthalten war.291 Als eine Fiktion mochte er es auch nicht präsentieren, denn welchen Sinn hätte es gemacht, im Rahmen von kulturhistorischen Erläuterungen auf eine Orient-Fiktion zurückzukommen. Kurz: Die Reisen – im Rahmen von Goethes Darlegung – hatten einen prekären Status, ganz wie – über hundert Jahre später – Leonardos ‹Diodario-Material› im Rahmen von Bibliographien der historischen Reiseliteratur.292 In einer Bibliographie der Palästina-Literatur nämlich, die hauptsächlich Pilgerberichte enthält, war ihm – unter dem deutlichen Vorbehalt zwar, dass es sich um einen ‹Roman› handele – doch ein Platz vorbehalten worden. In dieser ambivalenten Rubrizierung zeigt sich wohl am deutlichsten, welch prekärer Status einem Textmaterial immer noch zukam. In anderen Worten: Um 1952, auch im Vorfeld des 500. Geburtstages des großen Künstler-Ingenieurs, den man seit über einem halben Jahrhundert auch als einen Autor entdeckte, war man einer wirklichen ‹Auflösung› der ‹orientalischen Frage› auf dem Feld der Literaturwissenschaft nicht wirklich näher gekommen. Zwar gab es zahlreiche Deutungsvorschläge, die sich in den diversen Rubrizierungen kundtaten und mehr oder weniger den schon in der ‹Richter-Debatte› geäußerten Vorschlägen entsprachen. Aber einhellige Zustimmung fand keine dieser Rubrizierungsweisen. Und mehr noch: Auch über den Rang der Prosa Leonardos war man sich nicht einig, und ist sich auch im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht einig geworden. Dem euphorischen Urteil Giuseppina Fumagallis, die das ‹Diodario-Material› in ihrer ers290 Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, hrsg. von Hans.-J. Weitz, Frankfurt a.M. 1974 [Erstausgabe 1819], S. 233. 291 Jean Paul Richter, selbst in Kleinasien gereist, ging davon aus, dass Mandeville immerhin in Ephesus gewesen war. Siehe Jean Paul Richter, The Monuments of Christian art at Ephesus, in: The Academy (27. Juli 1878), S. 98. 292 Ganz-Blättler, a.a.O., S. 390 (mit Verweis auf Thomsen, Palästina-Literatur 3, S. 194).
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ten Anthologie von 1915 gar nicht hatte berücksichtigen wollen,293 widersprach zum Beispiel – im Abstand von einem halben Jahrhundert – mit wenig schmeichelhaften Worten einer der großen Leonardisten, nämlich Augusto Marinoni.294 Und nicht wenige Kunsthistoriker, beispielsweise Martin Kemp, der von der Naturwissenschaft her gekommen war, schlossen sich diesem Urteil implizit oder explizit an. Nicht gewichtige Spätwerke, sondern ‹Bagatellen›295 hatte man hier vor sich, dies der Tenor, im schärfsten Kontrast zum Aufsehen, den das ‹Diodario-Material› einst erregt hatte und noch weiter erregen sollte. Auf das Jubiläumsjahr von 1952 hin kündigten sich zahlreiche neue Anthologien 296 an, aber überraschende Einsichten im Hinblick auf das Material gab es nicht zu vermelden. Die eigentliche Überraschung des Jubiläumsjahres lag darin, aufs Neue mit einer ‹orientalischen Frage› konfrontiert zu werden, nämlich mit einer neuen Variante der ‹orientalischen Frage› bzw. mit einer Teilfrage dieses Gesamtkomplexes. Nicht um Texte ging es nun, sondern um ein Bauprojekt im Orient, in einer Grenzzone zwischen Asien und Europa, um ein Projekt, dem nicht ein Status gleichsam imaginärer Architektur zukam, sondern das nun als ein auf physische Realisierung zielendes gedankliches Projekt Leonardo da Vincis gesehen werden und (ganz ähnlich wie die Texte) in einer Vielfalt der Bezüge – architektonischer, städtebaulicher und bautechnischer – verortet werden musste. Von den Schwierigkeiten, die dies auch bereitete, ist im Folgenden zu reden.
293 Leonardo prosatore, hrsg. von Giuseppina Fumagalli, Milano etc. 1915, S. 50 («grandissime prosa»). 1939/52 betonte sie die Einheit des geschriebenen Werks (Leonardo omo sanza lettere, ed. Fumagalli, a.a.O., S. 16). – Dieser – euphorischen – Deutungstradition schloss sich Joseph Gantner auch an (siehe Kap. 4). 294 «Bei einer aufmerksamen Durchsicht dieser Versuche bemerkt man schnell, dass es sich um unbedeutende und völlig zusammenhanglose Fragmente handelt» (Augusto Marinoni, Leonardos Schriften, in: Silvio A. Bedini et al., Leonardo. Künstler, Forscher, Magier, München 2002, S. 82). 295 Martin Kemp, Leonardo, München 2005, S. 190 («Leonardos literarische Hervorbringungen lassen sich bestenfalls als geistreiche ‹Bagatellen› bezeichnen.»). – Auch Daniel Arasse behandelt die ‹Literatur›, die er als ‹höfischen Kurzweil› betrachtet, in seiner großen Monographie bloß en passant (Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 228). 296 Zu einer Referenzausgabe im italienischen Sprachraum entwickelten sich die Scritti scelti di Leonardo da Vinci, hrsg. von Anna Maria Brizio, Torino 1952.
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3. Dritte Etappe: Leonardo, Michelangelo und die Brücke über das Goldene Horn Wir wissen nicht, ob das Schicksal Leonardo eine Katastrophe erspart oder ob es ihm den Ruhm, einer der kühnsten Brückenbauer aller Zeiten zu sein, zu Unrecht vorenthalten hat. Fritz Stüssi, ETH Zürich297 To begin exploring different layers of signification embodied in the 1912 Galata Bridge, a potent point of departure is its absence rather than its presence. Umut Şumnu298
3.1 Auftakt: Eine «Kraftwagenfahrt» von Pera nach Stambul In der Geschichte der Geschichtskultur – und damit auch der Bewusstseinsgeschichte – der noch jungen Türkei markiert das Jahr 1953 einen überaus markanten Einschnitt. Darstellungen der politischen Geschichte halten sich mit derlei Belangen selten auf, doch es galt, nachdem die Türkei 1952 der Nato beigetreten war, auf das Jahr 1953 hin ein Verhältnis, auch ein öffentlich artikuliertes, zur Osmanischen Geschichte zu finden, d.h. zur Vorgeschichte des noch jungen Staates. Denn es jährte sich zum 500. Male der Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel durch Sultan Mehmed II. im Jahre 1453.299 Die Frage, wie man dieses Verhältnis definieren sollte, war keine x-beliebige – vielmehr war sie von einer fundamentalen Bedeutung in Hinblick auf die Identitätsbildung der türkischen Gesellschaft. Denn – bei aller Westorientierung und Hinwendung nach Europa – es galt dabei, ein Verhältnis zu finden zu einer Geschichte, die auch zu keinem geringen Grade eine Geschichte der Konfrontation mit (dem christlichen) Europa gewesen war. Auf diesen Jahrestag hin zeichnete sich – neutral gesehen – zunächst einmal eine Wiederentdeckung der osmanischen Geschichte, auch durch die Geschichtswissenschaft, ab. Und es stellte sich – in einem weiteren Kontext gesehen – die Frage des ‹Umgangs› der türkischen Gesellschaft mit dieser ambivalenten, teilweise eben konfrontativen und von daher zwiespältigen Geschichte.300 Denn indirekt definierte man damit auch ein Verhältnis zum übrigen Europa. 297 Fritz Stüssi, Leonardo da Vincis Entwurf für eine Brücke über das Goldene Horn, in: Schweizerische Bauzeitung 71 (1953), S. 115. 298 Umut Şumnu, The 1912 Galata Bridge as a Site of Collective Memory, [Thesis], Bilkent University, 2004 [http://www.thesis.bilkent.edu.tr/0002124.pdf ], S. 36. 299 Dem Romanicier und Essayisten Orhan Pamuk zufolge sahen die höchsten Repräsentanten der Türkei aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des Auslands, insbesondere Griechenlands, von einer Teilnahme an den Feiern ab (Orhan Pamuk, Der Blick aus meinem Fenster, München/Wien 2006, S. 66f.). 300 Im Jahre 1952 erlaubte die Türkei den Angehörigen des Hauses Osman, mit Ausnahme der kaiserlichen Prinzen, die Rückkehr in das Land (Klaus Kreiser, Angekommen im 20. Jahrhundert. Istanbul ist
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Im Vorfeld des Jahrestages, der je nach Standpunkt als ein Gedenktag oder als ein Jubiläum angesehen werden konnte, hielt sich der deutsche Osmanist Franz Babinger (1891–1967), ein Bahnbrecher der Etablierung der Türkischen Studien in Deutschland, in Istanbul auf.301 Er hatte eine Biographie Mehmeds II., genannt ‹der Eroberer› in Arbeit, deren Erscheinen (dem Vorwort zufolge) nicht bewusst auf diesen Jahrestag hin geplant war.302 Doch das Werk, aus heutiger Sicht ein Standardwerk, erschien dann doch in diesem Gedenkjahr, und es erregte in der Türkei die Gemüter nicht wenig (was vor dem beschriebenen Hintergrund nicht überraschend war).303 Am Vormittag des 16. Septembers 1951 aber ging es um eine andere Angelegenheit. Babinger hatte ein Gespräch geführt mit Adnan Erzi, dem Sekretär der Türkischen Geschichtsgesellschaft in Ankara, und zwar bezeichnenderweise über «italienischen Einfluss im Osmanenreich während der Herrschaft Mehmeds II.».304 Auf einer anschließenden «Kraftwagenfahrt von Pera nach Stanbul» unterrichtete dann Erzi Babinger – es nimmt sich dies aus wie eine detailliert geplante Inszenierung – über einen Dokumentenfund. Ob die Fahrt an diesem Vormittag nun über die Galata-Brücke von 1912 führte oder über die Atatürk-Brücke –305 Babinger hörte erstmals von einem Dokument, in dem ein Italiener, allem Anschein nach zu Zeiten Mehmeds II., sich dem Sultan anerboten hatte, eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Und Babinger hörte damit zum ersten Mal von einer Quelle, die für ihn – und nachmals auch für die Gemeinschaft der Leonardisten – von allerhöchstem Interesse war. Schon bei der Eroberung von Konstantinopel hatten im Übrigen Brücken eine Rolle gespielt,306 aber erst im 19. Jahrhundert war man willens und in der Lage gewesen, das Goldene Horn, die Hafenbucht von Istanbul, mit einer dauerhaften Konstruktion zu überbrücken. 1909–1912 waren es deutsche Ingenieure gewesen, die den Brückenbau ermöglichten und zugleich jenes Beziehungsgefüge zwischen dem Deutschen und dem längst eine europäische Metropole, in: Du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 761 (November 2005), S. 50). 301 Siehe AuA III, S. 338ff. (Würdigung durch Hans Joachim Kissling, Babingers Schüler), Gerhard Grimm, Franz Babinger (1891–1967). Ein lebensgeschichtlicher Essay, in: Die Welt des Islams 38 (1998), S. 286–333, sowie Michael Lemster, Ein erratischer Block in der akademischen Landschaft. Der Orientalist Franz Babinger, 1891–1967, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 15 (19./20. Januar 1991), S. 70. – Man wird Babinger nicht Unrecht tun, wenn man auch erwähnt, dass seine Begeisterung für den Orient sich einst bei der Lektüre von Karl May entzündete (siehe Grimm, a.a.O., S. 297). 302 Franz Babinger, Mehmed der Eroberer. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1987 [urspr. 1953]. 303 Babinger sollte – mit Äußerungen, die nicht anders als rüde bezeichnet werden können und auch von schweren Kränkungen zu zeugen scheinen – auf die ihm von türkischer Seite entgegenschlagende Kritik antworten (AuA III, S. 208ff.). Dabei kam er – in schonungsloser Deutlichkeit und zugleich paternalistisch – auch auf den Identitätsbildungsprozess der jungen Türkei zu sprechen, die ihres Selbstbildes noch nicht sicher sei. Diese Replik von Seiten Babingers ist hier weniger wegen ihres inhaltlichen Gehalts interessant als wegen ihres Status’ als Dokument, in dem eine Außensicht auf die türkische Geschichtskultur sich – in rücksichtsloser Offenheit – ausspricht. 304 B/H, S. 2. 305 Wahrscheinlich führte die Fahrt über die Atatürk- und nicht über die Galata-Brücke, denn andernfalls hätte dies Babinger sicherlich vermerkt. 306 B/H, S. 12 (Text und Fn 4; vgl. außerdem S. 10, Fn 3). Vgl. des Weiteren auch Babinger, Mehmed der Eroberer, a.a.O., S. 90 (Kette der Byzantiner).
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Osmanischen Reich symbolisierten, das auch auf militärischem Gebiet bestand. Auch Babinger operierte – zur Zeit des 1. Weltkrieges – in diesem Rahmen, und zwar als Offizier.307 Als eigentliche Trennlinie zwischen Europa und Asien gilt der Bosporus. Das Goldene Horn, als eine Einbuchtung dieser Wasserstraße, bildet einen Naturhafen, die Hafenbucht von Istanbul. Und eine Brücke am äußeren Ende des Goldenen Horns zum Bosporus hin schloss diesen Naturhafen gewissermaßen zum Bosporus hin ab. Das Goldene Horn trennt nicht im engeren Sinne Europa und Asien, sondern – auf der europäischen Seite von Istanbul – zwei Ufer voneinander. In Osmanischer Zeit hatten sich Galata, die Siedlung der christlichen Kaufleute, und Istanbul, das eigentliche Machtzentrum des Osmanischen Reiches, Herz des Institutionengefüges, gegenübergelegen. Und auch dem modernen Istanbul ist dieser Gegensatz, wiewohl überformt, noch aufgeprägt. Wer das Goldene Horn zu überbrücken verstand, von der Seite mit dem Galata-Turm hin zur Seite mit den Minaretten und Kuppeln der Moscheen, vollbrachte nicht nur eine bautechnisch anspruchsvolle
3 Goldenes Horn und Bosporus in einer Satellitenaufnahme (zu erkennen sind auch die heute bestehenden Brücken) (Quelle: http://www.azizistanbul.com/)
307 Siehe die obigen Belege zur Vita.
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Aufgabe, sondern auch eine mit Symbolik – kultureller, wirtschaftlicher, politischer und insbesondere religionspolitischer Symbolik – befrachtete Tat.308 Und noch ein Jubiläum stand bevor:309 Sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges jährte sich der Geburtstag Leonardo da Vincis zum 500. Male. Ein Jahr vor der Eroberung von Konstantinopel war er geboren worden und indirekt sollte dieses Ereignis sich auf sein Leben auch auswirken. 1952 beging man dieses Jubiläum, doch befriedigt, wie man es begangen hatte, war im Nachhinein kaum einer der Leonardisten, die sich dazu äußerten.310 Es war nicht möglich gewesen – sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – die internationalen Bestrebungen wirklich zu bündeln. Europa lag in Trümmern und erlebte die erste Phase des Kalten Krieges und des Wiederaufbaus, und auch wissenschaftliche Kooperationen sollten sich – anders als dies nach Ende des Ersten Weltkrieges gewesen war – erst nach und nach wieder ergeben. In Frankreich fanden sich an zwei Symposien zwar die Experten zusammen,311 aber bereit, die konkreten Überraschungen zu verarbeiten, die im Vorfelde dieses Jubiläums und im Jubiläumsjahr selber Staunen machten, war man im Grunde nicht.312 Babinger war ein Lichtbild des Dokumentes in Aussicht gestellt worden, von dem man ihm – im Wagen – berichtet hatte. Einmal im Besitz von diesem, war er in der Lage festzustellen, dass nicht Mehmed II. der darin angesprochene Sultan war, sondern sein Sohn Bayezid II., und dass auch nicht irgendein Italiener sich anerboten hatte, eine Brücke zu bauen, sondern dass es mutmaßlich Leonardo da Vinci gewesen war, ‹ein Ungläubiger namens Leonardo›, wie es in der türkischen Paraphrase hiess, die wahrscheinlich von osmanischen Hofbeamten angefertigt worden war. Adnan Erzi, der Finder dieses Dokuments, hatte Babinger nicht bloß das Lichtbild zugestellt, er gestattete ihm auch die Veröffentlichung des Funds. Und daran machte 308 Vgl. Geert Mak, Die Brücke von Istanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident, München 2007. Dieser Essay lässt sich allerdings ausgerechnet die hier im Folgenden verhandelte Thematik vollkommen entgehen. 309 Genaugenommen waren es sogar drei, denn auch der Geburtstag des Predigers Savonarola stand bevor. Und Avicennas 1000. Geburtstag – nach dem islamischen Mondkalender – wurde im gleichen Jahr begangen (Gotthard Strohmaier, Avicenna, München 1999, S. 11). 310 Vgl. L. H. Heydenreich, Leonardo-Bibliographie 1939–1952, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 15 (1952), S. 195–200, sowie André Chastel, Les études sur Léonard de Vinci en 1952, in: BHR 15 (1953), S. 111–115. 311 Für eine Weile dominierte in den Leonardo-Studien dieser – vor allem mit dem Namen André Chastel verbundene – Impuls, bevor die Forschung, nun in den Vereinigten Staaten und in Europa, jenen Aufschwung erlebte, der sich mit den Namen Carlo Pedretti und Augusto Marinoni verbindet. 312 Kennzeichned für die Forschung dieser Jahre war eine Tendenz hin ins Abstrakt-philosophische, die sich beispielsweise in den Forschungsberichten von André Chastel deutlich niederschlug (vgl. André Chastel, Leonardiana, in: BHR 16 (1954), S. 386–397, sowie ders., Les travaux sur Léonard de Vinci, in: BHR 22 (1960)). – Das Gegenstück dazu bilden die Arbeiten bzw. das Gesamtwerk von Carlo Pedretti, der in seinem Kommentar zu Richters Anthologie sozusagen die neo-platonische LeonardoInterpretation hinter sich ließ und in Bezug auf den Corpus Hermeticum bloß lapidar anmerkte, dass es keinen Hinweis für eine Vertrautheit Leonardos mit hermetischen Schriften gebe (siehe P II, S. 336 sowie Index: Ficino und Pico kommen so gut wie überhaupt nicht vor).
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sich Babinger, der sich seit jeher auch in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln bemüht hatte, seine Erkenntnisse einem weiteren Publikum zu vermitteln. In Zusammenarbeit mit dem deutschen Leonardo-Spezialisten Ludwig H. Heydenreich, der in der Lage gewesen war, während des Krieges eine Leonardo-Monographie erscheinen zu lassen313 und der – als Teil des deutschen kunsthistorischen Establishments – den Krieg in Italien erlebt hatte,314 veröffentlichte Babinger einen grundlegenden Aufsatz über die «Vier Bauvorschläge Lionardo da Vinci’s an Sultan Bajezid II. (1502/3)», der 1952 erschien, so wie auch die diversen Artikel, die Babinger in diesem Zusammenhang im Weiteren verfasste.315 Die Leonardo-Forschung nahm den Ball, zum Teil aus den geschilderten Gründen, nicht sogleich auf. Außerdem: So neu war die Sache im Grunde nicht. Denn es war durchaus bekannt, dass Leonardo in Ms. L eine Brücke über das Goldene Horn skizziert hatte. Neu war ‹bloß›, dass diese Idee von größerer Tragweite gewesen war, als man bis dahin gedacht hatte. Leonardo war – so hatte es den Anschein – bereit gewesen, eine Idee in die Tat auch umzusetzen, denn er hatte offenbar ein Schreiben aufgesetzt, um sich dem Osmanischen Sultan anzudienen, und dieses Schreiben war über Genua nach Istanbul gelangt. Zur Vorgeschichte eines Dokumentenfunds Bekannt geworden war die Brückenskizze all jenen Leonardisten, die in Paris Ms. L studiert hatten, ein kleinformatiges Notizbuch, von dem wir annehmen, dass Leonardo es am Gürtel trug und in das er – wo er gerade Platz fand – eintrug, was ihn interessierte.316 Gilberti Govi mag die Skizze gesehen haben, auch Vater und Sohn Ravaisson-Mollien, doch in Reproduktion publiziert und bekannt gemacht wurde sie von Jean Paul Richter, der schon in seinem Aufsatz von 1881 auf die Brücke zu sprechen gekommen war.317 In Hinblick auf die Frage des Orientaufenthaltes hatte die Zeichnung bloß eine Rolle gespielt, indem sie Richter Anlass geboten hatte zu fragen, woher Leonardo von bestimmten Lokalitäten und Topographien Kenntnis gehabt hatte. Die Brückenskizze verriet solche Kenntnisse, aber dass Leonardo in Konstantinopel gewesen war, hatte niemand explizit behauptet – bis Josef Strzygowski von einer Anregung Leonardos durch die Bäderanlagen Konstantinopels gesprochen hatte.318 Seltsamerweise hatte man sich 313 Ludwig Heinrich Heydenreich, Leonardo da Vinci, 2 Bd., Basel 1953 [urspr. Berlin 1943]. 314 Siehe DoAH. 315 Auch zum Jubiläum von 1953 veröffentlichte Babinger populäre, an ein breiteres Publikum gerichtete Artikel wie den über die ‹Baugesinnung› der osmanischen Sultane (Franz Babinger, Sultanische Baugesinnung im 15. Jahrhundert, in: Atlantis 4/1953, S. 170–174). 316 Es hat keinen Sinn, das Notizbuch von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne zu lesen. Man muss zuweilen auch oben und unten vertauschen: Aus diesem Gesamtbild ergibt sich: Leonardo fasste das Buch und benutzte es, wo er gerade Platz fand, manchmal kontinuierlich anschließend und einige Seiten in Folge benutzend, ein andermal nicht. 317 Die Faksimile-Edition von Ms. L erschien erst 1890 (BV, S. 33f.). 318 Siehe Kapitel 1.4.
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auf den vermeintlichen Aufenthalt in Kleinasien, Syrien, Armenien und vielleicht Ägypten konzentriert. Leonardos mutmaßlicher Anfahrtsweg, seine Routenwahl war nie zur Sprache gekommen, außer bei Solmi, der insinuierte, dass Leonardo von Neapel aus in die Levante gegangen war.319 Richter hatte darüber hinaus als erster eine Verbindung hergestellt: Auch in der Michelangelo-Literatur war von einem Projekt einer Brücke über das Goldene Horn die Rede, das man an den Antipoden Leonardos offenbar herangetragen hatte. Richter, auch in diesem Zusammenhang etwas verwegen, hatte die Möglichkeit erwogen, dass der Sultan einen Wettbewerb veranstaltet hatte, von dem beide Künstler vernommen und sich daran beteiligt hatte.320 Die Idee für eine solche Brücke war also prinzipiell bekannt und im Vorfeld des Jubiläums von 1952 trat erstmals jener in Bologna geborene Leonardist auf den Plan, der heute einer der bedeutendsten Leonardo-Forscher des 20. Jahrhunderts genannt werden darf, nämlich Carlo Pedretti. Pedretti kam auf die Brücke im Rahmen eines Textes zu sprechen, der indessen erst 1953, also nach dem Jubiläumsjahr, erschien.321 Luca Pacioli hatte erwähnt, dies der eigentliche Umstand, von dem Pedretti berichtete, dass Leonardo – just in Hinblick auf die Zeit, die hier interessiert – als Militäringenieur in Diensten Cesare Borgias als Brückenbauer geglänzt hatte, denn er hatte sich als fähig erwiesen, schnell eine funktionstüchige Brücke zu bauen. Und in diesem Zusammenhang fand auch die Skizze in Manuskript L Erwähnung. Der Text reflektierte 1953 somit den Stand der Kenntnisse, bevor man erfuhr, dass Leonardo in dieser Sache einen weiteren Schritt tatsächlich unternommen hatte. Der Aufsatz von Babinger samt dem Beitrag von Heydenreich kann als grundlegend angesehen werden, weil hier zwei ausgewiesene Spezialisten zusammenspannten, ihre jeweiligen Kompetenzen in ein gemeinsames Projekt einbrachten – und Unstimmigkeiten, von denen noch die Rede sein wird, nicht unterdrückten. Diese betrafen unter anderem die Datierung des Briefs, um den es im Wesentlichen ging, aber auch einige weitere Schlussfolgerungen, die damit in Zusammenhang standen. Was den sachlichen Gehalt des Aufsatzes angeht, ist wenig überholt, doch aus heutiger Sicht können viele Fragen auch auf neuer Grundlage gestellt, einige Beurteilungen auf neuer Grundlage kritisch betrachtet werden. Es soll daher hier keine Paraphrase gegeben werden, sondern der vollständigst mögliche Bericht über ein weiteres Problem der Leonardo-Forschung bzw. über ein gemeinsames Problem der Leonardo- und der Michelangelo-Forschung, das mitten hinein führt in das symbolische Zentrum der Renaissance – die Jahre, in denen ein Dreigestirn der Künstlerwelt – Leonardo, Raffael und Michelangelo – sich in Florenz begegnet sind. Die Geschichte eines Bauvorhabens ist in der Geschichte dieser 319 Siehe Kapitel 1.3. 320 R II [Erstausgabe], S. 269, Fn zu Nr. 1109 (ein ‹Wettbewerb› als eine von zwei Möglichkeiten). Vgl. dazu Gustavo Uzielli, Ricerche intorna a Leonardo da Vinci, Serie prima, Volume primo, Torino 1896, S. 75f. In der Zweitauflage (R II, S. 215, Fn zu Nr. 1109) entfiel die Mutmaßung, zu der Richter durch die Michelangelo-Biographik (siehe unten) verleitet worden war. 321 Carlo Pedretti (Hg.), Documenti e memorie riguardanti Leonardo da Vinci a Bologna e in Emilia, Bologna 1953, S. 192ff.
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Jahre zu verorten. Und dabei sind auch alle Fragen aufzuwerfen, die letztlich nicht mehr beantwortet werden – aber besser, präziser gestellt werden können. Es ist auf die Unstimmigkeiten einzugehen, die ein Produkt unkritischer Traditionsbildungen gewesen sind. Und es sind – um der Rekonstruktion einer Gesamtsituation willen und in Ergänzung der traditionell eurozentrischen Erzählweise – auch die Ergebnisse der Osmanistik zu berücksichtigen, die letztlich erst den sinnhaften Rahmen bilden, um zu erhellen, warum in den Künstlerkreisen der Renaissance die Idee für ein Bauvorhaben offenbar zirkulierte. Schritt für Schritt, in Darstellung und reflektierenden Einschüben, ist hier unternommen, ein möglichst dichtes Gesamtbild zu geben, ein Bild der Quellenlage und ein um ein Hintergrundgeschehen ergänztes Bild der Renaissance in, grob gesagt, den Jahren 1501–1506.
3.2 Nach heutigem Kenntnisstand: Die Faktenlage Am 17. November 1501 – nach dem muslimischen Kalender das Jahr 907 – trug sich in Istanbul gemäß dem Chronisten Oruç, einem Sekretär in Edirne (Adrianopel), folgende Begebenheit zu: «In einem Turm auf der anderen Seite, in Galata, war Salpeter gelagert, und damals nun wurde dieser Salpeter für die Rüstung der Flotte gebraucht und benötigt, und der Wesir Mesih Pascha und der Richter von Galata und der Oberaufseher verfügten sich dorthin, um mit ihren Dienern und Gehilfen den Salpeter herauszuschaffen. Da erschien unversehens – es war die Mittwochnacht – oben am Himmel ein Gewölk, ein heftiger Regen ging nieder, und es blitzte und donnerte, und ein Blitz fuhr hernieder und schlug in den Turm mit dem Salpeter, dass der Turm zerbarst und die Steine nach allen Seiten flogen. Als auf dieser Seite die Paschas davon Nachricht erhielten, versammelten sich die Paschas und die Ağas322 und die Janitscharen und fuhren nach Galata hinüber, um den Brand zu löschen und Hilfe zu bringen. Bei dieser Gelegenheit schlug unversehens das Verhängnis des Himmels zu: Ein Stein kam dahergeflogen, traf den Wesir Meshi Pascha am Oberschenkel und brach ihm das Bein. An dieser Verletzung starb Mesih Pascha, und zugleich mit ihm starb auch der Richter von Galata.»323
In dieser Episode – nicht eigentlich um des darin erzählten Hauptgeschehens herangezogen, sondern weil sich von ihr her einige strukturelle Gegebenheiten beleuchten lassen – deuten sich einige Aspekte der historisch-politischen Situation an, in die ein Architekt am Goldenen Horn – sofern er dort baute – eingriff.
322 Siehe EI für die vielfältige Bedeutung dieser Titulatur. 323 Der fromme Sultan Bayezid. Die Geschichte seiner Herrschaft (1481–1512), [Chroniken des Oruç und des Anonymus Hanivaldanus] hrsg. von R. F. Kreutel, Graz/Wien/Köln 1978 [Osmanische Geschichtsschreiber, Bd. 9], S. 145 (Anm. S. 179). Vgl. auch S. 24ff. bezüglich der Person des Chronisten.
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Das Goldene Horn zu überbrücken war an sich kein unlösbares Problem, auch um 1500 nicht.324 Bei Belagerungen und Abwehrkämpfen waren schon Brücken, Ponton-, Fass- oder Bootsbrücken, zum Einsatz gekommen. Aber unter zivilem wie militärischem Gesichtspunkt handelte es sich eben um eine Hafeneinfahrt, und die Funktionalität des Hafenverkehrs erlitt Einbußen, wenn man die Einfahrt sperrte (wie einst die Byzantiner mittels einer Kette).325 Um den Hafenverkehr und den Verkehr zwischen zwei Städten oder Stadtteilen zugleich zu gewährleisten, eignete sich daher entweder eine sehr hoch gespannte Brücke oder eine Zugbrücke, die so gesehen eine Mischlösung darstellte und temporär jeweils den einen oder den anderen Verkehr erlaubte. Kurz nach der Jahrhundertwende, die – militärisch funktionale – Pontonbrücke war Geschichte, setzte man also mit dem Boot über, sowohl um Transporte zu erledigen wie auch, um Lösch- und Rettungsarbeiten in die Wege zu leiten. Und in dem einen wie dem anderen liegt auch eine politische Bedeutung. Salpeter war ein Rohstoff, den man zur Herstellung von Schwarzpulver benötigte;326 und wenn die Quelle den Anschein erweckt, dass es bloß eine Feuerwehr in Istanbul gab, so hatte dies mutmaßlich damit zu tun, dass ein Lager mit einem ‹strategischen Rohstoff› in Brand geraten war. Die osmanische Flotte, um deren Rüstung es hier ging, hatte unlängst, und zwar unter dem in militärischer Weitsicht nicht zu unterschätzenden Bayezid II., einen beispiellosen Aufschwung erlebt, der sich paradoxerweise auch der Weigerung der Venezianer verdankte, den Osmanen zur Zeit des osmanisch-mamlukischen Grenzkriegs auf Zypern einen Hafen zu Verfügung zu stellen.327 Denn kurz danach und wohl auch in der Folge kam der Flottenbau in Gang, der eine Seestreitmacht erstarken ließ, die sich hernach gegen die Venezianer richtete, sie besiegte und – nicht zuletzt aufgrund des Einbezugs der muslimischen Korsaren – zur dominierenden Seemacht im östlichen Mittelmeerraum avancierte. In den Jahren nach 1500 war es soweit. Die Seestreitkräfte der Osmanen standen keiner europäischen Macht mehr in etwas nach. Der Richter, der sich nach Galata hinüber begab, repräsentierte die osmanische Oberherrschaft auch über die Stadt am nördlichen Ufer des Goldenen Horns, deren Schlüssel von den genuesischen Oberen 1453 übergeben worden waren.328 Als ehemalige halb-autonome Kolonie behielt die Gemeinschaft der westlichen Kaufherren in Galata das Recht, interne Streitigkeiten unter sich zu regeln. Die ‹Magna Commu324 Zum mittelalterlichen Brückenbau im Allgemeinen siehe Thomas F. Glick / Steven J. Livesey / Faith Wallis (Hg.), Medieval Science, Technology, and Medicine. An Encyclopedia, New York/London 2005, S. 103f. (Art. ‹Bridges›). 325 Belege siehe oben (Brücken bei der Belagerung von Konstantinopel). 326 Siehe Claus Priesner / Karin Figala (Hg.), Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 318f. 327 Andrew C. Hess, The Evolution of the Ottoman Seaborne Empire in the Age of the Oceanic Discoveries, 1453–1525, in: The American Historical Review 75 (1970), S. 1892–1919. 328 Ein Abkommen konnte eine Plünderung der Stadt nicht verhindern (Louis Mitler, The Genoese in Galata: 1453–1682, in: International Journal of Middle East Studies 10 (1979), S. 74).
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nità› repräsentierte diese Gemeinschaft der Christen bzw. Abendländer. Die eigentliche Rechtsprechung freilich lag bei den Osmanen. Galata war ein Rechtsraum – verglichen mit Konstantinopel auf der Südseite des Goldenen Horns –, dem eine gewisse Autonomie, ein Sonderrecht geblieben war. Und in Bezug auf die Zusammensetzung der Bevölkerung scheint sich der Anteil der muslimischen Bevölkerung zwar stetig erhöht zu haben, aber noch immer war Galata ein europäisch bzw. italienisch geprägter Raum, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Migrantengruppen – aus Armenien, dem Schwarzmeerraum und aus Spanien – aufnahm.329 Unter der allgemeinen Oberherrschaft der Osmanen unterschieden sich also die Verhältnisse am Nord- und am Südufer des Goldenen Horns. Die stadtplanerische Situation ergab sich von diesen Unterschieden her, und jeder Eingriff in das Gefüge war geeignet, einen Impuls in eine delikate Situation zu setzen. In der Nähe des Machtzentrums einer expansiven Macht gab es einen kulturellen Raum mit gewissen Sonderrechten. Je nach Art des Eingriffs war ein solcher geeignet, das Gefüge an sich zu verändern. Eine Brücke als Verbindungsglied war zunächst ganz allgemein geeignet, Verkehrs-, Informations- und Warenflüsse zu ermöglichen. Auch der schnelle Zugang zum osmanischen Hof bzw. der schnelle polizeiliche Zugriff hing davon ab. Aus einer Verbindung zweier städtischer Räume am Wasser konnte sich ebenso gut eine Homogenisierung, eine Neu-Akzentuierung der Gegensätze ergeben oder beides zugleich ergeben. Zwei Stadtteile, jeweils mit Mauern eingefasst, hatten ihre Eigenheiten, und an einen uneingeschränkten Verkehr war ohnehin auch im 19. Jahrhundert noch nicht zu denken. Verkehrsflüsse wurden reguliert, und die Wachtore bzw. Mautstellen stellten auch in der Moderne noch eigentliche Schleusen – Instanzen der Regulierung dar. Was wusste nun Leonardo da Vinci von dem Ort, um den es ging? Mandevilles Beschreibung der Lage von Konstantinopel war, indem sie Hellespont und Bosporus in eins setzte, eher geeignet, die geographische Konfusion zu befördern;330 und als Leonardo später – im Codex Leicester – die Meerenge von Thrakien, d.h. den Bosporus erwähnte,331 bezog er sich auf andere Quellen. In Angiolellos Memoiren hingegen, also einem Text, der auch den Ausdruck ‹Diodar› enthielt, artikulierte sich die Erfahrung eines Augenzeugen. Es gibt keinen eindeutigen Hinweis, dass Leonardo mit diesen Memoiren vertraut war, aber es war prinzipiell möglich, die Lokalität auf Basis einer konkreten Beschreibung zu kennen, auch wenn beispielsweise der Ritter Arnold von Harff, der seiner Aussage nach vor Ort gewesen war, Galata fälschlicherweise für eine
329 Ebd., S. 76. 330 [John Mandeville], Reisen des Ritters John Mandeville. Vom heiligen Land ins ferne Asien 1322–1356, hrsg. von Christiane Buggisch, Lenningen 2004 [Übers. einer mittelhochdeutschen Version], S. 65f. 331 TuA, S. 247 (CL 31v). – Für den Bosporus hatte man im Abendland auch die Bezeichnung ‹St. Georgsarm›. Vgl. [Arnold von Harff], Rom – Jerusalem – Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498), hrsg. von Helmut Brall-Tuchel und Folker Reichert, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 219 (Fn 359).
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Insel hielt.332 Angiolello kam auf den Hafen von Konstantinopel zu sprechen und gab bezüglich Lage, Verkehrswegen und noch mangelnder Infrastruktur folgenden Bericht (der für ‹Galata› das Synonym ‹Pera› verwendete):333
«Questo Porto è lungo otto miglia, et largo circa un trar d’arco;334 per mezzo Costantinopoli dalla parte del Porto vi è una Città chiamata Pera, e si passa de un luogo all’altro, con barche, et si passano in diversi luoghi. Ancora con le dette barche si passano duoi cavalli alla volta, et non volendo pagare, bisogna che pigli la volta attorno il Porto per essergli paludi, et una fiumara chiamata Despone et si fanno 12 miglia da Costantinopoli fino a Pera per terre, però si passa il detto traghetto per esserglisi non un trar d’arco. Questa Città di Pera è grande quanto è il corpo di Venetia, bene murata con le sui Torri, et sono più alte le Torri verso Terra ferma che non è quelle a Marina sopra le quali vi è una Torre grande coperto di piombo, per la qual si discuopre gran parte del mar maggiore, et altri luoghi circostanti. Ancora dalla parte di Pera capitano assai Navilii, et Navi grosse, et quasi tutti gli mercanti Italiani stanziano in Pera; qui vi sono ostarie alla Italiana; ancora vi sono monasterio di Frati di S. Francesco, di S. Dominico, di S. Benedetto, i quai luoghi sono offitiati, salvo che li Turchi non lasciano sonar campane, altramente non vi è dato impaccio, et vivono di elimosine. Ancora qui vi sono Chiese alla Greca, et Chiese d’Armeni, i quali offitiano quasi al nostro modo, cioè levano l’Ostia, et fanno altri misterii simili all’Italiana. […]»335
Über diesen Bericht hinaus sind wir sogar informiert, wie viel man für eine Überfahrt im Boot (mit oder ohne Pferd) jeweils bezahlte.336 Es war also prinzipiell durchaus möglich, über die Verhältnisse in Istanbul sozusagen auf dem Niveau eines Reiseführers informiert zu sein. Eine Unschärfe ergab sich jedoch aufgrund des Wandels der politischen Lage: Waren Galata und Konstantinopel nun als Teile eines einzigen Stadtraums zu betrachten oder als zwei einzelne Städte? In seinem Buchbesitz hatte Leonardo da Vinci Informationen verfügbar, welche die urbane Situation betrafen. Doch diese Informationen waren widersprüchlich und darüber hinaus älteren Datums. Während der eine Autor, Leon Battista Alberti, von Pera als einer ‹Kolonie› gesprochen hatte, was eher das Verständnis einer eigenständigen Stadt nahe legt, nannte ein anderer, Poggio,337 Pera einen Teil von Konstantinopel.
332 [Arnold von Harff], a.a.O., S. 219. 333 Im engeren Sinne war Pera der höhergelegene Bezirk, in dem nach und nach die Diplomaten ansässig wurden, und Galata das Hafenviertel. 334 Arnold von Harff bemaß die Breite mit ‹einem Büchsenschuss› ([Arnold von Harff], a.a.O., S. 219). 335 [Giovan-Maria Angiolello], Angiolello, historien des Ottomans et des Persans, hrsg. von Jean Reinhard, Buenos Aires o. J., S. 45f. 336 Mitler, a.a.O., S. 85. 337 [Giovanni Poggio Bracciolini], Die Schwänke und Schnurren des Florentiners Gian-Francesco Poggio Bracciolini, hrsg. von Alfred Semerau, Leipzig 1905, S. 144, Nr. 205: «Einige Genuesen von Pera, in welchem Teil von Konstantinopel die Genuesen meist zu leben pflegten, […].»
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Insbesondere Albertis Erwähnung von Pera war keineswegs geeignet, das Verlangen einer Reise dorthin zu wecken, handelte es sich doch nach seinen Worten um eine – infolge des Sklavenhandels – ständig pestverseuchte Kolonie der Genuesen.338 Man könnte angesichts dieser Unschärfe von einer Gleichung sprechen: Wer differenzierend von Galata und Konstantinopel zu sprechen in der Lage war, wusste auch um die politischen Verhältnisse, die sich am Goldenen Horn ausgebildet hatten. Und an Gewährsleuten, die in der Lage waren, diesbezüglich mündlich Auskunft zu geben, mangelte es nicht. In erster Linie kamen die in Galata ansässigen Franziskaner sowie die italienischen Kaufleute in Frage – wie sich zeigt eine Interessensymbiose – denn die ‹Magna Communità› tagte in einem Kloster der Franziskaner, in einem Raum, den man sich als den Ort vorstellen könnte, an dem man übereinkam, in der Heimat Italien nach einem fähigen Baumeister zu suchen, der eine Idee, die in der Luft lag oder konkret von Seiten des Sultans aufgegriffen worden war, nach Italien zu tragen. Sultan Mehmed II. hatte sich (anders als sein Vater) nicht als ein Brückenbauer zu zivilen Zwecken hervorgetan.339 Aber sein Sohn, Bayezid II. sollte es dem Großvater nachtun und als Herrscher in Erscheinung treten, dem an Nützlichkeitsbauten lag, der um die Infrastruktur besorgt war. Seit 1481 regierte also ein Sultan, der an funktionierenden Verkehrswegen interessiert war und als ein Brückenstifter in Frage kam. Und um 1501 gab es noch keine Brücke. Es verkehrten, wie von Angiolello beschrieben, die Boote, und man bezahlte für die Überfahrt, wenn man nicht einen Umweg reiten wollte. Damit ist ein politischer, sozialer und stadtplanerischer Rahmen eines urbanen Problems abgesteckt. Irgendwann vor oder nach der Jahrhundertwende muss diese Problemstellung an Leonardo herangetragen worden oder zumindest in seiner Gegenwart artikuliert worden sein. Und wie gewohnt sah sich Leonardo da Vinci von einer Problemstellung herausgefordert zu einer Reaktion. 1) Ein Aufenthalt in Porto Cesenatico Im Jahr 1502 ist Leonardo da Vinci paradoxerweise an vielen Orten fassbar und doch wieder nicht. Wo er zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, wird uns verschiedentlich bekannt; er selbst hat es in seinen Notizen festgehalten.340 Aber es ist nicht leicht fassbar, in welchen Verhältnissen er jeweils steht, was ihn bewegt und umtreibt. Es ist auch das Jahr der Vollendung seines fünfzigsten Lebensjahres, und die Biographik ist gewohnt, im Hinblick auf die Jahre 1500 und folgende von einem ‹unsteten Leben› zu 338 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von Max Theuer, Darmstadt 1988 [Nachdruck der Ausgabe von 1912], S. 38: «Pera, eine Kolonie der Genuesen am Schwarzen Meere, wird ständig von der Pest heimgesucht, weil dort täglich Sklaven hingebracht werden, die sowohl durch ihre geistige Verkommenheit, als durch ihre Lage und ihren Schmutz verseucht und krank sind.» 339 Vgl. Babinger, Baugesinnung, a.a.O., S. 173; ders., Mehmed der Eroberer, a.a.O., S. 500. 340 Vgl. zum Beispiel TuA, S. 892ff. (Daten).
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sprechen.341 Es hat den Anschein, ohne dieser psychologistischen Deutung allzu viel Gewicht beizumessen, dass Leonardo sich treiben lässt. Warum man ihn – spätestens im Sommer 1502 – in den Diensten Cesare Borgias antrifft, steht nicht fest. Vielleicht hat es ihn gereizt, einmal als Militäringenieur und Festungsinspizient zu wirken, vielleicht hat man ihn dazu gedrängt, um dem vorderhand erfolgreichen Aufsteiger von Seiten der Florentiner Republik den guten Willen zu bekunden. Und auch eine Mittellösung ist in diesem Zusammenhang erwogen worden: Leonardo ist demnach das Auge von Florenz im Umfeld des Valentino, er ist für einmal – und nolens vorlens vielleicht – ein Nachrichtenmann. Machiavelli, der kühle politische Kopf vor Ort, leiht ihm demnach sein Ohr.342 Auch über die Umstände der Beendigung dieser Betätigung sind wir im Unklaren,343 und es ist letztlich bloß festzuhalten: Am 6. September 1502 um 15 Uhr befindet sich Leonardo da Vinci in Porto Cesenatico, hat die dortigen Bauvorhaben vor Augen, schreibt und zeichnet in eines seiner handlich kleinen Notizbücher und bringt, höchstwahrscheinlich an eben diesem Tag, zu Papier, wie er sich die Lösung der Bauaufgabe am Goldenen Horn vorstellt. Unter die Skizze einer Brücke, die eigentlich aus zwei Skizzen, einer Draufsicht und einer Seitenansicht besteht – einer Brücke, unter der ein Schiff durchzufahren scheint – schreibt er, in eben jenem Duktus, in dem er auch die Befestigung des Hafens reflektiert:344 «Brücke von Pera nach [in?] Konstantinopel · 40 braccia breit, 70 braccia hoch über dem Wasser, 600 braccia lang, d.h. 400 über dem Meer und 200 an Land, wo sie sich selbst ‹schultert› [‹stützt›; ‹in sich selbst verankert ist› bzw.: ‹ein Widerlager hat›; Übers. DS].»345
Aus Skizze und Beischrift lässt sich ersehen: Über zwei Aspekte eines Bauvorhabens ist er gut im Bild. Die Maße dieser Ideenskizze sind auf den Ort bezogen, und auch die verkehrsplanerische Problematik scheint ihm bekannt zu sein. Ein Schiff, mit gesetzten Segeln, fährt unter der Brücke hindurch, die zwei Orte am Wasser verbindet. Allein: Auch die schon erwähnte Unschärfe scheint sich dieser Aufzeichnung eingeschrieben zu haben, doch dieser Schein könnte auch trügen, denn es handelt sich letztlich um ein Problem der Übersetzung: Zeichnet Leonardo die ‹Pera-Brücke in Konstantinopel›; oder die ‹Brücke von Pera nach Konstantinopel›?
341 Vgl. B, S. 361ff. oder N, S. 421. 342 So N, S. 437. 343 Reti dachte an einen Loyalitätskonflikt: Leonardo sah sich französischen Auftraggebern und Dienstherren verpflichtet; und das Verhältnis zwischen den Franzosen und Cesare Borgia hatte sich verschlechtert (siehe Ladislao Reti, Leonardo da Vinci and Cesare Borgia, in: Viator 4 (1973), S. 333–374). 344 Das Motiv der Hafenbefestigung bzw. der Hafeneinfahrt kommt auch in Leonardos Rebuszeichnungen vor (siehe L-A, S. 303f. bzw. W 12694 und 12699). 345 Ms. L 66r (in der Umschrift von Augusto Marinoni: «Ponte da Pera a Gostantinopoli. Largo 40 braccia, alto dall’acqua braccia 70, lungo braccia 600, cioè 400 sopra del mare e 200 posa in terra, facendo di sé spalle a se medesimo.» [Leonardo sperrt nach dem letzten Wort die Zeile mit einem typischen Längsstrich, der sozusagen auch einige ‹seismographische› Ausschläge hat].
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4 Leonardos zeichnerischer Entwurf einer Brücke zwischen Konstantinopel und Pera (Foto: Autor nach/mit Faksimile von Ms. L)
Die neue Bezeichnung ‹Istanbul› hat Leonardo nicht; und es wäre wohl auch übertrieben, aus der Richtungsangabe einen Hinweis zu entnehmen, von welcher Seite letztlich die Initiative ausgegangen ist, dieses Bauvorhaben voranzubringen. Festzuhalten aber bleibt: Zwei Traditionen der Übersetzung haben sich etabliert, und zwar bislang ganz unbemerkt:346 Jean Paul Richter hatte – wahrscheinlich doch irrigerweise – die heute moderner anmutende Variante gewählt. Das Goldene Horn ist heute von mehreren Brücken überspannt, so dass im Rahmen eines allumfassenden Stadtraumes von einer Galata-Brücke in Istanbul gesprochen werden kann. Aber vermutlich hatte Leonardo doch eher die Verbindung zweier sich auch durch ihre Ummauerungen vom Wasser 346 Richter übersetzte (1. Aufl.): «The bridge of Pera at [sic] Constantinople, 40 braccia wide, 70 braccia high above the water, 600 braccia long; that is 400 over the sea and 200 on the land, thus making its own abutments.» Ähnlich TuA, S. 246. – Bei Reti findet sich die Übersetzung ‹nach Konstantinopel› (Ladislao Reti, Elemente der Maschinen, in: Silvio A. Bedini et al., Leonardo. Künstler, Forscher, Magier, München 2002, S. 266). So auch bei Schettini (Franco Schettini, Istanbul / Costantinopoli. Un ponte di Leonardo sul Corno d’Oro, in: Parametro 10 (1972), S. 68; gemäß der dort auch gegebenen englischen Fassung des Aufsatzes); Karl-Gunnar Olsson, The Vision of a Bridge, in: ALV 6 (1993), S. 216. – Stüssi, a.a.O., S. 113, sowie N, S. 449, geben die Seite spiegelverkehrt (und dergestalt in guter Lesbarkeit). – Siehe auch P II, S. 212ff.
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absetzender Einheiten im Sinn, die noch keinen (relativ) einheitlichen Raum bildeten, wie es heute der Fall ist. Leonardo musste sich fast zwingend auch mit der städtebaulichen Situation befasst haben. Denn die Brücke zeichnete sich nicht nur als Verbindungsglied dem Orte ein. Sie ruhte über einen Gutteil ihrer Länge auf dem Lande auf. Ihre y-förmige Doppelzufahrt347 ragte in zwei Stadträume hinein, und Leonardo griff dergestalt in eine Situation viel umfassender ein, als dass er bloß eine Verbindung schuf. Welche Gebäude lagen an den Ufern, jenseits der Mauern? Welche mussten allenfalls dem Projekt gar weichen? Doch ob und wie Leonardo da Vinci sich im Hinblick auf die urbanen Gegebenheiten tatsächlich in ihrer Gesamtheit auch Rechenschaft abgelegt hat, können wir nur vermuten. Unbekannte Zwischenträger Wann und wie Leonardo die Problemstellung bekannt geworden ist, wissen wir nicht, obschon sich diesbezüglich eine Fülle von Theorien verbreitet hat. Je eingehender man die Beziehungsgeflechte zwischen den Gesellschaften der italienischen Renaissance und der Türkei untersucht – und es handelt sich um sehr vielschichtige Beziehungen –, desto mehr Möglichkeiten wird man gewahr. Manche Autoren haben sich festgelegt auf bestimmte Möglichkeiten (ohne indessen ihre Behauptungen immer zu beglaubigen).348 Aber letztlich kann bloß gesagt werden: Es mangelte nicht an Möglichkeiten, mit dieser Problemstellung bekannt zu werden, die Leonardo durch irgendeinen Zwischenträger vermittelt worden ist. Es kommen Gesandte in Fragen, Wanderprediger, Kaufleute, auch ‹Weltenbummler›.349 Es könnten osmanische Gesandte gewesen sein, schon zu Mailänder Zeiten, oder Italiener, in Diensten von Florenz oder Venedig oder auch von Genua.350 Der Aufzeichnung ist dies nicht zu entnehmen, so wie darin auch kein schlüssiger Hinweis darauf enthalten ist, ob Leonardo gewissermaßen bei Gelegenheit ein 347 Diese treffende Formulierung bei Heydenreich (B/H, S. 20), der – in Hinblick auf die Statik – auch von ‹schwalbenschwanzförmigen Auffangbögen› spricht (ebd., S. 19f.). 348 Oft hallt in der Literatur Solmis Hinweis wieder, demzufolge sich Gesandte des Sultans im Umfeld des Borgia-Papstes Alexander VI. aufhielten (ohne Quellenangabe bei Edmondo Solmi, Leonardo da Vinci e la Repubblica di Venezia novembre 1499–aprile 1500, in: Archivio storico lombardo 35 (1908), S. 353). – Kissling hat im Übrigen darauf hingewiesen, dass Cesare Borgia offenbar einmal – über einen Zwischenträger – einen diplomatischen Kontakt zu den Osmanen zu etablieren versuchte (Hans Joachim Kissling, Dissertationes Orientales et Balcanicae collectae II. Sultan Bajezid II. und der Westen, München 1988, S. 102). 349 1502 ist im Übrigen auch in etwa das Jahr, in dem der nachmalige Berichterstatter Menavino, in die Sklaverei verbracht, vor Sultan Bayezid II. erschien (siehe AuA I, S. 255, Fn 3; und [Johann bzw. Giovanantonio Menavino], Tuerckische Historien […], Frankfurt a.M. 1563). 350 Im Frühjahr und Sommer 1502 stand die Republik Florenz in einem diplomatischen Verkehr mit Sultan Bayezid II. Babinger hatte, allerdings ohne Gehör zu finden, darauf aufmerksam gemacht (B/H, S. 9f.). Es scheint sich hier jedoch eine naheliegende Möglichkeit der Kontaktnahme abzuzeichen, falls nicht überhaupt immer wieder und auf verschiedenen Wegen nach fähigen Baufachleuten gesucht worden ist. Denn aufgrund der urbanen Situation in Istanbul kann angenommen werden, dass verschiedene Teile der Stadt- bzw. Stadtgesellschaft Interesse an einem solchen Bau hatten.
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‹altes› ungelöstes Problem nochmals aufnahm, oder ob er sich in eben jenem Sommer, im Umfeld des Valentino, durch die Aufgabe herausgefordert sah.351 Es deutet sich bloß an, dass die Brücke über das Goldene Horn ihn im Zusammenhang mit den Gegebenheiten in Porto Cesenatico beschäftigte, etwa weil es um die Spezifik bestimmter Gerüstbauten ging oder ihn das Problem der Gestaltung und Befestigung eines Hafens beschäftigte.352 Indem er vermerkte, dass sich die Brücke ‹selber schulterte›, deutete er schließlich auch an, dass er sich dem Problem auch von der theoretischen Seite der Baustatik her genähert hatte, und dass er in diesem Rahmen den Brückenbau soweit möglich von einer theoretischen, mathematisch und physikalisch gestützten Seite her betrachtet hatte. Es ging nicht nur um ein Design. Für sich genommen – so ist die Zeichnung vor 1952 gedeutet worden – vermittelt sich durch die Aufzeichnung in Ms. L bloß, dass Leonardo sich theoretisch mit einem Problem beschäftigt hat. Dass es um mehr ging als um die gedankliche Lösung einer beliebigen Herausforderung, von der man eben sprach, wurde erst nach 1952 zu einer zunächst eher widerwillig zur Kenntnis genommenen Gewissheit: Leonardos Reaktion auf eine Aufgabenstellung hatte sich nicht nur auf eine gedankliche Lösung beschränkt. Seine Reaktion war sozusagen – und mindestens – zweistufig gewesen. 2) Ein Angebot an den osmanischen Hof Es entspricht einer intuitiven Logik, dass Leonardo dem osmanischen Hof erst ein Angebot unterbreitete, nachdem er – in Porto Cesenatico – die Brückenskizze aufs Papier gebracht hatte. Doch sicher ist das nicht. Wir wissen lediglich, dass ein an einem 3. Juli geschriebener Brief offenbar aus Genua nach Istanbul verbracht worden ist, wo er von osmanischen Hofbeamten ins Türkische übersetzt wurde. Es scheint sich nicht um eine Antwort auf eine persönlich an Leonardo gerichtete Anfrage zu handeln, sondern eher um ein aus eigener Initiative, aber auf ganz bestimmte Problemstellungen hin ausgerichtetes Schreiben,353 das zwar hauptsächlich vom Brückenbau handelt, aber nicht ausschließlich. An erster Stelle genannt ist vielmehr das Problem des Mühlenbaus, und auch die Problematik des Auspumpens von Schiffen kommt zur Sprache. Da sich mehrere Bezüge zum Inhalt von Ms. L ergeben (und dieses wiederum der Borgia-Zeit zugeordnet werden kann, obschon es auch frühere Einträge enthält), kann man davon ausgehen, dass der Brief entweder im Jahre 1502 oder 1503 geschrieben worden ist. Aber auch viel frühere Datierungen sind schon erwogen worden, so dass die Brückenskizze als ein viel späterer Reflex auf ein ‹altes› Problem erscheinen kann.354 351 Aus dem Brief an den osmanischen Hof, der von Genua aus abging (siehe nächster Abschnitt) ist allerdings kein Hinweis zu gewinnen, dass die Angelegenheit auf einen früheren Genua-Aufenthalt zurückgeht. 352 L-A, S. 303f. 353 So auch Heydenreich (B/H, S. 13ff.). 354 Carlo Pedretti, Leonardo in Sweden, in: ALV 6 (1993), S. 210 (bezüglich Genua-Aufenthalt vom 12.3.1498).
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Auf dem Wege der Übersetzung, die teilweise den Charakter einer Paraphrase zu haben scheint, könnte sich der eigentliche Inhalt auch verdunkelt haben; eine Fälschung ist aber wohl ausgeschlossen, denn ein Fälscher hätte nicht nur den osmanischen Kanzleistil so überzeugend beherrschen müssen, dass ein Experte wie Franz Babinger getäuscht wurde, sondern auch ein ausgewiesener Leonardist sein müssen – fähig, die Bezüge zu den übrigen Aufzeichnungen zu schaffen. Dass sich diese Fähigkeiten jemals in einer Person oder einem Team kombinierten, ist so unwahrscheinlich, dass trotz der Irritation über den Inhalt doch eine Authentizität des Schreibens anzunehmen ist. Es lautet (nach der Transkription von Babinger): «Abschrift eines Briefes, den der Lionardo geheissene Ungläubige aus Genua gesandt hat. Ich, Euer Diener, habe beim Nachsinnen über das Problem der Mühle, mit Gottes Beistand ein Mittel gefunden, dass ich mit Anwendung eines Kunstgriffes eine Mühle [, die] ohne Wasser, aber nur mit Wind [arbeitet,] herstelle, in der Weise, dass man sie zustande bringt mit weniger als eine Mühle im Meere. Sie ist nicht nur bequemer für die Leute, sondern sie mahlt auch, wo sie gerade steht. Außerdem hat mir Gott – Er sei hochgelobt! – eingegeben, dass ich mit einem Kunstgriff (Kniff) das Wasser ohne Strick und Seil mittels einer ‹Maschine› (dolab) aus dem Schiff herausziehe, die sich von selbst dreht. Ich, Euer Sklave, habe vernommen, dass Ihr beabsichtigt habt, eine Brücke von Galata nach Stambul zu errichten, dass Ihr sie aber nicht gemacht habt, weil sich kein Fachmann (Kenner) fand. Ich, Dein Sklave, weiß es. Ich werde sie aufführen so hoch wie einen Bogen (jaj bigi), dass niemand sich einverstanden erklärt, darüber zu schreiten, weil sie so hoch sein wird. Aber ich habe daran gedacht, dass ich einen Bretterverschlag (čatma) herstelle, hernach das Wasser heraushole und [sie] auf Pfähle setze. So mache ich es, dass ein Schiff mit (gespannten) Segeln unten durchfahren kann. Und ich werde eine Zugbrücke errichten in der Art, dass, wenn man will, bis zur Küste nach Anatolien gelangen kann. Da aber das Wasser dauernd in Bewegung ist, so werden die Ränder abgenutzt. Daher werde ich einen Kunstgriff anwenden, so dass jene Wasser unten durch ablaufen und dem Rande keinen Schaden verursachen. Darnach können die nach Dir kommenden Sultane sie mit geringen Kosten herstellen. So Gott will, werdet Ihr diesen Worten Glauben schenken und Weisung erteilen, indem Ihr diesen Euren Diener stets zu Euren Diensten wähnt. Dieser Brief ward am 3. des Monats Juli (Ioulios) geschrieben. Es ist vier Monate her.»355
Die Irritation in Anbetracht gewisser Formulierungen in diesem Schreiben entfällt weitgehend, wenn man annimmt, dass formelhafte Wendungen Zutaten der Übersetzer darstellten, und wenn man ‹Sklave› durch die Wendung ‹untertänigster Diener› ersetzt. Vollständigkeit scheint nicht gegeben zu sein, das Angebot ist jedenfalls nicht situiert
355 Zitiert nach B/H, S. 4, in Übernahme aller Erläuterungen im Text, aber ohne Übernahme der von Babinger gesetzten Fußnote zu ‹Genua›.
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oder auf eine Ausschreibung hin ausgerichtet. Leonardo bezieht sich vielmehr auf das Hörensagen (‹ich habe vernommen›). Angesprochen ist der Sultan, wie sich aus den Schlusswendungen (‹die nach Dir kommenden›) ergibt.356 Und, nachdem Carlo Pedretti einen Vorschlag gemacht hat, wie Leonardo sich die Überbrückung des Bosporus vielleicht vorgestellt hat, könnte auch die Irritation angesichts dieses vermeintlich gigantomanen Vorhabens ad acta gelegt werden.357 Bezüge zwischen einem türkischen Satzgebilde (in lateinischer Schrift)358 und Wortbrocken in arabischen Buchstaben, die sich in Leonardos Aufzeichnungen auch finden und Babinger nicht bekannt gewesen waren, lassen sich nicht aufweisen, obschon das Wort ‹Erfindung› oder ‹Kniff› offenbar in beiden Fällen im Spiel ist. Die Windmühle stellt ein weiteres Sonderproblem der Leonardo-Forschung dar, das geeignet ist, auf ost-westliche Verhältnisse zu sprechen zu kommen:359 Leonardo scheint sich nicht bewusst gewesen zu sein, dass es einen Typus der östlichen Windmühle gab und dass es in bzw. bei Galata Windmühlen gab (jedenfalls gemäß einer Karte Konstantinopels aus dem frühen 15. Jahrhundert).360 Sein Vorschlag implizierte, dass es in Galata überhaupt keine Windmühlen gab. Er präsentiert einen Mühlentypus, der gegenüber der Wassermühle vorzuziehen war, und er konfrontierte seine Idee somit nicht mit dem östlichen Typus (mit einem horizontal angebrachten Rad). Seine sozusagen zeichnerisch beschriebenen Entwürfe in Ms. L, auf deren Eigenheit er im Rahmen des Schreibens nicht zu sprechen kommt, stellten höchstwahrscheinlich eine Anverwandlung eines antiken, durch Heron überlieferten Konstruktionsprinzips dar und nahmen gleichzeitig den holländischen Typus der Windmühle mit einer beweglichen Haube vorweg.361 Was 356 Als Brückenstifter kamen auch Wesire in Frage, wie etwa jener Ibrahim Pascha, der Babinger zufolge in der Hauptstadt als Stifter von Brücken in Erinnerung blieb (AuA I, S. 105), aber um das Jahr 1500 herum offenbar als Wesir abgelöst worden ist. 357 Pedretti, Sweden, a.a.O., S. 210 (‹gleitende Brücke› statt Zugbrücke). Wie eine ‹Zugbrücke› zu bauen war, hatte im Übrigen Bramante (‹Donnino›) Leonardo gezeigt (TuA, S. 655). – Die Irritation ob des Hinweises (‹dass niemand sie zu überschreiten wagt›) kann als ausgeräumt gelten, wenn man annimmt, dass es sich um eine formelhafte Wendung handelte, die schlicht auf die beeindruckende, auch gewöhnungsbedürftige Höhe abhob. 358 Sergio Noja, Una frase in turco di mano di Leonardo nel Codice Atlantico, Milano 1976 [Istituto Lombardo, Rendiconti classe di Lettere e Scienze Morali e Storiche 110 (1976)], S. 222–230. 359 Eine kulturvergleichende Perspektive bringt ein neuerer Beitrag zur Geltung (Dietrich Lohrmann, Von der östlichen zur westlichen Windmühle, in: Archiv für Kulturgeschichte 77 (1995), S. 1–30). Leonardos einen technologischen ‹Sprung› darstellende Entwürfe in Ms. L finden Erwähnung, werden aber nicht in der Ausführlichkeit behandelt wie bei Heydenreich. – Vgl. auch DoSB, Bd. 8 (Art. ‹Leonardo da Vinci›), S. 211 (bezüglich des ‹brake wheel›). 360 Bezüglich der nicht im Original erhaltenen so genannten Buondelmonti-Karte und ihrer eventuellen Relevanz für die Renaissancekunst siehe Michael Vickers, Mantegna and Constantinople, in: The Burlington Magazine 118 (1976), S. 683 [Literatur] und S. 685 (Abbildung). Eine Windmühle westlichen Typs ist außerhalb der Mauern von Pera repräsentiert (siehe auch die Nachzeichnung in Babinger, Mehmed der Eroberer, a.a.O., S. 89). 361 Heydenreich (B/H, S. 14) verweist auf Ms. L 34v–36r; 90r/v, 91r (ein zweiter Mühlentypus); Scaglia verweist in ihrer Synopse nur auf Ms. L 35v sowie – neu – auf CM II 43v und auf diverse Belege bei Taccola und Francesco di Giorgio Martini (Gustina Scaglia, Une typologie des mécanismes et des ma-
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Leonardo mutmaßlich im Sinne hatte anzubieten, war also kein Re-Import, sondern die Weiterentwicklung eines antiken, bisher nicht auf den Mühlenbau übertragenen Konstruktionsprinzips. Dieses Angebot erfolgte wahrscheinlich – es ist zu wiederholen – in Unkenntnis des Stands der Technik im Nahen und Mittleren Osten. Das Angebot einer Pumpe schließlich hat nie sehr viel Beachtung gefunden.362 Allerdings deutet sich in dieser vermeintlichen Marginalität ein konkreter Kontext an, in dem die Idee hätte Anwendung finden können, und dies war der Schiffbau der Osmanen, das Projekt des Baus einer Flotte, und zwar einer Kriegsflotte. Der Sinn: Dem Leben eine andere Richtung geben? Welchen Sinn hatte nun, aus Sicht des ungefähr fünfzigjährigen Leonardo, dieses Angebot? Seit gut fünfzig Jahren versucht man, sich auf diese Frage eine Antwort zurechtzulegen, und es ist zunächst festzuhalten, dass diese Antwort unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob man das Schreiben nun auf das Jahr 1502 oder 1503 datiert (Babinger und Heydenreich hatten – in ihrem Kooperationswerk – unterschiedliche Standpunkte vertreten).363 Die frühere Datierung führt zu der Anschlussfrage, wie es sich mit dem Dienstverhältnis vertrug, in dem Leonardo damals stand. Deutete sich ein inneres Aufkündigen der Loyalität zu Cesare Borgia an, indem Leonardo – auch grenzüberschreitend – nach Aufträgen und Tätigkeitsfeldern suchte?364 War das Angebot überhaupt ernst gemeint oder bloß ein Versuchsballon (auch in seiner utopischen Konnotation einer gigantischen, einbogigen Brücke von ungekannter Spannweite)? Oder handelte es sich um ein Handeln im Auftrag, so dass im Hintergrund ein Auftraggeber vermutet werden muss, dem es um gute Beziehungen zu den Osmanen ging?
chines de Léonard, in: Léonard de Vinci, ingénieur et architecte, [Kat.] Montréal 1987, S. 158). Vgl. in Hinblick auf die Codices Madrid auch L-A, S. 147. 362 Auch in dieser Hinsicht ist der sehr fundierte Beitrag von Heydenreich noch heute grundlegend (B/H, S. 14f.). Er verwies auf eine im Ms. L vorhandene Schiffspumpe (25v; ein Hebelpumpwerk evtl. auf 24v), die in seinen Augen allerdings kein sonderlich originelles Angebot darstellte, und im Zusammenhang mit der Brücke auch auf Techniken des Gerüstbaus (‹Pfahlgerüste zur Wassereindämmung›; Ms. L 19r, 28r; dazu im Zusammenhang auch 33r). Allerdings brachte Heydenreich Leonardos Angebote nicht in Zusammenhang mit den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Verhältnissen im Osmanenreich. Es handelte sich – unter dem Titel einer ‹kunstgeschichtlichen Ergänzung› – um einen sehr fundierten technikgeschichtlichen Beitrag. – Scaglia versammelt sehr viele Belege in Hinblick auf diverse Varianten von Pumpmechanismen, verzeichnet aber in diesem Zusammenhang keine Belegstellen aus Ms. L (Scaglia, a.a.O.). Vgl. des Weiteren das Stichwort ‹Installations portuaires› in ihrem Index. 363 Babinger optierte für 1503, Heydenreich für 1502. 364 Am 26.8.1502, im Übrigen, hielt sich Cesare Borgia in Genua auf (siehe Ivan Cloulas, Die Borgias. Biographie einer Familiendynastie, München 1993, S. 352).
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Letztere Möglichkeit führt in den gedanklichen Engpass, dass ein solcher Auftraggeber Leonardo ja allenfalls verlor, wenn er ihn in dieser Mission (erneut als einen Nachrichtenmann?) in den Orient schickte. Wie ernst das Angebot gemeint war, wird sich nicht mehr klären lassen, aber dass sich Leonardo durchaus routinemäßig und seit jeher nach allen Seiten hin umsah, war nicht unbedingt eine Eigenheit, sondern einfach ein Gebot der Verhältnisse, weil auch von Auftraggeberseite keine dauerhafte Sicherheit zu erwarten war.365 Leonardos ‹Karriere› stellt sich dar als eine Abfolge von ‹Arbeitskonflikten›, die sich nicht bloß aus der ihm seit jeher unterstellten Schwäche erklärten, eine Sache auch zu Ende zu bringen. Es fällt leichter, das Schreiben in das Jahr 1503 zu datieren,366 jedenfalls wenn man bereit ist, das Projekt einer ‹Orientreise› in einem Konflikt mit der Porträtierung der Ehefrau des Seidenhändlers Francesco del Giocondo zu sehen. Denn der Auftrag zur Verfertigung der Mona Lisa (ein Gemälde, das im Mittelgrund zur Rechten bekanntlich auch eine Brücke zeigt) dürfte Leonardo, folgt man Frank Zöllner, im Frühjahr 1503 (oder gar schon im Dezember 1502) erreicht haben.367 Wenn Leonardo sich also mit dem bloßen Gedanken trug, nach Juli 1503 in die Türkei zu gehen, trat dieser Gedanke – wenn er denn ernst gemeint war und nicht bloß einen symbolischen ‹Fluchtweg› darstellte (der real das Bleiben erleichterte) – mit Leonardos sonstigen Projekten, auch der Freskierung einer Wand im Florentiner Ratssaal, in Konflikt. Da dem Bauvorhaben im Rahmen der Leonardo-Literatur aber seit jeher ein Sonderstatus zugekommen ist, hat man sich auch an die Möglichkeit dieser Konfliktsituation bisher nicht gewöhnt. Es fällt schwer, Leonardo da Vinci ausgerechnet diejenigen Projekte fliehen zu sehen (auch wenn es sich bloß um eine Möglichkeit handelt), die zu seinem Ruhm so entscheidend beigetragen haben. Doch das Bauvorhaben stellt der Möglichkeit nach eben den ‹Fluchtweg› aus dem symbolischen Zentrum der Renaissance dar. Der vom jungen Raffael verehrte Leonardo, ein Lehrer in der ‹Schule der Welt›, hat, wie man annehmen muss, immerhin mit dem Gedanken gespielt, Italien – vielleicht bloß für eine Weile – den Rücken zu kehren. Es ist nicht dazu gekommen. Aber auch ein Ansinnen stellt einen historischen Sachverhalt dar, der aus einer Darstellung des Zentrums der Renaissance nicht einfach weggelassen werden kann. Das Sonderproblem ‹Brücke über das Goldene Horn› ist in die Darstellung vielmehr zu integrieren. Es ist zurückzublicken und zu fragen, wie sich das Angebot an die Osmanen mit Leonardos Tätigkeit in Venedig (und einer Loyalität zu Luca Pacioli) verträgt. Denn als 365 Man vergleiche hier die verdienstvollerweise erznüchterne Darstellung des führenden deutschen Leonardisten: Frank Zöllner, Karrieremuster. Das malerische Werk Leonardo da Vincis im Kontext der Auftragsbedingungen, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 26 (1995), S. 57–73. 366 Es summieren sich gewissermaßen die in der Romagna empfangenen Anregungen (Windmühlen, Brücken). – Es verträgt sich der Gedanke eines Weggehens auch leicht mit einer Ernüchterung, die man einer Erfahrung mit dem Valentino als eines Inbegriffs des Bösen unterstellen kann (zu dem berühmten Zugriff auf die Verschwörer gegen Borgia kommt es im Dezember 1502 in Senigallia). Es ist jedoch stets im Bewusstsein zu halten, dass es sich – auch hier – um Versuchsanordnungen handelt, die aus den einzelnen Quellenbefunden eine schlüssige und kohärente Erzählung zu formen versuchen. 367 Z I, S. 193.
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Ingenieur, der die Bevölkerungsverluste im Blick hatte, die sich infolge der Raids gegen das venezianische Festland ergaben (Ludovico Sforza hatte die Osmanen diesbezüglich angestachelt),368 war er geneigt, sozusagen die Seite zu wechseln. Aber es hat nicht den Anschein, dass sich Leonardo im Hinblick auf die Aufträge, die er annahm, jemals an der politischen Großwetterlage orientierte, 369 Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass Leonardo noch zur Zeit des türkisch-venezianischen Krieges, der erst 1503 formell beendet wurde, in die Türkei gegangen wäre, der osmanischen Flotte zuarbeitend, nachdem er erst kurz zuvor das Friaul gegen die Einfälle der Osmanen zu sichern bestrebt war. Dieser Befund spricht wohl am eindeutigsten für eine Datierung des Schreibens in das Jahr 1503 – mit den oben beschriebenen Konsequenzen. 1504 allerdings dürfte sich die Sache für ihn erledigt haben; es standen andere Prüfungen bevor. Leonardos Vater starb in diesem Jahr, und ein unerfreulicher Erbschaftsstreit bahnte sich an. Die Arbeit am Fresko im Ratssaal stand an, und ein entsprechender Vertrag war am 4. Mai 1504 besiegelt worden (der Auftrag datierte auf Herbst 1503).370 Ob Leonardo noch eine Antwort erreichte, ob Sultan Bayezid II. das Schreiben als utopisch abtat (wie man vermutet hat) oder ob die Angelegenheit in der Kanzlei versandete – wir wissen es nicht.371 Der Sultan, dies ist immerhin bekannt, begann in eben diesem Jahr zu kränkeln, und in der Sache tat sich – bis ins 19. Jahrhundert hinein – schlicht nichts, wenn sich auch im Jahre 1504 erstmals das Erscheinen von Leonardos großem Konkurrenten Michelangelo Buonarroti ankündigte. Auch er trat – nach und nach – in Sachen einer Brücke auf den Plan. 3) Verräterische Worte – Tommaso di Tolfo schreibt an Michelangelo Das Jahr 1504 ist das Jahr der Aufstellung des David,372 es ist so gesehen auch das Jahr des Michelangelo Buonarroti. Obschon ihn seine nachmaligen Biographen erst auf das Jahr 1506 mit der Brücken-Angelegenheit in Zusammenhang bringen, betritt er nun 368 In den Jahren 1499 und 1500 führte der Wesir Iskender Pascha, der genuesischer Abkunft war, Streifzüge in die Gegend an, die Leonardo 1500 am Isonzo-Fluss zu sichern versuchte. Vgl. Hedda Reindl, Männer um Bâyezîd. Eine prosopographische Studie über die Epoche Sultan Bâyezîds II. (1481–1512), Berlin 1983, S. 254f.; B, S. 366. 369 Auch Cesare Borgia stand Florenz teilweise feindselig gegenüber. 370 Vgl. die Chronologien bei Thomas Krämer, Leonardo – Michelangelo – Raphael. Ihre Begegnung 1504 und die «Schule der Welt», Stuttgart/Berlin 2004, S. 156ff. bzw. 144ff. (bezüglich des David). – Der Auftrag an Michelangelo, ebenfalls ein Fresko zu liefern, erging demnach im August 1504. 371 Alberti de Mazzeri malte sich aus, dass es unter einem Papierberg der Bürokratie versunken sei (Silvia Alberti de Mazzeri, Leonardo da Vinci. Die moderne Deutung eines Universalgenies, München 1995 [ital. Originalausgabe 1983], S. 231). 372 Im Zusammenhang mit der Aufstellung des David ist interessanterweise ein Bezug zu Genua gegeben. Als die berühmte Kommission zusammentrat, die über die Aufstellung befinden sollte, fehlte Andrea Sansovino, der sich zu diesem Zeitpunkt in Genua aufhielt. Die Absenz ist im Protokoll vermerkt (Giovanni Gaye, Carteggio inedito d’artisti dei secoli XIV., XV., XVI., 3 Bd., Firenze 1839–1840, Bd. 2, S. 456; Randnotiz neben Andreas Namen: «è a Genova»).
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die Szenerie. Keiner seiner nachmaligen Biographen dürfte es geahnt haben, aber heute ist uns der im Jahre 1519 geschriebene Brief eines gewissen Tommaso di Tolfo bekannt, der einen Rückbezug auf – etwa – das Jahr 1504 enthält. Einen Rückbezug, den der Schreiber zwar unter einen gewissen Vorbehalt gestellt hat, der aber in unserem Zusammenhang auf alle Fälle von größter Bedeutung ist. Es wirft dieser Brief in einem mehrfachen Sinne Licht auf unser Thema. Es handelt sich um eine Quelle, die unter nicht weniger als vier Gesichtspunkten zugleich interessant ist: im Hinblick auf das, was darin gesagt wird, was darin bloß angedeutet ist, was verschwiegen wird und was in einer unwillkürlich verräterischen Weise Licht auf Aussagen wirft, die andere Quellen über Michelangelo machen. Es sei dieser Brief vom 1. April 1519 daher zuallererst, in voller Länge und in Übersetzung, zitiert: «Teurer und geehrter Michelangelo. In der vergangenen Zeit habe ich Euch nicht geschrieben, weil nichts vorgefallen ist. Die Veranlassung zu diesem Schreiben ist, dass, als ich vor etwa fünfzehn Jahren mich dort mit Euch einige Male im Hause des Gianozo Salviati unterhielt, Ihr, wenn ich mich recht erinnere, den Wunsch äußertet, hierher zu kommen und dieses Land zu sehen; ich riet Euch sehr davon ab, weil zu jener Zeit ein Herr regierte, der keine Freude an Kunstwerken irgend welcher Art hatte [il qualle non si dillectava di fighura di nesuna sorta], vielmehr sie hasste. Das Gegenteil hiervon ist unser jetziger erlauchtester Herr. In den vergangenen Tagen gelangte die Statue einer nackten Frau, die liegend das Haupt auf dem Arm stützt, in seine Hände und, wie ich höre, war ihm dies eine große Genugtuung [molto li sodisfé]. Diese Statue hatte Baldinacio degli Allesandri in seinem Hause und ich weiß nicht, woher er sie erhalten, doch scheint sie mir Dutzendarbeit. Meine Schlussfolgerung ist nun diese: dass ich Euch, falls Ihr noch der gleichen Gesinnung wie damals seid, raten würde, sogleich hierher zu kommen, denn Ihr würdet hier gerne gesehen werden, und es geschähe ohne Verlust für Euch, vielmehr zu Eurem Vorteil; und dies verdient Glauben, denn wenn ich wüsste, es wäre anders, würde ich Euch nicht davon schreiben. Und wenn Ihr daran denkt zu kommen, so heißt es nicht Zeit verlieren, sondern gleich nach Empfang dieses [Schreibens] macht Euch so schnell wie möglich auf den Weg über Ragusa, denn dieser ist der bequemste. Und ich verpflichte mich, Euch, bevor Ihr in Ragusa seid, einen Befehl dieses Herrn zu senden. Denn der Befehlshaber von Chocia wird Euch eine gute Kompagnie geben, die Euch bis hierher geleiten wird; und außerdem werde ich Euch einen Befehl verschaffen, der Euch nach Eurem Belieben zu gehen oder zu bleiben gestattet. Und so, da Euch keine Unbequemlichkeit erwächst, ermutige ich Euch auf alle Fälle zu kommen, denn ich weiß, dass es von höherem Vorteil für Euch sein wird, als Ihr glaubt, und ich sage das nicht ohne Grund. Und weil es geschehen könnte, dass Ihr für Eure Abreise dort oder für die Kosten der Reise, einiger Dukaten bedürftet, habe ich meinen Patronen Gondi [mia magiori Ghondi] in Florenz geschrieben, dass sie Euch mit allem Notwendigen versehen, obgleich ich gewiss bin, dass dies überflüssig ist, da ich weiß, es fehlt Euch nicht an Geld. Aber ich habe es in guter Absicht getan und weil ich weiß, dass Euer Kommen nicht ohne großen Vorteil sein wird. Und falls Ihr nicht in der Lage oder Stimmung wäret zu kommen, bitte ich Euch, Euch nach einem anderen Maler, der zu den Besten heute in der Christenheit gehört, umzusehen und Euch alle Mühe zu geben, ihn so schnell als möglich hierher zu senden. Und es wäre
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gut, dass er eines seiner besten Werke mitbrächte. Ich lasse Euch wissen, dass der Herr dem, der ihm jene Statue gab, 400 Golddukaten geschenkt und seinen Rang erhöht hat, denn er ist Sekretär der Pforte [uno schrivanno della Porta] des besagten Herrn. Und wie ich Euch gesagt, ist die Statue nichts Ausgesuchtes. Verlasst Euch auf mich: mögt nun Ihr oder ein Anderer kommen, es wird ihm nicht an Gottes Gnade fehlen. Setzt Vertrauen in mich! Ich habe mir diese Freiheit mit Euch genommen, weil ich mir sage, dass Ihr, wenn Ihr kommt, Grund mich zu loben haben werdet und das Gleiche, wenn Ihr einen anderen schickt. Anderes habe ich nicht zu sagen, außer dass ich mich Euch empfehle. Gott bewahre Euch immer vor allem Übel. Euer Tommaso di Tolfo in Adrianopel.»373
Über diesen Absender Tommaso di Tolfo ist nichts weiter bekannt, als er in seinem Schreiben selbst verrät. Im Handelshaus der Gondi tätig, war er – ungefähr im Jahre 1504 – mit Michelangelo Buonarroti in Kontakt gekommen, und zwar im Hause des Gianozo Salviati. Dieser war, wie wir heute wissen, in der Florentiner Dombauhütte tätig, und diese wiederum hatte Michelangelo 1503 mit der Schaffung von zwölf Apostelstatuen für den Dom beauftragt.374 Wenn Michelangelo damals eine gewisse Neigung zu erkennen gab, die Türkei einmal zu sehen, ist doch bedeutsam, dass hier von einer Einladung des Sultans, von einer architektonischen Aufgabenstellung, von einem Bauvorhaben, geschweige denn von einer Brücke nicht die Rede ist. Tommaso di Tolfo vielmehr hatte ihm abgeraten, in die Türkei zu gehen, in der (unausgesprochenen) Annahme, dass Michelangelo sich dort als ein Bildhauer, als bildender Künstler hatte betätigen wollen. Und um es noch deutlicher auszusprechen: Hätte es Michelangelo Buonarroti im Jahre 1504 (oder auch einige Jahre später) unternommen, diese Brücke über das Goldene Horn zu bauen – es hätte sich um sein Debüt als planender oder gar für die Ausführung verantwortlicher Architekt gehandelt.375 Denn obschon Michelangelo verschiedentlich mit architektonischen Aufgabenstellungen in Berührung gekommen war, bezieht sich der früheste Hinweis
373 Zitiert nach Henry Thode, Michelangelo. Kritische Untersuchungen über seine Werke, Bd. 2, Berlin 1908, S. 420f. (die Orthographie wurde leicht modernisiert); Einschübe des Originaltextes nach [Michelangelo Buonarroti], Il Carteggio di Michelangelo, hrsg. von Giovanni Poggi bzw. posthum von Paola Barocchi und Renzo Ristori, Florenz 1965ff., Bd. 2, S. 176f. – Die Lesart ‹Adrianopel› bzw. ‹Adrianopoli› ist unsicher. 374 Bezüglich der schon erwähnten, auch für 1504 dokumentierten Handelsunternehmungen der Gondi siehe Richard A. Goldthwaite, Private Wealth in Renaissance Florence. A Study of Four Families, Princeton (New Jersey) 1968, S. 176; bezüglich Salviati siehe William E. Wallace, Michelangelo at San Lorenzo. The Genius as Entrepreneur, Cambridge etc. 1994, S. 24, und zusätzlich [Michelangelo Buonarroti], Il Carteggio, a.a.O., Bd. 1, S. 185 (er ist insgesamt zweimal erwähnt). Bezüglich der Familie siehe Pierre Hurtubise, Une famille-témoin. Les Salviati, Rom 1985 [Studi e testi 309]; und bezüglich der Apostelstatuen, von der bloß eine – im Entwurf – zustande kam, siehe Valerio Guazzoni, Michelangelo. Der Bildhauer, Stuttgart 1988, S. 61ff. 375 Vgl. Rosamond E. Mack, Bazaar to Piazza. Islamic Trade and Italian Art, 1300–1600, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 182. Die Autorin weist, was selten der Fall ist, immerhin en passant auf den Sachverhalt hin, ohne die Unstimmigkeit aber indessen weiter zu problematisieren.
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auf eine praktische Aufgabenstellung im Bereich der Architektur auf das Jahr 1507.376 Michelangelo ist in diesem Jahrzehnt noch weit davon entfernt, als Architekt zu wirken. Auf diese zentrale Ungereimtheit der Überlieferung, die eine im Grunde sehr störende Ungereimtheit auch der Michelangelo-Überlieferung darstellt, und darauf wie sie sich allenfalls auflöst, ist noch zurückzukommen. Im Jahr 1504 galt Michelangelo als ein Bildhauer, er betrachtete sich selbst als einen solchen, und Tommaso di Tolfo hatte ihm nach seinen eigenen Worten davon abgeraten, in die Türkei zu gehen, weil der damals herrschende Herr an figürlichen Arbeiten keinerlei Gefallen fand. Von einer Brücke war damals, und im Übrigen auch 1519, dem Zeitpunkt der Abfassung des Briefes, allem Anschein nach noch keine Rede. Als ein Bildhauer in der Türkei? Als ein Bildhauer, der lebensähnliche Figuren erstellte und auch den Kirchenbau oder den Kircheninnenraum377 mit figürlichen Arbeiten ausstattete, musste Michelangelo aus Sicht einer rigorosen Auslegung der islamischen Überlieferung im Hinblick auf die Bildproblematik eher suspekt erscheinen, wenn nicht gar als ein Inbegriff des Verabscheuungswürdigen. Vorbehalte vor dem Bild, die sich – situativ – in Bilderfeindlichkeit leicht steigern konnten, leiteten sich von dem (auch aus der jüdisch-christlichen Tradition bekannten) Verdacht her, dass Bilder Verehrung auf sich ziehen, d.h. angebetet würden und die Verehrung des einen Gottes unterminieren könnten. Zudem: Wenn sich in der Renaissance eine zumindest rhetorische Vergöttlichung der Künstler abzeichnete (man denke an Künstleranekdoten und Künstlerbiographien),378 so stand dies im schärfsten Widerspruch zu einer Auslegungstradition, welche die Nachahmung des Schöpfers – und mithin alle Lebendigkeitstopoi der Kunstliteratur, die um die Lebensähnlichkeit der Bilder kreisen – aufs Schärfste verdammte.379 376 Siehe Nova, der auch darauf hinweist, dass nicht auszuschließen ist, dass Michelangelo sich 1505 bei Sangallo bautechnische Kenntnisse angeeignet haben könnte (Alessandro Nova, Michelangelo. Der Architekt, Stuttgart/Zürich 1988, S. 11ff. und S. 7ff. [Literatur]). 1507 wird Michelangelo um eine Skizze oder einen Entwurf für einen Laufgang in der Domkuppel gebeten, und er wird in diesem Zusammenhang als ‹erfahren› angesprochen. 377 Michelangelo hatte beispielsweise 1501 den Auftrag übernommen, den Piccolomini-Altar im Dom von Siena mit Figuren zu schmücken (Guazzoni, a.a.O., S. 37 und passim). 378 Eva-Bettina Krembs, Der Fleck auf der Venus. 500 Künstleranekdoten von Apelles bis Picasso, München 2003, S. 23ff. (‹Gott als Künstler oder der Künstler als zweiter Gott›); Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 58 (‹Die Person des Küntlers›). Vgl. auch Ludwig Nr. 12 (die Malerei als ‹Enkelin› Gottes) und TuA, S. 668 («In der Kunst können wir für Gottes Enkel gelten.»). 379 Siehe Klaus Kreiser, [Art.] Bilderverbot, in: ders. / Werner Diem / H.G. Majer (Hg.), Lexikon der Islamischen Welt, 3 Bd., Stuttgart 1974, Bd. 1, S. 105–107; ders., «…dan die Türckhen leiden khain Menschen Pildnuss». Über die Praxis des ‹Bilderverbots› bei den Osmanen, in: G. Feher (Hg.), [Kongressakten] Fifth International Congress of Turkish Art, Budapest 1978, S. 549–556. Einen großräumigeren Überblick gibt Silvia Naef, Y a-t-il une ‹question de l’image› en Islam?, Paris 2004. Für einen historischanthropologischen und medientheoretischen Zugriff auf die Kunsttheorie der Renaissance bzw. zur
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Andererseits: Von einer pauschalen Ablehnung des Bilds, von einer generellen Bilderfeindlichkeit der islamischen Kulturen, insbesondere im lebensweltlichen Bereich, der nicht im unmittelbaren Sinne mit der religiösen Praxis zu tun hatte, kann keine Rede sein, auch und insbesondere nicht in Hinblick auf Sultan Bayezid II., der von abendländischen Beobachtern allerdings als bilderfeindlich wahrgenommen wurde.380 Zum Teil wohl zu Unrecht, denn die Malerei persischen Stils wurde durchaus gefördert,381 die westliche allerdings nicht, wenn man von einer kuriosen Ausnahme absieht: Wahrscheinlich aus ‹erkennungsdienstlichen› Gründen ließ Sultan Bayezid II. durch Mantegna ein Porträt seines Bruders Dschem verfertigen.382 Zur Identifizierung des Bruders, der ihm als Thronprätendent ein Gegenspieler und Feind war, bediente er sich so einer Eigenschaft der Malerei, die in seinem unmittelbaren Umfeld unter starke Vorbehalte gestellt war: der Lebensähnlichkeit. Es gibt aber kein Anzeichen, dass Bayezid II. so aufgeklärt war, dass er von westlichen Theorien oder gar Rechtfertigungen des Bildes wusste, die von einer Unterscheidung des Dargestellten und der Darstellung ausgingen (weil auch die christlich-abendländische Tradition die Verehrung der Bilder fürchtete und problematisierte). Und es gibt somit kein Anzeichen, dass dieser Sultan mehr Vertrauen in die westliche Bildkultur hatte als diese in sich selbst, denn in der Tat kippte zuweilen eine Verehrung der Dargestellten in eine Verehrung der Darstellung um. Leonardo – in seinen Rätselprophetien – spielte mit der Vorstellung einer Verwechslung von Abgebildetem und Abbild, und in Gelegenheitsnotizen geißelte er Vorstellungen, die man als volkstümliche ‹sakramentale› Bildpraktiken bezeichnen könnte.383 Nichtsdestotrotz: Es gab diese Verwechslung (nicht bloß perhorresziert von religiösen Eiferern, welchen Bekenntnisses auch immer) – Leonardos Abscheu und seiner ihm eigenen Aufgeklärtheit zum Trotz. Kurzum: Gefördert am Hofe Bayezids II. wurde eine Bildkultur nicht-westlicher, persischer Provenienz durchaus. Eine Studio, eine Künstlerwerkstatt, wurde nämlich unterhalten. Doch im Rahmen interkultureller Kommunikation kamen die Wahrnehmungen der Zeitgenossen zum Tragen, auch wenn diese vorurteilsbeladen bzw. nur
Ergänzung der Perspektive um einen Blick auf die visuellen Kulturen Europas vgl. etwa Gerhard Wolf, Das Mona Lisa-Paradox oder Leonardos «unnachahmbare Wissenschaft der Malerei», in: Frank Fehrenbach (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 391–411. 380 Neben dem Zeugnis des Tommaso di Tolfo ist vor allem die im vorausgegangenen Kapitel schon erwähnte ‹Türkische Geschichte› zu nennen. Die entsprechende Stelle bei Jürg Meyer zur Capellen, Gentile Bellini, Stuttgart 1985, [Dokumentenanhang] S. 109f. 381 Sultan Bayezid II. scheint im Übrigen, was die (Zwangs-)Rekrutierung der Künstler angeht, wenig zimperlich gewesen zu sein (vgl. J. Michael Rogers, ‹The Gorgeous East›: Trade and Tribute in the Islamic Empires, in: Jay A. Levenson (Hg.), Circa 1492. Art in the Age of Exploration, New Haven/London 1991, S. 70). 382 Kissling, a.a.O., S. 23. 383 Siehe (mit ausführlichen Belegen) die Erörterungen ‹Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance› sowie ‹Dante, Mandeville und der Islam› in Anhang A.
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oberflächlich informiert waren.384 Tommaso di Tolfo hatte es unverblümt gesagt: Zu Zeiten eines ‹Herren›, der figürliche Arbeiten nicht schätzte (vielmehr sie hasste), war davon abzuraten, als ein Bildhauer in die Türkei zu gehen. Als ein solcher stand Michelangelo 1504 und auch in den Jahren danach in Ruhm und Ansehen, aber dieser Ruhm konnte aus Sicht Bayezids II. schwerlich ein Grund sein, Michelangelo an seinen Hof zu berufen (sein Sohn mochte dies wieder anders sehen). Und von einem Architekten Michelangelo konnte er nicht wissen – denn es gab diesen Architekten nicht, im Jahre 1504 noch nicht. Zu Recht ist vermutet worden, dass Michelangelo im Gespräch bloß ein vages Interesse signalisiert hat, in die Türkei zu gehen.385 Vielleicht hatte er sich auch im Sinne Savonarolas ein Türkenbild zurechtgelegt, das als eine Art Kontrastfolie diente: Die Türken übten demnach ihre Glaubenspraxis strenger und rigider aus als die nachlässigen Christen; in einem gewissen Sinne waren sie – aus Sicht eines selbstkritischen Christentums – das nachahmenswerte Vorbild: Sie waren die ‹besseren Christen›, insofern sie sich inniger ihren religiösen Pflichten widmeten.386 In einem ähnlichen Sinne zeichnete Michelangelo einmal ein kirchen- bzw. romkritisches Sonett mit ‹Michelagniolo in der Türkei›.387 Was die Sultane anging, wechselten sich Herrscher mit einem gewissen Sinn für Arbeiten im westlichen Stil mit solchen ohne eine solche Neigung ab. Es war, wie aus dem Brief auch hervorgeht, nicht von vornherein ausgeschlossen, mit figürlichen Arbeiten ein gewisses Interesse zu wecken und zu reüssieren, aber es stellt sich die Frage, ob 384 Die Kunstgeschichtsschreibung scheint insgesamt der Wahrnehmung der italienischen Beobachter (es ist an die ‹Historia Turchesca› zu denken) zu sehr vertraut zu haben. Auch Babinger zufolge (B/H, S. 10) lehnte der Sultan die Bildenden Künste als ‹Teufelszeug› ab. Ein modernes kritisches Gesamtbild bezüglich der Hofkultur dieses Sultans liegt leider nicht vor. Die hier angestellten Überlegungen stützen sich vor allem auf The Topkapî Saray Museum, Bd. 1 (The Albums and Illustrated Manuscripts), hrsg. von J.M. Rogers [bzw. von Filiz Çağman und Zeren Tanindi], London 1986; Esin Atil, Ottoman Miniature Painting under Sultan Mehmed II, in: Ars Orientalis 9 (1973), S. 103–119; Hanna Sohrweide, Dichter und Gelehrte aus dem Osten im osmanischen Reich (1453–1600), in: Der Islam 46 (1970), S. 263–302. 385 Karl Frey (Hg.), Sammlung ausgewählter Briefe an Michelagniolo Buonarroti, Berlin 1899, S. 139. 386 Joseph Schnitzer, Savonarola und der Islam, in: Festschrift der freien Vereinigung Gleichgesinnter (1923), S. 282–288 (vgl. auch AuA I, S. 266). Vgl. auch Luthers Bemerkung bezüglich der Rigidität des Muslimischen ‹Bilderverbots› im Vergleich zu ‹unseren Bilderstürmern› (Thomas Kaufmann, Martin Luther, München 2006, S. 128; die Quelle datiert ca. 1529). – Auch auf Bayezid II. haben – wie schon auf seinen Vater – christliche Autoren ihr Bild vom ‹besseren Christen› projiziert (bezüglich Mehmed II. siehe Babinger, Mehmed der Eroberer, a.a.O., S. 211: ‹viel gefabelt›). Nach Zeugnis eines Dominikaners ließ sich nämlich Bayezid II. eine Predigt Savonarolas übersetzen (AuA I, S. 266). Man kann dieses Zeugnis – gutgläubig – für bare Münze nehmen, oder Zweifel daraus schöpfen, dass hier – gegen alle Wahrscheinlichkeit – ein anti-papistisches Muster reproduziert ist, das die Figur des osmanischen Sultans als eines ‹besseren Christen› in ihren Dienst nimmt. 387 Heinrich Koch, Michelangelo, Reinbek 1983, S. 89. – Eine Variante dieses rhetorischen Bezugs auf die Türken ist der Topos bzw. das gedankliche Schema: ‹Es bedürfte der Türken, um hier – in Rom – aufzuräumen›. Ein Beleg findet sich beispielsweise in einem Brief des Ägidius von Viterbo an Machiavelli aus dem Jahr 1501 (Massimo Firpo, Der Kardinal, in: Eugenio Garin (Hg.), Der Mensch der Renaissance, Essen 2004 [ital. Originalausgabe 1988], S. 85).
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Michelangelo im Jahre 1504 und in den Jahren danach andere Werke anzubieten hatte als eben jene, für die er just bekannt geworden war. Als eines seiner allerbesten, lebensähnlichen Werke hätte er den David präsentieren müssen. Die einem Genie-Kult huldigende Forschung hat allerdings das Bild verbreitet, dass Sultan Bayezid II. nicht bloß über den Künstler Michelangelo und seine Fähigkeiten genauestens im Bilde gewesen sein könnte, sondern gar über seine persönliche Lebenslage Bescheid gewusst haben könnte.388 Demgegenüber ist zu sagen, dass auf das Jahr 1505 hin die Arbeiten an der Sultan-Bayezid-Moschee zum Abschluss kamen.389 Dieses Bauvorhaben beschäftigte den Sultan sicherlich mehr als die Lebenslage eines Bildhauers, der als Architekt bloß in dem Sinne einen Ruf genoss, dass man ihm lokal eine diesbezügliche Kompetenz – richtigerweise, wie sich herausstellen sollte – schon zutraute. Dass sich Michelangelo aber an den Arbeiten zur Ausschmückung dieses Bauwerks – im Volksmund ‹Taubenmoschee› genannt –390 hätte beteiligen können, ist zwar eine reizvolle, aber doch auch denkbar bizarre Vorstellung.391 Zu einer solchen Begegnung und Konfrontation der (visuellen) Kulturen ist es nicht gekommen. ‹Heidnische Bilder› standen in diesen Jahren vielmehr zum Verkauf. Um eine Ausstattung der Moschee zu gewährleisten – so hat J. Michael Rogers vermutet –, wurde im Palast ein Inventar erstellt (es datiert auf das Jahr 1505).392 Und es könnte sich bei den mutmaßlich später zum Verkauf stehenden darin genannten ‹heidnischen Bildern› um die Jahrzehnte zuvor von Gentile Bellini geschaffenen Arbeiten gehandelt haben, die zwecks Ausstattung einer Moschee zwar handelbare Ware darstellten, aber im Innenraum eines muslimischen Gebetsraumes (und im Palast eines frommen Sultans) so fehl am Platze waren wie sonst nirgends.
388 Friedrich Sarre, Michelangelo und der türkische Hof, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 32 (1909), S. 63 (das Zitat bezieht sich auf die weiter unten besprochene Lage im Jahre 1506): «Der Sultan mag von der Flucht Michelangelos aus Rom gehört, er mag von seiner verzweifelten Stimmung in jener Zeit [1506] unterrichtet gewesen sein und geglaubt haben, dass er jetzt den Künstler zur Übersiedelung nach Konstantinopel mit Erfolg veranlassen könnte.» – Sarre folgend supponierte später Charles de Tolnay, dass Papst Julius II. 1506 um Michelangelos Ansinnen, in die Türkei zu gehen, gewusst habe (Charles de Tolnay, Michelangelo, Bd. 1 (The Youth of Michelangelo), Princeton 1943, S. 37). Hier ist – ganz im Sinne der Stoßrichtung der Künstlerlegende – ein regelrechtes Werben um den Künstler angenommen, in dem Päpste und Sultane konkurrierten. 389 Bezüglich des oder der Architekten siehe EI (Art. ‹Ustād Khayr al-Dīn). Möglicherweise sind Brücke und Moschee auch in einem Zusammenhang zu denken: Eine vom Sultan her initiierte Bautätigkeit war nach 1500 in Istanbul jedenfalls im Gange; und in dieser Zeit ergaben sich diplomatische Beziehungen mit der Republik Florenz. Man könnte sich vostellen, dass man versucht hat, in diesem Zusammenhang Synergien zu finden und zu nutzen. 390 Babinger, Baugesinnung, a.a.O., S. 174. 391 Ein Roman hat sich an diese Vorstellung herangetastet: Michael Petery, Michelangelo. Frömmigkeit und Ironie, München 2005, S. 351. 392 J. Michael Rogers, An Ottoman Palace Inventory of the Reign of Beyazid II, in: Jean-Louis BacquéGrammont / Emeri van Donzel (Hg.), Comité international d’études pré-ottomanes et ottomanes, VIth symposium, Cambridge, 1rst-4th July 1984, Istanbul/Paris/Leiden 1987, S. 39–53.
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Aus dem Brief des Tommaso di Tolfo spricht kein Interesse an der Bildproblematik im muslimischen Raum,393 sondern ein sehr praktisches – in werbende Worte verpacktes – nüchternes Interesse: Es musste gar nicht Michelangelo sein, der sich in die Türkei begab, es ging bloß in einem geschäftlichen Sinne um die Kunst. Die figürliche Arbeit verschaffte – und Tommaso hatte diesbezüglich ein Beispiel im Blick, das es vom Hörensagen kannte – Geld und Gunstbeweise. Es musste nicht unbedingt ein Bildhauer her, ein Maler tat es auch, vorausgesetzt es war einer von den Besten. Es ging um Kunst als Ware, die gegen Gunst und Geld tauschbar war (und daher Objekt im Gabentausch). Dies war zwar eine Einsicht über die visuelle Kultur in der Türkei, doch eine von Geschäftssinn und weniger von der Religion her bestimmte Optik. Ein Kaufmann, der eine Möglichkeit der Vorteilnahme sah, bot an Argumenten (bzw. an etwas verschwommenen Versprechungen) alles auf, was er konnte. Indem er sich auf den einstigen Kontakt mit Michelangelo berief, warf Tommaso di Tolfo, dessen Nüchternheit hier kaum in Frage steht, ein Schlaglicht auf die Florentiner Szenerie, auf ein Gespräch über den Orient. Wie es mit seiner Erinnerungsgabe bestellt war, wissen wir nicht.394 Michelangelo bzw. seine Biographen wussten das Angebot ihrerseits konvertibel zu machen, nämlich für eine Künstlerlegende auszuschlachten. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. 4) Michelangelo ‹erfindet› sich als Brückenbauer Mitte der 1550er Jahre – als auch die berühmte, 1993 zerstörte Brücke von Mostar (als ein Bauwerk der Osmanen) entstand –395 tritt Michelangelo Buonarroti erstmals als Brückenbauer in Erscheinung. Es gibt keine frühere Quelle, die ihn mit dem Bauvorhaben am Goldenen Horn in Zusammenhang bringt als die etwa 1553 entstandene Biographie Ascanio Condivis (der als ein Sprachrohr Michelangelos fungierte); und es ist also die Erinnerung Michelangelos, die hier spricht,396 auch von einem Brückenbau-
393 Giorgio Vasari, dies belegt seine Vita der Bellini-Familie (siehe etwa [Giorgio Vasari], Le opere di Giorgio Vasari, hrsg. von Gaetano Milanesi, Bd. 3, Firenze 1973 [Nachdruck der Ausgabe von 1906]), S. 149ff.), wusste grundsätzlich von einer Bildproblematik im muslimischen Raum. Die den Türken (nicht aber Sultan Mehmed II.) unterstellte Bilderfeindlichkeit war – im Rahmen der Textlogik seiner Darstellung – der Grund gewesen, warum Gentile Bellini – nach einem Konstantinopel-Aufenthalt – letztlich wieder nach Italien zurückgekehrt war. Abgesehen von dieser rhetorischen Indienstnahme geht ein Wissen um die Hintergründe der Bildproblematik aus dem Text – oder aus anderen Texten – nicht hervor. 394 Wenn Tommaso sich täuschte und mehr als fünfzehn Jahre vergangen waren, fällt Michelangelos Ansinnen in die Zeit der Arbeit am David. Wenn weniger Jahre vergangen waren, könnte es sein, dass sich Tommaso auf einen Sachverhalt bezog, der auch in den späteren Biographien wiederhallt. Diesbezüglich siehe weiter unten. 395 Vgl. Kap. 5. 396 Vgl. Caroline Elam, «Ché ultima mano!»: Tiberio Calcagni’s Marginal Annotations to Condivi’s Life of Michelangelo, in: RQ 51 (1998), S. 475–497.
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projekt in Venedig im Jahre 1529 spricht.397 Ohne gleich ein Glaubwürdigkeitsproblem aufzuwerfen, ist doch von nun an auf die Risse Acht zu geben, auf die Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten, die sich im Prozess der Erinnerungsbildung einzustellen pflegen. Wie immer es sich mit dem Projekt in Venedig verhielt, es ist im Zusammenhang der Vorläuferprojekte und der endlichen Realisierung der berühmten Rialtobrücke zu sehen.398 Michelangelo hat auch diese Brücke nicht gebaut, die sich dergestalt mit seinem Namen doch verbindet, ähnlich wie die Galata-Brücke auf immer mit dem Namen der beiden Renaissancegenies und Rivalen verbunden bleiben wird. Als Brückenbauer trat Michelangelo nun in Erscheinung, obwohl es keine gebauten Brücken, keine diesbezüglichen Entwürfe und Zeichnungen von ihm gibt; er erschien als Brückenbauer in der Welt der Texte, und auch auf die genaue Logik der Texte ist hier ganz besonders Acht zu geben. Vasari – im Jahre 1550 – wusste nichts von einem Bauvorhaben am Goldenen Horn. 1558 – erst in der zweiten Ausgabe seiner Viten, in der Vita Michelangelos – hatte er den (unterdessen in der Biographie von Condivi gegebenen) Bericht dann aufgenommen.399 Allerdings: Er stellte diesen Bericht doch unter einen starken Vorbehalt, denn er leitete die Episode mit der Formel ein: ‹Nach allem was man hört› oder wörtlicher: ‹nach dem, was man sagt›.400 Und sie deutete an, dass Vasari bloß dem Hörensagen nach wusste, was jetzt folgte. Was aber hatte Condivi bzw. Michelangelo als sein Gewährsmann gesagt? Welcher Episode hatte Michelangelo sich erinnert? Condivi kam im Rahmen der Biographie zweimal auf die Brücke über das Goldene Horn zu sprechen. Der erste Bezug war für sich genommen klar: Es ging um den Zorn des Papstes und die Flucht Michelangelos aus Rom nach Florenz im Jahre 1506, und damit um eine Episode, die zur Geschichte des Werkkomplexes ‹Juliusgrab› gehört.401 In bedrohlicher Lage, wie es scheint, sann Michelangelo damals über einen Fluchtweg nach. Und die Fluchtperspektive eröffnete sich ihm durch das Angebot des Sultans, der 397 Paolo Portoghesi / Bruno Zevi (Hg.), Michelangelo Architetto, Torino 1964, S. 878f. Der diesem monumentalen Werk beigegebene Katalog beginnt eine Überschau über die Architektenkarriere Michelangelos mit dem Projekt ‹Juliusgrab›, 1505–45; auf die Brücke für den Sultan ist nicht eingegangen. Vgl. bezüglich der Rialto-Brücke auch James S. Ackerman, The Architecture of Michelangelo, London etc. 1995 [urspr. 1961], S. 69 und 334, und im Weiteren: Nova, a.a.O. – Auch in der Gesamtschau der Projekte Leonardos als Architekt entfällt das Projekt bisweilen (so etwa bei Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 508, Fn 281, der sich auf L-A bezieht). 398 Heydenreich sah in der Form der so genannten venezianischen Brücke – auch in der Toskana vorhanden – im Übrigen eine mögliche Anregung für Leonardo – im Hinblick auf die Brücke über das Goldene Horn (B/H, S. 19). 399 Siehe Giorgio Vasari, La Vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, hrsg. von Paola Barocchi, Milano 1962, S. 32 und Kommentar S. 383–385. 400 Ebd., S. 32 («secondo che si dice»). 401 Siehe exemplarisch die auf die Gestalt des Moses fokussierende Darstellung: Franz-Joachim Verspohl, Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker, Göttingen/ Bern 2004. – Im Hinblick auf das Folgende ist das Interesse besonders auf die Art und Weise zu richten, wie sich die beiden Werkkomplexe ‹Brücke› und ‹Grabmal› – im Rahmen rhetorisch-narrativer Strategien der Traditionsbildung – miteinander verknüpfen bzw. wieder voneinander isolieren.
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demnach über die Vermittlung durch gewisse Franziskanermönche an ihn herangetreten war. In Übersetzung lautete die Passage folgendermaßen: «Als Michelangelo sich nun in eine solche Zwangslage versetzt sah, dachte er, aus Furcht vor dem Zorn des Papstes, nach der Levante davonzugehen. Er war nämlich durch die Vermittlung einiger Franziskanermönche von dem türkischen Sultan unter großen Versprechungen eingeladen worden, zu ihm zu kommen. Er sollte von Konstantinopel nach Pera eine Brücke bauen und noch für andre Aufgaben verwendet werden.»402
Hier taucht zum allerersten Mal explizit das Motiv einer persönlichen Einladung Michelangelos durch den Sultan auf; und der vage Verweis auf ‹noch andre Aufgaben› lässt vermuten, dass Michelangelo sich auch der Problemstellungen erinnerte, auf die Leonardo mit seinem Schreiben reagiert hatte (ohne dass wir genau wüssten, auf welche Art von Angebot beide sich bezogen, denn es konnten ja auch mehrere, unterschiedliche Angebote im Spiel sein). Auch Tommaso di Tolfo hatte ein Angebot gemacht und ein Interesse seines Herrn in Aussicht gestellt. Aber in diesem Falle war es klar gewesen, dass er, Tommaso, nicht im Namen seines Herrn gesprochen,403 sondern in eigener Initiative an Michelangelo herangetreten war, ihm aber dennoch eine Perspektive vermittelt hatte, die auch als ein Fluchtweg geeignet war. Und als Condivi zum zweiten Mal, im Rahmen seiner Michelangelo-Vita, auf die Brücke über das Goldene Horn zu sprechen kam, vermischte er ganz eindeutig die beiden Angelegenheiten (worauf auch immer wieder hingewiesen worden ist):404 das Herantreten Tommaso di Tolfos an Michelangelo im Jahre 1519 und die angebliche Anfrage des Sultans, der sich der Franziskanermönche als Mittelsmänner bediente. Er vermischte nicht nur die beiden Episoden, er gab auch ganz offen zu erkennen, warum es sich lohnte, sich dieser Angelegenheit zu erinnern: Es fiel nämlich ein ganz besonderer Ruhm auf seinen Herrn, der nicht bloß von den vier Päpsten, sondern – dies die exotische, delikate Ausnahme – auch von einem orientalischen Herrscher umworben worden war (obschon dieser, wie wir gesehen haben, wenig Grund dazu gehabt haben kann). Condivi im Wortlaut:405 «Welches größere aber und deutlichere Zeichen für die Vortrefflichkeit dieses Mannes kann es wohl geben als die Mühen, die die Fürsten der Erde machten, um ihn zu besitzen? Denn außer den vier Päpsten, Julius, Leo, Clemens und Paul, hat sogar der Großtürke, der Vater 402 Zitiert nach Alfred Semerau (Hg.), Michelangelo. Des Meisters Werke und seine Lebensgeschichte, Berlin o. J. [enthält auch die Michelangelo-Vita Ascanio Condivis in einer deutschen Übersetzung], S. 46 (24. Kap.). 403 Das Gegenteil behauptet Lisa Jardine, Der Glanz der Renaissance. Ein Zeitalter wird besichtigt, München 1999 [engl. Originalausgabe 1996], S. 243 («im Auftrag von Bayezids Sohn Selim»). Tommasos Brief enthält diesbezüglich aber keinen Hinweis. 404 Elam, a.a.O. 405 Erneut zitiert nach Semerau (Hg.), a.a.O., S. 87 (49. Kapitel).
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des heute regierenden Sultans,406 wie ich bereits erzählte, einige Franziskanermönche mit Briefen an ihn gesandt, um ihn zu sich zu laden, und nicht nur durch Wechsel dafür gesorgt, dass ihm in Florenz von dem Bankhaus der Gondi jene Summe Geldes gezahlt würde, die er zu seinem Reisegeld begehrte, sondern auch befohlen, dass, wenn er in Cossa407, nahe bei Ragusa, eingetroffen wäre, er von dort bis nach Konstantinopel von einem seiner Großen auf das Ehrenvollste begleitet werden sollte.»
Die letztere Passage – in ihren vielfältigen Übereinstimmungen – stellt einen Widerhall des logistischen Angebots dar, das Tommaso di Tolfo gemacht hatte, in einem Brief, der zwar auch auf Erinnerung Bezug nahm, aber nicht ein Produkt der Erinnerungsbildung im Dienste der Verbreitung eines möglichst ruhmvollen Bildes eines Künstlers war. Textlogik und Wahrheitsgehalt Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit den vorliegenden Texten umzugehen: ihnen Glauben zu schenken und folgerichtig zu schließen, dass Michelangelo, obschon sonst nichts darauf hindeutet, bereits 1506 einen hervorragenden internationalen Ruf als Architekt genoss;408 oder ihnen nicht vorbehaltlos zu trauen, unter anderem deshalb, weil selbst der engste Kreis um den Meister diesen Texten nicht vorbehaltlos getraut hat. Davon ist, nicht im Hinblick auf Vasari, aber im Hinblick auf einen der letzten Assistenten Michelangelos, noch zu sprechen. Die Texte legen ihre Logik selber dar; es kann von einer Textlogik gesprochen werden, die auf Realität Bezug nimmt (und ihrem Anspruch nach auch repräsentiert), aber historische Realität auch inszeniert – wenn man von einer bewussten Gestaltung oder gar einem Verfälschen sprechen will – oder unwillkürlich formt – wenn man bloß die Eigendynamik der Erinnerungsbildung für diesen Prozess verantwortlich macht. Als Brückenbauer nie in Erscheinung getreten, inszeniert sich Michelangelo selbst als ein solcher. Damit ist nicht gesagt, dass er lügt, aber die Ungereimtheiten der Überlieferung lösen sich am ehesten auf, wenn man – vor allem – die Vorstellung einer persönlichen Einladung durch den Sultan verabschiedet. Es mag sich (bloß um eine Nuance) anders verhalten haben. Wenn die Problemstellung ‹Goldenes Horn› in den Florentiner Künstlerkreisen der Jahre 1501–06 zirkulierte, so dürfte auch Michelangelo früh davon erfahren haben. Es ist nochmals an den diplomatischen Verkehr der Republik Florenz mit den Osmanen im Jahre 1502 zu erinnern. Es ist gut möglich, dass Zwischenträger des Sultans auch an ihn herangetreten sind, ohne dass man sie am osmanischen Hof dergestalt instruiert 406 Vgl. ebd., S. 353. Wenn hier Tommasos Angebot bzw. Sultan Selim gemeint ist, war dies korrekt. Wenn auf Bayezid II. Bezug genommen war, dann nicht. Korrekt hätte es dann heißen müssen: ‹des Großvaters des heute regierenden Sultans Suleiman›). 407 Babinger (B/H, S. 11) korrigiert diese Ortsangabe in Foča; darin deutet sich auch die Problematik dieser Übersetzung an. Um philologische Genauigkeit zu gewährleisten, ist auf das Original zurückzugehen. 408 Die Tradition in ihrer Hauptlinie ist tendenziell unkritisch bzw. zu gutgläubig (vgl. etwa Jardine, a.a.O., S. 242).
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hätte. Wenn dem so war, war es ein Leichtes, die Sache so darzustellen, als ob man – der Sultan – damals planvoll an ihn persönlich herangetreten sei, zumal nachdem Michelangelo als Architekt tatsächlich Ruhm erlangt hatte. Es ist auch heute noch schwierig, sich ein genaues Bild von der Hofkultur Bayezids II. und von der Persönlichkeit dieses Sultans selbst zu machen. Aber andererseits ist eine Behauptung in die Überlieferung hineingetragen und weitgehend ungeprüft übernommen worden, die nicht ohne Weiteres plausibel ist. Es passt ins Bild, dass es auch diesbezüglich einen unterschwelligen Rückhalt schon immer gegeben hat – man denke an Vasari – und immer noch gibt. Denn in den Erzählungen von der Rivalität der beiden Künstler fehlt die Brücke über das Goldene Horn.409 Das Motiv ist – wenn überhaupt – erst modernen Erzählungen von dieser Rivalität inkorporiert worden; und die Grundidee, wie dies zu bewerkstelligen war, ging wie oben schon erwähnt erneut auf Jean Paul Richter zurück: Man konnte sich nämlich eine Art Architektur-Wettbewerb denken, ausgeschrieben von einem Sultan. Auf eine Ausschreibung hin wurden demnach – im Abstand von einigen Jahren allerdings, wie man gleich anmerken muss – von beiden Künstlern jeweilige Vorschläge unterbreitet.410 Die Künstlerkonkurrenz, die Rivalität zwischen Leonardo und Michelangelo, stellte sich dergestalt in ihrer denkbar schärfsten Form dar. Und doch gab es einen unterschwelligen Vorbehalt, mit diesem Gedanken zu operieren, der nicht bloß mit der lückenhaften Quellenlage, nicht bloß mit dem unvertrauten Gebiet der Türkischen Studien, nicht bloß mit der meist legendenhaft ohne Bezug zum Osten gedachten Renaissance-Szenerie zu tun hatte, sondern wohl auch mit dem Gedanken, Michelangelo als einen technisch versierten Baumeister zu einem so frühen Zeitpunkt anzunehmen. Es ist eine eher absurde Vorstellung, Michelangelo habe als ein Architekt debütieren und sogleich die größte Brücke der Welt in einem mehr oder minder fremden Umfeld bauen wollen. Und vielleicht geht dieser eher absurde Gedanke tatsächlich auf den ursprünglichen Impuls zurück, mit Leonardo – und sei es bloß gedanklich – konkurrieren zu müssen. So gesehen, mit allen Vorbehalten gesagt, war es eine Kompensation im Universum der Texte, eine späte Befriedigung, sich als ein Brückenbauer zu denken und von aller Welt bzw. von allen Herrschern dieser Welt als ein Künstler Huldigungen zu
409 Vgl. Rona Goffen, Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven/London 2002; Krämer, a.a.O.; sowie Franz-Joachim Verspohl, Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505, Göttingen/Bern 2007. 410 Es gibt auch abenteuerliche Weiterdichtungen im Rahmen der Kunstwissenschaft: So konstruierte Brotton ein Narrativ, demnach frustierende Verhandlungen mit Leonardo dazu führten, dass sich der Sultan an Michelangelo wandte, um nochmals gleichermaßen enttäuscht zu werden (Jerry Brotton, The Renaissance Bazaar. From the Silk Road to Michelangelo, Oxford 2002, S. 204). – Außerdem wird behauptet, Michelangelo habe eine Brücke über den Bosporus im Sinne gehabt, und die Idee dazu von Leonardo übernommen (so Ross King, Michelangelo und die Fresken des Papstes, München 2002, S. 46).
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empfangen. Kurz: Es spricht ein Bedürfnis nach einer exotistisch angereicherten Künstlerlegende auch aus diesem Gedanken.411 5) Ein Schüler fragt bei seinem Meister nach Es ist höchst kurios zu sehen, wie sich einerseits die Überlieferung gebildet hat und kritische Nachfragen weitestgehend ausgeblieben sind, und andererseits einer der letzten Assistenzen Michelangelos diesen noch persönlich auf den Wahrheitsgehalt der Episode ‹Brücke über das Goldene Horn› befragt hat. Die Randglossen, die sich im Exemplar der Condivi-Vita von Tiberio Calcagni (1532–1565) erhalten haben, weil Calcagni mit Michelangelo persönlich diesen Text durchgegangen ist, stellten einen höchst delikaten Quellenfund dar. Seit den 1960er Jahren ist er bekannt.412 Nicht neben die zweite, offenkundig verunklarende Textstelle, in der Condivi auf die Brücke zu sprechen kam, sondern neben die erste, notierte Calcagni am Rande: «Es stimmte; und er hatte diesbezüglich schon ein Modell gemacht, sagte er mir.»413
Mag es schon ungewöhnlich sein, dass ein Schüler den Wahrheitsgehalt der Memoiren des Meisters überhaupt in Frage stellte, noch ungewöhnlicher ist es, dass sich Zweifel – und Bekräftigung des Wahrheitsgehaltes durch Michelangelo höchstpersönlich – auf diesem Wege mitteilten und die historische Kritik sozusagen ein Wort Michelangelos auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen muss, das man fast zu hören glaubt. Man wünschte, Calcagni hätte auch bezüglich der zweiten Stelle nachgefragt, in der sich die Erinnerung doch deutlicher verunklarte, oder gar in Bezug auf Leonardo. Und man darf anmerken, dass Calcagni zusammen mit Michelangelo den Zweifel indirekt gleichsam auch legitimierte, denn nicht alles in Condivi – auch in den Augen des Meisters – hielt der Überprüfung stand. Es war nicht fehl am Platz, nicht einmal anmaßend, bei der einen oder anderen Stelle nachzufragen. Allerdings ist auch festzustellen und Michelangelo so das letzte Wort zu lassen: Er hielt an seiner Darstellung bzw. an der Darstellung Condivis fest. Man mag ihm auch gar nicht widersprechen, wenigstens nicht in einem Punkt: Er hatte, dies ist durchaus möglich, ein Modell gemacht. Von welchem Zeitpunkt an die Überlieferung deutlich nicht mehr bemüht war, einer Sachlage möglichst genau zu entsprechen und also frei in die Gestaltung der Erinnerung an ein Geschehen eingriff, ist nicht mehr zu klären. Es ist lediglich zu zeigen, wie sich die weitere Legendenbildung vollzog. Von Orientalen als Unterhändlern des Sultans 411 Ganz ähnlich wie im Übrigen Anhänger des Savonarola Bayezid II. eine Sympathie für den Prediger unterstellten, der gewissermaßen durch dieses Interesse Savonarola huldigte (ohne dass wir den Wahrheitsgehalt dieser Unterstellung wirklich prüfen könnten). 412 Siehe Elam, a.a.O. 413 Übersetzung des Autors, nach Elam, a.a.O., S. 493 («fu vero e ne haveva giê fatto un modello mi disse»). Eine Reproduktion der Glosse gibt Elam auf S. 486.
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5 Visualisierung der Michelangelo-Legende in der Casa Buonarroti (nach Adriaan W. Vliegenthart, La Galleria Buonarroti. Michelangelo e Michelangelo il Giovane, Firenze 1976, Tafel 11)
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war im Rahmen der Gesamtüberlieferung noch nie die Rede gewesen, aber der Maler Giovanni Bilivert(i) (1576–1644)414 gestaltete die Tradition nun entsprechend diesem Bild – indem er für die Casa Buonarroti einen als Malerfürsten aufgefassten, exquisit gewandeten Michelangelo darstellte, dem orientalische Sendboten mit Gefolge – darunter ein junger Mohr – ein Angebot offensichtlich unterbreiten wollen. Ein Gesandter ist im Begriff, einem von dem jungen Mohr gehaltenen Behälter eine Schriftrolle zu entnehmen. Die orientalische Gesandtschaft, wie auch erkennbar, hat sich über eine Treppe zu Michelangelo hinauf begeben. Dem Betrachter (bzw. Michelangelo) öffnet sich ins Freie hinaus eine Perspektive. Die Exotik in dem nach außen offenen Innenraum – auch eine Person mit Federschmuck ist am linken seitlichen Rand zu erkennen – deutet an, in welchen Bahnen sein Leben hätte verlaufen können, wenn der Malerfürst dem Werben – beglaubigt durch das ebenfalls gemalte Sendschreiben – nachgegeben hätte. Aber eine Titelvariante lautet: ‹Michelangelo lehnt die Einladung der Abgesandten des Sultans ab, nach Konstantinopel zu gehen›.415 Alles weitere, das heißt die Frage, welche Bewandtnis es mit dieser Ablehnung hatte oder gehabt haben könnte, bleibt allerdings der Phantasie des Betrachters überlassen. Neben der visuellen hat auch die schriftliche Überlieferung die Motivik aufgenommen und tradiert.416 Schließlich, dies ein vorläufiger Schlusspunkt, hat sie in einen modernen Michelangelo-Roman hinein gefunden.417 Das nicht sehr bekannte Gemälde von Biliverti – es wird gelegentlich spiegelverkehrt reproduziert – ist einerseits ein Endpunkt der zeitgenössischen Überlieferungskette, die im Übrigen Michelangelos Rolle als Festungsbaumeister in Rom, tätig in Zeiten der Türkengefahr, schlicht übergeht.418 Zugleich ist es deutlich auch ein Ausdruck einer 414 Siehe DoA und für den gestalterischen Kontext in der Casa Buonarroti vor allem Marc-Joachim Wasmer, Die Casa Buonarroti in Florenz, ein Geniedenkmal für Michelangelo, in: Eduard Hüttinger / Kunsthistorisches Seminar der Universität Bern (Hg.), Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, Zürich 1985, S. 121–138 (das Gemälde ist auf S. 127 erwähnt). 415 Siehe Charles de Tolnay et al., Michelangelo. Bildhauer · Maler · Architekt · Dichter, Wiesbaden 1966, S. 572. Vgl. dagegen die Titelvariante bei Wasmer, a.a.O., S. 127 (‹Ein Gesandter des Sultans lädt Michelangelo nach Konstantinopel ein, eine Brücke über den Bosporus zu bauen›), die sich an die in der Casa Buonarroti traditionell und aktuell verwendete, etwas längere Titelgebung anlehnt. Es ist allerdings zu vermerken, dass der Bosporus – in Zusammenhang mit Michelangelo – hier – in der Casa Buonarroti – erstmals erwähnt wird (siehe für die Textgrundlage der Titelgebung: Adriaan W. Vliegenthart, La Galleria Buonarroti. Michelangelo e Michelangelo il Giovane, Firenze 1976, S. 108). Als Quelle des Irrtums kommt eine lateinische Inschrift in Frage, für die der Gelehrte Jacopo Soldani verantwortlich zeichnete – wenn nicht auch von einer bewussten Umgestaltung der Überlieferung gesprochen werden muss. In den Michelangelo betreffenden zeitgenössischen Hauptquellen ist stets von einer Brücke über das Goldene Horn die Rede. Die Leonardo-Überlieferung seit 1952 dürfte die Konfusion eher noch weiter befördert haben. – Das Gemälde in der Casa Buonarroti ist im Übrigen auf das Jahr 1620 datiert. 416 Vasari, ed. Barocchi, a.a.O., S. 385 [Kommentar]. 417 Petery, a.a.O., S. 349ff. (als Unterhändler fungiert hier ein ‹kultureller Überläufer›). 418 Siehe Horst Bredekamp, Antipoden der Souveränität: Künstler und Herrscher, in: Ulrich Raulff (Hg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München/Wien 2006, S. 36 (mit Hinweis auf
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‹Erfindung von Tradition›, kaum noch rückgebunden an ein – wie dürftig auch immer – dokumentarisch belegbares Geschehen: eine Konstruktion der Erinnerung und damit ein Dokument auch einer anderen Geschichte, einer Nachgeschichte, der Geschichte der Verherrlichung von Michelangelo. Schrittweise und kaum merklich, wie es scheint, hat sich ein Übergang vollzogen – mehr und mehr ist ein Anliegen der Nachgeborenen, der Hüter der Erinnerung an Michelangelo, ins Spiel gekommen. Um einer Rekonstruktion des ursprünglichen Geschehens willen kann nur annäherungsweise versucht werden, schrittweise zurückzugehen – zu den Quellen und zu dem Geschehen, das sich ihnen dem Wahrnehmungsraster der Zeugen gemäß einschreibt. Gewissermaßen beiläufig stellt sich dann eine andere Frage, die in ein anderes Gebiet auch führt: Nicht nur die Frage, was eigentlich gewesen ist, kann man versuchen zu beantworten, sondern auch die Frage: Was hätte sich ergeben können? Welche Kräfte wären bereit gewesen, das Geschehen in eine andere Richtung noch zu lenken? Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Naturgeschichte von nicht geringem Belang, denn am Goldenen Horn bebte – im Jahre 1509 – die Erde. Es herrscht unter den Experten keine Einigkeit, als wie haltbar sich Leonardos Brückenkonstruktion erwiesen hätte: Vielleicht blieb ihm eine Katastrophe erspart, vielleicht entging ihm der Ruhm, als einer der kühnsten Brückenbauer aller Zeiten und nicht bloß als ein virtueller Brückenbauer gefeiert zu werden. Im Herbst des Jahres 1509 jedenfalls dürfte Leonardo da Vinci – und vielleicht auch Michelangelo – eher das Gefühl durchzuckt haben, einer wirklichen Katastrophe entronnen zu sein.419 Es hätte anders kommen können, als im Herbst des Jahres 1509 Istanbul von jenem verheerenden Erdbeben erschüttert wurde, das später als der ‹kleine Weltuntergang›420 in die türkische Chronistik eingegangen ist.421 Türkische und abendländische Quellen berichten von diesem Ereignis, von seinen Auswirkungen und von der Art und Weise, es zu bewältigen. Und auch Leonardo, wo immer er sich genau befand, dürfte davon vernommen haben. Hören wir als erstes den nicht namentlich bekannten türkischen Chronisten, der als der ‹Anonymus Hanivaldensis› bezeichnet wird: «Während aber Sultan Bayezid aus den oben angezeigten Gründen [es herrschten Spannungen zwischen den Osmanen und ihren neuen östlichen Nachbarn, den Safawiden; DS] auch weiterhin in Konstantinopel blieb, ereignete sich ein gewaltiges Erdbeben, von dessen Stößen der Boden allenthalben erschüttert wurde. Die Bauwerke von besonderer Größe, Kirchen der das Jahr 1545). Michelangelo befasste sich also mit Abwehrmaßnahmen gegen die Türken, nachdem er sich mit dem Brückenbau befasst hatte. Leonardo – höchstwahrscheinlich – tat es vorher. Bredekamp thematisiert im Übrigen – beiläufig – auch die Formung der Erinnerung durch Michelangelo und seine Erbverwalter. 419 Leonardo befand sich – erneut – in Mailand; Michelangelo arbeitete in Rom an der Ausmalung der sixtinischen Kapelle. 420 Der fromme Sultan, a.a.O., S. 283, Fn 45. 421 Die türkische Chronistik verzeichnet auch schon früher etliche Beben. Siehe Kissling, a.a.O., S. 172 und 188 (für Beben in den Jahren 1487, 1488, 1489 und 1498).
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Christen und Tempel422 der Muslims wurden allenthalben in Konstantinopel mit ihren Türmen, Mauern und Wänden geschüttelt, gespalten, zerrissen und niedergeworfen. Auch der kürzlich von Sultan Bayezid selbst erbaute Tempel stürzte ein, seine Türme barsten und fielen um. Ferner wurde auch der Tempel Mehmeds des Zweiten übel zugerichtet und beschädigt. Die meisten Gebäude erlitten ungeheueren Schaden, und von ihren niederstürzenden Trümmern wurden viele erschlagen. Und nicht bloß einmal erbebte die Erde, sondern sie hörte nicht auf, in ständiger Bewegung zu schwanken. Von Furcht erfasst, verliess Sultan Bayezid ungeachtet seines Fußleidens Konstantinopel und begab sich nach Adrianopel. Aber auch dort war die Erde nicht frei von Erschütterungen. Wie in den Geschichtsbüchern überliefert ist, ließ daher Sultan Bayezid damals, um der Gefahr auszuweichen, aus langen Masten und Balken ein hölzernes Gebäude errichten, in das er dann um seiner Sicherheit willen hinaufstieg. Denn die Balken, solchermaßen untereinander verbunden, waren nicht so leicht loszureißen und konnten nicht wie die steinernen Mauern Sprünge bekommen, denen dann jeweils gleich der Einsturz folgte. In diesem Holzhaus also wohnte er und vertraute sich der Erde nie und nimmer an. Das Beben aber dauerte einen ganzen Monat lang ständig fort, ohne jedes Nachlaßen und ohne Unterbrechung. Als dann die Erde schließlich einigermaßen aufhörte zu beben, befahl Bayezid, die Kenner der Astronomie und der Naturwissenschaften zusammenzuholen, und als sie versammelt waren, frage er sie nach den verborgenen Gründen und Ursachen, deretwegen die Erde in solche Bewegung gerate, und was solche Vorzeichen zu bedeuten hätten. Unter anderem wurde von ihnen geantwortet, es werde in den nächsten Jahren in der ganzen Welt zu schrecklichen Kriegen und ungeheuerem Blutvergiessen kommen, nebst andern Übeln und Unbilden, von denen das Menschengeschlecht heimgesucht werden solle. Diesen Winter brachte Sultan Bayezid zur Gänze in Adrianopel zu. Sobald aber der Frühling angebrochen war, gingen allenthalben in sein ganzes Reich Befehle hinaus zur Stellung von Tagelöhnern, Steinmetzen und andern Handwerkern, die nach Konstantinopel zu senden seien, um die Stadt wiederherzustellen. Von dieser Art Leute (die die Türken Serehor oder Sarhor nennen [Kursivierung im Original]) sollen damals an die vierzigtausend allein in Konstantinopel zusammengeströmt sein und die grässlich zerstörte und verwüstete Stadt wiederaufgebaut haben.» 423
Ohne großen Verzug waren Meldungen von dem Ereignis auch nach Florenz gelangt: Luca Landucci, der berühmte Florentiner Apotheker,424 vermerkte es in seinem Tagebuch, und er versuchte sich, ganz ähnlich wie der Anonymus Hanivaldensis, Rechenschaft zu geben von der Zeichenhaftigkeit des Bebens: «Und am 28. Oktober 1509 vernahmen wir, dass in Konstantinopel große Erdbeben gewesen, die viertausend Häuser zerstört hatten, und es waren dabei siebentausend Personen getötet und unzählbare Leute waren verletzt worden; und es kam dabei einer unserer Florentiner 422 Dieser ‹Platzhalter›, der hier für ‹Moschee› steht, ergibt sich wohl als eine Folge der Übersetzung der Chronik aus dem Türkischen ins Lateinische. ‹Türme› steht für ‹Minarette›. 423 Der fromme Sultan, a.a.O., S. 239ff.; zur Person des Chronisten vgl. S. 182ff. – Menavino spricht von 80‘000, am Wiederaufbau beteiligten Personen ([Menavino], a.a.O., Teil 2, Folio 86v). 424 Siehe DBI.
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um, welches ein [gewisser] Antonio Miniati war, von unseren Florentinern, und mehrere Florentiner wurden verletzt. […] Und der Türke [Sultan Bayezid II.] verließ die Stadt und ging nach Bursia [Brussa], welches seit langer Zeit unerhört war, und nach guter Leute Meinung ein Zeichen für die Christen und den heiligen Vater, dass man sich rühren müsse und die ganze Levante erobern. […]»425
Nüchtern betrachtet kam eine neue Generation von Architekten beim Wiederaufbau zum Zuge. Sinan, der nachmals als der ‹türkische Michelangelo› gefeierte große Baumeister des 16. Jahrhunderts (der Brücken baute und diese auch signierte), restaurierte, wie es heißt, die Moschee Bayezids II.426 Von dem Wirken abendländischer Architekten hingegen hören wir nichts. Wie alles gekommen wäre, hätten Leonardo oder Michelangelo tatsächlich versucht, eine Brücke über das Goldene Horn zu realisieren, steht dahin. Es ist nicht unbedingt Sache der Geschichtswissenschaft, alternative Geschichtsverläufe zu denken. Aber es ist ihre Aufgabe, von historisch wirksamen Kräften, auch potentiell wirksamen Kräften in bestimmten Situationenen oder Konstellationen, Rechenschaft zu geben. Es ist wohl kein Zufall, dass der Mythos der Brücke über das Goldene Horn ohne eine Erinnerung an den so genannten ‹kleinen Weltuntergang› von 1509 auskommt. Denn dieser erinnerte daran, dass dem Bauvorhaben die eigentliche Belastungsprobe erspart geblieben war. Aber die Frage stellt sich doch: Angenommen, dass Leonardo – in Mailand – von dem Erdbeben hörte – was mochte ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein? Hat er – in der Folge – die Erdbebensicherheit des Bauwerks erneut erwogen? Die Durchführbarkeit? Die Zeichenhaftigkeit des Bebens? Hat er die zeichenhafte Deutung der Zeitgenossen goutiert? Oder bemühte er sich um eine Erklärung des Geschehens aus der Geologie der betreffenden Region? 1509 war Leonardo, wie eine Notiz verlauten lässt, auf einer Reise in Savoyen.427 Im Codex Leicester andererseits kommt er auf ein Erdbeben in Savoyen zu sprechen.428 Vielleicht ist hier ein ferner Widerhall der Ereignisse am Bosporus zu vernehmen. Jedenfalls scheint sich Leonardo etwa im Jahre 1509 mit dem Thema ‹Erdbeben› befasst zu haben. Tiefer zu blicken hat er uns nicht gestattet. Doch vom Thema ‹Naturkatastrophe› und von Deutungen der Katastrophen durch Astronomen und Naturwissenschaftlern wird noch zu reden sein.
425 [Luca Landucci], Ein florentinisches Tagebuch 1450–1516. Nebst einer anonymen Fortsetzung 1516– 1542, hrsg. von Marie Herzfeld, 2 Bd., Leipzig 1913, S. 176 (Übersetzung und Anmerkungen wurden leicht angepasst). Die Herausgeberin gibt in Fn 1 auf S. 177 auch eine Paraphrase der diversen Berichte, die Marino Sanudo seinem Tagebuch inkorporierte. 426 Siehe nochmals EI (Art. ‹Ustād Khayr al-Dīn). Vgl. auch Gülru Necipoğlu, The Age of Sinan. Architectural Culture in the Ottoman Empire, London 2005, S. 131f. (Signaturen). 427 Siehe Carmen C. Bambach, Documented Chronology of Leonardo’s Life and Work, in: dies. (Hg.), Leonardo da Vinci, Master Draftsman, [Kat.] New York 2003, S. 227–241. 428 TuA, S 243 (CL 11v). Vgl. auch S. 223.
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3.3 Epilog: Zur Nachgeschichte eines Dokumentenfunds Obschon die Brückenskizze schon bekannt gewesen war, entstand jetzt im Nachklang eines Dokumentenfunds ein neuer Rezeptionsmodus, der als ‹bautechnische Begutachtung› bezeichnet werden könnte. Die Idee, die sich in einer Skizze samt Beischrift manifestierte, wurde nun auf ihre Durchführbarkeit geprüft, als ob Leonardo da Vinci einem internationalen Gremium von Experten einen Vorschlag unterbreitet hätte – und in einem gewissen Sinne war das ja auch der Fall gewesen. Mit dem Sendschreiben, das an den Osmanischen Hof gerichtet war, hatte er allem Anschein nach einen weiteren Schritt hin zu einer möglichen Realisierung unternommen. Nicht oft, aber doch immerhin drei Mal in vier Jahrzehnten, erwogen ausgewiesene Baufachleute die Durchführbarkeit des Projekts;429 und sie maßen zugleich – dies sei nicht unterschlagen – ihre Ergebnisse an ihrem Bild von Leonardo, dem Genie. Für gewöhnlich bestätigten sich im Rahmen derlei Überprüfungen die Vorstellungen vom alles in den Schatten stellenden Genie, ob die Ergebnisse nun der Prüfung standhielten oder nicht. Denn wenn nicht, konnte immer noch angenommen werden, dass Leonardo seinen Entwürfen absichtlich Fehler eingearbeitet hatte, um sich allein die Realisierung vorzubehalten und der Möglichkeit eines Ideenraubes vorzubeugen.430 Die bautechnischen Begutachtungen waren allerdings von großer Nüchternheit gekennzeichnet und die Ergebnisse durchaus gemischt.431 Indem man das Brückenprojekt auf seine Realisierbarkeit hin überprüfte – und weniger im Rahmen einer ganzheitlichen Geschichte des Brückenbaus betrachtete –432 isolierte man den technischen Aspekt und löste das Projekt aus den historischen Kontexten heraus, im Rahmen derer es entstanden war. Diese Betrachtungsweise, die durchaus in ihrem eigenen Recht steht, stellte sich als ein spezieller Rezeptionsmodus dar, der sich mit dem ungeklärten Rest ja nicht befassen musste (und auch als ein Rezeptionsmodus des Spezialistentums bezeichnet werden kann). Die Sache war, um den Preis der Isolierung eines Aspekts, fasslicher geworden, und um ein ganzheitliches Leonardo-Bild und um die Integrierbarkeit der Episode in dieses Bild mussten Experten für das Technische ja nicht besorgt sein. Ein gangbarer Weg, mit einer Teilfrage des Gesamtkomplexes ‹orientalische Frage› umzugehen, zeichnete sich ab. Diese Rezeptionsweise stellte allerdings bloß ein Rinnsal dar im Vergleich zu einer viel breiteren Tendenz. Denn in einer sehr breiten Streuung und in immer wieder neuen Konfigurationen verbreiteten sich nun vor allem die Erzählbausteine einer ost-westlichen Dreiecksgeschichte, die nichts anderes darstellte als eine romantische Künstlerlegende, die frei von Rückbindungen an quellenkritische Fragen in Umlauf geriet. Der osmanische Sultan allerdings blieb der große Unbekannte in dieser Beziehung und ist es bis heute geblieben. Und als Unbekannter konnten ihm umso leichter alle 429 Stüssi, a.a.O.; Schettini, a.a.O.; Olsson, a.a.O. 430 Das Motiv kommt auch im Leonardo-Roman zum Tragen (siehe KdE, S. 529). 431 Stüssi war beispielsweise optimistischer gestimmt gewesen als später Olsson. 432 Vgl. etwa. Oto Bihalji-Merin (Hg.), Brücken der Welt, Wiesbaden o.J. für eine humanistisch ganzheitliche Herangehensweise an die Thematik.
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Züge eines märchenhaften Sultans verliehen werden, den es verlangte die beiden großen Genies und Antipoden in sein Land, an seinen Hof zu ziehen. Der historische Bayezid II., eher unzimperlich in der (Zwangs-)Rekrutierung fähiger Fachleute und schwerlich selbst befasst mit der Suche nach den großen Genies in Europa, blieb in den Erzählungen, die sich aus einzelnen Elementen dieser Künstlerlegende zusammensetzen, ein unbeschriebenes Blatt, eine Stellvertreterfigur, ein bloßer Statist, dem man Motive unterstellen konnte, wie es einem beliebte.433 Nicht einmal die Nachricht, dass Ludovico Sforza auf der Suche nach Verbündeten offenbar über eine Heirat mit einer der acht Töchter Bayezids II. verhandelt hatte, war geeignet, das Interesse der Geschichtswissenschaft an einer im Vergleich zu seinem Vater Mehmet II. nicht sehr viel weniger interessanten Figur nachhaltig zu fördern.434 In Reiseführern, Biographien, aber auch in der Fachliteratur geisterten nun – nachdem Babinger ‹seine› Entdeckung in mehreren Sprachräumen publik gemacht hatte – die Elemente einer Künstlerlegende herum, die sich in immer neuen Variationen aus immer den gleichen Erzählelementen konfigurierte. Das Gerüst dieser Legende besagte, dass Sultan Bayezid II., der im Sinne hatte, eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen, mit den zwei großen Genies in Verhandlungen getreten war, ohne dass es zu einem Einvernehmen oder zu einer Realisierung eines Projektes gekommen war. Und das Hauptproblem dieser Legende war, dass sich ungeachtet aller Ungereimtheiten und Ungewissheiten eine Version der Sachverhalte verbreitete, die kritischen Nachfragen nicht standhält, vor allem indem ein unmittelbarer Kontakt zwischen den handelnden Figuren unterstellt wurde und der erst im Entstehen begriffene Mythos der beiden Renaissancegenies auf eine historische Situation projiziert wurde, die bei Weitem komplizierter war, als es die Selbstdarstellung vor allem Michelangelos verlautete, der in jener Zeit alles andere als ein etablierter Baumeister oder Architekt gewesen ist, den man aufgrund seines diesbezüglich ausgezeichneten Rufes von der Türkei aus hätte einladen wollen. Künstlerlegende, Mythos der beiden Großen der Renaissance und die physikalische Realität eines Ortes verbanden sich nun zu einem Konglomerat, das mit Fug und Recht als ein ‹lieu de mémoire› bezeichnet werden kann.435 Gerade weil weder Leonardo noch Michelangelo tatsächlich vor Ort gewesen waren, hinterließen sie vor Ort ihre Spuren. Denn gedanklich hatten sie ihn bereist, den Ort, von dem sie wahrscheinlich bloß eine mehr oder weniger diffuse Vorstellung hatten. Und die gedankliche Verbindung – gerade weil die Faktenlage diffuser blieb, als es die historische Wissenschaft sich wünscht – konnte ausgeschmückt werden und sich behaupten, obwohl zahlreiche Elemente dieser gedanklichen Verbindung einer kritischen Belastungsprobe nicht standhalten können. 433 Erst ein Schüler von Franz Babinger, Hans Joachim Kissling, sowie einige weitere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben hier Grundlegendes geleistet. Ein Gesamtbild fehlt jedoch, von einer kritischen und auch umfassenden Biographie gar nicht zu reden. 434 Dieses Thema wurde in den 1980er Jahren gewissermaßen erst entdeckt (vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Das Osmanische Reich›). 435 In der in Ankara entstandenen vorzüglichen ‹Thesis› von Umut Şumnu ist die Galata-Brücke von 1912 als ‹lieu de mémoire› aufgefasst.
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Oder anders gesagt: Die Künstlerlegende und die Vorstellung von einem Erinnerungsort ‹Goldenes Horn› begannen – unter Inkaufnahme zahlreicher Ungereimtheiten – zu zirkulieren. Mit jedem neuen Brückenbau vor Ort – zuletzt zu Beginn der 1990er Jahre, als die alte Galata-Brücke durch die neue ersetzt wurde – aktualisiert sich die Vorstellung vom geplanten Brückenbau der beiden Renaissancegenies. Und anders als die Brücke selbst war die Künstlerlegende bis dahin kaum einer Belastungsprobe ausgesetzt. Die alte Galata-Brücke hatte dem Landauer der Sultansfrauen standgehalten und dem Kraftwagen; die neue Brücke von 1992, erneut von deutschen Ingenieuren verantwortet, trägt seit Kurzem wieder die Straßenbahn. Aber als noch viel dauerhafter hat sich die romantische Fiktion erwiesen, dass Bayezid II., den italienischen Renaissancefürsten gleich, die Künstler für sich einzunehmen suchte, mit Versprechungen um sie schickte und doch zu keinem Einvernehmen kam. Die Nachgeschichte der Brücke über das Goldene Horn ist die Geschichte einer Absenz. In einer Leerstelle wurzelt die Legende, die auch eine Künstlerlegende exotischer, orientalistischer Spielart ist – eine Künstlerlegende, die Luftwurzeln hat und einen großen Unbekannten: Sultan Bayezid II., eine Spielfigur nicht zuletzt auch im Erinnerungsprozess von Michelangelo.
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4. Vierte Etappe: Leonardo prosatore (II): Leonardo da Vinci im Kontext von Sintflutprognostik und Prophetismus It is more likely that Leonardo was employing a code, and Diodario may be a rebus for l’ira di Dio who punishes humanity with floods and lightnings. Robert Payne436
4.1 «Unser angsterfülltes Jahrhundert»: 437 Leonardo-Rezeption zur Zeit des Kalten Krieges Seit dem Jahr 1952 stellte sich die ‹orientalische Frage› also in einer neuen, dritten Variante. Ging es nun nicht mehr um die angebliche Historizität einer Reise, also um die Möglichkeit einer eigentlichen physischen Bewegung im Raum, und ging es nicht mehr allein um die Art und den Zweck einer gedanklichen Reise im Medium der Literatur, so war nun neuerdings von einem Ansinnen die Rede, d.h. von einer ins Auge gefassten Ortsverschiebung, zu der es aber – dies erneut ein Rätsel – dennoch nicht gekommen war.438 Leonardo hatte zweifelsohne einen ‹Schritt› getan, ein Vorhaben durch einen Brief eingeleitet, aber wie ernst es ihm war, dies war und ist die Frage. Hatte er bloß mit einer Möglichkeit gespielt oder lag in dem bloßen Ansinnen all das, was man ihm seit jeher unterstellte: eine Affinität zum Orient, auf den er sich nicht bloß gedanklich hin orientierte, sondern den er nun, da er die Fünfzig überschritten hatte, noch tatsächlich sehen wollte? Man sah sich unliebsam an eine einst geführte Diskussion erinnert. All die schwierigen Fragen kamen wieder auf den Tisch. Was war ihm zuzutrauen, dem mutmaßlichen kulturellen Grenzgänger? Wie war es um seine kulturelle Identität bestellt? Was hatte dies alles zu bedeuten und wie sollte man diesen Wirrwarr in ein kohärentes Bild von Leonardo überführen? Denn die saubere Trennung zwischen einer biographischen Frage und dem Deutungsproblem der Literaturwissenschaft war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Trennung zwischen einem Universum der Texte, in welchem Leonardos Prosa zu verorten war, und dem realen Raum, in dem er physisch sich bewegte, war ohnehin problematisch gewesen. Nun fiel sie ganz dahin. Von einer Gesamtdeutung aber war man. . 436 Robert Payne (Hg.), The Deluge. A Novel by Leonardo da Vinci, New York 1954, S. 13. 437 Ernst H. Gombrich, Leonardo da Vinci wider die Magier – die Schwarze und die wahre Kunst, in: ders., Neues über alte Meister [Zur Kunst der Renaissance IV], Stuttgart 1988, S. 59. 438 Als eine vierte Variante kann das ‹Reisen› der Objekte hin zu Leonardo aufgefasst sein (siehe weiter unten). Die Berührung mit dem Orientalischen fand – einmal mehr ist es zu erwähnen – auch in Italien statt. Und von einer fünften Variante wird in Kap. 5 die Rede sein.
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in den 1950er Jahren weit entfernt. In der Leonardo-Forschung befasste man sich mit abstrakten Gesamtdeutungen, versuchte gedankliche Bewegungen in einer vermeintlich durchwegs neoplatonischen Gedankenwelt439 der Renaissance zu verorten und war nicht daran interessiert oder in der Lage, die Fäden der ‹orientalischen Frage› zusammenzuführen. Die Überraschung von 1952 hallte noch nach, als eine neue gedankliche Auseinandersetzung mit dem ‹Diodario-Material› erschien. Auf den ersten Blick scheint es, die Literatur habe schneller reagiert als die Wissenschaft, aber im Grunde war es umgekehrt. In einem literarischen Gebilde manifestierte sich die Leonardo-Deutung, wie sie von der Literaturwissenschaft erarbeitet worden war. Und von der Brücke – keine Rede. Leonardos Feder führen: Ergänzungen und Weiterschreibungen des ‹Diodario-Materials› Die Idee der Weiterschreibung von Textmaterial der Renaissance war keine neue. Vasaris Anekdoten beispielsweise waren als Vorlagen ein dankbares Material440 und dank der Leonardo-Edition lagen nun auch die Texte des historischen Individuums selbst vor, dessen Leben man in literarische Imaginationen überführte. Es war grundsätzlich einfacher geworden, den historischen, in der Renaissance situierten Text zu beglaubigen, denn der Zugriff auf das authentische Material war, unter anderem dank Jean Paul Richters Bemühungen, viel einfacher geworden – auch der Zugriff auf Entwürfe für ‹eine Art Roman›, die einiges ihrer Faszinationskraft dem Umstand verdankten, dass sie eben unfertig geblieben waren und der Ergänzung noch bedurften. Robert Payne,441 ein englischer Publizist und Asienreisender, der 1949 beispielsweise in Persien gewesen war, brachte schließlich eine lange Erzählung zu Papier, in der die Textfragmente aus dem ‹Diodario-Material›, weitere Auszüge aus dem schriftlichen Nachlass und Ideen des Autors miteinander verwoben waren.442 Auch eine Prise ‹Mandeville› kam hinzu, denn die Briefe Leonardos, dachte sich Payne, wurden durch Brieftauben, die zwischen dem Absender und dem Empfänger verkehrten, befördert. Eine Idee, die der Autor eingestandenermaßen aus den Reisen Mandevilles entnommen hatte.443 Den literarischen Wert der Erzählung hatte schon Ernst Gombrich als gering eingeschätzt,444 aber der literarische Wert ist hier nicht von Bedeutung – interessant 439 Der in der von André Chastel geprägten Forschungsrichtung so überaus wichtige Neoplatonimus spielt heute eine eher marginale Rolle in der Diskussion über Leonardos intellektuelles Profil. Vgl. P I/II, passim; N, S. 153; Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, passim und Index. 440 1959 erschien eine solche Weiterschreibung: Leo Perutz, Der Judas des Leonardo, Wien/Darmstadt 1988 [urspr. 1959]. 441 Ausführliche Hintergrundinformationen der Nachlassverwaltung unter: http://www.sunysb.edu/ libspecial/collections/manuscripts/payne/biography.shtml. 442 Payne, a.a.O. 443 Ebd., S. 16. 444 Gombrich, a.a.O., S. 132, Fn 20.
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ist nur der Umgang mit dem Material an sich. Payne wählte die Methode, Zitate aus Leonardos Aufzeichnungen im Rahmen seines Textes stets kenntlich zu machen. Von Eingriffen in das Material sah er indes ab; er tastete das Originalmaterial, das seinen Anspruch beglaubigte, den Roman so zu vollenden, wie ihn sich Leonardo gedacht hatte, gleichsam auf ein Ergänzungspotential hin ab bzw. auf eine darin innewohnende Tendenz. Entsprechend der nun vorherrschenden Tendenz war die Erzählung ganz nach dem Deutungsmuster gestaltet, die in dem Material visionäre Phantastik, aber auch präzise Landschaftsbeobachtung vorfand. Leonardo – als belesener Lehnstuhlreisender – hatte eine Vision gehabt, und am Ende von Paynes Erzählung entpuppte sich diese auch als solche. Es handelt sich um einen Traum von apokalyptischer Qualität, in dem Leonardo die Identität eines verwitweten Weinbauers mit zwei Töchtern annimmt, den es inmitten einer kleinen Schar von Flüchtlingen in den Orient verschlägt. Auf der Flucht vor der Apokalypse, Seuchen und Verheerungen, von denen die Welt heimgesucht wird, gelangt die Schar an eine Meeresküste. Aufgenommen von dem Schiff des ‹Diodario› und nach Armenien verbracht, erlebt Leonardo so die Landschaft, die Taurusregion, von der er in seinen Briefen sprach. Payne folgte der Deutungstradition, die in Leonardos Entwürfen ernsthafte, Szenarien des Weltuntergangs heraufbeschwörende Visionen sah; und er erlag nicht der Versuchung, der Deutung Vorschub zu leisten, dass Leonardo als historisches Subjekt tatsächlich im Orient gewesen war, zumindest im Rahmen der Fiktion und auf Grundlage einer poetischen Freiheit der Erfindung. Es handelte sich nicht um eine Fiktionalisierung Leonardos, sondern um eine Weiterschreibung der Fiktion, die aber von ihrer Anlage her nicht dementierte, was nun allgemeiner Konsens war – dass Leonardo nämlich nicht im Orient gewesen war. Wenn alles Traum war, hatte er sich physisch, auch im Rahmen der Fiktion nicht bewegt, er war nur eingenickt, im abendlichen Gespräch mit Pater Anastasio, dem Dorfpriester, und hatte die Themen der Unterhaltung, den Tagesrest in seinen Träumen weitergeträumt. Der Orient, den der Orientreisende Payne schilderte, musste der Orient sein, den Leonardo sich träumerisch zu imaginieren imstande war, und nicht ein Kulturraum, den er als Reisender erlebte. Indem er Leonardos ‹Roman› ergänzte, entschied er sich somit nicht für den Orient, sondern für den Orientalismus Leonardos. Was Payne ergänzte, neu montierte, war nicht ein Orientabenteuer Leonardos, sondern die Orientvorstellung eines Universalgenies, das bar jeder Primärerfahrung, aber auf Grundlage eines stärkeren Anteils an Mandeville’schen Motiven, einen Orient erträumte. Ein doppeltes Spiel lag hier nicht vor, sondern ein Illusionismus, der so glaubwürdig sein sollte wie eben Leonardos Träumen ihm selbst – in seinem Traum, aus dem er schließlich doch erwachte, nämlich in der Lombardei. Verwegene Visionen Der Basler Kunsthistoriker Joseph Gantner näherte sich 1958, vier Jahre nach Erscheinen von Paynes Erzählung, den Visionen Leonardos von der Seite der Wissen-
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schaft her. Er machte einen Werkkomplex zum Thema einer weithin beachteten Untersuchung.445 Paynes Experiment, weder Fiktion im eigentlichen Sinne noch Dokumentation, war bereits vergessen. Gantner würdigte die Erzählung jedenfalls keines Blickes. Es hätte auch zu der großen Ernsthaftigkeit der Untersuchung und zur Ernsthaftigkeit, die Gantner Leonardo durchwegs unterstellte, keineswegs gepasst. Im Rahmen eines Durchgangs durch das Gesamtwerk, geleitet von einem motivischen roten Faden, kam auch das ‹Diodario-Material› als ein Teil einer Gesamtkonstellation zur Sprache. Es erhielt also schon einen Sinn durch die Einbettung in eine besondere Untersuchungsanlage, doch eine eigentliche Deutung hatte Gantner nicht. Stattdessen warf er Fragen auf, präsentierte die Texte sorgfältigst durchmustert in einem nützlichen Anhang, der thematisch das ganze Material in vorbildlicher Übersichtlichkeit ausbreitete – aber er verstieg sich mangels einer Deutung auch in die hochfliegendsten Spekulationen in Bezug auf Leonardos Verhältnis zum Orient und ging in diesem Zusammenhang viel weiter als Payne (im Rahmen der Literatur). Gantner warf Fragen auf im Hinblick auf eine echte intellektuelle Auseinandersetzung Leonardos mit dem Orient. Payne hatte das ‹DiodarioMaterial› bloß als Spielmaterial gesehen. Und in diesem Spiel war Leonardos wacher Sinn ja ausgeschaltet – stattdessen träumte der Autor. Gantner hingegen entwarf in einer wissenschaftlichen Untersuchung ein Bild von Leonardo, das so kühn war, wie es Nietzsches Bild gewesen war. Eher ein Sinnbild, ein hochfliegender Gedanke, als dass es von der Realität – jedenfalls von der Realität der Quellentexte – noch gedeckt war: «[…]. Wir fragen uns, ob nicht in all diesen Fragmenten Leonardos ein erster Versuch der europäischen Kunst zur geistigen Aneignung des Orients erkannt werden darf? Jahrhundertelang waren künstlerische Formen aus diesem Nahen Orient nach Italien eingeströmt und hatten den Westen befruchtet. Auf die Welle der griechisches Kunst, die der römischen Antike das Gesicht bestimmte, war mit schon wesentlich geringerer Wirkung die byzantinische gefolgt. Als Leonardo wenige Jahre nach diesen Aufzeichnungen, 1500, vorübergehend in Venedig war, da lebten draußen in den Lagunen noch die Ausläufer der Vivarini von Murano, die letzten Träger jenes nunmehr völlig verebbenden byzantinischen Stiles, dem einst die Kunst Venedigs und ihrer terra ferma so sehr verpflichtet gewesen war. Kündigt sich jetzt, in den Aufzeichnungen Leonardos, eine Umkehr an, in dem Sinne, dass jetzt der italienische Künstler ganz sua sponte in die Welt des Orients einzudringen und an ihrem Leben als Handelnder teilzunehmen sucht? Eine faszinierende Perspektive scheint sich hier dem Historiker aufzutun: Leonardo dringt in seiner Phantasie bis nach Kleinasien vor, der späte Rembrandt macht sich mit persischen und indischen Miniaturen vertraut, das Rokoko eignet sich die betörenden Mittel chinesischer und japanischer Kunst an, um seine eigenen Mittel zu befruchten, im späten 19. Jahrhundert 445 Joseph Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958. Vgl. auch Frank Fehrenbach, Leonardos Vermächtnis? Kenneth Clark und die Deutungsgeschichte der ‹Sintflutzeichnungen›, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 28 (2001), S. 8f.
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verlassen gar einzelne Künstler Europa völlig, um im Osten zu leben. Immer stärker durchdringen sich die Hemisphären, und was Leonardo zunächst nur in seinen atmosphärischen Forschungen als Prophezeiung notiert hatte, das wird im Laufe der Jahrhunderte in der Kunst selbst zur Wirklichkeit. Und er selbst steht dergestalt am Anfang einer Bewegung, welche schließlich im 20. Jahrhundert zu den Anfängen eines eigentlichen planetaren, die ganze Erde umfassenden Stiles hinführen sollte.»446
Hier äußerte sich ähnlich wie bei Strzygowski447 ein Wille, die großen Linien der Weltkunstgeschichte zu denken und sie – retrospektiv – von Leonardo her zu denken. Eine modernistisch-fortschrittsoptimistische Grundhaltung sprach aus diesen Worten. Doch der Frageton stellte auch alles unter Vorbehalt. Zweifel waren hier nicht ausgeschlossen. Wenn es sich allerdings tatsächlich so verhielt, wie Gantner es sich vorstellte, ergab sich für den Historiker in der Tat eine faszinierende Perspektive, und vor allem ein Erklärungspotential konnte – erneut – erschlossen werden. Geschichtliche Entwicklungen, die überhaupt erst sichtbar wurden, waren von ihren Anstößen her neu zu denken und in Entwicklungsphasen zu gliedern. Strzygowski war bescheidener gewesen und hatte bloß zwei ihm gegenwärtige analoge Entwicklungen in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Es war und ist die Frage, ob Gantner nicht viel zu ernst genommen hatte, was beispielsweise Ernst Gombrich für Werke eines auch zu Spottlust neigenden Geistes gehalten hatte.448 Wie der Herausgeber einer Anthologie – und zu einem Teil war sein Buch auch eine solche – hatte Gantner einen Werkkomplex zusammengezogen und als eine Konstellation definiert. Er verantwortete diese Zusammenhangsbildung wie ein Herausgeber. Aber wenn die Deutung des Teilkomplexes ‹Diodario-Material› nicht vorlag, auf welcher Grundlage war dann dieser Teilkomplex einer Gesamtkonstellation einzuordnen und einer Gesamtdeutung zuzuführen? Und es war auch keineswegs gesichert, dass die so genannten ‹Prophetien› Leonardos mehr gewesen waren als unterhaltsame Gesellschaftsspiele. Im Denken Gantners war alles Teil eines Gesamtzusammenhanges und damit auch eines Lebensthemas: einer Auseinandersetzung mit dem Ende. Gantner sah aber über die Möglichkeit mehr oder weniger hinweg, dass auch der Witz eine Möglichkeit war, auf das Unaussprechliche zu reagieren. Gantners Leonardo war ernst im Angesicht der Möglichkeit des Untergangs. Und obsessiv war die Beschäftigung mit diesem Motiv in ihrem immer wieder erneuten Durchspielen des Undenkbaren. Damit lief die Untersuchung Gefahr einseitig zu sein. Ein spöttisch-sarkastischer Leonardo, wie ihn sich Gombrich später dachte, war nicht vorgesehen. Alles lief hinaus auf die Gewichtigkeit, die Schwere eines Spätwerks – ein Motiv, das im Übrigen auch Payne schon angedeutet hatte, aber bloß in seiner erläuternden Hinführung zu einer weit weniger gewichtigen Erzählung.449 446 Gantner, a.a.O., S. 131. 447 Siehe weiter oben. 448 Gombrich, a.a.O., S. 46. 449 Payne. a.a.O., S. 10.
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Eine Vorliebe für das Exotische und Orientalische? Es herrschte immer noch Erklärungsnot. Und angesichts der disparaten Tatbestände, die in einem kohärenten Bild zu vereinen man nicht wirklich in der Lage war, verbreitete sich der Gedanke, dass Leonardo eben eine Vorliebe für alles Exotische und Orientalische gehabt habe. Dieser Gedanke war so undifferenziert wie er eben geeignet schien, der Erklärungsnot angesichts des Disparaten doch wenigstens im Groben abzuhelfen.450 Eine solche Vorliebe konnte man einem ‹echten› Reisenden unterstellen, der tatsächlich viel unterwegs war – und hauptsächlich im Osten –, oder einem ‹Lehnstuhlreisenden›, der bloß gedanklich reiste. Sie konnte sich auf die Phantasiewelten des Ritterromans beziehen, aber auch auf die tiefen gedanklichen Einsichten der Religionen und Philosophien des Ostens. Der Gedanke – als eine gedankliche Klammer und eine Reaktion auf ein Dilemma – war neu. Denn als man noch mit der Möglichkeit gerechnet hatte, dass Leonardo tatsächlich und für länger im Orient gewesen war, ergab sich eine solche Vorliebe gewissermaßen von selbst. Die Reise war ein Tatbeweis. Aber alles, was man damals an Argumenten ins Feld geführt hatte, all das Material, das angeblich mit dieser Reise in Verbindung stand, konnte nun unter dieser angeblichen Vorliebe verbucht werden, aus der sich auch die disparatesten Befunde noch in eine sinnvolle Erklärung zu fügen schienen. Aus dieser vermeintlichen Erklärung leitete sich alles weitere ab, und eine persönliche Vorliebe war nicht eine Sache der kulturellen Zugehörigkeit, sondern eine des persönlichen Geschmacks und als solche nicht weiter diskussionswürdig, vor allem wenn es sich um eine so verbreitete Präferenz handelte wie jene für alles Orientalische.451 Einer so undifferenzierten Erklärung ist zunächst bloß der Befund entgegenzusetzen, dass es ihr eben an Differenzierung mangelt. Was bedeutete es genau, eine Vorliebe für Orientalisches zu unterstellen? Und vor allem: Auf welchen Orient nahm man Bezug? Es mag eine Vorliebe Leonardos für den Orient der Ritterliteratur behauptet werden, aber war das Bauvorhaben der Brücke über das Goldene Horn wirklich aus einer 450 Einige Belegstellen als Beispiele: Giorgio Castelfranco, Studi Vinciani, Roma 1966, S. 137; Gantner, a.a.O., S. 130; Franco Schettini, Istanbul / Costantinopoli. Un ponte di Leonardo sul Corno d’Oro, in: Parametro 10 (1972), S. 68 (‹sensibilisiert durch Benedetto Dei›); Silvia Alberti de Mazzeri, Leonardo da Vinci. Die moderne Deutung eines Universalgenies, München 1995 [ital. Originalausgabe 1983], S. 220; B, S. 362 und 548, Fn 15; Hidemichi Tanaka, Influenza dell’arte cinese nelle opere di Leonardo da Vinci. Il paesaggio della ‹Mona Lisa› e il paesaggio cinese, in: Bijutsushigaku / Art History 20 (1999), S. 213. 451 Einen Überblick über die Orient-Rezeption der Renaissance – Vorlieben und Moden mit eingeschlossen – gibt Rosamond E. Mack, Bazaar to Piazza. Islamic Trade and Italian Art, 1300–1600, Berkeley/ Los Angeles/London 2002. Leonardo ist im Rahmen dieses handbuchartigen Kompendiums zwar berücksichtigt, aber seine Bedeutung im Rahmen der kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Ost und West scheint – zu urteilen nach der Grundlage dieses Überblicks – marginal. Insgesamt findet er – gemäß Index – bloß dreimal Erwähnung: zweimal im Zusammenhang mit orientalischer Flechtbandornamentik (siehe diesbezüglich Anhang A, Synopse, Sektion ‹Al-Andalus›) und einmal im Zusammenhang mit der Brücke über das Goldene Horn. Zieht man andere Künstler zum Vergleich heran, erscheinen auch die Orientbezüge im gemalten Werk Leonardos allenfalls marginal (vgl. auch diesbezüglich Anhang A, passim).
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persönlichen Geschmacksbildung heraus zu erklären? Setzte Leonardo den Orient der Ritterliteratur gleich mit der realen Türkei? Und wie waren gewisse Meinungsäußerungen Leonardos zu interpretieren, die sich in dieses Bild nur schwerlich bzw. gar nicht integrieren ließen? Denn neben Indizien für eine Vorliebe gab es auch solche für eine Abneigung, nämlich Abscheu über den – in Leonardos Sicht einen realen Tatbestand darstellenden – Kannibalismus in einigen Gegenden Indiens, und ferner zum Beispiel den Vorbehalt gegenüber der Astrologie, die auch aus orientalischen Quellen schöpfte (und zwar auch aus solchen, die in Leonardos Buchbesitz dokumentiert sind).452 War Gantner möglicherweise einer Versuchung erlegen und in seinen hochfliegenden Spekulationen auch weit übers Ziel hinausgeschossen, es blieb doch die Frage: Was bedeutete es, gedanklich nach Kleinasien vorzudringen? War dies eine Sache des suchenden Intellekts oder eher des selbstvergessenen Träumens? Denn Gantners Entwurf einer (teleologischen) Gesamtdeutung der Weltkunstgeschichte war in einem gewissen Sinne bloß die hochfliegendste Variante eines hermeneutischen Allzweckschlüssels, der sich dankbar aufgegriffen auch rasch verbreitete und geeignet war, Leonardo auf allgemeinmenschlicher Ebene fasslich zu machen. Vordergründig herrschte Klarheit, aber in Wirklichkeit war damit kein einziges Problem gelöst. Wenn es diese Vorliebe gab, warum hatte Leonardo nicht mehr Quellen ausgeschöpft, die es auch in seinem Gesichtskreis ohne Zweifel gab. Oder manifestierte sich eben bloß ein Teil seiner gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Orient in seinen Schriften? Auch rein quantitativ geriet man in die Gefahr, in der Fokussierung auf einige Teilkomplexe, die Proportionen zu verlieren. Viele Bezüge auf Orientalisches stehen in Zusammenhängen, die bloß von einem Interesse an der Geologie der Erde zeugen und nicht Indizien eines kulturellen Interesses sind. Je nach Maßstab, den man zugrunde legt, kann sowohl ein Mangel als auch eine Fülle behauptet werden, und wenn man Leonardo eine Vorliebe unterstellte, warum nicht auch Alberti, der sich – zum Beispiel in der ‹Baukunst› – gedanklich immer wieder in den Orient begibt, aber – im Gegensatz zu Leonardo – seine Quellen durchwegs nennt. 453 Zuletzt eliminierte der Topos auch die Frage nach Leonardos Entwicklung: Wenn es eine sozusagen, man scheut hier das Wort, ‹naive› Begeisterung für alles Exotische und Orientalische gab, die dem jungen Leonardo eigen war, wie gut verstand sich der fünfzigjährige Leonardo, der im Begriffe war, in die Türkei zu gehen, mit dem jungen Mann, der er einmal gewesen war? Als der große Leonardo-Forscher Carlo Pedretti der Anthologie von Jean Paul Richter 1977 einen Kommentar beistellte,454 sah er sich mit den alten Fragen konfrontiert. 452 Siehe Kap. 2 und Anhang A, und in Bezug auf die Astrologie siehe die Ausführungen weiter unten sowie in Anhang A. 453 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von Max Theuer, Darmstadt 1988 [Nachdruck der Ausgabe von 1912], passim. 454 Irrtümlicherweise ist beispielsweise in DoA (Art. ‹Jean Paul Richter›) angezeigt, dass 1977 eine dritte Auflage der Anthologie erschien. In Wirklichkeit erschien der Kommentar, der allerdings den gleichen Titel trägt.
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Es war auf Richters These zurückzukommen, die in dem Klassiker ja deponiert war, und auf die neuen Fragen einzugehen, die sich nun seit der Mitte des Jahrhunderts stellten. Die Historisierung der alten Debatte stellte kein Problem dar; statt einer Reise, wie sie Richter angenommen hatte, war nun von einer ‹fingierten Reise› zu sprechen und ein Hinweis anzubringen, dass die Textfragmente aus dem ‹Diodario-Material› eigentlich nicht in die Sektion ‹Briefe› passten.455 Schwerer tat sich Pedretti indes mit der Gewohnheit Leonardos, als ein Quasi-Augenzeuge zu sprechen, auch wenn er weder das Nildelta, die Straße von Gibraltar noch den Euphrat je mit eigenen Augen gesehen hatte. Allein der Tatbestand, dass Pedretti den Aufwand auf sich nahm, in diesem Zusammenhang noch plausibel zu machen, dass Leonardo bloß als Quasi-Augenzeuge sprach, machte deutlich, dass dieses Problem noch nicht vollständig bewältigt war.456 Am schwersten tat sich der Doyen der Leonardo-Forschung jedoch mit dem Dokumentenfund in Istanbul, zumindest für einige Jahre. Denn sprach noch ernster Zweifel aus dem Kommentar zu Richters Anthologie, Zweifel insbesondere auch, was die Authentizität anging,457 so rang Pedretti nach und nach auch diese Zweifel nieder, bis er in den 1990er Jahren selbst nicht wenig daran beteiligt war, eine neue Begeisterung für dieses kulturverbindende Bauvorhaben zu schüren.458 Was das ‹Diodario-Material› anging, so wurde Ende der 1970er Jahre ein im Grunde alter Denkansatz neu belebt. Schon Edmondo Solmi hatte im Rahmen seiner bedeutenden Untersuchung der Quellen Leonardos auf eine realhistorische Begebenheit verwiesen, auf die sich Leonardos Text möglicherweise bezog.459 Infolge des Auftretens des Ordensmeisters Schah Ismael und seiner Bewegung kam es nach 1500 zur – neben Osmanen- und Mamluken-Reich – dritten größeren Reichsbildung im nah- und mittelöstlichen Raum.460 Und das Auftreten Schah Ismaels war auch im Abendlande als das Auftreten eines neuen Propheten gedeutet worden – als eines Propheten, wie er eben auch in Leonardos Text vorkam, zumindest im Text-Vorwurf, also im Inhaltsverzeichnis, das von Leonardos anscheinend bloß teilweise ausgeführten Absichten zeugt. Solmis Idee hatte im Übrigen der sich im 20. Jahrhundert allgemein durchsetzenden Tendenz einer Spätdatierung des ‹Diodario-Materials› Vorschub geleistet. Und wie Giovanni Ponte nun – im Jahre 1977 – zeigen konnte, hatten auch die Texte von Florentiner Karnevalsgesängen auf den als ‹Sofi› bezeichneten und als Sozialreformer gedeuteten 455 P II, S. 291f. 456 Ebd., S. 205 (Gibraltar); S. 207 (Libyen). 457 Ebd., S. 213f. («As it is, the whole letter seems nonsense […], and I fear that the attribution to Leonardo of this document should be reconsidered.»). In seiner Monographie über den Architekten Leonardo kam er im Haupttext auf die Brücke zwar zu sprechen, nicht aber auf den Brieffund (L-A, S. 169f.; im Literaturverzeichnis erscheint allerdings der Aufsatz von Babinger und Heydenreich). 458 Siehe Kap. 5. 459 Solmi, S. 318ff. 460 Hannes Möhring, Der andere Islam. Zum Bild vom toleranten Sultan Saladin und neuen Propheten Schah Ismail, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 131–155, und allgemein: Hans Robert Roemer, Persien auf dem Weg in die Neuzeit. Iranische Geschichte von 1350–1750, Beirut/Stuttgart 1989, S. 219ff.
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Ordensmeister Bezug genommen, was die Wahrscheinlichkeit zu steigern schien, dass sich Leonardo auf ein reales Ereignisgeschehen im Osten direkt bezog.461 So kam erneut ein Denkansatz zum Tragen, der nach Bezügen auf realhistorische Begebenheiten fragte und das Material von daher auch nicht pauschal als ‹phantastisch› rubrizierte. Ponte bekräftigte zudem den Trend der Spätdatierung und holte verdientermaßen auch die Möglichkeit ins Bewusstsein zurück, dass Leonardos Schreiben möglicherweise ein Schreiben mit Zeitbezug war. Einer Gesamtdeutung des Materials indessen kam man durch den bloß wiederholten Hinweis auf einen möglichen Weltbezug im Detail nicht näher. Noch immer stellte sich die Frage, was Leonardo eigentlich im Sinn gehabt hatte, als er sich gedanklich in den Orient begab und im Zusammenspiel mit einem Würdenträger auf einem bestimmten Terrain operierte, betraut mit einer Mission, die sich auch aus dem realhistorischen Auftreten von Schah Ismael nicht weiter erklärte. Drei Phänomenbereiche, die miteinander zu tun haben mochten, nämlich Realgeschichte zum einen, der Prophetismus als Zeitphänomen in den Gesellschaften der Renaissance zum zweiten und Leonardos Schreiben zum Dritten, waren zwar wieder in einen Zusammenhang gebracht, aber wie dieser Zusammenhang genau beschaffen war, dies blieb im Grunde offen. Richter hatte Solmis Hinweis gekannt, und nebenbei bemerkt als erneuten Beleg für seine alte These aufgefasst, die er allerdings in der zweiten, posthum erschienenen Auflage seiner Anthologie nicht mit der gleichen Verve vertrat wie anno 1881.462 In Pedrettis Augen hatte er sich noch immer unwillig gezeigt, von seiner Vorstellung Abstand zu nehmen.463 Doch auch Pedretti selbst stand wie erwähnt noch ganz im Banne der Vorstellung, und der Überraschung von 1952 konnte er zunächst nichts abgewinnen. Bis zum Ende der 1970er Jahre und darüber hinaus hatte die Faszinationskraft der Idee gewirkt, aber ein eigentlicher Schlüssel zum Verständnis war noch immer nicht gefunden. Doch in den 1980er Jahren wurden, auch in diesem Fall in Anknüpfung an ältere Forschung, neue Grundlagen gelegt. Nicht im Bereich der Leonardo-Forschung im engeren Sinne, aber in einer Renaissance-Forschung, die auch bereit war, die weniger modern anmutenden Seiten der janusgesichtigen Zeit um 1500 auszuleuchten. Denn es war eine Zeit der Prophetien und Untergangsängste gewesen, und über das Potential der Wahrsager, insbesondere der Astrologen, lag man in einem Streit, der von ganz umfassender Relevanz war. Es ging um unterschiedliche Weisen der Weltorientierung, um den tatsächlichen oder bloß vermeintlichen Halt, den man in der Beobachtung der Sterne gewann, kurz: um die orientierende Wirkung der Astrologie auf die Zukunft hin. Erst von diesem Umfeld her, von dem Widerstreit zwischen Astrologiegläubigkeit und Astrologieskepsis, den Prognostiken, die auch im Umfeld Leonardos kursierten, und seiner Position in der Astrologiedebatte her, sind die Texte Leonardos zu verstehen. Und die Grundlage zu diesem 461 Giovanni Ponte, Attorno a Leonardo da Vinci: l’attesa popolare del Sofì di Persia in Venezia e Firenze all’inizio del Cinquecento, in: ders., Studi sul Rinascimento. Petrarca, Leonardo, Ariosto, Napoli 1994, S. 195–220. Ursprünglich war der Aufsatz 1977 erschienen. 462 R II., S. 315. 463 P II, S. 292 («[…] but in the second edition Richter was still reluctant to accept such evidence.»).
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Verstehen, dies ist erneut zu unterstreichen, wurde spät gelegt. Fast genau hundert Jahre der Geschichte der ‹orientalischen Frage› waren vergangen, aber es war diskutiert worden und ein Diskussionszusammenhang war wieder zerfallen, ohne dass man über den zum Verständnis notwendigen Kontext dieser Texte überhaupt gewusst hat. Vor diesem Hintergrund ist Bescheidenheit am Platz: Was im Folgenden entwickelt wird, ist ein neuer Deutungsvorschlag, der nicht bloß aus einer Rekapitulierung der Deutungsgeschichte erwachsen ist, sondern neu in dem Hintergrundwissen fundiert ist, das bisher nicht zum Tragen kam. Aus diesem Ansatz ergeben sich einige überraschende Befunde, nicht bloß was das Material angeht, sondern auch, was die Deutungsgeschichte betrifft, die ihrerseits nachträglich in einem neuen Licht erscheint.
4.2 Eine Neueinschätzung des ‹Diodario-Materials› unter Einbeziehung aller aktuell bekannten Hintergründe …regional cartography requires landscape drawing, and no one but a man skilled in drawing would do regional cartography. Ptolemäus464
Um das ‹Diodario-Material› in den zeithistorischen Kontext zu stellen, von dem insbesondere die Texte ihren Sinn erhalten, ist auf Aby Warburg zurückzugehen. Dieser, kein Leonardo-Spezialist im eigentlichen Sinne, hatte sich – im Medium des Vortrags – im ausgehenden 19. Jahrhundert zwar mit dem Künstler, Forscher und Ingenieur auseinandergesetzt, aber keine Beiträge zur eigentlichen Spezialforschung veröffentlicht.465 Die Arbeiten, die hier von Belang sind, haben mit Leonardo auf den ersten Blick thematisch nichts zu tun. Im frühen 20. Jahrhundert legte Warburg zwei Bahn brechende Arbeiten vor, die den Bogen spannten zwischen der Kunst und – in einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Kunstgeschichte – der Theorie und Praxis der Astrologie. Wie Warburg in einem heute als Klassiker geltenden Aufsatz darlegte,466 464 [Ptolemäus], Ptolemy’s Geography. An annotaded translation ot the theoretical chapters, hrsg. von J. Lennart Berggren / Alexander Jones, Princeton 2000, S. 58. 465 Bernd Roeck, Dal cielo o dal purgatorio della realtà? Warburg e Burckhardt su Leonardo, in: Maurizio Ghelardi / Max Seidel (Hg.), Jacob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte, Venezia 2002, S. 159–165. 466 Aby Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Horst Bredekamp et al., 1. Abt., Bd. I.2 (Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers), Berlin 1998, S. 459–481 bzw. 622–644 [urspr. 1912/1922; Reprint der Studienausgabe von 1932]. – Bezüglich einer forschungsgeschichtlichen Einbettung des Textes aus heutiger Perspektive siehe Andreas Beyer, Hermetischer Kosmos. Aby Warburg und Roberto Longhi in Ferrara, in: Philine Helas et al. (Hg.), Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 171–182. Die
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erhielten die Fresken im Palazzo Schifanoja zu Ferrara ihren Sinn auch bzw. erst von mittelalterlichen astrologischen Überlieferungen her; und erst seit Warburg ist man bereit, diese in ihrer bedeutungsstiftenden Funktion auch wahrzunehmen. Warburg hatte in einer deutschen Übersetzung eines arabischen Textes des Astrologen Abu Ma‘shar (Albumasar) den Schlüssel zur Deutung der Schifanoja-Fresken gefunden.467 Und ein Werk des Albumasar – dies ein erster Hinweis, der für unseren Zusammenhang bedeutsam ist – fand sich, wie man allerdings erst seit der Mitte der 1960er Jahre weiß, unter den Büchern Leonardos.468 Man konnte also, dies war aus Warburgs Überlegungen zunächst zu folgern, nicht einfach künstlerische Praxis aus ihrem zeithistorischen Kontext heraus isolieren, so fremd, abstrus oder exotisch einen dieser Kontext auch anmutete. Astrologische Praxis war ein Teil der Lebenswelt, in der die Künstler verwurzelt waren, auch wenn ihre Arbeiten nicht – wie die Monatsbilder der Schifanoja-Fresken – von einer bestimmten astrologischen Überlieferung her inhaltlich bestimmt waren. Als eine Welt, die von ‹heidnischen Prophezeiungen› geradezu überschwemmt worden war, hatte Aby Warburg in einer zweiten Bahn brechenden Arbeit die Welt der Reformation, die Zeit Luthers dargestellt.469 Auch in diesem Falle hatte er obskure, der Welt der Künstler scheinbar völlig fremde Phänomene zum Thema gemacht wie die im Vorfeld des Jahres 1524 grassierende Sintflutprognostik, die aufgrund der für das Jahr 1524 zu erwartenden Häufung von Planentenkonjunktionen im Haus der Fische eine verheerende Flutkatastrophe für dieses Jahr in Aussicht stellte und einen entsprechenden Schrecken auch verbreitete (wiewohl es auch Kritiker dieser Prognostik, die als beruhigende Elemente fungierten, durchaus gab). Da Warburg aber nun vornehmlich die Szenerie der Reformation im Auge hatte und eher Deutschland als Italien, ergab es sich von selbst, dass seine Ausführungen im Zusammenhang mit Leonardo da Vinci wenig Beachtung fanden. Zwar hatte beispielsweise Kenneth Clark, in seiner mustergültigen Biographie des Künstlers Leonardo, den möglichen Zusammenhang zwischen Sintflutzeichnungen und dem Zeitkontext schon gesehen,470 aber Joseph Gantner andererseits stellte einen solchen Zusammenhang, der Korrekturen, die an Warburgs Deutungen aus heutiger Sicht anzubringen sind, betreffen die hier in der Folge verhandelten Fragen nicht direkt. Es geht dabei vorrangig um Warburgs Obsession der Freilegung einer ‹griechischen Herkunft› bestimmter Bildinhalte. Indirekt sind diese Korrekturen allerdings äußerst signifikant, als damit einer Fixierung auf die griechische Antike – und einer damit einhergehenden Marginalisierung des orientalischen Moments durch die Warburg-Rezeption – entgegengearbeitet wird. 467 [Abū Ma‘shar bzw. Albumasar], [Buch VI der ‹Großen Einleitung›], hrsg. von Karl Dyroff, in: Franz Boll, Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, Leipzig 1903, S. 482–539. 468 Reti Nr. 55. 469 Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagungen in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Horst Bredekamp et al., 1. Abt., Bd. I.2 (Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers), Berlin 1998, S. 487–558 bzw. 647–656 [urspr. 1920; Reprint der Studienausgabe von 1932]. 470 Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Reinbek 1983 [engl. Originalausgabe 1939], S. 157.
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nicht ins Gesamtbild seines Deutungsansatzes passte, als unwahrscheinlich dar.471 Und tendenziell war man ja seit jeher geneigt, in der Szenerie der Renaissance eher den Ursprung der Moderne zu erkennen, in der eine Mentalität des Experiments und der nüchternen Erfahrungsbildung vorherrschte und nicht eine Mentalität des Aberglaubens und des Vorurteils.472 Aber die Forschung zur Geschichte der Astrologie streicht eben diese Zeitenwende heute als einen Höhepunkt deren Geschichte heraus.473 ‹Profezie di corte e di piazza› Erst weitere Bahn brechende Forschungen der 1980er Jahre waren geeignet, diese falschen Einseitigkeiten und problematischen Gegensatzbildungen zu korrigieren:474 Auch die Welt der Renaissance, auch Italien, auch der Süden, dies war nun zur Kenntnis zu nehmen, war von einem astrologischen Obskurantismus regelrecht überschwemmt worden. Seit dem Einmarsch des französischen Heers unter König Karl VIII. im Jahre 1494 grassierten die düstersten Prophezeiungen; als ein regelrechter Prophetismus griff diese Tendenz um sich, und artikulierte sich an Höfen und auf Plätzen.475 Und auch die eigentliche Sintflutprognostik, die als eines der ersten gesamteuropäischen Medienereignisse bezeichnet worden ist,476 war als eine Bewegung, als ein Phänomen der Mentalitätsgeschichte früher anzusetzen als bisher angenommen. Ein italienischer Astrologe – Luca Gaurico –477 hatte ganz maßgeblich dazu beigetragen, spätestens seit dem Jahr 1502, dass sich ein Szenario der Katastrophe gesamteuropäisch in den Köpfen festsetze, 471 Gantner, a.a.O., S. 222. 472 Vgl. etwa Folker E. Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 227 (es ist hier auch an die Theorie der Modernisierung von Max Weber zu denken). 473 Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, in: Klaus Bergdolt / Walther Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 241–279. 474 Vor allem die Historikerin Paola Zambelli hat Grundlegendes zur Erforschung der Sintflutprognostik und des Astrologismus geleistet. Siehe für umfassende Belege: Hubertus Fischer, Grammatik der Sterne und das Ende der Welt. Die Sintflutprognose von 1524, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen 1988, S. 191, Fn 1. Hier relevant ist vor allem Paola Zambelli, Many ends for the world. Luca Gaurico Instigator of the Debate in Italy and in Germany, in: dies. (Hg.), ‹Astrologi hallucinati›. Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin/New York 1986, S. 239–263). Auch von Seiten der Literaturwissenschaft ist die Thematik angegangen worden (siehe Carlo Vecce, Leonardo e il gioco, in: Passare il tempo. La letteratura del gioco e dell’intrattenimento dal XII al XVI secolo, Atti del Convegno di Pienza, 10–14 settembre 1991, Bd. 1, S. 287ff. [Literatur]). Grundlegend ist außerdem der erwähnte sehr instruktive Aufsatz von Fischer, a.a.O. Vgl. des Weiteren die Beiträge in Marjorie Reeves (Hg.), Prophetic Rome in the High Renaissance Period, Oxford 1992, und Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528, Tübingen 1990. 475 Siehe insbesondere Vecce, a.a.O. 476 Fischer, a.a.O. 477 Siehe DBI und die genannte Arbeit von Zambelli.
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ein Szenario, das aufgrund von astronomischern Berechnungen antizipiert worden war und sich mehr oder minder zwingend ergab, wenn man einen mehr oder minder determinierenden Einfluss der Sterne auf das irdische Geschehen annahm.478 Gauricos Stil war gleichsam sein Markenzeichen: Er verknüpfte als der einzige der italienischen Astrologen und inspiriert von der deutschen Praxis der Prognostik den prophetischen Ton mit Astrologie in der Spielart des so genannten Konjunktionalismus.479 Die Erforschung des Prophetismus und der Sintflutprognostik hatte keinen eigentlichen Bezug zur Leonardo-Forschung, lediglich der alte Hinweis von Kenneth Clark, der sich aber um Leonardos ‹literarische› Schriften weniger gekümmert hatte als um die Sintflutzeichnungen, wurde aufgegriffen.480 Es schien wahrscheinlich, dass die Zeichnungen in einem wie auch immer gearteten Bezug zur Sintflutprognostik standen. Doch dabei blieb es, bis Frank Fehrenbach in den frühen 1990er Jahren als ein Kunsthistoriker und Leonardist den Blick stärker ausweitete auf den Prophetismus der Zeit, auf das apokalyptische Zeitklima und auf Praktiken der Zeitgenossen darauf – manchmal mit Humor bzw. Spott – zu reagieren.481 Allerdings nahm sich auch Fehrenbach der schriftlichen Äußerungen Leonardos im Medium der Literatur nicht eigentlich an. Aber vor diesem Hintergrund der Forschungsgeschichte fügte sich beinahe von selbst eines zum anderen. Es ergibt sich eine Konvergenz, deren Ergebnis bloß noch auszuformulieren ist: Den von der Literaturwissenschaft erarbeiteten Deutungsvorschlägen erwächst ein eigentlicher Sinn in vollem Umfang erst von dem Zeitkontext her, den Aby Warburg als erster zu erschließen unternommen hatte. Erst nach einer seit gut einem Jahrhundert geführten Debatte erschließt sich so der Sinn von Leonardos Texten, die zwar Fragment geblieben sind und als solche per se nicht auszuschöpfen sind, die aber doch weit entschiedener auf den Zeitkontext bezogen werden können, als dies bislang der Fall gewesen ist. Leonardo da Vinci schöpfte als ein Prosaist nicht bloß aus sich, nicht bloß aus sekundären Texten, er reagierte auch auf seine Zeit. Nicht zuletzt, indem er sich – im Rahmen seiner Vokabellisten – einen Latinismus aufschrieb, nämlich ‹pronosticare› als gediegeneren, gebildeteren Ausdruck für: ‹indovinare per auguri› – ‹weissagen durch Vorzeichen›.482
478 Hier sei bloß angedeutet, dass eine Vielzahl von Positionen möglich war. Sehr instruktiv ist – auch in diesem Zusammenhang – Fischer, a.a.O. 479 Ebd., S. 206 (Gaurico); S. 201 (Konjunktionalismus als die Lehre von dem Einwirken den Planetenkonjunktionen auf das irdische Geschehen). Vgl. diesbezüglich auch Hüber, a.a.O., S. 252. 480 Fischer, a.a.O., S. 206, Fn 68. 481 Frank Fehrenbach, Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen 1997, S. 309. 482 Edmondo Solmi, Nuovi contributi alle fonti dei Manoscritti di Leonardo da Vinci, in: Giornale Storico della Letteratura Italiana 58 (1911), S. 346. Die Listen verdankten sich auch eines Durcharbeitens von Luigi Pulcis Wörterbuch.
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Ein neuer intertextueller Bezug Niemand käme auf die Idee, Leonardo da Vinci eine astrologiegläubige Position zu unterstellen.483 Deutlich sind seine polemischen Worte in diesem Zusammenhang, denen eine Unterscheidung zwischen mathematisch abgestützter Astronomie und obskurantistischer Astrologie zu entnehmen ist.484 Aber die Begegnung Leonardos mit den – aus heutiger Sicht – obskurantistischen Positionen ist stärker auszuleuchten, wenn man dem ‹Diodario-Material› angemessen begegnen will. Und dass Leonardo mit den Texten in Berührung kam, auf die Luca Gaurico und andere Verteidiger der Astrologie als einer Möglichkeit der Zukunftsvoraussage, basierend auf der historischen Erfahrung mit bestimmten Planetenkonstellationen, ihre Position abstützten, ist schon durch den erwähnten Buchbesitz belegt. Albumasar war der Vordenker der Konjuktionstheorie, die aus dem Zusammentreten der Planeten Schlussfolgerungen in Hinblick auf das irdische Geschehen zog. Wie nahe sich allerdings Leonardo da Vinci und Luca Gaurico gekommen sind, wissen wird nicht. Doch es ist gerechtfertigt, in den Texten Leonardos einen Reflex auf ein Szenario zu erkennen, das sich spätestens 1502 mit einer Prognostik verbreitete, die man Luca Gaurico zuschrieb und die sich heute mit seinem Namen verbindet.485 Ob Gaurico wirklich der Autor gewesen ist, ist weniger von Belang als die Feststellung, dass sowohl Leonardo wie auch der Autor der Prognostik mit einem Szenario arbeiteten, in dem sich eine topisch geschilderte Naturkatastrophe im Osten mit dem Auftreten eines Propheten verknüpfte. «Eloquar, an sileam? Magnum mihi sydera vatem venturum monstrant… …certum est venturum Oriente prophetam Maxima cui toto fient miracula mundo, Cui cunctae gentes, cui totus serviet orbis, Qui novas leges statuet, cui cuncta refringet Diluvium multis magnum minitatur aquarum Saepe locis piccosque immixta grandine nimbos, Fulguraque et variis horrenda tonitrua terris»486 483 Die Forschung neigt allerdings ein wenig reflexhaft dazu, Leonardo immer diejenige Position zu unterstellen, die als die in seinem Zeitkontext modernste erscheint. Wir wissen allerdings zum Beispiel nicht genau, was sich Leonardo unter einem Kometen vorstellte; und wir wissen auch nicht genau, ob Leonardo den Planeten – im aristotelischen Sinne – einen wie auch immer gearteten Einfluss auf das irdische Geschehen unterstellte. Im medizinischen Bereich war dies von Belang, was sich unter anderem an einem von Leonardo rezipierten Autor, nämlich Michael Scotus, studieren lässt. 484 Siehe P II, S. 119f. 485 Zambelli, a.a.O., S. 244f. 486 Zitiert nach Zambelli, a.a.O., S. 244f. (die Randglossen und die stärker astrologisch orientierten Passagen, die Zambelli im Apparat gibt, sind hier nicht übernommen). Zambelli kommentiert (S. 245): «[…] his prognostications, as we have seen, contained the two fundamental motivs of the flood po-
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Es handelte sich also um ein und dasselbe Gerüst eines Szenarios, das in einem Gebrauchstext, einer Prognostik aus dem Jahr 1502, und in den Texten Leonardos, wie immer man sie datierte487 und wie immer man die Gattungsfrage beantwortete, vorlag. Doch während der Sinn des Gebrauchstextes eben darin lag, eine bestimmte Voraussage der Zukunft zu verbreiten, kann diese Stoßrichtung Leonardo natürlich nicht unterstellt werden, schon aufgrund seiner bekannten Abneigung gegenüber der Astrologie als einer – zumindest in großen Zügen – Pseudo-Wissenschaft. Wenig überraschend stieß Leonardo nicht ins Horn der Apokalyptiker, sondern ganz allgemein gesprochen objektivierte er zunächst schlicht und einfach einmal das Szenario des Gebrauchstextes. Spektakulärer ist es zu beobachten, dass es sich in dieses Szenario regelrecht hineingedacht hat, und zwar als eine Instanz des Wahrnehmens und des Erlebens. Zwar deutet sich ein eigentliches Handlungsgeschehen in diesen Fragmenten bloß an, aber es ist sehr deutlich, dass ein Ich als Instanz des Erlebens, als Augenzeuge einer Naturkatastrophe als ein zerstörerisches Wüten der vier Elemente erlebt, durchlebt, überlebt.488 Die entscheidende Frage in Bezug auf die Deutung dieser Texte ist nun die Frage, wie das erzählte Ich Leonardo im Rahmen dieser Fiktion und das Autoren-Ich, Leonardo als Autor, dieses Geschehen erlebten; das heißt entweder als ein von einer bestimmten Planetenkonstellation herbeigeführtes Geschehen erlebten (entsprechend der sich verbreitenden Vorstellungen der Prognostiker), oder als irdisches Geschehen, das von ganz anderen Gegebenheiten her zu verstehen war (beispielsweise als eine Überschwemmung infolge eines Bergsturzes). Diese zweite Möglichkeit ist – teilweise – explizit gemacht. Die Haltung des Autors kann von daher als ein Unterlaufen der Astrologie, des Prophetismus’ und der Sinflutlemic: first, various natural calamities (according to Albertus Magnus’s philosophy of the four elements a flood entailed not only water but earthquake, whirlwind, and fire); and, second, the figure of the heresiarch […].» Letzterer ist im Weiteren als «Magnus pseudo propheta» bezeichnet. 487 Siehe Francesco P. Di Teodoro, ‹Stupenda e dannosa maraviglia›, in: ALV 2 (1989), S. 125f. (sowie die Tabelle in Kap. 5 weiter unten): Auf Calvi geht die Frühdatierung auf ca. 1494–97 zurück (siehe auch Gerolamo Calvi, I manoscritti di Leonardo da Vinci dal punto di vista cronologico, storico e biografico, hrsg. von Augusto Marinoni, Busto Arsizio 1982 [urspr. 1925], S. 68); Clark entschied sich für ‹ca. 1502›, und Di Teodoro selbst erwog die überhaupt späteste Datierung, nämlich ‹ca. 1508›. Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Prognostik, wie sie hier vorliegt, spätestens ab dem Jahre 1502 verbreitete, vermutlich aber schon früher ähnliche Formen kursierten, denn Gaurico inspirierte sich an älteren Prognostiken insbesondere deutscher Provenienz, dann ist es wenig problematisch, Leonardos Texte und die Prognostiken aufeinander zu beziehen (ohne uns damit auf bestimmte kausale Zusammenhänge zu sehr festlegen zu wollen). 488 Die topische Qualität der Texte Leonardos ist bislang nicht recht gesehen worden. Aber gerade in dieser Topik ist ihnen ihre Konstruiertheit eingeschrieben. Wäre Leonardo wirklich Zeuge einer Naturkatastrophe gewesen, wie er sie evozierte, müsste es sich um eine Katastrophe gehandelt haben, die sozusagen der theoretisch idealen, stereotypen Form entsprach. Alle Elemente kamen darin zum Tragen, und Leonardo sprach die vier Elemente auch explizit an. Er evozierte also ein theoretisches Konzept – und dies als ein vermeintlicher Augenzeuge.
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prognostik gedeutet werden, als ein im eigentlichen Sinne – und eine allgemeine These des Mediävisten Johannes Fried bestätigendes – aufklärerisches Verhalten.489 Ein eigentlicher Aufklärer im Felde war das Ich der Erzählung auch im Verhältnis zu seinem offenkundigen Auftraggeber, dem ‹Diodario von Syrien›, und als ein Aufklärer begegnete die Erzählinstanz auch jener Figur des Szenarios, die schon darin vorhanden war, bevor sich Leonardo in dieses hinein imaginierte: dem Prediger bzw. dem ‹neuen Propheten›. Zweifache Gegnerschaft Wie immer sich diese Begegnung in einer Sequenz der Handlung gestaltet hätte, Leonardo objektivierte im Rahmen seiner Erzählung auch das Motiv des Propheten, der vor, während und nach einer Naturkatastrophe auftritt und seine Prophetie auf das eingetretene Ereignis bezieht. Wieder stellt sich die Frage, wie sich das Ich der Erzählung und Leonardo als Autoren-Ich zu diesem Auftreten verhielt. Beabsichtigte er, den Astrologismus samt seiner Nebenerscheinungen – das Auftreten der Nutznießer, die aus bestimmten Ereignissen eigenes Kapital zu schlagen wussten und sich selbst als Bewältiger der Ereignisse empfahlen – schlicht zu unterminieren? Wenn dem so ist, könnte von einer doppelten Gegnerschaft gesprochen werden. Zum einen richtete sich die Erzählung gegen den Geist des Astrologismus, den Gaurico verkörperte, zum anderen imaginierte sich Leonardo auch den Propheten als einen möglichen Widerpart, der sich darum bemühte, die Katastrophe mit seinen Prophetenworten in Einklang zu bringen. Damit war nicht allein das Wirken der Astrologen im Visier Leonardos, sondern auch das Treiben der Zeichendeuter, die Profit schlugen aus einem Geschehen, das sie aus den Sternen oder aus dem Walten Gottes erklärten, aber jedenfalls nicht aus natürlichen, diesseitigen Ursachen. Man ist versucht, die rätselhafte Mission, von der im Rahmen des Textes die Rede ist, als eine aufklärerische zu beschreiben, als eine Erkundung des Geländes, aus der kritische Impulse hervorgingen, die geeignet waren, Astrologismus und Prophetismus zu bekämpfen. Aber wir haben uns an ein Textmaterial zu halten, so fragmentarisch es eben vorliegt. In den vorhandenen Fragmenten tritt Leonardo uns als ein Aufklärer entgegen, der zwar nicht explizit den Astrologismus und die Zeichengläubigkeit entlarvt, aber immerhin ein üblicherweise Angst verbreitendes Zeichen, nämlich den Kometen, als ein Trugbild.490 Es erklärte sich als ein Leuchten oder Erglühen der höchsten Berggipfel 489 Es scheint hier tatsächlich ein faszinierendes Beispiel vorzuliegen, dass Apokalyptik, verstanden in einem weiten Sinne, Naturbeobachtung und -erklärung stimulierte (vgl. Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001). Diesen Zusammenhang bei Leonardo vorzufinden ist eine der Kemp’schen, nicht unerwarteten Überraschungen. 490 Bezüglich einer Aufzählung von Unheilszeichen siehe Fried, a.a.O., S. 69. Bezüglich des Kometen als ein apokalyptisches Zeichen vgl. insbesondere auch die Erkenntnisse der Dürer-Forschung (rekapi-
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von den Strahlen der Sonne und den als Form gebenden Schablonen wirkenden Wolkenformationen her. Nähme man an, dass auch der Rest der Erzählung aus dieser Haltung, aus diesem Geist heraus gestaltet worden wäre, dürfte die Erklärung der Naturkatastrophe nicht aus einem Einfluss der Sterne, sondern aus den geologischen Gegebenheiten in Armenien erklärt worden sein. Denn im Codex Leicester, der eine Kompilation darstellt und einen Rückblick Leonardos auf frühere Studien dokumentiert, ist eine geologische Erklärung von Überschwemmungen im Orient gegeben.491 An anderer Stelle, auf den ersten Blick nicht im Zusammenhang mit der Erzählung schickte Leonardo also später die im Rahmen der Literatur fehlende Erklärung sozusagen nach. Überschwemmungen, ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, erklärten sich aus dem Zusammentreffen der folgenden drei Dinge: «[…] nämlich Rückfluss des Meeres, westliche Winde und Schmelzen des Schnees, die Ursache der gewaltigen Überschwemmungen sind und waren.»
Damit ist nicht eine vollständige Erklärung der topischen Katastrophe gegeben, die Leonardo im Rahmen der Erzählung imaginierte, aber ein Aspekt – die Überschwemmung – wurde auf bestimmte Einflüsse zurückgeführt, nicht aber auf Einflüsse der Sterne. Und obschon nicht von Überschwemmungen im Taurus-Gebirge die Rede ist, stand doch alles in einem Gesamtzusammenhang. Es vermengten sich die Wassermassen von der See her (gespeist durch die Flüsse), aber auch vom Gebirge her, mit verheerenden Folgen für die Ebenen bzw. Senken: «Da strudelte alles durcheinander in Syrien, in Samarien, in Judäa zwischen dem Sinai und Libanon und in dem Rest Syriens zwischen dem Libanon und dem Taurusgebirge, in Cilicien diesseits der Armenischen Berge und in Pamphylien und Lyzien diesseits der Celenischen Berge, und in Ägypten bis zum Atlasgebirge.»492
Hier deutete Leonardo nicht zuletzt nochmals an, über welche geographischen Kenntnisse er verfügte. Und wenn man – im Hinblick auf die ‹armenischen Briefe› den Kontext des Erzählens, die innere Struktur des Erzählten mit den übrigen Aufzeichnungen Leonardos zusammen denkt, erscheint das Material als ein Reflex auf die grassierende Sintflutprognostik in seinem unmittelbarsten Lebensumfeld, als eine kritisch-subversive Antwort im Medium der Literatur, die geeignet war, die Vision zum einen durchzuspietuliert etwa bei: Hartmut Böhme, Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt a.M. 1989, S. 38ff. und S. 54). – Worauf genau Leonardo sich mit ‹Stupenda e dannosa maraviglia› bezog, ist nicht ganz klar. Di Teodoro bezog es auf die eigentliche Naturkatastrophe. Dies ergibt einen Sinn und kann durchaus so gemeint gewesen sein. Aber auch im Hinblick auf den Kometen ergibt es einen Sinn, denn ‹schädlich›, da irreführend und dem Obskurantismus Vorschub leistend, war auch das Trugbild einer nächtlichen Anstrahlung der Bergketten durch die nicht mehr sichtbare Sonne, also der ‹Pseudo-Komet›. 491 Di Teodoro hat bemerkt, dass es sich um das gleiche geographische Szenario handelt (Di Teodoro, a.a.O., S. 122, Fn 13); er sah jedoch nicht die Konkurrenzbeziehung des Diskurses der Astrologie und des naturwissenschaftlichen Diskurses Leonardos, der gewissermaßen einen Gegenentwurf darstellt. 492 Zitiert nach TuA, S. 246 (CL 31r). – Eine weitere Erwähnung des Taurus-Gebirges: ebd., S. 232.
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len und zum anderen zu unterlaufen. Denn wie das Auftreten eines Kometen als eine Täuschung entlarvt wurde, so dürfte Leonardo, ohne dass wir hier in allzu spekulative Sphären geraten, auch Überschwemmungen, Bergstürze, Lawinen und Feuerbrände nicht als Phänomene in Folge eines ungünstigen Planeteneinflusses dargestellt haben, sondern als solche, die ihren Ursprung in ganz irdischen Gegebenheiten hatten. Zu eingehend dokumentiert ist Leonardos Interesse an den Phänomenen auf und in der Erde, als dass seine Position nicht eine astrologiekritische hätte sein können, die sich am Auftreten eines Luca Gaurico letztlich stieß. Insgesamt erscheinen die manchmal hochgeschätzten, manchmal banalisierten ‹armenischen Briefe› als Ausdruck einer sehr modernen Haltung, nämlich als ein subversiver Reflex auf den sich in falsche Erklärungen flüchtenden und zu Unrecht Angst verbreitenden Obskurantismus der Zeit, ohne davon allerdings ganz unbeeindruckt zu sein. Denn es handelt sich eben um einen Reflex darauf. Der ‹Perser› Gaurico In einer späteren Prognostik ist ähnlich wie in Leonardos Texten die Imagination bzw. Vorausschau auf ein apokalyptisches Geschehen als die Wahrnehmung eines Dienstmannes eines orientalischen Würdenträgers ausgewiesen. Gaurico verbreitete eine Prognostik unter dem Deckmantel eines Lucas, ‹Astrologe des persischen Königs›. Und diese Inszenierung eines Dienstverhältnisses stellt eine weitere Ähnlichkeit mit den Texten Leonardos dar, die nochmals die Frage aufwirft, wie nahe sich der ‹aufklärerisch› gesonnene Künstler und der Astrologe Gaurico gekommen sind. Zunächst ist festzuhalten, dass Leonardo möglicherweise ein von Luca Gaurico herausgegebenes Buch auch selbst besaß.493 Darüber hinaus könnte Luca Gaurico bzw. dürften die Gebrüder Gaurico ins Gesichtsfeld Leonardos getreten sein, weil Pomponio Gaurico, der Bruder von Luca, ein kunsttheoretisches Traktat über die Bildhauerei veröffentlicht hatte, in dem Leonardo selbst Erwähnung fand.494 Und schließlich könnten sich sogar Begegnungen im Umfeld des für die Astrologie empfänglichen Papst Leo X. ergeben haben, etwa in Bologna 1515. Diese Andeutungen einer möglichen Nähe sind wie gesagt nicht notwendige Voraussetzungen des hier präsentierten Deutungsvorschlags. Entscheidender ist, dass Leonardo mit den Denkmustern der Astrologiedebatte und der Praxis der Astrologie in Berührung gekommen ist, und die Frage, wie sich diese Begegnung gestaltete.495 In diesem Umfeld machte es Sinn, sich – entweder vollkommen privat oder zusammen mit einem persönlichen Umfeld – eine Position im Hinblick auf die Astrolo493 Carlo Maccagni, Riconsiderando il problema delle fonti di Leonardo. L’elenco di libri ai fogli 2 verso – 3 recto del codice 8936 della biblioteca nacional di Madrid, LV X, Firenze 1971, S. 21. 494 Siehe DBI und André Chastel, Chronik der italienischen Renaissancemalerei 1280–1580, Würzburg 1984, S. 143 (‹ein des Archimedes würdiges Genie›). 495 Siehe Anhang A mit ausführlichen Belegen (‹Arabische Autoritäten im Denken und Schreiben Leonardos›).
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giedebatte zu erarbeiten. Es machte auch Sinn, dem grassierenden Prophetismus mit Spott zu begegnen oder die ganze beunruhigende Thematik in geselligen Spielen zu bewältigen. Man hat seit ehedem die ‹Prophetien› Leonardos in einen Zusammenhang mit dem ‹Diodario-Material› gestellt, und wenn auch die ‹Prophetien› nicht eigentlich Teil einer Erzählung gewesen sind – es handelte sich eher um eine performative, dem Theater verwandte Gattung des Gesellschaftsspiels –, so steht doch eine Verwandtschaft dieser beiden Werkkomplexe außer Frage. In zwei unterschiedlichen spielerischen oder kreativen Formen scheint Leonardo auf das Phänomen des Prophetismus reagiert zu haben, und wahrscheinlich eher in einem geselligen Zusammensein als für sich alleine. Denn setzten die ‹Prophetien› das Zusammensein eines Rätselstellers und mindestens eines Rätselraters voraus, so dürften auch die ‹armenischen Briefe› geeignet gewesen sein, gemeinsam die Vorstellungswelt der zeittypischen Prognostik in ein literarisches Gesellschaftsspiel zu transponieren, das lehrhafte Gehalte – wie im Hinblick auf das Phänomen des Schein-Kometen eindeutig festgestellt werden kann – und unterhaltsame Aspekte in Einklang brachte. Wie weit Leonardo dabei gegangen ist, kann wie gesagt nur vermutet werden. Aber dass er die Astrologiegläubigkeit beispielsweise des Mailänder Hofs wohl kaum goutierte, ist ablesbar in einer ‹Prophetie›, die (so wie man im ländlichen Italien teilweise mit Küken verfuhr) mit dem Gedanken einer Kastration der Astrologen spielte.496 Wenn man diese derbe Ausfälligkeit, die mit der Anbiederung Luca Paciolis an den Hofastrologen der Sforza kontrastierte,497 als Hinweis werten darf, dass die ‹Prophetien› eher einem inneren Kreis von Werkstattmitarbeitern zugedacht waren, könnte man auch im Hinblick auf das ‹Diodario-Material› die Bottega als eigentlichen Adressaten vermuten. Auch Zeichnungen gehörten zu dem Material, und das Motiv der Sintflut behandelte Leonardo als Maler, der sich darüber Gedanken machte, wie man als solcher eine Sintflut darzustellen hatte. Auch diesen Aspekt in einem geselligen Zusammensein zu behandeln waren die Texte geeignet, die so gesehen Zeitkritik enthielten, indem sie auf den Astrologismus reagierten, didaktisch-lehrhaft waren, indem sie mit einer entfernten Region vertraut zu machen versuchten, und auch geeignet waren, zu einem eigentlichen Darstellungsproblem hinzuführen. So gesehen hatte man das Material – kollektiv – ganz richtig eingeschätzt, indem man ihm einen sozusagen prekären Status zugewiesen hatte. Es war geeignet, vieles zugleich zu sein, in einem Kontext, der seinerseits vielschichtig war. Leonardo tritt uns in seinen Texten als ein Künstler, Forscher und – darauf hebt die neue Deutung ab – ein Zeitgenosse entgegen, der sich nicht in ‹Visionen› oder phantastisch-exotischen Sehnsuchtsbildern erging, sondern darauf reagierte, was sich in seinem Gesichtskreis tat. Ein Maler konnte sich innerlich ein Bild von allem machen und darauf als ein Maler
496 Siehe auch Anhang A (‹Klärendes zur Amerika-Problematik›). 497 Es dürften sich hier das opportunistische und das in einem wahren Sinne opportune Handeln modellhaft gegenüberstehen.
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reagieren, der nicht bloß ein Maler war, sondern auch Lehrer, Forscher und – ein Zeitgenosse.498 Warum nun, sei abschließend gefragt, situierte Leonardo da Vinci eine literarische Erzählung, ausgerechnet in der Taurus-Region? Warum verortete er hier den Standpunkt seines Erzählens? Es kommen hier gleich mehrere Gründe in Frage; und vielleicht verdankt sich die Wahl eben diesem Bündel von Gründen. Die Frage eignet sich also, nochmals die wesentlichen Impulse seines Schreibens in gedrängter Form vor Augen zu führen. Als biblische, mit der Erzählung der Sintflut und der Arche Noah verbundene Topographie war diese Region per se im Blickfeld der Sintflutprognostik der Renaissance und damit auch im Blickfeld Leonardos, der bekanntlich mitunter auch gegen den biblischen Sintflutbericht ironisch-sarkastisch anschrieb (nämlich im Codex Leicester).499 Als ein politischer Raum, nämlich als die Arena des Aufeinandertreffens dreier Mächte – Mamluken, Osmanen und Safawiden –500 zog dieser Raum auch in Kaufhändlerkreisen eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Denn es handelte sich um einen Brennpunkt des damaligen Weltgeschehens, der auch den Fernhandel betraf, wenn auch eher an den Rändern der abendländischen Weltwahrnehmung (was das politische Geschehen anging). 498 Vgl. Gombrich (a.a.O., S. 53), der programmatische Passagen aus den Schriften zur Malerei zitiert. – Das Problem der Landschaft, hier der gezeichneten, durch den Text orientalisch konnotierten Landschaft, wird in Anhang A wieder aufgenommen werden (Synopse, Sektionen ‹Das Heilige Land›; ‹Der Ferne Osten›). Dies aufgrund der oftmals bemerkten Verwandtschaft der Felsenlandschaft, hier mit der Taurus-Region assoziiert, mit den Hintergrundlandschaften der ‹biblischen› Szenen sowie eines Gemälde ‹nicht-biblischen› Inhalts (Mona Lisa). Woraus im Übrigen eine (indirekte?) Verwandtschaft dieser beiden Kategorien hervorgeht, und sich jedenfalls die Frage stellt: Wo verortet Leonardo das (biblische oder nicht biblische) Geschehen? Im ‹Diodario-Material› gibt es den direkten Bezug auf Geographisches und Geologisches. Eine ‹symbolische Landschaft› kann nicht intendiert sein, denn dies unterliefe den Bezug und machte keinen Sinn. Doch was bedeutet dies im Hinblick auf die anderen Landschaften, die teilweise durch den Bildinhalt orientalisch konnotiert sind? Löst sich diese Konnotation in einem Konzept der ‹symbolischen Landschaft› auf oder nicht? Und in welcher Beziehung stünde eine ‹symbolische Landschaft› zum Bild des Orients, wie der ‹Lehnstuhlreisende› Leonardo – gleichwohl auf Basis der verfügbaren Geographie und Geologie – es sich dachte? Zum Thema ‹Landschaft bei Leonardo› vgl. zum Beispiel Frank Zöllner, Leonardo da Vinci ed il paesaggio roccioso: fra ‹scienza› e simbolismo religioso, in: RV 31 (2005), S. 231–256. Ein älterer Referenztext ist: Alexander Perrig, Leonardo: Die Anatomie der Erde, New York 1983 [Supplement zu dem Ausstellungskatalog Leonardo da Vinci. Natur und Landschaft. Naturstudien aus der Königlichen Bibliothek in Windsor Castle]. 499 Siehe bezüglich der Sintflut-Motivtradition: Don Cameron Allen, The Legend of Noah. Renaissance Rationalism in Art, Science, and Letters, Urbana 1949 [Illinois Studies in Language and Literature 33]. Bezüglich Leonardos Bibelkritik siehe Solmi, S. 102f. – Der Berg Ararat findet im Übrigen bei Leonardo keine namentliche Erwähnung. 500 Albrecht Fuess, Dreikampf um die Macht zwischen Osmanen, Mamlūken und Safawiden (1500–1517). Warum blieben die Mamlūken auf der Strecke?, in: Stephan Conermann / Anja Pistor-Hatam (Hg.), Die Mamlūken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur. Zum Gedenken an Ulrich Haarmann (1942–1999), Schenefeld 2003, S. 239–250.
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Und schließlich machte Leonardo ja ein ganz spezifisches, nur in diesem Raum zu beobachtendes Phänomen zum Thema, nämlich das Leuchten des Taurus – eine Art ‹Alpenglühen› –, das er nicht als Komet und damit als Schrecken erregendes Unheilszeichen missverstanden wissen wollte. Zudem: Von Alters her – aber nicht ganz einheitlich – verortete man die höchsten Erhebungen der Erde in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. In anderen Worten: Auch die schlichte Frage nach dem höchsten Berg der Welt führte gedanklich in die Gegend.501 Alles in allem lag es eigentlich auf der Hand, diesen Raum einem geographisch interessierten, vielleicht auch um die Zukunft besorgten Publikum näher zu bringen.502 Eine ‹profezia› Leonardos enthält des Weiteren eine Erwähnung der Taurus-Region in Zusammenhang mit den dortigen Wäldern und der Holzwirtschaft.503 Auch diese Erwähnung ist als ein Hinweis zu werten, dass Leonardo als ein Zeitgenosse, als ein Beobachter des Zeitgeschehens nicht unterschätzt werden sollte, auch wenn er sich über Politisches in seinen Notizen mehr oder weniger ausschwieg. Denn aus der Taurus-Region stammte das Bauholz der osmanischen Flotte, und während der kurzen osmanischmamlukischen Allianz gegen den Gegner Portugal auch das Bauholz der mamlukischen Flotte.504 Die Taurus-Region aufgrund ihrer Bedeutung als Rohstofflieferant im Auge zu haben, bedeutete schon einen höheren Differenzierungsgrad politischer Wahrnehmung. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Leonardo dieser Bezug wirklich präsent war. Aber wenn sich Leonardo – grob gesagt – in ungefähr den gleichen Jahren mit dem Gedanken trug, eine Brücke über das Goldene Horn zu schlagen, als er auch das ‹Diodario-Material› zu Papier brachte, könnte ihm eine entsprechende Informiertheit doch zugetraut werden. Im Motiv der ‹Pumpmaschine›, das eher marginale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, scheinen sogar mehrere Motivstränge gleichsam zusammenlaufen. Denn
501 Siehe diesbezüglich auch die Kommentare im Rahmen von Anhang B. 502 Z.B. Plinius maior, Naturkunde, Buch 5, Abschnitt 83ff. (Beschreibung des Euphrat) und Alberti, a.a.O., S. 182 und vor allem S. 186. Vgl. auch Morgante, XXVIII, 137. 503 Das Rätsel lautete (zitiert hier nach TuA, S. 863; es ist Nr. 118, nach der Zählung von Marinoni): «Man wird die Bäume der großen Wälder des Taurus und des Sinai, des Apennin und des Atlas von Ost nach West und von Norden nach Süden durch die Luft eilen und eine große Menge von Menschen durch die Luft tragen sehen. O wieviel Gelübde, o wieviel Tote, o wie viele Trennungen von Freunden und Verwandten! Ach, wie viele werden darunter sein, die ihre Länder und ihre Heimat nie wiedersehen werden, die ohne Begräbnis sterben und deren Gebeine zerstreut liegen werden in vielen Gegenden der Welt!» Des Rätsels Lösung bzw. die Entschlüsselung der ‹Prophetie› als einer verklausulierten Rede lautete: ‹die Seefahrt› (denn unter dem Titel «Von der Seefahrt» steht diese ‹profezia› in den Notizen Leonardos). 504 Andrew C. Hess, The Evolution of the Ottoman Seaborne Empire in the Age of the Oceanic Discoveries, 1453–1525, in: The American Historical Review 75 (1970), S. 1892–1919; Hans Joachim Kissling, Dissertationes Orientales et Balcanicae collectae II. Sultan Bajezid II. und der Westen, München 1988, S. 209. Vgl. auch Richters Bemerkung (LdViO, S. 137) bezüglich des Holzhandels an der kilikischen Küste.
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hier ging es um das potentielle Auspumpen von Schiffen, die aus dem Holz der TaurusRegion gefertigt waren. Hauptsächlich aber war diese Weltgegend doch mit der Katastrophe einer großen Flut assoziiert, und in diese – potentiell gefährliche – Gegend transferierte sich Leonardo als ein Ich-Erzähler. Er verlegte den Standort seines Erzählens in diese Gegend, um von einer Katastrophe zu sprechen, um sein naturkundlich-didaktisches Interesse zur Geltung zu bringen und um zeitkritisch in Stellung zu gehen. Vorgeblich sprach er also von weither, von den Rändern der damaligen Weltwahrnehmung, zu der Gesellschaft der Renaissance; in Wirklichkeit aber natürlich von zu Hause aus, in der angenommen Identität eines Reisenden, Grenzgängers und kulturellen Grenzüberschreiters. Und er sprach zu einem heimischen Publikum, das wir nicht näher bezeichnen könnten, aber – aufgrund der didaktischen Impulse und der Anflüge von Ironie – in seinem unmittelbarsten Arbeitsumfeld vermuten.
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5. Fünfte Etappe: Vom ‹Kolumbusjahr› 1992 zur Jahrtausendwende – Leonardo-Rezeption im Zeichen von Multikulturalismus und Postmoderne Der Kalif korrigierte Leonardos Arabisch, aber er tat es gut gelaunt. Jack Dann, Die Kathedrale der Erinnerung505
5.1 Auftakt: New York, Hotel Algonquin Gegen Ende der 1980er Jahre vertiefte sich der Schriftsteller Jack Dann – ein gebürtiger Amerikaner, der inzwischen in Australien lebt – in der Lobby eines New Yorker Hotels in die Leonardo-Literatur der 1930er Jahre. Ein Romanprojekt trieb ihn um, das ungefähr sechs Jahre später, 1995, mit einem Buch im Umfang von 200’000 Worten – und in kommerzieller Hinsicht durchaus erfolgreich – abgeschlossen werden konnte. Und dennoch steht Die Kathedrale der Erinnerung, ein in zehn Sprachen übersetzter Bestseller, heute im Schatten des noch viel exorbitanteren Erfolges von Dan Browns The Da Vinci Code von 2001 (dt. Sakrileg).506 Beide Bücher können als Produkte einer eklektizistischen Populärkultur der Postmoderne angesehen werden – ein Hauptunterschied zwischen den beiden Romanen ist es allerdings, dass Jack Dann Leonardo da Vinci zur eigentlichen Hauptfigur seines Romans gemacht hat, wohingegen The Da Vinci Code, eigentlich ein Buch über die Mythen der Kirchengeschichte, bloß mit der Faszinationskraft des Mythos ‹Leonardo› operiert, ohne dass indes Leonardo da Vinci zum eigentlichen Personal des Buchs gehörte, also als Figur auf der Handlungsebene des Buches wirklich eine Rolle spielte. Hier bedeutsam ist: Jack Danns Roman ist eine späte ‹Nebenfrucht› der Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung. Es gründet in den Ideenkeimen, die Jean Paul Richter, die Pionierfigur der Leonardo-Forschung, einst in seinem Opus magnum hinterlegte. Und als eine späte Frucht ist es in einem völlig anderen historischen Kontext entstanden, der es umso interessanter macht, den Roman in diese Darstellung der Debatte über die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung einzubeziehen. Jack Dann, ein sehr auskunftsfreudiger Autor, hat sich in diversen Interviews zur Entstehungsgeschichte seines Buches geäußert, und die Urszene erinnert er wie folgt: «[…] I was sitting in my old hotel – […] – the old Algonquin in New York.507 I was sitting in the lobby, and I was reading a 1930’s book about Leonardo da Vinci, because I’ve found that if you want to get real description you read books written before television, because life was 505 KdE, S. 478. 506 Dan Brown, The Da Vinci Code, London 2004 [urspr. 2003]. 507 Dieser Name ist auch im Zusammenhang eines Literatenzirkels um die Autorin Dorothy Parker bekannt.
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much slower. […] So I’m reading this book about Leonardo, and I had this vision of these gothic-looking flying machines flying over Florence, […]… It was almost like a hallucination, and I thought: I want to make that. I want to take that photograph and create that world for myself.»508
Im nachträglichen Sprechen über seinen Roman entwickelte der Autor auch einige Gedanken hinsichtlich der Gattung seines Buchs.509 Denn es hatte in den 1990er Jahren einen Preis gewonnen, und zwar in der Kategorie ‹Fantasy›, was ihm die Käufer von eigentlichen Historischen Romanen abspenstig zu machen drohte, die es lieber ‹authentisch› wollten, möglichst authentisch, was immer dies auch heißt (und man sorgte dafür, dass der Roman einen entsprechenden Aufkleber erhielt). Rückblickend erfand sich Dann als eine Subgattung des Historischen Romans die Gattung ‹Secret History›. Er hatte – demnach – nicht Geschichte umgeschrieben – dies wäre diesem Denkansatz gemäß ‹Alternative History› – sondern Geschichte erdacht, die sich in Ereignisräumen abgespielt haben mochte, von denen wir nichts wissen. Er hatte also gewissermaßen im Rahmen des Zulässigen, d.h. historisch Möglichen erfunden (was nur die Frage aufwirft, wie sich dieses Zulässige für Dann bestimmte). Sein Ansatzpunkt waren die ‹Risse› oder ‹Löcher› der bekannten Geschichte,510 und das ‹geheime Leben› Leonardos, ein geheimes Leben im Orient, verortete er in einem solchen ‹Riss›, in einem im Dunkeln liegenden Lebensabschnitt, in dem sich der Romancier ein Geschehen erdachte, über das Leonardo, der historische Leonardo, ein Schweigen gebreitet hatte, ganz wie Jean Paul Richter es – dereinst – vermutet hatte. Während der erste Teil des Romans durch das Bild der Fluggeräte über dem Florenz der Renaissance angeregt worden war, inspirierte sich der zweite Teil des Romans in eben jenen Briefen Leonardos, die im Rahmen dieser Darstellung als das ‹DiodarioMaterial› bezeichnet sind. Und in mehreren Interviews bestätigte Jack Dann die unmittelbare Inspiration durch Richter bzw. durch dessen Anthologie, die Dann in dem amerikanischen Nachdruck von 1970 konsultierte, mit dem die Erstausgabe neu aufgelegt worden war.511 Er hatte sich also im Grunde an dem Werk von 1883 inspiriert, das mittlerweile auch als Digitalisat im Internet verfügbar ist.512 Unmittelbar anschließend an die ‹Urszene› im Hotel Algonquin schilderte der Schriftsteller, wie eins zum anderen gekommen war: 508 Jack Dann, [Interview mit dem Autor] Jack Dann: Leather Jackets and Leonardo, [http://www.jackdann. com/] [urspr. erschienen in dem Magazin Crescent Blues], o.S. 509 Jack Dann [Interview mit dem Autor], Jack Dann interviewed by Kilian Melloy, [http://www.jackdann. com/] [urspr. erschienen in: infinity plus], o.S. 510 So auch Nachwort zu KdE. 511 Ebd., S. 732; vgl. auch Dann [Interview], Leather Jackets, a.a.O., o.S., und Dann [Interview], Kilian Melloy, a.a.O., o.S. – Dieser (in dem folgenden Zitat erwähnte) Nachdruck der Erstausgabe ist nicht zu verwechseln mit dem – ebenfalls 1970 erschienenen – Phaidon-Nachdruck der Zweitauflage von 1939, der die im wissenschaftlichen Kontext heute üblicherweise verwendete Referenzausgabe darstellt (der Dover-Reprint hingegen hat – für sich genommen – keinerlei wissenschaftliche Bedeutung und erfolgte aus kommerziellen Erwägungen). 512 Siehe unter http://www.archive.com/ (bzw. siehe beigelegte CD-ROM).
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«And there was something else that I had read. A historian by the name of Jean Paul Richter – you know the double volume Dover editions of Leonardo’s notebooks? Richter was the one who compiled those. At one point in the book, Richter’s got a little note about Leonardo’s letters to the Devatdar of Syria. Most people believe Leonardo was doing shtick513 for Ludovico Sforza, the duke of Milan, when he wrote these letters. […] But Richter says this stuff is too specific, and it corresponds with events that happen in the Middle East. So Richter believed that Leonardo was indeed in the Middle East. When I put that together, I thought: ‹What if Leonardo, who was in the Middle East, was invited by the Devatdar of Syria, who was working for the sultan of Egypt, to be their munitions expert and could create all the inventions that we have the sketches for? From the Gatling gun to the submarine, all of the tanks – what if he could bring these to life? How would he deal with this?›»
In diesen Aussagen deutet sich der ziemlich pompöse legitimatorische Überbau des Buchs an, das man ohne Bedenken als ein nicht sehr anspruchsvolles Produkt der populären Kultur bezeichnen darf. Denn wenn Dann den Roman auch schrieb, um für sich herauszufinden, wie Leonardo sich der moralischen Fragen wohl stellte, die sich augrund seiner Tätigkeit als Kriegsingenieur im Nahen Osten ergaben – er schrieb dieses Buch doch vor allem auch im Hinblick auf die Unterhaltungsbedürfnisse einer sehr breiten Leserschaft, die er mit einem regelrechten Kompendium von orientalistischen Klischees zum einen und renaissancistischen Klischees zum anderen versorgte, so dass der im Grunde triviale Gehalt zu dem moralischen Überbau in einen seltsamen Kontrast gerät. In anderen Worten: An seinem eigenen Anspruch drohte Dann mangels entsprechender Mittel oder mangels einem nachdrücklichen Wollen, dem Anspruch wirklich zu entsprechen, zu scheitern. Nebst anderen zeittypischen Diskursen – dem Gedächtnis-Diskurs zum Beispiel, der sich im Titel anzeigt – zieht sich also auch ein spezifischer Moralismus durch diesen Roman, und dieser spezifische Moralismus war – als ein rückwärtsgewandter, sich an der Geschichte erprobender – ein durchaus zeittypischer Moralismus der frühen 1990er Jahre. Im Vorfeld eines Jahrestages Am 12. Oktober 1992 jährte sich bekanntlich zum 500. Male der Landgang des Kolumbus in der Neuen Welt. Und im Vorfeld dieses Jahrestages – für die einen einer Feier würdig, für die anderen ein Trauertag – war, insbesondere in den USA und in Europa, ein überaus aktionistischer Moralismus erstarkt, der sich einer Kritik eines eurozentrischen Geschichtsbildes verschrieben hatte und die Symbolfigur ‹Kolumbus› – als eine Unperson und Reizfigur – gleichsam neu erfand: Nämlich als ein Symbol all der Schrecken und Leiden, welche die Conquista über die Völker Amerikas gebracht hatte und 513 Ein Begriff, den man vielleicht mit dem deutschen Ausdruck ‹eine witzige Nummer zum Besten geben› wiedergeben könnte.
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– darüber hinaus – in Form einer fortdauernden Dominanz der westlichen Zivilisation über die ganze Erde noch immer brachte.514 In einer Ausstellung, die anlässlich dieses Jahrestages von der Washingtoner National Gallery eingerichtet worden war, fand nicht der Hypermoralismus, aber das Zeitklima, das eine besondere Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeiten der verschiedenen USamerikanischen Bevölkerungsgruppen erforderte und der von diversen Interessengruppen vorgebrachten Kritik am einstmals vorherrschenden eurozentrischen Geschichtsbild auch Rechnung trug, einen bezeichnenden Ausdruck. Statt einer auf Kolumbus oder die Leistungen der großen Entdecker zentrierten Schau präsentierte man die künstlerischen Leistungen dreier großer, in sich heterogener, aber als Einheiten gedachter kultureller Räume. Man zeigte, was an kulturellen Leistungen ‹um 1492› in Europa, in Amerika und im Fernen Osten etwa zeitgleich erbracht worden war.515 Und in der Sektion ‹Europa› zeigte sich, dass man auf die Leistungen der ‹Großen Männer›, dem Zeitklima zum Trotz, dennoch nicht verzichten konnte oder wollte. Denn eine Figur, die man als einen ‹Entdecker› hier präsentierte, war Leonardo da Vinci, die erratische, ob ihrer Rätselhaftigkeit aber auch schwer eindeutig behaftbare und folglich ohne große Bedenken präsentable Figur. Neben Albrecht Dürer und Michelangelo gestellt repräsentierte Leonardo da Vinci somit im Rahmen dieser viel beachteten, bewusst kulturrelativistisch ausgerichteten Ausstellung die Leistungen der europäischen Kunst und Wissenschaft. Es war allerdings nicht mehr jener Leonardo, dem man einst eine Vorliebe für alles Exotische und Orientalische hatte unterstellen wollen516 – diese Rolle hatte man auf Dürer übertragen.517 Der Leonardo, den man hier sah, schien völlig desinteressiert in Hinblick auf das Orientalische, das man, seinen Leistungen unmittelbar benachbart, in einer anderen Sektion repräsentierte. In anderen Worten: Eine Begegnung der Welten wollte man hier wohl inszenieren, ohne allerdings den (wertenden) Vergleich zu evozieren (bzw. zu riskieren) oder die drei Kulturwelten ‹Europa›, ‹Amerika› und ‹Asien› in allzu konkrete Zusammenhänge zu rücken. Ausdruck eines etwas vordergründigen Relativismus war hier die bloße Reihung und die scheinbar beziehungslose Gegenüberstellung unter dem demonstrativen Verzicht auf Hierarchienbildung. Ein Vergleich, oder allgemeiner: eine Zusammenhangsbildung, ergab sich allenfalls in den Köpfen der Besucherinnen und Besucher. Und der Raum der Kunst – wie man vermerken muss – erschien hier als das letzte Refugium einer noch ungebrochenen Verehrung der ‹Großen Männer der Geschichte›, d.h. der ‹Toten weißen Männer›, und gleichsam als ein Schutzraum, abgeschottet von den kritischen Impulsen einer politischen Teilöffentlichkeit, die sich anschickte, Kolumbus, als einer europäischen Symbolfigur symbolisch den Prozess zu machen – einen Prozess mit vorhersehbarem Ausgang indes. 514 Eine eingehende Analyse der US-amerikanischen Debatte enthält Dietrich Seybold, Geschichtskultur und Konflikt. Historisch-politische Kontroversen in Gesellschaften der Gegenwart, Bern etc. 2005, S. 219ff. 515 Jay A. Levenson (Hg.), Circa 1492. Art in the Age of Exploration, New Haven/London 1991. 516 B, S. 548, Fn 15. 517 Vgl. auch die Erörterung ‹Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance› in Anhang A.
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Bemerkenswert ist: Hier, wo sich für einmal die Chance geboten hätte, Leonardo im Hinblick auf sein Verhältnis zur außereuropäischen Kulturwelt zu studieren, ging man dem Thema aus dem Weg. Die einstmals hoch umstrittene ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung war schlicht kein Thema. Und es steht dahin, ob sich diese ‹Leerstelle› einem Zufall verdankte oder dem Zeitklima geschuldet war. Als Symbolfigur gleichsam unantastbar ging der Mythos ‹Leonardo› bemerkenswerterweise völlig unbeschadet aus diesem Klima einer eindringlichen Kritik des Eurozentrismus im Namen eines programmatischen Multikulturalismus hervor. Gut ein Jahrzehnt später sollte sich dies zwar wieder geändert haben, aber um 1990 schien alles vergessen, was einstmals im Zeichen der ‹orientalischen Frage› diskutiert worden war. Nur ein in seinen Lektüren rückwärtsgewandter Romancier in der Lobby eines New Yorker Hotels schickte sich an, die fast verschwundene Erinnerung an eine Forschungskontroverse zurückzuholen und neu zu beleben – im Medium der (populären) Literatur. Die Leonardo-Forschung zu Beginn der 1990er Jahre In der Leonardo-Forschung – zu Beginn der 1990er Jahre – tat sich indes durchaus Erfreuliches. Ein prachtvolles, opulent ausgestaltetes und auf hochwertigstem Papier gedrucktes Publikationsorgan war im Erscheinen; und das neue Gefäß der LeonardoStudien, die – bedauerlicherweise schon 1997 eingestellte – Achademia Leonardi Vinci, wurde geprägt von der Handschrift des italienischen Leonardisten Carlo Pedretti. Eine der ersten Ausgaben, erschienen ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Jack Dann sich für die ältere Literatur entschied, enthielt auch einen neuen Aufsatz über das ‹Diodario-Material› – mit der bis anhin besten und vollständigsten Würdigung der Quellenmaterials, aus dem Leonardo mutmaßlich geschöpft hat.518 Und in der dritten Ausgabe der ALV, im Rahmen eines Editorials, entschied sich der Herausgeber für einmal für eine Standortbestimmung. Wie sah man Leonardo da Vinci – dessen Denkmal zu Mailand der Künstler Christo eben verhüllte – heute? «We are fascinated by Leonardo’s approach to painting as a form of creative knowledge, and have come to consider his endeavors in technology as evidence of his indebtness to tradition, from antiquity to his immediate predecessors and contemporaries. Leonardo is no longer the rhetorical figure of the precursor of our time, and his drawings of machines and even his scientific diagrams have come to be viewed as works of art. In fact, his unsurpassed mastery of the human figure as reached through the study of anatomy owes much to his technology, in that the structure and function of bones and muscles, and even physiological functions, are best explained by principles of mechanics. And his landscapes, both portrayed and described, are the expression of his ever present sense of the organic that finds its final justification in
518 Francesco P. Di Teodoro, ‹Stupenda e dannosa maraviglia›, in: ALV 2 (1989), S. 121–126.
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the laws of dynamics as applied to the study of the elements. This is Leonardo as understood by modern scholarship.»519
Ein kleinerer, aber für die Kunstgeschichte (und die Geschichte Mailands) nicht unwesentlicher Jubiläumsanlass hatte zu Beginn der 1980er Jahre der Forschung neue Impulse gegeben, und auch die Hefte der Raccolta Vinciana – nach einer zweiten Schweigeperiode im 20. Jahrhundert – erschienen in einem Abstand von jeweils einigen Jahren wieder. Das Jubiläum des Jahres 1982 verdankte sich jenem Transfer des großen Florentiners in seine neue Wirkungsstätte Mailand 500 Jahre zuvor. Auch in diesem Zusammenhang hätte man sich der ‹orientalischen Frage› nochmals vergewissern können, denn in just dieser Phase, in dieser Zeit des Transfers, hatte man auch Leonardos Orientfahrt einst vermutet. Es war diese Fahrt ein Ausscheren, ein Exkurs, gewesen (in der einstmaligen Sicht): nach Mailand, von Florenz, via Armenien. Aber inzwischen spukte der in der älteren Literatur aufgehobene Gedanke allenfalls noch in den Fußnoten, harrte aber gleichsam einer Gelegenheit, sich in den Köpfen wieder festzusetzen. Und diese Gelegenheiten sollten sich bieten. In den 1980er erschien eine weitere jener Leonardos Gesamterscheinung gewidmeten Gesamtdarstellungen, wie sie nicht öfter als etwa einmal im Jahrzehnt erscheinen. Martin Kemp legte die aktuelle vor;520 Daniel Arasse, in den späten 1990er Jahren, sollte ihm dann folgen. Den Übergang von einer Dekade in die andere markiert des Weiteren eine 1988 erschienene neue Biographie521 und, als ein neues Arbeitsinstrument, die Bibliotheca Leonardiana, eine Bibliographie des Schrifttums von 1493–1990, wie es in Mailand erfasst worden war.522 Wer sich nicht – wie Jack Dann – an anderen Kriterien orientierte, war in den Stand versetzt, sich mit neuerer und neuester Forschung zu beschäftigen, ohne den Anschluss an die ältere Forschung zu verlieren. Genau umgekehrt ging allerdings der Romancier vor, der sich anschickte, die alten Fragen aufzuwerfen, die in den Augen der modernen Forscher sich mehr oder weniger erledigt hatten. Indes: In den 1990er Jahren setzte sich – wie wir im Folgenden sehen werden – in neuen Formen und Kontexten die säkulare Debatte doch fort, und zwar in allen ihren Teilkomplexen. Als neue Leitmotive sind zu nennen: die imaginäre Konfrontation einer Symbolfigur des Westens mit dem Fernen Osten, das Motiv des Kriegs im Nahen Osten und das des Friedenssymbols der Brücke zwischen Ost und West. Und neue Tendenzen der Forschung bedingten ein Zurückkommen auf die alte ‹orientalische Frage› und 519 Carlo Pedretti, Editorial, in: ALV 6 (1993), S. 7 (dort auch der Bezug auf Christo). Es wäre interessant, die einzelnen Elemente dieser programmatischen Skizze mit der Leonardo-Auffassung eines Gabriel Séailles zu vergleichen, der – zum Ende des 19. Jahrhunderts – teilweise schon ähnliche Gedanken geäußert hatte (vgl. A. Richard Turner, Inventing Leonardo, New York 1993; sowie Martin Kemp, Leonardo, München 2005, S. 261). Pedrettis Worte scheinen im Übrigen – in ihrem Bezug auf die beschriebenen Landschaften vor allem – durchaus auch auf das ‹Diodario-Material› bezogen zu sein. 520 Martin Kemp, Leonardo da Vinci. The Marvellous Works of Nature and Man, London etc. 1981 [K]. 521 Serge Bramly, Leonardo da Vinci. Eine Biographie, Reinbek 2000 [frz. Originalausgabe 1988] [B]. 522 Mauro Guerrini, Bibliotheca Leonardiana. 1493–1989, 3 Bd., Milano 1990 [BL].
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dies zum Ende des Jahrhunderts, als auch die allgemeine Renaissance-Forschung eine Ausweitung des Blicks erprobte und zugleich – im politischen Kontext – ein neues hintergründiges Problem sich stellte: die Frage des Verhältnisses der Türkei zu Europa: ein delikates identitätspolitisches Problem für die Türkei und für Europa, das auf kultureller Ebene sich auch ausformulierte – in der Art und Weise nämlich, wie man die Künstler und auch die Mäzene als Brückenbauer zwischen Ost und West nun wahrzunehmen begann. In diesem von einem ‹überschwänglichen Multikulturalismus›, aber auch von einem eher unterschwelligen, problembezogenen Unbehagen geprägten Zeitklima stellte sich die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung unversehens und zum Ende des Jahrtausends gleich doppelt neu, und zwar zum einen in einer ganz neuen Variante und zum anderen in einer Reprise der alten biographischen Frage. Eine abschließende Bilanz wird diese – teils sehr leichtfertig angestimmten – Reprisen mit dem Stand der Forschung konfrontieren, wie er sich heute darstellt. Und damit schließt – am Ende dieses fünften Hauptteils – auch die eigentliche Rekapitulation der Geschichte dieser Frage, und zwar mit einem Teilfazit, der sich auf die ursprüngliche biographische Frage allein bezieht, die in der Tat zurückgelassen werden sollte, am Ende des Jahrtausends.
5.2 Der Orient als ‹theatre of war›: Die Kathedrale der Erinnerung in der Geschichte des Leonardo-Romans Was motivierte Leonardo – den Leonardo der Fiktion – gen Osten aufzubrechen? Oder anders gefragt: Mit welchen Motiven stattete Jack Dann, der Schriftsteller, Leonardo da Vinci aus? Der Leonardo der Fiktion ging nolens volens in den Orient: gehemmt durch Unlust, aber fortgetrieben durch den Schrecken der Gewalt, den Blutrausch nach der PazziVerschwörung; und er ging in Anbetracht des Scheiterns, denn seine Geliebte Ginevra de’ Benci war tot. Es trieb ihn fort aus Florenz, nachdem sein Haus, seine Werkstatt in den Wirren in Flammen aufgegangen war, und eine Perspektive bot ihm das Angebot des Devatdar (bzw. ‹Diodario›), in Diensten des Sultans von Ägypten seine Kriegsmaschinen zu bauen. Er sah zurück auf einen Scherbenhaufen, persönlich und materiell, und schickte sich an, sich in den Raum zu transferieren, der sich im Rahmen dieses Romans – wie in vielen Produkten des Orientalismus – als eine Gegenwelt eröffnete, als Raum, wo manches, vieles anders war, als Raum, der reizte, einlud oder herausforderte, sich dem Anderen auszusetzen und sich mit ihm zu konfrontieren. Jack Dann schickte Leonardo nicht allein auf dieses Abenteuer; es transferierte sich sozusagen die ganze Renaissance-Gesellschaft – jedenfalls ein Gutteil ihrer berühmtesten Figuren wie Machiavelli, Kolumbus, Botticelli – zusammen mit Leonardo da Vinci in den Orient. Und wenn der alte Leonardo im Rückblick auf sein Leben diese Episode aus der Erinnerung tilgen wollte, indem er die diesbezüglichen Aufzeichnungen in einem kleinen Kaminfeuer verbrannte – es war eigentlich seltsam, dass es keine Zeugen gab für diesen Aufenthalt.
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Während der Schriftsteller noch an diesem Szenario arbeitete, machte der Forscher – Carlo Pedretti – der Fachwelt 1993 einen Auszug aus einer schon seit einiger Zeit ediert vorliegenden Schrift des Kunstheoretikers Giovan (Gian) Paolo Lomazzo bekannt.523 Es handelte sich um das ‹Buch der Träume›, eine Sammlung von Dialogen der Geister berühmter Gestalten der Antike und der Renaissance, die der Autor – Lomazzo – geträumt zu haben vorgibt.524 Im Rahmen dieses Arrangements tritt – im ersten Dialog – Leonardo da Vinci als Dialogpartner des Historikers Paolo Giovio auf und gibt unter anderem ein angeblich selbst erlebtes, überaus bizarres Abenteuer im östlichen Mittelmeerraum zum Besten (das im Übrigen im Rahmen der Erzählung selbst als ‹bizarr› bezeichnet ist): 525 Es handelt nämlich von einer Umwandlung des Geschlechts. Es ist diese Schrift – in unserem Rahmen – in der Einleitung bloß gestreift worden, denn der Fachwelt, die sich über ein vermeintlich reales Orientabenteuer noch in den Haaren lag, war dieser Text seinerzeit gar nicht bekannt gewesen. Es ist aber unschwer sich auszumalen, welche Verwirrung daraus hätte hervorgehen können, falls man ihn gekannt hätte. Ob allerdings Jack Dann, der auf die ältere Literatur ja fokussierte, mit dem Libro del Sogno bekannt geworden ist, scheint eher fraglich. Dennoch stellten sich gleich mehrere Zusammenhänge zwischen diesen sehr verschiedenen literarischen Produkten her: Erstens ließ Lomazzo Leonardo als einen Erzähler auftreten, der sich nicht zurückhielt, der vielmehr selbst und rückhaltlos über seine bizarre Reise unterrichtete. Zweitens hatte sein Aufbruch in den Orient, ähnlich wie bei Jack Dann, mit einer scheiternden Liebe auch zu tun. Allerdings endete nicht eine Beziehung, die keine Zukunft hatte, mit dem Tod einer der Partner (bei Dann wie gesagt Ginevra de’ Benci) – es handelte sich bei Lomazzo um das Scheitern eines Liebeswerbens. Leonardo war rüde abgewiesen worden, und zwar von einer Frau. Ausgangspunkt einer Reise bzw. einer Flucht war die Liebe Leonardos zu dieser Frau gewesen; er floh den Ort des Scheiterns, schiffte sich in Venedig nach der Levante ein und gelangte – nach einem Schiffbruch – auf eine Insel, wo er notgedrungen von einer seltsamen Frucht dann aß. Diese Frucht hatte den Effekt, dass er seinen Bart verlor und sich in eine Frau verwandelte (die sich nun allerdings danach sehnte, wieder ein Mann zu sein, um der Geliebten treu zu bleiben). Von diesem Punkt an kann eigentlich nicht mehr von einem eigentlichen Orientabenteuer die Rede sein. Dies war eher eine burleske Robinsonade avant la lettre, eine Travestie, die vom Androgynen handelte bzw. vom Wechsel des Geschlechts. Sie spielte in einem im Grunde artifiziellen Raum, und erst nach diesem bizarren Abenteuer trat Leonardo wieder ein in eine im eigentlichen Sinne reale Geographie: Ein italienisches Schiff, von Alexandria herkommend, nahm ihn an Bord und brachte ihn nach Genua. Und dennoch: Ort der Verwandlung, Arena des Phantastischen, war eine Insel, zweitau523 Carlo Pedretti, The ‹Angel in the Flesh›, in: ALV 4 (1991), S. 34–51, sowie ders., Leonardo in Sweden, in: ALV 6 (1993), S. 207. 524 Gian Paolo Lomazzo, Scritti sulle arti, hrsg. von Roberto Paolo Ciardi, Bd. 1, Firenze 1973/74, S. 1ff. 525 Ebd., S. 19ff. (S. 22: «molto bizzarro»). Pedretti kam auf diesen Text auch deshalb zu sprechen (siehe oben), weil darin von einer Brücke – als ein Symbols des Übergangs – die Rede war.
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send Meilen von Venedig entfernt; und eine Schiffsroute in die Levante führte – ganz in der Nähe – vorbei. Insgesamt handelt es sich hier um die vielleicht früheste – ob ihrer Phantastik eindeutig als literarische Imagination zu erkennende – Erzählung eines (Beinahe-)Orientabenteuers Leonardo da Vincis; und ihr Erzähler ist im Rahmen einer Traumerzählung, also im Traum des Lomazzo, die Instanz des Erlebens, Leonardo selbst. In dem Text dokumentierte sich der Blick des nachgeborenen Lomazzo auf Leonardo. Und Lomazzo, wiewohl er alles tat, die Erzählung selbst als phantastisch und bizarr zu deklarieren, hatte sich doch Mühe gegeben, den Aufbruch einigermaßen plausibel in der Vita Leonardos zu situieren.526 Und es dokumentierte sich darin wohl auch die Frage (Lomazzos) nach dem Androgynen (bei Leonardo), die sich so gesehen in Form einer Erzählung entfaltete. Ein Roman als ‹Dokument› Die Frage nach der geschlechtlichen Orientierung Leonardos war auch zum Ende des Jahrtausends nicht verstummt, und Jack Dann entschied sich dafür, Leonardo als einen Heterosexuellen darzustellen, wiewohl er vieles dafür tat, die Erzählung als realistisch, in den Grundzügen möglich und daher wahrscheinlich auszuweisen.527 Die Leser des Historischen Romans wollten es glaubwürdig und gut dokumentiert. In der Entscheidung für einen Liebhaber der Frauen, die für das hier verhandelte Thema nicht ganz ohne Belang ist,528 zeigt sich, in einem wie vielfältigen Sinne auch ein trivialer Historischer Roman ein Dokument des Umgangs mit spezifischen Fragen der Forschung darstellt. Es artikulierten sich Stellungnahmen, Entscheide im Hinblick auf ein ganzes Ensemble von Fragen, nicht zuletzt in Bezug auf die alte ‹orientalische Frage›. Und es artikulierte sich eine transatlantische Perspektive sowohl auf die italienische Renaissance wie auf den Orient, der hier weniger eine phantastische Szenerie darstellte als ein eklektizistisches Konglomerat aus Vorstellungen unterschiedlichster Herkunft. Ein so eklektizistischer Roman wie die Kathedrale der Erinnerung, dem sich – wie vermutlich jedem Leonardo-Roman – unübersehbar eine Reihe zeitgenössischer Diskurse auch eingeschrieben haben,529 kann auf vielfältige Weise also als ein Kompendium 526 Jedenfalls in den Augen der Herausgeber des Textes (siehe Lomazzo, a.a.O., S. 21, Fn 75). 527 Vgl. auch KdE, Nachwort. Hier – und in den Nachworten und Selbstkommentaren unzähliger historischer Romane – kommt die ureigene Ambivalenz der Gattung bzw. das Rechtfertigungsbedürfnis der Autorinnen und Autoren zur Geltung, die für sich die ‹poetische Freiheit› beansprucht haben, aber zugleich auf ihrem Anspruch beharren, von der historischen Wahrheit – in wesentlichen Teilen – nicht abgewichen zu sein. 528 Siehe auch weiter unten. – Nur so öffnete sich Leonardo der Orient als ein Raum der heterosexuellen Erotik und Sexualität, wie von der orientalistischen Konvention gewollt. 529 Die Gedächtnis-Thematik ist bereits im Titel angedeutet. Des Weiteren zeigte das Auftreten der sich als Mann verkleidenden (gegenüber Leonardo aber zu erkennen gebenden) Malerin eine Verarbeitung der Gender-Problematik an (KdE, S. 144). Und das Multikulturelle als eine Problematik ist – auch
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geläufiger Vorstellungen ‹ausgebeutet› werden; aber es ist ferner auch zu sehen, wie ein Autor geläufige Vorstellungen zu unterlaufen sich ebenfalls bemüht.530 Die italienische Renaissance – aus westlicher bzw. US-amerikanischer Perspektive gesehen – war traditionell unter anderem ein Ursprung des Republikanismus und der republikanischen Freiheit. Jack Dann hingegen, dies ein Umschwung, deutete an, es sei ihm das Florenz des 15. Jahrhunderts – aufgrund einer restriktiven Überwachung der Sittlichkeit – ‹nazi-like› vorgekommen.531 Die Kulisse der ‹schönen Gesellschaften› aber beutete der Romancier, dem Renaissancismus um 1900 nicht nachstehend, gleichwohl auf ihre Schauwerte hin aus. Er schilderte, vielleicht ungewollt auch an die Traditionen des Historischen Romans des 19. Jahrhunderts anknüpfend, das Treiben in den Bottegas, in den Gassen, und das Leben der Künstler zwischen adliger und bürgerlicher Gesellschaft. Und er kontrastierte und akzentuierte diese einen traditionellen Schönheitskult nährenden Schauwerte, auch darin dem sozusagen ‹ersten Renaissancismus› verbunden, mit der Gewaltsamkeit der Zeit, als ob er einen altbekannten Zusammenstoß zweier sich in ihrer Wirkung gegenseitig steigernder Farben arrangieren wollte. Der Blutrausch der Medici-Anhänger nach der Pazzi-Verschwörung (und nicht die Gewalttätigkeit des notorischen ‹Gewaltmenschen› Cesare Borgia) stellte hier den Gegenpol zum (imaginierten) schönen Leben dar und damit eine Dichotomie auch wieder her. Die italienische Renaissance – als eine Szenerie – war geeignet, in wechselnder Perspektivierung und in Kontrastierung, Schönheit und Gewalt zu imaginieren, und der Roman gab sich damit als ein sozusagen verspätetes Produkt des Renaissancismus der vorletzten Jahrhundertwende auch zu erkennen: indem er auch die eher zweifelhaften Errungenschaften des ersten literarischen Renaissancismus für sich in Anspruch nahm und in einen Renaissancismus der Postmoderne hinein verwob. So gesehen erscheint die Kathedrale der Erinnerung fast wie ein Buch aus vielen Büchern, nämlich als eine Art Kompendium des Renaissance- und Künstlerromans (die Subgattung ‹LeonardoRoman› eingeschlossen) und so auch als eine Art Summe bzw. Sammelsurium der Tradition. Die Kulisse ‹Orient› Der Orient, um auf die besondere Themenstellung zurückzukommen, stellte hier nicht eine absolute Gegenwelt dar, nicht das Andere per se, sondern bloß eine alternative Kulisse des traditionellen Renaissance-Romans, in der sich Gewalt und damit verbunden wenn der Roman in dieser Hinsicht ständig an seinem eigenen Anspruch scheitert – strukturbildend und insofern allgegenwärtig. 530 Ein Beispiel stellt das Aufgreifen von Motiven des Okkulten dar. Ein Exorzismus wird an Botticelli vorgenommen (KdE, S. 207ff.). Jack Dann orientierte sich diesbezüglich an Ioan P. Couliano (Dann [Interview], Leather Jackets, a.a.O., o.S.). 531 Jack Dann [Interview], [ohne Titel; Interviewer: Jim Freund, für OmniVisions] [http://www.jackdann.com/], o.S.
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auch Sexualität noch ungehemmter entfalten ließ als am Schauplatz Florenz, dessen Topographie – da bekannter – nach Maßgabe strengerer Historizität geschildert werden wollte. Die Agentin des Schriftstellers Jack Dann jedenfalls benutzte – seiner Aussage nach – den Roman in Florenz wie einen Reiseführer.532 Der Orient hingegen bildete eine Kulisse, in der die Hemmnisse angestrebter Historizität und andere Hemmnisse tendenziell entfielen. Nicht bloß topographisch war hier wesentlich großzügiger zu operieren. Die Verwirrung der Sinne, der Fiebertraum, das Wüstenabenteuer – alles traditionelle Bestandteile der europäischen Orientimagination – bildeten die Voraussetzungen einer eigentlichen Enthemmung.533 Und Gewalt war das eigentliche Hauptmotiv des zweiten Teils des Romans, nachdem sich eine Renaissance-Gesellschaft einmal in diesen Raum transferiert hatte. Nicht eigentlich Leonardo da Vinci bildete so gesehen die Hauptfigur dieses zweiten Teils, sondern die von seinen Erfindungen mittelbar und auch von ihm selbst ganz unmittelbar ausgehende Gewalt, deren Darstellung durch den moralistischen Überbau des Romans nicht wirklich überzeugend gedeckt ist. Als Instanz des Erlebens unterzog sich Leonardo jedenfalls der ihm zugedachten ‹moralischen Prüfung› und sah sich den von seinen Erfindungen angerichteten Schäden gegenüber. Folglich – im Rahmen der planen, diesem Roman zugrunde liegenden Erzähllogik – sinnierte er darüber, welcher Ort im Jenseits, d.h. in Dantes Kosmos ihm wohl zustand – in Anbetracht des Unheils, das er bzw. seine Maschinen angerichtet hatten.534 Der ‹Leonardo› dieses Romans – könnte man sagen – unterzog sich willig dieser Prüfung. Aber es zeigt sich an diesem Beispiel auch, wie der Roman an seinen eigenen Ansprüchen – sofern man diese überhaupt ernst nehmen will – immer wieder abglitt. Denn dieser ‹Leonardo› war im Grunde eine bloße Projektion, die Verkörperung eines eher planen Moralismus, der sich zu eignen schien, der Darstellung eigentlicher Gewaltexzesse eine höhere Legitimation zu geben. Die Frage nach Leonardos Moralität und Mentalität zu stellen ist natürlich legitim, aber es stellt einen ungeheuren, von dem Autor der Kathedrale der Erinnerung mutmaßlich auch unterschätzten Anspruch dar, einen Historischen Roman aus der Perspektive eines ‹allwissenden Erzählers› erzählen zu wollen. Denn dieser gibt vor, um das Innenleben seiner Figuren, um ihre momentane Gefühlslage, aber auch um ihre generelle geistige ‹Innenausstattung› zu wissen, was weit über dem Anspruch liegt, den ein Spezialist für die Mentalitäten der Renaissance für sich in Anspruch nehmen würde. In diesem überzogenen Anspruch, für den sich ein Autor gar nicht bewusst entschieden haben muss, liegt, wenn man eine Wertung doch riskieren wollte, das Scheitern des Romans begründet. Ein hoher, ernster Anspruch, eine entsprechend hohe Fallhöhe, da es an Mitteln mangelt, diesen Anspruch zu bewältigen, ist die Definition von Kitsch. Und Die Kathedrale der Erinnerung, wiewohl es sich um ein interessantes Beispiel handelt, ist ein Beispiel von Geschichtskitsch. 532 Dann [Interview], Leather Jackets, a.a.O., o.S. («[…] she took the book as a guide.»). 533 KdE, S. 573 (Sinnesverwirrung im Wüstensturm). 534 Ebd., S. 560 und 565.
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Eine Reprise Auch und insbesondere im Umgang mit der hier im Zentrum stehenden ‹orientalischen Frage› ist dies klar erkennbar. Denn erstmals in der Geschichte dieser Frage kann von einem eigentlichen Abrutschen des Niveaus der Themenbehandlung auf das Niveau eines Orientalismus im Said’schen Sinne gesprochen werden. Der Orient war hier nichts anderes als Imaginationsraum der Gewalt, zwar auch bemüht ausgestattet mit einem Kompendium orientalischer (bzw. orientalistischer) Schlüsselmotive, aber im Grunde leer und bloßer Schauraum einer eher behaupteten als ausgeschilderten Begegnung von Ost und West. Im Osten schlugen die Völker also aufeinander, muslimische Völker, und der Blutzoll dieser inner-muslimischen Auseinandersetzungen wurde gesteigert durch die Effizienz von Leonardos Tötungsmaschinen.535 Auf diese einfache Formel kann der Inhalt des im Orient situierten Teils der Kathedrale der Erinnerung gebracht werden, denn der Autor war nicht willens oder in der Lage, den selbst formulierten Anspruch einzulösen, in den ‹Rissen› der bekannten Geschichte ein Geschehen anzusiedeln, das im Prinzip im Rahmen des Möglichen lag. Die ‹bekannte Geschichte› selbst geriet hier zum Stereotyp, zum Klischee. Mereschkowski hatte einst – nicht ohne Geschick – die Begegnung unterschiedlicher visueller Kulturen auch thematisiert und wechselseitige Atelierbesuche – verhaltene, fast pantomimische Annäherungen – geschildert: Leonardo da Vinci, angesichts der Arbeitswerkzeuge eines Ikonenmalers aus Moskowien.536 Hier begegneten sich Repräsentanten der Weltkunst, und in der Verhaltenheit der Schilderung deutet sich nicht bloß die Schwierigkeit erster, tastender Begegnungen an, sondern auch die Schwierigkeit, dergleichen angemessen zu schildern, ohne hemdsärmelig zu sein. Dies ganz im Gegensatz zu Jack Dann,537 dem postmodernen Romancier, der so gesehen eine Gelegenheit vertat, die im Grunde reizvolle literarische Aufgabe – auf einem gewissen Niveau – zu bewältigen: die Imagination einer Begegnung unterschiedlicher visueller Kulturen, die weder im Falle von Michelangelo noch von Leonardo tatsächlich zustande gekommen ist (sieht man vom Vorhandensein ‹mauresker› Motive in der Dekorationskunst der Lombardei und anderer exotischer Objekte im Leonardo-Kosmos einmal ab).538 In einer in ihrer Konsequenz auch wieder interessanten Übersteigerung sah Jack Dann von derlei Subtilitäten völlig ab. Er inszenierte – zum Zeitpunkt des Kuwaitkrieges von 1990/91 – ‹Superwaffen über Wüstensand› und wirkte kurioserweise darauf hin, dass ein Zug von Leonardos historischer Physiognomie tatsächlich nicht in 535 Hier wäre von Orientalismus im Said’schen Sinn zu sprechen, wenn aus der Unzivilisiertheit der Völker die Notwendigkeit ihrer Beherrschung abgeleitet werden würde. 536 Dmitri Mereschkowski, Leonardo da Vinci, Berlin o.J. [1973] [übersetzt von Erich Boehme; russ. Originalausgabe 1901], S. 696ff. und 718ff. 537 KdE, S. 117 (eine Bezugnahme auf die Bilderfeindlichkeit der ‹Sarazenen› klingt in der Rede Sandro Botticellis an). 538 Siehe Anhang A.
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Vergessenheit geriet (wenn auch ein Trivialroman nicht unbedingt als das geeignete Vehikel erscheint, diesen Aspekt präsent zu halten): Die Grenzen des Machbaren hatte der historische Leonardo da Vinci auch im Bereich der Militärtechnologie auszureizen versucht; ein nicht ganz kleiner Teil seiner Aufzeichnungen befasst sich nun einmal ‹damit›.539 Die ‹orientalische Frage› hatte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eine Frage ausformuliert, aber einige Vorzeichen hatten, wie in der Einleitung geschildert, schon vorher darauf hingedeutet. Nicht zuletzt angesichts der Kriegsmaschinen hatte man an Anregungen aus dem Osten gedacht. Diese Perspektive hatte sich nun verkehrt. Es waren nun die Waffen Leonardos, die im Osten Wirkung taten und den Blutzoll erhöhten. Die Kathedrale der Erinnerung holte sozusagen nach, was die Romanciers des ersten Renaissancismus zu schildern nicht unternommen hatten. Dann kam zurück auf die eigentliche Ausgangsposition im Rahmen der Debatte. Es war möglich, hatte Jean Paul Richter gesagt, dass Leonardo da Vinci im Orient gewesen war und einen Mechanismus der Imaginationsbildung in Gang gesetzt, der in Danns Vorhaben hineinreicht. Dann schöpfte aus dem Ideenvorrat, der in einer alten, aber nicht außer Gebrauch gekommenen Leonardo-Anthologie steckte. Er machte sich den gedanklichen Ansatz zu eigen, spielte ihn durch, schilderte ihn nach Möglichkeit aus, kombinierte ihn mit einem veritablen Überbau und glitt an dem hohen Anspruch ab – mit dem Resultat, dass eine gleichwohl interessante Erzählanordnung als Geschichtskitsch bezeichnet werden muss. Die Zeichen der Zeit ließen sich ablesen an der Anlage des Buchs, und insbesondere auf ein Motiv ist noch gesondert zu sprechen zu kommen. Leonardo da Vinci sah sich im Orient nicht bloß den blutigen Folgen seines Dringens auf eine Erweiterung des Machbaren und der Weltgestaltung im Bereich des Militärischen gegenüber – er spiegelte sich, dem Ansinnen des Autors nach, auch in einer komplementären Figur, einem Chinesen, einem nestorianischen Christen, der ihm als eine Art Mentor, Ratgeber und als ein Repräsentant des Orients als der ‹anderen› Seite gegenüberstand.540 Kuan, so der Name dieser Spiegelfigur, repräsentierte den komplementären Teil einer Begegnung von Ost und West, und wenn Leonardo – etwa in den Augen Nietzsches – eine Synthese aus Abendland und Morgenland darstellte, so lieferte Dann gewissermaßen die ‹Begründung› dafür nach, wenn auch bloß eine fiktive.
539 Bei Richter (R I/II) zwar tendenziell ausgeblendet, aber teilweise doch dokumentiert in der Sektion ‹On naval warfare› (R II, S. 222ff., Nr. 1115ff.). 540 Kuan, über Techniken des Ballonflugs im Bilde, regt den Bau von weiteren Fluggeräten an (siehe KdE, S. 503ff.). Möglicherweise regte auch Joseph Needhams zu dieser Motivik an (vgl. Joseph Needham [unter Mitarbeit von Wang Ling], Science and Civilisation in China, Vol. 4 (Physics and Physical Technology), Part II (Mechanical Engineering), Cambridge 1965, S. 595ff., Abschnitt ‹The Balloon in East and West›).
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Das Abendland und China Es lohnt sich nicht, im Detail nachzuspüren, wie sich im Rahmen der Kathedrale der Erinnerung diese Begegnung gestaltete,541 aber es ist interessant zu vermerken, dass – zum Ende des Jahrhunderts – im Medium des Romans nun die Begegnung zwischen Repräsentanten Europas und Asiens zum Thema wurde. Die Frage nach dem Verhältnis von orientalischer Kunst und den Hintergrundlandschafen in Leonardos Gemälden war eine alte Frage, die spätestens 1910 aufgekommen war. Aber diese Frage war ein ‹Wiedergänger›, und in einem gewandelten historischen Umfeld drängte sie erneut nach Ausdruck, hier nach einem Durchspielen im Medium der Imagination. Die Kathedrale der Erinnerung wurde – ihren Mitteln nach – der Frage zwar keineswegs gerecht, doch die Unbefangenheit, mit der sie aufgenommen wurde, war andererseits mutmaßlich eine Voraussetzung, sie überhaupt zu thematisieren. Im Rahmen des Kolumbusjahres war dies nicht möglich gewesen, und der Roman erwies sich noch in einer anderen Hinsicht als ein sehr ambivalentes Produkt: Nicht frei von politischer Korrektheit, war es im trivialen Roman doch möglich, Fragen aufzuwerfen, die sich das wissenschaftliche Etablissement nur mit sehr viel Vorbehalten überhaupt zum Thema machte. Aus Sicht der Wissenschaft war Leonardo da Vinci seit jeher eher eine schweigsame Figur gewesen – es lagen prinzipiell immer zuwenig Dokumente vor, um bestimmte Fragen wirklich zu beantworten. Der Leonardo da Vinci des Romans konnte demgegenüber nicht schweigsam sein, er musste sich erklären bzw. es entsprach einer populären Vorstellung, dass Leonardo ständig irgendetwas erklärte und darlegte. Nur im Hinblick auf das Orientabenteuer musste Jack Dann irgendwie plausibel machen, dass der Roman überhaupt begann. Er löste es, indem er gewissermaßen aus Leonardos eigener Erinnerung heraus schilderte, der – auf den Tod zugehend – seine Lebenserinnerungen, ins Bild der Kathedrale gefasst, durchschritt.542 Dieser Kunstgriff schuf die Beglaubigung eines Romanszenarios, das hier weniger für sich, sondern vielmehr als eine Art ‹Museum der Diskurse› betrachtet und gewürdigt worden ist. Jack Dann holte – nicht als einziger, wie wir noch sehen werden – die ‹orientalische Frage› zurück, und die Ambivalenzen dieser Frage holten ihn auch ein. Und anders als Robert Payne hielt er sich nicht mehr an den Konsens, dass Leonardo bloß Literatur im Sinne hatte. Er verlegte das Problem, wenn auch mit Vorbehalten, in den Möglichkeitsraum der Historie zurück und dies paradoxerweise mit den Mitteln des Historischen Romans, in dessen Rahmen eben wahr war, was sich – aufgrund der Erinnerungsleistung Leonardos – vor den inneren Augen des Lesers vollzog (und doch auch im Nachwort als eine prinzipiell denkbare Möglichkeit zudem ausgewiesen wurde). Es war nicht ein Orient, den Leonardo sich als ein Lehnstuhlreisender imaginär entwarf (so hatte es Payne, im Einklag mit der Literaturgeschichte); sondern es war ein Orient, dessen sich Leonardo (im Rahmen der Fiktion) als einer realen Erfahrung 541 Kuan ‹liefert› gewissermaßen chinesische Weisheit, indem er ein Buch an Leonardo weitergibt (KdE, S. 160f, 189, 643). An diesem Beispiel ist auch die etwas simple Machart des Romans gut abzulesen. 542 Man vergleiche mit dem – historisch dokumentierten – Erinnerungprozess, den Michelangelo zusammen mit seinem Assistenten Calcagni durchschritten hat (siehe Kap. 3).
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erinnerte – weniger einer bereichernden als einer bitteren Erfahrung und einer damit verbundenen moralischen Prüfung.543 Auf die Unbefangenheit des Autors ging so gesehen der fast schon kurios ambivalente Grundzug des Buchs zurück. Es bestätigte nämlich indirekt die These, dass der Orient des Orientalismus ein bestimmtes Konstrukt war, nämlich ein Imaginationsraum der Gewalt, eine Gewaltphantasie der Europäer (und ihrer literarischen Erben) und es rechtfertigte diese Imagination sogar durch einen Überbau. Aber es dementierte diese Konstrukthaftigkeit zugleich auch wieder, weil es sich eben um einen Historischen Roman handelte und Leonardos Erleben als das reale Erleben einer historischen Figur ausgegeben werden musste. Und nicht zuletzt (und wohl auch gegen die eigentlich gewollte Stoßrichtung des Buchs) erinnerte es auch die Gewalt, die europäischerseits bzw. von Seiten des Westens in den Orient getragen worden war – indem es zeigte, wie eine Stellvertreterfigur des Westens, Leonardo, dank technischem Ingenium, eben diese Gewalt ermöglichte. Alles in allem handelte es sich bei diesem Roman also um ein höchst widersprüchliches Produkt, das sich der Geschichte des Leonardo-Romans in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts noch eingeschrieben hat und in sich höchst Gegensätzliches vereinte: moralisches Pathos und ein Bedürfnis nach trivialer Unterhaltung, westliche Selbstkritik und einen Orientalismus im ganz ‹klassischen›, notorischen und auch zu Recht suspekten Sinne, mit einem Wort: Orientalismus im Said’schen Sinne. Epilog: Leonardo da Vinci und der Film Als Held des großen Spielfilms ist Leonardo da Vinci bislang nie in Erscheinung getreten, obschon es diesbezüglich mehrfach hochfliegende Bestrebungen gegeben hat.544 Dimitri Mereschkowski etwa hatte 1936/37 in Italien auf eine Verfilmung seines einschlägigen Leonardo-Romans hingearbeitet und war – auf der Suche nach finanzieller Unterstützung – auch an den Duce gelangt. Doch Mussolini scheint sich für die Idee nicht wirklich erwärmt zu haben. Und auch die Unterstützung für einen Dante-Film durch die Paramount-Studios in Hollywood blieb Mereschkoswki letztlich versagt. Eine gewisse Weltfremdheit sprach aus dem ganzen Ansatz.545 Von der Realität eingeholt wurde auch das Projekt einer Verfilmung der Kathedrale der Erinnerung, das immerhin bis kurz vor die eigentliche Produktionsphase, «scheduled for the latter parts of 2001», gedieh.546 Doch es dürfte – nach dem 11. September – 543 Es erklärte sich – im Rahmen des Buchs – nichts aus dieser Erfahrung, da es dem Autor um die Problematik des Kulturtransfers – in einem vertieften Sinne – auch nicht zu tun war. 544 Kleinere Fernsehproduktionen sowie der weiter oben erwähnte Michelangelo-Film seien hier vernachlässigt. 545 Temira Pachmuss, D.S. Merezhkovsky in Exile. The Master of the Genre of Biographie Romancée, New York etc., 1990, S. 192ff. 546 Diese Informationen stammen von der Website der Firma Vine International Pictures Limited (VIP), abgerufen erstmals im Jahre 2002 (http://www.vine-international.co.uk/memory.htm/).
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nicht mehr als angemessen gegolten haben, Leonardo da Vinci in den Krieg, zumal in einen Krieg im Orient zu schicken.547 Das Projekt, von dem ein Exposé im Internet abrufbar gewesen war, scheint sich zerschlagen zu haben, doch kann aus dem Text – in Ansätzen – ein Eindruck gewonnen werden, wie eine Adaptation des Romans im Medium des Films hätte vonstatten gehen können. Aus Kuan, dem nestorianischen Christen, wurde ein Muslim: «KUAN YIN-HSI
Aged: 30 Year: 1478
Tall. Thin sensitive mouth. Tilted, widely-set eyes, which seem cold and haughty. He is Chinese… a Muslim… and one of the most powerful men in Arabia. A welted scar runs like a tear from the corner of his left eye to disappear in the tangle of a thick and immaculately neat beard. A high ranking commander… slave to the powerful Devatdar of Syria – Kuan Yin hsi is Leonardo’s mirror image… but the mirror is distorted. Like Leonardo, Kuan is a Mnemonist… a magician… a Mage – a great intellect whose destiny is entwined with Leonardo’s. He gives Leonardo secret knowledge… He stimulates Leonardo to create a fixed wing glider… He guides Leonardo on his journey to the East… He advises Leonardo on strategies of war and the politics of Kings… He sends Leonardo on deadly dangerous assignments. But just as Dante had his mentor Virgil to guide him through the labyrinths of Hell… so does Leonardo have Kuan to guide him through the fabled and dangerous lands of the East. Of all the characters in The Memory Cathedral Kuan ist the most mysterious and, perhaps, the most fascinating.»548
Die Gegensatzbildung zwischen den beiden Spiegelfiguren fand damit noch einen etwas plakativeren Ausdruck. Der doppelte Fokus auf den Nahen und den Fernen Osten war von Brisanz und höchster Aktualität. Aber es trat der Zeitkontext doch in viel zu penetrante und vor allem unkontrollierbare Bezüge zu der Handlung, so dass es zu einer innermuslimischen Konfrontation der Kulturen und zu einer ost-westlichen Begegnung und Beäugung der Gegenfiguren im visuellen Medium nicht kam. Eine Mischung aus Historien- und Science-Fiction-Film war anvisiert;549 ob daraus ein Mehrwert, welcher Art auch immer, hätte erwachsen können, steht dahin. Der Historische Spielfilm riskiert ein Scheitern, ein Abrutschen am Anspruch, Geschichte zu vergegenwärtigen, noch viel offensichtlicher als ein Roman. Es scheint, dass der Spielfilm überhaupt vor der Aufgabe, die Renaissance-Ära audio-visuell zu vergegenwärtigen, eher zurückgeschreckt ist, denn es gibt relativ wenige Historische Spielfilme, welche diese Ära thematisieren (und zugleich gegen die Selbstrepräsentation der Renaissance in ihren allbekannten Eigenschöpfungen vielleicht auch andere Bilder setzen). 547 Der Kuwaitkrieg von 1990/91 hingegen bildete kein Hindernis für die Fortentwicklung des Romans. Und untergründig hat sich das Kriegsszenario – die hoch technisierte Kriegsführung – dem Roman eingeschrieben wie auch die Thematik ‹Superwaffen über Wüstensand›. 548 Exposé, abgerufen im Jahre 2002 von der oben genannten Website, o.S. 549 Nach Ankündigung «possibly being the World’s first period SciFi movie…» (ebd., Einleitung).
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In der Kultur der Gegenwart repräsentiert Leonardo da Vinci sozusagen sich selbst. Es sind seine Werke, die ihn vertreten. Und es sind – sieht man vom so genannten Turiner Selbstporträt ab –550 kaum überzeugende und nachhaltig wirksame Bilder seiner Person und Persönlichkeit in visuellen Medien entworfen worden. Und vielleicht ist dies damit zu erklären, dass es außeralltäglicher Bilder bedürfte, um die exemplarische Außergewöhnlichkeit dieser Figur zu fassen. Und doch wäre man neugierig gewesen auf den gestalterischen Zugriff einer großen Spielfilm-Produktion. Die Geschichte der ‹orientalischen Frage› hat in nur wenigen Exkursen auch ins Visuell-Gestalterische geführt. Die Imagination hat in der Welt der Texte ihren Ort gehabt, sie hat, wenn man so will, mehrheitlich im Text ‹gelebt›, auch wenn im Folgenden kleinere Exkurse erneut ins Feld des Visuellen führen werden.
5.3 Vom Kriegsingenieur zum pazifistischen Symbol: Leonardo da Vinci als Brückenbauer in Europa Eine neue Brücke über das Goldene Horn ersetzte 1992 den alten vielgeliebten Bau von 1912. Die alte Galata-Brücke war bereits ein Mythos gewesen, ein ‹Erinnerungsort›, oftmals evoziert auch in der türkischen Literatur.551 Nach einem Brand noch im letzten Jahr seiner eigentlichen Existenz und der eigentlichen Demontage trat dieser Bau in die Nachgeschichte dieser eigentlichen Existenz als einer bewohnten Brücke ein. Denn der alte Bau war zweigeschossig gewesen und hatte in der unteren Etage Raum geboten für Läden und geschäftiges Treiben. In dieser Brücke, wiewohl Überreste noch vorhanden blieben, wohnte von nun an nur noch die Erinnerung. Der neue Bau, ähnlich konzipiert und erneut von deutschen Ingenieuren gestaltet, setzte von nun an einen neuen städtebaulichen Akzent.552 Leonardo da Vinci war gedanklich vor Ort gewesen, im damaligen Galata und Istanbul bzw. Konstantinopel. Dies genügte, um ihm eine Präsenz vor Ort – dem modernen Istanbul – zu sichern, denn diese gedankliche Präsenz war schon ein Teil des Mythos. der alten Galata-Brücke gewesen, und noch vor dem eigentlichen Entstehen der neuen Brücke war sie auch schon in Zusammenhang mit Leonardo gebracht.553 Vielleicht auch, weil – für einen kurzen Moment der Geschichte – die Möglichkeit aufschien, dass 550 Die These, dass dieses allbekannte ‹Selbstporträt› wahrscheinlich eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts ist, geht auf Hans Ost zurück (Hans Ost, Das Leonardo-Porträt in der Kgl. Bibliothek Turin und andere Fälschungen des Giuseppe Bossi, Berlin 1980). 551 Umut Şumnu, The 1912 Galata Bridge as a Site of Collective Memory, [Thesis], Bilkent University, 2004 [http://www.thesis.bilkent.edu.tr/0002124.pdf ], S. 59ff. 552 Siehe Bühler, a.a.O., S. 138 (hier mit Jahresangabe 1994). Einen städtebaulichen Akzent setzten insbesondere die bei Gelegenheit hochklappbaren Zugbrückenteile, die sich – hochgeklappt – der Silhouette der beiden Ufer einpassten. 553 Stefan Weber, Eine neue Galata-Brücke – wie Leonardo sie wollte, in: Rheinische Post (25. November 1989), o.S. [http://www.brueckenweb.de/]. – In praktisch jedem Istanbul-Reiseführer findet sich im Übrigen in Zusammenhang mit dieser Brücke ein Hinweis auf Leonardo und/oder Michelangelo.
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diese neue Brücke nun endlich nach seinen Vorstellungen gestaltet werden würde. Aber dies geschah – aller bautechnischen Begutachtungen seiner Brückenskizze zum Trotz – nicht (auch wenn in der Presse anderes behauptet wurde).554 Zu Beginn der 1990er Jahre hatte man sich endgültig an die Vorstellung gewöhnt, dass Leonardo – als ein ungefähr Fünfzigjähriger – den Osmanen ein Angebot gemacht hatte. In einer Fernsehproduktion, die eigentlich dem Leben Michelangelos gewidmet war, hantierte Leonardo – die kaum verhüllte, offenbar bereits fertige Mona Lisa im Hintergrund – mit einem Brückenmodell, das nach der Skizze verfertigt worden war;555 und Machiavelli sprach sich gegenüber Gonfaloniere Soderini dafür aus, Leonardo im Namen der Republik Florenz endlich einen größeren Auftrag zukommen zu lassen, weil man ihn sonst ‹an den türkischen Sultan› verliere. Man – bzw. der Machiavelli dieser Filmproduktion aus dem Jahre 1990 – rechnete mit dieser Möglichkeit (und die Ausmalungen des Ratspalastes, ins Werk gesetzt durch Leonardo und Michelangelo, erscheinen so gesehen in einem ganz neuen Licht). Statt Zweifel Euphorie Auch Carlo Pedretti, eigentlicher spiritus rector der Leonardo-Studien, hatte seine Zweifel fast gänzlich überwunden. War er 1977 höchst reserviert gewesen, insbesondere was die Authentizität des Briefs an den osmanischen Hof anging, war diese Reserviertheit nun einer eigentlichen Euphorie gewichen.556 Pedretti – in der 1993 erschienenen Ausgabe der Achademia Leonardi Vinci – annoncierte eine Ausstellung über Leonardos Brücken, die alsbald in Malmö eröffnet werden würde und in deren Mittelpunkt das Brückenprojekt ‹Goldenes Horn› stand.557 In ganz Europa, geeint in einem Interesse an dem Renaissancegenie, würde diese Ausstellung gezeigt werden und schliesslich auch – in Istanbul.558 Pedrettis Zweifel hatten sicherlich damit zu tun gehabt, dass Leonardo auch von einer Brücke über die ja sehr viel breitere Wasserstrasse des Bosporus gesprochen hatte. Doch diesen Zweifel zu überwinden war er imstande, indem er nun selbst postulierte, 554 Weber, a.a.O. 555 «Michelangelo. Genie & Leidenschaft», Regie: Jerry London, USA/Italien/Deutschland 1990 [DVD]. – Wahrscheinlich handelte es sich um das im Nationalen Museum für Wissenschaft und Technik ausgestellte Modell. Vgl. Ladislao Reti, Elemente der Maschinen, in: Silvio A. Bedini et al., Leonardo. Künstler, Forscher, Magier, München 2002, S. 266f. 556 Ein gewisser Rückhalt fand einen verklausulierten Ausdruck, indem Pedretti den Brief als «document which is not readily understood, enigmatic as scroll from Biblical times» bezeichnete (Pedretti, Sweden, a.a.O., S. 201). 557 Pedretti, Editorial, a.a.O. 558 Es sollte nicht verschwiegen werden, dass Pedretti Babingers und Heydenreichs Aufsatz höchstwahrscheinlich nie im Original rezipiert hat und sich demzufolge auch nie das in dem Aufsatz ausgebreitete Hintergrundwissen im Bereich der Osmanischen Studien zu eigen gemacht hat. In diesem Zusammenhang erscheinen diverse Assoziationen und en passant getroffene Festlegungen (Datierung auf 1502; Vermittlungswege) als etwas beliebig.
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dass es sich hier um eine von Francesco di Giorgio Martini übernommene Konzeption nicht einer Zug-, sondern einer so genannten Rollbrücke handeln könnte; und in einem wie gewohnt assoziationsreichen, von großer und manchmal etwas überschießender Begeisterung getragenen Einleitungstext für den Katalog der Ausstellung breitete Pedretti aus, was ihm im Rahmen der Themenstellung ‹Leonardos Brücken› interessant schien.559 Gut hundert Jahre zuvor hatte der deutsche Kunsthistoriker Paul Müller-Walde einen ähnlichen Versuch unternommen.560 Ausgehend von dem berühmten Bewerbungsbrief an den Moro, in dem sich Leonardo zuallererst als ein befähigter Kriegsingenieur präsentiert hatte und im allerersten Alineas auch seine Fähigkeiten als Brückenbauer hervorhob,561 musterte dieser Leonardo-Forscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts Leonardos Brücken – und setzte einen ganz anderen Akzent. Denn während es Pedretti dazu drängte, die zivilen Infrastrukturprojekte Leonardos zur Geltung zu bringen, sichtete Müller-Walde seinerzeit die Militaria und schrieb: «Leonardo’s Mittel, die Brücken der Feinde anzuzünden und zu zerstören, werden wir in den weiteren Abschnitten bei Besprechung der Geschosse kennen lernen.»562
Im Zeitklima der frühen 1990er Jahre bereitete sich allerdings die Feier des zivilen Brückenbauers Leonardo vor, die in einen scharfen, aber auch einen gewollten Kontrast zur Wirklichkeit geriet, als im November 1993 die alte Brücke von Mostar (‹stari most› – ‹alte Brücke›), um die Mitte des 16. Jahrhunderts erbaut, im Bosnienkrieg zerstört wurde.563 Der Feier des Brückenbauers tat dies keinen Einhalt, denn eben der Zerstörung eines Friedenssymbols, eines eigentlichen Symbols des multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Zusammenlebens, konnte so etwas entgegengesetzt werden, auch wenn es bloß der gute Wille war, sich auf die weniger anrüchigen Seiten Leonardos zu 559 Pedretti, Sweden, a.a.O., S. 210 (‹gleitende Brücke›) und passim. 560 Paul Müller-Walde, Leonardo da Vinci. Lebensskizze und Forschungen über sein Verhältnis zur Florentinischen Kunst und zu Rafael, München 1889. Auf die Richter-Debatte kam der Autor nur indirekt zu sprechen (S. 166): «Der [in den Noten zur Kriegstechnik in Ms. B vorkommende] Hinweis auf die Spanier, die Scythen und Araber ist, wie wir aus vielen anderen Beispielen erkennen, nicht so streng zu nehmen, dass wir glauben müssten, Leonardo gäbe hier eine von jenen Völkern her altbekannte Methode [der Flussquerung] wieder; vielmehr haben wir es hier, wie oft sonst noch, mit einer eigenen Construktion des Meisters zu thun, die durch flüchtige Erzählungen von Reisenden oder Berichte von Schriftstellern angeregt wurden [sic].» 561 Zitiert nach Müller-Walde, a.a.O., S. 160 (Orthographie modernisiert): «1. Ich habe Systeme von ganz leichten und starken Brücken, welche sich äußerst bequem von einem Ort zum andern transportieren lassen und die Möglichkeit bieten, dem Feinde sowohl nachzurücken, als auch, gegebenen Falls, zu entfliehen; ebenso von andern, welche sicher und unverletzbar durch Feuer oder Schlacht sind, dabei handlich und ohne Beschwerde abzubrechen und aufzustellen. Auch weiß ich die Brücken der Feinde anzuzünden und zu zerstören.» – Zur Bedeutung dieses Briefs im Rahmen von Leonardos Karriere vgl. auch Frank Zöllner, Karrieremuster. Das malerische Werk Leonardo da Vincis im Kontext der Auftragsbedingungen, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 26 (1995), S. 63. 562 Müller-Walde, a.a.O., S. 170. 563 Vgl. Dirk Bühler, Brückenbau im 20. Jahrhundert. Gestaltung und Konstruktion, München 2004.
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konzentrieren und aus ihnen Völker verbindende Symbolik zu generieren. Leonardos Brückenprojekt schien eine ganz ähnliche Symbolkraft inne zu sein wie der alten Brücke von Mostar; und Leonardos Brücke, die gut 50 Jahre vor der alten Brücke von Mostar erdacht worden war, trat im Laufe der 1990er Jahre gewissermaßen an die Stelle dieses in Trümmern liegenden Friedenssymbols. Die Brückenskizze, ein vom Format her winziger Ausschnitt aus dem Gesamtkorpus des Werks, erlebte eine späte Rezeption und kam im Laufe der 1990er Jahre – nach und nach – zu immer höheren Ehren. Nachgeschichte ‹visuell› Zunächst wurde die Skizze als ein Logo adaptiert:564 An einer Tagung, die 1992 in Capri stattfand (und die eben dieses Logo verwendete), bereitete sich die Würdigung Leonardos – wie sie in Schweden beginnen sollte – vor. Im Rahmen der 1993 annoncierten Wanderausstellung bildete das Projekt einer Brücke über das Goldene Horn dann wie gesagt den eigentlichen thematischen Fokus; und eben diese Ausstellung regte Mitte der 1990er Jahre auch zu einer tatsächlichen Realisierung des Entwurfs an – in Form einer mit viel humanistischer Rhetorik befrachteten, im Oktober 2001 (kurz nach dem 11. September) eingeweihten Fußgängerbrücke in Norwegen. Diese Brücke war aus Holz gefertigt, und zwar aus Holz – dies eine sehr leonardeske Idee –, das so behandelt worden war, dass es wie Marmor wirkte.565 Michelangelos angebliche Verhandlungen mit Unterhändlern des Sultans hatten schon früh in die visuelle Variante der Michelangelo-Legende hineingefunden. Einige Jahrhunderte später, in einer dafür disponierten Umgebung, wurde Leonardos ‹Vorschlag› mehr oder weniger wörtlich genommen und als ein neues Friedenssymbol gepriesen. Während die Promotoren dieses Projekts allerdings in den 1990er Jahren eher auf die in einem allgemeinen Sinne verbindende Symbolkraft der Brücke setzten und darauf hofften, auf jedem Kontinent eine ‹Leonardo-Brücke› zu bauen, verschob sich der Akzent der Rhetorik insbesondere nach dem 11. September auf die symbolische Verbindung zwischen Ost und West, Christentum und Islam. In diesem Zusammenhang erinnerte man sich auch wieder Leonardos angeblicher Vorliebe für den Nahen Osten.566 Das von überschwänglicher Begeisterung getragene Projekt traf allerdings nicht nur auf Gegenliebe. Die aufgesetzte Symbolik war geeignet, auch sarkastische und ärgerliche Reaktionen zu provozieren, denen der naiv-euphorische Ton der Leonardo-Rezeption, die Verstiegenheit der Rhetorik und die naive Überschätzung der Wirkkraft plakativer 564 Abbildung des Plakats der Tagung in ALV 5 (1992) [Abbildungsteil]. 565 Initiant war der norwegische Künstler Vebjørn Sand. Siehe N, S. 450f. und http://www.vebjorn-sand. com/. – ‹Fingierter Porphyrmarmor› erscheint in der Tat bei Leonardo – nämlich gemalt – auf der Rückseite des Porträts der Ginevra de’ Benci (siehe Z I, S. 175); allerdings steht Leonardos Urheberschaft nicht ausser Zweifel. 566 Zum neuesten Stand siehe die Homepage von Vebjørn Sand.
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Symbolpolitik gegen den Strich ging.567 Andererseits schien sich aber an der einseitigen, über Zwiespalt und Widersprüchlichkeit hinweggehenden Leonardo-Rezeption grundsätzlich niemand zu stoßen. Pedretti hatte Recht behalten, wenn auch nicht ganz in dem von ihm gemeinten Sinne: Leonardo war im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Allgemeingut, zu einem Weltkulturerbe der Menschheit geworden. Man erinnerte sich bei Gelegenheit eines bestimmten Aspektes dieses Erbes und tat alles dafür, den ganzen Leonardo, die ganze Kraft des Mythos Leonardo für die jeweilige Interessenlage in Dienst zu nehmen. Und eigentlich wäre es an der Leonardo-Forschung gewesen, die jeweils unter den Tisch fallenden Aspekte einzuklagen und nicht selbst vereinseitigende Tendenzen gar noch zu fördern. In einem gewissen Sinne hatte ein Roman, der zwar an seinen eigenen, viel zu hoch gesteckten Ansprüchen scheitern mochte, mehr von den Widersprüchlichkeiten Leonardos bewahrt (bzw. dies immerhin versucht) und – vielleicht auch unwillkürlich – die Kluft herausgestellt, die sich zwischen dem Kriegsingenieur und dem pazifistischen Symbol auftut. Die Frage, wie das historische Individuum Leonardo selbst – in sich – Ambivalenz ausgehalten hatte, war unter den Tisch gefallen und einer Begeisterung für gewisse Aspekte des Werks geopfert worden. Und angesichts der kriegerischen Realität auf dem Balkan verfiel man schließlich einer etwas hilflosen Symbolpolitik. Leonardos eigentliches Angebot an die Osmanen war kein gänzlich friedenspolitisches Projekt gewesen. Leonardo hatte einen Beitrag zur Infrastruktur vorgeschlagen, dessen Nutzen aber potentiell vielfältig – und damit ambivalent war. Und die osmanische Flotte, die als Nutznießer dieses Angebots zumindest teilweise in Frage kam, war kein friedenspolitisches Projekt, sondern – als eine Aufbauleistung des problematischerweise als Gegenbild eines Eroberers erinnerten Bayezid II. – schlicht die dominierende Seemacht im östlichen Mittelmeerraum. In den Jahren nach der Jahrtausendwende hatte sich manche Überschwänglichkeit allerdings überlebt. Das Projekt der Völker verbindenden multikulturellen ‹Leonardo-Brücke› war nicht recht in Gang gekommen. Unmittelbar an der neuen Galata-Brücke – sie war nun auch in der Straßenbahn zu überqueren – war bereits ein Bombenanschlag verübt worden.568 Und die neue Brücke von Mostar, die man in einer großen restaurativen Geste des guten Willens ganz nach dem Vorbild der alten wieder neu erbaute, schien manchen Beobachtern ein leeres und aufgesetztes Symbol dieses Willens zu sein,569 der aufdringlich kontrastierte mit dem keineswegs wieder intakten multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Zusammenleben in der nach wie vor geteilten Stadt. 567 Vgl. [bat.], Wem die Stunde schlägt: In Norwegen soll Leonardos dem Sultan zugedachte Galatabrücke die Welt im Humanismus einen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 195 (23. August 2001), S. 43. 568 [AP; Agenturmeldung], Istanbuler Bombe verletzt drei Personen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 (25. Juli 2005), S. 2. 569 Vgl. Renate Flottau / Marion Kraske, Kalte Rache, in: Der Spiegel, Nr. 11/2003 (10. März 2003), S. 160 [über den Wiederaufbau der Brücke von Mostar]: eine «auf internationalen Druck forcierte völkerverbindende Konstruktion».
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Als Bild für sich mochte diese Brücke bestehen, aber jedes Ufer der Neretva lebte – Berichten zufolge – für sich, unterhielt eigene Schulen und Universitäten und auch je eine Feuerwehr.570 Als Bild zuallererst hatte auch Leonardos Brücke Bestand, ein eigentlicher Test der Wirklichkeit indes war ihr erspart geblieben.
5.4 Zum Stand der Diskussion am Ende des Jahrtausends Als ein linear verlaufender Klärungsprozess kann die Geschichte der ‹orientalischen Frage› der Leonardo-Forschung nicht geschrieben werden. Zwar hat diese Geschichte in ihrer Gesamtheit auch Züge eines solchen Prozesses, aber alles in allem war sie doch in einem Ausmaß von Irrwegen und Unschlüssigkeiten gekennzeichnet, dass man versucht ist, sie – in ihrer Gesamtheit – als bloßen Irrweg aufzufassen. Dies wiederum würde der Gesamtproblematik nicht gerecht, denn man verengte den Blick zu sehr auf die Geschichte des biographischen Problems als einer Teilfrage, ganz ungeachtet des Sachverhalts, dass die ‹orientalische Frage› sich in immer wieder neuen Varianten stellte und immer noch und immer wieder stellt.571 Über den Anteil der Wissenschaft an diesem ambivalenten, widerläufigen Prozess der Klärung und Verunklarung dürften die Meinungen weit auseinander gehen. Diesen Anteil zu bestimmen, hängt zu einem guten Teil schlicht davon ab, wen man zur Wissenschaft im engen und eigentlichen Sinne zählt. Jean Paul Richter, als Auslöser der Debatte, war kein Vertreter der Wissenschaft in einem engeren, auf das Akademische fokussierenden Sinne gewesen, sondern – von der Universität her gesehen – ein Außenseiter. Man verdankte ihm ein bis heute gerne in Anspruch genommenes Arbeitsin-
570 Martin Woker, Verordnete Einigkeit in Mostar. Gemeinsame Verwaltung für die geteilte Stadt, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 60 (12. März 2004), S. 7. 571 Am Ende des Jahrtausends verlagerte sich der Fokus des Interesses gleich mehrfach auf Ostasien: Zwar kam eine Verfilmung der Kathedrale der Erinnerung – wie oben gesehen – Ende 2001 nicht zustande. Doch die alte Frage nach einer Beziehung zwischen chinesischer Malerei und der Landschaftsdarstellung Leonardo wurde erneut – diesmal von einem japanischen Forscher – aufgeworfen, der sich bemühte, eine direkte Abhängigkeit Leonardos von chinesischen Vorbildern plausibel zu machen, ohne jedoch mit wirklich neuen Erkenntnissen aufwarten zu können (Hidemichi Tanaka, Influenza dell’arte cinese nelle opere di Leonardo da Vinci. Il paesaggio della ‹Mona Lisa› e il paesaggio cinese, in: Bijutsushigaku / Art History 20 (1999), S. 214–198 [Zählung von hinten nach vorne]). Als Vermittlungsweg eines mutmaßlich von Leonardo aufgenommenen Drachenmotivs vermutete Tanaka den Import von Porzellan. Aber er ging soweit, das reale Vorhandensein auch von chinesischen Landschaftsbildern im Italien der Renaissance zu vermuten. Das ‹Diodario-Material› erschien hier erneut eingebettet in ein System von Bezügen zwischen orientalischer und abendländischer Landschaftsdarstellung. An die Forschungsgeschichte schloss Tanaka auf dem Felde der Kunstgeschichte zwar partiell an, doch eine eigentliche eingehende Diskussion des ‹Diodario-Materials› fand auch hier nicht statt, geschweige denn ein Anknüpfen an die technikgeschichtlichen Erwägungen von Needham (vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›).
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strument, doch die Kunstgeschichte als eine akademische Disziplin erinnert sich seiner – wenn überhaupt – als eben eines Außenseiters.572 Rückfälle und Reprisen Am Ende des Jahrtausends hatte sich – in der Wissenschaft – ein schleichender Gedächtnisverlust breit gemacht, was die Geschichte der ‹orientalischen Frage› anging,573 denn ausgerechnet die Wissenschaft in einem engeren Sinne, als akademische Fachwissenschaft, als kulturwissenschaftlich orientierte Renaissance-Forschung, fiel zurück auf den Stand ganz zu Beginn der Debatte in den 1880er Jahren. Denn es war die alte biographische Frage, die einige Vertreter der Fachwissenschaft – in einer kuriosen Umkehr – erneut aufwarfen und zur erneuten Evaluation empfohlen, ohne von den Argumenten, die im Laufe der Zeit vorgebracht worden waren, überhaupt vertieft Kenntnis zu nehmen.574 Ein schleichender Gedächtnisverlust war das eine, ein sich gegen Mitte der 1990er Jahre verbreitender unkritisch-euphorischer Multikulturalismus, der sich in der engli572 Fehrenbach taxierte Richter als einen ‹dilettierenden Kunsthistoriker›, bezeichnete ihn aber im gleichen Atemzug als Maler und verwechselte ihn dergestalt höchstwahrscheinlich mit Heinrich Ludwig, der eine Edition des ‹Malerbuchs› besorgte (Frank Fehrenbach, Leonardos Vermächtnis? Kenneth Clark und die Deutungsgeschichte der ‹Sintflutzeichnungen›, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 28 (2001), S. 11). 573 Es mag dies auch an der nur partiellen oder oberflächlichen Kenntnisnahme deutschsprachiger Texte gelegen haben. 574 Lisa Jardine / Jerry Brotton, Global Interests. Renaissance Art between East and West, Ithaca 2000, S. 10. Im Anschluss an eine mit Fehlern und Ungenauigkeiten behafteten Paraphrase eines dem ‹DiodarioMaterial› gewidmeten Abschnittes in einer populären Leonardo-Biographie schreiben die Autoren: «It seems clear that further investigation is needed to find out whether Leonardo really did visit southern Turkey, doing the same kind of surveying or engineering work for which his then-current employer Ludovico Sforza of Milan used him at home and, if so, what impact these encounters had on other aspects of his oeuvre.» Zugrunde gelegt ist hier eine Datierung des Materials auf das Jahr 1484, die längst kein ausgewiesener Leonardist mehr vertritt (vgl. Tabelle 2). Leonardo schrieb des Weiteren nie explizit an einen ‹Devatdar Kait Bai›, wie hier verbreitet wird. – Jerry Brotton (in: The Renaissance Bazaar. From the Silk Road to Michelangelo, Oxford 2002, S. 2) schmückte diese Phantasie in einer weiteren Veröffentlichung folgendermaßen aus: «Leonardo had already been so impressed by Qā’it Bāy’s reputation that in 1484 he wrote a series of reports to ‹Kait-Bai› on scientific and architectural initiatives he proposed to undertake in Turkey. Leonardo clearly believed that wealth, patronage, and political power lay in the courts to the east of mainland Europe.» Hier vermischt sich Leonardos real dokumentiertes Angebot an die Osmanen mit dem Thema ‹Diodario-Material›. Weil auch frei erfundene Sachverhalte als Tatsachen ausgegeben werden, sei nochmals klargestellt: Leonardo hat niemals an ‹Kayt Bey› geschrieben, der Name kommt im ganzen schriftlichen Nachlass nirgendwo vor. Die Datierung ‹1484› ist beliebig in die Welt gesetzt und zeugt nicht von einer Vertrautheit mit der Debatte. Das ‹Diodario-Material› reflektiert keine Beziehungen Leonardos zu den Osmanen und beinhaltet auch keine architektonischen Vorschläge. Und man wüsste zudem auch gerne, worauf die Sicherheit des Autors beruht, allgemeine Schlussfolgerungen über Leonardos Einschätzung der Hofkulturen im Nahen Osten zu ziehen.
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schen Renaissance-Forschung breit machte und den ursprünglich in einem kritischen Sinne politisierten Multikulturalismus der frühen 1990er Jahre abgelöst hatte, tat ein Übriges.575 Der Frage war immer eine enorme Faszinationskraft eigen gewesen und eben dieser Kraft war man nun nicht imstande kritisch zu begegnen.576 Man ging über alle Einwände, die im Laufe gut eines Jahrhunderts formuliert worden waren, hinweg und stellte die Frage gelinde gesagt leichtfertig erneut zur Debatte, denn es passte nur zu gut in die Gedankenwelt dieses ‹überschwänglichen Multikulturalismus› (wie er sich selbst bezeichnete),577 dass Leonardo tatsächlich im Orient gewesen war, weil man die Entstehung des modernen Europa auf eine grenzüberschreitende Zirkulation der materiellen und geistigen Produkte zur Zeit der Renaissance zurückführte.578 Kurz: An der Vorstellung, dass nun ausgerechnet Leonardo da Vinci im Orient gewesen war, konnte man sich recht eigentlich berauschen. Sie gefiel zu gut und passte ins Konzept, so dass es an selbstkritischen Hemmungen mangelte, die alte Frage nochmals aufzuwerfen. Eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Materie jedoch entfiel, während sich – vom Rande des Forschungsbetriebes her – eine neue Variante der ‹orientalischen Frage› verbreitete. Kulturtransfer und Sklaverei Wenn die Welt der europäischen Renaissance auch dem Wunschbild eines ‹überschwänglichen› Multikulturalismus› zu entsprechen schien, der seine kritischen Spitzen verloren hatte,579 so konnte jedenfalls ein Modus des Kulturtransfers in diesem Wunsch575 Den Übergang vom einen zum anderen markiert vielleicht am besten ein 1995 erschienener, im Zusammenhang mit dem Kolumbusjahr entstandener Sammelband (Claire J. Farago (Hg.), Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America 1450–1650, New Haven/London 1995). Peter Burke hat mehrfach die allmähliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs der RenaissanceForschung hin zu einer Globalgeschichte angesprochen bzw. rekapituliert (Peter Burke, Renaissance Europe and the World, in: Jonathan Woolfson (Hg.), Palgrave Advances in Renaissance Historiography, Basingstoke 2005, S. 52–70; vgl. auch ders., Die europäische Renaissance, München 2005 [urspr. 1998]), mahnte aber auch, insbesondere mit Blick auf den ‹überschwänglichen Multikulturalismus›, nicht zu übertreiben (Burke, Renaissance Europe, a.a.O., S. 66). 576 Schwer in die Kritik geriet der Ansatz von Lisa Jardine insbesondere von Seiten der Sozialhistorie (vgl. Lauro Martines, [Review Essay] The Renaissance and the Birth of Consumer Society, in: RQ 51 (1998), S. 193–203. Der Aufsatz kommt einem einzigen Stoßseufzer gleich. 577 Lisa Jardine, Der Glanz der Renaissance. Ein Zeitalter wird besichtigt, München 1999 [engl. Originalausgabe 1996], S. 41: «unser eigener überschwenglicher Multikulturalismus». 578 Brotton, Bazaar, a.a.O., S. vii: «by competing and exchanging ideas and commodities with its eastern (and predominantly Islamic) neighbours»; «basis for the great art and culture»; «Europe emerged in close relation rather than stark opposition». 579 Bemerkenswert ist, dass sich Jardine und Brotton mit Blick auf die türkische Geschichts- und Symbolpolitik bewusst zu sein scheinen, dass sich bestimmte Erzählweisen mit identitätspolitischen Bedürfnissen verbinden (Jardine / Brotton, a.a.O., S. 8). Demnach wurde Sultan Mehmed II. gegen Ende des Jahrtausends nicht mehr vornehmlich als Eroberer präsentiert, sondern in seiner Rolle als ein den Fürsten der Renaissance ebenbürtiger, kosmopolitischer Mäzen augenfällig gemacht. Dass
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bild keine prominente Stellung haben: Denn die Gesellschaften der Renaissance waren auch Sklavenhalter-Gesellschaften gewesen und hatten im Sklavenhandel mitgetan.580 Der zwangsweise Transfer von Menschen zeitigte jedoch ebenfalls kulturelle Folgen – ganz wie der freiwillige, vermeintlich ganz im Zeichen einer zwanglosen Vermehrung des Wissens und der Förderung der Künste stehende Transfer.581 Und in einem ganz buchstäblichen Sinne betrachtete man nun die Person Leonardo da Vincis als das Resultat eines solchen Transfers, denn vom Rande des wissenschaftlichen Establishments her – von einem Außenseiter – wurde nun die Hypothese lanciert, dass Leonardos Mutter eine Sklavin aus der Schwarzmeer-Region und damit in einem gewissen Sinne eine orientalische (und mutmaßlich muslimische) Sklavin gewesen sei.582 Ganz eindeutig legte man sich zwar – zunächst – nicht fest, aber in Form einer Idee, in einer gedanklichen Form immerhin war damit eine neue, fünfte Variante der ‹orientalischen Frage› ins Spiel gebracht: Nicht Leonardo hatte sich – physisch oder gedanklich – auf Reisen in den Orient begeben oder hatte dies geplant (und auch nicht um orientalische Kulturprodukte in seinem Blickfeld ging es hier) – der Orient war vielmehr in ihm, denn eine tscherkessische Sklavin – wie der genuesische Sklavenhandel sie von der nördlichen Schwarzmeerküste her nach Europa und in den Nahen Osten verschleppte – war demnach seine Mutter gewesen;583 d.h. einer Vereinigung der Sklavin mit Ser Piero – Leonardos Vater, der biographisch besser fassbar ist – verdankte sich demnach die Geburt des Sohnes (der, wie ein anonymer Leonardo-Biograph, der so genannte Anonimo Gaddiano, nachmals schrieb, ‹mütterlicherseits› von ‹gutem Blut› gewesen sei).584 Dieser vage Hinweis (auf eine möglicherweise hohe Herkunft), zusammengedacht mit den vielen Lücken in der Dokumentation in Bezug auf Leonardos Mutter Caterina, und mit der Fülle an Orient-Bezügen, aus denen die vermeintliche Vorliebe Leonardos für alles Exotische und Orientalische abgeleitet worden war, dürfte zu einer Hypothesich der ‹überschwängliche Multikulturalismus› allerdings ebenfalls eignet, einem etwas blauäugigen Kosmopolitismus identitätspolitisch dienstbar zu sein, scheint ein blinder Fleck in der (Selbst-)Wahrnehmung der Autorin und des Autors zu sein. 580 Sergio Tognetti, The trade in black African slaves in fifteenth-century Florence, in: T. F. Earle / K. J. P. Lowe (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge etc. 2005, S. 213–224. Vgl. Albertis, in Kap. 3 erwähnte Sicht auf Pera als eines Umschlagplatzes des Sklavenhandels im Schwarzmeerraum. 581 Vgl. Anhang A, Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›. 582 Im September 2002 über die Nachrichtenagenturen lanciert fand die Hypothese von Alessandro Vezzosi, der Direktor des ‹Museo Ideale Leonardo da Vinci› in Vinci ist, zuerst in die Medien und sodann in eine populärwissenschaftliche (und zugleich sehr eigenwillige) Monographie hinein (Peter O. Chotjewitz, Alles über Leonardo aus Vinci, Hamburg etc. 2004, S. 73ff.; vgl. auch weiter unten). – Vielleicht bezeichnenderweise ist früher versucht worden, Picasso – mütterlicherseits – eine ‹maurische› Abkunft zu unterstellen (siehe Penrose, Roland, Pablo Picasso. Sein Leben – sein Werk, München 1981 [engl. Originalausgabe 1958], S. 20f.). Es liegt nahe, hier ein zugrunde liegendes Bedürfnis nach Sinnbildern kultureller Synthesen zu vermuten. Bezeichnend ist vermutlich auch die Verortung des ‹Orientalischen› auf der Seite der Mutter. 583 Vom ‹Orient› ist freilich nur zu sprechen, wenn man die nördliche Schwarzmeerküste, Tscherkessien, zum Nahen Osten zählt. Aus dieser Region gelangten auch viele Sklavinnen an den osmanischen Hof. 584 Siehe Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hrsg. von André Chastel, München 1990 [enthält auch die drei bekannten Leonardo-Viten in deutscher Übersetzung], S. 76.
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senbildung verleitet haben, die erneut deshalb als so verführerisch erschien, weil sie vermeintlich und aufs Einfachste eine Fülle von Orient-Bezügen wiederum erklärte.585 Weniger an solchen Erklärungen als an einer erneuten und aktiven Vermischung von Dichtung und Wahrheit, von historischer Imagination und Dokumentation zeigte sich demgegenüber ein deutscher Autor interessiert, der mit dem eigentlichen Urheber der Hypothese, Alessandro Vezzosi, freundschaftlich verbunden war und der die Idee im Rahmen eines kuriosen Sach- bzw. Erzählbuchs über Leonardo zur literarischen Weiterspinnung empfahl (ohne diese literarische Ausgestaltung indes selbst leisten zu wollen oder zu können).586 In der seriösen bzw. akademischen Forschungsliteratur hat die eigentliche Hypothese indes bislang kein sonderlich starkes Echo gehabt (obschon – Presseberichten zufolge – inzwischen versucht worden ist, die Hypothese weiter zu erhärten);587 aber als eine neue Variante der ‹orientalischen Frage› – welche die Enstehung neuer Varianten auch in Zukunft ahnen lässt –, hat sich der Vorschlag der Geschichte dieser Frage doch bereits eingeschrieben. Er dürfte – auch und wiederum, und ganz egal, wie sich die weitere Forschung entwickeln wird – dem Bedürfnis geschuldet sein, das Sinnbild einer Ost585 Vgl. Melinda Henneberger, A Work in Progress [über aktuelle Tendenzen in der Leonardo-Forschung], Art news, Januar 2003 [http://www.artnewsonline.com], mit Zitaten und Reaktionen. Im 21. Jahrhundert begegnet also erneut das Grundmotiv eines mutmaßlichen oder angeblichen Erklärungspotentials einer ‹orientalischen Verbindung›. 586 Chotjewitz, a.a.O., S. 331: «Idee: Schreibe eine Novelle, in der ein Mann namens Ahmed nach Vinci kommt. Es ist der Sommer 1472. Ahmed ist ein wilder, fremdländischer Typ und begnadeter Zeichner. Leonardo freundet sich mit ihm an und lässt sich kaukasische Landschaften in sein Notizbuch zeichnen. Ahmed erzählt, wie Sklavenhändler aus Bursa ihr Dorf überfallen und die halbwüchsigen Mädchen als Sklavinnen entführen. Wie er monatelang nach Westen reist, um seine Schwester zu finden. Was für Abenteuer er besteht. Zwischendurch fragt er Leonardo nach der Bauersfrau, die er auf der Straße gesehen habe. Stundenlang erzählt er dem jungen Leonardo von seiner kaukasischen Heimat. Verwende dafür Leonardos Berichte über das Land zwischen dem Taurus-Gebirge und dem Kaspischen Meer. Die erste überraschende Wendung: Ahmed erkennt Caterina. Caterina ist die Tochter eines Clanchefs, also praktisch adelig und gebildet. Einige Verwandte von ihr sind bedeutende Künstler. Überraschende Wendung zwei: Caterina ist Ahmeds Schwester. Er kommt, um sie zu befreien und in die Heimat zurückzubringen. Doch Caterina bleibt lieber bei dem stumpfsinningen Accatabriga. Sie liebt Italien und die Renaissance. Ahmed reist zurück in den Kaukasus. Caterinas älteste Tochter begleitet ihn [Kursivierung im Original].» – Chotjewitz formulierte auch eine bestimmte Folgerung aus, die sich aus Vezzosis Idee der Möglichkeit nach ergibt (ebd.): «Wenn Leonardo im Kaukasus war, so war er zu Besuch bei der Verwandtschaft seiner Mutter.» 587 Die entsprechenden Versuche konnten – im Rahmen dieser Untersuchung – keine Berücksichtigung mehr finden (und daher sei auch auf entsprechende Belege verzichtet). Doch falls es gelingen sollte, die Hypothese – entgegen aller Skepsis – mit wirklich überzeugenden Beweisgründen und Quellenbelegen zu erhärten – würde sich der Leonardo-Forschung in der Tat eine neue und aufregende Perspektive eröffnen. Die Resultate der zukünftigen Forschung wollen hier nicht vorweggenommen sein. In unserem Erzähl- und Analyserahmen sollte in erster Linie darauf verwiesen werden, dass sich die ‹orientalische Frage› nach der Jahrtausendwende erneut – und in einer neuen Variante gestellt hat. Analytisch betrachtet handelt es sich um die fünfte Variante (vgl. auch die einleitenden Bemerkungen zu Kap. 4): Es ging um eine mutmaßliche physische, dann um eine gedankliche Reise in den Orient, sodann um eine Reiseabsicht bzw. ein Projekt; ferner um die ‹Reisen› von Objekten oder Wissensbruchstücken ins Blickfeld Leonardos und nun eben – zuletzt – um den Orient in ihm.
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West-Synthese, wenn nicht zu haben, so eben zu erfinden; und sei es eben auf einem gedanklichen Wege, der unwillkürlich auch die weniger gerne und weniger häufig betrachteten Seiten der Renaissance-Kulturen ins Zentrum der Betrachtung rückt.588 Über Leonardos Mutter ist zwar in der Tat wenig bekannt,589 aber dieses wenige, ein eigentlicher Mangel an Substanz – ein ‹Schweigen› der Dokumente – eignet sich jedenfalls schwerlich als Grundlage für eine kühne Hypothesenbildung, die dem Urheber selbst zunächst nur im Zusammenhang der vermeintlichen Orient-Vorliebe Leonardos überzeugend vorgekommen war. Die Mischlingsherkunft war den Gesellschaften der Renaissance selbst ein interessantes Phänomen gewesen, vor allem wenn es dabei um Prominente ging, wie in dem Falle eines Medici.590 Doch an überzeugenden Hinweisen und Quellenbelegen im Falle Leonardos (bzw. an Quellenbelegen bezüglich Leonardos Mutter) mangelt es.591 Angesichts der zuletzt beschriebenen Entwicklungen vor und nach der Jahrtausendwende (insbesondere der Reprisen) ist es nun angezeigt – vor einem eigentlichen Gesamtfazit – eine Bilanz zu ziehen im Hinblick auf das biographische Problem allein, mit dem die Geschichte der ‹orientalischen Frage› einst ihren Anfang nahm. Was spricht dafür, die Leonardo allein betreffende biographische Frage – in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts – nochmals aufzurollen? Was spricht dagegen? Und damit sei schließlich auch Stellung bezogen im Hinblick auf die vermeintlich simple (in Wirklichkeit aber so vertrackte) Frage: Ist Leonardo da Vinci (doch) im Orient gewesen? Ein Argumentatorium gegen die These einer Orientfahrt in vier Teilen Dem Wunschdenken eines ‹überschwänglichen Multikulturalismus› zum Trotz gibt es keine neuen Hinweise darauf, dass Leonardo da Vinci jemals physisch im Orient 588 Alle von Vezzosi ins Spiel gebrachten Orientalia sind im Rahmen der Synopse in Anhang A berücksichtigt. Einer Erklärung derselben durch eine mutmaßliche orientalische Verwandtschaft der Mutter bedarf es nicht; und es ist erneut die Frage aufzuwerfen, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, von einer Fülle zu sprechen und nicht vielmehr von einer Auto-Suggestion infolge einer übermäßigen Fixierung auf bestimmte dokumentarische Befunde. 589 Einen Überblick über die spärlichen Dokumente zu Leonardos Kindheit gibt Bradley I. Collins, Leonardo, Psychoanalysis, and Art History. A Critical Study of Psychobiographical Approaches to Leonardo da Vinci, Evanston 1997, S. 74f. 590 Vgl. John Brackett, Race and rulership: Alessandro de’ Medici, first Medici duke of Florence, 1529–1537, in: T. F. Earle / K. J. P. Lowe (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge etc. 2005, S. 303–325. 591 Möglicherweise stimulierte ein Bericht über eine entlaufene Sklavin namens Caterina das Entstehen der Hypothese (siehe Iris Origo, «Im Namen Gottes und des Geschäfts». Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, München 1985 [engl. Originalausgabe 1957], S. 179). Vgl. auch Epstein in Bezug auf typische Namen (Steven Epstein, Speaking of Slavery. Color, ethnicity, and human bondage in Italy, Ithaca/London 2001, S. 27). – Presseberichten zufolge hat man inzwischen – hypothetisch – eine bestimmte – möglicherweise freigelassene – Sklavin namens Caterina aus dem Umfeld von Leonardos Vater mit Leonardos Mutter identifiziert (und dabei festgehalten, dass der Name Caterina – in der Gegend – sonst nicht belegt ist).
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gewesen ist. Die Diskussion ist also – kaum begonnen – wieder auf das altbekannte ‹Diodario-Material› zurückverwiesen. In allen Teilbereichen der ‹orientalischen Frage› überwiegen allerdings die Argumente, die gegen die Annahme eines physischen Transfers Leonardo da Vincis in den Orient gesprochen haben. Und diese Argumente seien hier – in einem Argumentatorium – nochmals gebündelt dargestellt. 1) Die Quellendichte Leonardo da Vincis Lebenslauf ist heute in seinen biographischen Eckdaten durchaus gut erschlossen.592 Nicht zuletzt infolge neuer Quellenfunde (und dank der langjährigen Bemühungen der biographischen Forschung) ist es zunehmend schwieriger geworden, die Möglichkeit einer längeren oder gar mehrjährigen Abwesenheit des jungen Leonardo bzw. die Möglichkeit einer Reise in den Orient zu denken. Es ist zwar nicht möglich, ein eigentliches Itinerar zu erstellen, geschweige denn eine Chronik von Tag zu Tag; und es ist auch nicht unmöglich, Zeitspannen zu finden, die weniger gut dokumentiert sind. Aber die Dokumentation hat sich insbesondere im Hinblick auf die einstmals in Betracht gezogene Zeitspanne um 1480 verdichtet, also im Hinblick auf die Phase vor und nach dem Transfer des ungefähr Dreißigjährigen von Florenz nach Mailand.593 Je kürzer man – rein hypothetisch – die Dauer einer entsprechenden Reise veranschlagte, desto weniger Schwierigkeiten entstehen natürlich in Bezug auf die Datierungsfrage.594 Insgesamt haben sich die Zeitfenster aber verengt, und die Möglichkeiten der Hypothesenbildung sind folglich eingeschränkt. Seit langem hat es indes keine fundierten Bestrebungen mehr gegeben, eine Frühdatierung des ‹Diodario-Materials› zu behaupten; vielmehr zeichnet sich eine Tendenz ab, dieses Material zunehmend später zu datieren (einen Abriss der Forschungsgeschichte gibt die folgende Tabelle 2). Von der Vorstellung ‹jugendlicher Reiselust› als Erklärung einer früh datierten Reise ist daher, folgt man dieser Tendenz, Abstand zu nehmen.
592 Eine bewährte Referenz, was die Eckdaten angeht, ist: Carmen C. Bambach, Documented Chronology of Leonardo’s Life and Work, in: dies. (Hg.), Leonardo da Vinci, Master Draftsman, [Kat.] New York 2003, S. 227–241. 593 Ein neuer Beleg zum Werkkomplex Felsgrottenmadonna wurde 1999 publiziert (vgl. M, S. 124 und Fn 5 auf S. 151). Das Dokument stammt aus dem Dezember 1484. 594 Die kürzestmögliche Dauer einer Pilgerreise nach Jerusalem kann man auf etwa 40 Tage veranschlagen (vgl. Jürg Meyer zur Capellen, Gentile Bellini, Stuttgart 1985, S. 18, Fn 60, sowie Ursula GanzBlättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320–1520), Tübingen 1990, S. 96).
212 | Leonardo da Vinci im Orient Tabelle 2 Die Datierungsproblematik – ein forschungsgeschichtlicher Abriss Jahr
Entwicklungen und Tendenzen
1881/83
Jean Paul Richter – in Bezug auf die Datierungsproblematik teils in Zusammenarbeit mit Giovanni Morelli – supponiert einen mindestens zweijährigen Orientaufenthalt Leonardos in den Jahren 1482–86 (vormals wurden auch die Jahre 1477–85 bzw 1473–77/1481–85 genannt). In der Folge wird ein in Leonardos Jugend verortetes biographisches Problem verhandelt. Auch krude Vorstellungen, bis hin zu einem elfjährigen Orientaufenthalt, verbreiten sich in Presse und Öffentlichkeit.
1910
Sigmund Freud mutmaßt in seinem Leonardo-Essay über Leonardos Motive, eine Art ‹geographischen Roman› zu Papier zu bringen. Dies zu einem Zeitpunkt, als Richters Thesen zwar mehrheitlich als widerlegt gelten, aber die ‹orientalische Frage›, wie von Freud nun gewissermaßen festgeschrieben, noch immer als ein in Leonardos Jugend verortetes, nun literaturwissenschaftliches und literaturgeschichtliches Problem betrachtet wird. Im gleichen Jahr verdichtet sich – aufgrund der Veröffentlichung des Vertrages bezüglich der Felsgrottenmadonna (dieser stammt aus dem Jahr 1483) die Quellenlage zur Biographie des jungen Leonardo. Weitere Indizien bezüglich seiner Tätigkeit in Mailand – in dem von Richter vorgeschlagenen ‹Zeitfenster› – können versammelt werden (Colvin).
1925
Gerolamo Calvi datiert in einem Klassiker der Leonardo-Forschung kraft der Autorität des Philologen das ‹Diodario-Material› erstmals in eine spätere Zeit (nicht vor 1494). Leonardo ist zur Zeit der Niederschrift demnach über vierzig. Demzufolge verortet sich die ‹orientalische Frage› (in welcher Variation auch immer) nicht mehr in Leonardos Jugend. Dennoch wirken die früheren Hypothesen weiter, wie auch die Tendenz, Leonardo eine allgemeine Vorliebe für Orientalisches bzw. eine Affinität zum Orient zu unterstellen. Die ersten Autoritäten der Leonardo-Forschung (Kemp, Pedretti) folgen allerdings der von Calvi vorgegebenen Tendenz zur späten Datierung.
seit 1989
Überwunden geglaubte Spekulationen bezüglich der ‹orientalischen Frage› leben auf, obschon das Material von der Spezialforschung (Di Teodoro) nochmals später, nämlich auf ca. 1508 datiert worden ist. Leonardo ist als Autor des Materials demnach ca. 56 Jahre alt. Erneut verdichtet sich die Quellenlage zu Leonardos Biographie durch einen neuen Quellenbeleg bezüglich der Felsgrottenmadonna (der Beleg stammt aus dem Jahre 1484), während die alte Hypothese Richters – in Form eines eher trivialen Historischen Romans – ein spätes Nachleben hat. Die Tendenz, Leonardo eine Affinität zum Orient zu unterstellen, findet nach der Jahrtausendwende ihren vielleicht markantesten Ausdruck in der Hypothese der mutmaßlich (und in geographischer Hinsicht nur in einem gewissen Sinne) orientalischen Herkunft von Leonardos Mutter Caterina.
2) Aufgedeckte Intertextualität und Literarizität: Der ‹innere Widerspruch› des ‹Diodario- Materials› Das wohl schwerwiegendste Argument gegen die These einer Orientfahrt Leonardos leitet sich aus Merkmalen des ‹Diodario-Materials› her, die hier – zusammengefasst – als der ‹innere Widerspruch› des Materials bezeichnet werden sollen. Es geht also um Beobachtungen an eben dem Material, aus dem die These zuallererst hergeleitet worden war: Leonardo – als ein Autor – präsentiert sich – in der ersten Person schreibend – auf
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einer Aufklärungsmission im Auftrag eines Würdenträgers, schöpft aber, indem er sich uns als ein Beobachter und damit als ein Empiriker vorstellt, nachgewiesenermaßen aus anderen Texten (unterschiedlichster Art). Er schöpft sozusagen – einen weiten Begriff von Literatur vorausgesetzt – Literatur aus Literatur. Dieser Befund lässt sich weder mit dem Bild von Leonardo als einem Empiriker noch eben mit der Vorstellung, ihn auf einer realen Beobachtermission zu sehen, ganz einfach in Einklang bringen. Zunächst deutet sich die Literarizität des Materials als ein nicht mehr unmittelbar an ein reales Geschehen rückgebundener geformter und damit fiktiver Entwurf möglicherweise schon durch die Aufstellung einer Art ‹Inhaltsverzeichnis› an, denn dieses könnte – was allerdings nicht zwingend ist – als ein Fiktionalitätssignal verstanden werden. Des Weiteren verliert die These, Leonardo sei auf einer realen Beobachtermission gewesen, aber an Glaubwürdigkeit durch die offensichtliche doppelte sachliche Unschärfe, was die Anrede seines angeblichen Auftraggebers angeht: Die Bezeichnung ‹Diodario›, zur Bezeichnung des Trägers eines sehr hohen Staatsamtes im Mamlukenreich, ist nicht in Kombination mit einer Landesbezeichnung zu verwenden (eine entsprechende, vielleicht sogar dieselbe Unschärfe findet sich aber in einer Leonardo möglicherweise zugänglich gewordenen venezianischen Quelle). Und weiter: Die Benennung der Residenzstätte des Sultans als ‹Babylon› lässt nicht auf eine wirkliche Bekanntschaft mit einem realen Amtsträger schließen, dessen individuelle Physiognomie ebenfalls nicht kenntlich wird. Vielmehr ist von einem Entscheid für eine eher überkommene geographische Denotation zu sprechen (oder von einer – für einen empirisch interessierten Reisenden seltsamen – Gleichgültigkeit gegenüber den geographischen Konventionen im Orient). In den Textfragmenten finden sich sodann Bezüge auf unterschiedliche Text- und Wissenstraditionen, die im Bericht eines Empirikers von einer Beobachtermission seltsam anmuteten.595 Es kann zwar nicht von Quellen als von unmittelbaren Vorbildern der Texte Leonardos die Rede sein, aber die Motivik seiner Texte (vermeintlicher Komet, Leuchten des Taurus-Gebirges, die Naturkatastrophe im Orient samt Auftreten eines Propheten) steht zweifelsohne in diesen, einem gebildeten zeitgenössischen Publikum auch zugänglichen Bezügen, und es finden sich sogar topische, also stereotype Bestandteile (das gemeinsame Auftreten der vier Elemente im Rahmen einer Naturkatastrophe). All diese Versatzstücke können plausibel als Bezüge auf bestimmte Text- und Wissenstraditionen erklärt werden, nicht zuletzt auf die relativ neue Tradition der durch arabische Astrologie untermauerten Sintflutprognostik, der Leonardo mit einem naturkundlich informierten Gegenentwurf begegnet. Schließlich: Die von Leonardo verwendeten Namen stammen, wie schon früh bemerkt worden ist, aus der ‹Geographie der Alten Welt›, nämlich der Ptolemäus-Tradition (dies betrifft zum Beispiel, aber nicht nur, die Namen 595 Für Details siehe die Kommentare im Rahmen von Anhang B. – Die gleichsam verdeckte Auseinandersetzung, die Leonardo mit den Autoritäten führt, macht im Rahmen einer literarisch-didaktischen Spielanordnung durchaus Sinn. Es verdürbe ja geradezu den Illusionismus des Spiels, wenn der Text seine Gemachtheit offen legte. Von einem echten Augenzeugen hingegen, zumal von Leonardo, wäre primär ein Bericht eigener empirischer Erfahrungen zu erwarten, oder, falls der Augenzeuge ein Traditionswissen an der Wirklichkeit zu überprüfen suchte, eine offene Auseinandersetzung mit den Autoritäten. Von den letzteren beiden Möglichkeiten kann aber keine Rede sein.
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von Berggipfeln, die Leonardo einer Zeichnung beigibt). Im Schreiben an einen Auftraggeber, zu dem ein vertrautes Verhältnis zu bestehen scheint, eine seltsame, jedenfalls erklärungsbedürftige Wahl. Zusammengefasst: Eine erneute Deutung des ‹Diodario-Materials› als Dokumentation einer realen Reiseerfahrung stünde vor dem Problem, all diese Beobachtungen am Text – die positiven Befunde wie die Unstimmigkeiten – erklären zu müssen. Ein Argumentationsnotstand wäre die Folge, ganz abgesehen vom Bilde Leonardos als eines Empirikers, das – ob des Schematismus seiner Wahrnehmung – Schaden litte. Die Realität seines Erlebens – ausgerechnet auf einer Beobachtermission – erwiese sich als so schematisch wie der Schematismus der Traditionen, aus denen er bewusst geschöpft hat oder in die man ihn begründeterweise stellen darf, ganz egal, wie man den Status seiner Texte definiert. Dies betrifft nicht zuletzt die doch eher grobe Auflösung der Geographie. Die Distanz zwischen Armenien und der Region nördlich des Kaspischen Meeres beispielsweise scheint im Rahmen von Leonardos Schreiben eine leicht zu überbrückende Distanz zu sein. Eine Fahrt, zwecks gewisser Erkundigungen bei den Anrainern ist ihm offenkundig – jedenfalls gedanklich – kein Problem. 596 Es summieren sich also bei genauer Betrachtung des Materials die Schwierigkeiten, Leonardo wirklich auf einer realen Beobachtermission zu sehen. Die Interpretation des Materials als ‹bloß› imaginierte Beobachtermission in einem aufgrund von Quellen imaginierten geographischen Szenario und Ereignisraum steht demgegenüber – summa summarum – vor weit weniger Problemen. Auch sind die literarischen Verfahren, derer sich Leonardo bedient – die Inszenierung einer bestimmten ost-westlichen Kommunikationssituation sei nochmals als ein Beispiel genannt – der Tradition der Reiseprosa gar nicht fremd. Auch um ein Vorhandensein dieser Stilmittel zu begründen, bedarf es also keiner weit ausholenden Erklärungen. Schließlich sei auch nochmals auf Leonardos immerhin spärlich dokumentierte Hinwendung zu den Osmanen verwiesen, in der die für einen kundigen Orientreisenden doch eher merkwürdige Unkenntnis des östlichen Windmühlentypus aufscheint, die als ein weiteres Indiz gewertet werden könnte, dass Leonardo eine Orientfahrt ‹nur› imaginiert hat. 3) Das Problem der allgemeinen Stimmigkeit Man muss nicht das alte Renegaten-Motiv bemühen – Leonardos zeitweilige Konversion zum Islam –, um auf das Problem der Vereinbarkeit einer längeren kulturell prägenden Orientfahrt mit der ansonsten gut dokumentierten kulturellen Physiognomie Leonardos zu stoßen. Außerdem: Leonardo steht auch in der Weise, wie er Islamica – das ‹Weinverbot› – explizit anspricht, ganz in den Traditionen der florentinischen Kultur.597 596 Siehe Anhang B. 597 Siehe diesbezüglich die eingehende Erörterung ‹Dante, Mandeville und der Islam› im Rahmen des Anhangs. Darin die Behandlung der ‹Weinfabel› und des ‹muslimischen Weinverbots› (als eines darin angesprochenen Motivs).
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Jacob Burckhardt hatte gleichsam gestisch – ‹mit dem Finger› – auf das Cenacolo verwiesen, um die Frage anzudeuten, wie ein zeitweilig zum Islam konvertierter Künstler einem zentralen Motiv des Christentums einen mustergültigen Ausdruck hätte geben können. Explizit formuliert hatte Burckhardt die Frage nicht, aber mit Recht hat man in seinem ‹Cenacolo-Argument› ein starkes Argument gegen die These des Renegatentums erkannt. Die auch heute noch oder wieder lebendige Vorstellung eines ‹gottlosen Leonardo› hat sicherlich manchen Zweifel zerstreut, was die Möglichkeit einer außergewöhnlichen kulturellen Anpassungsleistung, einer Wandlungsfähigkeit und einem Aushalten von inneren Spannungen angeht, aber zahllose Selbstäußerungen und Handlungen Leonardos stehen so eindeutig in der Kultur des Christentums (ohne dass man eine Rechtgläubigkeit im kirchlichen Sinne behaupten müsste), dass, wer immer eine Orientreise als eine die kulturelle Physiognomie Leonardos formende Erfahrung postulieren will, gegen dieses Gesamtbild gleichsam anschreibt.598 Und außerdem: Welche positiven Belege für eine zeitweilige Verortung in einem anderen Kulturkreis wollte man ins Felde führen? Es gibt durchaus Spuren kultureller Selbstverortung in Leonardos Hinterlassenschaften, doch von einer kulturellen Verwurzelung außerhalb des europäischen Kulturkreises kann keine Rede sein.599 Ein Interesse an orientalischen Verhältnissen scheint dann und wann durch, doch – dies ein weiterer Befund, der in Anhang A eingehender erläutert wird – Leonardos Interesse an den kulturellen Verhältnissen im Orient steht hinter einem viel deutlicher auszumachenden Interesse an den geographischen und geologischen Gegebenheiten merklich zurück. 4) Die Nicht-Notwendigkeit der These einer Orientfahrt Es ist schließlich möglich – wie im vorangehenden Kapitel gezeigt – das von der Aura des Geheimnisses umwehte ‹Diodario-Material› zu deuten, ohne die bis hierhin erwähnten Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen, die sich aus der weit hergeholten These einer realen Orientfahrt ergäben. Das Material wurde dabei als ein Reflex des Zeitgenossen Leonardos auf die astrologisch begründete Sintflutprognostik seiner Zeit begriffen, in deren Szenario sich Leonardo hineindachte, um es seinerseits – astrologiekritisch – zu unterlaufen. Demgegenüber kann von einer weit geringeren Plausibilität des ‹abenteuerlicheren› Ansatzes die Rede sein. Es bietet sich also die Wahl zwischen Erklärungsnot in zahllosen Belangen und einer Deutung, die über keine der im Laufe eines guten Jahrhunderts aufgeworfenen Fragen hinweggeht und auch die ‹negative Beweisführung› konsequent vermeidet. Das ‹Schweigen der Quellen›, d.h. den Mangel an Substanz, erneut zum Ansatzpunkt einer Erklärung zu machen, verbietet sich von selbst. Und keiner der zahlreichen in Anhang A eingehend erläuterten Orient-Bezüge in der Hinterlassenschaft 598 Siehe Anhang A. 599 Siehe ebenfalls Anhang A.
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Leonardos nötigte zur erneuten Suche nach ‹abenteuerlicheren› Erklärungen. Selbst die Leonardo da Vinci oftmals unterstellte Vorliebe für alles Orientalische – auch dies sei hier als ein Fazit vorweggenommen – ist mehr als diskutabel. Schlussbemerkung Man wird jeden neuen seriösen Vorschlag, jeden neuen Hinweis ernsthaft prüfen wollen und ohnehin wird man den letzten Vorbehalt in Sachen Leonardo niemals fallen lassen, aber alles in allem sieht es nicht danach aus, dass auf Basis der heute vorliegenden Beweismaterialien und Erkenntnisse die ‹orientalische Frage› als eine biographische Frage nochmals aufgeworfen werden kann und aufgeworfen werden wird. In größter Knappheit und mit einem Wagemut, der auf dem beschrittenen Wege allmählich gewachsen ist: Leonardo da Vinci ist – physisch – nicht im Orient gewesen. Dies die knappestmögliche Antwort auf die im 19. Jahrhundert erstmals explizit aufgeworfenen Ausgangsfrage, die mit einem knappen ‹Nein› zu beantworten dieses Buch jedoch nicht geschrieben worden ist. Die ‹orientalische Frage› als eine biographische Frage, dies sei nochmals in Erinnerung gerufen, ist bloß ein Teilaspekt der hier in den Blick genommenen Gesamtproblematik. Und um einer Erhellung dieser Gesamtproblematik ist hier im Hinblick auf ein Teilproblem auch Stellung bezogen. Nicht die Antwort ist hier im Grunde von Gewicht, sondern der Weg ist von Bedeutung, an dessen Ende diese Antwort steht und der die Erklärungen erst einsichtig und nachvollziehbar macht, die zu dieser (letztlich knappen) Antwort führen.
III. Die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung – ein Gesamtfazit …und von neuem strömt die Phantasie weiter in die dichterischen Beschreibungen des diluvio und jener seltsamen Naturkatastrophe in Armenien, die der Lionardo-Forschung so viel Kopfzerbrechen verursacht hat. Joseph Gantner, 19521
Nachdem wir gesehen haben, dass es keinen Grund gibt, die ‹orientalische Frage› der Leonardo-Forschung als eine biographische Frage nochmals aufzurollen – weil es gute Gründe gibt, es damit (in dem erwähnten eingeschränkten Sinne) ein Bewenden haben zu lassen und die These einer Orientreise nicht wiederzubeleben – nachdem wir also zum Schluss des Haupttextes nochmals zum Ursprung eines Problems zurückgegangen sind, ist hier, vorläufig abschließend, eine Bilanz versucht. Der Sinn einer Aufarbeitung des Gesamtkomplexes ‹orientalischen Frage› ist es nicht gewesen, die der Thematik innewohnende Faszinationskraft zu bannen, sie zu neutralisieren oder gar aus der Welt zu schaffen. Ohne Zweifel wird diese Faszination weiter gegeben sein, sie wird von Dauer sein. Aber die Thematik stellt sich nun – am Ende dieser Untersuchung – als eine in ihren Hauptbestandteilen erfasste, d.h. infolge einer Analyse transparenter gewordene Struktur dar. In einer ganz bestimmten gedanklichen Bewegung haben wir versucht, diese thematische Struktur zu erfassen. Und in einer gerafften Form sei diese gedankliche Bewegung als erstes nochmals vor Augen geführt, von ihrem ersten Ursprung her: Wir sind mit diesem Buch zum Anfangspunkt einer Debatte zurückgegangen, zum markanten, indes – wie einleitend gezeigt – nicht eigentlich ersten Ursprung einer Deutungsproblematik. Im Durchgang durch die Geschichte dieser Problematik und der damit verbundenen und verwandten Motivik haben wir zahlreiche Ansätze zur Klärung des ursprünglichen Problems vorgefunden und auch aufgenommen, und wir sind zu weiteren Klärungen gelangt. Am Ende dieses Buches steht nicht mehr die Frage, ob Leonardo da Vinci jemals im Orient gewesen ist, im Mittelpunkt. Diese Frage lassen wir zurück. Es interessieren nun vielmehr die weniger spektakulären, auf andere Weise faszinierenden Fragen, vor allem die Frage nach den kulturellen Bezügen Leonardo da Vincis zum Orient. Kurzum: Eine Interessenverlagerung zeichnet sich hier ab: von der ‹orientalischen Frage› als einem biographischen Problem hin zur Frage nach Leonardo da Vinci im Kontext, d.h. nach den Orient-Bezügen in seinem Werk und seiner Hinterlassenschaft und nach seinem Verhältnis zu den vielfältigen Kulturräumen des Orients. 1 Joseph Gantner, Lionardo da Vinci. Gedenkrede, Basel 1952, S. 24.
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Damit gewinnt diese Bilanz auch den Charakter einer Überleitung. Bevor sich aber im Anhang die Perspektive des Fragens dergestalt öffnet, sei der begangene Weg – in seinen einzelnen Etappen – hier resümiert. Ein problemgeschichtlicher Längsschnitt Fünf Grundgedanken, fünf gedankliche Leitplanken waren einleitend dargelegt und entwickelt worden. Und es wäre denkbar, die Geschichte eines Sonderproblems der Leonardo-Forschung unter jedem dieser fünf Gesichtspunkte zu erzählen, auf fünf verschiedene Weisen zu erzählen: unter dem Aspekt der Erwartungshaltung (1), die von Leonardo seit jeher prinzipiell das Außergewöhnliche erwartete; dem Aspekt der Irritation (2), dem Erklärungsgehalt zum Trotz, da die These den Rahmen des Tragbaren doch zu sprengen schien (ein spiegelbildliches Gegenstück bildete Begeisterung statt Irritation); dem Aspekt des neuen, scheinbar noch unerschlossenen Erklärungspotentials (3), das die These vermeintlich enthielt; dem Aspekt der Inspiration und ungemeinen Beflügelung der kollektiven Phantasie (4), die sich zu Sinnbildern der kulturellen Begegnung und Konfrontation angeregt sah; schließlich unter dem Aspekt der Kluft (5), die sich zwischen sinnbildlicher und historisch gedeckter Geschichtserzählung unversehens auftut. Gedankliche Leitplanken zwingen nicht zu einer starren Struktur des Erzählens, und insofern gibt es auch keine zwingende starre Reihenfolge dieser fünf Aspekte. Mit jedem einzelnen könnte begonnen oder die hier gewählte Reihenfolge eingehalten werden. Aber es gibt, abgesehen von diesen fünf Aspekten, auch ein untergründiges Zentrum der Gesamtthematik, von dem sich die Dynamik herleitet, die mit besagten fünf Gedanken gefasst werden kann. Es ist möglich medias in res von einem untergründigen Zentrum her die Struktur der Rezeption durchsichtig zu machen – dies ein Motiv, um dessentwillen – unter anderem – dieses Buch geschrieben worden ist. Wie immer man die Frage beantwortete, ob Leonardo da Vinci im Orient gewesen war, es ging hier ums Ganze: um den ganzen Leonardo, der entweder in einem ganz neuen, unbekannten Licht erschien, oder (wie gehabt) als eine der bekanntesten, als allbekannte Identifikationsfigur der westlichen Welt. Es ging um seine kulturelle Identität und Prägung, von der her einzelne Teilaspekte oder auch das ganze Werk zu sehen waren. Entweder man entfremdete sich ihm als einem kulturellen Grenzgänger (und dies warf Licht auf die eigenen kulturellen Disposition) oder man ging sozusagen gleich mit ihm als einer multikulturellen Identifikationsfigur avant la lettre, was im ausgehenden 19. Jahrhundert anders als im ausgehenden 20. Jahrhundert eher eine kosmopolitische Minderheit überhaupt in Betracht zog. Dieser Minderheit gehörte ein Jean Paul Richter an. Die Frage nach Leonardos kultureller Identität und Prägung ließ jedenfalls niemanden gleichgültig, der sich mit ihm beschäftigte, auch wenn sich nicht jede emotionale Regung unvermittelt aussprach. Die Impulse der Identifizierung liegen hier offen zutage.
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Vorbereitet war man einerseits, und doch andererseits auch wieder nicht. Denn die Erwartung war es traditionell gewesen, Leonardo als dem Inbegriff des Exeptionellen alles zuzutrauen – alles außer eben diesem. Und nun ergab sich dieser innere Haken der Überlieferung. Alles war ihm, ‹unserem› Leonardo, zuzutrauen. Aber dieser Leonardo war nicht mehr der ‹unsrige›, der eine innere Identifikation mit der vermeintlich eigenen Kultur so leichthin aufzukündigen schien. Aus Leonardo, dem Schöpfer des Cenacolo, einen Renegaten auf Zeit zu machen, irritierte nicht nur Jacob Burckhardt. Aber es war nicht bloß der Irrtum eines Einzelnen, den man leicht berichtigte. Die Irritation, aus der eine Entfremdung sprach (denn Leonardo schien sich seiner Herkunftskultur entfremdet zu haben), war eben der Preis, den gewahren musste, wer gewohnt war, Leonardo alles zuzutrauen (und seit Vasari war dies ein Grundton der Überlieferung). Was man aus der These an Erklärungen zu schöpfen wusste, war das eine. Die denkerische, schöpferische Phantasie suchte ganz andere Wege. Die Namen der Dichter und Denker, die Namen Rilkes und Nietzsches standen für zwei verwandte, aber doch gegensätzliche Formen, die Faszination der ‹orientalischen Frage› in historische Denkbilder zu übertragen – Bilder, die einen Leonardo zeigen, wie er sich der Herausforderung der kulturellen Grenzüberschreitung, den Lockungen und Gefahren des Ostens stellt. Die beiden Denkbilder, in ihrer jeweiligen Eigenart, stehen aber auch für die Chancen und Gefahren, überhaupt Sinnbilder von Leonardo zu entwerfen. Als Symbolfigur zeigt er sich denkbar widerständig. Hat man ihn einmal für einen bestimmten Zweck in Dienst genommen, dementiert eine andere, vorher nicht gesehene Facette seiner Gesamtpersönlichkeit diese Indienstnahme. Seine Vielschichtigkeit bringt es mit sich, dass er sich der vereinseitigenden Indienstnahme fast automatisch entzieht. Hat man ihn nun in Dienst genommen – als eine Symbolfigur, die West und Ost in sich beschließt –, so kommt er einem als Individuum entgegen, der sich im Alter abscheulicher Berichte über die ‹Neue Welt› erinnerte und mit ‹Indien› wilde Praktiken assoziierte, vor denen es ihm hörbar grauste.2 Es inspirierte die ‹orientalische Frage› dazu, Leonardo in einem Szenario der interkulturellen Begegnung und Konfrontation zu denken. Auch und insbesondere in der Wissenschaft kam ein Denken in Szenarien zum Tragen, weil sich Faszination und Irritation in Szenarien eine Bahn schlug. In anderen Worten, man versuchte, so gut es eben ging – wenn es denn nicht anders ging – Leonardo im Orient zu denken. Und umgekehrt verrannte man sich mit Begeisterung in einen Irrtum, trieb es immer weiter, bis man sich – in der Renegaten-These – regelrecht verstiegen hatte. Ein Spannungsfeld ergab sich von diesen Polen her und beide Denkrichtungen, beide Meinungslager erarbeiteten – in einer sozusagen unabgesprochenen heimlichen Zusammenarbeit – den Fundus von Argumenten und Materialien, aus denen auch in den zwei Beiträgen zur weiteren Klärung der ‹orientalischen Frage› geschöpft ist.
2 Dies eines der Themen, die im Rahmen von Anhang A ausführlicher beleuchtet werden.
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Zwei Beiträge zur weiteren Klärung der ‹orientalischen Frage› Es war nicht unklug gewesen, im Hinblick auf das ‹Diodario-Material› auf eine Position der Unschlüssigkeit zu setzen, auch wenn es sich um ein Material handelt, in dem Leonardo da Vinci in allen Facetten seiner kulturgeschichtlichen Größe in faszinierendster Weise in nuce präsent ist. Die Deutung, die im Rahmen dieser Studie diesem Material gegeben ist, fußt aber auf Forschungen der 1980er Jahre, ohne die eine Neu-Einschätzung des Materials nicht hätte gegeben werden können. Daraus ergibt sich zunächst einmal ein irritierender Befund: Aus einer Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte geht hervor, dass trotz intensivster Fahndung nach der Lösung eines Problems, dessen Schlüssel erst ein halbes Jahrhundert später auftauchte, an einem ganz anderen Ort als vermutet, nämlich in der astrologiegeschichtlichen Erforschung der Renaissance. Nichtsdestotrotz hatte man Lösungen parat gehabt und gar entschieden vorgebracht – verfrüht, wie sich im Rückblick zeigt. Man – bzw. ein Meinungslager – hatte sich verrannt. Leonardo da Vinci ist – dies war auch schon früher bekannt gewesen – auch eine Figur der Astrologiegeschichte – nämlich als ein Kritiker der prognostischen Astrologie. Die prononciert astrologiehistorische Deutung des ‹Diodario-Materials›, die hier gegeben ist, zeigt ihn, wie er die Ansprüche und Hoffnungen der prognostischen Astrologie und der Zeichendeutung überhaupt unterläuft. Und wie er es tut, ist wahrlich überraschend und auch spektakulär. Denn Leonardo denkt sich als eine Instanz des Erlebens in ein Katastrophenszenario der zeitgenössischen Prognostik hinein. Es grassiert diese Prognostik, ein eigentlicher Prophetismus der Höfe und Plätze, ganz in seiner Nähe. Aber Leonardo hat andere Erklärungen für das Phänomen der Überschwemmung ganzer Länder parat. Wenn ein irdischer Einfluss der Planeten aus seiner Sicht überhaupt eine Rolle spielt, durchkreuzt sich dieser Einfluss mit irdischen Wirkkräften. Überschwemmungen erklären sich für ihn aus Schneeschmelze, Windverhältnissen und dem Rückfluss der Meere. Wir sehen Leonardo, wie er im Codex Leicester ältere Notizen zu diversen Themenfeldern der Kosmologie zusammenfasst. Hier legt er dar, was im ‹Diodario-Material›, wie es uns vorliegt, bloß angedeutet ist (in einem ‹Inhaltsverzeichnis›, das für sich steht, ohne dass die darin angezeigten Kapitel erhalten sind). Dass Leonardo aber gegen den zeitgenössischen Prophetismus anschreibt, zeigt sich auch in den ausgeführten Teilen. Er dekonstruiert ein vermeintliches Unheilszeichen, die Erscheinung eines Kometen, als ein Trugbild, das sich auf ganz natürliche Ursachen zurückführen lässt, auf die Strahlen der Sonne zwar, nicht aber auf Einwirkungen einer bestimmten Planetenkonstellation. Wäre eine eigentliche Schrift aus dem ‹Diodario-Material› entstanden – in einem astrologiegläubigen Umfeld (und ein solches war mancher Hof der Renaissance) wäre dies ein ‹vergiftetes Geschenk› gewesen, denn die Denkperspektive eines Naturforschers hatte sich darin eingeschrieben, die geeignet war, den Astrologismus subversiv zu unterlaufen. Die Deutung, hier in geraffter Form nochmals gegeben, steht in Einklang mit allen Quellenbefunden und lässt keine Frage außer Acht, die sich bislang gestellt hat. Sie
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widerspricht auch nicht dezidiert der früheren Einschätzung des Materials als ‹Literatur›. Nur die Perspektive hat sich geweitet – auf einen kulturellen Kontext hin, in dem Leonardo als Maler, Zeichner, Forscher steht. Aber er steht darin nun neu auch als ein Zeitgenosse, dessen Interesse an der Astrologiedebatte sich in seinem Buchbesitz auch dokumentiert. Ein gedanklicher Ausflug in die Taurus-Region, auch in biblischer Perspektive eine Region der Flutberichte, eignete sich nicht bloß als Vehikel einer gelassenen Zeitkritik auf wissenschaftlichen Fundamenten, darüber hinaus und zugleich eignete sich dieser literarisch-zeichnerische Ansatz, auch die visuelle Repräsentation von Landschaft, Überflutung, Sintflut zu thematisieren. Es eignete sich die Form für das eine wie das andere, und nicht eine Parteinahme für eine bestimmte Rubrizierung des Materials ist hier angebracht. Fast alle Deutungen stehen in ihrem Recht und es ist eine ganz andere formale Darbietung des Materials zu erwägen: An ein und demselben Material, gattungsmäßig nicht einzuordnen, wären nebeneinander alle darin angelegten Aspekte zu entfalten, die im Rahmen der hier vorgelegten Deutung angesprochen worden sind. Am Ende eines biographiegeschichtlichen Klärungsprozesses steht also weniger eine neue Deutung, die alle anderen Deutungen ausschließt. Es steht hier eine Interpretation zur Debatte, die alle anderen Ansätze in sich aufgenommen hat und Leonardo nicht als weniger interessant darbietet als zuvor, oder eine besonders abgelegene Denkrichtung erschließt. Leonardo erscheint hier vielmehr – plastischer und realistischer – als ein Individuum in seiner Zeit und als ein Zeitgenosse, der in einer wahrlich vieldeutigen Geste, die ihn als das allbekannte vielseitige Genie ausweist, auf seine Zeit reagiert. Aber überraschend ist es nicht, von Leonardo überrascht zu werden: hier mit einer originellen Geste, deren Sinn sich erst erschließt, wenn man sich nicht auf Leonardo selbst fixiert, sondern auch das kulturelle Umfeld in den Blick nimmt, von dem her die Geste ihren Sinn erhält. Auch im zweiten Beitrag zur Spezialforschung ging es um eine Reaktion auf eine Herausforderung der Zeit. Wie es ‹eigentlich› gewesen ist, lässt sich auch in diesem Fall weniger ‹von Tag zu Tag› als in der allgemeinen Tendenz eruieren. Folgendes ist denkbar und um die Möglichkeit einer Perspektivumkehrung zumindest einmal anzudeuten,3 sei es für einmal gleichsam aus osmanischer Perspektive formuliert: In den Jahren nach 1500 ließ Sultan Bayezid II. eine Moschee erbauen, die seinen Namen tragen sollte und 1505 auch vollendet wurde. Seine ‹Baugesinnung› ließ ihn zugleich an ein Problem der Infrastruktur auch denken, das sich – bei Notfällen zum Beispiel – negativ bemerkbar machte. Dank vielschichtiger Beziehungsgeflechte zwischen der Türkei und Italien war es ein leichtes, eine Idee zu lancieren. Mit der Republik Florenz stand man – in just diesen Jahren – gar in einem diplomatischen Austausch. So oder auf anderen Wegen kam die Problemstellung ‹Überbrückung des Goldenen Horns› daher auch vielseitigen italienischen Künstlern zu Ohren, die je unterschiedlich darauf reagierten. Leonardo dachte, 3 Obschon mir die türkische Literatur in der Originalsprache nicht zugänglich ist (und mir der Aufsatz auch nicht vorlag), sei doch erwähnt: Semavi Eyice, II.Beyazid devrinde davet edilen batılılar, in: Belgelerle Türk Tarihi Dergisi 19 (April 1969), S. 23–30.
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im Stillen sozusagen, in Porto Cesenatico darüber nach und skizzierte ein Konzept. Dass er offenbar gar einen weiteren Schritt in Hinblick auf eine eigentliche Realisierung der Bauaufgabe unternommen hatte, wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt. Michelangelo – seinerseits – scheint sich nachträglich als ein vom Sultan gar persönlich angefragter Problemlöser stilisiert zu haben. Seine Karriere als ein Architekt kam allerdings erst viel später wirklich in Gang (und ein eigentliches ausgearbeitetes Konzept für einen Brückenbau ist uns auch nicht überliefert). Keiner der angefragten, in Frage kommenden oder sich selbst ins Spiel bringenden Experten war also nach Istanbul gekommen. Beim großen Erdbeben von 1509, beim ‹kleinen Weltuntergang› wurde die Moschee des Sultans schwer beschädigt. Von weiteren Plänen in Hinblick auf eine Überbrückung des Goldenen Horns ist bis ins 19. Jahrhundert nichts bekannt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert dann, parallel zur allmählichen Auflösung des Osmanischen Reichs, beginnt die Nachgeschichte eines von italienischen Künstlern der Renaissance nie realisierten Projekts, eine Nachgeschichte, die umso schillernder ist und in Istanbul eine schillernde lokalgeschichtliche Ausprägung hat, als sie um eine eigentliche Leerstelle kreist, eine Absenz. Und doch ist das Projekt zu gut dokumentiert, als dass – aus westlicher Sicht – eine Zumutung, eine Irritation verschwände: Als ein Fünfzigjähriger, der kurz davor stand (oder schon dabei war), die Mona Lisa zu malen, scheint Leonardo da Vinci sich tatsächlich mit dem Gedanken getragen zu haben, außerhalb des gewohnten Wirkkreises tätig zu werden und in die Türkei zu gehen. Vor dem Hintergrund, dass man sich mit der ‹orientalischen Frage› der LeonardoForschung schon schwer genug tat, stellte dieser Befund nochmals eben jene Gewissheiten in Frage, die man eben – mühevoll – erlangt hatte (und die, dies ist zu unterstreichen, auch noch heute Bestand haben): Leonardo da Vinci war nicht im Orient gewesen; doch er stand offenbar einen Schritt davor, tatsächlich das zu tun, was man dem jugendlichen Leonardo zwar zugetraut – aber aufgrund eines Irrtums und sich in falschen Mutmaßungen ergehend – zugetraut hatte. Es war, musste man nun einsehen, ein Körnchen Wahrheit darin gewesen: Die ‹orientalische Frage› stellte sich erneut als eine biographische Frage, aber sie stellte sich anders. Leonardo hatte es sich nicht nur zugetraut, er war sozusagen (vielleicht bloß für Momente) ‹drauf und dran› gewesen, nicht bloß gedanklich in den Orient zu reisen (in einem literarischen, auch von Forschergeist und Zeitkritik getragenen Ausflug in die Taurus-Region), sondern auch als Ingenieur und Architekt, der die Herausforderung in Form einer handfesten und zugleich stadtplanerisch delikaten Bauaufgabe offenbar suchte. Andererseits müssen wir aber auch konzedieren, dass es keinen letzten Beweis für die Ernsthaftigkeit des Unterfangens gibt, für das Leonardo Schritte eingeleitet hat. Einen Tatbeweis trat er nicht an. Und es hat nie eine von Leonardo da Vinci über das Goldene Horn geschlagene Brücke gegeben.
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Ausblick Leonardo da Vinci gilt gemeinhin als der Inbegriff des vielseitigen, vielseitig höchst begabten Menschen. Sein Name ist zugleich der Name eines Typus’. Und individuelle Ausprägungen dieses Typus’ hat man in vielen Kulturen vorgefunden.4 Der historische Leonardo, wiewohl von einem englischen, russischen, chinesischen oder osmanischen ‹Leonardo› gelegentlich die Rede ist,5 hat sich aber nicht vervielfältigt. Je weniger man ihn – um des Vergleichs willen – bloß von einer bestimmten Seite betrachtet, auf bestimmte, typische Eigenschaften reduziert und diese (etwa die bloße Vielseitigkeit) zur Basis eines interkulturellen Vergleichs macht, desto individueller, unvergleichlicher erscheint er einem – denn die Vergleiche tragen nicht. Es scheint Leonardo in seiner Kombination des Künstlerischen, Wissenschaftlichen und Technischen, die im Zeichnerischen eine Art Zentrum hat, in anderen Kulturen so – als einen Typus – nicht zu geben. Denn wen wollte man – diese Beschreibung, ebenfalls eine Typisierung, einmal zugrunde gelegt – zum umfassenderen Vergleich heranziehen? Leonardo da Vinci ist im Laufe des 20. Jahrhunderts als eine Art personifiziertes ‹Weltkulturerbe› neu erfunden worden und vielleicht ist dies eine Form der Rezeption, die für das 20. Jahrhundert typisch gewesen ist.6 4 Es hat einen Versuch gegeben, die Kennzeichen der Burckhardtschen Renaissance als im klassischen Islam schon vorbereitet und analog vorhanden aufzuweisen (George Makdisi, The Rise of Humanism in Classical Islam an the Christian West. With special Reference to Scholasticism, Cambridge etc. 1990). Ein identitätspolitischer Subtext, der auf den Nachweis von Gleichrangigkeit, Ebenbürtigkeit oder gar den Primat abzielt, ist nicht zu überhören. Hier ist nicht explizit von Leonardo die Rede, aber der ‹vielseitige Mensch›, arabisch: ‹mutafannin›, existiert demnach als ein Typus auch in der klassisch islamischen Kultur (siehe ebd., S. 304). 5 Siehe Allan Chapman, England’s Leonardo. Robert Hooke and the seventeenth-century Scientific Revolution, Bristol 2005; vgl. insbesondere auch S. 51 (‹in his sheer diversity›); Felix Philipp Ingold, Gott und Zahl. Philosophische Fragmente von Pavel Florenski, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 170 (25. Juli 2006), S. 37 (Pavel Florenski als ein ‹russischer Leonardo›); Ernest F. Fenollosa, Epochs of Chinese and Japanese Art, Bd. 2, New York 1969 [urspr. 1913], S. 23f.: ‹Ririomin› bzw. Li Gonglin (siehe DoA) als ein Leonardo anscheinend vergleichbares Multigenie der chinesischen Kulturgeschichte. – Caroline Finkel hat einen ‹osmanischen Leonardo› ausfindig gemacht (siehe Caroline Finkel, ‹The Treacherous Cleverness of Hindsight›: Myths of Ottoman Decay, in: Gerald MacLean (Hg.), Re-Orienting the Renaissance. Cultural Exchanges with the East, Basingstoke/New York 2005, S. 163f.): Sokullu Mehmed Pascha war ein sehr bedeutender Wesir des 16. Jahrhunderts, ein aus Bosnien stammender Aufsteiger, Militärführer, Diplomat, Bauherr (auch von Brücken) und Patron; auch ein Planer von großen, nicht immer realisierten Infrastrukturprojekten (Kanalbauten), nicht aber ein Maler (siehe EI für eine ausführliche Würdigung). – Ferner regt die Avicenna-Literatur dazu an, Leonardo mit den Polyhistoren der islamischen Kulturen in Bezug zu setzen: mit Avicenna selbst oder auch mit dem Ägypter As-Suyuti (1445–1505), also Leonardos Zeitgenossen (siehe ebenfalls EI). 6 Man vergleiche BL, passim. Man kann diesen Prozess im Hinblick auf die Institutionen und die ‹Globalisierung› der Leonardo-Forschung verfolgen, im Hinblick auf fremdsprachige Texte und Übersetzungen, aber auch im Hinblick auf die Versuche, Leonardo einem nicht-westlichen Publikum zu präsentieren. So zielte etwa die Zeitschrift East and West, ein in Rom erscheinendes Publikationsorgan der
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In Bezug auf jede Präsentation dieser historischen Gestalt ist aber zu fragen: Um welchen Leonardo, um wessen Leonardo geht es überhaupt? Ist die Vorstellung von einem ‹Weltkulturerbe› überhaupt in dem Sinne gedeckt, dass alle Kulturräume Leonardo da Vinci als ein solches Erbe auffassen würden? Auch solche, die sich nicht am Vorbild der westlichen Kultur (oder dem Vorbild der westlichen Kunstgeschichtsschreibung) orientieren?7 Und welche Züge hat dieses ‹Weltkulturerbe› bzw. welche bleiben ausgespart, nicht unbedingt, weil sie in dieses Bild nicht passten, aber weil man versäumt hatte, nach ihnen zu fragen?8 Im folgenden Anhang ist beispielsweise zum ersten Mal die Frage aufgeworfen, welche islamkundlichen Informationen Leonardo da Vinci, den man sich unter anderem als Renegaten vorgestellt hat, theoretisch und nachweislich – in seinen Büchern – zugänglich waren, denn ein vollständiges Bild vom Verhältnis Leonardos zum Islam ist damit noch keineswegs gegeben. Es ist erstmals nach den Reaktionsmustern Leonardos auf das ihn irritierende Fremde gefragt, nach seinem Verhältnis zu arabischen Autoren und nach vielem anderen. Vier einleitende Erörterungen führen hin zu einer Synopse, einer Zusammenschau aller Orientbezüge, die sich im Werk und in den Aufzeichnungen Leonardos auffinden lassen. Es ist der Leonardo-Forschung damit ein neues Hilfsmittel gegeben, das nicht nur für sich steht, sondern zu weiterem Fragen durchaus anregen soll. In ihrem Aufbau hat diese Zusammenschau zur Differenzierung bereits gezwungen. Dieses Mehr an Differenziertheit erlaubt es seinerseits, zwischen verschiedenen Fragen zu unterscheiden: erstens solchen, die mit dieser Zusammenschau bereits beantwortet sind, zweitens Fragen, die besser gestellt worden sind und drittens solchen, die überhaupt erst, d.h. zum ersten Mal gestellt worden sind. Denn einer schwer zu überblickenden Literatur zum Trotz: Nach den biblischen Figuren und Motiven, die – abgesehen von den allbekannten Werken – in Leonardos Aufzeichnungen auch auftauchen, scheint ebenfalls noch nie gefragt worden zu sein, geschweige denn, in welchen Bezügen sie stehen. In zehn Sektionen einer Zusammenschau hat sich eine je eigene Forschungsdynamik entwickelt. Jede einzelne hat bereits – in Rahmen der Verfertigung – zu neuem Forschen italienischen Orientalistik, mit Beiträgen zu Leonardos 500. Geburtstag explizit auf eine orientalische Leserschaft (siehe Titelblatt von Ausgabe Nr. 3, 1952). 7 Es ist nur allzu leicht (freilich nicht ohne Widerhaken), Leonardo da Vinci als eine Symbolfigur eines Modernisierungsprozesses im Max Weber’schen Sinne in Anspruch zu nehmen; und dergleichen ist mit dem Schlagwort von der ‹Leonardo-Welt› (Jürgen Mittelstrass) zur Bezeichnung einer auf Basis der modernen Wissenschaft durch den Menschen technisch durchgestalteten Welt ja auch versucht worden (kritisch diesbezüglich und nicht ohne Spott: Ernst Peter Fischer, Lionardo, Heisenberg & Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Porträts, München/Zürich 2000, S. 14, Fn 1, S. 19f.). Selbstredend gibt es verschiedene Lesarten dieses ambivalenten Prozesses, der auch unter dem kontroversen Schlagwort ‹rise of the West› gedeutet wird. 8 Zu diesen Fragen hat insbesondere eine Ausgabe des damals in 32 Sprachen erscheinenden UnescoKuriers angeregt, in dessen Rahmen Carlo Pedretti mit Leonardo da Vinci bekannt machte (Carlo Pedretti, Leonardo: Höhepunkte des Malens, in: Unesco-Kurier Nr. 5/6/1986, S. 64–65 [urspr. 1974]). Der Beitrag erschien – nachgedruckt – in einer Sektion ‹Bedeutende Männer›, im Rahmen derer man auch Al-Biruni, Lenin und Tagore kennenlernte.
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angeregt und als abgeschlossen kann diese Synopse nicht bezeichnet werden. Sie ist vielmehr ein Anfang, der im Inneren weiter ausgebaut werden soll und auch äußerlich Erweiterungen, Anbauten finden soll. Die Bewegung, die sich im Rahmen dieser Studie abzeichnet, ist noch nicht erschöpft, bei Weitem nicht. Es ist der Leonardo-Kosmos selbst, das Labyrinth eines Notizen-Werks, aus dem – zusammen mit dem Interesse an Leonardo – eine Dynamik hervorgeht, die dazu treibt, eine Figur der Kulturgeschichte stets in neuen Zusammenhängen sehen zu wollen. Hier und im Folgenden – über dieses Buch hinausgehend – ist versucht, Leonardo in kulturellen Bezügen zu sehen, eingegrenzt auf ein Segment, auf eine Himmelsrichtung, in Bezügen zu den Kulturräumen des Orients.
IV. Anhang Anhang A: Leonardo da Vinci und die orientalische Welt …so dass zwischen beiden Weltteilen ein Gespräch stattfinden kann, sofern es nicht die Winde forttragen. Plinius maior, Naturkunde1
1. Der Orient im geographischen Weltbild von Leonardo da Vinci Ungefähr im Jahre 1515/16 – drei Jahre vor seinem Tode – hat Leonardo da Vinci eine Weltkugel gezeichnet bzw. als ein Motivdetail von wahrscheinlich untergeordneter Bedeutung einer gesamthaft ziemlich elaborierten Zeichnung integriert.
6 Wolf, Adler – und ein Weltglobus – in einer allegorischen Zeichnung (nach Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 151)
1 Plinius maior, Naturkunde, Buch 6, Abschnitt 2 [S. 13 in der Edition] (im Hinblick auf den Thracicus bzw. Bosporus und im Hinblick auf die nach Einschätzung des Autors in Hörweite liegenden Ufer der Kontinente Europa und Asien).
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Auf dieser Weltkugel – auf der Nordhalbkugel, um genau zu sein – krallt sich ein Adler fest. Ein Wolf in einem Kahn – vielleicht Papst Leo X. – hält auf diesen Adler zu und auf den Globus, den jener – vielleicht ist an den französischen König Franz I. zu denken – gewissermaßen in Hockstellung besetzt hält.2 Die kontroverse Deutung dieser Zeichnung interessiert hier weniger als vielmehr die Frage, was der Globus über das geographische Weltbild des schon betagten Leonardo vielleicht aussagt, der im Zeitalter der Entdeckungsfahrten ja alt geworden ist. Es sei jedoch immerhin erwähnt, dass – zur Zeit der Pionierphase der Leonardo-Forschung – in der Zeichnung zum Beispiel eine Allegorie der Fernreise gesehen worden ist.3 Neueren Datums ist – um sozusagen das komplementäre Extrem zu benennen – die Deutung als eine Allegorie der Flussschifffahrt.4 Der Globus allerdings scheint keine größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, obschon darauf (vor allem in Vergrößerung) die Umrisse Italiens und Griechenlands zu erkennen sind, sowie das Schwarze und das Kaspische Meer, Zypern und schattenhaft auch Asien. Alles in allem also die Welt, wie sie Leonardo da Vinci im Alter von ungefähr 64 Jahren gedanklich präsent gewesen ist bzw. wie er sie im Kontext eines bestimmten, hier nicht in Frage stehenden zeichnerischen Konzepts repräsentieren wollte.5 Der asiatische Kontinent hat hier unzweifelhaft eine Südostküste; und etwas Wagemut vorausgesetzt könnte man sogar eine Insel vor dem asiatischen Festland entdecken wollen. Doch der spekulativen Phantasie seien hier die Zügel angelegt: Der Orient ist – bedauerlicherweise – schattenhaft bloß wahrzunehmen; die Konturen Asiens – sie verlieren sich im Dunkeln der Schraffur.6
2 W 12496. Zugrunde gelegt sind hier Datierungsvorschlag und Deutung von Martin Kemp (Martin Kemp, Navis Ecclesiae: An Ambrosian Metaphor in Leonardo’s Allegory of the Nautical Wolf and Imperious Eagle, in: BHR 43 (1981), S. 257–268); siehe – vor allem in Hinblick auf Kompassdarstellungen – auch Kemps Katalogbeiträge in Jay A. Levenson (Hg.), Circa 1492. Art in the Age of Exploration, New Haven/ London 1991, S. 286f. 3 Charles Ravaisson-Mollien, Les écrits de Léonard de Vinci, in: Gazette des Beaux-Arts 49 (1881), S. 339. 4 Otto Letze / Thomas Buchsteiner (Hg.), [Kat.] Leonardo da Vinci. Wissenschaftler, Erfinder, Künstler, Ostfildern-Ruit 2000, S. 19. 5 Diese Einschätzung, es sei nochmals wiederholt, gilt natürlich nur unter Vorbehalt. Die späte Datierung steht aber auch in einer neueren Arbeit zu der Allegorie nicht in Frage (vgl. Josephine Jungic, Savonarolan Prophecy in Leonardo’s Allegory with Wolf and Eagle, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 60 (1997), S. 253–260). 6 Man vergleiche etwa Bramantes Sicht der Welt (siehe Dawson Kiang, The ‹Mappamondo› in Bramante’s Heraclitus and Democritus, in: ALV 5 (1992), S. 128–135).
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1.1 Der Orient-Begriff im Denken und Schreiben Leonardos Der Begriff ‹Orient› begegnet – auf einer Karte Leonardos – überhaupt bloß einmal; aber er begegnet just auf jener Karte, die als Teil jenes Werkkomplexes aufzufassen ist, der im Rahmen unseres Buchs als das ‹Diodario-Material› bezeichnet worden ist.7 Der Fluss Tigris nimmt auf dieser Kartenskizze der Taurus-Region einen bogenförmigen Verlauf und in die Fläche dieses Bogens – ausgerechnet – schreibt sich der Begriff (in Spiegelschrift natürlich) ein: in eine Tigris-Biegung.8 Betrachtet man die Karte in ihrer Gesamtanlage, so wird allerdings deutlich, dass Leonardo nicht eine Region mit dem Eigennamen ‹Orient› belegt, sondern die Lage einer Region im Hinblick auf die Himmelsrichtungen fixiert, darunter eben ‹Osten›.
7 Leonardo vergegenwärtigt sich Armenien bzw. Hochmesopotamien (oder die ‹Taurusregion›) (nach R II, Tafel CXIX)
Drei dieser Richtungen – unter Verzicht bloß auf den Süden – hat er der Karte eingetragen. Der Begriff ‹Okzident› – als Gegenrichtung – fände sich auf dieser Karte, vorausgesetzt man setzte sie nach Westen fort, etwa über dem Raum von Mittelanatolien. ‹Osten› liegt nunmehr zur Rechten des Betrachters. Es ist dies auch ein Zeichen der Zeit, denn ‹Osten› liegt damit nicht mehr (wie noch in ‹mittelalterlichen› Kartentraditionen) ‹oben›, wo wir gewohnheitsmäßig – und eben als Resultat einer historischen Entwicklung – den nördlichen Himmelspol verorten.9 Von der Markierung eines Pols in Richtung der aufgehenden Sonne10 hin zu den Eigennamen ‹Orient›, verstanden als ein geographischer Raum, ist es nur ein kleiner 7 Die Karte ist also jenen fiktiven Briefen beigeordnet, die Leonardo da Vinci an einen fiktiven orientalischen Würdenträger gerichtet hat (vgl. Haupttext, Kap. 1 und 4). 8 CA 393r [ex145r-b; ex145r-a]. 9 Dies ist als Folge der Ptolemäus-Rezeption zu deuten. Siehe Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, S. 68. 10 Vgl. CA 545v [ex204v-a], zitiert nach Leonardo da Vinci: Philosophische Tagebücher, hrsg. von Giuseppe Zamboni, Hamburg 1958, S. 99: «Die Sonne, sobald sie im Osten erscheint, gleitet mit ihren Strahlen
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Schritt. Man könnte sagen: Es ist dazu ein Zwischenschritt erforderlich, und dieser Schritt führt über die Bildung des Beiworts ‹östlich›.11 Im östlichen Raum nimmt die Richtungsbezeichnung ‹Orient› sodann ihre zweite Bedeutung an: als ein Eigenname, den ein Raum – der ‹Westen› – für den ‹Osten› hat.12 Aus Positionierung, die angewiesen ist auf ein Bezugssystem, wird Gegenüberstellung; und ein ambivalentes Möglichkeitsfeld der Definition des Eigenen und Anderen tut sich auf, wie auch ein Feld der Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen: Aus ‹östlichen Weltgegenden› schafften die Seefahrer, wie Leonardo nebenbei erwähnt, Gummi arabicum herbei.13 ‹Östlich› hatte hier eine wirtschaftsgeographische Konnotation und Gummi arabicum war ein Importprodukt. Es diente dieser Rohstoff, gewonnen aus dem Pflanzensaft einer Akazienart, den Künstlern als Bindemittel – nicht zuletzt auch in der frühen Pastelltechnik – oder als ein Bestandteil von Tinte. Als Klebstoff geeignet, diente es seinerzeit zudem als Haarfestiger, und dies war der Anwendungszweck, den Leonardo in seiner Notiz kritisch ins Auge fasste. In den Moden seiner Zeit, als Toilettenprodukt und daher als Produkt der Eitelkeit, fand es Verwendung. Und ‹von Osten her› – ‹ex oriente› – führte man es ein.14 Der Orient als Raum und Vorstellung Als Eigenname kommt der Orient-Begriff im Schreiben Leonardos zwar vor, eine eng umrissene Bedeutung hat der Begriff aber nicht. Er bezeichnet – in einigen wenigen Fällen – einen Raum, in dem es Herrscher – Könige und Königinnen – gibt, die demzufolge zwar alle in diesem Raum herrschen bzw. über Teile dieses Raums, aber nicht notwendigerweise über diesen ganzen Raum als solchen.15
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sofort bis zum Westen, […].» In Ms. G gibt es eine Häufung der Formel ‹stando il sole…›/‹steht die Sonne im Osten…› (R I, S. 287ff., Nr. 444–448). Leonardo schreibt hier jeweils ‹orie(n)te›. Viel seltener verwendet er den Ausdruck ‹leva(n)te› für den Osten (dies etwa in R I, S. 236, Nr. 298). – Der Begriff ‹Levante› – als ein Eigenname – kommt ferner im Brief an Benedetto Dei vor. Die Belegstellen verteilen sich auf diverse Sachgebiete: Schriften zur Malerei (z.B. Ms. L 21r: ‹alberi orientale›; Ms. I 49v: ‹orientalischer Kermes›), ‹Profezie› (TuA, S. 858; ‹östliche Dinge›), Geographie (‹östliche Antipoden›, R II, S. 110, Nr. 864; siehe auch Fn 13); Kriegswesen (TuA, S. 634 bzw. 637; ‹orientalische Völker›). Daraus ergibt sich auch der indirekte Effekt, dass eine deiktische Fremdbezeichnung zur Selbstbezeichnung wird. Siehe Polaschegg, a.a.O. – Vgl. auch Anhang B für den Gebrauch des Begriffs bei Leonardo (hier in deutscher Übersetzung: ‹Osten›). Ludwig Nr. 404. Erwähnt auch in Ms. I 27v (‹goma arabica›). Siehe allgemein Thomas Brachert, Lexikon historischer Maltechniken. Quellen – Handwerk – Technologie – Alchemie, München 2001, S. 111 (bezüglich der Variante ‹Gummi saracenicum› siehe S. 115). – In CM I 191v findet ‹Sagapengummi› Erwähnung, ein weiteres Produkt des Orienthandels, das in Leimgrundierungen Verwendung fand. Es ist insbesondere auch der Maler Leonardo, der die Lichtverhältnisse, die Beleuchtung der Bäume oder Wolken von Osten, der Morgensonne her, im Blick hat. Hier findet sich, mit Ludwig Nr. 8 («sehen wir denn nicht die grössten Könige des Orients verschleiert und bedeckt einhergehen»), eine ganz besonders interessante Belegstelle. Denn Leonardo rekurriert entweder auf ‹wirklich› anwesende Herrscher des Orients oder – was wahrscheinlicher ist – auf thea-
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Leonardo ist – auf Basis der Ptolemäischen Geographie und der Schriften des Plinius, um zwei wichtige Bezugspunkte zu nennen – zur geographischen Differenzierung durchaus in der Lage,16 daher dient ihm der Begriff ‹Orient› auch nicht zur Präzisierung des Ungefähren, sondern vielmehr zu dessen Bezeichnung (sofern das Ungefähre von grundsätzlicher Wichtigkeit ist). So wie auch ‹Indien› in seinem Schreiben eher den ‹äußersten Osten› meint als ein präzise umrissenes und differenziert vergegenwärtigtes Gebiet.17 Der Begriff ‹Orient› als Eigenname begegnet meistens als Teil jener rhetorischen, traditionell von Osten her gedachten Dichotomie von ‹Orient und Okzident› bzw. ‹Levante und Ponente›.18 ‹Orient› in diesem Sinne bedeutet also die eine Hälfte einer Ganzheit, es ist die eine Hemisphäre bzw. Halbkugel, und die Herrscher des Orients, von der allgemeinen Geographie her gesehen, sind eben Potentaten, die über Völker der anderen, östlichen Hemisphäre herrschen.
tralische Darbietungen des Zugs der Heiligen Drei Könige oder ganz allgemein auf Repräsentationen. ‹Sehen› – in diesem letzteren Falle – wäre dann ganz wörtlich (und nicht im Sinne von ‹wissen›) zu verstehen, bezöge sich aber eben auf Repräsentationen und nicht auf das – ‹echte›, ‹wahre›, ‹ursprüngliche› – Vorbild derselben. Aus diesem ‹Sehen› ginge dann jenes ‹Wissen› hervor, das Leonardo hier – sich zu einer Wir-Gemeinschaft zählend – zum Ausdruck bringt. – Nebst dieser Stelle ist zu nennen: Leonardos Exzerpt aus Antonio Puccis Reina d’Oriente (siehe Solmi, S. 253; Gustave Soulier, Les influences orientales dans la peinture toscane, Paris 1924, S. 158–160; Carlo Vecce, Scritti di Leonardo da Vinci, in: Letteratura italiana. Le opere, volume secondo (Dal Cinquecento al Settecento), Torino 1993, S. 95–124). Der Bereich der künstlerischen Praxis – insbesondere die Anbetung betreffend – sei hier wie auch im Folgenden bloß angedeutet. Vgl. aber Synopse, Sektion ‹Das Heilige Land›. 16 CL passim. Man denke auch an die Unterscheidung von ‹Asia maior› und ‹Asia minor› als eine grundlegende, den ‹Nahen Osten› betreffende Unterscheidung. In ‹Vorderasien› bzw. ‹Kleinasien› lokalisiert Leonardo etwa die Heimat des Leuchtvogels ‹Lumerpa› (TuA, S. 841). Zur Geschichte der Geographie in Italien vgl. Reinhard Stauber, Kultur – Raum – Politik. Italiens Bild von sich selbst in der Renaissance, in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005), S. 285–314, sowie Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, München 2002 [engl. Originalausgabe 1975]. 17 Siehe weiter unten (Synopse; Sektionen ‹Indien› und ‹Der Ferne Osten›). 18 Ludwig Nr. 28 (‹Auge führt von Ost nach West›); Rätselprophetien (TuA, S. 860, 863, 864, 867); Polemik gegen die ‹Schwarzkünstler› (K/P 49v bzw. dt.: Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, S. 19: «[…] dieser [ein, dank Magie praktisch allmächtiger Schwarzkünstler] wird [bzw. sinngemäß: ‹würde›] sich vom Orient nach dem Okzident tragen lassen, und in alle entgegengesetzten Richtungen des Weltalls.»); außerdem: CA 545v [ex204v-a] bzw. Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, S. 99: «Der Geist springt in einem Augenblick von Osten nach Westen, […].» – Ergänzend: CAr 171 b (R I, S. 143, Nr. 76). Weitere Belegstellen im CA, die hier nicht erfasst worden sind, können durch Galbiatis Index erschlossen werden (Giovanni Galbiati, Dizionario Leonardesco. Repertorio generale delle voci e cose contenute nel codice Atlantico, Milano 1939). – Leonardo scheint nicht von der rhetorischen Konvention ‹Ex oriente (lux)› abweichen zu wollen. Er denkt den Bewegungsimpuls konventionell immer von Osten her (vgl auch TuA, S. 868; ‹der Ostwind eilt nach Westen›). Er zeichnet andererseits die Schiffsrouten in die Levante (bzw. von der Levante her), die man als visuelle Gegenbeispiele anführen könnte. Außerdem erwähnt er bei Gelegenheit den ‹Vogel, der, bei Nordwind, nach Osten eilt› (TuA, S. 351). – Wendungen wie ‹Orient und Okzident›, ‹Levante und Ponente› nehmen im Übrigen auch die Bedeutung an von: ‹(all) überall›, ‹von A bis Z›, ‹im letzten Winkel›.
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Von der biblischen Geographie her gesehen stellen sich die Dinge – im Wesentlichen – nicht anders dar. Vom ‹Osten› her stammt Heil (und Unheil)19 und Leonardo, insofern er – wie auch seine Zeit – auf die biblische Topographie hin orientiert ist,20 erfasst den ‹Orient› als den Raum, in dem das biblische Geschehen – im Zentrum die Passion – verortet ist.21 ‹Orient› in diesem spezifisch biblischen Sinne meint zweierlei, nämlich einerseits den Ort des Heilsgeschehens, aber andererseits auch die Weltgegenden ‹im Osten von Jerusalem› als die Herkunftsgebiete der Herrscher des ‹Orients›, die sich zur Huldigung des Jesuskindes nach Jerusalem bzw. Bethlehem begeben.22 In der Geographie des Ptolemäus konnte dieses biblische Geschehen – ohne nennenswertere Probleme – verortet werden, denn von einer ‹Neuen Welt› wussten weder die Bibel noch die ‹Alten›. Diese Traditionsstränge ergänzten sich und standen nicht in Widerspruch. Die Szenerie der Ritterepik Schließlich ist der ‹Orient› in Leonardos Augen noch in einem weiteren – literarischen – Sinne ‹Szenerie›. Er ist – wie seine Bibliothek bezeugt – ein Leser der phantastischen Ritterepik eines Luigi Pulci23 und zu einem nicht eben geringen Teil situieren sich die darin geschilderten Ritterabenteuer in einem mehr oder weniger fiktiven Orient. Aber wenn das Ritterepos in seiner Gesamtheit auch eine Art Speichermedium darstellte, das eben ein eklektisches Weltwissen vielfältigster Provenienz enthielt, so verbreiteten sich via die literarische Kommunikation eben auch vielfältigste Bruchstücke von Wissen und Tradition.24 19 Siehe insbesondere TuA, S. 867. 20 Die Kartografie hat dafür den etwas salopp klingenden Ausdruck ‹Ostung› bzw. das Adjektiv ‹ge-ostet› (vgl. Polaschegg, a.a.O., S. 68). 21 Der Karfreitag findet Erwähnung in einer ‹Prophetie› (TuA, S. 860; Scritti letterari, hrsg. von Augusto Marinoni, Milano 1974 [http://www.liberliber.it/], S. 35 [Prophetie] Nr. 101). Im Weiteren werden die ‹Prophetien› zitiert als ‹Marinoni [Nr.]›. 22 Vgl. Z I, S. 178. Die oben zitierte Referenz auf die ‹Könige des Ostens› könnte sich – wie erwähnt – auf die Feierlichkeiten zu Ehren der Heiligen Drei Könige in Florenz oder in Mailand bezogen haben. Ein politischer Subtext ist nicht ausgeschlossen, spricht Leonardo doch vom Abstand der Könige zum gemeinen Volk. Als Patrone (und Mitglieder) der ‹Compagnia dei Re Magi› fungierten die Medici. Siehe den immer noch grundlegenden Aufsatz: Rab Hatfield, The Compagnia de’ Magi, in: Journal of the Warburg und Courtauld Institutes 33 (1970), S. 107–161, sowie Richard Trexler, Public Life in Renaissance Florence, Ithaca etc. 1991. 23 Der 1478 bzw. – vollständig – 1483 erschienene Morgante fungiert auf zwei Listen Leonardos (CA 559/560 [ex210r]; CTr, S. 3). Bezüglich Pulci siehe auch BmC, S. 210. 24 Aus dem Morgante ist im Folgenden wie im Haupttext mit Angabe von ‹Gesang› und ‹Strophe› zitiert. Auch auf den mustergültigen Kommentar der englischsprachigen Ausgabe ist – wie gehabt – Bezug genommen. – Aus der Reina d’Oriente, einem Werk des 14. Jahrhunderts, hat Leonardo – wie erwähnt – eine Passage exzerpiert. Der Titel stellt ein Beispiel für den Gebrauch des Eigennamens im Rahmen literarischer Imaginationen dar. – Auch im produktionsästhetischen Zusammenhang – Leonardo ent-
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Präsent ist im Orient-Begriff immer eine Vielfalt der Nuancen. Das heißt: Auch wenn Leonardo eine ganz bestimmte Bedeutungsnuance aktiviert, handelt es sich eben um die ganz spezifische Wahl aus einem Feld der Möglichkeiten, das in seiner Gesamtheit stets bewusst zu halten ist. Insgesamt scheint sich aber die Beobachtung zu bestätigen, dass die Namen der Himmelsrichtungen, insbesondere wenn sie paarweise verknüpft sind, in chiffrenhafter Verknappung auch im Denken und Schreiben Leonardos komplexe Gegebenheiten bloß evozieren, die innere Komplexität dieser Gegebenheiten aber zugleich auch verschleiern oder auf Distanz halten. Komplexes ist zwar angesprochen – bzw. ganz wörtlich verstanden angedeutet –, aber der nähere Inhalt des jeweils Gemeinten erschließt sich aus dem bloßen Aufrufen gerade nicht, sondern erst über den Umweg einer Analyse des situativen Kontextes des jeweiligen Begriffsgebrauchs.25 Konvention und Subversion Die geographischen Vorstellungen, die bei Leonardo da Vinci begegnen, sind im Allgemeinen konventionell, aber auch von überraschenden Einsprengseln durchsetzt.26 Da es als mehr oder minder gesichert gilt, dass Leonardo mit einer ganz bestimmten Ptolemäus-Ausgabe gearbeitet hat,27 kann man ihm ein entsprechendes geographisches wirft eine Fabel – deutet sich an, wie sein (kultur)geographisches Weltwissen Verarbeitung findet. Denn er schwankt zwischen zwei Möglichkeiten: entweder von ‹muslimischen Weltteilen› zu sprechen oder – wesentlich weniger differenziert – von ‹Asien›. Vgl. weiter unten die Erörterung ‹Dante, Mandeville und der Islam›. 25 Vgl. C. D. Kernig, [Art.] Osten, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, Darmstadt/Basel 1984, Sp. 1394–1396. 26 Die Erwähnung einer Atlantik-Insel namens ‹Aritella› (CA 713r [ex264r-b]) könnte sich auf die legendäre Insel Antilia, auch Sieben Städte-Insel genannt, bezogen haben (bezüglich dieses auch auf reale Geographica übertragenen Konstruktes siehe Eberhard Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2 (Die großen Entdeckungen), München 1984, S. 11 und passim; siehe auch Bd. 1 [1986] (Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion), S. 67f., Fn 1; Numa Broc, La géographie de la Renaissance (1420–1620), Paris 1980, S. 19 und 166). Noch Toscanelli hatte – in seinem berühmten Brief über die Möglichkeit einer Westfahrt – Antilia erwähnt gehabt, und die Bekanntheit der Insel seinem portugiesischen Adressaten gegenüber vorausgesetzt (Schmitt (Hg.), a.a.O., Bd. 2, S. 11: «die ihr ja kennt»). – Überraschend ist auch, dass Leonardo eine Ptolemäische Vorstellung allem Anschein nach nie korrigiert hat: Der Indische Ozean war – die Umfahrung Afrikas machte es deutlich – kein Binnenmeer; man musste die Einheit von westlichem und östlichem Meer bzw. einen ‹Oceanus Indicus meridionalis›, gewärtigen (siehe Folker E. Reichert, Die Erfindung Amerikas durch die Kartografie, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 118). Wie es scheint, hat sich diese Erkenntnis dem Nachlass nicht explizit eingeschrieben, obschon Leonardo ohne Zweifel davon Kenntnis hatte (siehe weiter unten, Synopse, Sektion ‹Indien›: Denn er bezog sich auf eine Karte der indischen Insel ‹Elephanta›, die dem heutigen Mumbai vorgelagert ist). 27 Auf Calvi geht die Annahme zurück, dass Leonardo mit dem so genannten Ulmer Ptolemäus gearbeitet hat (Gerolamo Calvi, I manoscritti di Leonardo da Vinci dal punto di vista cronologico, storico e biografico, hrsg. von Augusto Marinoni, Busto Arsizio 1982 [urspr. 1925], S. 68; siehe Kiang, a.a.O., S. 133f.). Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Calvi sich so eindeutig nicht festgelegt hatte, indem er auch ‹eng verwandtes Kartenmaterial› in Betracht gezogen hatte.
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Auflösevermögen, eine Differenziertheit der Raum- und Weltvorstellung durchwegs unterstellen. Es ist die Ptolemäische Geographie, die an die Stelle des Orient-Begriffs tritt, wenn Leonardo es – im topographischen Sinne – genauer haben wollte und eben Karten beizog. Von etwaigen Ergänzungen bzw. Korrekturen dieser Geographie – infolge der Entdeckungsfahrten – wird weiter unten noch die Rede sein. Als eine Grundstruktur ist insbesondere die Dreikontinentvorstellung vorauszusetzen: Mit Petrarca – oder mit Plinius – können wir ins Mittelmeer einfahren und vor unserem geistigen Auge zur Linken Europa, zur Rechten Afrika liegen sehen.28 Vor uns aber liegt Asien – durch zwei Flusslinien akzentuiert, nämlich durch Tanais (Don) und Nil begrenzt. Diese Grundvorstellung, auf neueren Karten bloß um 45 Grad gedreht, so dass der Osten zur Rechten zu liegen kommt, war auch Leonardo da Vincis hauptsächliche Orientierung im Raum, und sie blieb es, wie es scheint, auch Zeit seines Lebens.29 Leonardo ist in diesem Sinne ganz konventionell, auch und gerade, wenn er sich vorstellte, vom Nildelta her gen Süden, nach Äthiopien zu blicken,30 denn die gedankliche Verortung und Bewegung in diesem Raum war – wie Petrarcas Reisebuch veranschaulicht – im Grunde gar nicht so originell. Von seiner originelleren Seite zeigte sich Leonardo demgegenüber im Spiel mit den geographischen Grundbegriffen, insbesondere dem Begriff der Hemisphäre (wörtlich: Halbkugel). Dachte man sich nämlich die Erdkugel zusammengesetzt aus zwei Hälften, einer östlichen und einer westlichen Hemisphäre (oder einer nördlichen und südlichen), so ergab sich eine gedankliche Trennungslinie zwischen beiden Hälften. In anderen Worten: Durch jeden beliebigen Punkt konnte – über den Pol – eine solche Linie gelegt werden. Sie konnte zwischen den Beinen ein und derselben Person verlaufen, die also mit einem Bein im Westen und im Osten stand, oder zwischen zwei Personen, die sich umarmten.31 Und mit eben diesen Vorstellungsgehalten spielte Leonardo im Rahmen seiner ‹Rätselprophetien›,32 Texten, die eigentliche Rätsel darstellten, in Form von verschlüsselter, ‹dunkler› und in diesem Sinne eben ‹prophetischer› Rede. Nach Zählung von Marinoni notierte Leonardo sich 174 solcher Rätsel, die man auch als ‹Orakel› beschreiben könnte, denn eine jeweilige Lösung oder Deutung durch einen ‹Orakeldeuter› war gefragt (und ist den Notizen beigegeben).33 Wenn Leonardo in diesem Zusammenhang mit der Vorstellung der Hemisphäre spielte, so könnte er einen unterhaltsamen und zugleich lehrhaften Effekt im Sinne 28 Vgl. Francesco Petrarca, Reisebuch zum Heiligen Grab, hrsg. von Jens Reufsteck, Stuttgart 1999, S. 107 (Nachwort von Jens Reufsteck). 29 Vgl. den Globus der oben erwähnten Allegorie und z.B. auch CM I 6r: Leonardo zeichnete einen Globus mit den drei, allerdings bloß angedeuteten Landmassen ‹Asien›, ‹Afrika› und ‹Europa› (Letzteres nicht eigens beschriftet). Auch der Nil steht hier im Zentrum des Interesses. 30 Ludwig Nr. 936. Vgl. auch Kim H. Veltman, [in collaboration with Kenneth D. Keele]: Linear Perspective and the Visual Dimensions of Science and Art, München 1986, S. 117. 31 TuA, S. 862. 32 Ebd., S. 860 und 862. 33 Siehe etwa: Carlo Vecce, Leonardo e il gioco, in: Passare il tempo. La letteratura del gioco e dell’intrattenimento dal XII al XVI secolo, Atti del Convegno di Pienza, 10–14 settembre 1991, Bd. 1, S. 269–312.
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gehabt haben; der Begriff bzw. die Kontingenz einer Trennung zwischen zwei Hemisphären wurde augenfällig. Man konnte beliebig Trennungslinien legen und die Hemisphären, wenn man so wollte, auch ‹Einflusszonen› nennen. Im Vertrag von Tordesillas hatten sich Portugiesen und Spanier 1494 auf eine Linie, einen Längengrad bzw. Meridian zwecks Abgrenzung der jeweiligen Interessensphären verständigt. Es handelte sich um eine kontingente, d.h. so nicht notwendige Setzung, die auch anders hätte ausfallen können. Und genau dies – ganz beiläufig – lehrten Leonardos ‹Rätselprophetien›. Ein Anklingen politischer Subtexte in diesen Rätseln könnte angenommen werden, wenn Leonardo derart grundlegende Vorstellungen als kontingent auswies; und in einem noch allgemeineren Sinne unterlief Leonardo auch die Vorstellung von einer fixen Unterscheidungslinie zwischen Ost und West, denn die entsprechende Scheidungslinie konnte verschieden gedacht und eben verschoben werden. So wie die Welt gewohnheitsmäßig gesehen wurde und in zwei Hälften geteilt erschien, so musste sie nicht notwendigerweise gesehen werden. Dies die Lehre eines scheinbar nur trivialen unterhaltsamen Gedankenspiels. Die Relativierung einer auch politisch bedeutsamen Konvention ergab sich als Nebenprodukt aus einer Form des Denksports. Einer kulturellen Verortung entzog sich Leonardo da Vinci damit aber nicht. Denn auch an der Bekräftigung von Konvention arbeitete er nach Kräften mit. Oppositionelle Vorstellungen von ‹wir› und ‹sie› waren ihm durchaus geläufig, und er benutzte sie auch selbst: Ein halber Globus, sinnigerweise auf einen Helm gepflanzt, symbolisierte ihm im Rahmen einer Theaterdarbietung das Eigene, nämlich ‹unsere Hemisphäre›. Ein Pfau und damit ein exotisches, allerdings schon von den Römern importiertes und gezüchtetes, ursprünglich indisches Tier, saß allerdings zuoberst.34 Mentale Bewegung durch den Raum: Die ‹Geographie› der Literatur Waren es Karten und Atlanten, aus denen ein räumliches Bezugssystem hervorging, in dem man sich gedanklich auch bewegen konnte – eigentliche Möglichkeiten gedanklich zu reisen erschuf erst die Literatur, die ihre Szenarien mehr oder minder frei in eben diesem Bezugssystem verortete und als Szenarien ausgestaltete. Zu lesen oder zu hören bedeutete, gedanklich mitzugehen mit den Reisenden; und dass Leonardo von dieser Möglichkeit zu reisen regen Gebrauch gemacht hat, steht fest. Er – bzw. man – las die Ritterabenteuer, der Herzog genauso wie die Künstler.35 Aus Büchern, die ungemein populär waren, schöpfte man – gemeinschaftlich – auch Weltwissen als eine Form von populärer Bildung. 34 L-A, S. 291 (CAr 250r); R I, S. 383f., Nr. 674. Siehe auch Synopse, Sektion ‹Indien›. 35 Dass Leonardo da Vinci Luigi Pulci als Literaten geschätzt haben muss, geht aus einer ganzen Reihe von Indizien hervor. Aber auch Herzog Ludovico Sforza verlangte es nach dem Morgante (siehe Giuseppina Fumagalli, Leonardo ieri e oggi, Pisa 1959, S. 142). Pedretti wies verschiedentlich darauf hin, dass dies das einzige Buch darstelle, von dem wir wissen (oder annehmen), dass Raffael es gelesen habe (Carlo Pedretti, [Katalogtext in] Leonardo da Vinci. Natur und Landschaft. Naturstudien aus der königlichen Bibliothek in Windsor Castle, Stuttgart/Zürich/New York 1983 [Kat. Zürich 1983/84], S. 30).
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Wenn Leonardo schrieb, dass es in einigen Gegenden Indiens als vornehm galt, die Fingernägel zu beträchtlicher Länge wachsen zu lassen, so stammte diese ‹kulturelle› Information eben aus den Reisen des Ritters Sir John Mandeville, der sie zwar seinerseits den Quellen entnommen hatte, aber es scheint dennoch, dass Leonardo diese Information, dem teils phantastischen Charakter der Reisen zum Trotz, für wahr, zumindest für bedenkenswert gehalten hat.36 In Leonardos Bibliothek finden wir mehrere Bücher, die in literarischer Form Weltwissen vermittelten und ihre Leserschaft auf gedankliche Reisen auch in den Orient begleiteten. Wer, wo die Grenze zog zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Erfindung und Tradierung von Weltwissen, ist nicht leicht zu ermitteln. Aber die Beschäftigung mit diesem Bücherfundus, über die Identifizierung der Herkunft von bestimmten wissenschaftlichen Vorstellungen hinaus, stellt eine Möglichkeit dar, sich die Vorstellungswelt der Renaissance, die Vorstellungswelt Leonardos, auch und gerade was die Geographie des Orients anbetrifft, doch zu erschließen. Und sei es bloß, dass einem bewusster wird, gegen welche aktuellen Vorstellungen er eventuell ein anderes, besser fundiertes neues Orient-Bild behaupten musste (sofern er dies überhaupt wollte). Es handelte sich gewissermaßen um parallele Geographien. Aus Ptolemäus konnten die Grunddaten bezogen werden, aber verlebendigt und bevölkert mit Menschen wurde die Raumvorstellung erst durch den Bericht und die Beschreibung, mit einem Wort: dem Reisebericht, ob er nun fiktiv war oder nicht. Das ebenfalls sehr erfolgreiche Ritterbuch Guerino Meschino, das im 14. Jahrhundert geschrieben wurde und im Kern von einer Identitätssuche handelt, konnte gar als eine geographische Enzyklopädie gelesen werden, so viele Orte kamen darin zur Sprache.37 Den Grundbestand der Namen und Orte hatte die antike Geographie schon verfügbar gemacht, aber auch die moderne Geographie, die insbesondere auch eine Geographie des Handels war, fand darin ihren Niederschlag. Wo der Autor es konnte, modernisierte er. Und auch dieses Buch ist wiederum im Besitz von Leonardo nachgewiesen. Die Literatur dynamisierte und beflügelte ganz im Sinne des Wortes die mentale Bewegung durch den Raum. Denn wenn in Leonardos Aufzeichnungen, zwar nur der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit nach, an eine Flugreise von Ost nach West gedacht war – in Pulcis Morgante fand sich dafür ein Vorbild: die Schilderung einer Luftfahrt von Ägypten nach Gibraltar. Und auch die Kritik der Schwarzen Magie, die man von Leonardo kennt, klingt – gemessen an Pulci – vertraut. Es war eine solche Luftfahrt zwar nicht möglich, dies das Argument von Leonardo, denn wenn sie möglich wäre, implizierte dies ja, dass die Magier allmächtig wären.38 36 Belege siehe Sektion ‹Der Ferne Osten› weiter unten. 37 [Andrea da Barberino], Guerino detto il Meschino. Storia in cui si tratta delle grandi imprese e vittorie da lui riportate contro i Turchi, Napoli 1834. Vgl auch BmC und insbesondere Rudolf Peters, Über die Geographie im Guerino Meschino des Andrea de’ Magnabotti, in: Romanische Forschungen 22 (1908), S. 426–505. Hier ist auch eine Liste aller geographischen Namen gegeben, die in diesem Roman vorkommen. 38 K/P 49v (siehe auch Gombrich, a.a.O., S. 51; Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 19 bzw. die Belege zum Topos ‹Orient und Okzident› weiter oben).
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Davon allerdings konnte erfahrungsgemäß keine Rede sein.39 Und doch beschäftigte die Idee der jähen Ortsverschiebung auch den Geist von Leonardo.40 Die Rezeption der Ritterbücher lässt sich entschieden leichter nachweisen als eine Rezeption der Berichte über die großen Entdeckungsreisen, die wir als die großen Bahn brechenden Ereignisse der Zeit um 1500 wahrzunehmen gewohnt sind. Doch derlei Gewohnheiten sind einzuklammern, auch mit Blick auf Leonardo: Alle Wege, alle diese Reisen führten – in den Augen der Zeitgenossen – ja in den Osten. Ob man gedanklich mit Kolumbus ‹mitging› oder die Fahrten der Portugiesen im Geiste mitverfolgte – auch in diesem Sinne orientierte sich die Zeit ‹nach Osten hin›. Daraus ergab sich ein Problem, eine geographische Konfusion, die im Folgenden – mit Blick auf Leonardo da Vinci – behandelt sei: In das Wissen über Asien, den Orient, floss (der Möglichkeit nach) auch Wissen über Amerika mit ein.41
1.2 Klärendes zur Amerika-Problematik In Hinblick auf das Verhältnis Leonardo da Vincis zu ‹Amerika› haben sich, überblickt man die Forschung seit den 1880er Jahren, zwei Extrempositionen herausgebildet. Und in ihrer jeweiligen Einseitigkeit sind beide Positionen – wie wir zeigen können – mit größter Wahrscheinlichkeit falsch: Weder hat Leonardo da Vinci von den Entdeckungen, die sich später als Entdeckungen einer ‹Neuen Welt› entpuppten, überhaupt keine Notiz genommen,42 noch ist er der Auflösung der zeittypischen geographischen Konfusion näher gewesen als viele seiner Zeitgenossen (und war damit seiner Zeit voraus). Zunächst: Leonardo da Vinci gilt heute nicht mehr als Urheber der ersten Weltkarte, auf der sich der Name ‹Amerika› eingetragen findet (und aus der die Möglichkeit einer
39 Constance Jordan, Pulci’s Morgante. Poetry and History in Fifteenth-Century Florence, Washington/London/Toronto 1986, S. 131ff. 40 Explizit hat Leonardo diese Idee in ‹Profezia› Marinoni Nr. 126; TuA, S. 855 («[…] sie [die Menschen] werden [im Traum, so die Lösung dieses betreffenden Rätsels] im Nu, ohne Bewegung, leibhaftig nach verschiedenen Weltgegenden fliegen; […]»). Vgl. auch die Belege zum Topos ‹Orient und Okzident› weiter oben. 41 Vgl. allgemein Reichert, a.a.O., sowie ders., Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), S. 1–63. Las Casas beispielsweise glaubte demnach im Indien Herodots zu leben (ebd., S. 45). Symbolisch für die Konfusion steht eine Anbetung der Könige, Vasco Fernandes zugeschrieben, die einen der drei Könige des Morgenlands als einen Indianer darstellt (Hugh Honour, Wissenschaft und Exotismus. Die europäischen Künstler und die außereuropäische Welt, in: Karl-Heinz Kohl (Hg.), [Kat.] Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, Berlin 1982, S. 26; Levenson (Hg.), a.a.O., S. 152f.). Vgl. auch die Ausführungen zu Bilivertis Gemälde in der Casa Buonarroti im Haupttext, Kap. 3 (vor Michelangelo erscheinen mehrere als Orientalen kenntlich gemachte Turbanträger, aber auch ein Träger eines Federschmucks ist – seitlich – ins Bild gerückt). 42 Broc, a.a.O., S. 237 (‹nicht der Erwähnung wert›). R II, S. 180 («There is no mention in the manuscripts of Christopher Columbus and his discoveries.»)
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Südumfahrung dieses für sich eine Einheit bildenden Doppel-Kontinents auch schon hervorgeht).43 Nach heutigem Stand der Kenntnisse hat Leonardo zwar die innovative, vom Prinzip des Schälens einer Frucht abgeleitete Projektionsmethode der Windsor-Karte ‹vorgedacht› (entsprechende Skizzen finden sich tatsächlich in seinen Aufzeichnungen),44 doch gilt die Karte selbst heute als «school derivation».45 Damit ist auch die alte Frage hinfällig, ob die Windsor-Karte mit jener Weltkarte identisch ist, die sich – Leonardos Notizen zufolge – in seinem Besitz befunden hat.46 Leonardo steht noch ganz in der zeittypischen geographischen Konfusion, in der sich das traditionelle Wissen über Asien vermischte mit den Berichten aus der ‹Neuen Welt›, in der man lange Asien sah. Genauer: Das alte Wissen über Asien schrieb sich den Berichten über Amerika ein und kam in Form der Amerika-Berichte – angereichert mit neuen Primärerfahrungen – zurück nach Europa. Sozusagen als ein Re-Import, der vertraute Vorstellungen in weiten Teilen oft bestätigte.47 Ein Anatomie-Folio, ebenfalls aus der Sammlung Windsor und datierbar auf das Jahr 1513, enthält Ausführungen, die wir vor diesem Hintergrund betrachten können. Der Leonardo, der diese niederschreibt, ist über sechzig Jahre alt und steht – in Rom – in den Diensten des Papstbruders Giuliano de’ Medici. Es hallt aus dem betreffenden Text nicht bloß ein Topos wieder, eine stereotype Vorstellung, die unzweifelhaft aus einem ganz bestimmten Bericht über die ‹Neue Welt› herstammt, es deutet sich vielleicht auch an, warum Leonardo nicht öfter auf diese ‹Welt› zu sprechen kam. Denn was ihm diesbezüglich noch gegenwärtig war – im Alter – war keineswegs dazu angetan, positive Gefühle zu wecken. Es handelte sich um den prototypischen Bericht über den angeblichen Kannibalismus in der ‹Neuen Welt› und damit über ein Phänomen, das man aufgrund der traditionellen Informationen über Asien eben auch erwartete. Leonardo kam auf einem Folio auf verschiedene Varianten des Kannibalismus zu sprechen; und vorerst sei hier nur auf denjenigen spezifischen Vorstellungsgehalt Bezug genommen, der darauf schließen lässt, dass sich jene spezifischen Vorstellungsgehalte in Leonardos Bild vom ‹Orient› einschlichen, die unzweifelhaft auf einem ganz bestimmten Bericht über die ‹Neue Welt› zurückgehen, nämlich auf die Acht Dekaden aus der 43 W 01393 (bis). Siehe diesbezüglich auch Ellen Kaplan, Leonardo’s Telltale Legacy: Buckminster Fuller to Jasper Johns, in: ALV 5 (1992), S. 145; Kiang, a.a.O., S. 130; eine Zusammenfassung des älteren Forschungsstands bei Eugen Oberhummer, Leonardo da Vinci and the Art of the Renaissance in Its Relations to Geography, in: The Geographical Journal 33 (1909), S. 543ff. Bei Dreyer-Eimbcke ist Leonardo noch als Urheber gehandelt (Oswald Dreyer-Eimbcke, Mythisches, Irrtümliches und Merkwürdiges im Kartenbild Lateinamerikas während der Entdeckungszeit, in: Karl-Heinz Kohl (Hg.), [Kat.] Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, Berlin 1982, S. 121), wie auch bei Veltman, a.a.O., S. 194. 44 Kaplan, a.a.O., S. 146 (und Abb. 9). 45 Ebd., S. 145 46 Siehe Solmi, S. 266 (‹Mappamondo›) mit Vermutungen über den Typ der Karte; TuA, S. 910f.; Kiang, a.a.O., S. 130. 47 Reichert, Columbus, a.a.O.
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Neuen Welt aus der Feder des Peter Martyr d’Anghiera.48 Unter anderen Gesichtspunkten wird dann im Folgenden noch mehrfach auf diesen Folio zurückzukommen sein. Ein spätes Echo der Kolumbusfahrten: Anatomie-Folio K/P 173r Auf diesem besagten Blatt aus der Sammlung Windsor, datierbar auf das Jahr 1513,49 umfließt und umrahmt eine Art Bewusstseinsstrom, den Leonardo notiert hat, zwei Querschnitt-Zeichnungen des menschlichen Herzens. 50 Im Rahmen dieses Bewusstseinsstroms kommt Leonardo auf diverse Torheiten des Menschengeschlechts zu sprechen, und er steigert sich in eine eigentliche, tief verächtliche Tirade hinein, die insbesondere die Bestialität des Kannibalismus betrifft, der für Leonardo offenkundig eine Realität darstellte (wie für die meisten seiner Zeitgenossen).51 Es gab eine Reihe von Vorstellungen, die im geographischen Schrifttum vorhanden und als Gewissheiten schon etabliert waren. Und wenn die Berichte aus der ‹Neuen Welt› schon unmittelbar nach der ersten Kolumbusfahrt wieder auf das Phänomen des Kannibalismus zu sprechen kamen, so konfigurierten sich die traditionellen topischen Elemente möglicherweise bloß neu. Auf eine neuartige und – aufgrund der neuartigen Kombination von bestimmten Elementen – unverwechselbare Weise hatte der spanische Hofhistoriograph Peter Martyr über Kannibalen in der ‹Neuen Welt› berichtet. Und ein Echo dieser originären Schöpfung liegt mit dem Blatt von Leonardo vor, auf dem es – im Rahmen einer Anklage des Menschengeschlechtes – wörtlich heißt: «[…] aber du [Mensch] frisst außer den Jungen den Vater, die Mutter, Gebrüder und Freunde, und dies genügt dir nicht, da du auf die Jagd gehst auf fremden Inseln, die anderen Menschen ergreifend; und diese, das Membrum und die Testikeln verstümmelnd, mästest du und jagst sie durch deine Gurgel hinab.»52 48 Peter Martyr von Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt, hrsg. von Hans Klingelhöfer, 2 Bd., Darmstadt 1972. 49 Ein entsprechendes Datum findet sich auf einem anderen Blatt der Serie, nämlich Folio 7r (nach Nummerierung von Quaderni d’anatomia, hrsg. von O.C.L. Vangenstein, A. Fonahan, H. Hopstock, Bd. 2, Christiania, 1912). 50 Alternative Bezeichnungen: W 19084r und Quaderni, Bd. 2, 14r; Abbildung auch bei Sigrid Esche, Leonardo da Vinci. Das anatomische Werk, Basel 1954 (Nr. 135). Siehe auch Otto Baur et al., Leonardo da Vinci. Anatomie, Physiognomik, Proportion und Bewegung, Köln 1984 [Arbeiten der Forschungsstelle des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität zu Köln, Bd. 23/1], S. 327f. und S. 339 bezüglich der diversen Ordnungssysteme im Hinblick auf den Werkkomplex der anatomischen Blätter. 51 Annerose Menninger, Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos 1492–1600, Stuttgart 1995; BmC, S. 33, Fn 120, S. 122 und 246. Die ältere Tradition geht vor allem auf Herodot und Strabon zurück. Zum Thema ‹Kannibalismus› in historischer Perspektive siehe auch Reay Tannahill, Fleisch und Blut. Eine Kulturgeschichte des Kannibalismus, München 1979. 52 Hier zitiert nach Quaderni, a.a.O., S. 30. Die Stelle bei Martyr (S. 29): «[…] Die Eilande jener ekelhaften Menschenfresser lägen [nach Aussage der Eingeborenen] weiter südlich, ungefähr halbwegs von den übrigen Inseln. Die Eingeborenen klagten auch darüber, ihre Küsten würden ständig durch Ein-
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Ohne zu sagen, um welche Inseln es sich handelte, brachte Leonardo die topische Vorstellung, die auf Peter Martyr zurückgeht, in diesen anklagenden Text ein, der noch an anderer Stelle von einem kannibalistischen Phänomen handelt, das er in ‹Indien› situiert (und das weiter unten besprochen werden wird). Hier beschränken wir uns auf den Hinweis, dass Leonardo von einem ganz bestimmten Amerika-Bericht oder der Tradition, die darauf zurückgeht, offenbar Kenntnis hatte (und als ein alter Mann darauf zurückkam) und dass sich ‹Amerika› bzw. die Teile ‹Asiens›, die man neu entdeckt zu haben glaubte, mit einem in Leonardos Augen sehr abstoßenden Phänomen assoziierte. Denn darüber hinaus liegen uns keine Hinweise auf eine weitergehende Amerika-Rezeption Leonardo da Vincis vor. Es ist nicht mit Sicherheit möglich, den Vermittlungsweg zu erschließen, auf dem Leonardo der besagte Kannibalismus-Topos bekannt geworden ist; der Möglichkeiten sind hier viele, allzu viele. Peter Martyr hatte Teile seiner Berichte über die ‹Neue Welt›, die später in die Buchveröffentlichung der Dekaden eingingen, an Ascanio Sforza, den Bruder des Moro geschickt.53 Italienische Kaufleute verbreiteten den Topos54 und die Dekaden wurden darüber hinaus in Venedig plagiiert, so dass sich die interessante Möglichkeit ergibt, dass Leonardo in einer umfänglicheren Sammlung von Reiseberichten, der Sammlung des Fracanzano di Montalboddo, darüber gelesen haben könnte (und vielleicht gar diesen Fundus an Berichten kannte).55 Nachzuweisen ist dies nicht; und eine andere Möglichkeit ist noch wahrscheinlicher: 1494 hatte Niccolò Scilaccio, wie Luca Pacioli bestallt mit einer Professur in fälle der Kannibalen heimgesucht. Jene gingen auf Menschenraub aus wie Jäger, die in den Wäldern gewaltsam und mit Fallen den wilden Tieren nachstellen. Knaben, die sie fangen, kastrieren sie, so wie wir junge Hühner oder Schweinchen je nach dem zarter oder fetter zum Verspeisen aufziehen. Wenn die so Gemästeten groß und fett geworden sind, fressen jene Wilden sie auf. […]». Leonardo verarbeitet zwar auch durchaus gängige Kannibalen-Topoi, wie sie etwa in Mandevilles Reisen enthalten sind ([John Mandeville], Reisen des Ritters John Mandeville. Vom heiligen Land ins ferne Asien 1322–1356, hrsg. von Christiane Buggisch, Lenningen 2004 [Übers. einer mittelhochdeutschen Version], S. 195, 207, 211, 265f., 278ff.). Problematisch ist allerdings die eine Abhängigkeit insinuierende Gegenüberstellung bei Solmi, S. 205, bzw. der bloße Verweis auf Mandeville in Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, S. 39, Anmerkung). Denn bei Leonardo begegnet jene Kombination von topischen Elementen wieder, wie erstmals Peter Martyr sie hat, und nicht eine beliebige Auswahl oder gar ein Mandeville-Zitat. Übereinstimmend sind – bei Leonardo und bei Peter Martyr – folgende Elemente vorhanden: ‹Jagd auf fremden Inseln›; ‹Kastration der Gefangenen›; ‹Mästung› vor dem eigentlichen ‹Vertilgen›. – Auch die Praktik der Kastration männlicher Küken war Leonardo vertraut, wie aus Notizen zum Kapaun (TuA, S. 96) und aus Marinoni Nr. 98 und 141 hervorgeht. Die letztgenannte ‹Prophetie› ist eine derbe Attacke gegen die Astrologen: Das Rätsel bzw. der Orakelspruch lautet, dass alle Astrologen kastriert würden. Die Antwort bzw. Deutung identifiziert die ‹Astrologen› als ‹Hähnchen›, die – wie man wohl auslegen darf – in der römischen Antike als Wahrsager fungierten, ganz wie die – hier alles andere als gut wegkommenden – Astrologen. 53 Siehe Peter Maryr, a.a.O. (Vorwort); Annerose Menninger, Wie die Alte Welt in die Neue kam. Zur Rekonstruktion der Kannibalenkonzepte in den frühesten Reiseberichten über Amerika, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 96 und 98. 54 Schmitt (Hg.), a.a.O., Bd. 2, S. 161 (ein Brief aus dem Jahre 1494). 55 Siehe Christine Henschel, Italienische und französische Reiseberichte des 16. Jahrhunderts und ihre Übersetzungen. Über ein vernachlässigtes Kapitel der europäischen Übersetzungsgeschichte, Darmstadt 2005.
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Pavia, einen Bericht über die zweite Kolumbusfahrt herausgegeben.56 Auch hier begegnete der Topos wieder (den Martyr schon im Hinblick auf die erste Fahrt geprägt hatte), mitsamt dem (von Leonardo allerdings nicht übernommenen) Vergleich, der das Phänomen einem europäischen Publikum fassbar zu machen suchte; und auch der Begriff ‹Kannibalismus› bzw. ‹Kannibalen› (den Leonardo auch nicht übernahm) wurde genannt.57 Wie dem auch sei, ob es sich um einen Reflex auf die erste oder die zweite Kolumbusfahrt handelte, um eine direkte oder indirekte Übernahme – es handelte sich um einen Topos mit Wiedererkennungseffekt. Und in einer Art ‹Abdruck› steht er uns, nicht ganz vollständig, in dem Text Leonardos entgegen. In das Orient-Bild Leonardos, dies ist daraus zu schließen, ist also tatsächlich bruchstückhaft Wissen über Amerika eingeflossen, das geeignet war, den Orient erneut zur Heimstätte der Kannibalen zu erklären. Es bestätigte dieses Wissen letztlich nur, was man schon wusste. Und dieses Wissen, ein eigentliches Vorurteil, war weder geeignet, diesen Orient der Kannibalen als besonders interessant, da neu, erscheinen zu lassen, noch als besonders verlockend. Möglicherweise erklärt sich so, dass Leonardo da Vinci kein ausgeprägteres Interesse für die ‹Neue Welt› an den Tag legte, aber aufgrund der Lückenhaftigkeit der Überlieferung kann nicht mit Sicherheit darauf geschlossen werden. Es mag dieser Kannibalen-Bericht das Orient-Bild Leonardos auch nicht eigentlich verdüstert haben, aber von einer Ambivalenz – wenn das verächtliche Moment sich dergestalt in den Vordergrund drängte – muss doch gesprochen werden. Von einer unerschütterlichen Vorliebe für den Orient jedenfalls kann – pauschal – nicht mehr die Rede sein. Die Möglichkeit einer orientalischen Vorliebe und Faszination ist damit nicht per se hinfällig, aber es muss mindestens komplementär eine Faszination des Negativen, gar Bestialischen in Rechnung gestellt sein. In den fernen Außenräumen der bekannten Welt verortete man, verortete auch Leonardo, was an bestialischer Entartung des Menschengeschlechts prinzipiell möglich war, für eine reale Möglichkeit und eine mögliche Realität gehalten wurde.58 Obschon vom Menschengeschlecht in seiner Gesamtheit hier die Rede war, die Bestialität war doch eine Realität der fernen, wilden Außenräume, und es lag nahe, die aufdringliche Vorstellung gedanklich auf Distanz zu halten, indem man sie als eine spezifische Realität dieser Außenräume auswies.
56 Nicola Scillacio, Delle isole del mare meridiano e indiano recentemente scoperte, hrsg. von Osvaldo Baldacci, Firenze 1992. 57 Ebd., S. 102; Begrifflichkeiten: S. 96 und 103. Vgl. auch Menninger, Rekonstruktion, a.a.O., S. 108, bezüglich des Vergleichs. 58 Landucci berichtet über einen grauenvollen Fall von Kannibalismus im Zusammenhang mit den kriegerischen Wirren im Jahre 1512 in Oberitalien ([Luca Landucci], Ein florentinisches Tagebuch 1450– 1516. Nebst einer anonymen Fortsetzung 1516–1542, hrsg. von Marie Herzfeld, Bd. 2, Leipzig 1913, S. 214). Poggio hat eine ‹Schauergeschichte› in seine Fazetien aufgenommen ([Giovanni Poggio Bracciolini], Die Schwänke und Schnurren des Florentiners Gian-Francesco Poggio Bracciolini, hrsg. von Alfred Semerau, Leipzig 1905, S. 127, Nr. 171).
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Leonardo klagte zwar den Menschen insgesamt an, aber den Grund dieser Anklage entnahm er doch Berichten aus zweiter Hand. Peter Martyr war selbst nicht in Amerika gewesen und doch war er an der Verbreitung von vermeintlichen Gewissheiten maßgeblich beteiligt, Gewissheiten, die schließlich auch Leonardo da Vinci erreichten, ihm bis ins Alter erinnerlich blieben und uns heute – aufgrund seiner Aufzeichnung – einen Hinweis geben, in welchem Maße auch er als Mensch seiner Zeit in den zeittypischen ‹Verblendungszusammenhängen›, wenn man so will, stand. Angewiesen auf den Bericht aus zweiter Hand war auch er – wenn man die Existenz des Kannibalismus insgesamt für einen Mythos hält – letztlich möglicherweise bloß ein weiteres Opfer einer großen Täuschung.
1.3 Spuren kultureller Selbstverortung Es gehört zu den Gemeinplätzen der Leonardo-Literatur, dass Leonardo selten oder gar nie von sich, von seiner Jugend oder von seiner Herkunft gesprochen habe. Doch es gibt durchaus Spuren kultureller Selbstverortung, so beiläufig gegeben, dass sie leicht übersehen werden. Leonardo erinnerte sich nicht nur der Betten der Toskana, auch die volkskundliche Überlieferung, die sich mit diesen Betten verband, blieb ihm gegenwärtig, und sie erschien ihm als so wertvoll, dass er sie niederschrieb. Die Kenntnis der (eigenen) Bettstatt gilt – seit der Heimkehr der Odysseus – als der klassische Identitätsbeweis, und die Verknüpfung von Erinnerung an die Bettstatt aus Rohr und die dazugehörige moralisierende Deutung rechtfertigt es, die entsprechende Stelle hier in Erinnerung zu rufen: «In der Toskana macht man daraus [aus hohlem Rohr, wie einer allegorischen Figur in einer beigegebenen Zeichnung in die Hand gegeben ist] das Gestell für die Betten, um anzudeuten, dass man hier eitle Träume schmiedet, hier einen großen Teil seines Lebens verbringt, hier viel wertvolle Zeit vergeudet, nämlich am Morgen, da der Geist nüchtern und ausgeruht und der Körper bereit ist, neue Mühe und Arbeit auf sich zu nehmen. Hier hascht man auch der vielen nichtigen Freuden, sei’s mit dem Geist, indem man sich unmögliche Dinge vorstellt, sei’s mit dem Leib, indem man sich Lüste verschafft, die oft der Grund für ein verfehltes Leben sind. Deshalb nimmt man Rohr für solche Gestelle.»59
Man ist versucht, mit Blick auf diese Stelle von einer beiläufigen Bestimmung von Heimat als dem Ort kultureller Verwurzelung zu sprechen.60 Aber Identität stellt die Vielfalt 59 TuA, S. 853; Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 105 (Oxford: Zeichnungen A 29r). Vgl. auch TuA, S. 21 (‹auf Daunen bzw. Federn schlafen›; ein Dante-Bezug, auch dieser volkstümlich, wenn man so will). 60 Leonardo hat auch die Begriffe ‹Vaterland› und ‹Muttersprache›. Siehe Scritti letterari, ed. Marinoni, a.a.O., S. 9 [Pensieri, Nr. 94] (‹Vaterland›, ‹menschliche Spezies›; dt. auch in Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 109; vgl. auch ebd., S. 13: ‹Muttersprache›); TuA, S. 854 (‹alle Völker der Welt›).
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der Bezüge dar, in die ein Mensch gestellt ist, sich selbst – nach Maßgabe des eigenen Willens – stellt und von seiner Umwelt gestellt wird. Seine Umwelt – und auch die Nachwelt – definierte Leonardo da Vinci im Allgemeinen als einen Florentiner.61 Doch ein eigentlicher Städter, von seiner Herkunft und seinem Leben in seinen Kinder- und ersten Jugendjahren, war Leonardo nicht.62 Leonardos inneritalienische Identitätsbezüge und wechselnde Loyalitäten stellen die grundlegendsten, mit dem Begriff von Heimat verbundenen Bezüge dar.63 Aber der Horizont möglicher Identitätsbezüge kann sich erweitern, bis hin zu einem Kollektivbegriff von Menschheit, in dem alle menschlichen Bezüge, die Menschheit in ihrer Vielfalt aufgehoben ist. Identität in ihrer Summe (und Entwicklung) In unserem thematischen Zusammenhang ist auf eine mittlere Ebene von Identitätsbezügen zu fokussieren, in die sich Leonardo gegenüber außeritalienischen oder außereuropäischen Einheiten gestellt hat oder gestellt worden ist. Auch diese Bezüge, eine erste Überwölbung der inneritalienischen Bezüge, gibt es nicht in großer Zahl, aber eines ist ihnen gemeinsam: Leonardo hat sich nie in außeritalienischen kulturellen oder geographischen Einheiten und damit außerhalb des engeren Kulturkreises seiner Herkunft verortet, außer im Rahmen derjenigen Texte, die einst Anlass boten, ihm eine Orientreise zu unterstellen, also im ‹Diodario-Material› (bzw. den ‹armenischen Briefen›). Von der einen Ausnahme, die sich im Möglichkeitsraum der Literatur zwar eröffnete (wenn sie denn als einmalige fiktive Annahme einer Identität überhaupt eine Ausnahme ist), kann auf die Selbstverständlichkeit geschlossen werden, die im Raum der Lebenspraxis die eigentlich gängige Norm darstellte. Im Brief an Benedetto Dei hatte sich Leonardo erstmals im Orient verortet, doch eine Annahme orientalischer Identität war darin nicht zum Ausdruck gekommen. Im ‹Diodario-Material› hingegen sprach Leonardo im Hinblick auf die Taurus-Region von ‹unserem Gebiet› und ‹unseren Grenzen›. Dies blieb jedoch die Ausnahme, wenn man den schriftlichen Nachlass nach Identitätsbezügen, Spuren kultureller Verortung durchmustert, die sich auf den außeritali61 Siehe Haupttext, Kap. 2 (mit Belegen). – Im Laufe seines Lebens könnte sich dieser Bezug stark relativiert haben. In Florenz erlebte Leonardo auch Misserfolge (bzw. er brachte vieles nicht zu Ende); zudem war er in seiner Jugend denunziert worden; und es hat den Anschein, dass es Empfehlungen aus Mailand waren, die seinen Wert zurück ins Bewusstsein der Florentiner holten (vgl. N, S. 515). 62 Es ist interessant zu sehen, dass sich Leonardo im Hinblick auf geographisch weit entfernte Gebiete nie an den urbanen Zentren orientierte, sondern an Flüssen und Gebirgen. Allem Anschein nach interessierte er sich – als ‹Lehstuhlgeograph› – für die Gegebenheiten der Natur- und nicht – oder weniger – für jene der Kulturräume (siehe Synopse, passim). 63 Man vergleiche etwa die Herabwürdigung der Romagna als ‹Hauptstätte für alle möglichen Narrheiten› (TuA, S. 265).
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enischen Bereich beziehen. Nie, auch nicht ein einziges Mal, verortete das historische Individuum Leonardo sich kulturell außerhalb von Europa. Und sich zu positionieren hatte Leonardo im Laufe seines Lebens oft Gelegenheit. Ganz im Rahmen von europäisch-abendländischen Traditionen positionierte er sich (als gut Vierzigjähriger) in einem Text, der unten eingehender behandelt wird und die Entstehung des muslimischen ‹Weinverbots› thematisiert. Hatte er – im ersten Anlauf zu diesem Text – noch im Sinn gehabt, von ‹muslimischen Gebieten› zu sprechen – im zweiten Anlauf verlegte er sich darauf, von ‹Asien› als dem Raum zu sprechen, in dem dieses, dem kulturellen Europäer als eine Absurdität oder als ein theologisches Ärgernis erscheinende ‹Weinverbot› seinen scheinbaren Geltungsbereich hatte. Leonardo wirkte später (als ein Endvierziger) mit an den Verteidigungsanstrengungen Venedigs gegen die Einfälle der Türken, die, angeführt von einem ‹halben› Genuesen, die Gebiete diesseits des Isonzo heimsuchten, wo Leonardo sie aufzuhalten hoffte. In seinen Briefentwürfen, die in diesem Zusammenhang entstanden sind,64 spricht er von einer Verteidigung ‹italienischer Gebiete› gegen die Türken, nicht aber von einer Verteidigung ‹Italiens› in seiner Gesamtheit,65 nicht von einer allgemeinen Bedrohung durch die Türken, und auch nicht von einer Bedrohung des ‹Abendlands›. Seine Rede ist auch im Hinblick auf sein späteres Ansinnen, den Brückenbau, interessant. Wer einer allgemeinen Bedrohung – und demzufolge dem Kreuzzug – das Wort redete, dürfte kaum eingenommen gewesen sein von der Idee, sich überhaupt in das Herrschaftsgebiet der Osmanen zu wagen. Mit Wildheit im Sinne von barbarischer Unzivilisiertheit brachte Leonardo verschiedentlich den Begriff ‹Indien› in Verbindung und brachte zum Ausdruck, dass es auch im Rahmen der Menschheit als einem Kollektiv aus seiner Sicht Entartungen gab, von denen er sich voller Abscheu distanzierte – für sich selbst und nicht eigentlich an ein Publikum gerichtet, wie aus dem Anatomie-Folio K/P 173r zu ersehen ist. In seiner Mailänder Zeit als Organisator von Festlichkeiten hervorgetreten, in denen das Motiv des ‹wilden Mannes› und auch der ‹König von Indien› eine Rolle spielten,66 hatte Leonardo an der Aktualisierung und Vergegenwärtigung konventioneller Vorstellungen mitgewirkt, und dies vor der eigentlichen ‹Entdeckung› des westlichen ‹Indiens› durch Kolumbus. Jahrzehnte später noch verortete er die barbarische Vorstellung des Kannibalismus nicht mehr explizit im Osten, aber ‹Indien› war immer noch ein Ort der ‹wilden› Sitten.67 Als verkehrte Welt in einem harmloseren Sinne war es ihm auch im Hinblick auf den elitären Gestus langer Fingernägel gegenwärtig, die anders als in Europa in ‹Indien› die Vornehmheit gebot. ‹Indien› war in diesem Zusammenhang zwar eher das südliche 64 TuA, S. 879ff. 65 In Scritti scelti di Leonardo da Vinci, hrsg. von Anna Maria Brizio, Torino 1952 wurde daraus die Verteidigung ‹Italiens› (S. 640). 66 Siehe Vecce, a.a.O., S. 271ff. 67 Siehe nächster Abschnitt.
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China, denn Leonardos mutmaßliche Quelle waren hier die Reisen Mandevilles, der sich seinerseits auf einen Ostasienbericht gestützt hatte, aber den kulturellen Gegensatz von Brauch und dessen ‹Umkehrung› – in Europa galten lange Fingernägel als schimpflich – baute Leonardo hier explizit zwischen ‹Europa› und ‹Indien› (nicht aber ‹Asien›) auf; und vielleicht ist dies im Zusammenhang mit den portugiesischen Entdeckungsfahrten zu sehen, in deren Folge ‹Indien› als Handelsstützpunkt und Handelspartner noch stärker in das Bewusstsein der Europäer trat, sich sozusagen im Gesamtkontext von ‹Asien› hervorhob. Aus diesen Bezügen geht keine vollständige Beschreibung von Identität hervor; es handelt sich um bloße Spuren, die aus situativen Zusammenhängen herausgenommen worden sind, die aber im Hinblick auf Leonardos kulturelle Physiognomie alles andere als nebensächlich sind. Über die Konventionen, die darin zum Ausdruck kommen, musste ein Abendländer sich hinwegsetzen (was gedanklichen Aufwand und eine gedankliche Grundlage erforderte). Er konnte sich im Rahmen einer Menschheit verorten, aber diese Menschheit war aus Leonardos Sicht kein Grund, die Vielfalt um der Vielfalt willen zu feiern. Er differenzierte zwischen einer in Abscheulichkeit resultierenden Normabweichung zum einen und der Norm zum anderen. Die Abweichung konnte harmloser Natur sein wie in Bezug auf die Fingernägel, aber sie konnte auch gravierender sein wie im Falle der Menschenfresser. Wenig überraschend, aber bis anhin auch wenig beachtet, legt Leonardo da Vinci diesbezüglich ein Differenzierungsvermögen an den Tag. Von pauschalen Setzungen, auch wenn Leonardo bezüglich des Kannibalismus wohl problematischen Informationen aufsaß, kann nicht die Rede sein und auch nicht von einer kulturellen Vorliebe für das Fremde und Exotische (dies am ehesten noch im Zusammenhang einer Lektüre zur Unterhaltung). Nicht als ein erfahrener Reisender tritt uns Leonardo entgegen, nicht als ein Repräsentant eines Außenraums, nicht als ein kultureller Vermittler, der Osten und Westen in sich beschließt, sondern als Bewohner des Erdteils Europa, in dessen Wahrnehmung das Exotische in seiner Vielfältigkeit durchaus vielfältige Spuren hinterlassen hat. Es ist vor dem Hintergrund der säkularen Debatte über die ‹orientalische Frage› überraschend, dass diese Spuren noch nie in einer Zusammenschau gesichtet worden sind. Genauer gesagt ist es auch bezeichnend, dass man die Orientalia, nachdem sie nicht mehr als Tatsachenbelege einer tatsächlichen Reise galten, in ihrer Bedeutung nie neu erwogen hat, eben als Exotica im Innenraum der Renaissance, denen Repräsentanz zukommt. Es ist so gesehen nachzuholen, das Exotische, in mehr oder minder strenger Eingrenzung auf das orientalische Exotische, mit Blick auf Leonardo neu zu würdigen. Dies sei im Folgenden – in einer dem Thema angemessenen Vielschichtigkeit – versucht.
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2. Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Leonardo da Vinci ein Sammler des exotischen Objekts gewesen ist.68 Albrecht Dürer ist dafür bekannt, auf seiner Reise in die Niederlande allerhand Exotisches nicht nur gesehen und gezeichnet, sondern auch physisch in seinen Besitz gebracht zu haben: eine Fülle von Objekten, die – wie wir wissen – auch nicht ganz leicht zu transportieren war.69 Eine solche ‹Wunderkammer›, ein Behälter oder ein Symbol, fehlt bei Leonardo.70 Doch der Sammler von Skizzen und Notizen, der Autor eines ‹Notizen-Werks› (Joseph Gantner),71 registrierte durchaus das exotische Objekt, die Präsenz des Exotischen in seinem Gesichtsfeld. Leonardo hatte einen Blick für fremde Alphabete, Menschen, Tiere, Pflanzen, Materialien. Durch eine eigentliche Sammeltätigkeit indessen, die sich vielleicht von einer besonderen Vorliebe her hätte ergeben müssen, fiel er dagegen nicht auf. Doch sollte man sich davon nicht täuschen lassen: Wie Dürer hielt auch Leonardo beispielsweise die Präsenz des Afrikanischen zeichnerisch fest. Nur ist Leonardos – winzige – Profilzeichnung eines mutmaßlich äthiopischen Knaben gleichsam versteckt in einem seiner kleinen bzw. recht eigentlich winzigen Notizbücher.72
68 Wenn ihm Landleute einmal Versteinerungen in seine Werkstatt gebracht haben (siehe TuA, S. 239), so deutet dieses allerdings darauf hin, dass er für sein Interesse an naturkundlichen Erscheinungen immerhin bekannt war. 69 Jean Michel Massing, The Quest for the Exotic: Albrecht Dürer in the Netherlands, in: Jay A. Levenson (Hg.), Circa 1492. Art in the Age of Exploration, New Haven/London 1991, S. 115–119, vor allem S. 118. 70 Mit einiger Mühe ließe sich eine Art ‹imaginäre Truhe› füllen: etwa mit der Handschuhschachtel Lorenzo de’ Medicis (R II, S. 362, Nr. 1454), Fossilien aus den Bergen, vielleicht einer Kokosnuss (Leonardo schreibt einmal ‹coci›, was allerdings von Marinoni wie von McCurdy als ‹noci› gelesen wurde; vgl. TuA, S. 206, Fn; Ms. G 5r), einer schönen Schnecke (CAr 33r; in Vergrößerung abgebildet, nach Leonardos Zeichnung, in ALV 8 (1995), Tafelteil; vgl. auch L-A, S. 84) und dem Schiffsmodell, das im Nachlass von Salai aufgeführt ist (G. Sironi / J. Shell, Salaì and Leonardo’s Legacy, in: The Burlington Magazine 133 (1991), S. 107). 71 Joseph Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee, Bern 1958, S. 72. 72 Ms. H III, 40v bzw. 103v; R II, S. 216, zu Nr. 1112 beigegeben in Umzeichnung. Man könnte vermuten, dass es sich bei diesem Knaben um den vierjährigen Äthiopier handelte, den sich der Mailänder Hofdichter Bellincioni nachweislich 1486 beschafft hatte (Kiang, a.a.O., S. 135). Siehe in diesem Zusammenhang auch Steven Epstein, Speaking of Slavery. Color, ethnicity, and human bondage in Italy, Ithaca/London 2001, S. 94, für die forschungsgeschichtliche Bedeutung dieses Einzelschicksals, aus dem die Existenz der Sklaverei auch in Norditalien – und damit im Umfeld Leonardos – wider Erwarten hervorging. Nicht ganz zufällig war es ein Leonardist, nämlich Ettore Verga, der diesen Tatbestand bekannt machte. – Richter stellte die Zeichnung mit einer Betrachtung Leonardos zur dunkelhäutigen Hautfarbe in einen sinnvollen, aber nicht notwendigerweise für Leonardo aktuell gegebenen Zusammenhang. Massimiliano Sforza verfügte im Übrigen über einen dunkelhäutigen Pagen (Francesco Malaguzzi-Valeri, La corte di Ludovico il Moro, Bd. 1, Milano 1913, S. 8). – Bezüglich Dürer siehe Massing, a.a.O., S. 117.
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Facetten der Begrifflichkeit73 Exotik meint hier zuallererst die Dinglichkeit oder die personale Präsenz, die sich mit einem Außenraum verband. Ein angeschwemmter Wal war so gesehen exotisch, denn als Lebewesen aus dem maritimen Lebensraum stammte er aus dem Außenraum des Meeres (und nach Tradition der Alexander-Dichtung sogar aus dem Orient).74 Vorstellungen des Exotischen konnten sich aber auch ganz ohne eine eigentliche Präsenz des Exotischen bilden. Es konnte medial vergegenwärtigt werden, und daraus ergab sich auch die Möglichkeit, beliebige Vorstellungen mit einem Außenraum zu verknüpfen, nach Maßgabe von Wünschen oder Ängsten zu schaffen und auf diesen Außenraum zu projizieren. Ist dies nachweislich der Fall, sollte von Exotismus gesprochen werden, von Vorstellungen, die mehr oder weniger phantastisch waren und nicht mehr notwendigerweise rückgebunden an die in einem Außenraum gegebene Realität. Wie wir gesehen haben, wirkte Leonardo an der Schaffung von Repräsentationen des Exotischen durchaus mit, nicht nur als Maler, der eine Anbetung der Könige zu schaffen im Begriffe war (die allerdings nicht durch eine schwelgerische Inszenierung des Exotischen auffiel).75 Die theatralische Darbietung, ob bei Hofe oder auf den Plätzen, gab Gelegenheit, kontrollierte Darbietungen des Exotischen, Wilden, Fremdartigen zu sehen,76 mit oder 73 Es sei erwähnt, dass die Renaissance diesen – modernen – Begriff nicht hat (Claudia Lazzaro, Animals as Cultural Signs: A Medici Menagerie in the Grotto of Castello, in: Claire J. Farago (Hg.), Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America 1450–1650, New Haven/London 1995, S. 212: gängig ist der Begriff ‹seltsam› oder ‹fremd›). Damit ist jedoch bloß gesagt, dass die Renaissance andere Modi kennt, sich des Verhältnisses zum Exotischen zu vergewissern, dieses zu umschreiben und zum Ausdruck zu bringen. Denn Exotik im Innenraum des Eigenen ist geradezu eine Folge der Erweiterung des europäischen Erfahrungsraumes, des – auch besitzergreifenden – Ausgreifens im Raum. 74 Massing, a.a.O., S. 116. – Ob Leonardo – ‹balene› (‹Wale›) schreibend – außerdem zwischen verschiedenen Walarten zu differenzieren wusste, wie TuA suggeriert (S. 819, 821; Narwal, Pottwal), ist doch eher fraglich. Richter hatte ‹gran capidogli›, also jene Lebewesen, von denen sich der im Brief an Benedetto Dei vorkommende Riese unter anderem ernährt, mit ‹grampuses›/‹Schwertwale› übersetzt. Pedretti übersetzt mit ‹leviathan› (P II, S. 308), was erneut ein ganz anderes Bezugsfeld eröffnet. 75 Siehe Z I, S. 178 (auch bezüglich des Reiterkampfes im Hintergrund, der möglicherweise auf einen (hernach beigelegten) Konflikt der Könige auf ihrem Weg nach Jerusalem hindeutet). 76 Als Symbol einer kontrollierten Präsenz animalischer Wildheit ist natürlich die Florentiner Löwenhaltung zu erwähnen, derer sich Leonardo noch im Alter sehr genau erinnerte (P II, S. 262 und 323). Wahrscheinlich ist er dem Löwen, seinem eigentlichen Lebensbegleiter, so nahe gekommen wie sonst kaum einer seiner Zeitgenossen (vgl. auch Ludwig Nr. 213: ‹löwenfarben›), denn in seinen anatomischen Notizen deutet sich eine Kenntnis der Anatomie des Löwen an, die nur am Objekt gewonnen werden konnte. Ob es allerdings Leonardo selbst war, auf den die Primärerfahrung zurückging, ist unsicher. – Einen Überblick über die Präsenz des Löwen in seinem Werk zu geben, führte ins Uferlose. Folgende Bereiche wären zu berücksichtigen: Gestaltungsmuster in der Verrocchio-Werkstatt, auch in Leonardos Adaptation (Prunkrüstung); Tierallegorien; ‹Schilderung einer Sintflut›; sodann eigene, zeichnerische wie malerische Gestaltungsansätze (Hieronymus; ein Rebus mit der Auflösung ‹lionardeschi›; Tierkreiszeichen; überhaupt Tierzeichnungen); die erwähnte Löwenhaltung, die vielleicht auch – über die Möglichkeit äußerlicher zeichnerischer Studien hinaus – die Möglichkeit zur Sektion eröff-
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ohne konkreten Einbezug des Fremden in seiner physischen Realität.77 Und dem Exotischen als ein Konstrukt war im alltäglichen Leben auch zu begegnen, in Form des ‹Sarazenen› etwa, nach dem in Pavia ein Gasthof benannt war, in dem sich Leonardo da Vinci samt seinen Begleitern im Sommer 1490 aufhielt.78 In den Befestigungsanlagen von Pavia war es auch, dass Leonardos Blick auf alte Pfähle aus Eibenholz fiel. Und sie schienen ihm rot wie ‹vercino› zu sein.79 Diese tropische Holzart, deren Name sich bald auch auf amerikanische Rothölzer übertragen sollte (man spricht von ‹Brasilholz›) und die als Färbemittel in der Textilienherstellung diente, bezog man zu dieser Zeit aus Indien. Es handelte sich also um einen exotischen Rohstoff, den Leonardo hier als einen Vergleichsmaßstab, eine Vergleichsgröße erwähnte.80 Dem Exotischen, hauptsächlich als Importprodukt konsumiert, war insofern auch im Raum der Sprache ein eigentliches Heimatrecht gewährt.
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nete; die Tierhatz auf den Straßen von Florenz; zuletzt: der Löwe – gedacht bzw. konstruiert – als ein ‹Automat›. Leonardo verzeichnete über hundert Tierarten bzw. Tierallegorien in einem ‹Bestiarium›. Bis auf wenige Einträge sind die Quellen, von denen er abhängig ist, gesichert (siehe Überblick im Anhang zu Edition von Ms. H). Der Tradition ist das Exotische insofern eingeschrieben, als gewisse, selten gesehene Tiere äußerlich beschrieben werden müssen (andere nicht) oder in ihrem fernen Lebensraum explizit zu verorten sind (weil sie eben anderswo sind und nicht im Innenraum des Eigenen). Jene Tierarten, die explizit im Orient verortet sind, sind in der weiter unten folgenden Synopse erfasst (inklusive jener Tierarten, die auch ohne explizite Erwähnung als orientalisch konnotiert gelten können). – Man vergleiche im Übrigen Leonardos ‹Bestiarium› mit der Zoologie des Morgante (360 erwähnte Arten). N, S. 343; Beltrami Nr. 50 (‹Saracini›). Leonardo war in Pavia als ein Gutachter gefragt. Es gab den Namen ‹Saraceni› allerdings bereits in Italien, so dass eine gewisse Unschärfe gegeben ist (siehe Landucci, a.a.O., S. 149: bezüglich des Richters Piero Lodovico Saraceni di Fano). – Luigi Pulci griff im Morgante die Vorstellung auf, dass der Name sich von der alttestamentarischen Sarah herleitete (XXV, 30). Später, in den Lunetten über dem Cenacolo, sollte Leonardo das von den Visconti übernommene Wappen der Sforza malen: Es zeigte unter anderem die ‹biscia viscontea›, die Schlange, die einen Sarazenen verschlingt (siehe Z I, S. 187). Der Zustand der Malerei ist allerdings sehr schlecht, ein Sarazene – in der Reproduktion jedenfalls – nicht zu erkennen. TuA, S. 914 (Ms. B 66r). Weitere Produkte im Gesichtsfeld von Leonardo waren neben dem schon erwähnten Gummi arabicum sowie dem Brasilholz (Verzinum) äthiopische Wolle (TuA, S. 637; eine Rezeptur für ein ‹griechisches Feuer›; vgl. auch Iris Origo, «Im Namen Gottes und des Geschäfts». Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, München 1985 [engl. Originalausgabe 1957], S. 79 und 84, bezüglich ‹afrikanischer Wolle›), Weihrauch (siehe unten unter ‹Arabien›), Moschus (TuA, S 150 und 282), orientalischer Kermes (Ms. I 49v), Galläpfel (TuA, S. 629, Perlen (TuA, S. 910; siehe auch Synopse, Sektion ‹Indien›, im Hinblick auf die ‹orientalische Perle›) und natürlich Lapislazuli (siehe Synopse, Sektion ‹Persien›). Daneben, im Bereich der Steine und Erden, armenischer Bolus (CTr, S. 78; TuA, S. 781; ‹Bolus› auch S. 919), der Rubin (ebd.), der Chalzedon (TuA, S. 910 und 912; R I, S. 387, Nr. 680), Jaspis (eine Chalzedon-Abart; TuA, S. 894 bzw. 920), der Markasit (TuA, S. 920) und auch der Diamant (ebd.). Nicht alle diese Produkte und Rohstoffe sind zwingenderweise Importprodukte aus dem Orient. Vgl. aber den Produktkatalog bei Heyd (Wilhelm Heyd, Histoire du commerce du Levant au moyen-âge, Bd. 2, Leipzig 1936, S. 563ff.), den Index von Origo, a.a.O., und Schmitt (Hg.), a.a.O., sowie ganz allgemein: Brachert, a.a.O. – Vgl. auch die im Nachlass von Salai erwähnten Steine (Sironi / Shell, a.a.O., S. 106).
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Zusammengefasst: Was immer als ‹exotisch› wahrgenommen wird, kann also nach Art seiner materiellen, körperlichen Beschaffenheit unterschieden werden und nach dem Anteil des Imaginären, das – bewusst oder unbewusst – an der Schaffung dieses Exotischen teilhat und es zuletzt auch als ein interpretiertes, sinnhaft gedeutetes ‹Etwas› ausweist.81 Objekt und Umgebung, die in dem Objekt etwas Exotisches erkennt, stehen so gesehen immer schon in einer Wechselbeziehung. Das Exotische und sein Umraum reagieren aufeinander, und in der Art des Umgangs mit dem Exotischen sind vielfältige und widersprüchliche Muster zu gewahren. Es gab einerseits ein Verlangen nach dem Fremden und andererseits ein Verlangen nach Kontrolle oder Abwehr, wenn es sich um das Bedrohlich-Fremde handelte.
2.1 Verlangen nach dem Fremden: Die Exotik des Orients Es waren nicht bloß die Warenflüsse, die Unternehmungen der Kauffahrer, die von einer Nachfrage nach dem orientalischen Exotischen zeugten. Ein Verlangen nach dem Orient zeichnete sich insbesondere und besonders eindrucksvoll in dem Bedürfnis nach realistischer Repräsentation und Simulation der Topographie des Heiligen Landes und des Heilsgeschehens – im Innenraum des Eigenen – ab.82 Aufgrund dieser Nachfrage ist summarisch von einem ‹Orient› im Innenraum des Eigenen zu sprechen (und nicht bloß von einzelnen Repräsentationen). Diese Nachfrage konnte auch von Bildwerken befriedigt werden, die ihrerseits Gelegenheit gaben, das Exotische – insbesondere auch en Detail – zu vergegenwärtigen, nach Maßgabe von Vorbildern oder der Imagination.
81 Deutlich sichtbar wird dieses ‹Imaginäre› jeweils in den Verwechslungen des Eigenen mit dem Exotischen. Beispielsweise konnten diverse turbanartige abendländische Kopfbedeckungen (das französische ‹chaperon›; der florentinische ‹mazzocchio›) mit orientalischen Kopfbedeckungen verwechselt werden (bezüglich des ‹mazzochio› vgl. die Erläuterungen von Marie Herzfeld in Landucci, a.a.O., S. 333, Fn 2). – Eine turbanartige Kopfbedeckung gibt Leonardo auf W 12580 (eine ungewöhnlich hohe Kappe auf W 12669). – Ein Spezialproblem stellt die Scheidung von Orientteppichen und ihren (zum Beispiel toskanischen) Imitaten dar (vgl. Soulier, a.a.O., S. 210f.). 82 Siehe etwa Alessandro Nova, ‹Popular› Art in Renaissance Italy: Early Response to the Holy Mountain at Varallo, in: Claire J. Farago (Hg.), Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America 1450–1650, New Haven/London 1995, S. 113–126; Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320–1520), Tübingen 1990, S. 308ff. Eindrucksvoll ist auch die ‹Projektion› orientalischer Reiche auf die diversen Florentiner Stadtviertel und die damit verbundene Selbst-Orientalisierung im Rahmen der städtischen Feierlichkeiten zu Ehren der Heiligen Drei Könige. Im Hinblick auf die sich aus der biblischen Tradition ergebene Präsenz des Exotischen vgl. insbesondere Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 1961 [urspr. 1948], S. 191f., sowie Götz Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars, Stockholm 1970, passim. Siehe auch Synopse, Sektion ‹Das Heilige Land›.
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Leonardo stand so gesehen in einer zweifachen Beziehung zum Exotischen.83 Zum einen konsumierte er die phantastischen Imaginationen der orientalistischen Ritterepik, die einen aktuellen Subtext von der Türkenbedrohung erhielten, und nahm Notiz von Menschen und Objekten in seinem Gesichtsfeld, aber zum anderen wirkte er an Repräsentationen des Orientalischen, mehr oder minder im Kleide des echten Orients, auch mit, und er schuf so Referenzen, die ihrerseits eingingen in die Orient-Imaginationen seiner Umwelt. Phantastische Referenzen und auch realistische, allseits bekannte und solche, von denen bisher kaum Notiz genommen worden ist (und die sich auch nicht sicher mit seinem Namen assoziieren lassen). In der Werkstatt seines Lehrmeisters Verrocchio fanden orientalische oder orientalisierende Mustervorlagen unübersehbar Verwendung.84 Es darf von daher angenommen werden, dass Leonardo schon früh mit derlei Vorlagen in Berührung gekommen ist, wenn seine Beteiligung an der so genannten Madonna di Piazza auch fraglich ist.85 ‹Maurische› Mustervorlagen waren so vertraut in Renaissance-Italien, dass Luigi Pulci im Morgante darauf verweisen konnte, ohne ins Detail zu gehen.86 Derlei Objekte 83 Ein dritter Modus ist dann gleichsam die Orientalisierung von Leonardo selbst, im Rahmen der Rezeption. Edouard Schuré – in einer Schrift aus dem Jahre 1920 – dachte sich Leonardo präfiguriert in einem der drei Weisen aus dem Morgenlande (siehe Sandra Migliore, Tra Hermes e Prometeo. Il mito di Leonardo nel Decadentismo europeo, Firenze 1994, S. 63f., Fn 63). Leonardo kehrte demnach – als Konsequenz dieser Analogiebildung – nach der Huldigung des Jesuskindes in den ‹Osten› seiner Herkunft bloß zurück. – Über eine früheres Dasein seiner Seele dachte im Übrigen Rudolf Steiner nach (siehe Thomas Krämer, Leonardo – Michelangelo – Raphael. Ihre Begegnung 1504 und die «Schule der Welt», Stuttgart/Berlin 2004, S. 351), der von einem ‹Eingeweihtsein› Leonardos ausging, ohne allerdings explizit vom Orient zu sprechen. 84 Vgl. David Alan Brown, Leonardo da Vinci. Origins of a Genius, New Haven/London 1998, S. 75–83 und S. 152f.; vgl. auch Anna Contadini, Artistic Contacts: Current Scholarship and Future Tasks, in: Charles Burnett / Anna Contadini (Hg.), Islam and the Italian Renaissance, London 1999, S. 1–60. – Eine Quelle orientalischer ‹Zeichen› stellten auch die verschiedentlich in Reisebüchern – etwa in Mandevilles Reisen – enthaltenen Fremdalphabete dar (siehe unten, Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›). Ob Leonardo jemals solche ‹Zeichen› aufgegriffen hat, ist ungewiss. 85 Auf diesem Bild, Lorenzo di Credi zugeschrieben, erscheint die Figur Johannes des Täufers. Brown (a.a.O., S. 153) hat eine Beteiligung oder einen Einfluss Leonardos im Hinblick auf diese Figur erwogen; Marani ist ihm gefolgt (M, S. 68). Des Täufers nackter Fuß steht auf einem orientalischen Teppich vom Typus des ‹Small Pattern Holbein› (bezüglich der Einordnung siehe Rosamond E. Mack, Bazaar to Piazza. Islamic Trade and Italian Art, 1300–1600, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 80). – Der Leonardo, der in Irving Stones Michelangelo-Roman geschildert ist, hat sein Heim – etwas unhistorisch gedacht – mit dem Luxusgut Orientteppich ausstaffiert (Irving Stone, Michelangelo, München/Zürich 1969 [engl. Originalausgabe 1961], S. 443). – Eine um 1490 bestehende, von dem Muslim Sabatino Moro aus Kairo geführte Teppichwerkstatt in Ferrara erwähnt J. Michael Rogers, ‹The Gorgeous East›: Trade and Tribute in the Islamic Empires, in: Jay A. Levenson (Hg.), Circa 1492. Art in the Age of Exploration, New Haven/London 1991, S. 73, Fn 54 (vgl. auch Mack, a.a.O., S. 73ff., und insbesondere S. 92). Bezüglich Orientteppichen im Mailand der Sforza siehe auch MalaguzziValeri, a.a.O., S. 434. Vgl. auch Veltmans Gegenüberstellungen (Veltman, a.a.O., [Tafelteil] Nr. 13.1 bis 13.12). 86 Siehe Morgante, VIII, 28 («molte cose leggiadre alla moresca»/«delicate objekts in the Moorish style»); und vgl. unten Synopse; Sektion ‹Al-Andalus›.
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kursierten im mittelmeerischen Raum und von eigentlicher Seltenheit waren eher Objekte aus dem Mittleren oder gar dem Fernen Osten. Ein spektakuläres Objekt, obschon wir dessen Beschaffenheit nicht kennen, stellte die Karte der Insel Elephanta dar, die im Gesichtsfeld von Leonardo aufgetaucht sein muss. Elephanta, der indischen Westküste vorgelagert, wo sich heute die Stadt Mumbai (Bombay) befindet, war zu Lebzeiten Leonardos noch ganz buchstäblich ‹Terra incognita›. Beschreibungen dieser Örtlichkeit, die heute wegen der dortigen hinduistischen Höhlentempel ein Ort der Weltkunst ist, entstanden erst später.87 Leonardos Referenz auf diese Karte, die infolge der florentinischen Beteiligung an den portugiesischen Fahrten88 im Umfeld Leonardos aufgetaucht sein könnte, ist im Westen – chronologisch betrachtet – der allererste Hinweis auf diese Insel überhaupt. Was die Karte an Sachinformation enthielt, wie Leonardo damit umging und was ihn veranlasste davon überhaupt Notiz zu nehmen – wir können bloß Vermutungen anstellen.89 Eine eigentliche Rezeption ist nicht ersichtlich.90 Aber das Objekt stellte eine wie auch immer geartete Repräsentation eines Raums dar und war geeignet, eine Wechselbeziehung einzugehen mit der Umwelt, die es als exotisches Objekt, oder genauer gesagt eine Repräsentation des Exotischen wahrscheinlich durch europäische Seeleute erkannten. 87 Siehe Synopse, Sektion ‹Indien›. 88 Man denke – im Zusammenhang mit Brasilien – an Bartolomeo Marchioni und Amerigo Vespucci (siehe Franz Hümmerich, Quellen und Untersuchungen zur Fahrt der ersten Deutschen nach dem portugiesischen Indien 1505/6, München 1918 [Abhandlungen der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historische Klasse, Band 30, Abhandlung 3], S. 66f.; [Amerigo Vespucci], Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci, hrsg. von Robert Wallisch, Wien 2002) und – im Zusammenhang mit dem eigentlichen Indien im Osten – beispielsweise an Andrea Corsali (vgl. Einleitung). 89 Möglicherweise bzw. wahrscheinlich war Leonardo nicht in Kenntnis der Höhlentempel gekommen und zeigte sich bloß an den Gegebenheiten von Küstenlinien, Gezeiten, Strömungen und Winden interessiert. Es könnte sich um eine Portulankarte gehandelt haben. Vgl. diesbezüglich die kundigen Erläuterungen in [Vespucci], a.a.O., S. 59f. [Kommentar]. 90 Ähnlich liegt der Fall des indischen Elefanten ‹Hanno›. Leonardo hat während seines Römischen Aufenthaltes, wie Silvio Bedini gezeigt hat, gewissermaßen in Sichtweise dieses berühmtesten Elefanten der Renaissance gewohnt (siehe Silvio A. Bedini, Der Elefant des Papstes. Rom zur Zeit der Medici und der Hochrenaissance, Stuttgart 2006). – Es ist im Übrigen nicht der einzige Elefant in Renaissance-Italien: In Venedig scheint – einige Jahrzehnte früher – ein Elefant gezeigt worden zu sein (siehe Folker E. Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 71). In der Menagerie Bayezids II. gab es – Menavino zufolge – mehrere Elefanten ([Johann bzw. Giovanantonio Menavino], Tuerckische Historien […], Frankfurt a.M. 1563, Teil 2, Folio 70v). Auch Arnold von Harff hatte von der Menagerie des Sultans berichtet ([Arnold von Harff], Rom – Jerusalem – Santiago. Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498), hrsg. von Helmut BrallTuchel und Folker Reichert, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 221). – Im Rahmen der kunsttechnologischen Untersuchung der Anbetung durch Maurizio Seracini, deren Resultate mir nicht zugänglich sind, ist anscheinend eine Elefantenzeichnung zum Vorschein gekommen. Vgl. Henning Klüver, Schwarze Löcher im kunstgeschichtlichen All, in: Basler Zeitung Nr. 108 (11./12. Mai 2002), S. 42 [betreffs der kunsttechnologischen Untersuchung der Anbetung].
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Eine Repräsentation des Exotischen von der Hand Leonardos stellt zuletzt die Zeichnung des tropischen Grases dar, dem man später den Namen ‹Hiobsträne› gegeben hat (Coix lachryma-jobi).91 Später, denn Leonardos Zeichnung stellt den frühesten Hinweis in Bezug auf die Existenz dieses Grases in Europa dar. Leonardo zeichnete, vielleicht in den vatikanischen Gärten, eine Pflanze, die noch unbekannt, noch ohne Namen war. Möglicherweise hat ihn auch diese Pflanzenform zu architektonischen Entwürfen angeregt. Wenn dem so ist, muss von einer kuriosen, typischerweise überraschenden Spielart des Kulturtransfers, nämlich des Transfers einer Kulturpflanze – in ihrer Morphologie – die Rede sein.
2.3 Abwehr des Bedrohlichen Am Beispiel der ‹Zigeuner› lässt sich zeigen, wie sich das Exotische, real gegeben, zugleich als ein Konstrukt erschuf und wie eine zunächst zu beobachtende Toleranz umschlug in ein Bedrohungsgefühl, das letztlich zur Vertreibung der ‹Zigeuner› aus dem Herzogtum Mailand geführt hat. Leonardo hat wie wir wissen ‹Zigeuner› gezeichnet.92 In seine Mailänder Zeit fällt die Vertreibung.93 Und auf einer Liste seiner Zeichnungen, diese Koinzidenz ist signifikativ, figuriert der Moro wie auch eine ‹Zigeunerin›.94 Ob er in den ‹Zigeunern› Orientalen sah, dies einem Stereotyp gemäß, wie es etwa auch ein Filarete weitergab, wissen wir nicht. Aus der Existenz von Zeichnungen kann sicher nur geschlossen werden, dass ‹Zigeuner› ihm ein interessantes Motiv gewesen sind. Und aus seiner Anwesenheit in Mailand kann geschlossen werden, dass er Zeuge einer Entwicklung war, die nach einer längeren Zeit des passablen Zusammenlebens der Fahrenden mit der sesshaften Bevölkerung von einer rapiden Verschlechterung gekennzeichnet war. In den letzten Dekaden des 15. Jahrhunderts schlug dieses Verhältnis um und im Jahre 1493 vertrieb Ludovico Sforza die ‹Zigeuner› – wegen krimineller Machenschaften – per Dekret. Angelo Arlati hat angemerkt, dass sich die «legislazione antigitana» im Grunde nicht gegen die ‹Zigeuner› an sich richtete, sondern gegen Erscheinungen, mit denen man sie zu Recht oder zu Unrecht identifizierte, nämlich mit kriminellen Machenschaften und der Einschleppung von Krankheit.95
91 Siehe Synopse, Sektion ‹Der Ferne Osten›. 92 R I, S. 387, Nr. 680; bzw. Bericht von Vasari (Giorgio Vasari, Das Leben des Leonardo da Vinci, hrsg. von Sabine Feser, Berlin 2006, S. 26). 93 Siehe Angelo Arlati, Gli Zingari nello stato di Milano (dal periodo sforzesco all’avvento di Maria Teresa d’Austria), in: Lacio Drom 25 (1989), Nr. 2, S. 4–11. 94 R I, a.a.O. 95 Arlati, a.a.O., passim. – Schon bei Pulci sind ‹Zigeuner› mit ‹Kriminalität›, konkreter: mit dem ‹Stehlen› assoziiert (Morgante, XVIII, 183).
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Ob sie nun als Orientalen galten oder nicht – als ein mobiles Element in den Gesellschaften der italienischen Renaissance kamen die ‹Zigeuner› vom relativ abgeschotteten inneren Stadtraum aus gesehen immer aus einem Außenraum. Sie repräsentierten diesen Außenraum und drangen per se in den Bereich des Eigenen ein. Diese Problematik war von Interesse für den visionären Urbanisten und den Zeichner, der die unmittelbare Realität ins Auge fasste. Denn es war der ‹Kopf› einer ‹Zigeunerin›, den Leonardo gezeichnet hatte.96 Es liegt nahe, ein Interesse an fremdartiger Physiognomie (oder an einer ungewöhnlichen, vielleicht ungewöhnlich freien Haarmode) zu vermuten. Aber wenn man die Umstände bedenkt, konnte der ‹Zigeunerin› auch etwas Repräsentatives zukommen. Wie immer Leonardo sie gesehen hat, im Hinblick auf die Gruppe, der die Frau angehörte, mischte sich Faszination mit einem zunehmenden Gefühl an Bedrohung, bis man – wie in vielen anderen Städten und Regionen Europas –97 die ‹Zigeuner› des Landes verwies. Bedrohung war eine wahrgenommene Bedrohung – und hier ist nicht die Frage, ob ein objektiver Gehalt diesem Gefühl allenfalls entsprach. Das abartig Exotische: Anatomie-Folio K/P 173r (II) Auf dem schon angesprochenen Anatomie-Folio aus dem Jahre 1513 kam Leonardo da Vinci ein zweites Mal auf kannibalistische Praktiken zu sprechen und in diesem Zusammenhang war nun anders als zuvor von ‹einigen Gegenden Indiens› die Rede. Anders als zuvor lokalisierte sich die Praxis explizit.98 Es handelte sich – kurioserweise – nicht um einen eigentlichen, d.h. realen Kannibalismus, sondern bloß um eine Art Kannibalismus des abergläubischen Volksglaubens, den er hier verächtlich beschrieb, denn gegessen wurden nicht Menschen, sondern Teile von Heiligenbildern aus Holz, denen in den Augen des abergläubischen Volks (nicht aber in Augen Leonardos) eine wunderwirkende, apotropäische, d.h. schutzgebende, da Gefahr bannende Kraft innewohnte. Die Stelle lautet wörtlich: «[…] aber ich erinnere euch wohl daran [ihr Menschen], dass ihre Bildnisse [es sind Statuen, Bildnisse und Ehrenbezeigungen wahrhaftig tugendhafter, guter Menschen gemeint, die Leo96 Zu Leonardos Zeiten figurierten ‹Zigeuner› nachgewiesenermaßen auch in der visuellen Kultur Mailands, nämlich in Form des Warenzeichens eines Goldschmieds. Diese und weitere Informationen zur ‹Zigeuner›-Ikonographie der Renaissance können der Giorgione-Forschung entnommen werden (siehe Stephen J. Campbell, Giorgione’s Tempest, Studiolo Culture, and the Renaissance Lucretius, in: RQ 56 (2003), S. 311, Fn 37). Interessant in unserem Zusammenhang ist auch der an eben derselben Stelle gegebene Hinweis auf den venezianischen, allerdings erst in späterer Zeit lexikalisch gefassten Sprachgebrauch: ‹Wie eine Zigeunerin aussehen› meinte demnach nämlich: ‹sein Haar offen tragen›. 97 Mailand hat allerdings eine Art Vorreiterrolle gespielt. Vgl. auch Reimar Gilsenbach, Weltchronik der Zigeuner. Teil 1: von den Anfängen bis 1599, Frankfurt a.M. 1994. 98 Es scheint so, dass Leonardo insgesamt von Vorstellungen sprach, die aus seiner Sicht mit ‹Indien› verknüpft waren, da die Textstellen dicht aufeinander folgen. Doch die explizite Verortung erscheint erst hier, d.h. in der zweiten Passage.
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nardo als ‹irdische Götter› auffasst, und die seiner Meinung nach nicht in Einöden vertrieben, d.h. zu Einsiedlern gemacht werden sollten]99 von euch nicht gegessen werden, wie es in einigen Gegenden Indiens geschieht, dass, wenn ihre Bildnisse, ihnen zufolge, irgend ein Mirakel vollführen, die Priester sie zerschneiden, da sie von Holz sind, und davon allen Landeseingesessenen geben und nicht ohne Gegenlohn; und jeder raspelt fein seinen Teil und streut es auf die erste Speise, die er isst, und auf diese Weise meinen sie, nach ihrem Glauben, sie haben ihren Heiligen gegessen und glauben, dass er sie nachher vor aller Gefahr schütze. Was dünkt dich, Mensch, hier von deiner Spezies, bist du so klug, wie du dich hältst, – sind das Dinge, die von Menschen getan werden dürfen? – Giustino.»100
Es ist mit Blick auf die Passage Dreierlei gleich anzumerken: Erstens: Leonardo beschrieb eine aus seiner Sicht zwar abergläubische Praktik, die aber nur insofern ‹kannibalistisch› war, als die Menschen, die sie angeblich ausübten, ihren Heiligen eben zu verspeisen glaubten (in Wirklichkeit aber, und nach Meinung Leonardos, bloß geraspeltes Holz vertilgten, das vorher Teil eines Heiligenbildes gewesen war). Der Kannibalismus war ein Konstrukt der Imagination und als ein solches, wenn man so will, eine soziale Tatsache: Die Menschen gingen eben von einer apotropäischen Wirkung aus. Zweitens: Leonardo lokalisierte diese Praktik zwar in ‹Indien›, aber seine Warnung war an seine Mitmenschen gerichtet, die sich nicht wie Menschen ‹in einigen Gegenden Indiens› verhalten sollten. Drittens: Leonardo traute seinen Zeitgenossen, zu denen er hier sprach, demzufolge zu, sich abartig bzw. ‹wie Menschen in einigen Gegenden Indiens› zu verhalten. Anderenfalls hätte es einer entsprechenden Mahnung nicht bedurft. Erneut stellt sich, mit Blick auf eine bestimmte Textpassage, die Frage, wovon Leonardo eigentlich sprach, wenn er von ‹Indien› sprach und man hat verschiedentlich versucht, für diese Aussagen Leonardos über einen ‹sakramentalen Kult›101 in Indien eine Quelle zu identifizieren, auf die er sich direkt bezog.102
99 Ein Eremit und Prediger war zur Zeit von Leonardos Römer Aufenthalt in Haft. Siehe Ottavia Niccoli, High and Low Prophetic Culture in Rome at the Beginning of the Sixteenth Century, in: Marjorie Reeves (Hg.), Prophetic Rome in the High Renaissance Period, Oxford 1992, S. 207f. Vielleicht klingt auch dieser zeitgenössische Hintergrund hier an. 100 Zitiert hier nach Quaderni, a.a.O., S. 30f. – ‹Giustino› ist ein Autor der Antike, nämlich einer der Leonardo verhassten ‹Abbreviatoren›, an den er sich schon zuvor gerichtet hatte und den er hier – als einen imaginären Gesprächspartner – nochmals anspricht (siehe auch Solmi, S. 183). 101 Die Rubrizierung der beschriebenen Praxis hat Probleme bereitet. Gombrich, verantwortlich für den Index der zweiten Auflage von Richters Anthologie, verlegte sich auf ‹magic among Indians› (R II, S. 449). Aber die volkskundliche Begrifflichkeit des ‹sakramentalen Kults› bzw. des ‹Bildzaubers› erscheint doch treffender. 102 Vgl. Solmi, der – Richter folgend – eher an die ‹Neue Welt› gedacht hat und auf die ‹wilde Ethnologie› des 16. Jahrhunderts sowie auf Frazer verwies (Leonardo da Vinci: Frammenti letterari e filosofici, hrsg. von Edmondo Solmi, Firenze 1899, S. 415).
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Es ist, wiewohl sich bislang noch keine solche Quelle gefunden hat,103 natürlich immer möglich, dass es eine solche gab, die entweder von ‹Indien› im Westen oder von ‹Indien› im Osten, d.h. entweder von Amerika oder von Asien sprach.104 Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, für die doch einiges spricht und die wir von daher für die wahrscheinlichste halten: dass Leonardo nämlich – oder seine Quelle – bloß Vorstellungen auf ein ‹Indien› projizierte, die im Grunde mit Blick auf das Eigene entstanden waren. In anderen Worten: Es gab den ‹sakramentalen Brauch›, die Vorstellung, dass Teilen von Heiligenbildern eine sakramentale Kraft innewohnte, auch im Abendland.105 Und es gab eine Kirchentradition, auch eine Vätertradition wahrscheinlich, die eben diese Praktiken schon verurteilt hatte. Als äußerst schwierig erweist sich nur die Rekonstruktion dieser Tradition des Umgangs mit Bildern samt der dazugehörigen Kritik.106 Wenn Leonardo also von ‹Indien› sprach, hier evozierte er ein exotistisches ‹Indien›, nämlich einen traditionellen Projektionsraum bizarrer wilder Praktiken. Dies war weder Amerika noch der karibische Raum noch Asien: Dies war eine Projektion der italienischen Kultur, die das Menschenmögliche im Guten wie im Schlechten neu durchdachte
103 Die frühe Indien- und Amerika-Literatur hat zwar oftmals das Motiv der Idolatrie, aber in der Regel verehren die Menschen die intakte Statue und füttern sie (vgl. Michael Camille, The Gothic Idol. Ideology and Image-Making in Medieval Art, Cambridge 1985, S. 151ff.). Die Vorstellung, dass die Menschen die Göttlichkeit vertilgen und die Integrität des Bildes – in einem Akt der Theophagie – dergestalt missachten, kommt meines Wissens in der Reiseliteratur nicht vor. 104 Richter hatte diesbezüglich nach Lahore geschrieben und den (mit seiner Frau verschwägerten) Orientalisten Gottlieb W. Leitner um Auskunft gebeten, doch dieser hatte nicht bestätigen können, dass es in ‹Indien› Praktiken wie von Leonardo beschrieben gab (R II, S. 341, Fn zu Nr. 1358). In der ersten Auflage der Anthologie hatte Richter noch angedeutet, dass Leonardo sich möglicherweise auf die amerikanische Urbevölkerung bezog (siehe Fn zu Nr. 1358 in R II [Erstausgabe], S. 413). Dies stand jedoch im Widerspruch zu seiner Aussage, dass Leonardo Amerika nie erwähnt hatte (siehe oben). Vielleicht auch deshalb entfiel in der zweiten Auflage der Amerika-Bezug in der entsprechenden Note. 105 Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens ist gar von ‹abgeschabten Holzspänen› die Rede (Friedrich Pfister, [Art.] Bild, Bildzauber, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli, [Nachdruck der Ausgabe von 1927–1942] Bd. 1, Berlin/New York 2000, Sp. 1284). Vgl. auch Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hrsg. von Georg Wissowa, Stuttgart 1893–1980 [Pauly-Wissowa], Sp. 2169ff. (Art. ‹Kult›) und insbesondere Sp. 2172 (Speisesakrament); Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000 [urspr. 1990], S. 73; David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, London 1989, S. 128 (Heilswirkung der Teile von Reliquienschreinen); Klaus Kreiser, «…dan die Türckhen leiden khain Menschen Pildnuss». Über die Praxis des ‹Bilderverbots› bei den Osmanen, in: G. Feher (Hg.), [Kongressakten] Fifth International Congress of Turkish Art, Budapest 1978, S. 549–556, mit Blick auf den osteuropäischen Raum (‹Ausstechen der Augen des Heiligen als ein Mittel gegen Augenkrankheit›). – Eine Madonnenskulptur aus Holz dürfte im Übrigen das eigentliche Kultbild des Altars gewesen sein, für den Leonardo die Felsgrottenmadonna schuf (siehe Z I, S. 179). 106 Möglicherweise würde man in der Predigtliteratur des Spätmittelalters, die auf das Thema der ‹Bilderund Reliquienverehrung› fokussierte, auf der Suche nach einer Quelle fündig werden. Einige Hinweise bei Klaus Guth, Guibert von Nogent und die hochmittelalterliche Kritik an der Reliquienverehrung, Augsburg 1970, S. 146.
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und – im Pico’schen Sinne – eine Skala von Möglichkeiten zwischen einem ‹Aufstieg› und dem ‹Abstieg› (beispielsweise in den Kannibalismus) ins Auge fasste. Und insofern man die Entartung als eine reale Praxis eben ins ferne ‹Indien› verlegte, schrieb sich dem gedanklichen Durchmessen des Menschenmöglichen ein ganz spezifischer Exotismus ein. Das Durchschreiten des Vorstellbaren war, wo ein Durchschreiten der Welt imaginär bloß möglich war, auf die Information über das Exotische wohl angewiesen. Doch hier entpuppte es sich als ein Exotismus, der einen realen Bezug zur Realität in Indien wahrscheinlich nicht hatte. Wenn es ‹sakramentale Praktiken› in Indien gab, der Möglichkeit nach, vor der Leonardo hier – möglicherweise bloß an sich selbst gerichtet – warnte, so gab es sie auch in der abendländischen Kulturwelt – nämlich als eine gleich im mehrfachen Sinne bedrohliche Möglichkeit. Denn von dem angesprochenen ‹Kannibalismus in effigies› hin zu einem eigentlichen realen Kannibalismus war es gedanklich nur ein Schritt; der Wunderglaube stand in einem Spannungsverhältnis zur empirischen Erforschung der Natur, und die sakramentale Praxis der Volkskultur bedrohte die orthodoxe Bildauffassung, die zwar eine Verehrung des Dargestellten zuließ, wie Mandeville erinnerte,107 eine Verehrung des Bildes – in seiner physischen Materialität – aber nicht gestattete, wiewohl es schwierig war, zwischen Bilderkult und Reliquienverehrung eine klare Grenze zu ziehen. Das Sich-Einverleiben von Bildern, genauer gesagt das Würzen der Speisen mit dem Holzbestandteil, dem eine Heil bringende Wirkung zugeschrieben wurde, war keine Erfindung Leonardos (wie es auch die Mönchskritik nicht war). Er affirmierte vielmehr die bloße Möglichkeit des Aberglaubens, indem er – allem Anschein nach – einem Exotismus Glauben schenkte. Indem er eine sozusagen anthropologische Kritik formulierte, die einen Gutteil an Mönchskritik mit einschloss, hallte in der Passage auch jene Mönchskritik wieder, die schon ein vertrauter Bestandteil der Renaissance-Novellistik war (Sacchetti)108 und auch in Leonardos ‹Rätselprophetien› auffällt:109 Der Verkauf des Heils aus rein ökonomischen Beweggründen war sozusagen der vertrautere Teil der Vorstellung, von der Leonardo schrieb und dergestalt die Existenz des Fremdartig-Bedrohlichen affirmierte und mit einer Warnung vor dem barbarischen Potential seiner Mitmenschen ergänzte.110 Dies auf einem Folio, der einer Praxis entstammte, die geeignet war, auch Leonardo seinen Mitmenschen gefährlich zu entfremden. Denn es handelte sich wie gesagt um einen Text, der zwei Zeichnungen des menschlichen Herzens umrahmte und aus der
107 [Mandeville], a.a.O., S. 284. Vgl. Gombrich, a.a.O., S. 56 (Leonardo über die Verehrung des im Bilde Dargestellten). 108 Vgl. etwa Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 130f. 109 Siehe TuA, S. 862 und 866 (‹Leben vom Verkauf des Paradieses›). Auch mit dem Motiv bzw. der Vorstellung der Verwechselung von Bild und Abgebildetem spielt Leonardo und hat dabei das Beispiel der Hostie bzw. des ‹Leib des Herrn› im Blick. 110 Auch das Konzept des ‹Heiligenbildes› stellt ein Konzept des christlichen Wahrnehmungshorizontes dar. Die ‹wilde› Praxis wurde sozusagen in diesem Horizont evoziert.
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Zeit seines Aufenthalts in Rom datiert, wo Leonardo als einem Anatom nachweislich Schwierigkeiten erwuchsen. Es ist also sozusagen ein Dokument des mehrfachen Misstrauens, das sich hier auch darbietet – eines Misstrauens, das Leonardo da Vinci gegen seine Mitmenschen hegte und eines Misstrauens, das er sich seinerseits zuzog, als ein Anatom, der am offenen Herzen hantierte und – wie vermutet werden kann eher in der entsprechenden Einsamkeit – jene Passage zu Papier brachte, die einen anthropologischen Rundumschlag enthält, hier aber bloß als ein Zeugnis des Exotismus, des Orientalismus gelesen worden ist, von dem auch Leonardo da Vinci, dies unser Fazit, nicht frei gewesen ist.
3. Arabische Autoritäten im Denken und Schreiben Leonardos 1479 – kurz vor der Ankunft Leonardos in Mailand – stifteten die Apotheker dieser Stadt dem Dom ein Fenster mit dem Bildnis ihres Schutzpatrons, Johannes von Damaskus.111 In einem der dieses zentrale Bild umgebenden sechs Medaillons findet sich aber auch ein Phantasiebildnis derjenigen heilkundlichen Autorität, deren Name symbolisch für das Einströmen arabischer Wissenschaft ins Abendland steht: Avicenna (Ibn Sina), geboren bei Buchara, ein eigentliches Multigenie des ausgehenden 10. und des frühen 11. Jahrhunderts (um 980–1037) wurde hier dargestellt und gewürdigt, als eine Autorität der Apotheker. Das Kirchenfenster stellte in seiner Entstehung insofern ein kleines symbolhaftes Ereignis dar, in einem Jahrhunderte langen Prozess der Aneignung arabischen Wissens. Es erlaubt uns, gleichsam durch dieses Fenster hindurch, einen Blick auf einen breiten, komplexen und ambivalenten Prozess zu werfen und auf den Ort Leonardos in diesem Prozess. Denn dieser steht in einer zweiten, späten Hauptphase dieses im Mittelalter anhebenden Rezeptionsprozesses112 und legt im Hinblick auf die arabischen Autoritäten, wie zu zeigen sein wird, eine durchaus differenzierte Wahrnehmung an den Tag.113
111 Gotthard Strohmaier, Avicenna, München 1999, S. 152 (und Titelbild). 112 Die zweite, allerdings auf einige Zentren und Akteure beschränkte Blütezeit der Rezeption beschreibt Burnett (Charles Burnett, The Second Revelation of Arabic Philosophy and Science: 1492–1562, in: ders. / Anna Contadini (Hg.), Islam and the Italian Renaissance, London 1999, S. 185–198). Das Fortleben der Antike im Islam, im Überblick und als Voraussetzung einer angereicherten Tradierung, behandelt Schoeler (Gregor Schoeler, Humanismus im Islam, in: Frank Geerk (Hg.), 2000 Jahre Humanismus. Der Humanismus als historische Bewegung, Basel 1998, S. 31–45). 113 Auch an die technikgeschichtliche Dimension ist zu denken. Denn auch europäische Ingenieure bezogen sich – teils bewundernd, teils polemisch – auf arabische Autoritäten. Vgl. diesbezüglich Eberhard Knobloch, Die Nachfahren von Dädalus und Archimedes. Ingenieure der Renaissance, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9, Berlin 2002, S. 48 (und auch S. 43 bezüglich Kriegslisten und künstlichen Überschwemmungen). Kurz wies darauf hin, dass der so genannte ‹Ellipsograph›, den Dürer nach einem verlorenen Vorbild Leonardos gezeichnet haben soll, schon den arabischen Mathematikern bekannt gewesen war (Otto Kurz, Dürer, Leonardo and the invention of the ellipsograph, in: RV 18 (1960), S. 23). In CM II 62bis ist auf ein
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Leonardo, beschäftigt in der frühen Mailänder Zeit unter anderem von der Bauhütte des Doms, begegnete dem Namen Avicenna nicht bloß in diesem, über dem zweiten Altar an der Ostwand des nördlichen Querschiffes lokalisierten Fenster. Und Avicenna stellte für ihn auch weniger die heilkundliche Autorität dar als einen Kompilator der Anatomie mit seinem Canon, eine Referenz neben (und in Konkurrenz zu) dem Griechen Galen.114 Aber die arabistische Terminologie der Medizin hat sich Leonardos diesbezüglicher Terminologie doch dergestalt eingeschrieben, dass es möglich war, ein eigentliches Glossar dieser Terminologie zu erstellen.115 Eine medizinische Kultur, wenn man so will, schrieb sich der anderen ein, und symbolisch für den osmotischen Prozess dieser Transferierung von Kenntnissen von einem Sprachraum in den anderen – mit allen (übersetzungstechnischen) Problemen, die damit verbunden waren – steht dieses Glossar und insofern in Teilen das Differenzierungsvermögen Leonardos auf dem Felde der Anatomie. Zeichnet sich im Bereich der Anatomie ein sehr breiter, vielschichtiger Rezeptionsprozess ab, lässt sich das Einsickern der arabischen Terminologie im Bereich der Mathematik leichter in seinen Einzelschritten – in Bahnen eines Prozesses persönlicher Vermittlung – als in seiner Breite mitverfolgen: Luca Pacioli,116 Leonardos Mentor im Bereich der Mathematik, hat eine Reihe von arabischen Begriffe übernommen,117 und Leonardo übernahm sie – im Codex Madrid II – seinerseits von ihm, so dass er, wenn er von ‹Rhombus› und ‹Trapez› sprach, dies in einer Terminologie tat, der die arabische Herkunft noch deutlich anzumerken war.118 Pacioli, den man einst auch (wie Leonardo) im Orient vermutet hatte,119 entfaltete gleichsam eine Exotik der Namen. Im Vorwort zu De divina proportione beispielsweise – Leonardo fand hier auch Erwähnung – bezog er sich in selbstverständlicher Weise auf eine ganze Reihe arabischer Autoren, denen man in vieler Hinsicht vielfältige Kenntnisse verdankte.120 Astrolabium Bezug genommen und damit auf eine griechisch-arabische Traditionslinie der Technikund Astronomiegeschichte (vgl. auch P II, S. 365 bzw. Reti Nr. 95). 114 Zur Bedeutung siehe Nancy Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy. The Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500, Princeton (New Jersey) 1987. 115 Enthalten in: James Playfair McMurrich, Leonardo da Vinci the Anatomist (1452–1519), Baltimore 1930, S. 258ff. 116 Bezüglich Pacioli im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext siehe DoSB. 117 Siehe Luca Pacioli, Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita, Venedig 1494 [Digitalisat: http://archimedes2.mpiwg-berlin.mpg.de/archimedes_templates], LXXV (‹el muayam›; ‹el muariffe›; Rhombus und Trapez) und passim. 118 Siehe CM II 39v (‹Helmuain›; ‹elmuariffe›). – Ein weiterer von Leonardo verwendeter Arabismus stellte der Name des Steins ‹Markasit› dar (Pyrit), von arabisch ‹margashita› (siehe TuA, S. 920). 119 [Fra] Luca Pacioli, Divina Proportione. Die Lehre vom goldenen Schnitt, hrsg. von Constantin Winterberg, Wien 1889 [Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit], S. 2 (Einleitung von Constantin Winterberg): «Nach Montuela habe er auf Befehl seiner Vorgesetzten Reisen in den Orient gemacht, wo er vielleicht mit der arabischen Wissenschaft näher vertraut ward.» Vgl. auch Robert Emmett Taylor, No Royal Road. Luca Pacioli and His Times, Chapel Hill 1942, S. 55 und vor allem S. 122f. 120 Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 188 («Ptolomäus, Albumansar, Ali al Fragano, Gebe […]»). Vgl. auch Károly Simonyi, Kulturgeschichte der Physik. Von den Anfängen bis heute, Frankfurt a.M. 32001, Farb-
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Doch dieser Zustrom an Wissen und Kenntnissen kann nicht bloß als befruchtend, lehrreich und fortschrittsfördernd angesehen werden. In diesem Zusammenhang der Übersetzungen gelangten auch Rinnsale des Obskurantismus ins Abendland; und insbesondere der ziemlich breite Strom der arabischen Astrologie half mit, zur Zeit der Renaissance eine eigentliche Blüte der Astrologie (verstanden als ein Konglomerat aus Astronomie und Astrologie) zu bewirken. Leonardo da Vinci im Prozess des Wissens- und Kulturtransfers Leonardo da Vinci steht in vielfacher Weise in jenem Aneignungsprozess arabischen Wissens und seine Wahrnehmung ist vielschichtig und differenziert. Eine Wahrnehmung dieser Ambivalenz bewahrt uns auch davor, die Bedeutung dieses Prozesses im Hinblick auf Leonardo zu hoch oder zu niedrig anzusetzen. Die Rezeption arabischer Optik, vermittelt über abendländische Autoren des Mittelalters, determinierte nicht das Werk des Malers, der nach populärer Auffassung des 19. Jahrhunderts ‹alle Gedanken der Welt› in die Mona Lisa hineingelegt hatte.121 Aber insofern die Praxis des Malers eben auch von seinen theoretischen Kenntnissen der Optik her bestimmt war, spielte die Rezeption arabischer Optik durchaus eine gewisse, nicht zu vernachlässigende Rolle. Leonardo da Vinci angeleitet von arabischer Optik – oder gegen arabische Optik Stellung nehmend – als Maler agieren zu sehen, ist eine eher ungewohnte Perspektive,122 aber sie eröffnet doch die Möglichkeit, Leonardo ganzheitlich als einen Menschen seiner Zeit zu sehen und dem Einfluss der arabischen Wissenschaft eine Rolle im Rahmen seiner Gesamtphysiognomie zuzuweisen, was bis anhin nicht geschehen ist. Breitflächige Abwehr des Fremden kennzeichnete schon die medizinische Debatte des Spätmittelalters und der Renaissance.123 Und im Rahmen eines polarisierten Meinungsklimas ist es schwierig, eine Position der Ambivalenz zu behaupten. Doch weder ein Abwehrreflex ist am Platz noch eine überschwängliche Übertreibung, was die Rolle der arabischen Denker bei Leonardo angeht (ob er sie als eine Gruppe gesehen hat, wie tafel XIII (Verweis auf Thabit, Ahmed ibn Jussuf und auf die Übernahme der indisch-arabischen Ziffern). 121 Siehe Walter Pater, Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie, Leipzig 1902, S. 173. Vgl. außerdem Zirka Filipczak, New light on Mona Lisa: Leonardo’s optical knowledge and his choice of lighting, in: The Art Bulletin 59 (1977), S. 518–523, und Bernhard Fehr, Walter Paters Beschreibung der Mona Lisa und Théophile Gautiers romantischer Orientalismus, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 70 (1916), S. 80–102. 122 Ein literarisches Äquivalent zu dieser Vorstellung ist die Anwesenheit eines asiatischen Katers mit verschiedenfarbigen Augen, während Leonardo die Mona Lisa malt (vgl. Dmitri Mereschkowski, Leonardo da Vinci, Berlin o.J. [1973] [übersetzt von Erich Boehme; russ. Originalausgabe 1901], S. 540, sowie Hermann Bahr, Essays, Leipzig 1921, S. 19). 123 Einen neueren Überblick vermittelt Dag Nikolaus Hasse, Die humanistische Polemik gegen arabische Autoritäten. Grundsätzliches zum Forschungsstand, in: Neulateinisches Jahrbuch 3 (2001), S. 65–79. Grundlegend für die ältere Forschung war Heinrich Schipperges, Ideologie und Historiographie des Arabismus, Wiesbaden 1961 [Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beiheft 1].
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wir sie heute zusammenfassen, wissen wir nicht).124 Ein alles determinierender Faktor kommt hier nicht zur Sprache. Und: Auch Leonardo wehrte ab, insbesondere den sich breit machenden Einfluss arabischer Astrologie. Wenn der Prozess der Rezeption arabischer Autoritäten insgesamt als ambivalent zu kennzeichnen ist, so ist im Folgenden mit Blick auf vier hauptsächliche Themenbereiche und auf die einzelne Autorität versucht, diese Ambivalenz im Einzelnen zumindest ansatzweise herauszuarbeiten.125 Arabische Anatomie und Pharmakologie Leonardos Bezugnahmen auf Avicenna sind an sich gut bekannt, weil Leonardo dieses ihm an Vielseitigkeit fast ebenbürtige Multigenie aus Transoxanien mehrfach namentlich erwähnt.126 Ein differenziertes Bild von der Bedeutung des Persers127 für die Studien Leonardos ergibt sich jedoch erst, wenn man modernen Medizinhistorikern bei der Durchsicht des Werkkorpus ‹Anatomie› – gewissermaßen Blatt für Blatt – über die Schulter sieht.128 Als ein Lehrbuchautor, als Autor des Canon,129 ist Avicenna als eine anatomische und heilkundliche Autorität zur Zeit Leonardos gut etabliert, wenn auch nicht mehr unumstritten und teils angefeindet. Auf dem Felde der Anatomie allerdings schöpfte ein Avicenna nicht aus Primärerfahrung, sondern aus den Errungenschaften der hellenischen Medizin der alexandrinischen Schule (die nicht durch ein Verbot der Sektion behindert war).130 Blatt für Blatt kann man verfolgen, wie Leonardo, selbst als Anatom tätig, in seinen Beschreibungen und Schlüssen zuweilen Avicenna folgt, manches Richtige, aber auch manchen Fehler übernimmt. In anderen Fällen widerspricht er aufgrund eigenen Augenscheins und dementiert Vorstellungen, die nicht unbedingt explizit als Vorstellungen 124 Es sollte nicht der Eindruck erweckt werden, als sei dies eine Selbstverständlichkeit. – Vgl. auch Edgerton bezüglich der Autoritäten, die Ghiberti zitiert (Edgerton, a.a.O., S. 59). 125 ‹Verdeckte Einflüsse› wären die in Leonardos Lesestoffen, beispielsweise in Werken von Albertus Magnus oder Michael Scotus, verarbeiteten arabischen Autoritäten. Michael verarbeitete beispielsweise arabisch-medizinische Lehren der Zeugung, vermittelt über das pseudo-aristotelische Secretum secretorum, in seiner Physiognomie (siehe Danielle Jacquart, La fisiognomica: il trattato di Michele Scoto, in: Pierre Toubert / Agostino Paravicini (Hg.), Federico II e le scienze, Palermo 1994, S. 338–353). 126 Siehe TuA, S. 41, 96, 906, 907. – Anders als Leonardo war Avicenna in eigentlichen politischen Staatsdiensten bzw. -ämtern tätig, nämlich als Berater und Minister. 127 Pulci verlegte Avicennas Geburtsort im Morgante nach Córdoba (XXV, 254), wo Averroes geboren wurde. 128 Diese Perspektive eröffnet Esche, die den ganzen Korpus bearbeitet hat und immer wieder auf Avicenna zu sprechen kommt (Esche, a.a.O). Neben dem schon erwähnten Glossar stellt dieser Kommentar die wichtigste Grundlage zwecks einer Einschätzung der Bedeutung Avicennas und der arabischen Medizin als solcher dar. Vgl. auch Solmi, S. 78–81 und P I/II (Index). 129 Siehe Strohmaier, a.a.O., S. 109ff. 130 Siehe ebd., S. 117 (im Hinblick auf Galen, dem Sektionen schon verwehrt gewesen waren), und Dietrich Brandenburg, Die Ärzte des Propheten. Islam und Medizin, Berlin 1992, S. 60 (‹keine Eigenleistungen der Perser und Araber aufgrund des Verbots von Sektionen im Islam›).
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Avicennas ausgewiesen sind.131 Kennzeichnend ist ein Ineinander und Miteinander der Wissensquellen ‹Empirie› und ‹Tradition›. Leonardo ‹liest› den Körper von Avicenna her, und er liest Avicenna von der Erfahrung am Körper her. Es resultieren anatomische Zeichnungen, die nicht bloß die Erfahrungen des Empirikers am Körper wieder geben, sondern auch Wissen.132 Der Avicenna Leonardos ist eine – nicht die einzige – medizinische Autorität, die ihn in seinen praktischen Studien begleitet, ihm einen Leitfaden zur Hand gibt und daher ein gedanklicher Dialogpartner auch ist, ohne dass von einem Dialog um seiner selbst willen auszugehen ist. Wenn sich die abendländische Bedeutung Avicennas auch keinesfalls auf die Bedeutung des Arztes beschränkte, als dessen Prototyp er gilt,133 so ist im Hinblick auf Leonardo allerdings kein anderer Einflussbereich unmittelbar erkennbar,134 lässt man außer Acht, dass Avicennas Einfluss sich – mittelbar – der Grundstruktur von Dantes Commedia vielleicht ebenfalls eingeschrieben hat.135 Neben Avicenna – auf medizinischem Gebiet – ist auch sein Vorläufer, der bei Teheran geborene Arzt und Hospital-Direktor Rhazes (Ar-Razi) zu nennen (865–925).136 Dessen erstmals im Toledo des 12. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzte Werk ‹Almansur›, dem gleichnamigen Fürsten zugeeignet, wurde Leonardo teilweise bekannt, nämlich in Form einer freien Übersetzung des dritten Buches, das den ‹einfachen Heilmitteln› gewidmet ist.137 Leonardo da Vinci und der Averroismus? Es ist im Übrigen nicht erkennbar, dass Leonardo da Vinci in irgendeiner Weise in den theologisch-philosophischen Debatten im Zusammenhang mit der aristotelischen Seelenlehre steht, die vor allem in der Präsentation durch den Kommentator Averroes (1126–1198) der christlichen Philosophie des Mittelalters und der Renaissance ein Pro-
131 Esche, a.a.O., passim. 132 Auch wenn die Zeichnungen sehr realistisch anmuten, handelt es sich hin und wieder um Zusammensetzungen, Komposita. Gelegentlich kombiniert Leonardo auch tierische und menschliche Anatomie. Er schreibt der menschlichen Anatomie tierische Anatomie sozusagen ein bzw. umgekehrt (exemplarisch siehe Esche, a.a.O., S. 141). 133 Zur Zeit Leonardos dürfte die Kenntnis des Avicenna und des Averroes’, zumindest den Namen nach, unter Gebildeten zum allgemeinen Bildungsgut gehört haben. 134 Francesco di Giorgio Martini erwähnt Avicenna wie auch Averroes in seinem Architekturtraktat (Francesco di Giorgio Martini, Trattati di architettura ingegneria e arte militare, hrsg. von Corrado Maltese, 2 Bd., Milano 1967, [Index in Bd. 2]). 135 So die These von Strohmaier in der jüngsten Phase der säkulären Debatte über die orientalischen Quellen der Commedia. Vgl. Gotthard Strohmaier, Die angeblichen und die wirklichen orientalischen Quellen der «Divina Commedia», in Deutsches Dante Jahrbuch 68/69 (1993/94), S. 183–198. 136 Siehe Brandenburg, a.a.O., S. 74f. und passim. 137 Siehe Reti Nr. 57; Brandenburg, a.a.O., S. 75 (Toledo).
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blem, ein Irritationsmoment und manchmal ein Ärgernis darstellte.138 Dennoch stellt sich ein Bezug natürlich her, indem Leonardo – nicht ohne Selbstbescheidung – ja auch über die Seele nachdachte.139 Er verortete ihren Sitz in den Gehirnventrikeln und verglich sie dem Wind, der in die Orgel fährt.140 Leonardos diesbezügliche Äußerungen entstehen sogar in einer zuweilen großen Nähe zur Kurie, die 1513 ein auch gegen Averroes gerichtetes Verbot gewisser Thesen ausspricht.141 Aber dem akademischen Milieu der Theologen und Philosophen, in dem im 16. Jahrhundert erneut ein Averroismus zur Blüte kommen sollte, der erneut auch Anstoß erregte,142 steht Leonardo doch so fern, dass es müßig ist, nach einer eigentlichen Positionsnahme im Kontext dieser Debatten zu suchen.143 Das heißt nicht, dass es sich nicht lohnte, Leonardos Äußerungen auch im Licht akademischer Positionen zur Seelenlehre zu lesen.144 Er kommt den delikaten Themen in manchen Äußerungen nahe, etwa wenn er über die Scheidung von Körper und Seele im Tode nachdenkt (und sich, in diesen Äußerungen jedenfalls, nicht als ein Averroist zu erkennen gibt, der die
138 Einen Überblick gibt Dag Nikolaus Hasse, Aufstieg und Niedergang des Averroismus in der Renaissance: Niccolò Tignosi, Agostino Nifo, Francesco Vimercato, in: J. A. Aertsen / M. Pickavé (Hg.), «Herbst des Mittelalters»? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 447–473 [Miscellanea Mediaevalia 31]. 139 Kemp unterstellte Leonardo – Richter folgend – eine Kenntnis von Avicennas De anima (Martin Kemp, ‹Il concetto dell’anima› in Leonardo’s Early Skull Studies, in: Claire Farago (Hg.), Leonardo da Vinci. Selected Scholarship, Bd. 5 (Leonardo’s Science and Technology), New York/London 1999 [urspr. 1971], S. 209, Fn 19, mit Bezug auf K/P 35v bzw. W 19097v; TuA, S. 96; R II, S. 371, Fn zu Nr. 1482); Esche geht an entsprechender Stelle in ihrer Zusammenschau nicht auf Avicenna ein, der auf dem Blatt namentlich erwähnt ist (Esche, a.a.O., S. 141). Zur philosophischen Rezeption des Textes in der Renaissance vgl. Dag Nikolaus Hasse, Aristotle versus Progress: The Decline of Avicenna’s «De anima» as a Model for Philosophical Psychology in the Latin West, in: J. A. Aertsen / A. Speer (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter?, Berlin/New York 1998, S. 871–880 [Miscellanea Mediaevalia 26]. Kemp sprach auch von einer ‹refutation› des Averroes, weil Leonardo explizit den Sitz des Intellekts verortete (Kemp, Skull Studies, a.a.O., S. 218); etwas zurückhaltender könnte man auch von einer ‹impliziten Kritik eines aristotelischen Theorems› sprechen, denn Aristoteles hatte ja einen sehr umfassenden Begriff der Seele als einer den Körper belebenden ‹Form›. – Vgl. im Hinblick auf Averroes auch P I, S. 167 (ein AverroesZitat bei Roger Bacon); und Reti Nr. 97 (eventuell besaß Leonardo die Meteorologie des Aristoteles mit dem Kommentar des Averroes). Schon Solmi hatte bemerkt, dass Leonardo Averroes nie namentlich erwähnt (Solmi, S. 81, Fn 1). Im Morgante – hingegen – findet er Erwähnung (XXV, 254). 140 Diese beiden Notizen, ausgewählt aus einer Fülle weiterer Äußerungen, in TuA, S. 98 bzw. S. 6. 141 Siehe Jill Kraye, The Immortality of the Soul in the Renaissance: between Natural Philosophy and Theology, in: [e-journal] Signatures 1 (2000), [Kapitel 2] S. 1–24 [http://www.chiuni.ac.uk/info/Signatures. cfm/]. – Bezüglich Leonardos Interesse an den ‹letzten Dingen› im Rahmen der Anatomie vgl. Esche, a.a.O., S. 60f. 142 Auch diesbezüglich siehe Hasse, Aufstieg und Niedergang, a.a.O. 143 In Siraisis Studie über die Rezeption und den Status des Canon an den italienischen Universitäten (Siraisi, a.a.O.) findet Leonardo bezeichnenderweise überhaupt keine Erwähnung. Leonardos anatomische Tätigkeit war ganz buchstäblich anderswo, außerhalb der Universität, verortet. Pedretti verwies im Übrigen beiläufig auf Andrea Cattaneo, einen Avicenna-Spezialisten an einem Mailänder Hospital (P II, S. 132). 144 Dies möglicherweise ein lohnendes Thema für eine eigenständige Untersuchung.
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Seele mit dem Körper zugrunde gehen sah).145 Aber es handelt sich um Äußerungen, die einem anderen Diskussionskontext, allenfalls dem Dialog mit Marcantonio della Torre, und nicht zuletzt dem Selbstgespräch entstammten. Als eine Teilhabe an dem auch in Leonardos Nähe stattfindenden, überwiegend spekulativen theologisch-philosophischen Gespräch auf Basis aristotelischer Texte146 (samt den entsprechenden Kommentaren) sind diese Äußerungen nicht zu werten. Zu den zeitgenössischen Diskursen stehen seine Einlassungen – typischerweise – etwas ‹quer›.147 Optik und Mathematik Alhazen (Ibn al-Haitham),148 ein Physiker und als dieser die erstrangige Autorität auf dem Felde der mittelalterlichen Optik,149 stellte für Leonardo eine Referenz dar, ähnlich wie Avicenna auf dem Felde der Anatomie. Zwar erwähnte Leonardo den Zeitgenossen Avicennas nicht,150 aber die Leistungen des Irakers, der in Ägypten gelebt hat und unter anderem mit der Regulierung des Nils befasst war, haben sich ihm fraglos in Form mittelalterlicher Kompendien zur Optik vermittelt, auf die er sich bezog, auch wenn ihm eine gründliche Kenntnis der Tradition nicht unterstellt werden kann.151 Mit dem Namen ‹Alhazen› verbindet sich darüber hinaus ein Sonderproblem, das seit der Frühen Neuzeit als ‹Problem des Alhazen› bekannt ist.152 1881 fasste eine eng145 TuA, S. 16. – Unter seinen Büchern findet sich ein nicht ohne Weiteres einem bestimmten Autor zuzuordnendes Buch über die ‹Unsterblichkeit der Seele› (Reti Nr. 51). – Außerdem bezieht sich Leonardo einmal auf die alte Streitfrage von der ‹Ewigkeit der Welt› (Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 23; ‹wenn wir unserer Welt Ewigkeit zugestehen›). 146 Einmal, im physikalischen Kontext, spricht Leonardo ‹Gott› als den ‹ersten Beweger› an (Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, S. 45); im Rahmen der Anatomie gebraucht er die Wendung ‹il nostro Altore›/‹unser Schöpfer› (ebd., S. 78f.) oder den Begriff des ‹höchsten Meisters› (S. 77); einmal, angesichts des ‹Wunders› des menschlichen Sehvermögens, spricht er von der puren ‹Notwendigkeit› (S. 73). Einmal spricht er den ‹Allmächtigen› unmittelbar an (TuA, S. 15). 147 Das ‹Gezänk› über Gegenstände, die den Sinnen ‹aufsässig› sind, war Leonardo gründlich verhasst (vgl. etwa Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, S. 27; in diesem Zusammenhang – als ein Beispiel – erwähnt Leonardo die ‹Wesenheit Gottes und der Seele›). Auch K/P 173 ist ein Beispiel für sehr abfällige Äußerungen Leonardos über jene, die den ‹Geist Gottes umfassen wollen, in dem das Weltall eingeschlossen ist› (zitiert auch in Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 35f.). Bezüglich der ‹Wunder der Natur, die über den menschlichen Verstand gehen›, siehe ebd., S. 73. 148 Siehe EI für einen allgemeinen Überblick. 149 Grundlegend ist David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt a.M. 1987. 150 Martin Kemp, Leonardo and the Visual Pyramid, in: Claire Farago (Hg.), Leonardo da Vinci. Selected Scholarship, Bd. 5 (Leonardo’s Science and Technology), New York/London 1999 [urspr. 1977], S. 106, Fn 37; Robert Zwijnenberg, The Writings and Drawings of Leonardo da Vinci. Order and Chaos in Early Modern Thought, Cambridge 1999, S. 207, Fn 88. 151 Siehe z.B. Lindberg, a.a.O., S. 277; im Hinblick auf Alhazen siehe auch S. 286, S. 469, Fn 78, und S. 471, Fn 91. 152 Es handelt sich um ein mathematisches Problem, das im Rahmen der Optik von Bedeutung ist: Von zwei Punkten in einer Kreisfläche seien Linien zu ziehen, die sich in einem Punkt auf dem Kreisum-
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lischsprachige Fachzeitschrift die bisher vorgelegten Lösungen zu diesem Problem zusammen.153 Zu diesem Zeitpunkt wusste man aber noch nicht, dass auch Leonardo da Vinci sich an dem besagten Problem versucht hatte und dass er auch eine Lösung aufgezeigt hat, nicht eine mathematische, sondern eine mechanische Lösung – mittels eines Instruments. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass er die Problemstellung seinerzeit unter dem Namen ‹Problem des Alhazen› kannte, aber dank der Arbeiten italienischer Leonardisten ist auch sein Name heute damit verbunden.154 Was nun Leonardos Studien auf dem Felde der Optik im Allgemeinen angeht, kann man zwar von einer Rezeption des Alhazen ausgehen. Es steht fest, dass sich das Denken des Alhazen auch Leonardos Denken eingeschrieben hat, in einer ähnlich ambivalenten Funktion wie Avicennas Denken,155 aber es ist schwierig zu eruieren, ob es eine unmittelbare Rezeption gegeben hat.156 Und eine Gesamteinschätzung der Bedeutung des Alhazen für Leonardo – als einer Referenz, eines gedanklichen Dialogpartners und einer Zielscheibe impliziter Kritik – sie steht noch aus.157 Von einer Wechselwirkung zwischen Mathematik und anderen Wissensfeldern ist nun auch im Hinblick auf Al-Kindi zu sprechen. Dieser große irakische Gelehrte des 9. Jahrhunderts (gestorben um 866) gilt als der prototypische islamische Philosoph und ist dem europäischen Mittelalter vor allem im Zuge der Aristoteles-Rezeption bekannt geworden. Zur Zeit der Renaissance hatte man diesen Bezug allerdings verloren (schon fang treffen, so dass sich gleiche Winkel mit der Normalen in diesem Punkt ergeben. Im Rahmen der Optik geht es darum, einen Lichtstrahl, der von einem Punkt ausgeht, an einem Spiegel, dem Kreisumfang, zu dem anderen Punkt zu lenken (siehe auch Juan Vernet, Die spanisch-arabische Kultur in Orient und Okzident, Zürich/München 1984, S. 414f., Fn 18). 153 Marcus Baker, Alhazen’s Problem. Its Bibliography and an Extension of the Problem, in: American Journal of Mathematics 4 (1881), S. 327–331. 154 P II, S. 301f. (mit Bezug auf Marcolongo; siehe auch Index von P I/II). 155 Auch auf dem Felde der Optik bzw. der Anatomie des Auges gibt es Arbeiten, die sich gewissermaßen Blatt für Blatt durch die Materie arbeiten (vgl. etwa Donald S. Strong, Leonardo on the Eye, New York 1979). 156 Eastwood und Bell gehen davon aus (Bruce Eastwood, Alhazen, Leonardo, and Late-Medieval Speculation on the Inversion of Images in the Eye, in: Annals of Science 43 (1986), S. 445f.; Janis C. Bell, Leonardo and Alhazen: The Cloth on the Mountain Top, in: ALV 6 (1993), passim). Fehrenbach verweist auf Witelo, in dessen Denken Alhazens De aspectibus ‹eingebunden› war (Frank Fehrenbach, Blick der Engel und Lebendige Kraft. Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit bei Leonardo, in: ders. (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 181, Fn 63). – Wenn neuerdings Alhazens mittelbarer Einfluss auf die Entwicklung des Perspektiv- und Bilderdenkens zum Thema der Bildwissenschaft geworden ist (vgl. Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008), so handelt es sich gleichsam um eine den hier verhandelten Fragen vorgelagerte Diskussion über ‹orientalische› Einflüsse auf die Kulturen der Renaissance. Zu Leonardos Zeiten hatte sich der in Frage stehende Einfluss, sofern man ihn wirklich festmachen kann und ihm eine fundamentale Bedeutung zuschreiben will, bereits dem Bilderdenken eingeschrieben. Hier sei bloß angemerkt, dass Leonardo auch einen neuerdings notorischen ‹Mittler› des Alhazen, nämlich Biagio Pelacani (Biagio da Parma; Blasius von Parma; vgl. Belting, a.a.O., S. 161ff.) selbst erwähnt bzw. zitiert (siehe R II, S. 373, Nr. 1496, mit Fn), allerdings, wie es scheint, nicht im Zusammenhang der Optik, sondern der Mechanik. 157 Bell, a.a.O., S. 93 (‹yet to be assessed›).
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Thomas von Aquin hatte ihn nicht mehr), doch man schätzte Al-Kindi hoch – als Mathematiker – und, wie zu zeigen sein wird, auch als Autorität auf anderen Gebieten.158 Hier – zunächst – sei bloß gesagt, dass Leonardo sich – einer Notiz zufolge – eine bestimmte Schrift des Mathematikers Al-Kindi (‹Alchino›) offenbar zu beschaffen wünschte und dass auch Al-Kindis Optik in die abendländische Tradition schon eingegangen war.159 Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang auch ein mathematischer Codex des im Barcelona des 12. Jahrhunderts tätigen Juden Savazorda erwähnt, dessen Incipit Leonardo exzerpierte. Schon Leon Battista Alberti, hier vielleicht die Anregung gebend, hatte sich auf diesen Autor bezogen.160 ‹Autoritäten› der Astrologie Der interkulturelle Vergleich der Sternbilder, in denen sich die jeweils vorhandene Flora und Fauna (samt imaginärer Zoologie und Mythologie) von der Erde auf den Himmel projiziert,161 stellt eine besonders reizvolle Aufgabe der Kulturgeschichte dar, die ihren Gegenstand über den vertrauten Raum der Betrachtung hinaus erweitert. Der Gürtel der Tierkreiszeichen stellt ein Segment der Sternbilder dar, und die Dreifachunterteilung der 12 Zeichensegmente nennt man ‹Dekane›. Aby Warburg fand in den Dekanen, wie sie der in Zentralasien gebürtige Albumasar (Abu Ma‘shar) aus diversen Kulturen vermittelte, einen Schlüssel, der ihm einen weiteren Bedeutungsgehalt italienischer Kunst der Renaissance, namentlich der Schifanoja-Fresken zu Ferrara, eröffnete.162 Nebenbei rehabilitierte Warburg (nicht als erster) eine Beschäftigung mit der Astrologie im wissenschaftlichen Raum, denn ohne die Lektüre diese Texte erschloss sich nicht die volle Bedeutung der Kunst, die einem sehr astrologiegläubigen Gesellschafts158 Grundlegend ist Charles Burnett, Al-Kindī in the Renaissance, in: Paul Richard Blum et al. (Hg.), Sapientiam amemus. Humanismus und Aristotelismus in der Renaissance, Festschrift für Eckhard Kessler zum 60. Geburtstag, München 1999, S. 13–30. 159 Bezüglich der Notiz siehe Solmi, S. 58f. Burnett ist, was die Mathematik angeht, weniger ergiebig. Bezüglich der Optik siehe Lindberg, a.a.O., vor allem auch S. 279 (Bezug auf Al-Kindi im LeonardoKapitel). 160 Siehe Paolo Galluzzi, Leonardo, Pacioli e Savasorda, in: Alessandro Vezzosi (Hg.), Leonardo e il leonardismo a Napoli e a Roma, [Kat.] Firenze 1983, S. 74–75; Solmi, S. 263f. – Beziehungen Leonardos zur jüdischen Gelehrtenkultur des Mittelalters oder der Renaissance sind praktisch keine auszumachen (auch hat sich Retis Vermutung im Hinblick auf Reti Nr. 95 (‹quadrante›) nicht durchgesetzt; siehe P II, S. 365). 161 Man vergleiche Leonardos ‹Prophetie› zum Thema der Planeten bzw. Tierkreiszeichen (TuA, S. 866; Marinoni Nr. 32: «E molti terresti e acquatici animali monteranno fra le stelle. E pianeti.»). Nachweislich hat er die Tierkreiszeichen 1490 – im Rahmen eines Bühnenbildes – dargestellt (vgl. N, S. 330f.; mit Zitat diverser Quellen). 162 Siehe Haupttext, Kap. 4. Warburgs Referenz war [Abū Ma‘shar bzw. Albumasar], [Buch VI der ‹Großen Einleitung›], hrsg. von Karl Dyroff, in: Franz Boll, Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, Leipzig 1903, S. 482–539.
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raum entstammte. Spätantike und Renaissance bilden zwei Höhepunkte der Geschichte der Astrologie.163 Was Warburg noch nicht wissen konnte: Auch Leonardo hatte ein Werk von Albumasar besessen. Welches, ist uns unbekannt, aber seit dem Wiederauffinden der beiden Codices von Madrid weiß man immerhin, dass Leonardos Bibliothek auch mit Werken bestückt war, die man zum pseudo-wissenschaftlichen Schrifttum zählen muss, wenn man moderne, aber auch, wenn man Leonardos eigene Maßstäbe anlegt.164 Albumasar steht für die Berührung Leonardos mit einer griechisch-indisch-persischen Astrologie, die dem europäischen Mittelalter nebst einer Möglichkeit der Geschichtserklärung eine Möglichkeit der Zukunftsschau (und teilweise auch der magischen Manipulation zukünftigen Geschehens durch Talismane) vermittelte. Die antike und mittelalterliche Astrologie, wie sie sich der Renaissance vermittelte, war ein Konglomerat aus mehreren Disziplinen.165 Dies rührte daher, dass man den Sternen einen ganz allgemeinen Einfluss auf das irdische Geschehen zuschrieb, der sich eben in allen Lebensbereichen ausprägte: in der Medizin, Landwirtschaft, Politik und Kriegskunst zum Beispiel, so dass die Orientierung an den Sternen in jeder Lebenslage eine Rolle spielte – eine bedingende Rolle, eine zeichenhafte oder beides zugleich. Aus diesem Konglomerat die Astronomie als eine exakte Wissenschaft herauszupräparieren, ist im Hinblick auf die Renaissance eine eher theoretische Übung. Und doch: An Leonardo, an seinen Maßstäben einer Kritik der Astrologie, an seinen harschen Worten unter anderem ist zu lernen, wie sich eine Scheidung der Diskurse in pseudo-wissenschaftlichen Unfug zum einen und auf Haltbarkeit und Überprüfbarkeit ausgerichtete, mathematisch gestützte Aussagesysteme zum anderen vorbereitet und anbahnt.166 Natürlich verortet man Leonardo auf der Seite der (modernen) Astronomie. Aus den pseudo-wissenschaftlichen Schriften in seiner Bibliothek dürfen keine falschen Schlüsse gezogen werden. Aber: Leonardo da Vinci kam mit besagter Gemengelage in ihrer ganzen Komplexität eben in Berührung. In anderen Worten: Er steht noch mitten in den Problemen, und die entsprechende Problemlage zeichnet sich im Bestand seiner Bibliothek auch ab. Der mit enormem Einfluss in Bagdad wirkende Albumasar (787–886), ein ehemaliger Spezialist der muslimischen Überlieferung (Hadith), gehört aus heutiger Sicht nicht zu den ganz Großen der muslimischen Wissenschaft;167 im Abendland allerdings, zur Zeit der Renaissance, galt er als eine der ersten Autoritäten der so genannten ‹judicial astrology›, die zwar auch auf mathematischer Berechnung der Planetenstellungen
163 Grundlegend jetzt: Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, in: Klaus Bergdolt / Walther Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 241–279. 164 Siehe Reti (Einleitung zur Buchliste). 165 Vgl. Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001, S. 95 (acht Subdisziplinen der Astrologie). 166 Hübner, a.a.O. 167 DoSB (David Pingree). Albumasar war ein Schüler des viel bedeutenderen und vielseitigeren Al-Kindi.
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basierte,168 aber auf Zukunfts- und zuweilen auch Geschichtsdeutung zielte, weil aus den Planetenkonjunktionen, ihrem Basistheorem zufolge, bestimmte Einflüsse auf das irdische Geschehen ausgingen.169 Wenn auch nicht alle Exponenten dieser Richtung der Astrologie das irdische Geschehen von den Sternen her determiniert ansahen – von Einflüssen, Tendenzen, von einer Bedingtheit der sublunaren Sphäre war grundsätzlich auszugehen. Was bedeutet es nun, dass Leonardo eine Schrift von Albumasar, einem der Väter des Konjunktionalismus, in seinem Besitz hatte, vielleicht gar die eigentliche Basisschrift (De magnis coniunctionibus)? Wir stehen vor gleichsam technischen Fragen – war ihm der mutmaßlich lateinische Text überhaupt zugänglich geworden –, aber vor allem vor dem Problem, das sich im Hinblick auf alle Quellen Leonardos stellt: War er auf der Seite eines bestimmten Autors und inwiefern, oder war er gegen ihn? Wie kritisch und unter welchem Gesichtspunkt las Leonardo Albumasar? Und was hatte diese Lektüre für Folgen? Es ist ein Horizont der Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, der hier (mangels eigentlicher Quellen) durchschritten werden muss. Leonardo konnte wie gesagt aus der astronomischen Komponente astrologischer Literatur durchaus Nutzen ziehen. Er konnte auch von Aspekten Kenntnis nehmen, die sich gleichsam nebenbei vermittelten (und uns zunächst gar nicht ins Auge fallen mögen), von religionsgeschichtlichen, islamkundlichen Inhalten etwa, oder von naturwissenschaftlichen, tierkundlichen Sachinformationen, die im Rahmen von indischen und persischen Sternbildkatalogen auch gegeben waren – all dies könnte der Fall gewesen sein, wenn Leonardo Albumasar gleichsam auch ‹gegen den Strich› las. Die griechische Astrologie hatte sich, wie schon Warburg fasziniert festgestellt hatte, auf einer langen, weiten Reise in den persischen und indischen Raum exotisiert und war in Form der Sternbildkataloge des Albumasar wieder zurück in den Okzident gekommen,170 zusammen mit der orientalischen Astrologie, die eben nebst griechischer Philosophie und anderen Wissensinhalten ins Abendland einströmte. Was immer Leonardo da Vinci an Albumasar interessierte: Mit ihm einverstanden – als einem Begründer der prognostischen Astrologie – war er sicherlich nicht. Abgesehen von den expliziten Äußerungen gegen die Astrologen als Zukunftsdeuter war es zu sehr Leonardos Anliegen, irdisches Geschehen aus irdischen Problemlagen der Geologie und der Erdgeschichte her zu erklären und nicht von einer Bedingtheit der Sterne her. 168 Pacioli hatte Albumasar nicht ohne Respekt erwähnt (Pacioli, Divina Proportione, a.a.O, S. 188). Allerdings richtete sich sein Werk – in der Version von 1498 – an den astrologiegläubigen Herzog von Mailand (vgl. Malaguzzi-Valeri, a.a.O., S. 354–364). Es könnte aber sein, dass Albumasar in astronomischer Hinsicht für Pacioli wie auch Leonardo trotzdem von Interesse war. 169 Auch die Geburtshoroskope berühmter Männer der Geschichte – auch der Religionsstifter – wurden erstellt (Hübner, a.a.O., S. 247ff. und 251). 170 Aby Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Horst Bredekamp et al., 1. Abt., Bd. I.2 (Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers), Berlin 1998 [urspr. 1912/1922; Reprint der Studienausgabe von 1932], S. 175 (nach Paginierung des Nachdrucks).
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Zudem: Die prognostische Astrologie, die Sintflutprognostik zumal, förderte eine Atmosphäre der Angst und des Katastrophenpessimismus, über den sich Leonardo zwar nicht explizit geäußert hat, auf den er aber nicht affirmativ reagierte – wiewohl auch ihn Katastrophen faszinierten –, sondern spielerisch, spöttisch und subversiv. Mit ‹Rätselprophetien› und – nicht zuletzt – den ‹armenischen Briefen›, in denen das Trugbild des Kometen im Osten – des Unheilszeichens par excellence, vor allem auch in der deutschen Astrologie – als ein Trugbild entlarvt wurde.171 Im Codex Leicester sodann hielt Leonardo fest, wie er sich Katastrophen wie die Flut erklärte, nämlich aus Bedingtheiten der Geologie, Meteorologie und – wenn man so will – Klimatologie. Was sollte er – vor diesem Hintergrund von Wissen – von ‹Autoritäten› der Astrologie halten, die eine Flutkatastrophe voraussagten, bloß weil im Haus der Fische eine Häufung von Planetenkonjunktionen bevorstand (eine Katastrophe, die sich, nebenbei bemerkt, im Jahre 1524 auch nicht einstellte)? Und: Wenn wir Leonardo auf der Seite der Astrologieskeptiker verorten, die nicht die Astrologie per se (d.h. in allen ihren Teilbereichen), sondern die Methoden der Prognostik und Zukunftsschau bekämpfen, sehen wir ihn sozusagen auch im Bunde mit Astrologiekritikern wie Sebastian Brant172 und Savonarola – gegen Astrologiegläubige wie etwa Papst Leo X. Die Frontstellung verläuft quer durch die Gesellschaften, auch durch das Christentum der Renaissance.173 Eine Universität wie Paris hatte den Konjunktionalismus 1277 verboten, eine andere (Wittenberg) ihre Gründung von einer günstigen Sternenkonstellation abhängig gemacht.174 Alchabitius und erneut: Al-Kindi Als ein weiterer Vertreter der arabischen Astrologie ist neben Albumasar auch Alchabitius zu nennen.175 Er fungiert wie Albumasar auf der großen Bücherliste im Codex Madrid I, nämlich im Eintrag ‹alcabitio vulgare del serigatto›.176 In diesem Eintrag sind gleich mehrere Bezüge zur Astrologiegläubigkeit der Zeit aufgehoben: Wenn Leonardo die Astrologie als Zukunftsschau auch ablehnte – er verkehrte offenbar sogar persönlich mit Protagonisten dieser Richtung. Denn Francesco Sirigatti, selbst Autor einer astronomischen oder astrologischen Schrift, übersetzte auch mehrere astrologische Werke, unter anderem von Bellanti, einem Befürworter der Astrologie (und Gegner Picos), 171 Siehe Haupttext, Kap. 4 und die Ausführungen im Weiteren. 172 Leonardo besaß eine, wahrscheinlich französischsprachige Ausgabe des Narrenschiffs (Reti Nr. 38). Bezüglich der Astrologiekritik darin siehe Hubertus Fischer, Grammatik der Sterne und das Ende der Welt. Die Sintflutprognose von 1524, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen 1988, S. 203. 173 Hübner, a.a.O., S. 255f., S. 251. 174 Ebd., S. 249, S. 252. 175 Beide Autoren auch in der Bibliothek des astrologiekritischen Pico (Pearl Kibre, The Library of Pico della Mirandola, New York 1936, S. 265, Nr. 1110 und 1111; S. 267, Nr. 1124). 176 Reti Nr. 32.
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wenn auch von einer Volgare-Übersetzung des Alchabitius nichts bekannt ist.177 Und Leonardo erwähnte Francesco Sirigatti, der wie Leonardo am Hofe Papst Leos X. dokumentiert ist, auch in einem anderen Zusammenhang.178 Als Gesprächspartner des Albumasar ist hier abschließend nochmals auf Al-Kindi zurückzukommen. Als viel bedeutendere Autorität der Philosophie und vieler anderer Wissensgebiete war Al-Kindi eben auch eine ‹Autorität› der Astrologie, die sich mit dieser auch unter dem Gesichtspunkt der Wettervorhersage befasste.179 Unter Leonardos Büchern, die im 1965 wiederentdeckten Codex Madrid I aufgelistet sind, findet sich ein Eintrag mit dem Titel De mutatione aeri. Dieser ist zunächst mit Firman de Beauvals Tractatus Firmini de Mutatione aeris identifiziert worden, gedruckt 1485 (ohne Nennung des Autors), und ein weiterer, alternativer Vorschlag brachte in diesem Zusammenhang den Namen Al-Kindi ins Spiel.180 Festzuhalten ist: In Firminus Schrift, die auch unter dem Namen Colliget astrologiae bekannt wurde, war die betreffende Al-Kindi-Schrift, die eben auch eine Komponente orientalischer Astrologie enthält, fast vollumfänglich eingegangen.181 Es handelte sich um ein astrologisch fundiertes Werk zum Thema ‹Wettervorhersage›. Auch über diese Schrift vermittelte sich Leonardo also, wenn man seine Maßstäbe zugrunde legt, ein Stück weit Pseudo-Wissen (wenn auch vielleicht nicht nur).182 Ob zu Unrecht oder nicht, in der deutschen prognostisch orientierten Astrologie nahm man auf Al-Kindi auch als Deuter der Kometen Bezug, es verband sich sein Name – in den Texten, die möglicherweise später die italienische Sintflutprognostik inspirierten – mit dem, aus Leonardos Sicht interessanten, aber auch fragwürdigen Phänomen des Kometen, denn an dem Himmelszeichen orientierte sich die Unheilsprophetik seiner Zeit183 unter Berufung auf Al-Kindi.184
177 Siehe DBI sowie P II, S. 358f. und S. 347. 178 Siehe ebd., S. 347 und Solmi, S. 266. Die Buchliste entstand lange vor Leonardos Römischem Aufenthalt. 179 Hübner (a.a.O., S. 252) nennt Al-Kindi als einen der Begründer des Konjunktionalismus. 180 P II, S. 363 (zu Nr. 78). Hier auch ein weiterer Verweis auf eine weitere, gleichnamige, aber nicht näher bestimmte Schrift im Rahmen einer Kompilation. 181 Burnett, Al-Kindī, a.a.O., S. 19. 182 Bezüglich des Inhalts von Al-Kindis – in lateinischer Form tradierter – Schrift siehe ebd., S. 18. 183 Siehe Fried, a.a.O., S. 69, bezüglich einer Aufzählung mittelalterlicher Unheilszeichen. Aus der Forderung nach einer Prüfung dieser Zeichen gingen eigentliche Modernisierungsschübe der mittelalterlichen Wissenschaft hervor (vgl. ebd., S. 45 und passim). Vgl. auch Haupttext, Kap. 4. 184 Burnett, Al-Kindī, a.a.O., Anhang mit Edition. – Im Zusammenhang mit dem Phänomen des Kometen zitierte man schon Mitte des 15. Jahrhunderts unter anderem Albumasar. Siehe Andreas Beyer, De significatione cometae. Guglielmo De Becchis Traktat «De Cometa» (1456) und sein Einfluss auf die bildliche Kometenikonographie in Florenz, in: ders. / Wolfgang Prinz (Hg.), Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. Jahrhundert, Weinheim 1987, [Edition] S. 200.
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Thabit ibn Qurra: Mathematik, Mechanik und Magie Thabit ibn Qurra ist einer jener vielen mittelalterlichen Autoren mit einer multiplen Identität. Es gibt einen historischen Thabit ibn Qurra (824/836–901), geboren auf dem Gebiet der heutigen Türkei, als den Stammvater einer regelrechten GelehrtenDynastie (auch sein Enkel gleichen Namens ist bekannt geworden).185 Doch dem europäischen Mittelalter und der Renaissance ist ‹Thebit› bzw. ‹Tebit› in erster Linie ein Name, assoziiert mit nüchterner Mathematik, mit Astronomie, mit einem Traktat der Mechanik (dem Liber karastonis) oder mit dem Okkultismus (in Form von Bildzauber).186 Der Eintrag ‹Picatrix Tebit› findet sich im Inventar von Picos Bibliothek.187 In Ms. M (11r) notierte sich auch Leonardo diesen Namen, d.h. er notierte ‹Tebit› – und sonst nichts.188 Man hat darauf hingewiesen, dass Luca Pacioli Thabit ibn Qurra in seiner Summe der Mathematik erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit der Konstruktion von Dreiecken, also im Rahmen von nüchterner Mathematik. Es ist möglich, dass sich Leonardo darauf bezieht.189 Andererseits findet sich in Ms. M auch jener Verweis auf ‹Hermes, Philosoph›, der in eine ganz andere, die okkulte, hermetische Richtung zu deuten scheint.190 Die Sekte der Sabäer, welcher der syrische Mathematiker, Astrologe/Astronom, Magier und Physiker angehörte, betrachtete die Figur des Hermes Trismegistos als einen Propheten, und es ist eine Möglichkeit, dass Leonardo in einem gemeinsamen Zusammenhang sowohl von ‹Tebit› wie von ‹Ermete› Kenntnis nahm. Und zum dritten hat man angenommen, dass Leonardo, dem Ingenieur, auch die Mechanik des Liber karastonis, zumindest im Grundsätzlichen, bekannt gewesen ist (wenn auch vielleicht nicht über das Traktat selbst vermittelt).191 185 Thomas F. Glick / Steven J. Livesey / Faith Wallis (Hg.), Medieval Science, Technology, and Medicine. An Encyclopedia, New York/London 2005, S. 472f. (Charles Burnett); DoSB; Donald R. Hill, Islamic Science and Engineering, Edinburgh 1993, S. 12; Vernet, a.a.O., S. 24 (Enkel). 186 Siehe Vernet, a.a.O., S. 137 (Mathematik), und Francis J. Carmody, Notes on the Astronomical Works of Thâbit b. Qurra, in: Isis 46 (1955), passim und S. 235 (mit Hinweis auf den Bildzauber bzw. auf De imaginibus). Siehe außerdem Vernet, a.a.O., S. 168. 187 Kibre, a.a.O., S. 263 (Nr. 1091). Vermutlich handelt es sich um De imaginibus zusammen mit dem Picatrix. 188 Die Notiz, auch den Anthologien, etwa bei R II, S. 374, Nr. 1496A; oder in Scritti scelti, ed. Brizio, a.a.O., S. 664. 189 Vgl. Vernet, a.a.O., S. 137. 190 Marinoni hat erwähnt, dass der Name im alchemistischen Schriftgut der Renaissance auftaucht (Augusto Marinoni, La biblioteca di Leonardo, in: RV 22 (1987), S. 302). In der Edition des Ms. M gibt er indes nur den Hinweis auf Pacioli. 191 DoSB (Art. ‹Leonardo da Vinci›, [Bd. 8], S. 222). Vgl. auch Galuzzi (a.a.O., S. 75), der auf einen möglicherweise von Leonardo benutzten handschriftlichen Codex hinweist, der sowohl das Liber embadorum des oben erwähnten Savazorda als auch das Liber karastonis enthält. – Im weiteren Zusammenhang seien hier auch die beiden Autoritäten der Ingenieurskunst zumindest erwähnt,
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Drei Möglichkeiten, die alle etwas für sich haben. Man mag in ihnen drei Gesichter Leonardos, den Leonardo der Überlieferung in dreierlei Gestalt, erkennen. Auch mit seinem Namen haben sich im Laufe der Zeit höchst unterschiedliche Vorstellungen verknüpft. Wen der historische Leonardo allerdings in dem Moment im Auge hatte, als er den Namen ‹Tebit› aufschrieb, steht dahin.
4. Dante, Mandeville und der Islam Leonardo da Vinci hat sich nicht eigentlich über den Islam verbreitet, aber geschwiegen hat er diesbezüglich auch nicht. Es gibt einen Text, der hier betrachtet werden muss, und dieser Text, die ‹Fabel von Mohammed und vom Wein›,192 ist im Rahmen der Leonardo-Deutung nie ein wirklich prominenter Text gewesen.193 Dies ist auch kein Wunder, nötigt dieser Text doch, das Unappetitliche, Degoutante mit dem Geheiligten der anderen Religion zusammenzudenken. Und es nötigt dieser Text zu sehen, wie eben Leonardo da Vinci dies tat. Ein betretenes Schweigen, das sich hier leicht einstellt, kann aber nicht die Antwort der Leonardo-Philologie auf diesen Text sein. Vielmehr sollte eine Analyse in der Lage sein, ihn in die kulturelle Umgebung Leonardos einzuordnen. Und das heißt auch, in eine Umgebung einzuordnen, die sich nicht nur per se schwer tat mit der anderen Religion, sondern die sich auch schwer tat, auf sachlicher Ebene überhaupt ein kohärentes Verhältnis zu ihr zu entwickeln. Dante, als die umfassende Autorität, hatte in Mohammed einen Schismatiker gesehen, einen Spalter der Christenheit, und ihn in der Hölle folglich einer dem Glaubensspalter gemäßen Strafe zugeführt:194 Vom Kopf bis zum Anus gespalten quollen ihm die Eingeweide aus dem offen klaffenden Leib.195 Und aufgrund dieser Vorstellung hat sich auch eine Bildtradition entwickelt, eine Tradition der Dante-Illustration und -Interpretation, die von Sandro Botticelli bis in die Kunst des 20. Jahrhunderts (Salvador Dalí und andere) hinein reicht.196 die im alexandrinischen bzw. byzantinischen Osten gewirkt haben: Philon von Byzanz (DoSB; Reti Nr. 106) und Heron von Alexandria (DoSB; Solmi, S. 143–146). 192 CA 188r [ex67r-b]; TuA, S. 829; David Marsh, Renaissance Fables: Aesopic Prose by Leon Battista Alberti, Bartolomeo Scala, Leonardo da Vinci, Bernardino Baldi, Tempe (Arizona) 2004, S. 292f. 193 Solmi hatte dereinst den Bezug zur älteren Literatur über die abendländische Mohammed-Legende hergestellt (Solmi, S. 309, Fn 3). Aber dieser Bezug ging im Laufe der Zeit mehr oder minder verloren. – Pedretti, der sich eines inhaltlichen Kommentars des Textes enthielt (siehe P II, S. 272), datierte auf ‹ca. 1493›, d.h. vor Entstehung des Cenacolo (siehe diesbezüglich erneut Z I, S. 185f.). 194 Siehe etwa Gotthard Strohmaier, Dante – gelesen mit den Augen eines Orientalisten, in: Deutsches Dante Jahrbuch 79/80 (2004/05), S. 63–71. 195 Auch Edward Said hatte – in seiner klassischen Studie – auf Dante verwiesen (Edward W. Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1991 [urspr. 1978], S. 68f.). 196 Bezüglich Botticelli siehe Hein-Th. Schulze Altcappenberg (Hg.), Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie, Ostfildern-Ruit/London 2000 [Kat. Berlin 2000], insbesondere S. 114f.
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Die Intention von Leonardos ‹Fabel›197 ist es nun zunächst ganz simpel, im Medium einer Erzählung eine Erklärung des muslimischen ‹Weinverbots› zu geben, und zwar nicht argumentativ zu geben, sondern erzählerisch vor Augen zu führen. Die ‹Fabel› ist aus der Perspektive des Weins erzählt, der sich auf der Tafel Mohammeds vorfand, und es ist in dem Text – womöglich nicht ganz ohne einen Zusammenhang mit Dante – nun auch die Rede von Mohammeds Eingeweiden.198 Sie quollen nicht heraus, aber aus der Perspektive des Weins galt es zu verhindern, in diese ‹stinkenden Höhlen des Körpers› herabzusinken, und der Wein rief deshalb um Hilfe. Konkret rief er Jupiter um Hilfe an. Jupiter – und nicht eigentlich der Wein – verwirrte in der Folge Mohammed die Sinne. Nachdem sein Rausch aber vorbei war, gewahrte er der ‹Torheit›, die er im Rauschzustand begangen hatte, nämlich – wie Leonardo in einer Randglosse vermerkt – den Totschlag eines Freunds. In der Konsequenz verhängte Mohammed daraufhin ein Verbot des Weins in ‹Asien›.199 Die Traube war – auf diesem Kontinent – davon gekommen.200 Das ‹Weinverbot› als ein Problem In den Gesellschaften der Renaissance war weniger ein Wissen über den Islam verfügbar als eine Gemengelage aus falschen Vorstellungen, Halbwahrheiten, Propaganda im Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Leonardos Text und Botticellis Dante besteht, kann hier nicht behandelt werden. So weit ich sehe, ist die Frage noch nie abgehandelt worden. 197 Der Text erscheint im Zusammenhang von Leonardos ‹Fabeln›, ist aber nicht eigens – was teilweise vorkommt –, als eine solche ausgewiesen (siehe TuA, S. 825ff.). Man hat diverse gattungsmäßige Einordnungen vorgeschlagen, aber ganz befriedigend ist weder die Rubrizierung als ‹Legende›, ‹Fabel›, ‹Schwank› oder ‹Fazetie› (Richter rubrizierte den Text unter ‹Jests and tales›). Man könnte von Kurzprosa (oder einer kürzeren Erzählung) sprechen, die etwas von jeder dieser Gattungen hat, ohne doch einem Typus ganz zu entsprechen. Es liegt demnach eine Mischform vor, die sich der Einordnung entzieht. 198 Zitiert nach TuA, S. 829: «‹[…] Sehe ich [der Wein] denn nicht, dass der Tod mir nahe ist, dass ich schon bald die goldene Wohnung dieses Bechers verlassen und in die garstigen stinkenden Höhlen des menschlichen Körpers eingehen werde, um mich dort aus einem köstlich riechenden Nass in abscheulich trüben Harn zu verwandeln? Und als ob soviel Übel nicht genüge, muss ich denn wahrscheinlich noch lange Zeit in diesen scheußlichen Behältern liegen mit andern stinkenden und halb verwesten Stoffen aus den menschlichen Eingeweiden!›» 199 Leonardo setzt zweimal an zu diesem Text. Im ersten Anlauf – und es ist das einzige Mal, dass er dieses Adjektiv überhaupt hat – spricht er von ‹muslimischen Weltteilen›, die er aber nicht näher spezifiziert. Im zweiten Anlauf fehlt diese Spezifizierung ganz. Leonardo schließt jedoch mit dem Verweis auf ‹Asien›, als der ‹Region›, in der – ihm zufolge – der Wein schließlich ‹verboten› wird. 200 Ein interessanter Bezug zum ‹Diodario-Material› ergibt sich, indem Leonardo die Trauben, «die dieses Land hervorbrachte» als «die schönsten und besten Trauben auf der ganzen Welt» ausweist (TuA, S. 829). Denn Alberti – in der Baukunst – verweist auf die bemerkenswerte Traube, die Strabon zufolge nördlich des Taurusgebirges wuchs (Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. von Max Theuer, Darmstadt 1988 [Nachdruck der Ausgabe von 1912], S. 182: «Trauben von zwei Ellen Länge und von einem Weinstock allein werde eine ganze Amphore […] voll»).
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Dienste der Religionspolemik, durchsetzt von einigen Rinnsalen mehr oder minder korrekter Sachinformation.201 Es stellte also ein grundsätzliches Problem dar, weil dazu meist die Informationsbasis fehlte, sich auf die andere Religion überhaupt einen Reim zu machen. Und das ‹Weinverbot› bzw. die ‹Weinproblematik› in muslimischen Kulturkreisen stellte vor diesem Hintergrund sozusagen eines von mehreren Sonderproblemen dar (etwa neben der Sonderproblematik ‹Bild›).202 Es war dieses ‹Weinverbot› zum einen ein bloßes lebensweltliches Kuriosum, das man eben zum Anlass nahm, einen möglichst originellen Plot zu spinnen, der es – mehr oder weniger sinnreich – erklärte. Leonardo da Vinci war einem Glas Wein bei Tisch nicht abgeneigt (obschon er dem Wasser offenbar den Vorrang gab).203 Und der Herzog von Mailand hatte ihm – als dem Maler des Cenacolo – letztlich die Dienste gelohnt, indem er ihm ein Weingut überschrieben hatte. Es ist deswegen nicht schwierig, sich vorzustellen, dass Leonardo in dem ‹Weinverbot› ein kulturelles Kuriosum sah. Es könnte – als ein Thema und eine Motivik – von daher in die literarische Kommunikation in seinem Werkstattumfeld hineingefunden haben –, mit der Folge, dass in dem Text vornehmlich eine Art von Werkstatthumor zum Tragen kommt. Andererseits: Auf theologischer Ebene stellte das ‹Verbot› einen nicht ganz unbedeutenden Reizpunkt dar, weil es die christliche Kultpraxis, die im Rahmen der Eucharistiefeier ja auf den Wein bzw. auf seine Wandlung abhob, indirekt zu sabotieren schien.204 Und es war – nicht zu vergessen – der Maler des Cenacolo, der diese Problematik aufgriff. 201 Siehe beispielsweise die konzisen Zusammenfassungen bei Folker E. Reichert, Von Mekka nach Malakka? Ludovico de Varthema und sein Itinerar (Rom 1510), in: Xenja von Ertzdorff (Hg.), Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 17f., sowie EI (Art. ‹Mohammed›). Einen neueren Überblick über die Mohammed-Legende, auch mit Bezug auf die ältere Literatur (D’Ancona) gibt Peter Engels, Das Bild des Propheten Mohammed in abendländischen Schriften des Mittelalters, in: Hans-Jürgen Kotzur (Hg.), [Kat.] Kein Krieg ist heilig. Die Kreuzzüge, Mainz 2004, S. 249–263 (bezüglich des ‹Weinverbots› siehe S. 256). 202 Einen medizingeschichtlich akzentuierten Überblick über die Problematik gibt Brandenburg, a.a.O., S. 20–22. Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Entstehung des ‹Verbots› vor dem Hintergrund der negativen Folgen übermäßigen Weingenusses in heißen Klimazonen zu sehen ist und schrittweise erfolgt sein dürfte (einen Zwischenschritt stellte wohl ein Verbot des Betens im betrunkenen Zustande dar). Trotz der Negativtendenz des Korans bleibt ein kleiner Rest an Ambivalenz bestehen, der in einer – nicht ganz so kleinen – kulturellen Ambivalenz resultiert (Brandenburg spricht von einer ‹labilen Haltung›): extremste Ablehnung bis hin zum Ausreißen der Reben und dem Verbot des Rosinenhandels stehen liberalen Auslegungen und Praktiken insbesondere im Einflussbereich der hanafitischen Rechtsschule gegenüber. Avicenna – zum Beispiel – war dem Wein nicht abgeneigt, plädierte aber zugleich für Mäßigung (siehe Strohmaier, Avicenna, a.a.O., S. 24). 203 Siehe William A. Emboden, Leonardo da Vinci on Plants and Gardens, London 1987, S. 185. Man vergleiche auch die Alltagsnotizen (Einkäufe), gegeben zum Beispiel bei R II, S. 383ff., Nr. 1544ff., und TuA, passim (z.B. S. 212, 595, 617, 628ff., 894, 910, 918, 920). Bezüglich des Weinguts siehe M/V, S. 343, Nr. 13 und R II, S. 389, Fn 1 [Lit.]. – Bezüglich der Erwähnung eines nicht-alkoholischen türkischen Getränkerezepts vgl. Synopse, Sektion ‹Das Osmanische Reich›. 204 Ganz-Blättler, a.a.O., S. 197 (‹Provokation gegenüber dem Sakrament der Kommunion›).
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Nicht auf einer theologischen (oder gar offen religionspolemischen) Ebene wohlgemerkt. Aber ein despektierlicher Subtext war der Fabel fraglos eigen: Erstens assoziierte sich in diesem Text das Abstoßende mit dem Geheiligten der anderen Religion (wobei zu erwähnen ist, dass Leonardo Mohammed nicht als den Propheten sieht); und zweitens wurde hier auf Kosten Mohammeds gelacht. Denn er wurde sozusagen das Opfer einer Aktion des Weins. Das ‹Verbot› bedeutete, dass es dem Wein gelang, davon zu kommen. Der Wein – in seinem Wollen – siegte also gewissermaßen und unter tätiger Mithilfe des obersten Heidengottes über Mohammed. Wenn der Text also die theologische und religionspolemische Ebene auch in seiner Hauptlinie unterlief und eher eine Antwort auf die Herausforderung darstellt, als ein erfinderischer Erzähler zu glänzen, sollte über den despektierlichen Subtext doch nicht hinweggesehen werden. Leonardos Text ist nicht respektvoll. Andererseits: Um Religionspolemik im engeren Sinne handelt es sich auch nicht. Wir können dem Text keine wirkliche Antwort bezüglich Leonardos Haltung zum Islam entnehmen. Ein Einzelbeleg taugt nicht dafür, ein so diffiziles Problem zu klären. Was vorliegt, ist ein Indiz, und es ist immerhin möglich, den kulturellen und literarischen Kontext noch weiter zu erhellen, in dem die ‹Fabel› letztlich steht. Dies ist im Folgenden versucht. Formale Anregung Es gibt keine eigentliche Vorlage für Leonardos Text. Aber es gibt – Dante einmal außer Acht gelassen – zumindest zwei Texte, die erstens mit Leonardos Text verwandt sind und die sich zweitens auch in seinem Besitz befunden haben. Mandeville (bzw. der Autor von Mandevilles Reisen) hatte in einem einschlägigen Kapitel der Reisen vorgeführt, wie man das Weinverbot im Medium einer – hier eher legendenhaften – Erzählung erklärte und dergestalt gewissemaßen auch ‹bewältigen› konnte.205 Eine ‹Vorgeschichte› führte hin zu dem Punkt, an dem Mohammed das ‹Weinverbot› verhängt. Somit war, was die grundsätzliche formale Erzählanlage betrifft, ein Vorbild gegeben. Doch abgesehen von dieser formalen Anlage und einer Motivübereinstimmung unterscheiden sich die Texte doch in vielen Punkten. Zunächst: Während Leonardo einen Totschlag erwähnte, den Mohammed im Rausch begangen hatte, also gewissermaßen bei verminderter Zurechnungsfähigkeit, so wurde ihm bei Mandeville der Mord an einem Einsiedler – begangen in Wirklichkeit von Mohammeds eifersüchtigem Knecht – bloß untergeschoben. In Leonardos Text kamen Zecher, eine Tafel und ein goldenen Becher vor; Mandevilles Szenario hingegen spielte in einer Wüsteneinöde und Jupiter – vor allem – tauchte darin überhaupt nicht auf. 205 [Mandeville], a.a.O., S. 166f. – Auf Mandeville eher als ‹Quelle› denn als ‹Anreger› ist verschiedentlich verwiesen worden. Siehe etwa Leonardo omo sanza lettere, hrsg. von Giuseppina Fumagalli, Firenze 1952 [zuerst 1939], S. 214, Fn 1.
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Wenn sich Szenario und konkrete Ausgestaltung auch unterschieden, in beiden Fällen war das ‹Weinverbot› aber doch die letztendliche Konsequenz einer Tötung, die im Rausch tatsächlich (wie bei Leonardo), bzw. vermeintlich (wie bei Mandeville), begangen worden war. Der Wein vernebelte die Sinne, dies die Logik der Erzählungen, und daraus erwuchs Unheil. An diese Erfahrung anzuknüpfen stellte kein Problem dar. Man fand eine – kulturübergreifende – Gemeinsamkeit. Die Randglosse Leonardos, in der er den Totschlag als die eigentliche Wahnsinnstat vermerkt, ist der marginale Hinweis, dass er sich möglicherweise tatsächlich auf den Text Mandevilles bezog.206 Dennoch hat Leonardo die ‹Aufgabe› grundsätzlich ganz anders gelöst als Mandeville. Zwar hatte er möglicherweise eine erzählerische Grundidee und eine formale Anlage mehr oder minder übernommen, aber sein Text stellte im Grunde eine vollkommen unernste Travestie von Mandevilles Bemühung dar. Denn Leonardo war es nicht um eine ernsthafte islamkundliche Lektion zu tun. Die ‹Erklärung› des Weinverbots zielte daran – möglicherweise bewusst – vorbei. Leonardos ‹Fabel› hatte nicht im Mindesten den Anspruch, eine ernsthafte Erklärung eines irritierenden Tatbestands zu geben. Sie nahm das Thema zwar auf, glitt aber ab in die Regionen des Unterleibs und bewegte sich vollkommen auf einer ‹phantastischen›, ‹fabelhaften› Ebene. Eine Norm zu beleuchten, die im Übrigen auch im islamischen Raum nicht unumstritten war,207 war nicht seine Absicht. Hier wurde nicht aufgeklärt oder ein kulturübergreifendes Ordnungsraster vorgestellt, 208 sondern es wurde ein Thema zum Anlass, Erfindungsgabe vorzuführen und auf derbe Art Effekt zu machen. Aber möglicherweise verrät sich Leonardos Haltung dennoch in der Selbstverständlichkeit, mit der eben das Heiligste der anderen Religion in diese Erzählkonstruktion mit einbezogen wurde. Bzw. es reproduzierte sich eine allgemeine Erwartung, wie über den Islam zu sprechen war, nämlich respektlos. Leonardo, sich von Mandeville gleichsam abstoßend, gab sich hier gewiss nicht seriös. Mandeville dagegen, wie wir aus der neuesten Rezeptionsforschung wissen, galt 206 Richter hatte das Textfragment als letzten Abschnitt von Paragraph Nr. 1282 gegeben (siehe R II, S. 287f.). Marie Herzfeld – in der von ihr verantworteten Anthologie – wies vorbildlicherweise darauf hin, dass es sich um eine Randglosse handelt. Siehe Leonardo da Vinci. Der Denker, Forscher und Poet, hrsg. von Marie Herzfeld, Leipzig 1904, S. 244. 207 Einem Hinweis Hammer-Purgstalls zufolge versuchte Bayezid II. einmal, das ‹Weinverbot› konsequent durchzusetzen, stieß aber auf den Widerstand der Janitscharen, welche die Tavernen stürmten (Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 2, Pest 1828, S. 351; es wäre zu untersuchen, ob hier nicht möglicherweise eine topische Schilderung zugrunde liegt, die nicht buchstäblich gelesen werden sollte). – In der anti-safawidischen Propaganda spielte das Motiv einer angeblichen ‹Aufhebung des Weinverbots› eine Rolle. Siehe Hannes Möhring, Der andere Islam. Zum Bild vom toleranten Sultan Saladin und neuen Propheten Schah Ismail, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 153f., und AuA I, S. 62. 208 Man vergleiche die listenartige Gegenüberstellung der Sitten und Bräuche bei Christen und Muslimen, die ein bekannter Text über das Heilige Land enthält (Francesco Suriano, Il Trattato di Terra Santa e dell’Oriente, hrsg. von Girolamo Golubovich, Milano 1900, S. 199): «Nui bevemo vino e loro [die Muslime] l’aqua».
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durchaus als ein solcher seriöser Autor. Die Reisen wurden als seriöses Auskunftsmittel, als Weltkunde gelesen und benutzt. Und besonders eifrig glossiert wurden, auch dies ist bekannt, die einschlägigen Abschnitte über den Islam.209 Die Absurdität des ‹Weinverbots› Wenn Leonardo formal von Mandeville beeinflusst war, so war er es – in seiner Erzählhaltung – möglicherweise von Luigi Pulcis Morgante. Hier kam das Burleske zum Tragen, auch die derbe Komik und en passant – in einer der berühmtesten Passagen des Morgante – wurde auch das ‹Weinverbot› gestreift. Es wurde aber nicht seiner Entstehung nach erklärt, sondern vielmehr aus dem Munde einer Figur zu einer Absurdität erklärt. Es äußert sich in diesem Sinne der ‹Halb-Gigant› Margutte, der selbst ‹östlicher›, nämlich türkisch-griechischer Abkunft ist und ein freimütiger Sünder in fast jeder Beziehung, vor allem aber der Anhänger eines ‹kulinarischen Glaubensbekenntnisses› und somit eine gargantueske Figur avant la lettre.210 Aus der Sicht dieser bzw. einer solchen Figur stellt das ‹Weinverbot› schlicht einen ‹Albtraum› dar. Es ist ihm unverständlich und mit einem Wort: absurd.211 Die Margutte-Episode, bekannt auch für ihre frivol-ambivalente Behandlung alles Religiösen, ist nicht auf einen eindeutigen Sinngehalt hin auszulegen, weder auf Despektierlichkeit gegenüber dem ‹Weinverbot› (denn Despektierlichkeit – im Munde des Sünders –. verkehrt sich in ihr Gegenteil) noch auf einen affirmativen Moralismus hin (der das Verbot bestätigt). Aber aus dem Munde des freimütigen Bekenners und Sympathieträgers Margutte war hier zu hören, was sicherlich eine durchaus gängige Meinung war: dass es eher absurd war, den Genuss des Weins so strikt zu untersagen. Leonardo scheint also beiden Autoren, auf je eigene Weise, verpflichtet zu sein: Von Mandeville borgte er die Grundidee, das ‹Weinverbot› – wie ernsthaft auch immer – zu erklären, und zwar im Medium einer Erzählung. In dem Text kam dann zwar nicht eigentlich Pulcis Ambivalenz, sondern eher Marguttes Haltung zum Tragen. Denn indem man dem ‹Weinverbot› mit einer absurden, in Unterleibskomik abrutschenden ‹Fabel› begegnete, wurde das Thema – ziemlich hemdsärmelig – als eine Absurdität gleichsam rubriziert.
209 Siehe Rosemary Tzanaki, Mandeville’s Medieval Audiences. A Study on the Reception of the Book of Sir John Mandeville (1371–1550), Aldershot 2003, S. 225. 210 Morgante, XVIII, 112ff. Bei mittelalterlichen Turnieren wurden die lebensgroßen Holzmodelle ‹sarazenischer› Krieger, die als Demonstrationsobjekt der Kriegskünste der mittelalterlichen Ritter dienten, als ‹Margutte› bezeichnet (ebd., S. 849 [Kommentar]). 211 Morgante, XVIII, 116f. («And since a bucket I could use for glass, / Mohammed, who forbids and censures wine, / is – I believe – a ghost, a dream of mine; / just as Apollin must some madness be, / and Trivigant – who knows – a witches’s ball.»).
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Islamkundliches in Leonardos Bibliothek? Wir können einen erneuten Blick in Leonardos Bibliothek wagen und uns fragen, welche islamkundlichen Informationen ihm überhaupt greifbar waren. Damit versuchen wir – in einem weiteren Schritt – die ‹Fabel› in den intellektuellen Kontext zu stellen, dem sie auch entstammt. Mandeville und Pulci – die beiden Autoren zusammengenommen – stehen gleichsam für die oben erwähnte ambivalente Gemengelage an Wissen und Halbwahrheit. Mandeville, um es nochmals deutlich zu sagen, war gewissermaßen der seriöse Autor, der auch belehren wollte – in einer Art zweiteiligen Nachhilfelektion, was ein Wissen über den Islam anging.212 Und das Bild der anderen Religion, das sich so vermittelte, war ein vergleichsweise günstiges Bild. Pulcis Text dagegen ist sichtlich von den zeittypischen Spannungen und Ängsten des Quattrocento durchzogen und gar in Jahren virulenter Türkenfurcht entstanden. Im Jahre 1480 setzten die Osmanen nach Otranto über, und Pulci erwähnte Mohammed in fast jedem ‹Gesang›.213 Dennoch überlagert der burleske Gestus gewissermaßen den Ernst der Lage. Der Islam wurde beispielsweise – zum Zweck der Eroberung einer Dame – flugs theologisch widerlegt.214 Und wie in der Rolandsepik üblich maßen sich die Ritter mit den Sarazenen, fochten mit Waffen (und dem mehr oder minder derben Wort). In Bezug auf die andere Sonderproblematik (neben dem ‹Wein›), nämlich in Bezug auf die Sonderproblematik ‹Bild›, die zu durchschauen man sich auf abendländischer Seite ebenfalls nicht leicht tat (obwohl es in biblischer Tradition entsprechende Problemzonen gab),215 kam eine Sicht der Dinge zum Tragen, die das Eigentliche regelrecht ins Gegenteil verzerrte. Denn falls Leonardo von diesem Ritterroman her auf die Realität der visuellen Kultur in islamischen Kulturräumen geschlossen haben sollte, unterlag er einem typischen Irrtum der Abendländer: Denn auf die andere Religion, die – unter anderem aus Idolatrie-Furcht – von einem starken Vorbehalt dem figürlichen Bild gegenüber geprägt war, projizierte man – eben den Vorwurf der Idolatrie. Die Sarazenen – in der Optik der Rolandsepik – waren Götzendiener; und ihr Götze, dargestellt in vielfältiger Form, auch in Gold und Silber,216 war Mohammed, oftmals gezeigt als Teil einer Dreiheit von Götzen, d.h. als Teil einer Travestie der Trinität.217 212 [Mandeville], a.a.O., S. 158–162 (‹Vom Glauben der Sarazenen›; Mandeville bezieht sich hier explizit auf den Koran); S. 165–167 (‹Über Mohammed›; das Glaubensbekenntnis auf S. 167; im Anschluss daran ein Getränkerezept). 213 Siehe Index der englischsprachigen Ausgabe, S. 974 («found in all cantos of the poem except XI and XVI»). Auch der Koran findet Erwähnung in XXV, 240. 214 Vgl. Morgante, VIII, 9ff. 215 Man denke an das Motiv der Trunkenheit Noahs bzw. Lots. Bezüglich der Idolatrie-Problematik vgl. auch Vasaris Vorrede zu seinen Viten ([Giorgio Vasari], Le opere di Giorgio Vasari, hrsg. von Gaetano Milanesi, Bd. 1, Firenze 1973 [Nachdruck der Ausgabe von 1906]), S. 217. 216 Morgante, IX, 3; XII, 43. 217 EI; Engels, a.a.O.; Camille, a.a.O., S. 142f.
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Die Ritterepik – in diesem Punkt – hatte möglicherweise sogar auf die ‹Fabel vom Wein und von Mohammed› abgefärbt, indem diese nämlich sowohl Mohammed als auch Jupiter als handelnde Figuren zeigt. Obschon natürlich keine Travestie der Trinität im Spiel war und Jupiter in der Kultur der Renaissance – sozusagen – allgegenwärtig ist. Als entsprechende Anregung dieser ‹Begegnung› kommt ein im Besitz Leonardos nachgewiesenes Ritterbuch in Frage, das sowohl Mohammed als auch Jupiter als Teil einer Aufzählung von ‹Göttern› hat (hier einer Vierheit) – es trägt den Titel Attila Flagellum Dei.218 Eine ganze Reihe von traditionellen zeittypischen Annahmen über den Islam können des Weiteren aus Leonardos Bibliothek gewissermaßen destilliert werden. So begegnen wir im Guerino Meschino, dem weiter oben schon erwähnten Reisebuch, der Vorstellung von dem schwebenden Sarg Mohammeds.219 Wir begegnen der nüchternen Feststellung, dass sich Christen und ‹Sarazenen› in Glaubensdingen unterscheiden (und deshalb nicht mögen)220 und auch der burlesker inszenierten Religionspolemik von Pulci,221 der auch den ‹Heidenkampf› derb ausgestaltete, etwa wenn er den Titelhelden einen Muezzin – mit einem gewaltigen Wurf – vom Minarett ‹herunterholen› ließ.222 Günstig war wie gesagt das Bild, das sich durch Mandeville vermittelte. Aber Leonardos Exemplar der Reisen – man würde nur zu gerne sehen, ob er es glossierte – liegt uns nicht vor. Es ist nicht möglich zu zeigen, ob und wie Leonardo sich im Hinblick auf Islamisches, Kultur und Religion hier in eins gesetzt, eine eigene Meinung gebildet hat. Wir können die zeittypische negativ gefärbte Ambivalenz wiedererkennen, wenn wir seine Bibliothek studieren. Wir stellen fest, dass nur ein einziger Text vorliegt, der Islamisches ganz unmittelbar anspricht. Wir stellen weiter fest, dass es sich um einen zwar despektierlichen Text handelt, aber nicht um eigentliche Religionspolemik. Und wir fragen uns, ob Leonardo – in einem anderen ‹Register› sprechend – möglicherweise auch einen Kontrapunkt zu der ‹Weinfabel› gesetzt hätte. Indes: Es fehlt uns an Belegen.
218 Es handelt sich um Reti Nr. 45 (‹Atila›). Für die erwähnte Aufzählung siehe Niccolò da Casola, La Guerra d’Attila, hrsg. von Guido Stendardo, Bd. 2, Modena 1941, S. 288, Zeile 4920f. («Et par Mahomet, son deu, et Jupiter ausie, / par Trivigant et Apolin et Diaine, sa die.»). Vgl. auch das oben gegebene Margutte-Zitat mit der traditionelleren Trias. 219 Guerino, a.a.O., S. 125; den motivgeschichtlichen Kontext gibt Reichert, Mekka, a.a.O. Vgl. auch KdE, S. 396. 220 Folker E. Reichert, Geographie und Weltbild am Hofe Friedrichs II., in: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 51 (1995), S. 470 (mit Zitat aus der Physiognomia des Michael Scotus in Fn 157). 221 Vgl. die ‹Meridiana-Episode›, Morgante, VIII, 9ff. 222 Morgante, XIX, 178 («torrïone» – ‹Minarett›; «talacimanno» – ‹Muezzin). – Die Liste ließe sich verlängern: Aus Albumasar konnte Leonardo theoretisch die Information entnehmen, dass es sich beim Islam um einen Monotheismus handelte, der auch zum Christentum teilweise in enger Beziehung steht (man denke etwa an das Motiv der Sintflut). Weitere Motivbruchstücke enthielt die Novellistik (Masucchio). – ‹Safar›, der Name des zweiten Monats des muslimischen Kalenders, kommt im Incipit des Savazorda-Codex vor, das sich Leonardo notierte (siehe oben).
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Es war möglich – in Bezug auf ein islamkundliches Wissen – hinter Mandeville zurückzufallen. Und diese Möglichkeit ist es, die sich in der ‹Weinlegende› auch andeutet, allerdings als ein ganz bewusstes Zurückfallen, nämlich in der Absicht, aus ‹Absurdität› unterhaltsame, die Zeitgenossen zum Lachen reizende Absurdität bewusst zu generieren und nicht etwa – Wissen oder Verstehen. Die ‹Weinlegende› und das Leonardo-Bild Über Leonardos Religiosität Aussagen zu machen ist bekanntlich eine diffizile Angelegenheit.223 Der respektlose Umgang mit dem Religiösen ist der Literatur der Zeit nicht fremd. Weniger, dass die Autoren selbst dem Religiösen unvermittelt und unverblümt despektierlich begegneten, als dass dies als eine Denkmöglichkeit, zum Beispiel im Medium der Figurenrede, in ihren Texten zum Tragen kommt. Etwa bei Luigi Pulci, der – obwohl immer wieder von der einen oder anderen Seite in Anspruch genommen oder angegriffen – religiöse Ambivalenz schlechthin verkörpert und dessen Werk – das einst einem Savonarola Stein des Anstoßes war – Ausdruck gibt von der inneren Spannung und Unruhe im Innenraum der Renaissance-Kultur.224 Von Leonardos ‹Fabel› kann nicht rückgeschlossen werden auf seine wirkliche Haltung zum Islam (allerdings auch nicht auf eine seriöse Auseinandersetzung damit). Es wäre leicht, ihm eine distanzierte, allem Religiösen gegenüber ambivalente Haltung nun zu unterstellen. Aber: Was das Christentum betrifft, ist es nicht schwierig, einen Kontrapunkt zu finden. Leonardos lebenspraktische Einbindung in die religiöse Kultur der Zeit ist ganz offensichtlich. Den Ansätzen einer Kirchen- und insbesondere einer Mönchskritik zum Trotz, die etwa in den Prophetien zur Geltung kommt,225 hat er seine Schaffens- und Schöpferkraft doch zu einem Gutteil in den Dienst von Werken gestellt, die auf kirchliche Auftraggeber zurückgingen und/oder christlichen Inhalts sind. Bibelkritisch ist er selten und wenn er es ist, spitzt sich seine Bibelkritik auf isolierte Aspekte des aus seiner Sicht nicht haltbaren biblischen Sintflutberichts zu.226 Als Anatom dagegen – buchstäb223 Einige Hinweise auf Ansichten diverser Autoren bei Migliore, a.a.O., S. 95, Fn 39; S. 233, Fn 53. 224 Luigi Pulci kommt in den Gesamtdeutungen der Renaissance (Burckhardt, Batkin) ein repräsentativer Status zu. Er symbolisiert die Spannung, die sich in einer christlichen Kultur einstellt, die auf die heidnische Antike hin (bzw. zurück) orientiert ist, ohne dass es eines einzigen wirklichen Heiden bedürfte (vgl. Leonid M. Batkin, Die historische Gesamtheit der italienischen Renaissance, Dresden 1979, S. 355: «wobei Pulci bei näherem Hinsehen wenig einem wahren Atheisten gleicht»). – Vgl. bezüglich des Problems der Religiosität der Renaissance insbesondere die prononcierte Haltung von Peter Burke (Peter Burke, Die italienische Renaissance und die Herausforderung der Postmoderne, in: Gerhart Schröder / Helga Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt a.M./ New York 2001, S. 39). Er tendiert zu der Auffassung, dass im Hinblick auf die Renaissance eher von ‹heidnischen› als von ‹christlichen› Lippenbekenntnissen zu sprechen sei. 225 Siehe oben bezüglich der Mönchskritik in den ‹Prophetien›. 226 Siehe Solmi, S. 102f. und Synopse, Sektion ‹Das Heilige Land›.
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lich in Anbetracht des menschlichen Herzens – entfährt ihm ein ehrfurchtsvolles Lob des Schöpfers bzw. ‹Meisters›.227 Wenn man dies alles – summa summarum – als einen Ausdruck religiöser Ambivalenz erachtet, muss man dennoch feststellen: Im Hinblick auf den Islam fehlen die Kontrapunkte. Wenn man die ‹Weinlegende› als tendenziell despektierlich erachtet, so gibt es dazu kein Gegengewicht. Keine Spur, es sei bloß der Vollständigkeit wegen erwähnt, findet sich des Weiteren von einem Loyalitäts- oder Identitätskonflikt, und keine Spur von einem Bekenntnis zum Religiösen, das alle Bekenntnisse explizit umschloss. Es war der gut vierzigjährige Leonardo, der – wenn man der Datierung glaubt – die ‹Fabel› zu Papier gebracht hat; er war nicht mehr der junge Mann, dem man eine unreife, unfertige Haltung vielleicht leichter unterstellen würde. Und vierzig Jahre lang hatte sich Leonardo, dies muss nochmals gesagt sein, auch nicht ein einziges Mal aus dem christlichen Kulturkreis physisch entfernt, war also auch im islamischen Kulturraum nicht gewesen. Richters alte These von einer zeitweiligen Entfernung aus dem Westen, von einer zeitweiligen Konversion gar, stellt sich hier in aller ihrer Verstiegenund Verwegenheit dar. Und zudem muss man sagen: Jean Paul Richter war auch die ‹Weinlegende› schon bekannt gewesen. 228 Er war aber darüber eher flüchtig hinweggegangen, ihre Unappetitlichkeit mehr oder minder unterschlagend, wie nach ihm mehr oder minder die Regel. Mythos des Renegatentums Der Fairness halber muss man sagen, dass Richter in Leonardo einen zwar freigeistigen, aber dennoch einen Christen gesehen hat.229 Von einer eigentlichen ‹Rückverwandlung› eines Muslims in den Christen Leonardo kann aber – historisch betrachtet – keine Rede sein. In Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte müssen wir vielmehr von der Rückverwandlung eines ‹Krypto-Muslims› (nach Richters Vorstellung) in einen nach heutigen Maßstäben politisch eher unkorrekten Abendländer sprechen. Zudem in einen Abendländer, der bekanntlich auch zotig sein konnte, wenn er wollte, und zudem keine Scheu zeigte, das Unappetitliche mit dem Geheiligten der anderen Religion zusammenzuden-
227 Leonardo da Vinci, ed. Zamboni, a.a.O., S. 77 («Wunderbares Instrument, erfunden vom höchsten Meister!»). – Bezüglich Leonardos Studiums des Verdauungstraktes siehe Kenneth D. Keele, Leonardo da Vinci’s Studies of the Alimentary Tract, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 27 (1972), S. 133–144. – Bezüglich ‹Verbot von Sektionen im Islam› siehe Brandenburg, a.a.O. 228 LdViO, S. 135f. (‹eine originelle Erklärung›). 229 Es trifft im Übrigen nicht zu, wie Migliore behauptet, dass Richter Leonardo eine Initiation in Geheimwissen des Ostens unterstellt hat (Migliore, a.a.O., S. 98). Mit Okkultismus hatte Jean Paul Richter weniger als nichts zu schaffen.
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ken.230 Mit etwas Understatement gesagt: Die Vorstellung von einem kulturellen Grenzgänger- und Übermenschentum findet in der ‹Weinlegende› keinen stützenden Beleg. Im Klima des Positivismus des 19. Jahrhunderts oder im Klima der Postmoderne erschien Leonardo vielen als ein Freidenker. Und als ein solcher erscheint er zugleich stets auch als ein Zyniker, der herausragende Werke der christlichen Kunst ganz ohne innere Anteilnahme produzierte und sich, zumindest äußerlich, etwa Pacioli gegenüber in die Tradition des Christentums stellte. Die Aufrechterhaltung eines solchen Doppellebens hätte, will es scheinen, einer nicht geringen Portion an Zynismus bedurft. Ob dies aber historisch gedacht ist, d.h. ob eine solche Mutmaßung dem Denken und Fühlen von Menschen an der Schwelle der Neuzeit auch gerecht wird, steht dahin. Andererseits: Ganz unhistorisch war die Vorstellung wohl nicht, wenn man bedenkt, dass im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts in der Tat Maßnahmen gegen den ‹nutznießerischen Glaubenswechsel› ergriffen wurden.231 Es dürfte Menschen gegeben haben, die uns – heute – wie Zyniker erscheinen. Alles in allem kommt man zum Schluss, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass Leonardo da Vinci sich dem Islam jemals innerlich angenähert hat (denn es stellte an sich noch kein Bekenntnis dar, am Goldenen Horn, im Interesse der Osmanen und der Galata-Gemeinschaft, eine Brücke zu bauen). Die These einer Reise in den Orient hat sich zudem, wie im Haupttext dargelegt, als eine nicht haltbare erwiesen, ohne dass wir deshalb annehmen müssten, dass es für Leonardo ganz ohne Reiz gewesen wäre, Länder wie die Türkei zu sehen. Schließlich ist auch davon Kenntnis zu nehmen, dass es freiwillige, nutznießerische und unfreiwillige Renegaten in den Gesellschaften der Renaissance zwar gab (die osmanische Gesellschaft hier eingeschlossen), doch Leonardo da Vinci, nach allem was wir wissen, zählte nicht dazu. Er steht – mit allen Eigenheiten und mit allen Vorbehalten gegenüber Bibel, Mönchtum und der Kirche – in der europäisch-abendländischen Tradition, ist, wie wir gesehen haben, auch von ihren Vorurteilen nicht ganz frei und scheut sich zumindest nicht, über Islamisches respektlos zu sprechen, was sicherlich in seiner kulturellen Umgebung auch eher die Regel war. Ein sensationeller Befund ist dies beileibe nicht, aber doch ein Mehr an Nuanciertheit und ein Kontrast zum Leonardo der Legende, dem man ‹alles› zutraut.
230 Mit der ganz buchstäblich verstandenen Vorstellung einer kulturellen Rückverwandlung als eines vermeintlichen biographischen Faktums hatte, wie einleitend gezeigt, insbesondere Jacob Burckhardt seine Probleme gehabt. Da es aber, nach allem was wir heute wissen, keine Orientfahrt des jungen Leonardo gegeben hat (siehe die Zusammenfassung in Kapitel fünf des Haupttextes), ist es nicht überraschend zu sehen, dass Leonardo als gut Vierzigjähriger ganz in den europäisch-abendländischen Traditionen steht, die sich zum Islam hin abgrenzten. Anstalten eines Aufbruchs machte erst der gut Fünfzigjährige, der die Brücke über das Goldene Horn erdachte, kurz nachdem er in der Verteidigung Venedig gegen die Türken mitgewirkt hatte. 231 Siehe AuA III, S. 308ff. – Bezüglich Konversionen im Allgemeinen siehe jetzt Kim Siebenhüner, Glaubenswechsel in der Frühen Neuzeit. Chancen und Tendenzen einer historischen Konversionsforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), S. 243–272.
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5. Synopse: Orientbezüge im Werk und in den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis Erläuterungen zur Methodik Die im Folgenden gegebene Synopse über Orient-Bezüge im Werk und in den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis ist als ein Arbeitswerkzeug gedacht. Es dient primär zur tiefgründigeren Erfassung der Beziehungen Leonardos zu allen Kulturräumen des Orients, und es dient zur (Neu-)Evaluation dieser Beziehungen in einer Zusammenschau. Diese Zusammenschau zeigt also eine herausragende Figur der Kulturgeschichte im Verhältnis zu einem heterogenen, in sich vielfach gegliederten Raum. Darüber hinaus ist die Zusammenschau aber auch als ein allgemeines Hilfsmittel der Leonardo-Forschung gedacht, denn indem sie nicht im Hinblick auf isolierte Tätigkeitsfelder hin konzipiert ist, zeigt sie eine herausragende Figur der Kulturgeschichte in allen Facetten ihrer Tätigkeit unter einem Gesichtspunkt – im Verhältnis zu den Kulturräumen des Orients.232 Es ist zum Beispiel ein Leichtes, sich diejenigen Einträge zunutze zu machen, die dem Feld ‹Architektur› gewidmet sind. Alle verfügbaren Informationen, die den Raum des Orients betreffen, sind hier vorhanden (und die Struktur ist auf eine mögliche Erweiterung hin angelegt).233 Die Gliederungseinheiten, nach denen die Synopse aufgefächert ist, stellen behelfsmäßige Setzungen dar. Auch andere Strukturen wären denkbar, den Begriff ‹Orient› – ein bloßer Platzhalter, wie einleitend vermerkt – kulturgeographisch aufzufächern und mit Inhalt zu füllen. Der Entscheid für eine kulturgeographische Gliederung und nicht für alternative Konfigurationsprinzipien, wie sie weiter unten noch zur Sprache kommen, hat jedoch den Sinn, in einem ersten Schritt alles Material zu sammeln, das beispielsweise ‹ägyptisch› konnotiert ist und in einem zweiten, präzisierenden Schritt zu 232 Der hier verfolgte Forschungsansatz ist im Zusammenhang mit einer etwas reservierten, aber doch resümierbaren Hinwendung der Renaissance-Forschung zur Erforschung der Außenräume der italienischen und europäischen Renaissance zu sehen (vgl. Peter Burke, Renaissance Europe and the World, in: Jonathan Woolfson (Hg.), Palgrave Advances in Renaissance Historiography, Basingstoke 2005, S. 52–70). 233 Obschon Heinrich von Geymüller in diesem Bereich einen starken Vorbehalt zur Geltung brachte (vgl. R II, S. 80) – im architektonischen Denken und Zeichnen Leonardos sind – in oft freizügiger Bestimmung – nicht wenige Orient-Bezüge vermutet worden (siehe weiter unten, passim). – Einen einzigen Bezug in dieser Richtung hatte Geymüller gelten lassen – in Form der Zeichnung eines monumentalen Mausoleums (ebd.; Tafel Nr. 98 in R II). Hier liegt nach neuerer und neuester Auffassung aber mit Sicherheit kein Bezug auf Orientalisches vor, sondern auf 1507 entdeckte etruskische Bauten in der Toskana (der neueste Forschungsstand ist referiert in Carmen C. Bambach (Hg.), Leonardo da Vinci, Master Draftsman, [Kat.] New York 2003, S. 578f.). Die ältere, vielfach auf Orientalisches bezogene Deutung, unter anderem auch bei Woldemar von Seidlitz, Leonardo da Vinci, der Wendepunkt der Renaissance, 2 Bd., Berlin 1909, S. 402, Fn 26 («[…] hätte die größte der ägyptischen Pyramiden wesentlich überragt, denen es [das Bauwerk] im Übrigen durch seine großartige Einfachheit nahe steht.»).
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erwägen, wovon genau die Rede ist: vom Alten Ägypten, wie die Antike es gesehen hatte und an die Renaissance vermittelte, vom zeitgenösischen, erst mamlukischen, dann ab 1517 osmanischen Ägypten oder von einem Pseudo-Ägypten letztlich unhaltbarer Vorstellungen, die sich der Imaginationswelt der Renaissance verdanken. Was ist ein ‹Bezug›? Drei Arten von Bezügen Leonardos auf Orientalisches sind hier berücksichtigt. Ein Vorrang ist jenen Bezügen einzuräumen, die Leonardo explizit selbst macht, so wie auch jenen Bezügen, die sich plausibel herstellen, ohne dass Leonardo sie aber explizit herstellt. Einen dritten problematischeren Typus stellen jene Bezüge dar, die man – die Forschung, die Nachwelt – herstellt, die also bloße Assoziationen darstellen, in Form von vagen Vermutungen über denkbare Bezüge oder in Form von Phantasien, die das Undenkbare zu denken versuchen. Im Hintergrund steht immer ein und dasselbe Problem, das sich – abstrahiert – wie folgt darstellt: Zwischen zwei räumlich oder zeitlich voneinander entfernten Phänomenen (der chinesischen Malerei zum einen beispielsweise, der Landschaftsdarstellung Leonardos zum anderen) scheint sich eine Beziehung der Ähnlichkeit, eine Art Verwandtschaft abzuzeichnen. Die Beobachtung derselben regt zur Frage an, ob eine – direkte oder indirekte, ursächlich-determinierende oder bloß teilweise bedingende – Beziehung zwischen den beiden Phänomenen gegeben ist. Ob das eine also vom anderen her bedingt ist oder ob – dies die grundsätzlich andere Möglichkeit – parallele Erfindungen vorliegen. Oftmals lässt sich dies ganz einfach nicht mehr klären, weil es Wissenslücken gibt; und es ist die Aufgabe der Forschung, dies – die Lücken unseres Wissens, die Unvollständigkeit der Quellenlage – stets bewusst zu halten. Es ist zwischen mutmaßlichen Zusammenhängen und solchen Bezügen, die Leonardo selbst herstellt, oder die sich zweifelsfrei ergeben, stets zu unterscheiden, um der Phantasie die Zügel nicht schießen zu lassen. Auf Vorstellungen, die zweifelhaft sind, ist deshalb nicht in der eigentlichen Synopse, die aus Einzeleinträgen besteht, Bezug genommen, sondern in den Einleitungen zu den einzelnen Sektionen. Der einzelne Bezug auf Orientalisches steht hier nie isoliert. Von Interesse ist immer der Ereigniszusammenhang, auf den ein bestimmter Bezug verweist, als dessen Teil er demzufolge aufzufassen ist (auch wenn wir ihn nicht kennen). Auf dieses Gesamtgeschehen zielt demnach jede Forschung, die sich den (dynamischen) Beziehungen und Begegnungen von kulturellen Einheiten (die in sich ebenfalls dynamisch sind) verschrieben hat, auch wenn sie bloß auf einen einzelnen Aspekt fokussiert ist, wie etwa den Einfluss einer Größe auf die andere (oder die Volumina des Imports, welcher Art auch immer, abschätzt). Die Synopse ist als eine kommentierte Synopse angelegt, die – im Kommentar und in der Art der Darstellung – auf den Gesamtzusammenhang dynamischer Beziehungen ausgerichtet ist. Es wurde versucht, sachliche Fragen entweder (neu) zu beantworten, sie besser zu stellen, oder überhaupt erst zu stellen. Es ist somit ein graduell abgestufter Anspruch, der hinter der Präsentation von Einzelthemen steht.
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In den Einleitungen zu den diversen Sektionen wurde versucht, in groben Linien auch die Kontexte zu geben, in denen einzelne Bezüge stehen. Die Isolierung des einzelnen Bezugs auf Orientalisches aus dem spezifischen situativen Kontext stellte den schlimmstmöglichen methodologischen Sündenfall dar, denn aus einer lebendigen historischen Überlieferung, dem historischen Lebensvollzug, würde ein bloßes Spielmaterial, das sich beliebig – den Prämissen gewisser Vorurteilsstrukturen gemäß – gestalten ließe. Als ein einsamer Rezipient orientalischer Dekormuster erscheint Leonardo dann, wenn man davon absieht, dass sich in Norditalien seinerzeit eine eigentliche Mode komplizierterer Ornamentik etablierte. In diesem Kontext gesehen erscheinen Leonardos Eigenleistungen weniger spektakulär, aber nichtsdestotrotz: Nicht Spektakel ist ein Kriterium guter Forschung, sondern Haltbarkeit (gegenüber der bestmöglichen Kritik). Pauschale Thesen mögen griffig sein, am Einzelfall bewähren sie sich nicht von vorneherein, es sei denn, die These ist an allen vorliegenden Einzelfällen schon erhärtet worden. Im Hinblick auf das Verhältnis Leonardos zum Orient kann davon keine Rede sein. Es ist mit einem doppelten Risiko verbunden, ein allseits anerkanntes Genie in möglichst umfassende Zusammenhänge zu stellen. Denn im Genie-Begriff ist die Vorstellung aufgehoben, dass der besondere Einzelne eben nicht aus seiner Zeit, sondern aus sich geschöpft hat. Es ist dies nicht gern gesehen unter der Anhängerschaft des großen Genies; es besteht aber auch die Gefahr, sich zu sehr auf den Genie-Begriff zu fokussieren und bloß ein Bild ins Gegenteil zu verkehren. Leonardo da Vinci – im Rahmen der im Folgenden gegebenen Zusammenschau – erscheint nicht als ein vom Sockel gestoßenes Denkmal, es ist aber auch nicht unbedingt der allseits vertraute Leonardo, der sich hier zeigt. Es ist hier versucht, ein möglichst realistisches, haltbares, da gut dokumentiertes Bild zu geben, das aber gerade deshalb befremden mag, weil es realistisch ist. In anderen Worten: Es ist nicht ohne Weiteres jene Kluft zu überbrücken, die sich zwischen dem Leonardo der Überlieferung und dem historischen Individuum noch und noch auftut. Aber die vielfältigen Leistungen, die es rechtfertigen, immer und immer wieder auf Leonardo zurückzukommen, erscheinen noch interessanter als zuvor, wenn man bereit ist, sie in einem neuen, differenzierteren, auch den historischen Kontext und auch die Beziehungen zur Kulturwelt des Orients einbeziehenden Rahmen zu sehen. Differenziertheit – mit einem Wort – ist angestrebt. Alternative Gliederungen Die Grundstruktur der Synopse ergibt sich aus Einzelbausteinen, die dem einzelnen Bezug gewidmet sind und aus der Gliederung nach Sektionen in geographischer Auffächerung. Es wäre nun denkbar, aufgrund von spezifischeren Fragestellungen, die Einzelbausteine auch anders zu konfigurieren und an mindestens vier mögliche Alternativen ist ganz konkret zu denken.
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An eine chronologische Gliederung zunächst, in der vielleicht auch ein sich wandelndes Interesse Leonardo da Vincis am Orientalischen aufschiene. Doch die Probleme der Datierung der einzelnen Bezüge sind gewichtig und die Orient-Vorstellungen so vielschichtig, dass dieses Gliederungsprinzip in den einzelnen Sektionen zugunsten eines thematischen Zusammenzugs eher vernachlässigt worden ist. Im bedeutenderen Einzelfall, sofern möglich, ist eine Datierung allerdings gegeben. Eine Gliederung nach Tätigkeitsfeldern erscheint wie gesagt nicht minder lohnend. Doch bei Bedarf ist es ohne Weiteres möglich, thematisch Verwandtes zusammenzuziehen und eine solche Ordnung, zugeschnitten auf ganz spezifische Problemstellungen, einfach zu erstellen. Auch eine Ordnung nach den einzelnen Manuskripten Leonardos wäre denkbar, doch ihr thematischer Gehalt ist oft so heterogen, so dem Moment geschuldet, dass sich darauf keine besonders haltbaren Schlussfolgerungen ergeben. Eine Häufung von geographischen Bezügen, wie sie andererseits im Codex Leicester vorliegt, ist so offenkundig, dass es fast überflüssig ist, nochmals darauf hinzuweisen. Weitaus am interessantesten erschiene eine Gliederung nach der Art des Ereigniszusammenhanges, der hinter einem spezifischen Orient-Bezug steht. Dies bezieht sich auf die Art einer Vermittlung, die Spezifik der Medien der Vermittlung und der Wissensquellen, aus denen Kenntnisse über Orientalisches zugänglich werden. Im Kapitel über ‹Exotik und Exotismus› sind die gedanklichen Leitlinien einer solchen Gliederung gegeben worden: Es ist zu unterscheiden beispielsweise zwischen einer Präsenz des exotischen Objekts, das in der Tat aus Indien stammt, und der Imagination von Indien, die nach Maßgabe von Ängsten und Hoffnungen in Form einer Projektion entsteht. Weitergehende Forschungen könnten vertiefend auf den Exotismus in der Welt des Universalgenies eingehen, das ein Inbegriff geworden ist für eine umfassende Neugierde auf die Welt. Doch eine reine Sammellinse, auch in Bezug auf das Exotische, ist Leonardo nicht gewesen, auch Projektionen, Selbsttäuschungen gehören in das realistischere, haltbarere Bild dieser Persönlichkeit. In den Erörterungen, die der folgenden Synopse vorangestellt worden sind, ist darauf Bezug genommen. a) Al-Andalus (Das ‹maurische› Spanien) Als der Dichter Rainer Maria Rilke einen Aufenthalt Leonardo da Vincis im ‹maurischen› Spanien imaginierte, freimütig sich zu seiner ‹poetischen Lizenz› bekennend, befand er sich gerade in Toledo.234 Den Mythos des Magischen und Okkulten, der sich seit dem hohen Mittelalter mit dieser Stadt verband, dürfte auch Leonardo gekannt haben, denn dieser Mythos vermittelte sich seinerzeit über den Morgante.235 Mehr noch: 234 Siehe Exkurs ‹Rainer Maria Rilke in Toledo› im ersten Kapitel des Haupttextes. 235 Vgl. Morgante, XXV, 42 («[…] judging from what I heard once in Toledo, / where necromancers seem to congregate – / […]»; siehe auch XXV, 253, 256 und vor allem 259 («[…] Toledo was a town where necromancy / was studied even in a public school, / […]»; XVI, 26; XIX, 10. Einen Überblick über die Geschichte des Mythos gibt Jaime Ferreiro Alemparte, La escuela de nigromancia de Toledo, in:
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Eine Schrift eines der Hauptprotagonisten dieser Legendentradition, die Physiognomie des Michael Scotus, fand sich ebenfalls in seinem Besitz.236 In Toledo, als einem Zentrum der Übersetzung, war erstmals auch das Leonardo teilweise – in Form einer freien Übersetzung – bekannt gewordene Buch ‹Almansur› des persischen Arztes Rhazes übersetzt worden.237 Über diese kulturelle Bedeutung hinaus und ganz abgesehen von dem Mythos als Einfallstor des Okkultismus, war Toledo einem Vorgänger Leonardos auf dem Felde der Ingenieurskunst aber auch mit einer ganz praktischen Aufgabenstellung verbunden gewesen: Jacopo Mariano, genannt Taccola, hatte sich mit dem Problem der Wasserversorgung der hochgelegenen, zu diesem Zeitpunkt schon längst wieder unter christlicher Oberhoheit stehenden Stadt befasst.238 Leonardo da Vinci hat zwar kein Zentrum des mittelalterlichen, vor allem auch in der Architektur muslimisch geprägten Spanien je gesehen,239 aber an Objekten aus AlAndalus, an Repräsentationen der ‹maurischen› Kultur und an ‹maurischen› Assoziationen mangelte es nicht in seiner unmittelbaren Umgebung. Das Beiwort ‹maurisch›, von alters her auf die ‹dunkle› Hautfarbe der Bewohner des nordafrikanischen Raumes bezogen, assoziierte sich auch mit den muslimischen Einwohnern der iberischen Halbinsel, insbesondere – zu Zeiten Leonardos – auch mit den Bewohnern des nasridischen Königreichs von Granada.240 Doch indem es immer noch den dunklen Teint bezeichnete, musste nicht unbedingt eine Bezugnahme auf die Geographie oder die Religionsangehörigkeit damit verbunden sein.241 Zudem: Der Übername des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza schuf ganz generell einen Resonanzraum für Bezüge auf das ‹Maurische›. In Gestalt des Moro, der in seiner Politik Spanien bzw.
Anuario de estudios medievales 13 (1983), S. 205–268 (bezüglich Pulci siehe S. 237). Vgl. auch Glick et al. (Hg.), a.a.O., S. 478–481 (Art. ‹Toledo›). In dem Mythos steckt etwas Wahres, insofern natürlich über Toledo, als ein Zentrum der Übersetzungen, unter anderem auch okkultes arabisches Wissen in den Okzident einströmte. Über Toledo – wie über Byzanz –, wie man allerdings aufgrund der neueren astrologiehistorischen Forschung ergänzen muss (vgl. Hübner, a.a.O., S. 242 [Literatur]). 236 Reti Nr. 75; Jacquart, a.a.O. Darüber hinaus ist pauschal auf die Chiromantie und Astrologie im Buchbesitz Leonardos zu verweisen (siehe weiter oben). 237 Siehe oben. 238 Mariano Taccola, De ingeneis, Bd. 1, Wiesbaden 1984, S. 168f. 239 Überblicksartig und insbesondere die umfangreiche, auch neueste Literatur verzeichnend informiert: Ulrich Haarmann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, hrsg. von Heinz Halm, München 52004 [urspr. 1987], S. 264ff. (Beitrag von Hans-Rudolf Singer; siehe insbesondere auch den dazugehörigen Anhang). Siehe ferner Georg Bossong, Das Maurische Spanien. Geschichte und Kultur, München 2007. Zur Architektur siehe beispielsweise Marianne Barrucand / Achim Bednorz, Maurische Architektur in Andalusien, Köln 2007. – Al-Andalus – als ein Kulturraum – ist hier berücksichtig als ‹Orient in Europa› – in Berücksichtigung einer Denkmöglichkeit, die sich aufgrund der Bildung eines Eigennamens ‹Orient› sowie durch den Transfer von Trägern der betreffenden Kultur bzw. der religiösen Zivilisation in einen anderen Raum ergibt (vgl. oben). 240 Vgl. Morgante, XXVII, 237 («mori di Granata»). 241 Pacioli erzählt eine Anekdote von einem ‹Mohren› bzw. ‹Mauren› in Venedig (Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 322).
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Neapel gegenüber einen eher labilen Kurs einschlug,242 war eine ganz eigentümliche Präsenz des ‹Maurischen› in der Umgebung Leonardos gegeben, d.h. in seiner ersten, gut zwei Jahrzehnte dauernden Mailänder Zeit.243 Was das Vorhandensein von dekorativen Objekten und Verzierungen im ‹maurischen Stil› angeht, etwa in Form von Bucheinbänden oder Waffenknäufen, so ist von einer komplizierten Wechselwirkung auszugehen. Eine eigentliche Mode der Flechtbandornamentik hatte sich – ‹mehr oder weniger›, wie Carmen C. Bambach relativiert – schon zu dem Zeitpunkt etabliert, als Leonardo da Vinci nach Mailand kam.244 Es ist darauf verwiesen worden, dass derlei Muster, die man um ihrer selbst willen oder als Mustervorlagen rezipierte, schon in der Verrocchio-Werkstatt zum Einsatz kamen.245 Leonardos Eigenleistungen als Dekorspezialist müssen in diesem Kontext gesehen werden, der ihn bedingte – und den Leonardo seinerseits zu beeinflussen sich anschickte, indem er schon existierende Lösungen von Gestaltungsaufgaben adaptierte, die orientalisch oder eben ‹maurisch› inspiriert sein konnten, aber nicht – in einem unmittelbaren Sinne – sein mussten. Die italienischen Dekorspezialisten besannen sich auch auf ein nördliches Erbe.246 Ob und in welchem Zusammenhang Leonardo Muster muslimisch-spanischer Provenienz aufnahm, ist nicht leicht und vielleicht überhaupt nicht zu klären. Die konkrete Wechselwirkung, das eigentliche Geschehen eines Rezeptionsvorgangs, ist uns nicht fassbar. ‹Bloß› die mutmaßlichen Resultate sind es (immerhin zum Teil). Angesichts der Tendenz, Leonardos Ornamentik aber pauschal – und oftmals ohne genauere Belege – auf orientalische Muster zurückzuführen, sollte die Frage der Rezep242 Vgl. Alberto Boscolo, Milano e la Spagna all’epoca di Ludovico il Moro, in: Milano nell’età di Ludovico il Moro. Atti del convegno internazionale 28 febbraio – 4 marzo 1983, Bd. 1, Milano 1983, S. 93–106. 243 Belege hinsichtlich des Übernamens sichtet Seidlitz, a.a.O., S. 405, Fn 25. Siehe auch TuA, S. 665 (‹Maurenautomat›; siehe diesbezüglich auch DoSB, Art. ‹Leonardo da Vinci›, [Bd. 8], S. 213), S. 670 (Allegorie) und S. 790f.; Malaguzzi-Valeri, a.a.O., S. 8 (Pagen am Mailänder Hof ). – Bezüglich der Bedeutung von ‹moro› als Adjektiv siehe auch Nelson H. Minnich, The Catholic Church and the pastoral care of black Africans in Renaissance Italy, in: T. F. Earle / K. J. P. Lowe (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge etc. 2005, S. 282. ‹Moro nero› bezeichnete anscheinend einen Afrikaner von schwarzer Hautfarbe (Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Bd. 2, Leipzig 81901 [mit Hinzufügungen von Ludwig Geiger], S. 292). Savonarola, wohl im Hinblick auf Nicht-Christen bzw. den Glaubensfeind, sprach von ‹Turchi e mori› (Ulrich Andermann, Geschichtsdeutung und Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Bodo Guthmüller / Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 49, Fn 89). 244 Carmen C. Bambach, Leonardo, Tagliente, and Dürer: ‹La scienza del far di groppi›, in: ALV 4 (1991), S. 74 (siehe auch Fn 6 mit Literaturhinweisen). – Pulci setzte gleichsam die Bekanntheit des exquisiten ‹maurischen› Stils, der ‹maurischen› Höflichkeit bzw. ‹Höfischkeit› und sogar der Musikkultur voraus. Siehe Morgante, VIII, 28 («molte cose leggiadre alla moresca»/«delicate objekts in the Moorish style»), IX, 51 (Höflichkeit) und XVI, 26 (Musikinstrumente). Eine eigentliche Mode etablierte sich – Bambach zufolge – im dritten Viertel des Quattrocento, also kurz vor dem Erscheinen des Morgante (1478 bzw. 1483). – Vgl. auch KdE, S. 339 (Ginevra de’ Benci trägt in diesem Roman ein im ‹maurischen› Stil verziertes Hemd). 245 Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 134f. 246 Man denke etwa an die irische Ornamentik.
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tion aber nicht leichtfertig – d.h. nicht ohne Berücksichtigung des Zeitkontextes in Form einer ästhetischen Modeerscheinung – beantwortet werden. Eine, indes nicht die einzige Voraussetzung des Vorhandenseins des ‹maurischen› Elements in der Umgebung Leonardos, war eine leicht nachweisbare spanische ‹Präsenz› in Mailand, leicht nachweisbar auch im unmittelbarsten Umfeld Leonardos. Abgesehen von den Mailänder Silberschmieden, von denen einige auch am spanischen Hof beschäftigt wurden,247 gab es nicht wenige Personen in der Nähe Leonardos, die über das ‹maurische› Spanien hätten berichten können: Es gab die Maler, den Condottiere, den Professor zu Pavia, die alle als Augenzeugen, als Gewährsleute in Frage kamen.248 Ob diese Kontaktmöglichkeiten allerdings tatsächlich einen eigentlichen Kulturtransfer stimuliert haben, ist eine ganz andere Frage. Konkret stellt sie sich im Hinblick auf einige Architekturskizzen Leonardos, welche die Rezeption spanisch-arabischer Kreuzgewölbe, bei dem sich die Bögen vielfach, aber typischerweise nicht im Zentrum kreuzen, zu belegen scheinen. Und solche Kreuzgewölbe sind etwa in der Moschee von Córdoba vorhanden. Ob allerdings eine direkte Rezeption dieser Bauform vorliegt, wie ein sehr renommierter spanischer Bauforscher in den 1950er Jahren vermutet hatte,249 ist doch eher fraglich. Auch eine Vermittlung auf Umwegen wäre ja denkbar.250 247 Boscolo, a.a.O., S. 93. 248 Maler: Es ist primär an den von Leonardo explizit erwähnten «Ferrando Spagnuolo» zu denken, der mit Llanos identifiziert worden ist (V, S. 208f. und Index). Er ist schon in der ersten Mailänder Periode im Umfeld Leonardos nachgewiesen (L-A, S. 67; V, S. 208). Vgl. auch DoA (Art. ‹Llanos and Yanez›). Ferner denke man an Berruguete (siehe DoA). – Um das Jahr 1500 kam auch, wie Vasari berichtet, Andrea Sansovino von einem neunjährigen Portugalaufenthalt zurück nach Italien (siehe [Vasari], Le opere, ed. Milanesi, a.a.O., Bd. 4, S. 513f.). Zu seinen in Portugal verfertigten Arbeiten hatte demnach auch die Reliefdarstellung einer ‹Maurenschlacht› gehört. Bezüglich einer Verbindung Leonardos zum König von Portugal, ebenfalls von Vasari erwähnt, vgl. Pietro C. Marani, Leonardo. Catalogo completo dei dipinti, Firenze 1989, S. 124. – Bezüglich des mit Leonardo bekannten Condottiere Pietro Monti siehe MarieMadeleine Fontaine, Le condottiere Pietro del Monte, philosophe et écrivain de la Renaissance, Paris 1991, sowie V, S. 139 (Bezug auf Ms. I 120r; R II, S. 353, Nr. 1407); Solmi, S. 216. Der Übersetzer, der eine Schrift Pietros vom Spanischen ins Lateinische brachte, stammt aus Córdoba. – Bei dem 1490 benannten Professor handelte es sich um einen Benedetto Ispano, offenbar ein getaufter Jude (‹olim hebreus›), der an der Universität von Pavia einen Lehrstuhl für Hebräisch übernahm (siehe Anna Antoniazzi Villa, Gli ebrei dei dominî sforzeschi negli ultimi decenni del quattrocento, in: Milano nell’età di Ludovico il Moro. Atti del convegno internazionale 28 febbraio – 4 marzo 1983, Bd. 1, Milano 1983, S. 181). 249 Leopoldo Torres Balbás, Leonardo de Vinci y las bóvedas hispanomusulmanas, in: Al-Andalus 17 (1952), S. 438–441 [gezeichnet ‹L. T. B.›]. Torres Balbás (1880–1960), der spanische Architekt und Archäologe, hatte in Zeichnungen Leonardos Kreuzgewölbe ausgemacht, wie sie in der der Moschee von Córdoba aufzufinden sind (die Belegstellen sind: Ms. B 25v, 52r; Ms. A 85v [ex Ash. II 5v]; CA 1010v [ex362v-b], 733v [ex271v-d]). – Auch eine Architekturskizze in CM II 11v hat zum (allerdings unspezifischen) Vergleich mit spanisch-muslimischer Architektur angeregt (Marco Rosci, Leonardos Manuskripte in Madrid, [ab der 6. Auflage enthaltener Beitrag] in: Leonardo da Vinci. Das Lebensbild eines Genies, Wiesbaden/Berlin 1972, S. 511). 250 Die Einflusshypothese scheint bloß in der populäreren Literatur rezipiert worden zu sein (Pedro Martínez Montávez / Carmen Ruíz Bravo-Villasante, Europa unter dem Halbmond. Eine illustrierte Kulturgeschichte, München 1991, S. 50). Pedretti – in L-A – hat auf Torres Balbás’ Aufsatz nicht Bezug
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Der Kulturtransfer aus dem muslimischen Spanien hatte nicht zuletzt den kriegerischen Hintergrund der 1492, mit der Eroberung von Granada, vorläufig abgeschlossenen Reconquista. Es begann für die spanischen Muslime eine Phase der Zwangsassimilierung,251 Vertreibung, der partiellen Duldung, die letztlich doch in der konsequent betriebenen Vertreibung ab dem Jahr 1609 mündete. Auch in Form der Migration, ob sie nun freiwillig erfolgte oder forciert war, könnten Leonardo die Folgen des Falls von Granada gegenwärtig gewesen sein. Denn diese Ereignisse zeitigten Folgen bis zum Bosporus, wo nicht wenige Migranten aus Al-Andalus sich schließlich niederließen.252 ‹Granada› als Region (CA 1006 v [ex 361 v-b])253 Auf einem auf ca. 1490 datierten Blatt des Codex Atlanticus findet sich die vollständigste – typischerweise den Norden eher vernachlässigende – Europa-Karte254 von der Hand Leonardos. Beigegeben ist dieser Zeichnung eine die iberische Halbinsel abbildende Detailskizze. Dieses ‹Kartenmaterial› samt In- und Beischriften kontrastiert mit den Studien über Fluggeräte auf dem gleichen Blatt, weshalb die Karte auch als ‹Flug-› oder ‹Fliegerkarte› bezeichnet worden ist.255 Wenn in Pulcis Morgante die Geister in die Pferde ‹fuhren› und den Helden den Ritt bzw. die Luftfahrt von Ägypten nach Gibraltar ermöglichten,256 so findet sich hier eine Art Analogon: die Kombination aus geographischer Imagination als einer Vergegenwärtigung des Raums und einer Imagination des Durch- und Überfliegens dieses Raums als einer zukünftigen Leistung genommen. Einige, nicht alle Skizzen für Kirchenbauten in Ms. B sind – ihm zufolge – als Entwürfe der neuen Kathedrale zu Pavia nach Vorbild von S. Sepolcro und S. Lorenzo in Mailand zu sehen (ebd., S. 26). – Die spezialisierte Bauforschung führt die Kreuzbogenkonstruktion auf die orientalische Kunst zurück, findet aber auch in der römischen Kleinkunst formale Vorbilder (siehe Christian Ewert, Spanisch-islamische Systeme sich kreuzender Bögen I. Die senkrechten ebenen Systeme sich kreuzender Bögen als Stützkonstruktionen der vier Rippenkuppeln in der ehemaligen Hauptmoschee von Córdoba, Berlin 1968, S. 57, 67, 73). 251 Von ‹Mauren› im spanischen Heer im Rahmen der italienischen Kriege ist bei Landucci die Rede (a.a.O., S. 228). 252 Der Fall von Granada zeitigte Folgen bis ins ferne Istanbul. Flüchtlingen aus Spanien wurde in Galata eine Kirche – zur Nutzung als Moschee – überantwortet (Louis Mitler, The Genoese in Galata: 1453–1682, in: International Journal of Middle East Studies 10 (1979), S. 76). – Ein jüdischer Arzt aus Spanien avancierte zu einem der Ärzte Bayezids II. (Rogers, a.a.O., S. 69). 253 Teilweise abgebildet in Léonard de Vinci, ingénieur et architecte, [Kat.] Montréal 1987, S. 7. Datierung nach Pedretti. 254 Die sozusagen nächstvollständige Karte findet sich in Ms. I 47r. Die Kartografie Leonardos findet im Weiteren noch mehrfach Berücksichtigung. Es ist hier aber nicht versucht, diesbezüglich einen auf Vollständigkeit zielenden Überblick zu geben. 255 Vgl. TuA (S. 373, Fn 2), in Anlehnung an McCurdy. 256 Morgante XXV, 132ff. Vgl. Jordan, a.a.O., S. 131ff., bezüglich Pulcis Verhältnis zur Magie. Bezüglich Leonardos Polemik gegen die ‹Schwarzkünstler› siehe die im Zusammenhang mit dem Topos ‹Orient und Okzident› gegebenen Belege.
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menschlicher Ingenieurskunst (und wohlverstanden keiner anderen Form von Magie als eben dieser). Der Name «Granata»257 erscheint sowohl in der Europa-Karte wie auch in der Beischrift zur Karte der iberischen Halbinsel, die beide auf ein Interesse an den europäischen Regionen hindeuten, weniger auf ein Interesse an der Vergegenwärtigung politischer Gliederungseinheiten um 1490. Obschon die Namen der Regionen den damaligen politischen Gliederungseinheiten teilweise entsprechen, fällt doch die NichtBerücksichtigung der türkischen Eroberungen in Südosteuropa auf; und die Erwähnung der ‹Toskana› (und eben nicht der Stadt Florenz in der Toskana) ist doch ein Hinweis, dass hier – auch im Hinblick auf Granada – nicht eine Wiedergabe der politischen Gliederungsstruktur von Europa gedacht war, zu einem Zeitpunkt, als es eben ein nasridisches Königreich von Granada in Europa noch gab – als die zweite bedeutende politische Einheit, die – nach Byzanz im Jahre 1453 – zu Lebzeiten Leonardos von der europäischen Landkarte verschwinden sollte.258 Granadas Fall datiert auf das Epochenjahr, d.h. auf 1492. ‹Maurischer› Dekorstil? Hatte der mutmaßliche, allerdings fragliche Bezug auf die Moschee von Córdoba einen konkreten Bezug zur älteren Kalifats-Baukultur dargestellt (8.–10. Jh.), so erinnert die Zeichnung eines Flechtbandornaments von Hand Leonardos eher unspezifisch an islamischen Dekor, etwa in Form von Dekorfliesen, und es ist möglich, aber nicht zwingend, in diesem Zusammenhang an das ‹maurische› Spanien zu denken.259 Es handelt sich um eines jener vier einstmals in Oxford aufbewahrten, vor dem Jahr 1969 verschwundenen Blätter, die in Reproduktionen aber noch ‹vorhanden› sind.260 Aus welchem Zusammenhang allerdings das eine Beispiel stammt, in dem sich ein Interesse Leonardos am ‹Orientalischen› überaus deutlich abzuzeichnen scheint (sofern die Zuschreibung Bestand hat), wissen wir nicht. Solange dieser Kontext allerdings im Dunkeln liegt – und es ist gut möglich, dass dies immer so bleiben wird – sollten von daher keine voreiligen Schlüsse bezüglich einer Vorliebe Leonardos für das ‹Orientalische› gezogen werden, einer Ähnlichkeit zwischen dieser Skizze und islamischen Vorbildern zum Trotz, die eine Bedingtheit des einen durch das andere nahelegt. Denn wie wollte man entscheiden, ob hier tatsächlich eine
257 Im Morgante – außer in XXVII, 237 – noch etliche Male gegeben (siehe XVI, 25; XIX, 10; XXV, 253). 258 Zu Lebzeiten Leonardos besuchte im Übrigen der deutsche Humanist Hieronymus Münzer die Alhambra (Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 100). 259 Der Eintrag erscheint hier auch im Sinne einer Problematisierung. 260 Carmen C. Bambach / Lucy Whitaker, The Lost Knots, in: ALV 4 (1991), S. 109 (und Abb. 1): «Study of Moresque-like strapwork, c. 1490–5.» Die Autorinnen verweisen in diesem Zusammenhang auch auf Ms. A 114v. Die Datierungen divergieren stark. Vgl. des weiteren Veltman, a.a.O., [Tafelteil] Nr. 59 (islamische Ornamentik).
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individuelle Vorliebe vorliegt, oder ob ein Künstler die allgemeine Nachfrage der Zeitgenossen bloß bediente? Überraschenderweise gibt es darüber hinaus kaum Beispiele von Dekormustern Leonardos, die – auf Basis eingehender Untersuchungen – auf orientalische Vorbilder zurückgeführt worden wären. Was sich indessen häufiger findet, ist der ganz allgemeine Verweis auf die schon von Vasari (allerdings ohne orientalische Konnotation) erwähnte Knotenbandornamentik,261 d.h. ein Assoziieren, das die Möglichkeit einer orientalischen Inspiriertheit Leonardos – und hernach Dürers – präsent hält, ohne allerdings zwischen verschiedenen möglichen Einflussgebern – Mamluken, Nasriden etc. – zu differenzieren und ohne die Einflussnahme von daher wirklich fest zu machen. In der Regel geht dieses allgemeine Verweisen und Assoziieren zudem einher mit einer Nicht-Berücksichtigung der erwähnten, schon früh (nämlich zur Lehrzeit Leonardos) etablierten orientalischen Mode, die sich in mutmaßlichen Adaptationen der – ebenfalls mutmaßlichen – Adaptationen Leonardos fortsetzt: Die Ornamentik auf Keramik aus dem Siena des frühen 16. Jahrhunderts scheint jedenfalls mit Leonardos Knotenbandornamentik immerhin verwandt zu sein.262 Moriskentänze (Ludwig Nr. 58, 285, 370)263 Die Musik- und Tanzwissenschaft unterscheidet drei Typen des ‹Moriskentanzes›.264 Nicht jeder der drei Typen indes aktualisiert den Bezug auf die spanische oder nordafrikanische ‹maurische› Kultur, die im Namen anklingt; aber es gibt doch auch den einen Typus, der das kriegerische Aufeinandertreffen zwischen Muslimen und Christen ganz dezidiert inszeniert bzw. choreographiert. Es ist daher zu fragen, in welchem konkreten
261 Vgl. exemplarisch Ananda K. Coomaraswamy, The Iconography of Dürer’s «Knots» and Leonardo’s «Concatenation», in: The Art Quarterly 7 (1944), S. 110 (darüber hinaus Literaturangaben, S. 126, Fn 11); Fumagalli, Leonardo ieri e oggi, a.a.O., S. 51; Pochat, a.a.O., S. 37; Gereon Sievernich / Hendrik Budde (Hg.), Europa und der Orient 800–1900, Gütersloh/München 1989, S. 604 [Katalogteil]. Die Stelle bei Vasari, Leben, auf S. 21 (eine aus der Serie ausgewählte Abbildung auf S. 20). 262 Siehe Mack, a.a.O., S. 103f. (die Gegenüberstellung der Keramik und eines auf Leonardo zurückzuführenden Drucks findet sich auf S. 104). Ein wirklich eingehender Vergleich der Muster ist hier jedoch nicht gegeben. 263 Siehe auch Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hrsg. von André Chastel, München 1990, S. 210. 264 Siehe Monika Woitas, [Art.] Schwerttanz, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik [2MGG], hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 8, Kassel etc. 1998, Sp. 1207–1216, insbesondere Sp. 1212ff. Es handelt sich um einen ‹Preistanz›, bei dem es um möglichst groteske Verrenkungen geht; des Weiteren um den ‹Solotanz› eines Knaben und zuletzt auch um einen ‹Schwerttanz›, d.h. um eine eigentliche – getanzte – Konfrontation.
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Bezugsfeld und Assoziationsraum dieser Tanz erwähnt wird und ob sich, über die Etymologie hinaus, ein Bezug zur ‹maurischen› Kultur überhaupt offenbart.265 Leonardo selbst, der den ‹Moriskentanz› verschiedentlich in seinen Schriften zur Malerei erwähnt, bezog sich eindeutig auf jenen Typus des Tanzes, der, abgesehen von der Etymologie, eigentlich keinen Bezug auf ‹Maurisches› erkennen lässt. Es handelte sich um einen besonders wilden, närrischen, verrückten, an die Bewegungen von Betrunkenen oder Besessenen gemahnenden ‹Rüpeltanz›.266 Darüber hinaus: Zwei Dienstherren Leonardos tanzten, je auf ihre Weise, diesen Tanz: In Verkleidung bzw. Maskierung der eine, Cesare Borgia, angelegentlich des Neujahrstages 1502 und wahrscheinlich in Verkleidung, weil sich für den höhergestellten Herren die ‹Moresca› im Grunde nicht schickte.267 Und ein venezianisches Spottlied hieß den Moro, den in Bedrängnis geratenen und zuletzt glücklosen Herzog von Mailand, ‹tanzen›. D.h. die Vorstellung des tanzenden, forciert zum Tanzen gebrachten ‹Mohren› hatte Eingang gefunden in die volkstümliche politische Semantik. Man verspottete dergestalt den in Bedrängnis geratenen hohen Herren, wobei sich andeutet, dass der ‹Moriskentanz› in der abendländischen Imagination ein Eigenleben führte und jedenfalls nicht nur von der Wortherkunft, der Etymologie her, betrachtet werden sollte.268 b) Der Maghreb-Raum Leonardo blickte auf den Maghreb-Raum zum einen als auf einen Raum der römischen Geschichte, zum anderen als auf einen Teil einer erdgeschichtlichen geologischen Formation, die das Mittelmeerbecken mit seinen Küstenregionen umfasste. Die Kulturen des nordafrikanischen Raumes – bzw. die Dynastien der Mariniden und Hafsiden –269 standen ihm dabei offenkundig weniger vor Augen,270 obschon sich aufgrund des 265 Das oben erwähnte Warenzeichen eines Mailänder Goldschmieds zeigte im Übrigen eine ‹Zigeunerin mit Kind, einen Moriskentanz vollführend›. 266 Möglicherweise aus Leonardos Werkstattumfeld sind gar Zeichnungen von ‹Moriskentänzern› überliefert. Siehe Michael Kwakkelstein, Leonardo da Vinci as a physiognomist. Theory and drawing practice, Leiden o.J. [Dissertation 1994] (zwei möglicherweise Verrocchio zuzuschreibende Zeichnungen sowie ein Stich des Monogrammisten ‹S.E.› als Abb. 4–6, o.S.). 267 Ivan Cloulas, Die Borgias. Biographie einer Familiendynastie, München 1993, S. 321. In dieser Zeit steht Leonardo in den Diensten des Valentino. – Gregorovius – im Rahmen seiner Biographie von Lucrezia Borgia – geht ausführlich auf das Thema ein (Ferdinand Gregorovius, Lucrezia Borgia, München 1982 [urspr. 1875], siehe vor allem S. 214; außerdem S. 185 und 216). Allerdings illustriert er auch die Schwierigkeiten, den Begriff bzw. die Sache genauer zu fassen. Gregorovius’ Vorstellung von Moriskentanz bewegt sich zwischen Ballett und ‹Rüpeltanz›, Letzteres wohl in der Nähe der Vorstellung, die auch Leonardo mit der ‹Moresca› verbunden haben dürfte. 268 Zitiert etwa bei B, S. 358 (ohne Quellenangabe). Im Morgante tanzt ein Pferd den Tanz (XVI, 67). 269 Siehe Haarmann (Hg.), a.a.O., S. 264ff. 270 Dies einer Assoziation Jean Paul Richters zum Trotz, der – das oben erwähnte ‹etruskische Mausoleum› im Auge – auf Bauwerke in Algier verwiesen hatte, die seiner Ansicht nach der Zeichnung ähnelten (R II, S. 45, Nr. 757 D, Fn 2).
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Handels (und auch der Piraterie) vielfache Verbindungen über das Mittelmeer hinweg ergaben.271 Flüchtlinge und Auswanderer aus dem ‹maurischen› Spanien gelangten nach Nordafrika, in die Gebiete jener ‹Mauren›, von denen ihr Übername sich einstmals abgeleitet hatte. Und wenn im Raum der Renaissance-Gesellschaften von dem ‹Maurischen› die Rede war, ist oft nicht mehr zu eruieren, was genau gemeint ist (sofern überhaupt jeweils etwas klar Abgegrenztes angesprochen war). Obschon der Süden hier nicht in allererster Linie interessiert, sei doch erwähnt, dass Leonardos Karten und Beschreibungen verschiedentlich in südlicher Richtung in den afrikanischen Raum, also in die ‹glühenden Gegenden Afrikas›, auch ausgreifen.272 Die Ptolemäische Geographie – nebst den Berichten eines Benedetto Dei vielleicht – gab auch hier die teilweise etwas zweifelhafte Basis ab. Wenn sich die Geographie der Renaissance in diesen südlichen Breiten mehr oder weniger in Imagination auflöste,273 kontrastierte dies mit einem Blick auf das Afrikanische im Innenraum der Renaissance-Kultur.274 In ein Wechselspiel gebracht wurden diese beiden Räume, Italien und Afrika, schließlich auch durch die Auffassung des Maghreb-Raums als eines Imaginationsraums der Sage, Legende und Literatur, deren Geschöpfe sozusagen zwei Welten belebten und besiedelten. Ein Wortspiel mit der ‹Berberei› Unter Leonardos ‹Rätselprophetien›, also Rätseln, die in Form von verschlüsselten ‹Orakelsprüchen› gegeben sind, findet sich folgendes Rätsel: «Alle Menschen werden nach Afrika fliehen.»
Des Rätsels Lösung bzw. der versteckte Sinn der ‹Prophetie› lautet hier: ‹Zu den Barbieren›. 271 Benedetto Dei hatte sich an ‹nomi moreschi di Barberìa› interessiert gezeigt. Siehe Benedetto Dei, La Cronica dall’anno 1400 all’anno 1500, hrsg. von Roberto Barducci, Firenze 1984, S. 183. – In den Gestüten zu Mantua sollen Berberpferde gehalten worden sein (Landucci, a.a.O., S. 172, Fn 2). Das Berberpferd erwähnt Leonardo selbst nicht (ein Bezug allerdings bei Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 289). – Dürer zeichnete im Übrigen einmal den Berberlöwen, dessen Merkmal eine üppig ausgeprägte Mähne ist (Fritz Koreny, Albrecht Dürer und die Tier- und Pflanzenstudien der Renaissance, [Kat.] München 1985, S. 162). 272 Bemerkenswert ist die ‹erdgeschichtliche Kartenskizze› in CA 901 [ex328v-b] sowie die Karte in Ms. I 47r, die den Nilverlauf gibt. Siehe auch TuA, S. 243 (‹Afrika jenseits des Atlas-Gebirges›), S. 252 (‹glühende Gegenden›), S. 250 (‹Sandmeer jenseits des Atlas-Gebirges, ehemals vom Salzmeer bedeckt›), S. 261 und S. 602 (Flüsse Afrikas; Mondberge). 273 Wir wissen allerdings von Malern italienischer Herkunft in Äthiopien (Brancaleone, Becini). Siehe Julian Raby, Venice, Dürer and the Oriental Mode, London 1982, S. 63. Bezüglich Francesco Brancaleone und seines ebenfalls in Äthiopien tätigen Neffen siehe auch AKL. 274 Es seien hier die Themen ‹Sklaverei› und zeitgenössische Erklärungen der ‹schwarzen Hautfarbe› sowie die sich schon früh entwickelnden (auch sexuellen) Stereotypen bloß andeutungsweise erwähnt. Schwarzafrika ist hier nicht als ein Teil des ‹Orients› aufgefasst, obschon es aus Leonardos Perspektive natürlich auch ein Teil des exotischen Raumes ist.
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Im Deutschen macht diese Auflösung auf den ersten Blick keinen Sinn, im Italienischen aber ergibt sich ein Wortspiel mit dem ähnlichen Klang von ‹Barberia›/Berberei und ‹barbieri›/Barbiere.275 Geographie und Geologie: Der Maghreb-Raum als Teil des Orients? Wie sinnvoll ist es, in einer Zusammenschau von Orient-Bezügen auch die Geographie des Maghreb-Raumes einzubeziehen? Ist damit etwas ‹Orientalisches› erfasst? Ähnlich wie im Hinblick auf das ‹maurische› Spanien ist von lokalen Kulturen zu sprechen, die vom Osten, von der muslimisch-arabischen Kultur her eine Prägung erhalten haben. Aber die Irritation, die sich aus der Frage auch ergibt, ist gleichfalls fruchtbar. Denn ein fragender Blick richtet sich auf die entsprechenden geographischen Notizen Leonardos und erkennt, dass diesen auf den Maghreb-Raum bezogenen Notizen ein kulturgeographischer Gehalt vollständig abgeht. Was im Horizont dieser Notizen erscheint, ist eine erdgeschichtliche Formation: das Mittelmeerbecken in seiner geologischen Struktur und mit seinen neuralgischen Punkten: dem Abfluss in Gestalt der Meerenge von Gibraltar und dem nicht mehr vorhandenen Abfluss in Richtung des Roten Meeres.276 Und als eine Besonderheit ist eine Gezeitenanomalie bei Tunis vermerkt.277 Wenn es berechtigt ist, Nordafrika zum Orient zu zählen, weil dieser Raum eine kulturelle Prägung von Osten her erhalten hat, so erscheint dieser Raum in Leonardos Denken also nicht als ein Teil dieses erweiterten Kulturraums ‹Orient›, sondern als ein Naturraum, als physische Realität und insbesondere als Raum der Zuflüsse ins Mittelmeer. Bezeichnend ist auch, dass Leonardo für die Flüsse Afrikas zwar Namen hat, aber nicht eigentlich für die Regionen oder Länder, jedenfalls nicht auf seinen Kartenskizzen des Mittelmeerraums. Was Europa angeht, hat er die entsprechenden Namen gelegentlich seinen Kartenskizzen eingeschrieben, oder er verwendete Buchstabenkürzel, die er – zusammen mit den Namen – daneben gab. Für Länder Afrikas hatte er – wir blicken auf die Detailkarte zur ‹Fliegerkarte› – zwar Buchstabenkürzel parat, aber der Platz daneben ist leer, d.h. aus uns nicht einsichtigen Gründen verzichtete Leonardo darauf, neben die Kürzel auch Namen zu setzen.
275 TuA, S. 867; Marinoni Nr. 45; siehe auch Vecce, a.a.O., S. 296. 276 Bezeichned ist, dass Leonardo das Mittelmeer selbst einmal als Strom auffasst (TuA, S. 262). Der Nil erscheint so als Nebenfluss. – Siehe bezüglich ‹Gibraltar› bzw. der Meerenge von ‹Gades› und den dazugehörigen Vorgebirgen ‹Calpe›/‹Abyla›, den ‹Säulen des Herkules/Herakles›: TuA, Index (Gibraltar, Gades). Leonardo zufolge hatte die Entstehung eines Durchbruchs an dieser Stelle ein Absinken des Mittelmeers zur Folge. 277 TuA, S. 268. Möglicherweise geht diese Information auf Seefahrer oder Kaufleute zurück. Städte Afrikas, von Ägypten einmal abgesehen, nennt Leonardo ansonsten bloß summarisch (siehe ebd., S. 856f.).
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Eine gewisse orientalische Konnotation erfährt dieses Kompendium der erdkundlichen Notizen dadurch, dass Leonardo sich mit Blick auf Nordafrika auch sporadisch mit dem Phänomen der Wüste befasst. Dies aber bloß gelegentlich und meist im Zusammenhang des Phänomens der Sandwelle, das ihm auf heimischen Sandbänken ganz real vor Augen stand.278 Leonardo weiß um die Sahara bzw. um das ‹Sandmeer› hinter dem Atlas-Gebirge,279 aber über diese Barriere geht sein Blick im Grunde nicht hinaus, vor allem nicht in kulturgeographischer Hinsicht (auch wenn er die ptolemäischen Namen für die halblegendären Gebirge und Sümpfe im Innern Afrikas kennt). Das Phänomen der Wüste, ein gewissermaßen klassischer Bestandteil träumerischer Vergegenwärtigungen des Orients, findet bei ihm, sofern man überhaupt davon sprechen kann, eine nüchtern-distanzierte Behandlung. Groß ist die Diskrepanz zwischen der Konkretheit der Beobachtung eines Fußabdrucks im Ufersand, der sich mit Wasser füllt, und dem bloßen Wissen von ‹glühenden Gegenden› im südlicheren, mittleren Afrika.280 Bezieht man in diesem Kontext auch eine Morgante-Lektüre mit ein, so zeigt sich, dass Leonardos Vorstellung im Grunde einer Reduktion des Orients der literarischen Imagination entspricht, der in der Ritterepik ein Raum abenteuerlicher Luftfahrten auch ist. Denn über die Flüsse Afrikas, von denen Leonardo sachlich-nüchtern spricht, fliegen – in der phantastischen Imaginationswelt des Morgante-Autors – die Pferde und die Helden buchstäblich hinweg, und zwar in Richtung Gibraltar, wo – gleichsam im ‹Luftraum› – jener berühmte Diskurs stattfindet, der – Kolumbus antizipierend – von der Möglichkeit der Fahrt gen Westen auf dem Ozean handelt.281 Man muss die Möglichkeit erwägen, dass auch Leonardo an allen diesen ‹Fahrten› innerlich beteiligt war, aber sichtbar wird uns nur, wie er gleichsam einen Imaginationsraum ‹Orient› wieder auf ein Substrat der physischen Geographie reduziert. Was Leonardo indessen aber nicht hat, oder jedenfalls nicht zum Ausdruck bringt, ist ein Wissen um die zeitgenössischen kulturellen Gegebenheiten im Maghreb-Raum. Nordafrika als Raum der römischen und spätantiken Geschichte Leonardo da Vinci kam mit der römischen Geschichte unter anderem durch Roberto Valturio in Berührung. Dieser, ein Humanist und Militärhistoriker, hatte unter dem Titel De re militari eine umfangreiche Schrift über das Kriegswesen zusammengestellt, 278 Carlo Pedretti hat die Frage aufgeworfen, ob Leonardo von ‹libbia›/‹Sand› oder von Libyen spricht (vgl. TuA, S. 263: Lesart ‹Lybien› wie auch S. 250). Siehe seine Ausführungen in der Edition des Codex Leicester, S. xl, Fn 3 (in Bezug auf Ms. F 61r). – Sandhügel bzw. Sandwellen bei Leonardo: TuA, S. 231, 263, 446. 279 TuA, S. 250 (‹Sandmeer›); siehe auch S. 246 (Atlas). 280 Ebd., S. 231. 281 Morgante, S. 912 (Kommentare zu Canto XXV).
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das zwar nur wenige Bezüge zur zeitgenössischen Kriegstechnik enthielt,282 aber eine Art Kompendium der antiken Literatur zu diesem Thema darstellt. Aus diesem Werk, d.h. wahrscheinlich aus einer italienischen Fassung (einer ‹grauenvollen Übersetzung›, wie Marinoni schreibt) hat sich Leonardo schon früh umfangreiche Exzerpte angefertigt, die uns im so genannten Ms. B vorliegen.283 Valturios Werk inspirierte dazu, das antike Militärwesen im Rahmen der allerneuesten technischen Möglichkeiten neu zu durchdenken, zu interpretieren und eventuell bzw. in Teilen neu zu schaffen. Eine Lektüre des ‹Valturio› hatte aber auch den Nebeneffekt, mit Bruchstücken der antiken Geschichte in einem weiteren Sinne bekannt zu werden, d.h. mit diversen Figuren, Orten, Handlungen. Und diesem Nebeneffekt gilt hier und im Weiteren verschiedentlich unsere Aufmerksamkeit. Denn Nordafrika – im Rahmen der römischen Militärgeschichte – ist für Leonardo auch die Heimat Hannibals und deswegen auch mit der Verwendung des Kriegselefanten assoziiert.284 Neben den Punischen Kriegen stand Leonardo in einem gewissen Sinne aber auch die Geschichte der Spätantike im nordafrikanischen Raum vor Augen, und es sind ganz andere Autoren, die in dieser Hinsicht bedeutsam sind. Wir finden auf Bücherlisten Leonardos bzw. in seiner Bibliothek nämlich auch Väterliteratur. Namentlich Laktanz und Augustin, deren Leben (und Legende) teilweise mit dem nordafrikanischen Raum verknüpft ist, erscheinen mit jeweiligen Werken.285 Nordafrika als Imaginationsraum der europäischen Literatur Nordafrika – in der Vorstellungswelt der Renaissance – stellte eine von vielfältigen Geschöpfen gleichsam besiedelte ‹literarische Landschaft› auch dar. Das heißt: Es situierten sich literarische Erzählungen in dieser Landschaft, es lebten diese Erzählungen, ihr Personal, ihre Motivik aber auch in der Vorstellungswelt der Renaissance, und sie transferierten sich in mehr oder minder realer Gestalt (wie wir gleich sehen werden) aus diesem Raum hinüber nach Italien. Gleich zweifach ist hier ein morbides, aber für die Malerei (und Sehtheorie) faszinierendes Motiv im Spiel: nämlich das Töten durch den Blick bzw. den Anblick.
282 So DoSB. 283 Siehe Augusto Marinoni, Bewegung und Kraft bei Leonardo, in: Frank Fehrenbach (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 82. – Solmi verglich dereinst die lateinische Version mit den Exzerpten Leonardos (Solmi, S. 277ff.). 284 TuA, S. 635, 643 (jeweils mit Bezug auf Livius), S. 649 (Elefanten am Po), S. 653 (Streitwagen ersetzen Elefanten); siehe auch S. 644 (Numidier). – Die Darstellung eines Kriegselefanten wurde auch schon in W 12332 vermutet (und sogar mit dem vermeintlichen Orient-Aufenthalt in Zusammenhang gebracht (vgl. den Kommentar von Kenneth Clark im Rahmen der Edition). 285 Laktanz: siehe TuA, S. 910 bzw. 917, sowie Solmi, S. 195f.; Augustin: siehe Reti Nr. 11 und Nr. 50, sowie R II, S. 388, Nr. 1565.
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Ein Element des Perseus-Mythos, den unter anderem Ovid vermittelte,286 ist die Medusa-Episode. Und diese, die Bezwingung der Medusa durch Perseus, lokalisierte sich in der libyschen Wüste.287 Es ist bekannt, dass auch Leonardo da Vinci das Motiv der Medusa gestaltet haben soll, aber leider – anders als man es im 19. Jahrhundert zu wissen glaubte – ist kein gemaltes Werk auf uns gekommen.288 Zum Zweiten situierten mittelalterliche Tierallegorien im nordafrikanischen Raum den Lebensraum jenes anderen legendenhaften Lebewesens, dessen Blicke töteten: des Basilisken nämlich, den Leonardo im Übrigen auch im Rahmen seiner wissenschaftlichen Studien zur Optik erwähnt, der in seinen Augen also eine gewisse, wie auch immer geartete Realität darstellte. Er lebte demnach in der Cyrenaika289 und es ist uns überliefert, dass Tommaso Masini da Peretola, genannt ‹Zoroastro› und einstmals Leonardos Gehilfe, an einer Römischen Brücke eine ‹Schlange mit vier Beinen› gefunden haben soll und offenbar der Ansicht war, dieses Reptil sei von Libyen her von einem Greif nach Rom getragen worden.290 Lukans Erzählung von dem Giganten Antäus in seinen Pharsalia dürfte sodann eine direkte oder indirekte Anregung auch für Leonardos burlesken Brief an Benedetto Dei gewesen sein, der von einem schwarzen Giganten, von der libyschen Wüste her kommend, berichtete. Schon Jean Paul Richter, in Humanisticis beschlagen, hatte diesen literarischen Bezug verzeichnet.291 Und schließlich: Die Berberei als Hort der ‹maurischen› Piraten ist ein Schauplatz einer Künstlernovelle von Matteo Bandello, als deren Erzähler – innerhalb einer Rahmenerzählung – Leonardo da Vinci auftritt: Fra Filippo Lippi ist es, der im Rahmen dieser literarischen Schöpfung in Gefangenschaft ‹maurischer› Piraten gerät, aber dank seines zeichnerischen Talents die Freiheit wieder erlangt (bzw. sich ‹erzeichnet›).292 286 Vgl. Reti Nr. 41. Auch Valturio kam auf Perseus zu sprechen (siehe Solmi, S. 284). 287 Die Verbindung mit dem Maghreb-Raum war auch dem Morgante zu entnehmen (Morgante, XXV, 311; siehe auch S. 829f. und 919 betreffs Lukans Erklärung der Entstehung diverser Schlangen aus dem Blut der Medusa). 288 M, S. 341. 289 Siehe TuA, S. 150 (Optik), 842 (Allegorie), 847 (Basilisk, beheimatet in der Cyrenaika; Basilisk und Wiesel). – Siehe auch Morgante, XIX, 66. 290 Siehe N, S. 190. Bezüglich ‹Zoroastro› siehe die Sektion ‹Persien› im Folgenden. 291 R II, S. 339, Fn zu Nr. 1354 (in der gleichen Sektion wie auch das ‹Diodario-Material›). ‹Luchano› ist Reti Nr. 36. Vgl. auch Morgante, S. 928 (Lukans Antäus als Anregung für Pulci). 292 Siehe Otto Kurz, Zu Vasaris Vita des Fra Filippo Lippi, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 47 (1933), insbesondere S. 9f. (Leonardo als ‹Quelle› bzw. als Erzähler). Auch Vasari hat diesen Motivkomplex. – Bezüglich des Zeichnens als Signum des ‹freien Mannes› siehe Ernst Kris / Otto Kurz, Legend, Myth and Magic in the Image of the Artist. A historical Experiment, New Haven 1979, S. 92. – Ob Leonardo mit ‹maurischen› Piraten befasst war, als er über eine Art ‹Kommandounternehmen› zur See nachdachte, wissen wir nicht (dieses Material war einstmals als Teil der Unternehmungen gegen die Venedig bedrohenden Türken gedeutet worden; es gilt jedoch heute als Teil der Maßnahmen gegen das Piratenunwesen vor der ligurischen Küste; siehe Sektion ‹Das Osmanische Reich›.
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c) Ägypten Ägypten, das Land der Nilflut, war seit alters her eine Herausforderung – nicht nur, aber auch – für die abendländischen Ingenieure und Bewässerungsspezialisten. Alhazen, die erste Autorität in Sachen Optik, war mit dem Phänomen befasst gewesen. Und was hätte einen Künstleringenieur wie Leonardo mutmaßlich zu einem Ägypten-Aufenthalt bewegen können, wenn nicht die Herausforderung der Nilflut und des Wasserbaus? Zudem war zu seiner Zeit Bedarf gegeben, denn die Bewässerungssysteme im Niltal waren marode geworden, einer eigenen Dammbaubehörde der Mamluken zum Trotz.293 Eine Schrift über die Nilflut findet Erwähnung in Leonardos Notizen;294 im 17. Jahrhundert erachtete man ihn – dank Kenntnis der Geschichte – als kundig im Wasserbau, kundig wie die Ägypter; und doch kam im Rahmen der Debatte über einen etwaigen Orientaufenthalt Leonardos niemand auf die Idee, ihm ein entsprechendes Interesse zu unterstellen. Dies mag damit zu tun haben, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert das Bild des Künstlers noch das dominierende Bild von Leonardo war – und das Bild des Ingenieurs verstellte.295 Warum hatte er Florenz verlassen? Weil man ihn übergangen hatte. Weil es ihm zu eng geworden war. Weil andere Künstler die Aufträge bekamen, die seiner würdig gewesen wären. Dergleichen wurde erwogen, nicht aber eine Faszination der hydrologischen Herausforderungen des Orients, der Bewältigung der Nilflut, der Bewässerung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen und der Wasserleitungen ganz generell. Obwohl Jacob Burckhardt – dank feinem Gespür und Textkenntnis – auf Felix Fabri, den reisenden Dominikaner aus Ulm, verwiesen hatte. Fabri hatte tradiert, ein Deutscher aus Oppenheim habe im Auftrage des Sultans in Alexandria eine wunderbare Hafeneinfassung planerisch verantwortet.296 Ägypten steht dem Italien zur Zeit der Renaissance viel näher als man denkt, und zwar nicht nur das zeitgenössische, mamlukische Ägypten als ein Handelspartner, sondern auch das Alte Ägypten. Es grassierten die Versuche, altägyptische Vorgeschichten – der christlichen Theologie, der Dynastien, der wissenschaftlichen Forschung – zu konstruieren.297 Und Luigi Pulci karikierte im Morgante derlei ‹Erfindungen der Tradition›. 293 Siehe Lutz Knörnschild, Zur Geschichte der Nilwassernutzung in der ägyptischen Landwirtschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. etc. 1993, sowie S. J. Borsch, Nile Floods and the Irrigation System in Fifteenth-Century Egypt, in: Mamlūk Studies Review 4 (2000), S. 131–145. 294 Siehe unten. 295 Es kommt hinzu, dass die Mamlukenforschung natürlich ein Forschungszweig außerhalb des Horizonts der eigentlichen Renaissance-Forschung war (und überwiegend noch ist). Ein überaus dynamischer Zweig im Übrigen (vgl. etwa Stephan Conermann / Anja Pistor-Hatam (Hg.), Die Mamlūken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur. Zum Gedenken an Ulrich Haarmann (1942–1999), Schenefeld 2003), von dessen Aufschwung in jüngerer Zeit auch die Renaissance-Forschung noch profitieren dürfte (und sollte). 296 Siehe Wilhelm Lübke, Lionardo da Vinci als Architekt, in: ders., Kunstwerke und Künstler. Dritte Sammlung vermischter Aufsätze, Breslau 1886, S. 222 (mit Zitat). Fabri berichtete dies allerdings aufgrund von Hörensagen. 297 Siehe unten die Ausführungen zu Pacioli und zum Hermetismus. Bezüglich der Borgia, in ihrem Bezug auf das Alte Ägypten, siehe Sabine Poeschel, Alexander Maximus. Das Bildprogramm des Appartamento Borgia im Vatikan, Weimar 1999, insbesondere S. 165 (Osiris als ein Urahne) und passim.
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Indem er – aus seinem Buch heraus – verkündete, ein ägyptischen Buch, geschrieben von einem gewissen ‹Alfamenonne›, preise schon die Margutte-Erzählung, die er dann gab (und die dem Rolandsstoff im Grunde fremd ist). In einer Serie von Übersetzungen aus dem originalen Persischen sei dieser ‹Urtext› letztlich ins Florentinische übertragen worden; und dieser Weg der Übersetzungen habe über das Arabische und Chaldäische, Syrische und Griechische, Hebräische und Lateinische geführt.298 In perfekter Transparenz beglaubigte sich Pulci, indem er – vor aller Augen – Quelle samt Tradition und nicht zu vergessen: ‹sich selbst› erfand. Dies mit all seinem Talent, den unschuldigen Sünder zu geben, hier für einmal auf philologischem Terrain. Leonardo, insofern er ein ‹Ägypten› anpeilte, schien einmal mehr für den zeitgenössischen Orient kaum ein Interesse zu finden. Er zeichnete zwar die Schiffsrouten, die über Rhodos und Jaffa oder über Zypern nach Ägypten führten.299 Aber er war am Überzeitlichen bzw. an der longue durée der Erdgeschichte doch weit mehr interessiert als an den innermamlukischen Verhältnissen und – wie im Haupttext gesehen – an den Feinheiten der Ämterhierarchie. So dürfte er auch kaum erfahren haben, dass die Militärtechnologie der Mamluken, noch eben von den Osmanen gefördert, letztlich der Feuerkraft der Osmanischen Artillerie dann unterlag.300 In Ägypten etablierte sich, ab 1517 und nun für eine lange Dauer, mit den Osmanen einen neue herrschende Oberschicht.301 In ihrer Antikenrezeption vollzog die europäische Renaissance natürlich auch die Ägypten-Rezeption der Alten gleichsam nach. Man stieg durch die Zeiten, und an dieser Suche nach dem Ursprung hatte auch Leonardo teil. Ein Blick auf das Alte Ägypten wurde aber nicht wirklich frei, vielmehr regte dieses Alte Ägypten, wie es sich durch vielfache Prismen hindurch gesehen darstellte,302 die Imaginationsbildung ungemein an, so dass zwischen einer eigentlichen Rezeption und einer création imaginatrice doch unterschieden werden muss. Längst nicht alles, was man unter ‹Ägypten› subsumierte, war mit ‹Ägypten› auch identisch – jedenfalls nicht immer in Reinkultur. Eine Kategorie des ‹Pseudo-Ägyptischen› bei Leonardo ist dieser Sektion – am Ende – deshalb beigestellt.
298 Morgante, XIX, 153f. 299 Die entsprechenden Karten sind in der Sektion ‹Das heilige Land› ausführlicher besprochen. 300 Albrecht Fuess, Dreikampf um die Macht zwischen Osmanen, Mamlūken und Safawiden (1500–1517). Warum blieben die Mamlūken auf der Strecke?, in: Stephan Conermann / Anja Pistor-Hatam (Hg.), Die Mamlūken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur. Zum Gedenken an Ulrich Haarmann (1942–1999), Schenefeld 2003, S. 239–250. 301 Haarmann (Hg.), a.a.O., S. 323ff. 302 Über Albumasar bzw. die arabische Astrologie mag sich auch ein Teil ägyptischer bzw. hellenistischer Sternkunde vermittelt haben. Vgl. erneut [Abū Ma‘shar], a.a.O., hier S. 493 (Erwähnung der ägyptischen Gelehrten).
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Geographica Pulcis imaginärer Pyramiden-Tourismus303 war in einem Raum situiert, den Leonardo – soweit ersichtlich – hauptsächlich in erdgeschichtlicher Perspektive betrachtete. Nicht Memphis an sich, nämlich die alte Königsstätte, interessierte ihn in diesem Rahmen, sondern wo dieses Memphis einstmals gelegen hatte (nämlich am Mittelmeer), früher, als – ihm zufolge – über den Ebenen Italiens noch die Fische schwammen.304 Von einer angemessen mächtigen Präsenz ist – wenig überraschend – bei Leonardo der Nil.305 Als ein verkehrstechnisches Hindernis bzw. als Hindernis für Truppenbewegungen gewahrt er ihn zuerst,306 und auch als Heimat eines Krokodils sowie des kleinen Vogels, der diesem in den Rachen pickt.307 Später sieht er ihn in seiner Nutzfunktion, die in Form der zyklischen Überschwemmungen auch etwas Bedrohliches hat.308 Leonardo geht seinem Ursprung nach und schätzt Länge sowie Volumina der Wassermengen ab.309 Mit der pseudo-aristotelischen Schrift über die Nilflut, für ihn allerdings ein aristotelischer Text, wendet er sich sodann einem Phänomen zu, das in weiteren – auch klimatischen – Zusammenhängen betrachtet werden will und vielleicht auch und wiederum – von seinen Folgen her.310 Ein gleichsam übereuropäisches Konzept scheint hier auf, wenn Leonardo das Mittelmeerbecken in seiner Abhängigkeit auch von den Strömen Afrikas betrachtet, ohne allerdings ein kulturelles Konzept damit zu verbinden. Das Mittelmeer ist ihm gleichsam ein Strom – und der Nil ein Zustrom.311 Als Europäer positionierte sich Leonardo gedanklich am Gestade des Meers von Ägypten, blickte gen Süden, nach Äthiopien hin, und folgte dem Stromlauf.312 Es ist ein Wille zum theoretischen Verständnis der sichtba303 Morgante, XXV, 122. 304 TuA, S. 243. 305 Es ist hier darauf verzichtet, alle Belege aufzuführen. Stattdessen sei auf die Indices in TuA, R und P hingewiesen, sowie auf die Indices in der Edition des Codex Leicester und der diversen anderen Faksimile-Editionen. Im Weiteren ist nur auf besonders interessante, weil signifikante Belegstellen Bezug genommen. 306 TuA, S. 649. 307 TuA, S. 848. Papyrus im Übrigen ist in Ms. F 56r und Ms. I 64v erwähnt. – Bekanntlich wollte Leonardo im Rahmen vergleichender Anatomie sowohl Krokodilkiefer wie auch Zunge des Spechts beschreiben (K/P 113r). Doch es ist nicht von vornherein anzunehmen, dass dies nur aufgrund eigenen Augenscheins möglich war. Es stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Verhältnis von ‹Wissen aus Erfahrung› und ‹Wissen aufgrund von Tradition›. 308 Vgl. auch TuA, S. 602 (Ursprung; Länge); S. 246, 261 und 582 (Bewässerung). 309 TuA, S. 509 (Volumen). 310 Siehe TuA, S. 906, bzw. [Aristoteles oder Pseudo-Aristoteles], [De inundatione Nili], in: Felix Jacoby (Hg.), Die Fragmente der Griechischen Historiker, Teil 3, C 1, Nr. 646, Leiden 1958, S. 192–199. 311 TuA, S. 224 und 249f. 312 Ludwig Nr. 936: «Sehr fern ist der Horizont, den man am Gestade des Meeres von Egypten sieht. Wenn man dem Lauf des Nils entgegenschaut, nach Aethiopien zu, mit dem flachen Lande an seinen beiden Seiten, dann sieht man den Horizont nur verschwommen, ja er ist ganz unkenntlich. Denn hier liegen vor dem Auge dreitausend Miglien Flachland da, das nach der Höhe des Stromlaufs zu ganz allmählich ansteigt, und so legt sich zwischen das Auge und den äthiopischen Horizont eine so
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ren Welt und zur Darlegung dieses Verständnisses, die ihn zu diesem Transfer bewegt. Erst die Nachwelt hat ihn zu dem ‹Niltouristen› gemacht, der er – als ein historisches Individuum – nicht ist. Auch in gestalterischer Hinsicht war im Übrigen vom Nil zu sprechen. Emboden erwähnt die antike Nilstatuette im Vatikan, konkret: im Belvedere, der Wohnumgebung Leonardos.313 Ägyptenrezeption der ‹Alten› – nachvollzogen in der Renaissance Den interessierten Kreisen der Renaissance war bzw. wurde ein regelrechter, kaum auszuschöpfender Fundus von Informationen über das Alte Ägypten zugänglich,314 so dass es eigentlich seltsam ist, dass Leonardo da Vinci dieses Reservoir womöglich gar nicht ausschöpfte, jedenfalls nicht für uns ersichtlich. Würde man allein die Ägypten-Bezüge in Albertis Baukunst oder in den bekanntesten Architektur-Traktaten in einer Zusammenschau darbieten wollten, es würde diese Zusammenschau bei Weitem länger werden als die hier Ägypten gewidmete Sektion. Es stellt sich daher die Frage, warum Leonardo da Vinci eine Vorliebe für Orientalisches unterstellt worden ist, Alberti hingegen aber nicht. dichte Schicht von Luft, dass alles dahinter weiß wird, daher das Vorhandensein des Horizonts für die Wahrnehmung verloren geht. Derartige Anblicke bewirken in der Malerei eine gar große Schönheit des Anblicks. Freilich muss man zu beiden Seiten einige sich hintereinanderschiebende Gebirge anbringen, mit gradweise abgetönten Farben, wie es die Ordnung der Farbenabnahme in weiten Entfernungen verlangt.» Pedretti schrieb im Hinblick auf diese Passage (P II, S. 207): «[…] he describes the desert of Egypt with the vividness of a personal experience.» Ist aber überhaupt von ‹Wüste› die Rede? – Die Passage, eine Stellungnahme zum Thema ‹Nilschilderung›, zeitlich gleichsam zwischen dem ‹Mosaik von Praeneste› und Altdorfers Alexanderschlacht, wird selten im Zusammenhang (der beiden zusammengehörenden Abschnitte) gegeben. Sie stellt so manches Rätsel: Spielt hier ein Bezug auf antike Bilder, antike Nilschilderungen eine Rolle (erwähnt etwa in den Eikones des Philostratus)? Oder in anderen Worten: Auf welche Bilder bezieht sich Leonardo, wenn er von ‹derartigen Horizonten› spricht? Auf eigene Bilder? Die dadurch eine orientalische Konnotation erhalten? Und worauf gründet die innere Wahrnehmung Leonardos, der hier zu folgen ist? Steht an ihrem Ursprung ein Erfahrungswissen? Oder bloß sekundäres Wissen? Und schließlich: Aus welchen sekundären Quellen ist das zugrunde liegende Wissen bezogen, falls es sich um sekundäres Wissen handelt (man vergleiche etwa die Ägyptenschilderungen Mandevilles in [Mandeville], a.a.O., S. 90–92, sowie den Bericht einer Pyramidenbesteigung in [Arnold von Harff], a.a.O., S. 132); und wie ist es allenfalls gedanklich verarbeitet und angereichert? – In einer weiteren Passage, in die typischerweise ein Augenzeugenwissen einzufließen scheint, erwähnt Leonardo im Übrigen die schlammig-trüben Wassermassen des Nils an seiner Mündung (TuA, S. 250f.). 313 Emboden, a.a.O., S. 62. Siehe bezüglich der 1513 entdeckten Statue: John F. Moffitt, The Palestrina Mosaic with a «Nile Scene»: Philostratus and Ekphrasis; Ptolemy and Chorographia, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 60 (1997), S. 231 (Abb.) und 232 (Beleg und Literatur). 314 Vgl. etwa Karl H. Dannenfeldt, Egypt and Egyptian Antiquities in the Renaissance, in: Studies in the Renaissance 6 (1959), S. 7–27, auch und insbesondere, was die Textgrundlage angeht (Plinius, Ammian, Strabon etc.).
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Man könnte versucht sein, all die Informationen über Ägypten aufzulisten, die Leonardo leicht greifbar waren (auch in Form des Sammelsuriums an populärem Wissen, als das sich der Morgante darbot). Doch hier interessiert vor allem, was Leonardo an Wissen nachgewiesenermaßen auch verarbeitet hat.315 Das ‹Schweigen der Dokumente› sollte auch hier nicht dazu verleiten über eine Rezeption okkulten Wissens orientalischer Provenienz zu spekulieren. Eine Rezeption der Isis-Legende – beispielsweise – lässt sich nicht nachweisen.316 Und allein das Vorhandensein von Wissensbruchstücken in seiner Bibliothek erlaubt nicht, auf konkrete Lebenshaltungen und Lebensvollzüge zu schließen. Man kann Möglichkeiten erwägen, aber nicht mehr. Ähnlich wie im Hinblick auf das Thema ‹Islam› ist von den kärglichen Ansatzpunkten auszugehen, die uns konkret vorliegen, und in einem zweiten Schritt eine Kontextualisierung zu versuchen, die dann auf den Befunden aufbaut. Es gibt eine Textstelle in den Aufzeichnungen Leonardos, die zwar ziemlich problematisch ist, aber einen solchen Ansatzpunkt darstellen kann. Sie könnte eventuell von anderer Hand geschrieben worden sein – und zwar von links nach rechts.317 Es vereint sich in diesem Textfragment ein Nachvollzug der Ägyptenrezeption der Alten mit einer Inanspruchnahme des Alten Ägyptens als einer eigenen Vorgeschichte, und zwar auf dem Felde der Baukunst der Renaissance. Leonardo, oder wer immer diese Notiz geschrieben hat, bezog sich explizit auf Diodorus Siculus, also auf jenen Gewährsmann, der durchaus auch im Hinblick auf die Isis-Legende einiges zu sagen hatte.318 Hier aber war – wie es scheint, denn die Transkription ist problematisch – von den Bauleistungen der Alten Ägypter die Rede, und diese Ägypter subsumierte der Schreiber unter die eigenen Väter.319 Pacioli erwähnte die ägyptischen Priester ebenfalls als lobenswerte Vorbilder in seiner Vorrede zu De divina proportione.320 Aber eine ‹Familienabhängigkeit›, metapho315 Erneut seien die hellenistischen, in Alexandria tätigen griechischen Ingenieure bloß ergänzend erwähnt. – Ein ‹Tryphon von Alexandria›, den offenbar Valturio erwähnt (R II, S. 375, Fn zu Nr. 1500), findet außerdem Erwähnung (TuA, S. 906). 316 An diesem Beispiel lässt sich veranschaulichen, dass es ein Leichtes war, sofern Interesse gegeben war, der Isis/Osiris-Legende nachzuspüren. Man vergleiche die Hinweise, die Poeschel in Bezug auf die Quellen der Ausstattung des Appartamento Borgia im Vatikan gibt (Poeschel, a.a.O., S. 165ff.). Eine Quelle ist Diodor, den Leonardo einmal selbst – im Zusammenhang mit Ägypten – erwähnt. Siehe unten. 317 CA 890r [ex325r-b]. 318 Andere Quellen waren beispielsweise Augustin oder Laktanz. – Diodors Aussasgen bezüglich der Baukunst sind etwas anders akzentuiert als die ihm in der Passage zugeschriebenen. Sie fokussieren auf die Pyramiden, nicht auf den Städtebau oder den Bau von Burgen und öffentlichen und privaten Gebäuden. 319 Seit Richter (R II, S. 56, Nr. 766) kursiert eine problematische Übersetzung der Passage, die verunklart, dass Leonardo nicht von ‹den alten Architekten, darunter den Ägyptern› spricht, sondern von «I nostro antichi […]»/‹unseren alten…› (siehe z.B. Leonardo da Vinci. Skizzenbücher, hrsg. von H. Anna Suh, Bath 2005, S. 194; TuA, S. 806, hat ‹Italer› statt ‹Ägypter›). Den italienischen Text gibt Richter durchaus korrekt. 320 Sie waren demnach in der Lage, das Phänomen der Mondfinsternis zu erklären (Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 184).
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risch gedacht, hatte er doch weniger im Sinn (oder jedenfalls nicht deutlich formuliert). Und auch in der Passage über die Baukunst scheint sich dieser Zusammenhang etwas zufällig herzustellen, nicht so bewusst oder spielerisch-ernst jedenfalls wie in den Briefen an den ‹Diodario› mit ihren identifikatorischen Passagen (‹unsere Gebiete›, ‹unsere Grenzen›). Die Architektur der Alten Ägypter bzw. ein Symbol für diese Architektur und die Kultur als solche fand bei Leonardo in einer Referenz auf den Obelisken als ein Beutegut der Römer, Erwähnung.321 Möglicherweise bezog Leonardo sich auf Ammianus Marcellinus, den er jedenfalls auch im Zusammenhang seiner militärwissenschaftlichen Exzerpte erwähnte und ein weiteres Mal im Zusammenhang des Brandes der Bibliothek von Alexandria.322 Und dieser Zusammenhang deutet auch an: Es könnte sich um bloße Wissensbruchstücke handeln, die Leonardo aus zweiter oder dritter Hand bezog.323 Pseudo-Ägyptica I: ‹Zigeuner› Wie auch immer diese Wahrnehmung entstanden ist – die ‹Zigeuner› wurden – in den Gesellschaften der Renaissance – vielfach als Ägypter, als ägyptische Pilger wahrgenommen.324 Selbstbezeichnung bzw. die Selbstausweisung der Fahrenden in bestimmten Situationen und die Fremdwahrnehmung durch ihre Umwelt mögen hier zusammengespielt haben. Leonardos Liste seiner zeichnerischen Arbeiten, die auch ein Konterfei des Moro umfasste, dokumentierte bloß, dass er ‹Zigeuner› bzw. eine ‹Zigeunerin› gesehen und gezeichnet hatte. Was er in ihr, in ihnen gesehen hatte, steht dahin. Aber ein direkter oder indirekter Zeuge der Vertreibung der ‹Zigeuner› durch den Moro muss er, wie oben erwähnt, gewesen sein. Pseudo-Ägyptica II: Hermetismus Von Hermes Trismegistos ist im Umfeld Leonardos mit Sicherheit des Öfteren gesprochen worden. Denn zu seinen Lebzeiten und buchstäblich in seiner nächsten Umgebung erweiterte sich – durch die Übersetzungen des Marsilio Ficino und des Tommaso
321 CM I, Deckblatt. Siehe Dannenfeldt, a.a.O., S. 8. 322 TuA, S. 644 (eine Art Wurfspieße oder Pfeile) und S. 905 (Brand; die Zahl der vernichteten Bücher entspricht nicht der bei Ammian, Buch 22, 16,13 gegebenen Zahl; R II, S. 373, Nr. 1494, weist auch diese Notiz als Valturio-Exzerpt aus). Siehe Dannenfeldt, a.a.O., S. 8, für den Bezug auf den von Ammian erwähnten Obelisk. 323 Vgl. auch Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 323. 324 Belege siehe oben, im Rahmen der Erörterung ‹Exotik und Exotismus im Innenraum der Renaissance›.
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Benci325 – der Korpus der so genannten Hermetischen Schriften, als deren Autor man den in urvordenklicher Zeit in Ägypten lebenden Hermes Trismegistos, den ‹dreimalgroßen Hermes›, ansah.326 Inwiefern Leonardo da Vinci allerdings Anteil genommen hat am Prozess der Neubeurteilung dieser Gestalt, die eine andere mittelalterliche Tradition auch als Magier auffasste, muss offen bleiben. Hermetische Schriften finden sich, wie es scheint,327 nicht in seinem Besitz, abgesehen von den Zitaten, die der heilige Augustinus im Gottesstaat tradierte.328 Doch eben in dem teils wohlwollenden, teils ambivalenten Urteil der Kirchenväter, in den Aussagen von Laktanz und Augustinus, hatte auch Ficino seine Neudeutung fundiert.329 Wie üblich beiläufig schreibt Leonardo um 1500 die Notiz «Ermete, filosofo»,330 ein Promemoria, wie es scheint, das uns bloß Aufschluss darüber gibt, dass Hermes Leonardo in einem ganz bestimmten, isolierten Moment als ein Philosoph gegenwärtig gewesen ist,331 ganz ähnlich wie Ficino, der überlicherweise vom ‹Theologen› Hermes sprach, in dem Kommentar zum Buch der 24 Philosophen seine Diktion aber geändert hatte.332 Doch auch die Kirchenväter hatten Hermes schon als großen Lehrer apostrophiert, und so gibt es keine Gewissheit, in welchem konkreten Zusammenhang die Notiz entstanden ist, und in welchen konkreten Bezügen sie steht.333 325 Mit der Familie der Benci – und vielleicht auch mit Tommaso – war Leonardo gut bekannt (vgl. V, S. 51). 326 Aus heutiger Sicht handelt es sich um eine Autorenfiktion. Die Hermetica gelten als Schriften aus der Zeitenwende, die als altägyptische Weisheit darboten, was die – unbekannten – Autoren dafür hielten. In die Schriften könnte griechisches, aber auch iranisches Gedankengut eingeflossen sein (siehe Erik Hornung, Hermetische Weisheit: Umrisse einer Ägyptosophie, in: Elisabeth Staehelin / Bertrand Jaeger (Hg.), Ägypten-Bilder: Akten des «Symposions zur Ägypten-Rezeption», Augst (bei Basel), vom 9. bis 11. September 1993, Freiburg i.Ü./Göttingen 1997, S. 333). 327 Das Buch über die ‹Unsterblichkeit der Seele› (Reti Nr. 51) wird nicht (mehr) als Schrift Ficinos identifiziert. Ganz allgemein wird auch nicht mehr angenommen, dass die Luft der Renaissance von einem christlichen Neo-Platonismus gleichsam getränkt war (vgl. auch Florian Ebeling, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus, München 2005, S. 137–139, in Bezug auf die eher überschätzte Bedeutung des Hermetismus). 328 Leonardo besaß den Gottesstaat (Reti Nr. 11). Die Zitate in Buch 8, 23. 329 Das berühmte Mosaik im Dom von Siena ist im Zusammenhang der Hermes-Deutung durch Laktanz zu sehen (siehe Brian P. Copenhaver, Lorenzo de’ Medici, Marsilio Ficino and the Domesticated Hermes, in: Gian Carlo Garfagnini (Hg.), Lorenzo il Magnifico e il suo mondo, Firenze 1994, S. 233 und passim). 330 TuA, S. 906 (hier erscheint die Notiz in der Sektion ‹Bücher›, was einer bestimmten Deutung – problematischerweise, da vielleicht nicht gerechtfertigt – Vorschub leistet). 331 Leonardo hatte einen ‹Hermes› bereits einmal im Zuge der Rezeption des militärgeschichtlichen Kompendiums von Valturio erwähnt (TuA, S. 642). Ob aber eine Ergänzung zu ‹Hermes Trismegistus› statthaft ist, ist fraglich. 332 Copenhaver, a.a.O., S. 248. 333 Solmi hatte aufgrund der bloßen Notiz die Lektüre eines ganz bestimmten Manuskriptes unterstellt (Solmi, S. 142f.). Fumagalli war ihm gefolgt, in der Auffassung, dass Leonardo immerhin den Pimander gelesen hatte (Fumagalli, Leonardo ieri e oggi, a.a.O., S. 45). Pedretti hielt dann bloß noch knapp
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Einmal mehr stellt sich aber auch die Frage, ob Leonardo sich nicht viel öfter auf Mandeville bezog, als bis anhin angenommen worden ist. Denn erneut findet sich in den Reisen eine Parallelstelle, als deren Echo Leonardos Promemoria erscheint. Mandeville sah Hermes ganz ebenso wie Leonardo, nämlich buchstäblich als «Hermes filosofo».334 In der Figur des Hermes hat die Renaissance sich eine Symbolgestalt geschaffen, in der sich Heidentum und Christentum in einer Synthese harmonisch vereinten. Der ‹dreimalgroße Hermes› hatte das monotheistische Christentum vorweggenommen, und über ihn als Vorläufer erschloss die Renaissance ihrerseits – im Alten Ägypten – eine Vorgeschichte ihrer selbst. Aus größerer Distanz betrachtet und auch die Geschichte der Leonardo-Rezeption überblickend335 kann man feststellen, dass Leonardo da Vinci in einem ganz spezifischen Sinne als Nachfolger des Hermes Trismegistos fungierte: Denn in ihm sah der russische Romancier Dimitri Mereschkowski, wie eine Synthese von Heidentum und (östlichem) Christentum sich vorbereitete. In einer Begegnung zwischen dem alten Leonardo und Ikonenmalern aus Moskowien fand dieser Grundgedanke einen symbolischen Ausdruck im Medium der Romanliteratur.336 Pseudo-Ägyptica III: Hieroglyphik (in) der Renaissance337 Von ägyptischen Hieroglyphen hat Leonardo, anders als Alberti,338 selbst nie gesprochen, auch wenn er sich – in einem in seiner Art singulären Bezug im Rahmen seiner Tierkunde – auf eine Hauptquelle der Hieroglyphik der Renaissance stützte, nämlich auf Horapollo.339 Sigmund Freud, der im Hinblick auf Leonardo in mancher Beziehung wohl nicht richtig lag,340 hat doch in einer Hinsicht Recht behalten. Es war ihm tatsächlich Gefest, dass es keinen Hinweis gebe, dass Leonardo mit dem Corpus Hermeticum vertraut gewesen sei (P II, S. 336). 334 [John Mandeville], I viaggi di Gio. da Mandavilla, hrsg. von Francesco Zambrini, Bd. 2, Bologna 1870, S. 152. 335 Die Assoziierung von Hermes und Leonardo durch Lomazzo stellt eine Art Vorstufe dar. Siehe diesbezüglich, allerdings mit einigen Abstrichen, was die Thematisierung des geistesgeschichtlichen Hintergrunds der Renaissance angeht: Migliore, a.a.O. 336 Siehe Sektion ‹Das Osmanische Reich›. Dort auch einige Bemerkungen zum Verhältnis Leonardos zur byzantinischen Kultur. 337 Den Hintergrund vermittelt beispielsweise Wittkower (Rudolf Wittkower, Hieroglyphen in der Frührenaissance, in: ders., Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln 1984, S. 218–245). 338 Alberti, a.a.O., S. 428f. Genaugenommen spricht Alberti von ägyptischen ‹Zeichen›. 339 Siehe Anhang zur Edition von Ms. H. Leonardos Taubensymbolik (die Taube als Sinnbild für Undankbarkeit) leitet sich von Horapollo her (siehe für den Text: TuA, S. 838). 340 Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Werke aus den Jahren 1909–1913), London 1943 [urspr. 1910], S. 156ff. An Freuds berühmten LeonardoAufsatz knüpft sich eine Rezeptionsgeschichte, die mit der Geschichte der ‹orientalischen Frage› durchaus verglichen werden könnte und auch bereits eine historische Darstellung gefunden hat, näm-
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dankengut orientalischer Provenienz verfügbar, dessen symbolhafte Verbindungen in seinem Denken, Schreiben, Träumen, Erinnern eine Rolle hätten spielen können (auch wenn eine Verarbeitung dieses Gedankenguts, so wie es Freud sich vorgestellt hatte, nicht nachgewiesen werden kann). Bekanntlich hatte Freud vermutet, dass Leonardo sich, indem er (im Rahmen einer frühen Erinnerung an seine Kindheit) das Wort ‹Geier› geschrieben hatte, in Wirklichkeit auf seine ‹Mutter› bezogen hatte, weil in der Hieroglyphik ‹Geier› für ‹Mutter› stand.341 Diese Hypothese ist – ihrer ungeheuren Nachwirkung zum Trotz – in ihrer strengsten Fassung zwar hinfällig (weil Leonardo gar nicht ‹Geier› geschrieben hatte, sondern ‹Gabelweih›); aber es sollte in diesem Zusammenhang auch nicht das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet werden: Die Frage, ob allenfalls der wirklich gemeinte Vogel – der ‹Nicht-Geier› sozusagen – ebenfalls ‹mütterlich› konnotiert war, interessiert hier zwar nicht, aber indem Leonardos Niederschriften zoologischer Moralallegoresen seine Berührung mit der Hieroglyphik des Horapollo immerhin punktuell dokumentieren,342 findet Sigmund Freud doch in der Annahme Bestätigung, dass Leonardo die Tiersymbolik ägyptischer oder pseudo-ägyptischer Provenienz prinzipiell zugänglich war, auch wenn wir über die genauen Kanäle der Vermittlung und über den situativen Kontext wiederum nichts Genaueres wissen. Wie eingehend sich Leonardo mit Horapollo befasste, ob er bloß Gehörtes in seine Niederschriften hier einbezog – all dies wissen wir nicht. Abgesehen von dem einen – singulären und punktuellen – Bezug im Rahmen der Tierkunde, haben verschiedene Arbeiten Leonardos in der Vergangenheit Anlass gegeben, über sein Verhältnis zur altägyptischen bzw. zeitgenössischen Hieroglyphik nachzudenken und seine Beeinflussung durch die Hieroglyphik auch anzunehmen.343 Die lich in Bradley I. Collins, Leonardo, Psychoanalysis, and Art History. A Critical Study of Psychobiographical Approaches to Leonardo da Vinci, Evanston 1997. Vgl. außerdem Klaus Herding, Freuds Leonardo, München 1998, und Manfred Clemenz, Freud und Leonardo. Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation, Frankfurt a.M. 2003). Freuds Aufsatz stellt nach wie vor ein ‹Gründungsdokument› psychoanalytischer Kunstbetrachtung dar. Er ist Test- und Modellfall bezüglich der Frage, was psychoanalytische Theorie auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, angewandt auf einen konkreten Einzelfall, vermag. In unserem Zusammenhang indes interessiert diese Frage nicht, sondern bloß ein Detailproblem, das für Freud allerdings von großer Bedeutung war. Denn seine Interpretation des Textes, in dem Leonardo eine Erinnerung konstituierte, baute auf der Prämisse auf, dass orientalische Symbolik sich seinem Unterbewusstsein gleichsam eingeschrieben hatte und dahingehend wirkte, dass Leonardo für den unbewussten Vorstellungsinhalt ‹Mutter› das ägyptische Symbol des Geiers wählte. 341 Ammian zufolge stand der Geier allerdings für das Wort ‹Natur› (Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, hrsg. von Wolfgang Seyfarth, Bd. 1, Berlin-Ost 1968, S. 217 (1. Teil, Buch 17, Abschnitt 4). 342 Als erster, und zwar vor Freud, hatte Sappa darauf hingewiesen (Mercurino Sappa, Una fonte di Leonardo da Vinci, in: Giornale storico della letteratura italiana 53 (1909), S. 443–444, und ders., I colombi nelle «Allegorie» di Leonardo da Vinci, in: Giornale storico della letteratura italiana 65 (1915), S. 187–188). 343 Siehe vor allem Reinhard Krüger, Leonardo da Vinci und die Hieroglyphen – Die Bilderschrift als medienhistorisches Paradigma der Kommunikationstheorie in der frühen Neuzeit, in: Maren Huberty / Roberto Ubbidiente (Hg.), Leonardo da Vinci all’Europa. Einem Mythos auf den Spuren, Berlin 2005, S. 85– 107. Auf S. 96 nennt der Autor eine Reihe von Themenbereichen, die sich unter dem Gesichtspunkt der Hieroglyphen-Rezeption der Renaissance zu untersuchen lohnten. Neben der Tierkunde, den
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Dame mit dem Hermelin ist sogar bereits – von mindestens zwei Autorien – als eine Hieroglyphe aufgefasst worden, ungeachtet der grundsätzlichen Schwierigkeit, zwischen Symbolisierungskonzepten mit unmittelbaren bzw. ohne unmittelbaren Ägypten-Bezug zu unterscheiden.344 Ein bloßes Assoziieren genügt nach dem hier verfolgten methodischen Konzept aber nicht, um von tatsächlichen Ägypten-Bezügen Leonardos in seinen Werken – erwähnt seien auch die Bilderrätsel –345 auszugehen, solange ein eigentlicher Rezeptionszusammenhang nicht plausibel gemacht oder gar nachgewiesen werden kann.346 d) Das Heilige Land Leonardo da Vinci war und ist vorstellbar als ein (unkonventioneller) Christ; auch als (zeitweiligen) Muslim hat man ihn sich vorgestellt. Aber ist er auch vorstellbar als ein Pilger, als ein Jerusalem-Pilger? Vermutlich ist Leonardo den meisten vorstellbar als Begleiter eines Pilgers, d.h. als Begleiter eines hohen Herrn, den er – wie andere Maler ihre Patrone – ins Heilige Land begleitete.347 Aber sich Leonardo da Vinci im Zentrum der christlichen Glaubenswelt, in Jerusalem, vorzustellen fällt schwer. Man ist an ein Leonardo-Bild gewöhnt, das ihn als einen Inbegriff der Aufgeklärtheit präsentiert (und Religion hat in diesem Bild, Rebuszeichnungen, den Rätselprophetien und der Dame mit dem Hermelin findet auch Leonardos Gestentheorie im Rahmen der Schriften zur Malerei Erwähnung. Der Autor selbst widmet sich in der Folge nicht allen, sondern ausgewählten Aspekten. 344 Siehe Wittkower, a.a.O., S. 233ff., und – ohne Bezug auf diesen – Krüger, a.a.O., S. 104ff. – Es zeigt sich hier eine grundsätzliche Schwierigkeit, ähnlich wie bei den oben behandelten kunstgewerblichen ‹maurischen› Moden. 345 Krüger, a.a.O. – Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass hier das Prinzip der Hieroglyphen gewissermaßen unverfälscht zum Tragen kommt, denn die einzelnen Bilder Leonardos stehen für Lautwerte bzw. Worte, die sich in einem Sinnzusammenhang verketten. Die Hieroglyphik der Renaissance betrachtet hingegen das einzelne Bildzeichen als eine Komprimierung von Sinn, als Zeichen, das die Wirklichkeit in unübertroffener Verdichtung erfasst (der Lautwert, den die echten altägyptischen Hieroglyphen anzeigten, spielt in diesem Zusammenhang aber keine Rolle). – Der Hieroglyphen-Begriff wird in der Forschung oftmals in einem sehr weiten Sinne als ‹Bilderschrift› verstanden, was die Suche nach Orient-Bezügen im Werk Leonardos nicht vereinfacht. – Pacioli sprach im Übrigen, indem er sich auf ägyptische Zeichen bezog, von ‹antiken Alphabeten›, ohne jedoch explizit ‹Ägypten› zu sagen (siehe Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 322f.). Er subsumierte – so gesehen – wiederum Ägypten unter ‹Antike›. 346 Wenig erhellend ist es, wenn etwa Leonardos Maschinenzeichnungen ‹als Hieroglyphen› aufgefasst und präsentiert sind (vgl. etwa Marco Cianchi, Die Maschinen Leonardo da Vincis, [Kat.] Florenz 1988, S. 8–11). 347 Hier ist in erster Linie an Erhard Reuwich gedacht (siehe DoA sowie Ganz-Blättler, a.a.O., S. 303 bzw. passim, in Bezug auf die Pilgerreise in all ihren Aspekten). Auch Lucas Cranach ist als Begleiter auf einer solchen Reise vermutet worden. Doch diesbezüglich sind jüngst Zweifel laut geworden (siehe in Bezug auf diese ‹orientalische Frage›: Armin Kunz, Die Jerusalemfahrt Lucas Cranachs d. Ä. Quellenkritische Untersuchung der Überlieferungsgeschichte eines (kunst)historischen Topos, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 87–114).
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wenn überhaupt, nur wenig Platz und einen schweren Stand). Ein äußerliches Bekenntnis zum gelebten Christentum in Form einer Pilgerreise, wie sie ein Kanzler des Moro unternahm,348 ist in Bezug auf Leonardo nur schwer vorstellbar, wenn man auch nicht behaupten könnte, dass Leonardo – zumal als Künstler – außerhalb der christlichen Glaubenswelt gelebt hat. Die historische Imagination jedenfalls hat, dieser im Grunde faszinierenden Spannung zum Trotz, keine Neigung gezeigt, Leonardo ins Zentrum der christlichen Glaubenswelt zu schicken. Alles war denkbar: Ein Aufenthalt in Ägypten, eine Konversion zum Islam. Aber die Frage, ob Leonardo nicht auch in Jerusalem gewesen war, wenn er schon in den Orient gereist war, tauchte bloß einmal ganz verhalten auf. Als eine rhetorische Frage nämlich, bezogen auf die möglicherweise von Leonardo gezeichnete Darstellung des Heiligen Grabes in Luca Paciolis De divina proportione, die in der zweiten, gedruckten Ausgabe eine solche Darstellung enthielt.349 Doch auch dieser Orient, auch das Heilige Grab, war im Abendland seit jeher repräsentiert worden, so dass auf eine Bildtradition zurückgegriffen werden konnte.350 Es war nicht nötig, nach Jerusalem zu gehen, um Maß zu nehmen (obwohl dies immer wieder vorkam). Andere, auch Santo Brasca, hatten es zuvor getan.351 Und in diesem Sinne war auch die rhetorische Frage beantwortet worden: Nein, in Jerusalem war Leonardo da Vinci nicht gewesen.352 Wiewohl Leonardo auch in dieser Hinsicht im Bilde war, denn die Schiffsroute hat er gezeichnet, d.h. in einfachen Strichen einfach gehaltenen Kartenskizzen eingezeichnet. Vor dem Hintergrund der ‹orientalischen Frage› könnte man sagen, sind diese Striche im Nu aufgeladen mit Bedeutung, doch grundsätzlich war es nichts Außergewöhliches zu wissen, wie man ins Heilige Land gelangte. Vielmehr: Außergewöhlich wäre es – zur Zeit der Renaissance – eher gewesen, davon überhaupt keinen Begriff zu haben. Das zeitgenössische Palästina – bis 1516, kurz vor Leonardos Lebensende – wurde mamlukisch beherrscht. Indem Leonardo dem ‹Diodario von Syrien› eine Stellvertre348 Siehe DBI sowie weitere Belege im Haupttext, Kap. 2. 349 Ravaisson-Mollien, a.a.O., S. 516; Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 366. Vgl. in Bezug auf Ravaisson-Molliens Beitrag auch Seidlitz, a.a.O., S. 433, Fn 13. – Ravaisson-Mollien hatte darauf hingewiesen, dass Pacioli von einer durch den Moro veranlassten Verbringung der Säulen von der ‹Hierosolimis porta templi domini dicta speciosa› nach Mailand gesprochen hatte. Dies könnte in dem Sinne verstanden werden, dass – erneut – eine Repräsentation der Säulenordnung erstellt bzw. in Jerusalem bloß Maß genommen worden war. 350 Siehe Richard Krautheimer, Einführung zu einer Ikonographie der mittelalterlichen Architektur, in: ders., Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte, Köln 1988, S. 142–197, sowie – mit Blick auf das Quattrocento – Ludwig H. Heydenreich, Die Cappella Rucellai von San Pancrazio in Florenz, in: Millard Meiss (Hg.), De artibus opuscula XL. Essays in honor of Erwin Panofsky, 2 Bd., New York 1961, S. 219–229 [Abbildungen in Bd. 2]. Neuerdings siehe auch Cristina Acidini / Gabriele Morolli (Hg.), L’uomo del Rinascimento. Leon Battista Alberti e le arti a Firenze tra ragione e bellezza, [Kat.] Firenze 2006, S. 175ff. (mit reichem Material). – Literaturhinweise in Bezug auf Deutschland bei Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 259, Fn 30. 351 Brasca brachte eine Planskizze des Heiligen Grabes mit nach Hause (siehe DBI). 352 Ravaisson-Mollien, a.a.O. – Auf die Schrift über den ‹Tempel Salomons› (siehe unten) wäre in diesem Zusammenhang sicherlich verwiesen worden, wäre Leonardos Bücherinventar in CM II damals schon bekannt gewesen.
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terschaft des ‹Sultans von Babylon› zuschrieb, gab er uns zu verstehen, dass er darum wusste. Dies allerdings ist der einzige unmittelbare Hinweis auf das Heilige Land seiner Zeit, der sich in seinen Aufzeichnungen erhalten hat. Sein Blick war in dieser Hinsicht eher rückwärts gewandt: Zum einen hatte er die Topographie der Bibel im Auge, zum anderen aber auch eine Erdgeschichte, die – vielleicht unversehens – mit der Bibel in Konflikt geriet und die damit in Ansätzen als eine ‹alternative Geschichte›, eine Parallelgeschichte aufschien, die – in wenigen Punkten allerdings nur – abwich vom biblischen Bericht. Geographica Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine marginale Zeichnung auf CA 1106r [ex397r-b], denn sie drängt sich dergestalt in die linke obere Ecke des Blattes, das hauptsächlich mechanischen Studien (Mechanik der Flöte, Ventilatoren) gewidmet ist, dass es den Anschein hat, hier sei ein Rest des Papiers noch genutzt worden, ohne die bewusste Intention jedenfalls, eine möglichst bunte wundertütenähnliche inhaltliche Mischung zu geben (die ein Charakteristikum so vieler Blätter ist): Von einem Betrachterstandpunkt hoch in der Luft, hoch über Afrika, blickt Leonardo auf Europa hinab, auf das Mittelmeerbecken und die Levante und – wie sonst nie – auch auf den Norden bis hin zur Nordsee, deren Küstenlinie deutlich schraffiert ist. Die Kartenskizze ist allerdings so verblichen, dass jede Interpretation unter einen gewissen Vorbehalt gestellt werden muss.353 Carlo Pedretti hatte diese Kartenskizze als erster auf das ‹Diodario-Material› bezogen, als er interpretatorisch wagemutig schrieb: «Vermutlich handelt es sich um eine graphische Meditation über das Thema der imaginären Reise in den Vorderen Orient.»354
Bemerkenswert sind nicht zuletzt, abstrakt gesprochen, die Verbindungslinien, die Leonardo zwischen diversen fixen Punkten gibt und die als Routen gedeutet werden können. Denn die Linien sind nicht gerade und können dergestalt keine Abstände zwischen Punkten anzeigen wollen. Ob man allerdings – wie Pedretti – ‹Karawanenstrassen› erkennen will, «die über den Bosporus am Eingang zum Schwarzen Meer in kaukasische Gebiete vorstoßen», steht auf einem anderen Blatt. Leicht verflüchtigt sich hier die Skepsis, die in jedem Zusammenhang mit der ‹orientalischen Frage› am Platz ist, und weicht einer mithin imaginativen Begeisterung. Ein Glockenturm, wahrscheinlich eine Reminiszenz an den Palazzo Vecchio, ragt hinein in diese Zeichnung. Und vor dem Hintergrund des Gesagten erhält dieser Turm die Konnotationen eines Minaretts.355 353 Es erfordert eine gewisse Gewöhnung an die Art und Weise, wie Leonardo Italien und Griechenland zeichnet, um überhaupt ‹Europa› und die Levante zu erkennen. Aber hier ist, vor allem im Vergleich mit den anderen vorhandenen Kartenskizzen, kein Zweifel möglich. 354 L-A, S. 133 (Pedretti datiert ‹um 1497–1500›). 355 Ebd.: «[…] der fast die exotischen Merkmale eines Minaretts hat […].»
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Zweifelsohne gibt Leonardo aber – neben einer Route in die Türkei auf dem Landweg – eine Route ins Heilige Land, die auf dem Seeweg von Venedig aus über Rhodos nach Jaffa führt. Von Jaffa, vielleicht ist diese Absenz bedeutsam,356 führt allerdings keine Linie ins Innere von Palästina bzw. nach Jerusalem. Eine Linie, die indessen auch die Küstenlinie sein könnte, führt hingegen nach Ägypten, an dessen Küste weitere Schifffahrtsverbindungen zu enden scheinen.357 Diese Kartenskizze korrespondiert mit beschreibender Geographie, die Leonardo im Codex Leicester hat. Einmal nur gibt Leonardo uns auch zu verstehen, in welcher Differenzierung er das Heilige Land erfasst. ‹Syrien› ist ohnehin präsent, schon durch den ‹Diodario›.358 Darüber hinaus fallen hier die Begriffe ‹Libanon›, ‹Samarien›, ‹Judäa›, ‹Sinai›.359 Die Stadt indessen, das Zentrum der Christenheit, Jerusalem, nennt er hier nicht. Er nennt es, wie es scheint, auch sonst nie. In einer anderen Notiz stellt sich dafür ein biblischer Zusammenhang, ein Zusammenhang zur biblischen Geographie und Geologie her, der weiter unten für sich behandelt werden wird: Es handelt sich um die Entstehung des Toten Meers zum einen und den Untergang der Städte Sodom und Gomorra zum anderen. Beide Vorgänge stellt Leonardo in einen – erdgeschichtlichen – Zusammenhang, wie noch zu zeigen sein wird. Das Heilige Land als biblischer Ereignisraum Es mag etwas ungewöhnlich sein, nach dem Bibelwissen eines der prominentesten Künstler der Renaissance zu fragen, denn ein solches Wissen – meint man – kann bei diesem Künstler, der nicht zuletzt durch seine mustergültigen Schilderungen biblischer Szenen bekannt ist, als selbstverständlich vorausgesetzt sein. Dies ist zum Teil sicher richtig. Aber Leonardo selbst hat die Notwendigkeit gesehen, seine diesbezüglichen Kenntnisse zu erweitern, zu entwickeln, bis er – wie man eben auch sagen muss – in eine eigenwillige, teils spöttisch-kritische Auseinandersetzung mit biblischen Berichten hineingefunden hat. Zwei Wegmarken dieser Auseinandersetzung seien hier erwähnt: 356 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass kein Interesse Leonardos an der hebräischen Schrift dokumentiert ist (vgl. Einleitung). Wiewohl die jüdische Kultur sowohl in Florenz wie auch im Herzogtum Mailand präsent (und in dieser Präsenz auch gefährdet) gewesen ist, zeigt Leonardo, soweit bekannt ist, kaum ein Interesse daran. – Pacioli erwähnt die hebräische Schrift bzw. Buchstaben im Rahmen seiner Gedanken zur graphischen Konstruktion von Schrift (Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 322). 357 Routen – von Zypern nach Ägypten bzw. Nordafrika – scheinen auch in der Kartenskizze auf CA 832r [ex305r-b] gegeben. 358 Leonardo lebte in einem kulturellen Raum, in dem etwa die Ankunft von Kaufleuten aus dem Orient in einem Lied erinnert worden ist (vgl. Silvia Alberti de Mazzeri, Leonardo da Vinci. Die moderne Deutung eines Universalgenies, München 1995 [ital. Originalausgabe 1983], S. 153). Ihre Herkunft verortete man darin in dem ‹fernen, großen Lande Syrien›, das vielleicht hier auch als pars pro toto für den Orient steht. 359 TuA, S. 246. – Das Sinai-Gebirge findet mehrfach Erwähnung (siehe auch S. 245 und 863).
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Leonardo kauft sich – zusammen mit einer nicht näher bezeichneten Chronik und Luca Paciolis 1494 erschienener Summe – eine wahrscheinlich italienische Bibel;360 und in den Codex, der mit seinen Vokabellisten seine Bestrebungen zur Selbstbildung vielleicht am besten dokumentiert, den Codex Trivulziano nämlich,361 trägt Leonardo unter anderem den Begriff ‹Pharisäer› ein, den er sich in seiner außerbiblischen, übertragenen Bedeutung als ‹heilige Brüder› erklärt, was hier nur im Sinne von ‹scheinheilig› oder ‹heuchlerisch› verstanden werden kann, also ganz im Sinne des neutestamentarischen Vorwurfs an die Pharisäer, eine der Hauptströmungen des Judentums zu Christi Lebenszeit.362 In einer vorsichtigen Schlussfolgerung könnte man sagen: Die Frage nach Leonardos Bibelkenntnis und -festigkeit ist nicht einfach von der Hand zu weisen, wenn dies gewissermaßen erlernt und memoriert, d.h. auch schriftlich festgehalten werden musste. Leonardo da Vinci besaß – nach 1500 – nicht bloß eine Bibel; sein ‹Bibliotheksinventar› verzeichnet auch eine Passionsgeschichte, Kirchenväterliteratur, Heiligenviten, Predigten (unter anderem von Augustin) und eine Schrift über den Tempel Salomons.363 Auf einer anderen Liste ist auch eine Ausgabe der Psalmen vermerkt.364 Dieser Fundus stellte eine beachtliche Grundlage dar, um mit biblischen Figuren und Motiven bekannt zu werden. Von einer Allgegenwart der Heiligen Schrift im kulturellen Raum der Renaissance muss ausgegangen werden. Aber von einer Allgegenwart biblischer Figuren in Leonardos Notizen kann demgegenüber nicht die Rede sein. Ein Teil der Belege stammt aus den militärwissenschaftlichen Exzerpten aus dem ‹Valturio›.365
360 Vgl. P II, S. 354 (und Solmi, S. 102f., mit Bezug auf eine bestimmte Ausgabe). Die Summe kostete ihn in etwa das Doppelte der Bibel. 361 Vgl. eine der letzten Arbeiten eines großen Leonardisten: Marinoni, Bewegung, a.a.O., S. 82f. 362 R II, S. 250, Nr. 1209. 363 Siehe Reti, diverse Nummern. Vgl. bezüglich des Tempels Salomons auch Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 296 und 319. – Die Schrift mit dem Titel ‹Träume Daniels› stellt wahrscheinlich eine mittelalterliche Schrift über die Traumdeutung dar (vgl. P II, S. 363: ‹kabbalistisch›). 364 R II, S. 368, Nr. 1469. 365 Es seien nochmals Tiglatpileser und Kyros erwähnt. Daneben, als mutmaßliche Lösung eines Rätsels (siehe P II, S. 278f.; Bezug auf CM I 191b), erscheint ‹Kain›, als eine Figur des Alten Testaments. ‹Luzifer›, als Name des Teufels, der auf Jesaja 14,12 bzw. Lukas 10,18 zurückgeht, schreibt Leonardo im Dei-Brief (TuA, S 820). Außerdem erscheinen Herodes (TuA, S. 808) und – besonders signifikant – Simon Mago als neutestamentarische Figuren (CM I 62v: «Über die Natur des Stoßes. / Anzuführen wäre der Fall [la caduta] des Magiers Simon oder derjenige einer Person, die auf den Zehenspitzen hüpft oder die, wie die Maurer, die von oben herabgeworfenen Backsteine mit der Hand abfängt; […].»). Biblische Konnotationen – möglicherweise – klingen in der Rede von dem Siebenjahreszyklus der Etsch an (P II, S. 369). – In den Valturio-Exzerpten finden auch die Waffen der Juden und der ‹syrischen Völker› Erwähnung (TuA, S. 643; S. 635).
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Präsenz und Absenz des Orientalischen in den Repräsentationen biblischer Szenen Wenn Leonardo da Vinci biblische Szenen repräsentierte, hatte er – je nach Auftragssituation natürlich beschränkt – die Möglichkeit, diesen Szenen, wenn er es wollte, orientalische Konnotationen zu geben.366 Es fällt aber auf, dass er dies entweder nie angestrebt hat oder es ihm nicht erlaubt war. Denn von einer (schon im Haupttext in Frage gestellten) Vorliebe für das Exotische, insbesondere in der Spielart des Orientalischen, kann keine Rede sein. Einigen signifikativen Motiven zum Trotz leiten sich vom gemalten Werk praktisch keine Argumente dafür her,367 wollte man die stereotype These von einer angeblichen Vorliebe überhaupt weiter verteidigen. Es wimmelt, gelinde gesagt, in den Werken Leonardos nicht von Leoparden, Kamelen, Affen, orientalischem Gepränge oder orientalischen Trachten. Ein Sonderthema, wie im Haupttext schon gesagt, stellt das Thema ‹Landschaft› dar. Aber auch von typisch orientalischen, zeichenhaft sozusagen explizit als ‹orientalisch› ausgewiesenen Landschaften, kann keine Rede sein, auch im Hinblick auf jene Szenen nicht, die von ihrer ikonographischen Textgrundlage her im Heiligen Land – im weitesten Sinne verstanden – situiert sind.368 Eine imaginäre Topographie ist hier gestaltet, die vieldeutiger ist, auch in Bezügen zu Leonardos Kosmographie steht, die allerdings für den unvorbereiteten Betrachter nicht aufgerufen sein kann. Wenn Leonardo Landschaften gestaltet hat, die für ihn orientalisch konnotiert gewesen sind, so hat er den Schlüssel zu dieser Konnotation seinen Gestaltungen nicht mitgegeben. Man kann seine Aufzeichnungen beiziehen, wenn man von seiner individuellen Perspektive auf die Werke blicken will, aber man sollte nicht
366 Die Hauptgruppe stellen – im weiten Sinne verstanden – die neutestamentarischen Szenen dar. Zu nennen sind hier Verkündigung, Anbetung der Könige, Studie zu einer ‹Anbetung der Hirten›, Felsgrottenmadonna, die Gruppe ‹Madonna mit dem Kind›, Taufe Christi, Cenacolo, Anna Selbdritt, JohannesDarstellungen. Des Weiteren hat Leonardo auf Inventarlisten Darstellungen der ‹Geburt Christi› und der ‹Passion› erwähnt (vgl. R I, S. 389, Nr. 680). – Die alttestamentarische Werkgruppe ist kleiner: Sie umfasst eine nicht erhaltene ‹Paradies›-Darstellung (auf W 12698 finden Adam und Eva namentlich Erwähnung), die Sintflut-Studien, Tobias und – wenn man so will – die zeichnerische Paraphrase von Michelangelos David (W 12591). Eine weitere Gruppe sind die beabsichtigen oder ausgeführten Darstellungen von Heiligen, auch Ordensgründern (siehe R I, S. 386, Nr. 679; S. 382, Nr. 669) sowie dem Kirchenvater, dem Hl. Hieronymus (selbiger erscheint auch in der Liste, gegeben in R I, S. 387, Nr. 680). 367 Man denke etwa an den Baum in der Anbetung der Könige (vielleicht ein Johannesbrotbaum; vgl. Z I, S. 178). Interessanterweise findet sich auch im Hintergrund des Heiligen Hieronymus eine Palme – und zwar unter der Malschicht (siehe ebd., S. 177). Ergänzend sei auch die Vegetation der Taufe Christi hier erwähnt, obschon traditionell nur einer der beiden Engel sowie ein Teil der Landschaft Leonardo zugeschrieben wird. 368 Etwa die Felsgrottenmadonna, die möglicherweise in einer Grotte, aufgesucht während der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, situiert ist.
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unterstellen, dass die zeitgenössischen Betrachter dieser Werke in Sachen Erdgeschichte oder Kosmographie ins Bild gesetzt waren (wie es Leonardo war).369 Als junger Mann der Sodomie angeklagt,370 dürfte Leonardo da Vinci schließlich das biblische Thema des Untergangs der Städte Sodom und Gomorra als ein Thema mit ganz besonderen persönlichen Konnotationen angesehen haben (ohne hier das Thema seiner generellen geschlechtlichen Orientierung aufwerfen zu wollen). Es situierte sich dieses Thema zwar in der biblischen Topographie, aber auch in einer Geographie und Geologie, die historisch orientiert war und nicht allein im biblischen Bericht fundiert sein und bleiben wollte (sondern auch in der Empirie und in Theorie, die darauf baute). Es ist bekannt, dass Leonardo mit bestimmten Aussagen des biblischen Sintflutberichts die größten Schwierigkeiten hatte und dass sein Reflex darauf sarkastisch war.371 Aber dabei hatte er die Frage im Blick, ob die biblische Flut, wie es die Bibel sagte, universal gewesen war (oder eventuell bloß regional). Ein Fundus an Argumenten ließ sich in Exkursionen in die Alpen gewinnen, denn Fossilien waren – im Rahmen dieser Auseinandersetzung – auch von Bedeutung. Was aber Sodom und Gomorra und das Tote Meer anging, stand einmal mehr eine Topographie zur Debatte, die erdgeschichtliche Entstehung dieser Topographie gar, die Leonardo ja selbst, anders als etwa der Mailänder Edelmann Santo Brasca,372 nicht gesehen haben konnte, wenn er nicht im Orient gewesen war. Rein gedanklich – auch in dieser Hinsicht auf sekundärem Material, vielleicht gar auf dem Bericht des Santo Brasca aufbauend – transferierte er sich offenbar ans Tote Meer. Biblische und bibelkritische Geologie: Der Untergang von Sodom und Gomorrha373 In einer Randglosse zu einem Text, der die mutmaßliche Entstehung von Gebirgen behandelte, thematisierte Leonardo die Städte Sodom und Gomorrha und das Tote Meer. Die Randglosse bezieht sich nicht auf die mutmaßliche Entstehung von Gebirgen, sondern auf das sozusagen komplementäre Phänomen: nämlich auf das Versinken einer Landschaft. Dass er in diesem Zusammenhang ein Beispiel erwähnt – nämlich Syrien, das Tote Meer – und zur Präzisierung ‹bei Sodom und Gomorrha› nachschickt, ist des369 Es tut sich hier eine Kluft auf, die auch für sich interessant ist: Wie verhielt sich Leonardos Selbstdeutung (die wir nicht kennen) zu einem in einem ‹Auftrag› fixierten Konzept (das wir ebenfalls nicht kennen) und zu den Deutungen seiner Zeitgenossen? Konkret: Wie wurde – im Hinblick auf die Mona Lisa – das Verhältnis von dargestellter Person zur dargestellten Landschaft jeweils gesehen? Wie interagierten diese Deutungen allenfalls miteinander und wie entwickelten sie sich in der Folge allenfalls weiter? 370 Siehe etwa M, S. 12. 371 Vgl. etwa Giuseppe De Lorenzo, Leonardo da Vinci e la geologia, Bologna 1920, mit prononcierten Aussagen. 372 Für den Hinweis, dass der Kanzler des Moro auch am Toten Meer gewesen ist, siehe DBI. 373 TuA, S. 256.
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halb aufschlussreich, weil Leonardo dabei den Bezug zum biblischen Bericht, wie es uns scheint, verliert. Die Bibel (Genesis 23) spricht nicht vom Untergehen, vom buchstäblichen Versinken der Städte im Salzwasser des Toten Meeres, sondern von der Zerstörung der Städte durch Feuerregen. Von einer Überflutung ist nicht die Rede, auch nicht vom Ansteigen des Pegels des Toten Meers danach. Explizit vom Untergang im Toten Meer spricht hingegen die populäre Überlieferung, und einmal mehr findet sich eine Belegstelle im Gesichtskreis Leonardos – und zwar in den Reisen Mandevilles.374 Es lässt sich nicht nachweisen, dass Leonardo an die Zerstörung einer ‹sündigen Stadt› gedacht hat, im Zusammenhang der Zerstörung einer Stadt in Hochmesopotamien, die er – siehe Anhang B – nachweislich zu schildern gedachte. Diese Zerstörung erfolgte, wenn sie – im Rahmen von Leonardos Denken – von Gott gewollt war, durch präzise benennbare Wirkfaktoren der Natur (wie er sie auch im Untergang von Sodom und Gomorra vorliegen sah). Das Motiv der Zerstörung einer Stadt war zugleich auch eine gestalterische Herausforderung, so dass sich leicht eine thematisch-motivische Metamorphose denken lässt. In einer Zeichnung aus der Serie der Sintflutzeichnungen (W 12401) ist eine phantastische Architektur, die mit Indien assoziiert worden ist,375 den Kräften der Zerstörung preisgegeben. Vielleicht ist aber eher an Sodom und Gomorra bzw. Babylon, d.h. an das Zerstörungsmotiv in seiner vielfältigen theologischen wie naturwissenschaftlichen Deutbarkeit zu denken. Es zeigt sich hier erneut, in wie mannigfaltigen Bezügen das Material steht, das hier als ‹Diodario-Material› bezeichnet ist. Leonardo schilderte nicht ‹Sodom und Gomorra› oder ‹Babylon›, aber diese Städtenamen schufen, als allgegenwärtige Metaphern, einen gedanklichen Kontext, der von sich aus eine Deutung der ‹zerstörten Stadt› anbot. Und wer eine alternative Deutung etablieren wollte, musste dies gegen diesen von vornherein wirksamen Kontext tun.376 e) Das Osmanische Reich Im Titel dieser Sektion steht bewusst nicht ein geographischer Begriff (oder eine Kette von Begriffen), denn es ist eine Reichsbildung, ein Herrschaftsraum, der Leonardo da Vinci als ein Teil des Orients nahe kommt. Das Osmanische Reich war in einem vielfachen Sinne – wenn auch nicht geographisch – für ihn der nächstliegende orientalische Raum, wenn diese Nähe, in einem symbolischen Sinne verstanden, sich auch nur schwer ermessen lässt.377 Zu Leonardos Lebzeiten vollzieht sich der Aufstieg des Hauses Osman als einer neuen Macht im Rahmen der islamischen Kultur zur Führungsmacht innerhalb der 374 [Mandeville], a.a.O., S. 138. – Pedretti erwähnt Barattas Verweis auf Albertus Magnus (P II, S. 147). 375 L-A, S. 306ff. (mit Bezug auf Dante). – Die Architektur könnte auch von den Illustrationen in Filaretes Architektur-Traktat inspiriert sein. 376 Siehe auch Sektion ‹Das Zweistromland›. 377 Bezüglich erfahrener Reisender im Umfeld Leonardos siehe Haupttext, Kap. 2.
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islamischen Kultur. Und aus Sicht der europäischen Christenheit, die mit den Türken in vieler Hinsicht in Kontakt und in einem Austauschverhältnis steht, avanciert das Osmanische Reich zu einer ganz realen militärischen Bedrohung. 1453 erfolgt die Eroberung von Konstantinopel; 1480 fällt Otranto und für eine kurze Zeit stehen die Osmanen damit gar in Italien.378 Kriege mit Venedig zum einen, Bündnisse und Absprachen mit anderen italienischen Mächten zum anderen bildeten Extreme in einem Spannungsfeld der politischen Möglichkeiten, mit den Osmanen in ein Verhältnis zu treten.379 Und neben den politischen Gegebenheiten wirkten vielfältigste kulturelle Einflüsse in die Lebenswirklichkeit der Renaissance hinein. In Leonardos Dasein haben praktisch alle diese Möglichkeiten einen Raum.380 Die Osmanen sind ihm so nahe, dass er von ihrem Alltag Kenntnis nimmt und – siehe weiter unten – ein Getränkerezept notiert, aber zugleich sind sie ihm so fern, dass er an Abwehrmaßnahmen Venedigs gegen die Türken mitzuwirken sucht. Als Brückenbauer scheint er sich vollends für die Rolle eines Mittlers zwischen den Kulturen zu prädestinieren. Und doch kommt es nicht zu diesem Brückenbau. Kurzum: Leonardo da Vinci – in seinem Verhältnis zu den Türken – steht für Ambivalenz. Und wenn man bloß auf einzelne Elemente dieser Beziehung zu verweisen suchte und Leonardo als den Brückenbauer, oder als den Kriegsingenieur zu vereinnahmen trachtete – man gäbe nicht das ganze Bild, sprich: nicht die ganze Wahrheit. Ein ambivalentes Gesamtbild deutet sich also an, aber es sind darin auch zahlreiche Leerstellen enthalten. Wir wissen nicht einmal annäherungsweise, wie politisch Leonardo da Vinci gedacht hat.381 Denn in dieser Hinsicht ist einmal mehr von einem nahezu vollständigen ‹Schweigen› zu sprechen und nicht von einem beredten Schweigen wohlgemerkt, denn dieses Schweigen könnte im Sinne von Desinteresse und Nichtzuständigkeit, aber auch im Sinne von Vorsicht durchaus ausgelegt sein.382 Hier, in einer thematischen Sektion, die dem Verhältnis Leonardos zu allem Osmanischen gewidmet ist, konzentriert sich unsere Ungewissheit, was das Politische im 378 Vgl. Francesco Gabrieli (Hg.), Mohammed in Europa. 1300 Jahre Geschichte, Kunst, Kultur, München 1983. 379 Der realpolitische Pragmatismus der italienischen Mächte ist seit Jacob Burckhardt ein Gemeinplatz. Insbesondere Franz Babinger (und auch sein Schüler Hans Joachim Kissling) haben viel zur Erhellung der diversen Beziehungsfelder und -geflechte beigetragen. 380 Die Unterstellung, Leonardo habe in Venedig von der Aufwiegelung der Türken durch den Herzog von Mailand erfahren (B, S. 364), ist nicht durch Belege gedeckt. Im Übrigen könnte Leonardo auch schon früher im Bilde gewesen sein. Pacioli verfügte über Kontakte nach Venedig und hatte zudem ein Interesse, sich ins Bild setzen zu lassen (siehe weiter unten). 381 Die Frage hat seit jeher auch die Literaten umgetrieben. So zum Beispiel Dimitri Mereschkowski, der die Begegnung zwischen Machiavelli und Leonardo, also zwischen dem ‹politischem Kopf› und dem (anscheinend eher apolitischen) ‹Künstler›, als Begegnung in einem Wirtshaus gestaltete (Mereschkowski, a.a.O., S. 448ff.; vgl. auch S. 483). 382 Es gibt, wenn auch nur sehr vereinzelt, einige Notizen Leonardos, die sich auf das politische Zeitgeschehen –etwa auf die Kriege Venedigs mit der Liga – beziehen (vgl. TuA, S. 911; Bezug auf das Prahlen der Venezianer).
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Leben Leonardos angeht, in einer schlichten, aber bislang nie gestellten Frage: Hat Leonardo da Vinci, dem in Mailand sicherlich auch Interna des Hofes zu Kenntnis gelangt sind, davon gewusst, dass der Herzog, zuletzt, in Bedrängnis geraten, eine Heiratsverbindung mit einer der acht Töchter Sultan Bayezids II. erwog, also eine Verbindung mit dem Hause Osman?383 Der jugendliche Leonardo hatte gesehen, dass der Arm des Magnifico, wenn es darum ging, einen Verräter zu fassen, bis nach Konstantinopel reichte.384 Der Bildhauer Bertoldo385 – in diesem Zusammenhang – schuf eigens für den Sultan eine Porträtmedaille. Alle Mächte, denen Leonardo diente, auch Cesare Borgia, hatten die Türkei im Auge, wenn es um die Wahrung und die Vertretung eigener Interessen ging, und zwar nicht bloß als Gegner, sondern auch als potentieller Partner. Hat Leonardo dafür ein Auge gehabt? Hat es ihn überhaupt interessiert? – Wir wissen bedauerlicherweise nichts darüber. Und nicht einmal der Sinn seines kurzen Venedig-Aufenthaltes im Jahre 1500 ist wirklich geklärt.386 Wie weit sein politischer Horizont in Sachen ‹Naher Osten› wirklich reichte, steht dahin. In einer Region, die er zum Schauplatz eines gedanklichen Ausflugs gemacht hatte, trafen zu seinen Lebzeiten drei Mächte aufeinander. Zwei aufstrebende Mächte, Osmanen und Safawiden, und eine etablierte Macht, die Mamluken, maßen ihre Kräfte – mit Folgen auch für die italienischen Mächte. Denn eine Macht – das Mamlukenreich – ging unter und ein Reich, jenes der Osmanen, erstarkte zu einer ernst zu nehmenden europäischen Bedrohung, so dass sich gar der Begriff ‹Europa› zwar in Fortsetzung älterer Ideentraditionen, aber auch und insbesondere unter dem Eindruck dieser Bedrohung als ein Begriff der politischen Semantik herausbildete und etablierte.387 Vor diesem Gesamtpanorama stellt sich ganz konkret die Frage, inwiefern die Künstler der Renaissance in die politischen, nachrichtendienstlichen und militärischen Gegebenheiten hinein verstrickt worden sind. Unter vielfältigen Gesichtspunkten waren ihre Dienste gefragt: Sie fungierten als Kartenzeichner, Informanten, Boten und mithin auch als personifizierte Zeichen ‹guten Willens›, als die man sie den Widersachern, sprich den orientalischen Höfen zur Verfügung stellte. Und dies wiederum machte sie erneut interessant für eine nachrichtendienstliche Funktion. 383 Siehe Boscolo, a.a.O., S. 104 (auch bezüglich Archivalien in Istanbul). Ergänzend siehe Franz Babinger, Mehmed der Eroberer. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1987 [urspr. 1953], S. 346 (‹acht Töchter›). 384 Siehe unten. 385 Vgl. V, S. 63, sowie DoA. 386 Vgl. Pietro C. Marani, Leonardo in Venice and the Veneto. Documents and Evidence, in: Claire Farago (Hg.), Leonardo da Vinci. Selected Scholarship, Bd. 3 (Leonardo’s Projects, c. 1500–1519), New York/ London 1999 [urspr. 1992], S. 1–14. Es ist dieser Aufsatz nicht untypisch, in seiner Mischung aus einem Aufklärungsbestreben und einer doch erneut spekulativen Tendenz. 387 Vgl. die Beiträge in Bodo Guthmüller / Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, sowie Nancy Bisaha, Creating East and West. Renaissance Humanists and the Ottoman Turks, Philadelphia 2004, für eine kritische, gegenwartsbezogene Perspektive (vgl. S. 174ff.: ‹eine problematische Erbschaft›).
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Die aufgeworfene Frage lässt sich aber nicht wirklich befriedigend klären, insbesondere auch mit Blick auf Leonardo nicht.388 Aber man muss sie aufwerfen, nicht zuletzt um eine traditionelle Fixierung auf die vermeintliche Autonomie bloß sich selbst verantwortlicher Individuen zu überwinden. Es ist im Hinblick auf die Osmanen eine Ebene des Wahrnehmens mit einer Ebene des Handelns nicht gleichzusetzen. Die Künstler handeln, aber ihr Handeln ist nicht per se gleichzusetzen mit einem Handeln aus freier Selbstbestimmung. Leonardo hat die Türken auf seine Weise wahrgenommen, und er hat im Hinblick auf die Türken Handlungen unternommen, erwogen, vielleicht auch gegen die eigene Überzeugung. Kurz: Das Kapitel ‹Türkenbeziehungen› ist ein sehr ambivalentes Kapitel im Rahmen der Geschichte der Renaissance. Und eben diese Ambivalenz zeichnet sich – fast paradigmatisch – in der folgenden Ausführungen auch ab. Geographica Wenn Leonardo da Vinci eine Vorstellung hatte von der Ausdehnung des Türkenreichs bzw. von dessen Expansion, so kommt dies in seinen Kartenskizzen nicht zum Ausdruck. ‹Politische Geographie› zu betreiben gehörte, wie es scheint, nicht zu seinen Interessensgebieten: Wo die Türken im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert ‹standen› – aus seinen Kartenskizzen geht es nicht hervor (was nicht unbedingt heißen muss, dass er es nicht auch registrierte, in Venedig oder anderswo). Die so genannte ‹Fliegerkarte› enthielt Namen wie ‹Ungarn›, ‹Bosnien›, ‹Walachei›, ‹Thrakien›, ‹Mazedonien›, ‹Caffa› – aber jenseits des Bosporus, in Hinblick auf Anatolien, hatte Leonardo auf weitere Beschriftungen verzichtet. Im Codex Leicester – viel später – erwähnte er einige – klassische – Namen der Provinzen von Kleinasien.389 Und die Annäherung an die Türkei findet einen weiteren kartografischen Ausdruck, indem Leonardo in die Kartenskizze auf CA 1106r [ex397r-b] anscheinend einen Landweg eintrug – einen Landweg in die Türkei. Anatolien erscheint in den Karten verschiedentlich in eher groben Umrissen, aber nie als eine Region, der Leonardos eigentliches Interesse gilt. Die Karte der TaurusRegion stellte in diesem Sinne einen Spezialfall dar. Mit Ausnahme der Insel Elephanta scheint sich Leonardo sonst nie mit einem vergleichbaren dezidierten Interesse einer spezifischen Region im Osten zugewandt zu haben: Die geographische Auflösung dieser regionalen Karte, die allerdings von Ptolemäus’ Atlas abgeleitet worden war, steht für sich allein.390
388 Es besteht die Gefahr, die schillernde Rolle der Künstler im interkulturellen Beziehungsgeflecht einerseits zu übertreiben und andererseits zu übersehen, dass die vermeintlich autonomen Künstler zuweilen auch Spielbälle im diplomatischen Verkehr gewesen sein dürften. 389 TuA, S. 232 (Bithynien; Kleinasien) und 246 (Kilikien, Pamphylien und Lyzien). Vgl. auch ebd., S. 267 (Kilikien). 390 Am ehesten wäre in diesem Zusammenhang die Auflistung der Zuflüsse von Indus und Ganges zu erwähnen (ebd., S. 259).
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Leonardo fokussierte auf eine Grenzregion, die auch in traditioneller Geographie nicht eindeutig dem einen oder anderen ‹Land› zugeordnet worden war. Es handelte sich nicht eigentlich um ein ‹Niemandsland›, aber doch um eine zerklüftete Grenzregion. Um ein Land im Südosten Anatoliens und zugleich im gebirgigen Hochmesopotamien, also im nördlichen Teil des ‹Zweistromlands›. Mit dem Städtenamen ‹Calindra› scheint überhaupt eher eine Erfindung Leonardos – und nicht eine eigentlich Ableitung – vorzuliegen, auch wenn es eine Stadt bei Ptolemäus gibt (etwa Choldamara), die Leonardo damit meint.391 Es mag dies ein weiterer Hinweis darauf sein, dass es sich hier um eine in den Grundzügen zwar an der Wirklichkeit (wie sie sich in Ptolemäus’ Atlas abbildete) orientierte, aber teilweise auch imaginäre Geographie handelte, die den Briefen an den ‹Diodario› beigegeben war. Es breitete sich somit sozusagen eine ‹literarische Landschaft› aus, die sich in ihren Ausläufern bis in die Kaukasus-Region und Südrussland bzw. in die Gebiete nördlich des Kaspischen Meeres (die Gebiete der legendären ‹Skythen›)392 erstreckte, denn all diese Regionen sind im ‹Diodario-Material› – in den diversen Textbausteinen – genannt. Konstantinopel, die Stadt an der Schwelle zwischen Orient und Okzident, blieb für Leonardo ‹Konstantinopel›. Eine andere Bezeichnung hat er anscheinend nicht. Es ist, von ‹Calindra› sowie von zwei schwer identifizierbaren Namen einmal abgesehen,393 die östlichste Stadt in seinem Blickfeld, eine Stadt mit ihren ureigenen verkehrstechnischen Problemlagen (wie wir bereits gesehen haben). Schon was den Bosporus angeht, scheint Leonardos Geographie aber wieder ganz auf den ‹Alten› aufzubauen, und sein Interesse verengt sich auf die Strömungsverhältnisse vor Ort. Das Schwarze Meer und seine Nebenmeere (Marmara-Meer, Asowsches Meer) erfasste er sodann mit dem für ihn nicht untypischen erdgeschichtlichen Blick.394 Das Nachleben der byzantinischen Kultur: Flüchtlinge aus Griechenland Claire Farago hat unlängst versucht Leonardos Ästhetik, wie sie vor allem im ‹Malerbuch› aufscheint, auf die byzantinische Bildästhetik zurückzuführen. Wenn der entsprechende Zusammenhang plausibel erscheint, heißt dies allerdings nicht, dass der damit
391 Am eingehendsten hat diese Frage Di Teodoro diskutiert (Francesco P. Di Teodoro, ‹Stupenda e dannosa maraviglia›, in: ALV 2 (1989), S. 121–126). 392 Vgl. bezüglich Skythen und Skythien die Notizen zum Kriegswesen (TuA, S. 634, 640, 643, 650). Vgl. auch S. 97 (Hautfarbe) und S. 194 (Gebiete). Bezüglich des Kaspischen Meeres siehe auch ebd., S. 262f. sowie P II, S. 147; und bezüglich Sarmatien (in Asien) siehe TuA, S. 246. 393 In ‹östlichen Regionen› verortet Leonardo die Städte ‹Mycilate› und ‹Ghaziba› (P II, S. 208). 394 TuA, S. 247 (Strömung am Bosporus); S. 228 (Asowsches Meer) und S. 232 (Schwarzes Meer; Marmara-Meer).
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unterstellte Rezeptionsvorgang auch wirklich aufgewiesen werden kann, und die Autorin weist ihn auch nicht nach.395 Ob sich Leonardo also auf die visuelle Kultur von Byzanz direkt bezieht, ist somit fraglich, auch wenn von Verwandschaften, Ähnlichkeiten und Analogien gesprochen werden kann. Der Bezug erweist sich dennoch als ein von der Forschung aufgrund bestimmter Analogien hergestellter. Und die ganz generelle Frage nach dem Verhältnis Leonardos zur byzantinischen Kultur hatte im Übrigen bereits Dimitri Mereschkowski aufgeworfen: Denn in seinem Leonardo-Roman von 1901 hatte er im letzten Kapitel wechselseitige Atelierbesuche Leonardos und eines Ikonenmalers aus Moskowien imaginiert.396 Ganz real ist Leonardo indes mit dem Nachleben der byzantinischen Kultur in mittelbaren oder unmittelbaren Kontakt gekommen:397 Der Name eines prominenten Exilanten, Joannis Argyropoulos, erscheint in seinen Notizen.398 Ob allerdings auf eine persönliche Bekanntschaft mit diesem Aristoteliker geschlossen werden kann, dessen Stern in Florenz bereits im Sinken war, als Leonardo ihn – als eine gewissermaßen öffentliche, prominente Figur – noch kennen lernte, ist ebenfalls fraglich. Mit der griechischen Sprache schließlich war Leonardo – bzw. sein Umfeld – sporadisch befasst.399 Die türkische Sprache Es ist bezeichnend, dass sich Francesco Gonzaga zwar nicht um die arabische Sprache, wohl aber um das Türkische nachweislich bemüht hat. In Mantua, dessen Herrscher mit den Osmanen eine Art Sonderverhältnis entwickelt hatte, bedingt auch von einer kulturübergreifenden Leidenschaft für edle Pferde, gab es eine entsprechende Lehrkraft.400
395 Claire J. Farago, Die Ästhetik der Bewegung in Leonardos Kunsttheorie, in: Frank Fehrenbach (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 137–168. Frank Fehrenbach – als Herausgeber des Sammelbandes – hat einleitend treffend bemerkt, dass Farago ‹unabhängig von der Frage nach positiven philologischen Kontakten› argumentiere (Vorwort, S. 12). – Leonardo hat sich im Übrigen einmal auf den Humanisten und gebürtigen Byzantiner Marull (1453–1500) bezogen, als auf den Verfasser einer Hymne an die Sonne (siehe TuA, S. 187). 396 Mereschkowski, a.a.O., S. 696ff. und 718ff. Vgl. auch Haupttext, Kap. 2 und 5. 397 Zur sozialen Situation der Exilanten vgl. Babinger, a.a.O., S. 119 (anfängliche Achtung schlug demnach um in Verachtung). 398 Solmi, S. 70f.; V, S. 60; N, S. 197; R II, S. 358, Nr. 1439. 399 Solmi, S. 15f.; R II, S. 387f., Nr. 1557f.; Galbiati, a.a.O., Anhang. – Eine umfängliche Thematisierung des griechischen Ostens ist hier indessen nicht beabsichtigt. 400 Hans Joachim Kissling, Dissertationes Orientales et Balcanicae collectae II. Sultan Bajezid II. und der Westen, München 1988, S. 25. – Das Pferd im Rahmen interkultureller Austauschbeziehungen behandeln: Lisa Jardine / Jerry Brotton, Global Interests. Renaissance Art between East and West, Ithaca 2000, S. 145–151. Vgl. auch die Bemerkungen zum Araber- bzw. Perserpferd in den Sektionen ‹Arabien› und ‹Persien›.
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Leonardos Bemühungen um das Türkische, wenn man von solchen sprechen will, sind eher sporadischer Natur. In seinen Notizen findet sich – in lateinischen Buchstaben gegeben – offenbar ein türkischer Vers (dem indes keine Übersetzung beigegeben ist).401 Vielleicht ging es Leonardo hier für einmal um den reinen Klang. Und in arabischen Buchstaben geschrieben, aber wahrscheinlich nicht von Leonardos Hand, liegen ferner einige türkische Wortfetzen – im Labyrinth seiner Notizen – vor.402 Den konkreten Entstehungskontext dieser beiden Stellen kennen wir aber nicht.403 In Luca Pulcis Ciriffo Calvaneo, also in einem weiteren Text, der zum Genre der abenteuerlichen Ritterdichtung gehörte und der in Leonardo einen Leser fand, finden sich im Übrigen Parodien sowohl der türkischen wie auch der arabischen Sprache.404 Die zeitgenössische Türkei: Türkisches im Gesichtsfeld Leonardos? ‹Türkisches Leder› als ein Rohmaterial zur Verfertigung von Stiefeln kommt in Leonardos Notizen einmal vor und zwar im Rahmen einer Notiz, die uns einen reizvollen Einblick in die Lebenswelt der Renaissance gestattet. Es verbirgt sich in dieser Notiz fast eine Erzählung im Kleinen, und das Leder fungiert darin gleichsam als das Leitmotiv.405 Auf türkische Kleidung allerdings ist – möglicherweise – noch auf eine viel aufdringlichere Weise Bezug genommen, nämlich in der Skizze des im Dezember 1479 durch den Strick hingerichteten Bernardo di Bandino Baroncelli, eines der Hauptbeteiligten der Pazzi-Verschwörung gegen die Medici.406 Die Skizze stellt der Interpretation allerdings ein Problem, das mit Blick auf die Zeichnung allein keinesfalls zu lösen ist. Denn in der Kleidung des Gehängten lag möglicherweise eine dem zeitgenössischen Beobachter entzifferbare Zeichenhaftigkeit, deren Wirkung Leonardo, indem er den Gehängten zeichnete, reproduzierte und in ihrer Wirkung auch verlängerte. Nur: Ob es diese Zeichenhaftigkeit tatsächlich gab bzw. worin sie bestand, ist alles andere als einfach zu beantworten. 401 Sergio Noja, Una frase in turco di mano di Leonardo nel Codice Atlantico, Milano 1976 [Istituto Lombardo, Rendiconti classe di Lettere e Scienze Morali e Storiche 110 (1976)], S. 222–230. 402 Siehe Carlo Pedretti, Leonardo in Sweden, in: ALV 6 (1993), S. 210. Vgl. auch die Ausführungen im Rahmen der Einleitung zu diesem Buch. 403 Als sich Franz Babinger mit Leonardos Brückenprojekt befasst hatte, waren ihm weder die eine noch die andere Textstelle bekannt gewesen. Zwischen dem Istanbuler Brief und der Stelle in Ms. I scheint es aber keine wörtliche Übereinstimmung zu geben (obschon in beiden Fällen offenbar von ‹Kniff› bzw. ‹Erfindung› die Rede ist). 404 Siehe Vecce, a.a.O., S. 277, Fn 16 (die Vermutung des Autors geht dahin, dass Luigi Pulci, also Luca Pulcis Bruder, diese Parodien erfand). 405 Siehe TuA, S. 893: Demnach hatte Leonardo dieses Leder als ein Geschenk erhalten; sein Schüler Salai stahl es aber und verhökerte es an einen Flickschuster, um sich von dem Geld Aniskuchen zu kaufen. 406 R I, S. 379f., Nr. 664. Richter hatte – in seinem Kommentar – zur Erhellung der historischen Umstände, unter denen diese Zeichnung entstanden ist, nicht wenig beigetragen.
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Baroncelli war erst lange nach dem eigentlichen Anschlag auf die führenden Medici belangt worden. Nachdem er sich zunächst nach Konstantinopel hatte absetzen können, war er auf Betreiben des Magnifico vom Sultan in Haft genommen worden, und man brachte ihn nach Florenz schliesslich zurück, wo er zum Tode durch den Strang verurteilt wurde und zwar – wie es in dem Urteil heißt – in eben jenen Kleidern, die er am Leibe trug, als man seiner habhaft geworden war.407 Was heißt dies nun genau? Denn durch die Leonardo-Literatur zieht sich die Behauptung, Baroncelli sei in türkischen Kleidern gehängt bzw. von Leonardo in türkischen Kleidern dargestellt worden,408 wobei der Zeichnung ja von Hand Leonardos in der Tat genaue Angaben bezüglich der Art und der Farbigkeit der einzelnen Kleidungsstücke beigegeben waren. Ob diese Kleidung allerdings – in Leonardos Augen – exotisch konnotiert war, steht keineswegs fest: Zum einen kann von einer aufdringlichen Exotik keine Rede sein. Ein ‹berettino› als Kopfbedeckung etwa war nichts Ungewöhnliches, vielmehr gängiger Bestandteil italienischer Kleidermoden der Renaissance-Zeit. Vor allem: Eine Ähnlichkeit der von Leonardo dargestellten Kleidung mit zeitgenössischer türkischer Alltagskleidung liegt gar nicht auf der Hand. Diese zu erkennen fehlte den Florentinern – in ihrer überwiegenden Zahl und ähnlich wie uns heute – zudem schlicht die Referenz.409 Und aufdringlich exotisch war die Kleidung wie gesagt auch nicht. Baroncelli als einen Glaubensflüchtling auszuweisen war auch nicht unbedingt im Sinne der Medici, denn eine solche Zeichenhaftigkeit fiel möglicherweise auf den Magnifico zurück, der auf die Kooperation mit dem ‹Glaubensfeind› ja angewiesen war und der sich bei seinem ‹Partner› in dieser Angelegenheit, Sultan Mehmed II., hernach in Form einer Porträtmedaille, die den Sultan darstellte, bedankte. Des Weiteren wäre Baroncelli sicher auch schlecht beraten gewesen, sich in Konstantinopel als ein Türke zu verkleiden (denn nichts ist Einheimischen mithin auffälliger, als wenn sich ein Fremder als ein Einheimischer zu verkleiden versucht). Zudem hatte sich der Mitverschwörer und Mörder, wie es heißt, zu nahen Verwandten geflüchtet, die zur
407 Maria A. Morelli Timparano et al. (Hg.), Consorterie politiche e mutamenti istituzionati in età Laurenziana, Firenze 1992, S. 161 («eo habitu quo ex Costantinopoli civitate adductum est»). Die Formulierung könnte möglicherweise schlicht im Sinne von ‹ohne Verzug› verstanden werden. – An allgemeinen Darstellungen der Episode mangelt es im Übrigen nicht (siehe etwa N, S. 186; M, S. 92 und 95). 408 Vgl. M, S. 92; sowie Morelli Timparano et al. (Hg.), a.a.O. Der Letzteren Darstellung zufolge verwies die Kleidung sogar auf einen ‹doppelten Verrat›, nämlich einen Verrat der Medici wie auch des christlichen Glaubens). 409 Bezüglich orientalischer bzw. konkret: türkischer und mamlukischer Trachten informiert allenfalls die Spezialliteratur. Vgl. etwa Jürg Meyer zur Capellen, Gentile Bellini, Stuttgart 1985, S. 92. Beispiele osmanischer Trachten (nach einer Quelle des 17. Jahrhunderts) auch in Gabrieli (Hg.), a.a.O., S. 212f., und in Martínez Montávez / Ruíz Bravo-Villasante, a.a.O., S. 164. Die Problematik osmanischer Kleiderordnungen erwähnt: Suraiya Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 126.
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8 Skizze des hingerichteten Bernardo di Bandino Baroncelli (nach Robert Wallace / Redaktion der Time-Life Bücher, Leonardo da Vinci und seine Zeit. 1452–1519, o.O. 1971, S. 24)
Kaufmannskolonie von Konstantinopel/Istanbul bzw. von Pera gehörten.410 Insofern lag es wohl näher, dass Baroncelli sich als ein Kaufmann tarnte, d.h. auch wie ein Kaufmann kleidete. Ob die Kleidung, in der man ihn hängte, überhaupt seine ‹Tarnung› war, ist ebenfalls nicht klar. Denn man hielt ihn sehr lange in Haft, in Istanbul. Und es ist möglich,
410 Babinger, a.a.O., S. 424ff., und AuA I, S. 247.
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dass man ihn erst in Florenz so einkleidete, damit sich eine wie auch immer intendierte Zeichenhaftigkeit ergab. So ist alles in allem vielleicht am ehesten von einer ‹Exotik des Reisenden› zu reden, den man in Reisekleidung – signifikativ vielleicht der Pelzbesatz des Mantels – gehängt hatte, um darzutun, dass der Arm des Magnifico den Flüchtenden belangte, wohin immer er sich auch flüchten mochte. Viel harmloser als das makabre Nachleben eines Gehängten im Werk Leonardos ist demgegenüber die Notiz, die zweifelsohne eine Referenz auf türkischen Alltag darstellt: Denn Leonardo notierte sich ganz konkret das Rezept einer Limonade (aus Zucker, Rosenwasser, Zitrone und frischem Wasser, durch ein Tuch sozusagen in ein Glas ‹geseiht›), die von den Türken in sommerlicher Jahreszeit genossen wurde.411 Damit öffnet sich die Spannweite möglicher Beziehungen zur osmanischen Kultur, die im Kriegswesen sozusagen ihr anderes kulturfeindliches Extrem erreicht. Einzelne Rohstoffe, die Leonardo in seinen Notizen erwähnt, waren – und blieben – mit Griechenland assoziiert, auch wenn nun die Türken über ehemals byzantinische Gebiete herrschten.412 Ein portables Schwitzbad auf einem Folio der Windsor-Sammlung, dies eine Art Kuriosum, ist schließlich – im Katalog der Sammlung – als ein ‹türkisches Bad› bezeichnet.413 Die Türken als militärischer Gegner Im Haupttext ist erläutert worden, dass Leonardos briefliches Angebot an die Osmanen auch militärische Implikationen in sich barg, denn es waren Schiffe angesprochen, und die Flottenrüstung der Osmanen hatte zu Zeiten Bayazids II. einen wahren Aufschwung erlebt. Andererseits: Kurz bevor Leonardo dieses Angebot mutmaßlich lancierte, hatte er sich an Abwehrmaßnahmen der Republik Venedig gegen die Türken beteiligt. Man fragt sich, ob an diesem Bild etwas falsch sei oder ob schlicht und einfach die Sprunghaftigkeit Leonardos in seinen Entschlüssen und Loyalitäten hingenommen werden muss. Die Diskrepanz ist jedenfalls nicht aufzulösen und bleibt mitzudenken, auch wenn es schwer fällt, hinter dem Denkmal ‹Leonardo da Vinci› den historischen Leonardo in seinem sozialen Kontext und in seiner sozialen Position als Künstleringenieur immer im Blick zu behalten. Wir wissen leider nicht genau, mit welchem persönlichen, vielleicht auch politisch oder zumindest patriotisch grundierten Engagement Leonardo 411 CA 482r [ex177r-a]. In eine Anthologie ist diese Notiz, wie es scheint, nie aufgenommen worden. Vgl des Weiteren Martínez Montávez / Ruíz Bravo-Villasante, a.a.O., S. 144 bezüglich türkischer Getränke. 412 So das ‹griechische Pech› (R I, S. 365, Nr. 644, bzw. R II, S. 5f., Nr. 710; P II, S. 117). – Auch Mastix (TuA, S. 782) stammte bisweilen von der Insel Chios. 413 Siehe W 19079v. – Die betreffende Skizze steht mit denjenigen architektonischen Entwürfen, die Strzygowski einst als von den Bäderanlagen von Konstantinopel angeregt angesehen hatte, in keinerlei Zusammenhang (vgl. Haupttext, Kap. 1).
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jeweils zur Sache ging, bzw. welche Sache er als ‹die seine› aufgefasst hat. Es hat jedenfalls den Anschein, als ob er grundsätzlich keinen Unterschied machte zwischen dem Sultan als Patron, einer Kommune als Auftraggeber oder einem Herren wie dem Valentino. Auch andere ‹Dienstmänner› – wie wir heute wissen – hielten es nicht anders.414 Was Leonardo den Venezianern genau an Vorschlägen unterbreitete, ist eher unklar. Es scheint sich um den Bau von Bollwerken am Fluss Isonzo zu handeln und zwar um Wehre, die von hohen Wasserständen, von Hochwasser, nicht beschädigt werden würden.415 Jedenfalls unterscheidet man heute zwischen diesen spezifischen Abwehrmaßnahmen, die möglicherweise auch künstlich herbeigeführte Überschwemmungen umfassten,416 einerseits und zwischen spektakulären Techniken der Seekriegsführung andererseits, die sich, wenn sie einen konkreten, realen Bezug hatten, wohl auf die Piratenbekämpfung an der ligurischen Küste bezogen und anmuten wie Pläne zu einem ‹Kommandounternehmen› zwecks einer Befreiung von Gefangenen.417 Ob Leonardo – als ein junger Mann – unter dem Eindruck der Einnahme von Otranto durch die Türken stand, wissen wir nicht. Früher ist vermutet worden, er habe sich in einer Notiz auf eine mit diesem Geschehen assoziierte Gedenkinschrift bezogen,418 doch die Hypothese ist nicht haltbar.419 Näher lag ihm möglicherweise der Gedanke, dass der Neffe seines Freundes und gelegentlichen Wohnpartners Luca Pacioli gegen die Türken ausgezogen war.420 Doch in Bezug auf die innere Beteiligung Leonardos an derlei Sachverhalten begeben wir uns auf das Feld der reinen Spekulation. Die Türken in der Imagination – das Eigenleben in der Sprache Belege für eine rhetorische Referenz auf die Türken als die ‹besseren Christen› sind bei Leonardo – wenig überraschend – nicht zu finden.421 Der Türke als ein Typus, als ein gedankliches Konstrukt, kommt allerdings vor, und zwar im Zusammenhang der ‹Rätselprophetie›, welche die sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten der Men-
414 Ein Werk des Geographen Berlinghieri (mit Widmung an den Sultan) und auch eine Erstausgabe des ‹Valturio› gelangten in den Serail (siehe AuA I, S. 197f.). 415 TuA, S. 879ff. 416 Vgl. TuA, S. 880 («[…] dass wenige Männer mit Hilfe dieses Flusses viele ersetzen können.»). 417 Leonardos Aufenthalt in Venedig ist – wie gesagt – immer etwas rätselhaft geblieben. Die ältere Forschung, die seine Ideen im Hinblick auf die Kriegsführung zur See im Zusammenhang mit seinen Vorschlägen zur Verteidigung des venezianischen Festlandes sah (siehe etwa Edmondo Solmi, Leonardo da Vinci e la Repubblica di Venezia novembre 1499–aprile 1500, in: Archivio storico lombardo 35 (1908), S. 327–360; so auch noch TuA, S. 659), ist aber im Großen und Ganzen widerlegt (siehe L-A, S. 9, 28, 32f. und 129). 418 Solmi, S. 307 (Ms. L, Deckblatt r). 419 Siehe P II, S. 248. 420 Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 289. 421 Belege im Zusammenhang mit Michelangelo, Savonarola und Luther siehe Haupttext, Kap. 3.
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schen zum Thema hat. Der ‹Türke› findet sich in diesem Rahmen in Opposition zum ‹Deutschen›.422 Was sich Leonardo da Vinci allerdings unter einem typischen ‹Türken› vorgestellt hat, ist hier die Frage und einen Ansatzpunkt des Nachdenkens finden wir in einer theatralischen Darbietung, nämlich in einer Mailänder ‹Operetteninszenierung› des Jahres 1490. Es traten, in dieser Inszenierung, ‹vorgebliche› Gesandtschaften aus aller Herren Länder auf und darunter auch eine türkische Gesandtschaft.423 Gerne wüsste man mehr über die Kostümierung dieser ‹Türken›, weil Leonardo da Vinci, wie es heißt, für Bühnenbilder und Kostüme höchstpersönlich verantwortlich zeichnete und womöglich hier, bei angemessener Gelegenheit, zum Ausdruck gebracht hatte, wie er sich eine als ‹türkische Gesandtschaft› erkennbare Menschengruppe vorstellte (ohne damit notwendigerweise seine eigene Vorstellung zu artikulieren, die ja nicht identisch sein musste mit dieser Konvention).424 Doch sind wir auch in diesem Falle auf die eigene Imagination gleichsam zurückgeworfen, und auch ein Vergleich dieser Kostüme mit der Kleidung des gehängten Baroncelli ist nicht möglich. Zwischen einem Schimpfwort und dem respektvoll gebrauchten Übernamen ‹Türke› eine scharfe Trennung zu ziehen, ist im Übrigen alles andere als unproblematisch, weil das eine in das andere übergeht und ein jeweiliger, stark auch von Imaginationen abhängiger Gebrauchskontext stets mitzudenken ist (und um auf die Geographie zurückzukommen: Auch die Bedeutung der Worte ‹türkisch› und ‹Türkei› ist variabel und zuweilen höchst vage). Belege eines durchaus nicht immer abschätzigen, sondern wohl auch ins Gegenteil kippenden Gebrauchs lassen sich finden. So begegnen wir im Umfeld von Michelangelo einem Marmorarbeiter namens ‹Giovan Turco› aus Settignano;425 Francesco Gonzaga wurde hingegen – wie auch Cesare Borgia – als ‹Türke› diffamiert.426 Und in Venedig verstand man ‹türkisch›, wie es heißt, auch im Sinne von ‹wild›, ‹unmäßig› und ‹barbarisch›, ein Wortgebrauch, der sich, einen passenden Kontext vorausgesetzt, leicht ins Positive wenden ließ, nämlich in Form eines frivol-anerkennenden Worts (‹rauchen bzw. trinken wie ein Türke›).427 Leonardo selbst erwähnte konkret einen Bartolomeo il Turco, wahrscheinlich ein Florentiner, und als einen beachtlich guten Musiker Tadeo, den neunjährigen Sohn des Nicholaio del Turco, der im September 1497 in Mailand als Musiker aufgetreten war und große Anerkennung gefunden hatte.428 Welcher Wortsinn jeweils aufgerufen ist, 422 TuA, S. 864. 423 N, S. 330. 424 Ebd., S. 329. 425 William E. Wallace, Michelangelo at San Lorenzo. The Genius as Entrepreneur, Cambridge etc. 1994, S. 35 und 40 (siehe auch Index). 426 Landucci, a.a.O., S. 172, Fn 2; Cloulas, a.a.O., S. 347 (Savelli-Brief ). 427 Claudia Naumann-Unverhau, Die Aufnahme türkischer Kaufleute bei Senat und Bevölkerung Venedigs, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 160 und passim. 428 Solmi, S. 310 (Bartolomeo); CM I 0 (bzw. Deckblatt) (Tadeo). Bezüglich letzterer Notiz siehe auch P II, S. 316 (hier kritisch in Bezug auf die Transkription von Reti).
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müsste situativ, unter Berücksichtigung des jeweils spezifischen Kontextes, geklärt werden. Doch auch diese Kontexte kennen wir leider nicht. f) Das Zweistromland Wenn Leonardo das Gebiet des heutigen Irak im Auge hat, ist sinnvollerweise eher vom ‹Land der zwei Ströme› zu sprechen als vom Land ‹zwischen den Strömen› (Mesopotamien). Denn erneut hat er weniger das Land als einen Kulturraum im Blick als die Ströme selbst (und allenfalls ein ‹Kulturland› entlang der großen, biblisch konnotierten Flüsse). Eine Beschreibung des Euphrats zu geben war ein Vorhaben, wie sich dem im ‹Diodario-Material› enthaltenen Inhaltsverzeichnis entnehmen lässt, aber wir wissen nicht, ob es je in die Tat umgesetzt worden ist. Dem Plinius unter anderem war Material für eine solche Beschreibung zu entnehmen,429 und aus anderen Beispielen wissen wir, dass Leonardo den Eindruck zu verwischen wusste, dass er aus zweiter Hand bloß schöpfte. Unter anderem, indem er sich des Verbums ‹sehen› bediente, das er – für sich – als ‹wissen› deutete. Vielleicht war er gar nie auf die Idee gekommen, dass es anders verstanden werden konnte, denn an eine Nachwelt war diese Euphrat-Beschreibung schwerlich gerichtet. Zu spezifisch sind die Umstände, denen das ‹Diodario-Material› seine Entstehung verdankte. Leonardos Umfeld erlag wahrscheinlich keiner Täuschung, wenn Leonardo ‹sehen› schrieb, in Wirklichkeit aber ‹wissen› und ‹vorstellen› meinte und gar nicht beanspruchte, mehr als ein ‹Lehnstuhlgeograph› zu sein. Ein eigentlicher Fixpunkt im Zweistromland, das zu Leonardos Lebzeiten politisch unruhige Zeiten erlebte,430 war Babylon, doch ob es sich dabei wirklich um einen fixierten, eindeutig identifizierbaren Punkt handelte, ist fraglich. Zu groß waren die Unschärfen, wenn Leonardo da Vinci von Babylon sprach. Babylon vervielfältigte sich fast eben so rege, wie ‹Alexandria› sich vervielfältigt hatte, ‹Babylon› war vielerorts431 und nicht zuletzt in Rom, wo Leonardo da Vinci 1513–16 gewirkt hat. Über reale Politik, Architektur und insbesondere Herrschaftsarchitektur im Zweistromland war Leonardo da Vinci aber höchstwahrscheinlich nicht im Bilde.432 429 Plinius maior, a.a.O., Buch 5, Abschnitt 83ff. 430 Einen profunden Überblick vermittelt Hans Robert Roemer, Persien auf dem Weg in die Neuzeit. Iranische Geschichte von 1350–1750, Beirut/Stuttgart 1989. – Wenn sich Leonardo mit der Figur des Propheten, der im ‹Diodario-Material› vorkommt, auch auf Schah Ismael, den Führer der Safawiya bezog, wäre dies der einzige Bezug Leonardos auf Zeitgeschichte im Zweistromland. Ein solcher Bezug oder Subtext erscheint mit der im Haupttext gegebenen Interpretation des Materials durchaus vereinbar. Aus einem solchene Bezug ergibt sich aber noch keine Gesamtinterpretation des ‹Diodario-Materials›. 431 Für eine Identifizierung mit Bagdad siehe Schmitt (Hg.), a.a.O., Bd. 2, S. 79. 432 Die bloße Assoziation durch Strzygowski brachte einst den aus dem 9. Jahrhundert stammenden Balkuwara-Palast bei Samarra mit jenen architektonischen Entwürfen Leonardos zusammen, die eventuell im Zusammenhang mit Schloss Chambord zu sehen sind (siehe Haupttext, Kap. 1). Bezüglich Chambord siehe etwa Hidemichi Tanaka, Leonardo da Vinci, Architect of Chambord?, in: artibus et historiae 25 (1992), S. 85–102.
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Euphrat und Tigris Dass Leonardo das Zweistromland zu kennen glaubte, geht nicht allein aus seinem Ansinnen einer Euphrat-Beschreibung hervor. Es kam ihm dieser Fluss auch einmal in den Sinn, als er sich auf das Jammern der Einwohner von Bologna ‹über ihre Flüsse› bezog. Die Wasserströme Babylons und die italienischen Flusslandschaften zugleich lagen in seinem Gesichtsfeld, wenn er schrieb, dass ein Fluss in einem Erdspalt, verursacht von einem Erdbeben, in den ‹Körper› der Erde zurückkehren würde.433 Er war sich, was Erstaunen mag, im Hinblick auf den Euphrat seiner Sache sicher. Und man ist leicht irritiert, wenn man bedenkt, dass diese Sicherheit allein in einem Wissen aus zweiter, dritter Hand fundiert war. Doch im Grunde sehen wir Leonardo hier in einer Abhängigkeit, die in Hinblick auf ihn nicht selbstverständlich sein mag, aber im Grunde gar nichts Besonderes ist. Kurz: Als Anatom hatte Leonardo selber hingesehen und sich auf ein Traditionswissen bezogen. In Sachen der Geographie des Orients können wir, wie im Haupttext dargelegt, von einem Erfahrungswissen, gewonnen durch Augenschein, nicht ausgehen. Ein Interesse an der physikalischen Geographie verkoppelte sich bezeichnenderweise auch mit einem Interesse an der Indienstnahme von Wasserkraft bzw. Entwässerung. Am Beispiel der zwei großen Ströme lässt sich dies fast paradigmatisch zeigen. Der Lauf des Euphrat, sein ‹Durchschneiden› des Taurus-Gebirges sowie die erdgeschichtliche Bedeutung des Tigris war das eine,434 die Zerstörung der Stadt – mittels des Flusses – das andere. Konkret nahm Leonardo zweimal Bezug auf ein historisches Exempel, nämlich die Eroberung Babylons durch den Perserkönig Kyros II. im Jahre 539 vor Christus. Einmal sprach er von Entwässerung,435 ein anderes bzw. späteres Mal aber schien er die Zerstörungskraft von Wassergewalt vor Augen zu haben.436 Herodot jedenfalls hatte von einem Eindringen der Perser in die Stadt auf dem Wasserwege berichtet. Sie durchwateten das Flussbett bei niedrigem Wasserstand.437 Leonardo schien aber auch die Gewalten künstlicher Überschwemmungen in Betracht zu ziehen, wenn er nicht nur von der Zerstörung einer Stadt, sondern auch von anderen Städten und vor allem Gebieten sprach, die ‹desgleichen› durch den Fluss – und nicht durch Wassermangel – zerstört worden waren (‹destrutte›); Herodot demgegenüber hatte bloß eine Strategie in Form einer Ableitung des Flusses referiert. ‹Schutzmaßnahmen› dagegen hätten eher mit einer Durchkreuzung der Pläne des Feindes zu tun gehabt als mit einer Wissenschaft vom Wasser, wie Leonardo sie dachte. 433 TuA, S. 922. 434 Weitere Belege siehe TuA, S. 151, 318f., 503, 509. 435 TuA, S. 648. 436 TuA, S. 509. Pedretti gibt die Passage genauer in P II, S. 208, und er datiert ‹ca. 1508›. 437 Herodot, Geschichten, Auswahl von Hermann Strasburger, Frankfurt a.M./Hamburg 1961, S. 29ff. (Buch 1, Abschnitt 177ff.). Dieser Bericht ist allerdings nicht – es sei bloß in Erinnerung gerufen – mit der historischen Wahrheit gleichzusetzen.
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Die Verkoppelung der Wissenschaft vom Wasser mit der geschichtlichen Erfahrung hatte bei Leonardo, wie es scheint, eine gewisse Unschärfe zu Folge. Sein Möglichkeitssinn schien ihn dazu zu treiben, sowohl Entwässerung wie auch Überflutung zu denken, zwei Möglichkeiten, die er auf einen historischen Sachverhalt, auf eine historische Situation dann projizierte, die Situation evozierend und zugleich – wegen der Verschiebung bzw. neuen Akzentsetzung – auch verunklarend. In beiden Möglichkeiten jedenfalls zeichnet sich jene Durchgestaltung der Kultur zu einer vom Menschen geschaffenen Umwelt an, die über das Studium der physikalischen Geographie weit hinausgeht. Kontemplation und Theorie mündete hier in einer differenzierten Praxis, zumindest der Vision einer Praxis, die an der Geschichte sich ein Beispiel nahm. Der Tigris ist im Übrigen – unter- oder hintergründig – auch in der Kunst, nämlich im Motiv ‹Tobias und der Erzengel Raphael› präsent (die entsprechende Episode im apokryphen alttestamentarischen Buch Tobias verortet sich am Tigris). Man geht davon aus, dass Leonardo an einer entsprechenden Arbeit der Verrocchio-Werkstatt beteiligt war und die Darstellung von Hund bzw. Fisch auf ihn zurückgeht.438 Orientalische Konnotationen sind allerdings nicht erkennbar intendiert. Babylon Wenn im Hinblick auf die Ströme noch von einer bemühten erdkundlichen Genauigkeit bei gleichzeitiger historischer Unschärfe die Rede sein kann, ist im Hinblick auf das schon erwähnte Babylon von einer sowohl geographischen als auch historischen Unschärfe zu sprechen. Babylon war vielerorts die Metapher von der ‹sündigen Stadt›, der ‹Hure Babylon›, es war im christlichen Abendland, also auch im Lebensumfeld Leonardos, schlicht allgegenwärtig.439 Und zugleich, und damit wohl auch im Zusammenhang, tat sich die Geographie schwer, Babylon, das oder ein Babylon, präzise zu verorten. Benedetto Dei, der Weitgereiste, hatte vom ‹Sultan von Babylon› gesprochen, wenn er den Mamlukensultan meinte.440 Daraus folgt, dass ‹Babylon› ein Name für Kairo auch war,441 auch wenn zum Beispiel Hartmann Schedel – in seiner Weltchronik – eine neue Unschärfe verantwortete, indem er das alte Memphis als ‹Kairo› identifizierte.442 Leonardo sprach von einem ‹Diodario› als dem ‹Statthalter des Sultans von Babylon›
438 Siehe Z I, S. 170. – Es handelt sich im Übrigen bei der Textvorlage um Tobias 6,1. 439 Siehe etwa Marjorie Reeves (Hg.), Prophetic Rome in the High Renaissance Period, Oxford 1992. 440 Dei, a.a.O., S. 120 und 166. 441 Vgl. Richters Kommentar (R II, S. 317, Fn 2 zu Nr. 1336) sowie Haupttext, Kap. 2. 442 Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493, hrsg. von Stephan Füssel, Augsburg 2005, XXIIr («Memphis ietzo Cayru. oder Alkeyro genannnt die ku(e)niglich stat in egypten […]»). Es ist nicht ausgeschlossen, dass Leonardo Schedels 1493 erschienene Weltchronik besaß (siehe P II, S. 354 und 357; Reti dagegen hatte – mit Blick auf den unspezifischen Eintrag in der ‹Bücherliste› – an Foresti da Bergamo gedacht: siehe Reti Nr. 13; der dazugehörige Kommentar auf S. 188).
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und bekräftigte so, vielleicht auch in einer Reaktion auf die durchaus vorhandenen Unschärfen der fortgeschritteneren Geographie, den alten Wortgebrauch. Valturio folgend hatte er Babylon am Ganges verortet (bzw. den Ganges bei Babylon).443 Ein dritter und letzter Beleg, jener von der Zerstörung Babylons durch den Fluss, hat das historische Babylon am Tigrisstrom.444 ‹Zwischen den Strömen›, könnte man sagen, situierten sich auch die ‹Leerstellen› – oder die Projektionsflächen – der Geographie der Renaissance. Assyrische Geschichte Eine militärtechnologische Innovation, die Erfindung des Katapults, verdankte sich Leonardos Notizen zufolge einer Herrschergestalt des Alten Orients. Hinter dem Namen ‹Ticlete›, wie ihn Leonardo hat,445 ist – verschwommen – wahrscheinlich König Tiglat-Pileser III. auszumachen, eine Herrschergestalt des 8. Jahrhunderts vor Christus und eine Figur, die – als König Pul – im Alten Testament auch vorkommt. Leonardo hat allerdings nicht eigentlich die historische Figur, d.h. die Figur der neu-assyrischen Geschichte,446 sondern zunächst einmal bloß einen Namen vor Augen. Und da er in diesem Falle die Quellen der Überlieferung auch nennt – nämlich Plinius und Nonius – zeichnet sich ein überaus komplizierter Vermittlungsvorgang für einmal andeutungsweise auch ab. Indem Leonardo Auszüge aus Valturio verfertigte, kam er mit der antiken Überlieferung in Berührung. Und hinter dem Bild, das die antiken Autoren vermittelten, lag – praktisch unzugänglich – die historische Wirklichkeit des Alten Orients. Leonardos Notiz steht am Ende dieses Überlieferungsprozesses. Ein Bruchstück an Information über die assyrische Geschichte vermittelte sich so – in Form einer Ursprungsgeschichte – an den Militäringenieur der Renaissance. Aber der verwickelten Überlieferung zum Trotz: Leonardo da Vinci und ein altorientalischer Herrscher avancierten so zu Gestalten in ein und derselben Geschichte, nämlich als ein mutmaßlicher Erfinder einer Waffentechnik und als ein Nachfolger, was die Optimierung und Adaptation militärtechnischer Errungenschaften der Antike – einschließlich des Alten Orients – anging. Eine Berührung mit dem Alten Orient ergab sich hier aufgrund des Vorgangs der Vermittlung von Ideen und schließlich auch aufgrund der Idee des Ursprungs bzw. der Erfindung.
443 TuA, S. 648; Solmi, S. 288. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass Herodot vom Fluss ‹Gyndes› spricht, an dem sich Kyros mittels einer Trockenlegung rächt, weil ihm ein Pferd darin verloren ging (Herodot, a.a.O., S. 33). 444 TuA, S. 503. 445 TuA, S. 634. 446 Siehe auch TuA, S. 649, sowie Synopse, Sektion ‹Das Heilige Land›.
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g) Arabien In Antonio Puccis Reina d’Oriente, einem Werk aus dem 14. Jahrhundert, aus dem Leonardo eine Strophe – sie in ihrer Metaphorik variierend – abschrieb, residierte Mohammed in Rom.447 Doch im Bewusstsein Leonardos und seiner Zeit war der Islam, ob man ihn nun als eine christliche Häresie wahrnahm oder als eine eigenständige Buchreligion, dem Ursprung nach mit der arabischen Halbinsel verbunden. Mandeville hatte Mohammed als armen, in Arabien geborenen Knecht dargestellt, der mit Kaufleuten nach Ägypten fuhr und später zum Herren von Arabien aufstieg, angeblich 509 Jahre nach Christi Geburt.448 Zeitlich ähnlich grob wussten auch die Leser der Ritterepik sein Leben – in der Zeit vor Karl dem Großen und dessen Paladinen – einzuordnen; und Luigi Pulci gefiel sich darin, im literarischen Dialog mit Benedetto Dei, ‹Salamalec› auf ‹Mec› zu reimen.449 Die abendländische Imagination hatte sich auf die heiligen Stätten, Mekka und Medina, als symbolische Orte zwar regelrecht fixiert, aber zugleich tat man sich doch eher schwer, sich diese Stätten ganz real vorzustellen (ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, überhaupt dorthin zu reisen). Denn die einmal etablierte Legende vom schwebenden Sarg des Mohammed, assoziiert mit der Stadt Mekka, blieb im allgemeinen Bewusstsein auch dann noch haften, als der Abenteurer Ludovico Varthema in seinem 1510 erschienenen Bericht das Bild korrigierte, und, nachdem er offenbar auch in Mekka gewesen war, auf das Grab des Propheten in Medina hinwies.450 Leonardos Bewusstsein scheint sich, wenn man seine Aufzeichnungen als Maßstab nimmt, weder auf Mekka noch auf andere Städte in für ihn exotischen Regionen fixiert zu haben. Urbane Exotik oder Exotismus kommen, abgesehen vielleicht vom Thema der ‹imaginären Architektur›, in seinen Notizen nicht vor. Die islamisch-arabische Kultur allerdings als eine Folgeerscheinung der Verbreitung des Islam von der arabischen Halbinsel aus und in ihrer Anreicherung mit dem klassisch-griechischen (und teilweise exotisch indischen) Element war ihm präsent – in Gestalt vielfältiger Vermittlung und in ihrer Funktion als Mittler vielfältiger antiker Wissensgüter, angereichert durch das Moment des Eigenen. Arabien, das zeitgenössische Arabien,451 jedoch trat zurück, war weder allein in dieser Hinsicht bedeutsam noch war ihm dieser Teil der ‹östlichen Weltgegenden› überhaupt von allererster Wichtigkeit, auch wenn es hier hydrologische Problemstellungen gab (die Wasserleitungen nach Mekka und Medina), die ihn sicherlich fasziniert haben dürften (falls sie ihm bekannt geworden wären). Kurz: Arabien ist präsent im Denken Leonardos, aber nicht aufdringlich präsent, und auch nicht in allererster Linie verbunden mit einer Religion (und wenn, dann 447 Vgl. Soulier, a.a.O., S. 158–160. Bezüglich Pucci siehe R I, S. 383, Nr. 673; Solmi, S. 253f. 448 [Mandeville], a.a.O., S. 165. 449 Belege siehe oben. 450 Reichert, Mekka, a.a.O., S. 25ff. 451 Zur Geschichte Arabiens ist hier erneut der ‹Haarmann› beigezogen worden (Haarmann (Hg.), a.a.O., S. 236ff. und S. 323ff.).
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eher mit dem Christentum als dem Islam, denn in dieser Hinsicht existierte Arabien auch in den biblischen Stoffen und von daher in den Aufgaben, die man den Künstlern stellte). Geographie und Erdgeschichte Leonardo da Vinci, zeitlebens fasziniert vom Element des Wassers (und weit weniger von dessen Mangel, d.h. von der Wüste),452 rahmte die Landmasse der arabischen Halbinsel von zwei Seiten, zwei Gewässern her gleichsam ein. Denn einerseits schweifte sein Blick als Geologe vom Mittelmeer zum ‹arabischen Meerbusen› bzw. zum Roten Meer (er dachte über eine einstmalige Verbindung bzw. einen Abfluss des Mittelmeers nach Osten nach),453 und andererseits kennzeichnete er den Persischen (bzw. Arabischen) Golf als einen ehemaligen See des Tigris.454 Geologie und Erdgeschichte, auch im Hinblick auf Arabien und die es umrahmenden Gewässer, interessierten ihn primär. Von Kulturgeographie ist deshalb, in einem vordergründigen Sinne zumindest, auch hier nicht zu sprechen, auch wenn das Rote Meer von alters her auch ein Handelsweg war. Die Route nach Indien, die antike Route, führte von Ägypten her über dieses Nebenmeer des Indischen Ozeans. Und über eine Verbindung von Mittelmeer und Rotem Meer, über die Wiederherstellung einer Verbindung, d.h. über einen Kanal durch die Landenge von Suez, dachten bereits Mamluken und Venezianer nach, in einer gemeinsamen Interessenlage und teilweise ganz buchstäblich ‹in Kooperation›, da die zwei Handelsmächte infolge des portugiesischen Indienhandels ökonomisch in Bedrängnis zu geraten drohten (und tatsächlich auch gerieten).455 Biblisches Arabien: Die Königin des Orients Auch im biblischen und christlichen Imaginationsraum war Arabien ein Land der Herkunft bestimmter Produkte, dargeboten in Form von Geschenken. In der neutestamentarischen Variante setzte Leonardo das Überreichen des Weihrauchs an das Jesuskind durch einen der Heiligen Drei Könige selbst ins Bild.456 Ein Echo der alttestamentarischen Variante – der Besuch der Königin von Saba bei König Salomon als einer Prä452 Als Wüsten hat Leonardo die libysche Wüste im Blick (siehe in der betreffenden Sektion). Vgl. auch [Mandeville], a.a.O., bezüglich der einstmals christlichen arabischen Wüste. 453 TuA, S. 223ff. und 245f.; siehe auch P II, S. 152 (mit Text). 454 TuA, S. 246 (ein ehemaliger See). 455 Jörg-Dieter Brandes, Die Mameluken. Aufstieg und Fall einer Sklavendynastie, Sigmaringen 1996, S. 255. 456 Z I, S. 178 (mit Bezug auch auf das Geschenk des Weihrauchs). – Weihrauch erwähnt Leonardo im Übrigen im Zusammenhang eines Rezeptes für das ‹griechische Feuer› (TuA, S. 637). – Das Dromedar auf einer Entwurfszeichnung in den Uffizien stellte – wenn man Leonardos tierkundlich-allegorische Notizen zum Maßstab nimmt – ein ‹arabisches› Kamel dar, nämlich ein einhöckeriges – im Unterschied zum ‹baktrischen›, zweihöckerigen. Siehe diesbezüglich TuA, S. 846 (die Fn stiftet allerdings
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figuration des Besuchs der Magi – klingt in Antonio Puccis Reina d’Oriente an, einem Produkt der eher volkstümlich-populären Literatur.457 Antikes Arabien – Kriegskunst der Araber Ein oft reproduziertes Bild eines drachenförmigen Belagerungsgeräts der Araber stammt aus Valturios De re militari.458 Leonardo übernimmt dieses halb phantastische, halb realistische Bild aber nicht. Er nennt die Araber im Rahmen dieser Exzerpte im Zusammenhang mit dem ‹skythischen Pfeil›, der Flussquerung und des Brückenbaus.459 Nicht sehr viel später als diese Exzerpte dürfte der burleske Brief an Benedetto Dei entstanden sein: Hier stehen die Araber im Bunde mit Ägyptern, Medern, Persern – und einem schwarzhäutigen Giganten aus der libyschen Wüste – gegen Artaxerxes, den Perserkönig (der – als eine biblische Figur – mit Xerxes I. gleichzusetzen ist).460 Arabische Schrift und Sprache – islamisch-arabische Hochkultur Es gibt je ein signifikantes Beispiel für das Vorkommen der arabischen Schrift und der arabischen Sprache bei Leonardo. Zwar stammen die arabischen Buchstaben in Ms. I wahrscheinlich nicht von seiner Hand,461 aber als eine Form der Schrift ist eben auch die arabische Schrift in dem großen ‹Sammelwerk› seiner Notizbücher und Aufzeichnungen zu finden. Arabische Buchstaben, die, obschon nicht gänzlich entziffert, teilweise für das Türkische stehen, sodass sich das Aufstreben und die Etablierung der türkischen bzw. osmanischen Kultur im Rahmen der islamisch-arabischen Hochkultur andeutet.462 Die arabische Sprache hat andererseits einen Nachklang im Schreiben Leonardos, indem er, sich am Vorbild Pacioli orientierend, arabische Termini der Mathematik übernimmt und zwar Termini, in denen das arabische Vorbild noch anklingt.463 Hier wirkt auf Leonardo die Ausstrahlung der arabischen Hochkultur ein, ohne dass mehr von einem direkten Bezug auf das eigentliche Arabien die Rede sein kann. Aber auch darin Verwirrung) und betreffs der Zeichnung etwa Z I, S. 51. – Im Kleiderfundus von Leonardo und Salai ist im Übrigen ein schwerer Mantel aus ‹Kamelhaar› erwähnt (P II, S. 332). 457 Vgl. Soulier, a.a.O. 458 Roberto Valturio, De re militari, Verona 1483 [Digitalisat: http://www.lluisvives.com/servlet/Sirve Obras/jlv/12817294326712617654435/notaprevia.htm/], 165v. Siehe auch DoSB. 459 TuA, S. 643 (Pfeil), 649 (Flussquerung; mit Zeichnung der Kamelreiter; Ms. B 61v), 650 (Brücken aus hölzernem Flechtwerk, das auf Bälgen oder Schläuchen ruht). 460 R II, S. 339, Nr. 1354. – Artaxerxes: siehe Altes Testament, Buch Esther sowie – dies wahrscheinlich Leonardos Quelle – [Aristoteles/Pseudo-Aristoteles], a.a.O., S. 195. – In Leonardos Imagination stehen offenkundig Perser gegen Perser. 461 Man hat den Eindruck, dass eine fremde Hand hier etwas in das Notizbuch eingetragen hat, aber dieser Eindruck könnte auch täuschen. 462 Verweise in der Sektion ‹Das Osmanische Reich›. 463 Siehe oben.
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liegt etwas Signifikatives. Die Verbreitung der arabischen Sprache im Prozess der Entfaltung und Verbreitung einer Hochkultur scheint in diesen Fachbegriffen auf.464 Rainer Maria Rilkes kleiner Irrtum war bezeichnend: Man hatte nie unterstellt gehabt, dass Leonardos Orientreise ihn ins Gebiet des eigentlichen Arabiens geführt habe. Doch Rilke nahm an, man habe eben dies getan. Eine Unschärfe stellte sich ein; und es war dies für Rilke der Auslöser, Leonardo sinnbildlich in einer Berührung mit der spanisch-arabischen Hochkultur zu denken und gar von einer Art Versenkung in diese Hochkultur zu sprechen (seine Beispiele hatten sich auf Schrift, Mauer und Brückenbau bezogen).465 Mit islamisch-arabischer Hochkultur ist Leonardo tatsächlich in Berührung gekommen, aber diese Berührung vollzieht sich weit weniger spektakulär und vielmehr beiläufig – nämlich indem er an dem breiten Rezeptionsprozess Teil hat, in dem sich eine Anverwandlung des arabischen Wissens, das sich seinerseits griechisches Wissen anverwandelt hat, vollzieht. Und im Bereich der Mathematik kann dieser Transfer – am Beispiel des Einsickerns einer Terminologie – gewissermaßen in seinem Vollzug beobachtet werden. Wenn Leonardo ‹Helmuain› für Rhombus schreibt (arab. ‹al-muayyin), ist der direkte Zusammenhang noch sichtbar. Wenn er ‹Zucker› schreibt (arab. ‹sukkar›), verwendet er ein seit langem eingebürgertes Wort, dessen arabische Herkunft ihm vermutlich nicht gegenwärtig war. Schließlich: Wenn er ‹diodario› schreibt, so ist ein kreativer Prozess der Anverwandlung zu beobachten: Eine Position der mamlukischen Ämterhierarchie (‹devatdar›) wurde gleichsam von Leonardo besetzt und zwar mit einem fingierten Ansprechpartner einer astrologiekritischen, aufklärerischen Schrift. Ob sich in diesem Falle Leonardo der arabischen Herkunft des Wortes bewusst war – er verwendete ja eine bereits vorliegende Italianisierung – steht dahin. Zeitgenössisches Arabien: Araberpferd und Gummi arabicum Aus Sicht des zeitgenössischen Islam stellte die Sicherheit der Mekkapilger ein dringliches, mit der arabischen Halbinsel verbundenes Problem dar. Die zeitgenössische Chronistik berichtet von Übergriffen auf Mekkapilger.466 Mit oder gegen die einheimischen Stammeskulturen war diese Sicherheit zu gewährleisten; denn als Herrschaftsmächte auf der arabischen Halbinsel, zumindest in ihren Randzonen, fungierten zu Lebzeiten Leonardos fremde Herren: die Mamluken und ab 1517 die Osmanen. Nur wenige Abend464 Bezüglich arabischer Technik vgl. auch die Bemerkungen im Kapitel über ‹arabische Autoritäten› weiter oben. – Der kriegerische Aspekt dieser Entfaltung kommt in Leonardos Notizen bezüglich des ‹griechischen Feuers› zum Ausdruck (TuA, S. 637: «[…] als die orientalischen Völker gegen Konstantinopel zogen mit einer ungeheuren Zahl von Schiffen, die alle durch diesen Stoff in Brand gesteckt wurden.») 465 Siehe Haupttext, Kap. 1, für das ausführliche Zitat. 466 Siehe z.B. Der fromme Sultan Bayezid. Die Geschichte seiner Herrschaft (1481–1512), [Chroniken des Oruç und des Anonymus Hanivaldanus] hrsg. von R. F. Kreutel, Graz/Wien/Köln 1978 [Osmanische Geschichtsschreiber, Bd. 9], S. 78.
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länder allerdings (darunter Ludovico Varthema im Gewand eines Mamluken) begaben sich auf die Route nach Mekka. Wen nicht Abenteuerlust trieb oder wen es gleich nach Indien zog, hatte wenig Grund, nach Arabien zu gehen, denn der Handel vollzog sich anderswo: in den Zentren des Levantehandels wie Alexandria, Beirut oder Damaskus. Aus Sicht des Westens war das zeitgenössische Arabien ein Herkunftsland diverser Rohstoffe und Waren. Namentlich mit der Halbinsel assoziiert war das schon erwähnte Gummi arabicum,467 aber auch das Araberpferd. Weder das eine noch das andere musste jedoch notwendigerweise auch von der Halbinsel stammen. Gummi arabicum, auch ‹Gummi saracenicum› genannt, als ein Stoff aus der Rinde einer Akazienart, konnte auch im Senegal gefunden werden (der heutige Jemen stellte allerdings ebenfalls ein Herkunftsgebiet dar). Das Araberpferd, auch mit dem Aufstieg des Islam in seiner ersten Epoche verbunden, war das Pferd der Araber, nicht unbedingt das Pferd von der arabischen Halbinsel bzw. der Vollblutaraber, auch wenn Luigi Pulci im Morgante mit dem Blick des Kenners ein Pferd beschrieb, das – wie er sagte – in Arabien geboren worden war.468 h) Persien Persisches ist im Umfeld Leonardos von einer unaufdringlichen Präsenz, aber es ist da, im geistigen wie auch im materiellen Sinne. Als eines der edelsten Künstlermaterialien wurde Pigment aus Lapislazuli, gewonnen in den fernen Minen auf dem Boden des heutigen Afghanistan, zur Farbe Ultramarin verarbeitet. Und der geistige Hintergrund des Zoroastrismus hatte auf den Astrologen Albumasar eingewirkt,469 so dass Leonardo in seiner Bibliothek zum Greifen nahe ein Werk vorfand, in dem solche, von Italien aus betrachtet exotischen geistigen Einflüsse verarbeitet und teilweise noch wirksam waren. Natürlich kann auch Avicenna als ein Perser betrachtet werden, aber eine persische bzw. arabische Kompilation der griechischen Medizin war doch weit weniger exotisch als der altpersische Religionsstifter, dessen Nach- und Eigenleben im europäischen Mittelalter und in der Renaissance auch im unmittelbarsten Umfeld Leonardos zu beobachten ist, so als wäre dieser von einem Fluidum exotischer Einflüsse umgeben, die ihn allerdings seltsam wenig zu berühren scheinen. Im persischen Raum, in den bisweilen auch italienische Reisende gelangten,470 vollzog sich zu Leonardos Lebzeit der faszinierende Aufstieg des Ordensoberen Schah Ismael zum Begründer einer Dynastie. Der Ruf der Safawiden, die Macht und Hauptstadt Tabriz von den Weißen Hammeln übernahmen, hallte gar in den Florentiner Karnevalsge467 Ludwig Nr. 404; Leonardo da Vinci, ed. Chastel, a.a.O., S. 209. Erwähnt auch in Ms. I 27v (‹goma arabica›). 468 Morgante, XV, 105–108. – Leonardo erwähnt einmal einen ‹Sizilianer› (TuA, S. 793). 469 Siehe DoSB. 470 Siehe Giovanni Battista Ramusio (Hg.), Navigazioni e viaggi, hrsg. von Marica Milanesi, Bd. 3, Torino 1980, S. 421ff.
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sängen wider.471 Man sah in dem ‹Sophi› einen Sozialreformer. Aber vor allem konnten die Abendländer auf diesen Mann die Hoffnung projizieren, dass den Osmanischen Türken, an deren Hof auch viele Perser wirkten,472 im Osten ein mächtiger Feind erwachse. Und tatsächlich drängten die Safawiden gen Westen ins Zweistromland hinein, bis sich die Machverhältnisse in einem Dreikampf zwischen Osmanen, Mamluken und Safawiden klärten.473 Die Safawiya kann als Urzelle der späteren persischen Nationalstaatsbildung betrachtet werden.474 Über den Horizont dieses Konflikts hinaus, in den Leonardo nicht einmal als eine Romanfigur verwickelt worden ist,475 dürfte allerdings schwerlich ein Abendländer geblickt haben, denn im zentralasiatischen Raum löste mit den Usbeken eine weitere neue Kraft die alten Herrscher, hier die Timuriden, ab. Den Raum, in dem sich dies vollzog, hatte Leonardo auf Karten durchaus recht genau vor Augen. Doch von dem politischen Ereignisgeschehen können wenn überhaupt bloß äußerst gedämpfte Töne nach Europa gedrungen sein. Persisches führte wie gesagt eher ein Eigenleben in Europa, im Geistigen wie im Materiellen, auch wenn der eigentliche Raum des ‹Wunderbaren› noch immer etwas ferner, nämlich in Indien lag. Beide Räume wurden im Übrigen in leicht unterschiedlicher Akzentuierung von der Alexander-Tradition evoziert. Geographica Leonardo hat im Rahmen seiner geographischen Notizen weniger Persien als ein eigentliches ‹Dreistromland› im Blick, nämlich das Gebiet des Oxus, Indus und Ganges (wie aus einem Blatt des Codex Atlanticus hervorgeht).476 Indem er gleichsam Listen der Nebenflüsse dieser großen Ströme gibt, dokumentiert er seine Beschäftigung mit dem Ulmer Ptolemäus. Sein Blick folgt erst den Gebirgszügen zwischen Baktrien477 und Indien, d.h. Kaukasus478 und Hindukusch, und dann den Flüssen. Möglicherweise
471 Giovanni Ponte, Attorno a Leonardo da Vinci: l’attesa popolare del Sofì di Persia in Venezia e Firenze all’inizio del Cinquecento, in: ders., Studi sul Rinascimento. Petrarca, Leonardo, Ariosto, Napoli 1994, S. 195–220. 472 Hanna Sohrweide, Dichter und Gelehrte aus dem Osten im osmanischen Reich (1453–1600), in: Der Islam 46 (1970), S. 263–302. 473 Fuess, a.a.O. 474 Roemer, a.a.O. 475 Die Handlung von KdE spielt gut zwei Jahrzehnte vor dem Aufstieg Schah Ismaels. 476 TuA, S. 259. 477 Hier verortet die Tradition und auch Leonardo den Lebensraum des (zweihöckerigen) baktrischen Kamels (TuA, S. 846). 478 Dieser Name, von Leonardo auch in Ms. F sowie im ‹Diodario-Material› erwähnt (vgl. Tabelle 1 im Haupttext sowie Anhang B), wurde im Rahmen der Alexander-Tradition auch auf die Gebirge Nordindiens übertragen (siehe [Pauly-Wissowa], a.a.O. (Art. ‹Kaukasos›) und vgl. auch die Noten im Rahmen von Anhang B).
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erwähnt er mit ‹Ghaziba› einmal die Stadt Ghasni (Ghazni) in Südost-Afghanistan.479 In Hyrkanien (wörtlich: Wolfsland), südlich des Kaspischen Meeres, lebte ihm gemäss – in zoologisch durchaus nicht inkorrekter Sicht – der Tiger.480 Gleichsam am Rande des persischen Raumes setzt auch seine Überlegung bezüglich des Persischen Golfes an, den er wie erwähnt in erdgeschichtlicher Perspektive als ehemaligen See des Tigris interpretiert.481 Persien als Raum der Alten Geschichte und der historischen Imagination Leonardo war womöglich schon als Lehrling in der Verrocchio-Werkstatt mit der Alexander-Welt, der Überlieferung von den sagenhaften Zügen Alexanders des Großen, in Berührung gekommen. Eine Reliefdarstellung aus der Werkstatt lässt dies vermuten.482 Alexander, den makedonischen König und seinen Lehrer Aristoteles, als kongeniale Kombination einer Besitznahme von Welt und von Wissen, erwähnte Leonardo im Codex Madrid II.483 In seiner frühen Auseinandersetzung mit der militärhistorischen Überlieferung des Valturio aber liegt wohl die Hauptquelle für die so genannte Sichelwagen-Serie, die Streitwagen zeigt, die zwecks Niedermetzelung der Feinde mit monströsen Sicheln ausgestattet sind.484 Es ist eine populäre Vorstellung, dass Leonardo da Vinci diese Sichelwagen ‹erfunden› hat; und ganz falsch ist diese Vorstellung auch nicht. Nur: Die Idee ist mit der Alexander-Tradition, namentlich mit Dareios III., dem letzten Perserkönig aus dem Geschlecht der Achämeniden und Gegner des Alexander verbunden. In der Schlacht bei Gaugamela, seiner großen Niederlage, seien derlei Wagen zum Einsatz gekommen (heißt es). Wenn Leonardo also diese Idee aufgriff und mit den Mitteln seiner Zeit – Mitteln, die ihm eben zur Verfügung standen – neu durchdachte (und letztlich verwarf, weil die Konstruktion für die Soldaten des eigenen Heeres zu gefährlich war), so ‹erfand› er nicht aus dem Nichts, sondern dachte eine militärische Tradition bloß weiter (bzw. hörte alsbald auf, sie zu denken). In seiner Imagination und auf dem Papier ‹konstruierte› und ‹realisierte› er diese Wagen (ohne sie indessen tatsächlich realisieren zu wollen). Es war militärisch widersinnig; und es mag später auch ein Abscheu vor dem Krieg als solchem 479 Siehe P II, S. 208. 480 TuA, S. 846. 481 Siehe unter ‹Arabien›. 482 M, S. 61. 483 CM II, 24r. Siehe auch P II, S. 251 (Pedrettis Präsentationen von Texten der CM weichen teilweise nicht unwesentlich von den in der Faksimile-Edition gegebenen Transkriptionen ab). 484 Siehe die exemplarische kommentierte Präsentation durch Martin Kemp in: Levenson (Hg.), a.a.O., S. 284f. (Datierung ca. 1487–88); sowie TuA, S. 636, 648f., 658. – Im Übrigen denkt Leonardo auch an ein ‹Sichelschiff› (ebd., S. 665). – Alexander findet auch zusammen mit dem indischen König Porus Erwähnung (ebd., S. 649). Siehe auch die Sektion ‹Indien› im Folgenden.
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hinzugetreten sein, der mit einer früheren engagierten Auseinandersetzung mit allen Möglichkeiten des Tötens und der Zerstörung kontrastierte. Perser und Meder, weit weniger spektakulär, fanden in seinen Exzerpten aus Valturio auch darüber hinaus verschiedentlich Erwähnung wie auch im Brief an Benedetto Dei.485 Als Gegner der Griechen im Rahmen der Alexander-Tradition fanden die Perser ohnehin leicht in die Welt der Abenteuerromane des Mittelalters und der Renaissance hinein.486 Der Name Kyros, als eines Vorgängers des Dareios, wurde schon – im Zusammenhang mit Babylon – erwähnt. Persisches im Innenraum der Renaissance (I): Zoroastro Eine Aura des Anrüchigen könnte Leonardo da Vinci ganz buchstäblich deshalb umgeben haben, weil zwei seiner Gefährten Übernamen trugen, die anrüchig klangen. Salaì, sein Diener, Schüler und Gefährte – und vielleicht auch Sohnesersatz – trug einen Namen, der teuflisch klang (wenn man an ‹salaino›, ‹kleiner Teufel› dachte), in den Ohren des literarisch informierten Publikums aber auch ein Echo des Morgante war oder eine Anspielung darauf darstellte.487 Denn ‹Salay› oder ‹Salayè› war – auch in den Briefen des Morgante-Autors, Luigi Pulci – eine Art Geist oder Dämon, mit dem Zwiesprache gehalten zu haben der Autor – gegenüber dem Magnifico – zugegeben haben soll. Ein noch auffälligerer Bezug war aber mit dem Übernamen eines Gehilfen gegeben, der eigentlich Tommaso Masini di Peretola hieß, aber im Allgemeinen – wenn auch allem Anschein nach nicht von Leonardo, wie betont werden muss – ‹Zoroastro›/‹Zarathustra› genannt wurde. Vielleicht liegt hier ein Grund, dass Leonardo für Giorgio Vasari bei aller Bewunderung auch etwas Suspektes hatte (und ihm eher als ein freidenkerischer Philosoph denn als guter Christ vorkam). Denn ‹Zoroastro› – im Denken der Renaissance – war unter anderem der Erfinder der Magie höchstpersönlich.488 Es ist von daher wohl auch signifikativ, dass Leonardo seinen Gehilfen, der ihm zum Beispiel bei der Anghiarischlacht nachweislich zur Hand ging und die Farben anbereitete,489 nicht bei 485 TuA, S. 640 (Meder); R II, S. 339, Nr. 1354. 486 In dieser Hinsicht ist der Ciriffo Calvaneo, ein Werk von Luca oder Luigi Pulci und im Besitz von Leonardo, zu erwähnen (Reti Nr. 35). Vgl. P II, S. 369. 487 Bezüglich Salaì siehe Sironi / Shell, a.a.O., sowie N, passim. Bezüglich ‹Salay› siehe Morgante, XXI, 47, und Kommentar, S. 871, und Jordan, a.a.O., S. 39. 488 Grundlegend ist ein monumentales Werk: Michael Stausberg, Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 2 Bd., Berlin etc. 1998. – Eine etwas weniger anrüchige Referenz war ‹Zoroastro› als eine Quelle des Plinius. Vgl. Plinius maior, a.a.O., passim, in den jeweiligen Listen der von Plinius genannten Gewährsleute. Plinius bereits hatte das Motiv des bei seiner Geburt lachenden Zarathustra. 489 Auch ein Gehilfe Michelangelos wurde mit einem sozusagen ‹orientalischen› Namen gerufen, nämlich mit ‹Indigo›, der in diesem Fall zugleich auch eine Funktionsbezeichnung bzw. einen Kompetenzbereich des Assistenten andeutete (siehe Antonio Forcellino, Michelangelo. Eine Biographie, München 2006, S. 122).
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diesem Namen nannte, sondern – in seinen Notizen zumindest – auf einen ‹Meister Tommaso› Bezug nahm.490 Persisches begegnet somit im unmittelbarsten Umfeld von Leonardo da Vinci, und unabhängig von Leonardos ambivalentem Nachruhm – dieser ‹Meister› hatte ein Nachleben in der Novellistik der Renaissance und zwar als eine Faust-ähnliche Gestalt.491 Wer immer auf die Idee kam, Tommaso ‹Zoroastro› zu nennen, er dürfte sich auf die Kirchenväter, etwa auf Augustin, auf Isidor,492 oder auf Roger Bacon berufen haben, denn als Erfinder der Magie war Zarathustra in der mittelalterlichen Tradition schon eingeführt und etabliert.493 Diogenes Laertios gab im Prolog seiner Leben der Philosophen Nachricht von dem persischen Magier Zarathustra.494 Sein Name, dies konnte auch Leonardo diesem Buch entnehmen, das er selbst besaß,495 bedeutete Aristoteles zufolge ‹Sternenverehrer›.496 Marsilio Ficino hatte zwar einen neuen Zarathustra-Diskurs begründet, doch der Übername von Leonardos Gehilfen – im Volksmund und in der volksnahen Novellistik – ging sicherlich eher auf die populärere Überlieferung zurück, die mit Namen und Person – ‹Meister Tommaso› war unter anderem als Wahrsager bekannt – das Anrüchige verband und ‹Zoroastro› als den Namen eines Magiers verstand. Doch wie gesagt: Leonardo – wie es scheint – schrieb diesen Namen nie. Seine Tiraden gegen die ‹Schwarzkünstler› lassen vermuten, dass er sich dagegen eher sträubte. Auch die Astrologie des Albumasar, wenn wir auch nicht genau wissen, welcher Text Leonardo verfügbar war, muss ihm eher anstößig gewesen sein, so dass wir bloß feststellen können, dass ihm eben ein Fundus auch persischer Sternbildvorstellungen prinzipiell erreichbar gewesen sein konnte, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass ihm dieser Fundus mehr war, als eben ein Sammelsurium obskurer Pseudo-Wissenschaft.497 Wie im Falle von Hermes Trismegistos rezipierte man also im unmittelbarsten Umfeld von Leonardo da Vinci eine bestimmte Überlieferung, aber erst die Nachwelt brachte beide zusammen – nämlich Leonardo da Vinci und den altpersischen Religionsstifter Zarathustra (als eine historische Figur).
490 Licia Brescia / Luca Tomìo, Tommaso di Giovanni Masini da Peretola detto Zoroastro. Documenti, fonti e ipotesi per la biografia del priscus magus allievo di Leonardo da Vinci, in: RV 28 (1999), S. 63–77. 491 Lücke nennt ihn im Übrigen einen ‹Famulus› (TuA, Index bzw. S. 893 und 896). Nardini lässt seiner Phantasie eher bedenklich freien Lauf, wenn er behauptet, Zoroastros Name habe sich dem Gerücht verdankt, dass er im Orient gewesen sei (siehe Bruno Nardini, Leonardo da Vinci. Leben und Werk, Stuttgart 1978, S. 51). 492 Siehe Reti Nr. 11 (Augustins Gottesstaat), resp. Nr. 13 (wahrscheinlich Isidors Weltchronik). 493 Stausberg, a.a.O., S. 449ff. 494 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, hrsg. von Fritz Jürss, Stuttgart 1998, S. 39. 495 Reti Nr. 61. 496 Diogenes Laertios, a.a.O., S. 41. 497 Siehe bezüglich der Dekanvorstellungen Franz Boll, Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, Leipzig 1903.
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Rilke – wiederum – stellte beide in eine Reihe großer Gestalten;498 und Nietzsche hatte gar – für einen Moment im Jahre 1885 zumindest, und zwar in Anbetracht des so genannten Turiner Selbstporträts in einer photographischen Reproduktion – seinen Zarathustra, seine höchsteigene Erfindung einer philosophisch-literarischen Spielfigur, mit Leonardo da Vinci identifiziert. ‹Das sei ja Zarathustra› habe Nietzsche – der Überlieferung nach – ausgerufen, als er dieses Bildnis sah. ‹So ungefähr›, wie er gleich einschränkte, habe er sich seinen Zarathustra vorgestellt gehabt, nach dem äußerlichen visuellen Stereotyp des alten langbärtigen Weisen nämlich, wie man wohl ergänzen darf.499 Persisches im Innenraum der Renaissance (II): Ultramarin aus Lapislazuli Leonardo gibt häufiger Gelegenheit, ihm unmittelbar über die Schulter zu blicken, als allgemein bekannt ist: Aus einer polemischen Attacke gegen die Alchimisten, worunter Leonardo die ‹Goldmacher› verstand, geht nämlich hervor, dass sein Blick einmal einer goldenen Ader gefolgt ist, die ein Stück Lapislazuli, den Grundstoff der Farbe ‹Ultramarin›,500 durchsetzte.501 Auch wenn vermutet worden ist, dass es sich lediglich um eine Ader aus Eisenpyrit handelte, der Leonardo mit den Augen folgte, so steht der Gebrauch des Rohstoffs Lapislazuli außer Zweifel. Die Florentiner Künstler, auch Leonardo, bezogen ihn – wenn auch vielleicht nicht ausschließlich – über die Bruderschaft der Gesuati (S. Giusto alle Mura).502 In einem Fall, die Anbetung der Könige betreffend, ist diese Bezugsquelle sogar vertraglich festgeschrieben worden.503 Im Falle der Felsgrottenmadonna wurde die Verwendung von Ultramarin für das Gewand der Madonna (und für eine Darstellung Gottvaters) vertraglich festgeschrieben, wenngleich eine Diskrepanz der Farbigkeit heute gegeben ist.504 Zur eigentlichen Quelle des Rohstoffs bzw. zu den afghanischen Minen vorzustoßen, war wenigen vergönnt. Der weit gereiste und informierte Franziskaner Francesco
498 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 4 (Schriften zu Literatur und Kunst), hrsg. von Horst Nalewski, Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 98 (der Titel des betreffenden Textes lautet «Intérieurs»). 499 Diese Überlieferung geht auf Nietzsches Sekretär und Freund Heinrich Köselitz (Peter Gast) zurück, dessen Zeugnis der Nietzsche-Forscher Montinari erstmals erwähnte (Mazzino Montinari, Ein neuer Abschnitt in Nietzsches «Ecce Homo», in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 395, Fn 27) – ohne indes die vermutlich im Weimaraner Nachlass ‹Heinrich Köselitz› befindliche Quelle genauer zu belegen. Vgl. Haupttext, Kap. 1. 500 Vgl. R I, S. 361, Nr. 626 (Ultramarin in einer Grünmischung, bestimmt zum Freskieren). ‹Azur›, der billigere Ersatz, ist erwähnt in Ms. B 3v. Siehe auch M/V, S. 343, Nr. 11 (eine Unze ‹Azurro›). 501 John Gage, Kulturgeschichte der Farbe. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 2001 [engl. Originalausgabe 1993], S. 141. 502 Ebd., S. 131. 503 M/V, S. 343, Nr. 9 («colori tolti per lui delli Iniesuati»). 504 Ebd., S. 344, Nr. 14 (‹azurlo tramarino›, ‹azurro ultramarino›); Z I, S. 69 und 71.
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Suriano wusste von dem edlen Produkt und erwähnte es im Zusammenhang mit der persischen Stadt Shiraz.505 Von edlen Geschenken, auch persischen Pferden und anderen Tieren, ist des Weiteren im Zusammenhang mit den Geschenken des portugiesischen Königs an Papst Leo X. die Rede. Möglicherweise hat auch Leonardo einen Blick darauf erhaschen können.506 i) Indien In einem gewissen Sinne kam den in einen Außenraum ausgreifenden Europäern in ihren Entdeckungsfahrten ein Sinn für das Wunderbare in die Quere. Denn es handelte sich auch um ein Ausgreifen in einen sagenhaften, wunderbaren Raum, wenn die portugiesischen Seefahrer, von einem ökonomischen Interesse motiviert, die indischen Küstenregionen erschlossen,507 Randzonen jener sagenhaften Alexander-Welt,508 die wie ein mächtiger Strom des Exotismus die exotistische Imaginationswelt der Europäer durchdrungen hat.509 Wer um 1500 nun nach Indien reiste, hatte diese Wunderwelt im Hinterkopf und glich das, was er sah, mit der Erwartung ab, die vorgab, was der Tradition zufolge zu sehen war. In Schüben von Bestätigung und Korrektur formte und verformte sich das abendländische Indien-Bild in dem Maße, wie Berichte aus der ‹Neuen Welt› und von den portugiesischen Fahrten, an denen auch Florentiner beteiligt waren, nun eintrafen.510 Ein Rest des Wunderbaren blieb immer noch erhalten, d.h. konnte erhalten werden, denn in einem gewissen Sinne hatte sich die Schwelle bloß verlagert. Erschlossen wurden die Küstenregionen Indiens, das an sich ein Schwellenraum gewesen war, die Grenzzone im Osten, die in der Vorstellung erweitert werden konnte, aber deshalb nicht präziser zu erfassen war. Klärte sich in Ansätzen – bzw. was die Küstenzonen anging – die Sicht auf Indien, so war das Wunderbare, Unfassliche, Merkwürdige doch nicht wirklich in seiner Existenz bedroht. Terra incognita war sozusagen immer, war immer noch vorhanden – den teilweise nüchternen, teilweise farbenfroh-phantastischen Berichten zum Trotz.511 505 Suriano, a.a.O., S. 229 («lapis oltramarino de qual ne se fa lo azuro fino»). 506 Bedini, a.a.O., S. 43. 507 Ein guter Überblick über die Geschichte der portugiesischen Fahrten ist in Schmitt (Hg.), a.a.O., Bd. 2, S. 126ff., gegeben. 508 Siehe nochmals M, S. 61, bezüglich des Alexander-Reliefs aus der Verrocchio-Werkstatt. 509 Vgl. exemplarisch Pochat, a.a.O., und BmC. In der kriegerischen Begegnung mit König Porus manifestiert sich sozusagen die Begegnung der abendländischen Welt mit Indien bzw. die Ausdehnung der Alexander-Welt nach Indien (vgl. TuA, S. 649; im Zusammenhang mit Alexanders Überschreitung des Hydaspes). 510 Eine Nachwirkung der geographischen Konfusion stellt im Übrigen ein Übersetzungsfehler in L-A dar (S. 306): Pedretti hatte, in Bezug auf W 12401, sicherlich von ‹indischen› und nicht von ‹indianischen› Konnotationen geschrieben. 511 Vgl. Gita Dharampal-Frick, Indien im Spiegel deutscher Quellen der frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation, Tübingen 1994.
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In diesem, von einem ökonomischen Interesse her motivierten Hineindrängen in die indische Welt fällt eine Stimme auf. Die Stimme jenes mit Leonardo da Vinci bekannten Andrea Corsali, dem es in Anbetracht der indischen Exotik nicht die Sprache verschlug, der vielmehr, oder gleichsam ausrief: Sie, die Inder, sind ‹wie unser Leonardo› (einleitend wurde es erwähnt). Ein Maß für das Exotische, für Leonardo schmeichelhaft oder bedrohlich, war er selbst, als Exotikum im Innenraum des Eigenen, jedenfalls was seine Ernährungsgewohnheiten und eine gewisse Grunddemut vor dem Lebendigen anging. 512 Es gelangte – im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderet – eine eigenartige Mischung aus Indien zurück nach Europa, eine Mischung aus realkundlichen Informationen, Realien und Impressionen: die Produkte natürlich, die allesamt bekannt und mit der Grund gewesen waren, überhaupt nach Indien zu gehen, aber auch die Kunde von der indischen Geographie, den Gezeiten im Indischen Meer und den Techniken der Perlentaucher. Ob von (den älteren) Indien-Berichten stimuliert oder von den Berichten aus der ‹Neuen Welt› – die Topik des Kannibalismus war infolge der neuen Kontakte nicht einfach aus der Welt zu schaffen, im Gegenteil. Es konstituierte sich die Vorstellung eines ‹wilden›, ‹unzivilisierten› ‹Indien› gleichsam neu – auf neuer Grundlage. In anderen Worten: Gegen dieses eine Vorurteil – in seiner Spezifik – war kein Kraut gewachsen. In einer sehr zweifelhaften Aneignung des Neuen bestätigte sich die zweifelhafte Vorstellung, die man von diesem Neuen haben musste. Leonardo blieb davon nicht unberührt. Aus seiner Feder stammen, wie oben berichtet, nicht bloß Echos der Kannibalen-Topik, sondern auch eine Verbindung ‹sakramentaler›, Bild verschlingender Praktiken mit diesem ‹Indien›. Das zeitgenössische Indien hingegen, ließe sich sagen, blieb gleichsam im Kern doch unberührt vom Vordringen der Europäer. Zu Lebzeiten Leonardos entsteht hier – in der Rückschau kommt es zu Bewusstsein – die Religion der Sikh. Die alte Geographie, gleichsam in neuer Buntheit übermalt, fasste das Zeitgenössische doch nur in Ansätzen, und wenn, dann in den Schemata, in denen Europa zu denken schon gewohnt war. Geographica Indien ist für Leonardo das hintere Asien in seiner ganzen Massigkeit, ein Koloss in einer nur sehr teilweisen Spezifik. In Nahsicht erscheint ihm, wie gleich zu sehen ist, ein Eiland, während sich ihm durch Ptolemäus – im Großen und Ganzen – die Verläufe der großen Ströme mit ihren zahlreichen Nebenflüssen vermitteln.513 Auch diese geo512 Der Sinologe Osvalt Sirén fühlte sich im Hinblick auf die Sala delle Asse im Übrigen an indische Malerei und Ornamentik erinnert, und evozierte in diesem Zusammenhang auch den Leonardo nachgesagten besonderen Respekt vor Tieren als eine ‹östliche› Sympathie mit allen Lebewesen (Osvald Sirén, Leonardo da Vinci. The Artist and the Man, New Haven/London 1916 [schwed. Originalausgabe 1911], S. 80 und S. 234). – Die Flechtbandornamentik, von der weiter oben, in der Sektion ‹AlAndalus›, die Rede war, wurde von anderen Forschern auch in asiatische Zusammenhänge gestellt (vgl. Coomaraswamy, a.a.O.). 513 Hier ist nochmals das ‹Dreistromland› zu erwähnen, Leonardos Notiz betreffs Oxus, Indus und Ganges samt ihren Nebenflüssen (TuA, S. 259). Auf eine eventuelle weitere Erwähnung des Ganges verweist Pedretti (P II, S. 152).
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graphische Genauigkeit, ein weiteres Fundament des Indien-Bildes, konnte durch die Brille der Alexander-Tradition gesehen werden. Eine Leerstelle war Indien nicht, eher ein Raum, bevölkert von den Wundern Indiens – genügend Raum, noch zahlreiche unberührte, leere Flecken aufzuweisen. In den Küstenregionen Indiens machten die europäischen Indienfahrer Bekanntschaft mit jener Flora und Fauna, deren antike, vom Mittelalter her tradierte Beschreibungen Leonardo greifbar waren. Wenn ein Varthema – beispielsweise – sich der Kobra vielleicht ganz real auch gegenüber sah,514 so hatte Leonardo seinem ‹Bestiarium› die mit Ägypten assoziierte Brillenschlange inkorporiert (und eine Unterscheidung war gefordert).515 Der Pfau – in seiner ursprünglichen Verbindung mit Indien – wurde schon erwähnt. 516 Ob Leonardo im Übrigen noch registrierte, dass er – Andrea Corsali zufolge – den Bewohnern in Gujarat in seinem Lebenswandel glich, entzieht sich unserer Kenntnis. Dank Diogenes Laertios, Augustin oder dank Mandeville waren ihm immerhin die Gymnosophisten, die indischen Asketen, vermutlich ein Begriff.517 Ganz unvorbereitet war er nicht – falls ihn die Nachricht doch erreichte. Und wir wissen nicht, ob aus diesen Lektüren – einer Gegenüberstellung von ‹wir› und ‹sie› zum Trotz –518 nicht vielleicht auch ein Impuls zur Gestaltung seiner Lebenshaltung ausgegangen war. Die Insel Elephanta519 Wenn ‹Indien› stellvertretend für ‹Asien› stand, so stand ‹Elephanta›, ein eigentliches Eiland vor der Westküste des Subkontinents, in den Augen Leonardos für eine konkrete Vorstellung von ‹Indien›. Es ist die Rede von einer Karte Elephantas, die sich – einer Notiz zufolge – in Händen eines Antonello Merciaio befand.520 Denkbar ist, dass Leonardo sich vor dem Hintergrund der Diskussion über die Entstehung der Gezeiten (die ihn interessierte),521 auch für die Frage interessiert hat, wie es mit den Gezeiten im Indischen Ozean sich verhielt. Denn Varthema – beispielsweise – hatte 1510 behauptet, es verhielte sich gerade anders als im Westen – die Flut käme bei abnehmendem Mond.522 514 Ludovico de Varthema, Reisen im Orient, hrsg. von Folker Reichert, Sigmaringen 1996, S. 184. 515 TuA, S. 847f. 516 Ebd., S. 789; R I, S. 383f., Nr. 674; W 12693. Vgl. auch Bedini, a.a.O., S. 285, Fn 27 (Hunde, Hühner, Pfauen). 517 Diogenes Laertios, a.a.O., S. 39; Augustin, Gottesstaat 14,17; [Mandeville], a.a.O., S. 281f. (BrahmanenInsel). 518 Diese oben schon erwähnte Oppositionsbildung ist in der Sektion ‹Der Ferne Osten› behandelt. 519 Eine Reihe von Informationen, allerdings ohne Bezug auf Leonardo, findet sich in Donald F. Lach, Asia in the Making of Europe, Vol. I (The Century of Discovery), 2 Bd., Chicago/London 1965, S. 405, Fn 51 [Literatur], S. 194 und passim. 520 R II, S. 369, Nr. 1471. P II, S. 369 (ca. 1508). Vgl. auch Solmi, S. 140–142. 521 TuA, S. 244, 262, 268 (Tunis), 504, 521, 581 (Verschiedenheit der Gezeiten), 602. 522 Varthema, a.a.O., S. 123.
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Auf Karten der Seefahrer, so genannten Portolankarten, waren Informationen über die Gezeiten zu finden, neben solchen über den Verlauf der Küstenlinien und die Verhältnisse der Strömungen und Winde.523 Und die Karte dürfte nach 1507 im Umfeld Leonardos aufgetaucht sein, nachdem die Portugiesen an der Malabarküste gen Norden vorgestoßen waren, und nachdem es, wie es heißt, vor Bombay, d.h. vor Elephanta, im Jahre 1507 auch zu Kriegshandlungen gekommen war.524 Die Karte hat allerdings bislang unter einem ganz anderen Gesichtspunkt die Forschung interessiert. Denn Elephanta, von den Portugiesen getauft nach einem auf dem Eiland befindlichen steinernen Elefanten, ist heute aufgrund der dort befindlichen hinduistischen Höhlentempel als ein Ort der Weltkunst bekannt. Doch ob sich Leonardo da Vinci aufgrund einer Karte, vermutlich einer Portolankarte, ein Eindruck dieser Tempel vermittelte, deren erste Erwähnung in der Literatur viel später datiert, ist doch mehr als fraglich. Nichtsdestotrotz ist eben dies vermutet worden, ohne das (hier fehlende) Medium eines allfälligen Kulturtransfers genauer in Betracht zu ziehen.525 War eine Karte geeignet, einen Eindruck dieser unterirdischen Tempel zu vermitteln?526 Hatte – wer immer der Urheber dieser Karte gewesen war – überhaupt nur von den Tempeln schon gewusst? Fest steht: Leonardos Bezug auf Elephanta ist – im europäischen Schrifttum – schlicht der früheste Bezug auf diese Insel überhaupt; die Elephanta-Literatur jedoch – was erstaunlich ist – scheint den Beleg gar nie zur Kenntnis genommen zu haben.527 Die Inbesitzname des Eilands durch die Portugiesen erfolgte 1534, erste Beschreibungen der Höhlentempel folgten, auch Plünderungen kamen vor.528 Die Überlieferung scheint allerdings nicht sehr verlässlich, so dass sich ein gewisses Unbehagen einstellt. Eine Verwechslung allerdings ist ausgeschlossen: ‹Elephantine› ist eine Nilinsel, die Herodot erwähnt, und Leonardo – ganz explizit – spricht von einem ‹Elephanta in Indien›. Die kartografische und später beschreibende Erschließung von Elephanta war eine unmittelbare Folge der portugiesischen Fahrten zur Erschließung und Sicherung des Handels gewesen. Aufgrund der florentinischen Beteiligung an diesen Fahrten war es 523 [Vespucci], a.a.O., S. 59f. 524 Schmitt (Hg.), a.a.O., Bd. 2, S. 212. – Die Portugiesen erlitten hier, bevor sie bei Diu einen großen Sieg errangen, eine Niederlage. 525 Siehe zum Beispiel TuA, S. 263. In der Leonardo-Literatur sind ‹indische Assoziationen› eher selten, kommen aber vor (vgl. etwa De Lorenzo, a.a.O., S. 9ff.). Ein Vergleichsmotiv ist die mehrköpfige figürliche Darstellung (siehe etwa Hirananda Sastri, A Guide to Elephanta, Delhi 1934, Tafel II, vor allem aber Avigdor W. G. Posèq, The Case of the Two-Headed Figure and the Elusive Lamb, in: ALV 7 (1994), S. 81–95). – Der Elefant ist im Übrigen dasjenige exotische Tier, von dem Leonardo am ausführlichsten spricht (vgl. TuA, S. 843–845), allerdings in der noch mittelalterlichen Tradition der Tierallegorese mit zoologischen Einsprengseln oft zweifelhaften Gehalts. 526 Bezüglich einer moderneren Karte siehe Sastri, a.a.O. 527 J. Burgess, The Rock-Temples of Elephanta or Ghârâpurî, Bombay 1871; Sastri, a.a.O. Unter anderem hielt ein Beobachter 1579 fest, dass man die Tempel für Arbeiten der Chinesen hielt (Burgess, a.a.O., Motto-Zitat sowie S. 53f.). Auch von steinernen Pferden ist im Übrigen die Rede (ebd., S. 54). 528 Sastri, a.a.O., S. 11f.; Lach, a.a.O., S. 194.
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wohl kein Zufall, dass Michelangelos Bruder Giovansimone sich eine Zukunft im Indienhandel erträumt hat, aber nicht in dieser Richtung tätig wurde.529 Der Handel beflügelte die Lebensträume so manchen Abendländers und den konkretesten Ausdruck, nicht unbedingt den inspirierendsten, fand dieser Handel in den Produkten, die er dem Abendland vermittelte. Produkte aus dem Indienhandel So beiläufig wie das Brasilholz in einem Vergleich Leonardos erscheint, so unaufdringlich auch das Erscheinen eines Schalenwesens aus dem Indischen Ozean, nämlich der Porzellanschnecke (Kaurischnecke).530 Als Exotikum war diese Art von Schnecke – in Indien ursprünglich auch ein Zahlungsmittel – in Europa allerdings seit langem schon bekannt. Die europäische Imagination ist – bis heute – viel eher auf ein anderes Meeresprodukt fixiert gewesen, nämlich auf die orientalische Perle als ein Symbol des Luxus und der Schönheit.531 Leonardo ‹umspielt› gleichsam das Symbol ‹Perle› – ohne ihm indessen eine orientalische Konnotation zu geben – in zwei Bilderrätseln, in denen jeweils ein Ring mit Perle für ‹Perle› steht.532 Und auch eine Notiz in Ms. B – hier geht es um die orientalische Perle – zeugt weniger von einem Interesse an der Perle selbst als an den Techniken ihrer Gewinnung. Die Techniken der Perlentaucher (Ms. B 188r)533 Im Bereich des Indischen Ozeans gab es zwei Orte, die für ihre Perlenvorkommen bekannt, auch schon im Mittelalter bekannt gewesen waren:534 Bei Ceylon und im Persischen Golf lagen diese Vorkommen an Perlmuscheln. Leonardo – in einer Notiz samt Zeichnung in Ms. B – richtete sein Interesse aber weniger auf Perlen als auf die technischen Hilfsmittel der Perlentaucher. Und seine Beschreibung samt Zeichnung wirft zahlreiche Fragen auf, nicht bloß die, auf welchen Ort er sich genau bezog (obschon die ‹amerikanische Frage› – aufgrund der Datierung des Manuskripts – hier keine Rolle spielt).
529 Forcellino, a.a.O., S. 143. 530 CM II 73v. – Bezüglich dieses Meeres siehe auch TuA, S. 245f., 259, 262 (Strömung) sowie P II, S. 152 (mit Text). 531 Vgl. R. A. Donkin, Beyond Price. Pearls and Pearl-Fishing: Origins to the Age of Discoveries, Philadelphia 1998. 532 W 12692 und 12699. 533 TuA, S. 622. Pedretti datiert auf 1487–90; demnach geht der im Folgenden besprochene Eintrag der Westfahrt des Kolumbus zeitlich voraus. – Text und Zeichnung waren schon um 1800 bekannt gewesen (siehe Ravaisson-Molliens Angaben bezüglich der älteren Literatur in der älteren Edition von Ms. B). 534 Siehe Heyd, a.a.O., Bd. 2, S. 648–651.
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9 Leonardo da Vinci visualisiert sich die Techniken der Perlentaucher Indiens (Foto: Autor nach Faksimile von Ms. B)
Zunächst der Text im Wortlaut: «Man benutzt dieses Gerät im Indischen Ozean,535 um Perlen herauszuholen, und man macht es aus Leder, mit vielen Ringen, damit das Meer es nicht zusammenpresst. Oben wartet der Begleiter mit dem Boot, und dieser [der Taucher] fischt Perlen und Korallen. Er hat eine Brille aus Eisglas und einen mit großen Stacheln versehenen Panzer.»536
Was Leonardo hier beschrieb und zeichnete, konnte er nicht selbst gesehen haben, außer er wäre selbst vor Ort gewesen, wo man eben tauchte. Wir können bzw. müssen anneh535 Später sollte Leonardo ein geographisches Differenzierungsvermögen an den Tag legen, das es ihm hier erlaubt hätte – falls gewollt – vom persischen Meerbusen zu sprechen. Siehe Sektion ‹Persien›, weiter oben. 536 Titiert nach TuA, S. 622.
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men, dass er sich auf Material aus zweiter Hand bezog, entweder auf eine Beschreibung oder auf einen Bericht (oder auf beides).537 Delikat ist die Frage, worauf er sich bezog, nicht zuletzt deshalb, weil wir hier Leonardo da Vinci weniger als den Erfinder denn als den Einflussempfänger vor uns haben. Wenn Leonardo etwas Gehörtes visualisierte, wäre in einem gewissen Sinne von einem kreativen Prozess zu sprechen, von einer Interpretation. Wenn er bloß eine Information, einen Sachverhalt gleichsam kopierte, wäre von einem Rezeptionsprozess im engeren Sinne zu sprechen. Was aber Leonardo rezipierte, liegt im Dunkeln. War es ein mündlicher Bericht eines Reisenden wie etwa eines Bonajuto d’Albano, der zwanzig Jahre lang in Asien gewesen war, eine Inderin geheiratet hatte, aber keinen schriftlichen Bericht hinterlassen hat?538 Prinzipiell denkbar ist auch, dass der mündliche Bericht eines Reisenden sich nicht bloß auf selbst Gesehenes bezog. Es konnte ein Quellenwissen darin eingegangen sein, etwa aus Philostratus, der einen Bericht über die Perlenfischerei gegeben hat.539 Es liegt das eigentliche ereignishafte Geschehen, das wir uns hinter diesem faszinierenden Bezug auf orientalische Tauchtechniken denken müssen, weiterhin im Dunkeln. Aber der Bezug ist – wie der Bezug auf die persischen Sichelwagen – in einem ganz allgemeinen Sinne wiederum zu problematisieren, nämlich in Bezug darauf wie Leonardo als ein kreatives Ingenium, als ein Erfinder arbeitet. Denn aus dem Nichts – deshalb ist die Notiz so ambivalent – hatte er die Technologie, die unter der Rubrik ‹Erfindungen› bisweilen eingeordnet wird,540 ja nicht geschaffen, wie er indirekt – und höchstpersönlich – hier zu verstehen gab. Realistischerweise ist zu sagen, dass hier ein Prozess des Technologietransfers fragmentarisch dokumentiert ist, der zeigt, in wie viele Stufen und Elemente ein Prozess der Adaptation von Technologie zerlegbar ist. An Leonardos Erfindungen, sofern es solche sind, hatten viele ihren Anteil, insofern sie einem rezeptiven Geist gleichsam schon vorgearbeitet hatten (ohne aber notwendigerweise auf diesen bezogen zu sein). Leonardos Zeichnung und Beischrift markieren somit ein vorläufiges Ende eines gewissermaßen arbeitsteiligen Prozesses, an dem viele – und eben auch die Perlenfischer Indiens – mit beteiligt waren. Das wunderbare Indien 1491 wirkte Leonardo da Vinci an einer ganz besonderen Repräsentation des ‹wilden Indien› mit. Denn es handelte sich um Festivitäten anlässlich eines Turniers, die noch ein537 Das Element ‹Stachelpanzer› kommt – so weit ich sehe – in anderen Überlieferungen (Taccola) nicht vor. Auch die Assoziierung der teilweise bekannten Techniken mit ‹Indien› scheint nur hier vorzuliegen (vgl. Valturio, a.a.O., 210r). – Entschieden für eine Anregung durch chinesische Tauchtechniken plädiert Donkin (Donkin, a.a.O., S. 159). 538 Siehe Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 171 bzw. DBI (‹Bonaiuto di Albano›). Dieser Venezianer kann allerdings – aus Gründen der Chronologie – nicht der Informant Leonardos gewesen sein. 539 Siehe [Pauly-Wissowa], a.a.O. [Art. ‹Margaritai›], Sp 1691. 540 So in TuA.
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mal dokumentierten, was man unter ‹Indien› verstand oder verstehen wollte, kurz bevor ‹Westindien› entdeckt und das Indien im Osten vom portugiesischen Handel erschlossen und darüber neu berichtet wurde. Es handelte sich gewissermaßen um eine der letzten ‹alteuropäischen› Repräsentationen von Indien, an der Schwelle einer neuen Zeit. Und nicht die Art und Weise, wie man hier auf Indien Bezug nahm war bedeutsam, sondern der Tatbestand, dass eine antike und mittelalterliche Tradition, die kurz vor einer Phase ihrer Überformung (bzw. auch Bestätigung) durch die neuen Berichte über Indien stand, hier nochmals aufgerufen war: ‹Indien› als ein Projektionsraums des ‹Wilden›, ‹Unzivilisierten›, ‹Exotischen›, ‹Wunderbaren› und ‹Schreckenerregenden›. Leonardo wirkte an dieser Inszenierung mit, nicht zuletzt, indem er die Kostüme der ‹Wilden›/‹omini salvatichi› wohl auch verantwortete.541 Galeazzo Sanseverino, ein Hauptmann und Schwiegersohn des Moro, trat hier als ein vorgeblicher Sohn des Königs von Indien auf. Hier am Schluss sei deshalb nochmals der Kontrast hervorgehoben, der sich dem Indien-Bild Leonardos im Laufe seines Lebens eingeschrieben haben mag – ein Kontrast zwischen den gleichsam technischen Details des Tauchens und den althergebrachten vagen und von der eigenen Imagination ausstaffierten Stereotypen. Das ‹Indien› Leonardos war beides: technische Inspiration wie auch ein Projektionsraum des Absonderlichen, Abartigen und – wie wir oben gesehen haben – auch des Abscheuerregendsten in Form des Kannibalismus. j) Der Ferne Osten Dass Leonardo da Vinci jemals authentische chinesische Schriftzeichen542 zu Gesicht bekommen hat, ist unwahrscheinlich – ganz ausgeschlossen ist es indes nicht. Denn gemäß einer Überlieferung, auf die Silvio Bedini Bezug genommen hat,543 wurde Papst Leo X. vom portugiesischen König – nebst einer Vielzahl von anderen, spektakulären 541 Vecce, a.a.O., S. 271ff.; N, S. 331f. – Wenn Leonardo im Übrigen 1490 die Tierkreiszeichen für ein Bühnenbild gestaltet hatte, ist hier nochmals an Albumasars Dekane bzw. die durch Albumasar vermittelten indischen Dekanvorstellungen zu erinnern. 542 Pseudo-chinesische Schriftzeichen bzw. ein ‹cathayisches Alphabet› waren in einigen ManuskriptÜberlieferungen von Mandevilles Reisen enthalten (vgl. Elmar Seebold, Mandevilles Alphabete und die mittelalterlichen Alphabetsammlungen, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), S. 435 und 442f.). Leonardo verfügte höchstwahrscheinlich über eine italienische Druckausgabe der Reisen (siehe Solmi, S. 205). Die entsprechende Edition enthält keinen Hinweis auf ein solches Alphabet; die ‹Fremdalphabete›, wiewohl erwähnt, sind überhaupt weggelassen, d.h. an den entsprechenden Stellen der diversen Vorlagen der Edition war auf eine Reproduktion verzichet worden. (siehe: [Mandeville], I viaggi, a.a.O., passim). – Mit fremden Alphabeten hatte sich, wie er selbst schrieb, auch Luca Pacioli befasst, und auch mit der Möglichkeit, aus den geometrischen Grundelementen solche Alphabete zu rekonstruieren bzw. die Buchstaben auf solche Grundelemente zurückzuführen (Pacioli, Divina Proportione, a.a.O., S. 322f.). Bezüglich der europäischen ‹Entdeckung› chinesischer Schriftzeichen siehe Lach, a.a.O., S. 511ff. (siehe auch Abbildung auf S. 509). 543 Silvio A. Bedini, The Papal Pachyderms, in: Proceedings of the American Philosophical Society 125 (1981), S. 76; Bedini, Elefant, a.a.O., S. 41 (hier ist zusätzlich auch von einem ‹mexikanischen› Manuskript die Rede; diesbezüglich siehe weiter unten).
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Geschenken, darunter der indische Elefant ‹Hanno›, im Jahre 1514 auch ein chinesisches Manuskript dargebracht. Wenn Leonardo in Nachbarschaft des Elefanten gelebt hat, ist es vielleicht auch denkbar, dass er einen Blick auf dieses Manuskript geworfen hat. Doch ob hier nicht ein prinzipieller Irrtum vorliegt, d.h. ob es dieses Manuskript wirklich gegeben hat oder ein bloß topisch zu verstehender Bericht ganz buchstäblich gelesen worden ist, steht gar nicht fest.544 Unerreichbar fern für Leonardo war der Hof der Ming. Dies nicht bloß aufgrund der großen Entfernung oder eines osmanischen ‹Sperr-Riegels›, der die Asienreisenden behinderte: Der Ming-Hof selbst, die Ming-Dynastie steht im Ruf der Selbstabschottung in Form einer inneren und äußeren ‹Vermauerung›.545 Die Möglichkeit der Nahsicht auf die fernste Ferne ergab sich – in Europa – nur als Möglichkeit der sporadischen Nahsicht auf das seltene exotische Objekt. Und Voraussetzung des Vorhandenseins solcher Objekte im Innenraum des Eigenen war die Vermittlung durch ‹Agenten› des Kulturtransfers. Die Wahrscheinlichkeit, dass Leonardo da Vinci also Exotik ostasiatischer Provenienz vor Augen hatte, war denkbar klein. Andererseits hat man immer wieder auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen der chinesischen Malerei und der Malerei der Renaissance, insbesondere Leonardos Landschaftsdarstellung, aufmerksam gemacht und die Frage in den Raum gestellt, ob nicht ein Einfluss vorliegt. Es zeichnet sich hier die klassische, einleitend beschriebene Fragestellung ab, ob zwischen zwei räumlich voneinander entfernt aufweisbaren Phänomenen, die einander ähnlich scheinen oder sind, ein direkter, vielleicht bedingender oder gar ursächlich-determinierender Zusammenhang besteht.546 Im Hinblick auf den Maler Leonardo ist diese Frage – in gewissen Abständen, und in immer wieder neuen Anläufen – schon vielfach aufgeworfen worden. Aber sie stellt sich auch in einem anderen Bereich, der im Hinblick auf Leonardo nicht viel weniger Gewicht hat, nämlich im Bereich der Technikgeschichte, so dass im Folgenden – nach einigen Erläuterungen zum Ostasienbild der Renaissance – diese beiden Themenfelder kurz im Überblick behandelt seien. 544 Bedini, der vielfach bloß summarische Belege gibt, schweigt sich über seine Quelle aus. In der Standardliteratur ist nirgends von solchen Manuskripten die Rede (siehe etwa Salvatore de Ciutiis, Une ambassade portugaise à Rome au XVIe siècle, Napoli 1899, mit vielen Quellenauszügen). Die im Grunde ahistorische Behauptung, es habe ein ‹mexikanisches› Manuskript gegeben, deutet auf eine spätere Überlieferung hin, die auf die 1514 noch nicht erfolgte (im Übrigen: spanische) Eroberung Mexikos Bezug nimmt und eher symbolisch gemeint sein könnte, in dem Sinne, dass der portugiesische König dem Papst Geschenke aus Ost und West, aus Amerika und Indien, dargeboten hat. 545 Sehr konzis informiert Rainer Hoffmann, Geschichte, in: Brunhild Steiger (Hg.), Länderbericht China. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Darmstadt 2000, S. 1–66; vgl. aber auch Denis Twitchett / John K. Fairbank (Hg.), The Cambridge History of China, Bd. 7/8 (The Ming Dynasty, 1368–1644), Cambridge 1988–1998. Bemerkenswert ist der Rückzug der geistigen Elite in innere Zirkel, d.h. Akademien. Als Kuriosum erwähnt sei auch der Unmut, den exotische Tiere am Hof der Ming erregten, die andere Herrscher als Geschenke dorthin verbrachten. Man betrachtete die Tiere offenbar als bloß kostspielig im Unterhalt und zu nichts nütze (Rogers, a.a.O., S. 72). 546 Die Problematik ließe sich am Thema des Buchdrucks paradigmatisch veranschaulichen.
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Ostasien konnte aus europäischer Sicht als ‹verlängertes›, hinteres Indien aufgefasst sein. Eine Differenzierung zwischen dem Reich des Großkhans von Cathay, von dem Marco Polo berichtet hatte, und Indien war zwar prinzipiell möglich,547 doch in Leonardos Denken zeichnet sich noch keine Unterscheidung ab, jedenfalls nicht für uns ersichtlich. Die Namen ‹Mangi› – für Südchina – oder ‹Cathay› – für das Reich des Großkhans – hat er, soweit wir feststellen können, nie geschrieben. In der Literatur, die ihm verfügbar war, hatten sich indessen die Berichte Marco Polos eingeschrieben, wenn auch indirekt. In Petrarca zum Beispiel fungierte nun ‹Cathay› – statt ‹Skythien› – als der äußerste Osten;548 Filarete sprach – Marco Polo folgend – von den vielen tausend Brücken in der Hauptstadt des Großkhans,549 und Luigi Pulci verwandelte sich auch die Figur des Großkhans (‹Can di Gattaio› – bei ihm ein jugendlicher Heißsporn) literarisch an. 550 Die östlichste Weltgegend, von der Leonardo selbst spricht, scheint durch den Fluss Ganges markiert zu sein.551 Leonardo – wenn er vom äußersten Osten spricht – orientiert sich noch an ‹Indien›, dem ‹Indien› des Plinius, des Ptolemäus und – des Mandeville.552 ‹Parallelerscheinungen›: Die Malerei in Ost und West Seit dem europäischen Publikum – in Schüben – die ostasiatische Kunst bekannt geworden ist, hat sich prinzipiell die Möglichkeit aufgetan, das Eigene, etwa in Gestalt der Kunst der Renaissance, mit dem anderen, der scheinbar fremden, ganz anderen Malerei des Ostens, zu vergleichen.553 Am Beispiel Leonardos kann geradezu paradigmatisch verfolgt werden, wie ein Vergleich entsteht554 und wie ein Vergleichsverhältnis zum 547 BmC, S. 96ff. 548 Ebd., S. 199. 549 Ebd., S. 236. 550 Ebd., S. 210 («Can di Gattaia»). 551 Auf CA (TuA, S. 259) dürfte sich Richters Bemerkung von den ostasiatischen Flüssen bezogen haben (Richter, LdViO, S. 135); bezüglich der östlichsten im Guerino Meschino vorkommenden Weltgegend siehe BmC, S. 210. 552 Siehe unten. 553 In einer jüngeren Untersuchung sind auch Leonardos perspektivische Studien sporadisch in eine ostwestliche Vergleichsperspektive gerückt worden. Vgl. Veltman, a.a.O., S. 373f. (und [Tafelteil] Nr. 58.13). Siehe auch Samuel Y. Edgerton, Jr., Florentine Interest in Ptolemaic Cartography as Background for Renaissance Painting, Architecture, and the Discovery of America, in: Journal of the Society of Architectural Historians 33 (1974), S. 290. Der Autor stellt hier noch, anders als in seiner bekannten Monographie, die Frage, warum im Orient keine Methode der linearen Perspektive entwickelt worden sei, bzw. wieso es keinen chinesischen oder muslimischen Toscanelli gegeben habe. Linearperspektive – samt ihrer praktischen Indienstnahme in Kunst und Geographie – steht hier als ein Symbol des Westens. 554 Gewissermaßen sinnbildlich für den Vergleich steht mit Hokusais Welle eine bzw. die ‹Ikone› der japanischen Kunst (die genau genommen eine hintergründige, nämlich vom Meer her und zwar unter der betreffenden großen Welle gesehene Ansicht des Berges Fuji gibt). In einer populären LeonardoMonographie leitet eine Reproduktion der Welle, die den Auftakt von Hokusais 36 Ansichten des
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Verständlichmachen des Anderen in den Begriffen des Eigenen verwendet wird: Ein Pionier der Erschließung der ostasiatischen Kunstwelt zum Beispiel, Ernest F. Fenollosa, behalf sich nicht selten mit dem Vergleich zwischen Größen der Renaissance und den unbekannteren Größen der ostasiatischen Kunstgeschichte: Ein japanischer ‹Lorenzo› oder ‹Cosimo de’ Medici› war zu entdecken oder ein Multigenie der chinesischen Kulturgeschichte (‹Ririomin› bzw. Li Gonglin), ‹wie Leonardo› vornehmlich als ein Maler in Erinnerung.555 In diesen Bahnen dachte ein Bernard Berenson, eingeführt in die ostasiatische Kunst durch Fenollosa,556 und auch ein Kenneth Clark weiter nach, der in einer Passage seiner klassisch gewordenen Leonardo-Biographie diesen in ein Verhältnis zur asiatischen Kunstgeschichte brachte, die man in Europa zu entdecken erst im Begriffe war: «Am vorzüglichsten [unter Leonardos Landschaftszeichnungen von etwa 1503] sind die Zeichnungen in kurzen, zarten Federstrichen und einer blassen Tusche. In ihnen zeigt sich eine japanische Phantasie und Genauigkeit in der Verteilung der Hauptakzente, ganz als ob Leonardos Auffassung, durch die Ausstattung seiner idealen Landschaften mit einem Hauch des tatsächlichen Lebens, den gleichen Prozess durchlaufen hätte, der die chinesische Malerei in die Holzschnitte Hokusais und Hiroshiges verwandelte.»557
Berges Fuji bildet, die Serie der Sinflutzeichnungen gleichsam ein (siehe D. M. Field, Leonardo da Vinci, Fränkisch-Crumbach 2005, S. 393). Vgl. auch Roy McMullen, Mona Lisa. The Picture and the Myth, London 1976, S. 179, für ein Beispiel der Reproduktion chinesischer Malerei im Rahmen einer Leonardo-Monographie. 555 Siehe Ernest F. Fenollosa, Epochs of Chinese and Japanese Art, Bd. 2, New York 1969 [urspr. 1913], S. 79 (Cosimo; Lorenzo) und S. 23f. (‹Ririomin›). Siehe insbesondere S. 24 («He ist perhaps the most ‹all-round› man in Chinese history»; hier auch die Bezüge auf Leonardo und auf Michelangelo; Bezüge auf Botticelli auf S. 85 und 89). Bezüglich ‹Ririomin›/Li Gonglin siehe DoA (Art. ‹Li Gonglin›). Der Vergleich mit Leonardo erscheint mir nicht sehr überzeugend. 556 Ernest Samuels, Bernard Berenson. The Making of a Connoisseur, Cambridge, Mass./London 1981 [urspr. 1979], S. 202, 260. Vgl. auch Leonardo Olschki, Asiatic Exoticism in Italian Art of the Early Renaissance, in: Art Bulletin 26 (1944), S. 95 und passim, in kritischer Perspektivierung des Herstellens ost-westlicher Bezüge (Bezug auf Berensons Assoziierung Sienesischer und chinesischer Malerei auf S. 97). – Berenson wich – in seinem Leonardo-Aufsatz – vor der Mona Lisa gleichsam in die Gefilde asiatischer Kunst aus (siehe Bernhard Berenson, The Study an Criticism of Italian Art, Third Series, London 1916, S. 1–37). Die asiatische Kunst erschien ihm – etwas verstiegen – als eine Art Alternative zur Mona Lisa (ebd., S. 36): «Why indeed should this cultivated society of the future return to the «Mona Lisa»? There is nothing in her expression that is not far more satisfactorily rendered in Buddhist art. There is nothing in the landscape that is not even more evocative and more magical in Ma Yuan, in Li-Long-Men, in Hsia Kwei and a score of other Chinese and Japanese painters.» Vgl. auch ebd., S. 12f., 28, 33. 557 Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Reinbek 1983 [engl. Originalausgabe 1939], S. 111 (vgl. auch S. 7, 160, 114). – Vgl. auch Kommentar zu W 12400 («oriental freedom of composition») und daran anschliessend – und auf die gleiche Zeichnung bezogen – Pedrettis Formulierung von den «Orientallike landscapes of the Adda River» (Carlo Pedretti, Leonardo. Drawings as Poetry, in: ALV 10 (1997), S. 250).
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Eine Entwicklung von der chinesischen zur japanischen Malerei hatte man allmählich nachvollzogen, und ‹in› Leonardo fand Clark eben diesen Prozess analog und gleichnishaft nun vor. Als eine Personifizierung dieses doppelten Blicks der europäischen Kunstgeschichte erscheint Osvalt Sirén (1879–1966), der einerseits ein Leonardo-Spezialist und andererseits ein Sinologe bzw. sinologisch arbeitender Kunsthistoriker gewesen ist.558 Die Frage nach einer unmittelbaren Bedingtheit Leonardos durch chinesische Malerei wurde – in einem wissenschaftlichen Kontext – wahrscheinlich zum ersten Mal im Jahre 1910 gestellt.559 Seitdem sind – in immer neuen Debattenschüben – immer wieder die immer gleichen Argumente ausgetauscht worden: Von der Beobachtung ausgehend, dass Leonardos schroffe Felsenlandschaften an chinesische oder japanische Landschaften erinnern, führen die einen ins Feld, dass Letztere sich Leonardo in Form von chinesischem Porzellan560 oder gar von in Europa verfügbaren fernöstlichen Landschaftsbildern561 als Vorbildern vermitteln haben könnten;562 andere verweisen darauf, dass die Ähnlichkeit oder vermeintliche Ähnlichkeit von paralleler Findung und Erfindung und einer Parallelität der Interessen – an der Darstellung von Luft und Licht und an der Luftperspektive insbesondere – herrühren könnte.563 Beides lässt sich, legt man strengste historisch-kritische Maßstäbe an, nicht überzeugend begründen, weil kein direkter Be558 Vgl. DoAH und Sirén, a.a.O. Mit expliziten Vergleichen tat er sich allerdings wenig hervor. Nur bei der Betrachtung des Hieronymus zog er «Sino-Japanese landscapes» zum Vergleich heran (S. 158) und sprach von einer ost-westlichen ‹Affinität› in der Inspiration durch die Natur («The poetic interpretation approaches that of the Chinese simply because it is based on nature in its ultimate inspiration.»). – Einen weiteren Beleg, die Vergleichsperspektive betreffend, hat Zöllner (Z I, S. 134; Zitat von André Malraux). 559 Oscar Münsterberg, Leonardo da Vinci und die chinesische Landschaftsmalerei, in: Orientalisches Archiv 1 (1910/11), S. 92–100. Münsterberg erkannte eine «chinesische Art des Unklaren» in Leonardo (ebd., S. 97). 560 Reichert, Erfahrung, a.a.O., S. 85, Fn 124 [Literatur]; Massing, a.a.O., 117f., S. 119, Fn 42 [Literatur]; Münsterberg, a.a.O., S. 99; Hidemichi Tanaka, Influenza dell’arte cinese nelle opere di Leonardo da Vinci. Il paesaggio della ‹Mona Lisa› e il paesaggio cinese, in: Bijutsushigaku / Art History 20 (1999), S. 214f. Chinesisches Porzellan ist auch im Zusammenhang der portugiesischen Geschenke an Leo X. erwähnt (Bedini, Elefant, a.a.O., S. 41). 561 Bezüglich ‹Chinoiserien› im Rom des 16. Jahrhunderts, originalen und anverwandelten, siehe Michael Hirst, Salviati’s chinoiserie in Palazzo Sacchetti, in: The Burlington Magazine 121 (1979), S. 791–792. Vgl. auch Tanaka, Influenza, a.a.O., S. 207 bezüglich ‹shanshuihua›/‹sansuiga› – der chinesischen bzw. japanischen Variante der Berg- und Wasserlandschaft. 562 Auf dieser Linie argumentierte Münsterberg – auch in seiner Chinesischen Kunstgeschichte (Oskar Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte, Bd. 1, S. 205) – und, viel später bzw. erst vor kürzerer Zeit, Tanaka. 563 So Ed. Chavannes, [Kurzbesprechung von] Oscar Münsterberg, Leonardo da Vinci und die chinesische Landschaftsmalerei, in: Orientalisches Archiv 1, S. 92–100, in: T’oung pao 12 (1911), S. 88; interessant ist auch die Meinung des Autors, Münsterbergs Schlüsse hätten mit irreführenden Effekten der Reproduktionstechnik zu tun gehabt; vor Originalen ergäben sich demgegenüber andere Befunde. Vgl. auch Pochat, a.a.O., S. 111 (‹Parallelerscheinungen›) und Sullivan, der den Topos von den «Chinese-looking mountain landscapes» wiederholt (Michael Sullivan, The Meeting of Eastern and Western Art. From the Sixteenth to the Present Day, London 1973, S. 91).
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zug Leonardos auf Asiatica belegt ist und weil andererseits auch das Nicht-Vorhandensein von mutmaßlichen Vorbildern nicht bewiesen werden kann. Allenfalls könnte von einem Mehr oder Weniger an Plausibilität die Rede sein.564 Kuriosum dieser einigermaßen schematischen Debatte: Obschon im Rahmen der Debatte über die ‹orientalische Frage›, soweit ersichtlich, nie die Behauptung aufgestellt worden ist, dass Leonardo anlässlich seines mutmaßlichen Orientaufenthalts auch mit chinesischer Ästhetik in Kontakt gekommen sei, ist – viele Jahrzehnte später und in einer vielleicht signifikanten Verschiebung – eben dies behauptet worden: Man habe die ‹chinesischen Anklänge› in Leonardos Landschaften aufgrund dieser ‹phantastischen Theorie› erklärt.565 Vor wenigen Jahren allerdings, in einem späten Nachklang der Debatte, hat der japanische Leonardo-Spezialist Hidemichi Tanaka zum einen die Hintergrundlandschaft der Mona Lisa auf östliche Vorbilder zurückgeführt und zum anderen die Affinität Leonardos zum Orient erneut plausibel zu machen versucht, indem er auf die ‹armenischen Briefe› unter anderem und auf eine bekannte Vorliebe Leonardos zu sprechen kam.566 564 François Jullien – in seiner Monographie zur chinesischen Malerei (François Jullien, Das große Bild hat keine Form oder Vom Nicht-Objekt durch Malerei. Essay über Desontologisierung, München 2005) – transponiert den Vergleich sozusagen auf eine höhere gedankliche Ebene, die nicht mehr an der planen Realgeschichte interessiert ist, sondern an wesensmäßigen Affinitäten, Ähnlichkeiten und Unterschieden. Leonardos Schriften bleiben in dieser Perspektive eine Referenz: Vgl. z. B. S. 173, Fn 3 («Der europäische Text, der mir dieser Darlegung [eines chinesischen Theoretikers] am nächsten zu kommen scheint, stammt aus dem Paragone von Leonardo: […].»). Ausgerechnet im Kapitel über die Landschaft allerdings (S. 150ff.) ist auf Leonardos Schriften bzw. Landschaften nicht explizit Bezug genommen. 565 Interessanterweise hat ein japanischer Berenson-Schüler, vielleicht in einem Bezug auf bloß Gesprochenes, vielleicht auch in einem Rückgriff auf Walter Pater (vgl. Einleitung), diese Aussage getan (siehe Yukio Yashiro, The ‹Oriental› character in Italian Tre- and Quattrocento Paintings, in: East and West 3 (1952), S. 82; bezüglich des Autors siehe DoAH). 566 Tanaka, Influenza, a.a.O. – In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass John Ruskin in Leonardos Hintergrundlandschaften einst ‹blaue Eisberge› gesehen hatte (siehe Lene ØestermarkJohansen, On the Motion of Great Waters: Walter Pater, Leonardo and Heraclitus, in: John E. Law / Lene Øestermark-Johansen (Hg.), Victorian and Edwardian Responses to the Italian Renaissance, Aldershot/Burlington 2005, S. 95f.). Roberto Longhi hatte ‹antarktische› Landschaften gesehen (vgl. Eduard Hüttinger, Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de siècle, in: Roger Bauer et al. (Hg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1977, S. 152). Angesichts dieser ‹Deutungsvielfalt der Himmelsrichtungen› ist man versucht, Leonardos Landschaften als Spiegel ihrer Interpreten aufzufassen. – Um dem Mona Lisa-Kult zu begegnen, suchte Leonardo-Biograph Serge Bramly im Übrigen chinesische Weisheit in Anspruch zu nehmen (B, S. 424). – Ein Interesse an Leonardo von Seiten asiatischer Wissenschaftler und eines asiatischen Publikums zeichnete sich im Übrigen ebenfalls schon früh ab. Als einige Wegmarken seien genannt: der Transfer der Mailänder Leonardo-Ausstellung von 1939 nach Japan, wo sie – wie es heißt – durch Bomben zerstört worden sei; die Übersetzung der Leonardo-Anthologie von McCurdy ins Japanische (BL Nr. 2265); die Arbeiten der japanischen Leonardo-Forschung, exemplifiziert in Tanaka. Die Tavola Doria befindet sich, wie es heisst, heute in japanischem Privatbesitz (Krämer, a.a.O., S. 163). – Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist Leonardo – unter anderem durch die Bemühungen der Unesco – als eine Art ‹Weltkulturerbe› etabliert. In den 1970er und 1980er Jahren erschienen im
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Technologietransfer Im Bereich der interkulturellen Technikgeschichte, fast allein bestritten von Joseph Needham und seinen Mitarbeitern, hat sich der Blick auf die Medien des Kulturtransfers erweitert: Vom immer wieder erwähnten Porzellan, der Handelsware, die tatsächlich über Zwischenhändler im Okzident verbreitet wurde, auf das Phänomen der Sklaverei. Als Vermittler des Kulturtransfers kommen tatsächlich natürlich Sklaven, auch Kriegsgefangene in Frage, und je genauer man diesen Bereich in den Blick nimmt, desto mehr zersetzt sich das Bild der Renaissance als einer nur glanzvollen Epoche. Es wird zunehmend ambivalent, aber auch realistischer. Ist die Vergleichsperspektive zwischen Ost und West einmal etabliert, eröffnet sich ein Feld, auf dem natürlich Assoziationen beliebig möglich sind.567 Gerade deshalb ist es wichtig, auch methodisch sorgfältig zu unterscheiden zwischen bloßen Assoziationen, Vermutungen über Zusammenhänge und erhärteten Zusammenhängen auf dem Felde des Kulturtransfers. 1965 erschien, von Joseph Needham verantwortet, der voluminöse Band über die Geschichte des «mechanical engineerings» in China, der eine Fülle von Vergleichen der chinesischen Ingenieursleistungen mit Leistungen Leonardos enthält.568 Und es ist eine Qualität der Studie, dass hier besagte Abstufungen zur Geltung kommen, dass also methodisch sauber unterschieden wird. Unesco-Kurier, der in 32 Sprachen verbreitet wurde, Beiträge über Leonardo aus der Feder von Carlo Pedretti. In RV 22 (1987) wurden Leonardo-Ausstellungen in Israel und Indien annonciert (S. 621). Die Perspektive des Multikulturalismus und Kulturrelativismus auf Leonardo bzw. auf die Renaissance dokumentiert sich in Levenson (Hg.), a.a.O. Drei Welten begegnen sich in einer ziemlich strikten Isolierung, die eine Vergleichsperspektive eher unterminiert als fördert (siehe auch Haupttext, Kap. 5). Erwähnenswert auch Bramlys Hinweis auf eine japanische Gewerkschaft, die mit der Mona Lisa warb (B, S. 499, Fn 73); und der gleiche Autor bringt auch – wahrscheinlich angelehnt an Berenson – die Kunst der Khmer und den Buddhismus mit Leonardo in Beziehung (vgl. etwa S. 548; ‹Koan›). – Aus den 1990er Jahren stammt ein Bericht über die Erfahrungen eines Aikido-Meisters vor dem Cenacolo (Piero Onori, Die Haltung der Liebe, in: Basler Magazin 84, Nr. 14 (10.4.1993), S. 1–5 [eine Suche nach einem «neuen Zugang» zu Leonardo da Vinci]). Und aus der jüngsten Gegenwart eine Meldung über chinesische Schönheitschirurgie, die sich an der Mona Lisa orientiert und an ähnliche Meldungen anlässlich der Präsentation der Mona Lisa 1974 in Tokio erinnert (siehe Bernhard Bartsch, Schöner werden nach westlichem Schnittmuster, in: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag (2. September 2007), S. 87 [chinesische Schönheitschirurgen nehmen Maß an der Mona Lisa] bzw. McMullen, a.a.O., S. 234ff. und S. 237). – Die Forschungen von Hüttinger zum Mona Lisa-Kult könnten – in Erweiterung der Perspektive ins Globale – hier einen Ansatzpunkt für eine Fortsetzung finden. 567 Das Motiv des Heißluftballons in KdE könnte von Ausführungen Needhams über den Luftballon in Ost und West inspiriert gewesen sein (siehe Joseph Needham [unter Mitarbeit von Wang Ling], Science and Civilisation in China, Vol. 4 (Physics and Physical Technology), Part II (Mechanical Engineering), Cambridge 1965, S. 595ff.). 568 Needham, a.a.O., (Index). Ergänzend seien erwähnt: Ladislao Reti, The Double-acting Principle in East and West, in: Technology and Culture 11 (1970), S. 178–200, und Martin Kemps Beiträge bezüglich des Kompasses in der eingangs erwähnten Allegorie, in Levenson (Hg.), a.a.O., S. 286f. (‹früheste Kompassdarstellung›). Siehe diesbezüglich auch Glick et al. (Hg.), a.a.O., S. 321 (Art. ‹Magnet and magnetism›) und S. 470ff. (Art. ‹Technological diffusion›), sowie Gabrieli (Hg.), a.a.O., S. 35.
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Drei Beispiele seien hier erwähnt, von denen je eines die bloße Assoziation, den vermuteten Zusammenhang und den (nach Meinung Needhams jedenfalls wahrscheinlich) vorliegenden Zusammenhang veranschaulichen: – Im Leonardo-Kosmos bzw. im Codex Atlanticus findet sich eine so genannte ‹chinesische Seilwinde›. Die Herkunft des Names, den diese Errungenschaft im Westen trägt, liegt jedoch im Dunkeln. Eine bloße Ähnlichkeit scheint vorzuliegen, und Needham postulierte auch gar keinen Zusammenhang. Aber: Eine Assoziation stellte sich so – immerhin – her.569 – Eine Vermittlung chinesischer Textilmaschinen nach Westen zur Zeit von Marco Polo schien Needham durchaus denkbar. Er merkt an, dass Leonardo nicht per se originell sein muss, und ein Entwurf für eine Spinnmaschine erschien ihm wie eine fast exakte Kopie entsprechender chinesischer Maschinen.570 – Leonardos Bratrost schließlich erschien Needham als tatsächlich abgeleitet («derived») von chinesischen Vorbildern. In diesem Fall hat er eine Vermittlung durch aus Mittelasien importierten Haussklaven erwogen.571 ‹Verkehrte Welt›: lange Fingernägel als Zeichen der Vornehmheit (K/P 57r)572 Ein Bericht über die langen Fingernägel eines reichen Mannes im fernen Asien geht auf den Asienreisenden Odorico da Pordenone zurück.573 Ein Echo findet sich in Leonardos Schriften, eine Echo, das man auch als Mandeville-Paraphrase bezeichnen kann,574 denn der Kompilator Mandeville hatte sich des Berichts des Odorico bezüglich ‹Mangi›, also Südchina, als einer seiner Quellen bedient.575 Marco Polo, dessen Bericht Mandeville auch kannte,576 hat diese – sozusagen volkskundliche – Information nicht.577 Leonardo schrieb wortwörtlich: «Bei den Europäern gelten lange Nägel für schimpflich, aber bei den Indern werden sie sehr hoch geschätzt. Sie färben sie mit scharfen Tinkturen, verzieren sie mit allerlei Mustern und 569 Needham, a.a.O., S. 98. 570 Siehe ebd., S. 103 (mit Note e). 571 Ebd., S. 124f. 572 Alternative Signaturen: W 19020r bzw. Fogli B, 3r. Eine Datierung ist schwierig. – Der Eintrag könnte alternativ auch in der Sektion über ‹Indien› erfolgen, weil Leonardo das Reich des Großkhans offenbar als erweitertes ‹Indien› auffasst. 573 BmC, S. 204. Bezüglich Odorico siehe ebd., S. 212–216. 574 [Mandeville], a.a.O., S. 278ff. (‹Ein Land mit merkwürdigen Sitten›). Es ist die hier Rückfahrt durch das Reich des Großkhans geschildert (siehe ebd., S. 279). 575 BmC, S. 203f. 576 BmC, S. 204. Siehe auch M. C. Seymour, Sir John Mandeville, Aldershot/Brookfield 1994 [Authors of the Middle Ages 1]. 577 In einem Marco-Polo-Film aus dem Jahre 1938 trägt der Majordomus des Großkhans offenbar die Fingernägel ungemein lang (Information aus http://us.imdb.com/). Das Motiv, Teil der allgemeinen mittelalterlichen China-Überlieferung, kehrte somit in die (moderne) Marco-Polo-Tradition erst nachträglich ein.
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sagen, dies gehöre sich so für vornehme Leute, und kurze Nägel seien etwas für Arbeiter und Handwerker in verschiedenen Berufen.»578
Leonardo erfasste einen Tatbestand in Form einer Gegenüberstellung von ‹wir›, den Europäern, und ‹ihnen›, den Indern, und vernachlässigte die Frage, ob es nicht auch in europäischen Kreisen, in aristokratischen Kreisen prinzipiell denkbar war, sich als ein Zeichen des Adels (und der Möglichkeit des Müßigganges) die Fingernägel lang wachsen zu lassen. Er paraphrasierte Mandeville in seinem Sinn, auch indem er den reinen Tatbestand noch ausschmückte. Ganz buchstäblich gesprochen, denn von einem Bemalen der Fingernägel ist weder bei Mandeville noch Odorico die Rede.579 Aus Leonardos Notiz spricht ein Interesse an dem Gegensatz, den er nicht als einen bloß rhetorischen sah. Er scheint den Wahrheitsgehalt des Sachverhalts nicht antasten zu wollen oder gar von ihm abzusehen (indem er eben eine bloß theoretische, ‹für sich› interessante Gegensatzbildung aufgriff oder eine bizarre Fehlinformation). Es schien ihm glaubwürdig, zumindest denkbar zu sein, was er sich notierte, denn es ist schwierig, sich einen anderen Grund vorzustellen, der ihn dazu veranlasst hätte. Es war sein Eingriff in die Tradition gewesen – wenn nicht die Mandeville-Parapharase eines anderen sein Vorbild war –, zu einer eigentlichen Gegenüberstellung fortzuschreiten. Dies wirft auch Licht auf die Mandeville-Lektüre Leonardos. Denn es handelte sich um einen Autor, den man heute als einen biographisch kaum fassbaren Kompilator ansieht, der vielleicht im Heiligen Land, aber wohl kaum in Asien gewesen ist. Mandeville schuf Literatur – in Form einer fingierten Reisebeschreibung, die zugleich eine Art Weltkunde war – aus Literatur – in Form von anderen Reisebeschreibungen wie jener des Odorico, aber auch aus anderen Quellen, die noch weit phantastischer waren. Das heißt mit Blick auf Leonardo auch, dass dieser sich Quellen anvertraute, die von Autoren redigiert worden waren, die selbst nicht über Primärerfahrung verfügt hatten, aber (ähnlich wie Peter Martyr) die Vorstellung eines teilweise phantastischen Orients, wie sie sich einem europäischen Publikum durch ein immens erfolgreiches Reisebuch vermittelten, auch mitbestimmten. Leonardo – in seiner Notiz – erscheint uns hier als ein Teil des Publikums, aber auch als ein Individuum, dem eine Fülle anderer, auch mündlicher Informationen zugänglich war. Und doch nahm er – im buchstäblichen Sinne – Notiz von dem, was ein Mandeville verbreitete. In seinem Weltwissen – es mag heute im Hinblick auf den ‹Schüler der Erfahrung› und den Vorboten der Moderne mehr oder weniger erstaunen – hatte auch dieser einen Platz.580 578 TuA, S. 921. 579 [Mandeville], a.a.O., S. 280: «Je länger die Nägel eines Mannes in dieser Gegend sind, desto edler ist er.» Es folgt eine Erwähnung des berüchtigten Zusammenschnürens der Füße der Mädchen. Eine Gegenüberstellung ist nicht intendiert, wenn auch vielleicht impliziert. Leonardo verhielt sich – so gesehen – im Sinne der Leserintention, d.h. im Sinne des vorausgesetzten Lesers. 580 Es ist ein weiterer Beleg für die geographische Konfusion der Zeit, dass auch dieses Motiv hernach in die Amerika-Literatur hineingefunden hat. Ob es ‹lange Fingernägel› als ein Zeichen von Adel auch in der ‹Neuen Welt› gegeben hat, steht dahin. Jedenfalls ist – in einer eher ‹trüben› Überlieferung – davon auch im Zusammenhang mit Amerika die Rede: Siehe Frank Merchant, Legend and Fact about
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Ein asiatisches Gras: Coix lachryma-jobi (W 12429)581 Eine Kulturpflanze, eingeführt irgendwann in den ersten beiden Dekaden des 16. Jahrhunderts, aus Ostasien vielleicht, erhielt in Europa den Namen ‹Hiobsträne›. Der erste Beleg dieses ‹asiatischen Grases› in Europa – ist eine Zeichnung Leonardos, die man zuletzt auf den Zeitraum seines Römer Aufenthalts datiert hat. In einem Herbarium ist die Pflanze früher belegt, als man in der Leonardo-Forschung bislang angenommen hat, nämlich bei Gherardo Cibo – und damit im Jahre 1532.582 Man könnte vermuten, dass die nachmals ‹Hiobsträne› ‹getaufte› Pflanze als ein Geschenk des portugiesischen Königs nach Rom, in die Vatikanischen Gärten verbracht worden ist und Leonardo dergestalt Gelegenheit erhielt, dieses Gras zu sehen und zu zeichnen.583 Doch dies ist – natürlich – bloß Spekulation.584 Ebenfalls spekulativen Charakter haben Überlegungen, die eine architektonische Zeichnung Leonardos, in der eine offenkundig floral inspirierte Archivoltenform zu erkennen ist, mit der Zeichnung des Grases in Verbindung brachten.585 Der Bezug ist nicht weit hergeholt, aber bei längerem Verweilen über beiden Zeichnungen ergibt sich nicht notwendig ein Zusammenhang. Zu allgemein ist der Bezug der beiden Zeichnungen, die man allerdings beide auf etwa das Jahr 1515 datiert. Aber die Kulturgeschichte dieser Pflanze ist auch so bemerkenswert: Als eine proteinreiche Kulturpflanze nach Europa verbracht und alsbald ‹getauft›, erscheint sie – noch vor ihrer eigentlichen ‹Taufe› – im zeichnerischen Werk Leonardo da Vincis, der in der Sala delle Asse zu Mailand schon weit früher architektonisches Denken und Naturbeobachtung in ein Verhältnis brachte. Ob dem auch im Hinblick auf die ‹Hiobsträne› so gewesen ist, steht dahin. Aber hier steht ein Ereignisgeschehen hinter einem Orientbezug, in dem sich womöglich Natur und Kultur, Kultivierung der Natur und Naturalisierung der Architektur denkbar eng aufeinander bezogen.
Gold in Early America, in: Western Folklore 13 (1954), S. 177 (die zitierte Quelle bezieht sich auf die Acanibas). 581 Siehe Emboden, a.a.O., S. 23f. und S. 156 (hier Datierung nach Pedretti: ca. 1515, bzw. nach Morley: 1505–08). 582 Diesen Hinweis verdanke ich Siegmund Seybold (Ludwigsburg), dem ich an dieser Stelle ganz herzlich danke. Seine Quelle ist: P. A. Saccardo, Cronologica della flora Italiana, Padova 1909. Emboden hatte auf Charles de l’Ecluse verwiesen und als Datum dieses Beleges das Jahr 1576 genannt (a.a.O., S. 156). Bezüglich Cibo siehe AKL. 583 Vgl. Bedini, Elefant, a.a.O., S. 210ff. 584 Ob Cibo bezüglich dieser Pflanze seinen Fundort preisgab, ist mir nicht bekannt. AKL zufolge war es seine Gewohnheit, diesen anzugeben. 585 William A. Emboden, The ‹Spirit of Growth›, in: ALV 1 (1988), S. 75 (und Abb 1 und 2).
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10 Ein asiatisches Gras: die ‹Hiobsträne› (Coix lachryma-jobi) (nach W)
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Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen / Auswahlbibliographie Die Manuskripte und Zeichnungen Leonardo da Vincis werden nach den folgenden Siglen zitiert (die primär verwendeten Editionen sind in der rechten Spalte jeweils zuerst ausgewiesen; vgl. auch die Anmerkungen zur Zitierweise im Rahmen der Einleitung): CA
CAr CF I–III CL CM I/II CTr DT K/P [Nr.]
Ludwig [Nr.]
Ms. A–M
Codex Atlanticus [Il Codice Atlantico della Biblioteca Ambrosiana di Milano, hrsg. von Augusto Marinoni, 12 Textund 12 Tafelbände, Firenze 1973–1975 (Tafelbände) bzw. 1975–1980 (Textbände)] Codex Arundel [Il Codice Arundel 263 nel Museo Britannico, hrsg. von P. Fedele und E. Carusi, 4 Bd., Roma 1923–1930] Codices Forster I–III [I Codici Forster del Victoria and Albert Museum di Londra, hrsg. von Augusto Marinoni, 3 Bd., Firenze 1992] Codex Leicester (ehemals Codex Hammer) [The Codex Hammer of Leonardo da Vinci, hrsg. von Carlo Pedretti, Florenz 1987] Codices Madrid [Codices Madrid, hrsg. von Ladislao Reti, [dt. Ausgabe] 5 Bd., Frankfurt a. M. 1974] Codex Trivulzianus [Codice Trivulziano. Il codice No 2162 della Biblioteca Trivulziana di Milano, hrsg. von Augusto Marinoni, Milano 1980] Disegni di Leonardo e della sua cerchia nella Biblioteca Reale di Torino, hrsg. von Carlo Pedretti, Firenze 1990 Anatomie-Folios der Sammlung Windsor [Atlas der anatomischen Studien Ihrer Majestät Queen Elisabeth II in Windsor Castle, hrsg. von Kenneth D. Keele und Carlo Pedretti, 3 Bd., Gütersloh 1978–1981; Quaderni d’anatomia, hrsg. von O. C. L. Vangenstein, A. Fonahan, H. Hopstock, 6 Bd., Christiania, 1911–1916] [Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei, hrsg. von Heinrich Ludwig, 3 Bd. [inkl. Kommentarband], Wien 1882; Ergänzungsband: Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei. Neues Material aus den Originalmanuskripten, gesichtet und dem Cod. Vatic. 1270 eingeordnet von Heinrich Ludwig, Stuttgart 1885; Libro di Pittura. Codice Urbinate lat. 1270 nella Biblioteca Apostolica Vaticana, [Faksimile] hrsg. von Carlo Pedretti (Transkription von Carlo Vecce), Firenze 1995] Manuskripte A–M [I manoscritti dell’Institut de France, hrsg. von Augusto Marinoni, 12 Bd., Firenze 1986–1990;
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VU W [Nr.]
Les Manuscrits de Léonard de Vinci, hrsg. von Charles Ravaisson-Mollien, 6 Bd., Paris 1881–1891] Codice sul volo degli uccelli [Il codice sul volo degli uccelli nella Biblioteca Reale di Torino, hrsg. von Augusto Marinoni, Firenze 1976] Sammlung Windsor [A Catalogue of the Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of her Majesty the Queen at Windsor Castle, hrsg. von Kenneth Clark und Carlo Pedretti, London 1968–1969] [siehe auch K/P]
Sonstige Abkürzungen und (durchgängig verwendete) Siglen: AKL ALV AuA I–III BmC B/H
BHR BL [Nr.] B BV DBI DoA DoAH DoSB EI K TuA
Saur Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, München/Leipzig 1983ff. Achademia Leonardi Vinci Franz Babinger, Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante, 3 Bd., München 1962– 1976 Folker E. Reichert, Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter, Sigmaringen 1992 Franz Babinger, Vier Bauvorschläge Lionardo da Vinci’s an Sultan Bajezid II. (1502/3) [mit einem Beitrag von Ludwig H. Heydenreich], Göttingen 1952 [Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologischhistorische Klasse] Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance Mauro Guerrini, Bibliotheca Leonardiana. 1493–1989, 3 Bd., Milano 1990 Serge Bramly, Leonardo da Vinci. Eine Biographie, Reinbek 2000 Ettore Verga, Bibliografia Vinciana, 1493–1930, 2 Bd., Bologna 1931 Dizionario biografico degli Italiani, Roma 1960ff. The Dictionary of Art, hrsg. von Jane Turner, 34 Bd., London 1996 Dictionary of Art Historians [http://www.dictionaryofarthistorians.org/] Dictionary of Scientific Biography, hrsg. von Charles Coulston Gillispie, 16 Bd., New York 1970–1980 Encylopaedia of Islam [http://www.brillonline.nl/] Martin Kemp, Leonardo da Vinci. The Marvellous Works of Nature and Man, London etc. 1981 Leonardo da Vinci. Tagebücher und Aufzeichnungen, hrsg. von Theodor Lücke, 2 Bd., Leipzig 1940
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LV M [bzw. M/V]
Lettura Vinciana Pietro C. Marani, Leonardo. Das Werk des Malers, München 2005 [Anhang zusammengestellt von Pietro C. Marani und Edoardo Villata] M/R Irma Richter / Gisela Richter (Hg.), Italienische Malerei der Renaissance im Briefwechsel von Giovanni Morelli und Jean Paul Richter 1876–1891, Baden Baden 1960 N Charles Nicholl, Leonardo da Vinci. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 2006 [engl. Originalausgabe 2004] L-A Carlo Pedretti, Leonardo da Vinci, Architekt, Stuttgart/ Zürich 1980 P I/II [Seitenzahl] [Carlo Pedretti], The Literary Works of Leonardo da Vinci, compiled and edited from the original manuscripts by Jean Paul Richter, Commentary, 2 Bd., Oxford 1977 LdViO Jean Paul Richter, Lionardo da Vinci im Orient, in: Zeitschrift für bildende Kunst 16 (1881), S. 133–141 R I/II [Seitenzahl; Paragraphennr.] The Literary Works of Leonardo da Vinci, hrsg. von Jean Paul Richter, 2 Bd., London/New York 31970 [Phaidon-Nachdruck der revidierten und erweiterten, gemeinsam mit Irma A. Richter besorgten 2. Auflage von 1939; 1. Auflage: London 1883 (Digitalisat unter http://www.archive. org/); 2. Auflage: London/New York 1939 (Oxford University Press); Zitate nach der Erstauflage sind im Einzelfall kenntlich gemacht] [Commentary in zwei Bänden von Carlo Pedretti; zitiert als P I/II] Reti [Nr.] Ladislao Reti, The Two Unpublished Manuscripts of Leonardo da Vinci in the Biblioteca Nacional of Madrid – II, in: Claire Farago, Leonardo da Vinci. Selected Scholarship, Bd. 4 (Leonardo’s Writings and Theory of Art), New York/ London 1999, S. 187–191 [urspr. 1968] [Aufschlüsselung der im Codex Madrid II enthaltenden Bücherliste] RS Renaissance Studies RQ Renaissance Quarterly RV Raccolta Vinciana Solmi Edmondo Solmi, Le fonti dei manoscritti di Leonardo da Vinci, Giornale Storico della Letteratura Italiana, supplemento Nr. 10–11, Torino 1908 V Carlo Vecce, Léonard de Vinci, Paris 2001 Z Frank Zöllner, Leonardo da Vinci 1452–1519, 2 Bd., Köln 2006 [mit Werkkatalog in Bd. 1]
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Abbildungsverzeichnis Anmerkung: In den Bildnachweisen wurden die im Abkürzungsverzeichnis ausgewiesenen Abkürzungen und Siglen verwendet (‹RV›, ‹LV›, ‹R›, ‹W›). 1 Jean Paul Richter (1847–1937) (nach RV 15/16 (1934–1939), S. VIII) 2 Codex Atlanticus 393v [ex145v-a; v-b] (nach Ernst H. Gombrich, Leonardo e i maghi: polemiche e rivalità, Firenze 1984 [LV 23], Tavola 14) 3 Goldenes Horn und Bosporus in einer Satellitenaufnahme (zu erkennen sind auch die heute bestehenden Brücken) (Quelle: http://www.azizistanbul.com/) 4 Leonardos zeichnerischer Entwurf einer Brücke zwischen Konstantinopel und Pera (Foto: Autor nach/mit Faksimile von Ms. L) 5 Visualisierung der Michelangelo-Legende in der Casa Buonarroti (nach Adriaan W. Vliegenthart, La Galleria Buonarroti. Michelangelo e Michelangelo il Giovane, Firenze 1976, Tafel 11) 6 Wolf, Adler – und ein Weltglobus – in einer allegorischen Zeichnung (nach Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 151) 7 Leonardo vergegenwärtigt sich Armenien bzw. Hochmesopotamien (oder die ‹Taurusregion›) (nach R II, Tafel CXIX) 8 Skizze des hingerichteten Bernardo di Bandino Baroncelli (nach Robert Wallace / Redaktion der Time-Life Bücher, Leonardo da Vinci und seine Zeit. 1452–1519, o.O. 1971, S. 24) 9 Leonardo da Vinci visualisiert sich die Techniken der Perlentaucher Indiens (Foto: Autor nach Faksimile von Ms. B) 10 Ein asiatisches Gras: die ‹Hiobsträne› (Coix lachryma-jobi) (nach W)
Anhang | 361
Hinweis auf die beigelegte CD-ROM Die eigentliche Bibliographie der vorliegenden Studie ist – auch um eine optimale Durchsuchbarkeit zu gewährleisten – in Form einer Datei auf der beigelegten CD-ROM gegeben. Gleiches gilt für Anhang B, in dem die Texte aus dem ‹Diodario-Material› – in kommentierter Form – versammelt sind. Als ein forschungsgeschichtliches Dokument wurden außerdem die in Hauptkapitel 1 ausführlich besprochenen zwei Bände der einstmals Bahn brechenden Anthologie The Literary Works of Leonardo da Vinci – in Form von Digitalisaten der Erstausgabe von 1883 – beigegeben. Es sei allerdings unterstrichen, dass diese einstmals auch – und nicht zu Unrecht – um einer hervorragenden Qualität der Abbildungen gerühmte Edition für die heutige Forschung nicht mehr maßgeblich ist und dass es sich dabei eben um ein forschungsgeschichtliches Dokument handelt. Maßgeblich für die Forschung ist heute die revidierte Zweitausgabe von 1939 (bzw. deren Nachdruck von 1970), welche (falls nicht anders vermerkt) auch im Rahmen der vorliegenden Studie die eigentliche Referenz darstellt.
362 | Personenregister
Personenregister Auf die Aufnahme von Personennamen in bibliographischen Angaben bzw. in Buchtiteln wurde verzichtet. In nachgestellten Klammern erscheinen Namensvarianten sowie – zur Erleichterung der Orientierung in einigen Fällen – Erläuterungen zu den Namen. Accatabriga (Leonardos Stiefvater) 209 Adam und Eva 311 Ägidius von Viterbo 146 Ahmed (fiktive Figur) 209 Ahmed ibn Jussuf 258 Albano, Bonajuto d’ (Bonaiuto di Albano) 105, 345 Alberti, Leon Battista 131f., 168, 208, 264, 271, 300, 304 Albertus Magnus 176, 259, 313 Albumasar (Abu Ma‘shar; ‹Albumansar›) 172, 175, 264ff., 277, 298, 333, 337, 346 Alchabitius 267f. Alexander VI. (Papst) 135 Alexander der Große 94, 246, 300, 334ff., 339, 341 ‹Alfamenonne› (fiktiver Autor) 298 Alhazen (Ibn al-Haitham) 262f., 297 ‹Ali al Fragano› 257 Allesandri, Baldinacio degli 142 Altdorfer, Albrecht 300 Ammian (Ammianus Marcellinus) 300, 302, 305 (sowie Anhang B: 6) Amoretti, Carlo 21 Anacharsis 70 (Pater) Anastasio (Romanfigur) 164 Angiolello, Giovan-Maria 96, 109, 130ff. Anna (Mutter Mariä) 311 Anonymo Gaddiano 102, 208 Anonymus Hanivaldanus 95, 128, 332 Antäus 296 Antonello (Kaufmann) 107, 341 Apoll(in) (Apolin) 275, 277 Arasse, Daniel 121, 189 Argyropoulos, Joannis 318 Arimondo, Alovisio 99 Aristoteles 261, 263, 335, 337 (und Anhang B: 2, 5) Arlati, Angelo 251
Artaxerxes (Xerxes I.) 331 Atatürk 123 Augustin(-us) 295, 301, 303, 310, 337, 341 Averroes (Ibn Rushd) 259ff. Avicenna (Ibn Sina) 85, 125, 223, 256f., 259ff., 272, 333 Babinger, Franz 96, 106, 123ff., 126f., 135, 137ff., 146, 151, 160, 169, 201, 314, 319 Bacon, Roger 261, 337 Bambach, Carmen C. 22f., 286 Bandello, Matteo 108, 110, 296 Baratta, Mario 313 Barbaro, Giosafat 97 Barberino, Andrea da 115 Baroncelli, Bernardo di Bandino 52, 108, 319ff., 324 Bartolomeo il Turco 107, 324 (und Anhang B: 4) Batkin, Leonid M. 278 Bayezid II. 108, 125, 129, 132, 135, 141, 145ff., 150ff., 156ff., 160f., 204, 221, 250, 274, 288, 315 Becini 292 Bedini, Silvio A. 250, 346f. Bellincioni, Bernardo (Mailänder Hofdichter) 245 Bellini (Malerfamilie) 148 Bellini, Gentile 71, 97, 105, 147f. Benci (Familie) 303 Benci, Ginevra de’ 190f., 203, 286 Benci, Tommaso 302f. Benedetto Ispano 287 Berenson, Bernard 89, 349, 351f. Berlinghieri, Francesco (Geograph) 323 Berruguete, Pedro 287 Bertoldo di Giovanni 315 Bertram, Ernst 68
Personenregister | 363
Bilivert(i), Giovanni 155, 236 Al-Biruni 224 Bode, Wilhelm 13, 39 Bonsignori, Bonsignore 104 Borgia (Familie) 136, 297, 301 Borgia, Cesare (‹Valentino›) 65f., 127, 133, 135, 139f., 141, 193, 291, 315, 324 Borgia, Lucrezia 291 Botticelli, Sandro 190, 193, 195, 270f., 349 Bramante 82, 138, 227 Bramly, Serge 351f. Brancaleone, Francesco 292 Brant, Sebastian 267 Brasca, Santo 107, 307, 312 Brotton, Jerry 152, 207 Brown, Dan 184 Brown, David Alan 249 Brun, Carl 70f., 87 Buonarroti, Giovansimone 104, 343 Buonarroti, Michelangelo 33, 104, 107, 122–161, 187, 195, 197f., 200f., 203, 222, 249, 311, 323f., 336, 343, 349 Buondelmonti [-Karte] 138 Burckhardt, Jacob 13ff., 42, 53ff., 66ff., 76, 85, 87, 90, 114, 215, 219, 223, 278, 280, 297, 314 Burckhardt, Max 16, 55 Burgkmair, Hans 105 Burke, Peter 83, 207, 278 Calcagni, Tiberio 153, 197 Calvi, Gerolamo 72, 86f., 176, 212, 232 Carpaccio 105 Casola, Niccolò da 111 Caterina (entlaufene Sklavin) 210 Caterina (Leonardos Mutter) 208f., 212 Cattaneo, Andrea 261 Chastel, André 125, 163 Chotjewitz, Peter O. 209 Christo 188f. Christus 16, 326, 328 Cibo, Gherardo 355 Clark, Kenneth 89, 172, 174, 295, 349 Clemens (VII.) (Papst) 150 Colvin, Sidney 78, 212
Comte, Auguste 69f. Condivi, Ascanio 148ff., 153 Correnti, Cesare (Exminister) 45 Corsali, Andrea 21, 104, 250, 340f. Cranach, Lucas 105, 306 Credi, Lorenzo di 249 Cunha, Tristan da 109 Dalí, Salvador 270 Daniel 310 Dann, Jack 184ff. Dante 84ff., 194, 198, 241, 260, 270 Dareios III. 335f. David 11, 141, 147f., 311 Defrémerie, C. (Professor) 53 Dei, Benedetto 73, 98, 106, 114f., 118, 167, 229, 242, 246, 292, 296, 310, 327, 329, 331, 336 (ein) Deutscher (aus Oppenheim; in . Alexandria) 297 Diaine (Diana) 277 Diodario (von Syrien) (Devatdar of Syria) . passim Diodor 301 Diogenes Laertios 70, 337, 341 Di Teodoro, Francesco P. 176, 178, 212, 317 (und Anhang B: 2) Dschem 108, 145 Dürer, Albrecht 62, 177, 187, 245, 256, 290, 292 Edgerton, Samuel Y. 259, 348 Emboden, William A. 300, 335 Enlart, Camille 72 Erzi, Adnan 123, 125 Esther 331 Fabri, Felix 66, 297 Farago, Claire 317f. Fehrenbach, Frank 89, 174, 206, 263, 318 Fenollosa, Ernest F. 349 Fernandes, Vasco 236 ‹Ferrando Spagnuolo› (Llanos) 287 Ficino, Marsilio 74, 125, 302f., 337 Fioravante, Atalante (Aristotele/Aristotile Fioravanti) 71f., 109
364 | Personenregister
Firman de Beauval (Firminus) 268 Fischer, Hubertus 173 Florenski, Pavel 223 Foresti da Bergamo 327 Franz I. (Frz. König) 227 Frazer, James George 253 Freshfield, Douglas W. 36, 54, 62f., 74 Freud, Sigmund 66, 76, 87, 119, 212, 304f. Fried, Johannes 177 Frizzoni, Gustavo 53f. Fumagalli, Giuseppina 119f., 303 Galen 257, 259 Gallerani, Cecilia 64 Gama, Vasco da 103 Gantner, Joseph 43, 47, 49, 55, 121, 164ff., 168, 172, 217, 245 Gates, Bill 51 Gaurico, Luca 173ff., 179 Gaurico, Pomponio 179 ‹Gebe› 257 Gersdorff (‹Kamerad› Nietzsches) 67 Geymüller, Heinrich von 23, 55f., 58, 64ff., 74, 91, 109, 281 Al-Ghauri (‹Kanssa Gauri›) 14, 99 Ghiberti 259 Giocondo, Francesco del 140 Giorgione 252 ‹Giovan Turco› 107, 324 Giovio, Paolo 102, 191 Giustino 253 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 76 Goethe 19, 24, 120 Gombrich, Ernst 88, 163, 166, 181, 253 Gondi (Familie/Bank) 107, 142f., 151 Gonzaga, Francesco 318, 324 Govi, Gilberto 56f., 61, 63, 65, 70, 126 Gregorovius, Ferdinand 291 Grenier, Philippe 71 ‹Großkhan von Cathay› 348 Hammer-Purgstall, Joseph von 95, 274 Hannibal 295 Harff, Arnold von 98, 100, 102, 112f., 130f., 250
Heaton, Mary M. 62 Herkules/Herakles 293 Hermes Trismegistos 21, 269, 302ff., . 337 Herodes 310 Herodot 70, 236, 238, 326, 328, 342 . (und Anhang B: 4) Heron von Alexandria 138, 270 Hertz, Henriette 81 Herzfeld, Marie 61, 79, 158, 248, 274 Heydenreich, Ludwig Heinrich 117, 126f., 135f., 138f., 149, 169, 201 Hieronymus 246, 311, 350 Hiroshige 349 Hofastrologe (der Sforza) 180 Hokusai 348f. Hooke, Robert 223 Horapoll 76, 304f. Hsia Kwei 349 Hüttinger, Eduard 352 Ibrahim Pascha 138 ‹Ikonenmaler aus Moskowien› 76, 195, 304, 318 ‹Indigo› (Assistent Michelangelos) 336 Isidor (von Sevilla) 337 Isis 301 Iskender Pascha 141 (Schah) Ismael 100, 169f., 325, 333f. (und Anhang B: 1) Jardine, Lisa 151, 206f. Jaspers, Karl 68 Jean Paul (Schriftsteller) 13 Jesaja 310 Johannes (der Täufer) 249, 311 Johannes von Damaskus 256 Julius II. (Papst) 147, 149 Jullien, François 351 Jupiter 271, 273, 277 Kain 310 Karatscharow (Romanfigur) 109 Karl VIII. (Frz. König) 173 Karl der Große 113f., 329 Kaytbey 97, 99
Personenregister | 365
Kemp, Martin 13, 121, 177, 189, 212, 227, 261, 335, 352 Al-Kindi 263ff., 267f. Kissling, Hans Joachim 123, 135, 160, . 314 Kolumbus 43, 74, 103f., 106, 110, 186f., 190, 197, 207, 236, 238, 240, 243, . 294, 343 Köselitz, Heinrich (Peter Gast) 67ff., 338 Kuan (Kuan Yin-Hsi) (Romanfigur) 196f., 199 Kyros (II.) 310, 326, 328, 336 Laktanz 295, 301, 303 Lalanne, L. 53 Landucci, Luca 157, 240, 288 Layard, Austen Henry 62 Leicester, Earl of 51 Leighton, Frederic 43, 53 Leitner, Gottlieb W. 254 Lenin 224 Lenormant, François (Professor) 53 Leo X. 21, 104, 108, 150, 179, 227, 267f., 339, 346 Leonardo da Vinci passim Lévêque, Charles 59, 64 Li Gonglin (Ririomin) 223, 349 Li-Long-Men 349 Lippi, Fra Filippo 108, 296 Livius 295 Lomazzo, Giovan Paolo 21, 191f., 304 Lot 276 Lübke, Wilhelm 58, 66 Lucas (fiktiver Astrologe) 179 Ludwig II. (Bayerischer König) 40 Ludwig, Heinrich 42f., 116, 206 Lukan 296 Lukas 310 Luther 146, 172, 323 ‹Luzifer› 310 Machiavelli, Niccolò 133, 146, 190, 201, 314 ‹Madonna›/Maria 24, 58, 64, 78, 211f., 249, 254, 311, 338 Makdisi, George 223
Mandeville, John 70, 74, 98, 100, 111ff., 115, 120, 130, 163f., 235, 239, 244, 255, 273ff., 277f., 300, 304, 313, 329, 341, 346, 353f. Marani, Pietro C. 249, 315 Marchioni, Bartolomeo 250 Marcolongo 263 Margutte (Halbgigant) 113, 275, 277, . 298 Marinoni, Augusto 22, 60, 87, 121, 125, 133, 182, 233, 245, 269, 295, 310 Martini, Francesco di Giorgio 138, 202, 260 Martyr d’Anghiera, Peter 110, 238ff., 354 Marull 318 Masini da Peretola, Tommaso (‹Zoroastro›) 296, 336f. Masucchio 277 May, Karl 62, 123 Ma Yuan 349 Mazenta, Giovanni Ambrogio 21 McCurdy, Edward 55, 118, 245, 288, . 351 Medici (Familie) 74, 108, 114, 193, 231, 319f. Medici, Alessandro de’ 210 Medici, Cosimo de’ 349 Medici, Giuliano de’ 237 Medici, Lorenzo de’ (il Magnifico) 108, 315, 320, 322, 336, 349 Mehmed II. 96f., 122f., 125, 132, 146, 148, 157, 207, 320 Melzi, Francesco 19 Menavino, Giovanantonio 135, 157, 250 Mereschkowski, Dimitri 29, 75f., 109, . 195, 198, 304, 314, 318 Meridiana 277 Mesih Pascha 128 Michael Scotus 175, 259, 277, 285 Michelozzo 72, 104 Migliore, Sandra 279 Miniati, Antonio (Florentiner) 158 Mittelstrass, Jürgen 224 Mohammed 270ff., 275ff., 329 ‹Mona Lisa› 11, 80, 140, 181, 201, 222, 258, 312, 349, 351f.
366 | Personenregister
Mond, Frida 81 Mond, Ludwig 40f., 81 Montalboddo, Fracanzano di 239 Monti, Pietro 287 Montinari, Mazzino 68, 338 Montuela 257 Morelli, Giovanni 13f., 36ff., 45, 51, 53ff., 60, 212 Morgante 113 Moses 21, 149 Müller-Walde, Paul 64, 202 Münsterberg, Oscar 350 Müntz, Eugène 39, 66 Münzer, Hieronymus 289 Mussolini 198 An-Nasir 99 Needham, Joseph 196, 205, 352f. Neffe (des Luca Pacioli) 109, 323 Nietzsche, Friedrich 53, 67ff., 74ff., 79f., 84, 91, 165, 196, 219, 338 Noah 181, 276 Nonius 328 Odorico da Pordenone 353f. Odysseus 241 Olschki, Leonardo 66 Oruç (Chronist) 95, 128, 332 Osiris 297, 301 Osman (Haus) 122, 313, 315 Ovid 296 Pacioli (Familie) 109 Pacioli, Luca 24, 102f., 105, 140, 180, 239, 257, 266, 269, 280, 285, 297, 301, 306f., 309f., 314, 323, 331, 346 Palacios, Miguel Asín 85 Pamuk, Orhan 122 Paracelsus 104 Parker, Dorothy 184 Pater, Walter 20, 37, 55, 351 Paul (III.) (Papst) 150 Payne, Robert 162ff., 197 Pazzi (Familie) 52, 190, 193, 319 Pedretti, Carlo 22, 44, 60, 89, 125, 127, 138, 168ff., 188f., 191, 201f., 204, 212,
224, 234, 246, 261, 270, 287f., 294, 300, 303, 308, 313, 326, 335, 339f., 343, 349, 352, 355 Pelacani, Biagio 263 Perseus 296 Petrarca, Francesco 59, 233, 348 Philon von Byzanz 270 Philostratus 300, 345 Picasso 208 Piccolomini [-Altar] 144 Pico 125, 255, 267, 269 Piero da Vinci (Leonardos Vater) 208 Piot, Eugène 64f., 94 Plinius maior 226, 233, 325, 336, 348 . (und Anhang B: 2) Poggio Bracciolini, Giovanni 131, 240 Polo, Marco 348, 353 Ponte, Giovanni 169f. Portugiesischer König (Manuel I.) 346f., 355 (König) Porus 335, 339 Poynter, Edward 43f. Poynter Bell, Clara Courtenay (Mrs. R. C. . Bell) 43 Ptolemäus 104, 171, 213, 228, 231f., 316f., 340, 348 (und Anhang B: 2, 5) Pucci, Antonio 230, 329, 331 Pulci, Luca 319 Pulci, Luigi 73f., 105f., 111, 113ff., 174, 231, 234f., 247, 249, 251, 259, 275f., 277f., 285f., 288, 296ff., 319, 329, . 333, 348, 336 Purrmann, Hans 78 Raffael (Maler) 68, 127, 140, 234 Raffaele da Montelupo 23 Ramusio, Giovanni Battista 97 Raphael (Erzengel) 327 Ravaisson-Mollien, Charles 53, 58, 61, 63, 104, 307, 343 Ravaisson-Mollien, Félix 58, 126 Rembrandt 165 Reti, Ladislao 133f., 264, 324, 327 Reuwich, Erhard 105, 306 Rhazes (Ar-Razi) 260, 285 Richter, Gisela M. A. 38, 40
Personenregister | 367
Richter, Irma A. 40, 43f., 88 Richter, Jean Paul passim Richter, Louise M. (Louise M. Schwab) 39f., 94 Rilke, Rainer Maria 78ff., 84, 219, 284, 332, 338 Ristoro D’Arezzo Anhang B: 3 Rogers, J. Michael 147, 249 Ruskin, John 37, 351 (Königin von) Saba 330 Sabatino Moro 249 Sacchetti, Franco 255 Said, Edward 195, 198, 270 Salai (Salaì) 245, 247, 319, 331, 336 Salomon 307, 310, 330 Salviati (Familie) 143 Salviati, Gianozo 142f. Sand, Vebjørn 203 Sangallo, Antonio 144 Sanseverino, Galeazzo 346 Sansovino, Andrea 141, 287 Sanudo, Marino 98ff., 158 Sappa, Mercurino 305 Saraceni di Fano, Piero Lodovico 247 Sarre, Friedrich 147 Savazorda 264, 269, 277 Savonarola 125, 146, 153, 267, 278, 286, 323 Schedel, Hartmann 327 Schéfer, Ch. (Professor) 53 Schlosser, Julius von 25, 42 Schoeler, Gregor 256 Schulze, Thies 86 Schuré, Edouard 249 Scilaccio, Niccolò 239 Séailles, Gabriel 44, 70, 189 Seidlitz, Woldemar von 78 Selim (Sultan) 150f. Seracini, Maurizio 250 Sforza (Familie) 107, 180, 247, 249 Sforza, Ascanio 239 Sforza, Ludovico (il Moro) (Herzog von . Mailand) 113, 141, 160, 186, 206, 234, 251, 285 Sforza, Massimiliano 245
Simon (Magier) 310 Sinan (Ustād Khayr al-Dīn) (Architekt) 158 Siraisi, Nancy 261 Sirén, Osvald 340, 350 Sirigatti, Francesco 267f. Smiraglia Scognamiglio, Nino 72f. Soderini (Gonfaloniere) 201 Sokullu Mehmed Pascha 223 Solari, (Pietro) Antonio 109 Soldani, Jacopo 155 Solmi, Edmondo 59, 77f., 100, 107, 127, 135, 169f., 253, 261, 270, 295, 303 Steiner, Rudolf 249 Stone, Irving 249 Strabon 238, 271, 300 Strzygowski, Josef 81ff., 126, 166, 322, 325 Stüssi, Fritz 122 Şumnu, Umut 122, 160 Suriano, Francesco 339 As-Suyuti 223 Taccola (Jacopo Mariano) 138, 285, 345 Tadeo (Sohn des Nicholaio del Turco) . (Musiker) 324 Tagore 224 Taman Bay 97 Tanaka, Hidemichi 205, 351 Thabit ibn Qurra 258, 269 Thausing, Moritz 15, 55f. Thomas von Aquin 264 Tiglatpileser (Tiglat-Pileser III.; König Pul) 310, 328 Tobias 311, 327 Tolfo, Tommaso di 141ff., 148, 150f. Tolnay, Charles de 147 Torre, Marcantonio della 262 Torres Balbás, Leopoldo 287 Toscanelli, Paolo dal Pozzo 70, 232, 348 Trivigant 275, 277 ‹Tryphon von Alexandria› 301 Uzielli, Gustavo 54, 56, 60, 70, 75, 112 Uzun Hassan 96f.
368 | Personenregister
Valéry, Paul 93 Valturio, Roberto 294ff., 301ff., 310, 328, 331, 335 Varthema, Ludovico (de) 104, 329, 333, 341 Vasari, Giorgio 19f., 23, 37, 65, 91, 104, 108, 148f., 151f., 219, 251, 276, 287, 290, 296, 336 Vecce, Carlo 319 Verga, Ettore 72, 88, 245 Verne, Jules 116 Verrocchio 22, 246, 249, 286, 291, 327, 335, 339 Vespucci, Amerigo 104, 250 Vezzosi, Alessandro 209f. Vignola 82 Virgil 199
Visconti (Familie) 247 Vivarini (Malerfamilie) 165 Vogüé, Melchior de 53 Vollmoeller, Mathilde 78 Warburg, Aby 87, 171f., 174, 265f. Weber, Max 173, 224 Witelo 263 Xerxes I. 331 Yanez 287 Yashiro, Yukio 351 Zambelli, Paola 173, 175 Zarathustra 68f., 336ff. Zöllner, Frank 64, 140, 350