Leib, Ort, Gefühl: Perspektiven der räumlichen Erfahrung 9783495808382, 9783495486436


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German Pages [425] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Hermann Schmitz: Von der Scham zum Neid
Literatur
Steffen Kammler und Steffen Kluck: Der Geist einer Zeit und eines Ortes.
1. Omnipräsenz und Vergessenheit
2. Situationen als Boden zeitlich-geschichtlicher Gemeinsamkeit
3. Eine Landkarte sozialer Situationen?
4. Conclusio
Literatur
Yuho Hisayama: Individuum und Atmosphäre.
1. Einleitung: Das japanische Wort kûki
2. Die erste Konnotation: Selbstverständliche Gegebenheit
3. Die zweite Konnotation: Halbdinglichkeit
4. Die dritte Konnotation: Das Phänomen der Zugehörigkeit
5. Fazit und Ausblick
Literatur
Toru Tani: Übertragung und Medium
Einleitung
1. Ausgang von Michel Henry
2. Akt und Medium
3. »Utsushi« bei Sakabe
4. Ent-fremdung und Einfühlung
5. Weitere Probleme
5.1 Leib und Sich-Verhalten
5.2 Undeklinierbarkeit des Ur-Ich
5.3 Appräsentation und ferner
Zum Schluss
Literatur
Thilo Billmeier: Ursprüngliches Sicherleiden
1. Sicherleiden und Unerträglichkeit
1.1 Leben und Sicherleiden
1.2 Unerträglichkeit
1.3 Selbstumschlingung
1.4 Ursprüngliche Freude
1.5 Ohnmacht und Urmächtigkeit
2. Der Übergang vom ursprünglichen Leiden zur primordialen Freude
2.1. (Er)leiden als Passivität und Negativität
2.2 Leben als Kraft
2.3 Steigerung und Trunkenheit
2.4 Unruhe und Sicherheit
2.5 Faktizität und Negativität
Literatur
Corinna Lagemann: Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit und Lebenswelt bei Heidegger
1. Einleitung
2. Auf vertrautem Boden: Die Lebenswelt
2.1 Die Dynamik existenzialer Räumlichkeit: Angst, Furcht und Sorge
3. Der Einbruch des Neuen: Erschütterungen der Lebenswelt
4. Fazit/Kritik
Literatur
Internetquellen
Anja Kathrin Hild: Der Erscheinungsraum der Person.
Einleitung
1. Tätig im Raum erscheinen
2. Was wirklich ist – der Erscheinungsraum
3. Wissen, was man kann – die Lebenswelt
4. Spüren, was ich kann – der persönliche Möglichkeitsraum
Literatur
Annika Schlitte: Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel
0. Das Erhabene, Sulzers Seufzer und die Doppelbedeutung der Ästhetik
1. Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft
1.1 Ästhetik und Theorie der Sinnlichkeit in der Kritik der Urteilskraft
1.2 Die Erfahrung des Erhabenen – negative Lust und »Gemütsverstimmung«
1.3 Die Räumlichkeit des Erhabenen bei Kant
a) Das Mathematisch-Erhabene als Grenzfall der Raumwahrnehmung
b) Die Orte des Dynamisch-Erhabenen
c) Standpunkt und Perspektive des Erhabenen
2. Das Erhabene bei Simmel
2.1 Gefühl und Stimmung bei Simmel
2.2 Die Stimmung als Träger der Einheit der Landschaft
2.3 Raum und Ort des Erhabenen – Simmels Alpen-Aufsatz
3. Phänomenologische Ansätze zur Räumlichkeit des Erhabenen
Literatur
Nina Trčka: Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui.
1. Einleitend
2. Die Erfahrung des mathematisch Erhabenen oder der Sinn für das Maßlose
3. Die Charakteristika des mathematisch Erhabenen ausgehend von Kants Kritik der Urteilskraft
4. Der Raum im Ausgang vom Leib
4.1 Leib als gespürtes Räumlichsein
4.2 Enge und Weite – die leibliche Dynamik und ihre Verlaufsformen
4.3 Die Verschränkung von eigenleiblicher Räumlichkeit mit der Umgebung
4.4 Die drei »Weisen des Raumes«
4.5 Die Einheit des Leibes als Grausamkeit und der Zerfall leiblicher Ganzheit in der Angst
5. Primitivierung des Raumes beim horror vacui
6. Die Erfahrung des mathematisch Erhabenen: Spielerische Primitivierung des Raumes und Kontrolle des Zerfalls leiblicher Ganzheit
7. Ausblick
Literatur
Anne Eusterschulte: Schwindel.
Literatur
Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers: Aisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vorstellungsraums
1. Der Raum in der modernen Philosophie
2. Mathematischer versus gelebter und erlebter Raum
3. Der Raum der Technik und das technische Design
4. Der Ort: Einzigartigkeit – Verschließung – Bindung
5. Die Seele und der Ort
6. Aisthesis des Raums
Literatur
Thorsten Streubel: Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle.
1. Emotionentheorien und ihre metaphysischen Voraussetzungen
(i)
(ii)
(iii)
(iv)
2. Emotionentheorie und Fundamentalanthropologie
3. Subjekt, Raum und Gefühle
Fazit
Literatur
Jürgen Hasse und Oliver Müller: Zur Spürbarkeit von Architektur.
1. Vorbemerkungen zur Wahrnehmung von Architektur
2. Universitätsarchitektur und Atmosphäre
3. Universitätsbauten als Gesten – Architektur und Atmosphäre
4. Die neue Frankfurter Universität und ihr Campus
5. Die »alte« Universität
6. Zur ästhetischen Programmatik von universitären Raumstrukturen und Architektur
7. Die ästhetische Formensprache der demokratischen Nachkriegsuniversität
7.1 Vom Neobarock zu Offenheit und Transparenz des International Style
7.2 Die neuen Baustoffe: Stahl und Glas
8. Die Phase eines postmodernen Monumentalismus im Universitätsbau
9. Zum Architektur-Erleben und -Verstehen auf dem Campus Westend
9.1 Zum atmosphärischen Raumerleben Studierender 1 (qualitative Konkretisierung)
9.1.1 Das Hörsaalgebäude
9.1.2 Der Campus-Platz
9.1.3 Schlussfolgerungen und forschungsmethodische Konsequenzen
9.2 Zum atmosphärischen Raumerleben Studierender 2 (quantitative Konkretisierung)
9.3 Kommunikation qua Architektur?
Literatur
Uta Ewald: Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns
1. Einleitung
2. Körper, Leib und Raum
3. Leibliche Kommunikation
3.1 In der Wand: Klettererlebnisse
3.2 Die Sicherungskette: Erspürte Sicherheitsillusion
3.3 In der Halle: Unbeschwerte Atmosphäre
4. Der »Situationsraum«: Ein Ausblick
Literatur
Robert Josef Kozljanič: Leben, Wohnen, Fühlen
1. Wohnen und Topophilie. Heidegger und Bachelard
2. Der gelebte Raum. Dürckheim
3. Der gelebte Ort und sein Beziehungsgefüge. Bollnow
4. Der »persönliche Lebensraum« als gelebter Wohn-Ort
5. Der persönliche Herzraum und seine herzerwärmenden Orte
6. Nicht-Orte und Orte. Augé
7. Anthropologische Orte, herzerwärmende Orte, zukunftseröffnende Orte
Literatur
Gerhard Danzer: Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen
Literatur
Zu den Autorinnen und Autoren
Danksagung
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Leib, Ort, Gefühl: Perspektiven der räumlichen Erfahrung
 9783495808382, 9783495486436

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Neue Phänomenologie

Michael Großheim Anja Kathrin Hild Corinna Lagemann Nina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495808382

.

B

NEUE PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Was fühlen wir an bestimmten Orten? Der vorliegende Band ist an der Schnittstelle von Raum- und Gefühlstheorie angesiedelt. Einen zentralen Ausgangspunkt bildet dabei die leibliche Existenz. Die Räumlichkeit von Gefühlen steht genauso zur Debatte wie das gefühlshafte Erleben bestimmter Orte. Beiträge zum gemeinschaftlichen Erleben von Räumen und Gefühlen, zum Zeitgeist sowie zur Lebenswelt thematisieren die soziale Dimension des Problemfeldes. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber: Michael Großheim ist Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock. Anja Kathrin Hild, Corinna Lagemann und Nina Trčka promovieren an der Freien Universität Berlin.

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Michael Großheim Anja Kathrin Hild Corinna Lagemann Nina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, Gefühl

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 22

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Michael Großheim Anja Kathrin Hild Corinna Lagemann Nina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48643-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80838-2

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Inhalt

Michael Großheim, Anja Kathrin Hild, Corinna Lagemann, Nina Trčka Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Hermann Schmitz Von der Scham zum Neid . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Steffen Kammler und Steffen Kluck Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht . . . . .

35

Yuho Hisayama Individuum und Atmosphäre. Überlegungen zum Distanzproblem am Beispiel des japanischen Wortes kûki

.

56

Toru Tani Übertragung und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Thilo Billmeier Ursprüngliches Sicherleiden. Negativität in der Theorie absoluter Affektivität (Rolf Kühn, Michel Henry) . . . . .

99

Corinna Lagemann Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit und Lebenswelt bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

7 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Inhalt

Anja Kathrin Hild Der Erscheinungsraum der Person. Eine Annäherung mit Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Annika Schlitte Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel . . . . . 177 Nina Trčka Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui. Leibliche Räumlichkeit als Quelle ästhetischer Gefühle und spezifischer Ängste . . . . . . 203 Anne Eusterschulte Schwindel. Essayistische Annäherung an existentielle Haltlosigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers Aisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vorstellungsraums . . . . . . . . . . . . . . . 262 Thorsten Streubel Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle. Zur Räumlichkeit von Gefühlen und ihrem Erleben . . . 285 Jürgen Hasse und Oliver Müller Zur Spürbarkeit von Architektur. Das Beispiel der (neuen) Goethe-Universität in Frankfurt am Main . . . . 305 Uta Ewald Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns . . . . . . . . 345 Robert Josef Kozljanič Leben, Wohnen, Fühlen. Von der beheimatenden Funktion ›herzerwärmender‹ Orte . . . . . . . . . . . . 369 8 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Inhalt

Gerhard Danzer Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen . . . . 393 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 409 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

9 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

Wie fühlen wir uns an bestimmten Orten? Und wie räumlich ist das Fühlen selbst? Welche Konsequenzen hat die Orientierung am mathematischen Vorstellungsraum für unser Befinden und unsere Wahrnehmung? Wie kann man theoretisch den Geist einer Zeit fassen, der die Lebenswirklichkeit ganzer Gesellschaften mitbestimmt? Diesen und ähnlichen Fragen gehen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven nach. Der Band resultiert aus der Auseinandersetzung mit einer Leerstelle, die zwischen Raum- und Gefühlstheorien auch im Zuge des spatial turn noch immer besteht. Gemeinsamer Problemhorizont sind der systematische Zusammenhang und die wechselseitige Durchdringung von Raum, Ort und Gefühl, die bislang nicht angemessen zur Sprache gekommen sind. Auch wenn mittlerweile in den unterschiedlichsten Untersuchungen die Rede von der Räumlichkeit Einzug hält, so scheint diese Rede doch häufig lediglich metaphorisch zu sein. Dieser Band möchte gerade die Verschränkung von Raumkonzepten thematisieren. Ausgehend von phänomenologischen Konzepten leiblicher Existenz scheint diese Verschränkung am genausten in den Blick genommen werden zu können, wie viele der hier versammelten Beiträge deutlich machen. In den folgenden Texten steht die Räumlichkeit von Gefühlen ebenso zur Debatte wie das gefühlte Involviertsein in die Umgebung, die Rolle der Gefühle für das Raumerleben und das Erleben besonderer Orte sowie kollektive Erscheinungsformen wie der Geist einer Zeit und eines Ortes und die Schwierigkeiten einer persönlichen Abgrenzung von diesem. Auch die spezifische Räum11 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

lichkeit intersubjektiver und interpersonaler Beziehungen wird thematisch. Hierbei kommen unterschiedliche Ansätze zur Bewährung, um am konkreten Gefühls- oder Raumphänomen Reichweiten, Zugangsarten und Komplementarität verschiedener Zugänge zu präsentieren. So ist ein Netz von thematischen und konzeptionellen Bezügen entstanden, das eine Diskussion eröffnen möchte. Gemeinsam ist fast allen Beiträgen, dass sie phänomenologisch arbeiten oder zumindest eine starke Nähe zur Phänomenologie haben. Erkennbar wird dies an der prominenten Rolle der Leiblichkeit in vielen Beiträgen. Dadurch wird sichergestellt, dass trotz der Vielfalt methodischer Herangehensweisen und referenzieller Kontexte eine Grundlage entsteht, auf die unterschiedliche Disziplinen bei weiterführenden Forschungen zurückgreifen können und die innerhalb der verschiedenen philosophischen Strömungen als Bezugs- oder Abgrenzungspunkt dienen kann. Die Autorinnen und Autoren arbeiten mit Husserl, Heidegger, Bollnow, Merleau-Ponty, Schütz, Luckmann, Bachelard, Schmitz, Henry, Kühn, Guzzoni, Augé, aber auch mit Simmel, Kant und Arendt und beziehen literarische Texte in ihrer Spezifität mit ein. Neben rein philosophischen Arbeiten stehen humangeografische Forschungsbeiträge sowie kulturwissenschaftlich orientierte Texte. Schließlich wird in zwei Beiträgen der Horizont der deutschen Philosophie beispielhaft auf eine weitere Tradition hin gelenkt und geöffnet, und zwar zur japanischen Philosophie hin. Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Hermann Schmitz, dessen Philosophie einen der zentralen Bezugspunkte der Beiträge darstellt. Er zeigt in seinem Text Von der Scham zum Neid zunächst die Zusammengehörigkeit der zwei »kathartischen« Gefühle Scham und Zorn auf – eine Zusammengehörigkeit als polare Gegenstücke, die sich aus der spezifischen Räumlichkeit dieser Gefühle ergibt. Hierbei entfaltet er die phänomenologische Auffassung des Gefühls als einer in spezifischer Weise räumlichen Atmosphäre. Auf diese Weise kann Schmitz die Ausweglosigkeit der Scham im Vergleich zum Zorn, der sich im Handeln entlädt, gefühlsräumlich fassen. Dass Scham dem Neid zugrundeliegt, zeigt Schmitz zum einen über die Ausweglosigkeit der Scham, 12 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

die im Neid auf Andere einen Ankerpunkt findet, zum anderen über den latenten Anspruch, hinter dem eigenen Ichideal zurückzubleiben, der im Neid zugedeckt wird. Neid zeigt sich damit als Missgunst aus Scham. Steffen Kammler und Steffen Kluck untersuchen in ihrem Beitrag Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht das Phänomen des Zeitgeistes. Ausgehend von der Erfahrung, dass die konkrete Lebenswirklichkeit jedes Menschen eine spezifische überindividuelle Prägung aufweist, die sich aus bestimmten räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen ergibt (»Zeitgeist«), suchen sie dieses Phänomen anhand von phänomenologischen Konzepten zu erhellen und dem kulturkritischen Diskurs zugänglich zu machen. Unter Rückgriff auf Konzepte der Neuen Phänomenologie können sie zeigen, dass das Phänomen des Zeitgeistes mit Hermann Schmitz’ Begriff der Situation beschrieben werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass es Unterschiede zwischen räumlicher und zeitlicher Situation und der jeweiligen Wirkung auf die Disposition des Individuums gibt. Mit Yuho Hisayamas Text Individuum und Atmosphäre. Überlegungen zum Distanzproblem am Beispiel des japanischen Wortes kûki wird eine Erweiterung der phänomenologischen Perspektive hin zur japanischen Philosophie unternommen. In seinem Beitrag untersucht der Autor, inwiefern kûki ein atmosphärisches Phänomen ist, dem sich die Betroffenen kaum entziehen können. Ausgangspunkt seiner Untersuchung sind drei Konnotationen, die mit der Verwendung des Begriffs im Japanischen verbunden sind. Toru Tani geht in seinem Beitrag Übertragung und Medium von Michel Henrys Theorie der Affektivität als Immanenz aus und kontrastiert sie mit der Philosophie von Megumi Sakabe, um die bei Henry zu scharfe Trennung zwischen der Immanenz und der Transzendenz zu problematisieren. Dazu legt er den japanischen Begriff »utsushi« zugrunde und zeigt auf, wie das Gefühl als ein fundamentales Phänomen des »Übergangs« und der »Spiegelung« verstanden werden kann. Dabei deutet er die linguistische These von Émile Benveniste über das Personalpronomen räumlich aus und greift auf Husserls Theorie von Gefühl und Akt zurück. Er kann so den ursprünglichen zwischenpersönlichen 13 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

Ort freilegen, der sich in der wechselseitigen Übertragung des Gefühls öffnet. Thilo Billmeier setzt sich in seinem Beitrag Ursprüngliches Sicherleiden. Negativität in der Theorie absoluter Affektivität mit Rolf Kühns Theorie des Fühlens auseinander, die an die von Michel Henry entwickelte lebensphänomenologische Lehre vom Leben als absoluter Affektivität anknüpft. In der Lebensphänomenologie Henrys und ihrer Aneignung durch Rolf Kühn kommt dem Phänomen der Last, genauer jener Erfahrung von Unausweichlichkeit, die Henry das Sichselbsterleiden nennt, eine Schlüsselstellung zu. Wie der Geworfenheit und Befindlichkeit in der existenzialen Hermeneutik als Komplementärstruktur Entwurf und Verstehen gegenüberstehen, soll in der Theorie absoluter Affektivität dem Gefühl der Last ein entgegengesetztes Gefühl der Freude zugehören. Die Schwierigkeiten, die sich mit dem Projekt dieser Zusammengehörigkeit von Last und Freude verbinden, sind außerordentlich perspektivenreich und werden an Kühns Interpretation in Macht der Gefühle entwickelt sowie anschließend in den systematischen Zusammenhang der lebensphänomenologischen Gefühlslehre zurückgestellt. Corinna Lagemann geht in ihrem Text Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit und Lebenswelt bei Heidegger der Bedeutung der Gefühle für Lebenswelt und existenziale Räumlichkeit nach. Dabei wird die Lebenswelt als dynamisches Gefüge von affektiv gefärbten Verweisungen und Bedeutsamkeiten verstanden, die eine spezifische Räumlichkeit besitzt, welche sich infolge von gefühlsmäßigen Widerfahrnissen stets verschiebt und neu ordnet. In diesem Zusammenhang kommen der Heideggerschen Grundbefindlichkeit der Angst sowie dem von ihr abkünftigen Modus der Furcht und ihren je eigenen Räumlichkeiten eine besondere Rolle zu, ebenso dem strukturierenden und dem Dasein immer schon zugrundeliegenden Moment der Sorge, welches die Bezüge und Verweisungen allererst herstellt. Die Konzeption Heideggers wird als einflussreiche Theorie in Abgrenzung vom traditionellen Innenwelt-Paradigma gewürdigt, gleichzeitig werden Schwachstellen des Ansatzes benannt und anschließende Forschungsansätze in den Blick genommen. 14 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

Anja Kathrin Hild geht in ihrem Beitrag Der Erscheinungsraum der Person. Eine Annäherung mit Hannah Arendt der Frage nach, wie der Raum zu verstehen ist, der bei Arendt Ermöglichungsbedingung für das Erscheinen der Person ist. Der Erscheinungsraum der Person, der bei Arendt vor allem ein politischer Raum ist, wird hier als Kreuzung aus einem Raum praktischen Wissens und dem persönlichen affektiven Möglichkeitsraum verstanden. Annika Schlitte arbeitet in ihrem Beitrag Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel den Raumbezug des Erhabenen heraus und klärt seinen Status als Gefühl. Sie geht von Kants Kritik der Urteilskraft aus und setzt sie ins Verhältnis zu Georg Simmels Thematisierung des Erhabenen, um anschließend zu einer neuen, phänomenologisch orientierten Position zu kommen. Nina Trčka untersucht in ihrem Text Sinn für das Maßlose, ausgehend von Kants Charakteristik in der Kritik der Urteilskraft, die leiblichen Quellen für das mathematisch Erhabene und vergleicht es mit dem horror vacui, der Weiteangst. Sie zeigt, dass bei der ästhetischen Erfahrung des mathematisch Erhabenen ein spielerisches und kontrolliertes ›Kippen‹ in primitivere leibliche Raumformen geschieht, das genossen werden kann – wohingegen dieses Umkippen ohne Steuerbarkeit von der Person als horror vacui (Weiteangst) erlebt wird. Der ästhetische Genuss hat dabei seine Quelle in der Kontrolle des Zerfalls leiblicher Ganzheit, welche mit dem Kippen in primitivere Raumformen einhergeht. Der Genießende spielt dabei mit einer latent im Leibe vorhandenen Angst. Anne Eusterschulte lotet in ihrem Beitrag Schwindel. Essayistische Annäherung an existentielle Haltlosigkeiten den Spielraum aus zwischen Schwindel als Gefühlszustand und als Erkenntnisweise bzw. Erkenntniskritik. Sie entfaltet eine Poetologie des Schwindels als Raum literarischer Imagination. Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers stellen in ihrem Text Aisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vorstellungsraums der modernen Raumauffassung eine andere, leiblich fundierte »Raum-wahr-nehmung« entgegen. Sie untersuchen zunächst die Gegensätzlichkeit sowie die wechselseitige Durch15 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

dringung des mathematischen Vorstellungsraums und des sinnlich erlebten Raums. Sie zeigen kritisch die Veränderungen auf, welche aus der Gestaltung der Umwelt nach dem Muster des mathematischen respektive technischen Raums resultieren. Denn durch den technischen Fortschritt entstehen Räume in unserer Lebenswelt, die den Charakter des mathematischen Vorstellungsraums aufweisen und dadurch die subjektive Verbindung mit und Anbindung an bestimmte Orte erschweren bzw. das Wesen des Ortes ausschließen. Sie erarbeiten dabei ein Verständnis des Ortes, bei dem die (emotionale) Bindung des Menschen an diesen als Beseelung des Raums eine zentrale Rolle spielt. Thorsten Streubels Beitrag Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle. Zur Räumlichkeit von Gefühlen und ihrem Erleben geht systematisch den anthropologischen Voraussetzungen der Räumlichkeit von Gefühlen nach. Streubel zeigt auf, dass Emotionstheorien abhängig von ihren fundamentalanthropologischen Fundierungen sind. In ihrem Beitrag Zur Spürbarkeit von Architektur. Das Beispiel der (neuen) Goethe-Universität in Frankfurt am Main untersuchen Jürgen Hasse und Oliver Müller auf der Basis empirischer Erhebungen die Wirkung moderner Universitätsarchitektur. Am Beispiel des neuen Campus der Goethe-Universität Frankfurt am Main zeigen die Autoren, wie gesellschaftlich-symbolische Wahrnehmung und sinnlich-leibliches Erleben von Bauwerken sich durchdringen, divergieren oder harmonieren können. Uta Ewald analysiert in ihrem Aufsatz Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns die leibliche Kommunikation zwischen kletternder und sichernder Person. Sie zeigt, welche Einflüsse die ortsräumliche Gestaltung von Kletterhallen sowie der Eventcharakter des Hallenkletterns auf die leibliche Interaktion des Kletterteams haben und welche Konsequenzen sich daraus für die Sicherheit der kletternden Person ergeben. Robert Josef Kozljanič geht in seinem Text Leben, Wohnen, Fühlen. Von der beheimatenden Funktion ›herzerwärmender‹ Orte dem Phänomen der affektiven Bezogenheit auf bestimmte Orte und den damit verbundenen Resonanzphänomenen nach. Ausgehend 16 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Einleitung

von der Frage, wie man urbane Räume, Wohn- und Arbeitsflächen so gestalten kann, dass den Bedürfnissen der Menschen nach Wohnlichkeit und ›Heimeligkeit‹ Rechnung getragen wird, entwickelt er in Anlehnung an Heidegger und Bachelard ein Konzept des ›herzerwärmenden‹ Ortes als einer spezifischen Räumlichkeit, die dem menschlichen Erleben angemessen ist. Dieses Konzept erweitert das Verständnis des anthropologischen Raums (Augé), denn während dieser noch dem geometrischen Raum verhaftet ist, bezieht der ›herzerwärmende‹ Ort seinen Gehalt aus seiner affektiven Qualität: Aus dem, woran das Herz hängt – und hat darüber hinaus einen starken zeitlichen Aspekt: Der ›herzerwärmende‹ Ort ist deshalb affektiv bedeutsam und beheimatend, weil er historisch (ans Herz) gewachsen ist. Gerhard Danzer beschreibt in seinem Beitrag Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen aus medizinischer Perspektive das komplexe Zusammenspiel von Innen- und Außenräumen in der medizinischen Praxis. Anhand von Stationen eines Menschenlebens mit all seinen gesundheitlichen Wechselfällen geht er dem räumlichen Erleben des Individuums nach. In Anlehnung an Bachelard unternimmt Danzer eine Topo-Analyse im Bereich der medizinischen Räume. Dabei untersucht er das vielschichtige Wechselverhältnis zwischen Innen- und Außenräumen und die Bedeutung des affektiven Bezogenseins auf die (oftmals sterile, unzugängliche) Umgebung sowie Einflussgrößen wie etwa Privatsphäre (z. B. im Geburts- und Sterbeprozess), Kommunikation zwischen Arzt und Patient im Sprechzimmer sowie die Entfremdung des Patienten von seinem persönlichen ›Innenraum‹ im Labor, wenn das Unsichtbare öffentlich wird. Darüber hinaus geht er auf das besondere Raumerleben des psychotischen Menschen und die gewandelte Rolle der psychiatrischen Einrichtung als Schutzraum ein. Michael Großheim, Anja Kathrin Hild, Corinna Lagemann, Nina Trčka

17 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Hermann Schmitz

Von der Scham zum Neid

Zorn und Scham sind zwei als polare Gegenstücke zusammengehörige Gefühle. Ich lege meine phänomenologische Auffassung des Gefühls zu Grunde. Phänomenologie ist der Versuch, das Denken für die unwillkürliche Lebenserfahrung begriffsfähig zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgemacht haben. Zu den ältesten Konstruktionen, die die Phänomenologie bei der Suche nach der unwillkürlichen Lebenserfahrung wegräumen muss, gehört die Einschließung des gesamten Erlebens eines Bewussthabers in eine gegen die Außenwelt abgeschlossene private Innenwelt, genannt »Seele« oder »Bewusstsein«. 1 Wenn dieser Bann gebrochen ist, erweisen sich die Gefühle als räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte. 2 Der Leib, durch den die Gefühle ergreifen, ist nicht der sicht- und tastbare Körper, sondern der ohne Beistand der fünf Sinne gespürte Leib, dessen Dynamik ihn in der leiblichen Kommunikation, Wahrnehmung und alle Kontakte stiftend, 1 Vgl. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 3. Auflage Freiburg 2012, S. 29–45; ebenfalls Schmitz: Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 24–53, S. 113 f. 2 Diese Auffassung vom Gefühl habe ich seit 1969 (System der Philosophie, Bd. III, Teil 2: Der Gefühlsraum, in Studienausgabe 2005) vielfältig vertreten; aus letzter Zeit: Schmitz, Hermann: Gefühle als Atmosphären, in: S. Debus/ R. Posner (Hg.), Atmosphären im Alltag, Bonn 2007, S. 260–280; Schmitz, Hermann: Entseelung der Gefühle, in: ders., Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 145–164, vgl. S. 131–201 Raum und Gefühl; dort S. 181–201 über Zorn und Scham; ders.: Atmosphäre und Gefühl – für eine neue Phänomenologie, in: Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 33–56; ders.: Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 49–59.

19 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Hermann Schmitz

übergreift. 3 Eine Atmosphäre im hier gemeinten Sinn ist die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Flächenlos sind außer dem Raum des Leibes und dem Raum der Gefühle als Atmosphären z. B. der Raum des Schalls, der Raum der einprägsamen Stille, der Raum des auftreffenden (nicht als bewegte Luft verdinglichten) Windes, der Raum des Wetters, der Raum des unauffälligen Rückfeldes, der Raum des Wassers für den Schwimmer, der sich ohne optische Vergegenwärtigung vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt. Gefühle sind Halbdinge wie die Stimme (eines Menschen oder Tieres), der Wind, die reißende Schwere (wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt), Melodien oder Probleme, die man nicht los wird, der wiederkehrende Schmerz, die in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich aufdringliche Zeit; sie unterscheiden sich von Dingen im Vollsinn (Volldingen) durch unterbrechbare Dauer und unmittelbare Kausalität (d. h. solche, in der Ursache und Einwirkung dem Effekt gegenüber zusammenfallen). Zorn und Scham sind thematisch zentrierte Gefühle. Solche werden, namentlich in der philosophischen Literatur, als intentionale oder auf einen Gegenstand abzielende bezeichnet, doch ist die Rede vom Gegenstand eines Gefühls zu undifferenziert, da das Thema, um das die Atmosphäre eines Gefühls zentriert sein kann, in vielen, wenn auch nicht allen, Fällen in zwei Glieder gegabelt ist, in Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich. Nach Metzger, der sich aber auf optische Gestalten beschränkt, ist Verankerungspunkt einer Gestalt die Stelle, von wo sie sich anschaulich aufbaut, beim Blatt der Ansatz am Stiel, Verdichtungsbereich dagegen der Bereich, in dem sich ihre Eigenart prägnant verdichtet, beim Blatt der gezackte Umriss. 4 Ich habe diese Begriffe auf Gefühle übertragen, wo sie aber, anders als bei Metzger, nicht nur zusammen brauchbar sind. Freude kann z. B. Freu3

Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin 2011, S. 1–53; S. 89–96: Leib und Gefühl. 4 Metzger, Wolfgang: Psychologie, 5. Auflage Darmstadt 1975, S. 178–180, S. 181–185.

20 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Von der Scham zum Neid

de an etwas (z. B. einer schönen Landschaft, Verdichtungsbereich) ohne Freude über etwas sein, oder Freude über etwas (z. B. ein mit Mühe und Not bestandenes Examen, Verankerungspunkt) ohne Freude an etwas, oder Freude an und über etwas (z. B. ein mit Glanz durchgemachtes und bestandenes Examen), oder gegenstandslose Freude. Mit leiblicher Angst ergreifende Bangigkeit wird zu Grauen, wenn sie schon einen Verdichtungsbereich hat, dem aber der Verankerungspunkt noch fehlt; sobald dieser hinzutritt, konsolidiert sich das Grauen zur gesättigten Furcht, z. B. zur Furcht vor dem potentiellen Mörder (Verdichtungsbereich) wegen der Aussicht auf den Tod (Verankerungspunkt). Die Präposition könnte an ein bloßes Kausalverhältnis denken lassen, aber dann müsste der Tod als der eigentlich gefürchtete Effekt im Vordergrund stehen, während die Furcht bei Konfrontation mit dem lebensgefährlichen Angreifer in erster Linie diesem, dem potentiellen Mörder, gilt. Zorn und Scham sind zentrierte Gefühle, die nur ergreifen können, wenn beide Stellen des Zentrums, Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt, besetzt sind. Verdichtungsbereich des Zorns ist der, auf den man zornig ist, Verankerungspunkt das, worüber man zürnt. Verdichtungsbereich der Scham ist der beschämende Umstand, Verankerungspunkt der Beschämte, zu unterscheiden von dem, der sich schämt, denn es kann sein, dass einer sich beschämend benimmt, also der Beschämte ist, ohne sich zu schämen, während die Umstehenden peinlich berührt sind. An der Unterscheidung von Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt lassen Zorn und Scham sich auf Übereinstimmung und Gegensatz vergleichen. Beide sind kathartische Gefühle, die durch eine Störung, die ihr Verankerungspunkt ist, eintreten und darauf drängen, sich durch einen Angriff, der die Störung kompensiert, an ihrem Verdichtungsbereich auszulassen und dadurch aufzuheben. Diese eigentümliche Drehform fehlt bei der Furcht, die auch darauf aus ist, sich auszulassen und dadurch aufzuheben, aber diese Katharsis wendet sich nicht auf den Verdichtungsbereich, etwa den potentiellen Mörder, zurück, sondern strebt von ihm weg oder über ihn (»über seine Leiche«) hinaus ins Freie. Gemeinsam sind Zorn und Scham die ursprünglichen Unrechtserfahrungen, 21 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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aus denen sich das Recht bildet. 5 Derselbe Sachverhalt, als eigenes Unrecht verstanden, wird Verankerungspunkt der Scham, als Unrecht Anderer verstanden. Verankerungspunkt des Zorns: Zorn ist eine explosive, allseitig zentrifugale Erregung, die sich nur nach vorne wendet, wenn sie die Gegner vor sich hat; Scham ist eine implosive, allseitig zentripetale Erregung, wie die Bangnis im nächtlichen Wald. Zorn aktiviert mit Dominanzanspruch; Scham passiviert mit Unterwerfungsdruck und lähmt. Zorn steigert sich zum Gipfel einer terminalen Aktion, der ein jähes Verebben folgt, in dem die von ihm heftig angefachte leibliche Spannung erschlafft; er gleicht damit dem Geschlechtsakt, dem der Racheakt entspricht. Scham dagegen fixiert den Beschämten, der sich schämt, durch zentripetalen Rückschlag ihrer Atmosphäre gegen das Abprallen einer von diesem ausgehenden Initiative an einer Zurückweisung. Dieser Umschlag spielt sich im Richtungsraum ab. Die gewöhnliche Raumvorstellung, geleitet von Geometrie und Naturwissenschaft, orientiert sich an dem dreidimensionalen Ortsraum, der über umkehrbaren Verbindungsbahnen zwischen Blickzielen konstruiert wird, indem an diesen Bahnen Lagen und Abstände abgelesen und über diesen relative Orte eingeführt werden, die sich durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte gegenseitig bestimmen, d. h. identifizierbar machen. Ich habe nachgewiesen, dass dieser Ortsraum zur zirkelfreien Einführung des Schöpfens aus tieferen, dem spürbaren Leib und der leiblichen Kommunikation verwandten Schichten der Räumlichkeit bedarf. 6 Die nächste Schicht ist der Richtungsraum, die Domäne aller flüs5

Schmitz, Hermann: Der Rechtsraum (= System der Philosophie, Bd. III, Teil 3), Bonn 1973, in Studienausgabe 2005, darin S. 20–47: Die Gefühlsbasis des Rechts: Die Hauptgefühle (Zorn und Scham), S. 105–110: Rechtskulturen des Zorns und der Scham; entsprechend: Das Reich der Normen, S. 60–68, S. 91– 97. 6 Dazu und zu meiner Lehre vom Raum überhaupt nenne ich an neueren Darstellungen: Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005, S. 186–204: Der erlebte und der gedachte Raum; Schmitz: Jenseits des Naturalismus, S. 132–144: Raumformen und Raumfüllung; Schmitz: Der Leib, S. 121– 128: Leib und Raum; Schmitz: Atmosphärische Räume, in: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.), Atmosphären II, München 2012, S. 17–30.

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sigen Motorik, die im Ortsraum, wenn man sich bei jedem Schritt an Lagen und Abstände relativer Orte halten müsste, unmöglich wäre. Im Richtungsraum gibt es keine Orte, wo etwas ist, statt dessen aber in leiblicher Kommunikation in einander greifende unumkehrbare Richtungen, teils leibliche des Blickes und des mit ihm zusammen geschalteten motorischen Körperschemas 7, teils Bewegungssuggestionen – Vorzeichnungen möglicher oder bevorstehender Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten oder Bewegungen, immer über das Ausmaß der ausgeführten Bewegung hinaus und in den spürbaren Leib übernehmbar –, an denen die reagierende Eigenbewegung im Umgang leiblicher Kommunikation Maß nimmt. Darüber hinaus gibt es im Richtungsraum die abgründigen, gleichfalls unumkehrbaren Richtungen, die ohne angebbare Quelle über den Leib kommen, wie die Richtungen der reißenden Schwere und der gerichteten Gefühle, etwa der Sehnsucht, der Bangnis oder des Zorns, der wie ein Blitz einschlägt oder im Leib spürbar aufsteigt und nicht nur diesen, sondern den Zürnenden selbst mit einem Impuls mitreißt, dem dieser anfangs, ehe er sich sammeln und mit Preisgabe oder Widerstand Stellung nehmen kann, den eigenen Impuls einordnen muss. Scham entsteht, wenn eine ausgreifende Initiative oder Provokation an einer Mauer der Zurückhaltung abprallt und dadurch eine ihrer Expansion entgegen gesetzte Atmosphäre des Gefühls weckt, in der abgründig einstrahlende Richtungen dominieren. Der so von durchbohrender Scham in Gestalt zentripetaler Vektoren des Gefühls ergriffene Leib kann seine eigenen, zentrifugal aus der Enge in die Weite führenden Richtungen, wie die des Blickes, nicht gegen das Übergewicht der Scham behaupten; er sinkt zusammen, als ob er sich in sich verkriechen wollte. Kramer fand dafür in den Akten der Stadt Höchstadt an der Aisch aus dem Jahr 1697 die bezeichnende Wendung »sich in sein Lungen und Ingeweid hinein schämen.« 8 Der expansive Impuls »Weg!« ist der 7

Zum motorischen Körperschema: Schmitz: Der Leib, S. 21–23. Kramer, Karl-Sigismund: Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg (1500–1800). Eine Volkskunde auf Grund archivarischer Quellen, Würzburg 1967, S. 195.

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Scham mit der Angst und dem Schmerz gemeinsam, aber während er sich bei diesen wenigstens symbolisch im Schrei entladen kann, ist das »Weg!« der Scham aussichtslos, da es gerade dahin zielt, wo man schon ist, »in sein Lungen und Ingeweid«. Der Beschämte kann nicht mehr aufrecht stehen und geradeaus sehen; er senkt den Blick vor den seine expansive Tendenz erstickenden Richtungen des Gefühls, die gegebenenfalls durch beschämend auf ihn gerichtete Blicke und zeigende Finger übertragen werden. Die Übertragungsleistung wird an den von allen Seiten zeigenden Fingern dadurch deutlich, dass der beschämende Effekt verschwindet oder in einen komischen umschlägt, wenn die Finger ihr Ziel berühren. Sie sind also nur Träger und Versinnlicher von über sie und ihre eigene Bewegung hinausgehenden Bewegungssuggestionen des ergreifenden Gefühls. Die Scham ist also gleichsam die unglückliche Schwester des Zorns, dessen kathartischer Impuls, wenn nichts ihn hemmt, sich im Racheakt frei entladen kann, während der kathartische Impuls der Scham sich selbst vereitelt und keinen Ausweg zulässt als den der Selbstvernichtung durch Einstimmen in den Chor der zentripetal durchbohrenden Erregung mit dem Dolch des Harakiri oder des mentalen Harakiri der Penthesilea Kleists. Dem von Scham Ergriffenen bleibt nicht einmal die Souveränität des Richters über sich selbst; sein sich herabsetzendes Urteil über sich ist nur abgenötigte Zustimmung zu der vom Gefühl über ihn verhängten Demütigung. Das zeigt sich an dem verschiedenen Sinn des Reflexivpronomens »sich« bei Anwendung auf Zorn und Scham. Soweit man sich selbst überhaupt zürnen kann – etwa im Rückblick wegen einer Dummheit, mit der man sich selbst ein Bein gestellt hat –, hat das Pronomen den aktiven Sinn, sich etwas anzutun; in der Wendung »sich schämen« ist es dagegen rein medial gebraucht, wie beim Sich-ärgern und Sich-fürchten, und signalisiert: Ich stecke in der Scham, muss mich ihr fügen, mich beugen lassen. Da die Scham sich selbst ihre Katharsis vereitelt, indem sie dem Beschämten bloß den Weg der ihn paradox fixierenden Flucht in sich zurücklässt, bleibt diesem kein Ausweg ins Freie als der Versuch einer Konversion der Scham, tunlichst in einen 24 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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anderen Affekt. Dafür bietet sich zunächst der Zorn an, der glücklichere Bruder der Scham. In der Tat gibt es die Möglichkeit, Scham in Zorn umzuwechseln und dadurch abzulösen. Das deutlichste Beispiel dafür ist die früher weit verbreitete Duellsitte der höheren Stände. Wer eine Beleidigung auf sich sitzen ließ, galt als Feigling, dem der Mut zur Retorsion fehle, und Feigheit als das schlimmste Stigma der Beschämung. Diese aber konnte man abwenden durch die Geste des Zorns, den Beleidiger zum Kampf auf Leben und Tod herauszufordern und ihm bei dieser Gelegenheit das Risiko zuzuschieben, selbst als Feigling entlarvt zu werden, wenn er zurückzuckte. Wie auch das Duell ausging, die Ehre war gerettet und die Beschämung gemieden oder geheilt. Der forcierte Aufwand für den schlagkräftigen Schutz der Ehre, der die abendländische Geschichte durchzieht und besonders bei Germanen und Beduinen auffällt, ist die wachsame Befestigung des Fluchtweges aus der Scham in den rächenden Zorn 9, dem sich bis heute viele Benachteiligte anschließen, die Scham über ihre Lage in laute Empörung verwandeln. Aber das gelingt nicht immer, sei es, dass die Kräfte (oder der Mut) nicht reichen oder das Forum fehlt, auf dem man für seine laute Empörung Gehör fände. Dann bietet sich eine andere Konversion der Scham an, die zum Neid. Ich habe die Scham als Rückschlag einer abgründig ergreifenden Atmosphäre des Gefühls auf das Abprallen einer Initiative gedeutet und diese Auffassung eben wiederholt. Nun hat die früh verstorbene Anna Blume in ihrer schönen Dissertation diese Deutung als zu kurz gegriffen angefochten und mir Beispiele heftiger Scham entgegengehalten, an denen ihrer Meinung nach gar keine Initiative des anschließend Beschämten beteiligt ist, vielmehr gerade dessen Passivität ihn in die Scham stürzt. 10 Diese Beispielliste soll mir nun als Sprungbrett für den Übergang von der Scham zum Neid dienen, nämlich als Wegweisung zu derjenigen Form von Scham, die solche Konversien gestattet. Dabei will ich meine 9

Schmitz: Der Rechtsraum, S. 48–54: Die Verletzung der Ehre. Blume, Anna: Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz, Freiburg/München 2003, S. 94–108: Darstellung und Diskussion der Schmitz’schen These.

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ältere Bestimmung der Scham durch eine Erweiterung des Begriffs der Initiative verteidigen und weiterführen. Ich lasse als Initiative nun auch den latenten Geltungsanspruch gelten, der in der Verfolgung des sogenannten Ichideals oder Leitbildes der eigenen Person besteht, also dessen, worauf jemand aus ist, weil er sich dazu bestimmt oder dafür bestimmt hält, als ganze Person so zu sein. Man könnte auch von einem Ideal der Selbstverwirklichung sprechen. Dabei handelt es sich weniger um ein explizites Programm als um das, was ich als eine partielle prospektive Situation in der zuständlichen persönlichen Situation oder Persönlichkeit des Betreffenden beschrieben habe. 11 Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und mehr oder weniger abgehoben wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, wenn nicht alle Bedeutungen in ihr einzeln sind. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Eine Situation ist zuständlich, wenn sie sich sinnvoll erst nach längeren Fristen auf Veränderungen prüfen lässt. Die persönliche Situation bildet sich im Zug der personalen Emanzipation 12, wenn durch Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen ein Bereich des Fremden etabliert wird, dem Eigenes als persönliche Eigenwelt gegenüberstehen kann. In der persönlichen Eigenwelt, zu der alles gehört, woran die Person in Zu- oder Abneigung, Abwehr oder Zugriff gleichsam »hängt«, bildet sich lebenslang eine persönliche Situation aus und um, zu der in der persönlichen Eigenwelt gehört, was die Person sich und nicht anderem zulegt. In der persönlichen Situation gleiten und reiben sich, wie zähflüssige Massen, viele partielle Situationen, darunter prospektive, die vorzeichnen, worauf die Person aus ist und wovon sie weg will. Sie sind ihr nicht ohne Weiteres zugänglich. Von dieser Art ist das persönliche Leitbild oder Ichideal. 11

Zur persönlichen Situation vgl. Schmitz, Hermann: Die Person (= System der Philosophie, Bd. IV), Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; ebenfalls Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Schmitz: Bewusstsein, S. 99–109. 12 Schmitz: Das Reich der Normen, S. 18–23.

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Die Fälle vermeintlich bloß passiv, ohne Eigeninitiative, widerfahrender Scham, die Anna Blume mir entgegenhält, sind meines Erachtens solche, in denen die Initiative in dem in der Persönlichkeit enthaltenen Anspruch steckt, dem Ichideal zu genügen; indem dieser Anspruch in auffälliger Weise durchkreuzt und niedergeschlagen wird, prallt er an den Umständen ab, und es entsteht die für Scham von mir beschriebene Situation. Um diese These zu rechtfertigen, will ich die von Blume ausgeführten Beispiele unter 8 Titeln durchnehmen, ohne ins Einzelne zu gehen. 1. Scham auf Grund sozialer Minderwertigkeitskomplexe. 13 2. Scham dessen, über den sich Andere lustig machen, ihn verhöhnen, seine Gedanken ausplaudern. 3. Scham einer Frau, deren körperliche Formen von anderen öffentlich kommentiert werden. 4. Scham, körperlich, dadurch animalisch bedürftig und unbeeinflussbaren Veränderungen ausgesetzt zu sein. 5. Scham, von anderen entblößt zu werden. Bei 3–5 handelt es sich meines Erachtens um die AugustinusScham, den eigenen Körper nicht beherrschen und daher der vom Ichideal geforderten Meisterschaft nicht genügen zu können; im Fall 3 übernimmt der Körper die Provokation, die die Frau sich vorbehalten oder einbehalten möchte. 14 6. Scham, einem Mensch in der Not nicht geholfen zu haben 7. Scham, als KZ-Häftling ohnmächtiger Zeuge einer Misshandlung zu sein. 8. Scham weiblicher Opfer sexueller Misshandlung, besonders dann, wenn sie dabei ungewollt in sexuelle Erregung geraten sind. In allen diesen Fällen handelt es sich meines Erachtens darum, dass die Beschämten, die sich schämen, sich etwas vergeben oder etwas erlitten haben, das sie ihrem Ichideal gegenüber herabsetzt. Diese Fälle, in denen die einen Rückschlag der Atmosphäre 13

Beispiele (Hekabe nach Euripides und Anton Reiser) nach Schmitz: Der Rechtsraum, S. 37. 14 Zu Augustinus vgl. Schmitz, Hermann: Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. II, Freiburg 2007, S. 36–38.

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provozierende scheiternde Initiative auf den latenten Anspruch, dem eigenen Ichideal zu genügen, und auf dessen Scheitern an einer Unzulänglichkeit beschränkt ist, sind geeignet, die Brücke von der Scham zum Neid zu schlagen. Neid ist, nach der Definition in Grimms Deutschem Wörterbuch 15, »jene gehässige und innerlich quälende Gesinnung, das Missvergnügen, mit dem man die Wohlfahrt und die Vorzüge anderer wahrnimmt, sie ihnen missgönnt mit dem meist hinzukommenden Wunsche, sie vernichten oder selbst besitzen zu können.« Selbstquälerei steht im Allgemeinen im Dienst der Beseitigung oder Kompensation eines eigenen Mangels; hier aber heftet sie sich an Wohlfahrt oder Vorzüge Anderer, also ohne die Selbstdienlichkeit, die ihr sonst Sinn verleiht, und wirkt im Neid daher sinnlos. Dieser Schein von Sinnlosigkeit schwindet, wenn man die Funktion des Neides in der Aufgabe erkennt, von der Ausweglosigkeit einer Scham abzulenken. Es handelt sich um die Scham, ganz oder teilweise hinter dem eigenen Ichideal zurückzubleiben, sofern diese Scham ausgelöst wird durch die Anwesenheit eines Anderen oder einer Gruppe Anderer, von dem oder der dem Beschämten aufdringlich die Ausfüllung der Lücke vorgehalten wird, deren Klaffen in seinem Ichideal ihn beschämt. Diese Auslösung von Scham durch das Vorhalten eines Vorzugs, den er selbst erreichen möchte, um sich gemäß seinem Leitbild bejahen zu können, aber nicht zu erreichen vermag, sucht der Neidische abzuwenden, indem er dem oder den Vorzüglichen seine (ihre) Vorzüge in Gedanken oder in der Tat abnimmt. Das kann auf zwei Weisen geschehen, entweder so, dass er sie herabsetzt oder schädigt, oder noch raffinierter so, dass er seinem Ichideal in der Form, wie er es bei den Beneideten verwirklicht sieht, untreu wird und umgekehrt seinen mangelhaften Zustand idealisiert, die Beneideten aber, gemessen an diesem neuen Ideal, entwertet. So verfuhren nach Nietzsches Deutung die Christen, als sie, die Zukurzgekommenen aus der Unterschicht, die von ihnen beneideten Aristokraten um deren großartigen, selbstbewussten Lebensstils willen als die hochmütigen, 15

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, München 1984, Bd. 13, Spalte 551.

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ausschweifenden, angriffslustigen Bösen denunzierten und dagegen ihren schlichten (schlechten) Lebensstil der kleinen Leute, die bescheiden, demütig, duldsam, leidbereit sind, als das Gute in Geltung setzten. 16 Scham wird Neid, wenn sie dem Vorbild der Verkörperung des schmerzlich ganz oder teilweise unerreichten Ichideals seinen sie weckenden Glanz zu nehmen trachtet, damit der Beschämte wenigstens vom akuten Druck seiner Scham entlastet wird, ohne freilich deren Stachel, seine Unzulänglichkeit, abschütteln zu können. Weil diese Abhilfe den verbleibenden Stachel des Ungenügens an sich selbst nur zudeckt, bleibt sie zwiespältig, und an diesem Zwiespalt krankt der Neid; daraus ergibt sich seine Verbissenheit, seine Verklemmtheit, sein Ungenügen an sich selbst, sein Nagen und Zehren. Neid ist Missgunst aus Scham. Diese neue Bestimmung seines Wesens, die nach Belieben als Definition oder als These gelesen werden kann, greift über die speziellen Formen scheinbar passiver Scham ohne Eigeninitiative auf so gut wie alle Gestalten Neid weckender Beschämung durch ein Vorbild, das dem Beschämten dessen schmerzlich gespürte Unzulänglichkeit vorhält, über, weil diese Beschämung immer als Verletzung des Ichideals verstanden werden kann. Die Triftigkeit dieser These erhellt sich an einem typischen Zug der Physiognomie des Neidischen, seinem eigentümlich schiefen oder »scheelen« Blick, mit dem er den Beneideten von der Seite her ansieht, statt ihm gerade und aufrecht in die Augen zu schauen. Die Überlieferung pointiert mit vielen Zeugnissen diese »Scheelsucht« des Neiders. 17 Der Beschämte senkt den Blick, weil dieser den (eventuell durch Umstehende vermittelten) Andrang der Atmosphäre nicht aushält; der Neider, halbwegs von seiner Scham entlastet, meidet den Blick nicht ganz, aber halbwegs, indem er nur verstohlen und zur Seite hin zu blicken wagt. Ein ganz besonderes charakteristisches Merkmal der 16

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral (Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«) (= Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 6), Hamburg 2013. 17 Haubl, Rolf: Neidisch sind immer nur die anderen, München 2009, S. 62–66 (mit Bildzeugnissen); Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Spalten 2487 und 2551 (Zeugnisse von Logau, Gryphius, Herder, Grillparzer).

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Scham ist ihre Uneingestandenheit: Weder sich noch gar Anderen möchte der Neider eingestehen, dass er neidisch ist. 18 Dadurch würde er zugleich seine Scham auf dem Grund des Neides sichtbar machen, und der Neid ist da, um diese zuzudecken. Der Neid befreit den Beschämten zwar aus seiner ausweglosen Fixierung durch die Scham, wirft deren Last aber nicht ganz ab, sondern verwandelt sie in ein Gift, das ihm auch sein Leben vergällt, wie die Reden von zehrendem, nagendem, fressendem Neid bezeugen, nebst den diese Selbstschädigung bezeugenden typischen Veranschaulichungen in den Bildern aus der Tradition. 19 Meine Auffassung des Neides als Abwehr einer Scham aus Versagen vor dem Ichideal steht der gewöhnlichen entgegen, der Max Scheler sich, sie – meines Erachtens abwegig – durch Konstruktion einer »Kausaltäuschung« des Neidischen ausspinnend, mit den Worten anschließt: »Neid im gewöhnlichen Wortsinne entspringt aus dem Ohnmachtsgefühl, das sich dem Streben nach einem Gute dadurch entgegenstellt, dass ein anderer es besitzt.« 20 Richtig sieht Scheler das »Ohnmachtsgefühl« im Neid, aber er deutet es zu flach, indem er es nur auf die Unerreichbarkeit irgend eines Gutes durch den Besitz eines Anderen bezieht, statt auf die Unerreichbarkeit des von einem Anderen ganz oder teilweise verkörperten Ichideals. Wer ein von ihm geschätztes Gut durch den Ausgang einer Wette oder auf andere Weise an einen Anderen verliert, wird den Verlust statt mit Neid mit bloßem Bedauern erleben, wenn er nicht seinen gesteigerten Ehrgeiz in das Ziel gesetzt hat, selbst der Gewinner (in dieser Sache oder überhaupt) zu sein; dann allerdings wird er auf den, der ihm diese Rolle abgenommen 18

Zeugnisse von Mandeville und Melville bei Haubl: Neidisch sind immer nur die anderen, S. 9 und 51. Ingrid Vendrell Ferran (Über den Neid. Eine phänomenologische Untersuchung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 43– 68) berichtet zwar von der Lebensbeichte eines Neidischen, bei der der Neid im Mittelpunkt steht, aber ihre Quelle ist eine fiktive Geschichte von Miguel de Unamuno, nicht aus dem Leben gegriffen. 19 Haubl: Neidisch sind immer nur die anderen, S. 115–122: Die Kehrseite: Selbstvergiftung und Selbstzerfleischung. 20 Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte (= Gesammelte Werke, Bd. 3), 5. Auflage Bern 1972, S. 44 (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen).

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hat, neidisch werden, weil nun der das verkörpert, was er selbst sein und haben müsste, um seinem Anspruch an sich selbst genügen zu können. Das beschämt; der Beschämte sucht sich seiner Scham zu entledigen, indem er den Anderen, der das hat, was er eigentlich selbst haben müsste, um vor sich bestehen zu können, von diesem Sitz am Ziel verdrängt, sei es durch die Tat oder durch Herabsetzung in Gedanken. Das ist der Neid. Eines Gutes, das der Andere besitzt, bedarf es dafür nicht; in der tiefsten, radikalsten Form des Neides, die Scheler »Existenzneid« nennt 21, genügt die bloße Person des Anderen, wenn sie sich mit dem Leitbild des Neiders so weit deckt, dass der Beneidete ihm dieses sozusagen stiehlt. Solchen Neid beschreibt Goethe in den Versen: Was klagst du über Feinde? Sollten solche je dir werden zu Freunden, Denen das Wesen, wie du bist, Im stillen ein ewiger Vorwurf ist? 22

Solche Neider werden auf Dauer zu Feinden mit unstillbarer Feindschaft, weil der Beneidete bloß dadurch, dass er da und er selbst in seinem ganzen Wesen ist, ihnen schmerzlich beschämend vorhält, was sie sein müssten, um sich selbst zu genügen, aber nicht zu sein vermögen. Nur wenn das Ideal, zwar in der Richtung des eigenen Anspruchs gelegen, diesem aber so hoch entrückt ist, dass es als ganz unerreichbar dem eigenen Streben sich entzieht, verliert der Neid, obwohl im Ansatz noch spürbar, seine feindselig zehrenden Züge und ordnet sich der rühmenden Bewunderung ein, wie im Trauergesang des Chores auf Lord Byron in Goethes Faust, Verse 9909–9914: Ach, wenn du dem Tag enteilest Wird kein Herz sich von dir trennen. Wüßten wir doch kaum zu klagen, Neidend singen wir dein Los; Dir in klar- und trüben Tagen Lied und Mut war schön und groß. 21

Ebd. S. 45. Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan (Buch der Sprüche), Leipzig 1953, S. 50.

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Der Neid macht Halt vor dem Unerreichbaren, weil er sich am eigenen Leitbild ausrichtet, das dem Neider vorgegeben ist als das, was er eigentlich erreichen können müsste und daher erreichen könnte, ohne es doch tatsächlich einholen zu können. In anderen Fällen ist der Neid nicht so radikal wie der Existenzneid, aber auch dann betrifft er nicht nur den äußerlichen Besitz eines Gutes, sondern einen Zug des eigenen Ichideals, hinter dem der Neider mit schmerzlicher Scham zurückbleibt. Das ist z. B. der Fall, wenn der Arme den Reichen beneidet. Dann sind die von diesem besessenen Güter eher Ziele sehnsüchtiger Wunschträume des Armen als der eigentliche Gegenstand des Neides. Dieser ist vielmehr das durch den Reichtum erworbene Prestige des Reichen, dessen Rang, zu dem sich der Benachteiligte durch sein Leitbild berufen fühlt: Er möchte »oben« sein. Deswegen wächst der Neid sogar noch mit der Annäherung des Neiders an das Niveau des Beneideten, beim Armen also, je näher er dem Reichtum kommt. Der ehrgeizige Autofahrer, der schon in der gehobenen Mittelklasse angekommen ist, wird den Millionär um dessen Ferrari oder Porsche lebhafter beneiden als der Student, der einen schäbigen Gebrauchtwagen führt. Schon Aristoteles unterstreicht mit Beispielen diese Steigerung des Neides bei Annäherung des Neiders an das Niveau des Beneideten. 23 In diesem Fall sind die Vorteile, die der Neider aus dem nur wenig größeren Besitz des Beneideten ziehen könnte, eher gering und daher keine erhebliche Triebkraft gesteigerten Neides; dagegen wird das Zurückbleiben hinter dem Leitbild, unübertroffen im Rang des Besitzers solcher Güter zu sein, umso schmerzlicher, je geringer der Abstand ist, den man dann doch nicht, obwohl es nur noch einen kleinen Sprung erfordern würde, zu überwinden vermag. Außer dem Neid gibt es für das Bestreben, die ausweglose Beschämung durch ein Vorbild, das die Lücke im Erreichen des eigenen Leitbildes aufdeckt, abzuwerfen, einen glatteren, von Zwiespalt freieren Ausweg, nämlich den Eifer, der das kränkende Vorbild als Ansporn nützt, es dem Rang nach einzuholen oder zu übertreffen. Diesen »guten«, agonalen Neid nannten die Griechen 23

Aristoteles: Rhetorik 1387 b 27–31, 1388 a 2–7.

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Zälos im Gegensatz zum echten, vergiftenden Neid, dem Phthonos. 24 Freilich steht die Option für den Zälos nur dem offen, der sich den nötigen Schwung und die nötige Kraft zutraut; insofern ist Neid schon ein Eingeständnis eigener Schwäche, weil nach Maßgabe der Selbsteinschätzung die schlechte, weniger befriedigende Lösung des Schamproblems gewählt wird. Es gibt aber auch ein Schwanken zwischen beiden Lösungen; Haubl berichtet es von einem »außerordentlich begabten jungen Chemiker«, von dem ihm ein Kollege, der diesen psychotherapeutisch behandelt, erzählt hat: »Alles muß er sofort und besser als andere können, andernfalls beginnt er zu wüten, was ihm unter seinen Mitarbeitern den Spitznamen ›Rumpelstilzchen‹ eingebracht hat. Oder er vergräbt sich tief beschämt in seine Unterlagen, bis er – was Tage dauern kann – wieder auftaucht und die anderen mit neuen Erkenntnissen verblüfft. […] Dadurch kann er seinen feindselig-schädigenden Neid befriedigen und das Bild von sich bewahren, unerreicht zu sein.« »Diese Gefühlsschwankungen machen ihn unberechenbar.« 25

Dieser Mann ist so stark auf sein Leitbild hinsichtlich des Zuges, intellektuell an der Spitze zu stehen, fixiert, dass ihn jedes Zurückbleiben tief beschämt. Der Fixierung auf den Neid entzieht er sich zunächst durch Abreagieren in diffuser Wut, einer Defektform des Zorns 26, in gründlicherer Nacharbeit aber durch Zälos, der die Scharte auswetzt. Die Unausgeglichenheit seiner Gefühlsschwankungen lässt aber vermuten, dass die prospektiven partiellen Situationen in seiner persönlichen Situation zu zwiespältig und unübersichtlich sind, um auf eine einfache Formel für sein Leitbild gebracht werden zu können.

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Aristoteles schreibt im 10. Kapitel des 2. Buches der Rhetorik über den Phthonos, im 11. Kapitel über den Zälos. 25 Haubl: Neidisch sind immer nur die anderen, S. 292. 26 Schmitz: Der Rechtsraum, S. 33 f.

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Hermann Schmitz

Literatur Aristoteles: Rhetorik (= Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4), übersetzt u. erläutert v. Christoph Rapp, Berlin 2002. Blume, Anna: Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz, Freiburg/München 2003. Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan, Leipzig 1953. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, München 1984. Haubl, Rolf: Neidisch sind immer nur die anderen, München 2009. Kramer, Karl-Sigismund: Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg (1500–1800). Eine Volkskunde auf Grund archivarischer Quellen, Würzburg 1967. Metzger, Wolfgang: Psychologie, 5. Auflage Darmstadt 1975. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral (= Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 6), Hamburg 2013. Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte (= Gesammelte Werke, Bd. 3), 5. Auflage Bern 1972. Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 1969 (Studienausgabe 2005). Ders.: Der Rechtsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 3), Bonn 1973 (Studienausgabe 2005). Ders.: Die Person (= System der Philosophie, Bd. IV), Bonn 1980 (Studienausgabe 2005). Ders.: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999. Ders.: Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005. Ders.: Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. II, Freiburg 2007. Ders.: Bewusstsein, Freiburg 2010. Ders.: Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010. Ders.: Der Leib, Berlin 2011. Ders.: Das Reich der Normen, Freiburg 2012. Ders.: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 3. Auflage Freiburg 2012. Ders.: Gefühle als Atmosphären, in: S. Debus/R. Posner (Hg.), Atmosphären im Alltag, Bonn 2007, S. 260–280. Ders.: Atmosphärische Räume, in: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.), Atmosphären II, München 2012, S. 17–30. Ders.: Atmosphäre und Gefühl – für eine neue Phänomenologie, in: Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 33–56. Vendrell Ferran, Ingrid: Über den Neid. Eine phänomenologische Untersuchung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 43–68.

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Steffen Kammler und Steffen Kluck

Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht 1.

Omnipräsenz und Vergessenheit

Betrachtet man die gegenwärtigen alltäglichen Diskussionen sowie große Teile der philosophischen Diskurse, so wird auffällig, wie einerseits die Rede häufig auf kollektive Phänomene kommt, andererseits aber deren theoretische Reflexion stark vernachlässigt erscheint. Nicht nur im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland ließ sich dies beobachten, sondern etwa auch aus Anlass des Ausbruchs des Eyjafjallajökull-Vulkans auf Island 2010. 1 Es gibt dann ein »Klima der Angst« im Angesicht von Bedrohungen oder eine »Atmosphäre des Misstrauens« an der Börse im Zuge von Finanzkrisen. 2 Niemand scheint am Zutreffen dieser deskriptiven Ausdrücke Zweifel zu haben. Aber andererseits – fragte man einmal konkret nach – wäre wohl kaum jemand dazu in der Lage, anzugeben, was das Klima oder die Atmosphäre sei, worin sie sich manifestierten usw. Dieser Umstand der nur geringen Reflexion – außerhalb phänomenologischer Überlegungen – auf die Konstitutionsbedingungen und Auswirkungen kollektiver Stimmungen, Atmosphären, 1

Vgl. dazu die beispielreiche linguistische Betrachtung in Metten, Thomas: Zur Analyse von Atmosphären in Diskursen. Eine diskurslinguistische Untersuchung kollektiver Befindlichkeiten am Beispiel des Vulkanausbruchs in Island, in: Zeitschrift für angewandte Linguistik 56 (2012), S. 33–66. 2 Vgl. viele Beispiele aus dem Umfeld von kollektiven Angstzuständen in: Trčka, Nina: Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 183–211.

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Steffen Kammler und Steffen Kluck

Befindlichkeiten auf Menschen hat allerdings nicht nur epistemische Engführungen zur Folge, sondern wird praktisch relevant. Hermann Schmitz hat in diesem Sinne vor den Gefahren der autistischen Verfehlung gewarnt. Es besteht, so seine Überlegung, die Möglichkeit, dass der Mensch im Interesse bestimmter phänomenfremder Intentionen wie Machtgewinn oder übersteigerter Autonomieansprüche dazu kommt, seine Eingebundenheit in ihn umgreifende kollektive Situationen zu vergessen: »Die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes besteht in der Zersetzung implantierender Situationen – des Nomos, der aus dem Hintergrund der gemeinsamen Situation die individuelle Lebensführung steuert, mit breitem Spielraum zur Auseinandersetzung – in Konstellationen einzelner, isolierter persönlicher Situationen.« 3

Konsequenzen dieser Verfehlung sind die »Einübung völliger Entsolidarisierung« und »Wurzellosigkeit des Menschen«. 4 Ohne im Einzelnen auf die komplexe und weit ausholende geistesgeschichtliche Herleitung der These durch Schmitz hier eingehen zu können, lässt sich die Grundintention seines Gedankens leicht nachvollziehen. Wenn der Mensch, wie die omnipräsenten deskriptiven Bezugnahmen auf kollektive Stimmungen nahelegen, durch ihn einbettende gemeinschaftliche Zustände mindestens en passant geprägt wird, führt sowohl das theoretische wie das praktische Vergessen dieses Umstandes zu Problemen: theoretisch ergeben sich inadäquate Modelle und Zugriffe, praktisch ein gestörtes oder doch gehindertes Sich-Einrichten in der Welt. Die geschilderten Konsequenzen sind mitnichten bloße Epiphänomene, wie zwei exemplarische Überlegungen verdeutlichen mögen. Einerseits nämlich bieten kollektive Einbettungen (die von Schmitz angesprochenen implantierenden Situationen) Orientierung und Sinnstiftung, also »Weisungen«. Martin Heidegger erläutert das Gemeinte in der ihm eigenen Terminologie so: »Das Leben findet, nimmt die Weisung auf, wächst in sie hinein, gibt sie sich selbst oder lebt in ihr, sofern die Weisung zusehends in Ver3 4

Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 55. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, S. 58, 62.

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lust gerät, aber dabei noch da ist. Das volle Leben, es je in einer Welt, kann in ausgeprägten Weisungen sich vollziehen. Mit der Ausprägung der Weisungen des Sorgens kommt es zur Abhebung je besonderer Sorgenswelten.« 5

Weisungen – verstanden als Orientierungsleistung – geben dem in sie hineinkommenden Individuum Arten vor, um was und in welcher Weise es sich zu sorgen, zu bemühen hat. Fällt eine solche Einbettung in wesentliche Richtungen aus, steht das Individuum vor der Gefahr der Überforderung. Man könnte, in Anlehnung an Wolfgang Blankenburg, vom Verlust der kulturellen Selbstverständlichkeit sprechen. Der Existentialismus und der Individualismus haben in der Moderne die Entbergung des Einzelnen aus implantierenden Situationen bestärkt, oft vehement gefordert, damit aber die Kehrseite dieser Entwicklung unterschätzt. Das Individuum muss nämlich die weggefallenen Weisungen kompensieren – mit der Gefahr, an dieser Aufgabe zu scheitern, also in Fragen des gelingenden Lebens keine Antwort zu finden. 6 Natürlich scheitern keineswegs alle Menschen, aber nur wenn man auf die sich aus der autistischen Verfehlung ergebenden Konsequenzen hinweist, ist der Mensch überhaupt dazu in der Lage, sich diesem Problemfeld bewusst zu stellen, statt blindlings in es hinein zu geraten. Zweitens besteht zudem die Möglichkeit, dass die Vergessenheit hinsichtlich implantierender Situationen den Menschen anfällig macht für Einflüsse, die die Unwissenheit ausnutzen. Der Mensch als ein Wesen, welches auch durch kollektive Gestimmtheiten eine Prägung erfährt, würde dann zum Spielball fremder Intentionen. Insbesondere im Umfeld politischer Bewegungen kommt diesem Motiv große Bedeutung zu, wenn man bedenkt, dass demagogische Figuren den Bereich des Atmosphärischen zu 5

Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (= Gesamtausgabe, Bd. 61), Frankfurt a. M. 1985, S. 94 [Hervorhebung im Original anders]. 6 Vgl. dazu die nicht-phänomenologischen, aber in der Sache relevanten Überlegungen bei Gehlen, Arnold: Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre (= Gesamtausgabe Bd. 4), Frankfurt a. M. 1983, S. 127–142, vor allem S. 132 f.

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Steffen Kammler und Steffen Kluck

besetzen vermögen. In gleicher Weise spielt die Vergessenheit für die Beeinflussung durch Werbung oder Medien eine wichtige Rolle. Auch hier scheint es geboten, eine Besinnung auf die Rolle gemeinschaftlicher Stimmungen oder Befindlichkeiten explizit zu machen, um dem Individuum die Chance zur reflexiven Auseinandersetzung im Interesse einer menschenmöglichen Autonomie zu geben. Mit den genannten Anmerkungen zur paradoxen Situation, dass einerseits sozial wirkmächtige Atmosphären das menschliche Leben prägen, sie andererseits aber im kulturreflexiven Diskurs wenig Beachtung finden, ist die Notwendigkeit einer Hinwendung erwiesen. Im Folgenden sollen deshalb exemplarisch zwei Faktoren beleuchtet werden, die für die kollektive Sphäre wichtig sind. Ziel ist es, aufzuzeigen, wie eine phänomenologische Annäherung Hinweise auf die Relevanz des einbettenden Kollektiven geben kann. Die beiden thematisierten Hinsichten sind so gewählt, dass sie wesentliche Bestimmungsaspekte aufgreifen, nämlich Zeit und Raum. Diese beiden Größen beeinflussen maßgeblich das kollektive Atmosphärische, ohne allerdings ganz im Atmosphären- oder Gefühlskonzept aufzugehen. So hat unter dem Label »Zeitgeist« die zeitliche Dimension kollektiver Situiertheit auch in jüngster Zeit eine gewisse Bekanntheit erlangt und wurde verschiedentlich thematisiert. Der räumlichen Dimension wurde zwar beispielsweise in den 1920er Jahren größere Aufmerksamkeit zuteil – am prominentesten wohl durch Willy Hellpachs Arbeit 7 –, doch spielte sie in der Geistesgeschichte immer eine nur untergeordnete Rolle. Im Folgenden werden wir uns deshalb der Frage widmen, inwiefern man phänomenologisch sinnvoll von dem Geist bzw. der Situation einer Zeit oder von charakteristischen Eigenarten (von Bewohnern) eines Landstriches sprechen kann. Dabei soll ausgehend von der Neuen Phänomenologie ein Beitrag zur Erhellung dieses komplexen Problemfeldes geliefert werden.

7

Hellpach, Willy: Geopsyche. Die Menschenseele unterm Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Leipzig 1939.

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Der Geist einer Zeit und eines Ortes

2.

Situationen als Boden zeitlich-geschichtlicher Gemeinsamkeit

Ausgang und Anhalt nehmen die Überlegungen zur zeitlichen Situiertheit von Kollektiven an einem durchaus etablierten philosophischen Terminus, nämlich dem Zeitgeist. Warum an diesem? Für die Inblicknahme dieses Konzeptes spricht, dass er über Jahrhunderte und durchaus in verschiedenen Kulturen zur Anwendung kam. Der sprachpraktische Rückgriff auf ihn lässt sich, im Anschluss an Otto Friedrich Bollnow, als ein Hinweis auf die empirische Tragfähigkeit deuten. 8 Wenn auch etliche Hintergrundannahmen – insbesondere metaphysischer Art – keine Zustimmung mehr finden können, so bleibt das deskriptive Vermögen des Begriffs doch bestehen. In ihrem Sich-Finden in der Welt erleben Menschen überindividuelle Mächte, die sie mindestens anfänglich determinieren und ihnen – hilfreich oder behindernd – zur Seite stehen. Mit dem Zeitgeist ist ein solches Vorkommnis benannt. Gelingt es an ihm, was im Folgenden zu leisten sein wird, die Verbindung zu Theoremen der Phänomenologie herzustellen, lässt dies die Vermutung begründet erscheinen, dass ähnliche Phänomene in gleicher Weise aufgeschlossen werden können. Der Zeitgeist-Begriff ist seit dem späten 18. Jahrhundert häufig anzutreffen. 9 Eine paradigmatische Definition lieferte Johann Gottfried Herder: »Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit bestimmten Ursachen und Wirkungen sich äußern.« 10 Besieht man die Aspekte, die Herder am Zeitgeist betont, fällt auf, dass hier offensichtlich mehr als nur vermeintlich rationale, epistemische Aspekte gemeint sind. Es geht nicht bloß um die Gemeinsamkeit des Wissens, der Erkenntnisse, sondern auch um eine Art emotional8

Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Die Ehrfurcht, Frankfurt a. M. 1958, S. 12–15. Vgl. dazu Konersmann, Ralf: Zeitgeist, in: Karlfried Gründer/Joachim Ritter/ Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Stuttgart 2005, Sp. 1266–1270. 10 Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität (= Herders Werke, Bd. 13), Berlin 1879, S. 72. 9

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affektive Verbundenheit. 11 Es handelt sich also um eine auf viele Weisen sich ausbildende Sphäre der Kollektivität, von der später Wilhelm Dilthey als Lebenshorizont 12 und Erich Rothacker als kulturellem Lebensstil 13 sprachen. Im Folgenden soll von diesen Dimensionen jedoch nur eine besondere beleuchtet werden. Der Zeitgeist wird allein als Situation in den Blick genommen werden. Ihm zu Grunde liegen allerdings vermutlich, nach der Theorie von Schmitz, kollektive leibliche Dispositionen. Diese wären dann gleichsam die bestimmende Grundtonart des als Melodie aufzufassenden Zeitgeistes. 14 Auf solche kollektiven, nicht-situativen leiblichen Dispositionen im Zusammenhang mit zeitlich bedingten Kollektiva wird hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. 15 Um verdeutlichen zu können, inwiefern man den Zeitgeist als einen Fall von spezifischer Gemeinsamkeit sozialer Verbände phänomenologisch verstehen kann, sollen einige Merkmale desselben herausgestellt werden. Es wird sich anschließend zeigen lassen, dass diese Bestimmungen identisch sind mit denen, die Schmitz Situationen zuerkennt. Diese Parallelisierung gestattet, den Zeitgeist phänomenologisch neu sehen zu lernen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann man festhalten, dass der Zeitgeist von verschiedensten Autoren immer einen Kern

11

Dies findet eine Parallele bei wissenssoziologischen Überlegungen späterer Tage. So spricht auch Ludwik Fleck angesichts der Gemeinsamkeit des Denkstils einer Zeit von »Stimmungskameradschaft« (Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980, S. 130, 146). Dies verweist ebenfalls auf das atmosphärische Moment neben dem epistemischen. 12 Vgl. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, S. 218. 13 Vgl. Rothacker, Erich: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 68 ff. 14 Vgl. Schmitz, Hermann: Die Person (= System der Philosophie, Bd. IV), Bonn 2005, S. 294 f. 15 Vgl. aber die Bemerkungen zu diesem Thema bei Trčka: Ein Klima der Angst, in: Andermann/Eberlein: Gefühle als Atmosphären, vor allem S. 184 ff. – Auch die Gefühlsdimension des Zeitgeistes wird im Folgenden zurückgestellt zugunsten der Situativität.

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gleichbleibender Eigenarten zuerkannt bekam. 16 Dazu zählen seine Nicht-Fassbarkeit, seine Überindividualität, seine historische Wandelbarkeit und sein dennoch vorhandenes hohes Maß an Widerständigkeit. Die von vielen Autoren immer wieder betonte und zumeist beklagte Nicht-Fassbarkeit bedeutet, dass man nicht eine bestimmte Anzahl von fixen Merkmalen angeben und dann meinen kann, man hätte den Zeitgeist einer bestimmten Epoche gefunden. 17 Wesentlich ist dem Zeitgeist vielmehr, dass er zwar als intuitiv erfasst »gefühlt« werden, aber nicht in eine Summe von endlichen Tatsachen umgeformt zu werden vermag. Er entzieht sich dauerhaft der endgültigen propositionalen Fixierung. Als weitere Eigenschaft lässt sich festhalten, dass der Zeitgeist ein überindividuelles Phänomen ist. Einige verstehen ihn als an eine eigenständige Entität jenseits der Individuen gebunden, andere an bestimmte Eliten und wieder andere an den Durchschnitt einer Zeit. Wie auch immer man diese Alternativen gegeneinander abwägen mag, es bleibt doch zu konstatieren, dass der Zeitgeist die Sphäre des Individuums transzendiert. In gewisser Weise bleibt der Zeitgeist als höheres Ordnungsgebilde dem Einzelnen überlegen. Weiterhin ist der Zeitgeist ein historisches Wesen, das heißt im Laufe der Geschichte wandelt er sich. Die Brüche der geistigen Verfasstheit eines Kollektivs bilden zumeist die wesentlichen Epochen seiner historischen Existenz aus. 18 Schließlich wird dem Zeitgeist immer zugestanden, dass er über ein hohes Maß an Widerständigkeit, Stabilität, Zähigkeit verfügt. Seine historische Wandelbarkeit ist keineswegs durch Schnelligkeit oder gar Beliebigkeit gekennzeichnet. Auffällig wird diese Eigenschaft des Zeitgeistes dem Menschen in der Regel besonders dann, wenn er versucht ist, eine dem Zeitgeist nicht gemäße Richtung des Denkens oder Handelns einzuschlagen. Und 16

Vgl. für eine ausführlichere Entwicklung Kluck, Steffen: Der Zeitgeist als Situation, Rostock 2008, S. 16–21. 17 Vgl. in diesem Sinne Herder: Briefe, S. 71. 18 An diesen Brüchen arbeitet sich die Zeitgeistforschung ab. Vgl. dazu Schoeps, Hans-Joachim: Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, Göttingen, Zürich, Frankfurt a. M. 1970.

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gerade, weil dieser sich als vehemente, widerspenstige Macht präsentiert, wird er zu einer Kraft, mit der im Leben gerechnet werden muss. Mit den genannten Merkmalen ist ein hinreichend plausibler Zugang zum Zeitgeist-Phänomen gefunden. Er erweist sich nach dem Gesagten als ein überindividuelles, eigenständiges, stabiles Phänomen, das nicht endgültig fixierbar ist und welches sich historisch wandelt. Es gilt nun, nachzuweisen, dass der von Schmitz entwickelte Situationsbegriff das Zeitgeist-Phänomen genauer beschreiben kann. Am Ende wird sich dabei herausstellen, dass der Zeitgeist, wenn er als Situation aufgefasst wird, besser verstehbar und besser erklärbar ist. Schmitz bestimmt den für den hier verhandelten Zusammenhang zentralen Begriff der Situation so: »Eine Situation in hier gemeintem Sinn ist charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhang in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.« 19

Ein Beispiel mag das Gemeinte erläutern. Der Besuch eines Konzerts ist eine Situation, wie sie Schmitz vor Augen hat. Sie ist abgeschlossen als eine selbständige Entität gegen andere Vorkommnisse situativer Art – die berufliche Situation, die eigene Lebensgeschichte, die eigene Familie, die eigene Kultur usw. Es gibt zu allen diesen vielleicht Berührungspunkte, aber das Konzert hebt sich doch gegen diese merklich ab. Dies schon deshalb, weil es eine eigene Bedeutsamkeit mitbringt. Darunter ist die spezifische Sinnstruktur gemeint, also was relevant ist (ggf. ein adäquates Outfit, eine angepasste Bewegungsweise (Tanzstil), Konsum von Alkoholika usw.), was erreicht werden soll (Ekstase, Genuss usw.) und ähnliche Aspekte. Sie weichen von denen anderer Situationen signifikant ab und strukturieren die »Konzert-Welt« in eigenarti19

Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005, S. 22.

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ger Weise. Gleichzeitig stiftet die Bedeutsamkeit aber den Binnenzusammenhang aller Vorkommnisse. So wäre ein ohnmächtiger Betrunkener auf einem Hardrock-Konzert keineswegs ungewöhnlich und leicht im Kontext der Situation verstehbar, wohingegen derselbe Sachverhalt im Rahmen eines Klassik-Konzertes gleichsam aus dem Rahmen fiele. Dabei ist schließlich deutlich, dass die Gehalte einer Situation niemals klar und eindeutig bekannt sind, 20 sondern nur bei bestimmten Gelegenheiten und immer nur in Teilen auffällig werden. Dass ein Betrunkener zu einem Rock-Konzert dazugehören kann, macht man sich als Besucher nicht immer explizit klar, aber wenn der Fall auftritt, überrascht er auch nicht, denn implizit war er doch als Protention – auf binnendiffuse Weise – Teil der Situation. Im Zuge seiner Situations-Philosophie kommt Schmitz dahin, solche Vorkommnisse nach drei Dimensionen zu differenzieren: Situationen können entweder gemeinsam oder persönlich, entweder aktuell oder zuständlich und entweder implantierend oder includierend sein. Der erste Unterschied zwischen gemeinsamen und persönlichen Situationen leuchtet unmittelbar ein. Die zweite Gegenüberstellung im Hinblick auf die zeitliche Erstreckung hingegen ist doch bemerkenswert. Schmitz schreibt dazu: »Sie [die Situationen; S. K.] sind teils aktuell, so daß sich ihr Verlauf in beliebig dichten zeitlichen Querschnitten verfolgen läßt, teils zuständlich, d. h. auf längere Frist in der Weise angelegt, daß es immer erst nach geraumer Zeit sinnvoll ist, zu fragen, wie sich die Situation inzwischen entwickelt hat.« 21

Diese Differenzierung ist phänomenologisch zutreffend und wichtig. Sie verdeutlicht nämlich, was z. B. eine Familie (verstanden als Situation) von einem Gespräch unterscheidet. Bei einer Familie hat es keinen Sinn, sekündlich oder minütlich nach dem Zustand der Situation zu fragen, sondern hier entwickelt sich alles gleichsam in trägem Fluss, wohingegen ein Gespräch mitunter 20

Die einzeln herausgestellten »Teile« einer Binnendiffusität nennt Schmitz »Konstellationen«. Vgl. dazu Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 9–13. 21 Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 24 f.

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sehr schnell umschlagen kann. Ein Konzert steht, so ist zu vermuten, hinsichtlich dieser Differenzierung zwischen Familie und Gespräch. Die letzte Unterscheidung von Schmitz schließlich gilt nur für gemeinsame Situationen. Diese können nämlich entweder implantierend oder includierend sein. Implantierende Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass die Person in sie so einwächst, dass »eine Ablösung nur unvollständig möglich ist oder wenigstens tiefe Wunden reißt«, während includierende Situationen ein »leicht lösbares Verhältnis von Einfassung und Einpassung« auszeichnet. 22 Aus einem Konzert kommt man leicht und problemlos wieder heraus, räumlich und (vielleicht etwas weniger leicht, aber doch zügig) atmosphärisch, wohingegen das Entkommen aus dem situativen Geist der eigenen Zeit 23 oder Familie oft unmöglich scheint. These der hier vorliegenden Überlegungen ist nun, wie angedeutet, dass der Zeitgeist als eine temporale Grundlage kollektiver Entitäten eine gemeinsame, implantierende, zuständliche Situation ist. Um dies zu belegen, werden im Folgenden die zuvor benannten abstrakten Merkmale des Zeitgeistes am Situationsbegriff aufgezeigt. Nicht alle Parallelen sind dabei von gleicher Relevanz, aber in der Summe plausibilisieren sie hinreichend das Gemeinte. Eine erste und offensichtliche Verwandtschaft zwischen dem Zeitgeist und einer Situation findet sich natürlich bei der Dimension der Überindividualität. Gemeinsame Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die persönlichen Situationen der Einzelwesen aufnehmen und – includierend oder implantierend – eingliedern. Außerdem fiel, wie dargelegt, auf, dass der Zeitgeist sich als ein Phänomen erwies, dessen endgültige Bestimmung unmöglich ist. 22

Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 25. Es muss hier angemerkt werden, dass es womöglich zu einer Zeit durchaus mehrere entsprechende kollektive Zuständlichkeiten geben kann – man denke an Generationenunterschiede. Zukünftige Untersuchungen müssten klären, inwieweit der Unterschied zwischen Generationen ein echter Unterschied der implantierenden Situation(en) ist oder vielleicht »nur« bedingt wird durch andersartige Explikationen und Umgangsformen mit derselben Situation.

23

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Die Situation ist in ähnlicher Weise »flüchtig«, nicht feststellbar. Sie kann nicht auf eine solche Weise in eine Konstellation umgewandelt werden, dass sie verlustfrei »übersetzt« wäre. Dies kann schon deshalb nicht gelingen, weil aufgrund ihrer Binnendiffusität gar nicht einzeln und definitiv feststeht, was denn eigentlich »in« einer Situation steckt. Deshalb wird eine Situation, ganz gleich dem Zeitgeist, nicht einfach definiert und damit erfasst. Sie bleiben beide gleichsam ewige Rätsel. Es gibt natürlich die Chance, vermittels Explikationen einzelne Sachverhalte konstellationistisch herauszustellen, aber diese sind nur kleine Fetzen des großen Situationsteppichs. Weiterhin zeigen Situationen ein im Hinblick auf Widerständigkeit ähnliches Verhalten wie der Zeitgeist. So sind implantierende Situationen dadurch gekennzeichnet, dass man aus ihnen kaum jemals heraus kommt. Der Mensch bleibt immer in ihnen verhaftet. Wie beim Zeitgeist so sind wir auch gegenüber der Situation nicht in der Lage, willkürlich mit ihr zu verfahren. Dies zeigt sich beispielhaft an den Grenzen der Explikation. Jede Situation lässt sich zwar partiell explizieren, aber es gibt dafür Grenzen, an denen die Explikation nicht weiter fortschreiten kann, weil entweder die Situation dies nicht gestattet oder weil die Explikation die Situation zu sehr festlegt. Es wäre das Ende einer jeden Liebe im Sinne einer Situation, wenn die Partner es darauf anlegten, bis ins Letzte auszubuchstabieren, was ihre Liebe ausmachte. Schließlich ist klar, dass Situationen ebenso wie der Zeitgeist gewissen Kontextualisierungen und damit zeitlichen Bedingtheiten ausgesetzt sind. So gibt es sehr kurzlebige, schnell wandelbare Situationen ebenso wie überaus träge. Nur die letzteren teilen mit dem Zeitgeist das Merkmal der unwillkürlichen, in historischen Zeitmaßstäben auftretenden Wandelbarkeit. Dieser Unterschied verweist darauf, dass der Situationsbegriff viel weitgreifender und fundamentaler als der Begriff des Zeitgeistes ist, insofern er größere Allgemeinheit besitzt. Wenn die vorstehende kursorische Analyse korrekt ist, erweist sich somit eine hinreichend fundierte Parallelität der Merkmale von Zeitgeist und Situation. Man muss den Zeitgeist als eine besonders geartete Situation verstehen. Der Fehler der bisher vor45 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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liegenden Theorien war es, den Zeitgeist zu sehr losgelöst von ähnlich gelagerten, aber vermeintlich trivialen Phänomenen wie dem Geist einer Gesprächsrunde, dem Geist einer Beziehung usw. betrachtet zu haben. Solch eine Loslösung bot übertrieben reduktionistischen Kritikern breite Angriffsfläche. Versteht man den Zeitgeist dagegen als eine Situation – genauer: als eine implantierende, gemeinsame, zuständliche, zumeist (aber nicht immer) segmentierte Situation –, dann wird er als lebensweltliches Phänomen kaum mehr geleugnet werden können. Der Zeitgeist stellt nur einen Sonderfall eines jederzeit aufweisbaren und für den Menschen vollkommenen gewöhnlichen Phänomens dar. Mit diesen beiden Hinweisen ist aufgezeigt, dass sich mit Schmitz das deskriptive und kritische Potential des Zeitgeistbegriffs ausschöpfen lässt. Durch den Anschluss an die Situationstheorie ist dies möglich. Wenn die zuständlichen, gemeinsamen, implantierenden Situationen, die zuvor begrifflich als Zeitgeist gefasst wurden, phänomenologisch neu durchforstet werden, so sind davon Aufschlüsse über ein bislang nur vage beleuchtetes Feld der Lebenswelt zu erwarten. Was lässt sich aber abgesehen von den vorstehenden theoretisch-abstrakten Motiven aus der Anwendung des Situationsbegriffs für die zeitgeistliche Dimension sozialer Entitäten ableiten? Dazu ist zu bedenken, dass Schmitz drei wesentliche Aspekte von Situationen unterscheidet: Sachverhalte, Programme, Probleme. 24 Grob vereinfacht gesprochen sind Sachverhalte das, was ist, Programme dasjenige, was sein bzw. werden soll und Probleme das, was noch nicht oder wider Erwarten doch ist. Am Beispiel des Rock-Konzerts verdeutlicht wäre ein Sachverhalt die laute Musik, ein Programm das Nutzen der leeren Fläche zum ekstatischen Bewegen und ein Problem der Umstand, dass kein Alkoholausschank erfolgt. Wenn man diese Bestandteile auf die für soziale Entitäten wichtigen Situationen überträgt, wird deren Bedeutung ersichtlich. Es ließe sich dann aus entsprechenden Situationen einiges über den Gehalt des spezifischen Kollektivs aussagen, in24

Vgl. dazu Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1995, S. 54–60, 65–68.

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dem man sich die Mühe der (immer nur partiellen und unfertigen) Explikation macht. Worauf will es hinaus? Was sind seine wesentlichen Weisungen? Welche Sachverhalte kommen in seiner »Sorgenswelt« vor? Welche Unterschiede bestehen zur eigenen Welt? Wichtig wird eine solche Analyse auch für die Rückbindung der kollektiven Gefühle, wie sie – in Verwandtschaft mit dem Zeitgeist – mittels der umgangssprachlichen Termini »Lebensgefühl« oder »gesellschaftliches Klima« thematisiert werden. Kulturen bilden unterschiedliche Gefühlsweisen aus, indem sie auf bestimmte Atmosphären in spezifischer Weise reagieren oder auch auf bestimmte Atmosphären womöglich gar nicht ansprechen. Die fast schon sprichwörtliche »german angst« oder die im schon genannten Fall der Fußballweltmeisterschaft entflammten »patriotischen« Gefühle sind Belege, wie einem Kollektiv gewisse atmosphärische Widerfahrnisse eigentümlich sein können – entweder über lange Dauer (»german angst«) oder als gänzlich neuartig erlebte (Fußballweltmeisterschaft). Um diese Eigenarten von sozialen Verbänden zu erklären, bieten – neben den leiblichen Dispositionen – auch Situationen ein Reservoir an Plausibilisierungen, denn aus ihnen heraus lässt sich deutlich machen, warum bestimmte Wünsche, Sorgen usw. wichtig werden, andere nicht. Dies wiederum ist für das Betroffenwerden von Gefühlen nicht unerheblich. Es gilt nämlich, was Rothacker treffend herausstellte: »Um an die Wirklichkeit […] heranzukommen, muß man sich in einer ganz eigenartigen Weise für sie öffnen. Man muß sich hingeben können an die Eindrücke.« 25 Dieses Öffnen-Können ist bedingt durch den eigenen Leib, die kollektiven Dispositionen – aber eben auch wesentlich durch die eigenen persönlichen wie gemeinsamen Situationen, von denen der Zeitgeist eine essentielle ist.

25

Rothacker, Erich: Mensch und Wirklichkeit, in: Der Bund 2 (1948/49), S. 5– 22, hier S. 17.

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3.

Eine Landkarte sozialer Situationen?

Der sogenannte »spatial turn« wendet den Blick von der zeitlichen Perspektive ab und konzentriert sich auf räumliche Aspekte bei der Untersuchung sozialer Phänomene. Die These, von der unter diesem Blickwinkel ausgegangen wird, lautet in etwa: »Räume und Gefühle stehen mithin unablässig in produktivem Austausch und konstituieren in dieser Verschränkung Mentalitäten, Lebensformen und Lebensstile einer Kultur.« 26 Dabei ist die Rede von einem »spatial turn«, wie zu sehen sein wird, eigentlich problematisch, denn sie birgt – ganz entgegen der eigenen Intention – die Gefahr, durch das etwas diffuse Label »Raum« bzw. »space« wichtige Aspekte auszuklammern. Zwar scheint es auch hier Phänomene zu geben, die den herausgearbeiteten Charakteristika des Zeitgeistes ähneln, aber diese sind einerseits beständiger, andererseits ist es schwierig zu entscheiden, ob und inwieweit es räumliche Faktoren sind, die z. B. für bestimmte, beobachtbare regionale Eigenarten verantwortlich sind. Der Versuch, den Klischees zu entkommen und – zugleich jenseits, aber auch ausgehend von einem Satz wie: »Norddeutsche sind kühl und reserviert.« – etwas über die solchen Aussagen zugrunde liegenden Eindrücke zu sagen, setzt überraschenderweise bei Schmitz’ Theorie des Stilwandels in der Kunst an. Das Herausbilden verschiedener Stile liegt dieser Theorie zufolge in einem Wechsel der leiblichen Disposition begründet, der dort – vermittelt durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere (leibliche Brückenqualitäten) – seinen (mehr oder weniger) direkten Ausdruck findet. Dass gotische Kathedralen anders aussehen (und auf die Menschen anders wirken) als z. B. Jugendstilbauten, hat seinen Grund unter anderem in der unterschiedlichen leiblichen Disposition derjenigen, die diese Bauten hervorgebracht haben. Die leibliche Disposition wirkt in diesem Fall auf den vom Menschen erschaffenen Raum. Nach Schmitz ist es auch denkbar, dass 26

Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, in: dies. (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 9–25, hier S. 10.

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die »im Kunstwerk niedergelegte leibliche Disposition die leibliche Disposition seiner Schöpfer und Betrachter allmählich zu sich hin umbilden« könnte. 27 Nimmt man diesen Ansatz zum Ausgangspunkt, kann man mit Recht fragen, ob nicht auch die »natürlich« vorkommenden Gestaltverläufe, Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere, etwa einer Landschaft, auf die leibliche Disposition der Menschen wirken, die in dieser Landschaft geboren werden und aufwachsen. In eine solche Richtung weisen etwa die Arbeiten Hellpachs, dessen Geopsyche hier exemplarisch genannt sein soll, oder Watsuji Tetsuros Fūdo, in welchem der Zusammenhang von Klima und Kultur untersucht wird. 28 Dabei geht es um keine »Blut-und-Boden«-Ideologie, sondern um das Ernstnehmen von Differenzen, die mit unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten (weniger reduktionistisch: Situationen) einhergehen können und jederzeit zu beobachten sind – ohne jedoch unveränderlich zu sein. Aus der Annahme eines solchen Einflusses folgt auch nicht, dass bestimmte Regionen ausschließlich bestimmte »Typen« hervorbringen. Hellpach verweist z. B. im Zusammenhang der »Inklimatisation« – dem »Einleben« in ein neues Klima – darauf, dass es möglich ist, dass Menschen »erst nach längerer Suche oder durch eine Lebenszufälligkeit ›ihr‹ Klima finden« 29 oder sich der »Organismus« umbildet und neue Eigenschaften entfaltet. 30 Die Bedeutung dieser Zusammenhänge wurde übrigens bereits in der griechischen Antike festgestellt und thematisiert. So heißt es z. B. in einer Schrift des Corpus Hippocraticum: 27

Schmitz, Hermann: Der Leib im Spiegel der Kunst (= System der Philosophie, Bd. II, 2), Bonn 1998, S. 85. Der Zusammenhang von Architektur und Gefühlen bzw. Atmosphären ist verschiedentlich unter divergenten Prämissen untersucht worden. Beispielhaft seien genannt: Hasse, Jürgen: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012; Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006; Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrnehmung, Zürich 2010. 28 Vgl. Hellpach, Geopsyche und Watsuji, Tetsuro: Fūdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur, Darmstadt 1992. 29 Hellpach, Geopsyche, S. 151. 30 Hellpach, Geopsyche, S. 149.

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»Wer die Heilkunst richtig studieren will, muss Folgendes tun: zuerst ermessen, welchen Einfluss die Jahreszeiten haben können. Denn sie gleichen einander nicht im geringsten […]. Sodann berücksichtige er die warmen und die kalten Winde […]. Auch die Wirkungen der Wasser muss man abschätzen, denn wie sie sich im Mund und auf der Waage unterscheiden, so ist auch die Wirkung […] verschieden. Folglich muss jemand, der in eine Stadt kommt, die er nicht kennt, ihre Lage bei seinen Überlegungen berücksichtigen, und zwar wie sie zu Winden und Sonnenaufgang gelegen ist […].« 31

Dies geforderte Verhalten ist – aus hippokratischer Sicht – deshalb relevant, weil die Lage einer Stadt ebenso auf den Gesundheitszustand eines Menschen einwirkt wie der Boden, die Pflanzenwelt und das Klima. Nach dieser Aufzählung kommt der Autor der Schrift auf die Menschen und ihre Lebensweise zu sprechen. Interessant an der Passage ist zum einen, dass hier im ärztlichen Kontext Faktoren in den Blick genommen werden, die nicht selbstverständlich erwartet werden können. Andererseits wird aus dem Beispiel deutlich, dass es bei der Betrachtung regionaler Gegebenheiten nicht nur um räumliche Gegebenheiten im Sinne einer Topographie geht, sondern auch Winde, Wasserqualität, Temperatur, jahreszeitliche Eigenarten und vieles andere mehr berücksichtigt werden müssen. Diesen Faktoren kann auf verschiedene Weise Rechnung getragen werden – entweder indem man sie atomistisch, d. h. vereinzelt, misst, sammelt und auswertet oder indem man versucht, sie in ihrer vielfältigen WechselEigene Übersetzung nach Hippocrates: de aere aquis et locis i: Ἰητρικὴν ὅστιϚ βούλεται ὀρθῶϚ ζητέειν, τάδε χρὴ ποιέειν· πρῶτον μὲν ἐνθυμέεσθαι τὰϚ ὥραϚ τοῦ ἔτεοϚ, ὅ τι δύναται ἀπεργάζεσθαι ἑκάστη· οὐ γὰρ ἐοίκασιν οὐδὲν, ἀλλὰ πουλὺ διαφέρουσιν αὐταί τε ἑωυτέων καὶ ἐν τῇσι μεταβολῇσιν· ἔπειτα δὲ τὰ πνεύματα τὰ θερμά τε καὶ τὰ ψυχρά· μάλιστα μὲν τὰ κοινὰ πᾶσιν ἀνθρώποισιν, ἔπειτα δὲ καὶ τὰ ἐν ἑκάστῃ χώρῃ ἐπιχώρια ἐόντα. Δεῖ δὲ καὶ τῶν ὑδάτων ἐνθυμέεσθαι τὰϚ δυνάμιαϚ· ὥσπερ γὰρ ἐν τῷ στόματι διαφέρουσι καὶ ἐν τῷ σταθμῷ, οὕτω καὶ ἡ δύναμιϚ διαφέρει πουλὺ ἑκάστου. Ὥστε, ἐϚ πόλιν ἐπειδὰν ἀφίκηταί τιϚ ἧϚ ἄπειρόϚ ἐστι, διαφροντίσαι χρὴ τὴν θέσιν αὐτέηϚ, ὅκωϚ κέεται καὶ πρὸϚ τὰ πνεύματα καὶ πρὸϚ τὰϚ ἀνατολὰϚ τοῦ ἡλίου· οὐ γὰρ τωὐτὸ δύναται ἥτιϚ πρὸϚ βορέην κέεται, καὶ ἥτιϚ πρὸϚ νότον, οὐδ’ ἥτιϚ πρὸϚ ἥλιον ἀνίσχοντα, οὐδ’ ἥτιϚ πρὸϚ δύνοντα.

31

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beziehungen und kontextuellen Gebundenheiten zu beschreiben und zu verstehen. Der oben beschriebene Situationsbegriff von Schmitz bietet sich auch hier zur Analyse an, weil durch ihn das zur Verfügung stehende »Material« mit der größtmöglichen Offenheit und im Bewusstsein betrachtet wird, dass die Analyse notwendig nur ein ausschnitthaftes Ergebnis liefern kann. Außerdem bietet die neuphänomenologische Theorie den Vorteil, dass auch klimatische Faktoren, Lichtverhältnisse etc. berücksichtigt werden können, ohne sie zu physikalischen Vorkommnissen zu degradieren. Es bleibt indes zu beachten, dass ein Unterschied zwischen kulturell hervorgebrachten 32 und natürlich vorkommenden 33 regionalen Gegebenheiten besteht. Während es eine Wechselbeziehung zwischen der leiblichen Disposition und den kulturell hervorgebrachten Gegebenheiten gibt, ist die Einflussnahme bei den natürlichen Gegebenheiten eine Einbahnstraße in Richtung auf die leibliche Disposition. 34 Die vorhandenen Beziehungen hingegen bilden ihrerseits wieder ein Klima, das man mit Schmitz besser als Situation beschreiben kann. Auffällig wird eine leibliche Disposition meist nur in Distanz oder in der Differenzerfahrung. Kommt z. B. ein Mensch, der sein Leben lang nur an der Küste gelebt hat, in die Alpen, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit eine solche Differenzerfahrung haben, wenn er, statt den Horizont zu sehen, vor einer Felswand steht, die seinen Blick begrenzt. 32

Hierzu zählen z. B. Bauwerke (Straßen, Häuser etc.), Pflanzungen (Parkanlagen, Felder etc.). 33 Hier ist ebenso an Landschaft wie an klimatische Bedingungen zu denken – das Problem der globalen Klimaveränderung sei ausgeklammert. 34 Das betont auch Watsuji, wenn er schreibt: »Das häufigste Mißverständnis begegnet uns in der landläufigen Überzeugung, Mensch und Natur beeinflußten einander wechselseitig. Damit würden jedoch von vornherein die Faktoren menschlichen Daseins und der Geschichte aus den konkreten klimatischen Phänomenen ausgeklammert und diese bloß als natürliche Umgebung verstanden werden. Diese Auffassung behauptet, nicht nur der Mensch werde durch das Klima bestimmt, auch das Klima sei Beeinflussungen und Veränderungen durch den Menschen ausgesetzt. Dies aber heißt die wahre Natur des Klimas (fūdo) verkennen.« (Watsuji: Fūdo, S. 12.) Diese Passage macht zugleich deutlich, dass Watsuji mit Klima mehr meint als nur das, was mit der Witterung zu tun hat.

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Das kann aber auch bedeuten, dass er sich (endlich) in seinem Element fühlt, und muss nicht notwendig ein Negativerlebnis sein. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass radikal verschiedene regionale Gegebenheiten einen Menschen unbeeindruckt zurücklassen. Wollten wir dies in Anlehnung an den Begriff »Zeitgeist« versuchsweise mit dem Begriff »Raumgeist« bezeichnen, könnten wir folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede festhalten. Auf der Seite der Gemeinsamkeiten wäre auf jeden Fall die Unverfügbarkeit des »Raumgeistes« zu verbuchen, und zwar in dem Sinn, dass er zwar veränderbar, aber nicht willkürlich steuerbar ist. Weiterhin leben wir in der Situation »Raumgeist« meistenteils ebenfalls, ohne dass sie uns als Besonderheit bewusst wird. Im Gegensatz zum »Zeitgeist« gibt es hier aber die einfache Möglichkeit, durch Ortswechsel die Differenz zu erfahren. Das ist deshalb gegeben, weil der Mensch seine eigene, spezifisch geprägte leibliche Disposition immer schon mitbringt, die auf verschiedene atmosphärische Zustände je anders zu reagieren vermag. Beim Zeitgeist ist man hingegen auf das Vergehen der Zeit angewiesen, so dass eine Differenzerfahrung wohl eher an Generationengrenzen erlebbar wird, d. h. mit großem zeitlichem Abstand. Hierbei ist anzumerken, dass sowohl der Zeitgeist als auch der »Raumgeist« nicht alle Menschen angemessen beschreibt. Ein Kind seiner Zeit zu sein, bedeutet unter Umständen auch, dass man Kind dieser Zeitsituation bleibt, während die Zeit sich geändert hat und nun andere Kinder hervorbringt. Die mit dem Aufkommen von Computern und Mobiltelefonen jüngst radikal veränderte Kommunikationskultur bietet ein gutes Beispiel dafür, dass zeitgleich eine große Zahl von Menschen existiert, die in dieser neuen Situation aufgeht, während ein ebenfalls große Anzahl von Menschen (vor allem solche, die ohne diese Medien aufgewachsen sind) diese Situation als Fremdheitserfahrung erlebt.

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Der Geist einer Zeit und eines Ortes

4.

Conclusio

Die vorgenannten kursorischen Erkundungen des Feldes einer räumlich wie zeitlich bedingten gemeinsamen Situation als prägendes Phänomen der konkreten Lebenswirklichkeit von Kollektiven beanspruchen nicht mehr zu sein denn ein Hinweis auf einen möglichen, aber erfolgversprechenden Forschungsweg. Im Aufriss des Problemkreises hat sich gezeigt, dass sowohl räumliche als auch zeitliche Bedingungen die Situationen und die leiblichen Dispositionen prägen. Für praktische Zugriffe – etwa durch Kunst, Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft – war dabei von hoher Relevanz, dass sich künstliche räumliche Bedingungen ebenso wie (zumindest in Teilen) der Zeitgeist als veränderbar erwiesen. Dies gilt für die natürlichen räumlichen Bedingungen – zu denen es beim Zeitgeist kein Äquivalent zu geben scheint – nicht in gleichem Maße. Wichtig ist zudem, dass die Wechselwirkung zwischen der Situation bzw. den leiblichen Dispositionen und Raum oder Zeit sehr unterschiedlich geartet sind. Bei manchen – den natürlichen Bedingungen etwa – liegt sie vermutlich gar nicht vor, hier gibt es nur einseitige Beeinflussungen. Bei anderen hingegen – man denke an Kunstwerke – ist schwer abzusehen, wie die Wechselwirkung aussieht. Es liegt hier offensichtlich neben der gewollten Wirkung eine in ihren Folgen nicht absehbare Rückwirkung vor, die jedweder naiven und direkten Steuerungsvorstellung Einhalt gebieten muss. Die prägenden Situationen lassen sich zwar konstellationistisch beeinflussen, aber nur innerhalb enger Grenzen und immer mit der Gefahr, Wirkungen hervorzurufen, die gar nicht intendiert waren. 35 Schließlich hätte eine weitergehende Forschung zu klären, wie genau sich Grenzen der 35

Es ist gerade als Ursache der nichtintendierten Folgen zu sehen, dass das menschliche Zusammenleben situativ geprägt ist. Eine Ahnung von diesem Umstand hat wohl schon Karl Popper gehabt, wenn er festhielt, dass das Bemerkenswerte an der Menschheit sei, dass bei ihr nie etwas so ablaufe, wie es eigentlich intendiert war. Vgl. dazu Popper, Karl Raimund: Versuch einer rationalen Theorie der Tradition, in: ders., Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Teilband I: Vermutungen, Tübingen 1994, S. 175– 197, hier S. 180.

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genannten Phänomene ziehen lassen. Sowohl räumlich wie zeitlich mutet die Angabe von Grenzen nämlich schwierig an, was allerdings für einen ontologischen Gegenstandstypus wie Situationen gerade charakteristisch ist. Dennoch muss man zu ergründen suchen – und kann es gerade auf phänomenologischem Weg auch –, welche »Raumgeister« in welchen Grenzen (die freilich nicht die geographischen und schon gar nicht die nationalen sein müssen) auffindbar sind und welche »Geister der Zeit« sich – womöglich parallel oder doch nur sukzessiv – erkennen lassen. Derlei Bestrebungen bieten Chancen zur Besinnung auf kollektive Prägungen, die dem unaufmerksamen Dahinleben trotz ihrer Wirkmächtigkeit entgehen könnten. Literatur Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006. Bollnow, Otto Friedrich: Die Ehrfurcht, Frankfurt a. M. 1958. Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrnehmung, Zürich 2010. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1970. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980. Gehlen, Arnold: Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre (= Gesamtausgabe Bd. 4), Frankfurt a. M. 1983, S. 127–142. Hasse, Jürgen: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (= Gesamtausgabe, Bd. 61), Frankfurt a. M. 1985. Hellpach, Willy: Geopsyche. Die Menschenseele unterm Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Leipzig 1939. Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität (= Herders Werke, Bd. 13), Berlin 1879. Hippocrates: Volume I, hg. v. W. H. S. James, London, Cambridge (Mass.) 1972. Kluck, Steffen: Der Zeitgeist als Situation, Rostock 2008. Konersmann, Ralf: Zeitgeist, in: Karlfried Gründer/Joachim Ritter/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Stuttgart 2005, Sp. 1266–1270.

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Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, in: dies. (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 9–25. Metten, Thomas: Zur Analyse von Atmosphären in Diskursen. Eine diskurslinguistische Untersuchung kollektiver Befindlichkeiten am Beispiel des Vulkanausbruchs in Island, in: Zeitschrift für angewandte Linguistik 56 (2012), S. 33– 66. Popper, Karl Raimund: Versuch einer rationalen Theorie der Tradition, in: ders., Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Teilband I: Vermutungen, Tübingen 1994, S. 175–197. Rothacker, Erich: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948. Ders.: Mensch und Wirklichkeit, in: Der Bund 2 (1948/49), S. 5–22. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1995. Ders.: Der Leib im Spiegel der Kunst (= System der Philosophie, Bd. II, 2), Bonn 1998. Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Ders.: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005. Ders.: Die Person (= System der Philosophie, Bd. IV), Bonn 2005. Schoeps, Hans-Joachim: Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, Göttingen, Zürich, Frankfurt a. M. 1970. Trčka, Nina: Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 183–211. Watsuji, Tetsuro: Fūdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur, Darmstadt 1992.

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Yuho Hisayama

Individuum und Atmosphäre. Überlegungen zum Distanzproblem am Beispiel des japanischen Wortes kûki 1.

Einleitung: Das japanische Wort kûki

»Eigentlich habe ich damals schon gedacht, dass die Entscheidung falsch ist. Von der Atmosphäre her war es aber unmöglich, nein zu sagen«: Ein Satz wie dieser ist sozusagen der Prototyp all jener Ausreden, mit denen man etwas erklären möchte, was sich im Nachhinein als unerklärbar erweist, und er zeigt exemplarisch die nicht eben seltene Unfähigkeit des Individuums auf, eine angemessene Distanz zur Stimmung seiner Umgebung zu halten. Dies aber bedeutet, dass es – besonders im politischen Geschehen und im Hinblick auf die damit verbundenen aktuellen Ereignisse – möglicherweise auf Dauer von der es umgebenden Atmosphäre affiziert, dann überwältigt und durch sie schließlich so stark beeinflusst werden kann, dass es seine ›eigentliche‹, d. h. die ihm ursprünglich innewohnende Haltung bei der Bewertung bzw. Beurteilung eines Faktums oder eines Geschehens vorläufig zurückstellt, dann vergisst und sie endlich – sich selber dessen völlig unbewusst – sogar ins Gegenteil verkehrt. Um dergleichen Phänomenen, die ich im Folgenden als »Distanzproblem« zwischen Individuum und Atmosphäre bezeichnen möchte, sprachlich einen Ausdruck zu verleihen, wird oft auf Termini zurückgegriffen, die sich auf Räumlichkeiten beziehen. So spricht man z. B. im Englischen vom air, im Französischen von der ambiance und im Japanischen vom kûki. Das Wort kûki ist ein aus den Begriffen kû und ki gebildetes Kompositum, dessen erster Bestandteil kû (空) sich im Deutschen sowohl mit »Leere« als auch mit »Himmel« (im Sinne von sky, nicht aber von heaven) wiedergeben ließe; die zweite Komponente 56 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Individuum und Atmosphäre

ki (気) ist von ihrem Ursprung her identisch mit dem chinesischen Begriff chi bzw. qi, und bezeichnet nicht nur die sogenannte »innere (Lebens-)Energie«, sondern auch das Atmosphärische. 1 Dementsprechend wird kûki gerne und meist zurecht mit »Luft« oder »Atmosphäre« ins Deutsche übersetzt. 2 Verwendet wird das Wort in der Alltagssprache oft in Idiomen wie »das kûki des Ortes (ba no kûki)« oder »das kûki der Zeit (jidai no kûki)«, was deutlich zeigt, dass der kûki-Begriff nicht nur die Luft im physikalischen Sinne, sondern auch die gefühlsbetonte oder emotionsgeladene Atmosphäre eines bestimmten Ortes bzw. einer bestimmten Zeit in sich fasst. Das Thema der folgenden Überlegungen 3 ist die Verwendung des kûki-Begriffes als Ausdrucksform für spezifische Atmosphären, die den Menschen zu beherrschen vermögen und bei ihm ein erst im Nachhinein erkanntes »Distanzproblem« hervorrufen können. 4 In diesem Beitrag wird es vor allem darum gehen, welche 1

Zur Begriffsgeschichte des ki bzw. qi/chi (ki ist die japanische Aussprache, qi/chi die chinesische) vgl. Onozawa, Sêichi/Fukunaga, Mitsuji/Yamanoi, Yû (Hg.): Ki no shisô. Chûgoku ni okeru shizenkan to ningenkan no tenkai, Tokyo 1978; Kubny, Manfred: Qi. Lebenskraftkonzepte in China. Definitionen, Theorien und Grundlagen, Heidelberg 1995. Zur atmosphärischen Konnotation des ki siehe auch Hisayama, Yuho: Erfahrungen des ki. Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre, Freiburg/ München 2014. 2 Vgl. z. B. Ikubundo Japanisch-Deutsches Wörterbuch, 2. Auflage Tokyo 1966, S. 146. 3 Die nun folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete Fassung des 3. Abschnitts des 6. Kapitels meines oben schon erwähnten Buches Erfahrungen des ki (s. Anm. 1), S. 81–85. 4 Im Hinblick darauf ist die wortwörtliche Übersetzung des japanischen Kompositums mit dem Terminus »Atmosphäre« unzureichend. Etymologisch gesehen leitet sich das Wort von dem im 17. Jh. geprägten lateinischen Begriff »atmosphaera« ab, der erstmals um 1750 in seiner heutigen Schreibweise in der deutschen Sprache verwendet wurde. In der Goethezeit begegnet uns das Wort in ganz verschiedenen Kontexten, wobei der Begriff damals vorrangig in der Meteorologie im Sinne der physikalisch bestimmten Atmosphäre verwendet wurde, ganz so, wie wir z. B. auch heute noch von der »Erdatmosphäre« sprechen. Im vorliegenden Kontext ist aber unter dem Wort »Atmosphäre« zunächst einmal nur die übertragene Bedeutung eines »gestimmten Raumes« zu verstehen (vgl. dazu z. B. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Auflage Berlin 2013).

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Schwierigkeiten einer persönlichen Distanzierung von der Atmosphäre mit dem Wort kûki auf eine ganz spezifische Weise bezeichnet werden. 5 Um zu einer ersten Erklärung gelangen zu können, sollen zunächst drei Konnotationen des Begriffs im Japanischen betrachtet werden, aus denen das Problem einer möglichen vorhandenen und dann doch nicht vorhandenen Distanz zum kûki entstehen kann. Hinzuweisen ist dabei auf die Grenzen dieser begriffsgeschichtlich-phänomenologisch beschränkten 6 Studie, bei der es sich nicht darum handeln kann, direkt zu zeigen, was das kûki ist, d. h. also nicht um das ihm immanente allgemeine ›Wesen‹, sondern zunächst darum, zu hinterfragen, welche Konnotationen der kûki-Begriff in der japanischen Sprache mit sich bringt. Um dies konkret aufzeigen zu können, habe ich drei besonders illustrative Beispiele aus den Werken von Natsume Sôseki 7 (1867–1916) ausgewählt, dem wohl immer noch bekanntesten Autor der modernen japanischen Literaturgeschichte. 2.

Die erste Konnotation: Selbstverständliche Gegebenheit

Das Wort kûki impliziert zunächst einmal das stetige Vorhandensein einer den Menschen jeweils umgebenden Atmosphäre. Das heißt: Es bezeichnet das Atmosphärische, das an einem Ort oder zu einer Zeit für so selbstverständlich gehalten wird, dass alle an 5

Dies soll jedoch die Möglichkeiten weiterer kulturkomparatistischer Untersuchungen nicht ausschließen; siehe den fünften Abschnitt dieses Beitrags. 6 Mit diesem und anderen vergleichbaren Phänomenen hat sich vor allem die Psychologie intensiv beschäftigt (vgl. z. B. Pentland, Alex: Honest signals, Cambridge/MA 2008). Ich gehe in meinem Beitrag aber nicht mit einer psychologischen, sondern mit einer begriffsgeschichtlichen und phänomenologischen Methodik vor, die atmosphärische Phänomene eben nicht als etwas auf den Seelenzustand Reduzierbares betrachtet und die damit über das Potenzial verfügt, ein ganz neues Licht auf die philosophische und kulturwissenschaftliche Forschung der Verflochtenheit von Gefühl und Raum zu werfen. Vgl. dazu die Kritik an der »psychologisch-reduktionistisch-introjektionistischen Verfehlung des europäischen Geistes« in: Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32–55. 7 Natsume ist sein Familienname, Sôseki sein Künstlername.

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diesem Ort oder in dieser Zeit befindlichen Personen das kûki als etwas ihnen Gemeinsames nicht nur empfinden, sondern auch voraussetzen können bzw. sollen: Auf eben diese Weise, wie der auf Erden lebende Mensch immer von der Luft (hier im physikalischen Sinne) umgeben ist, ist er auch im täglichen Leben stets irgendeinem kûki ausgesetzt. Diese Situation verdeutlicht sehr treffend die folgende Textstelle aus Sôsekis Roman Sanshirô durch die darin verwendete Metapher des auf das kûki bezogenen »Atmens« (Zitat 1): »Er [d. i. Herr Nonomiya; Y. H.] war ganz schlicht gekleidet […]. Er war aber ein großer [= bedeutender; Y. H.] Mann, denn er widmete sich in seinem Keller unermüdlich seinen Forschungen und ließ sich durch nichts beirren. Aber wie sehr sich die Skala in seinem Fernrohr auch hin- und herbewegte – es war klar, daß Nonomiya keine Beziehung zur Realität hatte. Vielleicht wollte er auch gar keine haben. Wenn Sanshiro [der Protagonist des Romans; Y. H.] diese stille Luft atmete, schien es ihm fast, er selbst werde auch so. Vielleicht würde auch er ein Leben ohne Ablenkung und ohne Kontakt mit der Welt führen.« 8

Folgt man Wort für Wort dem Original, dann lautet der unterstrichene Satz: »Kurz gesagt, kann er wahrscheinlich in einer solchen Stimmung leben, weil er dieses stille kûki atmet.« Eben deshalb, weil Nonomiya das stille kûki des Forschungszentrums »atmet«, d. h. sozusagen darin eingebettet ist, ist auch er selbst so gestimmt wie das kûki. Diese Stimmung der akademischen Welt gibt ihm als Forscher den selbstverständlichen »Ton« des Daseins vor, so dass er sich in keiner Weise mehr um »die Beziehung zur Realität« küm8

Natsume, Soseki: Sanshirôs Wege, Übers. u. Nachw. von Christoph Langemann, Berlin 2009, S. 28. Im Original (Natsume, Kin’nosuke: Sôseki zenshû [Sämtliche Werke Sôsekis], Bd. 5, Tokyo 1994, S. 299) heißt es wie folgt: 野々 宮君は頗る質素な服装をして、外で逢へば電燈会社の技⼿位な格であ る。それで⽳倉の底を根拠地として欣然とたゆまずに研究を専念に遣 つてゐるから偉い。然し望遠鏡のなかの度盛がいくら動いたつて現実 世界と交渉のないのは明らかである。野々宮君は⽣涯現実世界と接触 する気がないのかも知れない。要するに此静かな空気を呼吸するか ら、⾃からあゝ云ふ気分にもなれるのだろう。⾃分もいつその事気を 散らさずに、活きた世の中と関係のない⽣涯を送つて⾒様かしらん。

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mert. Die Realität, von der hier die Rede ist, verweist auf jene »Selbstverständlichkeit«, in der Sanshirô lebt, und eben deshalb vermag er, dem obigen Zitat nach, als Außenstehender die Stimmung der akademischen Welt wahrzunehmen: Als Besucher hat er selbst noch »die Beziehung zur Realität« und ist dadurch anders gestimmt als der gestimmte Raum, in dem Nonomiya lebt und »atmet«. Mein zweites Beispiel greift auf eine Szene aus Sôsekis Roman Kokoro zurück. Hier erzählt der Lehrer des Protagonisten kurz die Geschichte eines seiner alten Klassenkameraden, der ein ewiger Unruhestifter und in alle möglichen Schlägereien verwickelt war, so dass sogar die Polizei eingreifen musste (Zitat 2): »Da Sie in der viel kultivierteren Atmosphäre unserer Zeit aufgewachsen sind, verurteilen Sie natürlich solche Ausschreitungen, und im Grunde empfinde ich genauso wie Sie.« 9

Dem Original folgend ließen sich die unterstrichenen Zeilen aber auch so wiedergeben: »Da Sie im viel kultivierteren kûki unserer Zeit aufgewachsen sind […]«. Besonders in dieser Hinsicht ähnelt das kûki jenem »Geist«, der uns in so bekannten Wortfügungen wie »Zeitgeist« gegenübertritt. 10 Der diesbezügliche Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie weist darauf hin, dass »die Rede vom Z[eitgeist] das Denken unter den Aspekt seiner Gegenwartsbezüge [stellt]«, 11 womit gleichzeitig impliziert wird, dass es 9

Natsume, Soseki: Kokoro, übers. u. Nachw. von Oscar Benl, 2. Aufl. Zürich 1994 [1. Aufl. 1976], S. 198 f. Im Original heißt es wie folgt (Natsume, Kin’nosuke: Sôseki zenshû [Sämtliche Werke Sôsekis], Bd. 9, Tokyo 1994, S. 161): 斯ん な乱暴な⾏為を、上品な今の空気のなかに育ったあなた⽅に聞かせた ら、定めて⾺⿅々々しい感じを起すでせう。私も実際⾺⿅々々しく思 ひます。 10 Das deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm definiert »Zeitgeist« als »die zu einer zeit geltenden meinungen, geschmack, wille«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 31, Leipzig 1956 (ND: München 1984), Sp. 558. 11 Konersmann, Ralf: Artikel »Zeitgeist« in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, S. 1266–1270, hier S. 1266. Andere einschlägige »Geist«-Komposita wären z. B. »Volksgeist«, »Gruppengeist« oder »Geist einer Nation« bzw. »Nationalgeist«. Vgl. dazu auch den Artikel

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durchaus Personen gibt, die eben diesen »Zeitgeist« deutlich verspüren können. Vielen anderen aber ist das kûki ihrer Zeit so selbstverständlich, dass sie sich seiner überhaupt nicht bewusst werden, wie es zum Beispiel dem Lehrer ergeht, der sich nur in seiner Rückerinnerung auf den Unterschied verschiedener zeitbedingter Atmosphären zu besinnen vermag. Ohne es eigentlich zu wollen, ist das menschliche Leben auf diese Weise stets in irgendeiner Form dem in der jeweiligen Situation waltenden »Zeitgeist« bzw. »Ortsgeist« ausgesetzt, und eben dadurch übt das kûki auf die ihm gewissermaßen willenlos ausgesetzten Menschen gravierende Einflüsse aus, denen sie, wenn sie unbewusst in ihm »versinken«, zunächst nachgeben und dann unterliegen, um ihnen schließlich sogar völlig verfallen zu sein. 3.

Die zweite Konnotation: Halbdinglichkeit

Das kûki wird aber nicht nur als etwas Selbstverständliches, sondern, viel weiter gehend, als etwas vorgestellt und erfahren, das den Menschen unmittelbar affiziert und zudringlich auf ihn einwirkt, was – sofern wir uns dessen überhaupt bewusst sind – wiederum eine Distanzierung von ihm erheblich erschwert. Das folgende Zitat aus dem Roman Kokoro beschreibt das kûki der Großstadt Tokyo, das auf den Protagonisten eine so starke Wirkung ausübt, dass er sich seiner Faszination nicht entziehen kann (Zitat 3): »Als ich nach Tokyo zurückkehrte, hatte ich selbstverständlich vor, ihn [d. h. den »Sensei«, also den Lehrer des Erzählers; Y. H.] wiederzusehen. Ich wollte ihn irgendwann einmal in den bis zum Beginn der Schule verbleibenden zwei Wochen in seinem Hause aufsuchen. Doch schon wenige Tage nach meiner Ankunft hatte meine Zuneigung für ihn erheblich an Intensität verloren. Zudem faszinierte »Geist« in Grimms Deutschem Wörterbuch, a. a. O., Bd. 5, Leipzig 1897 (ND: München 1984), Sp. 2623–2741; Oeing-Hanhoff, Ludger u. a.: Art. »Geist« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O., Bd. 3, Basel u. Stuttgart, 1974, S. 154–204.

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Yuho Hisayama

mich das verwirrende Treiben der Großstadt, alle möglichen Erinnerungen stiegen wieder in mir auf, und ich überließ mich den Anregungen und Verlockungen des Alltags. Sah ich auf der Straße Mitschüler und Studenten, so erfüllte mich das neue Schuljahr mit Hoffnungen und Spannung. So geschah es, dass ich den Sensei für eine Weile vergaß.« 12

Die oben unterstrichenen Zeilen lauten wortwörtlich aber: »Das meine Stimmung färbende (irodoru) kûki der Großstadt tingierte (sometsuketa) mein Herz sehr stark […]«. Der deutsche Übersetzer dürfte hier die Formulierung »das verwirrende Treiben der Großstadt« wohl deshalb gewählt haben, um damit sinngemäß auszudrücken, dass es die Stadt Tokyo ist, die den jungen Mann fasziniert. Am Beispiel dieses Zitats wird deutlich, dass das Wort kûki eine autonome Zudringlichkeit bezeichnen kann, zumal es im japanischen Original substantivisch verwendet wird und damit etwas bezeichnet, das dem Menschen realiter gegenübersteht: Hier geht es also nicht um das Innere des Menschen, sondern vielmehr um die sinnlich auf ihn wirkende bzw. »sein Herz tingierende« Atmosphäre der Metropole, die als solche eigenständig ist und der somit eine gewisse »Quasi-Objektivität« 13 zukommt. Eben dieser quasi-objektive Charakter des kûki ermöglicht es dem Protagonisten, alle eigenen Schuldgefühle leichthin abzutun und alles auf das substantivisch aufgefasste kûki zu schieben, wie es auch im Zitat selbst zum Ausdruck kommt: »Ich überließ mich [des kûki wegen; Y. H.] den Anregungen und Verlockungen des Alltags«, obwohl der Protagonist »selbstverständlich« immer noch 12

Natsume, Soseki: Kokoro (a. a. O.), S. 20. Im Original (Natsume, Kin’nosuke: Sôseki zenshû (a. a. O.), S. 11 f.): 私は無論先⽣を訪ねる積で東京へ帰つて 来た。帰つてから授業の始まる迄にはまだ⼆週間の⽇数があるので、 其うちに⼀度⾏つて置かうと思つた。然し帰つて⼆⽇三⽇と経つうち に、鎌倉に居た時の気分が段々薄くなつて来た。さうして其上に彩ら れる⼤都会の空気が、記憶の復活に伴ふ強い刺激と共に、濃く私の⼼ を染め付けた。私は往来で学⽣の顔を⾒るたびに新らしい学年に対す る希望と緊張とを感じた。私はしばらく先⽣の事を忘れた。 13 Zu diesem Terminus siehe Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 47–50. Vgl. dazu auch Hisayama: Erfahrungen des ki, S. 36–38.

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vorhat, seinen Lehrer wiederzusehen. Die Schuld daran, dies dann doch nicht getan zu haben, schreibt er aber keineswegs sich selbst, sondern einzig und allein dem kûki zu. Um dessen bislang aufgezeigte charakteristische Merkmale auch theoretisch näher bestimmen bzw. begründen zu können, soll an dieser Stelle der Begriff des Halbdings in die Diskussion eingebracht werden, 14 der auf Hermann Schmitz zurückgeht. Seiner Definition nach sind Halbdinge weder Ding noch Empfindung. Als Beispiele dafür nennt er den Wind, den Blick, die Stimme oder auch eine Melodie, die tiefe Stille, die Nacht und »Gefühle als ergreifende Mächte«. 15 Halbdinge unterscheiden sich von den Dingen in doppelter Hinsicht. Zum einen sind sie nur solange da, wie sie gespürt werden. Sie kommen, verschwinden und kommen wieder, und es hat keinen Sinn danach zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind. Zum anderen haben Halbdinge »eine besondere Dynamik, mit der sie betroffen machen und zudringlich werden«, 16 und entsprechen damit der Wirkung selbst, die sie spürbar auf uns ausüben. In diesem Kontext weist Schmitz dann auch ganz besonders auf die Eigenschaft der Zudringlichkeit als ein spezifisches Merkmal der meisten Halbdinge hin. Diese zwei Charakteristika sind ebenfalls dem das Herz des Protagonisten »tingierenden« kûki im Zitat 3 zu eigen: Es ist erstens nur solange da, wie es gespürt wird, und zweitens wohnt ihm eine dynamische Zudringlichkeit inne. 17 Damit lässt sich in Hinsicht auf das, was im vorangegangenen Abschnitt analysiert worden ist, ein erstes Fazit ziehen: Das kûki beeinflusst einen jeden von ihm affizierten Menschen als eine »Selbstverständlichkeit« so stark, dass es diesem extrem schwer 14

Ausgehend von dieser Perspektive habe ich auch das japanische Wort kehai analysiert; vgl. dazu Hisayama, Yuho: Ästhetik des kehai. Zur transkulturellen Phänomenologie der Atmosphäre, Rostock 2011. 15 Schmitz, Hermann: Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 173. Vgl. auch ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 79 f. 16 Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand, 3. Auflage Bonn 2007, S. 217. 17 Die Zudringlichkeit in diesem Kontext kann auch einen sanften Charakter haben, der jemanden sozusagen »beschleicht«.

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fällt, sich davon zu lösen. Doch selbst, wenn es ihm gelingen sollte, das kûki quasi-objektiv wahrzunehmen, ist eine völlige Befreiung davon allein schon deshalb nicht möglich, weil es auf das Individuum – mag es diesem bewusst sein oder nicht – unabweisbar halbdinglich-zudringlich einwirkt. Eben deshalb erweist sich die Distanzierung vom kûki in doppelter Hinsicht als schwer, weil es zugleich vertraut erscheint und dennoch zudringlich ist. Und gerade dieser Eigenschaft wegen, d. h. weil mit dem Wort nicht nur die Halbdinglichkeit, sondern gleichzeitig die Unaufdringlichkeit unseres Alltags untrennbar verbunden ist, deren Gründe oder Quellen wir normalerweise 18 nicht zu hinterfragen bzw. zu untermauern suchen, kann es, strategisch eingesetzt, auch zur Rechtfertigung sowohl kritik- als auch verantwortungsloser Sicht- und Verhaltensweisen benutzt werden. 4.

Die dritte Konnotation: Das Phänomen der Zugehörigkeit

Die Analyse der vorangehenden literarischen Texte verweist vor allem auf jenes »Distanzproblem«, bei dem der Mensch dem kûki gegenüber mehr oder weniger als passiv bzw. leidend erscheint. Das kûki kann aber vom Menschen ebenso gewollt wie akzeptiert werden, wenn damit das Zugehörigkeitsgefühl zu einer »atmosphärischen« – oder anders gesagt: von mehreren Personen als gleichgestimmt vorgestellten und empfundenen – Gemeinschaft gewährleistet wird. Dies führt uns in diesem Kontext noch einmal zurück zum Protagonisten Sanshirô im ersten Zitat, aber jetzt mit dem Blick darauf, dass er sich überlegt, ob er nicht auch »ein [solches] Leben ohne Ablenkung und ohne Kontakt mit der Welt führen« möchte, und zu der daraus sich entwickelnden Idee, dass dies durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte, wenn er sich dem kûki ebenso bedingungslos ergeben würde wie Nono18

Man denke in diesem Kontext daran, dass Edmund Husserl durch die sogenannte phänomenologische Reduktion versucht hat, diese Selbstverständlichkeit zu hinterfragen.

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miya. Doch Sanshirô nimmt das kûki vom »hier und jetzt« aus wahr, d. h. quasi von »außen«, ohne selbst betroffen zu sein, und offenbart damit eine mit dem negativen Gefühl der Entfremdung bzw. der Entwurzelung eng verbundene Weltauffassung, derentwegen allein er schon in sich eine vage Sehnsucht nach dem kûki verspürt, das er zwar wahrnimmt, ohne aber dazuzugehören. Einmal auf dieses Phänomen aufmerksam geworden, lässt sich auch das zweite und dritte Zitat auf ähnliche Weise interpretieren. In den beiden angeführten Passagen kann zwar gerade deshalb bewusst und reflektiert vom kûki gesprochen werden, weil der Protagonist nunmehr seine Reminiszenzen aus einem zeitlichen Abstand betrachtet. In beiden Fällen meint das Wort kûki aber andererseits auch die Zugehörigkeit zu einer, wenngleich nur grob, »atmosphärisch« vorgestellten Gemeinschaft. Im Zitat 3 kommt auf der einen Seite das Zugehörigkeitsgefühl des Erzählers zur Stadt Tokyo zwar deutlich zum Ausdruck, doch geht es dabei weniger um die Stadt als vielmehr um die mit dem neuen Schuljahr verbundenen »Hoffnungen und die Spannung«, d. h. um eine ganz besonders mit Emotionen aufgeladene Atmosphäre, die als solche von anderen Studenten ebenso empfunden wird wie von der Hauptfigur. Hier lässt sich an dem Text das verborgene, vermutlich dem Protagonisten selbst nicht ganz bewusste Verlangen ablesen, an diesem kûki beteiligt zu sein und in die Atmosphäre des neuen Schuljahres miteinbezogen zu werden – und von diesem Gefühl überwältigt bzw. »tingiert«, vergisst er dann die Verabredung mit seinem Lehrer. Auch im Zitat 2 wird ein solcher verborgener Wunsch, dem kûki zuzugehören, implizit beschrieben. Dabei geht es um die Konfrontation eines »unkultivierten kûki« der Vergangenheit mit dem »kultivierten kûki« der Gegenwart, wobei der Lehrer am Ende des Zitates seine zuvor bezogene Position wieder zurücknimmt: »im Grunde empfinde ich genauso wie Sie«, und doch betont er gerade damit – ihm selbst eher unbewusst – gleichzeitig die eigene immer noch enge Verbundenheit mit dem damaligen kûki. Das Wort kûki als Ausdruck einer solchen vor allem atmosphärisch geprägten Gemeinschaft läßt eine ebenso positive wie negative Konnotation zu. Während der Begriff einerseits als eine ganz 65 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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verschiedene Individuen verbindende Kopula interpretiert werden kann, wodurch eine menschliche Gemeinschaft zu Stande kommt und funktioniert, gibt es daneben in einer solchen kûkiGemeinschaft unübersehbar auch die Tendenz, heterogene Meinungen und Haltungen zu verdrängen, was letztendlich jede rationale bzw. kritische Hinterfragung des kûki ausschließt. Mit Blick auf diese Homogenität der kûki-Gemeinschaft hat Shichihei Yamamoto ein eher populärwissenschaftlich orientiertes Buch verfasst, das aber meines Wissens die einzig umfangreiche Untersuchung zu diesem Thema darstellt, und in diesem Kontext auf das Zugehörigkeitsgefühl vieler Japaner zu einer dem kûki geradezu verfallenen Gemeinschaft besonders in der Zeit des zweiten Weltkrieges hingewiesen, um dann das damalige kûki einer kritisch angelegten Analyse zu unterziehen. 19 Seiner Ansicht nach resultiert die Verfallenheit an das kûki im Totalitarismus aus einem »Lapsus«, bei dem etwas Relatives, d. i. das kûki, etwas Absolutem, wie etwa Gott, gleichgesetzt, d. h. »vergöttlicht« wird, ein Fehler, den Yamamoto aus einer kulturkomparatistischen Sicht dahingehend deutet, dass die Tendenz zu einer solchen »Verkennung« in Japan immer noch viel stärker sei als in den Ländern mit einer monotheistischen Religion, wobei er oft und gerne Japan mit Israel vergleicht. 20 Dass das »Zugehörigkeitsgefühl« als die dritte Konnotation des Wortes kûki etwas Positives und etwas Negatives gleichzeitig be19

Siehe dazu Yamamoto, Shichihei: Kûki no kenkyû [Untersuchung des kûki], Tokyo 1977, S. 7–94. 20 Auf seine einerseits zwar aufschlussreiche, andererseits aber manchmal auch allzu stereotype kulturvergleichende Analyse kann in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden. An dieser Stelle ist zumindest das Folgende zu bemerken: Bei seiner Argumentation geht er davon aus, dass es in vielen Kulturen einen den japanischen Vorstellungen ähnlichen animistischen Volksglauben gegeben habe und immer noch gibt, nach welchem man alle Wesen als beseelt und somit als heilig und mächtig ansieht. Bei den monotheistischen Religionen wird aber, so Yamamoto, die Macht jener beseelten Wesen relativiert, weil nur Gott als das einzige Absolute existiert. In Japan hingegen, wo eine solche monotheistische Religion niemals wirklich Fuß gefasst hat, war es offenbar problemlos möglich, die Macht des kûki als ein Absolutum anzusehen. Siehe dazu Yamamoto, a. a. O., S. 76–94.

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deuten kann, verdeutlicht auch ein in der japanischen Gegenwartssprache weit verbreiteter Ausdruck: »das kûki lesen« (kûki wo yomu). Dieses »Lesen« besagt, dass eine Person angesichts des jeweiligen, meistens zwischenmenschlichen kûki Vermutungen darüber ausstellt, was in einer bestimmten Situation zu tun sei oder was andere von ihr erwarten, um durch ihr richtiges Verhalten zu einer Gruppe oder zu einer Gemeinschaft zu gehören. Was damit realiter gemeint ist, lässt sich unter Zuhilfenahme eines einfachen Beispiels aus dem Alltagsleben veranschaulichen, so z. B. einem gemeinsamen Abendessen in einem Restaurant. Es ist spät geworden, man sitzt schon seit geraumer Zeit zusammen und so langsam würden die meisten nun doch ganz gerne nach Hause gehen. Aber ein einziger Teilnehmer der Runde redet und redet immer noch weiter und weiter, obwohl offensichtlich niemand mehr Lust hat, ihm zuzuhören, was zeigt, dass es ihm nicht gelungen ist, die Atmosphäre seiner Umgebung zu »lesen«, 21 sofern er dazu überhaupt fähig ist. Mit diesem »Lesen« ist zunächst einmal das Sich-Entziehen des Subjekts aus dem kûki gemeint, wodurch eine quasi-objektive, d. h. nicht in die Atmosphäre »versunkene« Wahrnehmung des kûki möglich wird. Zur Zugehörigkeit zu einer Situation oder Gemeinschaft gehört also auch das Moment der Distanz, und zwar, um angemessen an der jeweiligen Atmosphäre teilzuhaben, d. h. ihr entsprechend handeln zu können, wobei andererseits aber diejenigen, die nicht zum homogenen kûki gehören können oder wollen, letztendlich diskriminiert bzw. ganz aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Die mit Blick darauf eingeforderte Akzeptanz des kûki in bestimmten Situationen als ein das Heterogene verdrängendes Phänomen kann somit den Verzicht auf eine jegliche Kritik daran verursachen. Und wegen dieser potentiell unlösbaren Verbindung mit einer Tabuisierung, die eine Hinterfragung prinzipiell nicht mehr zulässt, können alle davon Betroffenen von ihren unter dem Einfluss des kûki vorgenommenen 21

Die Uhrzeit spielt in diesem Beispiel nicht die entscheidende Rolle, denn es gibt auch die gegenteilige Erscheinung, dass nämlich die Teilnehmer, selbst wenn es sehr spät geworden ist, sich nicht verabschieden wollen.

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Entscheidungen, auch wenn sie irrational und vollständig verantwortungslos sein sollten, von jeder damit verbundenen Schuld und Verantwortung freigesprochen werden, eben weil das für sie einzig maßgebliche Argument lautet: »Ich bzw. wir konnte(n) in jenem kûki gar nicht anders handeln.« 5.

Fazit und Ausblick

In meinen Ausführungen habe ich versucht, am Beispiel des japanischen Wortes kûki die Frage nach dem »Distanzproblem« zwischen Individuum und Atmosphäre zu beantworten, wobei es sich vor allem darum handelte, welche Schwierigkeiten einer Distanzierung von der Atmosphäre mit dem japanischen Wort kûki bezeichnet werden können. Als eine hypothetische Antwort dafür wurden in diesem Beitrag drei Konnotationen des Begriffs genannt: Zum einen bezeichnet das Wort kûki die selbstverständliche atmosphärische Gegebenheit eines Ortes bzw. einer Zeit. Zum zweiten wird das kûki als halbdinglich-zudringlich erfahren und vorgestellt. Drittens ist schließlich das Wort kûki mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer atmosphärisch homogenen Gemeinschaft eng verbunden. In dem Wort kûki sind zumindest diese drei Konnotationen so miteinander verflochten, dass der Begriff das »Distanzproblem« zwischen Atmosphäre und Individuum auf eine ihm ganz eigene Weise ausdrückt. Dieses Ergebnis könnte nun der Ausgangspunkt dafür sein, das diskursive Funktionieren des kûki-Phänomens noch eingehender zu analysieren, indem man weitere literarische oder historische Beispiele untersucht – und dies nicht nur in Bezug auf den japanischen kûki-Begriff, sondern zugleich mit Blick auf ähnliche Begrifflichkeiten in anderen Sprachen. Yamamoto vertritt u. a. die Meinung, dass sich zwischen kûki und dem altgriechischen Begriff des pneuma gewisse Ähnlichkeiten aufzeigen lassen, doch nennt er gerade in diesem Falle leider kein konkretes Beispiel. 22

22

Vgl. dazu Yamamoto, a. a. O., S. 58–61.

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Individuum und Atmosphäre

Vom Humboldt’schen Standpunkt der Unübersetzbarkeit vor allem abstrakter Begriffe einer Sprache in eine andere aus gesehen 23 ist es sicherlich nicht akzeptabel, kûki ganz einfach mit pneuma zu identifizieren, da die beiden Begriffe auf zwei ganz unterschiedlichen Kulturen beruhen. 24 Dennoch schließt dies nicht aus, auf eine wie auch immer geartete phänomenale Verwandtschaft von kûki und pneuma hinzuweisen, vorausgesetzt, dass man dabei keine wortwörtliche und begriffliche Entsprechung aufzuzeigen sucht, sondern hinter beiden die in verschiedenen Kulturräumen geläufigen grundlegenden »Lebenserfahrungen« 25 bzw. »Grunderfahrungen« 26 zu sehen bereit ist, und kaum anders dürfte es sich auch in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen dem kûki-Begriff und einigen Geist-Komposita im Deutschen verhalten. 27

23

Wilhelm von Humboldt hat auf das Problem der Unübersetzbarkeit gerade abstrakter Begriffe aus einer Sprache in eine andere ganz explizit hingewiesen: In der Einleitung zu seiner Agamemnon-Übersetzung vertrat er die Ansicht, »dass, so wie man von den Ausdrücken absieht, die bloss körperliche Gegenstände bezeichnen, kein Wort Einer Sprache vollkommen einem in einer andren Sprache gleich ist«, und weiter heißt es dann: »[w]ie könnte […] je ein Wort, dessen Bedeutung nicht unmittelbar durch die Sinne gegeben ist, vollkommen einem Worte einer andern Sprache gleich seyn?« (Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Berlin 1968, S. 129 f.) Folgt man diesem Diktum Humboldts, dann resultiert daraus, dass auch der Begriff des ki, mit dem kein substanzieller Gegenstand bezeichnet wird, in Wirklichkeit nicht übersetzbar ist. 24 Siehe dazu auch z. B. Libbrecht, Ulrich: Prana=Pneuma=Ch’i? in: W. L. Idema und E. Zürcher (Hg.): Thought and Law in Qin and Han China. Studies dedicated to Anthony Hulsewé on the Occasion of his Eightieth Birthday, Leiden 1990, S. 42– 62. 25 Vgl. Schmitz, Hermann: Lebenserfahrung und Denkformen, in: ders./Gabriele Marx/ Andrea Moldzio (Hg.): Begriffene Erfahrung: Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock 2002, S. 23–32. 26 Vgl. Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg u. München 2006. 27 S. dazu Anm. 11. Vgl. dazu auch noch Derrida, Jacques: De l’esprit. Heidegger et la question, Paris 1987.

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Literatur Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Auflage Berlin 2013. Derrida, Jacques: De l’esprit. Heidegger et la question, Paris 1987. Grimm Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, (Nachdruck) München 1984. Hisayama, Yuho: Ästhetik des kehai. Zur transkulturellen Phänomenologie der Atmosphäre, Rostock 2011. Ders.: Erfahrungen des ki. Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre, Freiburg 2014. Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Berlin 1968. Ikubundo Japanisch-Deutsches Wörterbuch, 2. Auflage Tokyo 1966. Konersmann, Ralf: Artikel »Zeitgeist« in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, S. 1266–1270. Kubny, Manfred: Qi. Lebenskraftkonzepte in China. Definitionen, Theorien und Grundlagen, Heidelberg 1995. Libbrecht, Ulrich: Prana=Pneuma=Ch’i?, in: W. L. Idema/E. Zürcher (Hg.), Thought and Law in Qin and Han China. Studies dedicated to Anthony Hulsewé on the Occasion of his Eightieth Birthday, Leiden 1990. Natsume, Soseki: Kokoro, Übers. u. Nachw. von Oscar Benl, 2. Aufl. Zürich 1994 [1. Aufl. 1976]. Natsume, Kin’nosuke: Sôseki zenshû [Sämtliche Werke Sôsekis], Bd. 5 und Bd. 9, Tokyo 1994. Natsume, Soseki: Sanshirôs Wege, Übers. u. Nachw. von Christoph Langemann, Berlin 2009. Oeing-Hanhoff, Ludger u. a.: Artikel »Geist« in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel, Stuttgart, 1974, S. 154–204. Onozawa, Sêichi/Fukunaga, Mitsuji/Yamanoi, Yû (Hg.): Ki no shisô. Chûgoku ni okeru shizenkan to ningenkan no tenkai, Tokyo 1978. Pentland, Alex: Honest signals, Cambridge/MA 2008. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994. Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand, 3. Auflage Bonn 2007. Ders.: Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010. Ders.: Lebenserfahrung und Denkformen, in: ders./Gabriele Marx/Andrea Moldzio (Hg.): Begriffene Erfahrung: Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock 2002. Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg/München 2006. Yamamoto, Shichihei: Kûki no kenkyû [Untersuchung des kûki], Tokyo 1977.

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Übertragung und Medium

Einleitung Husserl begründete die »Phänomenologie« in seinen Logischen Untersuchungen, die er als Werk des »Durchbruchs« bezeichnete. Das war der Anfang der von Herbert Spiegelberg so genannten »phänomenologischen Bewegung«. Indem diese, beseelt vom Geist des Durchbruchs, immer die sich jeweils in den Weg stellende Grenze durchbricht, öffnet sie jeweils eine neue Dimension des »Erscheinens« wie auch des »Nicht-Erscheinens«. In ihrer Geschichte wurde die Problematik des »Gefühls« in einem weiten Sinne mehrfach untersucht; die Richtungen der Betrachtungen konvergieren jedoch bislang nicht. Im deutschen Sprachraum sind die diesbezüglichen Analysen von Martin Heidegger und auch von Hermann Schmitz wohl bekannt. Forscher auf dem Gebiet der Phänomenologie erinnern sich vielleicht auch an einen Text zu dem Thema von Ludwig Landgrebe, der erst vor einigen Jahren publiziert wurde. 1 Wenn man sich dem französischen Sprachraum zuwendet, stößt man vor allem auf die materiale Phänomenologie von Michel Henry. Seine Philosophie ist auch im deutschen Sprachraum bekannt und in ersten Übersetzungen zugänglich. Henrys Philosophie bildet den Ausgangspunkt dieses Artikels. Das Thema meines Beitrags ist jedoch die Philosophie von Megumi Sakabe. Ich werde diese mit jener kontrastieren und einen Aspekt des ›japanischen‹ Denkens aufzeigen und in die Dis1

Landgrebe, Ludwig: Der Begriff des Erlebens. Ein Beitrag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen Ganzheit, hg. v. Karel Novotný, Würzburg 2010, besonders S. 75–124.

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kussion einbringen, der sich auf den Zusammenhang von Gefühl, den Ort und den Leib bezieht, wenn auch nicht systematisch, so doch zumindest fragmentarisch. Dabei gilt es folgende mögliche Bedenken zu berücksichtigen. Ist das ›japanische‹ Denken für die deutschen Leser zu ›fremd‹ ? Ich glaube, dass es durch die Forschungsarbeiten von Japan-Kennern aktuell in Deutschland zunehmend bekannter wird. Aber gibt es überhaupt ›das‹ japanische Denken? Ich glaube nicht. 2 Dieses ist nicht ›einheitlich‹, sondern vielseitig. Wenn auch z. B. die Philosophie von Kitaro NISHIDA berühmt ist, so gibt es doch auch andere Philosophien. Und das Denken in Japan ist weder ›eigenwüchsig‹, noch ›isoliert‹, obwohl Japan eine kleine Inselkette in Fernost ist. Es entstand im Kontext von interkulturellen Beziehungen, und zwar selbst in seinem ›Ursprung‹. Meiner Ansicht nach ist das sogenannte ›japanische‹ oder auch das sogenannte ›ostasiatische‹ Denken dementsprechend interkulturell zugänglich. Obwohl dies nicht das Hauptthema meines Beitrags ist, wird auch dieser Punkt im Laufe des Artikels klarer werden. Sakabe ist möglicherweise im deutschen Sprachraum nicht sehr bekannt, während er in Japan als einer der originellen Philosophen der Gegenwart gilt. Er ist 1936 geboren und 2009 gestorben und lehrte vorwiegend an der Universität Tokio. Obwohl der Schwerpunkt seiner Philosophie hauptsächlich auf Kant lag, war sein philosophisches Interesse breit und deckte die europäische Geistesgeschichte weitestgehend ab. Bemerkenswert im Zusammenhang dieses Artikels ist weiterhin die Tatsache, dass Sakabe auch eine tiefe Einsicht in die japanische Geistesgeschichte besaß, einschließlich der Philosophie von Tetsuro WATSUJI, der als sein Vorläufer jene hauptsächlich von einem ethischen Gesichtspunkt aus thematisiert hatte. Sakabes Philosophie, die, im Ganzen gesehen, eine hermeneutische Tendenz aufweist, ist auch vom phänomenologischen Gesichtspunkt aus aufschlussreich. Ein

2

In diesem Punkt stimme ich Hans Peter Liederbach zu. Vgl. Liederbach, Hans Peter: Heidegger to Watsuji Tetsuro (Martin Heidegger im Denken WATSUJI TETSUROS), Tokio 2006.

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Übertragung und Medium

Brennpunkt dieses Artikels wird auf seinem Begriff »utsushi« liegen. »Utsushi« ist ein japanisches Wort. Es kann durch die Wörter »Übertragung«, »Übergang«, »Wechsel«, »Spiegelung« u. a. ins Deutsche übersetzt werden. Das Wort mag sehr vieldeutig erscheinen. Fasst man aber diese Bedeutungen als Weisen des »Erscheinens«, das ein Grundbegriff der Phänomenologie ist, auf, so zeigt sich, dass das, was sich nicht bewegt, sondern fixiert ist, dass das, was nicht übergeht, sondern still bleibt, nicht »auffällig« werden kann und infolgedessen nicht »erscheint«. Etwas »erscheint« erst, wenn es zeitlich und räumlich übergeht, erst wenn es ins Andere gespiegelt wird. Handelt es sich um etwas Ursprüngliches, so erscheint es erst, wenn es vom Ursprung entfernt wird. Etwas »erscheint« also erst, wenn es übertragen wird. In diesem Sinne ist »utsushi« ein phänomenologischer Begriff. Aber die Übertragung fundiert etwas, das ich »Medium« nenne. Dieser Punkt wird im Laufe des Beitrags thematisch werden. Ein weiterer Schritt wird sodann zum Begriff des »Zwischen« führen. Hauptsächlich mit diesen Begriffen möchte ich das Thema dieses Buches, Gefühl, Ort und Leib, beleuchten. 1.

Ausgang von Michel Henry

Michel Henrys Phänomenologie, deren Hauptthema das Gefühl ist, kann mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Hier ist es also genug, wenn wir nur das Folgende feststellen: Henry behauptet, dass »der Cartesianismus eine Phänomenologie ist« 3. Die Phänomenologie ist eigentlich eine Wissenschaft des Erscheinens oder der Manifestation. Es gibt zwei verschiedene Weisen des Erscheinens: als Transzendenz und als Immanenz, obwohl die letztere häufig vergessen wird. Darauf beruhend nimmt Henry Descartes’ »cogito« zum Ausgangspunkt seiner Philosophie. Descartes definierte das »cogito« als »videre videor«. »Videre videor« ist auch 3

Henry, Michel: Génealogie de la psychoanalyse, Paris, 1985, S. 35. Eigene Übersetzung des Verfassers, Toru Tani.

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»sentir«. Und aufgrund dieser Interpretation von »sentir« erscheint »Affektivität« (affectivité) nach Henry als Immanenz. Die Immanenz ist, im Vergleich zur Transzendenz, der Bereich der »unmittelbaren« Erscheinung, wo es keine Distanz, kein Medium gibt. Eine solche Unmittelbarkeit (immédiation) betonend, zitiert Henry Descartes: »Das, was ich unter dem Denken verstehe, ist alles, was es in uns auf die Weise unseres unmittelbaren Bewusstseins gibt« 4. Zwischen dem Denken (dem cogito, das in sich das Ich einschließt) und der Affektivität (dem Gefühl) gibt es deshalb keine Distanz. 5 Damit öffnet Henry eine neue Dimension des Erscheinens. Diese Feststellung ist der Ausgangspunkt dieses Artikels. Ich möchte die immanente Affektivität nach Henry mit einer Auffassung vom Gefühl, die hier hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Begriff »utsushi« entfaltet werden wird, kontrastieren. Nun können wir an eine solche Konzeption die Frage stellen: »Wo« liegt das cogito, bzw. das Ich, im räumlichen Sinne? Hiergegen könnte man einwenden: Weil das cogito keine Ausdehnung besitzt, ist es sinnlos, auf eine solche »räumliche« Frage zu antworten. Dennoch steht es im Zusammenhang mit dem Leib. Wenn dieser eine Ausdehnung besitzt, kann man dementsprechend darauf antworten: Das cogito ist leiblich. Bei solchen Überlegungen ist jedoch Vorsicht geboten, denn Henry betont »die absolute Immanenz des Leibes« 6. Bei Henry gehört der Leib nicht zur Transzendenz, zum Außen, sondern ist wahrscheinlich ein anderer Name für das cogito. Er erscheint auf immanente Weise. Schließt dies aber seine Erscheinung als Transzendenz aus? Er erscheint doch »hier« in der transzendenten Welt, wenn dies auch nach Henry ein uneigentliches Erscheinen sein mag. Diesen Punkt kann man nicht bestreiten. Aber das bedeutet nicht, dass Henrys Auffassung falsch ist. Ein solches Verständnis des Leibes als Immanenz scheint mir nicht 4

Zit. nach Henry: a. a. O. S. 31. Übersetzung von T. T. Das Fühlen (»sentir«) – als Henrys eigener Begriff – gibt sich uns nur in der Immanenz. Die Immanenz ist das unmittelbare Bewusstsein des »Lebens« von sich selbst, also ohne Distanz. 6 Henry, Michel: Philosophie et phénoménologie du corps, 5. Auflage Paris 2003, (erste Auflage 1965), S. 79. Eigene Übersetzung. 5

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Übertragung und Medium

exzentrisch zu sein, vor allem in seiner Beziehung zum Fühlen und zum Gefühl. Um dies in der alltäglichen oder lebensweltlichen Erfahrung zu verdeutlichen, möchte ich eine Forschungsarbeit von Akio OGAWA, einem Linguisten der deutschen Sprache, heranziehen. 7 Sie bezieht sich auf das kleingeschriebene Pronomen »es«, wie es z. B. im Ausdruck »es ist kalt« verwendet wird. Normalerweise versteht man ein solches »es« einfach als »unpersönlich«. Und man versteht weiter diesen kurzen Beispielsatz dahingehend, dass die »Kälte« ein im Leib sich vollziehendes Phänomen ist und dass die Kälte-Empfindung irgendwo im Leib lokalisiert werden kann. Dies könnte auf den ersten Blick selbstverständlich und banal scheinen. Aber hier »erscheint« ein interessantes Problem. Nehmen wir die Formulierung »in Kyoto ist es im Winter kalt«. Daneben gibt es auch den Ausdruck »mir ist kalt«. Im ersten Fall (»in Kyoto ist es im Winter kalt«) ist das Pronomen »es« unbedingt nötig, während es im zweiten Fall (»mir ist kalt«) nicht auftritt. Wenn der erste Fall mit dem zweiten verglichen wird, stellt sich die Frage nach der Funktion des Pronomens »es«. Im ersten Fall wird die Kälte im Außenraum, also in der Transzendenz, in Distanz zu »mir« erfasst, während im zweiten die Kälte unmittelbar in »mir« gefühlt wird als Zustand meines Leibes. Das Auftreten des Pronomens »es« weist also auf eine Distanz hin, so Ogawa. Dies gilt für die Empfindung von Kälte. Wie verhält es sich aber bei einem »Gefühl« im eigentlichen Sinne? Hier finden wir einen ähnlichen, sich jedoch auf das echte Gefühl beziehenden Ausdruck wie »mir ist traurig zumute« oder »mir ist froh zumute«. Ich glaube, dass das, was wir bei dem obigen Beispiel festgehalten haben, dass die Kälte unmittelbar in mir gefühlt wird, als Zustand meines Leibes, in höherem Maße für das Gefühl gilt. Wenn das Gefühl ein leibliches Phänomen ist, gibt es keine Distanz zwischen mir und dem Leib. Wenn das Gefühl zur Immanenz gehört, gehört der Leib gleichfalls dazu.

7

Ogawa, Akio: »Universum von ›es‹«, Symposium am deutsch-japanischen Institut, Kyoto 21. Dezember 2013.

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Das Auftreten eines kleinen Pronomens ist also kein kleines Problem. Hier lässt sich die These von Émile Benveniste über das Personalpronomen anschließen: 8 Nur das erste Personalpronomen und das zweite können, so Benveniste, eigentlich als »Personalpronomen« bezeichnet werden, das dritte jedoch nicht. Nur das »ich« und das »du« liegen in der »Instanz«. Die beiden sind in der »Instanz« des Diskurses anwesend. Das »er« und das »sie« sind dagegen abwesend. Benvenistes Überlegungen lassen sich räumlich interpretieren: Die »Instanz« ist etwas wie der »Ort« des gegenwärtigen persönlichen Diskurses. Und dieser »Ort«, an dem allein das »ich« und das »du« aktuell-wirklich liegen, wird vom (Außen-)»Raum«, wo das »er« und das »sie« liegen, unterschieden. Die »Instanz« bezeichnet also einen diskursiven Ort. Das »ich« und das »du« sind in der »Instanz« gewiss, also einander nah, während das »er« und das »sie« dies nicht sind. Diese Unterscheidung ist wichtig, es ist jedoch nötig, hierbei noch weiter zu differenzieren. Denn in der »Instanz« gibt es eine Distanz zwischen dem »ich« und dem »du«, während »ich« »mir« selbst unmittelbar bin und es keine Distanz in »mir« gibt, so würde Henry sagen. Der Brennpunkt der distanzlosen Immanenz liegt in »mir«, gar nicht in der »Instanz«, so könnten wir mit Henry festhalten. Wie verhält sich das bisher Gesagte zum »es«? Gewiss kann das »es« auch als ein (Personal-)Pronomen gleich wie das »er« und das »sie« fungieren. In unserem Beispiel »in Kyoto ist es im Winter kalt« zeigte sich, dass das »es« auf eine »Distanz«, auf etwas »Fernes« und »Fremdes« hinweist. Wenn ein solches »es« gerade in der nächsten Nähe vom »mir« auftritt, wie bei Nietzsche, Lichtenberg, Groddeck und vor allem Freud, ist das für Henrys Phänomenologie der Immanenz sehr problematisch, denn es stellt sie in Frage. Henry interpretiert die Genealogie der Psychoanalyse derart, dass die von Descartes entdeckte Immanenz vergessen wurde und dass stattdessen das »es« sozusagen als ein verstellender Ersatz der Immanenz auftrat. Diese Interpretation selbst ist eine Verteidigung seiner, Henrys, cartesianischen Phänomenologie, also der reinen 8

Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, 1974.

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Übertragung und Medium

distanzlosen Immanenz des »ich«, gegen das Auftreten des »es«, so könnte man Henrys Überlegungen deuten. Ist Henrys Verteidigung überzeugend? Wie wäre es, wenn das Auftreten des ersten Personalpronomens »ich« selbst schon ein Ausdruck der Distanzierung von mir wäre? Ich glaube, dass dies der Fall ist. Der Grund dieser Distanzierung des »ich« von mir liegt jedoch nicht etwa darin, dass, wie bei Freud, das »es« von vornherein eine selbständige psychische Instanz wäre, also das Es unterhalb des Ich im Sinne der Topik Freuds, sondern darin, dass das Ich 9 und das »ich« in der Bewegung einer Distanzierung von sich (und des Zurückkommens auf sich) entstehen. Noch genauer gesagt, sehe ich dabei zwei Bewegungen. Erstens: Ein Pronomen ist eine Art »Ausdruck«, und ein »Ausdruck«, auch wenn es sich dabei um das »ich« handelt, ist erst möglich, wenn etwas »aus-gedrückt« wird. 10 Ein solches Aus-drücken ist eine Distanzierung von der vorprädikativen Erfahrung. Und wenn man auf etwas, das erst mit diesem Ausdruck aus-gedrückt wird, zurückkommt, erscheint es eigens als solches, hier als das Ich. Zweitens: Vom Ausdrücken abgesehen ist das sogenannte »Ich« nicht von vornherein selbständig, sondern entsteht gerade, weil es sich von sich selbst distanziert oder ent-fremdet und auf sich zurückkommt. Henrys Betonung der reinen Immanenz, die nicht nur aus Descartes »cogito«, »videre videor«, sondern auch aus Husserls »Selbsterscheinung« 11 des zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses herrührt, ist gewiss sehr wichtig, aber seine zu scharfe Trennung derselben von der Transzendenz verhindert die Thematisierung der oben ange-

9

Meiner Meinung nach ist der Ausdruck »das Ich«, welcher sich auf ein gegenständliches Ich beziehen würde, unpassend, geschweige denn der Ausdruck »das Es«. Aber eine solche Wortverwendung ist unvermeidlich. 10 Man könnte sagen, dass schon der Ausdruck überhaupt eine Distanz anzeigt. Das stimmt. Die Sprache schließt eine Distanz in sich ein. Aber das Pronomen lässt eine solche Distanz noch klarer erscheinen. 11 Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. X, The Hague 1966, S. 82. Vgl. Henry, Michel: Phénoménologie matérielle, Paris 1990, S. 44. Aber Henry kritisiert andererseits Husserl und versucht, die Selbsterscheinung des Flusses noch zu radikalisieren und zu reinigen.

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deuteten Bewegung, die doch wiederum auch schon bei Husserl zu finden ist, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Nun zurück zu dem Beispiel »mir ist traurig zumute«. Dies ist nicht die einzig mögliche Art, den Sachverhalt auszudrücken. Ein anderer Ausdruck lautet »es ist mit traurig zumute«. Wenn das »es« auf die Distanz hinweist, weist das Auftreten von »es« auf eine Distanzierung hin. Was ist dann diese Distanzierung selbst? Was für ein »Akt« ist sie? Eine Antwort darauf kann uns Husserls Theorie von Gefühl und Akt eröffnen. 2.

Akt und Medium

Husserl schreibt über das Gefühl in den Logischen Untersuchungen: »[…] an die Vorstellung knüpft sich eine Lustempfindung, die einerseits als Gefühlserregung des fühlenden psychophysischen Subjekts und andererseits als objektive Eigenschaft aufgefaßt und lokalisiert wird.« 12 Husserl sieht, dass eine Lustempfindung als Zweierlei aufgefasst wird: als Gefühlserregung des »Subjekts« und als Eigenschaft des »Objekts«. Sie wird aber nicht nur so aufgefasst, sondern auch irgendwo lokalisiert. Die Frage ist nun: wo? Die erstere wird »hier« und die letztere wird »dort« lokalisiert, so könnte man es deuten. Die Lokalisierung der beiden setzt einen Raum voraus. Ist dieser der sogenannte objektive Raum (im naturwissenschaftlichen bzw. mathematischen Sinne)? Das fühlende Subjekt, das »hier« lokalisiert ist, ist »psychophysisch«, also zunächst (noch) nicht transzendental. In den Logischen Untersuchungen wird die transzendentale Phänomenologie im eigentlichen Sinne noch nicht durchführt. Das »Hier« des transzendentalen Subjekts ist nicht identisch mit dem »Hier« im objektiven Raum. Jenes »Hier« ist ein Ausgangspunkt der Intentionalität, und damit auch der Konstitution des objektiven Raumes. Es wird

12

Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. XIX/1, The Hague/Boston/Lancaster 1984, S. 408. [Hervorhebung von T. T.]

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Übertragung und Medium

im Zusammenhang mit dem ihm zugehörigen Leib als »absolutes Hier« im phänomenologischen Raum bezeichnet. 13 Diese (nachträgliche) Korrektur gilt es zu berücksichtigen. Aber transzendental-phänomenologisch gesehen, ist das fühlende Subjekt »aktiv« im Sinne von »akt-vollziehend«, denn das Gefühl (wie z. B. Freude) ist ein »Akt« 14. Die Intentionalität richtet sich vom aktiven Subjekt auf das Objekt (oder besser auf den Gegenstand), also von innen her nach außen. Die Richtung der Konstitution ist dabei einbahnig. Dies ist typisch für die vorstellungs-mäßige Konstitution. Und dies wird auch zu einem Muster der einbahnigen Einfühlung, die im Folgenden thematisch werden wird. Aber Husserl legte anschließend die »passive« Schicht der Konstitution frei, bei der sich das Ich-Subjekt noch nicht an der Konstitution beteiligt. Das, was in dieser Schicht geschieht, erscheint für das Ich-Subjekt als etwas »Vorgegebenes«, das es als eine Voraussetzung seiner aktiven Konstitution lediglich aufnehmen muss. Die Einführung dieses Begriffs »passiv« besitzt gewiss einen Vorteil. Aber die Bezeichnung »passiv« bezieht sich auf das (schon entstandene und erschienene) »aktive« Subjekt. Wie wäre es nun, wenn es sich dabei aber allererst um das Entstehen des Ich selbst handelt? Die Begriffe »aktiv« und »passiv« sind grammatische Begriffe und beziehen sich auf die Diathese. Es gibt aber noch eine weitere Diathese: »medial« oder das »Medium«. Diese ist ursprünglicher als das »Passiv«. Aber der Gebrauch der medialen Diathese ging im Laufe der Zeit zurück. Die passive entwickelte sich stattdessen sozusagen als ein Ersatz für die mediale. Benveniste bezeichnete die aktive Diathese als »äußere«, die mediale aber als »innere«. 15 13

Wenn man die phänomenologische Reduktion vollzieht, findet man einen vor-theoretisch gelebten Raum oder einen lebensweltlichen Raum. Dieser Raum kann als »phänomenologisch« bezeichnet werden. Der Leib, der phänomenologisch gesehen in diesem Raum analysiert wird, wird als »absolutes Hier« bezeichnet. Er ist Ausgangspunkt der Welt-Konstitution. 14 Husserl: Husserliana, Bd. XIX/1, S. 408. 15 Vgl. S. 196 der deutschen Übersetzung von Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, 1972: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von Wilhelm Bolle, München 1974.

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In der äußeren Diathese liegt das Subjekt außerhalb des Prozesses des Verbs. Dies passt nicht zum Entstehen des Ich-Subjekts. Hingegen liegt in der inneren Diathese das Subjekt gerade innerhalb des Prozesses des Verbs. In diesem Prozess kann das Subjekt sich gerade als Subjekt herausbilden, wenn diese reflexive Form in der Funktion der inneren Diathese (des Mediums) so verstanden werden kann. Ist das Medium aber ein phänomenologischer Begriff? Es ist bekannt, dass Heidegger bei der Erklärung der »Phänomenologie« in Sein und Zeit diesen Begriff benutzte. Das Wort »Phänomenologie« ist aus dem »Phänomen« und dem »logos« zusammengesetzt. Das »Phänomen« stammt, nach Heidegger, aus »phainesthai«, aus der medialen Diathese des griechischen Wortes »phaino«. 16 Das bedeutet: Es zeigt sich, oder es phänomenalisiert sich. Und der Redende ist Träger des »logos«. Der Redende selbst, der besser als »Dasein« bezeichnet wird, ist jedoch kein Subjekt (und selbstverständlich kein Objekt), sondern ein »Medium«. 17 Aber warum »Medium«? Ich vermute: Weil der Redende (das Dasein) inmitten des Prozesses des verbalen Erscheinens steht, und weil Sprache und Wissenschaft (»logos«) erst vermittelt durch ihn noch phänomenaler erscheint oder sich noch weiter phänomenalisiert. Das Medium selbst ist medial. Was sagt uns Husserls Phänomenologie zu diesem Punkt? Gewiss ist der Begriff »Medium« bei ihm nicht zentral, aber trotzdem benutzt Husserl auf unauffällige Weise dieses Wort bei der Aufklärung des »Ausdrückens«: »Ein eigentümliches intentionales Medium liegt vor, das seinem Wesen nach die Auszeichnung hat, jede andere Intentionalität nach Form und Inhalt sozusagen widerzuspiegeln, in eigener Farbengebung abzubilden und ihr dabei seine eigene Form der ›Begrifflichkeit‹ einzubilden.« 18 16

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 14. durchges. Auflage Tübingen 1977, S. 28. 17 A. a. O. S. 32. 18 Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. III/1, The Hague 1976, S. 286. [Hervorhebung von T. T.]

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Übertragung und Medium

Das »Medium« bei Heidegger und das bei Husserl sind nicht identisch. Dennoch beziehen sich beide auf »Übertragung« und »Spiegelung«, also auf die Weisen des »Erscheinens« und des »Nicht-Erscheinens« (von der Verborgenheit zum Phänomen, oder vom Phänomen zur Sprache). Das »Medium« ist ein phänomenologischer Begriff. Das Wort »passiv«, das Husserl öfter benutzte, darf zumindest zum Teil durch »medial« ersetzt werden. An diesem Punkt nun können wir an Sakabes Theorie von »utsushi« anknüpfen und sie überprüfen. 3.

»Utsushi« bei Sakabe

Sakabe nimmt in einem seiner Artikel eine typisch japanische klassische Dichtung zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Wenn Herbst kommt Scheint selbst der Kiefer-Wind des Tokiwa-Bergs Zusammen mit der Jahreszeit zu wechseln Und dringt in meinen Leib hinein« 19

(秋くればAki kureba) (常磐の⼭の松⾵もTokiwa no yama no matsukaze mo) (うつるばかりにUtsuru bakarini) (みにぞしみけるMinizo shimikeru)

Das wichtigste Wort hier ist »utsuru« in der dritten Zeile. Es ist eine verbale Form von »utsushi«, und bedeutet hier »wechseln« oder »sich verändern«. In der üblichen Lesart dieser Dichtung nimmt man »matsukaze« (den Kiefer-Wind) als das Subjekt und deutet den Satz dann folgendermaßen: »der Kiefer-Wind scheint zu wechseln«. »Tokiwa« ist der Eigenname eines Berges, aber dieses Wort selbst bedeutet im Japanischen »Ewigkeit«, »Unvergänglichkeit« oder »Unveränderlichkeit«, wie man sie etwa einem Felsen zuschreibt. Die Kiefer ist ein immergrüner Baum, der seine 19

Übersetzung von Toru Tani. Dichtung von Izumi-shikibu in Shinkokinwakashu (13. Jh.), zit. nach Sakabe, Megumi: Sakabe-Megumi-shu Bd. 4, Tokio 2007, S. 65.

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Farbe nicht wechselt. In dieser Dichtung wird der Wind, der durch die unveränderlichen Kiefern am unvergänglichen Berg weht, mit dem Übergang der Zeit und der Jahreszeit sowie mit dem Wechsel der Farben im Herbst verglichen. Im Grunde bedeutet das Gedicht also, dass der Herbst mich den Übergang der Zeit fühlen macht und mich melancholisch stimmt. Sakabe führt diese Interpretation weiter, indem er zeigt, dass »utsuru« nicht nur den Wechsel bzw. Übergang der Zeit bedeutet, sondern auch die Weise ausdrückt, wie der Wind gerade denselben »Wechsel« derart in meinen Leib und in mich selbst »überträgt«, dass die Farben des Herbstes und der Übergang der Zeit in mich »gespiegelt« werden. (»Utsuru« kann auch »spiegeln« bedeuten.) In den japanischen Kurzgedichten Tanka und Haiku ist es üblich, dass ein Wort eine zwei- oder dreifache Funktion besitzt. Daher ist Sakabes Interpretation in keiner Weise ungültig. Sakabes Deutung lautet: »Der Wind am Tokiwa-Berg, der durch die Tokiwa-Kiefern weht, weht wie der Übergang der Zeit und die Vertiefung des Herbstes, als ob der Wind selbst und seine Farbe gewechselt hat. Diese Herbstfarbe des Windes wird in mich gespiegelt und sie färbt mich so, dass sich die Melancholie aus der Kälte des Windes in mich überträgt und in mich hineindringt.« 20

Das, was entfernt von »mir« geschieht, wird in mich »übertragen«, »internalisiert«, »gespiegelt«. Man kann auch sagen, die Melancholie, die »in« mir vorgeht, kann »nach außen« »übertragen« werden. Das, was »dort« erscheint, und das, was »hier« erscheint, geschieht nicht getrennt voneinander, sondern es wird wechselseitig »gespiegelt«, wie man an der Funktion des Wortes »utsushi« sehen kann. Ich fühle also das »äußerlich« Erscheinende als das ins Innere Übertragene, und das »innerlich« Erscheinende als das nach außen Übertragene. Die beiden Bewegungen könnten als das »Hinein-fühlen« und das »Heraus-fühlen« bezeichnet werden. Diese spezifische Denkweise erfährt bei Sakabe noch eine Er20

Sakabe Megumi: Sakabe-Megumi-shu, Bd. 4., Tokio 2007, S. 67. Eigene Übersetzung.

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Übertragung und Medium

weiterung. In Japan gibt es ein altes Wort, »utsushi-iwai«. Es bedeutet, dass beim Fest ein unsichtbarer Gott im Leib des sichtbaren Kaisers erscheint, indem der letztere vom ersteren »besessen« ist. Sakabe schreibt: »Utsushi-iwai« bedeutet, »den unsichtbaren Gott derart zu heiligen, dass er in dieser Welt sichtbar und gegenwärtig wird«. Weiter sagt er: »›Utsushi-iwai‹ bedeutet nicht nur ›den unsichtbaren Gott‹, sondern auch die toten Götter 21 als Vorfahren-Götter ›sichtbar und gegenwärtig in dieser Welt zu machen‹, und ›utsusu‹ 22 schließt hier in der Bedeutung von ›übertragen‹ dasjenige Verhältnis zwischen dem Tod und dem Leben, zwischen dem Abwesen und dem Anwesen, das nicht mit Begriffen wie ›Präsenz‹ und ›Gegenwart‹ ausgeschöpft werden kann, sowie ein Moment der Zeit in sich ein.« 23

Hier erkennt Sakabe im traditionellen japanischen Denken eine andere Idee des Erscheinens und Seins als die westliche, die dasjenige absolute und unmittelbare Anwesen in sich selbst, also ohne Verhältnis zu anderem, meint und es mit Begriffen wie »Präsenz« und »Gegenwart« bezeichnet. Dementsprechend bedeutet »utsushi« bei Sakabe nicht »Repräsentation« derjenigen »Substanz«, die hinter dem »Phänomen« liegt. Vielmehr bedeutet das Wort, dass schon innerhalb des »Erscheinens« überhaupt ein Moment von »utsushi« enthalten ist. »Utsushi« bezeichnet einen »Übergang« oder eine »Übertragung« von etwas Unsichtbarem, Nicht-Gegenwärtigem zu etwas Sichtbarem, Gegenwärtigem und umgekehrt. Weil es eine Bewegung ist, gibt es keine Dichotomie zwischen den beiden Momenten. Dies ist auch der Fall bei »utsutsu«, das auch die gleiche Wurzel wie »utsushi« besitzt. »Utsutsu« bedeutet sowohl Wirklichkeit als auch entleerte Unwirklichkeit. Sakabe schreibt:

21

»Die Götter« können in der japanischen Tradition auch menschliche Vorfahren sein. Wenn ein Mensch stirbt, wird er ein Gott. Der Unterschied zwischen Gott/Göttern und Menschen ist nicht so scharf wie in den westlichen Kulturen. Das ist besonders beim Kaiser der Fall. 22 »Utsusu« ist eine verbale Form von »utsushi«. 23 Sakabe: Sakabe-Megumi-shu, S. 71. Eigene Übersetzung.

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»›Utsutsu‹ meint keine bloße Präsenz, sondern schließt den ›Übergang‹ (›utsushi‹) zwischen dem Tod und dem Leben, zwischen dem Abwesen und dem Anwesen in sich ein, und sein Entstehungsort ist ein die Dunkelheit und die Helle überbrückender Grenzbereich, wo das Unsichtbare oder Formlose sich ins Sichtbare oder Formhafte ›spiegelt‹ (›utsusu‹). Indem das Moment des ›Übergangs‹ (›utsushi‹) in der Bedeutung enthalten ist, bezeichnet das Wort ›utsutsu‹, zeitlich gesehen, keine bloße Gegenwart, sondern etwas, das eine Setzung des Verhältnisses zwischen dem nicht mehr Seienden und dem noch nicht Seienden, zwischen dem Wovon und dem Wohin sowie auch eine Teilung oder Artikulation der zeitlichen Momente in sich einschließt.« 24

Dem Verhältnis des zeitlichen »Übergangs« (»utsushi«) zwischen der sichtbaren Gegenwart und der unsichtbaren Vergangenheit/ Zukunft entspricht ein isomorphes Verhältnis im Raum: ein vertikales Verhältnis zwischen dem Mittelland des Schilfgefildes (»Ashihara-no-nakatsukuni«) und der Himmelswelt (»Takama-no-hara«) 25/Unterwelt (»Ne-no-kuni«). Wenn dieses vertikale Verhältnis horizontalisiert wird, wird es zum Verhältnis zwischen »Yamato«, wo die ehemalige Regierung ihren Sitz hatte, und »Ise«, wo sich der Schrein für die Göttin der Sonne befindet, sowie »Izumo«, wo der Schrein für den Gott der Unterwelt liegt. 26 Wenn man eine solche Räumlichkeit mit den dichotomischen Begriffen von »wirklich« und »unwirklich« denkt, scheinen die Himmelswelt (»Takama-no-hara«) und die Unterwelt (»Ne-nokuni«) unwirklich zu sein, während das Mittelland des Schilfgefildes (»Ashihara-no-nakatsukuni«) wirklich ist. Es ist jedoch nötig, mit dem Begriff »utsushi« den »Übergang« oder die »Spiegelung« zwischen der Wirklichkeit und der Unwirklichkeit zu erfassen. Die Wirklichkeit und die Unwirklichkeit »spiegeln« sich wechselseitig. Die beiden sind nicht trennbar. Also ist die Räumlichkeit in Sakabes Interpretation nicht innerhalb der »Wirklichkeit« allein angesiedelt und auf sie begrenzt. Oder besser: Der Begriff »utsu24

A. a. O. S. 72. Dies kann auch als »Takama-ga-hara« usw. ausgesprochen werden. 26 Es gibt auch eine andere Interpretationsmöglichkeit: In »Izumo« liegt der Eingang zur Unterwelt. 25

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Übertragung und Medium

shi« ermöglicht die Erweiterung der Räumlichkeitsauffassung selbst. »Utsushi« ist sozusagen ein Prinzip der »Weltanschauung«, wenn man die Bedeutung der »Welt« selbst erweitern darf. Die Bedeutung der gemeinsamen Wurzel »utsu« von »utsushi« und »utsutsu« veränderte sich später zur Bedeutung von »unwirklich«. Was in einer wechselseitigen Übergangsbewegung ist, kann eigentlich nicht fixiert werden. Aber im Laufe der Geschichte kam es sozusagen zu einer Petrifizierung dieses Begriffs. Das Wort »utsu« evoziert nun nur noch die Bedeutung »unwirklich«. Dementsprechend ist die eigentliche Bedeutung des Begriffs »utsushi« heutzutage fast vergessen. Aber der ursprüngliche Begriff von »utsushi« meint weder »wirklich« noch »unwirklich«, sondern vermittelt vielmehr die beiden. Ein ähnliches Phänomen wie »utsushi« kann man nun in phänomenologischer Hinsicht im »Gefühl« finden. Das »Gefühl« ist ein fundamentales Phänomen des »Übergangs« und der »Spiegelung«. Ich knüpfe hierbei wiederum an Husserl an. Husserl analysiert das Gefühl in seinen Logischen Untersuchungen. Manchmal wird das Gefühl mit der Empfindung verwechselt. Nach Husserl ist die Empfindung jedoch nicht intentional. 27 Ein Gefühl wie Gefallen oder Missfallen ist dagegen grundsätzlich intentional, 28 auch wenn es fundiert ist. Die fundierende Intentionalität ist auf den vorgestellten Gegenstand gerichtet. Für seinen Begriff der »Intentionalität« ist die Beziehung auf den Gegenstand am fundamentalsten. Aber gerade dank der Intentionalität kann das fundierte Gefühl (z. B. Freude) auf den Gegenstand übertragen werden. Husserl sagt: »So ist z. B. die Freude über ein glückliches Ereignis sicherlich ein Akt. Aber dieser Akt, der ja nicht ein bloßer intentionaler Charakter, 27

»Wir sprachen früher von »Gefühlen« des Gefallens oder Mißfallens, der Billigung oder Mißbilligung, der Wertschätzung oder Abschätzung […] In die offenbare Wesenseinheit dieser Gattung, die ausschließlich Akte umfaßt, wird man jene Schmerz- und Lustempfindungen nicht einordnen können; sie sind vielmehr mit den Berührungs-, Geschmacks-, Geruchsempfindungen usw. deskriptiv, ihrem spezifischen Wesen nach, zusammengehörig.« (Husserl: Husserliana, Bd. XIX/1, S. 407). 28 Husserl: Husserliana, Bd. XIX/1, S. 401 ff.

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sondern ein konkretes und eo ipso komplexes Erlebnis ist, befaßt in seiner Einheit nicht nur die Vorstellung des freudigen Ereignisses und den darauf bezogenen Aktcharakter des Gefallens; sondern an die Vorstellung knüpft sich eine Lustempfindung, die einerseits als Gefühlserregung des fühlenden psychophysischen Subjekts und andererseits als objektive Eigenschaft aufgefaßt und lokalisiert wird: das Ereignis erscheint als wie von einem rosigen Schimmer umflossen. […] es [ein trauriges Ereignis; T. T.] erscheint als mit der Färbung der Trauer umkleidet.« 29

Husserl sieht die Übertragung des Gefühls. Das ist bemerkenswert. Diese ist bei ihm aber einbahnig. Wir stellten jedoch oben, ausgehend von der Interpretation von »utsushi«, die wechselseitige Bewegung des Gefühls fest. Husserls Analyse soll in dieser Hinsicht korrigiert werden. (Ich glaube im Übrigen, dass das gleiche für die Empfindung gilt, die nach Husserl nicht intentional ist.) Es bedarf hier zunächst einer Bemerkung. In diesem Kapitel wurde, ausgehend von Sakabes Theorie von »utsushi«, die wechselseitige Übertragung/Spiegelung thematisiert. Ist eine solche Konzeption möglicherweise für Nicht-Japaner unverständlich? Man kann jedoch eine ähnliche Bewegung im westlichen Begriff der »Metapher« finden, deren ursprünglicher Sinn »Übertragung« ist. Einige Phänomenologen, die wie Paul Ricœur auch hermeneutisch vorgehen, haben diesen Begriff thematisiert. Aber wenn man weiter in den westlichen Philosophien nach etwas Ähnlichem sucht, könnte man z. B. auch bei Kant, bei Hegel u. a. fündig werden. Innerhalb der phänomenologischen Bewegung stößt man z. B. auf Heideggers Begriff »Spiegel-Spiel« 30. Dieser Begriff deutet die Spiegelung und das Zuspiel (eine Art Übertragung) an. Ich glaube also, dass Sakabes Deutung von »utsushi« auch für Nicht-Japaner durchaus verständlich ist.

29 30

Husserl: Husserliana, Bd. XIX/1, S. 408. [Hervorhebungen von T. T.] Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, Bd. 79, Frankfurt a. M. 1994, S. 18 f.

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Übertragung und Medium

4.

Ent-fremdung und Einfühlung

Nach Sakabe kann das Gefühl übertragen werden. Aber nach Henry ist das Gefühl immanent. Es wird nicht übertragen, denn wenn es irgendwohin übertragen würde, wäre es transzendent. Mithilfe des Begriffs »utsushi« können wir dagegen die zu scharfe Trennung zwischen der Immanenz und der Transzendenz problematisieren. Geht man vom »utsushi« aus, ist es nötig, anders zu denken. »Utsushi« ist nicht nur eine Bewegung zwischen der Immanenz und der Transzendenz, sondern es öffnet wegen seiner Doppelbewegung das »Zwischen«. Was im Bereich des Zwischen liegt, ist nicht eigenständig, sondern immer auf ein anderes bezogen. In der Doppelbewegung von »utsushi« erscheint das Zwischen als solches. Das Zwischen ist kein Zwischenraum zwischen zwei Dingen im objektiven Raum. Es ist weder der Raum als ein intentional vorstellungsmäßiges Nah-Fern-System noch die Umwelt als zu besorgender Zeugzusammenhang. 31 Vielmehr ist es ein besonderer Ort 32, der durch »utsushi« geöffnet wird. Es ist auch möglich, das Zwischen selbst als einen Prozess zu verstehen, der sich »verbal« vollzieht, weil es zusammen mit der Funktion von »utsushi« sich erweitern oder sich verengen kann. Dieses »sich-erweitern« oder »sich-verengen« entspräche dann der medialen Diathese. Ein solches Verständnis des »Zwischen« ermöglicht einen neuen Durchbruch nicht nur hinsichtlich der Auffassung von Ort und Raum, sondern auch in Bezug auf Fremderfahrung. Denn obwohl »utsushi« ein allgemeines Prinzip ist, findet es am häufigsten zwischen Menschen statt, oder genauer, zwischen mensch31 Der Kiefer-Wind ist, vom Fühlen her gesehen, näher als z. B. der vor mir stehende Schreibtisch. 32 Man setzt gewöhnlich den »objektiven« Raum voraus und meint, dass der Ort ein punktförmiger oder höchstens kleiner Teil im »objektiven« Raum sei. Aber dieser Raum selbst ist sozusagen ein End-Produkt der Konstitution. Er wird konstituiert, indem man den ursprünglichen Ort, der aufgrund des »utsushi« sich öffnet, aktiv in die End-Konstitution einbringt. Dabei wird die Zwischenpersonalität (von Ich und Du) sozusagen (in die dritte Person, also »Er« und »Sie«) entpersonalisiert.

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lichen Leibern. Sakabe sagte einmal bei einem Symposium, dass ein Leib, der nicht übergreifen würde auf andere Leiber, kein Leib wäre. Dabei analysierte und erklärte er einen Begriff von Motokiyo ZEAMI (1363–1443), einem japanischen No-Spieler, »einen entfernten Blick« (»riken-no-ken«). Mit diesem »entfernten Blick« kann der No-Spieler, der selbst scheinbar nur von »hier«, also von seiner Position auf der Bühne aus, durch die zwei Löcher der Maske hindurch nach außen sehen kann, sich trotzdem selbst von »dort«, also vom Publikum her, »sehen« (oder besser »fühlen«). Sakabe erwähnt diesbezüglich manchmal Watsujis Begriff »aidagara« (das zwischenmenschliche Verhältnis) als einen Hintergrund seiner Theorie. In dieser Verknüpfung wiederum sehe ich eine Nähe zu Husserls Theorie der Ent-fremdung und der Einfühlung. Die folgende Interpretation dieser Zusammenhänge könnte zwar aus einer husserltreuen Perspektive ketzerisch erscheinen, wird jedoch im Zusammenhang dieses Artikels aufschlussreich sein. Ich wende mich nun Husserls Analysen zur Konstitution des alter ego und zur Konstitution der Zeit zu. Anschließend werde ich eine neue Interpretation dieser Probleme, die auf dem Begriff »utsushi« beruhen, freilegen. Eine häufige Interpretation besagt, dass Husserl in seinen Cartesianischen Meditationen versuchte, von meinem Ich her (wegen der Paarung meines hiesigen Leib-Körpers und eines anderen dortigen Leib-Körpers) ein anderes Ich zu konstituieren. Und es wird oft gesehen, dass dieser Versuch scheiterte: Er ist ego-zentristisch und kann die Fremderfahrung nicht genügend aufklären. Husserl schreibt: »Da in dieser [primordinalen; T. T.] Natur und Welt mein Leib der einzige Köper ist, der als Leib (fungierendes Organ) ursprünglich konstituiert ist und konstituiert sein kann, so muß der Körper dort, der als Leib doch aufgefaßt ist, diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her haben, und dann in einer Weise, die eine wirklich direkte und somit primordinale Ausweisung der Prädikate der spezifischen Leiblichkeit, eine Ausweisung durch eigentliche Wahrnehmung ausschließt.« 33 33

Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. I, 2. Auflage The Hague 1973, S. 140.

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Übertragung und Medium

Husserl erwähnt in dieser Textstelle eine »Übertragung«. Ihre Richtung verläuft jedoch einbahnig, vom Ich zum anderen. Hingegen höre ich in einem Satz in der Krisis-Schrift eine (leise) Möglichkeit, bei Husserl eine wechselseitige Bewegung, ähnlich wie im Begriff »utsushi«, auszumachen. »Die Selbstzeitigung sozusagen durch Ent-Gegenwärtigung (durch Wiedererinnerung) hat ihre Analogie in meiner Ent-fremdung (Einfühlung als eine Ent-Gegenwärtigung höherer Stufe – die meiner Urpräsenz in eine bloß vergegenwärtigte Urpräsenz).« 34 Es ist offensichtlich, dass die Ent-Gegenwärtigung und die Wiedererinnerung hier gleichgesetzt sind, und dass wiederum die Ent-fremdung und die Einfühlung gleichgesetzt sind. Die Ent-Gegenwärtigung wird üblicherweise derart verstanden, dass sich meine Urpräsenz von innen her nach außen richtet. Das ist der Fall bei der primären Erinnerung, also der Retention. Ist das aber auch der Fall bei der Wiedererinnerung? Gewiss, bei einigen Textstellen kann man vermuten, dass Husserl einer solcher Auffassung gewesen sein könnte. Aber Husserl sagt: »Durchaus davon [= von der primären Erinnerung; T. T.] zu scheiden ist die sekundäre Erinnerung, die Wiedererinnerung.« 35 Ist es unmöglich, in dieser Unterscheidung der beiden Erinnerungen eine Differenz der Richtungen zu finden, wenn es auch noch andere Differenzen gibt? Schon früher bezeichnete Husserl »Wiedererinnerung« als »Reproduktion«. Welche Richtung besitzt die »Reproduktion«: »von innen her nach außen«? Er schreibt: »In der Vergegenwärtigung 36 [= Wiedererinnerung; T. T.] haben wir nun den Ton oder die Tongestalt mitsamt ihrer ganzen zeitlichen Extension noch einmal.« 37 Das Wort »noch einmal haben« bedeutet nicht »sich von der Urpräsenz her nach außen zu richten«, sondern »das Vergangene zur Urpräsenz zurückzuziehen«, also »von außen her nach 34

Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. VI, The Hague 1976, S. 189. Husserl, Edmund: Husserliana Bd. X, S. 35. [Hervorhebung von T. T.] 36 »Vergegenwärtigung« selbst ist ein allgemeiner Begriff. Hier bedeutet der Begriff »Wiedererinnerung«. 37 Husserl, Edmund: Husserliana Bd. X, S. 46. [Hervorhebung von T. T.] 35

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innen«, so scheint mir. Wenn dies richtig ist, wird die »Wiedererinnerung« hier als eine Wiedererinnerung gedeutet. Oder: Die »Wiedererinnerung« selbst besitzt eine Doppelbewegung. Man könnte also im oben genannten Satz aus der Krisis-Schrift die Doppelbewegung von innen her nach außen und auch von außen her nach innen finden. Die Ent-fremdung könnte normalerweise derart verstanden werden, dass sich meine Urpräsenz nach außen richtet. Und die Einfühlung 38 könnte normalerweise wiederum derart verstanden werden, dass sich meine Urpräsenz nach außen, also nach dem Anderen richtet. Aber die Einfühlung in der oben genannten Textstelle ist von der Analogie-Beziehung mit der Wiedererinnerung her zu verstehen, die gerade jetzt als eine Bewegung von außen nach innen verstanden worden ist. Dann könnte die Einfühlung bedeuten, von außen nach innen zurückzukommen. Wenn dies richtig ist, wird die »Einfühlung« hier als eine Einfühlung gedeutet. Oder: Die »Einfühlung« selbst besitzt eine Doppelbewegung. Man könnte also im oben genannten Satz die Doppelbewegung von innen her nach außen und auch von außen her nach innen erkennen. Die Fremderfahrung besitzt eine solche Doppelbewegung. Nun kann man den Begriff »Einfühlung« in drei verschiedene Bewegungen zergliedern: Erstens, die Übertragung von mir her in den Anderen. Zweitens, die Übertragung vom Anderen her in mich. Drittens, die wechselseitige Übertragung. Was die dritte Bewegung angeht, erwähnt Husserl weiter im Hinblick auf die Paarung der Leiber »ein lebendiges Sich-wecken, ein wechselseitiges, überschiebendes Sich-überdecken nach dem gegenständlichen Sinn« 39. Die dritte Bewegung wird aber gerechtfertigt werden, wenn man anerkennt, dass die Fremderfahrung, »sachlich« gesehen, eine solche Doppelbewegung besitzt. Die Fremderfahrung und die Einfühlung im dritten Sinne sind synonym.h 38

Husserl übernahm den Begriff »Einfühlung« von Theodor Lipps, der den Begriff ausschließlich als ästhetischen benutzte. Bei Lipps scheint die Einfühlung einbahnig zu sein. Sie ist andererseits jedoch eher gefühlsmäßig als vorstellungsmäßig. Dieser Aspekt ist nun wichtig 39 Husserl: Husserliana, Bd. I, S. 142.

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Übertragung und Medium

Und hierbei besteht auch eine Deklinierbarkeit des Ich-DuVerhältnisses. Die Tragweite und die Funktion derselben könnte Benvenistes (bekannten) Begriff »Instanz« hier von unserem Gesichtspunkt aus als »(zwischen-)persönlichen Ort« bestimmen. Dieser »Ort« ist nicht so strukturiert wie der intentional einbahnige Raum von Bewusstseinsakten 40 oder der umweltliche im Sinne des Zeugzusammenhangs, geschweige denn der objektive Raum. Das »du« ist viel »näher« als jedes Zeug. Was das »du« von dort her erfährt, wird in das, was das »ich« hier erfährt, übertragen und gespiegelt und umgekehrt. Dieser Ort wird vor allem durch diese Spiegelung strukturiert: Er ist wie ein »Spiegelsaal«. Und er erweitert sich oder verengt sich, wie schon gezeigt. Hingegen gehören das »er« und das »sie« nicht dazu. Sie sind viel »ferner«. Sie liegen im »unpersönlichen« Raum. Wir haben nun in (zwischen-)persönlicher Hinsicht ein anderes Raumsystem erschlossen. 5.

Weitere Probleme

Ich habe einen kleinen Satz aus der Krisis-Schrift interpretiert. Aber dort fehlen mindestens drei Problemfelder: der Leib, die Deklinierbarkeit bzw. Undeklinierbarkeit des Ich und die Appräsentation. In dieser Richtung möchte ich meine Interpretation im Folgenden noch etwas weiter entwickeln. 40

»Ort« ist, wo die Bewegung von »utsushi« (hier zwischen Ich und Du) geschieht. »Raum« ist dagegen zunächst das, was in der »natürlichen« Einstellung erscheint. Aber dieser »Raum« ist doch durch den intentionalen Akt des Bewusstseins (in der »natürlichen« Einstellung) konstituiert. Hier ist die »einbahnige« Konstitution vorherrschend. Mir jedoch geht es darum, den »Ort«, wo die wechselseitige Bewegung von »utshushi«, also die (zwischen-)persönliche Beziehung, sich vollzieht, freizulegen. Der »Raum« ist dann weiterhin in der »naturalistischen« oder »naturwissenschaftlichen« Einstellung konstituiert. In der »naturalistischen« Einstellung vergisst man die (zwischen-)persönliche Beziehung völlig. – Übrigens: Husserl benutzt den Begriff »natürlich« in zweierlei Sinne: »personalistisch« und »naturalistisch«. »Naturalistisch« entspricht »naturwissenschaftlich«. »Personalistisch« ist fast gleichbedeutend mit »lebensweltlich«; ich aber möchte den Begriff »Person« nun von der (zwischen-)persönlichen Beziehung aus bestimmen, also von der Beziehung zwischen Ich und Du aus.

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Toru Tani

5.1

Leib und Sich-Verhalten

Der Leib spielt eine wichtige Rolle für die Raum-Konstitution, wie Husserls Vorlesung Ding und Raum zeigt. Aber seit der Forschungsarbeit von Claesges 41 ist diese ziemlich gut bekannt. Im Zusammenhang dieses Artikels ist es nun wichtig aufzuklären, welche Funktion der Leib für die Konstitution des zwischen-persönlichen Ortes hat. Husserl erwähnt bereits das »Gebaren« 42 des Leibes. Sakabe betont diesen Aspekt noch stärker mit dem Begriff des »Sich-Verhaltens«. Hinter dieser Betonung steht seine Interpretation von »mimesis« (Nachahmung). »Mimesis« ist für Sakabe eine Art »utsushi«, also eine Doppelbewegung. Sakabe sagt: »Es ist dann von selbst verstanden, dass im Grund der phänomenalen Paarung, der analogischen Apperzeption, der Sinnesüberschiebung, der apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her (5. Cartesianische Meditation), die Husserl als das Fundament der Bildung der ›intersubjektiven‹ Welt betrachtet, gerade das »Sich-Verhalten« als die Interaktion oder als der Chiasmus von imitans-imitatum liegt.« 43

Obwohl diese Stelle sehr skizzenhaft ist, ist sie aufschlussreich. Hier kann man sozusagen eine Synthese der Doppelbewegung und des Mediums bei Sakabe finden. Zuerst muss man berücksichtigen, dass das reflexive Verb mit dem Medium verwandt ist. Sakabe benutzt dieses im Begriff »Sich-Verhalten«. Das Ich ahmt das Sich-Verhalten (des Anderen) nach, aber der Andere ahmt wiederum das Sich-Verhalten vom Ich nach. Eine wechselseitige Nachahmung, eine Widerspiegelung des Sich-Verhaltens, eine Doppelbewegung vollzieht sich. Es ist dabei wichtig, bei der Verwendung der Wörter »ich« und »Anderer« vorsichtig zu sein, denn sie erscheinen allererst aufgrund dieser Doppelbewegung eigens je als »ich« und als »Anderer«. Es handelt sich hierbei um ein »mediales« Phänomen. Das Ich und der Andere bilden sich und zeigen 41

Claesges, Ulrich: Edmund Husserls Theorie der Raumkonstituion, The Hague 1964. Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. XVI, The Haag 1973. 42 Husserl: Husserliana, Bd. I, S. 144. 43 Sakabe: Sakabe-Megumi-shu, S. 299. Übersetzung von Toru Tani.

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Übertragung und Medium

sich gerade erst innerhalb des Prozesses, den das Verb ausdrückt. Sakabes Terminus »Sich-Verhalten« soll also grammatisch als medial verstanden werden und wechselseitige Bezüge bezeichnen. 44 Ein solches Phänomen vollzieht sich beim wechselseitigen Tasten, einander Ansprechen usw. zwischen zwei Personen. In diesem Zusammenhang könnte man auch den Fall des ansteckenden Schreiens unter kleinen Kindern erwähnen, wie es Merleau-Ponty anführt. Die Gefühlsansteckung geschieht häufig sogar bei Erwachsenen. Meiner Meinung nach ist der Gefühlsausdruck am zentralsten, z. B. das wechselseitige Lächeln, denn hierbei werden das Sich-Verhalten und das Gefühl ineins mitgeteilt. Ich glaube, dass die Einfühlung als eine solche Doppelbewegung am häufigsten und am leichtesten im Gefühl stattfindet. Man könnte meinen, dass das Gefühl »am innerlichsten« sei und dass die Einfühlung des Gefühls deshalb schwierig zu realisieren sei. Aber an jenem »Ort«, der sich aufgrund der Bewegung des »utsushi« öffnet, überträgt gerade das »Innere« sich ins »Äußere« und das »Äußere« sich ins »Innere«. Man kann hierin eine Parallele zur Einfühlung finden. Das Ich und der Leib sind untrennbar. Und sie sind nicht rein immanent, sondern befinden sich in der Doppelbewegung oder Spiegelung mit dem Anderen. Diese strukturiert den zwischen-leiblichen »Ort«. In diesem waltet keine einbahnige Intentionalität. 5.2

Undeklinierbarkeit des Ur-Ich

Im Kontext des oben genannten Satzes aus der Krisis-Schrift thematisiert Husserl das Problem der Deklinierbarkeit bzw. Undekli44

Aber Sakabe sieht noch eine – um eine Stufe tiefere – Dimension. Sakabe legt diese Schicht aus dem Text von Zeami frei. Beim Tanzen im üblichen Sinne gibt es eine tiefere Dimension. Dabei vollziehen sich »Drehen«, »Rhythmus«, »Harmonie« und Ähnliches in einem ursprünglichen Sinne. Diese könnten sozusagen als das »Ur-Tanzen« bezeichnet werden. Diese Bewegungsvollzüge sind intersubjektiv offen. Sie sind dementsprechend auch der ursprüngliche Boden des SichVerhaltens. In dieser Dimension findet Sakabe aber nicht nur das Ur-Tanzen, sondern auch die Weise des Nicht-Tanzens. Die beiden gehören zusammen.

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nierbarkeit des Ur-Ich. Das Ur-Ich kann (wegen der Ent-fremdung) zum »Du« für das andere Ich werden. Es ist deklinierbar. Trotzdem erscheint das Ur-Ich im Zuge der phänomenologischen Reflexion, also beim sozusagen höchsten Zurückkommen auf sich selbst, eigens als »undeklinierbar« und »absolut einzig« 45. Oder: Husserl, als phänomenologisch Reflektierender, musste dies feststellen. 46 Das weist darauf hin, dass das Ur-Ich vor der phänomenologischen Reflexion nicht eigens als solches erscheint: Es vergisst sich selbst, wenn es sich selbst auch nicht völlig unbewusst ist. Das Ur-Ich erscheint also nicht von Anfang an als solches, sondern erst, wenn es »reflexiv« auf sich selbst zurückkommt. Es besitzt in sich eine Doppelbewegung. Das ist bei Kant nicht der Fall: Kant stellt die »numerische Einheit« des Ich fest, wobei er die Bewegung des Ich selbst nicht anerkennt. 47 Die Undeklinierbarkeit und absolute Einzigkeit des Ur-Ich bezieht sich auf eine andere These Husserls: die »Welteinzigkeit«. Wenn das Ur-Ich zum Du für das andere Ich wird, bedeutet das, dass das andere Ich seinerseits »seine Welt« konstituiert. Das weist weiter auf die Pluralität der Welt hin. Aber die Welt, hier der alles in sich befassende Raum, ist nach Husserl »einzig« und für diese »Einzigkeit« ist der Plural sinnlos. 48 Nun kann man leicht einsehen: Die Einzigkeit des Ur-Ich und die Einzigkeit der Welt spiegeln sich gerade in der phänomenologischen Reflexion. Nun kann man in Betracht ziehen, dass Husserl gerade vor der Analyse in seiner 5. Cartesianischen Meditation, in der die Konstitution des Anderen thematisiert wird, schreibt: »Ist sie [die transzendentale Subjektivität; T. T.] das Universum möglichen Sinnes, 45

Vgl. Husserl: Husserliana, Bd. VI, S. 190; »[…] der absoluten Einzigkeit des ego […]«. 46 Dies ist eine methodische Forderung der Phänomenologie. Husserl schreibt: »die phänomenologische Methode bewegt sich durchaus in Akten der Reflexion.« (Husserl: Husserliana, Bd. III/1, S. 162). 47 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, A 107. Heideggers Deutung ist jedoch anders. 48 »Andererseits ist Welt nicht seiend wie ein Seiendes, wie ein Objekt, sondern seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist.« (Husserl: Husserliana, Bd. VI, S. 146).

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so ist ein Außerhalb dann eben Unsinn.« 49 Und nach der Analyse der Konstitution des Anderen schreibt er: »Es kann also nur eine einzige Monadengemeinschaft, die aller koexistierenden Monaden, in Wirklichkeit geben, demnach nur einen objektiven Raum, nur eine Natur, und es muß.« 50 Wenn man nur diesen Satz liest, klingt er zu flach. Aber diese Feststellung selbst liegt in der Bewegung der phänomenologischen Reflexion. Und eine solche Reflexion steht nicht am Ende der Zeit und des Flusses der Erfahrung. Wenn eine neue Erfahrung gemacht wird, vollzieht sich erneut eine solche Reflexion. Die Reflexion selbst liegt in einer solchen Bewegung. Die Einzigkeit des Ur-Ich und der Welt wird immer wieder festgestellt, wenn die Reflexion sich vollzieht. Diese Feststellung selbst ist also insofern phänomenologisch notwendig und insofern apodiktisch, als die Reflexion sich vollzieht. Wenn man Husserls Gedanken von der Einzigkeit des Ur-Ich und der Welt als diese aufsteigende Bewegung von der Erfahrung zur Reflexion versteht, ist sie nicht mehr oberflächlich. Wenn man dies in der sozusagen aufsteigenden Bewegung »tief« denkt, kann man unter der scheinbaren (Ober-)Flächlichkeit etwas Tiefes freilegen. 5.3

Appräsentation und ferner

Bei Husserl findet man noch einen weiteren Diskussionspunkt. Wenn das Ich den Anderen erfährt, findet jenes in diesem »das originaliter Unzugängliche« 51. Dann taucht bei Husserl der Begriff »Appräsentation« auf. Dieser Begriff ist aber sehr zweideutig. Der Andere ist für das Ich nicht unmittelbar zugänglich. Trotzdem kann das Ich den Anderen mittelbar erfahren. Die »Appräsentation« kann einerseits als eine Art Doppelbewegung gedeutet werden: Die »Appräsentation« kann in die »Präsentation« gespiegelt werden und umgekehrt die »Präsentation« in die »Appräsentation«. Andererseits birgt sie aber das Unzugäng49 50 51

Husserl: Husserliana, Bd. I, S. 117. A. a. O. S. 167. A. a. O. S. 143.

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liche in sich. Dieses wurde von Lévinas als »Illeität« (illéité) noch radikalisiert. 52 Dieser Neologismus kommt von »il« oder »ille«, so Lévinas. Das »ich« birgt das »es« in sich; es ent-fremdet sich zum Anderen; der Andere birgt die »Illeität« in sich, so könnte man es im Zusammenhang dieses Artikels formulieren. Die Illeität des Anderen verträgt sich nicht mit dem »du«. Das bedeutet weiter, dass die Illeität in der Instanz, wo das »ich« und das »du« im Diskurs sich spiegeln, nicht erscheint. Trotzdem ist die »Instanz« wegen der Illeität immer offen zum »Jenseits«. Die Illeität kommt auf »mich« zu und lässt »mich« eine Bewegung auf den Nachbarn 53 zu (auf den Anderen zu) vollziehen. Hier kann man eine Art Doppelbewegung sehen: das Hineinkommen der Illeität und das Herausgehen des Ich. Die Illeität selbst zeigt sich aber nicht (als solche) und phänomenalisiert sich nicht. Das, was sich phänomenalisiert, ist eine Spur. Die Spur ist eine Weise des Nicht-Erscheinens, während die Übertragung und die Spiegelung eine Weise des Erscheinens ist. Die Illeität strukturiert trotzdem den Ort, und zwar auf ethische Weise. Das Ich, wenn es entsteht, ist immer schon für den Anderen verantwortlich. Die Einzigkeit des Ich wird durch die Unvermeidlichkeit der Verantwortlichkeit erneut determiniert. Das Ich folgt dementsprechend dem Befehl des Anderen. In diesem Fall wird also nicht das »Mediale«, sondern das »Passive« 54 des Ich wieder zum Schlüsselwort, und zwar in einem extremen Sinne. 52

Lévinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Dordrecht/Boston/London 1991, S. 15; auf Deutsch: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München, 2. Aufl. 1998, S. 46. Die Illeität verträgt sich nicht mit dem »du«. »Die Illeität des Jenseits-des-Seins aber meint: daß ihr Auf-mich-Zukommen ein Abschied ist, der mich eine Bewegung zum Nächsten ausführen läßt.« 53 Bei Heidegger ist der »Nachbar« ein Bauer, der in der Nähe ist und wohnt. Aber bei Lévinas ist das nicht der Fall. 54 Was den Begriff »passiv« angeht, so sollte man die Begriffe »Affektivität«, »Sensibilität« und »Leib« bei Lévinas genauer betrachten. Seine Darstellung des »Subjekts« besitzt, gefühlsmäßig gesehen, eine sozusagen »leidenschaftliche« Färbung. Vgl. vor allem: Lévinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, The Hague/Boston/ Lancaster 1984, S. 108 ff.

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Wenn die Illeität nicht zu demjenigen zwischenpersönlichen Ort als Instanz gehört, gehört sie dann zum (Außen-)Raum, wo das »er« und das »sie« wohnen? Oder gehört sie zum Jenseits alles (Welt-)Raums? Das Ich wohnt jedenfalls zunächst im Ort der Spiegelung. Dieser ist seine lebensweltliche Heimat. Die Tragweite dieses Ortes kann sich bis zum einzigen »objektiven Raum« zur einzigen »Natur«, zur einzigen »Welt«, zum einzigen »Universum« erweitern. Selbst darin erfährt aber das Ich nicht nur den Spiegel, sondern auch die Kehrseite und wie »un-heimlich« und »un-geheuer« diese ist. Zum Schluss Bisher habe ich versucht, Husserls Phänomenologie auf Sakabes Philosophie zu beziehen. Meine Interpretation ist auch durch andere ›japanische‹ Philosophen beeinflusst: z. B. Bin KIMURA, Yoshihiro NITTA u. A. 55 Aber diese sind wiederum von den ›europäischen‹ Philosophen beeinflusst. Man kann bei ihnen eine interkulturelle Übertragung und Spiegelung erkennen. Wenn mein Versuch in diesem Artikel auch ›ketzerisch‹ 56 ist, so erfährt doch jede Philosophie die interkulturelle Übertragung und Spiegelung. Ich glaube, dass es keine reine, isolierte Philosophie gibt. Selbst Platons Philosophie als Ursprung der griechischen Philosophie schloss etwas Nicht-Griechisches in sich ein. Jede Philosophie ist von Anfang an hybrid. Aber das neue Hybride ermöglicht einen neuen Durchbruch.

55

Die Schlüsselbegriffe dieses Artikels: »Medium« und »Zwischen« werden von Heidegger erwähnt. Auch Kimura thematisiert die beiden Begriffe. Nitta thematisiert besonders das »Medium«, oder genauer gesagt, die »transzendentale Medialität«. Rolf Elberfeld forscht zur Funktion des Mediums in verschiedenen Sprachen, einschließlich des Japanischen: vgl. Elberfeld, Rolf: Sprache und Sprachen, Freiburg/München 2012, S. 242 ff. und S. 252 ff. 56 Das Wort »ketzerisch« bedeutete eigentlich »rein«. Diese Bedeutung veränderte sich später. In diesem Sinne ist das Wort »ketzerisch« selbst nicht rein. Eine solche »Unreinheit« ist aber im Zusammenhang dieses Artikels aufschlussreich.

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Toru Tani

Ich bedanke mich herzlich bei Frau Nina Trčka für die sprachlichen Korrekturen des vorliegenden Artikels. Literatur Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966. Benveniste, Émile: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von Wilhelm Bolle, München 1974. Claesges, Ulrich: Edmund Husserls Theorie der Raumkonstituion, The Hague 1964. Elberfeld, Rolf: Sprache und Sprachen, Freiburg/München 2012. Henry, Michel: Génealogie de la psychoanalyse, Paris 1985. Ders.: Phénoménologie matérielle, Paris 1990. Ders.: Philosophie et phénoménologie du corps, 5. Auflage Paris 2003 (erste Auflage 1965). Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 14. durchges. Auflage Tübingen 1977. Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7.9, Frankfurt a. M. 1994. Husserl, Edmund: Husserliana, Bd. I, 2. Auflage The Hague 1973. Ders.: Husserliana, Bd. III/1, The Hague 1976. Ders.: Husserliana, Bd. VI, The Hague 1976. Ders.: Husserliana, Bd. X, The Hague 1966. Ders.: Husserliana, Bd. XVI, The Haag 1973. Ders.: Husserliana, Bd. XIX/1, The Hague/Boston/Lancaster 1984. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956. Landgrebe, Ludwig: Der Begriff des Erlebens, Ein Beitrag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen Ganzheit, hg. v. Karel Novotný, Würzburg 2010. Lévinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, The Hague/Boston/ Lancaster 1984. Ders.: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Dordrecht/Boston/London 1991. Ders.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München, 2. Aufl. 1998. Liederbach, Hans Peter: Heidegger to Watsuji Tetsuro (Martin Heidegger im Denken WATSUJI TETSUROS), Tokio 2006. Ogawa, Akio: »Universum von ›es‹«, Symposium am deutsch-japanischen Institut, Kyoto 21. Dezember 2013. Sakabe, Megumi: Sakabe-Megumi-shu, Bd. 4., Tokio 2007.

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Thilo Billmeier

Ursprüngliches Sicherleiden Negativität in der Theorie absoluter Affektivität (Rolf Kühn, Michel Henry)

In seinem Buch Macht der Gefühle stellt der Freiburger Philosoph Rolf Kühn fünfzehn Interpretationen unterschiedlicher Gefühle und affektiver Situationen zusammen. 1 Die Theorie des Fühlens, die ihn dabei anleitet, ist die von Michel Henry entwickelte lebensphänomenologische Lehre vom Leben als absoluter Affektivität. Kühn, der die Werke Henrys in Deutschland übersetzt und herausgibt, ist auch der Verfasser der maßgeblichen Monographie zum Denken Henrys 2 sowie einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen zur Lebensphänomenologie. 3 Das erste Kapitel in Kühns Buch über das Wesen des Fühlens bringt drei Analysen zum Gesichtspunkt »Freude des Lebens«, denen sich drei weitere zur »Schwere des Lebens« anschließen. Unter diesen ist der erste Abschnitt »Last und Müdigkeit« gewidmet. 4 Mit dem Phänomen der Last und genauer jener Erfahrung von Unausweichlichkeit, die Henry das Sichselbsterleiden (le se souffrir soi-même) 5 nennt, ist zugleich eine ursprüngliche Fassung jener befindlich aufgeschlossenen Negativität angesprochen, die im Denken der Moderne als Faktizität und Geworfenheit den Kern von Subjektivität bestimmt. In der Le1

Kühn, Rolf: Macht der Gefühle, Freiburg/München 2008. Kühn, Rolf: Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München 1992. 3 Eine Bibliografie der Veröffentlichungen Kühns bis 2012 findet sich in Kattelmann, Sophia/Knöpker, Sebastian (Hg.): Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 307–347. 4 Kühn: Macht der Gefühle, S. 39–44. 5 Henry, Michel: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 27. 2

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bensphänomenologie Henrys und ihrer Aneignung durch Rolf Kühn kommt dem Belastetsein eine entsprechende Schlüsselstellung zu. Wie der Geworfenheit und Befindlichkeit in der existenzialen Hermeneutik als Komplementärstruktur Entwurf und Verstehen gegenüberstehen, soll in der Theorie absoluter Affektivität dem Gefühl der Last ein entgegengesetztes Gefühl der Freude zugehören. Die Schwierigkeiten, die sich mit dem Projekt dieser Zusammengehörigkeit von Last und Freude verbinden, sind außerordentlich perspektivenreich. Sie sollen im Folgenden zunächst (1) an Kühns Interpretation in Macht der Gefühle entwickelt und anschließend (2) in den systematischen Zusammenhang der lebensphänomenologischen Gefühlslehre zurückgestellt werden. 1. 1.1

Sicherleiden und Unerträglichkeit Leben und Sicherleiden

Kühn lässt sich in seiner Schrift aus dem Jahre 2008 den Lastbegriff durch Kant vorgeben, der in seiner Anthropologie eine Last erwähnt, die »im Leben überhaupt zu liegen scheint.« 6 Kant, und nicht etwa Heidegger oder Lévinas, 7 wird genannt, weil bei ihm das Gefühl des Belastetseins ausdrücklich dem Leben zugeordnet wird. Lebensphänomenologisch verhalten sich Fühlen und Leben nämlich so zueinander, dass im Fühlen und nur in ihm das Leben sich ursprünglich selbst gegeben ist, und zwar in einer affektiven Dichte, die keinerlei Distanz impliziert, weil jedes Fühlen auch 6

Kühn: Macht der Gefühle, S. 39. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Politik 2 (= Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XII), 4. Auflage Frankfurt a. M. 1982, S. 395–690, S. 469. 7 Vgl. zum Lastcharakter des Daseins Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 16. Auflage Tübingen 1986, S. 134. Vgl. hierzu auch Kühn, Rolf: Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 43 f. Lévinas spricht von der Selbstbeladenheit der Existenz in: Lévinas, Emmanuel: Vom Sein zum Seienden, übers. v. Anna Maria Krewani und Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1997, S. 32.

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schon ein Sichfühlen ist. 8 Im Fühlen ist Leben sich als Vollzug gegeben und das sich selbst erschlossene Leben vollzieht sich wesenhaft als Fühlen. Aufgrund dieser Verbindung von Fühlen und Leben ist jedes Gefühl für Henry nicht nur »das Gefühl seiner selbst« sondern zugleich damit »das, was affiziert wird und das, was affiziert.« 9 Leben ist so selbst nichts anderes als absolute, nämlich wesenhaft immanente Affektivität. Sie ist es, die zugleich das Urphänomen von Gegebenheit-überhaupt ausmacht. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der im Leben selbst liegenden Last deutlich. Insofern sich das Leben in ihr als beladen mit sich selbst erfährt, wird es sich als solches zugänglich. Umgekehrt kann die inversive Struktur der Selbstbeladenheit der phänomenologischen Analyse als Paradigma für die Verbindung dienen, in der sich Leben und Fühlen intern zueinander verhalten. Die entscheidende Struktur, die sich hier in einer Art lebensphänomenologischer Fundamentalbetrachtung herausstellen lässt, besteht in einer ursprünglichen Passivität, die jeder Form von Aktivität begründend vorausliegt. Diese »Passibilität« 10 bezeichnet die absolute Empfängnis, in welcher Leben sich als individuiertes Leben empfängt und sich in dieser Gabe zur Subjektivität im Akkusativ, zum Mich bildet. 11 Insofern Leben als Affektivität überhaupt mit dem Vollzug dieser Empfängnis identisch ist, geschieht dieses Geborenwerden von Selbstheit-überhaupt (»Ipseität« 12) in jedem Augenblick des Lebens. Und insofern die Ipseität überhaupt die Gestalt des Sichfühlens ausmacht, ist mit ihr das ursprüngliche Erschlossenheitsphänomen bezeichnet, das vom Leben selbst her als sein ständiges Ankünftigwerden (bei sich), seine ständige Phänomenalisierung beschrieben werden kann. Das ursprüngliche

8

Vgl. hierzu Kühn, Rolf/Thireau, Isabelle: Einführung in die Henrysche Kulturanalyse, in: Michel Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, übers. u. eingel. v. Rolf Kühn und Isabelle Thireau, Freiburg/München 1994, S. 9–71, S. 18 f. 9 Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 216. 10 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 11 f. (Anm. 1). 11 Vgl. ebd. 12 Kühn: Macht der Gefühle, S. 12.

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(Er-)leiden (passion) 13, in dem das Leben sich selbst als Last erfährt, macht demnach die phänomenologische Realität der Passibilität aus. 14 1.2

Unerträglichkeit

Der Nachweis einer ursprünglichen Last erfolgt seit Pascals Analysen der Zerstreuung (divertissement) vor allem auf negativem Wege. So verweist auch Kant auf Alkohol und andere Rauschmittel, die dazu dienen, die Last »vergessen zu machen.« 15 Daneben sind seit Kierkegaard aber auch negative Direktphänomene wie Melancholie, Überdruss, Langeweile analysiert worden. Kühn zieht ein abstrakteres Moment von Negativität heran, nämlich die in jeder Lasterfahrung auf die eine oder andere Weise enthaltene »Unerträglichkeit.« Er tut dies, wie vor ihm schon Simone Weil und Edith Stein, im Anschluss an religiöse Erfahrungen und deren Interpretation, und er tut es deshalb, weil die genuine Dynamik des Unerträglichen verhindert, dass in der Beschreibung die Opazität des Erfahrenen die Lebendigkeit des Erfahrens gewissermaßen hypnotisiert (wie das bei Sartres Analysen des Ekels oder bei Lévinas’ Analysen des il y a tendenziell der Fall ist). Inhaltlich soll die Unerträglichkeit selbst als Faktizität ausgelegt und von ihrer spezifischen Dynamik her auf eine Lösungs- oder Umschlagsfigur hin interpretiert werden, in der die Geworfenheit auf eine Art gleichursprüngliche Getragenheit hin durchsichtig wird. 16 Henry und Kühn wollen diesen Schritt im Grundbegriff des Lebens selbst verankern. Sie gehen hierfür von der Welt- und Selbstvernichtung aus, die in der Unerträglichkeit des äußersten Unglücks geschieht. Was als Unerträgliches bleibt, ist nur noch das Es des »Es soll aufhören«. Kühn ist zurecht der Auffassung, 13

Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 217. Zur vorstehenden Skizze vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 13–32; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 215–246; Kühn, Rolf: Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie, Würzburg 2012, S. 23–35. 15 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 469. 16 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 135. 14

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Ursprüngliches Sicherleiden

dass diese »nackte Affektion des Lebens allein durch es selbst« 17 nur als leibliche Erfahrung zu denken ist. In ihr tritt jene Dimension der Leiblichkeit hervor, die Henry »Fleisch« (chair) 18 nennt. Bezeichnet wird damit die unsichtbare Materialität des Sicherleidens, die das Empfindenkönnen-überhaupt (die Sichtbarkeit) trägt. Die Unerträglichkeit besteht jedoch nicht allein in der Unmöglichkeit, das Unerträgliche weiter zu ertragen. Im »Es soll aufhören« tritt dem Unerträglichen auch ein Impuls entgegen, der als »Wunsch« ebenfalls dem nackten Leben entstammt. Dort, wo es »sich« nicht mehr ertragen kann, tritt das Leben gerade als Lebenwollen hervor. Kühn erkennt in dieser paradoxen Identität eines lebenwollenden und zugleich nicht mehr lebenwollenden Lebens die Identität des Sichgebens und des Sichempfangens in der Passibilität, die sich darin als »Trans-passibilität« 19 erweist. Mit ihr ist der Zusammenhang von Geworfenheit und Getragenheit im Gefüge von Leben, Ipseität und Erschlossenheit verankert. Doch muss man der Interpretation der Unerträglichkeit, die hier zugrunde gelegt wird, überhaupt folgen? Auch wenn es stimmt, dass in der Perspektive des Unglücks Raum und Zeit als Horizonte biographischer Sinngebung und Identität gewissermaßen verschwinden, scheint die Unerträglichkeit selbst doch ohne eine spezifische zeitliche Bewegtheit nicht denkbar zu sein. Unerträgliches kann als Gegenwärtiges gar nicht ertragen und in diesem Sinne erfahren werden. Die Erfahrung des Unerträglichen ist vielmehr in ihr selbst die Erfahrung von etwas, das unerträglich zu werden droht, oder aber unerträglich schon gewesen ist. Umgekehrt bedeutet aber die Erfahrung des Unerträglichen auch nicht, dass das, was gegenwärtig erfahren wird, noch nicht oder nicht mehr unerträglich ist, denn so wäre es ja eben nicht das Unerträgliche, das erfahren wird. Beschreibt man sie so, weist die Paradoxie im Begriff des 17

Kühn: Macht der Gefühle, S. 40. Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 291–310. Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/München 2002. Knapp Henry: Affekt und Subjektivität, S. 29–32. Für die Verwendung des Begriffs des Fleisches sind (in höherem Maße, als in den lebensphänomenologischen Texten deutlich wird) die Analysen Maurice Merleau-Pontys entscheidend. 19 Kühn: Macht der Gefühle, S. 11 (Anm. 1). 18

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Unerträglichen offensichtlich nicht mehr auf eine Paradoxie des Wollens (Lebenwollen und Nicht-Lebenwollen) hin, sondern auf eine bestimmte Zeitlichkeitsstruktur. Das Unerträgliche als die »Zuschnürung der Kehle«, von der in den Psalmen oft die Rede ist, 20 hat im Vollzug seiner Erfahrung seine Grenze im Ende des Erfahrens oder Erfahrenkönnens (in Dissoziation, Ohnmacht oder Tod), und deshalb kann es zugleich erfahren werden (als das, was auf dieses Ende zuläuft oder als Enden), wie auch nicht erfahren werden (als das Ende selbst oder der Zustand des Endes). Doch mit dieser Auflösung des Zusammenhangs scheint erneut nur die Erträglichkeit dessen verständlich gemacht, was als Nochnicht-Unerträgliches erfahren werden kann. Um sie zur Beschreibung der Erfahrung von Unerträglichem werden zu lassen, muss man das »Zugleich« in ein »Weder-Noch« umkehren: Das Unerträgliche kann nicht zugleich ertragen und nicht ertragen werden, sondern es kann weder ertragen noch nicht ertragen werden. Dass wir auch im äußersten Unglück nicht aufhören können, leben zu wollen, stellt mithin kein Gegenmoment zum Unglück, sondern den Kulminationspunkt der Unerträglichkeit dar. Erst in dieser Formulierung wird verständlich, was es heißen kann, etwas zu ertragen, was (»eigentlich«) nicht zu ertragen ist. 21 Wenn das richtig ist, liegt aber in der Einheit des Lebens, das zugleich nicht mehr leben will wie dennoch weiterleben will (weil es überhaupt noch will), keine Suprematie des Lebens (als Lebenwollen) über die Gestalten der Negation mehr beschlossen. Weil Henry und Kühn ihren Lebensbegriff jedoch ausdrücklich an dieser Übermacht des Lebens festmachen, 22 stellt die zeitlich interpretierte Ursituation 20

Das hebräische nefesch (griechisch psychē) bedeutet Kehle, Atem, Leben, Seele und Person. Zur »Zuschnürung der Kehle« vgl. z. B. Ps 54, 5, 9; 55,19; 57, 5, 7. 21 Diese Struktur der Unerträglichkeit ist vorgebildet in Kierkegaards Begriff der Verzweiflung. Vgl. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1954. Sie wird phänomenal exemplifiziert etwa in der Interpretation des Todes als Nicht-Sterbenkönnen bei Lévinas. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Ludwig Wenzler, 3. Auflage Hamburg 1995, S. 42–46. 22 Als Argument wird hier der performative Widerspruch angeführt, der vermeintlich in der Verneinung des eigenen Lebens – etwa beim Sterbenwollen –

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des ausweglosen Sicherleidens 23 das Projekt der Lebensphänomenologie überhaupt in Frage. 1.3

Selbstumschlingung

Der nächste Schritt, den Kühn in seiner Analyse der Unerträglichkeit skizziert, besteht darin, die Grundstruktur der ursprünglichen Selbstbeladenheit des Lebens als Grundstruktur von Subjektivität zu identifizieren. 24 Zunächst erklärt er hierfür das ursprüngliche Leiden an sich im Sinne der Passibilität zum Wesen der affektiven, also fühlenden und sinnlich empfindenden Subjektivität. Sodann deutet er an, inwiefern die Affektivität die Grundschicht von Subjektivität ausmacht, aus der dann Subjektivität im engeren Sinne von ichhafter Selbstheit hervorgehen kann. Was den ersten Teilschritt (die Identifikation von Selbstbeladenheit mit Subjektivität) angeht, kann man zusammenfassend drei Punkte festhalten: Die Passibilität ist erstens als solche im unerträglichen Unter-sich-leiden, das heißt in der ausdrücklich erfahrenen Unabweislichkeit des Fleisches erschlossen. Unausdrücklich ist sie zweitens in jedem Fühlen präsent, in dem sich die Affektivität als ursprüngliche Angänglichkeit, das heißt als ursprüngliche Offenheit-für und Ausgeliefertheit an diese Offenheit zu verstehen gibt. Und offengehalten wird die Passibilität drittens in allen Lebensvollzügen, insofern diese den Charakter der Ipseität tragen, weil jedes Selbst transparent ist hin auf das ihm aktual zugrunde liegende ursprüngliche Sich des Sicherleidens. Die eigentliche Geliegt. Der Akt solcher Selbstverneinung nimmt »seine Ermöglichung durch das absolute Leben, welches negiert werden soll, noch in Anspruch.« (Kühn: Innere Gewissheit, S. 27). Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 335. Die vermeintliche Übermacht des Lebens wird auch als Argument für die Gutheit des Lebens in Anspruch genommen, vgl. etwa Brookmann, Susanne: Traumaüberlebende als WegbereiterInnen einer Kultur des Gefühls, in: Rolf Kühn/Karl Heinz Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, Freiburg/München 2007, S. 48–64, S. 61 f.; Funke, Günter: Spiritualität des Gefühls, in: ebd., S. 218–237, S. 235. 23 Von der »Ursituation« spricht Kühn etwa in Macht der Gefühle, S. 68. 24 Kühn: Macht der Gefühle, S. 41.

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nese von Subjektivität (als zweiter Teilschritt) wird in Macht der Gefühle nur knapp angedeutet. 25 Es ergibt sich etwa folgendes Bild: Subjektivität ist lebensphänomenologisch als Einheit von Ipseität (durch fleischliche Individuiertheit), Passibilität (und mit ihr das ursprünglich-leibliche »Da«) und (Leben-)Können gekennzeichnet. Identität, Gegebenheit und Können verbinden sich permanent-aktual in einer Bewegung des Sicherprobens von Leben (épreuve) 26, die als Sichergreifen ein internes Moment der Passibilität ausmacht. Die Verschränkung von ursprünglicher Passibilität und Sichergreifen nennt Kühn mit Henry die »Umschlingung« oder »Selbstumschlingung« des Lebens (étreinte de soi, étreindre de la vie). 27 Diese ist erkennbar jener Einheit von Entwurf und Geworfenheit nachgebildet, mit der seit Schelling und Kierkegaard die innere Struktur von Subjektivität als Existenz oder Leben beschrieben wird. Für die Genese der Ipseität (als primärem Mich) macht Kühn an unserer Stelle nun die Selbstbeladenheit (als Grundcharakter von Leben) verantwortlich. Leben vermag sich, heißt es, »nur unter dem ganzen Gewicht seiner selbst« als Leben »weiter zu zeugen«. 28 Mit diesem Begriff des Zeugens 29 tritt jedoch offensichtlich auch eine Schwierigkeit auf den Plan. Wie kann durch die bloße Übernahme aus der reinen 25

Ebd. Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 13. Vgl. Kühn/Thireau: Einführung in die Henrysche Kulturanalyse, in: Henry: Die Barbarei, S. 9–71, S. 25– 29; ferner den Eintrag im Glossar, das Kühn seiner Übersetzung angefügt hat, in Henry, Michel: ›Ich bin die Wahrheit.‹ Für eine Philosophie des Christentums, übers. v. Rolf Kühn, mit einem Vorwort v. Rudolf Bernet, 2. Auflage Freiburg/ München 2012, S. 391–399, S. 397. Im phänomenologischen Kontext mag man auch an Husserls Begriff der Bewährung zurückdenken. 27 Kühn: Macht der Gefühle, S. 22. Vgl. Henry: Die Barbarei, S. 277. Kühn verfolgt den Begriff der Selbstumschlingung bis in die Mystik des 14. Jahrhunderts zurück (Jan van Ruysbrock), vgl. Kühn, Rolf: Geburt in Gott. Religion, Metaphysik, Mystik und Phänomenologie, Freiburg/München 2003, S. 180–183. 28 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 41. 29 Der Gedanke der Zeugung (génération, engendrement) ist entscheidend für Henrys Heidegger- und Husserlkritik. Allein das Leben, so das Argument, gibt auch, was es offenbart. Vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 17 f., 22, 29; Henry: Inkarnation, S. 138 f.; Kühn, Rolf: Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg 2004, S. 14. 26

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Passibilität eine Gestalt von Leben werden, die als Lebenkönnen Vermögenscharakter trägt? In Kühns ausdrücklich am Phänomen der Selbstbeladenheit orientierter Interpretation tritt das ursprüngliche Sich-selbst-erleiden vergleichsweise deutlich als reine Negativität in Erscheinung. Die Genese des Könnens stellt sich hier deshalb zunächst als eine Art physikalische Reaktion dar, in der sich das Leben in Richtung auf eine eigene Aktivität hin entwickelt, weil es unter der Last der Selbstbeladenheit nicht bleiben kann, was es ursprünglich ist, nämlich rein hinnehmend. Obwohl dieser Gedanke konstruiert wirkt, kann er sich auf den sozusagen »energischen« Charakter des Fühlens stützen, wie zuerst wohl Jakob Böhme gezeigt hat. 30 Dagegen setzt Kühns Analyse bei jenem Moment von Aktivität oder Kraft an, das bereits in der Bewegung der Übernahme selbst enthalten sein muss. Er beantwortet die Frage nach dem Verhältnis von Beladenheit und Kraft durch eine Art affektive Verwandlung, die das ursprüngliche Sicherleiden im Zusammenhang mit der Selbsterprobung des Lebens erfährt. Insofern sich in der Beladenheit mit sich »das Leben zugleich ursprünglich selbst ergreift, um sich seiner ebenfalls zu erfreuen, ist auch die Last immer wieder von sich selbst aus in die Freude umkehrbar.« 31 Mit dieser These der »Umkehrbarkeit« beziehungsweise der entsprechenden »langsame[n] – aber gewisse[n] – Verwandlung des Lebens von innen her« 32 ist die Pointe erreicht, auf die Kühns Analysen der Selbstbeladenheit zusteuern. Sie ist aus ihr selbst heraus so wenig nachvollziehbar, 33 dass man sich zunächst 30

Jakob Böhme hat mit der »Angst« als »Enge« und als »Quillen« ebenfalls ein Gefühl zum Grund der Realität wie ihrer Offenbarung gemacht. Vgl. hierzu Baader, Franz von: Fermenta Cognitionis, in: Schriften Franz von Baaders, ausgew. u. hg. v. Max Pulver, Frankfurt 1980 (Faksimile der Ausgabe Leipzig 1921), S. 84– 226, S. 203–205. 31 Kühn: Macht der Gefühle, S. 41. 32 Kühn: Macht der Gefühle, S. 41 f. 33 Kühns Hinweis auf Kants Beispiel des Rausches ist nicht hilfreich, weil wir, wie Kant weiß, trinken, um die Belastung schlicht »vergessen zu machen« (vgl. oben, Anm. 15). Die Rede von einer langsamen, aber gewissen »Verwandlung des Lebens von innen her« lässt sich als doppelte Anspielung entziffern, einmal auf Lk 8, 15, zum andern auf Simone Weils Übersetzung des von Lukas verwendeten Begriffs hypomonē (»Geduld«) mit attente. Vgl. hierzu Kühn, Rolf: Leere und Auf-

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dem Begriff der Freude zuwenden wird, um von ihm her Licht in die Sache zu bringen. 1.4

Ursprüngliche Freude

Was lebensphänomenologisch als Freude (jouissance) in den Blick kommt, kann den ersten Kapiteln von Macht der Gefühle entnommen werden. Hier entfaltet Kühn das Sichergreifen von der Selbstumschlingung des Lebens her als ein ursprüngliches Engagiert-sein-in-sich, als grundlegende Selbstzugewandtheit des Lebens. 34 Anders, als diese Formulierungen nahe legen, ist diese Zukehr bei Henry und Kühn von Anfang an nicht formal, sondern emphatisch bestimmt. Mit Blick auf sie kann Kühn etwa Leben und Liebe miteinander identifizieren. 35 Unter den Vorzeichen solcher Zukehr lässt sich die Passibilität auch als ein ursprüngliches Bündnis des Lebens mit sich selbst ansprechen. 36 Dieses Bündnis schließt aus, dass Leben sich gegen sich selbst richtet, es verschafft dem Lebenden in seiner reinen Affektivität die Gewissheit, nicht aus dem Leben herausfallen zu können, 37 und es macht das Leben als eines verständlich, das »nichts von dem zurückbehalten will, zu dem es in seiner inneren Selbstbewegung fähig ist.« 38 Als Bündnis des Lebens mit sich selbst finden sich mithin die propulsiv-exzessiven Aspekte des Lebens mit jenen des Ursprungs, der überfließenden Fülle und des Selbstgenusses verknüpft, die eher kontemplativen Charakter tragen. Kühn entwickelt diese Verknüpfung an den Leidenschaften (passions), und es gelingt ihm etwa an der Liebe, jenes Zugleich von Sich-empfangen-haben und Über-sichmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden 2014, S. 281; Weil, Simone: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, aus dem Französischen übers. u. hg. v. Friedhelm Kemp, München 1990, S. 117 f. 34 Kühn: Macht der Gefühle, S. 23 f. 35 Ebd. 36 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 29. 37 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 23. Vgl. Henry: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 227: »Das Verhältnis eines Lebendigen zum Leben kann nicht zerbrechen.« 38 Kühn: Macht der Gefühle, S. 20.

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hinaus-wollen nachzuzeichnen, das den Zusammenhang von Belastetheit und Freude ausmachen soll. Die in der Liebe zugängliche Kraft schließt als Sich-selbst-wollen zugleich Offenheit-für oder Zugänglichkeit-überhaupt mit ein, so dass in ihr tatsächlich »das phänomenologische Erscheinenkönnen schlechthin« 39 beschlossen liegt. Doch offensichtlich ist die Passibilität, die in Kühns von Spinoza inspirierten Analysen zur Freude 40 eingeht, nicht die, die von der Unerträglichkeit her sichtbar wird. Die Einheit der Passibilität, die als affektiver Zusammenhang von Freude und Sicherleiden in Frage steht, kann aber schwerlich von ihren späteren Phänomenalisierungen her begründet werden. Sie muss vielmehr an Ort und Stelle aufgesucht werden. Es muss mit anderen Worten begreiflich gemacht werden, wie »sowohl« das ausweglose Sicherleiden »wie auch« die ursprüngliche Freude als Momente von Selbstaffektion überhaupt fungieren. Und die eigenartige Idee einer »Umkehr« oder »Umkehrbarkeit« des Sicherleidens ins Sicherfreuen ist offenbar der Versuch, dies zu leisten. Im Folgenden wird sich zeigen, dass dieser Versuch problematisch bleibt. Die lebensphänomenologische Theorie des Zusammenhangs von Last und Freude setzt die im Unerträglichen erfahrene Unmöglichkeit, sich von sich selbst zu lösen, struktural mit jener in der ursprünglichen Freude aufgeschlossenen Unmöglichkeit gleich, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In Wahrheit sind die beiden Unmöglichkeiten aber keine differenten Ausprägungen ein und derselben Struktur. Sie bewegen sich, wie sich abzeichnen wird, in ganz unterschiedlichen Funktionszusammenhängen. 1.5

Ohnmacht und Urmächtigkeit

Der ungeklärte Zusammenhang zwischen der Erfahrung der Selbstbeladenheit und jener einer ursprünglichen Freude spielt 39

Kühn: Macht der Gefühle, S. 32. Kühn: Macht der Gefühle, S. 30. Zum Spinozismus Henrys vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 13 f., 550 f.; Kühn, Rolf: Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München 2009, S. 76; Henry, Michel: Die Barbarei, S. 277.

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auch in Kühns Auslegung von Müdigkeit und Schlaf hinein. 41 Um auch diese Phänomene für die Thematik des Übergangs fruchtbar zu machen, hebt Kühn an der Müdigkeit ihren vorübergehenden Charakter hervor. Die Müdigkeit, schreibt er, wird durch Ruhe und Schlaf »verscheucht«. 42 Doch auch wenn wir nach Ruhe und Schlaf bestenfalls erleben, dass die Müdigkeit vorüber ist, ist der Schlaf doch nicht das Gegenüber zur Müdigkeit (dieses ist vielmehr die Ausgeruhtheit). Schlaf und Ruhe bilden in Wahrheit das Telos der Müdigkeit, die von ihr selbst verlangte Antwort. Aus dieser Ungenauigkeit im Verhältnis von Müdigkeit und Ruhe oder Schlaf ergeben sich Konsequenzen für das Verhältnis von »Ohnmacht« und »Urmächtigkeit«, die sich Kühn zufolge auf der Ursprungsebene des Lebens wechselseitig durchdringen und in dieser Durchdringung die strukturellen Äquivalente für die Unerträglichkeit der Selbstbeladenheit und die elementare Freude an sich selbst darstellen sollen. In der Müdigkeit offenbart sich dem Dasein die wesentliche Begrenztheit seines Könnens; in diesem Sinne ist sie ein Grenzerleben, das uns »den passiblen Abgrund des Lebens gegenwärtig werden lässt.« 43 Aus der Passibilität des Lebens heraus gedacht ist der Abgrund formal auch gründender Grund. Es ist nun die Müdigkeit, die selbst sagt, inwiefern Leben sich als Gegründetwerden entsprechend phänomenalisiert. Nämlich insofern, als das Leben im Müdesein als Gabe erfahren wird, die wir ständig als das entgegennehmen, was uns in Ruhe und Schlaf buchstäblich am Leben erhält. 44 Diese Gabe 45 ist eine absolute Gabe, in der es jenseits des Gegebenen keinen Geber, jenseits der Gabe keinen Empfänger und jenseits des Empfangens kein Gegebenes gibt. Ruhe beziehungsweise Schlaf ist demnach 41

Eine Analyse zum Schlaf enthält auch Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 225–231. 42 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 42. Kühn setzt den Begriff selbst in Anführungszeichen. 43 Kühn, Macht der Gefühle, S. 42. 44 Kühn, Macht der Gefühle, S. 43. 45 Zum Begriff der Gabe vgl. Marion, Jean-Luc: Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997. Dazu auch Kühn: Radikalisierte Phänomenologie, S. 175–239; Kühn: Macht der Gefühle, S. 123 ff.

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eine Passibilitätsgestalt, in der das absolute Lebenkönnen für sich selbst als rein Empfangenes erfahrbar wird. Soweit Kühns Auslegung der Müdigkeit. An sie lässt sich die Frage richten, ob sie tatsächlich leistet, was sie in Hinblick auf den Zusammenhang von Ohnmacht und Selbstbeladenheit mit Freude und Urmächtigkeit leisten soll. Geht die Freude am Gegründetsein wirklich aus der Erfahrung der eigenen Abgründigkeit hervor, wie der Schlaf aus der Müdigkeit, und sind Ruhe und Schlaf tatsächlich Erprobungen der Müdigkeit als eines »sich selbst suspendierenden Könnens«? 46 Offensichtlich kann der Schlaf so erfahren werden – aber auch ganz anders, etwa als unumgängliche, von außen verhängte Unterbrechung meines Könnens. Entsprechend kann die Müdigkeit auf das Leben hinweisen, das mir im Schlaf stets neu zufließt, aber auch auf den Tod, dessen Bild der Schlaf ist. Ob wir Müdigkeit und Schlaf auf diese oder auf jene Weise erfahren, hängt nun aber zumindest auch davon ab, wie wir uns fühlen oder »wie es uns geht«. Die sich in Müdigkeit und Schlaf zugänglich machenden Phänomene von Affektivität sind also ihrerseits noch von der Offenheit eines grundsätzlichen So-oder-so geprägt. Dieser Spielraum ist nicht nur für das Was des Fühlens entscheidend, er gehört vielmehr zum Vollzugssinn des Fühlens selbst, insofern Fühlen ein Antworten ist. Der Antwortcharakter des Fühlens wird von Henry und Kühn nun keineswegs übersehen. Das Korrelationsapriori von Leben und Fühlen ist nichts anderes als seine Institutionalisierung. Gefühle antworten jedoch nicht nur immer auf etwas, sie antworten auch immer so oder so, als Zu- oder Abkehr. 47 Diese Spielraumhaftigkeit drückt sich lebensphänomenologisch im Begriff der »Erprobung« direkt aus. Doch sie wird in den konkreten Analysen – etwa in der fixen Zuordnung von Müdigkeit und Abgrund (des Könnens) beziehungsweise von Schlaf und Gabe – auch wieder zurückgenommen. Der Spielraum des So-oder-so lässt sich aus der Affektivität jedoch sowenig heraushalten, wie die hermeneutischen Schwierigkeiten, die sich aus ihm ergeben. Letztere zeigen sich am Beispiel von Müdigkeit und 46 47

Kühn: Macht der Gefühle, S. 43. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, § 29, S. 135.

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Schlaf etwa daran, dass der Schlaf ja auch dort, wo er nicht als reines Sichgeben des Lebens erfahren wird, immer noch eine Quelle von Lebenskraft ist. Die Probleme betreffen dabei weniger die Differenz von (objektiver) Realität und (subjektiver) Wahrnehmung, als vielmehr die Erschließungsweisen des so oder so möglichen Fühlens. Denn auch und gerade als Abkehr erschließen Gefühle noch die »Geworfenheit«. 48 2. 2.1.

Der Übergang vom ursprünglichen Leiden zur primordialen Freude (Er)leiden als Passivität und Negativität

Die Konstruktion eines wesentlichen Übergehens der ursprünglichen Last in eine entsprechende Freude steht im Zentrum auch anderer phänomenologischer Ansätze, deren Befindlichkeitstheorien sich am Begriff eines ewigen Lebens orientieren, für das der Tod die Voraussetzung ist. 49 Die dunkle Dimension des mysterium paschale sieht sich dabei mit der theologischen Behauptung einer primären Gutheit des Lebens konfrontiert, deren Ursprung im biblischen Buch Genesis wie im spätantiken Neoplatonismus liegt. Gut soll Leben lebensphänomenologisch im Sinne von Ursprungsfülle, Selbstgenuss und Selbstgenügsamkeit sein (Leben kennt kein »Warum«). 50 Bevor eine künstliche Brücke zwischen den »negativen« und den »positiven« Gefühlen geschlagen wird, in denen Leben sich »ursprünglich« manifestiert, muss die phänomenologische Analyse die Frage nach der Einheit im affektiven Pathos stellen. Die entsprechende Beschreibung beruht auf der Einsicht, dass alle Gefühle, nicht nur die negativen, in der Ur48

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 136. Vgl. etwa Marion: Étant donné, § 23, S. 309–325. 50 Vgl. Henry: Inkarnation, S. 351–356; Kühn: Macht der Gefühle, S. 28, 35; Kühn, Rolf: Phänomenologische Haltung und das was uns trägt. Anstöße für hospizlich-palliativ tätige Einrichtungen (Mskr.), S. 2–6; Kühn, Rolf: Phänomenologische Materialität und Interpretation der Gefühle, in: Rolf Kühn/Karl Heinz Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, Freiburg/München 2007, S. 12–28, 21. 49

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situation wurzeln und dass sie nicht nur auf die Ursituation zurückgehen, sondern dass sie in der spezifischen Unübersteigbarkeit, die sie als Gefühle kennzeichnet, auch selbst schon ein Sichselbst-erleiden sind. Auch alles Glück, alles Lieben, jede Erfüllung trägt das Zuviel in sich. 51 Damit werden zwei Differenzierungen unerlässlich, die von Henry und Kühn nicht durchgängig eingehalten werden. 52 Beim Begriff des Sich-selbst-erleidens muss ein engerer materialer Sinn, in dem die Negativität des Nichtertragen-könnens gemeint ist, von einem weiteren formalen Sinn unterschieden werden, der Passivität meint, wobei der engere den weiteren Sinn mit einschließt, aber nicht umgekehrt. Die lebensphänomenologische Definition, der zufolge das Sich-erleiden ein Nicht-zurücktreten-können-von-sich bedeutet, impliziert als Steigerungskategorie ein Zuviel (de trop). Dieses soll nicht so verstanden werden, dass jedes Gefühl ab einem gewissen Intensitätsgrad unerträglich wird, sondern so, dass jedes Gefühl das Zuviel mit aufschließt, dem Affektivität-überhaupt sich ausgesetzt sieht. In diesem Sinn ist das Fühlen als solches selbst material negativ. Die zweite notwendige Differenzierung betrifft die Hinsichten, in denen alle Gefühle negativ auch im engeren Sinn des Leidens sein können. Ihre Negativität kann entweder eine erfahrene oder unerfahrene, eine ausdrückliche oder unausdrückliche Negativität sein. Damit stellt sich die Frage nach der Distinktion der Gefühle und insbesondere hinsichtlich der Freude die Frage danach, inwiefern sie sich von der Selbstbeladenheit im engeren Sinne, aus der sie hervorgehen soll, überhaupt unterscheiden kann. Bei Henry wie bei Kühn lässt sich hier die Tendenz beobachten, den Begriff der Freude so zu formalisieren, dass er seinen eigenen materialen Sinn völlig verliert und nur noch Zukehr meint. Wenn aber die Freude nicht mehr unbedingt eine »bewusstseinsmäßig verspürte Freude« 53 sein und entsprechend auch das Beladensein

51

Vgl. Kühn: Innere Gewissheit, S. 26; Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 217. Vgl. auch Scheidegger, Julia: Radikale Hermeneutik. Michel Henrys Phänomenologie des Lebens, Freiburg/München 2012, S. 157 f. 53 Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 25. 52

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mit sich »auf keine besondere Gefühlsfärbung« 54 mehr bezogen werden muss, können sich die Kreise in bloßen Formeln schließen. Das Leben ist dann gut, weil und insofern es sich an sich selbst freut, und es freut sich an sich selbst, weil und insofern es gut ist. Die Tendenz zur Formalisierung insbesondere des Freudebegriffs nimmt ihren Ausgang bei der Grundannahme, dass sich die pathische Unmittelbarkeit des Fühlens nicht mit Distanz verträgt. 55 Die Distanz, die sich sprachlich im Sich-freuen über andeutet, wird deshalb in allen Analysen vernachlässigt. Im Verständnis Henrys schließt die Dichte der pathischen Selbstaffektion Distanz in einem so grundsätzlichem Maße aus, 56 dass er sich gezwungen sieht, von einer prinzipiellen Unerfahrbarkeit der Gefühle und des reinen Lebens 57 (auch im Sinne seiner »wesenhaften Selbstvergessenheit«) 58 zu sprechen. Von hier her lässt sich dann auch eine grundsätzliche Ununterscheidbarkeit von Freude und Leiden behaupten. 59 Doch ersteres passt nicht gut zu einer Theorie der Selbstoffenbarung 60 und letzteres passt schlecht zur Auffassung, Gefühle seien einfach und eindeutig. 61 Deshalb ver54

Kühn: Innere Gewissheit, S. 27. Deshalb ist die Freude auch nicht dem platonischen thaumázein zu analogisieren. Vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 132; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 238. 56 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 94; Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 23; Kühn: Innere Gewissheit, S. 30. 57 Vgl. Kühn: Innere Gewissheit, S. 27; Kühn: Radikalisierte Phänomenologie, S. 165. 58 Kühn: Innere Gewissheit, S. 21. 59 Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 239. 60 Zum Begriff der Offenbarung als Folgebegriff für das weltbezogene Sichzeigen vgl. Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 13. 61 Dass Gefühle eindeutig und unbezweifelbar sind, folgt für den Cartesianer Henry ebenfalls daraus, dass ihr Selbstbezug »dicht« ist, also keine Lücke aufweist, in die sich Interpretationen schieben könnten. Vgl. Henry: Inkarnation, S. 406, S. 137–149; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 230; Kühn: Phänomenologische Haltung, S. 7; Kühn, Rolf: Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart 2004, S. 7. Zur Vermischtheit von Gefühlen (mit Blick auf Philebos 32 c St. ff.) vgl. Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 18. Dafür, dass das Fühlen wesenhaft von Ambivalenzen gekennzeichnet ist, können demgegenüber die Freudsche Psychoanalyse, 55

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sucht Rolf Kühn, »zwischen jedem Gefühl als Ipseität und als thematische und existenzielle Befindlichkeit« 62 zu unterscheiden. Das Gefühl selbst soll als reine Affektivität ein existenzial-strukturelles, die thematische Befindlichkeit als Interpretation des Gefühls ein existenziell-modifikables Phänomen sein. In der einen Hinsicht erschließt sich Affektivität als solche, in der anderen liegt der Akzent auf den möglichen Weisen, dem So-oder-so der Erschließung. Allerdings lässt sich das Recht einer so rigiden Trennung von Befindlichkeit und Verstehen in Zweifel ziehen. Die inversive Dichte, in der jedes Fühlen immer auch ein Sichfühlen ist, schließt die Offenheit des Fühlens für das Verstehen ja keineswegs aus. Gefühle bleiben auch dann, wenn man sie von ihrer Vollzugseinheit her betrachtet, im Zusammenspiel mit Entwürfen, was sie als Gefühle sind. Wer reine Gefühle annimmt, übersieht dagegen, dass es für Menschen kein Gefühl gibt, das nicht schon ausgelegt wäre. Deshalb erschließt das Fühlen auch keine primordiale Sphäre absoluter Immanenz, sondern – mit Heideggers Begriffen – die Geworfenheit einer als In-der-Weltsein verfassten Existenz. Kühns Unterscheidung zwischen reinen und interpretierten Gefühlen, die der Unterscheidung von Form und Gehalt entspricht, ist jedoch aufschlussreich für das lebensphänomenologische Verständnis des Zusammenhanges von Last und Freude überhaupt. Denn wenn in der Rede von der pathischen Unmittelbarkeit des Lebens aus dem Nicht-zurücktretenkönnen-von-sich in Freude und Last ein Nicht-herausfallen-können aus dem Leben wird, das mit Freude assoziiert ist, 63 wird offensichtlich die neutral-indifferente Struktur des Erschließens mit der positiv-modifizierten Weise der Erschließung konfundiert. Obwohl vermutlich auch durch den Wortgebrauch von jouissance nahegelegt (das ein »Sich-verkosten« bezeichnen kann), 64 verdie deutsche Lebensphilosophie (etwa Ludwig Klages), aber etwa auch das Werk Antonin Artauds einstehen. 62 Kühn: Macht der Gefühle, S. 94. Vgl. Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 26– 32. 63 Vgl. etwa Henry: Affekt und Subjektivität, S. 136. 64 Vgl. hierzu Kühn im Glossar zu Henrys ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 391–399, 393.

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dankt diese Konfusion sich, wie durch Kühns Beharren auf dem reinem Gefühl deutlich wird, nicht einfach einer Verwechslung. Sie ist vielmehr Index des sachlichen Zusammenhangs, den existenzial-strukturelle und existenziell-modifikable Vollzüge beschreiben, seit Heidegger die von Kierkegaard für die Auslegung des Selbstseinkönnens entwickelte Existenzstruktur für die Auslegung der Erschlossenheit umfunktioniert hat. Der Versuch, menschliches Leben unabhängig davon, wie es ist und geführt wird, wesenhaft erfreulich zu finden, greift also an einem neuralgischen Punkt in das Begriffssystem ein, in welchem weitreichende Einsichten zum Fühlen erstmals und maßgeblich festgelegt wurden. Entsprechend zeichnet sich das Fundament der Existenzialität, das durch den Gedanken der Passibilität korrigiert oder ersetzt werden soll, im Gefüge der Passibilität selbst noch deutlich ab. Die Formalisierung der Freude beziehungsweise die positive Qualifizierung der Nichtlösbarkeit-von-sich versteht sich offenbar aus der Gelenkstelle von Geworfenheit und Entwurf, die Henry ins Innere der Passibilität verlegt hat. Denn die beiden ineinandergreifenden Teilbewegungen, in denen die Bewegung der Passibilität geschieht, lassen sich immer noch als ursprüngliche Gebung einer- und aneignende Übernahme andererseits identifizieren, wobei das Fühlen mehr oder weniger ausdrücklich der Aneignung zugeschlagen wird. 65 Gewissermaßen quer zu dieser Unterscheidung will Henry jedoch das ursprüngliche Leiden auf die Seite der primären Gebung und die Freude auf die der Aneignung verteilen. Weil das Leiden in der Ursituation ausdrückliche Selbstgegenwart impliziert, kann – so sein Gedanke – sich die erfahrungsinterne Aneignung nicht nur auf das Erlittene selbst, sondern stattdessen auch auf diese mit ihm gewissermaßen mitgegebene Selbstgegenwart richten. Und das Korrelat dieses Aufund Herausgreifens ist die Freude über die eigene Existenz. Mit Blick auf die Möglichkeit, am Leiden (als Negativität) das Erleiden (als reine Passivität) herauszugreifen, lässt sich dann auch für 65

Zum Ursprung der Stimmungen im Sich-selbst-erproben vgl. etwa Henry: Affekt und Subjektivität, S. 27. Kühn spricht auch vom Selbstverständnis und Sichselbst-ergreifen des Gefühls. Vgl. Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 12.

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jedes Gefühl sagen, dass in ihm die Empfindung der reinen Selbstgegebenheit als Freude beschlossen liegt. Denn »[e]s ist nicht das Leiden selber, sondern das in ihm beschlossene Erleiden, das dem Leiden sich selbst ausliefert, welches zum Erfreuen wird, das in jedem Erleiden enthalten ist und von ihm ermöglicht wird.« 66 Diese Interpretation der Freude darf als Grundmodell für den Zusammenhang von Last und Freude in der Passibilität angesehen werden. Sie trägt dem Spielraumcharakter Rechnung, der aus dem Fühlen nicht völlig herausgehalten werden kann (die Aneignung kann die Selbstgegenwart im Leiden herausgreifen, oder auch nicht). Und sie kann die Freude in ihrer Ursprünglichkeit verständlich machen (Freude ist als Selbstgegebenheit ein Implikat der Ursituation). Dieses Grundmodell setzt sich allerdings auch einer Reihe von Fragen aus. Zuerst fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, das Unerträgliche in irgendeiner Weise zu übernehmen. Simone Weil hat zurecht darauf bestanden, dass eine solche Übernahme unmöglich ist, 67 weil die Unerträglichkeit sie ihrem Begriff nach ausschließt. Nun könnte man sagen, dass das Hinsehen auf die Passivität in der Ursituation ja gerade keine Übernahme des Unerträglichen ist, sondern eher ein Absehen von ihm. Doch auch dieses Absehenvon ist ja nicht möglich, wenn es sich überhaupt um das Unerträgliche handeln soll. Denn wovon ich absehen kann, ist gerade nicht das Unausweichliche. 68 Die zweite Frage verbindet sich mit dem Absehen-von selbst. Offenbar ist der Wechsel der Hinblicknahme nicht anders zu denken, denn als Auslegung. Henry, der den Begriff des Lebens als Sphäre immanenter Erfahrung aus der Kritik an Heideggers Begriff der »Welt« entwickelt hat, hält mit der Welt 66

Henry: Die Barbarei, S. 286. Das Unglück auf sich zu nehmen »ist eine Unmöglichkeit. Christus allein hat es getan. Christus allein kann es tun und die Menschen, deren ganze Seele Christus eingenommen hat.« (Weil: Zeugnis für das Gute, S. 36). 68 Aufgrund dieser doppelten Unmöglichkeit, das Unerträgliche zu übernehmen wie von ihm abzusehen, wird die Unerträglichkeit durch Kühn mitunter zum bloßen Eindruck relativiert, dass das Leben sich »scheinbar nicht mehr durch sich selbst zu ertragen und zu verändern vermag.« (Kühn: Phänomenologische Haltung, S. 9). 67

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aber auch schon die Als-Struktur-überhaupt für suspendiert. 69 Sie kann lebensphänomenologisch nicht als ursprünglich anerkannt werden, weil jedes Blicken-auf Distanz impliziert und deshalb der inversiven Dichte des ursprünglichen Gefühls zuwider läuft. In dieser Situation bemüht sich vor allem Rolf Kühn, das entsprechende Herausgreifen nach dem Paradigma eines sich-einlassenden Anschauens zu denken, das seinen Ort »auch« innerhalb der Passibilität haben soll. 70 Dieses Motiv, in dem sich die Selbstgenügsamkeit der Theorie und die »Einschau« der Mystik mit Simone Weils Begriff der Aufmerksamkeit verbinden, verfügt von sich aus aber über keine Anbindung an die Dimension des material Negativen. Seine Konsequenzen sind auch deshalb metaphysisch-steril: Das Individuum hat schlicht zu lernen, sich als das Medium zu begreifen, in dem das absolute Leben in ewiger Selbst-

69

Henry: Affekt und Subjektivität, S. 16–26; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 209–214; Kühn: Radikalisierte Phänomenologie, S. 35–49; Kühn:, Phänomenologische Materialität, S. 23–25; Kühn: Anfang und Vergessen, S. 387 ff.; Kühn: Gabe als Leib, S. 57–63. Henry und Kühn lesen Heideggers These, dass jede Befindlichkeit verstehend ist (vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 335) als Beleg dafür, dass Heidegger die Befindlichkeit welthaft denkt. Doch das Verstehen ist für Heidegger als Entwurf auch schon die Struktur des Existenzverständnisses im engeren Sinn des Seinkönnens. Problematisch ist auch, dass Henry (mit dem gros der französischen Phänomenologie) das In-der-Welt-sein als Intentionalität versteht. Rolf Kühn versucht bereits in seiner Dissertation, das »Verstehen« der hermeneutischen Philosophie durch Simone Weils Begriff der »Lektüre« mit einem sich als Grund schenkenden Sein zu vermitteln. Vgl. Kühn, Rolf: Deuten als Entwerden. Eine Synthese des Werkes Simone Weils in hermeneutisch-religionsphilosophischer Sicht, Freiburg/Basel/Wien 1989. 70 Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 21–26. Die Aufgabe, die diese Theorie ursprünglicher Kontemplation (Gelassenheit, Sicheinlassen, Hingabe, Aufmerksamkeit) lösen soll, besteht darin, die in der Selbsterprobung überhaupt liegende Distanz mit der in der Freude liegenden Unumgänglichkeit zusammen zu denken. Kühn kommt in verschiedenen Kontexten auf diesen Gedanken zurück (Kühn: Innere Gewissheit, S. 27; Kühn, Rolf: Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München 2007, S. 207); er leitet auch eine Kritik der Gewalt an, in der den klassischen Motiven der Täuschung und Selbsttäuschung, vor allem aber auch der für das Fühlen so entscheidenden Dimension der Imagination zur Geltung verholfen wird (vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 73 f.; ders.: Leere und Aufmerksamkeit, S. 190–247).

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betrachtung für sich selbst ankünftig wird. 71 Für die Frage, wie das Sichausrichten an der Form bloßer Selbstgegenwart in der Erfahrung des Unerträglichen möglich sein soll, wird so nichts ausgetragen. Dass diese zentrale Frage am Ende unerörtert bleibt, gehört zu den auffälligen argumentativen Fehlstellen im Zentrum des lebensphänomenologischen Projekts. 72 2.2

Leben als Kraft

Henry selbst scheint der Meinung zu sein, die Erklärung der Verwandlung des Leidens in Freude erfordere vor allem den Nachweis der erfahrungsmäßigen Konkretionsform der genannten Freude, das heißt die Klärung der Möglichkeit, in ein und demselben Empfinden sowohl zu leiden wie auch Freude zu empfinden. 73 Die Antworten, die er auf diese Frage gibt, gehen davon aus, dass das Leben an ihm selbst nicht nur Last ist, sondern »auch« Kraft. Kraft kommt in der reinen Affektivität zum Tragen, insofern im Sichempfinden die Erfahrung eines Sichempfindenkönnens liegt. Eine Richtung, in die die Analysen des Zusammenhangs von Last und Kraft führen, identifiziert nun von der Passibilität her die Erfahrung des Empfindenkönnens als Erfahrung unserer Vermögen (pouvoirs) bereits als Erfahrung einer Macht, der wir uns verdanken – nämlich jenes Lebens, das uns »mit allen Vermögen des Lebens ausstattet.« 74 Freude ist dann die Erfahrung des so bestimmten Lebens als solchem. Es ist wohl sinnvoll, in dieser Argumentation einen Versuch zu erkennen, die erklärungs71

Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 73–75. Vgl. auch Knöpker, Sebastian: Passivität in der Lebensphänomenologie, in: Kattelmann/Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland, S. 164 f.; Knöpker, Sebastian: Zehn Thesen zu einer Lebensphänomenologie der Zukunft, in: ebd., S. 301–305; Scheidegger, Julia: Zueignungen: Leben und Welt, in: ebd., S. 37–58, 55; Schmitz, Hermann: Immanenz als Falle des Lebens, in: Philosophische Rundschau 42 (1995), S. 69–75, S. 74 f. 73 Vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 28 f.; Henry: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 283 f. 74 Vgl. Kühn: Macht der Gefühle, S. 76. 72

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bedürftige Spezifik absoluter Freude zu konturieren, in der wir uns tatsächlich an uns freuen. Henrys Beschreibung konstruiert von der Endlichkeit des Daseins aus ein Leben, das sich in der Passibilität als absoluter Grund zeigen soll. In der eigentümlichen Einheit, die das Sicherproben und Zeugen dabei mit dem unhintergehbaren Phänomen lebendiger Individuiertheit eingeht, 75 erkennt er die Notwendigkeit, die definierenden Strukturen des Lebens (Passibilität, Leiblichkeit, »Sohnschaft« usw.) in eine weitere Dimension der Ur-Intelligibilität hinein zu verdoppeln. Die Verwandlung »des Schwersten« (des Sichertragens) in »das Leichteste« (das Erproben des Lebens als Seinkönnen) ist Henrys religionsphilosophischem Ansatz zufolge dadurch möglich, dass der Leidende in einem reinen Gewährenlassen die Passibilität als sie selbst erfährt, in einem Erleiden, das dann »nur noch ein Erfreuen ist.« 76 Auch die Verdopplung der transzendentalen Strukturen dokumentiert somit den Versuch, ontische und ontologische Strukturen auf eine Weise ineinander zu blenden, die das Phänomen ursprünglicher Offenheit (Heideggers »Da«) vom Extremismus des Lebens her verständlich werden lässt. Doch die Staffelung von Bezügen macht die Naht zwischen dem absoluten und dem individuierten Leben noch nicht begreiflich. Deutlich zeigt sich dies am Verhältnis der »zweiten Geburt« (in der die Subjektivität zu sich kommt, indem sie das Leben zu sich kommen lässt) zur »ersten Geburt« (in der Leben sich als Subjektivität individuiert), denn beide verhalten sich zueinander wie das gelingende Selbstsein zur Struktur des Selbst. In Bewegung wird dieser Zusammenhang nur im essentialistischen Sinn gebracht, in dem Selbstwerdung die Verwirklichung eines vorgegebenen Wesens bedeutet. 77 Wo in diesem Kontext aus der formalen Zukehr (im Sinne affektiver Übernahme) unter der Hand eine emphatische Zukehr (im Sinne ausdrücklicher Selbstbejahung) wird, handelt es sich offen-

75

Vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 30. Henry: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 291. 77 Vgl. Henry: ›Ich bin die Wahrheit‹, S. 213–239; Henry: Affekt und Subjektivität, S. 22 ff., S. 28 f.; Kühn: Macht der Gefühle, S. 73. 76

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kundig um eine Verwechslung. 78 Statt das Phänomen ursprünglicher Lebensfreude von den Möglichkeiten affektiver Selbsterfahrung her verständlich werden zu lassen, färbt diese schlechte Lösung auf alle anderen Lebenskategorien ab, deren lebensphänomenologisches Profil nach dem selben Muster zustande kommt (etwa »Liebe« und »Gnade«). 79 2.3

Steigerung und Trunkenheit

Leben als Kraft dokumentiert sich lebensphilosophisch jedoch auch über das dem Empfinden und dem Leben selbst einwohnende Phänomen der Steigerung. 80 Bereits Nietzsche hatte die Steigerung mit Freude identifiziert; und tatsächlich ist sie es, die es Henry jenseits metaphysischer Vorlagen erlaubt, das Sichempfinden als Vermögen und dieses Vermögen als Freude über sich selbst zu denken. 81 Zugrunde liegt auch hier die Vorstellung einer als ursprüngliche Seinsversammlung gegen das Nichts gerichteten Kraft, 82 die im primordialen Leiden belastet, bevor das Leiden »das Gewicht einer ihm eigentümlichen Färbung erhält, das heißt jenes Übermaß an Mächtigkeit, die das Leid dann als das in ihm Beständige aufbrechen lässt.« 83 Beständig ist das Leid in der Freude, insofern nicht nur die Belastetheit-überhaupt, sondern auch seine Zuspitzung zum Nicht-mehr-können als Bedingung aller Gefühle im Fühlen erhalten bleiben soll. Um das Aufbrechen der Freude zu erklären, wird die Unerträglichkeit dann in einem Dreischritt ausgelegt, dem zufolge die Steigerung des Leidens eine Intensivierung des Fühlens, die Intensivierung des Fühlens eine Intensivierung des Sichfühlens und die Intensivierung des Sich-

78

Vgl. z. B. Kühn: Macht der Gefühle, S. 95. Vgl. z. B. Kühn: Macht der Gefühle, S. 89, 96, 99. 80 Vgl. z. B. Kühn: Macht der Gefühle, S. 31, 69. 81 Vgl. Henry: Die Barbarei, 274 ff., 318 f.; Henry: Inkarnation, S. 298. 82 Vgl. Kühn: Innere Gewissheit, S. 34; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 223. 83 Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 240. 79

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fühlens eine Steigerung des Fühlenkönnens bedeuten soll. 84 Der Höhepunkt, dem diese Steigerung zustrebt, soll der Punkt sein, an dem die unausdrückliche Erfahrung der Freude zur ausdrücklichen Erfahrung wird und an die Stelle der ausdrücklichen Erfahrung des Leids tritt. Den ganzen Zusammenhang und insbesondere den erreichten Umschlagspunkt, in dem sich das Leben als »die Überfülle seines An-wesens« 85 und »Überfließen« 86 offenbart, nennt Henry mit einem Begriff Nietzsches die »Trunkenheit« des Lebens. 87 Die terminologische Reminiszenz kann jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass der emotionale Silberblick, den Henry in seiner Ausformulierung des Steigerungsmotivs bemüht, phänomenal keinen Anhalt hat. Sowenig sich das Nicht-mehrwollen als Bekräftigung des Wollens lesen lässt, so wenig ist es nämlich möglich, die Steigerung des Leidens in irgendeiner Weise als gleichzeitige Steigerung eines Könnens auszugeben. 88 Was Henry als Trunkenheit des Lebens vor Augen hat, ist allerdings klar. Es ist die Exzessivität des Lebens, in der Leiden und Freude sich als Erfüllungsgestalten ersetzen und Kraft und Ohnmacht ineinander übergehen können. Wenn dies die »Trunkenheit des Lebens« ausmacht, dann weicht die Lebensphänomenologie ihr jedoch in zweifacher Weise aus. Einmal, indem sie sich weigert, den Zusammenhang von Freude und Leiden als Ambivalenz in den Blick zu nehmen. Und zum andern, indem sie bei der Ursituation des extremen Leidens ansetzt. Denn als reines Ohnmachtsphäno84 Vgl. Henry: Affekt und Subjektivität, S. 286; Kühn: Macht der Gefühle, S. 48; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 281 f. Zum Begriff der Intensität vgl. Kühn: Radikalisierte Phänomenologie, S. 244. 85 Henry: Affekt und Subjektivität, S. 138. 86 Vgl. Henry: Die Barbarei, S. 276. 87 Vgl. etwa Henry: Affekt und Subjektivität, S. 32; Kühn: Innere Gewissheit, S. 31; Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 340. 88 Das gilt auch, wenn man einen Gedanken von Maine de Biran berücksichtigt, der hier eine Rolle spielt, nämlich den Gedanken der Anstrengung (effort), an der eine Kraft sich erfährt »um sich als ›Ich-kann‹ zu offenbaren.« (Kühn: Leere und Aufmerksamkeit, S. 113; vgl. Henry: Die Barbarei, S. 275 ff.) Diese Rolle der Anstrengung ist festzuhalten gegenüber Susanne Brookmann, die die Anstrengung dem Leiden zuschlägt (Brookmann: Traumaüberlebende, in: Kühn/Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, S. 54, 55).

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men gehört dieses Leiden in der Tat einer Erfahrungsordnung zu, die lebensphilosophisch nicht zugänglich ist. Die Welten einer Angela von Foligno, einer Caterina von Siena oder eines Antonin Artaud würden sich aus beiden Gründen mit den lebensphänomenologischen Umschlagskategorien kaum aufschlüsseln lassen. Im Zusammenhang eines der weiteren Erklärungsversuche führt Henry den Begriff der Energie als Alternative zu jenem der »Kraft« und Substrat der Steigerung ein. 89 Mittels dieses Begriffs lässt sich der Zusammenhang von Leiden und Freude so beschreiben, dass es nicht mehr das sich steigernde Leiden selbst ist, das am Ende in Freude umschlägt, sondern das Überstehen oder Ausschöpfen dieses Leidens, das zu einem Zuwachs an Kraft und Energie führt. So wird die Paradoxie vermieden, das Sichsteigern einer Ohnmacht als Zuwachs von Kraft verstehen zu müssen. Doch auch diese Option scheitert an der Unerträglichkeit. Denn das Unerträgliche ist nicht durchschreitbar. Es wäre nicht unerträglich, wenn es dadurch, dass wir es ertragen, in irgendeiner Weise erträglicher würde. Durch das Ertragen wird das Unerträgliche im Gegenteil nur immer noch unerträglicher. 2.4

Unruhe und Sicherheit

Der conatus essendi 90 verbürgt keineswegs an ihm selbst schon die Gutheit des Lebens. Er lässt vielmehr die Frage entstehen, worin diese Gutheit bestehen kann. Die positive Fassung der Unlösbarkeit von sich selbst soll in dieser Absicht in der Sicherheit erfahrbar werden, mit der das Leben uns hält. 91 Doch nicht nur lässt sich unmittelbar keine Sicherheit mit der Ursituation verbinden. Sie lässt sich auch nicht als Horizont für Sicherheit ins Spiel bringen, weil ihr Zuviel sich immer nur als Gegenwart zeigt. Wenn Henry von Sicherheit spricht, hat er tatsächlich wohl gar nicht 89

Vgl. Henry: Die Barbarei, S. 278 ff. Vgl. Henry: Die Barbarei, S. 275 f.; Kühn: Innere Gewissheit, S. 27. 91 Kühn: Innere Gewissheit, S. 29, vgl. S. 50 ff.; Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 22 f. 90

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die Beladenheit-mit-sich als Gegenphänomen im Sinn, sondern den cartesianischen Zweifel. 92 Dementsprechend bedeutet Sicherheit lebensphänomenologisch Klarheit, Distinktion und Evidenz. Darin erweist sich der zugrundeliegende Zweifel aber als methodischer, nicht als existenzieller. Doch auch wenn Rolf Kühn zurecht und mit einem Hinweis auf Pascals Mémorial 93 darauf hinweist, dass die dem Leben der Gefühle selbst zugehörende Gestalt von Evidenz keinem Kontext theoretischer Einsicht entwachsen sein kann, 94 liegt darin noch kein Hinweis darauf, auf welche Gestalt von Unruhe (inquietas) die im Fühlen gefundene Sicherheit als »absolut affektive Gewissheit« 95 die Antwort geben soll. Kierkegaard hatte bekanntlich den conatus beziehungsweise das im Leben liegende Wollen auf die Problematik des Selbstseins bezogen. Henrys Kierkegaardinterpretationen verstehen den Begriff der »Verzweiflung« im Sinne der Selbstbeladenheit und lesen die Bewegung des gelingenden Selbstseins nach der Logik der Steigerung. Je mehr Verzweiflung, desto mehr Erprobung der »unbesiegbaren Möglichkeit« und Mächtigkeit des Lebens. 96 Näher an Kierkegaard bleibt Kühn, wo er in einer weiteren Deutung des conatus essendi versucht, die Selbstfreude in der Unmöglichkeit zu erkennen, nicht sein zu wollen. 97 Das Mittel hierfür bietet erneut die Formalisierung des Freudebegriffs, in deren Zuge die Bewegung des Übergangs aus der Sphäre der Aneignung herausgelöst und in jene der ursprünglichen Gebung hineinverlegt wird. Das auf diese Weise entdramatisierte Fühlen lässt sich aber 92

Vgl. Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, übers., hg. u. eingel. v. Rolf Kühn, mit einem Vorwort von JeanLuc Marion, Freiburg/München 1992, S. 72 ff., 99 ff.; vgl. Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 25. 93 Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 245. Kühn zitiert aus dem Mémorial die Zeile »Gewissheit, Gefühl, Freude, Friede«. 94 Kühn zufolge macht es »das unsichtbare Wesen der Gefühle aus, gerade nicht mit einer Evidenz oder Argumentation übereinstimmen zu können.« (Kühn: Macht der Gefühle, S. 90). 95 Kühn: Macht der Gefühle, S. 86. 96 Henry: Affekt und Subjektivität, S. 137. Zum Begriff »Verzweiflung« bei Kühn vgl. Macht der Gefühle, S. 91–97. 97 Kühn: Innere Gewissheit, S. 27. Vgl. Kühn: Ästhetische Existenz heute, S. 207.

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in seiner »Zartheit und Anmut« 98 nicht mehr auf die Negativität des ursprünglichen Sicherleidens zurückbeziehen. Wohl deshalb setzt Kühn in einer zweiten Operation wieder bei der vollen Struktur der Selbstumschlingung an und versucht das Phänomen absoluter Freude nun dadurch zu gewinnen, dass er die Übernahme von ihrem Spielraumcharakter befreit. 99 Denn auch auf diese Weise lässt sich der Übergang als »ständige innere Selbstverwandlung« 100, als zeitloser Vorgang 101 einer »ständigen inneren Modalisierung« 102 denken. Die Freude wird dann nicht mehr als ausdrückliche Übernahme der Gebung, sondern als bejahende Übernahme des ganzen Passibilitätsgeschehens von Gebung und Übernahme gedacht. 103 Doch nun ist nicht mehr zu begründen, in welchem Sinne die Übernahme als Übernahme überhaupt eine Bejahung sein soll. 104 An wieder anderer Stelle nimmt Kühn den Auseinandersetzungscharakter der Selbsterprobung als Ausgang und bringt deren Offenheit – das nicht als Vermögen, sondern als Spielraum begriffene Empfindenkönnen – als emotionale Negativität, als Uneindeutigkeit und existenzielle Unsicherheit in Ansatz. 105 Doch noch bevor verständlich werden kann, unter welchen Bedingungen der Wechsel der Gefühle, der ja auch für Lebendigkeit einsteht, als Unbeständigkeit erfahren wird und wie deren Negativität sich zur Negativität des Unerträglichen verhält, wird hier das Unerträgliche im Interesse von Sicherheit in Dienst genommen. Der Durchblick auf die Ursituation und das in ihr liegende Empfindenmüssen soll im unsteten Wandel der Gefühle Sicherheit verbürgen, und diese 98

Kühn: Innere Gewissheit, S. 28. Henry spricht von »Sanftheit und Ruhe (douceur)« des Lebens. Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 239. 99 Kühn: Innere Gewissheit, S. 30 ff. 100 Kühn: Innere Gewissheit, S. 33. 101 Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 21. 102 Kühn: Phänomenologische Materialität, S. 24. 103 Kühn: Innere Gewissheit, S. 28–32. 104 Kühn formuliert, ohne die Freude als strukturelles Sich-einlassen-auf könne auch der Schmerz nicht erfahren werden. Doch erstens beschreibt der genannte Schmerz nicht die Ursituation in der Unerträglichkeit, zu der es keine Zukehr geben kann. Und zweitens sträubt sich Kühn auch hier gegen die Option, eine ursprüngliche Freude am Schmerz und damit affektive Ambivalenzen zuzulassen. 105 Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 21–26.

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Sicherheit soll es nun sein, die mit Freude zusammen geht. 106 Deutlich wird dadurch jedoch nur, dass überall, wo der Spielraum des Seinkönnens in das »innere Werden des Absoluten« 107 verlegt oder aber nach dem Raster von Passivität und Aktivität verteilt wird, 108 für die Dramatik des Existenziellen im Gefüge pathischer Selbstaffektion kein Ort mehr bleibt. 109 Augenscheinlich kann es unter der Ägide eines Lebensbegriffs, über dessen Gutheit per Definition entschieden ist, nicht gelingen, die Verwandlung des ursprünglichen Leidens in eine primordiale Freude verständlich zu machen. 2.5

Faktizität und Negativität

Es sind vor allem zwei Fragen, die sich von diesem Ergebnis her stellen. Einmal fragt sich, weshalb Henry sich dagegen sperrt, den Gedanken einer ursprünglichen Gutheit des Lebens anders als dogmatisch in Ansatz zu bringen (was ihm im Falle der Last des Lebens ja gelingt). Zum andern kann gefragt werden, ob und inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, die Unmöglichkeit des Sich-ertragens zum Fundament einer Theorie zu machen, die über die Negativität als Kennzeichen des neuzeitlichen Subjektdenkens hinausgelangen will. Beide Fragen lassen sich durch einen Blick auf Simone Weil konturieren, deren Denken zumindest für Rolf Kühn einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. 110

106

Kühn: Innere Gewissheit, S. 29. Kühn: Innere Gewissheit, S. 30. 108 Vgl. Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 72. In Wahrheit sind in der Selbstumschlingung beide Sphären jeweils aktiv und passiv strukturiert. 109 Es kann dann nur noch rhetorisch gefragt werden, was geschieht, wenn die absolute Investitur nicht bejaht wird (vgl. Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 78). Die Antwort ist kaum mehr nachvollziehbar: »die Distanzlosigkeit nicht ertragen zu können, bedeutet nichts anderes, als das Gesetz der reinen Subjektivität zu verweigern.« (Kühn: Praxis der Phänomenologie, S. 79, mit Hinweis auf Henry). 110 Vgl. zum »Übergang« von Leiden in Freude bei Weil etwa Weil: Zeugnis für das Gute, S. 163. 107

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Was die erste Frage angeht, so verbinden sich mit ihr bei Henry nicht nur die verfolgten Schwierigkeiten des Übergangs, sondern auch eine Art prinzipieller Selbstwiderspruch. Als Phänomenologie des Lebens setzt Henrys Philosophie nicht nur mit dem Anspruch ein, Leben gedanklich aufschließen zu können, sondern erhebt auch Anspruch auf einen ausdrücklich auf die Sache bezogenen, expliziten Ausweisungs- und Evidenzbegriff. Die dogmatische Position einer apriorischen Lebensgutheit entstammt dagegen einem religiösen Diskurs, in dem sie nicht nur behauptet, sondern vor allem auch als Geheimnis behauptet wird. 111 Vielleicht hält Henry deshalb an der Gutheit des Lebens einfach fest, weil er sieht, dass jede Form des Guten dem Menschen nur in Gestalt entsprechender Unverfügbarkeit und Unverständlichkeit gegeben ist. Eine positive Bestimmung oder Erklärung würde dem Heil seinen transzendenten Charakter nehmen. Die Idee, Transzendenz selbst von der inneren Struktur eines dynamischen Lebensvollzugs her zu denken, ist bei Henry in jedem Falle gemeinsames Erbe der deutschen und französischen Lebensphilosophie; 112 aus diesem Grund bleibt es tatsächlich unbefriedigend, wenn man die Freude auf den Genuss des Immanenten beschränkt. 113 Simone Weil hat ihrem Denken ebenfalls einen Begriff des übernatürlich Guten zugrundegelegt, das sie mit Gott identifiziert. 114 Auch sie hat die Notwendigkeit, »definierter, zur Anschaulichkeit kristallisierter Gefühle und Zeichen ohne Zweideutigkeit« 115 aus der Tradition des französischen Rationalismus bezogen und beide Motive in einer Theorie der Aufmerksamkeit 111

Vgl. hierzu auch Janicaud, Dominique: Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, übers. u. hg. v. Marco Gutjahr, Wien/Berlin 2014, S. 36– 39, 101–126. 112 Vgl. Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit, S. 281 f., 531. 113 So schlägt etwa Julia Scheidegger vor, die Freude bei Henry als den Genuss der eigenen Lebensvermögen und die Erfahrung der Selbstbeladenheit als Begrenztheit dieser Vermögen begreiflich zu machen. Vgl. Scheidegger: Zueignungen, in: Kattelmann/Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland, S. 56; vgl. Scheidegger: Radikale Hermeneutik, S. 116–165. 114 Vgl. etwa Weil: Zeugnis für das Gute, S. 163, 212. 115 »Où trouverons-nous des émotions définies, cristallisées, contemplables, et des signes sans ambiguïtés?« (zitiert nach Kühn: Deuten als Entwerden, S. 27).

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miteinander verknüpft. Das Zentrum dieser Theorie macht jedoch die besondere Aufmerksamkeit aus, die vom Geheimnis gefordert wird. 116 Diese Erinnerung verdeutlicht, dass das Beharren auf der Transzendenz des Guten nicht zwangsläufig zu Dogmatismus führt. Ins Gewicht fällt bei Henry vielmehr die Weigerung, diese Transzendenz vom Leben her als Negativität und Ausstand zu denken. Die Ursituation, die Simone Weil unter dem Titel »Unglück« (malheur) entfaltet, bezeichnet im Ganzen ihres Denkens eine zentrale und problematische Struktur. 117 Aufgrund ihrer Nichtübernehmbarkeit kann sie einerseits nicht im Gefüge einer Daseinsverfassung untergebracht werden. Sie bleibt schlechthin negativ. Auf der anderen Seite versteht Weil das Unglück als Urform einer Reinheit, in der allein die reine Liebe Gottes uns erreichen kann. Ihre Vorlage in der europäischen Leidensmystik – etwa bei Johannes vom Kreuz – ist auch für sie ein phänomenales Paradigma für den Übergang des ursprünglichen Sicherleidens in absolute Freude. 118 Die Schwierigkeit, die damit entsteht, ist offenbar die, in die das Denken radikaler Abwesenheit oder radikaler Negativität überhaupt führt. 119 Zugleich ist mit ihr aber auch die Situation beschrieben, in der sich das Denken seit etwa 1800 zu seiner Modernität verhält: es kann bei der Negativität nicht bleiben, von der es nicht loskommt. 120 Für die lebensphänomenologische Perspektive auf die Ursituation ist in diesem Sinne festzuhalten, was die Beladenheit-mit-sich nicht bedeutet: Sie befreit von nichts und sie führt nicht auf ein in irgendeinem Sinne gereinigtes Selbst. Sie reduziert das Selbst vor allem auch nicht im Sinne einer eindeutigen Erfahrung. Denn die Eindeutigkeit, die im Unerträg116

Vgl. Kühn: Deuten als Entwerden, S. 404. Vgl. Weil: Zeugnis für das Gute, S. 13–44. 118 Tatsächlich folgt hieraus auch für Weil eine Übermacht der Freude: »Der Schmerz ist Gewaltsamkeit, die Freude ist Sanftmütigkeit, aber die Freude ist die stärkere.« (Weil: Zeugnis für das Gute, S. 194). 119 Vgl. hierzu auch Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, 3. Auflage Wien 2014. 120 Als eindrucksvolles Zeugnis dieser Situation können immer noch Hegels frühe Systementwürfe gelten. 117

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lichen liegt, ist selbst gebrochen durch die Paradoxie des Nichtertragen-könnens, in dem es erfahren wird. In dieser Hinsicht wird der Unglückliche durchaus vor seine Verfasstheit geführt. Doch diese Verfasstheit besteht trotz aller Momente der Entpersönlichung 121 auch darin, der Konkretion des eigenen Selbst nicht entkommen zu können. Die im Leiden zugleich zerschmolzene und zementierte Konkretion beinhaltet die doppelte Gewissheit, nicht nur den jeweils konkreten Deutungshorizonten, sondern auch dem Deuten-überhaupt nicht entkommen zu können. Neben dem Ausschluss der Ambivalenz von Gefühlen und ihrer Abscheidung von der Imagination mindert deshalb vor allem die Entschiedenheit, mit der Henry das Fühlen vom Verstehen trennt, die Tragkraft seiner Einsichten. 122 In Wahrheit hängt alles, was wir fühlen, auch davon ab, wer wir sind, das heißt: wie wir uns selbst deuten und geschichtlich verstehen. Simone Weil hat die Problematik der Ursituation auch in dieser Hinsicht weiter zugespitzt als Henry. Sie konstruiert auf der einen Seite eine radikalisierte Gottesunmittelbarkeit und ist bereit, in jeder Form von Religiosität die Zukehr zur Liebe Gottes zu erkennen. 123 Auf der anderen Seite knüpft sie die Möglichkeit der décréation an das einmalige Ereignis des gekreuzigten Christus. 124 Im gleichen Maße, wie sich in Weils Denken die Tendenz zu einer Entpersonalisierung und damit zu einer Enthistorisierung des Fühlens zur Geltung bringt, 125 ist deshalb auch der Impuls am Werk, auf umfassende und immer umfassendere historische Analysen zu setzen. Das Gewicht, das die Theorie der Aufmerksamkeit im Denken Weils gewinnt, rührt nicht zuletzt daher, dass in ihr diese beiden gegenstrebigen Bewegungen aneinandergebunden und von ihrem abstrakten Charakter befreit werden sollen. Die Notwendigkeit, Negativität im Fühlen rein zu denken, muss also nicht mit der Behauptung emo121

Auch dies ein zentraler Begriff bei Weil. Vgl. Kühn: Deuten als Entwerden, S. 397. 122 Daraus ergibt sich auch die Abtrennung der Gefühle von ihrer Geschichtlichkeit. 123 Vgl. Kühn: Leere und Aufmerksamkeit, S. 248. 124 Vgl. Kühn: Leere und Aufmerksamkeit, S. 248–253, 267, 271. 125 Vgl. auch Kühn: Deuten als Entwerden, S. 417–420.

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tionaler Unmittelbarkeit oder der Selbstoffenbarung Gottes im Fühlen quittiert werden. Man kann sie sinnvoll auch mit der Forderung nach noch mehr Vermittlung beantworten. Allein durch diese lässt sich am Ende realisieren, dass die Verzweiflungsklage des gekreuzigten Christus wie das Zeugnis des von Freude überwältigten Pascal auch als Zitate aufgeschlüsselt werden wollen. 126 Sie dokumentieren die Unmittelbarkeit des Fühlens nur zusammen mit der Unhintergehbarkeit der Auslegung. Literatur Baader, Franz von: Fermenta Cognitionis, in: Schriften Franz von Baaders, ausgew. u. hg. v. Max Pulver, Frankfurt 1980 (Faksimile der Ausgabe Leipzig 1921), S. 84–226. Brookmann, Susanne: Traumaüberlebende als WegbereiterInnen einer Kultur des Gefühls, in: Rolf Kühn/Karl Heinz Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, Freiburg/ München 2007, S. 48–64. Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, 3. Auflage Wien 2014. Funke, Günter: Spiritualität des Gefühls, in: Rolf Kühn/Karl Heinz Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, Freiburg/München 2007, S. 218–237. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), 16. Auflage Tübingen 1986. Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, übers., hg. u. eingel. v. Rolf Kühn, mit einem Vorwort von Jean-Luc Marion, Freiburg/München 1992. Ders.: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, übers. u. eingel. v. Rolf Kühn und Isabelle Thireau, Freiburg/München 1994. Ders.: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/ München 2002. Ders.: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/München 2012. Ders.: ›Ich bin die Wahrheit.‹ Für eine Philosophie des Christentums (1996), übers. v. Rolf Kühn, mit einem Vorwort v. Rudolf Bernet, 2. Auflage Freiburg/München 2012.

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»Eli, eli, lema sabachtani?« (Mt 27, 46) bezieht sich auf Ps 22,2. Die Freude, von der Pascal spricht, lässt sich auf die Liturgie des Abendmahls zurückbeziehen »Solches rede ich zu euch, dass meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.« Vgl. Steinmann, Jean: Pascal, aus dem Französischen übers. v. Gerolf Graf Coudenhove, 2. Auflage Stuttgart 1962, S. 97.

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Janicaud, Dominique: Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, übers. u. hg. v. Marco Gutjahr, Wien/Berlin 2014. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Politik 2 (= Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XII), 4. Auflage Frankfurt a. M. 1982, S. 395–690. Kattelmann, Sophia/Knöpker, Sebastian (Hg.): Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1954. Knöpker, Sebastian: Passivität in der Lebensphänomenologie, in: Sophia Kattelmann/Sebastian Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 149–167. Ders.: Zehn Thesen zu einer Lebensphänomenologie der Zukunft, in: Sophia Kattelmann/Sebastian Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 301–305. Kühn, Rolf: Deuten als Entwerden. Eine Synthese des Werkes Simone Weils in hermeneutisch-religionsphilosophischer Sicht, Freiburg/Basel/Wien 1989. Ders.: Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München 1992. Ders.: Geburt in Gott. Religion, Metaphysik, Mystik und Phänomenologie, Freiburg/München 2003. Ders.: Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2003. Ders.: Anfang als Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart 2004. Ders.: Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg 2004. Ders.: Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/ München 2007. Ders.: Macht der Gefühle, Feiburg/München 2008. Kühn, Rolf: Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/ München 2009. Ders.: Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie, Würzburg 2012. Ders.: Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden 2014. Ders./Thireau, Isabelle: Einführung in die Henrysche Kulturanalyse, in: Michel Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik (1987), übers. u. eingel. v. Rolf Kühn und Isabelle Thireau, Freiburg/München 1994, S. 9–71. Ders.: Phänomenologische Materialität und Interpretation der Gefühle, in: Rolf Kühn/ Karl Heinz Witte (Hg.), Existenz und Gefühl, Freiburg/München 2007, S. 12–28. Ders.: Phänomenologische Haltung und das, was uns trägt. Anstöße für hospizlichpalliativ tätige Einrichtungen, (Mskr.). Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Ludwig Wenzler, 3. Auflage Hamburg 1995.

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Thilo Billmeier

Ders.: Vom Sein zum Seienden, übers. v. Anna Maria Krewani und Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1997. Marion, Jean-Luc: Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997. Scheidegger, Julia: Radikale Hermeneutik. Michel Henrys Phänomenologie des Lebens, Freiburg/München 2012. Dies.: Zueignungen: Leben und Welt, in: Sophia Kattelmann/Sebastian Knöpker (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 37–58. Schmitz, Hermann: Immanenz als Falle des Lebens, in: Philosophische Rundschau 42 (1995), S. 69–75. Steinmann, Jean: Pascal (1954), aus dem Französischen übers. v. Gerolf Graf Coudenhove, 2. Auflage Stuttgart 1962. Weil, Simone: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, aus dem Französischen übers. u. hg. v. Friedhelm Kemp, München 1990.

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Corinna Lagemann

Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit und Lebenswelt bei Heidegger

1.

Einleitung

Auf den ersten Blick scheint es plausibel, dass Stimmungen und Gefühle als mentale Zustände eine höchst individuelle Angelegenheit sind. Die empirischen Wissenschaften, insbesondere die Disziplinen der Neurowissenschaften und Psychiatrie, sind sich weitgehend einig, dass das, was wir als Gefühl oder Stimmung, als Lust, Freude, Trauer oder Angst erleben, eine spürbare Ausprägung von hochkomplexen neuronalen Prozessen ist. Bildgebende Verfahren auf hohem technischen Niveau legen einerseits nahe, dass es sich bei Gefühlen um objektivierbare Abläufe im Gehirn handelt, die dem Individuum in ihrer Komplexität zwar notwendig verborgen bleiben, aber gleichsam von außen, nämlich mittels dieser Verfahren, transparent gemacht werden können. Darüber hinaus scheint festzustehen, dass diese komplexen Abläufe zwar einen körperlichen Ausdruck haben, über den sie auch vermittelt und kommuniziert werden können, letztlich aber doch ein Neuronenfeuer sind, das durch die Reize der sogenannten Außenwelt entfacht wird, aber als mentaler Zustand, der sich im Gehirn abspielt, nicht mitteilbar ist. Dieser naturwissenschaftlich geprägten Sichtweise widerspricht jedoch unser Erleben. Wenn wir von Gefühlen reden, wenn wir uns vorstellen, wie es sich anfühlt, ein Gefühl zu haben, in einer Stimmung zu sein, wie sich Wandlungsprozesse einer Stimmung hin zu einer höchst zentrierten Emotion und umgekehrt anfühlen, so kommen wir nicht um die Assoziation herum, dass uns die Gefühle und Stimmungen gleichsam ergreifen oder bedrängen. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch finden wir diese Auffas133 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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sung. Einerseits kann man zwar die Tendenz beobachten, dass die Sprache der populären Neurowissenschaften allmählich in die Alltagssprache sickert: Computerspiele sowie Knobelhefte werben mit ›Gehirnjogging‹ 1, Menschen bekunden, dass ihr ›Gehirn Futter braucht‹ und letztlich hat diese Redeweise weder etwas mit dem tatsächlichen Erleben von Eintönigkeit, Unterforderung und Langweile zu tun, welches damit angesprochen wird, noch gibt sie die nachweisbaren Prozesse im Nervensystem und Gehirn adäquat wieder. Während wir – von medizinischem Vokabular mal abgesehen – kaum Worte für dieses Geschehen haben, kennen und nutzen wir deutlich häufiger Formulierungen, welche die leiblich gespürte Qualität von Stimmungen thematisieren. Wir sprechen von Angst, die einen einholt, nachdem man ihr lange ausgewichen ist, Freude und Trauer ergreifen, mitunter völlig unvermittelt, drücken nieder, erheben, Peinlichkeit und Scham befallen uns, so dass wir im Boden versinken mögen, eine ausgelassene Stimmung drängt sich auf, wenn wir selbst nicht ausgelassen sind, ebenso wie quälende Sorgen vor dem nächsten Tag, die einen um den Schlaf bringen. Besonders auffällig in seiner leiblich spür- und sichtbaren Qualität ist der kalte Schauer, der einem über den Rücken läuft, der als Zusammenziehen des gesamten Körpers spürbar, an der charakteristischen Körperhaltung, dem Schaudern und der Gänsehaut außerdem von außen beobachtbar ist. All diese Redeweisen spiegeln eine ganzheitlich leibliche Gefühlserfahrung, die in phänomenologischen Emotionstheorien Eingang gefunden hat: Gefühle suchen uns heim, sie widerfahren, sie befallen uns, und es erfolgt die Auseinandersetzung – man distanziert oder sperrt sich oder macht sich das Gefühl zu eigen. Martin Heidegger nimmt sich dieser Erfahrung an, wenn er etwa in § 29 von Sein und Zeit die Befindlichkeit charakterisiert 1

Das wohl prominenteste Beispiel ist das Konsolenspiel »Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging« (Japan, 2005), aber auch auf Rätselseiten findet sich ›Gehirnjogging‹ als zentrale Kategorie (z. B. http://www.raetsel-contest.de/) und auch die Wellness- und Gesundheitsindustrie hat das Gehirnjogging für sich entdeckt: (z. B. http://www.neuronation.de/).

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Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit

und davon spricht, dass »Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von Außen noch von Innen, sondern steigt als Weise des Inder-Welt-seins aus diesem selbst auf.« 2. Diese Aussage Heideggers legt nahe, dass Stimmungen und Gefühle nicht nur in einer wie auch immer gearteten Innensphäre des Subjekts entstehen, sondern dass sie eine gewisse Präsenz ›außerhalb‹ des Individuums und – insofern als das In-der-Welt-sein immer intersubjektiv gedacht werden muss – gleichsam zwischen den Menschen 3 haben. Neben dem Eindruck der Widerfahrnis von Gefühlen zeigt die Erfahrung, dass mehrere Menschen gleichzeitig von einem Gefühl ergriffen werden können; das Phänomen der Gefühlsansteckung und der Autorität bestimmter intersubjektiv vorherrschender Gefühle ist wohlbekannt, soll hier aber allenfalls am Rande eine Rolle spielen. Die Annahme einer ›Eigenständigkeit‹ der Gefühle impliziert wiederum, dass Gefühle nicht nur eine bestimmte ihnen innewohnende eigentümliche Räumlichkeit besitzen, sondern dass sie darüber hinaus einen Raum brauchen, innerhalb dessen sie sich ereignen und das Individuum angehen können. Bei der Betrachtung des Zusammenhangs von Affektivität und Lebenswelt ist dieses Verhältnis in zweierlei Hinsicht relevant: (1) Jede innerweltliche Begegnung, jedes gefühlsmäßige Erleben benötigt ein Fundament, einen Raum, innerhalb dessen es sich ereignen kann. Die Lebenswelt bildet bei Heidegger ein Gefüge aus Verweisungen und Bedeutsamkeiten, welches räumlich organisiert ist. Insofern als Verweisungen und Bedeutsamkeit affektiv konstituiert sind, ist dieses Netz immer affektiv gefärbt; Heideggers Begriff der Befindlichkeit, welche jedes Erleben in ein bestimmtes Licht rückt, bezeichnet die fundierende und welterschließende Präsenz von Stimmungen. Der existenziale Raum der Lebenswelt bildet die Wahrnehmungsbedingung für Begegnendes. Nur vor dem vertrauten, immer irgendwie gestimmten 2

Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1957, S. 134 ff. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 118: »Auf dem Grunde dieses mithaften Inder-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.« [Alle Hervorh. i. O.].

3

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Untergrund kann etwas begegnen und als etwas Neues die Routine und die Verweisungsganzheit, die Heideggersche Welt immer schon ist, durchbrechen. (2) Vor diesem Hintergrund können Gefühle selbst widerfahrnishaft über das Dasein hereinbrechen. Entweder im innerweltlich Begegnenden, in der schon genannten Störung der Verweisung, oder auch als eine sich langsam verdichtende konkretisierende Stimmung, die sich ihren Gegenstand sucht. Als Beispiel bietet sich hier Heideggers eigenes Szenario an: eine unbestimmte Angst gepaart mit einer Vorahnung, die alles in einem unheilvollen Licht erscheinen lässt, bis sich letztlich ein Anlass, ein Gegenstand findet, so dass die düstere Vorahnung in offene Furcht umschlägt – das Dasein fürchtet sich und hat in seiner Furcht die Möglichkeit, der Gefährdung zu begegnen. 4 Es sind also zwei Ebenen dieses Konnex’ beschreibbar: Gefühle als Stimmungen und als Untergrund des Erlebens (Befindlichkeit), eine Art des Sich-Befindens in der Welt, sowie selbst als Widerfahrnis, welches dann seinerseits das Verweisungsgeflecht ändert und verschiebt. Denn gefühlsmäßige Widerfahrnisse lassen nach, sinken ab, der Untegrund ›glättet‹ sich wieder. Diese beiden Ebenen durchdringen einander und zu einem gewissen Grad bedingen sie sich gegenseitig. Im Folgenden soll die Struktur dieser spezifischen Räumlichkeit(en) betrachtet werden. Dazu gilt es, Heideggers Konzeptionen von Lebenswelt und existenzialer Räumlichkeit in den Blick zu nehmen, wie er sie in der Ontologie-Vorlesung aus seiner frühen Freiburger Zeit sowie in Sein und Zeit ausarbeitet. In Sein und Zeit sind die Kapitel 3 (»Die Weltlichkeit der Welt«) und 6 (»Die Sorge als Sein des Daseins«) besonders zu berücksichtigen. Sie bilden eine systematische Klammer im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Welt und ihrer Erschließung durch das Da4

Dieses Szenario findet in Hermann Schmitz’ Beschreibung der Gefühle als Atmosphären ebenfalls Verwendung. Am Beispiel des Grauens, der düsteren Vorahnung in ihrer räumlichen Präsenz und Zudringlichkeit verdeutlicht er die Dynamik der Stimmung nebst Verdichtungsbereich, die sich ihren Verankerungspunkt ›sucht‹. Vgl. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 2007, S. 301.

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Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit

sein, nach existenzialer Räumlichkeit und Befindlichkeit, nach Raum und Gefühl. 5 2.

Auf vertrautem Boden: Die Lebenswelt

In seiner Ontologie-Vorlesung aus dem Sommersemester 1923 entwickelt Heidegger den Begriff des faktischen Lebens, der die Seinsart des Daseins in seiner Geworfenheit charakterisiert und die Aufgabe thematisiert, sich zu seinem Sein und zur Welt zu verhalten. Im weiteren Verlauf der Vorlesung analysiert er die Implikationen dieses Selbst- und Weltverhältnisses. Hier gilt es nun, die Begriffe der Faktizität und der Welt näher zu beleuchten, damit das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Dasein und Welt sowie die Struktur der Lebenswelt verständlich wird. Welt ist bei Heidegger niemals ohne das konstituierende Subjekt zu denken, daher muss hier auch von der Faktizität die Rede sein. Das faktische Leben wird in der Forschungsliteratur u. a. als »Strukturzusammenhang von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt« 6 beschrieben, als »das je eigene Dasein, sofern es nicht primär ein Gegenstand der Anschauung, sondern eine Aufgabe und Sorge für sich selbst indiziert« 7. Der Mensch steht demnach nicht in theoretischer Einstellung einer wie auch immer gearteten objektiven Welt gegenüber, zu der er sich zunächst einen Zugang verschaffen muss, sondern Dasein ist immer intersubjektiv verfasst und auf seine Lebenswelt wechselseitig bezogen. Dasein und Welt befinden sich in einem Konstitutionsverhältnis, dergestalt dass das Dasein in der tätigen Auseinandersetzung mit den Gegenständen der 5

Vgl. Merker, Barbara: Die Sorge als Sein des Daseins (§§ 39–44), in: Thomas Rentsch (Hg.), Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 117–132, 117. 6 Jung, Matthias: Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919–1923. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 13–22. S. 18. 7 Grondin, Jean: Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 47–51, 48.

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Welt seine eigene individuelle Lebenswelt als Horizont aus Bedeutsamkeiten und Verweisungen zu allererst schafft. 8 Dabei findet diese Auseinandersetzung immer auf der Grundlage der Welt statt, die das Dasein von Anfang an vorfindet. Es wird in eine bereits vorhandene Welt hineingeboren, die es prägt und fortan den dynamischen Untergrund jeder Interaktion bildet. Jedem Selbstverhältnis, jedem Zugriff auf die Welt geht notwendig das Verhältnis zu anderen Menschen voraus, die die Welt so geformt haben, wie man sie vorfindet. 9 Innerhalb dieses lebensweltlichen Horizonts haben die Gegenstände eine Bedeutung, die sich aus dem besorgenden Umgang mit ihnen ergibt. Sie zeichnen sich im Unterschied zur nicht erschlossenen Natur, die den Status des nur Vorhandenen, grundsätzlich Unverfügbaren hat, 10 durch ihre Zuhandenheit aus. Durch die Bezugnahme werden sie als ›Zeug‹ Teil der individuellen Lebenswelt. Das Geflecht von Verweisungen besitzt eine ganz eigene räumliche Struktur, die – ähnlich der zeitlichen Struktur – nicht im geometrischen Sinne durch messbare Abstände organisiert ist, sondern durch die Nähe der Verweisung. Die Enge und Intensität des Bezugs konstituiert die Nähe zu den Dingen, und so kann ein Gegenstand, ein Ort oder eine Person, die sich in einer anderer Stadt befindet, durch eine enge Verbundenheit sehr viel »näher« sein als ein längst vergessenes Kleidungsstück auf dem eigenen Dachboden, welches in der persönlichen Lebenswelt überhaupt keine Rolle (mehr) spielt. Nähe und Ferne sind in der Heideggerschen Lebenswelt durch die affektive Bezugnahme definiert. Dabei ist es nicht notwendig der 8

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 83 ff. Vgl. Demmerling, Christoph: Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-derWelt-sein (§§ 25–38), in: Thomas Rentsch (Hg.), Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 89–117, 94. 10 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 70: Im Rahmen des Verweisungszusammenhangs begegnet Natur als ›entdeckte Natur‹. »Im gebrauchten Zeug ist durch den Gebrauch die ›Natur‹ mitentdeckt, die ›Natur‹ im Lichte der Naturprodukte. Verborgen bleibt hier »die Natur als das, was ›webt und strebt‹, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt«. Natur hat immer das Moment des Unverfügbaren an sich, das etwa in Form von zerstörerischen Naturkatastrophen zutage tritt. (Heidegger: Sein und Zeit, S. 152). 9

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Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit

Fall, dass die Gegenstände und Personen die nächsten sind, die dem Dasein die liebsten sind, wie es die Alltagssprache nahelegt; vielmehr entsteht die Nähe aus einem starken affektiven Bezug, ungeachtet seiner Qualität. So kann beispielsweise ein defekter Gebrauchsgegenstand sehr nahe sein, eben weil er sich in seiner Defizienz schmerzlich aufdrängt. Gleichzeitig kann ein einmal geliebtes, aber inzwischen vergessenes Schmuckstück in der Kommodenschublade sehr fern sein. Der Besitzer hat, wenn überhaupt, nur eine sporadische Erinnerung daran und es spielt in seiner Lebenswelt keine Rolle mehr. Gleichzeitig zeichnet sich die Lebenswelt durch eine gewisse Unverfügbarkeit aus. Es ist nicht das Dasein selbst, das sich völlig beliebigen Gegenständen zuwenden kann oder auch nicht – Welt ist das, was begegnet und nach Auseinandersetzung verlangt. Dies geschieht, indem Dinge ›widerfahren‹ und sich aus der alltäglichen Vertrautheit als etwas Neues abheben. Gegenstände in der Welt, die (noch) nicht Teil des alltäglichen Lebensvollzugs sind, sind entweder gar nicht in diesen integrierbar, d. h. sie sind so fremd, dass sie überhaupt nicht erst ins Bewusstsein dringen, sie kommen folglich in der Lebenswelt nicht vor. Daneben gibt es Gegenstände und Vorkommnisse, die sich aufdrängen, weil sie den alltäglichen gleichmäßigen Lauf der Dinge stören und das Dasein zur Auseinandersetzung zwingen. Heidegger beschreibt die Seinsweise dieser Unwägbarkeiten als »Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit«. 11 Wichtig ist festzuhalten, dass diese Auffassung beinhaltet, dass zu allererst eine vertraute Umwelt gegeben ist. Dasein ist immer schon in einer Lebenswelt aufgehoben, in der es sich zurechtfindet und positionieren kann. Diesen Modus der Welt nennt Heidegger »das Alltägliche« bzw. »die Vertrautheit« 12, welche erst die Grundlage dafür bilde, dass »im Zunächst des weltlichen Da so etwas 11

Heidegger: Sein und Zeit, S. 74. Siehe auch Pocai, Romano: Die Weltlichkeit der Welt, in: Thomas Rentsch (Hg.), Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 56 ff. 12 Vgl. Heidegger, Martin: Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Freiburger Vorlesung 1923), Frankfurt a. M. 1988, §§ 18, 24.

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vorkommen könne wie ›Fremdes‹«, das sich dadurch auszeichne, dass es ›im Weg steht‹, ›peinlich‹, ›störend‹, ›umständlich‹ oder hinderlich sei. Als solches habe es »in seinem Da-charakter eine betonte Aufdringlichkeit, ein gesteigertes ›Da‹« 13. Innerhalb dieser sich stetig ändernden Lebenswelt sind Begegnung und Widerfahrnis möglich. Das hereinbrechende Fremde wird im besorgenden Umgang angeeignet und integriert und ist in der Konsequenz nicht mehr fremd. Es wird Teil des vertrauten Alltäglichen, vor dessen Hintergrund wiederum Neues widerfahren kann. Es ist offensichtlich, dass die Konfrontation des Daseins mit dem innerweltlich Begegnenden einen stark affektiven Charakter hat. Das Hereinbrechen von etwas Neuem, das störend, hinderlich oder in anderer Weise auffällig ist, oder auch das Zutagetreten eines Defizits in gewohnten Vollzügen, ist notwendigerweise von Gefühlen begleitet. Dementsprechend ist auch die Sorgestruktur des Daseins stark durch Gefühle beeinflusst – der besorgende Umgang, d. i. die tätige Auseinandersetzung mit derlei Begegnungen, ist unbestreitbar affektiver Natur. Damit bildet die Lebenswelt, bestehend aus festgefügten und gleichzeitig dynamischen Bedeutsamkeiten und Verweisungen, den Boden für Neues, das nicht nur die zeitliche Organisation der Existenz ›aktualisiert‹, sondern auch die erlebte Räumlichkeit, den ›Lebensraum‹ mit dem Dasein im Zentrum immer neu ordnet. Geht man mit Heidegger davon aus, dass alle Bedeutsamkeiten und Verweisungen affektiv bestimmt sind, ergibt sich, dass die gesamte Lebenswelt immer schon affektiv gefärbt, d. i. gestimmt sein muss. Aus dem Geflecht der emotional behafteten Verweisungen mit ihrer gefühlsmäßig konstituierten Nähe bzw. Ferne ergibt sich eine ganzeitliche, umfassende Gestimmtheit des Raumes, die sich in der Heideggerschen Konzeption der Befindlichkeit ausdrückt. Die Vertrautheit mit der Lebenswelt rührt zu einem wesentlichen Teil aus der affektiven Bezogenheit des Daseins auf seine Welt, die immer einen stimmungsmäßigen Untergrund für Begegnungen mit ihren Gegenständen bildet. In Sein und Zeit bekommt das vertraute gewohnheitsmäßige Umgehen 13

Heidegger: Ontologie, S. 100.

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Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit

mit der Welt im Begriff der Verfallenheit eine klar negative Konnotation. Doch wird hier der räumliche Charakter deutlich, denn das Verfallen impliziert immer eine Bewegung hin zu den verfügbaren Dingen in der Welt, hin zum Vertrauten, zur Öffentlichkeit, zum Man. Das Verfallen ist als Sein-bei-innerweltlich-Seiendem immer auf die Gegenstände in der Welt bezogen und konstituiert die Lebenswelt als dynamisches Bezugsganzes. Dabei ist die Räumlichkeit des Verfallens grundlegend verschieden von der räumlichen Struktur, die der Grundbefindlichkeit der Angst eigen ist, wie ich im Folgenden darlegen werde. 2.1

Die Dynamik existenzialer Räumlichkeit: Angst, Furcht und Sorge

Im 6. Kapitel von Sein und Zeit beschreibt Heidegger die Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins und gleichzeitig als radikale Form des Sichbefindens in der Welt (§ 40). Anders als im von der Angst abkünftigen Modus der Furcht, der noch zur Sprache kommen wird, hat die Angst keinen konkreten Gegenstand; sie ist nicht Angst ›vor‹, sondern Angst ›um‹ (nämlich das Dasein um sein je eigenes Sein) und als solche erschließt sie Welt auf Bedrohliches hin. Vor diesem Hintergrund wird die Sorge als das Dasein auszeichnende Seinsweise beschrieben (§ 41). 14 Maßgeblich hierfür ist die dem Dasein eigentümliche Sorgestruktur. Heidegger bezeichnet die Sorge als »ursprüngliche Strukturganzheit«, die »existenzial apriorisch ›vor‹ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ›Verhaltung‹ und ›Lage‹ des Daseins« liege. 15 Die Sorge ist also ganz grundlegend »das Wesen des In-der-Welt-seins« 16, insofern als sie den theoretischen und prak14

Heidegger: Sein und Zeit, S. 184 ff.; vgl. Merker: Die Sorge als Sein des Daseins (§§ 39–44), in: Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 117– 132, 121. 15 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 193. 16 Rentsch, Thomas: ›Sein und Zeit‹. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 51–80, 57.

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tischen Bezug des Daseins zur Welt und zu sich selbst bezeichnet. Sie strukturiert nicht nur das In-der-Welt-Sein in seiner Ganzheit, sondern auch jede praktische Verhaltung, die jeweils Ausdruck der Sorge des Daseins um sein Sein ist. Die Sorge liegt also den vertrauten, routinierten Bezügen und dem Verfallen an innerweltlich Begegnendes ebenso zugrunde wie dem eigentlichen Selbstentwurf. Die Angst nun, welche »geeignet ist, die Grundstruktur des Daseins als In-der-Welt-Sein und Sorge mit den Möglichkeiten der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zu erschließen« 17, durchbricht die ›falschen‹ Besorgungen, diejenigen, die von der Eigentlichkeit wegführen und das Dasein bei den Dingen in der Welt verweilen lassen. »Die Angst«, so Heidegger in Sein und Zeit, »holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ›Welt‹ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-Sein. Das Inder-Welt-Sein kommt in den Modus des Un-Zuhause.« 18 Somit erschließt die Grundbefindlichkeit eine ganz eigene Räumlichkeit, nämlich den Raum des Un-zuhause, welcher eben durch eine Mannigfaltigkeit von zahllosen Möglichkeiten, d. i. die Welt selbst, definiert ist. In dieser Vielheit von Möglichkeiten versinkt das Zuhandene; das Dasein ist letztlich auf sich selbst zurückgeworfen (weil es nicht mehr zwischen den zahllosen Möglichkeiten zu entscheiden vermag) und die Möglichkeit, sich »verfallend aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Angelegtheit zu verstehen, ist ihm genommen« 19. Die Angst verschließt also gerade die Optionen und die Anhaltspunkte an der Welt; sie zwingt das Dasein vor sich selbst und seine Endlichkeit. Die Räumlichkeit der Angst ist durch unheilvolle Indifferenz charakterisiert: »Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit lässt nicht nur faktisch unentschieden, welches innerweltliche Seiende droht, sondern besagt, dass überhaupt das innerweltliche Seiende nicht ›relevant‹ ist. Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhan17

Vgl. Merker, Barbara: Die Sorge als Sein des Daseins (§§ 39–44), in: Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 117–132, 121. 18 Heidegger: Sein und Zeit, S. 189. 19 Ebd. S. 187.

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den und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet. Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.« 20

Vor diesem Hintergrund ist das Dasein also isoliert und auf sich selbst angewiesen. Die Furcht ist ein von der Angst abkünftiger Modus des Daseins. Sie ist in ihrer phänomenalen Qualität wie auch in ihrer spezifischen Räumlichkeit deutlich von der Angst unterschieden. In der Furcht ›sucht‹ sich das geängstigte Dasein Bedrohliches, und dieses durch die Furcht erschlossene Bedrohliche ermöglicht dem Dasein das Sich-Richten auf die Gegenstände, welches eine gewisse Orientierung und eine Ablenkung vom eigenen Sein bietet. Während die Angst also die Möglichkeiten des Entwurfs verschließt, gibt die Furcht Anhaltspunkte, wovor das Dasein sich fürchten ›kann‹. Hier bleibt festzuhalten, dass Heidegger den gelungenen Weg hin zur eigentlichen Seinsweise darin sieht, dass das Dasein diese Angst aushält und sich seiner Endlichkeit stellt. Das Umkippen der Angst in Furcht bedeutet für ihn eine missgeleitete Angst, ein Verfehlen der Eigentlichkeit. Aus der Furcht ergibt sich eine Fluchtbewegung: die Flucht vor der Bedrohung und vor dem Un-Zuhause ist gleichzeitig eine Hinwendung zu Menschen und Gegenständen in der Welt, ein Festhalten an vertrauten Strukturen, an zwischenmenschlichen Bezügen, die Orientierung geben können, und letztlich verhält das Dasein sich wieder nicht im Sinne eines freien, aktiven Entwurfs zu sich selbst und zur eigenen Endlichkeit, sondern verfällt an die Welt, an das bereits Verfügbare. In diesem Zusammenhang werden die verschiedenen Modi der menschlichen Verhaltungen plausibel, die allesamt in der Sorge gründen: Heidegger nennt Wünschen und Wollen, Hang und Drang als Weisen des affektiven Sich-Beziehens auf die Welt. 21 Das Phänomen der Sorge ist also in sich struktural gegliedert. Als 20 21

Ebd. S. 186. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 193 f.

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Strukturganzheit liegt sie immer schon jedem Verhalten zugrunde (siehe oben), im Verfallen konkretisiert sie sich und äußert sich als Hang zu etwas, als Wunsch nach etwas – als ein zielstrebiges Bezogensein auf innerweltliche Gegenstände. Diese Manifestationen haben m. E. einen raum-zeitlichen Charakter, der sich auch in der Heideggerschen Diktion niederschlägt: Er redet vom »Schon-sein bei …«, vom »Sich-vorweg-im-schon-sein-bei …«, vom »Ausseinauf …« und »zum Hin-zu«, worin sich jeweils eine Bewegung auf etwas hin ausdrückt. 22 Im Hinblick auf die Räumlichkeit lässt sich feststellen, dass der existenziale Raum, wie er in Sein und Zeit vorgestellt wird, ein vielschichtiges Phänomen mit komplexer eigener Struktur ist, welche sich aus der schon genannten eigentümlichen Struktur der Sorge ergibt. In der Angst wird er gleichsam ›endlos‹, unüberschaubar in der Zahllosigkeit der Möglichkeiten. Gleichzeitig zieht er sich um das Dasein zusammen, der Handlungsspielraum schrumpft dergestalt, dass im Zerreißen aller Verweisungen jedes Handeln zunächst unmöglich erscheint. Rings um das Dasein ›gähnt‹ der Abgrund des Un-Zuhause. Im Verfallen dann schälen sich wieder Anhaltspunkte heraus und die Welt ordnet sich neu. Der Raum des Un-zuhause, das Unheimliche, das die Befindlichkeit der Angst erschließt und in dem das Dasein isoliert ist und keinen Anhalt an der Welt findet, wird überlagert und durchdrungen von dem Gefüge aus Wünschen und Möglichkeiten, welche sich aus den Manifestationen der Sorge im Alltäglichen und Öffentlichen ergeben. D. h. der existenziale Raum, den das Dasein durch seinen aktiven Selbstentwurf zu gestalten gezwungen ist, wird strukturiert durch sich immer wieder verschiebende Wünsche, Begehrlichkeiten und veränderliche Bezugnahmen auf innerweltlich Begegnendes. Es ergibt sich ein dynamischer, teils hypothetischer Raum, konstituiert durch Wünsche, Pläne, das Verweilen im Möglichen, Befürchteten, Erhofften, und dadurch erwachsen neue Begehrlichkeiten, Befürchtungen und Optionen. Dabei ist der ›Abgrund‹, die existenzielle Bedrohung des Daseins durch das Nichts, immer latent vorhanden. Mit dieser Bedrohung 22

Vgl. ebd.

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im Hintergrund hält sich das Dasein bei den Besorgungen in der Welt auf, bis dann und wann die Angst erneut aufsteigt und das Dasein zu überfallen droht. Mit den Phänomenen Angst und Furcht liegen demnach keine Gegensätze vor, kein EntwederOder, sondern vielmehr ein Kontinuum, ein Changieren dieser beiden Stimmungen, wobei die reine eigentliche Angst, in der wirklich alle Verweisungen wegbrechen und das Dasein ganz ausschließlich vor sich selbst gebracht wird, einen Extremfall darstellt, der nur sehr selten eintritt. Die Angst ist meistenteils verdeckt durch die von ihr abkünftige Furcht als fortwährende Flucht des Daseins vor sich selbst und der Welt in ihrer unüberschaubaren Ganzheit. 23 3.

Der Einbruch des Neuen: Erschütterungen der Lebenswelt

Die Dynamik der Lebenswelt und des entsprechenden Raumes ergibt sich also aus kleineren und größeren Brüchen der Routine in Form von Einbrüchen des Neuen, Plötzlichen. Dies kann in Form von Kleinigkeiten geschehen, wenn im Bereich des Bekannten, Verfügbaren etwas Unerwartetes passiert: Ein Gebrauchsgegenstand funktioniert nicht wie geplant, eine Verabredung zerschlägt sich, Pläne müssen geändert werden … – all das sind bereits Unwägbarkeiten, die das Bedeutungsgefüge verschieben, jedoch führen diese Verschiebungen nur zur Hinwendung zu anderen verfügbaren Möglichkeiten. In den meisten Fällen ist das Dasein befangen in seiner Lebenswelt und bewegt sich lediglich im Bereich des Zuhandenen. Wie dargelegt wurde, ist die Lebenswelt bestimmt durch Vertrautheit, Duchschnittlichkeit und unauffällige Lebensvollzüge, die durch ihre vertraute Gewöhnlichkeit selten thematisch werden. Thematisch wird das, was das Dasein angeht, was von einer besonderen Bedeutsamkeit ist, dadurch, dass es hinderlich, störend, auffällig oder – im Gegenteil – in besonderer Weise dienlich, hilfreich oder erfreulich, in jedem 23

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 190.

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Fall unerwartet und überraschend ist. Heidegger spricht hier, wie später Hermann Schmitz, von einem Betroffensein des Daseins. Der Mensch wird angegangen von dem, was ihm begegnet; hat es in irgendeiner Weise Relevanz für ihn (wie etwa der Hammer für den Handwerker), sperrt es sich aber dem automatischen selbstverständlichen Umgang (z. B. durch Defizienz oder Fehlen), betrifft es das Dasein. 24 Dem innerweltlichen Begegnen, sofern es bedeutsam ist, haftet immer das Moment des Unverfügbaren an. An der Undienlichkeit (Aufdringlichkeit, Aufsässsigkeit oder Auffälligkeit) des Zuhandenen meldet sich die Welt als etwas, das niemals ganz und gar erschlossen ist. Immer gibt es einen Bereich, der sich dem Zugriff des Daseins entzieht. Als radikal Unverfügbares nennt Heidegger die Natur, die – zwar großteilig erschlossen, z. B. als Fischgründe, Steinbruch oder Baumschonung 25 – in ihrer Urwüchsigkeit oder etwa als Naturgewalt ganz und gar unverfügbar ist und als stete latente Bedrohung das Dasein umgibt. Es ist dieses Moment der Unverfügbarkeit, das Widerfahrnis auszeichnet und das das Dasein aufmerken lässt in der Begegnung mit den Gegenständen der Welt. Es ist fast eine triviale Feststellung, aber ohne eine prinzipielle Unverfügbarkeit der Natur und auch des Zuhandenen gäbe es keine Überraschungen, nichts würde den Menschen affektiv betreffen, ihn irgendetwas angehen, und würde in der Konsequenz bedeutsam für seine Lebenswelt. Zwar ist die Lebenswelt auch als vertrauter Untergrund immer schon bedeutsam (s. o.) und kommt dabei weitgehend ohne Überraschungen aus. Jedoch bedarf jede Restrukturierung, jede Verschiebung des Gefüges einer Konfrontation mit etwas Unvorhergesehenem. Im Spätwerk Martin Heideggers kommt im Zusammenhang mit der Technikkritik dem Begriff der Unverfügbarkeit eine zentrale Rolle zu; im Umkreis dieser Untersuchung spielt diese Seins24

Relevanz ist immer zu denken in Hinblick auf die spezifische Sorgestruktur des Daseins, das jeder Handlung innewohnende Um-zu, das letztlich in seiner Radikalität auf die eigene Endlichkeit, den unausweichlichen Tod des Daseins, hinausläuft. 25 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 70.

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weise des Begegnenden eine untergeordnete Rolle, weswegen ich auch nur am Rande davon Notiz nehme. Im Verlauf der Betrachtung wurde gezeigt, dass es fast ausschließlich Verschiebungen der Lebenswelt und ihres Raumes gibt, da sich das Dasein zumeist bei Vertrautem aufhält. Auch die Angst veranlasst das Dasein nicht zu einer vollständigen Neubesinnung und zum Entwurf auf das gänzlich Unbekannte (wie immer das zu denken wäre), sondern führt immer nur zur erneuten Hinwendung zum bereits Erschlossenen. Die Erfahrung des radikal Unverfügbaren (etwa in Form von Naturkatastrophen, Krieg oder eines Atomunfalls), das mit allen Routinen und Erwartungen bricht und eine Neuordnung der Lebenswelt erzwingen würde, kommt im Rahmen der Weltanalyse kaum vor; erst wenn die Eigendynamik der durch den Menschen geschaffenen Techniken thematisiert wird, wendet sich Heidegger der potentiellen Bedrohung und der resultierenden Neuordnung menschlicher Existenz zu. 26 Damit würde sich selbstverständlich das gesamte raum-zeitliche Gefüge verschieben. 4.

Fazit/Kritik

In der Analyse von Heideggers Konzeptionen der Lebenswelt und der existenzialen Räumlichkeit ist deutlich geworden, wie ein vertrautes Netz aus Verweisungen und Bedeutsamkeiten den Weltbezug des Menschen konstituiert, jedes Erleben fundiert und sich in dynamischer Weise immer neu aktualisiert, abhängig vom pragmatischen Zugriff des Menschen auf innerweltlich begegnende Gegenstände und Sachverhalte. Auch wurde plausibel, wie Gefühle vor diesem Hintergrund beschreibbar sind, nämlich als Störungen der Verweisung und Verschiebungen der Bedeutsamkeiten innerhalb der Lebenswelt. Insofern ist Heideggers Entwurf existenzialer Räumlichkeit geeignet, die Auffassung von Räumlichkeit 26

Vgl. Angehrn, Emil: Kritik der Metaphysik und Technik. Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 268– 279.

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sowie den fundierenden Charakter der Stimmungen im lebensweltlichen Gefüge zu begründen. Denn nur vor diesem Hintergrund einer selbst gestalteten affektiv gefärbten Lebenswelt, in deren Zentrum das Dasein steht, ist es vorstellbar, dass die Stimmung aus diesem In-der-Welt-Sein aufsteigt und dem Dasein gleichsam widerfährt, wie Heidegger selbst es in Sein und Zeit formuliert. Leider lässt die Einengung der Thematik auf starke negative Affekte (Angst, Furcht, später dann Langeweile 27) große Teile des emotionalen Spektrums außen vor, mit denen Heidegger aber durchaus arbeitet. Sein ganzes Konzept der Lebenswelt und des existenzialen Raumes, der sich durch vertraute Bezüge und das Sein-bei innerweltlich Seiendem definiert, fußt auf ›unauffälligen Stimmungen‹, Vertrauen, Zufriedenheit, Geborgenheit, etc. Diese Gefühle und Stimmungen werden vorausgesetzt und allenfalls am Rande erwähnt, thematisch werden sie jedoch kaum. Auch Phänomene wie Vorfreude, Heiterkeit, Vergnügen an einer Unternehmung und dergleichen könnten mit Heideggers Konzeption der Befindlichkeit, wie sie im Frühwerk vorliegt, durchaus eingefangen werden, jedoch werden derlei starke positive Affekte nicht thematisch. Dies mag Heideggers Anspruch geschuldet sein, zum einen den ganz grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Stimmungen und Emotionen aufzudecken, zum Anderen das Sein des Daseins als Sorge zu erhellen – zwei ganz fundamentale Fragen, für deren Beantwortung die Befindlichkeit eine rein methodische Rolle spielt. In diesem Kontext kommt Heidegger mit der Betrachtung nur einzelner exemplarischer Stimmungen (Angst, Langeweile) und Emotionen (Furcht) aus. 28 Dieses Versäumnis wird später von Otto Friedrich Bollnow aufgegriffen, der in seiner Kritik an Heidegger auf »die existenzielle Bedeutung auch der positiven Stimmungen« hinweist. 29 Diese 27

Vgl. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1983. 28 Vgl. Merker, Barbara: Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Berlin/New York 2008, S. 635–659, 637. 29 Vgl. Merker: Heidegger und Bollnow, in: Landweer/Renz (Hg.), Klassische

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Kritik könnte Gegenstand weiterer Forschung im Hinblick auf eine differenziertere phänomenologische Theorie der Emotionen sein. Was außerdem im Dunkeln bleibt, ist die Voraussetzung dafür, dass das Dasein von den überfallenden Stimmungen auch angegangen wird: die spezifische Beschaffenheit des Daseins selbst. Das Dasein hat eine eigene Räumlichkeit, die sich aus seiner untrennbaren Verflochtenheit mit der Welt ergibt, und sein Angegangenwerden durch Stimmungen, sein pragmatischer Umgang mit der Welt ist nur zu denken, wenn man von einer dynamischen Rezeptivität im Dasein selbst ausgeht. Immer mitgedacht ist hier die Leiblichkeit des menschlichen Subjekts, die bei Heidegger zwingend implizit ist und aus seinen Überlegungen zur Räumlichkeit und zum Umgang des Daseins mit innerweltlich Begegnendem hervorgeht. Jedoch wird die Leiblichkeit im Zusammenhang mit der Analyse der Welt, der Befindlichkeit und des Raumes nie explizit zum Gegenstand seiner Überlegungen. Es bedarf der Berücksichtigung eines Großteils der Gesamtausgabe Heideggers, um sein Konzept des Leibes daraus abzuleiten, aber er wird kaum jemals explizit. Das Fehlen eines Leibbegriffs, der seine Analyse der Lebenswelt, der Sorge und des Daseins tragen könnte, lässt seine Analyse bei aller Komplexität arg schematisch und idealisierend bleiben. Heideggers Dasein entwirft sich selbst auf seine Möglichkeiten, es gestaltet seine Lebenswelt selbst, und diese Gestaltung realisiert sich im pragmatischen Umgang mit der Welt, begründet im Konnex von Befindlichkeit, Verstehen und Rede. D. h. dieses Fundament ist nicht nur historisch gewachsen (Befindlichkeit resultiert immer aus dem Gewesenen), sondern es setzt streng genommen auch Sprachfähigkeit voraus. Im Zentrum steht dementsprechend der gesunde, erwachsene, sprechende Mensch in raum-zeitlicher Verfasstheit. Die ›Ränder‹ menschlicher Existenz (Kleinstkinder, Demenzkranke, Menschen mit bestimmten Behinderungen, um nur ein paar Beispiele zu nennen) vermag er mit dieser Analyse kaum einzuholen. Emotionstheorien. S. 635–359. Siehe auch Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt a. M. 1941.

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Hier schließt Hermann Schmitz mit einer sehr ausdifferenzierten Analyse nicht nur der Räumlichkeit an, sondern auch mit einem hochkomplexen Leibbegriff, der diese Lücke zu füllen vermag. Hermann Schmitz nimmt Heideggers Theorie auf, modifiziert sie an einigen Stellen und unterfüttert an anderen und entwickelt sie weiter. Auch bei Hermann Schmitz sind Gefühle (die er als Atmosphären begreift) Phänomene mit einer spezifischen raum-zeitlichen Präsenz und strukturieren selbst wiederum die Räumlichkeit und die zeitliche Organisation der Person. Aber anders als bei Heidegger kommt bei Schmitz eine umfassende Analyse der Leiblichkeit hinzu, die die Involviertheit und die Gestaltungsleistung der Person in den Blick nimmt. Im Anschluss an die hier umrissene Anaylse der existenzialen Räumlichkeit als Voraussetzung und Hintergrund für jedes gefühlsmäßige Erleben wäre es vielsprechend, die Veränderungen der Räumlichkeit im technischen Zeitalter zu untersuchen, wie Heidegger es im Spätwerk beschreibt. Hier ist nicht mehr das Dasein im Zentrum, das sich bei Verfügbarem aufhält und verstehend und redend seine Welt ordnet, hier hat die vom Menschen geschaffene Technik eine Eigendynamik entwickelt, die wiederum eine eigene Räumlichkeit beansprucht. Das Dasein tritt zurück, hat immer weniger Verfügungsgewalt über seine Lebenswelt, und hier sind die großen Brüche und Störungen der Verweisungsganzheit denkbar. Diese Veränderung des Raumes, der Lebenswelt und möglicherweise der damit einhergehenden Gefühlskultur – Heidegger selbst erklärt die Gelassenheit als folgerichtige Ausrichtung auf die technisierte Welt – könnten Inhalt nachfolgender Forschung sein. Literatur Angehrn, Emil: Kritik der Metaphysik und Technik. Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hg.), HeideggerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 268–279. Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941.

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Zur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit

Demmerling, Christoph: Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein (§§ 25–38), in: Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 89–117. Grondin, Jean: Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 47–51. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1957. Ders.: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1983. Ders.: Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Freiburger Vorlesung 1923), Frankfurt a. M. 1988. Jung, Matthias: Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919– 1923. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 13–22. Merker, Barbara: Die Sorge als Sein des Daseins (§§ 39–44), in: Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 117–132. Dies.: Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik, in: Hilge Landweer/ Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Berlin/New York 2008, S. 635–659. Pocai, Romano: Die Weltlichkeit der Welt, in: Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2007, S. 51–69. Rentsch, Thomas: ›Sein und Zeit‹. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 51–80. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 2007.

Internetquellen http://www.neuronation.de/ http://www.raetsel-contest.de/

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Der Erscheinungsraum der Person. Eine Annäherung mit Hannah Arendt

Einleitung Wer jemand ist, zeigt sich bei Hannah Arendt darin, wie jemand etwas im öffentlichen Raum tut. Dieses ›Etwas-Tun‹ muss Arendt zufolge dabei noch eine bestimmte Qualität aufweisen: Nicht alle Tätigkeiten lassen das ›Wer‹ in Erscheinung treten, sondern nur in dem, was Arendt als Handeln in einem spezifisch politischen Sinne konzipiert, konstituiert sich die Person. Eine Person zu sein ist in diesem Verständnis der Vollzug personaler Akte – also solcher Handlungen, in denen das ›Wer‹ mit aufscheint, – in einem Raum, den Arendt als »Erscheinungsraum« bezeichnet. 1 Dieser öffentliche Raum muss, um als Erscheinungsraum der Person fungieren zu können, mindestens drei Bedingungen erfüllen: Erstens muss dieser Raum ein gemeinsamer sein, damit ein Miteinander-Handeln in der gemeinsamen Welt überhaupt möglich wird. Zweitens ist der Erscheinungsraum darauf angewiesen, dass in ihm die einzigartige Person sichtbar oder erfahrbar wird. Drittens muss er insofern der Pluralität menschlicher Existenz gerecht werden, als dass er alle, die diesen Raum in ihrem gemeinsamen Tun eröffnen, 2 als Gleiche aufnimmt. Gleich meint hier bei Arendt, dass jede_r gleichermaßen diesen Raum eröffnen 1 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Auflage München 2003 (im Folgenden VA), S. 62 ff. 2 Der Erscheinungsraum ist nach Arendt nicht grundsätzlich da, wenn Menschen zusammen kommen, sondern er entsteht erst mit dem gemeinsamen Handeln und Sprechen. Enden Handeln und Sprechen, so verschwindet auch der Erscheinungsraum. Vgl. ebd. S. 251.

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Der Erscheinungsraum der Person

kann, gleichermaßen sichtbar werden kann und gleichermaßen die gemeinsame Welt thematisieren kann. Um als Person handelnd in Erscheinung treten zu können, müssen die Subjekte ihr jeweils eigenes Handlungspotential in diesem Erscheinungsraum erkennen können. Meine These, der ich in diesem Beitrag nachgehen möchte, ist, dass der Erscheinungsraum nach Arendt einerseits ein Raum praktischen Wissens und andererseits ein subjektiver Möglichkeitsraum ist. Das praktische Wissen, was man wie in einer bestimmten sozialen Konstellation tut, kreuzt sich hier mit dem ›persönlichen‹ Möglichkeitsraum, der vor allem als affektives Sich-Befinden zu verstehen ist. Die je konkrete Handlung wird dadurch geformt und ermöglicht, dass wir je eigene Handlungsmöglichkeiten in diesem Erscheinungsraum erkennen, ergreifen und vollziehen können. Arendts Verständnis von Handeln, wie sie es in Vita activa entfaltet, ist ein politisches. Es besteht darin, dass Menschen im öffentlichen Raum den Mut aufbringen, sich als Jemand oder als ›Held_in‹ einer Tat zu zeigen. 3 Handeln ist für sie die genuin menschliche Tätigkeit, deren Grundbedingung in der Pluralität menschlicher Existenz gründet. Darunter versteht sie sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit, dass Menschen sich sprechend und handelnd auf die gemeinsame Welt – das, was zwischen den Menschen liegt 4 – beziehen können und müssen. Han3

Die Rede von einer ›Held_in‹, die eine Handlung vollzieht, geht bei Arendt darauf zurück, dass jede ›echte‹ Handlung als Geschichte überlebt. Die jeweils handelnde Person ist in diesem Sinne als Held_in ihrer Handlungsgeschichte zu verstehen. Für Arendt ist hier relevant, dass wir Held_in und Autor_in der Geschichte unterscheiden, da jeder Mensch lediglich Held_in, aber niemals Autor_in der eigenen Lebensgeschichte ist. Dies begründet sich in der Beschaffenheit von Handlungen: Jede Handlung unterliegt der Interpretation derer, denen sie erscheint, und sie geht damit über bloße Absichten und Folgen hinaus. Die vollzogene Handlung unterliegt nicht der Kontrolle der handelnden Person, da sie im öffentlichen Raum unabsehbare Konsequenzen nach sich zieht. Siehe dazu auch: Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2006, S. 184 ff. 4 Arendt vergleicht die Welt in ihren Bezügen mit einem Tisch, der die Menschen zugleich trennt und verbindet. Das, was zwischen den Menschen liegt, ist

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deln ist damit zugleich die Tätigkeit, durch die Menschen untereinander und mit dieser geteilten Welt aus Bezügen in Verbindung stehen. Die teilweise elitären Schilderungen dessen, was für Hannah Arendt eine Handlung im Vollsinne ist, sind sicher kritisierbar und in ihrer strikten Unterscheidung zu den beiden anderen Tätigkeitsformen Arbeiten und Herstellen nicht haltbar. Dennoch lässt sich mit Arendt ein Aspekt personaler Identität in den Blick nehmen, der mit anderen Ansätzen nur schwer zu fassen ist: Person-Sein ist mit Arendt nur als tätiger Weltbezug zu verstehen, der davon abhängt, ob Menschen in einem intakten Erscheinungsraum agieren können. Arendt selbst leistet in Vita activa keine ontologische Bestimmung von Raum und Räumlichkeit. Sie schildert vielmehr, inwiefern sich im (politischen) Handeln einerseits ein Erscheinungsraum bildet, der nicht unabhängig von handelnden Menschen besteht, und andererseits das Handeln selbst wiederum davon abhängt, dass das Erscheinen möglich ist. Im intakten Erscheinungsraum 5 erfahren sich die handelnden Subjekte als freie Akteure und sie werden von den anderen als einzigartige Person erfahren. Der Erscheinungsraum Arendts ist also in erster Linie ein Raum, in dem es möglich ist, eigene Handlungsmöglichkeiten und verwirklichte Handlungen einzigartiger Personen zu erfahren.

damit ein Gewebe aus weltlichen Gegenständen und ungreifbaren Bezügen. Vgl. VA, S. 66. 5 Die Rede von einem Erscheinungsraum geht bei Arendt über eine bloß metaphorische Verwendung des Begriffs ›Raum‹ hinaus. Sie ist vielmehr konstitutiv für Arendts Begriff des Politischen, wie Mustafa Dikeç in seinem Vergleich der jeweiligen Funktion der Raumbegriffe in den politischen Theorien von Arendt, Mouffe und Laclau zeigt. Dikeç, Mustafa: Space as a mode of political thinking, in: Geoforum 43 (2012), S. 669–676.

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Der Erscheinungsraum der Person

1.

Tätig im Raum erscheinen

Wenn Person-Sein im Anschluss an Arendt als ein in besonderer Weise Tätigsein im öffentlichen Raum verstanden wird, muss hier zunächst noch einiges über diese besondere Weise des Tätigseins gesagt werden. Folgt man Arendt, so wird jeder Mensch bereits in ein »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten« 6 hinein geboren, das bestimmte Weisen des Handelns und des Sprechens – oder anders gesagt des praktischen Weltbezugs – nahe legt. Dieses Gewebe besteht aus Geschichten vergangener Handlungen und kann damit als ein Sediment aus Praktiken, auf die sich eine Gemeinschaft immer wieder bezieht, verstanden werden. 7 Arendts Beispiele sind meist Heldentaten, die etwas Neues in diese gemeinsame Welt gebracht haben, das dann einen neuen Bezugspunkt und eine neue Möglichkeit, in der Welt zu agieren, bildet. Die Held_innen dieser einzigartigen Taten zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einer Situation in einzigartiger Weise gehandelt haben und dass ihr Tun von den anderen als einzigartig beurteilt wurde. Mit einer solchen Handlung hebt sich Jemand erfahrbar aus dem Raum bestehender und bereits verwirklichter Handlungen als Person ab – die Handlung ist in diesem Sinne personalisierend. Sie lässt einen Menschen als einzigartig – als Jemand – im öffentlichen Raum erscheinen. Arendt selbst betrachtet diesen öffentlichen Raum vor allem in seinen politischen Dimensionen. Wenn sie die Beschaffenheit des Erscheinungsraumes beschreibt, so schildert sie eigentlich einen Ort – den Marktplatz der antiken Polis, auf dem die politischen Akte statthaben und von allen gesehen und gehört werden können. 8 Dieser Raum muss es den Akteur_innen ermöglichen, 6

VA, S. 222. Vgl. dazu Jaeggi, Rahel: Artikel Welt/Weltentfremdung, in: Wolfgang Heuer/ Bernd Heiter/Stefanie Rosenmüller (Hg.), Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 333 f. Außerdem zur Beschaffenheit sozialer Praktiken und deren Verfestigung oder Sedimentation: Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Frankfurt a. M. 2014, S. 94–123. 8 Benhabib unterscheidet hier zwischen »öffentlichem Raum« als agonaler Sphä7

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sich frei handelnd und sprechend auf die gemeinsame Welt zu beziehen. In diesem Raum wird die gemeinsame Welt insofern transparent, als dass alle ihre Bezüge thematisiert und eben auch handelnd erneuert werden können. Die Möglichkeiten, die diese gemeinsame Welt bietet, werden hier Wirklichkeit, indem sie handelnd vor aller Augen vollzogen werden. 9 Zugleich bringt jede Handlung etwas Neues in dieses Bezugssystem und verändert dieses. Mit jedem Tun eröffnen sich neue Möglichkeiten und es werden andere Möglichkeiten ›verdeckt‹. Dies wird in Arendts Metapher vom Gewebe deutlich: Arendt beschreibt jede neue Handlung als das Aufnehmen eines Fadens aus dem Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten, mit dem das bereits vorre und dem Erscheinungsraum, der im Gegensatz zu ersterem nicht die politische Bühne sein muss, die allen zugänglich ist. Diese Unterscheidung der Erscheinungsräume spiegelt sich bei Benhabib in der Unterscheidung zwischen agonalem und narrativem Handlungstyp: Mit ersterem sind die ›großen‹, politischen Handlungen auf der öffentlichen Bühne gemeint, während narrative Handlungen auch im kleineren Rahmen erscheinen können, ohne nicht mehr als Handlung zu gelten. Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, S. 202 ff. 9 Die erscheinende, wirkliche Welt ist bei Arendt immer schon abhängig von den Wesen, denen sie aus einer bestimmten Perspektive erscheint. In Arendts Verständnis der Wirklichkeit haben wir es also mit der wirklichen Welt zu tun, wie sie sich für die Menschen zeigt. ›Für die Menschen‹ heißt dann auch zugleich, dass wir es mit pluralen Perspektiven auf diese gemeinsame Welt zu tun haben und dass diese Pluralität zur Wirklichkeit der Menschen dazu gehört. »Nichts könnte erscheinen, das Wort ›Erscheinung‹ wäre sinnlos, wenn es keine Wesen gäbe, denen etwas erscheint – lebendige Wesen, die anerkennen, erkennen und reagieren können – mit Flucht oder Begehren, Zustimmung oder Ablehnung, Tadel oder Lob – auf das, was nicht nur da ist, sondern ihnen erscheint und von ihnen wahrgenommen werden soll. In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wir wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe. Die tote Materie, sei sie natürlich oder künstlich, veränderlich oder unveränderlich, ist zu ihrem Sein, also ihrer Erscheinungshaftigkeit, auf die Existenz lebender Wesen angewiesen. […] [A]llen mit Sinnen begabten Geschöpfen ist die Erscheinung als solche gemeinsam: erstens eine erscheinende Welt, und zweitens die – womöglich noch wichtigere – Tatsache, daß sie selbst erscheinende und verschwindende Wesen sind, so daß es vor ihrer Ankunft schon immer eine Welt gegeben hat und nach ihrem Abtreten immer eine geben wird.« (Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, 4. Auflage München 2008, S. 29 ff.).

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Der Erscheinungsraum der Person

handene Muster weitergeführt, überdeckt oder erneuert wird. Jede Kette von Handlungen ist als eigenes Muster verfolgbar – dieses Muster bildet die Lebensgeschichte der jeweiligen Person. In dieser Schilderung sind es vor allem Sichtbarkeit und Hörbarkeit, die gegeben sein müssen, damit jemand handelnd und sprechend erscheinen kann. Der Erscheinungsraum muss also offen sein für diejenigen, die sich zeigen, und für diejenigen, die Zeugen des Tuns sind. In »finsteren Zeiten« 10 sind dieses Erscheinen-Können und die Möglichkeiten, öffentlich in der gemeinsamen Welt handeln zu können, nicht gegeben. Politische Verhältnisse, die den öffentlichen Erscheinungsraum beschneiden, verhindern es, dass Menschen der Tätigkeit, in der sie als Jemand erscheinen können, nachgehen können. Dies bedeutet für die einzelnen Menschen, dass sie durch ein Fehlen des intakten öffentlichen Raumes der Möglichkeit beraubt sind, sich als einzigartige Personen handelnd zu verwirklichen. Folgt man Arendt hier, so heißt dies, dass es politische Konstellationen gibt, in denen menschliches Leben nur defizitär geführt werden kann. Wenn die genuin menschliche Tätigkeit des Handelns und Sprechens nicht möglich ist, ist die menschliche Existenz in Arendts Worten »ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben.« 11 Sich als einzigartige Person zu verwirklichen meint hier natürlich nicht, dass es ein authentisches Selbst gäbe, das es nur zu zeigen gilt. Vielmehr geht es darum, dass man in einem intakten Erscheinungsraum erkennen und verstehen kann, welche Handlungsmöglichkeiten in Situationen bestehen und geboten sind und dass man diese Möglichkeiten dann in je einzigartiger Weise auch ergreifen kann. Es ist das Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten, das im intakten Erscheinungsraum durchsichtig wird. 10

In ihrer Portrait-Sammlung Menschen in finsteren Zeiten beschreibt Arendt, wie einzelne Personen durch ihr Handeln und Sprechen auch in solchen Zeiten, in denen der öffentliche Raum überwiegend zerstört ist, als »Jemand« in Erscheinung getreten sind – allerdings nicht mehr für alle sichtbar, sondern als »flackernde[s] und oft schwache[s] Licht.« (Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten, München 2012, S. 7 ff.). 11 VA, S. 215.

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Dieses Bezugssystem aus möglichen Handlungen und Sichtweisen muss zugleich stabil genug sein, um den einzelnen Menschen Orientierung in ihrem Handeln zu geben, und dynamisch genug, um ihnen die Gestaltung der gemeinsamen Welt zu ermöglichen. 2.

Was wirklich ist – der Erscheinungsraum

Handlungen, die öffentlich erscheinen und damit die Person auch für andere greifbar machen, werden sowohl von den Akteur_innen als auch von den Zeug _innen als verwirklichte Möglichkeiten erfahren. Es sind Weisen, in denen man praktisch Bezug auf eine in bestimmter Weise ausgelegte, gemeinsame Welt nimmt. Wenn ich als Zeugin daran teilhabe, wie jemand beispielsweise in einer politischen Auseinandersetzung argumentiert und welche Handlungsschritte sie vorschlägt oder initiiert, erfahre ich etwas darüber, wie diese Person die aktuelle politische Situation auffasst und welche Möglichkeiten zum Umgang mit dieser Situation ihr vorschweben. In ihrer Argumentation verwirklicht sie für mich als Zeugin eine bestimmte, mögliche Perspektive auf die Situation, die ich allein eventuell nicht hätte einnehmen können. In dem, wie jemand etwas tut oder auf etwas Bezug nimmt, scheint mit auf, wie die Person die jeweilige Situation erfasst und beurteilt. Öffentliches Handeln und Sprechen zeigt, welche Möglichkeiten die Person für sich als die richtigen erschlossen hat und welche Perspektive auf die gemeinsame Welt sie eingenommen hat. Die Möglichkeit, selbst unterschiedliche Perspektiven auf einen Aspekt der gemeinsamen Situation einnehmen zu können, wird dadurch erfahrbar, dass unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen öffentlich erscheinen, indem sie geäußert und diskutiert werden. Das, was Arendt als Pluralität bezeichnet, ist als eine Vielfalt an möglichen Perspektiven zu verstehen, die dadurch zustande kommen, dass Menschen gleichzeitig einzigartig sind – im Sinne von verschieden – und gleichartig, das heißt hier, dass sie grundsätzlich in der Lage sind sich zu verständigen. 12 12

Ebd. S. 213 ff.

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Der Erscheinungsraum der Person

Wenn der Erscheinungsraum hier als ein Raum, in dem verschiedenste Perspektiven zur Geltung kommen, rekonstruiert wurde, so heißt dies fur die Einzelne, dass sie im intakten Erscheinungsraum die Konfrontation dieser Perspektiven und die daraus resultierende Wirklichkeit erfahren kann. Der Erscheinungsraum ist in diesem Sinne als Erfahrungsraum verstehbar. Im Erscheinungsraum geht es um die Erfahrbarkeit von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und – und das ist hier besonders relevant – von sozialen Wirklichkeiten. Diese bilden das Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten, das die Menschen miteinander verbindet, ihr Handeln strukturiert, Bedeutungen bereit stellt und die Geschichten der Menschen speichert. Auf der Seite der handelnden Subjekte ist der Erscheinungsraum also vor allem ein Raum voller Möglichkeiten des Handelns, des Verstehens und des Sich-Auskennens, die mehr oder weniger naheliegend oder ganz verschlossen sind. Dadurch, dass mögliche Handlungsweisen öffentlich erscheinen, eröffnen sich für die Zeug _innen immer weitere Handlungsspielräume. Hier verstehe ich Arendt auch so, dass sich im Laufe eines Lebens immer mehr Beispiele ansammeln, die man irgendwann als verwirklichte Handlungen anderer erfahren hat. Das Handeln im öffentlichen Raum hat also auch einen exemplarischen Charakter, der die Möglichkeitsräume aller erweitert, indem ihnen neue Handlungs-, Auslegungs- und Urteilsmöglichkeiten greifbar werden. 13 Handlungen sind jeweils eingebettet in eine Situation, 14 die in bestimmter Weise erschlossen ist. Das heißt, dass die Handelnden 13

Siehe dazu auch Mensch, James: Public Space, in: Continental Philosophy Review 40 (2007), S. 31–47. 14 Auf den Situationsbegriff kann ich in diesem Rahmen leider nicht weiter eingehen, hierzu sind Hermann Schmitz’ Analysen in Situationen und Konstellation m. E. sehr erhellend. Vgl. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005. Schmitz zeigt dort, inwiefern Situationen als abgeschlossene, mannigfaltige Ganzheiten zu verstehen sind, die sich erfahrbar abheben und die bestimmte Handlungsweisen – in Form von »Sachverhalten, Programmen und Problemen« – nahe legen. Siehe dazu außerdem: Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als

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eine Situation nach ihren Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten auslegen. Sie greifen dabei auf das zurück, was ihnen vertraut ist – ihr praktisches Wissen leitet sie sowohl bei der Einschätzung einer Situation als auch beim Ergreifen bestimmter Handlungsmöglichkeiten und in der Art, wie sie die Handlung vollziehen. Im öffentlichen Raum entsteht so ein praktisches Wissen, das wiederum eigene neue Handlungen leitet und formiert. 3.

Wissen, was man kann – die Lebenswelt

Um die Wirkungen und die Prozesse der Aneignung praktischen Wissens in den Blick nehmen zu können, bieten sich die Analysen der Lebenswelt, wie sie von Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann durchgeführt wurden, an. Die Autoren zeigen jeweils, inwiefern Menschen in lebensweltliches Wissen verstrickt sind, wie sie es erlernen und wie dadurch ihre Perspektiven auf und ihre Handlungsmöglichkeiten in der Welt strukturiert werden. Versteht man Arendts Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten als ein Wissen über soziale Wirklichkeiten, das Teil des lebensweltlichen Wissens ist, lässt sich meines Erachtens die Struktur, die den persönlichen Möglichkeitsraum in jeder aktuellen Handlung durchkreuzt und (mit-)formiert, am deutlichsten in den Blick bekommen. Berger und Luckmann untersuchen in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 15 wie unser Alltagswissen entsteht, wie es unser Handeln leitet und wie es für uns zu unserer Wirklichkeit wird. Sie zeigen dabei, dass unser alltägliches Wissen aus habitualisiertem, typisiertem und institutionalisiertem Verhalten besteht. Eine Handlung also, die uns einmal bei der Lösung eines bestimmten Problems geholfen hat, wird zunächst zu meiner geAtmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 66 ff. 15 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 24. Auflage Frankfurt a. M. 2012.

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Der Erscheinungsraum der Person

wohnheitsmäßigen Lösung dieses Problems und im Laufe der Zeit auch von meinen Mitmenschen als für mich typisch verstanden. Bewährt sich dieses Tun, so wird es übernommen und wird für uns alle zu der spezifischen Verhaltensweise, die in der je spezifischen Problemsituation zum Tragen kommt. Wenn diese Konstellation aus Problemsituation und Lösungsverhalten auch an folgende Generationen, die an der ursprünglichen Einführung dieses Handelns nicht beteiligt waren, weitergegeben wird, sprechen Berger und Luckmann von einer Institutionalisierung des entsprechenden Verhaltens. In der Weitergabe dieses handlungsrelevanten Wissens muss allerdings für diejenigen, die mit der Gründung der institutionalisierten Handlung keine Erfahrung verbinden, der Sinn dieser Handlungsweise erläutert werden. 16 Als institutionalisierte Handlungsweise geht sie wiederum in mein eigenes Verhalten und mein Situationsverständnis ein, sie »wird im Lauf der Sozialisation als objektive Wahrheit gelernt und damit als subjektive Wirklichkeit internalisiert. Umgekehrt hat diese Wirklichkeit die Kraft, das Individuum zu prägen. Sie schafft einen besonderen Typus: [beispielsweise] den Jäger, dessen Leben und Identität als Jäger nur in einer Sinnwelt Sinn haben, die sich auf das einschlägige Wissensgebiet gründet […].« 17

Die Institutionalisierung solchen handlungsrelevanten Wissens verstehen Berger und Luckmann im Anschluss an Arnold Gehlen als eine Entlastung im alltäglichen Tun. Die institutionalisierte Wirklichkeit entbindet uns von immer neuen Problemlösungen, indem sie den Raum möglicher Lösungswege einschränkt. Eine Gemeinschaft, die mit gemeinsamen Problemen konfrontiert ist und institutionalisierte Lösungen für diese Probleme zur Hand hat, teilt nun dieses Wissen und ist dadurch von immer wieder neuen Aushandlungsprozessen entlastet. Ihr gemeinschaftliches Tun kann dann auch einfach wortlos ineinandergreifen, nichts muss erklärt werden, da die gemeinsame Handlung sozusagen in einem eingeübten Normalmodus stattfindet. 18 16 17 18

Vgl. ebd. S. 60–63, 66. Ebd. S. 71. [Hervorh. i. Orig.]. Vgl. ebd. S. 56 ff.

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Unser lebensweltliches Wissen ist ein Wissen darüber, welche Handlungsmöglichkeiten wir in einer bestimmten Situation haben, welchen Sinn dieses Handeln hat und wie genau wir die jeweilige Handlung vollziehen können. Mit diesem Wissen geht ein Wissen über soziale Rollen einher, die zu einer bestehenden Institution gehören und bestimmte Verhaltensweisen fordern. Je nach Rolle kann sich das entsprechende Wissen unterscheiden – hierzu zählt zum Beispiel auch das Spezialist_innenwissen in einer differenzierten Gesellschaft. Manchen Rollen ist ein bestimmter Ausschnitt des Wissens, das andere Rolleninhaber_innen haben, nicht zugänglich, da es für sie keine Relevanz hat oder ihre gesellschaftliche Rolle es ihnen nicht erlaubt, die jeweilige Tätigkeit zu vollziehen. 19 Während wir in unseren Rollen handeln, sind wir dabei Berger und Luckmann zufolge voll und ganz mit der aktuellen Tätigkeit identifiziert – wir sind dann genau das, was wir tun. 20 Eine Distanzierung, die uns über unsere einzelnen Rollen hinaus hebt, findet Berger und Luckmann zufolge immer erst im Nachhinein, wenn wir unser Tun reflektieren, statt. Dies ermöglicht dann auch, dass wir einerseits mehrere Rollen in unterschiedlichen Ausschnitten der institutionalisierten Welt inne haben können, und andererseits, dass wir diesen unterschiedlichen Rollen unterschiedliche Relevanz für unser Selbstsein einräumen können. 21 Hier kommen meines Erachtens zwei Momente in den Blick, die für die Existenz als Person auf Subjektseite konstitutiv sind, die hier aber leider nur angedeutet werden können: Engagement in und Aneignung von Handlungen in einer Rolle. In der Art und Weise, wie wir eine Rolle übernehmen, kann diese tätige Übernahme unterschiedlich stark angeeignet werden und wir können unterschiedlich engagiert in der jeweiligen Rolle agieren. Während die Aneignung einen reflektierenden Prozess beschreibt, ist das Engagement ein leiblich-affektives Moment. Mit Maurice Merleau-Ponty verstehe ich Engagement dann als ein leibliches, 19 20 21

Vgl. ebd. S. 58, 81. Vgl. ebd. S. 77 f. Vgl. ebd. S. 81 ff., 153.

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die Existenz graduell unterschiedlich durchwirkendes Involviertsein in die Welt. 22 Aneignungsprozesse verstehe ich dagegen als narrative Formen des Selbstbezugs, die allerdings ebenfalls auf eine leiblich fundierte Resonanz stoßen müssen, um eine Identifikation mit dem jeweiligen Rollenhandeln zu ermöglichen. 23 Die Internalisierung des lebensweltlichen Wissens und damit einhergehend unsere Fähigkeit, unterschiedliche Rollen zu übernehmen, findet Berger und Luckmann zufolge in zweistufig gedachten Sozialisierungsprozessen statt. Während die Verteilung von Spezialwissen und damit einhergehend das rollenspezifische Wissen als sekundäre Sozialisation beschrieben wird, 24 konzipieren Berger und Luckmann die primäre Sozialisation im Anschluss an Mead als diejenige, die durch »signifikante Andere« vermittelt wird. 25 Bei Berger und Luckmann sowie bereits bei Mead wird diese als eine Erfahrung des Kleinkindes verstanden, die in der gemeinsamen Interaktion mit der Familie oder anderen frühkind22

Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S. 432 f. 23 Vgl. dazu Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996 und Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a. M./New York 2005. 24 Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 148– 151. 25 Hier sehe ich einen deutlichen Unterschied zu Arendt, der allerdings möglicherweise nur darin begründet ist, dass Arendts Perspektive auf das Erscheinen des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten eine andere ist: Bei Arendt ist relevant, dass möglichst viele Perspektiven auf die lebensweltlichen Sinnzusammenhänge zur Erscheinung kommen und damit erfahrbar werden – ob dies durch irgendwelche anderen Personen oder durch »signifikante Andere« geschieht, ist in ihrem Zugriff nicht differenziert. Für Arendt ist sogar ganz im Gegensatz zu einer wirklichkeitsverbürgenden Rolle der signifikanten Anderen, die für sie dem Bereich des Privaten angehören und damit außerhalb des öffentlichen Erscheinungsraumes angesiedelt sind, gerade die Gleichheit der pluralen Perspektiven der Garant für unser Wirklichkeitsempfinden. Wenn man allerdings über die unterschiedliche Stabilität und Hartnäckigkeit einzelner Bereiche des gesellschaftlich geteilten Wissens nachdenken will, so liegt m. E. ein möglicherweise stabilisierender Faktor in der Weise der Internalisierung dieses Wissens. Vgl. dazu Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 161 und Arendt: VA, S. 72 f., S. 250 sowie Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 59.

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lichen Bezugspersonen erlangt wird und zu einer Identifikation mit diesen signifikanten Anderen führt. Dabei »umfaßt die primäre Sozialisation weit mehr als bloßes kognitives Lernen. Sie findet unter Bedingungen statt, die mit Gefühl beladen sind, und es gibt sogar triftige Gründe dafür anzunehmen, daß ohne solche Gefühlsbindungen an die signifikanten Anderen ein Lernprozeß schwierig, wenn nicht unmöglich wäre. Das Kind identifiziert sich mit seinen signifikanten Anderen emotional in mancherlei Weise. Wie auch immer es sich identifiziert, zur Internalisierung kommt es nur, wo Identifizierung vorhanden ist. […] Durch seine Identifikation mit signifikanten Anderen wird es fähig, sich als sich selbst und mit sich selbst zu identifizieren, seine eigene subjektiv kohärente und plausible Identität zu gewinnen. Mit anderen Worten ist das Selbst ein reflektiert-reflektierendes Gebilde, das die Einstellungen, die andere ihm gegenüber haben und gehabt haben, spiegelt. […] Die subjektive Aneignung der eigenen Identität und die subjektive Aneignung der sozialen Welt sind nur verschiedene Aspekte ein und desselben Internalisierungsprozesses, der durch dieselben signifikanten Anderen vermittelt wird.« 26

Der hier geschilderte Internalisierungs- und Identifikationsprozess wird bei Mead anhand des Spiels verdeutlicht und ist als ein Mimesisgeschehen zu verstehen. 27 Die Internalisierung der Haltungen anderer und im Falle des Wettspiels zugleich der Spielregeln ist ein körperliches Geschehen. Auch wenn Meads sozialbehavioristischer Ansatz diese Internalisierung von Haltungen auf ein Reiz-Reaktions-Schema reduziert und sein Verständnis des Körperbewusstseins von mir nicht geteilt wird, können seine Untersuchungen zur Ausbildung von Selbst und Identität hier weiterführen. Durch die Vorstellung, dass soziale Praktiken und gesellschaftliches Wissen in Form von Haltungen anderer erlernt werden, kommt bereits ein Aspekt der Internalisierung hinzu, der, zusammen mit der oben zitierten Gefühlsbindung, auf eine leibliche Dimension der primären Sozialisation hinweist. 26

Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 141– 143. [Hervorh. i. Orig.]. 27 Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 193–206 und 415 f.

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Für mich ist in diesem Zusammenhang vor allen Dingen interessant, dass Berger und Luckmann im Anschluss an Mead – und auch Schütz/Luckmann in Strukturen der Lebenswelt 28 – das lebensweltliche Wissen in seinen leiblichen Dimensionen verstehen und die Strukturierung und Schichtung dieses Wissens vom leiblichen In-der-Welt-Sein her denken. Zentrum der alltäglichen Lebenswelt ist bei Schütz/Luckmann der wache, leibliche Mensch, der die Lebenswelt vor allem nach Reichweiten untergliedert erfährt. Reichweite kann dabei einerseits so verstanden werden, dass ich die Lebenswelt nach meinen Möglichkeiten der Einwirkung erfahre, es kann aber auch bedeuten, dass ich die Schichtung der Lebenswelt daraufhin wahrnehme, inwiefern ich von bestimmten Gegebenheiten betroffen bin oder sein könnte. Relevant ist aber in beiden Fällen, dass die alltägliche Lebenswelt hier als ein Handlungs- und Verhaltenszusammenhang verstanden wird. Das Sein in der Lebenswelt ist vor allem praktisch. Ein wichtiger Unterschied dieses praxeologischen Ansatzes zu anderen Verständnissen von geteiltem Wissen liegt darin, dass der praktische Weltbezug Vorrang hat und dass dieses Weltverhältnis als ein leibliches gedacht werden muss. 29 Die Rolle der Leiblichkeit und die praktische Relevanz des Wissens stehen auch bereits im Zentrum der Untersuchungen von Schütz und Luckmann zu den Strukturen der Lebenswelt. Lebensweltliches Wissen wird dort als ein aus Erfahrungen sedimentierter Wissensvorrat verstanden, der »in vielfacher Weise auf die Situation des erfahrenden Subjekts bezogen [ist]. Er baut sich auf aus Sedimentierungen ehemals aktueller, situationsgebundener Erfahrungen. Umgekehrt fügt sich jede aktuelle Erfahrung je nach ihrer im Wissensvorrat angelegten Typik und Relevanz in den Erlebnisablauf und in die Biografie ein. Und schließlich wird jede Situation mit Hilfe des Wissensvorrats definiert und 28 Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003. 29 Eine m. E. hervorragende Übersicht über praxistheoretische Ansätze der Sozialtheorie findet sich in Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift fur Soziologie, Jg. 32, 4 (2003), S. 282–301.

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bewältigt. Der Wissensvorrat ist also sowohl genetisch als auch strukturell als auch funktional auf die Situation bzw. die situationsgebundene Erfahrung bezogen.« 30

Die Strukturen des lebensweltlichen Wissensvorrats werden hier auf die Situiertheit der Subjekte zurückgeführt, die wiederum verschiedene Grundelemente aufweist. Hier ist für die vorliegende Untersuchung vor allem relevant, dass die Begrenztheit einer jeden Erfahrungssituation zu den Grundelementen des Wissens gehört und dass diese wiederum, neben der zeitlichen Begrenzung, durch die leibliche Existenz bedingt ist. Die Leiblichkeit gehört damit zu den zentralen Elementen der Strukturierung des Wissens. Der Leib ist Ausgangspunkt jeder Erfahrung, ist immer mitgegeben, ohne selbst im Fokus der Erfahrung zu stehen, und ist damit »die Bedingung für alle meine Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt.« 31 Die Grundelemente des Wissensvorrats sind bei Schütz/Luckmann als universell und unveränderlich zu verstehen, wobei sich graduelle, kontextabhängige Unterschiede in der jeweiligen Thematisierung dieser Grundelemente in einer Gesellschaft feststellen lassen, die wiederum Auswirkungen auf die Inhalte des ›körperlichen‹ Wissens und der ›körperlichen‹ Fertigkeiten 32 haben können. Am Beispiel des Gehstils in verschiedenen Gesellschaften und innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wird deutlich, inwiefern bereits solch basale körperliche Fertigkeiten sozial differenziert sind. 33 Zunächst muss nun aber festgehalten werden, was das Verständnis des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten vor dem Hintergrund einer Analyse der Strukturen lebensweltlichen Wissens für das Erscheinen sozialer Wirklichkeiten bedeutet. 30

Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 149. Ebd. S. 152. 32 Schütz/Luckmann sprechen hier jeweils von Körper und Inkorporation. M. E. muss hier allerdings von leiblichen Vermögen gesprochen werden, da es sich nicht lediglich um Vermögen des vergegenständlichten Körpers handelt, sondern um eine Form des Könnens oder des ›Ich-kann‹, das leiblich zu verstehen ist. 33 Vgl. ebd. S. 160 ff. 31

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Die sozialen Wirklichkeiten sind als ein Wissen zu verstehen, in das wir hinein geboren werden und das uns im Laufe der Sozialisation zu eigen wird. Dieses Wissen leitet unser Handeln und es dient der Identifikation über die Einübung und Übernahme bestimmter institutionalisierter Rollen, die wir alltäglich verkörpern. Auf der Basis dieses Wissens bilden sich in der Gesellschaft »Sinnwelten« 34 aus, die wiederum für die hierarchischen Relevanzstrukturen und die Verteilung des Wissens innerhalb der Gesellschaft verantwortlich sind. Teilt man diese Analysen Schütz’, Bergers und Luckmanns, so erhält man für das Verständnis des Erscheinens des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten, das als eine solche Sinnwelt verstanden werden kann, zusätzliche Kriterien, mit denen wir die Strukturen des Bezugsgewebes hinsichtlich ihrer Erscheinensmöglichkeiten und -weisen in den Blick nehmen können. Dabei lässt sich einerseits die Stabilität bestimmter Handlungsund Deutungsmuster und damit einhergehend auch die Möglichkeit der Überschreitung dieser gegebenen Strukturen im Sinne sozialer Wandlungsprozesse besser verstehen, andererseits können wir die Individuierungsprozesse der einzelnen Personen, die sich aus dem, was ›man tut‹, abheben, analysieren. Auf der Seite des Individuums erfolgt die Individuierung in Form von einem bestimmten, identifizierbaren Set an Praktiken, das sich in einer besonderen, personalen Weise zu den in einer Gesellschaft üblichen Handlungsweisen verhält. Dafür muss die Person ihre je eigenen Handlungsmöglichkeiten in einer gegebenen Situation erkennen können und daraus ihr Handeln entwerfen. Das lebensweltliche Wissen gibt ihr dazu an die Hand, was man in dieser Situation gewöhnlich zu tun hat. Diese institutio34

Unter »Sinnwelten« verstehen Berger/Luckmann die gesellschaftliche Integration verschiedener Institutionen. Das heißt, auch solche institutionalisierten Bereiche, die eigentlich nicht miteinander verbunden sind und nur Teile der Gesellschaft betreffen, werden in ein gesamtgesellschaftlich sinnvolles Gefüge gefasst. Der Sinn einzelner Institutionen ergibt sich dabei aus deren jeweiliger Geschichte. Die »sinnhafte Verbundenheit verschiedener Institutionen« stellt dann die Sinnwelt dar und hat ebenfalls eine Entstehungsgeschichte. (Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 87).

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nalisierten Orientierungen hatte ich oben bereits als eine Beschränkung der Möglichkeiten geschildert. Zu diesem Wissen, das uns befähigt, öffentlich in einer bestimmten Rolle zu erscheinen, gehört gerade auch das gebotene Auftreten und Sich-Bewegen im Raum. Mit Bourdieu lässt sich dieses Wissen als ›praktischer Sinn‹ fassen, der sich wiederum in eine funktionale und eine politische Dimension (analytisch) differenzieren lässt. Im Handeln sind beide Dimensionen untrennbar verschränkt und bedingen sich oft gegenseitig. Nimmt man als Beispiel für das Ineinandergreifen solcher Wissensstrukturen eine Chirurgin, so werden die unterschiedlichen, mit der Rolle und den funktionalen Fähigkeiten verbunden Spiel-Räume deutlich: Neben den chirurgischen Fertigkeiten, auf engstem Raum Schnitte und Nähte anfertigen zu können, gebietet die jeweilige Position der Chirurgin – als Oberärztin oder Assistentin – zugleich einen bestimmten Ort im räumlichen Setting des Operationssaales. Dieses Setting, das durch Machtpositionen bestimmt ist, wirkt sich während der Operation zugleich auf die chirurgischen Möglichkeiten der Ärztin aus: Wenn sie auf Grund ihrer Assistentinnenrolle an einem bestimmten Ort des Tisches stehen muss, ist sie von bestimmten Möglichkeiten im Operationsfeld zu agieren abgeschnitten. Dies wiederum schneidet sie auch von der Möglichkeit ab, bestimmte Fertigkeiten, die sie als Oberärztin (an eben jenem Platz im OP) benötigt, zu erlernen. Die Machtposition verfestigt sich, da die notwendigen Kompetenzen zum Aufstieg in der Hierarchie gar nicht erst erreicht – und das ist tatsächlich räumlich zu verstehen – werden können. 35 35

Vgl. hierzu auch die Studie Praktiken sozialer Abstimmung von Alkmeyer/ Brümmer/Pille: Alkmeyer, Thomas/Brümmer, Kristina/Pille, Thomas: Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen, Bielefeld 2010, S. 229–256. Die Autoren zeigen hier am Beispiel einer Laborwerkstatt, wie sich der »praktische Sinn« im Anschluss an Bourdieu sowohl in seiner funktionalen (im Beispiel der Chirurgin: ihrer Fertigkeit) als auch in seiner politischen Dimension (im Beispiel die Position als Oberärztin oder Assistentin) auswirkt. Eine Weiterführung dessen, was hier als »praktischer Sinn« verstanden wird, unternimmt Hilge Landweer mit dem »Sinn für Angemessenheit«. Landweer fasst

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Überträgt man das Beispiel auf Handlungen im arendtschen Sinne, so heißt dies, dass durch die soziale Rolle, in die wir geboren werden, bestimmte Rollensettings bestimmte Erscheinungsmöglichkeiten nahelegen, ermöglichen oder verhindern können. Je nach der Position im öffentlichen Raum kostet es mehr oder weniger Mut, Kraft und Anstrengung, um als Jemand mit einer ›großen‹ Handlung 36 erscheinen und wahrgenommen werden zu können. Die personalisierende Handlung – die Heldentaten ebenso wie die Akte, die nicht auf der politischen Bühne statthaben – muss sich abheben und ist daher immer mit einer Überschreitung dessen, was wir als unser Können gewohnt sind, verbunden. 37 4.

Spüren, was ich kann – der persönliche Möglichkeitsraum

Während wir durch das praktische Wissen der Lebenswelt, das in seiner leiblichen Dimension bereits spürbar die Grenzen unserer Möglichkeiten bestimmt, wissen, was wir können, ist es unsere affektiv-leibliche Situiertheit in der Welt, die es, so meine These, ermöglicht oder verhindert, dass wir das Gewohnte überschreiten den Sinn für Angemessenheit als eine gefühlsbasierte, auf eine gesamte Situation bezogene und normative Anforderungen erfassende Kompetenz, die durch leibliche Interaktion erworben wird. Insbesondere in Selbstbezug und Selbstentwurf, die m. E. konstitutiv für die Ausbildung personaler Identität sind, spielt diese Dimension praktischen Wissens eine herausragende Rolle. Vgl. Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit, S. 57–76. 36 Unter ›großer‹ Handlung verstehe ich hier das, was Benhabib als agonalen Handlungstyp fasst, der die öffentliche Bühne braucht. Dieser Handlungstyp ist graduell unterschieden vom narrativen Handlungstyp, der zwar ebenfalls einen gemeinsamen Erscheinungsraum braucht, aber eben nicht die ›große‹ Bühne. Vgl. dazu FN 8 dieses Beitrags und Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, S. 202 ff. 37 In meiner Lesart der ›Heldentaten‹ gehe ich davon aus, dass jede Handlung als Situationsänderung zu verstehen ist. Ob eine Tat als Heldentat in die Geschichte eingeht, da andere sie weiter erzählen, hängt meines Erachtens vor allem von der Ereignishaftigkeit der Situationsänderung ab. Hier lässt sich eine eingehendere Untersuchung der Narrativität des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten anschließen, die ich in diesem Beitrag leider nicht leisten kann.

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können. Durch unsere Gestimmtheit erschließen sich Handlungsmöglichkeiten und die konkrete Handlung wird durch unsere Gefühle in ihrer bestimmten Weise formiert. Jan Slaby analysiert in seinem Artikel Affektive Intentionalität – Hintergrundgefühle, Möglichkeitsräume, Handlungsorientierung 38 genau diesen Aspekt menschlicher Existenz in einer Welt aus praktischen Zusammenhängen. Er versteht Gefühle – und hier vor allem Hintergrundgefühle – als Situierungen im Möglichkeitsraum. 39 Dabei geht er davon aus, dass die Welt nicht neutral erfahren wird, sondern immer schon bedeutsam ist: »Die handlungsrelevante, Möglichkeiten bietende, Probleme aufwerfende und Anforderungen stellende Welt ist in einem fundamentalen Sinne nicht neutral. Unser Situiertsein in ihr ist dementsprechend meist kein neutrales Auffassen des Gegebenen, sondern ein »Bewegtwerden«, ein Betroffensein von den sich stets als irgendwie bedeutsam erweisenden Begebenheiten der Umgebung.« 40

Was uns hier betrifft, sind jene Anforderungen, die wir aufgrund unseres praktischen Wissens als solche erkennen können. Sie sind, wie oben gezeigt, durch Reichweite und damit dadurch, wie sehr wir von ihnen betroffen sind, gegliedert. Neben der nicht neutralen Anforderung, die die Welt an mich stellt, trifft diese Anforderung aber eben auch nicht auf einen neutralen Grund: Sie trifft jeweils auf ein »Hintergrundgefühl«, 41 eine Stimmung oder die jeweilige Befindlichkeit der Person. Slabys Ansatz orientiert sich hier an Martin Heidegger und 38

Slaby, Jan: Affektive Intentionalität – Hintergrundgefühle, Möglichkeitsräume, Handlungsorientierung, in: Jan Slaby u. a. (Hg.), Affektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle, Paderborn 2011, S. 23–46. 39 Vgl. ebd. S. 27, 34 f. 40 Ebd. S. 26. [Hervorh. i. Orig.]. 41 Slaby unterscheidet hier zwischen Hintergrundgefühlen, die eine »latent erschließende« Form des Weltbezugs sind, und episodischen Emotionen, die noch deutlicher als Verhaltungen erfahren werden. Der Handlungsbezug eines Wutausbruchs, den Slaby hier als Beispiel anführt, ist sicher klarer erkennbar als die Wirkungen einer leichten Gereiztheit auf unser Verhalten. Vgl. ebd. S. 31 und S. 38 f.

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dessen Verständnis der Befindlichkeit in Sein und Zeit. 42 Die Befindlichkeit, die ich hier synonym mit Stimmung und Hintergrundgefühl verwenden werde, verortet uns in einem Bezugssystem aus möglichen Tätigkeiten und Widerfahrnissen. Diese Verortung geschieht über den erschließenden Charakter der Stimmungen: je nach dem, wie ich gestimmt bin, eröffnen oder verschließen sich Handlungsmöglichkeiten – und zwar auch solche, die mir durch mein lebensweltliches Wissen ›eigentlich‹ gegeben, gewohnt oder verstellt sind. In einer depressiven Verstimmung beispielsweise erfahren wir Handlungen als unmöglich, die sonst in unserer Reichweite liegen. Wir können sogar an anderen wahrnehmen, was zu tun ist, und wissen auch irgendwie, dass wir die Handlung eigentlich vollziehen könnten, und dennoch befindet sie sich in dieser Stimmung einfach nicht unter unseren Möglichkeiten. Gleichermaßen wirken auch positive Stimmungen auf unsere persönliche Handlungsfähigkeit. In besonders guter Stimmung erscheinen uns Dinge als schaffbar, die wir uns sonst niemals zutrauen würden. Im Beispiel unserer Chirurgin aus dem vorherigen Abschnitt könnte sich dies beispielsweise so auswirken, dass sie nach einer sehr gelungenen Operation, die ihre Stimmung zuversichtlich und stolz werden lässt 43, die Chefin einfach bittet, ob sie probeweise die Rollen tauschen können. Sie wechselt die Position und traut sich die neue räumliche Operationssituation zu, um ihre Fertigkeiten am Tisch zu erweitern und damit auch eine Bewegung in der Hierarchie zu vollziehen. Im Beispiel ist es eine Art ›Hochgefühl‹, das das Verhalten und die Stimmung der Chirurgin verändert oder bestimmt. Gewöhnlich nimmt sie die ihr zugewiesene Position ein und handelt so, wie sie üblicherweise am Tisch agiert. Da ihre Stimmung nun aber durch das Gefühl von Stolz geprägt ist, traut sie sich in dieser 42

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 18. Auflage Tübingen 2001. Ohne dies an dieser Stelle weiter ausführen zu können, gehe ich – auch mit Slaby – davon aus, dass Gefühle und Stimmungen einen dynamischen Verlauf aufweisen und zuweilen ineinander übergehen können. Vgl. dazu auch Slaby, Jan: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008, S. 166 ff.

43

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Situation etwas zu, was sie vorher noch nicht gemacht hat. Sie überschreitet ihr übliches Verhalten und auch ihr praktisches Wissen – das chirurgische Können, das sie sonst täglich anwendet. Das heißt, dass ihr Handeln nicht bloß durch ihre Stimmung begleitet ist, sondern es wird durch die Stimmung allererst in dieser spezifischen Weise möglich. Nun stellt man sich die Situation etwas anders vor und die Chirurgin hat einen ›schlechten Tag‹, sie schämt sich möglicherweise, da ihr vorher irgendein Fauxpas passiert ist. Wenn nun morgens ihre Oberärztin den Tausch der Position am Tisch anbieten würde, den sie selbst sich vielleicht schon lange wünscht und in Gedanken schon tausendmal vollzogen hat, wird sie sich diese für sie neue Handlung vermutlich nicht zutrauen und das Angebot ablehnen. Aber auch wenn sie den Tausch mitmacht und aus der ungewohnten Position heraus operiert, ist es nicht die gleiche Weise zu operieren wie in der Hochstimmung aus dem vorherigen Beispiel. Es wird sich anders anfühlen, die Bewegungen werden anders verlaufen und ihr Gefühl von Sicherheit im eigenen Können wird vermutlich nicht vorhanden sein. Insbesondere dann, wenn ihre ›schlechte‹ Stimmung auf Scham zurückzuführen ist, lässt sich der Unterschied in der räumlichen Dimension der gestimmten Handlung gut nachvollziehen: Während Stolz leiblich mit einer erhobenen Haltung und einem weitläufigen Einnehmen des Raumes einhergeht, 44 möchte man in der Scham buchstäblich im Boden versinken. 45 Hier sind durch das 44

Zum leiblichen Einnehmen und Ausschöpfen des Raumes siehe auch: Young, Iris Marion: Throwing Like a Girl: A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility and Spatiality, in: Human Studies Vol. 3, No. 2 April 1980, S. 137–156. Mit dem Einnehmen des Raumes ist hier vor allem gemeint, dass im Handeln die räumlichen Möglichkeiten im Sinne von Reichweiten, aber auch der metrische Raum je nach Gestimmtheit unterschiedlich ausgeschöpft wird. Am Beispiel des Werfens zeigt Young, wie bereits die früheste Sozialisation zu Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen im Raumerleben und entsprechend in der Bewegung im Raum führen. 45 Die Räumlichkeit der Gefühle selbst geht meines Erachtens auf die Räumlichkeit des Leibes zurück. In weiten Teilen schließe ich mich hier Hermann Schmitz’ Beschreibungen an, ohne die ontologische Annahme zu teilen, dass Gefühle überpersönliche Atmosphären sind. Zu Schmitz’ Verständnis leiblicher Räumlichkeit

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Der Erscheinungsraum der Person

jeweilige Gefühl sowohl das Auftreten und Erscheinen im Raum als auch diejenigen Fertigkeiten – im Beispiel das Operieren –, die eine räumliche Dimension aufweisen, durch das Gefühl betroffen. Die Hand einer stolzen Chirurgin bewegt sich anders als die einer Chirurgin, die in der Scham in sich zusammen sinkt. 46 Wenn wir das Beispiel nun noch einmal ein wenig abwandeln und annehmen, dass die Chirurgin sich noch wegen ihres Fauxpas’ schämt, als sie im Operationssaal ankommt, und ihre Oberärztin ihr dann den Rollentausch anbietet und sie sich nun so bestätigt fühlt, dass ihr Schamgefühl durch diese Anerkennung sofort dem Stolz weicht, ergibt sich wieder eine andere Stimmungslage. Es lässt sich annehmen, dass dieses Hochgefühl möglicherweise brüchiger ist als dasjenige, das sich durch die gelungene Operation im ersten Fall eingestellt hat. Die Operation wird vermutlich nicht mit ganz soviel Sicherheit durchgeführt, da es einerseits vielleicht noch Nachwirkungen des Schamgefühls gibt und andererseits die Anerkennung der Chefin bestätigt werden soll. Dadurch entsteht möglicherweise ein zusätzlicher Druck, der sich auf die Handlungen auswirkt. Die Operation ist also auch hier aufgrund der Gestimmtheit eine andere als in den beiden anderen Beispielen. Die Chirurgin hat jeweils Möglichkeiten ergriffen, die sich ihr angeboten haben, bzw. hat sie im zweiten Beispiel vielleicht die Möglichkeit des Rollentauschs abgelehnt, da sie für sich keine Möglichkeit sehen konnte, diese Operation durchzuführen. An den unterschiedlichen Beispielsituationen zeigt sich, dass die Stimmung der fiktiven Chirurgin beeinflusst, wie sie ihre je eigenen Möglichkeiten erfährt und wie sie in ihrem Tätigsein engagiert ist. Während sie im ersten Fall selbst die Initiative ergreift, um über sich hinaus zu gehen – und damit im arendtschen Sinne durch eine neue Handlung in Erscheinung tritt –, ist sie im zweiten Fall durch ihr Gefühl darin gehindert, die ihr gebotene Mögund zu Gefühlen als Atmosphären siehe u. v. a. Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, 3. Auflage Bonn 2007. 46 Eine m. E. sehr treffende Schilderung des Schamerlebens findet sich in Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, S. 220 ff.

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Anja Kathrin Hild

lichkeit zu ergreifen und sich als versierte Chirurgin zu zeigen. Im dritten Beispiel wiederum ergreift sie selbst nicht die Initiative, nimmt aber die Herausforderung an, die sie sich im ersten Moment nicht unbedingt zugetraut hätte. Die Person, die hier jeweils in Erscheinung tritt, wird jeweils von den anderen Teammitgliedern anders erfahren. Im Beispiel der Chirurgin ist der Erscheinungsraum sicher nicht der öffentliche Raum, in dem politisches Handeln im Sinne Arendts möglich ist. Ein OP-Team, das vielleicht aus fünf Personen besteht, ist noch keine Bühne. Dennoch zeigt sich vor allem im ersten Beispiel, dass die Chirurgin mit ihrer Initiative, der Chefin einen Rollentausch vorzuschlagen, sehr wohl eine als politisch zu verstehende Handlung vollzieht. Sie greift mit ihrem Vorschlag in eine etablierte Machtstruktur ein und tut dies auch vor den Augen derjenigen, die ebenfalls von dieser Struktur betroffen sind. Auch wenn es nur die kleine Öffentlichkeit eines OP-Teams ist, so hat hier doch Jemand aufgezeigt, dass die etablierten Strukturen verhandelbar sind. Die fiktive Chirurgin hat, indem gerade sie diese Verhandelbarkeit aufzeigt, gezeigt, wer sie ist. Hinter 47 der Funktion ›Chirurgin‹ ist für dieses Team eine Person erschienen, die eine Veränderungsmöglichkeit in der gemeinsamen Situation erfasst und ergriffen hat. Welches ›Gesamtbild‹ der Beispiel-Chirurgin als Person unter ihren Kolleg _innen vorherrscht, hängt natürlich damit zusammen, wie sie ›normalerweise‹ agiert. In jedem Moment, in dem sie Möglichkeiten ergreift und verwirklicht, die, wie gezeigt, sowohl von ihrer Position im Raum des praktischen Wissens als auch von ihrer jeweiligen Gestimmtheit abhängen, zeigt sie sich als Jemand. Das ›Wer‹ erscheint in jeder Handlung mit, ist aber natürlich nicht vollumfänglich in einer einzelnen Handlungssituation zu erfassen, sondern hat eine Geschichte – eine Geschichte aus vielen Handlungen, die im Erscheinungsraum vollzogen wurden. 47

Arendt vergleicht in Vita activa das Wer mit dem griechischen »daimon«, der auf der Schulter der handelnden Person sitzt, dieser nie erscheint, sich aber »für die Mitwelt […] unmißverständlich und eindeutig […] zeigt.« (VA, S. 219).

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Der Erscheinungsraum der Person

Literatur Alkmeyer, Thomas/Brümmer, Kristina/Pille, Thomas: Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen, Bielefeld 2010, S. 229–256. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Auflage München 2003. Dies.: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, 4. Auflage München 2008. Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München 2012. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, erweiterte Ausgabe Frankfurt a. M. 2006. Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 24. Auflage Frankfurt a. M. 2012. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. Dikeç, Mustafa: Space as a mode of political thinking, in: Geoforum 43 (2012), S. 669–676. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 18. Auflage Tübingen 2001. Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011. Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a. M./New York 2005. Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Frankfurt a. M. 2014. Jaeggi, Rahel: Artikel Welt/Weltentfremdung, in: Wolfgang Heuer/Bernd Heiter/ Stefanie Rosenmüller (Hg.), Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011. Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–76. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973. Mensch, James: Public Space, in: Continental Philosophy Review 40 (2007), S. 31– 47. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965. Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift fur Soziologie, Jg. 32, 4 (2003), S. 282– 301. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005. Ders.: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007. Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, 3. Auflage Bonn 2007. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003.

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Anja Kathrin Hild

Slaby, Jan: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008. Slaby, Jan: Affektive Intentionalität – Hintergrundgefühle, Möglichkeitsräume, Handlungsorientierung, in: Jan Slaby u. a. (Hg.), Affektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle, Paderborn 2011, S. 23–46. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996. Young, Iris Marion: Throwing Like a Girl: A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility and Spatiality, in: Human Studies Vol. 3, No. 2 April 1980, S. 137–156.

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Annika Schlitte

Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel 0.

Das Erhabene, Sulzers Seufzer und die Doppelbedeutung der Ästhetik

»Die Theorie der Sinnlichkeit ist ohne Zweifel der schwerste Theil der Philosophie.« 1 Mit diesem Seufzer leitet Sulzer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste eine Würdigung der noch jungen Disziplin der Ästhetik ein, von der er hofft, dass sie auch nach der Pionierleistung Baumgartens weiter Früchte trägt. Versteht man »Ästhetik« im weiten Sinne als umfassende Theorie der Sinnlichkeit, die es mit Phänomenen wie Anschauungen, Gefühlen und Empfindungen zu tun hat und nicht (nur) mit dem Schönen und der Kunst, dann kann man bei einem Blick auf die aktuellen Veröffentlichungen über die Philosophie der Gefühle versucht sein, sich Sulzers Seufzer anzuschließen, so komplex ist die derzeitige Diskussionslage. 2 Während in der analytischen Philosophie seit einiger Zeit ein neu erwachtes Interesse an Gefühlen und ihrem Verhältnis zur Kognition zu beobachten ist, findet in der phänomenologischen Tradition schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit Gefühlen statt, die mit Begriffen wie »Befindlichkeit« (Heidegger), »Stimmung« (Bollnow) und »Atmosphären« (Schmitz) versucht, die in der phi1

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2.1, Leipzig 1775, S. 73. 2 Vgl. z. B. Döring, Sabine A. (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009; Landweer, Hilge: Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007; Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011.

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Annika Schlitte

losophischen Tradition vorherrschende verkürzte Sicht der Sinnlichkeit aufzubrechen. Insbesondere Hermann Schmitz hat dabei eine komplexe Theorie der Gefühle als Atmosphären entwickelt, die reduktionistischen und psychologistischen Tendenzen entgegenwirken soll. Mit der Annahme von »überpersönlichen und praeobjektiven ganzheitlich-atmosphärischen Gefühle[n]« 3 wendet er sich gegen die Projektionstheorie, welche Gefühle ausschließlich im Inneren der Subjekte verortet, und betrachtet Gefühle im Gegensatz dazu explizit auch in ihrem Raumbezug. Ohne die Vor- und Nachteile von Schmitz’ Ansatz an dieser Stelle angemessen würdigen zu können, 4 soll im Folgenden der Impuls aufgenommen werden, nach dem Raumbezug eines bestimmten Gefühls zu fragen, das nicht nur für eine allgemeine Theorie der Gefühle interessant ist, sondern auch für den spezifischen Bereich »ästhetischer« Gefühle im engeren Sinne, nämlich das Gefühl des Erhabenen. Dieses Gefühl, dessen enge Verbindung zur Raumerfahrung sich schon im Wortsinn ankündigt, war nicht nur im Umkreis der Grundlegung der modernen Ästhetik zu Sulzers Zeiten omnipräsent, sondern spielte auch in jüngerer Zeit eine wichtige Rolle bei Ansätzen zu einer Neuorientierung der Ästhetik im Sinne einer umfassenden Wahrnehmungstheorie. 5 Als »klassische« Referenz in der Diskussion soll die Kritik der Urteilskraft hier als Ausgangspunkt dienen, um nach dem Raumbezug des Erhabenen zu fragen (1). Um eine Brücke zwischen der Ästhetik des 18. Jahrhunderts und neueren, auch phänomenologischen Ansätzen zu schlagen, wird anschließend die Thematisie3

Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 1969, S. 103. 4 Vgl. dazu z. B. Demmerling, Christoph: Gefühle, Sprache und Intersubjektivität. Überlegungen zum Atmosphärenbegriff der Neuen Phänomenologie, in: Andermann/Eberlein, Gefühle als Atmosphären, S. 43–55. 5 Vgl. Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik: Eine implizite Ästhetik des Erhabenen, in: Pries, Christine (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 185–213; Pries betrachtet ein nicht-metaphysisches, »kritisch«-Erhabenes als »Gefühl unserer Zeit«, vgl. Pries, Christine: Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene, S. 1–30; hier S. 24. Zur Aisthetik als allgemeiner Wahrnehmungslehre vgl. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

rung des Erhabenen bei Georg Simmel (2) betrachtet, der hier als ein wichtiger Übergang zu neueren, phänomenologisch orientierten Positionen (3) dienen kann. Vor der Untersuchung des Raumbezugs des Erhabenen ist allerdings zunächst zu klären, welcher Status dem Erhabenen bei den einzelnen Autoren jeweils zukommt – handelt es sich um ein Gefühl des Subjekts, eine Eigenschaft bestimmter Gegenstände, eine besondere Stimmung, eine Atmosphäre? Dieser Aufsatz wird sich also mit den folgenden Fragen befassen: 1. Ist das Erhabene ein Gefühl? 2. In welchem Verhältnis steht das Erhabene zum Raum?, und diese sowohl bei Kant als auch bei Simmel zu beantworten suchen. 1. 1.1

Das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft Ästhetik und Theorie der Sinnlichkeit in der Kritik der Urteilskraft

Als Theoretiker des Gefühls scheint Kant sich – trotz der Anerkennung der Sinnlichkeit als eines eigenen Erkenntnisstamms – auf den ersten Blick nicht unbedingt anzubieten, besitzt doch seine Vernunftkritik eher eine Tendenz zum Ausschluss sinnlicher Faktoren im Bereich des Erkennens und Handelns, da diese sich als empirische Regungen für eine transzendentale Erörterung disqualifizieren. Erst in der Kritik der Urteilskraft kommt es zu einer stärkeren Würdigung, indem das Gefühl für das Schöne und Erhabene als einer kritischen Untersuchung fähig erachtet wird, allerdings steht auch hier die »Bedeutung der Gefühle für ein vernünftiges Selbstverständnis« im Fokus von Kants Interesse. 6 Doch spricht Kant in Bezug auf das Schöne nicht nur von »Gefühl«, sondern auch von »Stimmung«. Der Stimmungsbegriff, der in der Phänomenologie sowie in der Ästhetik und Kunsttheo-

6

Vgl. Recki, Birgit: Kant: Vernunftgewirkte Gefühle, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.), Handbuch Klassische Emotionstheorien, Berlin/Boston 2012, S. 457– 477; hier S. 459.

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Annika Schlitte

rie wieder größere Aufmerksamkeit erfährt, 7 bedeutet hier jedoch etwas ganz Anderes als später in der an Heidegger anschließenden Debatte um Stimmung und Befindlichkeit. 8 Kant verwendet ihn noch in einem eher technischen bzw. funktionalen Sinne, 9 insofern er gewissermaßen die Einstellung und Abstimmung der Erkenntnisvermögen aufeinander bezeichnet. 10 In § 9 heißt es, es handele sich beim Schönen um eine »Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen« 11, die sich einstelle im »Gemütszustand in dem freien Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie untereinander, wie es zu einem E r k e n n t n i s s e ü b e r h a u p t erforderlich ist, zusammenstimmen)« 12. Einbildungskraft und Verstand kommen also »in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern« 13. Dasjenige, was hier »gestimmt« ist, scheint also nicht das Subjekt als ganzes zu sein, sondern vielmehr die Erkenntniskräfte untereinander. Den spezifischen »Gemütszustand«, der zur Erfah7 Zur kunsttheoretischen Diskussion s. Gisbertz, Anna-Katharina (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011; Thomas, Kerstin (Hg.): Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, Berlin und München 2010. 8 Vgl. Wellbery, David E.: Stimmung, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2010, S. 703–733. 9 Vgl. Recki, Birgit: Stimmung und Lebensgefühl bei Immanuel Kant, Ernst Cassirer und Walter Benjamin, in: Thomas, Stimmung, S. 1–12; hier S. 4: »Die Stimmung, die ›proportionierte Stimmung‹ unserer Erkenntniskräfte ist somit die funktionale Bedingung des ästhetischen Gefühls.« 10 Christiane Frey fasst Kants spezifische Stellung im Stimmungsdiskurs wie folgt: »Es hat sich mithin gezeigt, dass für Kant weder die Stimmung als Befindlichkeit im modernen Sinne noch die harmonische Proportion im vormodernen oder musikalischen Sinn den ästhetischen Zustand als solchen ausmacht, sondern vielmehr das Medium oder die Fassung der Erkenntnis, oder, wenn man so will, des Erkenntnisgetriebes, das im ästhetischen Urteil als solches merklich wird und ein Wohlgefallen, einen Selbstgenuss an dem Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen erzeugt.« Frey, Christiane: Kants proportionierte Stimmung, in: Gisbertz, Stimmung, S. 75–94; hier S. 88. 11 Die Kritik der Urteilskraft (abgekürzt als KU) wird zitiert nach der Seitenzählung der Akademieausgabe (AA), Bd. V; hier S. 218. 12 KU, S. 217 f. 13 Ebd. S. 219.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

rung des Schönen gehört, bestimmt Kant daher auch als »Stimmung der Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt« 14. Nun zeigt sich hier aber eine interessante Unterscheidung zwischen Stimmung und Gefühl, auch wenn der Weg zur Identifizierung beider nicht mehr weit ist. 15 Kant schreibt bezüglich des Schönen, dass sich »diese Stimmung selbst muß allgemein mitteilen lassen, mithin auch das Gefühl derselben« 16. So scheint also zwischen der Proportion der Erkenntniskräfte untereinander und dem Lustgefühl des Subjekts hier ein Unterschied zu bestehen. Die Stimmung ist ein bestimmtes Verhältnis der Erkenntniskräfte, das als Lustgefühl spürbar wird. 1.2

Die Erfahrung des Erhabenen – negative Lust und »Gemütsverstimmung«

Auch die Erfahrung des Erhabenen ist durch ein besonderes Gefühl sowie ein besonderes Verhältnis der Erkenntniskräfte gekennzeichnet. Anders als beim Schönen ist hier jedoch kein reines Lustgefühl zu spüren, sondern eine »negative Lust«, d. h. eine Lust, »welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird«. 17 Angesichts eines über alle Maßen großen Gegenstandes oder einer lebensbedrohlichen Naturgewalt, die wir jedoch aus sicherer Distanz beobachten, vollzieht sich beim Erhabenen die Erfahrung eines Scheiterns der sinnlichen Vermögen, die kompensiert wird durch das Einspringen der Vernunft als dem Vermögen in uns, das selbst die Sinnlichkeit zu übersteigen vermag. Wir können die unendliche Größe des MathematischErhabenen zwar in der Anschauung nicht fassen, wohl aber kann 14

Ebd. S. 238. Vgl. Recki: Stimmung und Lebensgefühl bei Immanuel Kant, Ernst Cassirer und Walter Benjamin, S. 4. 16 Ebd. S. 239. 17 Ebd. S. 245. 15

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die Vernunft die Idee des Unendlichen denken. Wir werden von der Naturmacht zwar als Naturwesen physisch bedroht; als Vernunftwesen aber können wir uns über die Natur erheben. So kommt Kant zu der berühmten Schlussfolgerung: »Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objecte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechslung einer Achtung für das Object, statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjecte) beweisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnißvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.« 18

Das Erhabene ist – stärker noch als das Schöne – eine Selbsterfahrung des Subjekts, denn ohne die Erinnerung an die Vernunft in uns wäre das positive Gefühl nicht zu erklären und es bliebe bei dem Gefühl der Unlust, »ästhetisch in Grenzen eingeschlossen« 19 zu sein. Das Gefühl des Erhabenen ist somit ebenso wie das des Schönen eines, das in engem Bezug zu den Aktivitäten der Erkenntnisvermögen steht, mithin also ein Gefühl, das nicht nur subjektiv empirisch, sondern allgemein mitteilbar und der transzendentalen Erörterung fähig ist. Auch das Erhabene wird von Kant als (Gemüts-)Stimmung bezeichnet, 20 wobei der Begriff sich wiederum auf die beteiligten Vermögen bezieht, diesmal Einbildungskraft und Vernunft. Allerdings könnte man versucht sein, eher von einer »erhabenen Gemütsverstimmung« zu sprechen, da das Verhältnis zwischen den Erkenntniskräften hier im Wesentlichen mit dem Begriff der »Unangemessenheit« bestimmt wird: »Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft« 21, heißt es zum Mathematisch-Erhabenen in § 27. An die Stelle der Harmonie und »Einhelligkeit« der

18 19 20 21

Ebd. S. 257. Ebd. S. 259. Ebd. S. 247, 256, 263, 265. Ebd. S. 257.

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Erkenntnisvermögen im Schönen tritt hier der »Widerstreit« 22, der für Lyotard zu einem so wichtigen Terminus werden wird. Für Kant ist aber nicht der Widerstreit lustvoll, sondern die Unangemessenheit der Einbildungskraft zur Darstellung von unendlicher Größe erinnert uns an die Unzulänglichkeit der Sinnlichkeit gegenüber der Vernunft insgesamt. Die Anerkennung der Vernunft als des übersinnlichen Vermögens in uns nötigt uns hier Respekt ab, und darin liegt eine Analogie zum Gefühl der Achtung vor dem Moralgesetz. »Die Stimmung des Gemüts zum Gefühl des Erhabenen erfordert eine Empfänglichkeit desselben für Ideen«, heißt es in § 29, und wenig später liest man, das Erhabene habe seine »Grundlage in der menschlichen Natur […], nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen« 23. Auf diese Weise entsteht im Erhabenen bemerkenswerterweise »ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben« 24. 1.3

Die Räumlichkeit des Erhabenen bei Kant

Wenn das Erhabene bei Kant also eindeutig als ein Gefühl charakterisiert wird, und zwar als eines, das anders als andere einen Bezug zu den internen Vorgängen bei der Tätigkeit des Erkennens aufweist und daher nicht rein empirisch ist, so bleibt nun noch die Frage zu klären, ob dieses Gefühl von Kant mit einem bestimmten Raumbezug in Verbindung gebracht wird. Dazu müssen wir die internen Abstimmungsversuche der Erkenntnisvermögen verlassen und einen Blick auf die Gegenstände werfen, die von Kant zwar als eigentliche Träger des Erhabenen ausgeschlossen werden, über deren Beschaffenheit er aber doch recht genaue Aussagen macht. Gernot Böhme warnt davor, das Erhabene auf seine systematische Bestimmung zu reduzieren, und erinnert daran, dass es stets 22 23 24

Ebd. S. 258. Ebd. S. 265. Ebd. S. 258.

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Annika Schlitte

»in Anwesenheit bestimmter Gegenstände erfahren wird« 25. Lassen wir die problematischen Implikationen von Kants Analyse vor allen Dingen im Hinblick auf das darin implizierte Naturverständnis an dieser Stelle außer Acht und fragen wir danach, inwiefern die von Kant beschriebene Erfahrung etwas mit Raumerfahrung zu tun hat. Dass insbesondere das Kantische Erhabene auch räumlich gedacht wird, ist bereits bemerkt worden. 26 Dennoch ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen des Raumbezugs zu unterscheiden, für die auch die Differenz von Mathematisch- und DynamischErhabenem eine Rolle spielt, da beide einen je verschieden akzentuierten Bezug zur Räumlichkeit haben, wie im Folgenden gezeigt werden soll. a) Das Mathematisch-Erhabene als Grenzfall der Raumwahrnehmung In der Analytik des Erhabenen knüpft Kant an seine Überlegungen zum Raum aus der Kritik der reinen Vernunft an, wie sich schon daran zeigt, dass er die Unterscheidung von Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenem aus der Analytik der Grundsätze übernimmt. 27 Während er in der Transzendentalen Ästhetik den Raum als Anschauungsform bestimmt hatte und damit als »die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist« 28, hatte die Analytik der Grundsätze untersucht, wie man auf der Basis der Anschauungsformen aber tatsächlich zu synthetischen Urteilen a priori kommt, die für eine Wissenschaft als Grundlage geeignet sind. Die Analytik des Mathematisch-Erhabenen bezieht sich auf diese Überlegungen, doch geht es nicht um Verfahren der Geometrie, sondern um alltägliche Vorgänge der Größenschätzung, 25

Böhme, Gernot: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt a. M. 1999, S. 84. 26 Vgl. z. B. Hoffmann, Torsten: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006. 27 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 160/B 199. 28 Ebd. A 26/B 42.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

weswegen Kant auch einige neue Beschreibungen und Einteilungen gibt. 29 Dabei spielt das Moment der Quantität die entscheidende Rolle: »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist« 30. Dass etwas überhaupt eine Größe ist, kann man laut Kant voraussetzen, denn alles, was in der Anschauung erscheint, ist räumlich. Wie groß aber ein Gegenstand der Anschauung ist, kann nur mithilfe eines Vergleichs ermittelt werden, wozu immer ein Maßstab benötigt wird. Größenschätzung kann nun entweder »mathematisch« erfolgen, d. h. durch Zahlbegriffe, oder »ästhetisch«, und das heißt »nach dem Augenmaße« 31. Zählen können wir nur, wenn wir schon einen Maßstab haben, den wir anlegen können. Diesen Maßstab selbst können wir aber nicht mathematisch bilden, sondern müssen ihn der Anschauung entnehmen, d. h. Kant geht davon aus, »daß die objektive mathematische Messung von Größe mittels Zahlen letztlich eine ästhetische Schätzung von Größe voraussetzt« 32. Man nimmt also eine Größe in der Einbildungskraft, um sie als Größenmaß benutzen zu können. Dazu muss die Einbildungskraft zunächst eine Auffassung, dann eine Zusammenfassung leisten. Die Auffassung ist unendlich, die Zusammenfassung hat jedoch ein Maximum. Wenn wir auf eine Größe treffen, die wir als »schlechthin groß« beurteilen, wie Kant es für das Erhabene annimmt, lässt sich kein Ganzes mehr bilden. Das schlechthin Große ist nur an sich selbst als Maßstab messbar: »Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.« 33 Für das betrachtende Subjekt entsteht ein unangenehmes Gefühl, wenn die Zusammenfassung nicht zustande kommt. Was die Einbildungskraft 29

Vgl. Fœssel, Michael: Analytik des Erhabenen (§§ 23–29), in: Otfried Höffe (Hg.), Kants Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 99–120; zur Modifikation der Rolle der Einbildungskraft Makkreel, Rudolf A.: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn u. a. 1997, S. 91–116. 30 KU, S. 248. 31 Ebd. S. 251. 32 Makkreel: Einbildungskraft und Interpretation, S. 93. 33 KU, S. 250.

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Annika Schlitte

nicht vermag, strebt die Vernunft daher selbst an: »Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert.« 34 Beim Mathematisch-Erhabenen erfährt der Mensch also die Begrenztheit seines sinnlichen Fassungsvermögens angesichts der Begegnung mit einer räumlichen Ausdehnung, die durch ihre schiere Größe nicht mehr in eine einheitliche Anschauung zusammengefasst werden kann. Ihm wird einerseits seine Begrenztheit bewusst, andererseits vollzieht sich eine innere Bewegung hin zur Vernunft, die in der Lage ist, diese Begrenzung zu überschreiten. Angesichts eines Wahrnehmungsgegenstandes, bei dem sich die räumliche Ausdehnung als übermächtig in den Vordergrund schiebt, wird auf der Ebene der Erkenntnisvermögen ein Wechselspiel von Begrenzung und Entgrenzung in Gang gesetzt, welches für das Subjekt als gemischtes Lust-Unlustgefühl spürbar wird. b) Die Orte des Dynamisch-Erhabenen Beim Dynamisch-Erhabenen spielt der Aspekt der Größe durchaus auch eine Rolle, wenn man sich die verwendeten Beispiele ansieht, doch liegt der Akzent nicht auf dem Erkenntnis-, sondern auf dem Begehrungsvermögen, womit auch eine Verschiebung in der Frage des Raumbezugs verbunden ist. War es beim Mathematisch-Erhabenen die »Unermeßlichkeit der Natur«, die uns die »Unzulänglichkeit unseres Vermögens« aufzeigte, so ist es hier die »Unwiderstehlichkeit ihrer Macht«, die uns »unsere physische Ohnmacht zu erkennen« gibt. 35 Auch wenn nach Kant das Erhabene letztlich in uns ist, so scheint es doch Orte und Situationen zu geben, die das Auftreten einer solchen Erfahrung wahrscheinlicher machen. Im Bezug auf das Mathematisch-Erhabene stellt er selbst fest, dass man dieses nicht »an Kunstproducten (z. B. Gebäuden, Säulen usw.), wo ein 34 35

Ebd. S. 254. Ebd. S. 261.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

menschlicher Zweck die Form sowohl als die Größe bestimmt […], sondern an der rohen Natur […], bloß sofern sie Größe enthält, aufzeigen müsse« 36. Die Gegenstände, die das Gefühl des Erhabenen auslösen können, sind also deutlicher eingegrenzt als beim Schönen, obwohl sich der Kern der Erfahrung nicht im Gegenstand, sondern im Subjekt befindet. Trotz dieser Einschränkung wählt Kant aber durchaus Beispiele aus der Architektur wie den Petersdom oder die Pyramiden, um das Mathematisch-Erhabene zu veranschaulichen. Beim Dynamisch-Erhabenen steht die Natur dem Subjekt nun nicht mehr als Gegenstandsbereich der Erkenntnis gegenüber, sondern als Macht, die es physisch bedroht. Insofern stehen hier tatsächlich Natur- und Landschaftsszenerien im Mittelpunkt. Hier schöpft Kant aus der reichen Tradition der Topoi des Erhabenen, wie sie sich im Alpendiskurs u. a. bei Dennis, Addison und Shaftesbury herausgebildet haben. 37 »Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen […] der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl.« 38, die Kant anführt, sind dafür typische Beispiele und lassen sich ähnlich bei den oben genannten Autoren wiederfinden. Der Verweis auf diese »klassischen« Orte des Erhabenen ist also zunächst ein Zugeständnis an die Tradition, auf die sich Kant mit dem Rekurs auf Burke später auch explizit bezieht. Ebenso findet man bei Kant zahlreiche Anklänge an die religiös-metaphysische Tradition des Erhabenen, die in jüngster Zeit in der Forschung wieder stärker aufgearbeitet worden ist. 39 Doch scheint die Wahl von Felsen, Abgründen und dem stürmischen Ozean auf der anderen Seite auch nicht nur eine Konvention zu sein, denn es lässt sich doch nicht leugnen, dass Berge aufgrund ihrer Größe und vertikalen Ausrichtung in verschiede36

Ebd. S. 252 f. Vgl. Nicolson, Marjorie Hope: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite, Seattle/London 1997; zu Kant vgl. Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, S. 83–107. 38 KU, S. 261. 39 Vgl. Fritz, Martin: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011. 37

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nen Religionen immer wieder mit Vorstellungen der Transzendenz in Verbindung gebracht wurden. 40 Die Orte, die bei Kant in diesem Kontext anklingen, sind jedenfalls so gewählt, dass an ihnen die paradoxe Erfahrung des Erhabenen möglich wird, die ein Hinausstreben über das Sinnliche im Sinnlichen fühlbar macht. Auf den Ort bezogen könnte man sagen, dass an einem Ort eine Erfahrung möglich wird, welche die Verankerung an einem bestimmten Ort übersteigt. Wenn ich mich als Naturwesen auch stets an einem spezifischen Ort befinde, so kann ich mich mittels der Vernunft von dieser Begrenzung befreien – paradoxerweise scheint es aber Orte zu geben, die zu dieser Loslösung vom Ort einladen. Kant ist bestrebt, in seinen Ausführungen das Erhabene vom Gegenstandsbezug zu trennen, weshalb man die besondere Eignung bestimmter Orte zu dieser Erfahrung auch nur implizit aus den Beispielen erschließen kann, es von Kant aber keine Reflexionen dazu gibt. Daraus ergibt sich eine gewisse Spannung in Kants Darstellung. Dass die Erhabenheitserfahrung – unter anderem – aufgrund der wichtigen Rolle, welche die Orte in der Natur für sie spielen, eher als Zwischenphänomen denn als interne Selbsterfahrung des Subjekts gedeutet werden sollte, ist in neuerer Zeit von phänomenologischer Seite angemerkt worden. 41 Die Verlegung des Gegenstands der Erhabenheitserfahrung ins Innere des Subjekts ist jedoch schon zu Kants Lebzeiten mit Verweis auf den Ort angegriffen worden. So kritisiert Herder in der Kalligone Kants Überschritt von der sinnlichen Wahrnehmung zur Vernunft mit dem Hinweis, dass er so die eigentliche Naturerfahrung verfehle und das Erhabene seltsam ortlos werde. 42

40

Vgl. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1990, S. 37. 41 Vgl. Casey, Edward S.: The Place of the Sublime, in: Anna-Teresa Tymieniecka (Hg.), Passion for Place, Bd. II, Dordrecht u. a. 1997, S. 71–85. 42 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Kalligone, in: Hans Dietrich Irmscher (Hg.), Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, Frankfurt a. M. 1998, S. 641– 965; hier S. 881.

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c) Standpunkt und Perspektive des Erhabenen Dies würde implizieren, dass der Betrachter bei Kant einen »View from Nowhere« einnimmt. Bleibt man bei der Beschreibung der Beispiele, so ist dem jedoch nicht so, denn es fällt auf, dass sowohl beim Mathematisch- als auch beim Dynamisch-Erhabenen die Perspektive und der Standort eine wichtige Rolle spielen. Kant diskutiert dies ausführlich beim Pyramidenbeispiel, wenn er Savary (nicht ganz korrekt) referiert, die Wirkung der Pyramiden hänge vom richtigen Standpunkt des Betrachters ab, der nicht zu nah, aber auch nicht zu weit entfernt sein dürfe. 43 Beim Dynamisch-Erhabenen ist der Standpunkt des Betrachters ebenfalls immens wichtig, denn dieser darf nicht wirklich physisch von der Natur bedroht werden, da wirkliche Furcht das Gefühl des Erhabenen verhindern würde. Deshalb stellt das Gefühl sich auch nur ein, wenn der Betrachter sich in Sicherheit weiß. In beiden Fällen ist also ein bestimmter Standpunkt gefragt; des Weiteren verlangt das Erhabene stets eine bestimmte Distanz zum Gegenstand, sowohl im Wortsinne wie im übertragenen Sinne, insofern jedes empirische Interesse am Gegenstand die ästhetische Erfahrung verderben würde. Dass das Erhabene letztendlich eine bestimmte Perspektive auf die Natur voraussetzt, 44 erläutert Kant selbst, aber nur, um es vom Bezug auf einen bestimmten Gegenstand zu lösen. Dabei nimmt er auch auf optische Medien wie das Mikroskop Bezug, die unsere Wahrnehmung der Natur erweitern. 45

43

Vgl. KU, S. 252; dazu Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, S. 96. 44 Vgl. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001, S. 190: »Wie überhaupt für das Gefühl des Erhabenen die ästhetische Distanz des Subjekts zum Ereignis vorausgesetzt sein muß, die den Betrachter der realen physischen Bedrohung der ›rohen Natur‹ entrückt, weil sonst derselbe Anblick gar kein ästhetisches Erleben, sondern schlicht Angst oder Panik auslösen könnte […], so hängt überhaupt die Frage, ob etwas ein Gefühl des Erhabenen bewirkt, von Zugang und Perspektive ab.« 45 Vgl. KU, S. 250.

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Birgit Recki ist hier zuzustimmen, die schreibt, »daß nicht ein für allemal feststeht, ob etwas und was als schön oder als erhaben anzusehen ist« 46 und als Beleg anführt, dass ein und dasselbe Bergmassiv je nach Standpunkt einmal als schön, einmal als erhaben wahrgenommen werden kann. Doch gilt dies auch umgekehrt? Selbst wenn man es durch ein Mikroskop betrachtet, scheint sich die Bedrohlichkeit eines Gänseblümchens in Grenzen zu halten, so dass es für das Dynamisch-Erhabene geeignete und weniger geeignete Kandidaten unter den Naturerscheinungen zu geben scheint. Letztlich gibt dies auch Recki zu: »Ohne daß damit das ästhetische Urteil aufs Objekt gegründet sein soll, läßt sich sagen: Es gibt Dinge der Natur, deren Größe oder zerstörerisches Potential unsere sinnlichen Kräfte überfordert.« 47 Ohne ein wahrnehmendes Subjekt, das sich zu ihm in Bezug setzt, wäre kein Naturgegenstand erhaben, und dennoch gibt es Naturszenen, die sich zur Erfahrung des Erhabenen besser eignen als andere. Um diesen Zusammenhang herausstellen zu können, bedarf es jedoch eines anderen Theorieumfeldes. Was Kant hier nicht thematisiert, ist die Leiblichkeit des Subjekts und seine Bewegung im gelebten Raum; und so wird zumindest auf der expliziten Textebene die Erfahrung des Erhabenen ins Innere des Subjekts verlegt. 2.

Das Erhabene bei Simmel

2.1

Gefühl und Stimmung bei Simmel

Kants Ansatz hat sich in den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts nicht durchgesetzt; weder die Verlegung des Erhabenen ins Subjekt noch die Dichotomie zwischen Schönem und Erhabenem haben Bestand. Letzteres wird entweder ganz aus der Ästhetik herausgeführt oder es wird als Unterform des Schönen betrachtet, so

46 47

Recki: Ästhetik der Sitten, S. 189. Ebd. S. 190.

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dass von einer tragenden Funktion in der Ästhetik spätestens zu Simmels Zeit nicht mehr die Rede sein kann. Zudem wird die Verortung im Subjekt aufgehoben. 48 In Meyers Großem Konversationslexikon von 1906 heißt es daher nur: »Erhaben ist ein objektiver ästhetischer Begriff, d. h. ein solcher, durch den eine Eigenschaft des ästhetischen Objekts und nicht des auffassenden Subjekts bezeichnet wird.« 49 Dies hat in den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts, z. B. bei Vischer, zu eigentümlichen Zusammenstellungen von erhabenen Gegenständen geführt, wie etwa die Charakterisierung des Elefanten als »erhabenes Thier« zeigt. 50 Das Erhabene in Gegenständen völlig abgelöst vom Subjekt suchen zu wollen, stellt also keinen gangbaren Weg dar, weswegen er hier auch nicht weiter verfolgt wird. Anders als bei Kant, bei dem noch die Proportion, das Verhältnis der Erkenntniskräfte untereinander als Stimmung bezeichnet wurde, die mit einem Gefühl verbunden war, ohne mit diesem identisch zu sein, hat sich zu Simmels Lebzeiten in der Kunstreflexion ein Stimmungsbegriff eingebürgert, der eine subjektive Gefühlsqualität selbst bezeichnet. Wie diese wiederum in der Kunst dargestellt werden kann, darum drehen sich die Überlegungen Alois Riegls, der die ganze moderne Kunst als »Stimmungskunst« interpretiert. 51 Wenn der Begriff bei Kant noch zur Erklärung anderer Vorgänge diente und selbst nicht thematisch wurde, so wird hier der Begriff selbst theoretisch reflektiert.

48

Vgl. Heininger, Jörg: Das Erhabene, in: Karl-Heinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2001, S. 275–310; hier S. 301: »Das Erhabene wird zu einem Wert des Objekts.« 49 Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 6, 6. Auflage Leipzig/Wien 1904, S. 39. 50 Vischer, Friedrich Theodor: Ästhetik oder die Wissenschaft des Schönen, Bd. 2.1, Leipzig 1847, § 239, S. 22. 51 Vgl. Wellbery: Stimmung, S. 720.

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2.2

Die Stimmung als Träger der Einheit der Landschaft

Simmels Philosophie der Landschaft von 1913 befasst sich lange vor Joachim Ritters wichtiger Studie mit der ästhetischen Wahrnehmung von Landschaft und ihrem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des modernen Subjekts. 52 Dabei versteht Simmel Landschaft explizit als ein Phänomen der (Natur-)Wahrnehmung und versucht, die spezifischen Bedingungen dieses Wahrnehmungsprozesses herauszuarbeiten. Nach Simmel grenzen wir in der Wahrnehmung eines »Stücks Natur« als Landschaft einen Teil aus der Gesamtheit der Natur aus – aber nur, um ihn selbst wiederum als Einheit zu betrachten. Was ihn nun im Verlauf des Textes umtreibt, ist die Frage, wie der einheitliche Eindruck einer Landschaft zustande kommt und welche Rolle dem menschlichen Geist bei diesem Vorgang zukommt: »Dies scheint mir die geistige Tat zu sein, mit der der Mensch einen Erscheinungskreis in die Kategorie ›Landschaft‹ hineinformt: eine in sich geschlossene Anschauung als Einheit empfunden, dennoch verflochten in ein unendlich weiter Erstrecktes, weiter Flutendes, eingefasst in Grenzen, die für das darunter, in anderer Schicht wohnende Gefühl des göttlich Einen, des Naturganzen, nicht bestehen.« 53

Dass der Betrachtende die Landschaft derart in Grenzen einfügen kann, setzt eine gewisse Distanz voraus – ein Aspekt der ästhetischen Wahrnehmung, den Simmel auch an anderer Stelle immer wieder betont. 54 Landschaftsbetrachtung setzt nach Simmel einen künstlerischen Blick voraus. Das Betrachten der Landschaft stellt eine Vor52

Vgl. Solies, Dirk: Natur in der Distanz, Opladen 1998; von der Verf., Eine lebensphilosophische Analyse des Erhabenen. Georg Simmels Gedanken über die Landschaft vor dem Hintergrund der Philosophie Kants, Examensarbeit (unveröff. Typoskript). 53 Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Bd. 12, Frankfurt a. M. 2001, S. 471–482; zit. als PhL; hier S. 472. 54 Vgl. Simmel, Georg: Soziologische Ästhetik, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 197– 214; hier S. 209.

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stufe auf dem Weg zum Kunstwerk dar, ist gleichsam ein »Kunstwerk in statu nascendi« 55. Ist die Betrachtung aus der Distanz also eine Voraussetzung der Landschaftswahrnehmung – eine Bestimmung, die uns auch bei Kants Erhabenem begegnet ist –, so kommt nun die Stimmung als »erheblichste[r] Träger dieser Einheit« 56, die als Landschaft betrachtet wird, hinzu. Diese Stimmung macht es laut Simmel aus, dass wir eine Landschaft als Einheit ansehen. Gleichwohl setzt auch das Empfinden einer Stimmung bereits eine Einheitlichkeit des Gesehenen voraus, denn in den einzelnen Teilstücken ist noch keine solche Stimmung zu finden. Simmel sieht hierin die »eigentümliche Schwierigkeit, die Stimmung einer Landschaft zu lokalisieren«, die in der Frage kulminiert: »inwieweit die Stimmung der Landschaft in ihr selbst, objektiv, begründet sei, da sie doch ein seelischer Zustand sei und deshalb nur in dem Gefühlsreflex des Beschauers, nicht aber in den bewusstlos äußeren Dingen wohnen könne?« 57. Simmel folgert, dass die Stimmung ursprünglich nichts anderes ist als die Einheit selbst. Er vergleicht dieses Phänomen recht anschaulich mit dem Bild, das man von einer geliebten Person hat: Auch in diesem Fall ist nicht zu entscheiden, was zuerst da ist – das Bild der Person oder das Liebesgefühl. Das Bild, das der Liebende hat, ist durch Liebe bestimmt; die Liebe setzt aber ihrerseits ein bestimmtes Bild der betreffenden Person voraus. Zwischen beiden wie zwischen Einheit und Stimmung beim Landschaftseindruck besteht kein Ursache-Wirkungsverhältnis: »So sind die Einheit, die die Landschaft zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen ein und desselben seelischen Aktes.« 58 Die Stimmung als einheitsstiftender Akt kann nur für jede Landschaft eine individuelle sein. Denn die Stimmung konstituiert die Landschaft erst zu einer Einheit, man könnte fast sagen, 55 56 57 58

PhL, S. 477. Ebd. S. 478 f. Ebd. S. 479. Ebd. S. 480.

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die Landschaft ist diese spezifische Stimmung: Wenn man bei der Betrachtung von Naturgegenständen eine besondere Stimmung fühlt, dann betrachtet man Landschaft, sonst nicht. Hier greifen visuelle Wahrnehmung und Gefühl ineinander, so dass Simmel sagen kann: »Als ganze Menschen stehen wir vor der Landschaft, der natürlichen wie der kunstgewordenen, und der Akt, der sie für uns schafft, ist unmittelbar ein schauender und ein fühlender, erst in der nachträglichen Reflexion in diese Gesondertheiten zerspaltener.« 59

Auf die Frage, »mit welchem Rechte die Stimmung, ausschließlich ein menschlicher Gefühlsvorgang, als Qualität der Landschaft, das heißt eines Komplexes unbeseelter Naturdinge gilt«, antwortet Simmel nun, indem er sagt, dass die Landschaft selbst schon ein »geistiges Gebilde« 60 sei. Die Stimmung wird so bei Simmel also nicht als etwas verstanden, das in der Natur selbst liegt. Sie ist aber auch keine Projektion eines vorher vorhandenen subjektiven Gefühls in die Natur, sondern eine Art Gestaltqualität, die aber nicht unabhängig vom Wahrnehmungsakt betrachtet werden kann. Sie ist Produkt und gleichzeitig Modus der geistigen Aneignung und somit eine Umschreibung für den ästhetischen Akt selbst. Landschaft, so führt Simmel aus, »lebt nur durch die Vereinheitlichungskraft der Seele, als eine durch kein mechanisches Gleichnis ausdrückbare Verschlingung des Gegebenen mit unserem Schöpfertum. Indem sie so ihre ganze Objektivität als Landschaft innerhalb des Machtgebietes unseres Gestaltens besitzt, hat die Stimmung, ein besonderer Ausdruck oder eine besondere Dynamik dieses Gestaltens, volle Objektivität an ihr« 61.

2.3

Raum und Ort des Erhabenen – Simmels Alpen-Aufsatz

Obgleich Simmel hier bemerkt, letztendlich könne die Stimmung einer bestimmten Landschaft je nur eine individuelle sein, gibt er 59 60 61

Ebd. S. 482. Ebd. S. 480. Ebd.

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mit seinem Aufsatz über die Ästhetik der Alpen doch ein Beispiel für eine Stimmungslandschaft, die traditionell mit dem Terminus des Erhabenen belegt worden ist. Dass Simmel in seiner Darstellung zudem auf prominente Aspekte der Kantischen Analyse zurückgreift, ist leicht zu ersehen. Im Gegensatz zu Kant betrachtet Simmel die Alpen jedoch nicht (nur) als Naturgegebenheiten, sondern als potenzielle Motive der Kunst. Gleich die erste Bestimmung, die Simmel vornimmt, erinnert an das Mathematisch-Erhabene bei Kant, denn er spricht von der Quantität als bedeutender Kategorie bei der Betrachtung der Alpen. Der »ästhetische Eindruck des Anschaulichen« werde nämlich nicht nur durch seine Form bestimmt, sondern außerdem durch »das Größenmaß, in dem der Eindruck sich bietet« 62. Dieselbe Form könne in verschiedenen Größen ganz unterschiedlich auf den Betrachter wirken, weshalb Form und Maßstab zusammen erst die Einheit des ästhetischen Eindrucks bilden. Nicht jedes Motiv sei jedoch in gleichem Maße an die Quantität gebunden, doch sei es bei den Alpen essentiell, dass bei ihrer Darstellung der Eindruck von großer Masse beibehalten wird. Dies begründet Simmel folgendermaßen: »Die besondere Bedeutung des Massenmomentes ruht auf der Eigenart der alpinen Gestaltung. Diese hat im Allgemeinen etwas Unruhiges, Zufälliges, jeder eigentlichen Formeinheit Entbehrendes – weshalb denn vielen Malern, die auch die Natur als solche nur auf ihre Formqualität hin ansehen, die Alpen schwer erträglich sind.« 63

Auffällige Größe, Formlosigkeit, Unruhe – die Parallelen zur Kantischen Beschreibung sind hier sehr deutlich greifbar. Der Betrachter hat Schwierigkeiten, das Wahrgenommene zu einem einheitlichen, sinnvollen Ganzen zusammenzufassen, wo »die Formen so zufällig und durch keinen Sinn der Gesamtlinie verbunden nebeneinander stehen« 64. Anders als bei Kant ist jedoch nicht die Größe 62

Simmel, Georg: Die Alpen, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1996, S. 296–304; zit. als Alp.; hier S. 296. 63 Ebd. S. 297. 64 Ebd.

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als solche das Problem, denn kurz darauf heißt es, die Masse (womit Simmel wohl die Quantität bezeichnet) müsse die unruhige Form beruhigen, wodurch der besondere Eindruck entstehe, der den Reiz der Alpenlandschaft überhaupt erst ausmacht: »Die zerflatternde Unruhe der Formen und die lastende Materialität in ihrem bloßen Quantum erzeugen in ihrer Spannung und ihrer Balance den Eindruck, in dem sich Erregtheit und Frieden einzigartig zu durchdringen scheinen.« 65 Form und Masse befinden sich demnach im Kampf miteinander. Obwohl der Widerstreit also offensichtlich von anderen Parteien bestimmt wird als in Kants Analyse, ist die Wirkung eine ähnliche. Es handelt sich bei der ästhetischen Erfahrung, welche der Anblick der Alpen erlaubt, um ein gemischtes Gefühl, eine ›negative Lust‹ im Sinne Kants – denn »Erregtheit und Frieden« ist ein höchst widersprüchlicher Eindruck. Im Bereich des Raumes verweist die absolute Höhe, die jedes Maß übersteigt, auf das Unbedingte als Gegensatz zum Leben. »Wir sind Wesen des Maßes« 66, schreibt Simmel, und erleben sonst Höhe immer nur relational in Bezug auf etwas Tiefergelegenes. Demgegenüber macht die Fels- und Eiswüste des Gipfelbereichs den Eindruck von absoluter Höhe, der jegliche Beziehung zu einer niedrigeren Welt fehlt: »Dies ist die Paradoxe des Hochgebirges: daß alle Höhe auf der Relativität von Oben und Unten stellt, bedingt ist durch die Tiefe – und hier nun doch als das Unbedingte wirkt, das nicht nur die Tiefe nicht braucht, sondern gerade erst, wenn diese verschwunden ist, sich als volle Höhe entfaltet.« 67

Erst gegen Ende des Essays formuliert Simmel mit dem Verweis auf die »mystische Erhabenheit« 68 der Firnlandschaft explizit, was begrifflich bereits im Hintergrund seiner Analyse präsent gewesen ist.

65 66 67 68

Ebd. S. 298. Ebd. S. 301. Ebd. S. 302. Ebd.

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Wie gezeigt werden konnte, finden sich mit der Betonung des distanzierten Standpunktes vor der Landschaft, dem Quantitätsmoment und der auf das Unbedingte verweisenden »Höhe« der erhabenen Landschaft die räumlichen Aspekte des Erhabenen auch bei Simmel wieder. Seine Überlegungen zur Stimmung, die zwar nicht explizit im Hinblick auf das Erhabene erfolgten, aber doch auf ästhetische Naturwahrnehmung bezogen waren, deutet sich ein Bewusstsein für das Problem der Verortung dieser Erfahrung an, die »eigentümliche Schwierigkeit, die Stimmung einer Landschaft zu lokalisieren«. Das Sprechen von einer »Verschlingung des Gegebenen mit unserem Schöpfertum« kann als Bestreben bewertet werden, eine nachträgliche Zergliederung dieser Erfahrung zu kritisieren und auf das einheitliche Erleben des Menschen als denkendem und fühlendem Wesen zu verweisen. 3.

Phänomenologische Ansätze zur Räumlichkeit des Erhabenen

Das Problem der Stimmung einer Landschaft ist am Ende des 20. Jahrhunderts nach Erscheinen von Martin Seels Naturästhetik Gegenstand einer Kontroverse geworden, die sich zwischen der These der kulturellen Konstruiertheit von ästhetischer Landschaft insgesamt (Groh/Groh) und der Annahme von Atmosphären als objektiven Entitäten bewegt (Böhme). Da diese Diskussion, die insbesondere für das Naturerhabene sehr wichtig ist, an anderer Stelle bereits aufgearbeitet wurde, 69 soll hier der Blick abschließend noch einmal auf die Raumfrage gelenkt werden und nach einem möglichen Beitrag neuerer phänomenologischer Ansätze zum Raumbezug des Erhabenen gefragt werden. Hierbei ist zu beachten, dass im 20. Jahrhundert ausgehend von der Phänomenologie eine Kritik an dem in der Neuzeit vor69

Vgl. Großheim, Michael, Atmosphären in der Natur – Phänomene oder Konstrukte? in: Rolf Peter Sieferle/ Helga Breuninger (Hg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 325–365.

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herrschenden, naturwissenschaftlichen Raumverständnis laut geworden ist, die auch andere Perspektiven für die Räumlichkeit des Erhabenen eröffnet. Neben die abstrakte Raumvorstellung mathematischer und physikalischer Raumtheorien tritt seit Husserl eine Betonung der lebensweltlichen Raumerfahrung, die von ganz anderen Grundannahmen ausgehen muss. Zum einen spielen Momente wie Perspektive, Standpunkt und Horizont eine wichtige Rolle, zum anderen erfolgt bei späteren phänomenologischen Autoren eine Hinwendung zur leiblichen Erschließung des Raumes. Es ist das leibliche »Hier«, das als absoluter Ausgangspunkt jeder Raumerfahrung fungiert. Schließlich wird im Zuge des Bestrebens, den in der philosophischen Tradition dominanten Subjekt-Objekt-Dualismus zu überwinden, eine Raumvorstellung verabschiedet, die Raum und Subjekt getrennt voneinander betrachtet und nicht bedenkt, dass der Mensch immer schon im Raum ist. Wie Bernhard Waldenfels schreibt, kehrt die Phänomenologie »zur Raum- und Zeiterfahrung zurück, ohne sich mit Raum- und Zeitkonstrukten zu begnügen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von der Lebenswelt, in der jeder von uns leiblich verankert ist und die sich uns durch unsere leiblichen Bewegungen hindurch erschließt« 70. Wollte man das Moment der Perspektivität, das sich bei Kant ja bereits andeutet, in eine Phänomenologie der Erhabenheitserfahrung umsetzen, so müsste man sagen, dass es nicht eigentlich Dinge in der Natur sind, sondern Orte, welche eine solche Erfahrung durch ihre räumliche Konstellation nahelegen. Wie wir gesehen haben, kommen Standpunkt und Perspektive in Kants und Simmels Thematisierung des Erhabenen durchaus vor, doch wird der leibliche Charakter der Erfahrung nicht direkt thematisiert. Dabei könnte man von der Betonung des Maßstabs leicht auf den eigenen Leib als Zugang zum und Maß des Raumes zu sprechen kommen, um eine neue Beschreibung der Erfahrung des Erhabenen zu geben. Einen Schritt in diese Richtung geht Martin 70

Waldenfels, Bernhard: Topographie der Lebenswelt, in: Stefan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 69–84; hier S. 71.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

Seel 71, wenn er das Erhabene der Kontemplation als paradoxe Raumerfahrung schildert, die sich rund um ein leibliches Ich eröffnet. Die Verschiebung der Horizontlinie beim Blick vom Gipfel, die Grenzenlosigkeit der Wüste, der Schwindel beim Blick in den Abgrund oder hinauf in große Höhe wären Beispiele für Gelegenheiten zu einer Raumerfahrung, die leiblich spürbar ist. 72 Naturgegenstände sind in diesem Zusammenhang zwar nicht selbst erhaben, aber sie bieten eine Gelegenheit, einen Ort für diese Erfahrung, auch wenn es eine Erfahrung der Ortlosigkeit und des Orientierungsverlustes ist. Mit dem Ort ist nun ein weiterer Schlüsselbegriff für die phänomenologische Theorie des gelebten Raumes gefallen, dessen Auswertung für die Erfahrung des Erhabenen noch aussteht. 73 Bei einigen phänomenologischen Autoren aus dem englischsprachigen Raum hat sich in jüngster Zeit eine Unterscheidung zwischen Raum (space) und Ort (place) eingebürgert. 74 Bei diesem Ansatz stehen sich nicht nur abstrakter naturwissenschaftlicher Raum und konkreter, lebensweltlicher Erfahrungsraum gegenüber, sondern dieser Erfahrungsraum wird seinerseits zweifach verstanden, als Raum und Ort. Orte in diesem Sinne sind nicht einfach objektive Gegebenheiten, sie sind aber auch keine rein subjektiven oder kollektiven Konstruktionen. Sie fungieren als Sinneinheiten und Medien der Erfahrung und können so eine wichtige Rolle z. B. im Umgang mit historischen Ereignissen oder als Vermittler bestimmter Naturerfahrungen spielen. In ihrer komplexen Struktur, in der sich kulturelle Bedeutungen, natürliche Elemente und individuelle Erfahrungen überlagern, scheinen Orte somit geeignetere Kan71

Vgl. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 54– 62. 72 Vgl. Smuda, Manfred: Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft, in: ders. (Hg.), Landschaft, Frankfurt a. M. 1986, S. 44–69; hier S. 51. 73 Vgl. dazu von der Verf.: Das Erhabene als Ortserfahrung. in: dies. u. a. (Hg.), Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, S. 43–62. 74 Vgl. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Auflage Bloomington 2009.

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didaten für das Erhabene zu sein als ein einzelner Naturgegenstand. Literatur Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Ders.: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt a. M. 1999. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Auflage Bloomington 2009. Ders.: The Place of the Sublime, in: Anna-Teresa Tymieniecka (Hg.), Passion for Place, Bd. II, Dordrecht u. a. 1997, S. 71–85. Demmerling, Christoph: Gefühle, Sprache und Intersubjektivität. Überlegungen zum Atmosphärenbegriff der Neuen Phänomenologie, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 43–55. Döring, Sabine A. (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1990. Fœssel, Michael: Analytik des Erhabenen (§§ 23–29), in: Otfried Höffe (Hg.), Kants Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 99–120. Frey, Christiane: Kants proportionierte Stimmung, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011, S. 75–94. Fritz, Martin: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011. Gisbertz, Anna-Katharina (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011. Großheim, Michael, Atmosphären in der Natur – Phänomene oder Konstrukte? in: Rolf Peter Sieferle/ Helga Breuninger (Hg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 325–365. Heininger, Jörg: Das Erhabene, in: Karl-Heinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2001, S. 275–310. Herder, Johann Gottfried: Kalligone, in: Hans Dietrich Irmscher (Hg.), Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, Frankfurt a. M. 1998, S. 641–965. Hoffmann, Torsten: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006.

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Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung«

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (= Kants Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. 3 und 4), Berlin 1902 ff., Bd. 3: S. 1–552 [2. Auflage 1787], Bd. 4: S. 1– 252 [1. Auflage 1781]. Ders.: Kritik der Urteilskraft (= Akademie-Ausgabe, Bd. 5), S. 165–486. Landweer, Hilge, Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007. Makkreel, Rudolf A.: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn u. a. 1997. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 6, 6. Auflage Leipzig/Wien 1904. Nicolson, Marjorie Hope: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite, Seattle/London 1997. Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001. Dies.: Stimmung und Lebensgefühl bei Immanuel Kant, Ernst Cassirer und Walter Benjamin, in: Kerstin Thomas (Hg.), Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, München 2007, S. 1–12. Dies.: Kant: Vernunftgewirkte Gefühle, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.), Handbuch Klassische Emotionstheorien, Berlin/Boston 2012, S. 457–477. Schlitte, Annika: Das Erhabene als Ortserfahrung, in: dies. u. a. (Hg.), Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, S. 43–62. Dies.: Eine lebensphilosophische Analyse des Erhabenen. Georg Simmels Gedanken über die Landschaft vor dem Hintergrund der Philosophie Kants, Examensarbeit (unveröff. Typoskript). Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 1969. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991. Simmel, Georg: Die Alpen, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1996, S. 296–304. Ders.: Philosophie der Landschaft, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Bd. 12, Frankfurt a. M. 2001, S. 471–482. Ders.: Soziologische Ästhetik, in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 197–214. Smuda, Manfred: Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft, in: ders. (Hg.), Landschaft, Frankfurt a. M. 1986, S. 44–69. Solies, Dirk: Natur in der Distanz, Opladen 1998. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2.1, Leipzig, 1775. Thomas, Kerstin (Hg.): Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, Berlin und München 2010.

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Annika Schlitte

Vischer, Friedrich Theodor: Ästhetik oder die Wissenschaft des Schönen, Bd. 2.1, Leipzig 1847. Waldenfels, Bernhard: Topographie der Lebenswelt, in: Stefan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 69–84. Wellbery, David E.: Stimmung, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2010, S. 703–733. Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik: Eine implizite Ästhetik des Erhabenen, in: Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 185–213.

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Nina Trčka

Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui. Leibliche Räumlichkeit als Quelle ästhetischer Gefühle und spezifischer Ängste 1.

Einleitend

Das Erhabene nimmt, nach seinem Aufstieg im 18. Jahrhundert, in der modernen und postmodernen ästhetischen Diskussion einen prominenten Platz ein. 1 Gerade seine Entgegensetzung zum Schönen, die Erfahrung von Unermesslichkeit, Fassungslosigkeit, Entgrenzung, Isolation und Entfremdung machen es zu einer Figur des Menschen in der Moderne. Während das Gefühl einerseits von bestimmten räumlichen Gegebenheiten abhängt – wie Landschaften 2, Bauwerken, Kunstobjekten oder Umgebungsgestaltungen 3 –, erscheint es andererseits als eine Art Selbstgefühl des Subjekts 4. Den Zusammenhang von räumlicher Erfahrung und Selbstgefühl soll die folgende leibphänomenologische Unter1

Vgl. den Eintrag von Heininger, Jörg: Erhaben, in: Karl-Heinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 275–310, besonders S. 275–277. 2 Zu Atmosphären von Landschaften vgl. Großheim, Michael: Atmosphären in der Natur. Phänomene oder Konstrukte?, in: Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 325–365. 3 Auf das musikalisch Erhabene und auf literarische Darstellung gehe ich im vorliegenden Beitrag nicht ein. Speziell zum Zusammenhang von bestimmten Orten und dem Erhabenen vgl. Schlitte, Annika: Das Erhabene als Ortserfahrung. Vorüberlegungen zu einer Hermeneutik des Ortes, in: dies. u. a. (Hg.), Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, S. 45–61 sowie den Beitrag von Annika Schlitte in diesem Band. 4 So bezeichnet z. B. Annika Schlitte das Erhabene als »Selbsterfahrung des Subjekts« (vgl. ihren Beitrag in diesem Band).

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Nina Trčka

suchung aufklären. Der folgende Text geht den leiblichen Quellen für das Gefühl des mathematisch Erhabenen im Vergleich mit dem horror vacui nach. Ästhetische Gefühle resultieren aus einer leiblich-räumlichen Kommunikation mit Objekten oder Umgebungen. Dies werde ich im Folgenden am Beispiel des mathematisch Erhabenen darlegen und dabei von der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz ausgehen. Ich möchte zeigen, welche zentrale Rolle die leibliche Räumlichkeit für das ästhetische Gefühl des mathematisch Erhabenen spielt. Als zentral wird sich dabei erweisen, dass es eine Mehrfältigkeit des (leiblichen) Raumes gibt, sodass verschiedene Weisen des Raumes zugleich gegenwärtig sein können. Im Erleben des mathematisch Erhabenen geschieht ein spielerisches und kontrolliertes »Kippen« in die primitiveren Raumformen, das genossen werden kann – wohingegen dieses Umkippen ohne Steuerbarkeit von der Person als horror vacui (Weiteangst) erlebt wird. Zugleich hat der ästhetische Genuss seine Quelle in der Kontrolle des Zerfalls leiblicher Ganzheit, welche mit dem Kippen in primitivere Raumformen einhergeht. Der Genießende spielt dabei mit einer latent im Leibe vorhandenen Angst. Aus leibphänomenologischer Perspektive lässt sich die Erfahrung des mathematisch Erhabenen schlussendlich als Umschlagen von leiblicher Ohnmacht in subjektives Machterleben deuten. In einem ersten Schritt (unter 2.–3.) werde ich anhand von Beschreibung sowie einigen ausgewählten klassischen philosophischen Texten die Bestimmung des Erhabenen darstellen, um sodann die zentralen Charakteristika des mathematisch Erhabenen herauszuarbeiten. Hierbei muss folgende Einschränkung gemacht werden: Es hat sich eine Vielzahl von Diskursen über das Erhabene herausgebildet im Laufe der Geschichte. 5 So rückt – um nur ein Beispiel zu nennen – die Entgegensetzung des Schönen und des Erhabenen und eine entsprechende abgrenzende Bestimmung dieser Begriffe 5

Vgl. z. B. Pries, Christine: Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 3 f. oder Heininger: Erhaben, in: Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 275–310.

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

erst im 18. Jahrhundert ins Zentrum des Interesses – man sieht dies innerhalb der klassischen englischen Diskurse beispielhaft am Übergang von Addisson zu Burke. Auch die Fokussierung auf die subjektive Wirkung (statt auf die objektive Bestimmung von erhabenen Gegenständen und die Produktionsästhetik), findet in dieser Zeit statt. Deutlich ist dies wiederum bei Burke zu erkennen. 6 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts vollzieht sich auch zunehmend eine Entsakralisierung des Diskurses: Die Erfahrung des Erhabenen galt früheren Darstellungen als eine Erfahrung der Allmacht Gottes – insbesondere des zürnenden Gottes und der eigenen Endlichkeit und Ohnmacht ihm gegenüber. Im Verlauf des Jahrhunderts setzt eine zunehmende Säkularisierung erhabener Gegenstände ein: So werden u. a. bestimmte Naturgegebenheiten wie die Alpen, Ozeane und Wüsten zunehmend ohne religiöse Bezüge als erhabene Objekte bestimmt. Im Rahmen dieses Textes kann ich der Vielzahl historischer Positionen nicht gerecht werden. Erkenntnisleitend wird im Folgenden vorwiegend Kants Bestimmung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft sein, da er das mathematisch Erhabene deutlich vom dynamisch Erhabenen unterscheidet und eine gehaltvolle Charakteristik des letzteren liefert – eine Charakteristik, die für eine leibphänomenologische Untersuchung einen guten Ausgangspunkt bietet. Letztlich ist Kants Position klassisch zu nennen, was ihre Wirkungs- und auch Vorgeschichte angeht. Denn sie greift wesentliche Diskurse des 18. Jahrhunderts auf und führt sie weiter (so bezieht sich Kant explizit auf die empirisch-sensualistischen Arbeiten der englischen Theoretiker, aber auch auf metaphysische Traditionslinien), und sie wird ihrerseits in späteren Diskursen aufgegriffen (Schiller, Herder u. a. bis hin zu Lyotard). Anschließend (4.–6.) wird es darum gehen, ausgehend von einem Konzept leiblicher Räumlichkeit zu untersuchen, was bei der Erfahrung des mathematisch Erhabenen auf leiblicher Ebene geschieht. Hierbei wird ein Vergleich mit Schmitz’ Analysen des horror vacui, der Weiteangst, aufschlussreich sein. 6

Vgl. Heininger: Erhaben, in: Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 289.

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Nina Trčka

2.

Die Erfahrung des mathematisch Erhabenen oder der Sinn für das Maßlose

Stehen wir vor einer steil aufragenden Felswand im Gebirge, deren Spitze wir nicht mehr sehen können, und überlassen wir uns dem massigen und nicht enden wollenden Eindruck, den der Fels auf uns macht, ohne den Blick auf etwas Einzelnes zu fokussieren, dann gibt es einen Moment, in dem die Wahrnehmung umschlägt und sich ein spezifisches Gefühl einstellt. Wir ›registrieren‹ dann nicht mehr nur, dass wir eben vor einer doch sehr hohen Felswand stehen, deren Ende wir nicht erkennen können, sondern wir fühlen uns gleichsam ›erschlagen‹ von der Größe, zurückgestoßen und winzig klein vor ihr, ohnmächtig, von ihr seltsam isoliert, als befände sie sich jenseits von uns in einer anderen Dimension. Es ist ein Gefühl von unermesslicher Größe, von Absolutheit oder auch räumlicher Unendlichkeit, an die wir nicht heranreichen. Dieses Gefühl stellt sich nicht ein, wenn wir Details an der Felswand betrachten, einen Vorsprung in der Wand etwa, die Oberflächenstruktur des Gesteins oder Ähnliches; das Gefühl stellt sich auch nicht ein, wenn wir zu schätzen versuchen, wie hoch die Wand sich nach oben hin wohl fortsetzt. Es handelt sich vielmehr um das Gefühl, eine gigantische, unbegrenzte Ganzheit mit einem Schlage zu erfassen, die tatsächlich gar nicht gesehen werden kann. Dieses Gefühl kann sich auch angesichts einer scheinbar unendlichen Weite einstellen, wie in der Wüste oder am Meer oder an Stellen von abgründiger Tiefe. Dies ist das Gefühl, das Kant unter dem Begriff des mathematisch Erhabenen in seiner Kritik der Urteilskraft analysiert. 3.

Die Charakteristika des mathematisch Erhabenen ausgehend von Kants Kritik der Urteilskraft

Steht das Schöne bei Kant (und seinen Nachfolgern) für Harmonie, für ein Zusammenstimmen der Erkenntniskräfte 7 ›in‹ uns so7

Zu Stimmung als Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte vgl. Recki, Birgit:

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

wie für das Zusammenstimmen unserer Erkenntniskräfte mit der Natur, so macht im Unterschied dazu das Erhabene bzw. das »Sublime« eine Dissonanz spürbar. Es gefällt nicht, es überwältigt. 8 Daher wird es öfter in Zusammenhang mit Gefühlen wie Schau(d)er, Angst, Schrecken, Ehrfurcht, Bewunderung oder Achtung gebracht, 9 teils auch mit Schmerz 10. Typische Objekte bzw. Naturumgebungen, die als erhaben galten, waren im 18. Jahrhundert (wie auch später noch) daher beispielsweise die Alpen – insbesondere wegen ihrer bedrohlichen Größe und ihrer Formlosigkeit. Kant nennt als Beispiele für Erhabenes an natürlichen Umgebungen sowie an klimatisch-räumlichen Gegebenheiten »ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung übereinander getürmt, mit ihren Eispyramiden, oder die düstere tobende See« 11, »[k]ühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses« 12. Stimmung und Lebensgefühl bei Immanuel Kant, Ernst Cassirer und Walter Benjamin, in: Kerstin Thomas (Hg.), Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, Berlin/München 2010, S. 1–12 sowie Annika Schlitte in diesem Band. 8 Kant spricht wörtlich davon, dass das Erhabene der Natur »gewalttätig für die Einbildungskraft« erscheint, im Gegensatz zum Schönen, das aufgrund der Zweckmäßigkeit der Form, die das schöne Naturobjekt hat, für unsere Beurteilung wie geschaffen zu sein scheint. (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe, Bd. X, hg. v. W. Weischedel), 13. Auflage Frankfurt a. M. 1994, Analytik des Erhabenen, § 23, B 77 / A 76, S. 166). 9 Vgl. z. B. Heininger: Erhaben, in: Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 275–310. 10 »Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime«. (Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, in: ders., The Works of the Right Honourable Edmund Burke in Twelve Volumes, London 1887, Vol. I, S. 111 unter: http://www.gutenberg.org/ files/15043/15043-h/15043-h.htm). 11 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 26, B 95 / A 94, S. 179. 12 Ebd. § 28, B 104 / A 103, S. 185.

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Als künstliche Produkte führt Kant Architektur an: die Pyramiden in Ägypten sowie den Petersdom in Rom. 13 Diese typischen erhabenen Objekte deuten es schon an: Die ästhetische Erfahrung des Erhabenen ist eine des Überwältigtwerdens und der Ohnmacht. Im Anschluss an Kant lässt sie sich in zweierlei Weisen fassen: Als sinnliche Unfassbarkeit und Maßlosigkeit eines Objekts bzw. einer Umgebung einerseits (dies ist das mathematisch Erhabene) und als potentielle physische Bedrohung des Menschen durch ein Objekt bzw. durch eine Umgebung andererseits (dies ist das dynamisch Erhabene). Während beim mathematisch Erhabenen die Betrachtenden unfassbar vor einer ungeheuren Größe stehen, ist die Erfahrung des dynamisch Erhabenen eine, welche die Betrachtenden physisch scheinbar bedroht: Die Natur tritt als eine Macht auf, welcher der Mensch sich in seiner sinnlichen Existenz ohnmächtig gegenüber fühlt. 14 In den obigen Beispielen Kants wären das die überhangenden und wie mit Absturz drohenden Felsen oder der empörte (d. h. stürmische) Ozean. 15 Schiller, der Kants Unterscheidung in ein dynamisch Erhabenes und ein mathematisch Erhabenes aufgreift, bezieht beide Arten auf ein Übersteigen menschlicher Kräfte, nämlich der Fassungskraft und der Lebenskraft: »Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen dabei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden; oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in nichts verschwindet.« 16 13

Ebd. § 26, B 88 / A 87, S. 174. Ebd. § 28, B 105 f. / A 103, S. 186. 15 Vorausgesetzt ist dabei, da es sich um ästhetische Betrachtung handelt, eine gewisse Distanz (und Sicherheit) der Betrachtenden dem Objekt oder der Umgebung gegenüber. Sie dürfen nicht wirklich einer Gefahr ausgesetzt sein, da sonst kein Genuss statthaben könnte. Voraussetzung ist das »interesselose Wohlgefallen« am Objekt, das ein ästhetisches Urteil allererst ermöglicht – und dies bedeutet auch, kein negatives Interesse durch Bedrohung des eigenen Lebens. 16 Schiller, Friedrich: Über das Erhabene, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. II, München 1966, S. 610. [Hervorh. i. O.]. 14

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

In beiden Fällen erhalten wir durch das erhabene Objekt »das peinliche [d. i. schmerzhafte; N. T.] Gefühl unserer Grenzen« 17. Dies lässt sich als ein Gefühl der Ohnmacht angesichts des erhabenen Objekts bzw. der Umgebung auslegen. Auch nach Kant begleitet die Erfahrung des Erhabenen eine kurze »Hemmung der Lebenskräfte« – im Gegensatz zum Schönen, das »ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt«. 18 Die Hemmung der Lebenskräfte ist dabei nur eine »augenblickliche«, begleitet von einer »darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung derselben«. 19 Die Erfahrung, die wir angesichts des Erhabenen machen, wird demnach bei Kant – ähnlich ist es bei Schiller – beschrieben als ein spürbarer Verlauf von Hemmung und Enthemmung. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Untersuchung des mathematisch Erhabenen. 20 Nach Kant tritt das Gefühl für das mathematisch Erhabene angesichts schierer Größe auf: »Wenn wir aber etwas nicht allein groß, sondern schlechthin-, absolut-, in aller Absicht- (über alle Vergleichung) groß, d. i. erhaben, nennen, so sieht man bald ein: daß wir für dasselbe keinen ihm angemessenen Maßstab außer ihm, sondern bloß in ihm zu suchen verstatten. Es ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist.« 21

Kant referiert auf die Erfahrung einer Größe, die maßlos ist, was schon ein Widerspruch in sich zu sein scheint, wenn Größe als bestimmte Größe gefasst wird, d. h. aber relative Größe. Wenn wir nach Kant etwas erhaben nennen, so ist es jedoch »schlechthin groß (absolute non comparativum magnum)« 22. Kant führt daher für Größe zwei Begriffe ein, einen absoluten und einen quantifizierbaren: magnitudo und quantitas. 17

Ebd. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 23, B75 / A 74, S. 165. 19 Ebd. 20 Für eine leibtheoretische Analyse zum dynamisch Erhabenen vgl. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, 3. Auflage Bonn 2007, S. 490 ff. 21 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 25, B 84 / A 83, S. 171. 22 Ebd. § 25, B 81 / A 80, S. 169. 18

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Das Moment des unvergleichlich Großen aber entstammt, so Kant, nicht den Sinnen, ist also kein empirisches Moment, denn für die Sinne lässt sich immer etwas Großes im Vergleich zu anderem Großen als ein Kleines auffassen (Kant verweist hierbei auf Mikroskope und Teleskope) 23. Es handelt sich bei einem erhabenen Objekt also um ein sinnlich Wahrnehmbares, das aufgrund seiner Größe die sinnliche Wahrnehmung überschreitet oder sich ihr entzieht. Kant spricht im obigen Zitat von der »Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt«, 24 die wir erfahren. Ein erhabenes Objekt zeigt sich auch durch Unmöglichkeit der Formgebung bzw. Formerfassung; so spricht Kant von der »Formlosigkeit« 25 des Objekts bzw. der Naturumgebung. Die Erfahrung des Erhabenen führt zu einer Niederlage der Sinne bzw. der sinnlichen Wahrnehmung. Diese Niederlage deutet Kant so, dass in der Wahrnehmung zwar eine Auffassung erfolgt (übrigens ist die Auffassung [apprehensio] keine mathematische Größenschätzung durch Zahlbegriffe, sondern eine unmittelbare ästhetische Auffassung einer bestimmten Größe als quantum in der Anschauung), aufgrund der schieren Größe jedoch die Zusammenfassung (comprehensio aesthetica) versagt. 26 Nach Kant ist es nun nicht das Scheitern der sinnlichen Wahrnehmung, das zum Gefühl des Erhabenen führt. Dennoch ist es auch nicht der Gegenstand, der erhaben ist. »Nichts also, was Gegenstand der Sinnen sein kann, ist […] erhaben zu nennen. Aber eben darum daß in unserer Einbildungskraft ein Bestreben zum Fortschritte ins Unendliche, in unserer Vernunft aber ein Anspruch auf absolute Totalität, als auf eine reelle Idee liegt: ist selbst jene Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt für diese Idee die Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns […].« 27

23 24 25 26 27

Vgl. ebd. § 25, B 85 / A 84, S. 171 f. Ebd. § 25, B 86 / A 85, S. 172. Ebd. § 24, B 79 / A 78, S. 168. Vgl. ebd. § 26, B 87 f. / A 86 f., S. 173 f. Ebd. § 25, B 85 f. / A 84 f., 172. [Hervorh. i. O.].

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

Wir nennen den Gegenstand zwar erhaben, eigentlich erhaben ist jedoch etwas, das angesichts dieses Scheiterns der sinnlichen Auffassung spürbar geschieht: eine »Erweiterung des Gemüths«. Denn angesichts schierer Größe das Unendliche (räumlich und zeitlich) als gegeben denken zu können – trotz der fehlgeschlagenen Wahrnehmung bzw. Auffassung – »dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert.« Und diese »Erweiterung des Gemüths« über die »Schranken der Sinnlichkeit« hinaus wird, so Kant, als »erhabene Gemüthsstimmung« spürbar. 28 Diese ist von praktischer bzw. von moralischer Relevanz, da es im Handeln gilt, die sinnlichen Schranken als Antriebe des Handelns zu überwinden. 29 Letztlich, und dies muss kritisch gesehen werden, ist das Erhabene bei Kant bestimmt als die Erfahrung, dass die Natur als »verschwindend« vorgestellt (oder aufgefasst) werden muss, wenn sie den Ideen der Vernunft (z. B. der Idee der Unendlichkeit) eine angemessene Darstellung verschaffen soll. 30 Die vom Subjekt erfahrene Unangemessenheit ist, so Kant, geradezu eine Form der Darstellung: Da die Ideen der Vernunft nicht dargestellt werden können, ist die einzig mögliche Form der Darstellbarkeit eben die Unangemessenheit, die im Gemüth erlebbar wird: »[…] denn das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lässt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.« 31

Kant spricht wörtlich von der »Bewegung« des Gemüts, was ein Hinweis auf ein leibräumliches Geschehen ist. 32 Daher ist das Er28

Alle Zitate: Kant: Kritik der Urteilskraft, § 26, B 92 f. / A 91 f., S. 177. Diese moralisch gebotene Überwindung wird nach Kant im Gefühl für das Erhabene eingeübt. Die Empfänglichkeit für das Erhabene in der Natur ist letztlich »Achtung für unsere eigene Bestimmung« als eine Erhebung über die sinnliche menschliche Natur. (Kant: Kritik der Urteilskraft, § 26, B 97 / A 96, S. 180). 30 Ebd. 31 Ebd. § 23, B 77 / A 76, S. 166. 32 Vgl. u. a. ebd. § 24, B 79 / A 78, S. 168. 29

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habene (übrigens wie das Schöne, jedoch in anderer Weise 33) nach Kant eine Art Selbstgefühl des Subjekts: Nur anlässlich der Umgebung wird dem Subjekt etwas fühlbar, das ›in‹ ihm vorgeht oder besser: an ihm sich vollzieht; eine Dissonanz der Kräfte: der Einbildungskraft und der Vernunft. Ein erhabenes Objekt führt nun nach Kant dennoch ein Wohlgefallen bei sich (obwohl kein Interesse des Subjekts am Objekt besteht und obwohl das Objekt formlos ist: »Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.« 34 Es handelt sich nach Kant aber nicht um ein Wohlgefallen am Objekt, sondern an der Erweiterung der Einbildungskraft: Das Subjekt nimmt eine Überschreitung von Grenzen 35 »in« sich selbst wahr. Das Wohlgefallen ist eben wegen des inneren Widerstreits zwischen der Erweiterung des Gemüts einerseits und der Niederlage der Sinne andererseits ein gemischtes. Es findet ein Umschlagen von Unlust in Lust statt bzw. beide treten als Momente zugleich auf. Wie oben angeführt, schlägt nach Kant angesichts des Erhabenen die Hemmung (der Lebenskräfte) in Enthemmung um; das Subjekt spürt ein Unlustgefühl, das jedoch in ein Lustgefühl übergeht bzw. von ihm begleitet wird. 36 Kant spricht an einigen Stellen auch von »negativer Lust« 37. Diese Charakterisierung ist typisch und wird von vielen anderen Autoren in ähnlicher Weise gegeben. Burke bestimmt die subjektive Wirkung 33

Entweder handelt es sich um ein Gefühl für die harmonische Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte des Subjekts (und der Natur), dann liegt das Gefühl des Schönen vor, oder es handelt sich um die gespürte Dissonanz der Erkenntniskräfte und eine Unangemessenheit der Natur gegenüber den Ideen der Vernunft – dann geht es um das Erhabene. 34 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 29, B 115 / A 114, S. 193. 35 Das fühlende Subjekt erfährt die Grenzen der eigenen (menschlichen) sinnlichen Natur gegenüber der umgebenden Natur aber auch die Grenzüberschreitung im Gemüt hin zu der Unbegrenztheit der Vernunft. Etymologisch vom sublimen herkommend bedeutet das Wort denn auch »bis unter die oberste Schwelle«. (Zum Letzteren. z. B. Pries: Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene, S. 12). 36 »Das Gefühl der Erhabenheit ist also ein Gefühl der Unlust […] und dabei eine zugleich erweckte Lust […].« (Kant: Kritik der Urteilskraft, § 27, B 97 / A 96, S. 180 f.). 37 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 23, B 76 / A 75, S. 165.

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

nicht als eine Bewegung oder ein Umschlagen, sondern als eine Mischung von Gefühlen, die er »delightful horror« nennt. 38 Auch bei Schiller findet sich eine ähnliche Charakteristik des Erhabenen; er spricht von der »Verbindung zweier widersprechender Empfindungen in einem einzigen Gefühl«: »Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als ein Schauer äußert, und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen kann und, ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinen Seelen aller Lust doch weit vorgezogen wird.« 39

Nach Kant resultiert eine spürbare Erhebung aus diesem Umschlagen von Unlust in Lust; wir sahen dies oben im Zusammenhang mit der Hemmung und Enthemmung der Lebenskräfte, aber Kant meint mit Erhebung insbesondere das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft: Wir erheben uns über die Sinnlichkeit, daher ist nach Kant eigentlich die »Gemüthsstimmung« erhaben zu nennen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das Erhabene Macht erfahrbar werden lässt. So schreibt Kant, dass die Natur »in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt, die Ideen des Erhabenen am meisten erregt.« 40 Wenngleich in diesem Zitat davon auszugehen ist, dass Größe und Macht genannt werden, weil sich dabei Größe auf das mathematisch Erhabene, Macht aber auf das dynamisch Erhabene bezieht (als Macht der Natur, die uns bedroht– vgl. hierzu explizit den § 28 »Von der Natur als einer Macht«), so möchte ich hervorheben, dass auch für das mathematisch Erhabene das Gefühl von Macht und Ohnmacht sowie ihr Umschlagen ineinander eine wichtige Rolle spielt. Und 38

»Another source of the sublime is infinity […]. Infinity has a tendency to fill the mind with that sort of delightful horror, which is the most genuine effect, and truest test of the sublime.« (Burke: A Philosophical Enquiry, in: ders., The Works, Vol. I, S. 148, unter: http://www.gutenberg.org/files/15043/15043-h/15043-h. htm). 39 Schiller: Über das Erhabene, in: ders., Werke, S. 610. [Hervorh. i. O.]. 40 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 23, B 78 / A 77, S. 167.

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zwar kann man hier auf Kants eigene Definition von Macht verweisen, die er in § 28 gibt: »Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist.« 41 Betrachtet man die Hindernisse nicht als »äußere«, d. h. als solche in der Natur, sondern als die gespürte Hemmung des Subjekts, so kann die Überwindung dieser Hemmung ebenfalls als Gefühl von Macht gedeutet werden bzw. als ein gespürtes Umschlagen von Ohnmacht in Macht – im subjektiv-spürbaren Sinne, also in ein erlebtes Machtgefühl. 42 Ich fasse zusammen: Die folgenden Charakteristika der Erfahrung des Erhabenen konnten wir bei Kant und einigen anderen Autoren seiner Zeit finden – und zwar sowohl für die Objekt- als auch für die Subjektseite: Die (versuchte) Auffassung einer absoluten, unvergleichbaren Größe wird begleitet von einem Versagen des sinnlichen Vermögens der Größenschätzung, das nicht nur als eine Niederlage der Sinne bzw. der sinnlichen Wahrnehmung erlebt wird, sondern geradezu als eine Überwältigung der Sinne. Dies wird spürbar als Ohnmacht (vgl. bei Schiller: »das peinliche Gefühl unserer Grenzen«). Gespürt wird jedoch mehr als nur das Versagen der sinnlichen Wahrnehmung, diese scheint nur ein Anlass für eine weitere Bewegung des Gemüts zu sein: Die nachfolgende Enthemmung (der »Lebenskräfte«), die erlebte Ohnmacht wird aufgehoben. Diese Bewegung im Gemüt wird spürbar und 41

Ebd. § 28, B 102 / A 101, S. 184. Ich greife hierbei die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Macht auf, die Schmitz gibt (vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib (= System der Philosophie, Bd. II, 1), Bonn 2005, S. 359 ff.): Während objektive Macht »tatsächliche Verfügungsgewalt« bezeichnet, meint subjektive Macht das erlebte Gefühl von Macht. Die beiden müssen nicht zusammengehen, und für die vorliegende Untersuchung ist es sinnvoll, diese Machtaspekte zu trennen. So kann jemand durchaus Verfügungsgewalt über Menschen und Dinge haben, ohne sie auch spürbar zu erleben. Der Unterschied lässt sich illustrieren, indem man sich einen Befehlshaber beim Militär vorstellt, der weiß, dass eine große Menge von Menschen auf Leben und Tod von ihm abhängt und auf sein Kommando hin geschlossen agiert, und den das gar nicht berührt oder der sich dessen als einer Verantwortung und Last bewusst ist – und dann den Vergleich zieht zu demselben Befehlshaber, wie er an einer Menge stramm stehender Soldaten, die in Erwartung seines Kommandos bereitstehen, vorbeireitet und sein Machtgefühl dabei genießt. Der erstere hat objektive Macht, der letztere auch subjektive. 42

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Kant charakterisiert sie als Erweiterung, auch als Erhebung über die Sinne bzw. die Sinnlichkeit. Erhabenheit ist somit nicht eine objektive Eigenschaft des Gegenstandes bzw. einer Umgebung, sondern ein Kennzeichen des Subjekts und seines gefühlsmäßigen Zustandes, das Erhabene ist subjektiv, die »Gemüthsstimmung« des Subjekts ist eigentlich erhaben zu nennen. Beim Erhabenen handelt es sich um ein Selbstgefühl des Subjekts, das Grenzen in sich selbst überschreitet, ein Wechselspiel von Begrenztsein und Entgrenzung 43 spürbar durchlebt. Dieses scheint – in einer noch aufzuklärenden Weise – räumlichen Charakter zu haben, da es durch räumliche Termini (wie Grenze, Bewegung, Erweiterung, Erhebung) beschrieben wird. Die erhabene Gemütsstimmung ist ein Gemisch von Unlust und Lust oder von Wehsein und Frohsein (wie Schiller es formuliert) bzw. eine Abfolge dieser Gefühlsmomente. In anderen Quellen werden nur negative Gefühle wie Schrecken, Angst, Schau(d)er genannt, die jedoch genossen werden können. Hervorstechend am mathematisch Erhabenen ist, so lässt sich bereits jetzt sehen, dass es eine besondere Raumerfahrung ist, die ihm zugrundeliegt und die nicht so sehr ein (ästhetisches) Objekt oder einen Ort und seine spezifische Räumlichkeit allein, als vielmehr etwas zwischen dem Objekt und dem fühlenden Subjekt erfahrbar macht; nämlich so etwas wie die Wahrnehmbarkeit einer Grenze, eines Entzugs, eines Scheiterns. Zugleich geschieht etwas mit dem fühlenden Subjekt, das in räumlichen Termini der Entgrenzung und Erweiterung formuliert wird. Um diese Charakteristika ästhetischer Erfahrung aufzuklären, bedarf es als Ausgangspunkt einer leibphänomenologischen und einer raumtheoretischen Untersuchung, da es gilt, die Kommunikation mit dem erhabenen Objekt bzw. der Umgebung und das leibliche Geschehen im Zusammenhang zu begreifen. Daher werde ich im Folgenden ausgehend von Schmitz’ Konzept des leiblichen Raumes das mathematisch Erhabene aufzuklären suchen. Ich sehe mir zunächst sein Leibkonzept und seine darauf basierende Theorie des Raumes an,

43

Zu Begrenzung und Entgrenzung vgl. auch Annika Schlitte in diesem Band.

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um zu klären, was bei der Wahrnehmung von erhabenen Objekten bzw. Umgebungen leiblich geschieht. 4.

Der Raum im Ausgang vom Leib

Der Raum als Form der Äußerlichkeit, als ein Außereinander und Nebeneinander von Gegenständen einerseits und als ein Äußerlich-Sein der Gegenstände uns als wahrnehmenden Subjekten gegenüber andererseits ist erkenntnistheoretisch eine Grundannahme, die zu Schwierigkeiten führt, mit welchen sich die Phänomenologie in zentraler Weise beschäftigt. Phänomenologische Leibkonzepte sind u. a. der Versuch, die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt (oder von Subjekt und Subjekt(en)) und damit immer zumindest auch implizit deren Form der Räumlichkeit zu überdenken. 44 Phänomenologische Ansätze wie die von Hermann Schmitz oder von Maurice Merleau-Ponty antworten auf diese Grundschwierigkeit, indem sie Leiblich-sein und Räumlich-sein zusammendenken. Denn Raum wahrnehmen – bzw. räumlich wahrnehmen – vollzieht sich nicht als ein Bezugnehmen eines außerräumlichen (rein geistigen) Subjekts auf Dinge im Raum, vielmehr sind wir als leibliche Subjekte raumbildend, in dem Sinne, dass die Leiblichkeit des Raumes – mit Schmitz formuliert – »strukturell [ist], d. h. seine Strukturen entsprechen den leiblichen oder ergeben sich gar aus diesen.« 45 Unsere alltägliche Raumauffassung jedoch ist orientiert am Sehen fester Körper im zentralen Gesichtsfeld. 46 Die Dinge erscheinen uns in diesem Modus als ausgedehnte Körper, die einen bemessbaren Raum einnehmen und in Abständen und Lagen zu44

Vgl. Schmitz, Hermann: Der leibliche Raum (= System der Philosophie, Bd. III, 1), Bonn 2005, Vorrede: S. XIII-XIX. – Vgl. dazu auch Andermann, Kerstin: Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis, in: Emmanuel Alloa u. a. (Hg.), Leiblichkeit, Tübingen 2012, S. 130– 145 (besonders S. 131 ff.) oder Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin u. a. 1966, Zweiter Teil, II.: Der Raum, S. 284 ff. 45 Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 278. 46 Ebd. S. 279.

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einander stehen bzw. sich zueinander bewegen. Der Raum ist dabei das vermessbare sowie neutrale Drumherum (potentiell unendlich), das ausgefüllt werden oder leer bleiben kann. Diese Raumauffassung eines (geo-)metrischen oder »objektiven« Raumes, die wir für selbstverständlich halten könnten, ist jedoch verankert in grundlegenderen leiblichen Raumformen, von denen aus sie sich ontogenetisch entwickelt und die sie weiterführt. Die »objektive« Raumauffassung hat also eine nur partielle Realität in unseren Erfahrungen. Sie ist die hochstufigste und – in nichtphänomenologischen Termini gesprochen – »kognitivste« Raumform, aber nicht die einzige – und nicht einmal die beharrlichste. Als hochstufigste ist sie in einem gewissen Sinne eine labile Raumform, die grundlegenderen (und leibnäheren) Weisen des Raumes bringen sich öfter gegen sie zur Geltung und begleiten sie oft unauffällig. Im Folgenden soll aus leibphänomenologischer Perspektive plausibel aufgezeigt werden, dass 1. leiblich sein heißt, (selbst) in einer bestimmten Weise räumlich zu sein (4.1 und 4.2) und 2. mit der Umgebung von vorneherein in leiblicher Kommunikation verschränkt zu sein (4.3). 4.1

Leib als gespürtes Räumlichsein

Ausgehend von Deskriptionen alltäglicher Erfahrung entwickelt Hermann Schmitz ein Leibkonzept als Selbstgegebenheit im Spüren. Er unterscheidet dabei Leib und Körper. Der Leib ist uns stets im Spüren gegenwärtig, er ist das, was wir an uns selbst in Form von einzelnen Leibesinseln spüren (wie beispielsweise die Fußsohlen im Stehen, die Brust- und Bauchgegend beim Atmen, eine juckende Stelle mit ihrer Ausbreitung nach einem Insektenstich), die von einem Gesamtbefinden mehr oder weniger stark zusammengehalten werden. 47 Das Spüren hat dabei einen volumenhaften Charakter, wobei gespürtes Volumen nichts mit messbarem bzw. teilbarem Volumen zu tun hat. Es ist von der Art einer ver47

Vgl. z. B. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 120.

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fließenden und unterschiedlich dichten Ausbreitung; Schmitz vergleicht diese Art des Volumens z. B. mit dem akustischen Volumen der Stille oder mit der Wetterwahrnehmung (man denke etwa an die Ausdehnung eines schwülen Klimas). Die Ausdehnung ist dabei nicht stetig; das Spüren fokussiert einzelne Leibesinseln, die sich immer wieder umbilden, sodass den Leib ein Gewoge 48 von sich verändernden Leibesinseln bildet, die dichter oder dünner – ohne stetigen Zusammenhang – verteilt sind. 49 Leiblichsein und Räumlichsein sind also über das Spüren verschränkt, mehr noch, Leiblichsein hat primär den Sinn von (gespürtem) Räumlichsein. Schmitz bestimmt dabei den gespürten Leib gerade im Absehen von der einzelsinnlichen Selbstwahrnehmung – also von der Art, wie wir uns selbst mit den Augen wahrnehmen oder mit der Hand betasten können –, welche uns wiederum eine Auffassung unserer selbst als (umgrenzter materieller) Körper liefert. In der alltäglichen Erfahrung sind jedoch fast immer beide Aspekte verschränkt gegeben 50: Unser leibliches Spüren und unsere Wahrnehmung unserer selbst als Körper sind verschränkt. Schmitz spricht in diesem Fall vom körperlichen Leib. 4.2

Enge und Weite – die leibliche Dynamik und ihre Verlaufsformen

Das eigenleibliche Spüren ist seiner Struktur nach durch Enge oder Weite geprägt: als leiblich spürbare Enge (extrem erfahrbar in Angst- und Schreckerfahrungen) oder als leibliche Weite (extreme Formen sind hier z. B. das entspannte Dösen in der Sonne oder die Tiefenentspannung im autogenen Training, die auf ein leibliches Schwer- und Weitwerden abzielt, oder das Einschlafen). Das eigenleibliche Spüren ist dabei seiner Struktur nach dyna48

Ebd. S. 119. Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib (= Grundthemen Philosophie), Berlin/Boston 2011, S. 8. 50 Vgl. hierzu Andermann: Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis, in: Alloa u. a. (Hg.), Leiblichkeit, S. 132 f. 49

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misch; Enge und Weite sind Momente einer Bewegung 51 und als die Tendenzen »Engung« und »Weitung« 52 aneinandergebunden, sie sind als Momente nicht ganz voneinander zu lösen und strukturieren jede leibliche Selbstgegebenheit: vom Atmen über den Blick, die Geste und das Greifen, die Körperhaltung bis hin zu gesammelter Aufmerksamkeit. Enge und Weite »bilden die Hauptdimensionen spürbarer Leiblichkeit« 53 – und dies bedeutet, dass das Spüren selbst schon räumlich strukturiert ist, nach Enge- und Weitemomenten. Das Wechselspiel von Engung und Weitung ist dabei ein konkurrierendes; Schmitz nennt es – je nach Kontext – leibliche Dynamik, vitalen Antrieb oder auch leibliche Ökonomie. 54 Durch ihre Entgegensetzung sind die beiden Momente ineinander verstrickt. Im Verhältnis zueinander bezeichnet Schmitz sie dann als Spannung und Schwellung: Die Engung ist Spannung, insofern sie sich gegen die Weitung behauptet (sich dieser entzieht) und die Weitung ist Schwellung, insofern sie sich gegen die Engung dynamisch staut und gegen sie andrängt. 55 Wichtig für die vorliegende Untersuchung ist eine weitere Verlaufsform von Enge und Weite. Neben dem soeben genannten »primären Verhältnis« von Enge und Weite als antagonistische Verstrickung gibt es das »sekundäre«, bei dem Enge und Weite sich »teilweise voneinander lösen, sich entzweien«. 56 Je nach Übergewicht des einen oder anderen Moments handelt es sich um privative Weitung – z. B. »im Augenblick der Erleichterung, wenn […] ein beengender Druck […] ruckartig verschwindet […]; als privative Engung im peinlichen oder freudigen Erschrecken.« 57 Dabei kommt es zu einer Entflechtung der Momente, zumindest zeitweise, denn ein Zerreißen des Verbandes von Engung und 51

Vgl. z. B. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 122 f. »Engung ist Übergang des leiblichen Befindens auf reine Enge zu, Weitung Übergang […] auf reine Weite zu.« (Schmitz: Der Leib (= System, II, 1), S. 75). 53 Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 277 f. 54 Vgl. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen Philosophie), S. 15. 55 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 123. 56 Vgl. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen Philosophie), S. 18. 57 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 123. 52

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Weitung würde zu Bewusstlosigkeit führen (was in extremen Schreckerlebnissen durchaus vorkommt) 58. Bei privativer Engung »hakt« sozusagen die Engung aus dem Zusammenhang mit Weitung aus und wird fixiert oder zumindest für eine Zeit isoliert erfahren. Ein Beispiel hierfür ist die Weiteangst, die im Folgenden genauer ausgeführt werden wird. Privative Weitung tritt, und dies wird in unserem Zusammenhang von Bedeutung sein, auch auf als Reaktion auf eine forcierte Engung bzw. Spannung: »Eine starke Verschiebung der Gewichte im vitalen Antrieb zur Engung hin, ein entscheidendes Übergewicht der Spannung kann das Band beider Komponenten so sehr überdehnen, dass es reißt und privative Weitung freiwerden lässt.« 59 Dabei wird privative Weitung häufig als beglückend erlebt. Das beglückende Moment bleibt als Befreiungserleben auf die Enge bezogen, von der sich die Weite übermäßig losmacht. Die eben skizzierte leibliche »Grammatik« soll im Folgenden einen Schlüssel zum Erleben des mathematisch Erhabenen liefern. Es deuten sich hier schon Zusammenhänge an: Die privative Weitung deutet sich als enthemmendes oder erhebendes Gefühl an und das vorangehende Gefühl der Hemmung und eigenen Kleinheit angesichts schierer Größe als privative Engung. Zunächst ist es jedoch nötig, die Funktionsweise der leiblichen Interaktion mit der Umgebung sowie die Raumschichtung zu verstehen, um im Anschluss daran das mathematisch Erhabene als leibliche Erfahrung vollständig deuten zu können. 4.3

Die Verschränkung von eigenleiblicher Räumlichkeit mit der Umgebung

Der Leib ist nicht nur durch das Spüren von prädimensionalen Volumina in Form von gespürten Leibesinseln räumlich, sondern auch durch seine Verklammerung mit der Umgebung. Leibliches Befinden ist nach Schmitz nicht nur durch das Sich-Spüren de58 59

Vgl. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen Philosophie), S. 15. Ebd. S. 19.

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finiert, sonder immer auch durch das Mitgehen mit den Umgebungsgestaltungen. Der Leib hat also nicht nur eine an sich selbst spürbare Räumlichkeit, die über das, was als »Körper« gefasst wird, hinausgeht, sondern seine Räumlichkeit greift immer schon in die Umgebung »hinaus«, sie ist nicht ohne dieses Ausgreifen zu verstehen. 60 Ich hatte bereits erläutert, wie unser Befinden am eigenen Leib räumlich-strukturell spürbar wird. Aber auch die Wahrnehmung von Menschen, Dingen, Umgebungen bzw. Umgebungsgestaltungen kommuniziert sich uns (u. a.) in diesen grundlegenden leiblichen Dimensionen von Enge und Weite. Ein enges und steiles Treppenhaus oder eine breite Allee ›machen‹ etwas mit unserem leiblichen Befinden. Ein leuchtendblauer unbewölkter Sommerhimmel oder ein weiter Strand lässt uns aufatmen, ein nebliger Regentag begünstigt eine niedergedrückte Stimmungslage, ein enges Felsental lässt uns beengt fühlen. 61 Unser leibliches Befinden ist durch die Umgebung, in der wir uns aufhalten, mitgeformt. Wir interagieren oder kommunizieren leiblich unausgesetzt mit unserer Umwelt 62– und gewinnen uns dieser Interaktion stets aufs Neue ab. Die Grundlage für die Interaktion oder »leibliche Kommunikation« mit Dingen und Umgebungen ist die leibliche Dynamik von Engung und Weitung: Der vitale Antrieb kann, eben weil er dynamisch ist, den einzelnen Leib übergreifende Einheiten bil60

»Leiblichkeit ist durch die ihr innewohnende Dynamik in übergreifende Zusammenhänge eingeschlossen und erweist sich als ein Resonanzfeld mit permanent übergreifendem Bezug auf die Umgebung.« (Andermann: Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis, in: Alloa u. a. (Hg.), Leiblichkeit, S. 138). 61 Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass durch individuelle Biografien natürlich auch andersartige Zuordnungen entstehen können: Weite Strandlandschaften können Einzelne auch langweilen oder ängstigen, da sie z. B. an eine öde Kindheit in der Provinz gemahnen. 62 Dies gilt natürlich genauso für die menschliche Mitwelt, auf die wir stets auch leiblich bezogen sind. Der Aspekt der leiblichen Intersubjektivität kann hier jedoch nicht eigens thematisiert werden. Im Folgenden soll es ausschließlich um leibliche Kommunikation mit Objekten oder Umgebungen bzw. Umgebungsgestaltungen gehen.

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den, mit anderen Leibern, aber auch mit Leblosem. 63 Dabei bilden sich den einzelnen Leib übergreifende Einheiten im Kanal des vitalen Antriebs. Das geschieht beispielsweise beim Blicktausch: »Der Blick des anderen trifft mich engend, ich werfe weitend den meinen zurück, der den anderen engt, und so spielt sich, namentlich bei Wiederholung, die Verschränkung von Engung und Weitung ein, die der vitale Antrieb ist.« 64 Bei der leiblichen Kommunikation unterscheidet Schmitz die Einleibung 65 und die Ausleibung. Einleibung gelingt – und das ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung – nicht nur mit anderen Leibern (wie oben am Beispiel des Blicks), sondern auch mit Leblosem, z. B. mit einem Stein, dem es auszuweichen gilt. Aber auch in Ruhe, wenn wir uns und die Dinge um uns sich nicht bewegen, vollzieht sich leibliche Kommunikation in der Wahrnehmung, und zwar durch leibnahe Brückenqualitäten. 66 Ausleibung ist das Gegenstück zur Einleibung. »Ausleibung ist leibliche Kommunikation mit maßloser Weite.« 67 In der Regel ist dies ein 63

Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 136. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen der Philosophie), S. 31. 65 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann ich auf weitere Unterscheidungen wie antagonistische (einseitige und wechselseitige) Einleibung und solidarische Einleibung, interne und externe Einleibung, nicht eigens eingehen. Vgl. hierzu z. B. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen der Philosophie), S. 29–53 und Landweer, Hilge: Choreographies With and Without a Choreographer. Intuitive and Intentional Corporeal Interactions, in: Gabriele Brandstetter/Gerko Egert/Sabine Zubarik (Hg.), Touching and to Be Touched. Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement, Berlin/New York 2013, S. 131–159. 66 Diese werden sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an jenen Dingen oder Umgebungsgestaltungen wahrgenommen. Unsere (dingliche) Umgebung weist beispielsweise Gestaltverläufe (Formmerkmale) auf, die leibähnlich sind. Diese sind das »tertium comparationis«, der gemeinsame Zug zwischen Leib und Wahrgenommenem, sie wirken als Bewegungssuggestionen, als Vorzeichnungen von Bewegungen, an Gestalten und Formen an bewegten aber auch an ruhenden Gegenständen auf den vitalen Antrieb ein, z. B. in der Art, dass wir uns an tiefen Abgründen, z. B. in den Bergen, in die Tiefe gezogen fühlen. Die Bewegungssuggestionen werden dabei in das motorische Körperschema übernommen. (Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib im Spiegel der Kunst (= System der Philosophie, Bd. II, 2), Bonn 2005, S. 37). 67 Schmitz: Der Leib (= Grundthemen der Philosophie), S. 50. 64

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»Zustand des Versinkens und der Versunkenheit« 68 in die Weite, also privative Weitung. Die Enge des Leibes löst sich in die Weite auf, die leibliche Spannung lässt nach. Wir werden jedoch sehen, dass maßlose, ungegliederte Weite auch zu privativer Engung führen kann und zwar in Fällen, wo der leibliche Richtungsraum brüchig wird. 4.4

Die drei »Weisen des Raumes«

Im Folgenden versuche ich zu zeigen, was mit der leiblichen Raumschichtung bei leiblicher Kommunikation (dazu gehört Wahrnehmung) geschieht bzw. geschehen kann. Dazu skizziere ich zunächst die Schichtung leiblicher Räumlichkeit nach Schmitz. Der Weiteraum. Leibliches Weitwerden ist uns im eigenleiblichen Spüren gegeben, wie z. B. beim Ausatmen, das aus der Enge in die Weite geht, beim Schweifen des Blicks in die Ferne oder in Form einer stolzen oder einladenden Geste. Diese Selbstwahrnehmung eines leiblich gespürten Verströmens in die Weite oder eines Weitwerdens liefert Beispiele für die Grundschicht der Räumlichkeit, den Weiteraum. Hierbei ist von zentraler Bedeutung, dass es sich um eine nicht (durch Abstände und Lagen) messbare Weite handelt, sondern um eine vormetrische Weiteerfahrung, bei der es keinen Unterschied zwischen einem Hier und einem Dort gibt. Diese unterste und grundlegendste Raumform hat die geringste Gliederung, die nur in der Abhebung des eigenen Leibes als eines absoluten Ortes von der Weite gegeben ist. 69 Ein sehr anschauliches Beispiel für das Erfahren des Weiteraums sind »die optischen Ganzfelder, etwa der strahlend blaue Himmel, wenn man lange liegend zu ihm aufblickt und dabei keine Richtungsbahn oder sonstige Gliederung sich abzeichnet. ›Man hat schließlich den 68

Ebd. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 280: »Der Weiteraum besteht in Weite, sofern in dieser ein absoluter Ort […] als Hier der primitiven Gegenwart sich abhebt.«

69

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Eindruck, als ob man sich selbst in einem mit Worten nicht charakterisierbaren Medium befände, wo der Begriff der Entfernung sozusagen gänzlich fehlt und wo man auch über die Art der Ausdehnung kaum etwas sagen kann. Evident ist, daß sich dieses Medium außer uns befindet, und mit uns nicht zusammenfließt […].‹« 70

An diesem Beispiel wird deutlich, dass im reinen Weiteraum eine Unterscheidung von selbst und Weite zwar gegeben ist, aber ohne »Ortung« bzw. ohne Richtung – die Weite wird nur als umgebendes Medium erfahren. Dabei spürt man diese Weite als etwas, in das man partiell verströmt (trotz der Abhebung der Weite vom eigenen Leib), sie wird am Leib wahrgenommen als ein Weitwerden – deshalb wird, wie Schmitz anführt, diese Versunkenheit in den blauen Himmel von den Lama-Mönchen als eine religiöse Übung gepflegt: eine »Einübung in ein ›Gefühl unbeschreiblicher Verbundenheit mit dem Weltall‹« 71. Diesen Punkt, das leibliche Verströmen in die Weite trotz des Abhebungsverhältnisses, gilt es festzuhalten. Die Weiteangst (der horror vacui), um die es im Folgenden gehen wird, ähnelt der hier angeführten Versunkenheit bis auf einen wichtigen Unterschied: Beim horror vacui sind die Betroffenen nämlich, wie wir später sehen werden, von der Weite abgeschnitten und erfahren Weite dadurch als beängstigende und bedrängende Maßlosigkeit. Der Richtungsraum und die leibliche Ganzheit. Der (leibliche) Weiteraum ist eine unstrukturierte und ›primitive‹ Raumform. Sie spielt in unserem Befinden zwar eine wichtige Rolle, mit einer solchen Raumform allein wäre aber die menschliche (und tierische) Leiblichkeit in keiner Weise funktionsfähig. Das volle Leiblichsein entfaltet sich mit dem Richtungsraum, der nächsthöheren Raumform: Der Weiteraum erweitert sich, indem er durch Richtungen strukturiert wird, die vom Leib als dem absoluten Ort (gespürt als Enge) ausgehen und in die Weite führen. Der Richtungsraum ist dabei zentriert; der absolute Ort des Leibes ist das gespürte 70

Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 280 (Schmitz zitier hier Géza Révézs: Die Formwelt des Tastsinns, Band I, Den Haag 1938, S. 92). 71 Vgl. z. B. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 281.

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(und wahrgenommene) Zentrum, von dem aus die unumkehrbaren Richtungen aus der leiblichen Enge in die Weite führen; sie bleiben jedoch meist unauffällig 72. Durch leibliche Richtungen werden Enge und Weite vermittelt, aneinandergebunden, und machen so schlussendlich die leibliche Ganzheit aus. Dabei hat nur die Weitung eine Richtung, Engung nicht. Engung, wie wir sie z. B. in Angst und Schmerz oder bei Schreck erfahren, ist »vereitelte Abkehr« von einer Weitung, also der gehemmte weitende Impuls: »Die Engung widerfährt […] als Hemmung einer Richtung, nicht selbst als Richtung.« 73 Das bedeutet, dass jede Engung etwas Hemmendes hat. Durchweg ist Leiblichsein bestimmt durch ein Richtung-nehmen; dabei sind leibliche Richtungen die Art und Weise, wie leibliche Enge und Weite ineinander übergehen. »In diesem [dem zentrierten Richtungsraum; N. T.] vermitteln leibliche Richtungen wie der Blick oder die motorischen [Richtungen; N. T.] des Greifens, Schreitens, Fallens und der Gebärden zwischen dem absoluten Ganzort des Leibes […] und der Weite, indem sie unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen und diese in Gegenden gliedern. Sie [die Richtungen; N. T.] brauchen nicht gerade zu sein.« 74

Leiblichsein ist aber auch ein Richtung-erfahren: Der Richtungsraum ermöglicht schlussendlich auch die leibliche Kommunikation (Einleibung), um die es im vorangehenden Abschnitt ging, mit Menschen, Tieren, Dingen oder Umgebungsgestaltungen – wie z. B. beim Aufeinander-Zugehen, beim Nacheinander-Greifen, beim Ausweichen, beim Blicktausch oder in der bloßen Wahrnehmung. Auch Lebloses kann eine richtungsmäßige Initiative ausüben. 75 Die Binnenstrukturierung des leiblichen Raumes geht noch weiter: Die dritte und letzte Raumform – oder »Weise des leiblichen Raumes«, der »relative Ortsraum« bildet sich, aufbauend 72 73 74 75

Schmitz: Der Leib (= System, II, 1), S. 111. Ebd. S. 99. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 282. Vgl. z. B. Schmitz: Der Leib (= Grundthemen der Philosophie), S. 39.

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auf dem Richtungsraum, aus. Er entspricht dem, was wir im Alltag als objektiven Raum für die einzige Raumform zu halten geneigt sind. 76 Der Ortsraum ist ein Raum der Flächen, klaren Begrenzungen, der Messbarkeit und Positionierbarkeit, der relative Punkte – wie in einem Koordinatensystem – während der leibliche Richtungsraum verschwimmender ist: In ihm herrschen ungerade Richtungen und Gegenden vor. Schmitz weist dabei eine Schichtung leiblicher Raumformen auf. Die Schichten der Räumlichkeit stehen dabei in einem einseitigen Aufbauzusammenhang, also in einem Fundierungszusammenhang. Die unterste Schicht und Grundlage für die anderen Raumformen ist der Weiteraum: Schmitz spricht davon, dass in den Weiteraum der Richtungsraum »eingetragen« wird. 77 – Hierbei ist wichtig zu sehen, dass es sich nicht um eine additive Schichtung handelt, sondern um eine Umstrukturierung, genau das betont Schmitz’ Formulierung »eingetragenen«: Durch Richtungen wird der (leibliche) Weiteraum umgebildet, der Richtungsraum kommt nicht irgendwie äußerlich dazu. In dieser Weise vollzieht sich auch die nächsthöhere Umstrukturierung des leiblichen Raumes zum Ortsraum. 4.5

Die Einheit des Leibes als Grausamkeit und der Zerfall leiblicher Ganzheit in der Angst

Die Erfahrung des Erhabenen ist eine zunächst negative gefühlsmäßige Erfahrung. Im Abschnitt zu den Charakteristika des Erhabenen sahen wir, dass u. a. Gefühle wie Schau(d)er, Angst, Schrecken, Schmerz zu ihrer Beschreibung herangezogen werden oder Adjektive wie »peinlich« (ein altes Wort für »schmerzhaft«) 76

Dies rührt daher, dass der Ortsraum – das kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eigens entwickelt werden – ein Raum für die Person (im Sinne personaler Emanzipation) ist. Zugleich täuscht er als leibfremder Raum die Person darüber hinweg, dass sie auch noch in den leibnahnen Raumformen ›unterwegs ist‹, und zwar täuscht er insofern, als er leibfremd ist, und das meint: die Person von ihrem Leib entfremdend. 77 Vgl. z. B. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 279.

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verwendet werden. – Auf der Grundlage der Leibphänomenologie von Schmitz will ich in den folgenden Abschnitten zeigen, dass die Erfahrung des Erhabenen eine im Leib latente Angst zutage treten lässt. Ich habe bereits erwähnt, dass die leibliche Einheit ein Zusammenhalten der gespürten Leibesinseln ist. Dieser Punkt soll nun genauer ausgeführt werden. Die Einheit des Leibes besteht in der Enge, welche die unstetig verteilten Leibesinseln zusammenhält und sich räumlich als absoluter Ort herausschält (unteilbar über den gesamten Leib ausgedehnt im Spüren) und von der Weite abhebt. Erst die Enge des Leibes verbindet die zerstreuten Leibesinseln »zu einem Leib, der als derselbe überall betroffen ist, wo etwas auf einer Leibesinsel geschieht.« 78 Enge ist also nicht nur der Gegenspieler der Weite im vitalen Antrieb, sondern der Ankerpunkt leiblicher Einheit und Ganzheit. Es gibt eine Grundspannung (im Sinne von Grundengung oder Grundhemmung), welche die Leibesinseln zusammenhält. So schreibt Schmitz, »daß die in unteilbarer (definitiver) Ausdehnung dem absoluten Ort des körperlichen Leibes im Ganzen zugehörige Spannung die Einheit des Leibes aufrecht erhält und bezeugt.« 79 Die Spannung wirkt dabei der Weitungstendenz des Leibes entgegen. Da die Tendenzen antagonistisch gegeneinander wirken, gibt es ein labiles und stets herzustellendes Gleichgewicht zwischen (drohendem) leiblichem Zerfall 80 in Weitungstendenzen und der Gefahr des ›Versackens‹ in leiblicher Enge bei zu starker Engung (wie in Angst und Schreckerfahrungen). Beide Extreme sind Erfahrungen des Zerfalls leiblicher Ganzheit. Dabei ist das Zusammenhalten der Leibesinseln durch die Spannung beharrlich, an stete leibliche Selbst-Kontrolle gebunden, und die Enge bleibt dabei immer noch im »Verband« mit der Weite als eine rhythmische Tendenz gegen die Weitung bestehen, wohingegen plötzliche Schreckerfahrungen und Ähnliches sich davon unterscheiden: Hierbei kommt es zu einer so heftigen 78 79 80

Schmitz: Der Leib (= System, II, 1), S. 325 f. [Hervorh. i. O.]. Ebd. S. 93. Vgl. ebd. S. 25.

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Engung, dass der Zusammenhang bzw. das Zusammenspiel mit der Weitung aufbricht und die Betroffenen in der Enge gleichsam »feststecken«. Schmitz fasst es so, dass dabei die Engung aus dem rhythmischen Verband mit der Weitung aushakt. Das rhythmische Zusammenspiel von Engung und Weitung kann also nach beiden Seiten hin aufbrechen, in plötzliche Engung, die von der Weitungstendenz losgekoppelt ist (d. i. die sog. »privative Engung«), und in plötzliche Weitung, die sich vom Zusammenhang mit der Engungstendenz loslöst (d. i. die sog. »privative Weitung«). Der Zusammenhang von Enge und Weite, bzw. ihre Verstrickung, bildet sich, wie wir sahen, durch leibliche Richtungen. Bei extremer privativer Engung, wie im Schreck, ist es deshalb auch so, dass die leiblichen Richtungen in Mitleidenschaft gezogen werden können: »Die Zerstörung des Verbandes von Engung und Weitung hebt beim Schreck auch die zwischen Enge und Weite vermittelnde Richtung auf. Die dadurch auftretende Richtungslosigkeit zeigt sich entweder als Stupor (Schreckstarre) oder durch ungerichtete, fahrige Bewegungen.« 81 Die Einheit des Leibes gründet damit in einer Wendung gegen sich selbst: »Aus dieser Einheitsform des Leibes ergibt sich, daß dieser bloß durch ein Widerstreben gegen seine eigene Tendenz entfaltender Weitung ein einheitliches Individuum ist.« 82 Und Schmitz bemerkt höchst aufschlussreich, dass diese Einheit des Leibes im partiellen Widerstand gegen sich selbst grausam ist. Grausamkeit ist dabei bestimmt als die Unterdrückung eines (natürlichen) Strebens, »dem keine Gelegenheit zum Ausweichen gelassen wird« 83. »Deswegen muss die Einheit des Leibes grausam sein: sie beruht auf der Unterdrückung des Strebens, das ihn in die Weite und Fülle hinein entfaltet. Diese Unterdrückung pflegt nicht vollständig zu sein; das ist aber auch nicht zur Grausamkeit erforderlich, sondern nur dies, daß dem unterdrückten Streben keine Gelegenheit zum Auswei81 82 83

Ebd. S. 177. Ebd. S. 326. Ebd. S. 325.

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

chen gelassen wird. Dieser Fall liegt vor, solange Engung und Weitung […] aneinander geschmiedet sind«. 84

Die Grausamkeit gehört demnach »notwendig zum einheitlichen Zusammenhalten des Leibes« 85, sie ist »elementar«: »Es ist die elementare Grausamkeit dem eigenen Leib gegenüber, die Bändigung seiner Weitung durch seine Engung, wodurch die Einheit des Leibes erst ermöglicht wird.« 86 Damit ist jedoch Angst vorgezeichnet: Wird nämlich das Umschlagen der Engung in Weitung zu stark gehemmt, entsteht Angst. »Angst und Schmerz sind […] immer mit Grausamkeit verbunden; der Impuls »Weg!« ist das Streben, das bei Angst und Schmerz ohne Gelegenheit zum Ausweichen unterdrückt wird.« 87 Für den vorliegenden Zusammenhang möchte ich festhalten, dass mit der Einheit des Leibes, die aus einem Festhalten an der Engung resultiert, eine Wendung des Leibes gegen sich selbst (genauer: gegen eines seiner Momente, nämlich die Weitung) gegeben ist. Durch das stete Streben gegen die Weitungstendenz kommt es zu einer leiblichen Grausamkeit, die in der Unterdrückung der Weitung gründet und damit dem leiblichen Zerfall in Weitung entgegenwirkt. Eine zu starke Engung jedoch, die als privative Engung partiell von der Weitung losgekoppelt ist, wird als Angst erlebt – weil die Enge zugleich das Moment hat, von sich selbst loszukommen, sie ist an ein »Weg-Streben« gebunden. Wird dieses zu stark unterdrückt, entsteht Angst. Hierbei zerfällt die leibliche Ganzheit in entgegengesetzter Richtung (privative Engung). Der starke Antagonismus der leiblichen Tendenzen 88 macht die leibliche Einheit nicht nur ›in sich‹ labil, sondern ist dafür verantwortlich, dass schon durch leichte Einwirkung von der Umge84

Ebd. S. 326. Ebd. S. 325. 86 Ebd. S. 328. 87 Ebd. 88 »Der Leib ist also einer und einer nur, indem er sich gegen seine inselbildende Weitung engt, und er ist weit nur, indem solche Weitung gegen das Band seiner Enge anschwillt oder sich privativ davon abhebt.« (Ebd. S. 326) [Hervorh. i. O.]. 85

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bung die eine oder andere Tendenz zur dominierenden werden kann. 89 Das ist von zentraler Bedeutung für die leibliche Interaktion mit der Umgebung. Die leibliche Kommunikation mit dem Raum wirkt stets auf die leibliche Dynamik von Enge und Weite ein; privative Engung oder Weitung können infolge leiblicher Kommunikation auftreten. 5.

Primitivierung des Raumes beim horror vacui

Es ist nun wichtig zu sehen, dass die »Weisen des leiblichen Raumes«, die Schmitz auch als Raumschichten bezeichnet, nicht in einem stabilen Fundierungsverhältnis stehen. Denn obwohl sie eine entwicklungsgeschichtliche Abfolge darstellen, die Kinder im Heranwachsen durchlaufen, wird sich zeigen, dass diese »Schichten« vielmehr offen sind, reversibel; wir können aus einer entwickelteren Raumform in eine ›primitivere‹ zurückfallen. Das gilt nicht nur für den leibfremden Ortsraum, der zurücktreten kann, sondern auch die zwei leibnahen Raumformen sind reversibel. Dies lässt sich deutlich zeigen, wenn man sich Schmitz’ Untersuchung der Raumängste, insbesondere der Weiteangst (horror vacui), vornimmt. Besonders prekär ist eine Erosion des Richtungsraums deswegen, weil sie partiell mit einem Zerfall leiblicher Ganzheit einhergeht. Wir hatten oben gesehen, wie fundamental der Richtungsraum für die Einheit des Leibes und seine Vollzüge ist. Die Erosion des Richtungsraums beim horror vacui erfasst daher die Betroffenen tiefgreifend: Sie setzt bei der leiblichen Ganzheit an und aktiviert eine im Leib latente Grundangst. Wir werden sehen, dass genau hierin Ähnliches für die Erfahrung des mathematisch Erhabenen gilt. Zunächst aber zur Weiteangst. In Fällen von Weiteangst scheint es für die Betroffenen unmöglich, eine weite ebene Fläche zu überqueren oder in sie hi89

Vgl. z. B.: »[…] da nämlich jeder von beiden Impulsen [gemeint sind Weitung und Engung; N. T.] darauf drängt, den andern sich zu unterwerfen, genügt oft schon ein leiser Anstoß für sie dazu, die dominierende Rolle zu tauschen.« (Ebd. S. 328).

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nauszugehen. Wenn sie dazu überhaupt fähig sind, dann benötigen sie einen (wahrnehmbaren) Halt, sei es ein über einen weiten Platz fahrender Wagen, dem sie folgen können. Sie erleben dieses Hinausgehen unter starker Angst bis hin zu Todesangst und schwanken. Schmitz erklärt die Weiteangst als ein Abbrechen der leiblichen Richtungen, also der leibräumlichen Strukturierungsleistung. »Die Brücken, die gewöhnlich den spürbaren Standort der Person mit der räumlichen Umgebung verklammern, nämlich die Richtungen, die – z. B. optisch, als Perspektive des Blicks – aus der Enge in die Weite führen, sind in diesem Fall verschwunden, und die in ihrer Enge isolierte Person steht der fern und dünn gewordenen Weite, in die die räumliche Umgebung gleichsam abgeflossen ist, unvermittelt gegenüber.« 90

Es handelt sich hierbei also um privative Engung. Dies erzeugt deswegen Angst, weil es »ein wesentliches Bedürfnis verletzt: Der Impuls, richtend aus der Enge hervorzugehen und so die leibliche Ganzheit und Zusammengehörigkeit von Enge und Weite zu wahren, wird gehemmt, weil die Enge nun abgeschnürt und unvermittelt in maßloser Weite fixiert ist. Dadurch entsteht die Situation des gehinderten »Weg!«, die zur Angst führt.« 91

Schmitz interpretiert diese räumliche Erfahrung so, dass sich über die orts- und richtungsräumliche Überformung des Raumes oder unter ihr hervor der primitive Weiteraum schiebt. »[In Fällen von Weiteangst; N. T.] findet eine […] Konkurrenz der Weisen des leiblichen Raumes statt: Mitten in den Orts- oder Richtungsraum, der seinerseits ohnehin in den Weiteraum eingebettet ist, bricht noch einmal Weiteraum ein, überlagert oder überschattet jenen, ohne ihn auszulöschen, und setzt seine eigene primitive Nacktheit gegen die kompliziertere Gliederung der höherstufigen Raumarten durch.« 92 90 91 92

Schmitz: Der leibliche Raum (= System, III, 1), S. 137. Ebd. Ebd. S. 141.

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Die leibliche Strukturierungsleistung bleibt demnach – und diesen Punkt möchte ich besonders hervorheben – teils erhalten, denn die Betroffenen verlieren ja nicht jegliche orts- und richtungsräumliche Orientierung. Die Befunde aus Schmitz’ Analyse der Weiteangst hinsichtlich des Abbruchs leiblicher Richtungen sind nichts, was nur die Weiteangst kennzeichnet, sondern sie gelten für die generelle leibräumliche Organisation der Menschen. Wir können nun die folgenden Implikationen festhalten: 1. Unsere vom Leiblichen her entfaltete Räumlichkeit ist per se brüchig, auch die leibnahen Raumformen bilden kein festes Gefüge (oder anders gesprochen: ihre Verflechtung oder Überformung ist keine vollständige) und die primitivste Raumform, der die strukturierten Formen aufsitzen, kann hervortreten. 2. Wir können von einer Mehrfältigkeit des Raumes ausgehen: Es können mehrere Formen leiblicher Räumlichkeit ›nebeneinander‹ bzw. zugleich bestehen; die Raumformen changieren. Dieses Changieren der leiblichen Raumformen, das Schmitz als »Konkurrenz der Weisen des leiblichen Raumes« bezeichnet, ist von grundlegender Bedeutung für den Fortgang der Untersuchung: Man kann also sagen, der Raum ›primitiviert‹ sich den Betroffenen partiell – mit Blick darauf, dass Schmitz den Weiteraum als die »primitive Urform des Raumes« bezeichnet. 93 (Die Rede von der Primitivierung des Raumes ist nicht wertend, sondern strukturellgenetisch gemeint.) Diesen Punkt möchte ich zum Ausgangspunkt der nachfolgenden leibtheoretischen Analysen machen: Die Mehrfältigkeit des Raumes ist eine wichtige Voraussetzung, um die leibliche Seite ästhetischer Erfahrung aufzuklären. Während Schmitz jedoch die These vom Hervortreten des Weiteraums im horror vacui vertritt, halte ich die Erfahrung von Maßlosigkeit beim horror vacui vielmehr für ein Resultat des Abbruchs leiblicher Richtungen und nicht eine positive Erfahrung des Weiteraums selbst. Eine solche positive Erfahrung des Weiteraums entspräche vielmehr einem leiblich gespürten Verströmen in die Weite (tendenziell privative Weitung), wie wir es in den 93

Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 2005, S. 185.

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Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

obigen Fällen (z. B. bei der Meditation der Lama-Mönche) gesehen haben; gerade dieses aber ist beim horror vacui gehemmt. Bei der Weiteangst wird sozusagen nicht das Weitwerden erfahren, sondern der Bruch, die Begrenzung, das nicht mehr in die Weite Hinaus-Können. Man erfährt den Entzug der Fähigkeit, richtend bzw. strukturierend in die Weite hinauszuströmen. Die leibliche Ganzheit zerfällt partiell. Unser Sinn für das Maßlose gründet im spürbaren Zerfall leiblicher Ganzheit, der sich bei einer Erosion des Richtungsraums ereignet. Ich versuche nun im Folgenden zu zeigen, dass der Erfahrung des mathematisch Erhabenen eine solche lustvolle (weil spielerische) Primitivierung des Raumes zugrundeliegt. 6.

Die Erfahrung des mathematisch Erhabenen: Spielerische Primitivierung des Raumes und Kontrolle des Zerfalls leiblicher Ganzheit

Die Beschreibung und Interpretation des horror vacui hat nun eine starke Ähnlichkeit mit der Erfahrung des mathematisch Erhabenen. Ich erinnere zunächst an die Erfahrung von Weite beim horror vacui, eine Weite, welche der Person unzugänglich erscheint und die als nackte Weite, in die man nicht ›hinaus‹ kann, den Charakter der Maßlosigkeit annimmt und beängstigend oder bedrohlich erscheint; die Person steht »isoliert« der »fern und dünn gewordenen Weite« gegenüber. Auch bei der Beschreibung und den Charakteristika des mathematisch Erhabenen fanden wir Ähnliches: Eine schiere (unermessliche) Größe, von der sich die Betrachtenden des erhabenen »Objekts« bzw. der Umgebung isoliert erfahren und die beängstigend oder schaudernd wirkt. Dem Erhabenen liegt damit ebenfalls das Erleben privativer Engung zugrunde. Es zeigt sich auch für das mathematisch Erhabene, dass die leiblichen Richtungen, welche die Person mit der räumlichen Umgebung verbinden und aus der Enge (des Leibes) in die Weite führen, partiell verschwunden sind; erst dieses leibliche Geschehen nämlich lässt die Weite maßlos werden. Hierhin gehört auch 233 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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das Erfahrungsmoment einer Überwältigung der (einzelnen) Sinne: Die Überwältigung ist eine Hemmung. Die Betrachtenden bleiben gehemmt in der Enge ihres Leibes, einer Größe oder Weite gegenüber, die sie nicht in die leibliche Dynamik einbinden können. Die Weite ist quasi ›in die Ferne‹ gerückt und erscheint unerreichbar, unzugänglich. Das bedeutet im Ganzen gesehen: Der Raum changiert; die leibräumliche Schichtung bricht auf, der Richtungsraum und der Ortsraum lösen sich partiell auf, der Weiteraum als primitivste Raumschicht wird aufgrund privativer Engung unerreichbar. Der Raum zeigt sich den Betroffenen »nackt«, also unstrukturiert, maßlos. Damit ist aber die leibliche Ganzheit und Zusammengehörigkeit von Enge und Weite aufgehoben, zumindest teilweise. Diese Erfahrung ist eine von privativer Engung und von Zerfall leiblicher Ganzheit. Durch das Feststecken in der leiblichen Enge wird – ganz wie beim horror vacui – der leibliche Impuls »Weg!« (in Form der Weitungstendenz) gehemmt und es entsteht Angst. Dem mathematisch Erhabenen liegt also eine leibliche Angst zugrunde. Das Paradox, das Kant so benennt, dass wir eine Größe erfassen, welche jedoch die Sinne überschreitet (bzw. eine Niederlage der Sinne markiert, da unsere Größenwahrnehmung versagt), und das ich eingangs beschrieben hatte als eine Erfahrung des Zurückgestoßenwerdens oder der Ohnmacht, zeigt sich aus leibphänomenologischer Perspektive als die Unmöglichkeit, angesichts eines bestimmten Objekts oder einer Umgebung (z. B. eine extrem hohe wenig gegliederte Felswand oder die ungegliederte Weite der Wüste) die leibräumliche Strukturierung aufrechtzuerhalten – ganz ähnlich wie bei der Weiteangst. Bei der Weiteangst können die Betroffenen jedoch die richtungsräumliche Strukturierung selbst nicht aufrechterhalten – bei ästhetischer Erfahrung jedoch kommt derselbe Effekt zustande, indem die leibliche Grundspannung gehalten wird und ein Versuch zu Einleibung gemacht wird, statt der Ausleibung nachzugeben (also der Lockung zur Versunkenheit in maßloser Weite). Der Versuch zur Einleibung aber muss scheitern und endet in privativer Engung. Die leibliche Kommunikation hakt – angesichts eines überdimensionierten und ungegliederten Objekts – quasi aus. Man könnte auch sagen: 234 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

Der Versuch leiblicher Kommunikation mit der Umgebung bzw. dem Objekt führt dazu, dass die Raumform sich primitiviert (der Richtungsraum wird brüchig) und keine leibliche Kommunikation stattfinden kann (für die ja der ›intakte‹ Richtungsraum Voraussetzung ist). Das Objekt bzw. die Umgebung sind schlichtweg ungeeignet für leibliche Kommunikation. Die Charakterisierung, dass wir etwas wahrnehmen, das eigentlich nicht wahrnehmbar ist, deutet auf ein Umschlagen der Wahrnehmung vom einzelsinnlichen Wahrnehmen in ganzheitliche leibliche Kommunikation, die wiederum scheitert; wir sahen das bei den Beschreibungen daran, dass nicht ein Einzelnes (z. B. ein Vorsprung an einer Felswand) erfasst wird, sondern eine Größe als solche wird wahrgenommen bzw. der Versuch dazu wird gestartet. Es gibt natürlich einen wichtigen Unterschied zwischen der ästhetischen Erfahrung und dem horror vacui: Die Betrachtenden einer erhabenen Landschaft oder eines solchen Objekts behalten die Kontrolle über das leibräumliche Kippen und den Zerfall leiblicher Ganzheit, der sich dabei nur sehr partiell vollzieht. Insofern wir uns als Kunstrezipientinnen oder Naturliebhaber solchen Umgebungen und Objekten bewusst aussetzen, genießen wir kontrolliert diese Erosion des leiblichen Raumes. Dieses Sich-Einlassen auf eine Angst geschieht, wie es typischerweise bei ästhetischen Gefühlen ist, spielerisch – die Person kann dieses Changieren der Raumformen kontrollieren, im Gegensatz zu den vom horror vacui Betroffenen. Wir sahen, dass mehr als nur das Versagen der sinnlichen Wahrnehmung gespürt wird, diese scheint nur ein Anlass für eine weitere »Bewegung« zu sein: die nachfolgende Enthemmung (bei Kant: der »Lebenskräfte«); diese Bewegung bezeichnet Kant als Erweiterung oder auch als Erhebung (über die Sinne bzw. die Sinnlichkeit). Hier zeigt sich ein Umschlagen der privativen Engung in (fast privative) Weitung, welche als Befreiungserleben und als Erleben von subjektiver Macht aufgefasst werden kann. Dass die Primitivierung des Raumes und der Zerfall leiblicher Ganzheit genussvoll erlebt wird, geht nicht nur auf die Selbstkontrolle und die Distanz des Betrachters zurück (Interesselosigkeit), sondern zeigt sich gerade am Verlauf des leiblichen Erlebens: Der 235 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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Hemmung folgt die Enthemmung und Erhebung. (Diese Momente fehlen bei der Weiteangst.) Dieses Spiel von privativer Engung mit nachfolgender Weitung entspricht der »negativen Lust« bzw. dem »delightful horror« oder dem Gemisch von Wehsein und Frohsein, wie Schiller es formuliert. Das Machterleben und die Erhebung entsprechen dem Verströmen in Weite, das wegen der vorangehenden starken Hemmung lustvoll erlebt wird. Beim Erhabenen handelt es sich damit insofern um ein »Selbstgefühl des Subjekts«, da es wirklich ein Wechselspiel von Begrenztsein (Engung) und Entgrenzung (Weitung) leibräumlich erlebt. Hier möchte ich jedoch nochmals darauf hinweisen, dass diese Erfahrung nicht etwas ist, das ›in‹ einem räumlich abgeschlossenen Subjekt stattfindet, sondern ein Geschehen zwischen einem Objekt bzw. einer Umgebung und einem fühlenden Subjekt, das leiblich mit dieser Umgebung verklammert ist. Es handelt sich dennoch deswegen um ein »Selbstgefühl des Subjekts«, weil die subjektive Kontrolle des räumlichen Kippens angesichts des mathematisch Erhabenen mit fühlbar wird: Wir spüren unsere leibliche Brüchigkeit sowie die latente leibliche Grundangst und unsere Selbstermächtigung. Damit aber ist ein Spiel zwischen leiblich gespürter Ohnmacht und Selbstermächtigung im Gefühl für das mathematisch Erhabene aufgedeckt, das in der Kontrolle der zerfallenden leiblichen Ganzheit gründet. Dieses leiblich-räumliche Kippen und Zerfallen ist nun etwas, das sich direkter Darstellung entzieht (man kann höchstens Anlässe für das Erleben schaffen) und das daher seine Präsenz lediglich in leiblicher Selbstwahrnehmung hat. 7.

Ausblick

Der Zusammenhang von Größenwahrnehmung und Machterleben lässt sich machttheoretisch fruchtbar machen. Staatliche Darstellungen von monumentaler oder kolossaler Größe oder Inszenierungen von riesigen Massen – es mag sich um Monumentalbauten wie im Stalinismus handeln oder um die propagandistische Inszenierung von Massenaufmärschen im Nationalsozialis236 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui

mus 94 (vgl. z. B. den NS-Propagandafilm von Riefenstahl: Triumph des Willens, 1934) – illustrieren nämlich nicht nur auf einer symbolischen Ebene Macht. Sie lassen vielmehr Macht leiblich erlebbar werden, nach dem hier am mathematisch Erhabenen aufgezeigten Muster. 95 Zunächst wird die eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit angesichts der Bauten oder Menschenmengen erlebt (leiblich als privative Engung und Verlorenheit), sie wird jedoch abgelöst von einem gespürten Umschlagen der gefühlten Ohnmacht in Macht (als von der Hemmung befreiende Weitung). Die ›unermessliche Größe‹, an der die Beherrschten über Wahrnehmung in leiblicher Kommunikation teilhaben, ist ein Identifikationsangebot der Herrschenden an die Beherrschten, das zugleich deren Unterordnung festschreibt. Denn die eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit eines jeden in der Menge ist Voraussetzung für die Erfahrung von Macht als deren Überschreitung. Literatur Andermann, Kerstin: Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis, in: Emmanuel Alloa u. a. (Hg.), Leiblichkeit, Tübingen 2012, S. 130–145. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, in: ders., The Works of the Right Honourable Edmund Burke in Twelve Volumes, London 1887, Vol. I, unter: http://www. gutenberg.org/files/15043/15043-h/15043-h.htm. 94

Vgl. hierzu auch Jörg Heininger im Wörterbucheintrag »Erhaben«, in dem er Max Raphael zur kolossalen Architektur im Verbund mit Massenveranstaltungen in der UdSSR der 30er Jahre sowie in der faschistischen Architekturästhetik zitiert. (Heininger: Erhaben, in: Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 307). 95 Dass das Erhabene eine »totalitäre Seite« hat oder dass der »Wahn der Größe« eine Untersuchung des politisch Erhabenen erfordert, ist in der Forschung auch öfter bemerkt worden. Vgl. z. B. Pries: Einleitung, in: dies. (Hg), Das Erhabene, S. 12 oder sehr facettenreich: Poernicke, Klaus: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Pries (Hg.), Das Erhabene, S. 75–90. Eine leibphänomenologische Untersuchung hierzu steht noch aus.

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Großheim, Michael: Atmosphären in der Natur. Phänomene oder Konstrukte?, in: Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 325–365. Heininger, Jörg: Erhaben, in: Karl-Heinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe, Bd. X, hg. v. W. Weischedel), 13. Auflage Frankfurt a. M. 1994. Landweer, Hilge: Choreographies With and Without a Choreographer. Intuitive and Intentional Corporeal Interactions, in: Gabriele Brandstetter/Gerko Egert/ Sabine Zubarik (Hg.), Touching and to Be Touched. Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement, Berlin/New York 2013, S. 131–159. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin u. a. 1966. Poernicke, Klaus: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 75–90. Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989. Dies.: Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 3–26. Recki, Birgit: Stimmung und Lebensgefühl bei Immanuel Kant, Ernst Cassirer und Walter Benjamin, in: Kerstin Thomas (Hg.), Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, Berlin/München 2010, S. 1–12. Schiller, Friedrich: Über das Erhabene, in ders., Werke in drei Bänden, Bd. II, München 1966, S. 607–618. Schlitte, Annika: Das Erhabene als Ortserfahrung. Vorüberlegungen zu einer Hermeneutik des Ortes, in: dies. u. a. (Hg.), Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, S. 45–61. Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 2005. Ders.: Der Leib (= System der Philosophie, Bd. II, 1), Bonn 2005. Ders.: Der Leib im Spiegel der Kunst (= System der Philosophie, Bd. II, 2), Bonn 2005. Ders.: Der leibliche Raum (= System der Philosophie, Bd. III, 1), Bonn 2005. Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, 3. Auflage Bonn 2007. Ders.: Der Leib (= Grundthemen Philosophie), Berlin/Boston 2011.

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Anne Eusterschulte

Schwindel. Essayistische Annäherung an existentielle Haltlosigkeiten

Wer in plötzlicher Dunkelheit in einem Zimmer nach Haltepunkten ausgreift, mit ausgestreckten Armen sich zu orientieren sucht, um sich an Wänden und Boden überhaupt an einem greifbaren Ort zu finden, weiß um das bange Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Das plötzliche Aufschrecken aus einem Traum inmitten der Nacht, das Auffahren aus einem unbeabsichtigten Schlaf, ein plötzliches Hereinstürzen in eine Wachheit, kann in eine zutiefst körperlich erfahrene Dissoziation des Icherlebens wie der Weltwahrnehmung führen. Reißt im Moment des Schwindens aller vermeintlichen Stabilitäten und (im haptischen wie kognitiven Sinne) Begreifbarkeiten nicht mitunter eine schwebende Intensität der Aufmerksamkeit auf, ein imaginatives Sich-Umkreisen des Ich, das (noch) nicht zu sich kommen kann bzw. das körperlich (noch) nicht bei sich ist, sich fremd dem eigenen Körper gegenüber fühlt? Dieser schockhaft erfahrene Zwischenzustand lässt sich als ein schwindelhaftes Überwältigtwerden beschreiben, in dem die strikten Grenzziehungen von Körper und Bewusstsein, Ich und Welt im Fluss sind. Rufen wir uns den berühmten Eingangspassus aus Prousts Du côté de chez Swann als Phänomenologie eines schwindelnden Erwachens vor Augen: »Jedenfalls, wenn ich in dieser Weise erwachte und mein Geist erfolglos herauszufinden suchte, wo ich mich befand, kreiste in der Dunkelheit alles um mich herum, die Dinge, die Länder, die Jahre. Noch zu benommen vom Schlaf, um sich zu rühren, suchte mein Körper nach der Art seiner Müdigkeit die Stellung seiner Glieder auszumachen, um daraus die Richtung der Wand, den Platz der Möbel abzuleiten, um die Wohnung, in der er sich befand, im Geiste wiederherzustellen und zu benennen. Sein Gedächtnis, das Gedächtnis

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Anne Eusterschulte

seiner Rippen, seiner Knie, seiner Schultern, zeigte ihm nacheinander mehrere Zimmer, in denen er geschlafen hatte, während rings um ihn her die unsichtbaren Wände je nach der Form des vorgestellten Raums ihre Lage ändern und sich wirbelnd in der Finsternis drehten. Und bevor noch mein Denken, das an der Schwelle der Zeiten und Formen zögerte, die Umstände zusammengebracht und damit die Räumlichkeiten bestimmt hatte, erinnerte er – mein Körper – sich von einer jeden an die Art des Bettes, die Lage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhandensein des Flurs, zusammen mit dem Gedanken, den ich beim Einschlafen hatte und beim Erwachen wiederfand.« 1

Wo das Denken dem Schwinden aller Fasslichkeiten ausgesetzt ist, sich nicht in Raum und Zeit situieren kann, ist es für Proust ein leibliches, haptisches Erinnern an Räumlichkeiten, ja geradezu Gelegenheiten, die in den Gliedern wieder wach werden. Ein in das somatische Erwachen noch ganz eingelassener Zustand, der sich erst ganz allmählich der Verschlungenheit von Leib und Bewusstsein entwindet. An dieser Schwelle aber stellt sich mintunter ein unwillkürliches Moment bildlich vorstellenden Gewahrseins für Wirklichkeiten jenseits des Faktischen ein: »Diese verworrenen, ineinanderkreisenden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; meine kurze Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, unterschied ebensowenig die einzelnen Vermutungen, aus denen sie bestand, wie wir die einander ablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes isolieren, die das Kinetoskop uns zeigt.« 2

Schwindel wird vielfach als Gefühl des Abstürzens bzw. von bodenloser Tiefe erfahrbar. Ein Taumel, der alles in sich hineinzieht und in eine sich steigernde Drehung versetzt, deren Geschwindigkeit Hören, Sehen und Fühlen vergehen lässt, Selbst- und Umraumwahrnehmung an die Grenze der Aufhebung treibt. Als eine 1 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann (= Frankfurter Ausgabe, hg. v. Luzius Keller, Werke II, Bd. 1), aus dem Französ. v. Eva Rechel-Mertens, revidiert v. Luzius Keller, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1998, S. 11. 2 Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann, S. 12 f.

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Schwindel

solche Haltlosigkeit lässt sich der Zustand des Schwindels in erster Annäherung fassen: als Schwellenzustand. Handelt es sich doch in paradoxer Weise um ein erlebendes Bewusstsein eines sich vollziehenden Bewusstseinsverlustes. Wenngleich das Gefühl für den eigenen Körper im Raum außer Kraft gesetzt scheint und ebenso das Kontinuum zeitlicher Vollzüge, ist eben dieses Herausgesprengtsein aus der raum-zeitlichen Kohärenz der dinglichen Lebenswelt eine intensive leibliche Erfahrung. Selbst- und Weltwahrnehmung werden durchlässig für Tiefenschichten vergangener Zeiterfahrungen, subjektive Erinnerungen wie geschichtliche Erfahrungen, die nicht länger dem Register topografischer Vor- und Nachzeitigkeit folgen. Es ist wiederholt die Motivik von schwindelerregender Höhe oder Tiefe bzw. die Topografie von Gebirge und Meeresgründen, anhand derer der Schwindel gefasst wird – die Einsatzstelle einer imaginativen, sinnlich-somatisch ergreifenden Bewegung des Schwindens von vertrauter Erfahrung und des Aufwirbelns von Vorstellungsbildern. Das Gewahrsein der Gefahr des Abstürzens an der gefährlichsten Stelle markiert eine Schwellensituation, sofern das lebensgefährliche Risiko der Überschreitung vielfach mit einer unerklärlichen, widervernünftigen Anziehungskraft einherzugehen scheint. 3 An diesem Moment brechen sich Erfahrungen von existentieller Fraglichkeit, Beunruhigung, Verzweiflung aber auch eines rauschhaften Sich-Fallen-Lassens und zwar im Wissen um das Vorläufige, Instabile lebensweltlicher Eilfertigkeiten. Vor dem Hintergrund theologischer Implikationen treten Elemente von Kontingenz und Freiheit, Ausgesetzsein an eine Selbstwahl bei gleichzeitigem Risiko der Selbstverfehlung hinzu. Sie sind, nicht erst in der Moderne, in Verschränkungen mit sozialhistorischen und ästhetischen Transformationen einer Unruhe zu verfolgen, sofern das Unbegriffene im Selbstsein zugleich Brechung von 3

Vgl. Janz, Rolf Peter/Stoermer, Fabian/Hiepko, Andreas: Einleitung, in: dies. (Hg.), Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 70), Amsterdam/New York 2003, S. 12 f.

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Weltverhältnissen ist. Als kritisches (im medizinischen wie erkenntnistheoretischen Sinne) Gewahrsein mündet dies, und darauf führt die Auseinandersetzung im Weiteren, in eine ästhetische Translation: eine Poetologie des Schwindens als Raum literarischer Imagination, Reflexion bzw. eines Schreibens, das den Schwindel mit all seinen Konnotationen und materialhistorischen Sedimentierungen in sich aufnimmt. Wenn »Bewegung und Ruhe […] sich für uns in unserer Umgebung durchaus nicht gemäß der Voraussetzungen, die zu konstruieren unsere Intelligenz beliebt, [verteilen; A. E.], sondern gemäß der Art und Weise, wie wir uns in der Welt verwurzeln, und gemäß der Situation, die unser Körper darin mitschafft« 4, dann wird dies, so Merleau-Ponty, am provozierten Schwindel auf besonders eindrückliche Weise offenbar. In der Evokation dieses Gefühls wird etwas aufs Spiel gesetzt, ihm liegt eine latente, zutiefst attrahierende und doch betörend ängstigende Gefahr zugrunde, sich einer Entgrenzung auszusetzen. Das Sehen menschlicher Gesten, Bewegungen, Vollzüge im Kinofilm lässt sich auch auf literarische Darstellungsweisen als Wahrnehmung einer spezifischen Weise des Zur-Welt-Seins 5 übertragen, auch wenn sie nicht unmittelbar zu sehen geben, sondern den Weg über die Sprache nehmen bzw. imaginative Vollzüge provozieren. Im Schwindel kündigen sich Auseinandersetzungsformen mit einer existentiellen Selbstbegegnung an, die in theologisch-philosophischen Figurationen immer wieder aufgerufen werden, um die Gefahren der Selbstwahl und -verfehlung, das Wagnis der Freiheit und den Sprung in den Glauben bzw. die Versprengtheit des Ich angesichts eines Unendlichen, in dem sich das Selbst wie ein schwirrender Punkt zu verlieren droht, zu fassen. Was aber wird aus dieser Figur der Schwellenerfahrung, wenn das metaphysische Netz der existentiellen Herausforderung, der theologische Grund des Abgründigen wegbricht? Die Gefahr des jähen Abstur4

Merleau-Ponty, Maurice: Das Kino und die neue Psychologie, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 227–246, hier 233. 5 Merleau-Ponty: Das Kino und die neue Psychologie, in: Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, S. 244.

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zes wird geradezu zur Grundfigur existentieller Angst, Verunsicherung, Überforderung sowie von Modi einer Krisenerfahrung 6 – gepaart mit Implikationen eines lustvollen Grauens, des Rauschhaften, einer traumwandlerischen Schwebe und zugleich Intensivierung der Aufmerksamkeit. Aber sind nicht die haltgebenden Konstanten in den RaumZeit-Koordinaten unseres Alltagslebens, mithilfe derer wir uns im gemeinsamen Leben verorten und lebenszeitlich situieren, selbst eine Art Schwindel? Im Sinne eines Selbstbetrugs einerseits, weil er uns vom Wagnis des Möglichen, einem Denken ohne Geländer (Arendt) abzäunt. Ein Schwindel aber auch im Sinne einer seltsamen Benommenheit, sofern sich jede/r Einzelne je schon in einem Strudel der Gewohnheiten gefangen sieht, in einem Kreisen, das in Rastlosigkeit, entschränkte Umtriebigkeit, kurz einen Tätigkeitstaumel versetzt, der nahezu atemlos bis zur Besinnungslosigkeit treibt, es aber zugleich verwehrt, zu sich zu kommen. So jedenfalls charakterisieren aktuelle gesellschaftskritische Theorien eine Verfasstheit des Subjekts im Getriebe ökonomisierter Produktionsweisen. Oder ist diese Flut der Verrichtungen, unaufschiebbaren Veranlassungen, Termingeschäfte vielleicht das moderne, kapitalistisch ausgespannte Netz über dem Abgrund, das uns gerade vor dem Abstürzen wahrt? Bietet also gerade das Halt und Orientierung, was sich als fluide Zeit des Getriebenseins zeigt, weil wir uns der Frage nach dem Warum der Eile gar nicht stellen müssen/können? »Schuld am Schwindel«, schreibt Pascal, »ist die Einbildungskraft. Sie wirft sich vorneweg in die Tiefe. Der Abgrund zieht sie an. Deshalb müssen Randbefestigungen her, nicht nur zu Verteidigung von Eigentum und zum Schutz vor Leichtsinn, sondern auch als Sicherung gegen den Schwindel, der uns am äußersten Rand erfasst, auf unsicherem Boden an der Grenze zum scheinbar Grenzenlosen, zum bodenlosen Tiefen. Da fassen wir ins Leere, verlieren die Fassung und brauchen eine Brüstung, ein Geländer. Die sind am Rand. Der Rand ist selbst haltlos. Wir machen vor ihm Halt und ziehen einen Zaun, 6

Zur Deutung dieser Ambivalenz als Krisenerfahrung Janz u. a.: Einleitung, in: dies. (Hg.), Schwindelerfahrungen, S. 16 f.

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eine Mauer um ihn herum oder bauen von außen ein Gerüst. Denn freihändig ohne Griff in Reichweite auf der Kante selbst zu balancieren, zieht den Schwindel an. Zu den Zäunen und Gerüsten zählen auch die festen Vorstellungen, die Begriffe und Definitionen, Methoden und Traditionen, Vorschriften, Denkverbote und berühmte Namen, alles, woran man sich klammern oder wenigstens anlehnen kann, wenn man schräg am Abgrund steht.« 7

Der Oberflächenparcours der Grenzarmaturen garantiert so das feste Geleit jenseits der abschüssigen Bahnen, ist nicht nur Absperrung gegen mögliche Untiefen, sondern erweist sich in gewissem Sinne als konstitutives Gerüst. Bewegen wir uns nicht je schon in einem kommunikativen Gewebe, einer sprachlichen Textur und damit in einem Netz von Erkenntnis- und Sprach-Konventionen, moralischen Haltungen und als konsensuelle Praxis sanktionierten, körperlich eingeübten Verhaltensweisen? Diese intersubjektiv ausgehandelten Anhaltspunkte gewähren eine in Begriffen und Verständigungsweisen geteilte, raum-zeitlich geordnete Welt, versprechen eine stabile Welt- und Selbstbeziehung, d. h. eine zwischen normativen Instanzen ausgespannte Handlungswelt ethischer Maßstäbe, reziproker Anerkennung sowie sozialer Verantwortlichkeiten, mithin verbürgter Rechte und Pflichten. Und doch ist es gerade diese scheinbar unerlässliche strukturgebende Ordnung und Bindekraft der Rückversicherung an Modelle gesellschaftlichen Lebens bzw. deren Institutionalisierungen – nicht erst seit, aber doch im Sog ausgreifender Rationalitäts- und Rationalisierungsmechanismen der Moderne in extremer Weise –, die als Zurichtungen schon ahnen lassen, was in einem kapitalistisch durchorganisierten, bürokratisch feinstrukturieren Gehäuse der Hörigkeit (Max Weber) droht. Wenngleich etwa Jaspers’ lebensphilosophische Analyse die Stabilitätsversprechen eines solchen Gehäuses in Rechnung stellt, erweisen sich diese zu Gehäusen geronnenen Weltverständnisse auch als vereinnahmende Funktionswelten der Isolation, die ein »Abkapseln gegenüber existentiellen 7

Böhringer, Hannes: Lehne und Geländer, in: Sebastian Hackenschmidt/Klaus Engelhorn (Hg.), Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 229–232, hier 230.

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Grundstimmungen, erschütternden Erlebnissen (Grenzsituationen) und Prozessen existentieller Selbstreflexion« zur Folge haben. 8 Mit Hannah Arendt könnte man von den Bedingungen einer Weltlosigkeit sprechen. Was heißt es für das Phänomen Schwindel, wenn die Konsequenzen eines ökonomischen, sozialen wie erkenntnistheoretischen Gehäuse-Rationalismus weniger haltgebend denn verhaltensrestriktiv wirksam werden? Und wenn diese Gehäuse, Brüstungen und Gerüste sozialen Miteinanders, die Geländer der Begriffe und Verständigungsformen, die Einfassungen und Einrichtungen der Arbeits- und Lebenswelt sich längst in einer Weise dynamisiert haben, dass das Versprechen einer haltgebenden Abgrenzung in eine entfesselte Motorik der Progression bzw. provozierte Gedankenlosigkeit umgeschlagen scheint? Wenn das akzelerierte Andrängen von Vorstellungen auf ein bloßes Bewegtwerden hinausläuft, innerhalb dessen der/die Einzelne den Boden unter den Füßen längst verloren hat, dann bleiben als Gegenständigkeiten, die uns uns selbst leiblich-räumlich fühlen lassen, vielleicht nur noch die Stöße, denen wir ausgesetzt sind bzw. die wir blindlings erteilen, stoßweise erfahrene Schocks, Stimuli und Reize im alltäglichen Umtrieb der von allen Seiten herumgestoßenen, fremdbestimmt fortgestoßenen Körper. Folgen wir einer Lesart Walter Benjamins, dann kennzeichnet es die poetische Sprachbewegung bei Baudelaire, dessen Bedeutung für die Ästhetik bis in die Gegenwart gar nicht überschätzt werden kann, dem Andrängen von Schocks, Stößen aus einer amorphen Masse kapitalen menschlichen Verkehrs in literarischen Formen zu begegnen, die eben dieses Gestoßenwerden in und durch die anonyme Menge in Erfahrungen überführen, die Anziehungskraft und Gegenwehr zugleich offerieren: ein Duell in Versen. 9 »Baudelaire hat also die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hineingestellt.« 10 8

Salamun, Kurt: Karl Jaspers, 2. Auflage Würzburg 2006, S. 24 und 25. Vgl. Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire, IV, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I 2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 615 ff. 10 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, III–IV, in: ders., GS I 2, in 9

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Wenn die poetische Sprachbewegung sich der Gewalt von Erfahrung gerade da hingibt, »wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selbst kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte« 11, weist dies auf eine Korrelation von Schwindel als Erfahrungsphänomen und poetischem Sprachverfahren. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird in literarischen wie philosophischen Zeugnissen die strömende Menschenmenge in den Städten im Zeitalter des Hochkapitalismus zum Inbegriff eines entfremdenden, entsolidarisierenden Vermassungszustandes isolierter Einzelner, deren keiner den anderen auch nur eines Blickes würdigt, apathisch, wie aufgezogen und fühllos im Gedränge getrieben. 12 Die auf punktuelle Abstoßungsbewegungen konditionierte Struktur des Massenverkehrs wie der Warenzirkulation gleicht einem mechanischen, blinden Atomwirbel. Geht die Erfahrungsfähigkeit, in die Rhythmik von Automatismen, Wiederholungen, Routinen eingespeist, zugrunde, weil sie Leib wie Bewusstsein taub macht für die eigenen Bewegungsabläufe wie für das Tun und Treiben der Anderen? Sprechen wir in der Gegenwart nicht vielfach von »Stoßzeiten«? Verlorenheits- oder Versprengtheitserfahrung in Figurationen raum-zeitlicher Haltlosigkeit und -suche weisen auf ein Raumgefühl, das in direkter Verschränkung mit einer Überforderung der reflektierenden Übersicht steht: eine Gleichzeitigkeit von Weltlosigkeit und Selbstverlust, von Beziehungs- und Fühllosigkeit. In der Wahrnehmung zivilisatorischer Funktionssysteme wird eine Erfahrung transponiert, die auf eine metaphysische Haltlosigkeit zurückweist. Bezug auf die Chockabwehrmechanismen im Kontext der Freudschen Gedächtnis- und Erinnerungstheorie, sowie zu Baudelaire ebd. S. 615 f. 11 Adorno, Theodor W.: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders., Noten zur Literatur I (= ders.: Gesammelte Schriften 11, hg. v. Rolf Tiedemann u. a.), 3. Auflage Frankfurt a. M. 1990, S. 52. 12 Vgl. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, Zweite Ausgabe Leipzig 1848, S. 36/37.

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Die Desillusionierung eines Sinnversprechens jenseits der innerweltlichen Umtriebigkeiten lässt den Schwindel als imaginiertes Stürzen bzw. Fallangst mit Situationen der völligen Entgrenzung des Raumes, einer Versprengtheit des Ich im kosmisch Unendlichen in Verbindung treten. »Ich weiß nicht, was mein Leib ist, noch was meine Sinne sind, noch was meine Seele ist, und der Teil meines Ichs sogar, der in mir das denkt, was ich sage, der über alles und über mich selbst nachdenkt, kennt sich nicht besser als das Übrige. Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an eine Ecke dieses weiten Weltenraumes gefesselt, ohne daß ich wüßte, weshalb ich nun hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und an keinem andern Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war oder die nach mir sein wird. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr.« 13

Für Pascal entbirgt sich hier eine Verkennung des wahren Lebens, dessen Glück über das Alltägliche hinausweisen muss. Was hat das mit dem oben erwähnten Pascal’schen Diktum vom gefährlichen, schwindelevozierenden Spiel der Einbildungskraft (imagination) zu tun? »Auf einer Planke, die breiter als nötig ist, wird, wenn unter ihr ein Abgrund gähnt, die Einbildung (imagination) den größten Philosophen der Welt überwältigen, – mag auch die Vernunft ihn von der Sicherheit überzeugen; sein Wahn wird obsiegen. Mancher wird die Vorstellung nicht ertragen können, ohne zu erbleichen und in Schweiß zu geraten.« 14

Der Schwindel wird zum Ausdruck einer Überwältigung der Vernunft durch sinnliche Vorstellungen, einer regen Einbildungskraft, die den Körper affiziert und gleichsam das mögliche Geschehen angstvoll ahnend durchleben lässt. Eine das Körpergefühl in

13

Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übertr. u. hg. v. Ewald Wasmuth, 8. Auflage Heidelberg 1978, S. 55 f. 14 Pascal: Über die Religion, S. 55 f.

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höchstem Maße affizierende Vorstellung, eine Angsterfahrung, denn »der Schwindel beim Herabsehen vom Rande einer steilen Höhe (allenfalls auch nur einer schmalen Brücke ohne Geländer) […] Das Bret, worauf der sich schwach fühlende Mensch tritt, würde, wenn es auf der Erde läge, ihm keine Furcht einjagen; wenn es aber als ein Steg über einen tiefen Abgrund gelegt ist, vermag der Gedanke von der bloßen Möglichkeit fehl zu treten so viel, daß er bei seinem Versuche in Gefahr kommt.« 15

Sind das für Kant Abwegigkeiten einer produktiv täuschenden Einbildungskraft, so deckt Pascal mit der Situation auf der Planke die paradoxe conditio humana auf. Wer nicht innehält, um dieser auf den Grund zu gehen, wird sich von der Attraktionskraft der sinnlichen Vorstellungen beschwindelt leichthin zur Haltsuche im Trügerischen verleiten lassen, mithin ein mühevolles, unablässiges Einerlei vorziehen. »Man muß, da es ihm [dem großen Haufen; A. E.] so gefällt, den ganzen Tag arbeiten und sich abmühen um die Güter der Welt, die als Wahngebilde bekannt sind, und hat der Schlaf uns von den Müdigkeiten unserer Vernunft erfrischt, muß man sofort eilig aufspringen, dem Dunst nachzujagen, um den Vorstellungen dieses Herrschers der Welt Genüge zu tun.« 16

Wahnhaft das Sich-Verlieren an das scheinbar Stabilität und Kontinuität verheißende Immerdar des Alltäglichen, in dem doch latent je schon das Ungenügen, eine schwermütige Unruhe rumort, die immerfort zur Zerstreuung, zur unablässigen Tätigkeit antreibt. Eben das ist die existentielle Situation. Aber warum vermögen es die Menschen nicht, in Ruhe allein in ihrem Zimmer zu bleiben? 17

15

Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 26, Anmerkung, B 72 / A 71 (= ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2), Frankfurt a. M. 2000, S. 468 f. 16 Pascal: Über die Religion, S. 56. 17 Pascal: Über die Religion, S. 77.

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Die Applizierbarkeit der Pascal’schen Analysen menschlicher Existenzbedingungen auf gegenwärtige Auseinandersetzungen mit einer ungebändigten Ruhelosigkeit der wahrgenommenen Lebenswirklichkeiten ist frappant. Die Spannung von Leere und Zerstreuung, Langeweile und Umtriebigkeiten, die ins Leere zu laufen, ja die körperlich-leibliche Verfasstheit einer »busybodyness« 18, all dies scheint ein Symptom der Gegenwart vorwegzunehmen. Pascal referiert auf Montaigne, den Skeptiker und Selbstsucher, bei dem die Schwellenangst eine anthropologische Grundverfasstheit markiert. Die trügerische, suggestive Kraft der Sinne, eine schwindelerregende Vorstellung vom drohenden Sturz in den Abgrund zu evozieren, weist nicht allein auf eine gemeinmenschliche Schwäche oder psychologische Disposition, sich gegen jede Vernunft immerdar an furchtbesetzte Szenarien und Besorgnisse zu verlieren. Sie wendet sich gegen eine philosophisch genährte Selbstgenügsamkeit der Vernunft, deren Aufgabe es doch vielmehr sein müsste, der menschlichen Fragilität, Unsicherheit und Unbeständigkeit ins Auge zu sehen, nicht zuletzt der leiblichen Verletzlichkeit, der Sterblichkeit. Man wird der Ausmalung dieser allzu menschlichen Selbstgefälligkeiten und Absurditäten eine lustvolle Literarizität kaum absprechen können: »Man setze einen Philosophen in einen Käfig aus dünnem, weitmaschigen Drahtgeflecht und hänge ihn darin ganz oben an einen der Türme von Notre-Dame zu Paris: Sein Verstand wird ihm sagen, daß er offentsichtlich nicht herausfallen kann; dennoch dürfte auch ihn (es sei denn, er gehe der Dachdeckerei nach) der Blick aus dieser schwindelnden Höhe vor Schreck erstarren lassen. Es macht uns ja schon Mühe genug, in den an unsren Glockentürmen befindlichen Umgängen, falls mit durchbrochenem Geländer, nicht unsicher zu werden, selbst wenn sie aus Stein sind. Manchen ist allein der Gedanke hieran unerträglich.« 19 18

Ich greife hier einen Theorieansatz von Eric Santner auf, vorgestellt u. a. im Rahmen des Beitrages: The Weight of All Flesh: On the Subject-Matter of Political Economy, Konferenzbeitrag zur Tagung The Actuality of the Theologico-Political, London, 23.–24. Mai 2014. 19 Montaigne, Michel de: Essais II, 12, Apologie für Raymond Sebond, erste mo-

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Die mangelnde Festigkeit des Gehäuses der Verstandessicherheit, Käfig und sicheres Verließ zugleich, wird als Andrängen von furchteinflößenden sinnlichen Vorstellungen vorstellig gemacht. Die Maschen des Käfigs können gar nicht eng genug gewebt sein, um nicht der existentiellen Situation ins Auge sehen zu müssen, sich dieser ausgesetzt zu sehen und gesehen zu werden. Das durchbrochene Geländer, haltgebende Brüstung, ist zugleich Bedingung einer Durchlässigkeit zur Welt, um sich der eigenen Situierung überhaupt vergewissern bzw. einen Überblick gewinnen zu können, wie der Grund, die Brüchigkeit der Selbstsicherheit zu erfahren. Hier findet die Pascal’sche Planke ihr Vorbild. 20 Montaigne wendet sich dem Menschlich-Allzumenschlichen zu, der beschränkten, wankelmütigen, unbeständigen Natur, mit all ihren Fehlern und Schwächen, Affinitäten und Freuden, um auf die Bedingungen der flüchtigen Existenz zu lenken und die Selbstbefragung auf ein immer wieder neu ansetzendes, tentatives Verstehen seiner selbst zu führen. Das ist alles andere als resignativ, sondern wie in der sprachlich-essayistischen Form der darstellerischen Verflechtung ein fragendes, suchendes, ironisch demaskierendes Philosophieren. Der – aus erzählerischer Distanz gesichtete – Schwindel bringt diese erkenntniskritische, erfahrungsfundierte Selbstwahrnehmung der Begrenzung und des Haderns mit der je eigenen Begrenztheit zu Bewusstsein. Er ist Gewahrwerden einer Verfasstheit, die mit der Fraglichkeit der menschlichen Existenz einschließlich ihrer leiblich-sensitiven wie affektiven Zuständlichkeiten konfrontiert und zugleich, in der Weise der literarischen Darstellung, einen Weckruf durchklingen lässt. Ist nicht das Leben, so Montaigne, einem Traum vergleichbar? Bedarf es eines Erwachens (Benjamin), eines Schwellenzustandes des Gewahrseins, der noch genug im Traumwandlerischen verhaftet ist, um ein Zur-Welt-Sein erfahrbar werden zu lassen, aber gleichzeitig im Moment des Übergangs Distanz gewinnt, um eben diese Schwelle zu bemerken? derne Gesamtübersetzung von Hans Stilett (= Die Andere Bibliothek, hg. v. Hans Magnus Enzensberger), Frankfurt a. M. 1999, S. 296. 20 Montaigne: Essais II, 12, S. 296.

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Der Schwindel lässt die Endlichkeit, Begrenztheit der menschlichen Existenz durch Leib und Gemüt fahren, aber er wird zugleich zu einer Erfahrung der Entgrenzung, sofern er die Vorläufigkeit und Konjekturalität aller menschlichen Setzungen gewahr werden lässt, diese als Erstarrungsformen einer Selbstvergewisserungssuche offenlegt und auf eine kosmologische Dimension der Versprengtheit überführt. »Wenn ich sehe, wie blind und elend die Menschen sind, wenn ich bedenke, daß das ganze Weltall stumm und der Mensch ohne Einsicht sich selbst überlassen ist wie ein Verirrter in diesem Winkel des Weltalls, ohne daß er wüßte, wer ihn dorthin gebracht, was da zu tun ist, noch was ihm widerfahren wird, wenn er stirbt, und bedenke, wie unfähig er ist, irgend etwas gewiß zu wissen, dann überkommt mich ein Grauen, wie es einen Menschen überkommen müßte, den man im Schlaf auf einer wüsten und schreckenvollen Insel ausgesetzt und der erwachend weder weiß, wo er ist, noch wie er entkommen kann.« 21

Das Grauen als ein Schwellenzustand, gleich dem Erwachen aus einem Schlaf des Bewusstseins, wird hier zu einem Zu-sich-Kommen in Gewahrwerdung einer schreckenerregenden Vereinzelung, eines Fremdseins in der Welt bzw. einer Verzweiflung angesichts der unentrinnbaren Insellage des Menschen im Universum. Im Blick auf Phänomene der Massenkultur, der Industrialisierung und der Verselbständigung ökonomischer Zirkulationssysteme sowie in Hinsicht auf traumatische Erfahrungen, Gefahren des Ausgesetzt-Seins bzw. Entsetzens angesichts sinnverweigernder Bedrängnisse sozialer Ordnungen wird das Schwindelerleben in der Moderne geradezu zu einem Indikator von Verletzlichkeit, kritischer Selbstreflexion und mithin politisch-sozialer Kritik – aber eben auch poetologische Herausforderung, der bestrickendbestürzenden Ambiguität eine Sprache zu verleihen. Als Erkenntnisweise und Gefühlszustand, ja als Modus einer befreienden Sichtweise angesichts einer sich zur Zwanghaftigkeit objektivierenden Verschränkung von zivilisatorischen Zurichtungen, die alle Bereiche des Lebens, Denkens und Fühlens zu domestizieren drohen, stiftet der Schwindel Unruhe und äußert sich 21

Pascal: Über die Religion, S. 319.

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geradezu als Kranken an Angstneurosen (Freud), die ihrerseits ein Ungenügen an der Kultur manifestieren. 22 Er wird so auch zum Appell, die Bodenlagen der Verhaltungen bzw. der Selbstverleugnung zu verlassen. So ist ein Drahtseilakt zu leisten, der das fesselnde Einerlei der scheinbar objektiven Notwendigkeiten, die fatalen Einzwängungen in Funktionalisierungsmotoriken der Lebenswelt mit all ihren Brutalitäten entblößt, um in Distanznahme vom sinnverwehrenden Immerwieder einen Absprung zu wagen: der Schwindelerfahrung als Chiffre eines Befreiungsakts. Ist es doch die Frage, wieviel »Glauben« einer nötig hat, »wieviel Festes, an dem er nicht gerüttelt haben will«, für Nietzsche geradezu Gradmesser von Kraft oder eben Schwäche – und damit ist nicht nur der christliche Glauben des europäischen Abendlandes adressiert, sondern ebenso die Haltsuche in metaphysischen Versicherungen, ästhetischen oder politischen Überzeugungen oder »jenes ungestüme Verlangen nach Gewißheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen«. 23 Erfahrungszurichtungen auf geforderte Standpunkte, die jegliche Beweglichkeit im furchtsamen Blick auf Ungewissheiten unterbinden. Mit der Desillusionierung der Glaubhaftigkeit eines Aufgehobenseins in Gott, die den Kosmos als große Leere, Fremde, Verlorenheit des Ich im Nirgendwo aufreißen lässt, schwindet die letzte Bastion metaphysischer Haltgebung. »Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?« 24 Der Schwindel induziert eine Art Zurückgeworfensein auf die Welt ohne Darüberhinaus, gähnend auch hier die Abgründigkeit der Geworfenheit, und doch birgt diese nihilistische Erschütterung für Nietzsche ein letztes Sinnelement. 22

Vgl. Freud, Sigmund: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symtomkomplex als Angstneurose abzutrennen (1895), in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892– 1899, Frankfurt a. M. 1952, S. 320 ff. 23 Nietzsche, Friedrich: Mörgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft (= Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden (KSA), hg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, Bd. 3), Berlin/New York 1988, S. 581 ff. 24 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 480 f.

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Gerade in der riskanten Bewegung ohne Ausweg wird ein artistischer Freiheitswillen offenbar, der eine transgressive Entschlossenheit herausfordert, sich von den Lügengespinsten metaphysischer Sicherheiten ebenso abzusetzen wie von den Denaturierungen des kulturell gebändigten, moralisch degradierten Ich. Wagemut heißt, sich kühnen Träumen hinzugeben. »[U]nd wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel«, eben das wäre artistische Existenz und Freiheit »auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!« 25 Die Planke über den Tiefen erlangt geradezu umgekehrte Kraft, sie wird zur Absicherung gegen die trügerischen Niederungen von Konventionsverhaftungen. Im Selbstverständnis von Literaten/Literatinnen und Künstlern/Künstlerinnen im 19. Jahrhundert (Décadence, Fien de siècle) scheint sich diese Artistik in Inszenierungen der Selbstverlorenheit zu artikulieren 26 bzw. in Schreibweisen, die sich in ambivalenter Lust an All- und Ohnmacht aus der Welt zurückziehen. Doch die poetologische Dimension des Schwindels lässt sich ebenso aus einer Reibung mit sozial- bzw. materialhistorischen, individuellen wie kollektiven Erfahrungsweisen eines Zur-WeltSeins verfolgen. Wie bereits bei Pascal oder Montaigne birgt die Lust am Schwindel (aktiv) bei gleichzeitiger Angst vor der Gefahr (passives Ausgesetztsein) in der ambiguen Mehrdeutigkeit des Phänomens sozialkritische wie ästhetische Implikationen. Das Seil über dem Abgrund ist geradezu die prototypisch akrobateske Situation, an der die Distanznahme vom Gewöhnlichen einen neuen Blick eröffnet. Dabei spielt die Sensibilität für ein leiblichaffektierendes Raum-Zeitgefühl, das vielfach hiermit konnotierte Moment des Stürzens in einen Abgrund, des Fallens, die Vorwegnahme eines Eingesogenwerdens, eine besondere Rolle. Am Seil-

25

Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 422 ff. Vgl. von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München 2001, S. 21.

26

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tänzerischen der Existenz kondensieren sich Ambivalenzen des Freiheitsdenkens. Kierkegaards existenzphilosophische, theologisch in die Dramatik des Sündenfalls eingefasste – und auf der sprachlichen Ebene zugleich poetische – Auseinandersetzung mit dem Schwindel als einer Zuständlichkeit, in der das Freiheits- und Risikobewusstsein des Menschen angesichts seiner Möglichkeiten wie Verfehlbarkeiten abgründig aufreißen, ist hier fraglos wegbereitend. Das Moment des Schwindels in der Spannung von Gefahr und Verführung, eines berückenden Gewahrseins der Riskanz im Moment der Entscheidung, die nicht begriffen, sondern in einem ahnenden, träumenden Bewusstseinszustand, wie in der Unschuld eines kindlichen Spieles, vielmehr herausgefordert wird, charakterisiert eine Verfasstheit der Angst als »Bestimmung des träumenden Geistes […] Im Wachsein ist der Unterschied zwischen mir selbst und meinem Anderen gesetzt, im Schlaf suspendiert, im Traum ist er ein angedeutetes Nichts.« 27 Dieses Nichts, die unergriffene, reine Möglichkeit des frei Möglichen, d. h. dessen, was sich in Entscheidung und Tat überführen lässt und damit sowohl Fakten als auch ein Ich setzt, das sich diese hat zu Schulden kommen lassen, ängstigt und ist zugleich von anziehendster Attraktivität. »Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muß, dem wird schwindelig. Doch was ist die Ursache dafür? Es ist in gleicher Weise das Auge wie der Abgrund – denn was wäre, wenn er nicht hinuntergestarrt hätte? Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten.« 28

Ist dieser Sprung aus der unbestimmten Möglichkeit in die Endlichkeit, und das heißt stets auch Zeitlichkeit, einmal getan, so ist die Angst nicht aus der Welt, sie kehrt vielmehr in jeder Lebens27

Kierkegaard, Sören: Der Begriff der Angst/Begrebet Angest II § 5, aus dem Dänischen übers. v. Gisela Perlet, mit einem Nachwort hg. v. Uta Eichler, Stuttgart 1992. 28 Kierkegaard: Der Begriff der Angst, S. 72.

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und Entscheidungssituation als existentielle Herausforderung wieder. Dieser nicht in kompensatorische Umtriebigkeiten auszuweichen, das fordert ein Bewusstsein dafür, auf dem Seil zu balancieren. Das Seiltänzermotiv, die akrobateske Haltung des Tanzens, womit je auch eine leibliche Dimension einer eigenrhythmischen Bewegung angesprochen ist, die aus dem Gleichtakt der raumzeitlichen Gefüge herausspringt, etwas Sprunghaftes in der Bewegung zeigt, wird in Rekurs auf Kierkegaard immer wieder aufgerufen, um einen Umgang mit der existentiellen Grundsituation menschlichen Daseins zu bestimmen, der sich nicht an trügerische Blendwerke wegwirft, sondern das Fürchten lernt. »Wer es dagegen in Wahrheit gelernt hat, sich zu ängstigen, der wird wie im Tanze schreiten, wenn der Endlichkeit Ängste aufzuspielen beginnen.« 29 Und führt nicht das Tänzerische immer einen kleinen Schwindel mit sich? Einen erhebenden Schwindel, ein Überschreiten, aber auch einen tumben Schwindel, ein kurzatmiges, gehetztes Erjagen von vermeintlich erfüllten Momenten im »Walzer des Augenblicks« 30. Kierkegaard mahnt die religiöse, auf das Ewige gerichtete Dimension des Menschen an und setzt diese gesellschaftsanalytisch und -kritisch gegen das blindwütige Jagen wie die dieser zugehörige Geschwätzigkeit ab.31 Kompensationsstrategien einer Angst, die den Menschen »niemals freigibt, nicht in der Zersteuung, nicht im Spektakel, nicht bei der Arbeit, nicht bei Tage, nicht in der Nacht.« 32 In der Moderne zeigt sich die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Schwindel vielfach als Reaktion auf eine fremd begegnende, kalte Welt gesellschaftlicher Fungibilität, Beschleunigung, Technizität, der Einklammerung des Ich in Sachzwänge, blinde Routinen, die Ökonomien eines gesellschaftlichen Getriebes, das 29

Kierkegaard: Der Begriff der Angst, S. 189. Kierkegaard: Der Begriff der Angst, III, § 3. 31 Vgl. Kodalle, Klaus Michael: An den Grenzen des rationalen Diskures. Spielräume der Freiheit bei Schiller, Hegel, Kiekegaard und Bonhoeffer, in: ders. (Hg.), Zeit-Verschwendung: ein Symposion, Würzburg 1999, S. 47–56, hier 54 mit Verweis auf Kierkegaard und Hegel. 32 Kierkegaard: Der Begriff der Angst, S. 181. 30

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den Einzelnen zum Getriebenen macht. Die kosmische Entgrenzung ins Unermessliche, der kosmologische, und das heißt stets auch ontologische horror vacui, gähnt gewissermaßen aus dem Moloch der zivilisierten Welt. Mit dem Kreditverlust einer sinnstiftenden, haltgebenden Ordnung des physischen Alls geht die Diskreditierung und Kritik teleologischer, progressorientierter Geschichtsmodelle einher. Die Erfahrung von Orientierungslosigkeit, Versprengtheit und Verlassenheit ergreift die leibliche Existenz in jeder nur möglichen Hinsicht, von allen Seiten und durch die Bewusstseinsschichten des Ich hindurch. Der kosmische Schwindel Pascals, das Entsetzen angesichts einer Gefahr des Sich-Verlierens an die trügerischen Versprechen des Irdischen als Mahnung an die Gottvergessenen, kehrt wieder und kehrt sich zugleich um: Die vertikale Direktion auf einen überweltlichen Fluchtpunkt und Halt erscheint als Inversion in die Untiefen einer Angst, die in keiner Richtung mehr auf Grund stößt: »Tout est âbime« heißt es in Baudelaires Le Gouffre (der Abgrund). 33 Pascals Horror transformiert sich in die Figur einer Abgründigkeit, die im wachend-tätigen, vor allem aber dem Schlafenden, von Träumen heimgesuchten Bewusstsein aufbricht. Alpszenarien entsetzlicher Stille, der Bodenlosigkeit wie der abgrundtiefen Ewigkeit weisen aus den Bodenlosigkeiten des Innenlebens auf eine Chronotopie des innerweltlichen Grauens. Bei Baudelaire übersetzt sich die existentielle Selbst- und Weltlosigkeit des taumelnden Ich in eine Poetologie an der Schwelle einer doppelten Unendlichkeit: Himmel und Hölle, deux infinis, zwei Unendlichkeiten, die ein jeder in sich trägt. »Wer dem nichtenden Nichts begegenen will«, so Ingeborg Bachmann gegen Heideggers fundamentalontologische Angstkonzeption, wird aus Baudelaires Le Gouffre, als eines sprachlichen Zeugnisses »äußerster Darstellungsmöglichkeit des Unsagbaren«, 33

Baudelaire, Charles: Le Gouffre, in: ders., Oeuvres complètes I, Les Fleurs du Mal, ed. Claude Pichois (= Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1975. Vgl. Compagnon, Antoine: Baudelaire devant l’innombrable, Paris 2003, S. 97 f.

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Schwindel

eine Auseinandersetzung »des modernen Menschen mit der Angst und dem Nichts« erfahren, in der die Flüchtigkeit der Zeit bzw. die Zeitlichkeit als Schwinden gesetzt sind. 34 Es ließe sich im Ausgang von der Transformation des Pascal’schen Abgrundes bis weit in die Dichtung der Gegenwart ausholen. 35 So nimmt Valéry das Pascal’sche Entsetzen angesichts einer verschlingenden Unendlichkeit als ästhetische wie kritische Figur auf. Es ist die Verzweiflung an der kosmischen Verlorenheit, an der das Unwirkliche der Wirklichkeit aufbricht: Schwindel als Erkenntniskritik bzw. als kritisches Sensorium. 36 Die unablässige Affirmation der Zerbrechlichkeit, Bedrohtheit, Verzweiflung ist unabhängig von den theologischen bzw. anthropologischen Beschwörungen der Nichtigkeit Ausdruck einer sprachlichen Kraft bzw. poetischen Konzeption. Es sind die Ambivalenzen der literarischen Darstellungsform, eine Sprache, die gegen das Gesagte agiert und darin ihre dichterische Qualität, ihre widerspielenden Resonanzräume öffnet. Dass damit der existentielle, das Subjekt gleichsam zerreißende, ent-setzende Schrecken keineswegs in eine ästhetische Wohlgefälligkeit aufgehoben wird, sondern sich an der Erfahrung der Spannung von Nichts/sinnverweigernder Leere und Nichtigkeit/ individueller Sterblichkeit eine kritische Dimension entwickelt, die sich auf eine Ästhetik des Schreibens verlagert, lässt sich an der Motivik des Schwindels in einer Fülle philosophisch-literarischer Texte der Moderne verfolgen. Die essentielle Transitorik einer in ihrer Unabschließbarkeit dialektischen Kritik provoziert 34

Bachman, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation, Wien 1949), aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlass hg. v. Robert Pichl, mit einem Nachwort v. Fritz Wallner, München/Zürich 1985, S. 116. Vgl. Kucher, Primus-Heinz/Reitani, Luigi (Hg.): »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 102 f. 35 Dies wird in einem in Vorbereitung befindlichen Buch der Verf. in ausführlicher Darstellung eingelöst. 36 Valéry, Paul: Zur Philosophie und Wissenschaft, Variationen über einen Gedanken Pascals (= Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen SchmidtRadefeld, Bd. 4), Frankfurt a. M. 1989, S. 92.

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in Denk- und Darstellungsweisen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer literarischen Uneindeutigkeit Irritationen auslösen: das Schwindelerregende. »Der großen Dichtung der Moderne seit Baudelaire ist das Gefühl zentral; der Philosophie wird anachronistisch bedeutet, sie dürfe an nichts dergleichen teilhaben. Man soll sagen, was man will; Karl Kraus mußte erfahren, daß, je genauer jeder seiner Sätze das bekundete, eben um solcher Genauigkeit willen das verdinglichte Bewußtsein zeterte, es ginge ihm wie ein Mühlrad im Kopf herum.« 37

Was aber ist die Provokation, die in Schwindel zu versetzen droht? Die Verweigerung eines Denkens, das sich in eindeutigen Alternativen auf eine Seite schlägt, einen klaren Standpunkt bezieht bzw. eine resultative Positionierung einnimmt, sondern als kritische Verhaltensweise in der Schwebe hält. Die Störung des Verlässlichkeitsglaubens bzw. die Unterminierung des Halts, den theoretische Abgeschlossenheit als Versprechen suggeriert, provoziert Empörung, grenzt an eine Verstörung, denn sie konfrontiert mit Lücken, Brüchen, kurz einer Offenheit, die alles so fest und haltgebend Geglaubte ins Wanken bringt: »Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der Schock des Offenen, die Negativität, als welche es im Gedeckten und Immergleichen notwendig erscheint, Unwahrheit für das Unwahre. […]« Der alltäglichen Ohnmacht und dem Sekuritätsprinzip des Einverstandenseins aber gilt es die Stirn zu bieten, »nur Gehirnakrobatik hat noch Beziehung zu der Sache, die sich nach der fable convenu ihrer Selbstbefriedigung zuliebe verachtet.« 38 Gehirnakrobatik, das weist uns abermals auf den Drahtseilakt eines Denkens aus dem Schwindel. Die Rede von einer Akrobatik des Denkens pointiert den Balanceakt der Kritik, dem stets etwas Kindlich-Spielerisches, Traumtänzerisches innewohnt. Die halbseidene Welt ist gewissermaßen die Schnittstelle zur empirischen Welt, in ihr wird sie bereits gebrochen verkörpert. Der Jahrmarkt ist ein solcher Ort des Taumels. Anziehend und anonymisierend 37

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik (= ders., Gesammelte Schriften 6, hg. v. Rolf Tiedemann u. a.), Frankfurt a. M. 1997, S. 42. 38 Adorno: Negative Dialektik, S. 42 und 45. [Hervorh. A. Eu.].

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Schwindel

zugleich ist er Allegorie des zivilisatorischen Getümmels, das gleißend im hellsten Licht der Vorführung eine gefasste, wohlausgeputzt Erfüllung versprechende Aufführung darbietet und zugleich im nüchternen Licht Elend und Sinnlosigkeit offenbart. Und diese Doppelgesichtigkeit ist zugleich unverhohlener Ausdruck eines Schwindels der Künstlichkeit, eines betrügerischen Glanzes, der sich plötzlich entzaubern kann und im Erschrecken innehalten lässt eingedenk eines leeren Sinnversprechens. »Tagsüber, in der brennenden Hitze gleich nach dem Mittagessen, war die Trostlosigkeit des Jahrmarktes grenzenlos. Die Unbeweglichkeit der Holzpferdchen mit ihren Glotzaugen und den gefärbten Mähnen nahm die großartige Melancholie eines versteinerten Lebens an.« 39

So formuliert es der Protagonist in Blechers Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit als eine Erfahrung, die am Jahrmarktsgebaren aufbricht, einem kleinen, in seiner schmutzigen Trostlosigkeit gleichwohl attrahierenden Welttheater der Sinnlosigkeiten, in dem man sich treiben lassen kann und doch plötzlich innehaltend stocken muss. Das ist keine Verinnerlichung oder Einkapselung in eine Welt jenseits der verstörenden Wirklichkeiten. Die Bewegung auf Erinnerungen, traumatische Einschnitte, poetische Einsenkungen in Schmerz und Krise bleibt durchlässig zu lebensweltlichen Erfahrungsweisen, schon allein durch die Körperlichkeit der Wahrnehmungs- und Sprachformen, die Bewegung im Sprachmaterial selbst, die gleichsam mit der Innen- eine Außenseite konstituiert. Die poetologische Dynamisierung von Erfahrung in der Sprache, die sich eines identifikatorischen Gestus vollends entschlägt, um sich in ständiger Versetzung, in Verschiebung und Aufschub kreisend auf etwas hinzubewegen, was sich dem Ausgesprochenwerden fortwährend entzieht, führt in der Moderne auf die Sprachbewegung der Poesie, deren radikale Verweigerung einer fixierenden Bedeutungskonstitution nicht in eine selbstgenügsame Ästhetisierung mündet, sondern als poetologische wie ästhe39

Blecher, M.: Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit/Întîmlări în irealitatea imediată, 3. Auflage Frankfurt a. M. 2013, S. 58.

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tische Transformation zum kritischen Austragungsort von Erfahrung wird. »Es waren immer die gleichen Stellen auf der Straße, im Haus oder im Garten, die meine Krisen verursachten. Jedesmal, wenn ich in ihren Umkreis trat, erfaßte mich die gleiche Ohnmacht und das gleiche Schwindelgefühl.« 40

Literatur Adorno, Theodor W.: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders., Noten zur Literatur I (= ders.: Gesammelte Schriften 11, hg. v. Rolf Tiedemann u. a.), 3. Auflage Frankfurt a. M. 1990. Ders.: Negative Dialektik (= Gesammelte Schriften 6, hg. v. Rolf Tiedemann u. a.), Frankfurt a. M. 1997. Bachman, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation, Wien 1949), aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlass hg. v. Robert Pichl, mit einem Nachwort v. Fritz Wallner, München/Zürich 1985. Baudelaire, Charles: Le Gouffre, in: ders., Oeuvres complètes I, Les Fleurs du Mal, éd. Claude Pichois (= Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1975. Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I 2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Blecher, M.: Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit/Întîmlări în irealitatea imediată, 3. Auflage Frankfurt a. M. 2013. Böhringer, Hannes: Lehne und Geländer, in: Sebastian Hackenschmidt/Klaus Engelhorn (Hg.), Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 229–232. Compagnon, Antoine: Baudelaire devant l’innombrable, Paris 2003. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, Zweite Ausgabe Leipzig 1848. Freud, Sigmund: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als Angstneurose abzutrennen (1895), in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892–1899, Frankfurt a. M. 1952. Janz, Rolf Peter/Stoermer, Fabian/Hiepko, Andreas: Einleitung, in: dies. (Hg.), Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 70), Amsterdam/New York 2003. 40

Blecher: Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, S. 10.

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Schwindel

Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 26, Anmerkung, B 72 / A 71 (= ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2), Frankfurt a. M. 2000. Kodalle, Klaus Michael: An den Grenzen des rationalen Diskures. Spielräume der Freiheit bei Schiller, Hegel, Kiekegaard und Bonhoeffer, in: ders. (Hg.), ZeitVerschwendung: ein Symposion, Würzburg 1999, S. 47–56. Kierkegaard, Sören: Der Begriff der Angst/Begrebet Angest, aus dem Dänischen übers. v. Gisela Perlet, mit einem Nachwort hg. v. Uta Eichler, Stuttgart 1992. Kucher, Primus-Heinz/Reitani, Luigi (Hg.): »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Wien/Köln/Weimar 2000. Merleau-Ponty, Maurice: Das Kino und die neue Psychologie, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 227–246. Montaigne, Michel de: Essais, erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett (= Die Andere Bibliothek, hg. v. Hans Magnus Enzensberger), Frankfurt a. M. 1999. Nietzsche, Friedrich: Mörgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft (= Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden (KSA), hg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, Bd. 3), Berlin/New York 1988. Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übertr. u. hg. v. Ewald Wasmuth, 8. Auflage Heidelberg 1978. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann (= Frankfurter Ausgabe, hg. v. Luzius Keller, Werke II, Bd. 1), aus dem Französ. v. Eva Rechel-Mertens, revidiert v. Luzius Keller, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1998. Salamun, Kurt: Karl Jaspers, 2. Auflage Würzburg 2006. Santner, Eric: The Weight of All Flesh: On the Subject-Matter of Political Economy, Konferenzbeitrag zur Tagung The Actuality of the Theologico-Political, London, 23.–24. Mai 2014. Valéry, Paul: Zur Philosophie und Wissenschaft, Variationen über einen Gedanken Pascals (= Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeld, Bd. 4), Frankfurt a. M. 1989. von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München 2001.

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Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

Aisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vorstellungsraums

1.

Der Raum in der modernen Philosophie

Die Geschichte der modernen Philosophie steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. Dasselbe lässt sich in Bezug auf die Raumauffassung in der frühmodernen Philosophie behaupten: Wenn man die wichtigsten Akteure der frühmodernen Philosophie von Descartes bis Kant untersucht, dann fällt auf, dass der Raum nach dem Modell des mathematischen Vorstellungsraums gedacht wird. Erst in dem Augenblick, in dem in der Philosophie das menschliche Bewusstsein zum Thema wird, insbesondere im deutschen Idealismus bei Schelling und Hegel, werden andere Arten der Raumwahrnehmung in Betracht gezogen. Der naturwissenschaftlichen ›objektiven‹ Raumerfassung durch Messen und Berechnen wird die ›subjektive‹ Raumerfahrung an die Seite bzw. gegenübergestellt. Die sinnliche Erfahrung von Räumlichkeit, wie sie immer schon in der Lebenswelt vor jeglicher philosophischer Thematisierung gemacht wird, erhält zunehmend philosophische Bedeutung und wird schließlich zur Herausforderung für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, die die erlebte und gelebte Räumlichkeit methodisch und begrifflich zu plausibilisieren versucht. Das Bedürfnis, das leiblich-sinnliche Raumempfinden philosophisch zu reflektieren, wurde bezeichnenderweise umso stärker, je mehr die naturwissenschaftlich-mathematische Raumauffassung durch die moderne Technik in die Lebenswelt implementiert wurde. Durch den technischen Fortschritt entstanden Räume in unserer Lebenswelt, die den Charakter des mathematischen Vorstellungsraums aufweisen, der noch zu Beginn der Moderne nur 262 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Aisthesis des Raums

imaginär – d. h. in der Vorstellung einiger weniger Wissenschaftler und Philosophen – existierte. Das Raumerleben des Menschen veränderte sich: Die Konfrontation mit den technischen Räumen in der Lebenswelt führte zu der Empfindung eines Gegensatzes zwischen dem ursprünglich natürlichen und symbolisch aufgeladenen ›Lebensraum‹ und dem – in gewisser Weise ›objektiveren‹, unpersönlicheren und global identischen – mathematisch-technischen, messbaren und berechenbaren Raum. Der Aufenthalt in dem durch die moderne Technik hervorgebrachten Raum führte, neben der Euphorie über das Neue und dem Gewinn an neuen Daseinsmöglichkeiten, auch zu einem Gefühl des Verlusts. 1 Dieser Verlust, der sich anfänglich nur als ein unbestimmtes Gefühl zeigte, musste selbst begrifflich erfasst werden. Diese begriffliche Erfassung wurde insbesondere von phänomenologisch inspirierten Philosophen des 20. Jahrhunderts (z. B. von Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Hermann Schmitz und in systematisierter Form von O. F. Bollnow) geleistet. Seitdem haben sich unsere Lebensbedingungen und -gewohnheiten weiter verändert: Vom post-postmodernen Menschen wird immer noch mehr Mobilität und Flexibilität, sowie qua neue Medien permanente Erreichbarkeit und Omnipräsenz gefordert, was zu einer immer stärkeren räumlichen Gleichgültigkeit, zu Unverbundenheit und Unverbindlichkeit in Bezug auf bestimmte Orte sowie – kritisch beleuchtet – zu Entwurzelung führt. 2

1

Die Ursprünge der Romantik mit der Suche nach natürlichen und ursprünglichen Werten ließen sich von diesem Hintergrund her erklären. Insbesondere im Zeitalter der aufkommenden Industrialisierung um die Jahrhundertwende (19./ 20. Jh.) begleitete die Euphorie über die Erfindung von Eisenbahn und Automobil sowie Maschinen und Fabriken auch eine Melancholie und ein Gefühl der Entfremdung. Ein gutes Beispiel ist Charlie Chaplins Film »Moderne Zeiten«, der als humoristische, aber sehr kritische Reaktion auf die industrialisierte und rationalisierte Welt entstanden ist. 2 Eine philosophische Reflexion dieser neueren Entwicklung – in ihren positiven wie negativen Aspekten – bliebe noch zu schreiben.

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Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

2.

Mathematischer versus gelebter und erlebter Raum

In seinem Buch Mensch und Raum aus dem Jahre 1963, das inzwischen nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Architektur als Standardwerk gilt, erarbeitet Bollnow den Gegensatz zwischen dem mathematischen Vorstellungsraum und dem gelebten bzw. erlebten Erfahrungsraum. 3 Der mathematische Raum zeichnet sich durch Homogenität und Gleichförmigkeit aus: »[K]ein Punkt [ist] vor dem anderen ausgezeichnet«, und »auch keine Richtung [ist] vor der anderen ausgezeichnet« 4. Im erlebten Raum gibt es dagegen einen »ausgezeichneten Mittelpunkt«, der »durch den Ort des erlebenden Menschen im Raum gegeben ist« 5. Husserl spricht entsprechend vom Leib als dem ›Nullpunkt der Orientierung‹ 6: Der leiblich erfahrene Raum ist durch ein »ausgezeichnetes Achsensystem« 7 bestimmt, das mit der Verfasstheit des menschlichen Leibes zusammenhängt, insbesondere mit dem aufrechten Gang und dem Verhältnis des Leibkörpers zur Schwerkraft. Der erlebte Raum ist folglich ein Raum, der nur erfassbar ist durch die Beziehung des Menschen, genauer des Leibes zur Welt: 8 Dementsprechend gibt es im erlebten Raum auch eine qualitative Gliederung, die mit den Eigenheiten des erfahrenden und wahrnehmenden Leibes, aber auch mit dem menschlichen Streben und der menschlichen Endlichkeit unauflöslich verbunden ist. Da der mathematische Raum als technischer Raum heutzutage die Lebenswelt stark prägt und in sie einbezogen ist, ist das Verhältnis der beiden hier theoretisch unterschiedenen Raumarten, 3

Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 16 ff. Ebd. S. 17. 5 Ebd. S. 17. 6 Vgl. hierzu auch Holenstein, Elmar: Der Nullpunkt der Orientierung: Eine Auseinandersetzung mit der herkömmlichen phänomenologischen These der egozentrischen Raumwahrnehmung, in: Tijdschrift vor Filosofie 1(1972), 34. Jg., S. 28–78. 7 Bollnow: Mensch und Raum, S. 16. 8 Insbesondere Merleau-Ponty hat gezeigt, dass wir nur qua Leib eine Welt haben. Der Leib ist, wie er sagt, unser »Zugang zur Welt«. Vgl. Maurice MerleauPonty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966/1974, S. 170 u. a. 4

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Aisthesis des Raums

die sich einerseits fast zu widersprechen scheinen, andererseits aber ineinander verschachtelt sind, freilich sehr komplex. In der modernen Lebenswelt kommt es zu einer Verwandlung des erlebten Raums selbst. Der erlebte Raum bietet dem Menschen Halt, insofern der Mensch als leibliches, endliches und strebendes Wesen immer schon an Orte gebunden ist. So gibt es für jeden Menschen Orte, die mit seiner Lebensgeschichte verwoben sind, die für ihn/sie mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen sind und deshalb nicht mehr gleichgültig sind und sein können. Der einzelne Mensch fühlt sich mit ihnen verbunden (oder ist von diesen Orten abgeschreckt) und richtet seine Existenz auf verschiedene Arten und Weisen nach diesen Orten aus. Gefühle sind somit für den Einzelnen stark mit bestimmten Orten und Räumlichkeiten verbunden. Orte tragen schließlich durch ihren mehr oder weniger bleibenden Charakter das Vermögen in sich, den Menschen an sich zu binden. Orte ermöglichen dem Menschen die innere und äußere Verwurzelung in der Welt. Die Beschaffenheit der technischen Räume ist jedoch – aufgrund ihres mathematischen Vorbilds – solcherart, dass die subjektive Verbindung und Anbindung an bestimmte Orte erschwert wird. Insbesondere die Homogenität und Universalität des mathematischen Raums, die hier gleichsam als ästhetisches Ideal materialisiert worden ist, steht der individuellen Verwurzelung entgegen. Bei der Bestimmung eines ästhetischen Ideals geht es um die Frage, wie ein endlicher Gegenstand zu gestalten sei, damit er einem gewissen Ideal des Erscheinens der endlichen Dinge in unserer Welt entspricht. Wie die Homogenität des mathematischen Vorstellungsraums also in Objekten unserer Lebenswelt zur Erscheinung gebracht wird, ist zur Aufgabe des technischen Designs geworden. Die Frage lautet hier: Wie kann der absolute Charakter des mathematischen Vorstellungsraums mit seinen inhärenten Forderungen in die Objekte unserer Lebenswelt übersetzt werden? Die diesbezüglichen Antworten sind inzwischen omnipräsent und prägen unsere Lebenswelt in vielfältiger Weise: Im Stil des modernen Wohnens, im Stil der Verwaltungsgebäude, der Infrastruktur, der technischen Geräte bis hin zur Prägung der sozialen Umgangsformen durch die neuen (und immer neueren) Medien. 265 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

Gerade in diesem Sachverhalt liegt die eigentümliche Schwierigkeit der Bestimmung des zentralen Problems, das sich hinter der Entgegensetzung des mathematischen und des erlebten Raums befindet. Zur Bestimmung des Menschen als leibliches und endliches Wesen, das Räume bewohnt, gehört auch eine qualitative Forderung in der Raumbestimmung/-gestaltung: Es ist nicht gleichgültig, wie der Mensch seinen Wohnraum bestimmt und gestaltet, wenn er sich ›wohl‹ oder ›wohnlich‹ fühlen will. 9 Deshalb gehört zum Menschen als endliches, in der Welt wohnendes Wesen auch wesenhaft (aber in einem eminenten, ausgezeichneten Sinne) eine Ökologie des Raums 10, die allerdings mit einem bestimmten, modisch gewordenen ökologischen Stil des Wohnens wenig oder gar nichts zu tun hat. 3.

Der Raum der Technik und das technische Design

Der grundsätzlich homogene Charakter des mathematischen Vorstellungsraums impliziert, wie schon ansatzweise erwähnt wurde, dass die Punkte oder Elemente hier grundsätzlich gleich und gleichgültig sind: Kein Punkt ist vor dem anderen ausgezeichnet. Die Gleichgültigkeit des mathematischen Vorstellungsraums führt dazu, dass eine spezifische Orientierung dieses Raums gar nicht vorhanden ist; oder man könnte auch sagen, dass die grundsätzliche Orientierung dieses Raums auf die Unendlichkeit gerichtet ist, und dass alles Einzelne grundsätzlich in dieser Unendlichkeit aufgelöst ist. Es bliebe genauer zu untersuchen, inwiefern diese aus dem mathematischen Vorstellungsraum abgeleiteten Bestimmungen in den technischen Räumen verkörpert dargestellt werden, und inwiefern sie die Forderungen des technischen Designs bestimmen. An dieser Stelle ist es nur möglich, einige Grundcharak-

9

Vgl. zum Begriff des Wohnens Heidegger, Martin: Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a. M. 2000, S. 163 ff. 10 Vgl. hierzu Geboers, Tom: Rückkehr zu Erde. Grundriss einer Ökologie der Geschichte im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger, Würzburg 2012.

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Aisthesis des Raums

teristika des modernen technischen Designs zu nennen, von denen wir in diesem Kontext auf drei hinweisen wollen: • Der technische Raum erhält Vielheit in der Form völlig gleicher und austauschbarer Punkte. Dementsprechend versucht das technische Design, insofern eine Vielzahl von Elementen zu berücksichtigen ist, diese gleichzuschalten und als bloß zufällig individualisierte Gleichheiten erscheinen zu lassen. Die Betonung liegt auf der Gleichheit und Gleichgültigkeit. • Die Homogenität des mathematischen Raums bildet einen grundsätzlichen Zug in die Unendlichkeit. Das technische Design versucht deshalb, das Vereinzelte, das sie berücksichtigen muss, im Maße des Möglichen als aufgelöst in einer Fläche aufzuzeigen. Die Grenzen dieser Fläche werden lediglich als Linien aufgefasst; es wird angedeutet, dass die Fläche danach ad infinitum weitergehen kann. Das einzelne Element, das im technischen Objekt notwendig vorhanden ist, wird möglichst ins Ganze aufgelöst. Dies entspricht der Tendenz, das Objekt bzw. den Raum – etwa durch Glätte der Oberflächen, Ebenmäßigkeit der Flächen, symmetrische Formen – so zu gestalten, dass kein einzelnes Element hervorsticht oder im Zentrum steht. Das Einzelne soll wie durch eine Linie mit dem Unendlichen verbunden bleiben, soll so zur Gestaltung gebracht werden, dass stets seine Auflösung in den unendlichen Raum angedeutet wird. • Der homogene mathematische Raum ist ein Raum, in dem ›ewige‹ Gesetze gelten. Neben der räumlichen Dimension der Unendlichkeit, die den Hintergrund der messbaren und berechenbaren Linien, Flächen und Körper bildet, ist auch auf die zeitliche Dimension der Unendlichkeit (Ewigkeit), die die mathematische Raumbetrachtung begleitet, hinzuweisen. Dementsprechend hat das technische Objekt bzw. der technische Raum ein spezifisches Verhältnis zu zerbrechlichen bzw. vergänglichen Materialien. Die Materialität der technischen Objekte bzw. des technischen Raums wird in ein Verhältnis zur Ewigkeit gesetzt, indem der Oberfläche eine Glätte und Gleichmäßigkeit verliehen wird, die einer Unterordnung der Materie unter die Form gleichkommt. Es ist kein Zufall, dass 267 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

Beton, Plastik und Metall zu den wichtigsten Materialien des technischen Designs und der modernen Architektur gehören. Die Fixierung auf die Ewigkeit als Über- oder Außerzeitlichkeit bzw. Zeitlosigkeit macht auch verständlich, warum in den Objekten und Räumen des technischen Designs eine besondere Betonung auf Neuheit und Innovation liegt. Die Räume und Objekte sind in dem Moment vollendet, in dem sie neu hervorgebracht werden; danach ›veralten‹ sie nur noch und sind sehr schnell nichts mehr wert. Nur das Neuste vom Neusten hat seinen Wert und ist ›in‹. Das ›Altern‹ entspricht nicht nur einer allmählichen ökonomischen Entwertung und damit (Ver-)Nichtung des Objekts; damit einher geht auch das ästhetische Urteil eines ›Hässlicher- und Unmodisch-Werdens‹. Der Gedanke, dass Objekte oder Räume mit der Zeit schöner oder – wie etwa bei Musikinstrumenten – durch den Gebrauch wertvoller und reifer werden könnten, ist der modernen Technik fremd. Dies bewirkt einen Kreislauf der ständigen Erneuerung technischer Produkte bzw. eines ständigen Verfalls technischer Produkte. In unserer Untersuchung möchten wir ausgehend von diesen drei charakteristischen Beobachtungen – Gleichgültigkeit, Unendlichkeit, Ewigkeit (Über-/Außerzeitlichkeit/Zeitlosigkeit) – einen Aspekt des technischen Raums und der technischen Objekte besonders hervorheben: Die These (1) ist, wie bereits angedeutet, dass der technische Raum und das technische Design dem Menschen eine spezifische Bindung oder Haftung und damit verbundene subjektive Gefühle, Geschichten und Erinnerungen – kurz: die ›innere und äußere Verwurzelung‹ – erschweren. Der technische Raum und das technische Objekt beziehen nicht auf eine Mitte, binden nicht an eine Mitte oder an mehrere Zentren, sondern ziehen – in der betonten Vermeidung der Hervorhebung eines besonderen Orts oder mehrerer besonderer Orte – ins Unendliche, ins Über-/Außerzeitliche, in die absolute Dimension des mathematischen Vorstellungsraums. Die modernen Räume und Objekte sind so gestaltet, dass die Augen des Betrachters nirgendwo ankommen. Dies wird dadurch bewirkt, dass den technischen Räumen und Objekten eine solche Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit auferlegt wird, dass 268 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Aisthesis des Raums

das Auge, das einen Punkt sucht, wo es sich aufhalten könnte, immer wieder abgleitet und in eine unsichtbare, im Raum oder Objekt nur angedeutete unendliche Weite wegdriftet. Die glatte Oberfläche, die Ebenmäßigkeit technischer Objekte hat zum Zweck, dass das Auge, das nach einer Tiefe sucht, sich in einer unsichtbaren Unendlichkeit verliert. Diese Verschließung gehört zum radikalen Programm des technischen Designs, das der moderne Mensch bisher kaum in seinem Wesen erfasst hat. Nimmt man diese Betrachtungen ernst, so lässt sich als zweite These (2) anführen, dass der technische Raum und die technischen Objekte das Wesen des Ortes ausschließen; indem die absolute Homogenität des mathematischen Raums vermittels der Technik die Lebenswelt zunehmend prägt und ausmacht, verschwinden natürlich und geschichtlich gewachsene singuläre Orte und Stätten, bzw. sie verlieren im modernen Zeitgeist und in einer Welt der digitalen Omnipräsenz ihre Wertschätzung. 4.

Der Ort: Einzigartigkeit – Verschließung – Bindung

Die spontane Vorstellung, die man gemeinhin mit dem Begriff ›Raum‹ verbindet, ist die eines gleichmäßigen, offenen Bereichs, in den man Objekte stellen und zur Erscheinung bringen kann. Insofern ist der Raum – entsprechend dem Ideal des mathematischen Vorstellungsraums – eine Art von schwereloser Luft- oder Leerraum, der von einem gleichmäßigen Licht durchstrahlt wird oder der doch zumindest permeabel ist. Als solcher ist der Raum der Hintergrund für die Erscheinung von weniger durchsichtigen Objekten in ihm. Wenn man den Raum in diesem Sinne denkt, bleibt es jedoch schwierig, den Begriff des Raums in seinem Verhältnis zum Wesen des Ortes zu bestimmen. In der gerade skizzierten Bestimmung des Raums wird übersehen, was doch eigentlich wesenhaft zur Bestimmung der Räumlichkeit gehört, nämlich, dass unser Lebensraum nicht nur ein offener und absolut verfügbarer Bereich ist, durch den wir uns frei bewegen können und in den wir nach Belieben Dinge stellen können, sondern dass er zugleich auch ein dichter, undurchdringlicher Bereich ist, der Gren269 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

zen markiert und uns dadurch Halt und Orientierung bei der Fortbewegung gibt. Der Boden ist es, der unseren Leibkörper trägt, der ihn hält und beim Fall die zu Boden gehende Körpermasse qua Schwerkraft ›auffängt‹. Doch nicht nur der Boden, auch die Objekte im Raum sind nicht ›durchsichtig‹ (wie es das mathematisch-geometrische Ideal vollständig berechenbarer und messbarer, d. h. im Denken ganz und gar ›erkennbarer‹ Gegenstände suggeriert), sondern zeichnen sich durch eine undurchdringbare Dichte aus. Wir sehen nicht durch sie hindurch, sondern stoßen gegen sie oder bleiben an ihnen haften, finden Halt und Orientierung. So haben wir im Raum unsere Blickfänge, unsere Begrenzungen, zwischen den Objekten und Raumgrenzen unsere Nischen und Inseln. Den dichten Bereich, auf dem wir stehen, die Dinge, die wir im offenen Licht des Weltraums sehen, zeigen sich, indem sie sich einer absoluten Durchsichtigkeit verwehren: Ihre Dichte und Materialität ist die Grundbedingung ihrer Sichtbarkeit als Ding oder als Objekt. Die Oberfläche, die die Dinge darbieten, ist gerade die Grenze ihrer eigentlichen Verschließung, ihrer Dichte. Das, was sichtbar ist im Offenen, ist nur sichtbar, indem es eine Oberfläche zeigt, hinter der es sich verschließt. Wir stehen auf der Erde, in unmittelbarer Nähe zu einem riesigen, dichten Bereich, der sich uns verschließt. Die gleiche Verschließung entdecken wir in den Dingen, mit denen wir umgehen, in den Pflanzen, den Tieren, in uns selbst als Menschen. Immer sind wir mit einem Bereich konfrontiert, der etwas zeigt, indem er sich zugleich verbirgt. Das, was sich zeigt, enthüllt sich dabei zugleich als eine Spur, die ins Verborgene führt. 11 Wir holen stets etwas aus dieser Verborgenheit hervor, sind dabei jedoch stets auf das wesenhaft Verborgene angewiesen, werden immer wieder uns dem Verborgenen zuwenden müssen. Gerade die Tatsache, dass die Welt für uns nicht ›durchsichtig‹, d. h. in einer Art Totalperspektive und einer Art vollständiger Permeabilität erkennbar ist, ermöglicht uns erst die niemals endende ›Entdeckung‹ der Welt. Wir können nicht durch die Ge11

Vgl. hierzu Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, S. 193 f.

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genstände hindurchsehen, und wir befinden uns nicht in einem gleichsam schwerelosen und schwebenden Raum ohne Boden, sondern wir sind selbst ›verweltlicht‹ und ›verleiblicht‹, sind über unseren Leib räumlich verortet, stehen auf dem Boden, zwischen anderen Leibern und Körpern, nehmen die uns umgebende, stets auch verborgene Welt kinästhetisch (in Wahrnehmung, Berührung und Bewegung) – und nicht etwa in der Vorstellung eines reinen Bewusstseins – wahr. 12 Erst wenn wir begreifen, dass wir selbst qua Leib in der Welt verortet sind, und dass uns die Dinge nicht nur aufgrund der damit einhergehenden Perspektivität, sondern auch aufgrund ihrer Dichte und Undurchsichtigkeit zwangsläufig immer auch (teilweise) verborgen sind, können wir verstehen, worin das Wesen des Ortes besteht. Der Lebensraum des Menschen ist nicht homogen, sondern qualitativ differenziert. Es gibt, der dichten Dimension unserer Umwelt entsprechend, Stellen im Raum, die – für uns – den anderen Stellen ungleich sind, weil sie zum Verweilen einladen, gute Aussichtspunkte sind oder anderweitig besonders sind. Es kann allerdings auch sein, dass wir uns aufgrund vorhergehender Erlebnisse und Geschehen an diese Stellen gebunden fühlen. Diese Stellen sind dann für uns nicht gleichgültig und können dabei emotional sowohl positiv als negativ besetzt sein, als Stellen, zu denen wir hinmöchten, oder als Stellen, denen wir aus dem Weg gehen. Sie sind für uns, um eine Formulierung Husserls zu gebrauchen, gewissermaßen »mit Sinn beseelt« 13. Eine solche ›Beseelung mit Sinn‹ meint nicht die setzende, sinnkonstituierende Leistung eines reinen Bewusstseins, sondern leistet der beseelte Mensch, genauer der erlebende und erfahrende Leib (sozusagen das animal 14), der sich im Kontakt mit der Raumstelle oder dem 12

Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, hg. v. Marly Biemel, Den Haag 1952 (Hua IV) sowie ders.: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. v. Ulrich Claesges, Den Haag 1973 (Hua XVI). 13 Vgl. hierzu insbesondere Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Erster Teil: 1905–1920, hg. v. Iso Kern, Den Haag 1973 (Hua XIII), S. 64–70. 14 Zum animal-Begriff bei Husserl vgl. Depraz, Natalie: Y a-t-il une animalité

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Raumobjekt befindet. Das bedeutet, der Sinn entwächst nicht einem Subjekt und wird einem objekthaften Raum oder Ding auferlegt, sondern entspringt der Begegnung von Mensch und Raum. Der Sinn entsteht also jenseits der Alternative von Subjekt und Objekt, von Aktivität und Passivität, von Mensch und Welt. 15 Der Sinn geht aus einer mehr oder weniger bewusst und explizit geschehenden Erfahrung mit der Eigenart der jeweiligen Stelle hervor. Diese Erfahrung, die in einen Ausdruck übergeht, die zur ›(Körper-)Geste‹ 16 oder ›(Körper-) Geschichte‹ 17 wird, macht aus der Stelle etwas, das gerade keine gleichgültige Raum-Stelle neben einer anderen mehr ist, sondern ein Ort. ›Ort‹ heißt dann, dass die Stelle für jemanden (bzw. für einen Leib) – oder auch für mehrere Menschen – mit einem bestimmten Sinn ›beseelt‹ ist bzw. mit einer einzigartigen ›Geschichte‹ behaftet ist. Der ›Ort‹ selbst bekommt dadurch aber auch ›seine‹ Geschich18 te. Er ist durch eine ganz ›eigene‹ Eigenart gekennzeichnet, die noch in anderer Weise der Begegnung des Menschen mit dem Raum entspringt, und die ›ent-deckt‹ oder – mit Heidegger ge-

transcendantale?, in: ALTER 3/1995, S. 81 ff.; Cabestan, Philippe: La constitution de l’animal dans les Ideen, in: ALTER 3/1995, S. 39–79 sowie Fischer, Miriam: Leben im Vollzug des Sinns. Zur Sinnbegabtheit der Animalien, in: Philippe Merz/Andrea Staiti/Frank Steffen (Hg.), Geist – Person – Gemeinschaft. Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, S. 241–268. Hier wäre auch auf das Phänomen des Körpergedächtnisses zu verweisen, vgl. Fuchs, Thomas: Das Gedächtnis des Leibes, in: Phänomenologische Forschungen 5/2000, S. 71–89. 15 Vgl. zu Merleau-Pontys Sinnbegriff als »Sinn in statu nascendi«: Fischer, Miriam: Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes, Freiburg 2010, S. 155–286. 16 Zum Begriff der Geste bei Merleau-Ponty vgl. Fischer, Miriam: Tanz als rein (st)e Geste – Überlegungen zum Konzept des Gestischen im Ausgang von Maurice Merleau-Ponty und Giorgio Agamben, in: Ulrich Richtmeyer/Fabian Göppelröder/Toni Hildebrandt (Hg.), Bild und Geste, Bielefeld 2013, S. 149–170. 17 ›Geschichte‹ meint hier im Anschluss an Husserl und Merleau-Ponty ganz allgemein den Übergang einer ›noch stummen Erfahrung‹ in einen (sprachlichen) Ausdruck. Dabei kann der Ausdruck aber auch ein ›impliziter‹ sein, der sich in körperlichen Habitualitäten, Ritualen oder Verhaltensweisen äußert. 18 Und es handelt sich hierbei nicht um einen Anthropomorphismus oder Animismus.

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sprochen – ins Offene gebracht (»Lichtung«) 19 werden will. Insofern dies geschieht, erkenne ich den Ort als ein eigenes, selbständiges Wesen an, als einen Bereich, der eine eigene (verborgene) Geschichte hat, von welcher Art diese auch sein mag. Die Anerkennung, dass etwas ein Eigenleben hat, ist zugleich Respekt gegenüber einem Verborgenen im Ort. Der Ort ist insofern ein Wesen der besonderen Art, nämlich ein Zusammenspiel von Sich-Zeigen und Verschließung, indem der Mensch als beseeltes und sich bewegendes Lebewesen (animal) auf etwas In-SichRuhendes bezogen wird. Die Schwierigkeit der Bestimmung des Raums als eine ›Ansammlung von Orten‹ liegt darin, dass sie nur nachvollzogen werden kann, wenn wir auch den seelischen Prozessen in uns einen räumlichen Zug (d. h. einen in die Welt hineingehenden) zusprechen können. Gerade der in diesem Sinne verstandene ›Ort‹ zeigt auf, dass Mensch und Raum nicht innerhalb eines Subjekt-Objekt-Denkens verstanden werden können: Der Mensch ist selbst räumlich – einmal ganz konkret über seinen Raum einnehmenden Leib, aber auch über seine in den Raum hineinreichenden und im Raum verwurzelten, veräußerten Gefühle, über seine mit dem Raum verbundenen Erinnerungen und Geschichten; umgekehrt weist der Raum als Ort eine gewisse Subjektivität auf, insofern er einerseits seine einzigartige Lage, seine bestimmte Beschaffenheit und Eigenart, aber andererseits auch seine eigene ›Geschichte‹ und seinen eigenen ›Sinn‹ hat. 20 Der Mensch, der in der Welt unterwegs ist, wird immer wieder an Orte stoßen, an denen er spürt, dass hier etwas war oder dass es 19

Zu Heideggers Metaphorik der Lichtung: Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus, in. ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, S. 326 ff. 20 Materialität und Idealität können hier allerdings streng genommen gar nicht unterschieden werden; denn auch das Material hat seine ›Geschichte‹, die erzählt werden will, d. h. auch seinen ›Anspruch‹ an den Menschen stellt: Dies ist in dem Sinne gemeint, in dem Merleau-Ponty sagt, dass die Dinge sich dem Maler aufdrängen, dass sie verlangen, von ihm gemalt zu werden, und dass die Malerei entsprechend nur eine Antwort auf den Anspruch der Natur ist. In dieser Denkfigur wird in der Konsequenz auch der Dualismus und die Hierarchie von Welt und Mensch zugunsten eines Ineinander-Verhältnisses aufgehoben.

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hier etwas gibt, das sich zugleich zeigt und entzieht, das zu entdecken bleibt. Meistens belässt der Mensch es hier beim bloßen Gefühl, dass dies so ist. Er nimmt das Gefühl gewissermaßen mit, wird vielleicht unwillkürlich immer wieder an die Orte zurückdenken und -fühlen. Diese innere Auseinandersetzung kann Anlass zu einer tatsächlichen Rückkehr zu bestimmten Orten geben. Man merkt, dass es einen zu bestimmten Orten zurückzieht. 21 Die Intensität dieser Auseinandersetzung kann wechseln, je nachdem, ob das Bedürfnis zur Rückkehr an Orte dringend ist oder nicht, aber vor allem je nachdem, ob man einem solchen örtlichen Bezug selbst Wahrheit und Geltung zuerkennt oder nicht. Das Problem der (mangelnden) allgemeinen Verbindlichkeit scheint der Grund dafür zu sein, dass tendenziell solchen ›Wahrheitsbehauptungen‹ ein höchstens für das Individuum bestehender subjektiver Wert zugestanden wird. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es auch für die geschichtlich und kulturell gewachsene Menschheit, d. h. für Religionen, Völker oder Bevölkerungsgruppen die Bindung an bestimmte Orte geben kann. Orte spielen für die Bildung kollektiver Identitäten eine entscheidende Rolle. Das einzelne Individuum als Mitglied einer kollektiven Identität hat somit nicht nur seine individuellen geschichtsund erfahrungsträchtigen Orte, sondern ist auch mit den intersubjektiv geteilten geschichtlich und kulturell bedeutsamen Orten verbunden. Im Weiteren möchten wir das seelisch-leibliche Bedürfnis des Menschen, sich mit Orten zu verbinden, noch genauer in den Fokus nehmen. Dabei sind wir der Meinung, dass die Bestimmung des ›Ortes‹ unzureichend bleibt, solange wir die Wirklichkeit bestimmter räumlicher bzw. raumbezogener Aspekte des menschlichen Seelenlebens nicht anerkennen.

21

Beispiele wären z. B. ›Heimweh‹ oder ›Fernweh‹.

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5.

Die Seele und der Ort »Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden, welchen Weg du auch wanderst. So weitreichend ist ihr Sinn.« Heraklit 22

Descartes hat uns in seinen Meditationen eine Subjekttheorie hinterlassen, in der das Subjekt als klar und deutlich erkennbares reines Denken (ego cogito bzw. res cogitans), als unausgedehnte fixpunktartige Substanz erscheint. Die Seele hat in dieser Konzeption gerade keinen Ort, nimmt keinen Raum ein, ist reines unausgedehntes Denken. Im modernen Denken gibt es die Tendenz, das Selbst im vornhinein als eine Abgrenzung zu denken, d. h. es zu isolieren. Diese Isolation wurde auch bei anderen Denkern in vielerlei Hinsicht als Selbstbefreiung des Menschen verstanden, nämlich als Befreiung von seelisch-leiblichen Bindungen aller Art, die einseitig unter dem Motto der Knechtschaft Herabgesetzt wurden. Insbesondere im Deutschen Idealismus bestimmt sich der Mensch in ausdrücklichem Sinne durch das Kriterium Freiheit. Die moderne Freiheit besteht in der Selbstbestimmung des Menschen. In Bezug auf das moderne Raumverhältnis heißt das, dass der moderne Mensch sich an erster Stelle als losgelöstes Wesen zwischen seinesgleichen versteht. Dieses Selbstverständnis konstituiert bzw. konstruiert den Menschen jedoch als einen harten, punktartigen Ich-Kern, der radikal von allem anderen abgesondert ist. Die Weltverbundenheit des Menschen bleibt dabei ausgeklammert. Diese Ausklammerung ist allerdings vielfach angeklagt worden (z. B. in der deutschen Romantik): Gehört es nicht zum Wesen des Menschen und der menschlichen Seele, sich an Orte zu binden? Enthüllt sich darin nicht eine viel reichere Wesensbestimmung des Menschen, nämlich als Wesen, das auf der Erde wohnt bzw. vielleicht sogar wohnen möchte? Und wäre die Seele dieses Menschen als ausgedehnte dann auch nicht nur hell und klar zu erkennen, sondern auch verborgen, dunkel und abgründig? 23 22

Heraklit, Fragment 45. Zitiert in: Heidegger, Martin: Heraklit, Frankfurt a. M. 1979, S. 282 f. 23 Vgl. hierzu Wirz, Benno: Die Philosophie, das Leben, das Licht und das Dun-

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Wir sind uns selbst in einem starken Maße verborgen und somit ein Geheimnis. Alles, was uns an uns selbst hell und klar ist, verläuft zugleich in ein Unbekanntes und Dunkles. Wir Menschen können uns im Hellen, Bekannten und Klaren einrichten und versuchen, alles im Maße des Möglichen in dieses helle Licht zu rücken. Dennoch könnte es sein, dass sich uns die Dinge und wir uns selbst entziehen; dies wird umso mehr zu einem Ärgernis, als dieser Entzug gegen unser modernes Bedürfnis nach klarem und distinktem Wissen und Erkennen à la Descartes verstößt. In manchen Episoden unseres Leben kann dies besonders deutlich werden, wenn das ›Andere‹ des vernunftmäßigen Wissens uns zu einer Auseinandersetzung herausfordert, die uns vielleicht zu einem neuen Grundverhältnis zur ›Wahrheit‹ zwingt. Man kann – wie die Psychoanalyse – die bewusste Seite unseres Wesens auch als eine Oberfläche verstehen, an der sich tiefere Kräfte – je nachdem – verstellend oder enthüllend zeigen. 24 Wir können Bedürfnisse in uns anerkennen, die aus einer Tiefe heraufquellen und über unser bewusstes Selbst hinaus nach außen treten. Wir merken, dass viele Empfindungen und Gedanken in uns unwillkürlich sind, sich gleichsam neben und trotz unserer bewusst willentlichen Tätigkeit vollziehen. Unser Denken ist oft ein sich den Träumen oder einem sich-selbst-vollziehenden Denken überlassendes, eher als dass es ein bewusster, von mir vollzogener Akt genannt werden darf. Das Denken an Orten, die Auseinandersetzung mit Orten scheint in eminentem Sinne ein solches Denken zu sein. 25 Es ist kein selektives Denken, sondern ein Denken, das in die Breite geht, das Bilder aufgreift, über diese räsonniert, bei diesem Räsonnieren zu anderen Bildern übergeht, und diese Bilder werden dabei von mir mit Sinn beladen, werden zu ›Sinnbildern‹ unseres Innenlebens, zu Quellen, an denen sich unser Inneres bereichert. Es handelt sich hier also um ein verbindendes (im kel, in: Miriam Fischer-Geboers/Benno Wirz (Hg.), Leben verstehen, Weilerswist (i. E.). 24 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, London 1940, S. 252 ff. zur Topologie des Ich. 25 Vgl. hierzu auch Guzzoni, Ute: Wege im Denken, Freiburg 1990.

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Gegensatz zu einem trennenden) Denken. In diesem Denken werden zwei Bereiche miteinander verbunden: Der Ort, der mich mit seinem So-Sein anzieht, und das Verborgene der eigenen Seele, das sich aus irgendeinem Grund mit dem Ort verbinden will, weil es sich ihm verbunden fühlt und dieses Gefühl realisieren will. Es handelt sich hierbei um eine Grenze unseres Bewusstseins, um einen Bereich, in dem es plötzlich ›Nacht‹ wird. Dabei gibt es eine Vielfalt von Übergängen zwischen der Nacht und dem hellsten Licht des Bewusstseins. Wenn das Ich sich auf diesen Bereich einlässt, dann löst sich seine Verhärtung (die durch die radikale Absonderung zu entstehen droht). Das Ich spürt sich dann als einen Bereich des Zwischen, als eine ›Kreuzung von Wegen‹, die einerseits in die Welt, andererseits ins Unbekannte der eigenen Seele verlaufen, und damit auch das Sichtbare mit dem Unsichtbaren vermitteln. Es ist das Verdienst der phänomenologischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, räumliche und raumbezogene Aspekte des menschlichen Seelenlebens in mehrfacher Hinsicht aufgezeigt zu haben. Innerhalb der phänomenologischen Bewegung hat als erster Husserl gezeigt, dass der Mensch als »Leib« (beseelter Körper) bzw. »psychophysisches Objekt« (Verbindung aus Körper und Seele) bzw. »animal« in engem Kontakt mit der Welt steht, die für ihn als mit Sinn »beseelt« erscheint. Die Welt ist für die psychophysische Einheit ›Mensch‹ in Korrelation schließlich selbst eine »psychophysische«, das heißt eine mit Sinn beseelte Welt. Indem Husserl den Begriff »Beseelung« synonym für »Sinnstiftung« oder »Sinnhaftigkeit« verwendet, suggeriert er, dass Sinn durch beseeltes lebendiges Leben generiert wird. Der Bereich des Seelischen ist dabei schließlich nicht auf den Menschen oder auf andere Animalien beschränkt, sondern wird korrelativ auf die Welt und die Dinge ausgedehnt. Der Begriff der »psychophysischen Welt« meint bei Husserl nichts anderes als eine (mit Sinn) beseelte Welt, mit der der Mensch und andere im originären Sinne beseelte Leiber (Animalien) in Kontakt stehen. 26 Dies wäre in unserem 26

Vgl. hierzu Fischer: Denken in Körpern, S. 92–152.

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Kontext die Definition für das Phänomen des ›Ortes‹ : ›Ort‹ wäre in der Husserl’schen Terminologie ein mit Sinn beseelter, mit Seele behafteter bzw. ›psychophysischer‹ Raum. Heidegger hat die enge Verbindung des Menschen mit der Welt u. a. in seinem Sprachdenken hervorgehoben; gleichzeitig wird der Begriff der Wahrheit in radikaler Weise mit dem Wesen des Ortes zusammengedacht. 27 Indem Heidegger den Begriff der Sprache nicht nur als Sprache des Menschen denkt, sondern auch – als logos der physis – auf die Welt und die Dinge ausdehnt, gelingt es ihm, das Wesen der Wahrheit im Zwischen von Mensch und Welt – am ›Ort‹ – zu ver-ort-en. In dieser Konzeption ist die ›objektive‹ metaphysische Wahrheit an konkrete Orte gebunden. Im Hören auf den Logos der physis findet der Mensch zum eigentlichen Sprechen. Dadurch skizziert Heidegger ein enges Verhältnis des Menschen mit der Welt, zu der der Mensch selbst gehört und der er »hörig« sein soll. Die Verwandtschaft von Mensch und Welt hat Merleau-Ponty im Anschluss an Husserl, aber auch Heidegger in unterschiedlicher Weise weitergedacht und vertieft. In zahlreichen Schriften befasst er sich mit der (künstlerischen) Geste des Malers, die als Kommunikation des Leibes mit der Welt charakterisiert wird. Sinn entsteht Merleau-Ponty zufolge nicht bewusstseinsimmanent, sondern geht als wahrhafter Sinn (»Sinn in statu nascendi«) aus dem Kontakt des Menschen, konkret: des Leibes, mit der Welt hervor. Diese Sinngenese zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die Dualismen und die Trennung von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt, von Aktivität und Passivität hinter sich lässt. Im Spätwerk denkt Merleau-Ponty – unter Einbeziehung des Heidegger’schen Sprachdenkens – diese enge Kommunikation des Menschen mit der Welt weiter; im Begriff des »Fleisches« wird die Verwandtschaft von Mensch und Welt noch radikalisiert: Merleau-Pontys These ist hier, dass die Kommunikation des Menschen mit der Welt nur möglich ist, weil Mensch und Welt von derselben »Textur«, vom selben »Element« sind. Es ist nun nicht 27

Vgl. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Frankfurt a. M. 1983, S. 134 ff.

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mehr zu unterscheiden, wo die Welt anfängt und wo der Mensch aufhört. Vielleicht aber gilt es, hier mit Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty noch weiter zu denken und die alten Dualismen von Mensch und Welt, Seele und Körper, von Hell und Dunkel usw. endgültig hinter sich zu lassen. Wir haben die Idee der klar und deutlich erkennbaren, unausgedehnten fixpunkartigen Seele Descartes’ noch nicht hinter uns gelassen, ja, verwirklichen sie durch die technischen Errungenschaften virtuellen Lebens immer mehr. Man könnte, darüber hinausgehend, ein weiteres mögliches Verhältnis thematisieren, das weniger geläufig ist, die ›mythische Landschaft‹, die geologisch-geografische Bestimmung einer ›Kultursphäre‹. 28 Es handelt sich hier um eine besondere Landschaftsbetrachtung, in der etwa Gottheiten durch dichterischen Gesang erweckt werden. »Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert.« 29 In der Betrachtung der Eigenart einer Landschaft wird eine ganz spezifische Physiognomie der darin waltenden Gottheit gesehen. Im Prinzip handelt es sich um das Erforschen des Einzigartigen einer Landschaft, ohne jedoch bei dieser Tätigkeit bei den verschiedenen – in der Moderne entstandenen – Wissenschaften der Geologie, der Pflanzen- oder Tierkunde stehen zu bleiben. Leitend ist der Gesamteindruck, den die Erscheinung des Ganzen auf einen macht: Dieser Gesamteindruck soll zur Sprache gebracht werden. Insofern handelt es sich immer noch um eine Phänomenologie der Landschaft, in der die Landschaft sich als sie selbst zeigt. Allerdings bleibt der Betrachter nicht dabei stehen, sondern er macht einen Sprung in einen unsichtbaren Bereich, in dem das Charakteristische anthropomorphisch betrachtet, damit dem Menschlichen angenähert und somit letztendlich mythologisiert wird. Das Charakteristische der Landschaft wird zum Charakter eines unsichtbaren, im Verborgenen waltenden Wesens weitergedeutet. Hiermit ist dann auch die eigentliche Leistung dieser Art

28

Vgl. hierzu Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, Freiburg/München 1985. Rilke, Rainer Maria: Sonette an Orpheus (1. Teil, XIX), zitiert nach: Heidegger, Martin: Wozu Dichter?, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S 275.

29

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von Betrachtung bezeichnet: Es handelt sich um eine Art ›Vermählung‹ des Menschen mit der ihn umgebenden Physis. 6.

Aisthesis des Raums

Wenn es wirklich so ist, dass die Entwurzelung und Heimatlosigkeit des modernen Menschen daher rührt, dass er sich im Geiste im ›mathematischen Vorstellungsraum‹ aufhält und, ganz konkret, unter dem Anspruch schrankenloser Mobilität und dem Diktum unbedingter Omnipräsenz funktioniert, dann könnte die im Vorangehenden ausgeführte Betrachtung zumindest eine Sensibilisierung für bzw. einen Appell an andere Empfindungen und Verhaltensweisen bewirken. In Bezug auf die Moderne zeigt sich jedenfalls: Die Technisierung der Welt hat den Menschen in solchem Maße zum maître et possesseur de la nature (Descartes) gemacht, dass die Natur lediglich noch als (Versuchs-)Objekt der erstrebten und bewirkten Weltbeherrschung fungiert. 30 Im Kopf des Menschen befindet sich ein leerer, schrankenloser Vorstellungsraum, in dem alles im ›Vorfeld‹ planbar erscheint. Andererseits ist der moderne Mensch fast süchtig nach Erholung in der Natur und sucht bewusst unberührte Naturgebiete auf. Abgesehen von der verborgenen Schizophrenie, die sich hinter dieser doppelten Haltung des Menschen verbirgt, zeigt sich darin, dass der Mensch, je mehr er das Absolute für sich erstrebt, umso mehr den Verlust von etwas anderem empfindet. Wir wollen diesen Verlust aber gerade nicht tragisch sehen, sondern als eine Aufgabe betrachten, die fordert, dass der Mensch sein Wesen und Weltverhältnis neu überdenkt und grundsätzlich neu bestimmt. Inwieweit gehört zum Wesen des Menschen also die Bindung an bestimmte Orte und Landschaften? Wir hoffen, gezeigt zu haben, dass menschliches Leben nicht nur qua Leib räumlich ausgedehnt ist, sondern auch in Form von Stimmungen, Erinnerungen und E-motionen 31 Raum einnimmt; wichtiger aber noch ist, 30 31

Hier könnte man die ganze ökologische Problematik als Beispiel anführen. Jean-Luc Nancy betont die Ausdehnungs- bzw. wörtlich ›Heraus-bewegung‹

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dass diese ›Ausdehnungen der Seele‹ (und des beseelten Leibes) auch an bestimmte Orte, Stellen und Landschaften gebunden sind. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist also kein ›gleichgültiges‹, sondern der Mensch befindet sich in einem fortwährenden Prozess der leiblich-seelischen Ver-ort-ung, d. h. in Verbindung mit Orten und Landschaften. 32 Aus der Begegnung des Menschen mit Raumstellen werden Orte; d. h. die Raumstellen werden mit Sinn ›beseelt‹, erhalten eine (im weitesten Sinne ›seelische‹) Bedeutung, eine individuelle oder kollektiv geteilte ›Geschichte‹. Die Entfaltung und Genese des menschlichen Seelenlebens ist unabhängig von Räumen, in die sich die Seele ausdehnt und an die sie sich bindet, nicht zu denken. 33 Das Ideal des mathematischen Vorstellungsraums mit all seinen Charakteristiken, das sich in Form von Architektur, Infrastruktur, Stadtplanung und Landschaftsgestaltung, aber auch in Form des technischen Designs (technisch produzierter Objekte) materialisiert und in unsere Lebenswelt implementiert hat, erschwert, wie wir zu zeigen versucht haben, eine solche Bindung und Haftung des Menschen an Orte. Für den ort-losen und im Geiste räumlich abgetrennten Menschen der Moderne ist es deshalb an der Zeit, die verbindenden (und d. h. nicht die trennenden) Fähigkeiten des Denkens wieder zu verstärken und so vielleicht eine andere Art des – mit Bollnow gesprochen: er- und gelebten – Denkens zu entwickeln. Dadurch könnte der Mensch das Band zwischen sich und den Erscheinungen erneuern und ein Weltverhältnis eingehen, das Platon einst mit dem Begriff des ›Eros‹ bezeichnete (und dann jedoch metaphysisch missdeutete). 34 von Gefühlen durch die Schreibweise »E-motionen«. Vgl. Nancy, Jean-Luc: L’extension de l’âme, Metz 2003, S. 20. 32 Dies zeigt sich bereits in der (psycho-motorischen) Entwicklung des Kleinkinds, das seine Welt (und dabei sich selbst) entdeckt. 33 Als Antwort auf Descartes könnten wir mit Jean-Luc Nancy also sagen: Nein, die Seele ist gerade nicht das Unausgedehnte, sondern sie ist ausgedehnt – körperlich, aber auch über den Körper hinaus in die Erfahrungen der Welt. In Corpus heißt es: »Die Seele ist ein Begriff für die Erfahrung, die der Körper ist.« (Nancy, Jean-Luc: Corpus, Berlin 2004, S. 124). 34 Vgl. Platon, Symposion, übers. v. R. Rufener, Zürich 2001, S. 137 ff.

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Diese Verbundenheit mit der Welt gehört zum Wesen des Menschen (und zwar in dem Maße, dass der Mensch überhaupt als das ›Zwischen‹ bezeichnet werden könnte, da er – mit Heidegger gesprochen – auf der Erde ›wohnt‹ und die Sprache in ihm ›waltet‹ 35). Ute Guzzoni appelliert im Anschluss an Heidegger an ein »landschaftliches Denken« 36, das sie dem ›entwurzelten‹ und ›trennenden‹ Denken des modernen Menschen entgegenstellt. Indem wir die Landschaft und die Dinge mit unserem sich bewegenden und wahrnehmenden Leib erkunden und sie als Zusammenhang von ›Orten‹ im oben genannten Sinne respektieren, erkennen wir sie angemessen, d. h. gemäß ihrer und unserer Natur. MerleauPonty hat in seinem Spätwerk mit dem Begriff des »Fleisches« versucht, die Verwandtschaft von Mensch und Welt zu erklären. Nur aufgrund dieser Verwandtschaft, d. h. aufgrund der Tatsache, dass Mensch und Welt vom selben »Element« sind und dieselbe »Textur« aufweisen, ist die Erkenntnis der Welt und der Dinge – als Empfindung (Berührung) und Wahrnehmung 37 – überhaupt möglich. Wir möchten in diesem Sinne der modernen Raumauffassung eine andere, leiblich fundierte Raum-wahr-nehmung entgegenstellen, für die wir uns unter dem Titel einer Aisthesis des Raums einsetzen möchten. Unter Aisthesis des Raums wären dann aber nicht nur phänomenologische Analysen zum leiblichen Raumerleben zu verstehen, sondern mit Husserl, Heidegger und dem 35

Hier ist nochmals auf Heideggers Sprachdenken zu verweisen, das den Dualismus von Mensch und Welt überwindet, indem die Sprache der physis und die Sprache des Menschen zusammengedacht werden. Vgl. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, 5. Auflage Tübingen 1987, S. 112–133. 36 Guzzoni: Wege im Denken, S. 34. Guzzoni charakterisiert dieses »landschaftliche Denken« folgendermaßen: »Ich meine, es gelte ein Denken zu suchen und zu versuchen, das sich mit seinen Gegenständen so beschäftigt wie sich das Gehen in einer und durch eine Landschaft bewegt, wie es das erfährt, was ihm auf seinem Weg begegnet, wie es das sieht, was sich ihm von seinem jeweiligen Gang und Stand aus der Nähe und Ferne zeigt, nämlich als etwas der Landschaft Zugehöriges, einer Landschaft, von der es selbst ein Teil oder Moment ist.« (Ebd. S. 34 f.). 37 Bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung rehabilitiert Merleau-Ponty Empfindung und Wahrnehmung als Erkenntnisformen (des Leibes). MerleauPonty definiert hier »Wahrnehmen […] als Zugang zur Wahrheit« (Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 13.).

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Aisthesis des Raums

späten Merleau-Ponty darüber hinaus auch ein umfassendes ›Denken des Leibes und der Welt‹, in dem sich nicht zuletzt eine neue ›orts-verbundene‹ und ›welt-verwandte‹ Wesensbestimmung des Menschen offenbart. Literatur Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart 1963. Cabestan, Philippe: La constitution de l’animal dans les Ideen, in: ALTER 3/ 1995, S. 39–79. Depraz, Natalie: Y a-t-il une animalité transcendantale?, in: ALTER 3/1995. Fischer, Miriam: Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes, Freiburg 2010. Dies.: Leben im Vollzug des Sinns. Zur Sinnbegabtheit der Animalien, in: Philippe Merz/Andrea Staiti/Frank Steffen (Hg.), Geist – Person – Gemeinschaft. Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, S. 241–268. Dies.: Tanz als rein(st)e Geste – Überlegungen zum Konzept des Gestischen im Ausgang von Maurice Merleau-Ponty und Giorgio Agamben, in: Ulrich Richtmeyer/Fabian Göppelröder/Toni Hildebrandt (Hg.), Bild und Geste, Bielefeld 2013, S. 149–170. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, London 1940. Fuchs, Thomas: Das Gedächtnis des Leibes, in: Phänomenologische Forschungen 5/2000, S. 71–89. Geboers, Tom: Rückkehr zu Erde. Grundriss einer Ökologie der Geschichte im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger, Würzburg 2012. Guzzoni, Ute: Wege im Denken, Freiburg 1990. Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976. Ders.: Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976. Ders.: Wozu Dichter?, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1977. Ders.: Heraklit, Frankfurt a. M. 1979. Ders.: Einführung in die Metaphysik, Frankfurt a. M. 1983. Ders.: Einführung in die Metaphysik, 5. Auflage Tübingen 1987. Ders.: Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a. M. 2000. Holenstein, Elmar: Der Nullpunkt der Orientierung: Eine Auseinandersetzung mit der herkömmlichen phänomenologischen These der egozentrischen Raumwahrnehmung, in: Tijdschrift vor Filosofie 1(1972), 34. Jg., S. 28–78. Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, Freiburg/München 1985.

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Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers

Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, hg. v. Marly Biemel, Den Haag 1952 (Hua IV). Ders.: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. v. Ulrich Claesges, Den Haag 1973 (Hua XVI). Ders.: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Erster Teil: 1905–1920, hg. v. Iso Kern, Den Haag 1973 (Hua XIII). Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966/1974. Nancy, Jean-Luc: L’extension de l’âme, Metz 2003. Ders.: Corpus, Berlin 2004. Platon, Symposion, übers. v. R. Rufener, Zürich 2001. Wirz, Benno: Die Philosophie, das Leben, das Licht und das Dunkel, in: Miriam Fischer-Geboers/Benno Wirz (Hg.), Leben verstehen, Weilerswist (i. E.).

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Thorsten Streubel

Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle. Zur Räumlichkeit von Gefühlen und ihrem Erleben Ich möchte im Folgenden systematische Gedanken zur Räumlichkeit von Gefühlen präsentieren. Dabei werde ich zunächst zu zeigen versuchen (oder zumindest daran erinnern), dass jede Emotionentheorie in ihrem Gehalt von fundamentalanthropologischen Voraussetzungen abhängig oder sogar von metaphysischen Setzungen bestimmt ist, und dass es daher zunächst darum gehen muss (bzw. müsste), diese Voraussetzungen selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Ich werde sodann meine eigenen Voraussetzungen offenlegen, diese erläutern und die Konsequenzen für das Verhältnis von Gefühlen und dem Raum sowie von Gefühlen und ihrem Subjektbezug ziehen. Die These, die ich hier vorstellen und begründen möchte, lautet: Gefühle und Stimmungen können zwar leiblich gespürt werden, sie transzendieren jedoch in der Regel die Grenzen des eigenen Leibes bzw. Körpers. Aber sie sind deswegen noch lange keine ›objektiven‹ (nichtsubjektiven) Mächte. Gefühle und Stimmungen können sehr wohl in der Welt sein, ohne dass sie deswegen transsubjektiv sein müssten. Meine Argumentation richtet sich dabei sowohl gegen (den ontologischen Aspekt von) Schmitz’ Atmosphärenkonzept der Gefühle als auch gegen jede Form des emotionentheoretischen Psychologismus und Naturalismus. 1.

Emotionentheorien und ihre metaphysischen Voraussetzungen

Die Beantwortung der Frage nach dem Sein von Gefühlen sowie der Frage nach ihrer Räumlichkeit und ihrem Subjekt- und Welt285 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Thorsten Streubel

bezug kann meiner Überzeugung nach nicht ohne eine fundamentalanthropologische Fundierung (also nicht ohne eine methodisch abgesicherte Wesensbestimmung des Menschen) und eine damit verbundene Klärung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt gelingen. Dies lässt sich durch einige wenige Überlegungen plausibel machen: (i) Wie man Gefühle versteht, hängt unter anderem davon ab, was man für ein Bild vom Menschen hat. Je nachdem, ob man ein naturalistisches, ein dualistisch-cartesisches, ein idealistisch-psychologistisches oder auch ein empirisch-leibphänomenologisches Weltbild (oder welches auch immer) an die Emotionsphänomene heranträgt, wird dies deren begriffliche Bestimmung maßgeblich prägen. Der metaphysische Naturalist wird versuchen, Gefühle, so wie alle subjektiven Phänomene, als physikalische Phänomene zu interpretieren oder sie gar als subjektive Phänomene zu leugnen. 1 Der cartesische (oder auch epiphänomenalistische) Dualist wird Gefühle als körperlich verursachte mentale Entitäten (»Passionen der Seele«) interpretieren bzw. jene in einen geistigen und einen körperlichen Part splitten. 2 Ein empirischer Leibphänomenologe, der davon ausgeht, dass sich der Leib ungefähr räumlich

1

Dezidiert naturalistisch-reduktionistische Emotionentheorien sind allerdings selten, aber es versteht sich von selbst, dass Emotionen in naturalistischer Perspektive keine Sonderstellung gegenüber sonstigen subjektiven Phänomenen zugesprochen werden kann. De facto stellen aber die Philosophie der Gefühle und die Philosophie des Geistes weitgehend unabhängige Diskurse dar, so dass die Emotionentheorien sich kaum mit Reduktionsprojekten beschäftigen, sondern direkt die ›Sachen selbst‹ thematisieren. (Vgl. hierzu Döring, Sabine A. (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009, S. 22.) Vgl. allgemein für eine Verteidigung des metaphysischen Naturalismus: Beckermann, Ansgar: Naturwissenschaften und manifestes Weltbild. Über den Naturalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (2012), S. 5–26. 2 Vgl. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, hg. u. übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984.

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

mit dem Körper deckt, 3 kann dagegen Gefühle entweder als auf Subjekte ausgreifende Entitäten in der Welt (etwa Schmitz’ Atmosphären 4) oder als rein innerleibliche oder auch als psychische Phänomene beschreiben. Aber auch im letzteren Fall geht eine bestimmte Auffassung vom Menschen in die Phänomenanalyse mit ein: Der Mensch ist ein leibliches (und vielleicht auch körperlich-seelisch-geistiges) Wesen in der Welt und nichts außerdem. 5 Kann man dagegen im Rahmen einer Fundamentalanthropologie phänomenologisch zeigen, 6 dass der Mensch die Einheit von Bewusstsein, Ich, Geist, Leib, Körper und Umwelt ist, dann wird man sowohl an der absoluten Subjektivität der Gefühle festhalten können und doch zugleich ihre Mundanität nicht leugnen müssen, falls die Emotionen tatsächlich auch in der leiblichen Umwelt erscheinen – was dann die Phänomenanalyse festzustellen hätte.

3

Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib (= System der Philosophie, Bd. II, 1), Bonn 1965, S. 5: »Jedermann macht die Erfahrung, dass er nicht nur seinen eigenen Körper mit Hilfe der Augen, Hände u. dgl. sinnlich wahrnimmt, sondern in der Gegend dieses Körpers auch unmittelbar, ohne Sinneswerkzeuge zu gebrauchen, etwas von sich spürt: z. B. Hunger, Durst, Schmerz, Angst, Wollust, Müdigkeit, Behagen. Im Gegensatz zu den anderen modernen Sprachen besitzt die deutsche zwei Wörter, die es leicht machen, den gemeinten Unterschied zu benennen: ›Körper‹ und ›Leib‹. Das sinnlich Wahrgenommene könnte ›körperlich‹ und das in der Gegend des eigenen Körpers als zum eigenen Wesen gehörig unmittelbar (unsinnlich) Gespürte oder Empfundene ›leiblich‹ heißen.« 4 Vgl. zu Schmitz’ Atmosphärenkonzept: Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 1969, 91 ff. 5 Da hilft es auch nicht weiter, wenn man ihn nachträglich als ein irgendwie weltbezogenes Wesen kennzeichnet, denn wie sollte sich ein solches Wesen auf Welt (und nicht nur auf innere Repräsentationen der Welt) beziehen können, wenn die Umwelt als etwas Transsubjektives gedacht wird? Nur wenn man die (Um-)Welt als konstitutives Moment des Subjekts denkt, wird es verständlich, wie dieses Subjekt sich auf dieselbe bewusst theoretisch und praktisch oder auch nur ästhetisch zu beziehen vermag. 6 Die Grundzüge einer Fundamentalanthropologie habe ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie entwickelt (diese erscheint voraussichtlich 2015 als Monografie). Eine kurze Zusammenfassung findet sich in: Streubel, Thorsten: Das Gehirn-Geist-Problem aus phänomenologischer Sicht, in: Crossing Borders – Grenzen (über)denken – Thinking (across) Boundaries. Beiträge zum

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Thorsten Streubel

(ii) Je nachdem also, ob man den Menschen nur als empirisch-mundanes Lebewesen in der Welt versteht oder auch als transzendentales Subjekt von Welt, wird man Gefühle a) entweder im empirischen Subjekt verorten (innerleiblich oder sogar intramental) – oder auch wie Schmitz als transsubjektive Halbdinge in der Welt bestimmen. 7 Oder man wird sie b) aus einem transzendentalen Standpunkt heraus sowohl als subjektiv als auch als in der Welt befindlich ansehen können. Letztere Position möchte ich hier vertreten. (iii) Wenn ich sagte, dass in eine Theorie der Emotionen notwendig metaphysisch-anthropologische Vorannahmen eingehen, dann besteht die Alternative nicht darin, theoriefrei auf die entsprechenden Phänomene zuzugreifen (denn dies wäre naiv), sondern darin, diese Vorannahmen selbst zu prüfen, oder noch besser darin, eine streng begründete Fundamentalanthropologie zu erarbeiten. Es müsste somit nach meiner Überzeugung zuerst Sorge dafür getragen werden, die Phänomene nicht durch unbefragte metaphysische Voraussetzungen zu kontaminieren und durch ihre Einsortierung in bereits bestehende, aber durchaus sehr fragwürdige diskursive Ordnungen zu verdecken. Ich plädiere daher dafür, die Emotionentheorie in einer Fundamentalanthropologie zu fundieren, worunter ich eine unverkürzte Bestimmung des Menschseins auf anschaulicher Grundlage im Rahmen eines methodologischen Letztbegründungsprogramms verstehe. Auch ein fundamentalanthropologischer Beschreibungsrahmen wirkt sich 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie (http://oegp.org/publi kationen/). 7 »Gefühle sind Halbdinge mit inkonstanter Dauer wie der Wind und die reißende Schwere«. (Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 54).

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

freilich auf die konkrete Phänomenbeschreibung aus, aber durch die Einbettung der Fundamentalanthropologie in ein methodologisches Begründungsprogramm würde sichergestellt, dass die die Phänomenbeschreibung mitbestimmenden Voraussetzungen selbst transparent wären und damit jederzeit auf methodisch regulierte Weise überprüfbar blieben. (iv) Die metaphysischen Voraussetzungen beeinflussen wesentlich die theoretische Objektbestimmung und dies wiederum präjudiziert die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Gefühl. Je nachdem, ob man etwa Gefühle als mentale Entitäten, als Gehirnphänomene, als leibliche Phänomene oder als transsubjektive Atmosphären in der Welt versteht, wird man die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Gefühlen unterschiedlich beantworten. Gefühle sind dann entweder unräumlich und mental (Dualismus, Spiritualismus) oder sie sind im Gehirn lokalisiert (Naturalismus), oder leiblich-räumlich, aber auf den Leib begrenzt (nichttranszendentale Leibphänomenologie), oder in der Welt (Schmitz), wobei die Welt als etwas Subjekttranszendentes verstanden wird. 2.

Emotionentheorie und Fundamentalanthropologie

Nun ist hier freilich nicht der Ort eine Fundamentalanthropologie zu begründen und zu entfalten. Stattdessen möchte ich zumindest meine anthropologischen Grundvoraussetzungen kurz darlegen und sie von gängigen Vorstellungen abgrenzen. Ich werde hierzu zwei Fragenkomplexe unterscheiden, die für unsere Problemstellung relevant sind. Zum einen geht es um die Frage, welche unterschiedlichen Aspekte für das Menschsein konstitutiv sind. Zum anderen geht es um das Verhältnis von Mensch und Umwelt. Beide Fragenkomplexe hängen eng miteinander zusammen und lassen sich nur künstlich voneinander unterscheiden. Genauer muss 289 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Thorsten Streubel

man sogar sagen, dass die Beantwortung der ersten Frage die Antwort auf die zweite Frage impliziert. Die fundamentalanthropologischen Befunde werden uns dann als Grundlage einer ontologischen Bestimmung von Emotionen (gerichteten Gefühlen und ungerichteten Stimmungen) sowie der Klärung ihres Verhältnisses zum Raum dienen. Zunächst zum ersten Fragenkomplex: Aus meiner Sicht werden sowohl alle monistischen (naturalistischen wie idealistischen) als auch dualistischen Positionen dem Menschsein nicht gerecht, sondern verkürzen es auf ein oder zwei Aspekte (oder gar Substanzen). Der Mensch ist entweder: Körper oder Geist – oder er ist Körper und Geist. Die Erweiterung der klassischen Anthropologien um das Konzept des Leibes durch Phänomenologen wie Husserl, Merleau-Ponty, Schmitz u. a. ist zwar überaus zu begrüßen, aber immer noch unzureichend. Statt ein, zwei oder drei Aspekte gilt es m. E. vielmehr sechs Grundmomente zu unterscheiden, die ich Anthropoialien nennen möchte: Ich, Leib, Körper, Umwelt, Geistigkeit und Bewusstsein. Diese sechs Grundmomente, die in ihrem Zusammenspiel das Existieren des menschlichen Daseins allererst ermöglichen, sind zwar in einer ontogenetischen Perspektive nicht gleichursprünglich (so beruht etwa das Anthropoial der Geistigkeit auf einer letztlich lebenslangen Bildungsgeschichte und setzt dabei die übrigen Anthropoialien voraus), sie sind aber Konstituenzien des vollen und aktualen Menschseins (man könnte auch sagen: von Personalität). Dagegen ist die existenziale Verfasstheit des Daseins (die Sorgestruktur), wie sie Heidegger in Sein und Zeit exponiert hat, im anthropologischen Sextett 8, also dem Zusammenspiel der sechs Anthropoialien, fundiert. Nur ein Wesen, das nicht nur ›Welt‹ (im philosophischen Sinne) hat, sondern auch einen Leib, einen Körper und eine Umwelt – und das sich außerdem erlebnismäßig (anschaulich) selbst gegeben ist, also 8

Dieser möglicherweise irritierende Begriff aus dem Bereich der Musik wurde mit Bedacht gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, dass das Menschsein schon auf dieser grundlegenden Ebene nichts Statisches darstellt, sondern wie die Performanz eines Musikstückes das Ergebnis des Zusammenspiels von Stimmen, Instrumenten bzw. im Falle des Menschen eben von anthropologischen Grundmomenten (Anthropoialien) ist.

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

über Bewusstsein als Präsenz verfügt, kann überhaupt im heideggerschen Sinne existieren. Ich möchte diese ›sextinische‹ Anthropologie kurz erläutern, bevor ich die begrifflichen Konsequenzen für das Emotionskonzept sowie für die Frage nach der Räumlichkeit von Gefühlen und Stimmungen expliziere. Zunächst ist zwischen Ich und Mensch zu unterscheiden: (i) Der Mensch als ganzer ist die dynamische Einheit der sechs Anthropoialien (er ist das Zusammenspiel der sechs Anthropoialien oder das Spiel des anthropologischen Sextetts), das Ich aber ist das eigentliche Subjekt des individuellen Menschen: Das Ich hat Bewusstsein, hat Geist, hat einen Leib, hat einen Körper und hat eine Umwelt. Es ist das erlebende, denkende, wahrnehmende, verstehende, wollende, fühlende und handelnde Zentrum des Menschen. 9 Als das ist es jedoch eben nicht der ganze Mensch, sondern nur ein Moment, wenngleich das geistig-voluntative Zentrum (gewissermaßen das Subjekt des Subjekts)! (ii) Das Ich ist somit auch zu unterscheiden von Geistigkeit und Bewusstsein. Unter die erstere Kategorie subsumiere ich alle mentalen Akte sowie das Phänomen der ›Welt‹ als die umgreifende Verweisungsstruktur auf Potentialitäten des Erlebens (zu der etwa der geistige Horizont eines Menschen gehört, aber auch der ganze Bereich des knowing-how). Unter Bewusstsein aber verstehe ich etwas Nichtgeistiges, nämlich die umfassende Präsenz oder das Erleben von Leib, Körper, Umwelt und Geistigkeit. Hieraus folgt nun auch, dass (iii) Bewusstsein kein mentaler Weltinnenraum im Gehirn ist, sondern die Grenzen des Leibes überschreitet und damit die Präsenz von Selbst und (Um-)Welt ist. (iv) Die Umwelt ist dabei als perzeptive und räumliche Größe selbst ein Anthropoial. Sie ist ein Aspekt des Menschseins und nicht das, was den Menschen lediglich umgibt. Die Umwelt ist aktuell oder potentiell (z. B. in Schlaf oder Narkose) erlebte Umwelt (und kann nur deshalb auch Wirk- und Mitwelt sein). Sie ist nicht vom wahrnehmenden Leib und vom Erleben unabhängig. 9

Den Existenznachweis des Ich kann ich hier nicht erbringen und verweise auf die genannte Zusammenfassung in: Streubel: Das Gehirn-Geist-Problem aus phänomenologischer Sicht, wo dieser Nachweis erbracht wird.

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Thorsten Streubel

Nur weil der Mensch seine Umwelt ist, kann er damit zugleich auch sich selbst (als belebt-beseelter Körper) in der Welt vorfinden und sich so als mundan Erscheinender, also als Körper unter Körpern, von der Umwelt unterscheiden. Dass der Mensch sich als vereinzelter Körper in der Umwelt vorfinden kann, setzt aber die vorgängige Gegebenheit (Selbstpräsenz) des empirisch-mundanen Subjekts, als welches man sich selbst erscheint, in der (Um-)Welt voraus. Die erlebte Präsenz des eigenen Selbst in der Welt ist auch der Grund dafür, sich als bloßes Lebewesen in der Welt misszuverstehen. (v) Bewusstsein und Geistigkeit sind kategorial verschieden, wenngleich alle geistigen Phänomene (so wie alle Phänomene überhaupt) nur ›im‹ Bewusstsein bzw. im Erleben gegeben sind (was im Grunde eine tautologische Feststellung ist). Bewusstsein ist das formale Sein alles Erscheinenden – und dies gilt, wie ich gleich noch näher zeigen möchte, auch für alle Emotionen. (vi) Leib und Körper sind weder identisch noch substanziell verschieden. Vielmehr ist der Körper als Erscheinungsreihe das Produkt der jeweiligen Selbstbetrachtung des Leibes, wenn dieser seine Sinnesorgane auf sich selbst richtet. Wenn ich etwa meinen Blick auf die gespürten Leibhände richte, erscheinen diese mir als visuelle körperliche Erscheinungen, die mir sprachlich-apperzeptiv freilich als ›meine (körperlichen) Hände‹ erschlossen sind. Der Leib ist somit nicht die subjektive Repräsentation des Körpers im Geist oder im Gehirn, sondern vielmehr ist umgekehrt der Körper die Repräsentation des Leibes in der Welt. Der Körper ist also keine vom Leib ontisch unabhängige Entität, sondern dessen Selbstobjektivation. Zudem erweitert sich der wahrnehmende Leib kinästhetisch zur Umwelt, die daher selbst ein leibliches Phänomen darstellt. Es gilt deshalb zwischen dem Leib im engeren Sinne und dem Leib im weiteren Sinne zu unterscheiden, der die quasidialektisch vermittelte Einheit von Leib im engeren Sinne, Körper und Umwelt ist. Leib i. e. S. und Körper sind somit nicht identisch, aber doch zugleich Momente des Leibes im weiteren Sinne. Der Leib i. w. S. ist demzufolge kein ambiges Phänomen, das als Identisches sowohl als Objekt (Körper) als auch als Subjekt (Leib) erscheint, sondern die Einheit voneinander klar unterscheidbarer Momente: Leib i. e. S., Körper und Umwelt. 292 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

Nun wird auch klar, inwiefern die Beantwortung des ersten Fragenkomplexes im Grunde auch eine Antwort auf die zweite Frage ist: Das Verhältnis von Mensch und Umwelt ist nicht nur als das räumliche In-der-Umwelt-sein des Menschen begrifflich zu bestimmen, sondern ebenso und fundamentaler durch sein Umwelt-sein, insofern die Umwelt ein ontischer Aspekt des Menschen ist, also seinem Sein zugehört. Kurz: Der Mensch ist auch seine Umwelt. 10 Daher nenne ich den ganzen Menschen den ›großen‹ Menschen (weil er das leibliche Subjekt der Umwelt ist) und unterscheide ihn vom ›kleinen‹ Menschen, der lediglich eine (schon vorwissenschaftliche) Abstraktion darstellt. 11 Wenn man eine unverkürzte Sichtweise auf den Menschen gewinnen will, darf man den Blick nicht abstraktiv auf den atomistisch in der Welt vorkommenden Anderen (oder auf sich selbst als einen Quasi-Anderen) richten, sondern muss von seinem eigenen (vollkonkreten) Erleben von Selbst und Welt ausgehen. Die anschauliche Präsenz der Umwelt ist ein wesentliches Moment unseres Seins: Es ist unser (Um-)Welt-sein. Der Mensch erscheint (sich) daher zwar als Organismus, als ›animal rationale‹ oder auch als Person in der Welt, er ist aber in Wahrheit ›das‹ große Weltsubjekt, wel10

Daher stellt jede Beschreibung, die die Umwelt vom Menschen separiert, eine erhebliche Verkürzung dar. Und dies hat gravierende theoretische Auswirkungen: So basiert auf dieser Separierung das Leib-Seele-Problem (das im Grunde die erlebnismäßige Präsenz des eigenen Körpers und der Umwelt übersieht oder durch eine widersinnige Weltverdopplung verfehlt), das Außenwelt- und überhaupt das Erkenntnisproblem (wie soll der Geist wissen können, ob er die Welt richtig erkennen kann, wo er doch in seinem Seelenkabuff eingesperrt ist), der Naturalismus (der weitgehend blind ist für das Phänomen des Bewusstseins als Form der Welt und für Subjektivität überhaupt) und überhaupt jegliche nichttranszendentale Anthropologie. Und gerade auch für eine Theorie der Emotionen ist die Frage nach dem anthropologischen Status der Umwelt entscheidend wichtig. 11 Der ›kleine‹ Mensch ist der Mensch, so wie er in der (Um-)Welt erscheint: als auf den eigenen Körper begrenztes Subjekt. Der ›kleine‹ Mensch ist aber nur eine Repräsentation und existiert daher nur als Inhalt der Wahrnehmung eines ›großen‹ Menschen. Der ›große‹ Mensch erfährt sich in der Welt als ›kleinen‹ Menschen; da er aber selbst das Subjekt (der ›Träger‹) des ›kleinen‹ Menschen und der (Um-)Welt ist, nenne ich ihn den ›großen‹ Menschen. Alle Menschen sind hiernach in Wahrheit ›große‹ Menschen, nämlich welthaltige Subjekte (vgl. hierzu auch das Weitere).

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Thorsten Streubel

ches eben dazu neigt, sich mit seiner mundanen Erscheinung zu verwechseln. (Verglichen mit der Idee eines unendlichen göttlichen Wesen ist der Mensch als Weltsubjekt freilich immer noch endlich: Er ist weder Schöpfer der Welt als ganzer noch repräsentiert er diese in ihrer Totalität.) Der wohl erste, der dies (also das Umwelt-sein des Menschen) völlig klar erkannt und theoretisch einzuholen versucht hat, war Kant: Der Raum ist nach ihm eine subjektive Anschauungsform – und daher wird die räumliche Welt zu einem Teil des Subjekts (vgl. hierzu das 1. Raumargument in der Kritik der reinen Vernunft (B 38)). Dies ist eigentlich ein ungeheuerlicher Vorgang gewesen, dessen Radikalität jedoch bis heute, wie mir scheint, nicht hinreichend gewürdigt wurde (und wird) und gerne cartesianisch verharmlost wird. Kant ist jedoch kein cartesianischer Dualist. Und schon gar nicht hat er die Auffassung vertreten, dass die Welt im Kopf durch die Anschauungsform des Raumes bedingt sei. Die Welt ist nach Kant nicht im Kopf, sondern der Kopf (als Teil des empirischen Menschen) in der Welt. Und Kopf und Welt wiederum sind Präsenzen und damit Teil der Urpräsenz, also der intentionalen Urgegenwart oder des Bewusstseins (kantisch: der Anschauungsform der Zeit). Aus kantischer Sicht ist der empirische Körper (einschließlich des Gehirns) eine Erscheinung, die durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit formal bedingt ist. 12 Dass der eigene Körper und die Welt im Gehirn repräsentiert werden, ist freilich die Meinung einer ganzen Reihe analytischer Philosophen. 13 Aber genau das ist ein Missverständnis und außerdem eine völlig widersinnige (um nicht zu sagen: ›kopfstößige‹) Vorstellung: Der Kopf nimmt zwar Raum ein und er hat ein messbares Volumen. Aber im Schädel befindet sich nicht die phänomenale, also die räumlich potentiell unendliche Welt. Der Schädel 12

Vgl. hierzu Streubel, Thorsten: Was ist der Mensch? – Das Gehirn-Geist-Problem aus kantischer Sicht. Plädoyer für eine transzendentale Anthropologie, in: Kant-Studien 3 (2012), S. 370–377. 13 Vgl. etwa Searle, John: Packt das Bewusstsein wieder ins Gehirn. Erwiderung auf Bennett und Hacker, in: Maxwell Bennett/Daniel Dennett/Peter Hacker/ John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie. Gehirn, Geist und Sprache, übers. v. J. Schulte, Berlin 2010.

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

selbst ist ja Teil dieser Welt. Im Schädel findet man, wenn man Glück hat, Hirnmasse, aber keine erscheinende Welt, keine Anschauungsformen, keinen Geist und keine Gefühle. Das Gehirn und der es umgebende Schädel nehmen Raum ein und sind Teile der phänomenalen Welt, die als Ganze subjektiv ist, somit also dem Subjekt angehört! Darin liegt die beispiellose Zumutung Kants. Anstatt sich dieser Zumutung theoretisch ernsthaft zu stellen, arbeitet man sich bis heute entweder am cartesischen Dualismus ab, oder man betont, wie etwa Heidegger (freilich nicht völlig zu Unrecht), vor allem die Rolle Kants als Theoretiker der Endlichkeit des Menschen, ohne die viel radikalere Weltlichkeitskonzeption Kants wirklich ernst zu nehmen. Der Mensch ist zwar auch nach Kant in der Welt, aber dies ist er nur kraft seines transzendental-aisthetisch verstandenen Weltseins, das auf einer viel fundamentaleren Stufe als Heideggers In-der-Welt-sein (als Grundverfassung des Daseins) zu verorten ist. Heideggers Existenzanalytik ist als Hermeneutik des Daseins unter anderem ein Spross des neukantianistischen Logizismus. Der Mensch erscheint hier immer noch primär als »geflügelter Engelskopf« (Schopenhauer), nicht aber als Mensch mit einem welthaltigen Leib. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist erst dann wirklich überwunden, wenn man erkennt, dass 1. beide, also Subjekt wie Objekt, in die subjektive Anschauung fallen und man schon von daher nicht von einer Spaltung reden kann, und 2. die Umwelt (und nicht erst die ›Welt‹ als Verweisungszusammenhang) ein Anthropoial des Menschen darstellt. Das Ich (als Subjekt des Subjekts) ist aber real weder vom Leib noch vom Bewusstsein getrennt, wenngleich von diesen unterschieden (so wie ja auch der Kopf des Menschen vom Rest des Körpers unterschieden, aber nicht getrennt ist). Ich möchte, was die Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Welt betrifft, idealtypisch zwei Paradigmen unterscheiden: a) Das transzendentale Paradigma, das die Welt und damit alles Mundane zu Recht transzendentalisiert bzw. subjektiviert und so das Subjekt als ›großes‹ Subjekt denkt. Und b) das empirisch-atomistische Paradigma, welches den Menschen als körperlich begrenzten Weltausschnitt denkt (als »Endchen der Welt« wie Husserl sagen würde). Vertreter des ersten Paradigmas sind klarer295 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Thorsten Streubel

weise Kant und (mit Abstrichen) Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty. Vertreter des zweiten Paradigmas sind alle Cartesianer und alle monadischen Psychologisten (Leibniz, Berkeley) sowie natürlich die modernen Naturalisten und Physikalisten. 3.

Subjekt, Raum und Gefühle

Ich unterscheide im Folgenden zwischen ›intentionalen‹ Gefühlen (also auf einen bestimmten Gegenstand oder ein bestimmtes Subjekt gerichtete ›Emotionen‹) und nichtintentionalen, aber den Selbst- und Weltbezug bestimmenden Stimmungen (wobei Übergangsphänomene nicht ausgeschlossen werden). Bei den Stimmungen unterscheide ich weiter zwischen den subjektiv-leiblichen Stimmungen, d. i. dem Gestimmtsein eines Subjekts (hier greift die leibliche Gestimmtheit auf die Welt aus), und den mundanen Stimmungen (hier wird die Stimmung als die Umwelt durchwaltende erfahren), die man mit Schmitz Atmosphären nennen kann. Beide können zugleich von einem Subjekt erlebt werden, wenngleich man von Atmosphären nicht notwendig ergriffen sein muss, um sie wahrzunehmen. 14 Für eine Theorie der Gefühle und für die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Gefühlen sind nun zwei Dinge zu beachten: (1) Wenn Gefühle (und Atmosphären) die Grenzen des Leibes im engeren Sinne tatsächlich überschreiten sollten (was sie m. E. tun) und entweder auf Phänomene in der Welt ausgreifen (wie 14

In diesem Punkt bin ich völlig mit Schmitz einig, der zu Recht stets auf diesen Unterschied zwischen dem affektiven Betroffensein von Gefühlen und dem bloßen Wahrnehmen einer entsprechenden Atmosphäre hingewiesen hat (vgl. etwa Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 53). Ich lehne lediglich dessen Hypostasierung von Gefühlen zu transsubjektiven ergreifenden Mächten ab. Mächte sind Gefühle sicherlich, atmosphärisch können sie auch sein. Aber sie sind in ihrer Zeitlichkeit mindestens retentional konstituiert und daher prinzipiell vom subjektiven Erleben nicht abtrennbar. Zudem scheinen auch ihre urimpressionalen Phasen auf eine Affektion des Erlebens durch das Ich zurückzugehen (vgl. hierzu das Weitere).

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

etwa die Liebe, der Hass, das Mitleid etc.) oder – wie etwa mundane Stimmungen – auch primär in der Welt (etwa als festliche Stimmung oder Stimmung einer Landschaft oder einer Tageszeit etc.) gegeben sein können, dann folgt hieraus gerade nicht ihr Ansichsein. So wie alle sonstigen Erscheinungen auch, die mir jenseits meiner Körpergrenzen gegeben sind, sind auch Gefühle und Stimmungen subjektiv. Das heißt: Sie sind a) einem Subjekt gegeben und sie sind b) von seinem leiblichen Wahrnehmen bedingt und möglicherweise c) sogar das Ergebnis einer Selbstaffektion, d. i. einer Affektion des leiblichen Erlebens durch das Ich. Ob freilich alle Erscheinungen letztlich durch das Ich material produziert werden, 15 ist eine nicht gerade einfach zu beantwortende Frage und soll hier zumindest in Bezug auf nicht ›innerleiblich‹ gespürte (mundane) Stimmungen offen gelassen werden. Gerichtete Gefühle und leibliches Gestimmtsein verstehe ich dagegen in der Tat als ichliche Reaktionen entweder auf Tatsachen des Erlebens (etwas Wahrgenommenes macht mich zum Beispiel zornig, oder ich (genauer: Ich) lasse mich von einer traurigen Stimmung affizieren und reagiere darauf selbst mit Traurigkeit) oder auf transphänomenale Beeinflussungen meines Ich (wie wenn man morgens ohne ersichtlichen Grund »mit dem falschen Bein aus dem Bett steigt«). Ohne Ich(-konzept) und ohne transzendentales Umweltkonzept muss es freilich so scheinen, als ob transsubjektive Atmosphären auf das Subjekt überschwappen, sich seiner bemächtigen und es in Stimmung versetzen (wodurch sich einmal mehr zeigt, wie die Beschreibung dieses Sachverhalts durch die jeweiligen theoretischen Voraussetzungen mitbestimmt wird). 16 (2) Gefühle sind, wie alle erlebten oder auch aufmerksam (und eventuell reflexiv) wahrgenommenen Phänomene, zeitliche Gege15

»Produktion von Phänomenen« darf hier allerdings nicht mit einer creatio ex nihilo gleichgesetzt werden. Die Frage, um die es hier geht, betrifft den transphänomenalen Affektionsvorgang: Woher kommen die Urimpressionen? Wenn ich einen anderen wahrnehme, affiziert er dann unmittelbar meinen Leib oder auch mein Ich, das dann eine phänomenale Repräsentation des Anderen hervorbringt? 16 Schmitz versteht Gefühle als »räumlich ausgedehnte Atmosphäre[n] […], die den Betroffenen leiblich spürbar ergreifen« (Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 52).

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benheiten (vgl. Hua X). Die Zeitform des jeweiligen ›Zeitgegenstandes‹ ist aber nichts anderes als sein Präsentsein und damit sein Erlebtwerden für mich (oder für ein anderes Ich). Und das trifft auch auf alle Emotionsphänomene zu. Die Frage nach der Zeitlichkeit der Gefühle ist für unsere Fragestellung nun in dreifacher Hinsicht relevant: Erstens kann hierdurch eine formalontologische Bestimmung von Stimmungen und Gefühlen geleistet werden, die allen inhaltlichen Differenzen zugrunde liegt. Zweitens kann hierdurch noch einmal verdeutlicht werden, dass Gefühle, obwohl sie offensichtlich nicht im Gehirn oder in einem cartesisch verstandenen Geist lokalisiert sind, sondern im Leib oder gar in der Welt, trotzdem notwendig subjektiv sind. Drittens zeigt eine Analyse der Phänomen- und damit der Bewusstseinskonstitution, dass die urimpressionalen Phasen von Emotionen nicht durch das Bewusstsein hervorgebracht werden, sondern von etwas Transphänomenalem, unmittelbar vermutlich vom Ich. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine freie Tat, sondern um eine bloße Reaktion (was nicht ausschließt, dass man Gefühle und Stimmungen auch gezielt hervorbringen kann, etwa wenn man sich durch alkoholische Getränke in Stimmung bringt). Gefühle werden als zeitlich erlebt, das heißt, sie haben vielleicht nicht immer einen genau bestimmbaren Anfang und ein ebensolches Ende, aber sie haben eine bestimmte individuelle zeitliche Verlaufsgestalt und damit eine Dauer. Liebe (als aktuell aufwallendes Gefühl), Zorn oder akuter Hass können wie Vulkanausbrüche, Explosionen oder Brände (›in Liebe entbrennen‹) erlebt werden; oder sie können hintergründig die Grundstimmung einer Person mitbestimmen. Immer aber sind sie in der Zeit. In der Zeit zu sein, heißt aber nichts anderes, als bewusst zu sein oder erlebt zu werden. Denn letztlich kann nur dasjenige überhaupt sein, was jetzt ist oder im Jetzt vergegenwärtigt wird: So nehme ich jetzt dasjenige wahr, was ich eben geschrieben habe (und was als solches noch präsent ist), oder ich erinnere mich jetzt an den letzten Urlaub oder ich denke jetzt gerade an den morgigen Ausflug etc. Was vergangen ist, ist vergangen und kann nur noch ein Sein in der Erinnerung haben. Andererseits ist aber selbst die aktuelle Wahrnehmung und – umfassender – das gesamte Erleben 298 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

zum größten Teil ein Produkt der primären Erinnerung, der aktuellen Retention, die freilich selbst nicht vergangen ist, sondern jetzt existiert, um doch augenblicklich zu vergehen und nur durch eine weitere Retention ein lediglich retentionales Sein als primär Erinnertes zu erhalten. Nur die aktuelle Gegenstands- oder Inhaltsphase ist nicht vergegenwärtigtes, sondern gegenwärtiges Sein: Urimpression. Urimpressionales Sein ist aber wie alles Sein (urimpressionales sowie protentional, retentional oder durch sekundäre Erinnerung vergegenwärtigtes) transitorisch: Es existiert nur im Übergang, als bloße Phase. Und dies alles gilt gerade auch für Emotionen. Ihre urimpressionalen Phasen werden beständig durch neue urimpressionale Phasen abgelöst, die selbst kontinuierlich vergehen und dabei ebenso kontinuierlich retiniert werden müssen, damit aus bloßen urimpressionalen Phasen erlebte Gefühle werden. Erst durch das Retinieren von Urimpressionen und dem Retinieren von früheren Retentionen entsteht gleichursprünglich – d. i. aus gleichen Ursprüngen, nämlich Urimpressionen und Retention – das Erleben von etwas, etwa das Erleben von Liebe, Langeweile, Zorn etc. Es geht hier wohlgemerkt um die Frage, wie Gefühle und Stimmungen als erlebte Phänomene konstituiert werden, 17 nicht um die Frage nach der Ursache der Gefühle, genauer nach der Ursache der Urimpressionen der Gefühle. Liebe beispielsweise hat eine Gelegenheitsursache, die in der Regel zugleich der Gegenstand des Gefühls ist, nämlich das Geliebte, und einen dispositionellen Grund, das Ich, das überhaupt fähig sein muss, Liebe für wen oder was auch immer empfinden zu können. Sich in jemanden zu verlieben, liegt freilich nicht in der ›Hand‹, also in der Freiheit, des Ich, nichtsdestotrotz bin Ich es, der sich verliebt. Die Taten des Ich sind nicht notwen17

Dass Gefühle sich nicht nur irgendwie anfühlen, sondern auch einen (möglicherweise propositional verfassten) Gegenstand haben, setze ich hier voraus. Zugleich scheint es mir aber völlig evident zu sein, dass Gefühle und erst recht Stimmungen mehr als Propositionen sind, dass es nicht nur einen begrifflichen, sondern einen erlebnismäßigen Unterschied macht, ob ich zornig oder verliebt bin. Verschiedene Gefühle fühlen sich unterschiedlich an, das heißt, sie werden material unterschiedlich erlebt. Das Fühlen des Gefühls ist dabei nichts anderes als sein Erlebtwerden oder seine Präsenz für mich.

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dig freie Taten, sondern oft (ich würde sogar sagen: immer) motivational determinierte Reaktionen auf Tatsachen des Erlebens (sieht man einmal von der Möglichkeit transphänomenaler Affektionen ab). Die Urimpressionen der Gefühlen gingen also unmittelbar auf das Ich zurück, welches das Erleben urimpressional affiziert und dabei doch nur auf Tatsachen des Bewusstseins bzw. auf die kinästhetischen Korrelate des Leibes, also die Gegebenheiten in der Welt, reagiert. Wichtig ist jedenfalls, dass die zeitliche Verlaufsgestalt von Gefühlen und Stimmungen und damit ihre Dauer nichts ist, was vom subjektiven Erleben abgetrennt werden könnte, denn das Erleben ist gewissermaßen nichts anderes als die Präsenz des Erlebten in seiner Zeitlichkeit. Und wenn dies richtig ist und eine gewisse Dauer zum Sein von Gefühlen und Stimmungen wesentlich dazugehört, dann gibt es keine Gefühle und keine Stimmungen ohne subjektives Erleben. Gefühle sind daher wesentlich subjektiv. Die Rede von Gefühlen als subjektunabhängigen Atmosphären (im schmitzschen Sinne) wäre unter diesen Voraussetzungen ein Widerspruch in sich. Gefühle sind dabei (im Unterschied zu mundanen Stimmungen) primär leiblich, scheinen aber nicht bei den leiblichen Grenzen (d. i. der Bereich, der durch die Qualität der Meinigkeit oder »Meinhaftigkeit« (Kurt Schneider) ausgezeichnet ist, also der Leib im engeren Sinne) haltzumachen, sondern auf das jeweilige Objekt auszugreifen. Blicke ich mit Liebe auf eine geliebte Person, dann ist die Liebe, so scheint mir, nicht in meinem Leib eingesperrt, so wie Bauchschmerzen auf die Gegend des Bauches eingeschränkt sind. Die Liebe fließt auf den geliebten ›Gegenstand‹ über und lässt ihn in einem bestimmten Licht und einer bestimmten emotionalen Färbung erscheinen. Das Geliebte liegt zwar räumlich jenseits meiner Körpergrenzen. Aber es liegt räumlich nicht jenseits meiner Liebe – ebenso wenig wie das Gehasste jenseits meines Hasses oder das Beneidete jenseits meines Beneidens liegt. 18 Das Ich affiziert also emotional nicht nur den Leib im engeren Sinne, sondern auch die Umwelt. Gefühle sind Phänomene 18

Dies ist in Bezug auf die Wahrnehmung gesprochen. Im Falle der Erinnerung, der Vorstellung etc. stellt sich die Sachlage in der Tat komplizierter dar.

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Der ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle

des Leibes im weiteren Sinne, wenngleich sie ihre Verankerung im Leib i. e. S. haben und von dort aus auf das jeweilige Objekt auszugreifen scheinen. Ebenso scheinen auch subjektive Stimmungen zwar im Leib zentriert zu sein und färben doch zugleich alles Nichtleibliche mit ein. Auch der ›lustige‹ Sonnenschein kann dann in einer gedrückten Stimmung als eitel, grell und höhnisch erlebt werden. Wie lassen sich aber die stimmungsmäßigen Kontrastphänomene erklären, wenn also eine subjektiv gedrückte Stimmung auf eine ausgelassene Stimmung der Umwelt trifft oder wenn man in Hochstimmung unter eine Trauergesellschaft gerät? Zunächst ist hier wieder darauf hinzuweisen, dass der Raum des Erlebens Leib und Umwelt umfasst. Meine leibliche Gestimmtheit erlebe ich als meine, die von mir gespürte Stimmung in der Welt dagegen (Feststimmung, Trauerstimmung, melancholische Landschaft etc.) erlebe ich, so wie auch alle sonstigen mundanen Phänomene (mit Ausnahme des eigenen Körpers), nicht als meine – und doch erlebe ich sie. Der Raum des Erlebens und das Gefühl oder die Qualität der Meinigkeit decken sich jedenfalls nicht. Der Leib im engeren Sinne ist der Raumabschnitt der Welt, der als einziger wirklich durch die Eigenschaft der Meinigkeit ausgezeichnet ist. Nur meinen Leib erlebe ich unmittelbar als meinen. Alles, was mir sonst in der Welt (in einem possessiven Sinne) gehört, kann dies nur, weil ich einen meinigen Leib habe und dadurch einen Stand in der Welt gewonnen habe, also weil ich dadurch selbst etwas in der Welt bin und dies auch erfahren kann. Ohne diesen meinigen Leib würde ich vor allem meinen Körper nicht als zu mir (zu meinem Sein) gehörig, nicht als meinen eigenen, erfahren können, jedenfalls nicht so ohne Weiteres. Mein Körper ist aber nur deswegen mein eigener, weil dort, wo ich den Körper sehe und ertaste, bei Berührung auch Berührungsempfindungen auftreten. (Vgl. hierzu auch Hua IV, 143 ff.) 19 Die Meinigkeit des Körpers ist eine vom 19

Dagegen sprechen auch nicht die Gummihandexperimente, da diese auf die bereits erfolgte leibliche Konstitution des eigenen Körpers als eigenen aufbauen. Nur weil mir meine Körperhand bereits als eigene erschlossen ist, kann nachträglich auch eine Gummihand die Qualität der Meinigkeit annehmen. Im Unter-

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leiblichen Sich-spüren nur abgeleitete, aber keine intrinsische Qualität desselben. An sich ist mein Körper durch nichts von anderen Körpern unterschieden, außer durch die Tatsache eben, dass Berührungen des Körpers leiblich gespürt werden, und natürlich dadurch, dass eine echte räumliche Distanzierung vom eigenen Körper schlechterdings unmöglich ist. Der eigene Körper, nicht der Leib, ist daher »ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding«! (Hua IV, 159). Der Raum des Erlebens ist jedenfalls zweigeteilt: in ein Zentrum des meinigen Leibes und in die Peripherie der zwar erlebten, aber nicht als meinig erfassten Umwelt. Auch wenn die Umwelt ein Moment des großen Leibes ist, wird sie als ›Nicht-ich-selbst‹ erfahren. Und dies ist die Voraussetzung dafür, dass ich mich empirisch von der Umwelt überhaupt abgrenzen kann. Problematisch wird diese in den Phänomenen begründete Abgrenzung wie gesagt, wenn sie in der philosophischen Theorie als ontologische Trennung missverstanden wird und die Umwelt gleichsam vom ›großen‹ Menschen amputiert wird. Dann entstehen die neuzeitlichen Scheinprobleme, wie etwa das Außenweltproblem und das Leib-Seele-Problem. Es gilt also beides festzuhalten – auch im Hinblick auf eine Ontologie der Gefühle: Sowohl der Eigenleib als auch die Umwelt sind Teil des Erlebens, wenngleich der Leib als der meinige von den nichtmeinigen Umweltbestandteilen erlebnismäßig unterschieden ist. Und diese Unterscheidung setzt keine höheren intellektuellen Leistungen voraus, wenngleich sie Grundlage jedes vorbegrifflichen und begrifflichen Selbstverhältnisses ist. Es ist ja nicht so, dass etwa eine Katze ihren Leib nicht als den ihrigen spüren würde. Und sollte sie sich doch einmal in den eigenen Schwanz beißen, wird sie sehr schnell spüren, wessen dieser ist. Diese Unterscheidung zwischen dem ›Meinleib‹ und der nichtmeinigen, aber mir zugehörigen Umwelt überträgt sich nun schied zur Gummihand decken sich die Leibhand und die Körperhand räumlich weitestgehend. Vgl. zu den Gummihandexperimenten Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2009, S. 111 ff.

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auch auf die Gefühle. Nur innerleibliche bzw. im Leib verankerte und von dort in die Welt ausstrahlende Gefühle und Stimmungen erlebe ich als meine Gefühle und Stimmungen. Stimmungen in der Welt kann ich als solche spüren (so wie ich traurige Gesichter in der Welt sehen kann, ohne selbst traurig zu sein), aber als solche sind es nicht meine Stimmungen. Erst wenn ich mich von diesen Stimmungen so affizieren lasse, dass ich sie gewissermaßen leiblich übernehme, können sie zu meinen werden. Das ist der Unterschied zwischen der bloßen Wahrnehmung von Gefühlen und dem Ergriffenwerden von den Gefühlen. Fazit Gerichtete Gefühle wie Liebe und Zorn sowie Stimmungen sind weder psychische oder mentale Phänomene noch sind sie notwendig auf die Grenzen des Leibes im engeren Sinne (des Meinleibes) eingeschränkt. Wenn sich mein Zorn auf eine anwesende Person richtet, dann ist dieser eben keine rein innerleibliche, gar subkutane Zuständlichkeit, sondern überschreitet meine leiblichen Grenzen und endet gleichsam im Gegenstand des Zorns, der zugleich Ursache und Zielpunkt desselben ist. Ebenso ist es mit meinleiblich gespürten Stimmungen, die die ganze Welt in ein bestimmtes emotionales Licht tauchen, also vom Leib auf die Welt ausstrahlen. Und Stimmungen der Umwelt werden sowieso als Atmosphären in der Welt wahrgenommen, man möchte sagen: gewittert. Das partielle In-der-Welt-sein von Gefühlen und Stimmungen ist aber kein Argument für deren ursprüngliches Ansichsein, insofern die Umwelt ein Anthropoial und damit ein Grundmoment des Menschseins ist. Anders formuliert: Alle Stimmungen und Gefühle, die ich wahrnehme oder von denen ich gar leiblich ergriffen bin, sind eo ipso subjektiv. Ihr (semi-)mundanes An-sichsein ist ihr Für-mich-sein. – Zunächst ist dies in dem schwachen Sinne zu verstehen, dass sie von mir erlebt werden und Erleben auf der urimpressionalen-retentionalen-protentionalen Konstitution beruht. In einem starken Sinne sind Gefühle aber insofern subjektiv, als alle emotionalen Phänomene (sowie alle Phänomene 303 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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überhaupt) möglicherweise Hervorbringen des Ich oder des ›homo absconditus‹ sind. 20 Literatur Beckermann, Ansgar: Naturwissenschaften und manifestes Weltbild. Über den Naturalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (2012), S. 5–26. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, hg. u. übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984. Döring, Sabine A. (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch (= Hua IV). Haag 1952. Ders.: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917) (= Hua X). Haag 1966. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998. Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2009. Schmitz, Hermann: Der Leib (= System der Philosophie, Bd. II, 1), Bonn 1965. Ders.: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie, Bd. III, 2), Bonn 1969. Ders.: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003. Searle, John: Packt das Bewusstsein wieder ins Gehirn. Erwiderung auf Bennett und Hacker, in: Maxwell Bennett/Daniel Dennett/Peter Hacker/John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie. Gehirn, Geist und Sprache, übers. v. J. Schulte, Berlin 2010. Streubel, Thorsten: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. Versuch einer Grundlegung (noch nicht veröffentlicht). Ders.: Was ist der Mensch? – Das Gehirn-Geist-Problem aus kantischer Sicht. Plädoyer für eine transzendentale Anthropologie, in: Kant-Studien 3 (2012), S. 370–377. Ders.: Das Gehirn-Geist-Problem aus phänomenologischer Sicht, in: Crossing Borders – Grenzen (über)denken – Thinking (across) Boundaries. Beiträge zum 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. (http://oegp.org/ publika tionen/).

20

Vgl. hierzu Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft, wo ich den Menschen als mundane-transzendentale-metaphysische Trinität bestimme, um deutlich zu machen, dass der Mensch mehr ist als das, was originär von ihm erscheint.

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Jürgen Hasse und Oliver Müller

Zur Spürbarkeit von Architektur. Das Beispiel der (neuen) Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Architektur verändert nicht nur den topografischen, sondern auch den ästhetischen Raum der Stadt. Bauwerke sind in ihrem Erscheinen a priori ästhetisch dimensioniert. Sie stimmen die Atmosphäre eines Quartiers und wirken auf das Leben der Menschen in und mit »ihrer« Stadt ein. Dabei spielen nicht nur Nutzungsoptionen eines Gebäudes eine Rolle, sondern auch dessen affizierende Eindrucksqualitäten: Architektur gibt es in einer objektiv existierenden Realität und in einer subjektiv (individuell wie kollektiv) empfundenen Wirklichkeit. 1.

Vorbemerkungen zur Wahrnehmung von Architektur

Bauten dienen nur vordergründig allein utilitären Zwecken. In ihrer sinnlichen Präsenz sind sie auch Medien der Kommunikation – unter anderem narrative Medien des Politischen und solche der Repräsentation. Was sie auf einem verdeckten Niveau darstellen und in einem atmosphärischen, affektiven und symbolischen Sinne be-deuten, ist nur am Rande eine Frage persönlicher Geschmackspräferenzen. Vor allem signifikante Bauten im öffentlichen Raum der Stadt, die aufgrund ihrer kulturellen, politischen und ökonomischen Bedeutung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollen, sind in besonderer Weise kulturelle Produkte ihrer Zeit und spiegeln darin etwas von der Komplexität einer historisch-gesellschaftlichen Situation wider. Dabei drücken sie sich nicht allein auf einem im engeren Sinne semiotischen Wege aus. Zwar werden sie in ihrem Zweck und ihrer Funktion symbolisch verstanden, aber doch auch – und oft mit noch stärkerer Ein305 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Jürgen Hasse und Oliver Müller

drucksmacht – über ihr sinnliches Erscheinen in mitweltlichen Milieus leiblich erlebt. In der Bewegung erschließt sich ein Bauwerk nicht allein in seiner visuellen Bildhaftigkeit 1, sondern auch in der Qualität seiner leiblich spürbaren »Herumwirklichkeit« 2. In der Bewegung lösen sich fixe Bilder auf, verflüssigen sich in gewisser Weise und vermischen sich mit einer Vielzahl multisensorischer Eindrücke. Was vom Gebauten auf diese Weise in einem mitweltlichen Sinne gegenwärtig wird, erschließt sich in einem Prozess leiblicher Kommunikation, in dem das Erscheinen der Dinge auf eine spezifische Sensibilität der Wahrnehmung trifft. Zwar erleben wir vieles von dem, was als Enge oder Weite, drückende Schwere oder fliegende Leichtigkeit spürbar wird, auch über den Gesichtssinn, aber alle Eindrücke (und nicht nur die des Gesichtssinns) gehen in einem sinnlichen »Akkord« 3 des Atmosphärischen auf. »Gerade die Architektur produziert in allem, was sie schafft, Atmosphären.« 4 Die Ästhetik der Hochbauten entfaltet sich in einem doppelten Innen- und Außenverhältnis – zwischen Innen- und Außenraum sowie zwischen ihrem je besonderen Ort und dem aufnehmenden Raum der Stadt. In diesem doppelten Relationierungsgefüge ent-

1

Gerade der visualistic turn (vgl. auch Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 1993), der weitgehend der semiotischen Logik der Linguistik folgt, rückt die Bildhaftigkeit der Welt in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Deshalb konstruiert der linguistisch-visualistische Blick in der Fokussierung der Sichtbarkeit des bildhaften Bauwerks auch einen anderen Erkenntnisgegenstand als die Phänomenologie. Zwar negiert auch sie die Sichtbarkeit von Weltgegebenheiten nicht, gibt aber zu bedenken, dass sich die Welt im Metier des Sichtbaren nur in einer Dimension zeigt, dem Erleben aber in einer (sinnlich) ganzheitlichen Weise gegeben ist. 2 Vgl. Dürckheim, Graf Karlfried von: Untersuchungen zum gelebten Raum (Original 1932) (= Natur – Raum – Gesellschaft, Bd. 4), hg. v. Jürgen Hasse (mit Einführungen von Jürgen Hasse, Alban Janson, Hermann Schmitz und Klaudia Schultheis), Frankfurt a. M. 2005, S. 36. 3 Vgl. Hellpach, Willy: Sinne und Seele. Zwölf Gänge in ihrem Grenzdickicht, Stuttgart 1946, S. 61. 4 Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 97.

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Zur Spürbarkeit von Architektur

falten sich auch spezifische Gebäudenutzungen – die des Wohnens (in der Villa anders als im »sozialen« Wohnungsbau), die der industriellen Produktion (in der Fertigungshalle), die der Lagerung von Gütern (im Hochregallager) oder – im hier zu diskutierenden Falle – die der Forschung und der Lehre (in der Universität). Der folgende Beitrag wird sich dem Beispiel der Universitätsarchitektur widmen und der Frage nachgehen, wie sich die hochschulpolitische Programmatik einer Universität atmosphärisch im Medium der Architektur ausdrückt: In welcher Weise verknüpfen sich im Raum- wie Situationscharakter von Atmosphären kulturelle Bedeutungen einer Institution mit emotionalen Erlebnisqualitäten? 2.

Universitätsarchitektur und Atmosphäre

Die Bauwerke einer Universität bieten Räume für Wissenschaftler und Studierende (Hörsäle, Seminarräume, Labore, Büros etc.). Sie erfüllen darüber hinaus vielfältige Funktionen, die mit der Wahrnehmung der Aufgaben von Forschung und Lehre verflochten sind (z. B. Bibliotheken, Mensen, die Universitätsverwaltung) und das »Leben« einer Universität erst ermöglichen. In der Art und Weise ihrer architektonischen Gestaltung sind all diese Bauten aber nicht nur brauchbar im Sinne ihrer engeren Zweckerfüllung. Auf ganzheitliche und oft verschlüsselte Weise drücken sie auch etwas vom Selbstverständnis der Universität als Forschungsund Bildungseinrichtung aus. So unterscheiden sich die Gesichter von Hörsaal-Gebäude und Mensa in funktionaler wie ästhetischer Hinsicht charakteristisch von denen der Schulen und Kindergärten. Die Universität und ihre Architekten streben zumindest für signifikante Bauten eine Erscheinungsweise an, deren Ästhetik nicht selten den Charakter des Ekstatischen hat. Es sind vor allem architektonische Solitäre, die als Medien der Selbstzuschreibung von Identität fungieren sollen. Ihrer doppelten Aufgabe – der des baulichen Funktionierens wie des atmosphärischen Affizierens – werden die Gebäude aber nur bedingt durch ihre singuläre und lokale architektonische Präsenz gerecht. Als Medien der Stiftung von Identität entfalten sie ihre Eindrücklichkeit insbesondere in 307 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Jürgen Hasse und Oliver Müller

ihrem ästhetischen Verbund mit einem architektonischen Ensemble. Das kulturpolitische Gewicht repräsentativer Universitätsbauten sowie die soziale und kulturpolitische Verortung der Institution im Raum der (Universitäts-) Stadt verdankt sich nicht zuletzt der Überzeugungskraft ihrer städtebaulichen Einbettung. Unter diesem Aspekt lassen sich die Bauten einer Universität in ihrer relationalen Beziehung zur Stadt nach zwei kategorial verschiedenen Mustern unterscheiden: nach einem dispersen und einem kompakten Muster. In der dispersen Struktur sind die Bauten im Raum der Stadt verteilt. Meistens gibt es zwar ein historisches Zentrum innerhalb der Stadt; dieses kann den Mangel eines erkennbaren und spürbaren institutionellen Zusammenhangs aber nicht ausgleichen. Dies ist die Situation der meisten Universitäten, die sich nicht selten über Jahrhunderte in den öffentlichen Raum der Stadt ausgedehnt haben. Die Beispiele der Universitäten Frankfurt am Main (vor ihrem Umzug auf den Uni Campus Westend) oder Groningen (NL) stehen unabhängig vom Gang ihrer Geschichte für diesen Typus. Eine kompakte Struktur weist dagegen die Campus-Universität auf (z. B. Harvard), deren räumlicher und institutioneller Zusammenhang wie heterotopologischer Charakter evident ist. Vor allem in den 1960er und 70er Jahren kam es in Deutschland zur Neugründung von CampusUniversitäten auf der »grünen Wiese« außerhalb der Stadt (vgl. die im brutalistischen Monumentalismus errichtete Ruhr-Universität Bochum). 3.

Universitätsbauten als Gesten – Architektur und Atmosphäre

Aus der Ästhetik der Bauten sowie der städtebaulichen Situierung einer Universität erwächst ein atmosphärischer Rahmen, aus dem heraus die Institution qua Zuschreibung von innen wie von außen wahrgenommen wird. Je nach ihrer räumlichen Struktur entfalten sich nicht nur (ikonografische) »Bilder« der Universität, sondern auch je charakteristische Rhythmen (universitäts-)spezifischer Lebendigkeit – im Sinne von Karlfried Graf von Dürckheim nicht 308 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zur Spürbarkeit von Architektur

nur erlebte, sondern ge-lebte 5 universitäre Milieus. Mit der Fokussierung der mitweltlichen Seite des Umweltlichen rückt nicht der materielle Gegenstand der Architektur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die situative und performative Dynamik, wodurch sie erst zu dieser Universität wird. Indem Universitätsarchitektur auf atmosphärische Wirkungen hin entworfen wird, ist gerade dies auch – zumindest implizit – intendiert. Das Erleben von Atmosphären ist aber situationsgebunden. Die Atmosphäre universitärer Bauten wird aus der Perspektive eines Präsidiumsmitglieds in anderer Weise erlebt als aus der eines Verwaltungsangestellten, eines B.A.-Studierenden der Sozialpädagogik oder der eines Doktoranden der Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Entwurf atmosphärischer Architektur stellt sich somit die Frage nach ihrer Adressierung. Dabei unterscheidet sich die Innenwirkung auf Studierende und Forschende (Universitätsangehörige und -nutzerInnen) trotz großer innerer Differenzierung von einer eher diffus sich entfaltenden Außenwirkung. In dieser kommt es insbesondere auf die Herstellung einer Beziehung zur Institution an. Relativ distanziert ist sie bei den Bürgern der Stadt, in deren Leben die Universität nur eine Institution unter vielen ist. Dennoch spielt auch diese gleichsam neutrale Außenwahrnehmung in den ästhetizistischen Kalkülen der Selbstdarstellung einer Universität eine wichtige Rolle, weil sie der kulturpolitischen (Selbst-)Zuschreibung von Identität dient. Gerade eine diffuse Öffentlichkeit speichert und kommuniziert das kulturelle Bild einer (Universitäts-)Stadt auf ganzheitliche Weise. Die kommunale Verortung einer Universität im kulturpolitischen Kontext von Stadt und Region hat im interkommunalen Konkurrenzkampf der Städte Gewicht. Deshalb soll sich das architektonische »Gesicht« einer Universität als Medium emotionaler Identifikation der Stadt bewähren. Universitätsarchitektur suggeriert kulturpolitische Potenz, die sich über ästhetisch bemerkenswerte und repräsentative Bauwerke eindrucksvoller und nachhaltiger vermitteln lässt, als mit banalen Bauten wie Werk-

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Vgl. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum.

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stätten, Tiefgarage und Kraftwerk. Die Gesten der Architektur 6 sind im Grad ihrer Affizierung wirkungsvoller als abstrakte Programme und rhetorische Selbst-Erklärungen. Die ästhetisierte bauliche Gestalt einer Universität hat das Gewicht eines atmosphärischen Katalysators in der konkurrenzorientierten Konstruktion des Images von Universität und Stadt. 7 Soweit sich die Atmosphäre einer Universität planerischen Entscheidungen und kalkülhaften ästhetizistischen Interventionen verdankt, verdient das Handeln hochschulpolitischer Akteure (insbesondere innerhalb der Universität) eine herausgehobene Aufmerksamkeit. Für die »Vorstände« des Unternehmens »Universität« (u. a. Präsidium und entscheidungsmächtige Organe) ist diese Atmosphäre nicht irgend ein marginaler Nebeneffekt universitärer Präsenz und Präsentation, sondern standortpolitisch relevante Variable in einem »unternehmenspolitischen« Kalkül. Mit den Akteuren kommt aber auch die weitaus größere Zahl von Patheuren 8 des universitären Lebens in den Blick. Patheure kommunizieren atmosphärische Attribute nicht intentional und strategisch; sie finden sich vielmehr in einem performativen Sinne situativ in atmosphärisch aufgeladenen Milieus. Patheure sind in erster Linie die Studierenden, die in ihrer gelebten Beziehung zur Universität das offizielle Programm einer Universität entweder bestätigen oder konterkarieren.

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Angelika Jäkel beschreibt eine architektonische Geste als architektonischen Ausdruck, der sich über gebaute Suggestionen einem Individuum als Sinneinheit vermittelt, in der bauliche Formen (Bögen, Laibungen, Schwünge etc.) über leibliche Richtungen eine Beziehung herstellen. Gesten der Architektur wirken damit als »Kraftfelder«; vgl. Jäkel, Angelika: Gestik des Raumes. Zur leiblichen Kommunikation zwischen Benutzer und Raum in der Architektur, Tübingen 2012. 7 Zur Beziehungen von Atmosphären zueinander und untereinander vgl. auch Hasse, Jürgen: Atmosphären der Stadt, Berlin 2012. 8 Der Begriff des Patheurs hebt im Unterschied zu dem des rationalistisch agierenden und planend handelnden Akteurs auf die performative und leibliche Involviertheit eines Individuums in den gelebten Raum (i. S. von Dürckheim) ab; vgl. auch Hasse, Jürgen: Raum der Performativität. »Augenblicksstätten« im Situationsraum des Sozialen, in: Geographische Zeitschrift 98 (2010), S. 65–82, hier S. 70.

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Zur Spürbarkeit von Architektur

4.

Die neue Frankfurter Universität und ihr Campus

Für die Universität Frankfurt hat sich mit der räumlichen Konzentration aller nicht-naturwissenschaftlichen Fachbereiche auf dem Campus Westend die historisch einmalige Möglichkeit einer Neupositionierung mit den Mitteln repräsentativer Architektur geboten. Als Folge der Aufgabe des Hauptquartiers der US-amerikanischen Streitkräfte, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg im ehemaligen Verwaltungsgebäude der I.G. Farbenindustrie AG angesiedelt hatte, und des Erwerbs des gesamten Geländes durch das Land Hessen wurde der von Poelzig errichtete Komplex für die Nutzung als Universitätsgebäude saniert und umgebaut. Gleichzeitig begannen die Planungen für weitere Institutsgebäude, die auf noch unbebauten Flächen des Areals entstehen sollten. 9 Im Herbst 2008 konnten die ersten Neubauten ihrer Bestimmung übergeben werden. Dazu gehörten unter anderem das »House of Finance«, das Hörsaalzentrum und das Gebäude der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Der Neubau für die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften, die bis dahin im sogenannten »AfETurm« (ein über 100 Meter hoher, 1972 fertiggestellter typischer Universitätsneubau seiner Zeit) im Frankfurter Stadtteil Bockenheim untergebracht waren, konnte 2012 bzw. 2013 bezogen werden. Als Folge der Neuschaffung eines Campus im parkartigen Gelände des IG-Farben-Areals soll der alte Standort in Bockenheim, der in den 1950er und 60er Jahren vom Universitätsbaumeister Ferdinand Kramer in einer dispersen räumlichen Struktur entworfen wurde, sukzessive geräumt werden. Die Planung aller Neubauten des Campus Westend folgte von Anfang an dem Ziel, das neue neoliberale Selbstverständnis einer Universität im 21. Jahrhundert zum Ausdruck zu bringen. Die Ausschreibung zum städtebaulichen Realisierungswettbewerb strich heraus, das Gesamtkonzept solle 9

Zur Geschichte und Umnutzung des von Poelzig errichteten Gebäudeensembles vgl. auch Meißner, Werner/Rebentisch, Dieter/Wang, Wilfried: Der PoelzigBau. Vom IG-Farben-Haus zur Goethe-Universität, Frankfurt a. M. 1999, S. 130– 139.

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»dem Anspruch der Universität folgen, im Wettbewerb mit führenden nationalen und internationalen Universitäten durch optimale Arbeitsumgebungen zu exzellenten wissenschaftlichen Leistungen beizutragen und der Qualität der Einrichtung eine angemessene bauliche Erscheinung zu geben. Das bezeichnete Gesamtareal soll als Campusanlage akademische Lebens- und Lernkultur repräsentieren und sich durch ein ganzheitliches Gestaltungskonzept mit ausgeprägten räumlichen und architektonischen Dimensionen und Qualitäten darstellen.« 10

Der Campus sollte »im angelsächsischen Sinne« 11 als lebendiger Stadtteil entwickelt werden: »Weiterhin ist die Verzahnung des Campus mit den angrenzenden Stadtquartieren […] Teil der Aufgabenstellung.« 12 Vom Wettbewerb wurde ein städtebauliches Konzept erwartet für »eine Hochschule mit einem einheitlichen, unverwechselbaren Charakter […]. Lehrende, Studierende und Ehemalige sollen sich mit ›ihrer‹ Universität identifizieren können.« 13 Damit war ein Auftrag zur Schaffung einer Atmosphäre formuliert, die sich in der architektonischen Umsetzung eines Gesamtkonzepts ausdrücken sollte. Dazu merkte Ferdinand Heide, einer der Architekten des hinter dem IG-Farben-Haus errichteten neuen Campus, an: »Architektur und Struktur der Gebäude sind geprägt von der Idee der Hochschule als Ort der Kommunikation und des Austausches. Die klare, städtebauliche Ordnung schafft einen Campus mit integrativer und ganzheitlicher Qualität. Alle Institutsgebäude haben eine einheitliche Höhe. Klare Baukörper, die in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen, erzeugen Urbanität und Dichte.« 14

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Ausschreibung zum städtebaulichen Realisierungswettbewerb, Land Hessen (Hess. Minister der Finanzen, Staatsbauamt Frankfurt II am Main) (Hg.): Ausschreibung. Städtebaulicher Realisierungswettbewerb. Johann Wolfgang GoetheUniversität, Campus Westend in Frankfurt am Main, September 2002, S. 3. 11 Ebd., S. 30 12 Ebd., S. 2. 13 Ebd., S. 28. 14 Heide, Ferdinand: Eine Campus-Universität mit urbanen Qualitäten, in: Forschung Frankfurt 3 (2009), S. 87–90, hier: S. 88.

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Die Arbeit an der Konstruktion einer universitären Atmosphäre könnte kaum deutlicher werden. Aber schon auf dem Niveau programmatischer Präliminarien atmosphärischen Bauens zeigt sich, dass eine »Eindeutigkeit« der architektonischen Ausdruckslandschaft als gefühlsräumliche Inszenierung nicht zu erwarten war. So wird von Heide die Universität (erwartungsgemäß) nicht als neoliberales Unternehmen angesprochen, sondern als soziales Milieu und »Ort der Kommunikation und des Austausches« 15. Zur Vitalität einer Universität gehört ihre Teilhabe am Puls der Stadt. Deshalb erinnert der Pressesprecher des Präsidiums an die den städtebaulichen Wettbewerb leitende »Vision einer Campus-Universität im Zentrum der Stadt« 16. Indes rückt die Universität erst durch die Zuschreibung von Identität ins Zentrum der Stadt. Dabei spielt die tatsächliche Topografie der Stadt nur eine nachgeordnete Rolle. Wichtiger wird die Suggestion atmosphärischer Nähe zur Stadt. Zum einen konstituiert sich der neue Campus im Verbund mit dem historischen Poelzig-Ensemble als eine Enklave, ist also in seiner relativ isolierten Lage gegenüber dem städtischen Raum separiert. Zum anderen ist der Campus rein topographisch im nördlichen Bereich des Westends gelegen, befindet sich also weniger »in« der Stadt als an deren Rand, wenn auch nicht – wie der naturwissenschaftliche Campus Riedberg – vor den Toren der Stadt. Auch ist der neue Campus im Unterschied zum alten Standort im Stadtteil Bockenheim kein Raum der Bürger, weil es in ihm keine typisch städtischen Funktionen gibt. In seiner rein universitären Funktion ist er ein quasi-heterotoper Raum, dem es zwangsläufig an Urbanität mangeln muss. Schon aufgrund der spezifischen Monofunktionalität einer Universität kann sich diese zwar als Ort in der Stadt und in der Nähe zur Kernstadt entfalten, aber doch nicht selbst als städtischer (das heißt urbaner) Ort im engeren Sinne. Auch konstituiert sich auf einem quasi-heterotopen Campus kein urbanes, sondern viel eher ein jugendkulturelles Milieu. Die demografische Homo15

Vgl. ebd. S. 88. Breyer, Ralf: Fünf Bausteine, ein Ensemble, in: UniReport vom 22. 12. 2004, S. 1 und 4, hier: S. 1. 16

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genität der Studierenden bedingt eine ganz spezifische – eben universitäre – performative und vitalistische Dynamik. Diese unterscheidet sich von Grund auf von der der Kernstadt mit ihren zirkulierenden Verkehrs- und Warenströmen. 5.

Die »alte« Universität

In Zeiten eines nationalen bis globalen Wettbewerbs der Universitäten wird auch deren Atmosphäre zu einer Kalkulationsgröße hochschulpolitischer Unternehmens- und Machtkalküle. In dieser Rationalität gibt ein Universitätsquartier, das sich baukulturell wenig vom städtischen Umfeld unterscheidet und sich zudem mit dessen alltäglicher Performativität vermischt, wenig für die atmosphärisch zeitgemäße Selbstkonstruktion einer Universität der »Leuchttürme« her, die nach bildungspolitisch zugesprochener Exzellenz strebt. Die an Exklusivität orientierte neoliberale Universität ist dazu prädestiniert, sich als insularer Sonderraum gegenüber dem profanen Raum der Stadt zu separieren. Die Sehnsucht nach reiner Exklusivität spiegelt sich im Planungsdiskurs zum Standortwechsel in einer überzeichnenden Degradierung der atmosphärischen Qualitäten des alten, durch städtebauliche »Inklusion« geprägten Standorts in Frankfurt-Bockenheim wider. So merkte der Chefplaner der Universität in einem Interview an: »Der Campus Bockenheim hatte doch gar keine Aufenthaltsqualität.« 17 Es ist evident, dass das Gesagte nicht dem Gemeinten entspricht, denn es gibt nie keine, sondern allzumal diese oder jene Atmosphäre. So zielt die Aberkennung von Aufenthaltsqualität eher auf eine – aus repräsentationsorientierter Sicht der Universitätsleitung – unbeliebte Atmosphäre, die nun einem abgeschriebenen Selbstverständnis der Universität zugeordnet wird. Indes ließen insbesondere jene Bereiche des alten ›Campus‹ Bockenheim einen Raum der Universität erkennbar und spürbar werden, 17

Grodensky, George: Monumentaler Herbst. Auf dem Campus Westend wurde der erste Bauabschnitt der Campus-Erweiterung fertiggestellt, in: UniReport vom 12. 11. 2008, S. 14–15, hier S. 15.

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der sich durch einen unmittelbaren räumlichen Zusammenhang universitärer Bauten der 1960er Jahre hervorhob. 6.

Zur ästhetischen Programmatik von universitären Raumstrukturen und Architektur

Die Idee der Campus-Universität orientiert sich an US-amerikanischen Eliteuniversitäten wie Harvard und Berkeley. Durch deren räumliche Eigenständigkeit entsteht eine abgeschirmte Atmosphäre, die die Situation einer Idealgemeinschaft erlesener Lehrender und Lernender suggeriert, die unter den exklusiven Treibhausbedingungen zu Höchstleistungen beflügelt werden sollten. 18 Die Architektur einzelner Bauten spielt hier zunächst eine nachgeordnete Rolle, weil sie die elitäre Atmosphäre der gesamten Enklave bestenfalls bekräftigen kann. Die Architektur der Gebäude des Harvard-Campus bediente sich der Formensprache des viktorianischen Baustils, der sich oft in klassizistischen Bauten ausdrückte und damit direkt an den Mythos des griechischen Bildungsideals anknüpfte. 19 Der Stil, in dem der Campus erbaut wurde, operationalisierte also ein atmosphärisches Programm von hochschul- und bildungspolitischer Bedeutung. Die universitären Bildungsideale waren bis ins 19. Jahrhundert andere als in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis zum 19. Jahrhundert mussten die Hochschulen ihren kulturellen Rang in der Gesellschaft auch in der ästhetischen Sprache ihrer Architektur symbolisierend zur Geltung bringen. »Man sah sich vor der Notwendigkeit, Bauten zu schaffen, die neuartigen Funktionen ein Gehäuse boten und den Führungsanspruch der akademischen Kultur in eine gültige Formensprache fassten.« 20 Deshalb orientierten sich 18

Vgl. Elbe, Judith/Wilhelm, Martin: Der Campus. Zur Zukunft deutscher Hochschulräume im internationalen Vergleich, Darmstadt 2004, S. 4. 19 Vgl. ebd. S. 14. 20 Lippert, Hans-Georg: Schlösser für die Wissenschaft. Deutsche Hochschulbauten im 19. Jahrhundert, in: Jean-Michel Leniaud (Hg.), Institutions, services publics et architecture XVIIIe-XXe siècle (= Actes des journées d’études du Collège

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die Neubauten auch oft am barocken oder klassizistischen Schloss. Die Bauform des Schlosses bot sich in den zurückliegenden Jahrhunderten für die räumliche und symbolische Organisation der Hochschulen an. Und so wurden in verschiedenen Städten verfügbare Anlagen zu Hochschulen umgebaut (z. B. Universität Münster sowie die heutige Humboldt-Universität Berlin). 21 Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts repräsentierte das im Stil »eines mäßig modernisierten Barock« errichtete Gründungsgebäude der Universität Frankfurt die kulturelle Besonderheit der Einrichtung als Ort der Forschung und elitären Bildung. Das »Jügelhaus« – ursprünglich als Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften gebaut 22 – sollte sich in idealtypischer Weise als symdoctoral européen »Institutions, écrit et symboles« [Ecole pratique des hautes études Paris et Université technique de Dresde], Paris les 13 et 14 juin 2002), Saint-Just-la-Pendue 2003, S. 103–117, hier S. 104. 21 Vgl. ebd. Das war im Prinzip bei den im 19. Jahrhundert schnell an Bedeutung und Ansehen gewinnenden und im Konkurrenzkampf mit den traditionsreichen Universitäten stehenden Technischen Hochschulen nicht viel anders. Auch sie sollten in aristokratischen Bauten das ihnen gemäße Milieu finden. In der Planung der Gebäude für die Technische Hochschule war das von Semper entworfene und 1864 in Zürich eingeweihte Polytechnikum (vgl. ebd. S. 109) ein architektonisches Modell. Es wurde im Stil der seinerzeit für öffentliche Bauten üblichen italienischen Renaissance errichtet (vgl. ebd. S. 109). Um es von gewöhnlichen Schulen zu unterscheiden, musste entsprechend repräsentativer Bauschmuck »die erklärende Aufgabe übernehmen.« (Ebd. S. 113). Die Hochschulbauten unterschieden sich aber auch durch spezielle architektonische Räume wie Antikensaal, Wandelhalle, aufwendig gestaltete Treppenhäuser, Zeremonialtreppen etc. von den gewöhnlichen Schulen (vgl. ebd. S. 110). Das Modell des Züricher Polytechnikums trug im Bau der Hochschulen »dem wachsenden Bedürfnis nach Monumentalität Rechnung« und »erzählte von Geistesadel und von einem universellen Humanismus jenseits aller zeitlichen und nationalen Begrenztheiten« (ebd. S. 111). Für die symbolische Durchsetzung der gesellschaftlichen und kulturpolitischen Anerkennung der Technischen Hochschulen war eine beeindruckende Architektur gefordert, die »dem nationalen Selbstbewußtsein unter anderem auch durch Hochschulbauten Ausdruck« verleihen sollte (zit. aus Deutsche Bauzeitung 1874, ebd. S. 114.) Auch die Architektur der 1621 neu gegründeten Straßburger Universität sollte der Forderung nach einer Schaustellung der ›colossale[n] Überlegenheit deutscher Wissenschaft‹ gerecht werden (zit. aus Allgemeine Zeitung, 8. 7. 1871, ebd. S. 115). 22 Vgl. ebd. S. 5.

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bolisch und atmosphärisch mächtig affizierender Ort suggerieren. Seine neobarocke Architektur war ein ebenso wichtiges Medium der Repräsentation wie seine pompöse Innenarchitektur, die im ersten Obergeschoss »mit behaglicher Eleganz imponierte (Mahagonitäfelung und Damastspannung im Empfangs- und Sitzungssaal der C.C. Jügelstiftung)« 23. Im zweiten Obergeschoss vollendete eine ästhetisierte Aula mit Stuckverzierungen, RüsterholzTüren und -Estraden, mit Marmor verkleideten Wänden, »fünf einfache[n] elegante[n] Kronen und 18 Wandplaquetten aus vergoldeter Bronze mit Kristallbehang, die […] festliche Wirkung des Ganzen« 24. Über die besonderen atmosphärischen Qualitäten des institutionellen Ortes und die Exzentrik der (Innen-)Architektur äußerte sich der Rektor der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften (Prof. Pohle) in einer Rede so: »Wie trefflich ist der Raum ausgenutzt, ohne daß man in irgend einem Teil des Gebäudes die Empfindung der Enge hätte. Überall fühlt man sich frei, weil überall weite Durchblicke sich öffnen.« 25 Darin klingen synästhetische Wendungen an 26, die das leibliche Erleben im architektonischen Raum zum Ausdruck bringen. Freiheit stand in diesem Kontext für das (leibliche) Gefühl der Bewegungs-Freiheit im offenen Raum und nicht für einen demokratischen Geist der Freiheit, der auch diese Bauten erst sehr viel später (in den 1960er Jahren) einem durchgreifenden Wandel unterwerfen sollte.

23

N.N.: Das Jügelhaus, das neue Auditoriengebäude der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften zu Frankfurt a. M. und die bei seiner Eröffnung gehaltenen Reden, Jena 1907, S. 7. 24 Ebd. S. 8. 25 Ebd. S. 27. 26 Zur Bedeutung der Synästhesien in der Wahrnehmung von Architektur vgl. auch Hasse, Jürgen: Synästhesie. Eine Grundform der Wahrnehmung – zum Beispiel von Architektur, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie der Architektur 18 (2013), S. 37–65.

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7.

Die ästhetische Formensprache der demokratischen Nachkriegsuniversität

Nach Jahren der nationalsozialistischen Barbarei, die auch in die Frankfurter Universität Eingang gefunden hatte, war es eines der drängendsten (wissenschafts-)politischen Anliegen von Architekten und Gestaltern universitärer Milieus, den Anschluss an die Moderne herzustellen. Nicht zuletzt wegen ihrer symbolischen Nähe zur Ideologie des NS-Regimes galt die aristokratische Architektursprache der Universitätsbauten des 19. Jahrhunderts nicht mehr als tragbar. Waren die Kollegienhäuser bis dahin am Bautyp des Schlosses orientiert, änderten sich die ästhetischen Präliminarien in der Phase des neuen Hochschulbaus der 1950er Jahre grundlegend. 27 Die Entschlossenheit zu einer neuen Formensprache fand ihren baukulturellen Rückhalt im Neuen Bauen, das in den 1920er Jahren in der Stadt Frankfurt mit innovativen Entwürfen für den Wohnungsbau (Neues Frankfurt) ein architekturhistorisches Manifest hinterlassen sollte. An dieses Programm konnte der Architekt und Designer Ferdinand Kramer als Baudirektor der Universität Frankfurt anschließen. Seine neuen Bauformen brachen radikal mit dem pompösen und elitären Stil der Hochschularchitektur des 19. Jahrhunderts. Kramer betrachtete Architektur (und Design) nun als Medien der Kommunikation demokratischer Ideale, die sich atmosphärisch im Innen- wie Außenraumerleben zur Geltung bringen sollten. 7.1

Vom Neobarock zu Offenheit und Transparenz des International Style

Mit besonderer Deutlichkeit tritt die neue ästhetische Rationalität und Programmatik am Beispiel des Umbaus des historischen Eingangsportals zum Jügelhaus hervor (s. Abb. 1 28). Die in den frü27

Vgl. Hansen, Astrid: Die Frankfurter Universitätsbauten Ferdinand Kramers. Überlegungen zum Hochschulbau der 50er Jahre, Weimar, 2001, S. 54. 28 Die Abbildungen befinden sich am Ende des Buches.

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hen 1960er Jahren vorgenommene Neugestaltung wurde zwar durch eine dringend gebotene Vergrößerung erforderlich; sie bot jedoch einen willkommenen Anlass, die neue Universität mit den Mitteln der nüchternen Sachlichkeit des International Style und der ganzen Macht eines (ornamentfreien) Quasi-Ornamentalismus in Szene zu setzen. Eine Eingangs-Situation bot sich schon wegen ihrer allfälligen Symbolik für die Umsetzung dieses Ausdruckswunsches an: Eingänge sind nie allein logistische DurchGänge, sondern stets auch atmosphärische Programm- und Auftakt-Räume. Anstelle der ausschwingenden Freitreppe mit schmalem Portal, das von Säulen flankiert und am Giebel mit zwei allegorischen Figuren und einem repräsentativen Stadtwappen ästhetisiert war, setzte Kramer eine »lichte Öffnung« von 7,00 Metern Breite und 3,75 Metern Höhe, deren Proportionen der Regel des goldenen Schnitts folgten (s. Abb. 2). Auch die dahinterliegende Wandelhalle wurde in die Modernisierungsmaßnahmen integriert. Alle Säulen ohne statische Funktion wurden entfernt und die sich ehemals nach oben öffnende Decke auf 3,75 Meter abgehängt. 29 Godo Remszhardt kommentiert Kramers Eingriff 1963 folgendermaßen: »[…] indem am sogenannten Jügelhaus als dem Kernstück der Universität er das dekorative Moos mit Sandstrahl wegblies, aber auch das Portal – monumentaler Einschlupf ins monumentale Studierstübchen – aufriß, um ein lichtoffenes Tor einzubauen, [trat] bedächtige Vernunft anstelle gemütvollen Tiefsinns« 30. Remszhardt hebt damit auf die Besonderheit der universitären Eingangssituation als seismografischen Raum für Einstimmungen ab. Anstelle der Ehrfurcht vor der institutionellen Tradition kündigt der Umbau ein versachlichtes Verhältnis zur Universität an. Der neue Eingang symbolisiert nicht mehr Unterwerfung und Einfügung in die universitäre Hierarchie; die Transparenz der Glasflächen versinnbildlicht die egalitäre Öffnung hin zur Massenuniversität. 31 Kramers ästhetische Präferenzen drück29

Ebd., S. 84. Remszhardt, Godo: Universität Frankfurt – Problem und Modell, in: Bauwelt 28 (1963), S. 791. 31 Astrid Hansen verweist darauf, dass diese baulichen Maßnahmen als eine rhe30

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ten sich im Sinne einer programmatischen Atmosphärisierung auch in den von ihm entworfenen Universitätsneubauten aus. 7.2

Die neuen Baustoffe: Stahl und Glas

Im US-amerikanischen Exil hatte Kramer Bauformen kennengelernt, die er in die Konzeption der Frankfurter Neubauten übertrug. 32 Die zukunftsweisenden Baustoffe, die auch den International Style prägten, waren Stahl und Glas. So war das Philosophicum als Stahlskelettbau nach US-amerikanischem Vorbild konzipiert 33 und Assoziationen einer »amerikanischen Welt« wohl auch intendiert. Einer von Kramers bekanntesten Bauten, dessen Innenraumwirkung sich in besonderer Weise der Verwirklichung großer Glasflächen verdankte, war das Hörsaalgebäude des Pharmazeutischen Instituts. 34 In den 1950er Jahren repräsentierte besonders der Baustoff Glas in seiner Transparenz die Werte der jungen Demokratie. Auch in den von Kramer entworfenen Neubauten spielte Glas eine wichtige Rolle. Zweifellos klang in der Glas-Symbolik der 1950er Jahre noch ein Nachhall der Mystifizierung des Materials an, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Idee einer kristallinen, neuen Gesellschaft stand. 35 Glas galt noch Kramer in der torische Öffnung zu begreifen sind. Rhetorisch, weil das Ziel der Bildungspolitik in den besetzten Zonen, die Demokratisierung des Bildungswesens, das heißt eine Öffnung für alle, über Klassenschranken hinweg, zwar eingeklagt wurde, aber durch die institutionelle Trägheit der Ordinarien zunächst restaurativen Tendenzen unterlag. Insofern kann das Raumprogramm der neuen Universität, wie auch der Umbau des Eingangs der Frankfurter Universität, als symbolischer Vorgriff auf eine strukturell noch nachzuvollziehende Entwicklung verstanden werden. 32 Vgl. Hansen, Astrid: Bauten für die Wissenschaft, in: Claude Lichtenstein (Hg.), Ferdinand Kramer. Der Charme des Systematischen. Architektur, Einrichtung, Design, Gießen 1991, S. 82–91, S. 84. 33 Vgl. Hansen: Die Frankfurter Universitätsbauten Ferdinand Kramers, S. 102. 34 Astrid Hansen zählt es zu den »Meisterwerke[n] der Nachkriegsmoderne in Deutschland« (Hansen: Bauten für die Wissenschaft, in: Lichtenstein (Hg.), Ferdinand Kramer, S. 88). 35 Scheerbart, Paul: Glasarchitektur (Auszug; Original 1914), in: Peter Conradi

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Lichtdurchflutung der Innenräume als Symbol für Reinheit und Transparenz in einem politischen Sinne. 36 Seine Um- und Erweiterungsbauten illustrieren in ihrer ästhetischen und konstruktiven Kontrastierung der »alten« Bauten die Bedeutung innovativer Baustoffe für die Herausbildung historisch neuer Stile. Aber sie stehen auch für neue Möglichkeiten der Symbolisierung und Affizierung durch Architektur. Eine Macht der Mittel über die Stile sah Walter Benjamin schon um 1900 voraus und prognostizierte die Schaffung ganz neuer Formen und Gegenstände des Bauens als Folge einer massenhaften Verfügbarkeit von Stahl und Glas. Die bereits realisierten Wintergärten und Passagen sollten nur Auftakt sein. In der Tat entfaltete sich die Konjunktur der innovativen Baustoffe Stahl und Glas in allen architektonischen Ausdrucks-Dimensionen erst 100 Jahre nach Benjamins Zeit unter der Voraussetzung der industriellen Produktion. 37 Für den Bau und die atmosphärische Ausstrahlung von Universitätsbauten hatten die Beschränkung auf einfache Formen, die neuen Baustoffe Stahl und Glas sowie der Entwurf nachvollziehbarer Konstruktionen und transparenter Räume große Bedeutung. Wenn es über den Anfang der 1960er Jahre errichteten Neubau der Mensa heißt, er wirke »ehrlich« 38, so klingt darin eine Metapher an, die für eine Homogenität synästhetischer wie symbolischer Qualitäten steht, dank derer ein Gebäude mit einer banalen Funktion wirkungsvoll mit politischen Bedeutungen aufgeladen werden konnte. Auch die architektonische Rauminszenierung der Hörsäle (1950er Jahre) war implizit an der Herstellung atmosphärischer Raumqualitäten orientiert. Zwar mussten die neuen Räume der Massenuniversität gerecht werden, zugleich aber doch auch das (Hg.), Lesebuch für Architekten. Texte von der Renaissance bis zur Gegenwart, Stuttgart und Leipzig 2001, S. 132–141. 36 Vgl. Hansen: Bauten für die Wissenschaft, in: Lichtenstein (Hg.), Ferdinand Kramer, S. 87. 37 Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, hg. v. Rolf Tiedemann, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1982, Bd. 1, S. 212 und Bd. 2, S. 1061. 38 Hansen: Bauten für die Wissenschaft, in: Lichtenstein (Hg.), Ferdinand Kramer, S. 112.

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Humboldt’sche Ideal der Universität wahren. So sollten sie der »großen Vorlesung« dienen, in der »die große Zahl der Studenten kein bildungsfeindliches Moment« bedeutete; ganz im Gegenteil sollte sie dazu beitragen, die Lehrer- und Forscherpersönlichkeit in ihrer ganzen Größe zur Geltung kommen zu lassen.« 39 Das allgemeine Dilemma einer Institution, die neben dem Bildungsbedürfnis von Eliten nun auch dem der Masse gerecht werden sollte, drückt sich nicht zuletzt in dieser atmosphärischen Ambivalenz aus. Zum ersten Mal in der Geschichte des Hochschulbaus wurde in den 1960er/70er Jahren (vor allem im Kontext von Neugründungen wie z. B. in Bremen und Bochum) ein eigens für die Zwecke und Funktionen der Universität spezialisierter Gebäudetyp entworfen, der die Institution bauphysiognomisch identifizierbar machte und in den städtebaulichen Kontext einschrieb. 40 Den Sachzwängen der Nachkriegszeit unterworfen, galt auch in den Entwürfen von Kramer Zweckmäßigkeit und Funktionalität als das entscheidende Qualitätsmerkmal. Die neue Rationalität im Hochschulbau bediente sich der seriellen Produktion standardisierter Bauelemente, die flexibel kombiniert und erweitert werden konnten. Aber stets waren die neuen Formen auch atmosphärische Träger von Bedeutungen. So war »das Bestreben erkennbar, durch die Gestaltung der neuen Bauten auch die besonderen Werte einer demokratischen Gesellschaftsform zum Ausdruck bringen zu wollen: umschrieben werden sie mit Begriffen wie Transparenz und Offenheit, und an die Stelle der Schwere, das heißt der Unterdrückung, scheint nun die Leichtigkeit oder die Freiheit getreten zu sein.« 41

Architektur fungierte als physisches und ephemeres Medium einer Institution, die sich nach innen wie nach außen modern, offen und demokratisch zeigen wollte. 42 39

Ebd. S. 114. Vgl. Muthesius, Stefan: The Postwar University. Utopianist Campus and College, Yale 2000, S. 220. 41 Ebd. S. 221. 42 Vgl ebd. S. 220. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es zu allen Zeiten ›Sache‹ der Architektur war, nie nur funktionierende Gehäuse zu entwerfen, son40

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Nicht nur als Architekt, sondern auch als Designer sorgte Kramer für ästhetische Kontinuität seines Schaffens. Er entwarf das Mobiliar für die Seminarräume seiner Neubauten (graue Tische, schwarze Stühle), das noch heute in den zum Teil weiter genutzten Bauten auf dem Uni-Campus Bockenheim in Gebrauch ist. Dazu merkte Kramer an, das Mobiliar solle »Arbeitsbedingungen« schaffen, aber keine »Arbeitsatmosphäre« 43. Selbstverständlich äußerte er sich damit zu einer ganz spezifischen (von ihm erwünschten) atmosphärischen Wirkung seines Mobiliars, die dank der Sachlichkeit der Raum-Dinge die Aufmerksamkeit auf die »Arbeit« und nicht den ästhetischen Genuss des Raumes lenken sollte. Auch für das Rektorat entwarf Kramer das Mobiliar, wenn auch in einer der institutionellen Bedeutung der Räume gemäßen Großzügigkeit. Es ist bemerkenswert, dass sich ausgerechnet der damalige Rektor Max Horkheimer (und Koautor der »Kulturindustrie«) der »strengen Eleganz« entzog und »sich für neobarockes, repräsentatives Mobiliar« 44 entschied. 8.

Die Phase eines postmodernen Monumentalismus im Universitätsbau

Natürlich schaffen die nach Entwürfen namhafter Architekten auf dem Campus Westend zu Beginn des 21. Jahrhunderts errichteten dern mit der Gestaltung der Formen und Disponierung von Funktion auch programmatische ›Aussagen‹ zu treffen, die sich stets in besonderer Weise synästhetisch vermittelten. So steht z. B. die Revolutionsarchitektur Boullées ganz in der Stimmung des Geistes der Revolution, und aufgrund ihrer spezifisch ideologischen Affizierung galt nach 1945 schließlich die Architektur der Nationalsozialisten als inakzeptabel; sie brachte nicht ein architektonisch spürbares Milieu der Freiheit, sondern die den Menschen ignorierende Macht eines totalitären Systems atmosphärisch zur Geltung. Aber auch französischer und englischer Garten sind deutliche Beispiele dafür, dass der gestaltete Raum immer ein programmatischer Ausdrucks-Raum war. Sie alle zeigen auch, dass die Ästhetik im Dienste der Atmosphären stand und steht, denn sie machen das Be-deutete erst verstehbar und spürbar. 43 Hansen: Die Frankfurter Universitätsbauten Ferdinand Kramers, S. 104. 44 Hansen: Bauten für die Wissenschaft, in: Lichtenstein (Hg.), Ferdinand Kramer, S. 85 f.

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Neubauten in ihrem räumlichen Umfeld ein atmosphärisches Milieu, das einer ganz anderen Symbolsprache und Affekt-Logik folgt als Kramers Bauten in den 1960er Jahren. Gleichwohl werden die im Stil eines postmodernen Monumentalismus errichteten Bauten, nicht anders als solche der Renaissance oder der funktionalistischen Moderne, synästhetisch im Bezug auf leibliche Regungen erlebt und symbolisch auf dem Hintergrund kultureller Bedeutungen verstanden. 45 Selbst in feuilletonistischen Kommentaren zu den Neubauten des Campus Westend finden sich neben Anmerkungen zur Symbolik der Bauten auch immer wieder synästhetische Hinweise auf die leiblich spürbar werdende Eindrucksmacht der Atmosphären. So heißt es bei Oliver Elser: »Im ›House of Finance‹ […] herrscht die klirrend-kühle und gleichzeitig billigaufgesetzte Atmosphäre eines Bankgebäudes neuen Datums.« 46 Vom selben Autor wird es aber auch im Hinblick auf seine Symbolik als etwas aufgeprotzter »nüchterner Bürobau« pointiert. 47 In der Beschreibung atmosphärischer Eindrücke vermischen sich ganz offensichtlich leibliche Berührungen mit symbolischen Assoziationen. Bemerkenswert ist dabei eine gewisse intuitive Treffsicherheit der Charakterisierung. Mit anderen Worten: Es gibt ein »Gespür« für Atmosphären, aber doch keine Routine ihrer elaborierten Aussage. Unklar muss indes bleiben, warum der Autor seinen Eindruck nur auf das »House of Finance« und nicht auch auf den Doppelbau der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften bezieht, denn beide Bauten sind sich in ihrer Ästhetik sehr ähnlich. Die Fokussierung auf das »House of Finance« stärkt indes die These, dass eine spezifische Emotionalisierung der Wahrnehmung in ihrer zeitgeistspezifischen Formatierung auch eine entsprechende Atmosphäre in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt. In Zeiten 45

Vgl. Hasse, Jürgen: Leibliche Kommunikation und Architektur. Zur Bedeutung synästhetischer Wahrnehmung, in: ders., Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes, Freiburg/München 2014, S. 49–77. 46 Elser, Oliver: Der disziplinierte Campus, in: Bauwelt 27–28 (2009), S. 32–39, hier S. 36. 47 Ebd. S. 36 f.

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eskalierender fiskalpolitischer Krisen gerät das Gebäude eines finanzwissenschaftlichen Instituts leichter in einen suggestiven Strudel des schlechthin Idiosynkratischen als ein Gebäude, in dem die Rechtswissenschaften angesiedelt sind, die sich für Skandalisierungen weitaus weniger anbieten. Die Wahrnehmung von Universitätsneubauten einer spektakulären Campus-Neugründung (allzumal auf historischem Boden) ist in weit höherem Maße wertgeladen als die eines »neutralen« innerstädtischen Bürohauses. Das damit einhergehende höhere Maß an Betroffenheit drückt sich sowohl in der Dimension leiblich-synästhetischer als auch symbolisch-metaphorisierender Eindrücke aus. Aber nicht immer müssen die Bedeutungen synästhetischer Eindrücke auch denen symbolischer Eindrücke entsprechen. Wenn Elser dem Hörsaalzentrum (s. Abb. 3) eine gewisse »Plumpheit« 48 attestiert, so erklärt sich dieser synästhetische Charakter durch einen gestaltspezifischen und leiblichen Eindruck des massiv wirkenden Bauvolumens. Über dasselbe Gebäude sagt aber der Architekt: »Das Hörsaalzentrum verkörpert als Gebäudetypus die Idee der Universität. Es markiert das Zentrum der neuen Universität und ist der Ort, an dem zukünftig alle Studierenden zusammenkommen und sich fachübergreifend austauschen.« 49 Es ist hier weniger bemerkenswert, dass sich zwei verschiedene Bewertungen gegenüberstehen. Beachtung verdient vielmehr das Auseinanderlaufen zweier Wahrnehmungs-Modi. Während der Eindruck der »Plumpheit« auf das sinnliche Erleben des den Herumraum ausfüllenden materiellen Bauvolumens zurückgeht, bezieht sich die Identifizierung desselben Bauwerks mit der »Idee der Universität« in einem abstrakten Sinne auf gesellschaftliche bzw. hochschulpolitische Werte, deren Bedeutung symbolisch auf das Gebäude projiziert worden ist. Mit ihr sind aber all jene synästhetischen Charaktere inkompatibel, die am Engepol leiblichen Empfindens orientiert sind und damit kaum ein Objekt der Identifikation markieren. Deshalb widerspricht das historische Ideal 48

Vgl. ebd. S. 38. Heide, Ferdinand: Masterplan für eine neue Hochschule, in: Umrisse 4 (2007), S. 16–22, hier 21.

49

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der Universität des 19. Jahrhunderts auch von Grund auf jedem Empfinden der Plumpheit. Im »naiven« (a-intellektualistischen) Erleben entfalten kulturelle Deutungen geringere Macht über die mit einem Gegenstand verbundenen Bedeutungen als in seinem kulturell disponierten symbolischen Verstehen. Zwischen sinnlich-leiblicher und gesellschaftlich-symbolischer Wahrnehmung kommt es vor allem dann zu Divergenzen (s. o. das Beispiel zum Hörsaal-Zentrum), wenn die Bedeutungen gestaltspezifischer Suggestionen eines Bauwerks im Widerstreit mit symbolischen Bedeutungen liegen. Weil Bauherren wie Architekten ein Interesse daran haben, das semiotische Rauschen ihrer Bauten zu minimieren, ist schon im Prozess des Entwurfs differenziertes pathisches Wissen um die Gesamtwirkung eines geplanten Bauwerkes gefordert. Nur wenn die Synchronisation von symbolischem Verstehen und sinnlichem Erleben bewältigt wird, begleiten nicht widersprüchliche, sondern stimmige Wahrnehmungen die Geschichte eines Hauses. 9.

Zum Architektur-Erleben und -Verstehen auf dem Campus Westend

Bisher standen in diesem Beitrag die Wahrnehmung von Universitätsbauten und ihre ästhetische Programmierung durch hochschulpolitische Akteurseliten und Architekten im Vordergrund. Im Folgenden soll die Perspektive von Studierenden als »Nutzern« einer Universität thematisiert werden. Forschungsmethodisch gliedert sich die durchgeführte Studie in einen qualitativen und einen quantitativen Teil. Gegenstand beider Teilstudien ist das auf dem neuen Frankfurter Campus hinter dem IG-Farben-Gebäude nebst Casino errichtete bauliche Ensemble, bestehend aus Mensa, Zentralem Hörsaalgebäude, »House of Finance«, Rechtsund Wirtschaftswissenschaften, Universitätsverwaltung sowie Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften. Zu dem Ensemble gehört auch ein zentraler Platz mit einer »Wissenschafts-Skulptur«, die die Spürbarkeit einer universitären Campus-Situation ästhetisch akzentuieren soll. 326 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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9.1

Zum atmosphärischen Raumerleben Studierender 1 (qualitative Konkretisierung)

Über den folgenden auf der Homepage des Instituts für Humangeographie veröffentlichten Aufruf zur Mitarbeit wurden 19 Studierende für die Mitwirkung an dem Projekt gewonnen: Der Umzug der Goethe-Universität vom Campus Bockenheim auf den Campus Westend stellt eine strategische Weichenstellung für die Universität dar. Mit der Entscheidung, vom »nüchternen« Campus Bockenheim auf den nach Vorbild amerikanischer Campus-Universitäten entworfenen »schönsten Campus Europas« im Westend umzusiedeln, bezieht die Goethe-Universität im interuniversitären Wettkampf Stellung. Im Gegensatz zum Campus Bockenheim, dessen Wiederaufbau unter der Voraussetzung knapper finanzieller Mittel einer funktionalistischen Logik folgte, präsentiert sich der Campus Westend als repräsentatives Ensemble mit Strahlkraft. So vielseitig sich universitäre Selbstbilder (z. B. Massen- vs. Exzellenzuniversität) und Ausrichtungen gestalteten und gestalten, so differenziert mutet die das jeweilige Ideal verkörpernde Formensprache der Universitätsbauten an. Daran knüpft die Frage an, welches universitäre Selbstbild und welche Identifikationsangebote für Lehrende und Lernende auf dem Weg der Architektur kommuniziert werden.

Am 21. Mai 2013 fertigten die TeilnehmerInnen zwischen 18 und 19 Uhr im Rahmen einer individuell gestalteten Campusbegehung ihre Niederschriften zur Beschreibung der Atmosphäre des Campus einschließlich der auf ihn wirkenden umliegenden Neubauten an. 50 Es wurde lediglich der Hinweis gegeben, die Aufzeichnungen individuell und ohne Absprachen vorzunehmen. Die TeilnehmerInnen studierten zur Zeit der Erhebung im Gebäude der Psychologie, Erziehungswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft (PEG). Nach ca. 30 Minuten gaben sie die angefertigten Niederschriften ab. Diese wurden später in Textdateien übertragen und nach üblichen Regeln qualitativer Sozialforschung 50

Die Temperatur lag in der Zeit der Durchführung der qualitativen Erhebung bei 15 Grad Celsius, der Himmel war stark bewölkt, aber blau; es gab keine Niederschläge.

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ausgewertet. 51 Die Arbeitsschritte folgten den Grundsätzen der Grounded Theory 52, die im Unterschied zu anderen Verfahren in der Interpretation des Rohmaterials den Rückbezug auf theoretische Kategorien eines zugrundeliegenden Erkenntnisinteresses in einem weitergehenden Maße zulässt. Ein solcher Rückbezug wird schon deshalb für unverzichtbar gehalten, weil die empirische Studie am Theorierahmen der Neuen Phänomenologie orientiert ist. Der Umfang der 19 Aufzeichnungen zum atmosphärischen Raumerleben auf dem Campus bewegte sich zwischen 10 Zeilen und einer halben handschriftlichen Seite. Die Niederschriften haben Gefühle zum Gegenstand, die zum einen auf gestaltspezifische bzw. bewegungssuggestive Eindruckswirkungen von Architektur zurückgingen und auf diese Weise leiblich spürbar wurden. Zum anderen nennen die knappen Ausführungen aber auch symbolische Wahrnehmungen. Schon aufgrund der kulturellen Bedeutung des baulichen Ensembles sowie seiner Funktion im Lehrund Forschungsbetrieb einer Universität steht das leibliche Eindruckserleben in einem gesellschaftlichen Rahmen. Die in der Auswertung zu interpretierenden Eindrucksqualitäten räumlichen Erlebens und Verstehens wurden auf dem Hintergrund der Neuen Phänomenologie systematisiert. Diese bietet sich nicht nur aufgrund ihrer theoretischen Differenziertheit in der Sache der Gefühle und damit auch der Atmosphären als Theorierahmen an, sondern auch wegen ihrer terminologischen Präzision. Zunächst konnten die Äußerungen der Studierenden in ihrem situativen Objekt- bzw. Raum-Bezug nach Eindrucksqualitäten der Weite und der Enge differenziert werden. Daneben war zwischen leib-

51

Vgl. dazu z. B. Hopf, Christel: Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick, in: U. Flick u. a. (Hg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung, München 1991, S. 177–182 sowie Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung, München 1990. 52 Vgl. dazu z. B. Krotz, Friedrich: Neue Theorien entwickeln. Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung und die Ethnographie anhand von Beispielen aus der Kommunikationsforschung, Köln 2005, S. 159–179 sowie Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996.

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lichen und kulturell vermittelten symbolischen Eindrücken zu unterscheiden. In einer ersten Auswertungsphase entstanden Texttabellen, die die von den TeilnehmerInnen getroffenen Aussagen nach Weiteund Enge-Empfindungen differenziert nach (a) leiblichen und (b) symbolischen Eindrücken gliederten. Die Eindrucksqualitäten wurden ihrem jeweiligen architektonischen Bezugsgegenstand zugeordnet, das heißt auf ein einzelnes Gebäude, konkrete Materialien, Bauelemente oder eine bauliche Situation des Campus bezogen. Im Sinne einer Paraphrasierung sind die Aussagen sprachlich komprimiert, aber nicht in abstrakteren Oberkategorien aufgelöst worden. So entstanden trotz relativ geringer TeilnehmerInnenzahl umfangreiche und vor allem in der Sache differenzierte Text-Tabellen. Deren Ertrag wäre im Hinblick auf eine resümierende Auswertung aufgrund ihrer Unübersichtlichkeit indes begrenzt gewesen. Daher wurden die Aussagen grafisch visualisiert. So entstand für die einzelnen Bauwerke sowie für die architektonische Situation des Campus-Platzes je eine Textgrafik. Darin sind spezifische Weite- und Enge-Empfindungen differenziert nach einem leiblich-synästhetischen und gesellschaftlich-symbolischen Akzent konkret auf die je genannten Raum-Objekte bzw. -Situationen bezogen. Aus Platzgründen können hier nur zwei Beispiele wiedergegeben werden (Hörsaalgebäude und Situation des Campus-Platzes, s. Abb. 4 und Abb. 5). Bei beiden Darstellungen ist die starke Differenzierung von Enge-Empfindungen im Vergleich zu den Weite-Empfindungen offensichtlich. Im Gefühl der Enge ziehen sich die Dimensionen der menschlichen Orientierung zusammen. 53 Oft entfalten sich mit diesen Eindrücken bedrängende Mächte, die sich dem leiblichen Wohlbefinden ebenso in den Weg stellen wie einem Gefühl des Identisch-Seins mit einer aktuellen herumwirklichen Situation. 54 Das leibliche Eindruckserleben der Weite, das von entspannenden Gefühlen wie solchen der Erleichterung oder wohl53

Vgl. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 97. 54 Engende Spannung kennt man auch im Erleben von Schmerz, Angst, pein-

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tuenden Müdigkeit dominiert wird, spielt dagegen eine vergleichsweise nachgeordnete Rolle. 55 Wichtige Brücken der Einleibung in Situationen herumwirklicher Gegebenheiten sind die synästhetischen Eindrücke (s. oben). In ihnen drückt sich an Dingen, Gestalten und Bewegungen (aber auch Bewegungssuggestionen, die Dingen gleichsam anhaften) ein spezifisches Erleben (zwischen Enge und Weite) aus. In der Spannung von Engung und Weitung vermittelt sich dem Individuum die bewusste Selbstfindung im Erleben einer Situation. 56 9.1.1 Das Hörsaalgebäude Das Beispiel der Wahrnehmung des Hörsaalgebäudes (s. Abb. 3) soll die sich zwischen Enge- und Weite-Empfindungen differenzierenden Eindrücke illustrieren. Die auf der Seite der Weitungen (oberer Bereich der Abb. 4) eingetragenen Eindrücke stehen für Korrespondenzgefühle, die in einem wohltuenden Sinne als entspannend empfunden werden (z. B. einladend, offen) und deshalb in einer affektiven Stimmigkeit aufgehen, die der Identifikation mit der Ästhetik des Bauwerkes entgegenkommt. Das gilt noch für jene kritischen Anmerkungen, die nur einen relativierenden Bezug zu negativ empfundenen Merkmalen anderer Bauten oder des Ensembles im Umfeld des Campus zur Geltung bringen (z. B. Bruch mit den uniformen Altbauten). Die Enge-Empfindungen stehen denen eines Gefühls der Weite tendenziell polar gegenüber. Die meisten Nennungen spiegeln eine aversive und ablehnende Haltung gegenüber der ästhetischen

lichen Konflikten, Beklommenheit oder Ekel; vgl. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, S. 36. 55 Vgl. ebd. »Die einfachste Form, in der der Raum vom Leib aus zugänglich wird und Gestalt annimmt, ist der reine Weiterraum, in dem bloße Weite ohne jede Richtung mit einem absoluten Leibesort besetzt ist.« (Schmitz, Hermann: Der Leib. Grundthemen der Philosophie, Berlin/Boston 2011, S. 121.). Beispielhaft nennt Schmitz die Situation des Wetters oder der feierlichen Stille. 56 Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 121.

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Präsenz des Gebäudes (z. B. einschüchternd oder wuchtig). Es dominieren kritische bis ablehnende Eindrucksqualitäten. Innerhalb beider Kategorien lässt sich zwischen Eindrücken differenzieren, die sich – meist auf dem Wege der Synästhesien – im Sinne leiblicher Kommunikation unmittelbar von einer ästhetisch erlebbaren Gebäudeeigenschaft auf ein Empfinden übertragen (bedrohliche Größe) und solchen Eindrücken, die eine gesellschaftliche Bedeutung bzw. symbolische Kategorie (s. hellgraue Schrift) zum Gegenstand haben (königlich, pompös). Beengende Eindrücke vermitteln eher eine Abwendung vom architektonischen Milieu als die Bereitschaft, sich ihm gegenüber zu öffnen (s. auch die Anmerkung ich schaue weg oder nicht einladend). Der Grad der Konkretheit dieser Befunde ist insofern hoch, als alle Eindruckselemente auf spezifische stoffliche und objektivierbare architektonische Merkmale des Gebäudes bezogen sind (z. B. »harte Materialien« sowie »große Geschosse«). 9.1.2 Der Campus-Platz Die verdichtende Darstellung zum Erleben des Campus-Platzes (s. Abb. 5) folgt konzeptionell demselben Prinzip wie die Auswertung zum Hörsaalzentrum. Die nun weitaus größere Anzahl und Vielfalt der Aussagen resultiert daraus, dass sich alle TeilnehmerInnen der Studie explizit zur räumlichen Situation des CampusPlatzes geäußert haben. Ohne an dieser Stelle die Eindrucksqualitäten im Einzelnen zu diskutieren, wird auch an diesem Beispiel eine ungleiche Verteilung der Weite- und Enge-Empfindungen deutlich. Die räumliche Situation des Platzes einschließlich der architektonischen Solitäre, die auf das Erleben des Freiraumes einwirken, wird mehr mit ablehnenden und beengenden Eindrücken verbunden (z. B. komme mir klein vor), als dass sich das räumliche Milieu mit einem Gefühl der Identifikation verbinden würde (z. B. einladend). Auch hier erlaubt die Differenzierung zwischen leiblichen Eindrücken (z. B. starres Gefühl) und symbolischen Deutungen (z. B. romantisch) sowie der Bezug auf objektivierbare Merkmale des bebauten Raumes (z. B. Wassergeräusche) ein hohes Konkretisierungsniveau und damit die Sicherung einer erkennt331 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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nistheoretischen Abstraktionsbasis, die sich direkt am Erleben der Individuen orientiert. Wenn auf dieser Bezugsebene des »tatsächlichen Raumes« 57 Begriffe wie »Weite« und »Leere« auftauchen, so sind dies keine leiblichen Eindrucksqualitäten, sondern Merkmale des relationalen Raumes. 9.1.3 Schlussfolgerungen und forschungsmethodische Konsequenzen Die »Heimat«-Institute der TeilnehmerInnen dieses Teils der Studie befinden sich im PEG-Gebäude (s. Abb. 3). Dieses ist aber nicht nur tatsächlicher Studienort im räumlichen Sinne; insbesondere ist es sozialer und symbolischer Ort, der in einer Beziehung zu studiengangsrelevanten Berufsfeldern innerhalb der Gesellschaft steht. Mit anderen Worten: Die persönliche Studiensituation der Studierenden ist auch durch Erwartungen (Protentionen) gestimmt, in denen meist eher ganzheitlich-diffuse als in der Sache dezidierte Vorstellungen einer studiengangsrelevanten zukünftigen beruflichen Position im Hof ihrer gesellschaftlichen Bedeutung immer schon virulent sind. Tatsächlich ist der Campus in der Vielfalt und Heterogenität seiner Studiengänge eine Verteilungsdrehscheibe für den Zugang zu höchst unterschiedlichen Berufsfeldern. Heterogene Studiengänge sind somit auch auf eine Arbeitswelt bezogen, der heterogene monetäre Gratifikationskulturen und kulturelle Geltungen eigen sind. Deshalb soll von der These ausgegangen werden, dass sich mit berufsfeldbezogenen Protentionen ebenso spezifische Menschen- und Gesellschaftsbilder, die wiederum in ein bewertendes Verhältnis zur Ästhetik der Universitätsgebäude gesetzt werden, verbinden. Hintergrund der atmosphärischen Wahrnehmung von Architektur wäre in diesem Sinne eine »affektlogische« 58 Selbstkonstitution im mehrdimen57

Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 61 f. Vgl. Ciompi, Luc: Affektlogik, Stuttgart 1982. Mit dem Begriff und Konzept der Affektlogik diskutiert der Psychiater Luc Ciompi das integrale Ineinandergreifen emotionaler und rationaler Prozesse, die im Prinzip in jeder Situation des Erlebens und Erfahrens wirksam sind. 58

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Zur Spürbarkeit von Architektur

sionalen Milieu der Universität, die den optionalen Zugang zu sozialem, symbolischem und monetärem Kapital (i. S. von Bourdieu) vorwegnähme. Konkret hieße dies, dass Studierende der Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften (sie bilden den größten Teil im PEG-Gebäude) aufgrund berufsfeldbezogener Selbst- und Menschenbilder zu repräsentationsorientierter Architektur ein eher idiosynkratisches (und weniger identitives) Verhältnis haben. Damit stellt sich die Frage, ob Studierenden anderer Fachbereiche mit tendenziell konträren berufsfeldspezifischen Protentionen auch andere ästhetische Präferenzen und gefühlsmäßige Beziehungen zur repräsentativen Campus-Architektur eigen sind. Um dieser Frage nachzugehen, wurde für die quantitative Teilstudie die Stichprobe über den Kreis der TeilnehmerInnen an der qualitativen Teilstudie erweitert. Neben Studierenden aus dem PEG-Gebäude (Psychologie, Erziehungswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften) wurden auch Studierende aus dem Gebäude der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften (s. Abb. 6) befragt. Damit vergrößert sich nicht nur die Größe der Stichprobe. Bezogen auf die oben genannte These wäre als Folge der Kontrastierung höchst unterschiedlicher Fachbereichskulturen und berufsspezifischer Protentionen zu erwarten, dass die affektiven Wahrnehmungen in leiblich-synästhetischer wie in kulturell-symbolischer Hinsicht verschiedene Bedeutungswelten widerspiegeln werden. 9.2

Zum atmosphärischen Raumerleben Studierender 2 (quantitative Konkretisierung)

Architektur als Medium der Kommunikation entfaltet ihre Sinnofferten nie allein und analog zum diskursiven Medium der Sprache, sondern vornehmlich über leibliche Brückenqualitäten: die Bewegungssuggestionen, synästhetischen Charaktere und Atmosphären. Zwar wirken, wie Joachim Fischer anmerkt, kommunikative Diskurse »vom Stadtgeschwätz bis zur gepflegten Semantik der ›Architekturkritik‹ […] an der Bedeutungsentfaltung und -verschiebung von Bauwerken oder ganzen Stadtensembles mit«, 333 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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sind dabei jedoch stets von der leiblich erlebten »kommunikativen[n] Wucht« 59 der Baukörper grundiert. Dieser Logik der Wahrnehmung von Architektur, die durch ein spezifisches Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn geprägt ist, folgend, wurde ein semantisches Differential, bestehend aus 92 bipolaren Eindrucksqualitäten und diskursiven Zuschreibungen, entworfen (z. B. erdrückend/beflügelnd, herrschaftlich/demokratisch). Die Adjektive wurden aber nicht in Polaritäten – wie im Semantischen Differential 60 üblich – zur Auswahl gestellt, sondern aus ihrem polaren Gegensatz gelöst in eine Auswahlliste übertragen. So sollte die Möglichkeit geboten werden, auch gegensätzliche Bewertungen mit einer räumlichen Situation zu verbinden. In phänomenologischer Sicht kann ein Bauwerk als »rau« (im synästhetischen Sinne), zugleich aber auch als »glatt« (im symbolischen Sinne) empfunden werden. Die Adjektive, die in der Befragung Verwendung fanden, wurden aus den Publikationen der Goethe-Universität zur Selbstdarstellung des Campus Westend 61, der Kommentierung durch den Architekten Ferdinand Heide, als Beauftragtem für den Entwurf des städtebaulichen Leitbildes, des Hörsaalzentrums und des

59

Fischer, Joachim: Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie, in: Karl Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede, Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt/New York 2006, CD, S. 3417–3429, hier S. 3421. 60 Anhand eines semantischen Differentials (vgl. auch Borsdorf, Axel: Geographisch denken und wissenschaftlich arbeiten, Heidelberg 2007, S. 85), einem von C. E. Osgood u. a. entwickelten Messinstrument, lassen sich affektive Einstellungen von Befragten zu einem Begriff oder Gegenstand messen (vgl. Hofstätter, R. Peter: Gruppendynamik. Die Kritik der Massenpsychologie, Hamburg 1957). Diese in der Psychologie entwickelte Methode findet mittlerweile ein breites Anwendungsspektrum, zu dem vor allem die »Emotionsanalyse auf subjektiver Erlebnisebene« in der Marktforschung gehört (vgl. Möll, Thorsten: Messung und Wirkung von Markenemotionen. Neuromarketing als neuer verhaltenswissenschaftlicher Ansatz, Wiesbaden 2007, hier S. 67 f.). 61 Vgl. z. B. Rost, Peter: Der Neubau der Goethe-Universität. Von Bockenheim auf den Campus Westend und den Campus Rietberg, in: Rudolf Steinberg (Hg.), Die neue Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2013, S. 69–113.

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Mensa-Anbaus 62, sowie den Kritiken in Architekturdiskursen 63 gewonnen. Im Anschluss daran fand eine Ergänzung der bipolaren Begriffe sowie eine Erweiterung phänomenologisch denkbarer Eindrücke statt. Idealtypisch wären die leiblichen Akzente aus einem zweischrittigen Verfahren hervorgegangen, bei dem die Bewertungskriterien der quantitativen Befragung aus den Ergebnissen der qualitativen Teilstudie zur Analyse der Atmosphärenbeschreibungen hervorgegangen wären. Es zeigte sich jedoch, dass die vorausgewählten Eindrucksqualitäten mit denen der Atmosphärenbeschreibungen kompatibel sind und somit als deren Verlängerung angesehen werden können. Die Befragung der Studierenden (N=111) erfolgte an mehreren Tagen im Zeitraum vom 21. Mai bis 12. Juli 2013 unter ähnlichen Wetterverhältnissen auf dem Campusplatz. Die Differenzierung der Studierenden fand auf Basis der Gebäudezugehörigkeit, dem Institutsgebäude der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften (RuW, s. Abb. 6) auf der einen Seite des Campusplatzes (N=59) sowie dem Gebäude der Psychologie, Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften (PEG, s. Abb. 3) auf dessen anderer Seite, statt (N=52). Die Befragten wurden aufgefordert, die ihrem Empfinden entsprechenden Eigenschaftswörter anzukreuzen, bzw. durch Auslassen eines Kreuzes die Zustimmung zu verwehren. Den Studierenden stand damit ein sachlich differenzierter Korpus an Begriffen zur Explikation des Erlebens der Situation des Campusplatzes zur Verfügung. An dieser Stelle ist auf einen grundsätzlichen methodologischen Bruch zwischen der phänomenologischen Logik der Studie und der Methode der quantitativen Befragung hinzuweisen. Da sich die binnendiffuse Bedeutsamkeit einer Situation in ihrer Ganzheitlichkeit 64 nicht in einer Liste einzelner Begriffe abbilden 62

Vgl. Heide, Ferdinand: Masterplan und erste Bauten für die Universität, in: Rudolf Steinberg (Hg.), Die neue Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2013, S. 114–123. 63 Vgl. Elser, Oliver: Der disziplinierte Campus, in: Bauwelt 27–28 (2009), S. 32–39. 64 Vgl. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005, S. 52.

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lässt, läuft das Verfahren der Befragung zwangsläufig auf eine Reduktion hinaus. Die Fokussierung auf phänomenologisch begründete Eindrucksqualitäten kann diesen Bruch zwar nicht kitten, aber doch dazu dienen, eine produktive Verbindung qualitativer und quantitativer Verfahren für die empirische Forschung auf dem Theoriehintergrund der Phänomenologie zu schaffen. Die Befragung erbrachte 111 Eigenschaftsprofile, deren Auswertung zunächst anhand von Kreuztabellen erfolgte. Darin konnte die Zuordnung der Befragten zu den beiden Gebäuden abgelesen werden. Im Anschluss daran fand eine deskriptive Auswertung zur Ermittlung der Häufigkeiten statt. Anhand derer wurden sehr schwere Items (fragil, leicht, verziert, vielfarbig, schmutzig, spröde, asymmetrisch, intim, gedeckt, unauffällig, prickelnd, dissonant) und sehr leichte Items (symmetrisch, architektonische Einheit) identifiziert und aus der Auswertung ausgeschlossen. Schwere Items wurden von keinem/keiner der Befragten bejaht oder weisen einen Schwierigkeitsindex < 5 auf. 65 Leichte Items wurden von fast allen der Befragten bejaht. Für die statistische Auswertung sind Items mittlerer Schwierigkeit relevant, da sie sich zur Differenzierung – hier von Wahrnehmungsunterschieden – anbieten. 66 Zwei Wordclouds (s. Abb. 7 und Abb. 8) visualisieren die Befunde nach ihrem Gebäudebezug. Die entsprechende Häufigkeitsverteilung spiegelt sich in der größenproportionalen Ausprägung der Begriffe wider; die Färbung (schwarz/grau) unterscheidet nach gesellschaftlich vermittelten Bedeutungen (schwarz) und Gefühlen, bzw. leibnahen Brückenqualitäten (grau).

65

Der Schwierigkeitsindex (Pi) eines Items bei zweistufigen Antworten (ja/nein) berechnet sich folgendermaßen: Pi ¼ Nr 100 wobei Nr die Anzahl der Personen, N die ein Item bejaht haben, und N die gesamte Anzahl der Befragten bezeichnet. Vgl. dazu Bühner, Markus: Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion, München 2006, S. 83. 66 Zur Itemanalyse siehe: http://cgi.server.uni-frankfurt.de/fb05/instpsych/jo hartig/test/images/Folien/V08%20Itemanalyse.pdf vom 06. 12. 2013.

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Zur Spürbarkeit von Architektur

9.3

Kommunikation qua Architektur?

Die Ergebnisse der Befragung werfen einige diskussionswürdige Fragen auf. Zunächst verdeutlichen die Befunde die Verschränkung einer Situation auf der Objektseite mit einer Situation auf der Subjektseite mit den ihnen je inhärenten binnendiffusen Bedeutsamkeiten. Auf der Objektseite konstituiert sich eine aktuellsegmentierte Situation; zu ihr gehören der Campusplatz in seiner aktuellen Beschaffenheit, die umgebenden Gebäude, die Vitalqualitäten 67, ebenso wie die sich performativ ereignende (oder ausbleibende) Dynamik studentischen Lebens, usw. Auf der Subjektseite stehen die Befragten mit ihren jeweiligen persönlichen Situationen, welche wiederum in sie umgreifende, zuständlichsegmentierte, gemeinsame Situationen eingelagert sind. Dazu gehört ganz wesentlich die gemeinsame Situation des Studierens in den beiden verschiedenen Gebäuden, deren Erleben wiederum durch die je fach- bzw. fachbereichsspezifischen Programmgehalte (als Situation auf der Objektseite) disponiert wird. Alle Situationen auf der Subjektseite werden durch die universitäre Situation gerahmt, deren Charakter ebenfalls zuständlich-segmentiert ist. Diese kommt unter anderem in diskursiven Praktiken der programmatischen Selbstdarstellung der Universitätsleitung zum Ausdruck. 68 Die Visualisierungen weisen darauf hin, dass die sachverhaltlichen Elemente der Situation des Campusplatzes aus dem Kontext unterschiedlicher Bedeutungshöfe erlebt werden, die Hermann Schmitz als ganzheitlich, das heißt »in sich durch ein Thema oder eine Tönung zusammenhängend und nach außen abgehoben« 69, beschreibt. Diejenigen »Items«, deren Kovarianz gegebenenfalls auf eine solche thematische Verklammerung hindeutet, lassen sich mittels einer Hauptkomponentenanalyse in SPSS identifizieren. In der Statistik dient die Hauptkomponentenanalyse der Zusam67

Vgl. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39. Vgl. Steinberg, Rudolf: Die neue Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2013. 69 Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 103. 68

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menfassung vieler korrelierender Variablen in einige wenige Komponenten und damit der Aufdeckung von Zusammenhängen zwischen Variablen sowie der Dimensionsreduzierung. Ziel ist, die Varianz vieler Items durch eine geringere Anzahl von Hauptkomponenten aufzuklären. 70 Eine auf Grundlage der gesamten Datenbasis durchgeführte Hauptkomponentenanalyse lässt die statistisch wie inhaltlich begründete Feststellung von drei Hauptkomponenten, das heißt untereinander positiv korrelierenden Variablenbündeln, zu. Auf Komponente 1 laden die Items zwanghaft, schwer, aufdringlich, bedrohlich, steril, eng, undurchsichtig, trist, verlassen, abgehoben, betäubend, kalt, abweisend, streng, anonym, geschlossen, konservativ, monoton, bleiern, stumpf, tot, erdrückend, panoptisch und leer. Es besteht somit eine positive Korrelation (> 0.4) zwischen den Items und der Hauptkomponente. Besonders hoch (> 0.7) laden die Items trist, abweisend, tot und erdrückend, die man deshalb auch als Markierungsitems bezeichnet und zur inhaltlichen Interpretation der Komponente heranziehen kann. Auf der Achse des vitalen Antriebs zwischen Engung und Weitung sind die Gefühle auf dem Engepol angesiedelt; die korrelierenden Zuschreibungen deuten die Situation des Campusplatzes als verschlossen und abweisend. Komponente 2 zeigt eine positive Korrelation mit den Items offen, freundlich, beflügelnd, anregend, einladend, belebt, innovativ, friedlich, gemütlich, ungezwungen, lebendig, vielfältig, locker, flexibel, dynamisch und abwechslungsreich, von denen einladend, ungezwungen, vielfältig, locker und dynamisch eine besonders hohe Ladung aufweisen. Auch in diesem Fall ist die thematische Ausrichtung deutlich; die Gefühle liegen auf dem Weitepol des vitalen Antriebs, die räumliche Situation wird als offen und aufnehmend erlebt. Die Interpretation der dritten Komponente ist dagegen weniger eindeutig. Diese fasst die Items formal, selbstbewusst, kantig, statisch, erhaben, weit, solide, einheitlich, sachlich, symmetrisch und nüchtern zusammen, von denen keines eine besonders hohe Ladung aufweist. Begrifflich ließe sich diese Komponente als »dis70

Vgl. dazu Bühner: Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion, S. 180.

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tanziert« bestimmen, da ein Großteil der Items auf die sachverhaltlichen Eigenschaften und Proportionen der Gebäude im »tatsächlichen Raum« 71, respektive auf dem Platz verweist (kantig, statisch, solide, einheitlich, symmetrisch, die Weite des Platzes im Sinne seiner Ausdehnung im relationalen Raum). Nichtsdestotrotz beeindruckt die Architektur als selbstbewusst und erhaben, ohne jedoch mit dieser Geste im Bedeutungshof der Öffnung, respektive der Verschlossenheit zu stehen. Da die Hauptkomponentenanalyse keine Rückschlüsse auf Typen bzw. Gruppen zulässt, können lediglich unter Hinzunahme einer Kreuztabelle 72 nach Gebäudezugehörigkeit differenzierte Rückschlüsse auf die fachbereichsspezifische Prägung der Wahrnehmung getroffen werden. Demnach korrespondiert die thematische Verklammerung der ersten Komponente mit der Erlebniswirklichkeit Studierender aus den Gesellschaftswissenschaften (s. Abb. 8). Die Wahrnehmung eines Großteils Studierender aus den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften wird hingegen der thematischen Verklammerung aus Komponente 2 entsprechen (s. Abb. 7). Hinsichtlich Komponente 3 ist aus der Kreuztabelle kein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den Gebäudezugehörigkeiten erkennbar. Die sich anschließende Frage betrifft das Verhältnis dieser verschiedenen »Erlebniswirklichkeiten« zum tatsächlichen Raum, das sich nicht allein auf dem Hintergrund der Lebenswirklichkeiten der Subjekte, das heißt deren aktuell-befindlicher Situation im Moment der Befragung, aufschlüsseln lässt. Die Komponentenanalyse verweist hingegen auf sich voneinander abhebende Bedeutungswelten. Eingangs sind wir bereits auf die Eigenlogik architektonischer Beeindruckungspotentiale im Kontrast zu anderen Medien eingegangen; Architektur weckt dabei leibliche Affizierungen, die im Kontext mitweltlicher Milieus eine nachhaltige kommunikative Wucht entfalten. So verbinden sich Gefühle mit Aussagen und Praktiken von Akteuren und Patheuren zu einem »untrennbaren 71 72

Vgl. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 61 f. Diese muss aus Platzgründen an dieser Stelle entfallen.

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Gefüge« 73. Dies betrifft vor allem das »Wie« der spezifischen Kommunikationslogik, gibt jedoch noch keinen Aufschluss über das »Was« der Kommunikation. Architektur vermittelt als Medium des Sozialen neben ihrer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in Teilsysteme (hier der universitären Bildung) auch soziale Differenzierungen jeglicher Art – sie bietet Räume, in denen sich individuelle wie kollektive Selbstverständnisse herausbilden können. 74 Der letzte Abschnitt soll Aufschluss über jene Programmgehalte der neuen Universitätsarchitektur geben, auf deren Weg das universitäre Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Die GoetheUniversität entwirft mit der Standorterneuerung ein Raumprogramm, das sie als diese Universität mit »unverwechselbarem und identitätsstiftendem Gepräge« 75 zu erkennen geben soll. Gleichzeitig sucht sie mit dem neuen repräsentativen Campus Westend Anschluss an das neoliberale Projekt, das »die besten Voraussetzungen für eine hohe, internationalen Qualitätsstandards genügende Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Universität bieten« 76 soll. Der Übergang der Goethe-Universität vom sozialdemokratischfordistischen zum neoliberalen Projekt drückt sich im Metier des Ästhetischen in ihrer räumlichen Reorganisation aus, die im interuniversitäten Wettbewerb erhoffte Standortvorteile absichern soll. 77 Damit ist ein Programm formuliert, das sich über die spezifische Ästhetik der Neubauten des Campus im Anschluss an die repräsentative Machtarchitektur Poelzigs entfaltet, wenngleich das I.G.-Farben-Haus auch weiterhin »das Symbol der neuen Universität Frankfurt« 78 darstellt. Dessen Ästhetik schreibt der ehema73

Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a. M. 2010, S. 21. 74 Vgl. ebd. S. 184. 75 Rost: Der Neubau der Goethe-Universität, in: Steinberg (Hg.), Die neue Universität Frankfurt am Main, S. 94. 76 Ebd. S. 90. 77 Vgl. Belina, Bernd u. a.: Neoliberalising the Fordist University: A Tale of Two Campuses in Frankfurt a. M., Germany, in: Antipode 45 (2012), S. 738–759. 78 UniReport: Auf dem Weg zu einer der modernsten Hochschulen Deutschlands, in: UniReport vom 10. 04. 2002, S. 1–2, hier S. 1.

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lige Universitätspräsident Rudolf Steinberg eine »zivilisierende Kraft« zu, da es 2008 – nach sechs Jahren des universitären Betriebs – noch »keinerlei Schmierereien an den Wänden« gegeben habe. 79 Wie die Ergebnisse dieser Studie zeigen, erfolgt die leibliche Verinnerlichung eines identitiven oder idiosynkratischen Verhältnisses zu einer auf Exzellenz und Spitzenleistung 80 setzenden Programmatik administrativer Eliten der Universität jedoch nie unisono, sondern auf dem Hintergrund heterogener Fachbereichskulturen. 81 Die Universität ist als Ort der Anbahnung von Biografien stets Verteilersystem, das seine AbsolventInnen in eine Arbeitswelt mit unterschiedlichsten sozialen Geltungsansprüchen und monetären Belohnungsregimen entlässt. Wie die quantitative Teilstudie gezeigt hat, erfolgt die Identifikation mit bzw. Abkehr von den repräsentativen Gesten des Bauens auf der Grundlage kategorial je verschiedener gemeinsamer Studien-Situationen (hier Gebäude und Institute der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zum einen und der Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften zum anderen). Der formulierte Anspruch, den Campusplatz als Ort der Kommunikation und des interdisziplinären Austauschs, das heißt der Vermengung von fachbereichsspezifischen Situationen zu gestalten, ist somit noch weit von seiner Einlösung entfernt. Literatur Belina, Bernd u. a.: Neoliberalising the Fordist University: A Tale of Two Campuses in Frankfurt a. M., Germany, in: Antipode 45 (2012), S. 738–759.

79

Steinberg, Rudolf: Die zivilisierende Kraft der Ästhetik. Ein Gespräch mit Prof. Rudolf Steinberg, Präsident der Goethe-Universität, über die Umwandlung der Frankfurter Alma Mater in eine Stiftungsuniversität, in: IHK-WirtschaftsForum 131/3 (2008), S. 29–31. 80 Vgl. Johann Wolfgang Goethe-Universität: Hochschulentwicklungsplan I, Frankfurt a. M. 2001, S. 2. 81 Vgl. dazu Schneider, Norma: Paranoia, Putzen, Propaganda – Über den Umgang mit studentischem Protest an der Goethe-Universität, in: AStA Zeitung vom Herbst 2013, S. 10–14.

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Uta Ewald

Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns 1.

Einleitung

Hallenklettern boomt. Die ehemalige Randsportart Klettern hat innerhalb der letzten 20 Jahre eine beispiellose Karriere erfahren. Dies schuldet sich in beträchtlichem Maße dem Umstand, dass deutschlandweit Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden schießen. 1 Obwohl Klettern und Natur noch vor einigen Jahren für Sportkletterer eine untrennbare Einheit bildeten, finden die hoch artifiziellen Wände heute auf breiter Basis Anklang. 2 Die Anziehungskraft muss wohl in der Tätigkeit selbst zu finden sein. Da, trotz der momentan weiten Verbreitung, nicht davon ausgegangen werden kann, dass jedem Leser die typischen Abläufe in Kletterhallen bekannt sind, sollen zunächst kurz die Charakteristika dieser Spielart des Kletterns dargelegt werden: Um seilgesichert eine künstliche Indoor-Wand ersteigen zu können, schließen sich zwei Kletterer zu einer mehr oder minder dauerhaften Seilschaft zusammen. Am einen Ende des Seils befindet sich der aktuell Kletternde, welcher sich an Kunstharz-Griffen und -Tritten und unter Einsatz aller erdenklichen Körperbewegungen die Wand empor arbeitet. Und am anderen Ende des Seils verrichtet der »Kameradensicherer« mit einem speziellen Bremsgerät seine verantwortungsvolle Aufgabe. Üblicherweise findet nach jeder Route ein kontinuierlicher Wechsel der Funktionsrollen statt. Das heißt der vormals Kletternde entledigt sich möglichst rasch seiner 1

Vgl. dazu ausführlich Ewald, U.: Gefährdungen beim Hallenklettern – soziologisch betrachtet, Berlin 2013, S. 7–34. 2 Vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 56 ff.

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Uta Ewald

viel zu engen Kletterschuhe, bindet sich aus dem Seil aus und nimmt sein Sicherungsgerät zur Hand. Währenddessen hat sich der bisherige Sicherer und nun Kletternde zu allererst zwischen den Varianten »Vorstieg« und »Toprope« zu entscheiden. Bei letzterem hängt das Seil bereits – wie der Name schon andeutet – benutzerfreundlich in Umlenkkarabinern von der Decke herab. Und der aktuell Sichernde muss lediglich das beim Aufstieg entstehende Schlappseil kontrolliert einnehmen, um somit Stürze bis auf den Boden zu verhindern. Im »Vorstieg« hingegen ist das Anspruchsniveau ungleich höher einzustufen. Hier zieht der Kletterer während seines Vertikaltrips das an seinem Gurt hängende Seilende mit sich nach oben und der Sichernde gibt ihm dazu ausreichend, aber nicht übermäßig Seil aus. Der Vorsteiger führt das Seil sicherheitshalber fortlaufend durch alle an der Wand befestigten Karabiner der jeweiligen Route. Statt eines festen Umlenkpunktes oberhalb des Kletternden, wie im »Toprope«-Modus, entsteht so ein sukzessive höher wandernder Umlenkpunkt im Seilverlauf zwischen kletterndem und sicherndem Partner. Der oberste in Beschlag genommene Karabiner reduziert dann, im Falle eines Sturzes, die mögliche Tiefe – ein optimal straffer Seilverlauf vorausgesetzt 3 – auf ein vertretbares Minimum. Für das Seilhandling zeichnet der am Boden verbliebene »Kameradensicherer« verantwortlich. Er hat mit fester Hand und korrekter Haltung auf einen bestmöglichen Seilverlauf und dabei eine vorschriftsmäßige Bedienung des Sicherungsgerätes zu achten, damit die auftretende kinetische Energie eine Transformation in harmlose Reibungsenergie erfahren kann. Am Ende der Route dient das Sicherungsgerät zudem als Seilbremse, die den Kletterer gut kontrollierbar bis auf den Boden ablässt. Damit wäre im Großen und Ganzen das grundlegende Geschehen beim Sportklettern in der Halle hinreichend beschrieben. Diese Schilderung des Hallenkletterns anhand objektiver Tatsachen im Rahmen einer geometrischen Raumauffassung lässt 3

Mindestens bis zur fünften Zwischensicherung besteht im Vorstieg bekanntermaßen, durch ein Zuviel an gefordertem bzw. ausgegebenem Seil, akute Bodensturzgefahr.

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Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis

keine Rückschlüsse auf das subjektive Erleben zu. Worin die Verlockung der Tätigkeit liegt, bleibt im Dunkeln. Auch geben Unfälle in Kletterhallen bisher noch ungelöste Rätsel auf. Denn obwohl die Sportart erstens in geschützte Innenräume verlagert wurde (»Verhäuslichung«) und in Folge dessen die typischen Gefahrenquellen wie naturale Desaster, Hakenausbrüche oder unschöne Felsvorsprünge innerhalb der Sturzbahn fehlen und zweitens allgemein akzeptierte, forschungsbasierte Verhaltensregeln existieren, 4 ereignen sich indoor immer wieder Bodenstürze mit zum Teil erheblichen Verletzungen durch Verhaltensfehler. 5 Bisherige Fachbeiträge zum Thema »Hallenklettern und Unfälle« sind bislang überwiegend auf Einzelaspekte fokussiert, ohne die Gesamtsituation bzw. das affektive Betroffensein sowie das leibliche Erleben der Beteiligten ausreichend und theoriefundiert zu berücksichtigen. 6 Erst eine solche Sichtweise ermöglicht es aber, 4

Vgl. DAV/OeAV/AVS/SAC: Sicher klettern (Plakat, o. A.). Abgerufen am 11. Oktober 2010 von http://www.sac-cas.ch/fileadmin/pdf/Bergspass/Kletter plakat_UEbersicht.pdf. 5 Vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 35. Die Bodensturzwahrscheinlichkeit beim Hallenklettern lässt sich bislang nur abschätzen. Nach Britschgi (Britschgi, W.: sicher partner sichern (1). Elementare Sicherungsfehler und die 3-Bein-Logik, in: bergundsteigen 2 (2004), S. 64–69, hier 64) liegt sie etwa bei 0,005 % pro Eintritt. Das heißt in mittelgroßen Hallen (etwa 1300– 1700 m2 Kletterfläche) mit 40.000 Besuchern pro Jahr verunglücken etwa 2 Personen derart, dass sie fachliche medizinische Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Die erlittenen Gesundheitsschäden reichen von Prellungen über Brüche und Querschnittslähmungen bis hin zum Tode (vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 67). 6 In abgekürzter Zitierweise: Befragung zum Sicherheitsempfinden (Ernst/Kuntnawitz: Unfallursachen, 2011), rechtliche Unfallfolgen (Auckenthaler/Hofer: Tatort Kletterhalle 1, 2007; Dies.: Tatort Kletterhalle 2, 2007; Dies.: Klettern und Recht, 2009; Bergmann: 1 Kletterunfall, 2008; OLG Karlsruhe, 2004), Beobachtungsstudie 1 (Britschgi: sicher partner sichern (1), 2004), Beobachtungsstudie 2 (Sicherheitsforschung des DAV, 2004; Mersch/Trenkwalder/Schwiersch/ Stopper: hallenklettern narrensicher/fehlerträchtig?, 2005; Schwiersch/Trenkwalder/Mersch/Stopper: Kletterhallen-Studie, 2004; Stopper/Schwiersch/Trenkwalder/Mersch: Verhaltensfehler beim Hallenklettern, 2006), Beobachtungsstudie 3 (Funk/Schwiersch/Hellberg: Homo verticalis indoorensis, 2012; dies.: Auf die Finger geschaut, 2013; Funk/Schwiersch/Semmel/Hellberg: Homo verticalis indoorensis II., 2013), Fehlerbilder und -situationen (Britschgi: Begreiflich, 2008;

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die Unfallursachen befriedigend und hilfreich abzuklären. Dies ist das Thema des folgenden Beitrags. Nicht nur hinsichtlich des Hallenkletterns herrscht gemeinhin eine objektive Sichtweise vor: Obwohl die Beziehungen zwischen Leib, Ort und Gefühl grundlegend bedeutsam für das Leben sind, werden sie im Alltag oft übersehen 7 und in der wissenschaftlichen Diskussion vielfach ignoriert 8. Der abendländische Dualismus von Körper und Geist und die »Introjektion« der Gefühle zum Zwecke ihrer Kontrolle 9 führen zu einer »Entfremdung« von Leib Haslwanter: »Denn erstens kommt es anders …«, 2001; Hellberg/Semmel: Jetzt ist schon wieder was passiert!, 2009; Hoffmann: 1 Kletterunfall, 2008; Lammel: Wie sind wir da nur reingeraten?, 2013; Mailänder: Um ein Haar, 2010; Scherer: Gefährlich sicher, 2002; Scherer: Sichern – alles easy?, 2008; Schubert: Sicherheit und Risiko in Fels und Eis, 1998; Schubert: Sicherheit und Risiko in Fels und Eis, Bd. 3, 2006; Schubert: Sicherheit und Risiko in Fels und Eis, Bd. 2, 2007; Zak: Mein Absturz in der Kletterhalle, 2010), Fehlerkorrektur (Britschgi: sicher partner sichern (2), 2004; Britschgi: Sturz- und Sicherungstraining, 2008; Britschgi: Rückmelde-Kultur, 2009; DAV: Aktion Sicher Klettern, 2010; DAV-Sektionen München & Oberland: Indoor-Kletterkurs, 2005; Kirmeier: Die Summe unserer Gewohnheiten, 2009; Lammel: Und wie kommen wir wieder heraus?, 2013; Plattner: Im Gespräch mit Chris Semmel, 2010; Semmel/Hellberg: Handarbeit oder Automatisierung?, 2010; Semmel/Hellberg: Halbautomaten sind keine Vollautomaten, 2010; Siebert: warten wir noch ein paar tote ab, 2007; Stopper: Sichern beim Klettern, 2013), Unfallstatistik (Limb: Injuries on British climbing walls, 1995; Neuhof/Hennig/Schöffl/Schöffl: Injury risk evaluation in sport climbing, 2011; Österreichisches Kuratorium für Alpine Sicherheit: Unfälle beim Klettern in Österreich, o. A.; Randelzhofer: Bergunfallstatistik 2008–2009, 2010; Randelzhofer/Hellberg: Wie riskant ist Bergsport?, 2010; Sol O’Safe: Les Statistiques d’accidents en salle d’escalade, o. A.; Schöffl: Fels- und Eisklettern, 2010; Schöffl/Winkelmann: Unfallstatistik an »Indoor-Kletteranlagen«, 1999), Akteurund systemtheoretische Betrachtung (Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, 2013). 7 Vgl. Böhme, G.: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 84; Hasse, J.: Fundsachen der Sinne, Freiburg 2005, S. 129–137. 8 Vgl. Schmitz, H.: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg 2012, S. 19–27; Hasse, J.: Der pathische Raum. Die Leiblichkeit bestimmt die Stadtwahrnehmung, in: der architekt 2 (2012), S. 60–63; Gugutzer, R.: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012, S. 7–12. 9 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 19–27.

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Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis

und Raum. 10 Zu dieser Grundhaltung gesellen sich gerne reduktionistische Akteur-Modell der Handlungstheorien 11, sowie ein auf Subjekt-Objekt-Trennung basierendes Konzept der Wahrnehmung. Der rational gesteuerte Mensch soll diesem Verständnis zufolge seine dingliche Umwelt und seinen ebensolchen Körper erfolgreich beherrschen können. Ein Aufgehen in Gefühlen gilt als zu vermeidende Entgleisung. Selbst in gesellschaftlichen Kompensationszonen wie dem Sport darf der Mitbürger nur innerhalb gewisser Grenzen Mensch sein. Zwar sind Freude und Zorn quasi das Salz in der Suppe sportlicher Leidenschaft, aber in Sicherheitsfragen beruft man sich strikt auf rein kognitivistische Akteure, die ihr Gefühlsleben willentlich unter Kontrolle haben und auch nicht für unreflektiert wirkende Erscheinungsweisen ihrer (dinglichen) Umwelt empfänglich sind. Mit dieser üblichen Leibvergessenheit lassen sich jedoch weder die Sonnen- noch die Schattenseiten von körper-leiblichen Praktiken adäquat erfassen. Aus den genannten Gründen wird im Folgenden auf die LeibPhänomenologie nach Hermann Schmitz und das AtmosphärenKonzept von Gernot Böhme zurückgegriffen, um die derzeit in Kletterhallen vorherrschenden Situationen angemessen beschreiben zu können. Denn die Neue Phänomenologie erlaubt gegenüber anderen in den Kulturwissenschaften und in der Sportwissenschaft favorisierten Theorien 12 eine detaillierte, ganzheitliche Analyse subjektiver Erlebnisse durch die Bezugnahme auf das leibliche Erleben. Folgerichtig erscheinen deshalb in diesem Beitrag der Kletterer und der Sicherer in ihrer »Zweiheit des Körpers« 13 auf dem analytischen Bildschirm. Nach einer theoretischen Grundlegung der Beziehungen zwischen Körper, Leib und Raum (Abschnitt 2), sollen in beschreibender Manier – aufbauend auf langjähriger Eigenund Lehrerfahrung – einzelne, für Kletterhallen typische »Situa-

10 11 12 13

Vgl. Schmitz, H.: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2009, S. 46 f. Vgl. Hasse: Der pathische Raum, in: der architekt 2 (2012). Vgl. Gugutzer: Verkörperung des Sozialen, S. 7–18. Gugutzer, R.: Soziologie des Körpers, Bielefeld 2010, S. 146.

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tionen« 14 sowie die dort vorherrschenden »Atmosphären« dargestellt werden (Abschnitt 3). Abschließend erfolgt eine Integration der im Text aufgeführten Raumtypen in eine übergeordnete Perspektive (Abschnitt 4). Auch wenn im Folgenden spezifische Zusammenhänge vereinzelt herausgehoben werden, geschieht dies dennoch im Bestreben, nicht in einen reduktionistischen »Konstellationismus« 15 zu verfallen, sondern dessen ungeachtet die situative Ganzheit durchschimmern zu lassen. 16 2.

Körper, Leib und Raum

Wenn im Alltag vom Raum die Rede ist, handelt es sich in der Regel um ein Verständnis, das von einem metrisch vermessbaren, von ausgedehnten physischen Körpern besetzten Raum ausgeht. 17 Dieser Raum der physischen Dinge ist bekanntlich teilbar und über Lagen und Abstände strukturierbar. 18 Sein Ordnungsschema entspricht einem mathematischen Koordinatensystem, in dem jeder materielle Körper anhand seiner relativen räumlichen Position jederzeit exakt verortet werden kann. 19 Das gilt auch für den menschlichen Körper, wenn man ihn »ortsräumlich« 20 erfassen möchte. Es lässt sich sowohl die Position des Gesamtkörpers präzise bestimmen als auch seine Binnenstruktur geometrisch gliedern 21 und als Grundlage für eine ortsräumlich fundierte Bewegungssteuerung nutzen. Denn über visuelle und taktile Wahrnehmung vermag das »perzeptive Körperschema« (Schmitz) – im Sinne 14

Situationen im Schmitz’schen Sinn bestehen mindestens aus Sachverhalten (»dass etwas ist«), meist zusätzlich aus Programmen (»dass etwas sein soll [als Norm] oder sein möge [als Wunsch]«) und Problemen (»ob etwas ist«). (Schmitz: Kurze Einführung, S. 47.). 15 Vgl. Schmitz, H.: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005, S. 27 ff. 16 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 53 ff. 17 Vgl. ebd. S. 71 f. 18 Vgl. Schmitz, H.: Der Leib, Berlin 2011, S. 10. 19 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 72. 20 Schmitz: Der Leib, S. 10. 21 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 76.

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Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis

einer »habituellen Vorstellung vom eigenen Körper« 22 – einzelne Körperteile zu lokalisieren und gezielt zu verlagern. 23 Eine solche lediglich im Ortsraum registrierte Bewegung exkludiert leibliche Raumformen gänzlich. 24 Weder erspürte »Atmosphären«, noch das jeweilige Bewegungserleben finden hierbei Berücksichtigung. Sie fallen schlichtweg durch das gewählte Raster hindurch. Da sich jedoch »leiblicher Raum, Gefühlsraum und dem Leib entfremdeter Ortsraum […] im Erleben, Verhalten und Verständnis des normalen Erwachsenen ohne Ordnung ab[wechseln – UE] und […] einander in zufälliger Mischung [durchdringen – UE]« 25, muss eine angemessene Analyse auch leibbezogene Räume mit einbeziehen. Demgemäß soll nun der Leib ins Zentrum der nachfolgenden Überlegungen gerückt werden. Nach Schmitz ist »leiblich […], was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrungen gewonnenen perzeptiven Körperschemas […] zu bedienen.« 26 Dem Menschen ist demnach neben seinem wahrgenommenen Körper auch ein erspürter Eigenleib präsent. Und beide Dimensionen sind derart miteinander verwoben, dass der Leib dem »be-, er- und gelebte[n] Körper« 27 entspricht. Die Dualität von »spürbarem Leibsein und gegenständlichem Körperhaben« 28 lässt sich nur im Tode entflechten. 29 Zu Lebzeiten fungiert der Körper als sensomotorische Basis für leibliches Spüren und Handeln. 30 Im Unterschied zur perzeptiv gesteuerten Eigenbewegung basiert die leiblich sich vollziehende Koordination auf einem beharrlichen, den ganzen Körper über22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd. S. 35. Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 23. Vgl. allg. dazu Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 66. Ebd. S. 74. Schmitz: Kurze Einführung, S. 35. [Hervorh. i. Zitat wurden weggelassen]. Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 70. Gugutzer: Soziologie des Körpers, S. 152. Vgl. ebd. S. 146–155. Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 22 f.

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ziehenden Orientierungssystem mit unumkehrbaren Richtungen, ebensolchen Entfernungen 31 und absoluten, jedoch am Körper lokalisierbaren Leibesorten (»Leibesinseln«). 32 Dieses System, »motorisches Körperschema« (Schmitz) genannt, reagiert unreflektiert, feinkoordiniert und nahezu ohne Verzögerung auf Bewegungsanforderungen (in Schreck- und Routinesituationen). 33 Es ist in die leibliche Engungs-Weitungs-Dynamik – den »vitalen Antrieb« – eingebunden und daher zur Koordination mit der Umwelt fähig, im Sinne einer Integration der Umgebung in die (gespürte) Eigenbewegung. Das heißt, dass die leibliche Achse über den eigenen Leib insofern hinausreichen kann, als dass »der vitale Antrieb […] nicht nur den eigenen Leib [durchzieht – UE], sondern […] auch Gemeinschaft in leiblicher Kommunikation [schafft – UE]. Diese ist als Dialog der konkurrierend verschränkten Tendenzen Spannung und Schwellung von vornherein in ihm angelegt. Der Dialog spreizt sich gleichsam auf zum Drama mit verteilten Rollen« 34 – ob nun beim Ausweichmanöver auf überfüllten Bürgersteigen 35, in leiblicher Kommunikation mit Dingen oder beim Blickwechsel: »Jeder Blickwechsel erzeugt einen gemeinsamen vitalen Antrieb. Der Blick des anderen trifft mich engend, ich werfe weitend den meinen zurück, der den anderen engt […]. Engung und Weitung sind im vitalen Antrieb Konkurrenten um Dominanz.« 36 Der hier beschriebene »leibliche Raum« mit seiner speziellen Struktur und Dynamik steht im Gegensatz zum »Ortsraum« der physischen Dinge. 37 Statt relativer Orte, Lagen, Abstände und umkehrbarer Richtungen, sowie Teilbarkeit des Raumes zeichnen 31

Schmitz unterscheidet »umkehrbare Abstände« und »unumkehrbare Entfernungen« voneinander (vgl. Schmitz: Der Leib, S. 21). Erstere beziehen sich auf den Ortsraum, während letztere dem leiblichen Raum angehören (vgl. ebd., S. 21 f.). 32 Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 21 f.; Schmitz: Kurze Einführung, S. 76 ff. 33 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 76 f.; Schmitz: Der Leib, S. 22 f. 34 Schmitz: Kurze Einführung, S. 38. 35 Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 32. 36 Ebd. S. 31. 37 Vgl. ebd. S. 12.

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Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis

den leiblichen Raum absolute Orte, prädimensionale Volumina, unumkehrbare Richtungen, Flächenlosigkeit und Unteilbarkeit aus. 38 Auch »Atmosphären«, als »räumlich ergossene, leiblich ergreifende Mächte« 39 wirken nur im leiblichen Raum. Nach Hasse sind sie »spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten erleben […] [Atmosphären – UE] umweben einen Ort, hüllen ihn ein und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort.« 40 »Der spürbare Ausdruck ihrer Wirklichkeit erwächst aus einer situativen Synthese all dessen, was in einer Gegend zur Erscheinung kommt. Wirksam werden dann die Dinge an ihren Orten, die Temperatur der Luft, das Wehen des Windes, das natürliche oder künstliche Licht, vor allem aber die Formen der Präsenz von Menschen.« 41 Entsprechend beschreibt auch Böhme Atmosphären als »erste[n] Gegenstand der Wahrnehmung« 42, vor jeder Subjekt-Objekt-Trennung. 43 Sie sind »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« 44. Eine Ausdifferenzierung von Subjektund Objektpol vollzieht sich erst im Wechsel vom AtmosphärenSpüren zur »Dingwahrnehmung« (Entsubjektivierung). 45 »Im Unterschied zum Ansatz von Schmitz werden [aber – UE] […] die Atmosphären nicht freischwebend gedacht, sondern gerade umgekehrt als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird.« 46 Die »Ekstasen« von Dingen (Böhme) – das »Aus-sich-Heraustreten« – thematisiert ausschließlich die Erscheinungsweise, nicht Eigenschaften im allgemeinen oder Funktionen. 47 Böhme greift in diesem 38

Vgl. ebd. S 7–12. Schmitz: Kurze Einführung, S. 79. 40 Hasse, J.: Atmosphären der Stadt, Berlin 2012, S. 12, [Hervorh. wurden weggelassen]. 41 Ebd. S. 11. 42 Böhme: Aisthetik, S. 45. 43 Vgl. ebd. 44 Böhme, G.: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 21–48, hier S. 34. 45 Vgl. Böhme: Aisthetik, S. 171. 46 Böhme: Atmosphäre als Grundbegriff, S. 33. 47 Böhme: Aisthetik, S. 131–134. 39

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Zusammenhang auf seine Unterscheidung »Materialität« / Materie 48 und die Differenz »factual fact« / »actual fact« (Realität / »Wirklichkeit des Bildes«) von Albers zurück 49. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nur unter Einbeziehung eines Leibkonzepts die ursprüngliche, sowohl räumliche, als auch affektive Erfahrung beim Klettern erfasst werden kann – im Gegensatz zu einer »psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische[n] Vergegenständlichung« 50 (Schmitz). Denn das affektive Betroffensein von an einzelnen Orten spürbaren Gefühlen spielt sich im leiblichen Raum ab.51 Inwieweit die Berücksichtigung der leiblichen Dimension hilfreich im Verständnis der Praxis ist, zeigen die folgenden Abschnitte – am Beispiel des Hallenkletterns – auf. 3.

Leibliche Kommunikation

Aus neu-phänomenologischer Sicht können Kletterer also, wie Menschen gemeinhin, nur als Körper-Leib-Dualität gedacht werden, als verschränkte Einheit von körperlicher und leiblicher Dimension. Das heißt der Vertikalsportler erklimmt zwar als wahrgenommener und wahrnehmender physischer Körper die Wand, dem spürenden Leib jedoch obliegt sowohl das Erleben, wie auch die Anleitung der Bewegung. 52 Und der Sicherungspartner am Boden agiert ebenso leibbasiert – gerade weil es dort auf unmittelbare Reaktionen ankommt. Die eigenleibliche Dynamik beschränkt sich nicht nur auf die Führung der Eigenbewegung, sondern reagiert erstens sensibel auf emotionale Einflüsse – sprich Sturzängste oder entspannende »Atmosphären« – und ermöglicht

48

Vgl. Böhme, G.: Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 156 f. Vgl. Böhme: Aisthetik, S. 25. 50 Schmitz: Kurze Einführung, S. 22. 51 Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 4. 52 Siehe dazu allg. Situationen im Seekajak (vgl. Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 71–74) und beim Tanzen (vgl. Gugutzer, Verkörperung des Sozialen, S. 99– 116). 49

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zweitens die leibliche Kommunikation innerhalb der Seilschaft 53, mit der Kletterwand und der Sicherungskette 54. Nachfolgend soll zunächst der Focus auf dem kletternden Partner der Seilschaft liegen. Anschließend rückt der Sichernde in den Mittelpunkt der Analyse. Und schließlich werden wirkmächtige Atmosphären in Kletterhallen durchleuchtet. 3.1

In der Wand: Klettererlebnisse

Der Kletterer steht also am Fuße der Wand und lässt seinen Blick entlang der Route in die Höhe gleiten. Die hoch aufstrebende Wand mit ihren farbigen Kunstharzgriffen und -tritten erzeugt eine freudige Unruhe durch ihre »leibnahe[n] Brückenqualitäten« 55. 56 Über Bewegungsvorzeichnungen (»Bewegungssuggestionen« 57) vermittelt, spürt der Kletterer vorab von der Wand ausgehende Engungs- und Weitungs-Anmutungen, also den taktilen Grenzgang mit der heimsuchenden, »reißende[n] Schwere« 58 am eigenen Leib. Aus dieser Vorspannung heraus tastet der Blick nun die ersten Griffe und Tritte ab. Das eigenleibliche »motorische Körperschema« 59, zu dem der Blick und am Körper über das per53

Die Grundeinheit beim seilgesicherten Klettern bildet die Seilschaft. Sie besteht mindestens aus einem Kletterer und einem Kameradensicherer. 54 Zur Sicherungskette gehören Seil, Gurte, Haken und Sicherungsgerät. Sie stellt bei korrekter Funktionsweise nahezu sicher, dass die Sturzenergie im Sicherungsgerät ungefährlich abgebaut wird und der Kletterer keinen physischen Schaden durch einen Bodensturz nimmt. 55 Schmitz: Der Leib, S. 33. 56 Hier zeigt sich die dem Hallenklettern zugrundeliegende Motivation deutlich über eine Vorwegnahme von erwartetem, positiv gefärbtem und intensivem Erleben. Gugutzer beschreibt persönliche Herausforderungen innerhalb der Trendsportarten wie folgt: »In Grenzsituationen […] erlebt sich die Person als spürbare Einheit, was im Falle gelungener Bewegungen positiv bewerteten Leiberfahrungen gleichkommt: als spürbare Selbstbestätigung, Selbstvergewisserung oder Stolz.« (Gugutzer: Verkörperung des Sozialen, S. 127). 57 Schmitz: Der Leib, S. 33; vgl. ebd. 58 Ebd. S. 30. 59 Ebd. S. 21 f.; vgl. ebd.

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zeptive Körperschema lokalisierbare »Leibesinseln« 60 gehören, leitet fortan die Bewegungen, ohne sich dabei auf relative Lagen und Abstände stützen zu müssen. 61 Das heißt der Kletterer orientiert seine Bewegungen ganzkörperlich am optimalen Spannungsgrad in seinen Händen und Armen und versucht möglichst viel Gewicht an die Beine abzugeben. Da der Engepol des spontan gebildeten – sowohl Kletterer als auch Wand übergreifenden – gemeinsamen Leibes 62 dominant bei der Kletterwand liegt – Schmitz spricht hier von »einseitige[r] antagonistische[r] Einleibung« 63 – muss sich der Vertikalsportler den vorgegebenen Richtungen aus der Enge in die Weite anpassen. 64 Die Spanplatten mit ihren Griffen und Tritten versuchen den Kletterer abzudrängen, indem sie ungünstig dimensionierte Bewegungsräume zwischen den einzelnen Halte- und Stehpunkten vorgeben. Ein Durchstieg kann nur gelingen, wenn sich die jeweiligen körperlichen Schwerpunktverlagerungen komplementär der materialisierten Bewegungsaufgabe annähern. Und je offener der Kletterer hierbei auf die Wand reagiert, desto fließender fallen seine Körperbewegungen aus. Auf Grund von Zeitdruck und begrenzter Informationsverarbeitungskapazität kann die motorische Aufgabe nur unreflektiert über ein entsprechendes »Leibesinsel«-Netz gesteuert werden. 65 Punktuelle Spannung durch die Vorgabe der Wand beantwortet der Kletterer entweder mit Weichheit oder Gegenspannung in einzelnen Leibesinseln. Und entspannende Weitungsangebote müssen erst entdeckt werden, um sie auch nutzen zu können. Zur Sicherstellung der notwendigen Energieversorgung in der arbeitenden Muskula60

Schmitz: Kurze Einführung, S. 76 ff.; vgl. ebd.; Schmitz: Der Leib, S. 8 f. Vgl. Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 73 f. Die im »Ortsraum« über das »perzeptive Körperschema« gesteuerte Koordination von Anfängern soll in diesem Text bewusst ausgeklammert werden. 62 Die »Einleibung [gelingt – UE] nicht nur unter Leibern […], sondern auch im Verhältnis zu leiblosen Gegenständen, die eines eigenen vitalen Antriebs unfähig sind.« (Schmitz: Der Leib, S. 33). 63 Ebd. S. 38; vgl. ebd. 64 Vgl. dazu allg. ebd. S. 38 f. 65 Schmitz verweist allg. in seinen Texten auf das Ausweichen vor einem heranfliegenden Stein (vgl. ebd. S. 10) und auf die Tätigkeit des Balancierens (vgl. ebd. S. 22). 61

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tur wird ein kontinuierlicher Wechsel zwischen muskulärer Anund Entspannung angestrebt, trotz Beeinflussung der eigenleiblichen Dynamik durch den gemeinsamen Engungs-Weitungsdialog 66. Wird die engende leibliche Spannung zu mächtig, bricht die leibliche Kommunikation über die betroffenen Leibesinseln zusammen 67, wodurch die für eine effiziente Bewegungskoordination notwendige Sensibilität empfindlich gestört wird. Unter dem überproportionalen Krafteinsatz leiden dann einerseits Kraftreserven und andererseits Feinkoordination und der taktile Grenzgang nähert sich dem Gleichgewichtsverlust. Spätestens jetzt wirkt individuell ausgeprägte Sturzangst zusätzlich engend auf die eigenleibliche Dynamik des Kletterers ein. Rettende Weitung, das heißt Spannungsabbau, kann sich erstens aus einer Konzentration auf die am eigenen Körper lokalisierbaren Leibesinseln einstellen, zweitens aus dem beruhigenden Blickkontakt zwischen Kletterer und Sicherer erwachsen und drittens aus der in der Praxis selbst erfahrenen Funktionstüchtigkeit der Sicherungskette entstehen. Aus Mangel an weiteren Möglichkeiten »überprüft« der Kletterer so anhand visuell und taktil basierter leiblicher Kommunikation subjektiv, ob er den bestehenden Verhältnissen weiterhin vertrauen kann und er in der Folge unabwendbare Stürze ins Seil riskieren will. Objektiv gesehen, gestatten die flüchtigen Eindrücke aus einer mannigfaltigen Situation jedoch keine belastbaren Aussagen zur Sicherheit des Kletterers, denn (überraschende) Stürze lösen beim Sichernden eine kurzzeitige Schrecksituation aus, die nicht mit den üblichen Routinen vergleichbar ist. Fehlerhaftes Seilhandling innerhalb der Wiederorientierungsphase aus der extremen leiblichen Engung entzieht sich der bewusst-reflexiven Steuerung 68 und kann in tragischen Fällen auch nicht mehr nachkorrigiert werden. Von derlei Überlegungen unbehelligt, erleben Kletterer und Sicherer im flüssigen Seilhandling, während des Ruhens im Gurt und beim Blickwechsel eine beruhigende Weitung in der eigenleiblichen Dynamik. 66 67 68

Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 38 f. Vgl. Gugutzer: Verkörperung des Sozialen, S. 112. Vgl. allg. zu Schrecksituationen Schmitz: Der Leib, S. 2.

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Idealerweise würde die Enge des gemeinsamen »vitalen Antriebs« der Seilschaft dominant beim Kletterer liegen (»einseitige antagonistische Einleibung« 69) und dieser könnte sich dadurch vollständig konzentriert seiner Tätigkeit hingeben, ohne Rücksicht auf den Sicherer nehmen zu müssen. In der Praxis erfüllt der Sichernde jedoch oftmals nicht die hohen Ansprüche seines Partners nach Seilfluss und Seilzug im schnellen Wechsel. Und so konstituiert sich eine »wechselseitige antagonistische Einleibung« 70, in der der Kletternde stetig bemüht ist einen dominierenden Einfluss auszuüben. Über eine Kombination aus leiblicher, taktiler, visueller und verbaler Kommunikation teilt er dem Sichernden mehr oder minder deutlich mit, wie viel Schlappseil oder Seilzug seine Nerven momentan vertragen. Der »synästhetische Charakter« 71 des Seilzugs, der Blicke und der Zurufe gibt nicht selten unmissverständlich Auskunft über die aktuelle emotionale Verfasstheit des Kletterers. Denn mitschwingende Ungeduld oder Panik verleihen der Stimme eine harte, scharfe oder grelle Färbung, dem Blick seine Dominanz 72 und dem Seilzug seine Härte und in Folge der Kommunikation ihre besondere Geltung. Tritt dann endlich der am Körper taktil wahrgenommene und teilweise auch visuell bestätigte Seilzug bzw. Seilfluss in erwünschtem Maße auf, erlebt der Kletterer in seiner eigenleiblichen Dynamik die ersehnte Weitung. Und diese wird als erspürtes Sicherheitsempfinden unreflektiert verbucht, unabhängig von objektiven Tatsachen. Leider erweist sich diese leibliche Gewissheit – auch wenn sie trügerisch sein sollte – als extrem resistent gegenüber kognitiv ausgerichteten Aufklärungsversuchen. 73

69

Vgl. dazu allg. Schmitz: Der Leib, S. 38 ff. Schmitz: Der Leib, S. 40; vgl. ebd. 40 f. 71 »Synästhetische Charaktere sind intermodale – quer über die Gegenstandsgebiete verschiedener Sinne verbreitete – Eigenschaften« (Schmitz: Der Leib, S. 33). Das heißt Gesehenes oder Gehörtes wird beispielsweise als scharf, hell, weich, warm oder rau erlebt (vgl. ebd. S. 37). 72 Vgl. dazu allg. Schmitz: Der Leib, S. 31 f. 73 Zur Rückmelde-Problematik in Kletterhallen vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 43–47. 70

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3.2

Die Sicherungskette: Erspürte Sicherheitsillusion

Am anderen Ende der Sicherungskette befindet sich der Seilpartner. Seine Aufgabe besteht darin, Bodenstürze des Kletterers erfolgreich zu verhindern. Dazu bedient er sich eines Sicherungsgerätes, welches die anfallende Sturzenergie zuverlässig in Reibungsenergie umwandelt – so die Theorie. In der Praxis ist jedoch neben der »gnostischen« auch die »pathische« Dimension des Sichernden von Bedeutung. 74 Nachdem der Kletterer nun in eine Route seiner Wahl eingestiegen ist, benötigt bzw. produziert er Seil, welches vom Sichernden ausgegeben bzw. aufgenommen werden muss, um einerseits das Weiterklettern nicht zu beeinträchtigen und andererseits Bodenstürze zu vermeiden. In immer gleicher Weise muss das Seil vom Kameradensicherer relativ schnell durch das Sicherungsgerät geschleust werden. Er muss stets bereit sein, mehr Seil auszugeben oder einzuziehen oder es bei Sturzgefahr zu bremsen. Und da Sicherungsgeräte eine mikro-räumliche Zonierung aus freiem und stark gebremstem Seildurchlauf aufweisen, muss der Sichernde unter situativem Zeitdruck, mehr oder minder hektisch, mittels Handhaltung zwischen den beiden Funktionsweisen hin und her wechseln. Dabei passiert es häufig, dass durch fortlaufende Bewegungsmonotonie der tatsächliche Antrieb des Bewegers (Sichernder) und der von ihm in der Situation dem Bewegten (Seil) unterstellte, verschmelzen und sich hochschaukeln. 75 Dieser »EugenieEffekt« 76 (Schmitz) kann leicht in einen riskanten Bewegungsrausch abgleiten 77, denn je weitläufiger die Bremsfunktion umgangen und je mehr Seildurchhang eingesetzt wird, desto schneller und flüssiger verläuft das Seilhandling. Leider liefern einzig überraschende Stürze ins Seil taktiles Feedback zur tatsächlichen 74

Hasse bezieht sich auf Überlegungen von Straus zum Wie (»pathisch«) und Was (»gnostisch«) des Erkennens und differenziert so zwischen den beiden Dimensionen »Patheur« und »Akteur« beim Menschen (vgl. Hasse: Der pathische Raum, in: der architekt 2 (2012)). 75 Vgl. dazu allg. Schmitz: Der Leib, S. 42 f. 76 Ebd. S. 42. 77 Vgl. dazu allg. ebd. S. 42 f.

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Sicherungsqualität, jedoch mit der Gefahr von unerwartet harten Konsequenzen für einige Seilschaften 78. Währenddessen erfreuen sich Kletterer und Sicherer naiv am »weichen« Seil und fühlen sich nicht selten zu Unrecht sicher 79. Nachweislich kursieren leider vielfach gefährliche, von der betroffenen Seilschaft jedoch unbemerkte Handling-Fehler 80. Und da sie ihre »subjektiven Tatsachen« 81 leiblich in der Praxis erspürt haben, zeigen sie sich relativ resistent gegenüber »objektiver« Aufklärung in Form von Plakaten, Unfallanalysen 82 und »mcdonaldisierten« 83 Kurzzeit-Programmen 84.

78

Körperlich-leibliche Schäden des Kletterers und finanziell-moralische Lasten des Sichernden sind die unschönen Folgen schwerer Bodenstürze (vgl. dazu einzelne Ereignisse bei Auckenthaler/Hofer: Tatort Kletterhalle 1, 2007; Auckenthaler/Hofer: Tatort Kletterhalle 2, 2007; OLG Karlsruhe, 2004). 79 Vgl. Ernst/Kuntnawitz: Unfallursachen, 2011, S. 72 f.; DAV/DSHS: IndoorOutdoor Kletterhallenstudie 2009. Umfrage zu künstlichen Kletteranlagen in Deutschland. Abgerufen am 30. August 2010 von http://cms.alpenverein.de/ download_file.php?id=5814&showfile=1, S. 100 ff. 80 Vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 41 ff. Die Beobachtungsstudie des Deutschen Alpenvereins (DAV) bescheinigte 2004 etwa der Hälfte der beobachteten Vorstiegssicherer (80 % der 2009 befragten Kletterer nutzten den Vorstiegsbereich in Kletterhallen (vgl. DAV/DSHS: Indoor-Outdoor Kletterhallenstudie 2009, S. 50)) gefährliche Sicherungspraktiken (vgl. Sicherheitsforschung des DAV, 2004, S. 111). Daraufhin wurde 2005 die Aktion »Sicher Klettern« gestartet. Eine nachfolgende Studie aus dem Jahr 2012 stellte aber weiterhin Besorgnis erregende Zustände in Kletterhallen fest: Etwa 70 % der Vorstiegssicherer unterliefen durchschnittlich bei jeder zweiten Route ein schwerwiegender Fehler (vgl. Funk, F./Schwiersch, M./Hellberg, F.: Auf die Finger geschaut. Kletterhallenstudie 2012, in: DAV Panorama 2 (2013), S. 66–69, hier 69). Zusammenfassend gehen die Autoren der aktuellen Studie »davon aus, dass die Fehlerhäufigkeit [im Vergleich zur ersten Untersuchung – UE] gleich geblieben oder […] leicht gesunken ist« (ebd. S. 67). 81 Leibliche Betroffenheit von »objektiven Tatsachen« erzeugt »subjektive« (vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 31 ff.). 82 Vgl. Sicherheitsforschung des DAV, 2004, S. 115, 117 f. 83 Vgl. allg. zur »McDonaldisierung«: Ritzer, G.: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz 2006. 84 Im Rahmen der Expansion des Deutschen Alpenvereins wurde eine Transformation der ehemaligen Bergsteiger-Vereinigung in einen modernen Sportverband nötig. Langjährige Ausbildung und ehrenamtliches Engagement mussten in Folge

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3.3

In der Halle: Unbeschwerte Atmosphäre

Die Abenteuer der Seilschaft befinden sich eingebettet in einem größeren Herum, den Atmosphären 85. Und diese beeinflussen – so meine These – in vielen Fällen nicht unerheblich das Erleben und Handeln der Seilschaften. Denn wenn man von einer »Räumlichkeit der Gefühle« 86 (Schmitz) ausgeht und »Fühlen als affektives Betroffensein von einem Gefühl« 87 ansieht, kann man räumlichen Arrangements und »Halbdingen« 88 überpersonal spürbare Erlebnisqualitäten nicht aberkennen. 89 Diesem Konzept folgend weisen Atmosphären neben ihrem Subjektpol – dem affektiv Ergriffenen 90 oder dem ausschließlich Wahrnehmenden – auch einen Objektpol auf. 91 Über Abblendung der erlebten Atmosphäre, also über »Dingwahrnehmung« 92 (Böhme), ergibt sich die Möglichkeit, eine analytische Distanz zu unreflektierten, persönvielfach – aufgrund des immens gestiegenen Bedarfs an Ausbildungskapazität – zu Gunsten von Kurzzeit-Unterweisungen und finanzieller Entlohnung weichen. 85 Vgl. dazu allg. Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 11 f. 86 Schmitz: Kurze Einführung, S. 78. 87 Ebd. S. 86. 88 Im Gegensatz zu Dingen zeichnen sich »Halbdinge« durch inkonstante Dauer und das Zusammenfallen von Ursache und Wirkung aus (vgl. Schmitz: Der Leib, 29 f.). Zur Kategorie dieser zudringlichen Bewegenden zählen u. a. Licht, Temperatur, Wind, Geräusche, reißende Schwere, Schmerz, Blicke und Gefühle und mit diesen auch die Atmosphären selbst (vgl. Schmitz: Der Leib, S. 30 f.; Schmitz: Kurze Einführung, S. 84 f.). 89 Vgl. dazu allg. Quartiers-Atmosphären in Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 53–71. 90 »Wenn Atmosphären persönliche Stimmungen prägen, geht von ihnen Macht über Gefühle aus. Ob und in welcher Nachhaltigkeit sie sich entfaltet, wird von der jeweiligen Grundstimmung disponiert, in der sich eine Person befindet.« (Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 15). 91 Vgl. Böhme, G.: Atmosphären, in: S. Hauser/C. Kamleithner/R. Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld 2011, S. 236–246, hier S. 236. 92 Vgl. Böhme: Aisthetik, S. 171 f. »Die Dingwahrnehmung ist eine spezifische Wahrnehmung, die durch Prozesse der Abwehr, Differenzierung und Verengung aus der fundamentalen Wahrnehmung, dem atmosphärischen Spüren, entsteht. Die Dingwahrnehmung ist die Konstatierung und Lokalisierung von einem körperlichen Dies-da mit bestimmten Eigenschaften.« (Ebd. S. 172).

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lich-affektiven Verwicklungen mit Orten und Geschehnissen herzustellen und kritisch nachdenkend gegenüber der machtvollen Beeinflussung Stellung zu nehmen – das heißt sich von unterschwelliger emotionaler Vereinnahmung zu emanzipieren, ob diese nun planvoll hergestellt oder spontan entstanden ist. 93 Zum Objektpol beim Hallenklettern zählen erstens die konkrete Halle mit ihren Formen und Materialitäten, zweitens auftretende »Halbdinge«, wie beispielsweise Beleuchtung, Geräusche und Temperatur, sowie drittens die jeweilige Belebung. Zunächst sollen die architektonisch in Stellung gebrachten Gestaltungsmittel 94 genauer betrachtet werden. Aus eher bescheidenen Verhältnissen hinsichtlich Anzahl, Größe und Ausstattung entwickelten sich seit den 1990er Jahren bis heute stattliche, aufwendig gestaltete Bauten in großer Zahl, verteilt über ganz Deutschland. 95 Beim Betreten moderner Vertikalimmobilien fällt zunächst die ungewöhnliche Höhe im Vergleich zu alltäglich dargebotenen Innenräumen auf. Die Wände erheben sich vom Boden durchschnittlich zehn bis achtzehn Meter 96. Ihre leicht angerauten, großdimensionalen Flächen sind dominant vertikal und in geringerem Umfang auch horizontal durchstrukturiert über Kanten und belebende Ecken 97, sowie helle und leuchtend-farbige Bereiche. Über »Bewegungssuggestionen« muten die Wände – durch ihre aufwärtsstrebende Leichtigkeit – anregende Freiheit und Unbeschwertheit an, obwohl sie leicht überhängend konzipiert sind und meist über die gesamte Hallenlänge verlaufen. Ältere IndoorKletteranlagen hingegen wirkten über graue, schlecht beleuchtete, lediglich mikrostrukturierte Monotonie leiblich eher engend, denn sie erinnerten ungewollt an eine wuchtige, Zusammenbrechen androhende Steinwelle im Tsunami-Format. Auch waren in 93

Vgl. Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 29–32, 359; Böhme: Aisthetik, S. 179– 183. 94 Ich nehmen im Folgenden Bezug auf eigene Erfahrungen und ergänzend allgemein auf Abbildungen in Marschner, T./Schepers, M.: halls & walls in deutschland, schweiz und österreich. Kletterhallenführer, Korb 2009/2010. 95 Vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 56 ff. 96 Vgl. ebd. S. 90. 97 Vgl. Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 102.

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den Anfangsjahren die Wände von geringerer Höhe und Überhänge ragten noch frei Richtung Decke in den Raum von Sport- oder ehemaligen Fabrikgebäuden. Im Gegensatz dazu sind moderne größere Kletterwände oftmals integraler, spektakulär ausgeformter Bestandteil von Spezialbauten. Und die einschüchternde Massivwelle wurde durch langgestreckte, schlanke Bögen ersetzt, die ihre Leichtigkeit nicht zuletzt über eine entsprechende Beleuchtung erhalten. Artifizielle Leuchtkörper spenden hell-gelbes Licht, welches »synästhetisch« die Szenerie warm und freundlich tönt. Natürlicher Lichteinfall durch großflächige Glasfenster, die vom Boden bis unter die Decke reichen, verstärkt den Effekt zusätzlich. So scheinen die Wände bei günstiger Bestrahlung fast magisch zu leuchten. Neben einfallendem Licht erlauben die Wanddurchbrüche Blicke nach draußen. Sie öffnen den Raum – ein Gefühl der Weite hervorrufend 98 – und integrieren kontrolliert entlastende Naturausschnitte 99. Bedrohliche Naturgewalten, wie Gewitter, Kälteeinbrüche und Steinschlag, sowie Verlorenheit auslösende Weite bleiben ausgesperrt. Aus der die Halle weiterhin durchwehenden Atmosphären hebt sich eine besondere »atmosphärische Insel« 100 heraus, die der Bistro-Ecke. Zwar befindet sich die gastronomische Zone ortsräumlich abgegrenzt von den Kletterwänden im Eingangsbereich, jedoch wogen verführerische Aromen zeitweise von dort herüber und grundieren so die Abenteuer-Atmosphäre vorübergehend. Auch wenn der verführerische Geruch von Kuchen, Sahne und frischem Kaffee die Aufmerksamkeit nur kurz auf sich zieht, bleibt dennoch die »›heimliche‹ Wirkung der Düfte« 101 (Hasse) unreflektiert und kann sich deshalb in gefährlicher Weise auf das Handeln und Verhalten der affektiv Betroffenen auswirken. Die Praxis des Kaffee-Trinkens umgibt typischerweise eine spezielle Atmosphäre aus Gemütlichkeit, Gaumenfreuden und unbeschwerter

98

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 165. 100 Ebd. S. 27. 101 Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 92. 99

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Entspannung, die bei affektivem Betroffensein als Weitung auf die eigenleibliche Dynamik einwirkt. Und da Gerüche als objektive Bausteine von Atmosphären – Böhme bezeichnet sie deshalb als »Atmosphärisches« 102 – das mehr oder minder intensive leibliche Nacherleben entsprechender bereits durchlebter Atmosphären auslösen, unterströmen Kaffee-Düfte die aktuelle Situation des Kletterns und Sicherns gefühlsmäßig. Die nachfolgende leibliche Weitung schadet der Konzentration auf die Tätigkeit des Sicherns. Die Gedanken schweifen ab und lassen die Gefahr eines Bodensturzes in weite Ferne rücken. So können die üblichen riskanten Abkürzungen beim Seilhandling bei überraschenden Stürzen nicht mehr rechtzeitig nachkorrigiert werden. 103 Auch die entspannte Gestik und Mimik anderer Kletterer wirkt beruhigend. Und wenn sogar Familien, abenteuerlustige Vertreter der »Silver Generation« und Kindergeburtstage vor Ort relativ unbeschwert aktiv sind, fällt es bei zunehmender Ermüdung und nach bereits errungenen Erfolgserlebnissen dem träge gewordenen Kletterer schwer, sich einem Gefühl beruhigender Sicherheit leiblich zu verweigern. Dazu trägt in nicht unerheblichem Maße die unter Kletterern weit verbreitete und in der Organisationskultur des Deutschen Alpenvereins (DAV) verankerte Wagnis-Kultur im Sinn einer »gemeinsamen zuständlichen Situation« 104 bei, die unentwegt die angebliche Sicherheit des Hallenkletterns betont und Eigenverantwortung fordert. Gestützt auf eine eingewurzelte Fehlerblindheit, beruft man sich auf technische Normen, vergleicht Hallenklettern mit anderen Sportarten über fragwürdige Statistiken, entwirft es als positives Gegenstück zum risikoreichen Felsklettern oder definiert die wenigen, bekannt gewordenen Unfälle als unvermeidliches Restrisiko des »zum Wagnis berufenen Menschen«. 105

102 103 104 105

Vgl. ebd. S. 98. Vgl. Sicherheitsforschung des DAV, 2004, S. 118. Vgl. Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 25. Vgl. Ewald: Gefährdungen beim Hallenklettern, S. 20–24, 67–74, 82 f.

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4.

Der »Situationsraum«: Ein Ausblick

Wie am Beispiel des Hallenkletterns aufgezeigt wurde, ist der Mensch im »Ortsraum« über seinen Körper verortet und zugleich in den leiblichen Raum anhand seines Spürens und Betroffenseins von Gefühlen involviert. Weiterhin nimmt er am sozialen Raum über gemeinsame Werte, Normen und Symbole teil. 106 Die genannten Raumtypen lassen sich jedoch nicht an einander anpassen oder gar vereinheitlichen, denn sie besitzen gerade durch ihre Verschiedenheit eine je eigene Berechtigung. Dennoch stehen sie mit einander im Alltag in vielfältigen Beziehungen, ja sie durchdringen sich gegenseitig in konkreten Situationen. 107 Hasse gelingt es, die Räume flexibel in einer übergreifenden Perspektive zusammenzuführen, ohne die »chaotische Mannigfaltigkeit und situationsgebundene Ganzheitlichkeit« 108 zu vernachlässigen. 109 Der »Situationsraum« (Hasse) »integriert alle vital mit Bedeutungen geladenen Raummodelle in eine Ordnung, die insofern immer von vornherein schon koordiniert ist, als die Betroffenheit einer Person Bedeutsamkeiten wie ein Brennglas sammelt.« 110 Will man das Erleben und Handeln von Hallenkletterern verstehen, kann man sich demnach nicht auf den mathematischen Raum und kognitivistische Akteure beschränken. Denn im jeweiligen »Situationsraum« des Hallenkletterns spielen »subjektive Tatsachen« des leiblichen Erlebens eine zentrale Rolle. Deshalb bedarf es einer neu-phänomenologischen Analyse. Mein Dank gilt den Herausgebern – insbesondere Frau Trčka – für ihre konstruktive Kritik.

106

Zu verschiedenen Raumtypen vgl. Hasse, J.: Räume menschlichen Lebens, in: philosophia naturalis 44, 1 (2007), S. 3–30. 107 Vgl. ebd. S. 16–21. 108 Ebd. S. 19. 109 Vgl. ebd. S. 16 f. 110 Ebd. S. 17.

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Uta Ewald

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Robert Josef Kozljanič

Leben, Wohnen, Fühlen Von der beheimatenden Funktion ›herzerwärmender‹ Orte 1.

Wohnen und Topophilie. Heidegger und Bachelard

»Wohnen« kann zweierlei meinen. Zum einen, in der oberflächlichen und mehr äußerlichen, sachlichen Verwendung des Wortes: »hausen«, »ein Dach über dem Kopf haben«, »untergebracht sein«, »Unterkunft haben«, »Adresse haben«, »Quartier beziehen«. Zum anderen, in einer tieferen und mehr innerlichen, gefühlsmäßigen Bedeutung: »es wohnlich haben«, »sich wohl fühlen«, »sich dort zuhause fühlen«, »sich an einem geliebten Ort beheimatet fühlen«. Die erste, sachliche Wortverwendung hat den Bezug zu Gefühl, Befindlichkeit, Stimmung, Atmosphäre nicht nötig. Sie wird auch ohne diesen Bezug verstanden. Die zweite nicht. Sie steht und fällt mit diesem emotionalen und atmosphärischen Bezug. Ich werde im Folgenden den Begriff »Wohnen« in dieser zweiten, innerlichen, gefühlsbetonten und affirmativen Bedeutung benutzen. Man könnte sagen: Von solch einem Wohnen her eröffnet sich erst das, was »Topophilie« (Ortsliebe, Ortsverbundenheit, Beheimatung) 1 meint. Wohnen und Topophilie: beide Begriffe sind 1

Ich benutze hier (in ungezwungener Anlehnung an Gaston Bachelard, s. u., und Tuan, Yi-Fu: Topophilia, Englewood Cliffs 1974) den Begriff Topophilie (Ortsliebe, Ortsverbundenheit), nicht aber den Begriff Heimat. Manchmal spreche ich von Beheimatung im Sinne von Ortsverbundenheit, Sich-mit-einem-Ort-Verbinden, Sich-mit-einem-Ort-verbunden-Fühlen. Heimat ist ein komplexer, kontextabhängiger, teils auch ideologisierter Begriff. Er bedürfte einer eigenen Auseinandersetzung und Klärung; vgl. hierzu: Joisten, Karen: Heimat, in: Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012, S. 170–171, hier: 170.

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Robert Josef Kozljanič

wichtig, beide in hohem Maße praxisrelevant. Diese Praxisrelevanz zeigt sich spätestens dann, wenn die Frage auftaucht: Wie kann man Bauwerke, Plätze und Stellen, Stadtviertel, Straßen und Wege, Freiflächen, Wohn- und Parkanlagen, Dörfer, Wälder und Landschaften so gestalten und schützen, dass Wohnen und Topophilie möglich sind und/oder möglich werden? Wie kann man planen, ohne an den menschlichen Befindlichkeiten des Wohnens, an dem menschlichen Bedürfnis der Ortsverbundenheit vorbeizuplanen? Diese Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Es ist eine Frage, in der sich ganz oft eine Verlusterfahrung artikuliert. Die persönliche Erfahrung des Verlustes und des Schwindens geliebter Orte. Derrick Jensen, der m. E. (momentan) radikalste und gewitzteste Zivilisationskritiker, hat in einem Interview, das die Zeitschrift »The Ecologist« mit ihm führte, auf die Frage »Durch welches Buch ist Ihnen zum ersten Mal klar geworden, dass etwas nicht stimmt?« geantwortet: »Das war kein Buch. Es war die Zerstörung von vielen Orten, die ich liebte, einem nach dem anderen.« 2 – Das ist die Verlusterfahrung, die ich meine. Und es ist sicher nicht nötig, radikal-ökologischer Zivilisationskritiker zu sein, um ad hoc zahlreiche Orts-Verlust-Beispiele aus dem eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld beisteuern zu können. In Bezug auf die Frage nach einem Gestalten und Pflegen aus dem Wohnen heraus stellt sich eine weitere Frage: die nach dem Maß, das hier angelegt werden kann und soll. Martin Heidegger hat diese Frage in seinem Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« gestellt: »Wer gibt uns überhaupt ein Maß, mit dem wir das Wesen von Wohnen und Bauen durchmessen?« Seine Antwort lautete: »Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache, vorausgesetzt, daß wir deren eigenes Wesen achten«, d. h. bedenken, besinnend und nachsinnend bedenken. 3 Das Maß, mit dem Wohnen und Bauen für Heidegger überhaupt erst zu ermessen sei, ist demnach ein sinnendes Sprachdenken, mehr 2

Jensen, Derrick: Endgame. Zivilisation als Problem, München 2008, S. 437. Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 146; vgl. auch S. 161–162.

3

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noch: ein poetisches Sprachdenken. Nicht umsonst zitiert und deutet Heidegger des Öfteren und an zentraler Stelle den Hölderlin-Vers: »Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.« 4 Und in seinem Vortrag »… dichterisch wohnet der Mensch …« heißt es: »das Dichten ist als das eigentliche Ermessen der Dimension des Wohnens das anfängliche Bauen. Das Dichten läßt das Wohnen des Menschen allererst in sein Wesen ein. Das Dichten ist das ursprüngliche Wohnenlassen.« 5 Etwas weniger kryptisch und seinslastig, dafür aber mehr ästhetizistisch und metaphorisch, im Ganzen aber durchaus vergleichbar, ist der Ansatz, den Gaston Bachelard in seiner »Poetik des Raumes« entwickelt hat. Ihm geht es um eine raumorientierte »Phänomenologie der dichterischen Einbildungskraft« 6. Vermittels der von Dichtern beschworenen sprachlichen Bilder versucht er, sich dem Phänomen des menschlichen Wohnens und Lebens im Raum zu nähern. Auch er bedient sich hierbei eines poetischen Sprachdenkens, eines Denkens in sprachlichen Bildern und konnotationsreichen Metaphern. Allerdings mit einer methodischen Einschränkung: »Wir wollen nämlich sehr einfache Bilder untersuchen, die Bilder des glücklichen Raumes. Dieser Einstellung gemäß verdienten unsere Forschungen den Namen Topophilie. Sie gehen darauf aus, den menschlichen Wert der Besitzräume zu bestimmen, der gegen feindliche Kräfte verteidigten Räume, der geliebten Räume.« 7

Sowohl Heidegger als auch Bachelard betrachten die Welt also mit den Augen eines poetisierenden Denkers. Sie beschreiben, wie sich aus dieser Sichtweise menschliches Dasein in und mit dem Raum vollzieht und darstellt. Ich habe solch eine Methodik an anderer Stelle Onto-Poeto-Phänomenologie genannt, dies dort auch be4

Vgl. hierzu Hölderlins Gedicht »In lieblicher Bläue …« und Heideggers Interpretation in: Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1951, S. 39 ff. 5 Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 202. 6 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), 7. Auflage Frankfurt a. M. 2003, S. 15. 7 Bachelard: Poetik des Raumes, S. 25.

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gründet und gewürdigt. 8 Um was es mir jedoch im Folgenden geht, ist eine perspektivisch etwas anders gelagerte Phänomenologie. Eine Phänomenologie, die sich in einem lebens- und leibphilosophie-nahen, lebenserfahrungs-orientierten Diskurs entwickelt und ausgeprägt hat. 9 Hier ist das Maß, mit dem gemessen wird, nicht in erster Linie ein dichterisch-denkerisches, sondern ein lebensweltliches, leibliches und erfahrungsorientiertes. Nicht der denkende und (zumindest was die Moderne und Postmoderne betrifft) nur zu oft auch intellektualistische Dichter und seine Sicht der Dinge, sondern der vollsinnliche, ganze, integrale Mensch und seine sowohl oberflächliche als auch tiefgreifende, sowohl alltägliche als auch außeralltägliche Erfahrung der Welt, geben hier das Paradigma ab. Solch ein vollsinnlicher ganzer Mensch lebt nicht in erster Linie in einem dichterischen Raum, in einem Raum, voll von poetischen Bildern und Imaginationen, voll von sprachlichen Winken und Wesen, sondern er lebt in einem lebensweltlich-leiblichen Erfahrungsraum, in einem erlebten Raum, in einem gelebten Raum. Dieser gelebte Raum stellt m. E. die Basis menschlichräumlichen Lebens und Wohnens dar. Wo dieser gelebte Raum nicht oder nur ungenügend und abseitig thematisiert wird, bleiben Themen wie Wohnen und Ortsverbundenheit, Gestalten und Schützen geliebter Orte und Räume usw. in der Luft hängen, kommen nicht auf dem Boden der konkreten Lebens- und Leibeswirklichkeit zu stehen.

8

Vgl.: Kozljanič, Robert Josef: Der Geist eines Ortes. Kulturgeschichte und Phänomenologie des Genius Loci, 2 Bde, München 2004, v. a. Kap. 1.3.1 u. 7.2. 9 Im deutschsprachigen Raum z. B. durch Otto Friedrich Bollnow, Hermann Schmitz, Gernot Böhme und deren Schüler/innen vertreten; in den Niederlanden z. B. durch Frederik J. J. Buytendijk, Stephan Strasser und Joseph J. Kockelmans; in Nordamerika z. B. durch die Phänomenologin Anna-Teresa Tymieniecka und die Phänomenologen, Humangeographen und Architekturtheoretiker um David Seamon. Erwähnt werden sollten hier auch die beiden humangeographisch-phänomenologischen ›Klassiker‹ : Relph, Eward: Place and Placelessness, London 1976 und Tuan, Yi-Fu: Space and Place, Minneapolis 1977. Vgl. hierzu auch Punkt »1.3.2 Methodendiskussion« in: Kozljanič: Der Geist eines Ortes, Bd. 1, S. 20–25 sowie Hasse Jürgen/Kozljanič Robert Josef (Hg.): V. Jahrbuch für Lebensphilosophie. Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, München 2011.

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Leben, Wohnen, Fühlen

2.

Der gelebte Raum. Dürckheim

Karlfried Graf von Dürckheim sprach 1932 in seinen »Untersuchungen zum gelebten Raum« als einer der ersten vom »konkreten«, »erlebten« v. a. aber vom »gelebten Raum«: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner überdauernden und seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit.« 10 Und: »Die spezifische ›Bedeutsamkeit‹, die jedweder Raum hat oder gewinnt, gründet ganz wesentlich im Mithaben des besonderen Lebens, als dessen Lebensraum dieser Raum genommen wird.« 11

D. h. aber, dass der gelebte Raum nur im lebensweltlich-menschlichen und lebensweltlich-mitmenschlichen (Er-)Leben des Raumes gegeben ist; und auch nur durch dieses lebensweltliche (Er-) Leben des konkreten Raumes aufscheint, greifbar und benennbar wird. Das bringt methodologische Konsequenzen mit sich, die bisher noch in keiner Weise ausgeschöpft worden sind. Ebenfalls in den 30er Jahren hat der Psychiater und Philosoph Eugène Minkowski in Analogie zum lebensphilosophisch-phänomenologischen Begriff der erlebten Zeit von Henri Bergson (»durée« bzw. »temps vécu«) 12 den Begriff des erlebten Raums (»espace vécu«) entwickelt. 13 Maurice Merleau-Ponty griff diesen Begriff in seinem Werk über die »Phänomenologie der Wahrnehmung« wieder auf. 14 Otto Friedrich Bollnow hat 1963 in »Mensch und Raum« in Anlehnung an Minkowski und Dürckheim vom »erleb10 Dürckheim, Karlfried von: Untersuchungen zum gelebten Raum (1932), Frankfurt a. M. 2005, S. 16. 11 Ebd. S. 44. 12 Vgl.: Bergson, Henri: Zeit und Freiheit (1889), 3. Auflage Hamburg 2006. 13 Minkowski, Eugène: Die gelebte Zeit (1933), Teil 2, Salzburg 1972, v. a. S. 232–267 »Ansätze zu einer Psychopathologie des gelebten Raumes«; vgl. auch: ders.: Vers une cosmologie, Paris 1936. 14 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966, S. 326–341.

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ten Raum« gesprochen. Dem erlebten Raum hat Bollnow den konstruierten »mathematischen Raum« der Naturwissenschaften gegenübergestellt. 15 Jeder gelebte Raum hat, insofern er untrennbar mit sich wandelnden Menschen und deren biografischen Situationen verknüpft ist, immer auch eine (lebens)zeitliche Dynamik. Wie es Dürckheim ausdrückt: »So hat konkreter Lebensraum immer ein besonderes Bedeutsamkeitsrelief aus der zeitlichen Gliederung der nach persönlichen Bedeutsamkeiten mannigfach gestuften Ganzheit des in ihm sich erfüllenden Lebens.« 16 Mehr noch: er hat, insofern Lebenszeit sich in geschichtlicher und gesellschaftlicher Zeit abspielt, immer auch eine soziohistorische Dynamik. 17 Auch hier ergeben sich zahlreiche Probleme und Fragen, die von Dürckheim – der ja sonst sehr systematisch und gründlich sein konnte – nicht weiter behandelt worden sind. Wie der Humangeograph und Phänomenologe Jürgen Hasse zeigen konnte, birgt der Begriff des gelebten Raumes ein enormes, kaum ausgeschöpftes innovatives Potenzial. 18 Es würde lohnen hier weiter zu forschen, zumal auch in den Publikationen im direkten Umfeld des »spatial turn« Redewendungen 19 wie »lived spaces«, 20 »gelebter Raum«, 21 »gelebter Ort« und »gelebte Erfahrung« 22 an zentraler Stelle auftauchen. 15

Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 16–18. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 107. 17 Vgl. ebd. S. 106–108. 18 Siehe v. a.: Hasse, Jürgen: Fundsachen der Sinne, Freiburg/München 2005, S. 174–198. 19 Von einem klar abgehobenen Begriff des gelebten Raumes kann hier m. E. noch nicht die Rede sein. Wörter wie »lived space«, »gelebter Raum« u. ä. fungieren meist als eine floskelhafte façon de parler. 20 Vgl. z. B.: Soja, Edward W.: Thirdspace, Cambridge/Oxford 1996, S. 10 u. 12; oder: ders.: Seeking Spatial Justice, Minneapolis 2010, S. 102. Soja bezieht sich hier u. a. auf Henri Lefebvre, der den Begriff des gelebten Raums (l’espace vécu) ebenfalls benutzt; vgl. Lefebvre, Henri: La production de l’espace (1974), Paris 2000, S. 48 ff. 21 Vgl.: Rolshoven, Johanna: Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 2 (2003), S. 189–213, v. a. S. 200–203. 22 Vgl. z. B. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Reinbek 2006; relevant ist das 6. Kapitel »Spatial Turn«, S. 299–302, v. a. S. 296 u. 298. 16

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Leben, Wohnen, Fühlen

3.

Der gelebte Ort und sein Beziehungsgefüge. Bollnow

Der Begriff des gelebten Raums – auch das wurde bisher zu wenig beachtet – tendiert von sich aus zu einem noch konkreteren Schlüsselbegriff: dem des gelebten Ortes und der Beziehungen, die sich zwischen gelebten Orten bilden. Diese Tendenz tauchte nicht ohne Grund in den bisherigen phänomenologischen Überlegungen auf. Immer wieder drängten sich – wie von selbst – Orte, Ortsbedeutungen und Ortsbeziehungen in den Vordergrund, wenn es um eine Explikation des gelebten Raumes ging. So bei Dürckheim, 23 so bei Bollnow, 24 so bei Yi-Fu Tuan. 25 Allerdings wurde dabei der gelebte Ort und sein Beziehungsgefüge nie entschlossen genug in den Vordergrund gerückt und ausgeleuchtet. Besonders prägnant zeigt das Bollnows Skizze des erlebten/gelebten Raumes: »1. Es gibt in ihm einen ausgezeichneten Mittelpunkt, der […] durch den Ort des erlebenden Menschen im Raum gegeben ist. 2. Es gibt in ihm ein ausgezeichnetes [unmathematisches] Achsensystem, das mit dem menschlichen Körper und seiner aufrechten […] Haltung zusammenhängt. […] 3. Die Gegenden und Orte in ihm sind qualitativ unterschieden. Auf ihren Beziehungen baut sich eine reiche inhaltliche Gliederung des erlebten Raumes auf, für die es im mathematischen Raum kein Analogon gibt. 4. Dabei gibt es nicht nur fließende Übergänge […], sondern auch scharf ausgeprägte Grenzen. Der erlebte Raum weist ausgesprochene Unstetigkeit auf. 5. […] Der erlebte Raum ist zunächst als ein abgeschlossener endlicher Raum gegeben und erweitert sich erst in späteren Erfahrungen zur unendlichen Weite. 6. Im ganzen ist der erlebte Raum kein wertneutraler Bereich. Er ist durch Lebensbeziehungen fördernder wie hemmender Art auf den Menschen bezogen. Er ist tragend wie hemmend das Feld menschlichen Lebensverhaltens. 7. Jeder Ort im erlebten Raum hat seine Bedeutung für den Menschen. Darum sind

23 24 25

Vgl.: Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 96 f. Bollnow: Mensch und Raum, S. 17 f., 38 ff. u. 202 ff. Tuan: Space and Place, S. 12 f.

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es in den Geisteswissenschaften gebräuchliche Kategorien, die wir zur Beschreibung des erlebten Raums heranziehen müssen. […]« 26

Bollnows Skizze ist deshalb so prägnant, weil sie wichtige Aspekte des gelebten Ortes (und der sich über ihm aufbauenden Ortserfahrungen) 27 anreißt (aber eben nur anreißt): Den menschlichen Leib als »Mittelpunkt« bzw., wie es im leibphänomenologischen Diskurs heißt, als »Nullpunkt aller Dimensionen der Welt« (Merleau-Ponty), 28 als »absoluter Ort« (Schmitz). 29 D. h.: Gelebter Raum und gelebter Ort sind immer auch leibliche Phänomene und daher vom Leib, seiner Struktur, Funktion und Dynamik nicht zu trennen. Wie Walter Schweidler mit Merleau-Ponty zeigen konnte, ist der Leib nicht nur »Organisationsprinzip« in einem aktiven Sinn, sondern auch ›Organisiertes‹ in einem passiven Sinn: er »erleide« etwas »vonseiten der Dinge«, er werde von ihnen auch durchdrungen und geprägt. 30 Anders formuliert: der Leib ›inkarniert‹ den gelebten Raum nicht nur aus sich heraus, sondern auch in sich hinein. 31 Und in Bezug auf diese leibliche ›Außenseite‹ des gelebten Raumes gilt, wie Bollnow sagte, dass die qualitative Unterschiedenheit von Orten und das sie verbindende (wie auch trennende) Beziehungsgefüge ein lebensweltliches Netz bilden, durch das der gelebte Raum allererst sein »spezifisches Bedeutsamkeitsrelief« (Dürckheim) erhält. Aber auch die Feststellung Bollnows, dass Orten spezielle Bedeutungen inhärieren und zugeschrieben werden, dass sie einen gewissen Wert haben können, dass sich zwischen ihnen fördernde und hemmende Lebensbeziehungen ausspannen und so die Orte zu einem komplexen und doch konkret verortbaren Lebens- und Verhaltensfeld gehören: All das spielt hier mit hinein, all das kommt hier zum

26

Bollnow: Mensch und Raum, S. 17 f. Vgl. hierzu: Hasse: Fundsachen der Sinne, S. 203. 28 Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 2. Auflage München 1994, S. 314. 29 Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand, 2. Auflage Bonn 1995, S. 118 f. 30 Schweidler, Walter: Das Uneinholbare, Freiburg/München 2008, S. 323. 31 Vgl. ebd. S. 332. 27

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Anklingen, wurde aber bisher – soweit ich sehe – nirgends gründlicher untersucht. Zwar hat Bollnow auf die entscheidende Rolle des gelebten ›Wegenetzes‹, des sog. »hodologischen Raumes«, hingewiesen; 32 er hat sogar die Notwendigkeit der »Erweiterung des hodologischen Raumbegriffs« im Sinne einer Einbeziehung der verschiedenen Orte, die er verbindet und trennt, hervorgehoben. 33 Hat dann aber nicht tiefer gegraben. Auch hier ergäbe sich ein interessantes phänomenologisches Forschungsfeld. Auf all das sei im Vorbeigehen nur hingewiesen. Denn ich möchte mich nun auf das konzentrieren, was Dürckheim den »persönlichen Lebensraum« nannte: denn von dort aus wird ein vertiefender Blick auf den gelebten Ort als gelebten Wohn-Ort möglich. 4.

Der »persönliche Lebensraum« als gelebter Wohn-Ort

Der »persönliche Lebensraum« 34 bildet das räumliche Zentrum einer Person: ein solches Zentrum kann der eigene Arbeitsplatz und sein näheres Umfeld sein; in der Regel wird es aber die eigene Wohnung und das nähere Wohnumfeld sein. Oder auch beides. Der »persönliche Lebensraum« ist der Ausgangs- und Angelpunkt des gelebten Raums und damit auch ein entscheidender Ausgangs- und Angelpunkt der eigenen Lebenswelt, Weltanschauung und Identität. Von ihm her bestimmt sich das Eigene als Eigenes, das Andere als Anderes. Arbeit und Freizeit, Heimat und Fremde, Zuhause und weite Welt bleiben auf ihn rückbezogen. Der persönlich-gelebte Raum beinhaltet alle wichtigen gelebten Orte mitsamt ihrem Beziehungs- und Bedeutungsgefüge. Es lohnt, Dürckheims Charakterisierung dieses Begriffs ausführlich zu zitieren: »Wo immer auch man lebt, für kurz oder lang, stets erhält das weltliche Herum in Bälde ein ›persönliches Gesicht‹, tritt aus seiner fer32 33 34

Bollnow: Mensch und Raum, S. 195–198. Ebd. S. 202 f. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, v. a. S. 96–101.

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nen und fremden objektiven Eigenwirklichkeit heraus und in ein konkretes Verhältnis zu einem. Was immer man hier erlebt, es ›färbt‹ die Stelle, wo es geschah, und zugleich das Ganze des Ortes, und alle einzelnen Dinge, Räume und Wege in ihm gewinnen fortschreitend besondere persönliche Bedeutungen. Es bilden sich Zentren verschiedenartigen Erlebens, räumliche Zentren mit durchaus persönlichem Sinn und Gewicht und bald hat das Ganze ein ganz spezifisches Bedeutsamkeitsrelief, das in seinen eigentümlichen Qualitäten, Gliederungen auf das in ihm gelebte und weiter sich vollziehende Leben hinweist. Und je seßhafter ein Leben ist und mit einem Orte verwächst, um so reicher, ausgeprägter, konstanter ist das, was sich in diesem Sinne als persönliches Relief des Raums oder kurz als ›persönlicher Lebensraum‹ allmählich entwickelt und sich als ein Gebilde von eigenem Sinn erhält. Innerhalb des persönlichen Lebensraumes sind die einzelnen Räume das, was sie dem erlebenden Selbst im Rahmen seines persönlichen Lebens bedeuten. Nimmt man ihnen diesen persönlichen Sinn, so hebt man sie selber auf, d. h. sie sind überhaupt nur im Ganzen des sie umfassenden, in ihnen sich erfüllenden und in ihnen aufgehobenen Lebens.« 35

Der »persönliche Lebensraum« umfasst also alle Orte und Gegenden, die von einer bestimmten Person mit persönlichen Stimmungen, Bedeutungen und Beziehungen durchzogen sind. Aber nicht nur die persongebundenen Bedeutungen, sondern auch die orts- und gegendgebundenen Atmosphären und Bedeutungen gehören mit in den »persönlichen Lebensraum«; dies aber immer so, dass sie in einer spezifisch persönlichen Färbung und Bedeutsamkeit darin einverwoben sind. Der persönliche Lebensraum weist demnach weit über die eigene Wohnung (oder den eigenen Arbeitsplatz) hinaus. Und doch, wie bereits erwähnt, ist die eigene Wohnstätte (oder auch die eigene Arbeitsstätte oder beides) in der Regel der Dreh- und Angelpunkt des persönlich-gelebten Raums. Dies hat schon Dürckheim andeutungsweise so gesehen und es lohnt auch in diesem Punkt, seinen Ausführungen zu folgen: »Die eigene Wohnung ist kein Gehäuse aus einer anderen Welt, das wie das Zimmer eines Hotels nicht zum einkehrenden Fremden gehörig lediglich einmaligen Aufenthalt gewährt einem anderswo sich 35

Ebd. S. 96.

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erfüllenden Leben, sondern ist einbezogen in das Leben derer, die in ihr leben. Sie ist im eigenen Raume sich bewahrendes, erhaltendes und weiter sich vollziehendes Leben. D. h. beseelt von in ihr sich vollziehendem Leben, bewahrt sie zugleich seine Geschichte und gewinnt auch äußerlich gemäß der Gestaltungskraft dieses Lebens die charakteristischen Züge seines Wesens.« 36

Natürlich ändert sich die Rolle und der Stellenwert der eigenen Wohnung im Lauf des Lebens. Die eigene Wohnung bedeutet einem Kind ganz etwas anderes als einem Jugendlichen, einem 30-Jährigen, einem 50-Jährigen oder einem 80-Jährigen. Der persönliche Lebensraum wächst eben mit, wandelt sich, wird älter. Und natürlich hat die eigene Wohnung nicht für alle Menschen der gleichen Lebensphase den gleichen Stellenwert. Aber doch muss sich jeder Mensch an irgendeinem Ort aufhalten. Die ortlose oder leiblose (das ist in diesem Fall Dasselbe!) Existenz ist bisher noch nicht erfunden worden. 5.

Der persönliche Herzraum und seine herzerwärmenden Orte

Prägenden und bahnenden Einfluss auf das in ihm sich entfaltende Selbst hat der persönliche Lebensraum nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinn. Der persönliche Lebensraum ist, wie es Dürckheim oben ausdrückte, entweder »Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer« des Selbstes. Wo er mehr Gegenform und Bedroher ist, überwiegt der negative, wo er mehr Verbreiterung und Bewahrer ist, der positive Sinn. Dann wird der persönliche Lebensraum zum Organ des Selbstes, zu seinem Erfüllungs-, Entfaltungs- und Identifikationsraum. Dann findet das statt, was man Wohnen und Topophilie in einem affirmativen Sinne bezeichnen könnte. Dann wird der persönliche Lebensraum zu dem, was ich ›Herzraum‹ nennen möchte: einen Raum des Wohlfühlens und Wohlbefindens, des Wohllebens und Wohlwohnens, – durchwoben, gehalten und belebt von zahlreichen 36

Ebd. S. 99 f.

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›herzerwärmenden‹ Orten, Menschen, Lebewesen und Gegenständen. Herzerwärmende Orte, Menschen, Lebewesen und Gegenstände: Das sind Phänomene, an die sich das menschliche Herz hängen kann bzw. an denen es hängt und sich erwärmt. Sie bilden das Gewebe des persönlichen Herzraums. Ich spreche lieber von herzerwärmenden statt von herzerfreuenden Orten. Denn es geht mir dabei v. a. um die leiblich spürbare warme Qualität und Ausstrahlung, die solchen Orten zukommt. Solche Orte haben auf irgendeine Weise etwas Warmes an sich. Was für herzerfreuende Orte so nicht zwangsläufig zutreffen muss: sie können etwas Warmes an sich haben, müssen aber nicht. Um nicht missverstanden zu werden: ich spreche hier nicht von subjektiv-eingebildeten, phantastischen, poetischen oder gar mystischen Dingen, sondern von Phänomenen unseres alltäglichen Lebens, von Erfahrungen, die den meisten sehr vertraut sind. Ein ganz alltägliches (fast banal-alltägliches) persönliches Beispiel: In Neuaubing, einem Vorstadtviertel im Münchener Westen, wo ich bis zu meinem 5. Lebensjahr wohnte, und dann auch später, im Alter zwischen 26 und 41 wieder, befindet sich eine mit Ahornbäumen gesäumte Haupt- und Durchgangsstraße, die Limesstraße. Ich ging, radelte, fuhr sehr oft durch diese alleeartige Straße. Die meisten der älteren Bäume, obwohl gerade einmal 30–40 Jahre alt, also nicht wirklich alt, wurden von den Stadtgärtner/inne/n in ein paar Jahren nach und nach gefällt und durch junge Bäume ersetzt. Das wunderte mich, denn nur die allerwenigsten dieser Bäume hatten andeutungsweise einen kleinen Faulkern im Inneren, d. h. sie waren alles andere als alt, morsch oder absterbend. Doch ich kann mir schon denken, was die Beweggründe gewesen sein mögen: Wahrscheinlich pedantische und überängstliche bürokratische und/oder versicherungstechnische Erwägungen folgender Art: »angenommen bei einem Sturm fällt ein morscher Ast herunter oder ein alter Baum fällt gar um und richtet Sach- oder Personen-Schaden an: dann könnte die Stadt vielleicht haftbar gemacht werden. Dem jedoch gilt es vorzubeugen. Und deshalb ist es besser, gleich alle auch nur annähernd alten Bäume zu beseitigen.« Doch vielleicht waren es auch andere, eher unbewusste Motive, die dahinter standen: vielleicht übertrie380 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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bene Neuerungssucht – »nur ja nichts Altes stehen lassen, es könnte uns ja selbst an unser Alter und an unsere Sterblichkeit erinnern – also weg damit, wir wollen doch, wie es uns die Medien vorspiegeln, ewig jung bleiben«; oder vielleicht lagen ganz banale Motive zugrunde: vielleicht eine gewisse Art gärtnerischer Hyperaktivismus? Vielleicht wollten die Gärtner/innen an einem sonnigen Tag ihre neuen Motorsägen und Häckselmaschinen ausprobieren und schürzten die Sicherheitsbedenken nur vor? Doch alle diese Erwägungen und Motive sind weder lebensraum-bezogen, noch herzraum-orientiert. Wie auch immer: Die alten Ahornbäume wurden jedenfalls fast alle gefällt. Doch an diese Bäume, an diese gewachsene Allee hatte sich eben mein Herz gehängt. Im Frühjahr erfreuten das frisch austreibende Grün, im Sommer die dichten weitausladenden schattenspendenden Baumkronen, im Herbst die feurige Farbenpracht und der Blätterregen, im Winter die bizarren himmelwärts gereckten Aststrukturen mein Herz. Immer aber freuten mich ihre dicken Stämme, die schön und kraftvoll in den Boden reichenden Wurzeln, das Hohe und Auslandende ihrer Kronen, die erhabene Geste und das bodenständig Gewachsene, die Ruhe und rhythmische Beständigkeit im Wechsel des Jahreslaufs, der Kontrast zu der oft lauten, hektischen, grauen, schmutzigen Straße. Die ansonsten wenig ansprechende Haupt-, Durchgangs- und Geschäftsstraße bekam durch die alten Alleebäume einen liebenswerten Flair, eine gewinnende Atmosphäre, ein wenig Wärme und Lebensqualität. Mehr noch: Sie bekam Anhaltspunkte, an denen sich mein Herz (aber auch das Herz vieler anderer Anwohner/innen, mit denen ich darüber sprach) hängen konnte, Kristallisationspunkte des Herzraums. Diese Anhaltspunkte meines Herzens in meinem persönlichen Lebensraum wurden also durch die Stadtgärtner/innen dezimiert. Das zu erleben war durchaus schmerzhaft. Und wenngleich es kein körperlicher Schmerz war, sondern ein leiblicher, 37 war dieser Schmerz für mich doch deutlich zu spüren: Es tat mir, wie man sagt, ›im Herzen weh‹ – exak37

Zum Unterschied von Körper und Leib siehe: Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 115.

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ter formuliert: Es zog in der Brustgegend, 38 und zwar so, dass ich das Gefühl hatte, es würde sich etwas leicht krampfhaft zusammenziehen und ›zerreißen‹ – ohne dass ich aber im medizinisch-körperlichen Sinne Brustschmerzen oder Herzbeschwerden gehabt hätte. Und trotzdem ist etwas zerrissen: die leiblich-emotionale Verbindung zwischen mir und diesem Ort. Die nachgepflanzten, dünnen, armseligen Bäume mit ihren Krücken (Stützpfosten) konnten und können die gewachsenen alten Alleebäume nicht ersetzen. Es ist gut, dass sie überhaupt da sind. Ohne sie wär’s noch hässlicher. Aber sie können die großen, alten Bäume doch nicht ersetzen. Sie haben – zumindest solange sie noch von zwei Stützpfosten gehalten werden – keinerlei herzerwärmende Qualität. Bis sie von Neuem Kristallisationspunkte des Herzraums werden können, muss einige Zeit vergehen. Zu einer herzerwärmenden Allee kommt es für mich erst nach ca. 20 bis 30 Jahren, wenn die Ahornbäume wieder etwas ›Gewachsenes‹ an sich haben. Doch dann werden sie wahrscheinlich wieder gefällt. Es ist absurd, aber es ist so. Und es handelt sich auch nicht nur um mein persönliches Problem. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um Sein oder Nichtsein der einzigen annähernd herzerwärmenden Allee in Neuaubing. Es handelt sich darum, ob und wie ein kollektiver Herzraum in diesem Vorstadtviertel möglich wird. Und: Es handelt sich um keinen Einzelfall. Dabei wäre diese unnötige Radikalmaßnahme so leicht zu verhindern gewesen, wenn man nur gewollt hätte; wenn man nur einzelne Bäume – Bäume, die tatsächlich krank, faul und durchmorscht waren, das waren aber höchstens zwei, drei Stück – gefällt und durch neue ersetzt hätte. Dann wäre der Charakter einer gewachsenen Allee erhalten geblieben. (Denn weder der Charakter einer alten Allee noch ihre Gesamtatmosphäre leiden darunter, wenn einige wenige Bäume ersetzt werden. Wenn aber die Mehrzahl der Bäume ersetzt werden, dann kippt die Atmosphäre, mit ihr kippt die Gesamtgestalt – und mit ihr verliert sich ihr gewachsener Charakter.) Die Allee als herzerwärmender Ort wäre erhalten

38

Bzw. in der dort spürbaren »Leibesinsel«; vgl. hierzu ebd. S. 119.

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geblieben. Ein Kristallisationspunkt und Garant von Lebens- und Wohnqualität hätten bestehen bleiben können. Manche Leser/innen werden sich fragen: Ich verstehe ja ungefähr, was der engagierte Autor meint, auf welche Erfahrungen er sich bezieht. Aber: Hält seine Beschreibung einer phänomenologischen Überprüfung stand? Bedient er sich nicht durchwegs einer umgangssprachlichen façon de parler, deren Erkenntnisgewinn nicht sehr hoch einzuschätzen sein dürfte? Meint er das im Ernst, dass sich das Herz an einen Ort hängt? Dass es Verbindungen zwischen Herz und Ort gibt, die auch schmerzhaft reißen können? Dass ein Ort die Brust erwärmt? Wie stellt er sich das eigentlich vor? All das klingt ja nicht nur kitschig, sondern auch ziemlich naiv. – Um den berechtigten Vorwurf des Kitsches zu entkräften, reicht mir in diesem Beitrag der Raum leider nicht. Man müsste in der Tat die Begriffe Herzraum und herzerwärmende Orte vor einer Verkitschung (aber auch vor einer Vereinnahmung durch Ideologie, Kommerz und reaktionärer Volkstümelei) schützen. Das kann hier nicht geleistet werden. Lediglich am Ende meines Beitrags findet sich ein kleiner Ausblick. Ebenso wäre en détail zu zeigen, wie sich der herzerwärmende Ort und sein leibliches ›Resonanzorgan‹, die ›Leibesinsel Brust‹, auf der Basis der »neuen Phänomenologie« von Hermann Schmitz leibphänomenologisch begründen und ausweisen ließe. Auch das kann hier nicht geleistet werden. Einige wichtige Fingerzeige in diese Richtung habe ich andernorts gegeben. 39 6.

Nicht-Orte und Orte. Augé

»Non-lieux«, »Nicht-Orte«: Das sind nach Marc Augé in erster Linie zweckrationale, funktionale Transit- und Durchgangs-Orte. 40 Sie befinden sich, wie ich hinzufügen möchte, meist in der Hand 39

Kozljanič, Robert Josef: Lebensphilosophie – Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 220–223. 40 Augé, Marc: Nicht-Orte, 3. Auflage München 2012, S. 90. (Erstausgabe: NonLieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992.)

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betriebswirtschaftlich-marktstrategisch operierender Unternehmen und/oder volkswirtschaftlich-politisch und/oder bürokratisch vorgehender öffentlicher Institutionen. Als Beispiele nennt Augé: Einkaufszentren und Supermärkte, Tankstellen und Autobahnen, Bahnhöfe und U-Bahnen, Flughäfen und Flugzeuge; aber auch Krankenhäuser, Flüchtlingslager, Hotelketten, Durchgangswohnheime, Feriendörfer und ähnliche ›Transit-Ghettos‹. 41 »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit. Er gibt auch der Geschichte keinen Raum.« 42 Gleichwohl mag die Anonymität, Oberflächlichkeit, Unverbindlichkeit, Flüchtigkeit des Nicht-Ortes »sogar als Befreiung empfunden werden«. 43 Ein Freiheitsgewinn, der aber im gleichen Zuge relativiert wird. Dadurch, dass die Benutzung solcher Orte vertraglich und oft auch pekuniär geregelt ist. Man braucht irgendeine Art von Eintrittsberechtigung. Man ist nur als ›Benutzer‹ zugelassen. Wer nicht nutzt (und meist auch zahlt), wer sich gegen die Benutzungsordnung verhält, wird ausgeschlossen. »Allein, aber den anderen gleich, befindet sich der Benutzer des Nicht-Ortes mit diesem (oder mit den Mächten, die ihn beherrschen) in einem Vertragsverhältnis. Die Existenz dieses Vertrages wird ihm bei Gelegenheit in Erinnerung gerufen (die Benutzungsordnung des Nicht-Ortes gehört dazu): Das Flugticket, das er gekauft hat, die Karte, die er an der Zahlstelle vorweisen muss, und selbst der Einkaufwagen, den er im Supermarkt vor sich her schiebt, sind mehr oder minder deutliche Zeichen dieses Vertrages.« 44

»Nicht-Orte« wie »Orte« kommen Augé zufolge aber nie »in reiner Gestalt« vor. Sie verhalten sich wie »fliehende Pole«. 45 Und deshalb kann man sie auch, in gewissen Grenzen, polar bestimmen. So stehen Durchgangsorte wie Raststätten und Wartesäle als »Nicht-Orte« der »festen Wohnung« als einem »Ort« gegenüber, 41 42 43 44 45

Augé: Nicht-Orte, z. B. S. 83 u. 97. Ebd. S. 104. Ebd. S. 102. Ebd. S. 102. Ebd. S. 83.

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das »Autobahnkreuz (das kreuzungsfrei ist)« steht der »Straßenkreuzung (oder der Begegnung)« gegenüber, der »Passagier (der durch seinen Zielort definiert ist)« dem »Reisenden (der auf einem Weg flaniert)«, der »Komplex« »neuer Wohneinheiten« dem »Monument« (»an dem man Erinnerung und Gedächtnis mit anderen teilt«), und die zweckrationale »Kommunikation« steht der gelebten »Sprache (die gesprochen wird)« gegenüber. 46 All diese »Orte« münden bei Augé in den Begriff des »anthropologischen Ortes« (»lieu anthropologique«), der damit als Gegenbegriff zum »Nicht-Ort« fungiert. Identität, Relation und Geschichte – die drei entscheidenden Merkmale, die dem »NichtOrt« fehlen – sie kommen dem »anthropologischen Ort« in ausgezeichnetem Maße zu. 47 Was Augé mit dem »Nicht-Ort« meint, ist einigermaßen klar nachzuvollziehen, da er immer wieder Beispiele bringt, die wir aus unserem Konsum- und Reise-Alltag recht gut kennen: Shopping Mall, Autobahn, Flughafen, Flugzeug. Weniger klar ist allerdings, was er unter einem »anthropologischen Ort« versteht. »Anthropologie« bezeichnet in Frankreich das, was man in Deutschland in der Regel als »Ethnologie« bezeichnet. Augé ist von Profession Anthropologe/Ethnologe. Und die Beispiele, mit denen er seinen Begriff des »anthropologischen Ortes« einführt und veranschaulicht, sind zunächst alle rein ethnologischer Natur. Ich zitiere eine Schlüsselpassage: »Der anthropologische Ort hat mehrere Ebenen. Das kabylische Haus mit seiner dunklen und seiner hellen, seiner männlichen und seiner weiblichen Seite; die Hütte der Mina oder Ewe mit ihrem legba des Inneren, das den Schlafenden vor seinen eigenen Trieben schützt, und dem legba der Schwelle, das ihn gegen äußere Angriffe feit; die dualistischen Organisationsweisen, die ihren Abdruck häufig in einer materiellen und sichtbar auf dem Boden gezogenen Grenze finden und die unmittelbar oder mittelbar die Heiratspraktiken, den Tausch, die Spiele und die Religion steuern; die Dörfer der Ebrie oder Atye, deren Dreiteilung das Leben der Sippen und Altersklassen ordnet – all 46 47

Ebd. S. 107. Ebd. S. 59, 83.

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das sind Orte, deren Analyse Sinn macht, weil sie mit Sinn aufgeladen sind und jeder neue Weg, jede rituelle Wiederholung ihre Notwendigkeit bestärkt und bestätigt.« 48

Interessant ist für mich dabei zu beobachten, dass in dieser Schlüsselpassage zentrale Aspekte dessen, was ich oben den gelebten Raum nannte, zum Vorschein kommen: 1. Dass der Wohn-Ort – hier der gemeinsam geteilte Wohn-Ort traditionaler, geschlossener, kollektivistischer Gesellschaften – mitsamt seinem Netz an Ortsbeziehungen und Ortsbedeutungen eine herausragende Stellung einnimmt. 2. Dass dieser Wohn- und Lebens-Ort vom Leib der Orts-Bewohner/innen mitsamt seinen männlich-weiblichen Dispositionen, Variationen, Zuschreibungen, mitsamt seinen Trieben und leiblichen Vorgängen (Schlafen, Altern, Gehen, …) nicht zu trennen ist. 3. Dass die Orte in erster Linie nach werthaften Qualitäten, nicht nach neutralen Quantitäten bestimmt und unterschieden werden. 4. Dass es zwischen den Orten nicht nur Verbindungen und Übergänge, sondern auch Grenzen, Sprünge und Schwellen gibt. 5. Dass die Ordnungs- und Strukturprinzipien des gelebten Raums in erster Linie sozialer und leiblicher Natur sind, nicht aber mathematischer Natur; selbst die Dualität ist an der Polarität von hell-dunkel, Mann-Frau, InnenAußen ausgerichtet, die Dreiteilung an den Alterstufen und Sippen – nicht aber an mathematischen und geometrischen Prinzipien. 6. Dass zwischen Wohn- und Lebens-Orten und ihren Bewohner/inne/n stete und unaufhebbare alltägliche und rituelle Wechselbeziehungen herrschen. Die Orte stehen und fallen mit diesen Beziehungen, das Selbst- und Weltbild der Gruppe und ihrer Mitglieder ebenso. Genauso interessant ist es für mich zu beobachten, dass Marc Augé in der theoretischen Bestimmung des »anthropologischen Ortes« diese Ebene – die Ebene des gelebten Raums – fast komplett überspringt. Er bringt zwar (an zentraler Stelle) Beispiele, die entscheidende Aspekte des gelebten Raums enthalten. Diese Aspekte tauchen aber in seiner Theorie nicht oder doch nur sehr vage auf. Statt dessen springt er (geschätzte) vier bis fünf Abstrak48

Ebd. S. 59.

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tionsgrade höher und generalisiert: »Diese Orte haben mindestens drei Merkmale gemein. Sie verstehen sich (sie werden verstanden) als identisch, relational und historisch.« 49 Selbstverständlich haben Kategorien wie »Identität«, »Relation« und »Geschichte« im Rahmen einer innerakademischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorienbildung ihre Berechtigung. Hier aber, wo es um konkrete Erfahrungen, um menschliche Wohn- und Lebens-Orte geht, ist das viel zu hoch gegriffen. Doch Augé greift nicht nur zu hoch. Er greift auch vorbei. Ein paar Seiten weiter konstatiert er: »Verweilen wir einen Augenblick bei der Definition des anthropologischen Ortes, so stellen wir fest, dass er zunächst geometrischer Art ist. Er lässt sich auf der Basis dreier einfacher räumlicher Formen fassen, die auf verschiedene institutionelle Dispositive anwendbar sind und in gewisser Weise die elementaren Formen des sozialen Raumes bilden. Geometrisch gesprochen handelt es sich um die Linie, das Schneiden von Linien und den Schnittpunkt.« 50

Nihil dicis. Es handelt sich hier bestenfalls um eine völlig äußerlich bleibende oberflächliche Analogie. Und Augé ist sich dessen auch irgendwie bewusst, denn kurz darauf sagt er, was er eigentlich meint. Und das sind eben keine geometrischen Linien, Kreuzungs- und Schnittpunkte, sondern: Wege, Wegkreuzungen und Zentren wie Plätze, Märkte, Monumente 51 – also Aspekte des gelebten Raums. Der gelebte soziale Raum ist wesentlich etwas Gewachsenes. Gewachsen freilich im soziohistorischen und nicht im biologischen Sinn. Auch das unterscheidet ihn von geometrischen Begriffen. Und Augé erwähnt das auch, beiläufig, wenn er davon spricht, dass – im Gegensatz zu den »Nicht-Orten« – die »anthropologischen Orte Organisch-Soziales hervorbringen« 52 und eine »organische Gesellschaft« 53 beherbergen. Er zieht aber auch hieraus keine tiefgreifenderen theoretischen Konsequenzen.

49 50 51 52 53

Ebd. Ebd. S. 62 f. [Hervorh. v. mir, R. J. K.] Ebd. S. 63. Ebd. S. 96. Ebd. S. 111.

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7.

Anthropologische Orte, herzerwärmende Orte, zukunftseröffnende Orte

So genial ich das Konzept des Nicht-Ortes von Augé finde: Mit der viel zu abstrakten, vagen, teils auch falschen Charakterisierung des »anthropologischen Orts« möchte ich mich nicht zufrieden geben. Nicht einmal mit dem Terminus »anthropologischer Ort«. Was besagt er schon? Streng gesehen zunächst einmal nur soviel, dass es hier um einen Ort geht, der für Berufsanthropologen/Berufsethnologen wie Marc Augé interessant ist. Sonst hätte Augé ja auch die Bezeichnung »humaner« oder »menschlicher Ort« wählen können. – Mir aber geht es nicht um einzelwissenschaftlich relevante, sondern um lebensweltlich erfahrene Orte, um gelebte und geliebte Orte. Und Augé (wenn man von seinem theoretischen Überbau absieht) im Prinzip ja auch. Sein Begriff des zweckrationalen, funktionalen gemachten Nicht-Ortes ist teils implizit, teils explizit im Gegensatz zum gelebten, geliebten und gewachsenen Ort konzipiert. Nicht umsonst stellte er oben flüchtige Transit-(Nicht-)Orte dem festen Wohn-Ort, das anonyme Autobahnkreuz der menschlichen Begegnung, das von A nach B Transportieren dem Flaneur, den gesichtslosen Gebäudekomplex dem Erinnerungsort gegenüber. 54 Und auch die abstrakten Unterscheidungen – anthropologische Orte haben Identität, Relation, Geschichte; Nicht-Orte haben diese Merkmale nicht – zeigen, wenn man sie (geschätzte) vier bis fünf Abstraktionsgrade nach unten zieht, die Nähe zum gelebten Raum mit seinen identitätsstiftenden Orten, seinen sozialen und persönlichen Beziehungen, seiner ›Gewachsenheit‹, Historizität – aber auch Geborgenheit und Wärme. Und noch etwas zeigt sich bei Augé: dass auch für ihn die Verlusterfahrung von geliebten charakteristischen Orten ein Thema ist; ein Thema, das bei der Konzeption seiner Begriffe »Ort« und »Nicht-Ort« mit Pate stand. Etwa wenn er von den Pariser Stadtteilen (Arrondissements) schreibt, dass sie

54

Ebd. S. 107.

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»ihre Eigentümlichkeit allmählich einbüßen. Früher hatte jedes von ihnen seinen eigenen Charakter; die Klischees der Chansons, die Paris preisen, entbehren nicht des Wirklichkeitsstoffs, und noch heute könnte man höchst nuancenreich die Arrondissements beschreiben, ihre Aktivitäten, ihre ›Persönlichkeit‹ […].« 55

Doch welcher Begriff könnte – statt dem des »anthropologischen Ortes« – all das besser fassen? Schwer zu sagen. Der Begriff des »humanen Ortes«? Des »geliebten Ortes«? Oder der Begriff des »herzerwärmenden Ortes«? Ich versuche es jetzt einmal mit dem letzteren. Denn er trifft ein wesentliches und durchaus konkretes Unterscheidungsmerkmal: ob die »Leibesinsel« 56 Brust von der Atmosphäre eines Ortes erwärmt wird, ob sie in Präsenz des Ortes warm mitschwingt; oder ob es (wie an den meisten Nicht-Orten und anderen unwohnlichen Orten) zu einem gewissen Kälte-Erspüren kommt. 57 Es ist bei weitem nicht das einzig mögliche Unterscheidungsmerkmal. Es ist auch kein wertneutrales wissenschaftliches Kriterium, bezieht sich auf keine ›objektive Tatsache‹. Nein. Es ist ein sehr menschliches und gefühlsmäßiges Kriterium, bezieht es sich doch gerade auf eine »subjektive Tatsache« 58 – die aber, wohlgemerkt, immer noch Tatsache ist, sogar räumliche Tatsache, da sie untrennbar mit dem gelebten Raum zusammenhängt. Und das ist auch gut so. Denn wie will man sonst das, was Wohnen und Topophilie meinen, beurteilen können? Die eingangs erwähnte onto-poeto-phänomenologische Trias »Bauen-Wohnen55

Ebd. S. 76. Zum Begriff der »Leibesinsel« siehe: Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 119. 57 Dieses Kälte-Erspüren hat auch Hermann Schmitz thematisiert: »die Stadtwüste einer hässlichen Großstadt mit langen Häuserzeilen, die lieblos, ohne Geist und Geschmack, in monotoner Reihe mit blassem, schmutzigem Grau hingesetzt sind« löse einen »Eindruck, der dem Frösteln verwandt ist«, aus. Man befinde sich hierbei in einer »neutralen Zone des Kühlen, Bleichen, Fahlen«. »Frösteln ist Zurückschaudern in die Enge des Leibes angesichts einer als fremd umgebenden Weite.« (Schmitz, Hermann: Die Stimmung einer Stadt, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011, S. 63–74, hier: S. 72 f.). 58 Vgl. hierzu: Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 62–64 u. 74 f. 56

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Denken« von Heidegger setzt – ebenso, wenngleich auf ganz andere Art, wie die sozialwissenschaftliche Trias »Identität-RelationGeschichte« von Augé – zu hoch an. Wenn diese Konzepte nicht durch die hier skizzierte Trias »Leben-Wohnen-Fühlen« unterbaut werden, bleiben sie in der Luft hängen. Wie will man gute Lebensund Wohn-Orte schützen, bauen, entwerfen und entwickeln ohne Bezug zu einer der hierbei wichtigsten subjektiven Tatsachen? Ohne Bezug zu den herzerwärmenden Ortscharakteren und Ortsatmosphären? Ich stimme Marc Augé zu: Orte und Nicht-Orte verhalten sich wie einander fliehende Pole. Und: Sie lassen sich nie in Reinstform auffinden. Das bedeutet aber: Gerade dadurch, dass die Nicht-Orte im Zeichen megakapitalistischer Globalisierung immer radikaler Lebenswelt kolonialisieren – dass sie zahlenmäßig also nicht nur stetig zunehmen, sondern auch immer mehr dem Idealtypus ihrer Reinstform zustreben (ohne ihn je zu erreichen) – werden zwar einerseits die »herzerwärmenden Orte« zurückgedrängt. Zugleich zeigt sich, ex negativo, aber doch klarer als je zuvor, woran unser Herz hängt, um welchen Verlust es besonders bangt oder trauert, was es auf jeden Fall in die Zukunft mitnehmen möchte bzw. neu und anders erbauen möchte. Denn genau das: die sensibilisierende Potenz der Verlustangst und Verlusterfahrung ist gefragt, wenn es um das Thema Neubeheimatung geht, wenn eine Utopie zukünftigen menschlichen Wohnens gefragt ist. Und hierbei hilft kein Nicht-Ort. Denn, wie Augé so treffend bemerkt: »Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie« 59. Dies deshalb, weil ein durchfunktionalisierter, zweckrationalisierter Nicht-Ort echte kreative utopische Potenziale erstickt. Zumindest sind sie in seiner Benutzungsordnung nicht vorgesehen. Und deshalb muss angeknüpft werden an alle noch nicht (oder nicht mehr) kapitalistisch-kolonialisierten und/oder bürokratisch-ver59

Augé: Nicht-Orte, S. 111. Aber, so möchte ich hinzufügen, Utopie ist nicht das Gegenteil des Nicht-Ortes. Das Wort »Utopie« stammt ja aus dem Griechischen und meint: oú topos, Nicht-Ort. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bedeutet das: Aus einer abstrakt-inhumanen Utopie kann ein Nicht-Ort resultieren, aber aus einem Nicht-Ort keine konkret-humane Utopie.

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Leben, Wohnen, Fühlen

walteten ortsbezogenen Zukunftspotenziale. Etwa an die marginalisierten, verdrängten Aspekte des gelebten Raums; an das, was am Ort durch Machtinteressen unterdrückt wurde, aber auch das, was als ein von der Macht noch nicht (oder nicht mehr) vereinnahmter Freiraum vor Ort möglich ist. Es geht nicht zuletzt auch um die ›subversiven‹ 60 utopischen Potenziale des gelebten Raums. Auf jeden Fall geht es um gewachsene und zukunftseröffnende Orte mit Herz. Literatur Augé, Marc: Nicht-Orte (1992), 3. Auflage München 2012. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), 7. Auflage Frankfurt a. M. 2003. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Reinbek 2006. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit (1889), 3. Auflage Hamburg 2006. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart 1963. Dürckheim, Karlfried von: Untersuchungen zum gelebten Raum (1932), Frankfurt a. M. 2005. Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012 Hasse, Jürgen: Fundsachen der Sinne, Freiburg/München 2005. Hasse, Jürgen/Kozljanič, Robert Josef (Hg.): V. Jahrbuch für Lebensphilosophie. Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, München 2011. Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1951. Ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954. Jensen, Derrick: Endgame. Zivilisation als Problem, München/Zürich 2008. Joisten, Karen: Heimat, in: Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012. Kozljanič, Robert Josef: Der Geist eines Ortes. Kulturgeschichte und Phänomenologie des Genius Loci, 2 Bde, München 2004. Ders.: Lebensphilosophie – Eine Einführung, Stuttgart 2004. Lefebvre, Henri: La production de l’espace (1974), Paris 2000. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966. Ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 2. Auflage München 1994. Minkowski, Eugène: Die gelebte Zeit (1933), Salzburg 1972. Ders.: Vers une cosmologie, Paris 1936. Relph, Eward: Place and Placelessness, London 1976.

60

Subversion ist für mich kein ›Wert an sich‹, sondern Folge und Anzeiger von zu überwindender Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

391 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Robert Josef Kozljanič

Rolshoven, Johanna: Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 2 (2003), S. 189–213. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand, 2. Auflage Bonn 1995. Ders.: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003. Ders.: Die Stimmung einer Stadt, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011, S. 63–74. Schweidler, Walter: Das Uneinholbare, Freiburg/München 2008. Soja, Edward W.: Thirdspace, Cambridge/Oxford 1996. Ders.: Seeking Spatial Justice, Minneapolis 2010. Tuan, Yi-Fu: Topophilia, Englewood Cliffs 1974. Ders.: Space and Place, Minneapolis 1977.

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Gerhard Danzer

Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen

In seinem Buch Poetik des Raumes (1957) unternahm Gaston Bachelard in Anlehnung an die Psychoanalyse eine Art Topo-Analyse, eine Analyse des Raums. Ähnlich wie die Psychoanalyse in Fehlleistungen, Symptomen und Träumen das Walten des Unbewussten aufzudecken unternimmt, wollte Bachelard anhand verschiedener konkreter oder imaginärer Räume (Haus, Wohnung, Weg, Landschaft, aber auch Räume von Musik, Mythos, Dichtung, Religion) deren Bedeutungsebenen nachspüren. Er beschrieb Bilder eines »glücklichen Raums«, und ausgehend davon bezeichnete er seine Forschung als Topophilie 1 (Liebe zum Raum). Bachelards Text regt dazu an, eine Topo-Analyse im Bereich der Medizin zu versuchen. Dabei müssen wir gewärtigen, nicht nur auf Räume des Glücks zu stoßen; an heilkundigen Orten werden Themen wie Kummer, Leid und Krankheit verhandelt, und bisweilen grüßt Thanatos die Beteiligten. Nicht wenige Menschen reagieren darauf entgegengesetzt zu topophil eher topophob und meiden, wenn irgend möglich, die Räume der Medizin. Weil jedoch die Heilkunde in den letzten Jahrzehnten unseren Alltag weitgehend durchsetzt hat, ist fast jeder irgendwann gezwungen, die medizinischen Räume des mäßigen Glücks kennenzulernen. Das große Glück des Innenraums. – Menschliches Leben beginnt innen. Etwa neun Monate vor der Geburt nistet sich die befruchtete Eizelle in die Schleimhaut des mütterlichen Uterus ein und entwickelt sich über zügige und fortlaufende Zellteilung in diverse Organe und einen Organismus. Dafür wesentliche Prozesse – 1

Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a. M. 2007, S. 25.

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Gerhard Danzer

Wachstum, Stoffwechsel, Ernährung – ereignen sich im Inneren einer Gebärmutter, und viele, die über diese intrauterine Phase menschlichen Lebens nachgedacht und geschrieben haben, meinen, dass es sich um eine sorgenfreie und ausgeglichene Existenz handelt – wobei von Existenz (ek-sistere = draußen stehen) eigentlich noch nicht gesprochen werden kann. Der Psychoanalytiker Otto Rank behauptete in Das Trauma der Geburt (1924) 2, dass sich prinzipiell jeder Mensch nach den anscheinend beschützt-geborgenen Verhältnissen des Intrauterinraums zurücksehne. Diese Sehnsucht sei an vielen Alltagsverrichtungen (sich auf dem Sofa in eine Decke wickeln; zu Bette gehen) ebenso wie an Räumlichkeiten (Sauna, Iglu der Eskimos, Schiffskojen) ablesbar. Sie (die Verrichtungen des Alltags bis hin zu den architektonischen Errungenschaften) seien als Kompensation jenes Traumas zu begreifen, das die Geburt und damit der Verlust des gebärmütterlichen Innenraums für Menschen bedeuten. In den letzten Jahren hat die Geburtsmedizin den Intrauterinraum, der lange Zeit als Prototyp von Privatheit und Intimität galt, für sich erobert und einer ausgeklügelten sowie partiell hilfund segensreichen Kontrolle und Einflussnahme unterworfen. Der Bogen spannt sich von eventuellen Fertilisationsmaßnahmen (manche in jüngerer Vergangenheit Geborene begannen ihr Leben nicht innen, sondern außen in der Petrischale) über die Punktion der Fruchtblase (zum Zweck der Zelldiagnostik) bis hin zur regelmäßigen fetalen und vorgeburtlichen Ultraschalldiagnostik. Kultursoziologinnen wie Barbara Duden 3 oder Martina Löw 4 haben ausgehend von solchen Gepflogenheiten betont, dass hinter die Begriffe innen (intrauterin) und außen ein berechtigtes Fragezeichen zu setzen sei. Der angebliche Innenraum der Gebärmutter wird zunehmend veröffentlicht und als solcher den werdenden Müttern und Vätern z. B. als Sonographie-Bilder präsen2

Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse (1924), Gießen 2007. 3 Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort – Vom Missbrauch des Begriffs Leben, Hamburg/Zürich 1991. 4 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2012.

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Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen

tiert. Das Außen (Umwelt, Verwandte, Medizin, Kultur etc.) kommentiert und definiert das Innen mit. Bei der systematischen Erfassung von fetalen Vitalfunktionen ließ sich im Übrigen zeigen, wie sehr diese mit mütterlichen Erlebnissen, Stimmungen und Affekten korrelieren. Dies geht so weit, dass Stressoren der Mutter die Reifung des fetalen Gehirns beeinflussen können. Die Vorstellung eines hermetisch abgeschlossenen Behälters (Uterus) mit andauernden intrauterin-fetalen Glückszuständen ist ein Phantasma und eine Mär; Neugeborene haben (zusammen mit ihren Müttern) bereits im gebärmütterlichen Innenraum eine Vorahnung dessen erhalten, was an extrauterin prekären Weltverhältnissen auf sie wartet. Aus innen wird außen wird innen. – Die Geburt beendet die intrauterine Lebensform und exponiert Menschen im Außen. Zumindest in westlichen Ländern der Erde erfolgt diese Exposition in dafür gesondert präparierten Räumen der Medizin: dem Kreißsaal oder dem Geburtshaus. Vom Wort kreißen stammt etymologisch das Kreischen ab; kreißen bedeutet soviel wie stöhnen, schreien oder kreischen, und der Kreißsaal ist jener Raum, in dem Gebärende oft unter Schmerzen und entsprechenden Äußerungen (Kreischen) ihre Kinder zur Welt bringen. In den letzten Jahrzehnten hat sich neben dem Kreißsaal eine weitere Räumlichkeit etabliert, in dem sich Geburten ereignen: das Geburtshaus. Der Unterschied zum Kreißsaal besteht im Faktum, dass Letzterer von ärztlichen Geburtshelfern geleitet wird, indes einem Geburtshaus Hebammen vorstehen. Gleichgültig ob Geburtshaus oder Kreißsaal: Dass die Medizin eigens ausgestattete Räume für Geburten entwickelt hat, erklärt sich aus den manchmal heiklen Situationen während des Geburtsvorganges, die ärztliche oder Hebammen-Interventionen notwendig machen (verzögerte oder Frühgeburt, Steißgeburt, Kaiserschnitt, Dammriss). Darüber hinaus sind solche Räumlichkeiten und Gebäude für alle Beteiligten bedeutsam, weil in ihnen Zukunft und Potentialität zur Welt kommt. Ob und wie aus einer neugeborenen Existenz die Realität einer Biographie und Essenz wird, hängt von unüberschaubar vielen Imponderabilien ab. Die 395 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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Tatsache aber, dass nun Neues beginnt und es sich um ein Anfangen und Beginnen handelt (Hannah Arendt bezeichnete dies als Natalität 5), ist unbestreitbar. Kreißsäle und Geburtshäuser sind medizinische Orte des Aufbruchs und des Noch-Nicht (Ernst Bloch 6). Das kleine Glück der Ordination. – Nach der Geburt entwickeln sich Menschen in verschiedenste Richtungen; bisweilen machen sich bei ihnen körperliche oder psychosoziale Störungen oder Krankheiten bemerkbar. Ab einem gewissen Leidensdruck tragen sie dazu bei, dass der Einzelne zum Patienten wird und im Medizinal-System um Hilfe nachsucht. Diese ereignet sich in der Regel in speziell ausgewiesenen Räumen (Sprech- und Untersuchungszimmer von Arzt-Praxen; rollende Ambulatorien; Erste-Hilfe-Stationen; Notarztwagen; Kliniken; Sanatorien); merklich seltener wird medizinische Diagnostik und Therapie in den Räumen des Patienten (Hausbesuch) oder auch im öffentlichen Raum (Notfalldiagnostik und -behandlung auf Plätzen oder im Theater etc.) durchgeführt. Der überwiegende Teil der Arzt-Patienten-Kontakte der westlichen Welt findet im Sprech- oder Ordinationszimmer statt. Wie die Bezeichnung dieses Raumes nahelegt, sollte als erster diagnostischer, bisweilen auch schon therapeutischer Schritt ein Gespräch zwischen Arzt und Patient im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Oftmals sind im Sprechzimmer einige Untersuchungsutensilien (z. B. Liege, Waage, Stethoskop, Reflexhammer, Blutdruckmanschette, Fieberthermometer, EKG) vorhanden, so dass neben dem verbalen Gespräch auch nonverbale Gesichtspunkte der Arzt-Patienten-Kommunikation (Messen, Wägen, Auskultieren, Perkutieren, Palpieren, Inspektion) eine Rolle spielen. Zweck dieser Veranstaltung ist es, mittels Anamnese-Gespräch und Untersuchungsbefunden eine Diagnose oder zumindest eine Arbeitshypothese über den Zustand des Patienten zu erstellen; ausgehend

5 6

Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 1996. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959.

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davon werden Zusatzuntersuchungen oder erste Behandlungsschritte initiiert. Mindestens ebenso relevant sind dabei jedoch Aspekte des Arzt-Patienten-Kontakts, die in der Regel lediglich implizit verhandelt werden: Beziehungsaufnahme und -gestaltung; Offenheit und Vertrauen; Umgang mit Schwäche und Fragilität; Höflichkeit, Wohlwollen, Takt; Anlehnung, Abhängigkeit und Autonomie; Nacktheit im direkten und indirekten Sinne; Beichte und Absolution; Zuwendung und Hilfe; Empathie; Dienstleister-Kunden-Mentalität; Autorität und Hierarchie; Eltern und Kind- oder Lehrer und Schüler-Verhältnis; »Liebesbeziehung«; ärztliche wie patientenseitige Compliance; gegenseitige Wertschätzung oder Entwertung; Zirkel des Verstehens (Hermeneutik); Intimität; Affekte wie Ekel, Scham, Schuld und Angst; Übertragung und Gegenübertragung (Erwartungen, Hoffnungen, Phantasien, Enttäuschungen, Vorerfahrungen sowohl der Patienten den Ärzten gegenüber als auch vice versa). Bei der Fülle dieser Aspekte des Arzt-Patienten-Kontakts scheint der Begriff des Ordinations-Zimmers passend, wie er im österreichischen Sprachraum für das Sprechzimmer geläufig ist. Ordination bedeutet soviel wie Weihe, Initiation oder Bestellung und Einführung, und ein ärztliches Sprechzimmer ist in gewisser Weise ein Ort, dessen Bedeutung mit Weihe oder Initiation treffenderer zum Ausdruck gebracht wird als mit dem Terminus des Sprechens, mit dem nicht selten bloßes Gerede assoziiert wird. Der Ordinationsraum ermöglicht im glücklichen Fall eine dialogische Situation, wie sie von Martin Buber in Ich und Du 7 beschrieben wurde. Hier entscheidet sich, ob sich eine Ich-Du- oder eine Ich-Es-Beziehung zwischen den Protagonisten entwickelt – wobei die undankbare Rolle des Es durchaus nicht immer nur der Patient zu übernehmen hat. Würde, Takt und Generosität gegenseitiger Verstehens-Bemühungen sind Leistungen, die von beiden Seiten erbracht werden müssen, wenn Qualitäten des Dialogischen induziert und erhalten werden sollen. Ein Gesichtspunkt wurde bei der Aufzählung impliziter Aspek7

Buber, Martin: Ich und Du (1923), Heidelberg 1979.

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te der Arzt-Patienten-Beziehung nicht erwähnt: das Geheimnis. Manches, was zwischen Arzt und Patient ausgetauscht wird, ist nur für wenige Ohren und Augen bestimmt: Nacktheit, Intimes, Privates und Geheimes. Vor allem in Psychotherapien kommt es bei vertrauenswürdiger Beziehung zwischen Patient und Therapeut nach und nach zu Mitteilungen des Ersteren, die womöglich etwas Beschämendes, Schuldhaftes oder Traumatisierendes in sich bergen. Bisweilen ist der Psychotherapeut oder Arzt die erste und einzige Person, der sich der Patient in Bezug auf solche Geheimnisse anvertraut. Um derartiges zu ermöglichen, bedarf es der ärztlichen Verschwiegenheit, die nicht nur durch die Schweigepflicht, sondern durch das Auftreten und die Persönlichkeit des Arztes repräsentiert wird. Neben der Person des Arztes oder Psychotherapeuten ist es auch der Raum (das Sprechzimmer), der im günstigen Fall vertrauenerweckende Atmosphären von Seriosität und Gediegenheit vermittelt. Das Luzide: Räume der Diagnostik. – Wesentliche Aufgaben der Medizin im 21. Jahrhundert sind (anders als in der Antike, als es vorrangig um die zutreffende Prognosestellung bei Patienten ging) Diagnostik und Therapie pathologischer Zustandsbilder. Beides findet in vielen Fällen in separaten Räumen statt, wobei sich Körperräume von Patienten und medizinische Diagnose- und Therapie-Räume einerseits unterscheiden, andererseits aber sich nicht selten überschneiden oder ineinander übergehen. Neben dem erwähnten Sprech- und Untersuchungszimmer gehören zu vielen Arztpraxen und generell zu klinischen Einrichtungen (Akut- und Reha-Kliniken, Sanatorien) Labore zur Basisdiagnostik von Blut und Urin (obligat) sowie von Schleim, Liquor und Faeces (nicht in allen Laboren geboten). Die Untersuchung von Säften und Ausscheidungsprodukten des Körpers wird in Spezial-Laboratorien enorm verfeinert – man denke an Erregerdiagnostik (virale, bakterielle, mykotische, parasitäre Erreger), Gen-Diagnostik, Liquor-Diagnostik (Untersuchung des Gehirnwassers) oder immunologische Diagnostik. Medizinische Laboratorien sind Orte, an denen mit humores, mit Flüssigkeiten gehandelt wird. Überwiegend sind es Blutbestandteile, die als Unter398 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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suchungs- und Diagnosematerial dienen – daneben wie erwähnt Körpersekrete und Ausscheidungsprodukte. Für viele Analyseprozeduren werden nur wenige Milliliter Material benötigt, und diese entscheiden mit über Krankheit und Gesundheit, Diagnose und Therapie. Daneben haftet auch die Prognose eines Menschen (etwa bei genetischer Diagnostik) nicht selten an einem Tropfen Blut. Es ist kein Zufall, dass sich Laboratorien in den letzten Jahrzehnten zunehmend in eigenen Gebäuden, Trakten oder Etagen eingerichtet und organisiert haben. Der Kontakt zwischen Labordiagnostik und konkretem Patienten erfolgt über Blutröhrchen, die entsprechende (und hoffentlich richtige) Beschriftung desselben sowie über die per EDV übermittelten Ergebnislisten; ein persönlicher Austausch zwischen den Diagnostikern und dem Betroffenen ist in der Regel nicht vorgesehen. Ähnliche räumliche Verhältnisse finden sich bei der radiologischen Diagnostik. Auch hier hat sich in der Vergangenheit eine Organisations- und Prozess-Struktur herausgebildet, die es angebracht erscheinen lässt, die Röntgen- und Nukleardiagnostik in separaten Abteilungen, Zentren und Räumen unterzubringen. Der Unterschied zur Labordiagnostik besteht darin, dass sich der Patient normalerweise in diese Räume zu begeben hat, um diagnostiziert zu werden. Meist trifft er dort auf medizinisches Assistenz-Personal; ein direkter personaler Kontakt mit dem Diagnostiker (Radiologen oder Nuklearmediziner) erfolgt durchaus nicht regelmäßig. Labor- wie radiologische Diagnostik verbringen Patienten oftmals in anonyme oder apersonale Situationen, die mit Prozeduren assoziiert sind, an deren Ende Gesundheitszertifikate oder Krankheitsnamen stehen. Weil es keineswegs gesichert ist, dass diese Prozeduren von den Betroffenen umfassend verstanden und adäquat eingeordnet werden, kommt es bei ihnen immer wieder zum Empfinden von Unsicherheit und Angst. Nicht selten erlebt der Einzelne sich oder Teile seines Organismus wie auf dem Weg durch unüberschaubare Transiträume, in denen Befunde erhoben werden, für deren Integration und (existentielle) Interpretation er selbst schlussendlich Sorge tragen muss. Wie sehr es sich etwa bei radiologischen Untersuchungen um 399 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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eine Sichtbarmachung des Unsichtbaren handelt (früher nannte man derartige Prozeduren »Durchleuchtung«), hat vor über neunzig Jahren Thomas Mann in Der Zauberberg (1924) 8 eindrücklich beschrieben. Hans Castorp, die Hauptperson des Romans, lässt eine solche Durchleuchtung bei sich durchführen und erfährt dabei, dass bei ihm ein »Schatten auf der Lunge« (Hinweis auf Tuberkulose) zu sehen ist. Diese Krankheit, die er schon eine Weile in sich getragen haben muss, ohne davon zu wissen, verändert sein Dasein nachhaltig. Sein ihm selbst nicht bewusstes Inneres spiegelt sich auf einer Röntgenplatte wieder, und dieses veräußerte Innere löst bei ihm neben Schreck auch eine Neuorientierung seines Lebens aus. Verglichen mit Durchleuchtungen einer Lunge wie bei Hans Castorp erscheinen heutige Diagnose-Möglichkeiten wie Szintigraphie, Computer-Tomographie, Magnetfeldresonanz-Tomographie, Positronen-Emissions-Tomographie, KontrastmittelSonographie oder Angiodynographie als diagnostische Quantensprünge. Mit ihrer Hilfe lassen sich Durchblutung und Funktionstüchtigkeit des Gehirns ebenso wie die Verschmälerung eines Gelenkspalts abbilden und beurteilen. Körperbinnenverhältnisse, die von außen betrachtet bis vor kurzem als unsichtbar imponierten, sind dem Auge des Diagnostikers dadurch zugänglich geworden. Eine nochmalige Steigerung der Eroberung und Beurteilung von Körperinnenräumen, die eine Menschheitsgeschichte lang als unbekannt und verschwiegen galten und einen Großteil dessen ausmachten, was wir das Eigene, die Identität oder das In-uns nennen, bedeuten invasive Diagnose-Prozeduren wie Spiegelung von Magen, Darm, Lunge; Katheter-Untersuchung des Herzens und der Herzkranzgefäße; Spiegelung von Harnblase und Vagina; Darstellung von Blutgefäßen (z. B. Gehirn, Nieren, Leber). Hinzu kommt die Möglichkeit, an verschiedenen Organen Biopsien durchzuführen, um Material für mikroskopische Untersuchungen (Frage nach Dignität der gefundenen Zellen und Gewebeteile) zu gewinnen. 8

Mann, Thomas: Der Zauberberg (1924), Frankfurt a. M. 1991.

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Wohlgemerkt: Alle diese Diagnosemöglichkeiten sind überwiegend ein Segen, um Krankheiten rechtzeitig und richtig zu erkennen und daraus adäquate Behandlungskonsequenzen zu ziehen. Aber diese Prozeduren verändern auch das (Körper-)Empfinden und Erleben von Patienten und deren Definition von Privatheit, Intimität und Für-sich-Sein. Die Medizin ist in vielerlei Hinsicht (in den letzten Jahren verstärkt über telemedizinische Möglichkeiten) zum kontrollierenden Big brother mutiert; sie betreut zwar keine gläsernen, aber vermessene Individuen. Und im umgekehrten Maße, wie Patienten durchsichtiger werden, wirkt die Heilkunde für viele von ihnen undurchsichtig und anonym. Die Körperbinnenräume von Kranken imponieren luzide und öffentlich, die Außenräume der Diagnostik jedoch für nicht wenige Betroffene häufig undurchschaubar und geheimnisvoll. Das Sakrale: Räume der Therapie. – Bei der Aufzählung verschiedener diagnostischer Prozeduren wurden eben die invasiven Verfahren erwähnt. Darunter fallen zum Beispiel die Katheter-Untersuchungen des Herzens und des Gehirns sowie die Spiegelungen von Magen, Darm und Lunge; des Weiteren können die Ausführungsgänge der Gallenblase und der Bauchspeicheldrüse invasiv (mittels Kontrastmittel) dargestellt werden. Eng mit diesen diagnostischen Verfahren verknüpft sind therapeutische Optionen wie etwa die Weitung von verengten Blutgefäßen am Herzen oder Gehirn (z. B. Dilatation; Implantation eines Stents), die Abtragung von Polypen (im Darm) oder die Stillung von Blutungen (Laser-Behandlung, Koagulation). Alle diese diagnostisch-therapeutischen Eingriffe erfolgen in partiell außerordentlich aufwändig ausgestatteten Räumlichkeiten (zumeist hoher Medizintechnik-Standard), die aufgrund der notwendigerweise fokussiert konzentrierten Arbeitsatmosphäre, der komplexen Bedienbarkeit der technischen Geräte, der hygienischen Vorschriften und wegen eventueller Strahlenexposition (Röntgenstrahlen) lediglich von wenigen, speziell ausgebildeten Mitarbeitern betreten und bedient werden. Analoges gilt für medizinische Räume wie Intensivstationen, Erste-Hilfe-Schockraum sowie diverse Operationssäle, etwa für 401 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

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Neurochirurgie, Herzchirurgie oder Transplantationschirurgie. In diesen Räumen ereignen sich regelrecht Wunderprozesse des technisch-operativen Know-how, der konservativen und operativen interventionellen Fertigkeiten und des häufig perfekten Ineinandergreifens von Handlungsabläufen und Assessment-Ressourcen. Wer als Patient in solchen Räumen landet, weist ernsthafte Störungen seiner Vitalfunktionen oder eine schwerwiegende Erkrankung mit potentiell lebensbedrohlichen Dimensionen auf. Diese Räume sind Orte der Krise (im Sinne wesentlicher Entscheidung) und der existentiellen Bedrohung, denen die Medizin in der Regel mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln begegnet. Bei Operationssälen, Intensivstationen und Schockräumen handelt es sich um keine öffentlichen Orte mit Zugänglichkeiten für jedermann. Ein ausgeklügeltes System von Schleusen, Absperrungen, Trennwänden und Schutzvorkehrungen sorgt dafür, dass nur Befugte Zugang erhalten. Der Patient hat sich (wenn es sich um geplante und nicht um Notfall-Eingriffe handelt) einem umfänglichen Procedere von Säuberungen, Entleerungen, Rasuren und Voruntersuchungen (operationsvorbereitende Maßnahmen) zu unterwerfen, bevor er in einen Operationssaal geschoben wird. Doch auch befugte Mitarbeiter treffen Vorkehrungen (Desinfektion, Mundschutz, OP-Kleidung), um in den besagten Räumen arbeiten zu können. Sowohl die relativ strikte Abschottung dieser Räume als auch die festgelegten Handlungen, Gesten und Rituale derjenigen, die sich in ihnen aufhalten, weisen Ähnlichkeit mit heiligen Orten bzw. Sakralräumen und -bauten auf. So charakterisierte der Religionswissenschaftler Mircea Eliade einen sakralen konträr zum profanen Ort als »heiligen, kraftgeladenen, bedeutungsvollen Raum«. 9 Er sei als besonderer Bereich ausgezeichnet, an welchem die Macht des Numinosen spürbar werde. Ebenfalls auf die exzeptionelle Ausstrahlung sakraler Orte hob der holländische Religions-Phänomenologe Gerardus van der Leeuw ab, der diesen Räumen einen »eigenen und selbständigen Wert« zuerkannte: 9

Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Reinbek bei Hamburg 1957.

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»Heiliger Raum ist ein Ort, der zur Stätte wird, indem sich an ihm die Wirkung der Macht wiederholt oder vom Menschen wiederholt wird.« 10 Für Ernst Cassirer zeichneten sich sakrale Orte und Räume durch ihre Distanz sowie ihr Herausgestellt-Sein im Vergleich zu ihrer Umgebung aus: »Die Heiligung beginnt damit, dass aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird.« 11 Im lateinischen Wort templum (Tempel bedeutet das Herausgeschnittene) wird auf diese Verhältnisse angespielt. Noch eine weitere Gemeinsamkeit von medizinischen Highrisk-Räumen und sakralen Orten sei erwähnt – immer im Hinblick auf die von vielen Patienten (und Ärzten) empfundene Bedeutsamkeit dieser Räume. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto beschrieb in Das Heilige (1917) die Erfahrungen des Sakralen als mysterium tremendum et fascinans (furchteinflößendes und faszinierendes Geheimnis). Wer aber möchte und könnte bezweifeln, dass die Emotionen Furcht und Angst einerseits sowie Faszination andererseits in den Operationssälen und Intensivstationen der westlichen Welt immens weit verbreitet sind! Zu dieser sakralen Bedeutsamkeit passt, dass sehr viele Aktivitäten von Intensivmedizin und High-risk-Interventionen direkt oder indirekt den Zentralorganen des Menschen (Herz und Gehirn) gelten. Nicht x-beliebige Organe oder Krankheitsbilder, sondern das Innerste und Wichtigste von Patienten stehen dabei meistens zur Disposition. Und dieses Innerste wird im günstigen Fall mit Hilfe von therapeutischen Prozeduren gerettet, deren existentielle Dimensionen archaischen Reinkarnationsvorgängen ähnelt. Reanimation (Wiederbelebung), Operationen am offenen Herzen (Bypass-Operationen, Klappenersatz-Operationen), operative Eingriffe am Gehirn (Epilepsie- und Tumorchirurgie, Implantation von Gehirn-Schrittmachern), Stabilisierung bei Sepsis10

Van der Leeuw, Gerardus: Phänomenologie der Religion (1933), Tübingen 1955, S. 446. 11 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Band II (1925), Darmstadt 1990, S. 123.

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und Schockzuständen sowie die Transplantation von Organen wie Niere, Leber, Bauchspeicheldrüse, Herz und Lunge (nicht zu vergessen das Knochenmark) nähern sich in ihrer Bedeutsamkeit jenen heroischen Taten, die in alten Zeiten den Gottheiten zugeschrieben wurden. Ähnlich wie ihnen gelingt der Medizin bisweilen die »Umwandlung des Chaos in Kosmos« 12 (Ordnung); man kann verstehen, dass es hierfür gleichsam sakrale Räume braucht. Das Nicht-Ich: Räume der Separation. – Mit ganz anderen, oft nicht akut lebensbedrohlichen Formen des Chaos sind jene Patienten konfrontiert, die an psychotischen Erkrankungen leiden. Häufig empfinden sie massive Heimatlosigkeit und Unheimlichkeit, die nicht selten mit unangenehmen Trugwahrnehmungen und Verfolgungsängsten durchsetzt sind. Oftmals erleben die Betreffenden dies derart belastend, dass sie freiwillig, genauer betrachtet allerdings nolens volens den Schutzraum von psychiatrischen Kliniken aufsuchen. Gerät der Kranke dann in kompetente psychiatrische Behandlung, erfährt er an seinem Zufluchtsort tatsächliche Entängstigung und psychosoziale Stabilisierung. Über Jahrhunderte hinweg versprachen die medizinischen Räume der Psychiatrie allerdings weniger Schutz für die Erkrankten, sondern viel eher Schutz vor den Erkrankten. Die Geschichte psychiatrischer Anstalten und Behandlungsmethoden war lange Zeit von großer Hilflosigkeit sowie von Entwertungstendenzen und Affekten der »gesunden Normalen« sowie der »Therapeuten« ihren Patienten gegenüber geprägt. So gab es in der Vergangenheit »Therapie«-Strategien wie Zur-Schau-Stellen, Anketten, Wegschließen, Kaltwasserduschen etc. Solchen Methoden lag in der Regel eine Definition der psychotisch Erkrankten als Wahnsinnige, Irre und als Untermenschen (Schuldige; Sünder; von Dämonen besessen) zugrunde. Was sich in diesen beschämenden Zeiten der Medizin-Geschichte ereignete, ist als distanziert-entwertender Umgang mit jenen Aspekten des Mensch-Seins zu interpretieren, die als ver12

Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 19.

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rückt, abnormal, besessen oder viehisch eingeordnet wurden. Der Großteil der Gesunden und Normalen wertete das Verhalten und Erleben psychiatrisch Kranker als den eigenen Formen und Wertvorstellungen des Daseins diametral entgegengesetzt; in ihnen (den Irren und Verrückten) manifestierte sich angeblich alles, was als Anders-Sein und Nicht-Ich (Struktur- und Formlosigkeit, ungehemmtes Affektleben, Wahnhaftigkeit, teuflische Triebhaftigkeit, visionär-illusionäre Verkennungen) vom edlen, zivilisierten und gesunden Ich entschieden abgewehrt werden musste. Die Medizin stellte für diese Abwehr jahrhundertelang Räume der Separation zur Verfügung, um die Normalen vor den Irren und Verrückten (Repräsentanten des Nicht-Ich) zu »schützen«. Psychiatrische Anstalten lagen nicht selten vor den Toren der Stadt, und innerhalb dieser Anstalten gab es wie in Gefängnissen verschlossene Zimmer oder abgeriegelte Stationen und Krankentrakte, in denen die Patienten oftmals gegen ihren Willen wie Kriminelle gehalten und aufbewahrt wurden. Zu den krankheits-bedingten Affekten und Verstimmungen (Angst, Depression, Verzweiflung, Scham- und Schuldempfindungen etc.) gesellten sich aufgrund dieser Art von »Behandlung« bei ihnen in vielen Fällen ähnlich belastende, nun aber strukturell bedingte Emotionen. Dem Phänomen von Separation und Isolation begegnet man nicht nur in der Psychiatrie; auch andere Disziplinen der Medizin sehen sich gezwungen, ihre Patienten von Mitpatienten und Umwelt abzusondern, um sie (und auch sich selbst) zu schützen oder behandeln zu können. So gibt es in den meisten NotaufnahmeStationen von Krankenhäusern einen Ausnüchterungsraum, in dem Betrunkene unter Aufsicht entgiftet werden – ein Prozess, der nach wenigen Stunden oder Tagen abgeschlossen ist. Längere Zeit kann es in Anspruch nehmen, wenn Patienten wegen einer seltenen oder gefährlichen Infektionskrankheit in Isolierzimmern separiert und therapiert werden. Bei großer Ansteckungsgefahr kann es geschehen, dass Pflegende und Ärzte dem isolierten Patienten nur mit »Verkleidung« (Einmal-Kittel, Handschuhe, Mundschutz) begegnen – eine Form des Kontakts, die zwar sinnvoll und notwendig ist, den Betreffenden aber auch stark auf sich selbst zurückwerfen kann. Noch drastischer stellt sich die 405 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Gerhard Danzer

Separation und Isolation bei jenen Patienten dar, die aufgrund von Knochenmarktransplantation teilweise wochenlang in keimfreien Räumen mit sterilen zwischenmenschlichen Kontakten zubringen. Besonders bei langwieriger Isolation und Separation aufgrund von Infektionserkrankungen oder Knochenmarktransplantation erleiden die Betreffenden eine merkwürdige Form der Einsamkeit. Zwar wissen und sehen sie, dass sich Ärzte, Pflegende und Angehörige um sie kümmern und sie auf komplexe Art und Weise ernähren, pflegen und behandeln. Gleichzeitig ereignet sich ihr Dasein in einem hermetisch vom Rest der Welt abgeschiedenen Raum, aus dem heraus sie mit ihren Fernsinnen (Sehen und Hören) kommunizieren können, der aber kaum Nahsinn-Empfindungen ihrer Mitmenschen (Riechen, Schmecken, Tasten) zulässt. Ein lang anhaltender Verlust dieser zwischenmenschlichen Alltags-Intimitäten (sich zum Beispiel ohne Handschuhe die Hand geben) führt bei manchen Patienten zu Angstreaktionen oder depressiven Verstimmungen bis zu eventuellen Depersonalisationsund Derealisations-Erlebnissen. Die Hoffnung der Patienten auf Heilung oder Besserung ihrer Erkrankung, die ihre Isolation als eine sinnvolle und notwendige Maßnahme erscheinen lässt, wird nicht selten mit belastenden Affekten erkauft, und die Fürsorgeund Schutzaspekte, die mit diesen separierten Medizinalräumen eigentlich assoziiert sein sollten, schlagen bei einigen Betroffenen in Empfindungen des einsamen Arretiert- und Ausgeliefert-Seins um. Räume des Abschieds. – Wir begannen unseren Weg durch die Räume der Medizin im gebärmütterlichen Innen, und wir beschließen ihn mit jenen Orten, an denen die große Tour eines Lebens an ihr Ende kommt. Dafür hatte die Medizin lange Zeit keine eigens gestalteten Räume vorgesehen. Gestorben wurde zwar immer schon viel in den Kliniken und Sanatorien dieser Welt, aber Rainer Maria Rilkes Klage, dass es sich dabei meist um unpersönliche und wenig individuelle Tode handelte, war nicht von der Hand zu weisen. Oft wurden Sterbende in Krankenhäusern für ihre letzten Stunden in freie Einzelzimmer gescho406 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Über das mäßige Glück in medizinischen Räumen

ben, und wenn es diese Gelegenheit nicht gab, mussten bisweilen auch Besen- und andere Kammern als Sterbezimmer herhalten. Solche Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten merklich gebessert, und das Thema Tod und Sterben wurde in der Medizin (der westlichen Welt) aus den Winkeln von Verdrängung und Schulderleben auf die Flächen eines offeneren und wahrhaftigeren Diskurses verbracht. Ausdruck dieses veränderten Umgangs mit der lange Zeit an den Rand geschobenen SterbensThematik ist die Hospiz-Bewegung, die sich seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts (das erste Hospiz wurde 1967 in Sydenham bei London gegründet) in Europa verbreitet hat. Aufgabe eines Hospizes ist es, unheilbar Kranke in den letzten Tagen und Wochen ihres Lebens zu begleiten und Palliative Care (Sorge für Schmerzfreiheit und Lebensqualität) zu verwirklichen. Dies kann ambulant oder stationär erfolgen, wobei für den stationären Raum der Name Hospiz besonders treffend scheint: Hospiz leitet sich vom lateinischen hospitium ab und bedeutet übersetzt Herberge. Je nach personeller und sächlicher Ausstattung eines Hospizes ist die Möglichkeit eines würdevolleren und individuelleren Sterbeprozesses (verglichen mit den häufig unpersönlichen Sterbesituationen in Kliniken) gegeben. Dennoch bedeutet die Szenerie des endgültigen Abschieds für viele Menschen immenses Weh bis zum Erleben äußerster Sinnwidrigkeit, gegen die sie Sturm laufen. Am harten Faktum des Sterben-Müssens ändern jedoch auch Revolten und Affekte nichts – ein Faktum, das Leo Tolstoi in Die drei Tode (1858) 13 packend geschildert hat, indem er einen Baum (stumm), einen Bauern (ins Schicksal ergeben) und eine reiche Dame (heftiger Aufruhr gegen den Tod) sterben lässt – schlussendlich sind alle drei gleich tot. Welche Atmosphäre in den medizinischen Räumen des Abschieds (Hospiz) im Detail herrscht, hängt stark von den beteiligten Personen ab – von den Gästen dieser Herberge ebenso wie von den Herbergseltern. Manche vergleichen stationäre Hospiz-Räu13

Tolstoi, Leo: Die drei Tode (1858), in: ders., Der Schneesturm – Die drei Tode, Leipzig 1950.

407 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Gerhard Danzer

me mit dem Motiv von Arnold Böcklins Toteninsel (1880) – ein Bild, in welches der Künstler eigenen Angaben zufolge die Stille und den Schatten des Todes-Zustandes hineinverlegen wollte. Nicht wenige Sterbende empfinden angesichts ihres nahenden Endes Bangigkeit, Angst und Verlassenheit – Emotionen, die selbst von noch so einfühlsamen Angehörigen oder Mitarbeitern eines Hospizes nur partiell gemildert werden können. Es gibt jedoch auch Sterbende, die das Hospiz wie einen letzten intrauterinen Raum erleben, der ihnen wenn schon nicht Erlösung, so doch immerhin den Trost zwischenmenschlicher Zuwendung verheißt; oder wie eine allerletzte Bühne der Welt, auf der sich noch einmal Leben ereignet, bevor es zurückgeht in die nebligen Lande der Weltnacht. Literatur Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 1996. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a. M. 2007. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959. Buber, Martin: Ich und Du (1923), Heidelberg 1979. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Band II (1925), Darmstadt 1990. Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort – Vom Missbrauch des Begriffs Leben, Hamburg/Zürich 1991. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Reinbek bei Hamburg 1957. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2012. Mann, Thomas: Der Zauberberg (1924), Frankfurt a. M. 1991. Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse (1924), Gießen 2007. Tolstoi, Leo: Die drei Tode (1858), in: ders., Der Schneesturm – Die drei Tode, Leipzig 1950. Van der Leeuw, Gerardus: Phänomenologie der Religion (1933), Tübingen 1955.

408 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

Thilo Billmeier, geb. 1966, Studium der Philosophie in Freiburg/ Brsg. und Berlin (M.A.), lebt als Dozent und Publizist in Berlin. Publikationen zu ästhetischen und phänomenologischen Themen. Gerhard Danzer, geb. 1956, Arzt und Diplom-Psychologe, Promotion zum Dr. med. und Dr. phil., Habilitation für Psychosomatik und Anthropologie, Facharzt für Innere Medizin sowie für Psychosomatik und Psychotherapie. Professur für Psychosomatik und Anthropologie an der Charité (Stiftungsprofessur) sowie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB), Honorarprofessuren für Psychologie (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) und Philosophie (Universität Potsdam). Forschungsschwerpunkte: Anthropologie, Psychosomatik, Personale Medizin und Psychologie. Veröffentlichungen u. a.: Wer sind wir? (Heidelberg 2011); Personale Medizin (Bern 2013); Europa, deine Frauen (Heidelberg 2015). Anne Eusterschulte, geb. 1964, studierte bildende Kunst an der HbK Kassel, Germanistik und Philosophie an der Universität Kassel, promovierte 1995, Habilitation 2006 an der Freien Universität Berlin zum Begriff der ästhetischen Wahrheit. Seit 2007 Professorin für Geschichte der Philosophie an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Vormoderne (Rezeption der Antike, Mittelalter, Renaissance), Ästhetik, Sozialphilosophie und politische Philosophie der Gegenwart. Veröffentlichungen u. a.: Wahrheit und Gewißheit. Kulturgeschichte und Erkenntnistheorie bei Giambattista Vico, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 409 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

(hg. v. Ralf Konersmann u. a., Hamburg 2010/2); Turning Traditions Upside Down. Rethinking Giordano Bruno’s Enlightenment (hg. mit H. Hufnagel, Budapest 2013); Zur-Erscheinung-Kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozeß, Sonderband der ZÄK (hg. mit C. Newmark u. W.-M. Stock, Hamburg 2014/15). Uta Ewald, geb. 1975, Erstes Staatsexamen Geographie und Sportwissenschaft mit Auszeichnung, seit August 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Humangeographischen Institut der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Neue Phänomenologie und urbane Bewegungsräume. Veröffentlichung: Gefährdungen beim Hallenklettern – soziologisch betrachtet (Berlin 2013). Miriam Fischer-Geboers, geb. 1978, studierte Philosophie und Romanistik in Freiburg, Straßburg und Barcelona, promovierte 2009 und ist seit 2009 Assistentin am Philosophischen Seminar Basel. Sie arbeitet derzeit an ihrem Habilitationsprojekt mit dem Titel »Ethik der Sprache. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt im moralischen und außermoralischen Sinne«. Veröffentlichungen u. a.: Denken in Körpern. Grundlegung einer Philosophie des Tanzes (Freiburg 2010); Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen (hg. mit E. Alloa, Weilerswist 2012); Leben verstehen. Zur Verstrickheit zweier philosophischer Grundbegriffe (hg. mit Benno Wirz, Weilerswist i. E.). Tom Geboers, geb. 1977, studierte u. a. Philosophie und Forstwirtschaft in Leuven, Brüssel, Gent und promovierte 2010 in Freiburg. Zurzeit unterrichtet er an einer Schule in Südbaden und forscht zum Thema Räumlichkeit. Veröffentlichungen u. a.: Rückkehr zur Erde. Grundriss einer ›Ökologie der Geschichte‹ im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger (Würzburg 2012); Welt-Geschichte. Raum- und Zeiterfahrung als Grunderfahrung von Geschichtlichkeit, in: Creutz, D./Breyer, T. (Hg.), Erfahrung und Geschichte (Berlin 2010).

410 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

Michael Großheim, geb. 1962, Studium der Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft in Kiel, Promotion 1993, Habilitation 2000. 1993 Fakultätspreis für die Dissertation. 1995– 1997 DFG-Habilitationsstipendium. Lehrstuhlvertretungen in Freiburg und Rostock 2001–2006; seit 2006 Inhaber der Hermann Schmitz-Stiftungsprofessur für phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock. Forschungsgebiete: Phänomenologie, Anthropologie, Existenzphilosophie, Kulturphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement (Tübingen 2002); Zeithorizont. Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung (Freiburg/München 2012); Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion (Hg., Berlin 1994); Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie (Hg., Berlin 1995); Perspektiven der Lebensphilosophie (Hg., Bonn 1999); Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz (Hg., Freiburg/München 2008). Jürgen Hasse, geb. 1949, Studium der Geographie, Promotion 1978, Habilitation 1988, seit 1993 Univ.-Prof. am Institut für Humangeographie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Forschungsgebiete u. a.: Räumliche Vergesellschaftung, phänomenologische Stadtforschung, raumwissenschaftliche Ästhetik. Veröffentlichungen u. a.: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses (Bielefeld 2007); Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft (Bielefeld 2009); Atmosphären der Stadt (Berlin 2012); Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes (Freiburg/München 2014). Anja Kathrin Hild, geb. 1974, studierte in Frankfurt am Main Philosophie und Germanistik. Derzeit promoviert sie zum Zusammenhang von personaler Existenz, Narrativität und Affektivität bei Prof. Dr. Hilge Landweer an der Freien Universität Berlin. Yuho Hisayama, geb. 1982, studierte Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaft an der staatlichen Universität Kyoto 411 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

(Japan) sowie in Heidelberg und promovierte an der Technischen Universität Darmstadt mit der Dissertation Erfahrungen des ki. Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre. Zurzeit arbeitet er an seinem neuen Projekt zum Geist-Begriff bei Goethe. Seit Oktober 2013 ist er als festangestellter Lektor an der Universität Kôbe (Japan) tätig. Veröffentlichungen u. a.: Ästhetik des kehai. Zur transkulturellen Phänomenologie der Atmosphäre (Rostock: Universität Rostock 2011); Goethes Gewalt-Begriff im Kontext seiner Auffassung von Natur und Kunst, in: Goethe-Jahrbuch 129 (2012). Steffen Kammler, geb. 1977, Studium der Gräzistik und Philosophie in Rostock, Promotion 2012 im Fach Gräzistik bei Prof. Dr. Wolfgang Bernard und Prof. Dr. Michael Großheim (Dissertationsarbeit: Die Seele im Spiegel des Leibes. Zum Verhältnis von Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie). 2006–2008 Lehrbeauftragter in den Fächern Gräzistik und Philosophie in Rostock, 2006–2009 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Philosophie in Rostock. Veröffentlichungen u. a.: Rauchzeichen aus dem Labyrinth. Der ontologische Anspruch der Photographie (Rostock 2009); Ad fontes. Zu den Quellen des Phänomenologen (zusammen mit Steffen Kluck), in: Michael Großheim (Hg.), Neue Phänomenologie. Zwischen Praxis und Theorie (Freiburg 2008). Steffen Kluck, geb. 1980, Studium der Philosophie und Germanistik, Promotion in Philosophie 2012, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock mit den Schwerpunkten Phänomenologie und Kulturphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung (Freiburg/München 2008); Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung (Hg., Freiburg/München 2010); Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens (Hg., Freiburg/München 2012); Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt (Freiburg/München 2014). 412 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

Robert Josef Kozljanič, geb. 1966, studierte Philosophie, Psychologie, Ethnologie, Volkskunde und Germanistik an der LudwigMaximilians-Universität München. Promotion in Philosophie an der TU Darmstadt bei Prof. Dr. Gernot Böhme zum Thema »Der Geist eines Ortes – Kulturgeschichte des Genius Loci«. Robert Josef Kozljanič lebt und arbeitet als Dozent, Kursleiter, Autor und Verleger in München. Er ist Mitarbeiter am Pädagogischen Institut der Stadt München (Referat für Bildung und Sport). Forschungsschwerpunkte: Lebensphilosophie, Phänomenologie, Raumphilosophie, Tiefenökologie, Naturpädagogik, Ästhetik, Kulturgeschichte und Mythologie. Veröffentlichungen u. a.: Lebensphilosophie – Eine Einführung (Stuttgart 2004); Der Geist eines Ortes – Kulturgeschichte und Phänomenologie des Genius Loci, 2 Bände (München 2004). Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, Jahrbuch für Lebensphilosophie 5/2010–2011 (hg. mit J. Hasse). Corinna Lagemann, geb. 1978, Studium der Philosophie und Amerikanistik in Paderborn und Berlin. Derzeit promoviert sie zum Zusammenhang von Gefühlen und Zeit bei Prof. Dr. Hilge Landweer an der Freien Universität Berlin. Oliver Müller, geb. 1987. BA-Studium European Studies / Sozial- und Kulturanthropologie in Maastricht und Wien. Derzeit MA in Kulturanthropologie und Humangeographie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Angestrebte Masterarbeit zur leiblichen Wahrnehmung von Architektur. Annika Schlitte, geb. 1981, studierte Philosophie und Deutsch an der Ruhr-Universität Bochum. Dort promovierte sie 2010 in der Philosophie mit einer Arbeit über Die Grundlegung von Georg Simmels Symbolphilosophie in der Philosophie des Geldes. 2007– 2011 folgten Lehraufträge an der Ruhr-Universität Bochum sowie an der Bergischen Universität Wuppertal. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt, seit Juni 2013 Sprecherin des dortigen Graduiertenkollegs »Philosophie des Ortes«. Forschungsschwerpunk413 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

te: Kulturphilosophie, Phänomenologie und Hermeneutik. Veröffentlichungen u. a.: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur (München 2012); Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften (hg. mit Thomas Hünefeldt, Joost van Loon u. Daniel Romić, Bielefeld 2014). Hermann Schmitz, geb. 1928, 1955 Promotion an der Universität Bonn, 1958 Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Kiel, Habilitation 1958, 1971–1993 Ordentlicher Professor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel. Hermann Schmitz ist der Begründer der Neuen Phänomenologie, die er in seinem zehnbändigen System der Philosophie (Bonn 1964 ff.) entwickelt. Aktuellste Veröffentlichungen u. a.: Das Reich der Normen (Freiburg/München 2012); Phänomenologie der Zeit (Freiburg/ München 2014); Atmosphären (Freiburg/München 2014); Gibt es die Welt? (Freiburg/München 2014). Thorsten Streubel, geb. 1975, Promotion in Philosophie 2005 an der Universität Würzburg, Habilitation 2013 (Titel der Habilitationsschrift: »Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie«). Zunächst Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg, danach Lektor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Zuletzt bekleidete er im Wintersemester 2013/14 eine Gastprofessur an der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der Leib, ein merkwürdiges Ding. Zum Leib als Werkzeug und Vorstellung, in: Philosophisches Jahrbuch 1 (2014); Was ist der Mensch? Das Gehirn-Geist-Problem aus kantischer Sicht. Plädoyer für eine transzendentale Anthropologie, in: Kant-Studien 3 (2012); Anschauung als Fundament, Gegenstand und Rechtsquelle der Phänomenologie, in: Phänomenologische Forschungen (2008). Toru Tani, geb. 1954, wurde 1985 an der Keio Universität promoviert, 1986–1994 war er Dozent für Philosophie und Ethik am Kyushu Dental College, 1994–1996 Außerordentlicher Professor für Philosophie an der Josai University, Junior College for 414 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Zu den Autorinnen und Autoren

Women; 1996–2003 war er Außerordentlicher Professor für Philosopie an der Josai International University. Seit 2003 ist er Ordentlicher Professor für Philosophie an der Ritsumeikan Universität. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie und Gegenwartsphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Ishiki no shizen (Die Physis des Bewusstseins) (japanisch, Tokio 1998); Korega Genshogaku–da (Dies ist Phänomenologie) (japanisch, Tokio 2002); ›Klinische Philosophie‹ und das Zwischen, in: psycho-logik 1, Praxis und Methode, Positionen, (Freiburg/München 2006). Nina Trčka, geb. 1973, studierte in Freiburg, Zürich und Berlin Philosophie, Psychologie und Germanistik. Derzeit promoviert sie zur Intersubjektivität von Gefühlen und Stimmungen bei Prof. Dr. Hilge Landweer an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Philosophie der Emotionen, Theorien der Intersubjektivität, Sozialtheorie. Veröffentlichung: Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie (Berlin 2011).

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Danksagung

Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge in diesem Band sowie für die gute Zusammenarbeit. Desgleichen danken wir Herrn Lukas Trabert vom Alber Verlag für die freundliche Beratung und für die hochprofessionelle Betreuung dieser Publikation. Bei der Gesellschaft für Neue Phänomenologie bedanken wir uns für ihre großzügige Unterstützung bei der Drucklegung.

416 https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Abb. 1: Altes Hauptportal (Stammgebäude der Universität Frankfurt) aus dem Jahre 1906; Bild: Universitätsarchiv Frankfurt. https://doi.org/10.5771/9783495808382 .

Abb. 2: Neues Hauptportal; Bild: Universitätsarchiv Frankfurt.

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Abb. 3: Hörsaalzentrum; rechts im Hintergrund Gebäude (PEG) der Psychologie, Erziehungswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften mit „Wissenschaftsskulptur“; Bild: Jürgen Hasse.

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einladend, offen; Bruch mit den uniformen Altbauten (positiv erlebt) ... geordnet und imposant

Unterordnung des Menschen unter die Architektur

königlich, für Uni unangemessen/pompös)

wuchtig; machen mich klein, unbedeutend, anonym

wuchtig

Abb. 4: Weite- und Enge-Empfindungen im atmosphärischen Erleben des Hörsaalzentrums; Bild: Jürgen Hasse.

Enge-Empfindungen …

teilw. einschüchternd; Eingang dunkel und nicht einladend; dominant, umgreifend, wirkt fremd; Menschen klein wie Statisten; Gefühl klein zu sein; bedrohliche Größe, klotzig; ich schaue weg; Geb. ziehen Blick nicht an; monströs-monumental

Bauwerk allg. | harte Materialien | gr. Geschosse | Balkone | Befestigte Stühle | trotz aufgebr. Ecken

Weite-Empfindungen Hörsaalzentrum

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Einladend (Sitzmauern); Ruhe Gemütliche (Park-) Atmosphäre Ermüdung (zu groß)

Ruhe (Randbereich)

Etw. verloren (kein Sichtschutz); offen und übersichtlich. Wie Fußgängerz.

… unterstützt Bedrohlichkeit d. Gebäudes. Man fühlt sich wie Statist in »The Truman Show«; wacht über Studenten und schaut auf sie nieder; elitärer Charakter

Hektik; alles eher ungemütlich; lädt nicht zum Ver-weilen ein; Gefühl d. Zurschaustellung

komme mir klein nicht für Aufvor; etwas verloren enthalt gedacht; und exponiert; kalt u. eintönig laut u. hektisch

starres Gefühl (unwirklich.); nüchtern; Gefühl der Abgeschlossenheit; trügerisches Idyll (Erholung und Urlaub); unwirkliches, geschaffenes Umfeld; wirkt alles eher unnatürlich; mutig (Überwachung wäre nicht verwunderlich)

Wasserger.

entspannend, einladend zum Verweilen; Abgeschiedenheit/ Ruhe; ruhige/beruhigende Atmosphäre; Ruhe

Abb. 5: Weite- und Enge-Empfindungen im atmosphärischen Erleben des Campus insgesamt; Bild: Jürgen Hasse.

Enge-Empfindungen …

Nicht einladend; ungemütlich

Man fühlt sich fast verloren; Exponiertheit/Verlorenheit [wg. klotzigem HZ]; lädt nicht ein, in der Mitte zu stehen; lädt eher dazu ein, wegzugehen; Menschen wirken klein; laut. sauber und fast steril; riesig und irgendwie steril; wirkt sinnlos, lädt nicht zum Verweilen ein

Gefühl: unwillkommen

starres Gefühl (unwirklich); (trügerische) Ruhe u. Frieden. unauthentisch; unwirkliches, geschaffenes Umfeld; wirkt alles eher unnatürlich

Verloren Gefühl Einsamkeit unpersönlich, elitär

Platzchar. Offenheit Randber. Größe Weite Leere Transitz. Grünr. Verbots-Schilder Bänke etc. Kunstfigur Wegabzwg. Umgebg.

Atm. ruhig/ entspannt

Freih./Weitlfgk. (nicht verloren). sehr gepflegt

entspannend/beruhig.; ruhige/beruhigende Atmosph.; einladend z. Verweilen; ansprechend, naturnah; Bäume wirken beruhigend. vermind. Gef. beherrscht zu sein; unterbricht Sterilität d. Ortes. romantisch

Weite-Empfindungen Campus insgesamt

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Abb. 6: Gebäude der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften; Bild: Jürgen Hasse.

Abb. 7: Wordcloud zum atmosphärischen Campuserleben aus der gemeinsamen Situation von Studierenden aus dem Gebäude der Rechtsund Wirtschaftswissenschaften; Entwurf: Oliver Müller.

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Abb. 8: Wordcloud zum atmosphärischen Campuserleben aus der gemeinsamen Situation von Studierenden aus dem Gebäude der Psychologie, Erziehungswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften; Entwurf: Oliver Müller.

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