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German Pages 268 Year 2014
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Leben als Kunstwerk
Das Kapitel ›Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos‹ von Catherine M. Soussloff wurde dem folgenden Buch entnommen: Catherine M. Soussloff, The Absolute Artist. The Historiography of a Concept, Minneapolis/London (University of Minnesota Press) 1997, pp. 138-158, 189-193. Das Kapitel ›Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder‹ von Richard Dyer wurde dem folgenden Buch entnommen: Richard Dyer, Stars. Supplementary chapter by Paul McDonald, London (British Film Institute Publishing) 1998, pp. 60-85. Die beiden Texte wurden mit der freundlichen Genehmigung der Verlage University of Minnesota Press und Palgrave Macmillan für diesen Band von Anja Burghardt ins Deutsche übersetzt.
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Leben als Kunstwerk. Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna
Diese Publikation wurde gefördert durch: Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst der Universität Salzburg Stadt Salzburg
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Inhalt
Vorwort CHRISTOPHER F. LAFERL/ANJA TIPPNER 7 Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos CATHERINE M. SOUSSLOFF 29 Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein SUSANNE WINTER 59 „Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ – Ausgangspunkte einer Biographie über Thomas Bernhard MANFRED MITTERMAYER 85 Kunst und Leben – Joseph Beuys BARBARA LANGE 111 Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? CLAUDIA JESCHKE 129 Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? MELANIE UNSELD 147
Ethnizität und Biographie – Bemerkungen zu den Lebensentwürfen dreier afroamerikanischer Dichter: Langston Hughes, Nicolás Guillén, Aimé Césaire CHRISTOPHER F. LAFERL 165 Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder RICHARD DYER 195 Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie ANJA TIPPNER 221 Der Marilyn-Madonna-Komplex THOMAS MIESSGANG 245 Autorenbiographien 263
Vorwort CHRISTOPHER F. LAFERL/ANJA TIPPNER
Ohne gleich einen biographical turn postulieren zu wollen, lässt sich doch feststellen, dass die Kulturwissenschaften seit der Jahrtausendwende den Künstler und seine Biographie als Forschungsgegenstand wieder entdeckt haben. Brachte Roland Barthes in seinem 1 berühmten Text „Der Tod des Autors“ von 1968 die Auffassung zum Ausdruck, es sei das Recht des Werks, den Autor „umzubringen“, sprich seine Biographie auszulöschen, so ist heute eine Rückkehr der Konzepte „Autor“ und „Künstler“ zu beobachten. Mit der 2 Rückkehr des Künstlers in das Feld der Kunstbetrachtung ist auch eine Rückkehr der biographischen Reflexion verbunden. Betrachtet man die Entwicklung der Künstlerbiographik, so wird deutlich, dass sie von zwei Parametern geleitet wird, die sich gegenseitig beeinflussen und ihr textuell und kulturell Kontur geben: Zum einen sind es die kursierenden Künstlerbilder, wie sie sich in der individuellen künstlerischen Selbststilisierung und in kulturell vorgegebenen Künstlerrollen manifestieren, zum anderen sind es die Erzählmuster der Gattung Biographie. Mit künstlerischem Schaffen sind spezifische, gesellschaftlich vorgeprägte Erwartungsmuster und die Vorstellung eines konkreten Habitus verbunden, der durch Elemente wie Virtuosität, Extravaganz, Genialität und tief(er) gehende Weltsicht definiert wird. Künstlerschaft ist somit eine Fläche, auf die gesellschaftliche Vorstellungen projiziert werden: der Künstler als Heiler, als prophetischer Seher, als gesellschaftskritischer Außenseiter, als Medienaktivist oder glamouröser Star. Allen Wandlungen des Konzeptes „Künstlerschaft“ zum Trotz zeigt sich, dass Künstler eine exponierte Stellung in der Gesellschaft einnehmen,
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Barthes 1968, 491–496. Der Begriff „Künstler“ wird im Folgenden nicht nur für bildende Künstler verwendet, sondern im Sinne der schönen Künste auch für Musiker und Musikerinnen, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, aber auch performative Künstler wie Sänger und Sängerinnen, Schauspielerinnen oder Tänzer.
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Vorwort über die zentrale gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt werden. Neben den Künstlerbildern sind es die narrativen Möglichkeiten und Varianten, die im Mittelpunkt der Biographikdiskussion stehen. Dabei situiert sich das Genre der Künstlerbiographie zwischen Faktualität und Fiktionalität, zwischen Autobiographie, Künstler3 roman, biographie romancée und fiktionaler Metabiographie sowie wissenschaftlicher Biographie und Künstlervita, zwischen Evidenz und Rekonstruktion sowie Imagination und Literarisierung. Gleich welche Form oder welches Medium gewählt wird, allen ist gemeinsam, dass sie das Leben eines Künstlers oder einer Künstlerin erzählen wollen, indem sie ästhetische Produktion und Leben miteinander verschränken. Dies macht deutlich, wie sehr die Künstlerbiographie als Genre von den jeweils kursierenden Definitionen von Kunst, Werk sowie Künstlerbildern, aber auch von Narrativen der Auserwähltheit, der Exklusivität und der Berufung abhängt. Künstlernarrative integrieren textuell und ikonographisch Elemente der Heiligenvita und der Künstleranekdote, die als mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Vorstufen der biographischen Erzählung vom Künstler gelten können und dieser zugleich Motive und Themen vorgeben. So wird evident, dass die Künstlerbiographik seit ihren Anfängen in der Künstlervita Künstlerbilder im gleichen Maße formt, wie sie sich von ihnen geformt weiß. Wie wandelbar das Konzept Künstlerschaft ist, zeigt sich insbesondere in den intensiven Diskussionen zu diesem Thema seit den 1960er Jahren. Foucault hat darauf hingewiesen, dass in unserer Gesellschaft die Kunst zu etwas geworden ist, das nur mit den Objekten und nicht den Individuen oder mit dem Leben in Beziehung steht, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, betrieben von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind eine Lampe oder ein Haus Kunstobjekte und nicht unser Leben?4
Wenn hier vom Leben als Kunstwerk die Rede sein soll, dann nicht in jener expansiven Form, in der Foucault den Gedanken ins Spiel bringt, sondern durchaus mit Bezug auf Experten aus dem Bereich der Künste. Ausgangsbasis ist eine Vorstellung vom Leben als Kunstwerk, die im Leben wie im Werk ihr gleichberechtigtes Medium und Material künstlerischen Ausdrucks sieht. Künstlerschaft definiert sich zunächst und vor allem über die ästhetische Produktion. Sie ist es, die eine Person in den meisten 3 4
Zum Begriff der „fiktionalen Metabiographie“ vgl. Nünning 2000, 15–36. Foucault 1983, 473.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner Fällen erst „biographiewürdig“ macht. Die Grenze zwischen der Lebensgeschichte und der Lebenskunst ist in vielen Fällen jedoch nicht klar zu bestimmen. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Leben und Kunst bereits in die biographischen Projekte des 19. Jahrhunderts eingeschrieben ist. Hier firmiert sie unter der Formel „Leben und Werk“, wobei das Bedingungsverhältnis zumeist klar definiert ist, indem die Konstitution des künstlerischen Werks durch den Lebenslauf erklärt werden soll und das Leben nicht unbedingt den Status eines Kunstwerks erhalten muss. In diesem Zusammenhang gewinnt eine Vorstellung an Bedeutung, die – wiewohl sie in der klassischen Biographieforschung keine Rolle spielt – für die Künstlerbiographie seit dem 19. Jahrhundert zunehmend wichtig wird, das Konzept der Starqualität. Neben dem Werk sind es die Starqualitäten des biographierten Subjekts, die die narrative Grundlage von Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte seit dem 19. Jahrhundert bilden. Denn das Phänomen namens künstlerischer „Star“ existiert, darauf hat Knut Hickethier hingewiesen, bereits lange bevor es den Begriff und seine Theoretisierung gibt, und es ist keineswegs ausschließlich mit dem Kino verbunden. Die ersten „Stars“ sind seiner Meinung nach vielmehr dem Theater zuzuordnen, denn schon hier findet sich jene charakteristische Faszination durch eine Person und ihr Auftreten, die 5 medial und institutionell gebunden ist. Mit dem Begriff der Starqualität verbinden sich eher lebensgeschichtliche, persönliche Eigenschaften der Künstlerpersönlichkeit und weniger mit dem Werk verbundene Qualitäten. Dies ist ein Indiz dafür, dass nun über den Bereich der klassischen Biographie hinaus zunehmend die Persönlichkeit eines Künstlers in den Blick der Öffentlichkeit gerät. Starqualitäten, das hat Richard Dyer herausgearbeitet, sind das Ergebnis einer Verschränkung von öffentlichem und privatem Leben. Mit der Vervielfältigung der medialen Präsentationsformen geht es im 20. Jahrhundert immer deutlicher darum, zwischen künstlerischer Produktion und Privatleben Kohärenz zu erzeugen.6 Die Fixiertheit der populären Kultur auf das Phänomen „Star“ gleich welcher Kunstrichtung wirkt auch auf das Genre der (Künstler)Biographie 7 zurück.
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Hickethier 1997, 30–31. Vgl. Dyer 1979, 14. Er verweist darauf, dass es auch darum geht, diese an Markt- und Verkaufsvorgaben anzupassen. Löwenthal hat gezeigt, dass die populäre Biographik das Prinzip Starqualitäten nun auch auf historische Persönlichkeiten zu übertragen beginnt und in deren Biographien wirksam werden lässt. Löwenthal 1955, 231–258.
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Vorwort Das Verlangen, auch das Leben als Kunstwerk begreifen zu wollen, führte freilich zu einer Ausbildung einer dritten Sphäre neben dem Kunstwerk und dem Leben, nämlich dem des für eine größere Öffentlichkeit inszenierten Lebens, das nicht als das ganze Leben gelten kann. Stephen Greenblatt hat in seiner Studie über „selffashioning“ englischer Schriftsteller darauf hingewiesen, dass diese Stilisierung des eigenen Lebenslaufs in der Renaissance das erste Mal in Erscheinung trat und dass die Erwartungen des Lesepublikums an die Biographie eines Dichters oder eines Künstlers, so könnte man ergänzen, noch nicht „strukturiert“ waren.8 Die Abstimmung von Leben und Werk gewinnt erst mit der Romantik ihre volle Bedeutung. Nun tritt durch die Inszenierung des Lebens eine performative Kunstform zum eigentlichen Werk hinzu, die – wenn man vom Fall der per definitionem performativen Künste, wie dem Schauspiel und der Musikaufführung absieht – einen anderen künstlerischen Ausdruck zum Inhalt haben als das „ursprüngliche“ Betätigungsfeld, wie die Malerei, die Literatur, die Architektur oder kompositorisches Musikschaffen. Diese komplementäre performative Kunstform, die Inszenierung des Lebens, wird vielfach so dargestellt, als ob es sich dabei um das ganze Leben der Künstler handeln würde. Das wirklich Private bleibt hingegen meist ausgespart, und zwar aus zwei Gründen: Es ist entweder zu banal, weil es den Künstler nicht über das Leben „Normalsterblicher“ hinaushebt, oder weil der Beschäftigung mit ihm ein Voyeurismus anhaftet, den ernsthafte Biographik vermeiden will. Der Grat zwischen biographischer Kolportage und biographischer Recherche ist schmal. Das inszenierte Leben ermöglicht allerdings in manchen Fällen, zumindest auf den ersten Blick, eine Antwort auf die Frage, wie das Leben mit dem Werk verbunden werden kann, werden doch hier wie da vielfach gleiche künstlerische wie ideologische Anliegen zum Ausdruck gebracht. Deutlich tritt uns dieses inszenierte Leben, das mit dem Werk eng korreliert bei Jean Cocteau, Joseph Beuys, aber auch bei Thomas Bernhard entgegen, sodass mannigfache Bezüge, wenn nicht Spiegelungen ausgemacht werden können. Über das eigentlich Private erfährt man durch das inszenierte Leben dennoch wenig. Das Verhältnis von Privatheit und zur Schau gestellter beziehungsweise inszenierter Privatheit wird in Folge immer mehr auch zu einem Problem der Biographik, vor allem weil es als genuine Funktion der Gattung Biographie betrachtet wird, „hinter“ das öffentliche Bild zu blicken und die mediale persona, die Schriftstel9 ler, Maler oder Musiker kreieren, kritisch zu hinterfragen. Immer 8 9
Greenblatt 1980, 1–9. Dies gilt in besonderem Maße für wissenschaftliche Biographien und in geringerem für literarische. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner mehr erweist sich heute eine Differenz als prägend, die der russische Formalist Boris Tomaševskij beschrieben hat: Es gibt Künstler „mit Biographie“ und Künstler „ohne Biographie“.10 Bestimmte Kunstrichtungen erfordern geradezu zwingend die Schaffung einer biographischen Legende. So lässt sich heute insbesondere auch kommerzieller Erfolg auf dem Kunstmarkt meist dann erzielen, wenn neben oder hinter der künstlerischen Produktion auch eine 11 Mit entsprechend vermarktbare Künstlerpersönlichkeit steht. Künstlerschaft ist ein gewisser Habitus verbunden, der eine Trennung von öffentlichem und privatem Selbst nicht erlaubt, und sich aus bestimmten Bausteinen zusammensetzt, die von Epoche zu Epoche und Kunstsparte zu Kunstsparte leicht variieren können, im Hinblick auf grundlegende Elemente wie frühes Talent, Außergewöhnlichkeit und Überlegenheit der Persönlichkeit gegenüber an12 deren Menschen aber auch Virtuosität erstaunlich konstant sind. Betrachtet man mit Bourdieu das „stofflich und körperlich vorgegebene Erbe“ kulturellen Verhaltens als Habitus, so wird durch die Verwendung des Begriffs „Erbe“ evident, dass solche künstlerischen Verhaltensformen über eine gewisse Stabilität verfügen, die sie er13 lern- und vermittelbar macht. Ähnlich kritisch hat sich bereits Löwenthal geäußert: Er bezeichnet den „Hymnus des Individuellen“, den insbesondere die Künstlerbiographik in der Zuwendung zum einzelnen Künstler singt, als „scheinhaft“, weil er sich in der Zusammenschau biographischer Darstellungen von Künstlerlebensläufen auflöst und sichtbar wird, wie gerade jene Eigenschaften, die den Künstler aus der Masse herausheben, die seine Starqualitäten ausmachen, auch für die Künstlerbiographie „Persönlichkeit [zum]
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mit Biographik ist das Thema der Inszenierung und des Blicks hinter (auto)biographische Konstruktionen ein vielfach formuliertes Desiderat vgl. u. a. Bödeker 2003, 9–63. Bödeker weist darauf hin, dass „biographische Forschung [...] der Frage nachgehen muss, wie derartige Selbstentwürfe [in autobiographischen Zeugnissen] in Handlungen eingehen, in ihnen korrigiert werden bzw. korrigiert werden müssen“ und darauf, dass der „Biograph weder den Selbstbeschreibungen, noch den Zuschreibungen, noch den Verarbeitungen des biographischen Sujets durch spätere Generationen“ trauen dürfe; Bödeker 2003, 28 und 37. Auch Christian Klein weist darauf hin, dass die biographische Forschung gerade erst beginne, sich Rechnung über die „Bedeutung von Fragen der Inszenierung“ abzulegen; vgl. Klein 2002, 77. Tomaševskij 1923, 49–61. Dies ist eine Tendenz, die in das frühe 19. Jahrhundert zurückreicht, wie Oskar Bätschmann in seinem Buch über „Ausstellungskünstler“ beschrieben hat. Bätschmann 1997. Kris/Kurz 1995, 123–124, 131. Bourdieu 1999, 428.
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Massenartikel“ werden lassen. Nicht zuletzt, darauf haben Ernst Kris und Otto Kurz nachdrücklich hingewiesen, ist es das Genre der Künstlerbiographie, das Künstlerbilder etabliert und einen bestimmten Habitus fortschreibt, dass hinter der formelhaften Anekdote nicht immer das echte Erleben steht, sondern häufig eine Stilisierung, die auf vorgängige Künstlerbiographien rekurriert. Wenn man aber von einer programmatischen Kunst einmal absieht, dann lässt sich zwischen dem inszenierten Leben und dem Werk also genauso wenig oder genauso selten eine schlüssige Verbindung herstellen wie zwischen dem privaten Leben und dem Werk. Vielleicht darf man aber auf diese Frage ohnedies keine Antwort auf einem hohen Abstraktionsniveau erwarten, da es einfach 15 viele verschiedene Künstler- und Autorenkonzeptionen gibt, die ohnedies nicht auf einen einzigen vernünftigen und Erkenntnis fördernden Nenner gebracht werden können. Die Frage, was ein Autor mit seinem Text oder ein Künstler mit seinem Werk zu tun hat, interessiert – trotz oder wegen dieser Einsicht – nach wie vor. Die dem hohen Abstraktionsgrad der Annäherung geschuldeten Aporien haben aber vielfach dazu geführt oder verführt, sich wieder dem Konkreten zuzuwenden, den einzelnen Autoren und Künstlern, was ohne Zweifel aus Gründen, die schon nachhaltig beschrieben und analysiert wurden,16 fesseln mag. Der Blick auf die Biographien von Vertretern verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen, wie er in dem vorliegenden Band versucht wird, macht auf paradigmatische Weise für das 20. Jahrhundert sichtbar, welche Künstlerkonzepte gelebt und als solche vom Publikum auch verstanden werden konnten und bei welchen, wie z. B. bei weiblichem kompositorischem Schaffen, es an Modellen und Akzeptanz mangelte.17 In manchen der vorliegenden Beiträge wird die Ebene der konkreten Analyse einzelner Künstler aber verlassen, um auf ein mittleres Abstraktionsniveau – v. a. in Bezug auf die Rollen von Gender und Ethnizität – zu gelangen, ohne gleich verbindliche Schlüsse für die Künstlerbiographik schlechthin formulieren zu wollen, die nur unrichtig oder banal sein können.
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Löwenthal 1955, 245. Vgl. Alt 2002, 26–27. Vgl. Le Goff 1998, 103–104. Trotz der auffällig konstanten und für das Genre spezifischen Eigenheiten der Künstlerbiographie, die hier und im folgenden diskutiert werden, setzen sich neuere Publikationen zur Theorie der Biographie nicht mit der Künstlerbiographie als eigenem Subgenre auseinander, sondern verhandeln sie stattdessen unter anderem. Vgl. Klein (Hg.) 2009 oder Fetz (Hg.) 2009.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner Trotz dieser Einschränkungen scheint aber wenigstens ein allgemeiner Schluss hinsichtlich der Verbindung von Leben und Werk doch möglich: Die Zeit, die der Künstler mit dem Schaffen eines Werks verbringt, ist auch seine Lebenszeit. Vielfach wird aber gerade die Zeit, die mit der Niederschrift eines Textes, dem Malen eines Gemäldes, der Komposition einer Sonate oder dem Entwerfen eines Gebäudes verbracht wird, als aus dem Leben ausgeblendet empfunden. Fast scheint es, als ob die Arbeit am Werk ein bewusstes Erleben der Zeit ausschließt. Für die Biographik ist diese Zeit, die während des kreativen Prozesses vergeht und das Leben des Künstlers direkt mit seinem Werk verbindet, allerdings vielfach schwer zu haben und noch schwerer darzustellen, da oft nur wenige Aussagen der Künstler wegen der oben genannten Gründe vorhanden sind und sie sich vielfach in einem numinosen Nebel verliert. Während manche künstlerischen Prozesse, insbesondere jene, die einen performativen Charakter haben, wie das Schauspiel oder Rockmusik, durchaus abbildbar sind, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, etwa in einem biopic, lassen sich das kreative Moment des Schrei18 bens oder Komponierens nur schwer einfangen und beschreiben. Die Rede über den Schaffensprozess durch den Künstler selbst oder durch Beobachter, die meist unter den Vorzeichen der Unsagbarkeit steht, ist ihrerseits bereits wieder weniger Teil des Lebens selbst als des inszenierten Lebens vor einem Publikum. Das schließt die Zurschaustellung des Künstlers im kreativen Prozess freilich keineswegs aus, sondern inkludiert sie vielmehr. Wenn wir nun die drei Arten von Zeit, die das Leben des Künstlers ausmachen, nämlich die Arbeit am Werk, die Inszenierung dieser Arbeit und damit verbunden des Lebens und schließlich das (verbleibende private) Leben, zusammenrechnen, dann ergibt sich daraus die Lebenszeit des Künstlers. In der Biographik verselbständigt sicher aber gerade der mittlere Bereich, die Zeit, die für die Inszenierung des künstlerischen Schaffens wie des damit verbundenen Lebens des Künstlers benötigt wird. Sie ist es, die vornehmlich nach außen vermittelt wird. Gerade aber wenn man die Zeit, die den Künstlern für den kreativen Prozess zugebilligt wird, näher betrachtet, werden wieder kulturelle Unterschiede hinsichtlich der identitären Kategorien Gender und Ethnizität sichtbar, wurden doch Frauen weit weniger als Männern eigene Räume des Schreibens, Komponierens, Malens und Entwerfens zugebilligt – hier sei nur an das eigene Zimmer, das sich Virginia Woolf erobern muss, erinnert. Das gleiche gilt, v. a. für die 18 Zu diesem Thema als Problem von Schriftsteller-Biopics vgl. Murphy 2002. Mit der Problematik der Verfilmung von Kreativität setzen sich auch Felix (Hg.) 2000 und Albert 1993 auseinander.
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Vorwort intellektuelle Tätigkeit des Schreibens, auch für Angehörige von Minderheiten, wie die afro-amerikanische Diaspora. Andererseits wird aber gerade diesen Gruppen eine naive Begabung für volksnahe Musik oder Kunst, die sich unter widrigen Umständen besonders gut entwickle, zugeschrieben. Deutlich wird dadurch wieder, wie sehr die Inszenierung des Künstlers von kulturellen Faktoren abhängt, die in der Künstlerbiographik zum Ausdruck kommen, die ihrerseits wieder das Selbstverständnis der Künstler beeinflusst.19 Die Räume und Freiräume und die Schaffenszeit, die Künstlern zugebilligt werden, hängen nun eng mit seiner Stellung in der Gesellschaft zusammen, die sich über die Jahrhunderte stark geändert hat. Fassen wir heute Autoren literarischer Texte, Bildhauer, Architekten, Sänger, Schauspieler und Komponisten unter dem Begriff Künstler zusammen, so gibt es einen derart weit gefassten 20 Überbegriff vor dem 19. Jahrhundert kaum. Bereits in der Antike, das ganze Mittelalter hindurch, aber auch noch in der Frühen Neuzeit hatten Schriftsteller eine ganz andere soziale Position als Bildhauer, Maler oder Musiker, da das Verfassen von Texten nicht als manuelle Kunstfertigkeit, sondern als eines freien Mannes würdige intellektuelle Tätigkeit gesehen wurde.21 Vielfach war das Verfassen von Texten sogar mit hohen Positionen in Staat und Gesellschaft verbunden. Biographien von hochgestellten Persönlichkeiten gibt es 22 nun bereits in der Antike und natürlich auch im Mittelalter. Das frühe Mittelalter mag in dieser Hinsicht eine Zäsur darstellen, aber bereits im Hochmittelalter und noch mehr im Spätmittelalter gibt es in Mittel-, West- und Südeuropa nicht wenige hohe Adelige, die sich auch schreibend einen Namen machten und nicht zuletzt deshalb als biographiewürdig erachtet wurden. Wenn uns im Zusammenhang mit dem Künstlerbegriff im Bereich des Verfassens von Texten v. a. Autoren literarischer Werke im engeren Sinne, also belletristische Texte, interessieren, so kann bis ins späte 18. Jahrhundert nur schwer zwischen Verfassern pragmatischer und literarischer Texte in Prosa unterschieden werden, da – wie ja die Biographien und das Schaffen Petrarcas, Voltaires oder Goethes deutlich belegen – der Großteil dieser Autoren sich eben in beiden Bereichen, der literarischen wie der pragmatischen écriture, hervortaten. Wenn es also im Bereich des Schreibens bis ins 19. Jahrhundert schwer ist, 19 20 21 22
Vgl. dazu Kris’ Konzept der „gelebten Vita“ in Kris 1977, 73. Vgl. Hauser 1983, 562, 716–717. Vgl. Binding 1996, 160–177. In den Biographien Plutarchs mag das Verfassen von Texten hinter der aktiven Politik an Bedeutung zurücktreten, dennoch wird immer wieder die Schreibtätigkeit der von ihm beschriebenen Männer, so z. B. bei Cicero, hervorgehoben; vgl. Plutarch 1991, 546–547.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner zwischen Autoren pragmatischer und literarischer Texte zu unterscheiden (auch wenn die Trennung zwischen Dichtung und pragmatischer Prosa eine wichtige Rolle spielte), und daher nur schwer von einer Schriftstellerbiographie gesprochen werden kann, die – modern gesprochen – von einer Gelehrten-, Politiker- oder Soldatenbiographie unterschieden werden könnte, so ist diese Verquickung ihrerseits nur die Folge eines adeligen und auch frühbürgerlichen Standesverständnisses, das eben aus einer Verbindung von politisch-militärisch-diplomatischer Aktivität und einem zur Schau getragenem Interesse an Bildung und Schrift besteht.23 Diese Verbindung hat nun aber zur Folge, dass in der Biographik von Angehörigen gehobener Gesellschaftsschichten das Verfassen von Texten nicht selten eine bedeutende Rolle spielt, weshalb selbst die Biographie eines Königs, wie Alfons X. des Weisen von Kastilien,24 oder ei25 nes Gelehrten wie Petrarcas auch immer zu einem gewissen Grad eine Schriftstellerbiographie ist; bei Petrarca ist sie dies sogar vornehmlich. Im frühen und hohen Mittelalter mag adeliges Selbstverständnis noch nicht an Schrift geknüpft gewesen sein, aber auch in dieser Zeit gibt es nicht wenige Biographien von Menschen, die auch geschrieben haben, da Schriftlichkeit fast ausschließlich an den Klerikerstand gebunden war, diesem viele Heilige entstammten und deren Biographien wiederum in der Form der Legende und der Vita zu den frühesten Formen der Biographik gehören. Auch wenn die literarisch-schriftstellerische Tätigkeit vieler Heiliger nicht im Zentrum ihrer Viten steht, so wird sie doch bei jenen Heiligen erwähnt, die Texte verfasst haben.26 In diesem Zusammenhang sei nur an die großen Heiligen von der Spätantike bis ins hohe Mittelalter, wie Augustinus, Hieronymus oder Thomas von Aquin erinnert.27
23 S. dazu nach wie vor trotz aller Vorbehalte Brunner 1949, v. a. 61–138. 24 Zur Frage der Urheberschaft jener Werke, die in der Regel Alfons X. von Kastilien zugeschrieben werden, s. u. a. Mettmann 1986. 25 In Boccaccios Petrarca-Biographie (Boccaccio 2004, 72) wird sofort nach der Nennung des Namens Petrarcas in der ersten Zeile die „Berufsbezeichung“ poeta genannt, was doch deutlich macht, dass das Dichten im engeren Wortsinn doch einen ganz anderen Status hatte als das Verfassen von Prosatexten und dass diese Biographie nun wirklich mehr Dichter- als Gelehrtenbiographie sein will. Vgl. auch Bartuschat 2007, 31–44. 26 Iacobus de Voragine betont in seiner Legenda aurea (Voragine1963, 700) z. B. dass Augustinus so viel geschrieben hätte, dass wahrscheinlich gar niemand die Zeit finden könne, alles von ihm zu lesen. 27 Der erste Biograph des Augustinus, Possidius von Calama, betont z. B., dass dem späteren Heiligen die Redaktion seiner Bücher auch noch im Sterbebett ein Anliegen gewesen sei, vgl. Richter 1984, 53; auch für Hieronymus sind zahlreich Kommentare zu seiner eigenen schriftstellerischen
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Vorwort Interessanter Weise finden wir in der frühen Biographik gerade über die Heiligenvita auch einige schreibende Frauen.28 Als erstes nachantikes Beispiel, in dem tatsächlich die schriftstellerische, um nicht zu sagen die dichterische Tätigkeit im Mittelpunkt der Biographie steht, dürfen Boccaccios Lebensbeschreibungen von Dante und Petrarca (um 1350) gelten.29 Ganz anders ist es um die Biographiewürdigkeit in Kunst und Musik bestellt. Für die Antike, die etliche bildende Künstler na30 mentlich kennt, gibt es kaum eine biographische Tradition, was hauptsächlich daran liegt, dass die Tätigkeit der bildenden Künstler als ein Handwerk gesehen wurde, eine manuelle Tätigkeit auf Auftrag und gegen Bezahlung. Das Genre der Künstlerbiographie im 31 engeren Sinne entsteht erst im Italien der Renaissance, als sich auch bildende Künstler einen neuen Status erwerben und nun auch ihr Tun und Bilden als Ausdruck eines kreativen Geistes, ei32 nes Genies gesehen werden. Hier sei nur an die Lebensbeschreibung Brunelleschis von Antonio Manetti (um 1480) oder Giorgio Vasaris Vite (1550, 1568) erinnert.33 Im Bereich der Musik setzt eine durchgehende biographische Tradition erst mit einer Verspätung von rund 150 Jahren ein, als im 18. Jahrhundert zunächst Sam34 melbiographien in Musiklexika erschienen. Als erste einem einzigen Musiker gewidmete Biographie gilt jene Georg Friedrich Händels 35 von John Mainwaring aus dem Jahr 1760. Wie Arnold Hauser deutlich gemacht hat, können sich im Laufe der Frühen Neuzeit nicht nur die bildenden Künstler und Musiker aus der Gruppe der Kunsthandwerker befreien, am Ende dieser Epoche ist auf der anderen Seite auch der Schriftsteller kein adeliger Amateur und kein Kleriker mehr, sondern ein Berufsautor, und dieser möchte gerade in der Romantik sein Schaffen nicht mehr in den Dienst der Politik 36 oder der Kirche stellen, sondern ein freier Künstler sein. Das
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Tätigkeit oder jener von Zeitgenossen überliefert, vgl. Ollivier 1965, 100– 105, 112–113. So z. B. wird das Schreiben auch in der Vita der Hildegard von Bingen thematisiert; vgl. Feldmann 1995, 92, 249. Soussloff 1997, 43–44. Hier wären u. a. Duris von Samos und später die Bücher 33–35 der Naturgeschichte des Plinius d. Ä. zu nennen; vgl. Hellwig 2009, 349, Soussloff 1997, 148 und Kris/Kurz 1995, 38–43. Vgl. auch Gschwantler 1975. Vgl. Soussloff 1997, 19–27 und Kris 1977, 53–54, 68–69. Vgl. Hauser 1983, 344–348. Vgl. Soussloff 1997, 20, 74. Vgl. Busch-Salmen 2001, 13–18. Rösing/Baber-Kersovan 1998, 482–483. Hauser 1983, 717.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner heißt, dass seit der Renaissance die Frage der Kreativität zunehmend im Hinblick auf den Aspekt der künstlerischen Subjektivität und der speziellen Begabung diskutiert wird. In der Romantik treffen sich Wort-, Bild- und Tonkünstler endgültig in der Vorstellung des Genies, das nachgerade zum Persönlichkeitsideal wird und die Voraussetzungslosigkeit des künstlerischen Schaffens gleich welcher Art zentral setzt. Wenn also die Künstlerbiographik durch diese Säkularisierung von Inspiration und Kreativität mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts voll ausgebildet war, so wuchsen dem durch sie vermittelten Künstlerbild in der Romantik jene Konnotationen zu, die bis heute unsere Vorstellungen vom Künstler prägen, nämlich neben seinem kreativen Talent die besondere Sensibilität und Sehergabe, die sich sowohl in seinem Werk als auch in seinem Leben niederschlagen würden. Konnte bis ins 18. Jahrhundert das künstlerische Talent noch als besondere, allerdings auch zur Schulung verpflichtete Gabe gesehen werden, die nicht das ganze Sein des Künstlers bestimmte, so setzt sich im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert die Vorstellung vom ganzen Künstler durch, von besonderen Menschen, die wegen ihres Genies durch und durch Künstler sind, weshalb auch ihr Leben von der Aufgabe, wenn nicht der Sendung, 37 künstlerisch zu wirken, durchdrungen ist. In dieser Auffassung hat aber noch deutlich das Kunstwerk – und nicht das Leben – die zentrale Stellung inne; das Leben (des Künstlergenies), das noch nicht selbst Kunstwerk ist, dient dem Werk. Zudem setzt sich mit der Romantik immer mehr die Auffassung durch, dass der Künstler und sein Werk untrennbar miteinander verbunden seien, dass das romantische Leben die romantische Kunst präfiguriere. Als Emblem dieses Künstlermythos können romantische Dichter wie Byron, Keats, Bécquer, Larra, Lermontov oder Puškin und deren literarische Selbststilisierung in Tagebüchern, autobiographischen Texten, aber auch im öffentlichen Auftritt gelten. Paul de Man hat in seinen Überlegungen zur Autobiographie nachdrücklich darauf hingewiesen, dass dem nicht so sein muss, dass keineswegs immer das Leben den Text vorschreibt, sondern umgekehrt auch der Text als Drehbuch des Lebens fungieren kann.38 Als Beispiel können hier gleichfalls die Romantiker dienen, denn das Leben (und auch Sterben) von Autoren wie Byron oder Keats wirkte durch die Literatur in die Lebenswelt hinein stilbildend, so dass sich ein Kreislauf von Stilisierungen ergibt, in dem Text in Leben und Leben in Text überführt wird. Die Biographik erweist sich hier im Bereich der Literatur 37 Zum Geniegedanken s. u. a. Hauser 1983, 347–352, 635–636 und Schneider 2002, 72 (im Kapitel über Schelling), Schmidt (Hg.) 2004. 38 DeMan 1993, 132–133.
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Vorwort häufig konservativer als ihr Gegenstand, der in Gestalt der romantischen Ironie selbst einen kritischen Blick auf diese Maskierungen 39 und Stilisierungen des Ichs entwickelt hat. War die Biographie im 19. Jahrhundert noch die privilegierte Textsorte, um den Nexus von Kunst und Leben zum Ausdruck zu bringen, so beginnt mit dem Auftreten der Bohème in Frankreich eine neue Ära, die sich unter dem Begriff „Lebenskunst“ fassen lässt. Neben dem Werk wird nun der Lebensstil immer bedeutsamer für die Selbstrepräsentation als Künstler und lässt das Künstlerleben so auch literarisch werden, etwa in den Texten Balzacs oder Baudelaires. Anders als in den frühen Künstlerromanen und –novellen zentriert nicht so sehr der Begriff des Genies diese Darstellung von Künstlerschaft, sondern ein emphatisch verstandenes Leben. Hier zeigt sich einmal mehr die Wechselwirkung von Text und Leben, denn die Literatur trägt entscheidend zur Etablierung und Festigung eines von der Bohème geprägten Künstlerhabitus bei.40 Spätestens in den klassischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wird diese neue „Lebenskunst“ nicht nur praktiziert, sondern auch theoretisch reflektiert und zum Programm ausgearbeitet. Aus dieser neuen Perspektive wird das Leben verstärkt unter ästhetischen Kategorien wahrgenommen und nicht mehr nur als Substrat der Kunst oder deren Voraussetzung betrachtet, nun können auch einzelne Aspekte der Lebensführung und Selbstinszenierung wie auch das Leben selbst als Kunstwerk gesehen werden. Spätestens mit den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts stellt sich also die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Kunst neu und verdichtet sich im Begriff der „Lebenskunst“. Exemplarisch seien hier die Überlegungen des formalistischen Literaturtheoretikers Boris Ėjchenbaum angeführt, der in einem Aufsatz zum Thema „literarisches Leben“ konstatiert: „Die Frage „Wie soll man schreiben?“ ist durch eine andere abgelöst oder zumindest kompliziert worden – durch die Frage: „Wie soll man Schriftsteller sein?“.“41 Diese Feststellung lässt sich auch auf andere Künste übertragen und man könnte gleichermaßen formulieren: „Wie soll man Komponist sein?“ oder wie „Wie soll man Malerin sein?“. Die Verschmelzung von Kunsttext und Lebenstext42 ist Teil des avantgardistischen Projektes und produziert neue Gattungen und künstlerische Aktionsformen ebenso wie das, was Boris Tomaševskij die „biographische 39 40 41 42
Darauf weist Boym 1991, 17 hin. Bourdieu 1999, 96. Ejchenbaum 1929, 466. Vgl. Ingold 1981, 37–61; Bürger 1974, 67. Hier formuliert Bürger die Überzeugung, dass es ein zentrales Projekt der Avantgarde sei, Kunst und Leben zur Deckung zu bringen.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner 43
Legende“ eines Künstlers nennt. Diese neue Sicht auf das Verhältnis von Leben und Kunst bedingt darüber hinaus aber auch eine neue Perspektive auf die Künstlerbiographie. Das Projekt zur Umgestaltung der künstlerischen Praxis ebenso wie der zwischenmenschlichen Beziehung tritt nun gleichberechtigt neben die grundlegenden ästhetischen Projekte und Werke. Wie Peter Bürger schreibt, definiert sich seit der Avantgarde das Verhältnis von Kunst und Leben neu, weil die Kunst nun den Anspruch erhebt, „unmittelbar an der Gestaltung der individuellen Lebenspraxis mitzuwirken“.44 Die Tatsache, dass auch das Leben des Künstlers zum Kunstwerk werden kann, ist ein weiteres Symptom in der Krise des Kunstwerks, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet. Nun erscheint als Werk nicht mehr nur das, was in gegenständlicher Form, sei es als Bild, Text oder Notenschrift vorliegt, sondern auch als Kategorie die jenseits materieller Fixierungen existiert und sich zeitlich begrenzt manifestieren kann. Mit der „Werklosigkeit“45 steht nicht mehr die ganze Künstlerexistenz in Frage. Was sich jedoch verändert, ist das Verhältnis von Leben und Werk und damit auch die biographische Repräsentation. Zunehmend wird deshalb auch der Mythos, das Bild, das der Künstler von sich schafft, als Teil des Werks aufgefasst. Gerade im Kontext der Künstlerbiographie spielt das „Werk“ eine zentrale Rolle, insbesondere in Form des „Lebenswerks“, das es biographisch genauso zu erfassen gilt wie das Leben an sich. Dabei verselbständigt sich zunehmend die Bedeutung, die der Künstlerschaft an sich zugewiesen wird. Ausdrucksformen dieser Verselbständigung ist die Entstehung des Typus eines Künstlers ohne (bleibendes) Werk ebenso wie die des Künstlers mit einer Vielzahl von Arbeiten, die sich jedoch nicht zu einem Gesamtwerk zusammenfügen, sondern deren Werkcharakter sich erst durch die Person des Autors oder Regisseurs herstellt. Dies führt nicht nur zu neuen nicht mehr am autonomen Werk ausgerichteten Konzepten von Kunst, sondern auch zu einem veränderten Künstlerbild wie auch zu einer stärkeren Inszenierung der Kunst wie des Künstlers. Als determinierende Faktoren von Autor- und Künstlerschaft werden nun vor allem auch Kategorien wie Geschlecht und Ethnizität erkannt. Galt bis in die 46 Gegenwart hinein „Virilität als Leitmotiv wahren Künstlertums“, entwickeln sich mit der Moderne auch Modelle weiblicher Kreativität, die darauf abzielen, Frauen in der Kunst nicht mehr als singuläre Erscheinungen zu betrachten. Gerade Schriftstellerinnen, 43 44 45 46
Tomaševskij 1923, 49–61. Bürger 1971, 107. Vgl. Pontzen 2000. Krieger 2007, 138.
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Vorwort Künstlerinnen oder Musikerinnen haben für ihre Kunstproduktion auf autobiographisches Material und weibliche Erfahrungswelten zurückgegriffen und damit das Spektrum der Themen, Motive aber auch Medien und Ausdrucksmodi erweitert. Spätestens seit der klassischen Avantgarde lässt sich konkurrierend zum Begriff der l’art pour l’art auch ein Kunstbegriff erkennen, der Texte, Bilder, Performances mit einer gesellschaftlich-politischen Bedeutung auflädt, welche die Sphäre des Privaten, des eigenen Lebens ebenso wie die Sphäre des Ästhetischen übersteigt und in die Sphäre des Politischen, zu der auch die Geschlechterpolitik gehört, hineinwirkt. *** Die Beiträge des vorliegenden Bandes befragen herkömmliche Modelle von Künstler- und Autorschaft, so wie sie sich in lebensgeschichtlichen (Selbst)Darstellungen präsentieren, kritisch auf ihre konstitutiven Elemente und grundlegenden narrativen Muster und reflektieren so die Erwartungen an das Leben als Kunstwerk wie an seine Inszenierungen. Die einzelnen hier diskutierten Künstler, Musikerinnen, Schriftsteller und Tänzer repräsentieren unterschiedliche Modelle von Künstlerschaft. Damit verbunden sind sehr divergente Einstellungen zu Werk, Ruhm, Öffentlichkeit, aber auch im Hinblick auf das autobiographische Material. Eine klare Grenze zwischen Leben und Kunst kann bei keinem der hier analysierten Beispiele gezogen werden, da zwischen beiden der kaum abgrenzbare Bereich des inszenierten Lebens liegt und auch die kursierenden und sich überkreuzenden Narrative des Biographischen und des Künstlerischen einem steten Wandel unterworfen sind. Dabei stellen sowohl Kunstgeschichte als auch die Literaturgeschichte Modelle bereit, die sowohl von den Künstlern selbst als auch von ihren Biographen abgerufen werden können. Catherine Sousloff führt in ihrem Beitrag anschaulich die Bedeutung der Anekdote für das Genre der Künstlerbiographie vor und zeigt – unter Verweis auf Ernst Kris und Otto Kurz – wie sehr diese Form das Denken und Schreiben über Kreativität und Künstler geprägt hat. In der kondensierten Form der Anekdote gewinnen Schlüsselereignisse im Leben der Künstler, wie etwa Beuys berühmter Flugzeugabsturz bei den Tataren und seine anschließende Rettung, einen ikonischen Charakter, der mehr aussagt über die Stilisierung und Selbststilisierung eines Künstlers oder einer Künstlerin als über den tatsächlichen Gang der Geschichte. Die Beiträge von Mittermayer und Winter setzen sich mit dem schwierigen Verhältnis von Biographie und Autobiographie beziehungsweise Biographie und fiktionaler Selbststilisierung auseinander. Beide Beiträge problematisieren die Übersetzung des autobio-
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner graphischen Substrats fiktionaler Texte in den biographischen Text, ohne sie ganz zu verwerfen, und machen damit auf eine der Aporien von Künstlerbiographien aufmerksam. Dabei ist der Blickwinkel der beiden Autoren unterschiedlich: Mittermayer argumentiert von der Position des Biographen, Winter von der Position der Literaturwissenschaftlerin aus. Die Zusammenschau verschiedener Künstlerbiographien zeigt auch die große Bandbreite im Rückgriff auf existierende Modelle künstlerischer Lebensentwürfe. Wenn ein Autor wie Thomas Bernhard die Spezifik seines biographischen Entwurfs gerade in der Abgrenzung zu bestehenden Schriftstellertypen und der Selbststilisierung als Einzelgänger versteht, dann ist auch dies eine Selbststilisierung. Andere Autoren wie Jean Cocteau, Aimé Césaire oder Václav Havel greifen eher auf das Repertoire klassischer Künstlertypen zurück, wenn sie sich als verkanntes Genie, sozial oder politisch engagierten, bisweilen unkonventionellen Aktivisten stilisieren. Susanne Winter zeigt am Beispiel Cocteau wie gerade die Vielzahl seiner Begabungen zu einer Überdeterminierung der Künstlerfigur Cocteau führt. Der Lebenstext von Cocteau, so macht dieser Beitrag deutlich, wird nicht nur im Medium der Literatur, sondern auch in Filmen, Zeichnungen und auf der Bühne inszeniert, ohne dass es zu besonders auffälligen Brüchen käme. Letztlich ist es aber auch diese Vervielfältigung des Werks und seine Aufsplitterung auf verschiedene Felder der Kunst, die zu einer Abwertung des Künstlers Cocteau führt, da sie an das abgelöste Künstlermodell des Universalgenies anschließt und modernen Vorstellungen vom Künstler als Experten widerspricht. Ein deutlich ausgeprägtes inszeniertes Künstlerleben finden wir auch bei Joseph Beuys. Barbara Lange stellt in ihrem Aufsatz den Aspekt der künstlerischen Selbststilisierung in den Vordergrund und zeigt, dass die Medienpolitik dieses Künstlers, wie sie sich in seinen verschiedenen Mystifikationen manifestiert, zumeist unhinterfragt übernommen wird. Besonders deutlich wird dies an einem zentralen Baustein der Beuys-Biographie, dem bereits erwähnten Flugzeugabsturz in Russland während des Zweiten Weltkriegs. Lange zeigt an dieser Episode und ihrer späteren ästhetischen und biographischen Ausgestaltung, dass Beuys’ Biographie die Traumata der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufgreift und symbolisch durchspielt. Auf diese Weise verortet sie das Konzept der Künstlerbiographie im gesellschaftlichen Kontext. Das intrikate Verhältnis, das der Künstler mit einigen seiner Biographen und Biographinnen eingegangen ist, lässt im Grunde genommen nicht mehr genau erkennen, auf wessen Impulse einzelne Aspekte seiner öffentlichen persona zurückzuführen sind. Der Fall Beuys ist gleichfalls ein gutes Beispiel für die anhaltende Bedeutung der Anekdote im Kontext des lebensgeschichtlichen Erzählens, die sich über die Stufen der
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Vorwort Umschreibung und Medialisierung einzelner biographischer Aspekte so sehr verfestigt, dass sie den Charakter eines Warenzeichens erhalten. Claudia Jeschke setzt sich in ihrem Beitrag über Wazlaw Nijinsky mit der Bedeutung des Werkbegriffes als zentraler Kategorie der Künstlerbiographie auseinander. Der russisch-polnische Tänzer mag zwar unbestritten in das gängige Rollenbild für darstellende Künstler passen, und seine Künstlerschaft mag per se nie in Frage gestellt worden sein, aber durch den ephemeren Charakter seiner Kunst – des Tanzes und der Choreographie – stellt sich bei ihm die Frage, inwieweit man bei seinem Kunstschaffen von einem Werk sprechen kann, wenn dieses nur in wenigen Beispielen filmisch dokumentiert oder schriftlich fixiert vorliegt. Wie lässt sich hier ein Werk, ein „Opus“ konstruieren und eine Biographie auf der Grundlage desselben schreiben, wenn wir gar keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugriff mehr darauf haben? Zudem zeigt sie in ihrem Beitrag, wie stark die Biographik an die Spezifik der jeweiligen Kunstgattung gebunden ist, im Fall Nijinskys an den Tanz. Eine andere Leistung Nijinskys, nämlich die Erfindung einer Tanzschrift und seine theoretischen Überlegungen finden kaum Eingang in den biographischen Text, da sie den Rahmen der Künstlerbiographik sprengen und die biographierte Person auch als Forscher darstellen müssten. Durch die Erfindung dieses Notationssystems, das erst in letzter Zeit die gebührende Beachtung findet, wechselt der Künstler Nijinsky in den Bereich der Wissenschaft, womit für seine Biographie ebenfalls größere Schwierigkeiten der Einordnung entstehen. Wenn für die Biographen Bernhards, Cocteaus, Beuys’ oder Nijinskys ihre whiteness und ihre Zughörigkeit zum männlichen Geschlecht kein Problem darstellen, ja nicht einmal thematisiert werden und allenfalls eine unklare sexuelle Orientierung Erwähnung 47 findet, so bietet sich für Künstlerinnen oder nicht-weiße Künstler ein ganz anderes Bild. Erst in jüngster Zeit sind durch die Biographien weiblicher und nicht-weißer KünstlerInnen mit Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit zwei identitäre Kategorien ins Blickfeld der Biographie-Forschung gerückt, die gerade für die Konstruktion von Künstlerlebensläufen von großer Bedeutung sind. Melanie Unseld kann am Beispiel Alma Mahlers zeigen, dass das Repertoire an biographischen Modellen für Künstlerinnen äußerst eingeschränkt ist und häufig gerade den grundlegenden Aspekt der Krea47 Die im deutschen Sprachraum sich erst langsam etablierenden Queer Studies haben sich der Frage der Bedeutung von sexueller Orientierung und queerness in der Biographie homosexueller KünstlerInnen bisher nur wenig angenommen. Eine Ausnahme stellt die subtile Studie von Andreas Kraß (2009) zu Andy Warhol dar.
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner tivität negiert, da er in populären biographischen Modellen wie Muse, Mutter oder Heilige nicht aufgeht. Zudem wird im Zusammenhang mit der Biographie Alma Mahlers einmal mehr deutlich, dass eine Kunstform wie die Musik bis in das 20. Jahrhundert Kreativität fast immer männlich markiert und konnotiert war. Unseld kann dabei auch herausarbeiten, dass dies nicht per se so sein muss, und dass lebensgeschichtliche Erzählungen durchaus zu einer Revision kursierender Auffassungen von Künstlerschaft beitragen und so das Spektrum unserer Vorstellungen von künstlerischer Kreativität und ihren Ausdrucksformen erweitern können. Letztlich enthält das schwierige Verhältnis der Biographen zur Person Alma Mahler auch einen Hinweis darauf, dass sich der Lebenslauf dieser wie jeder anderen Künstlerin nicht auf geschlechtsspezifische Aspekte reduzieren lässt, wenngleich sie eine determinierende Rolle spielen. Während sich die Genderperspektive inzwischen etabliert hat und aus dem Spektrum der Forschungsansätze nicht mehr wegzudenken ist, gilt dies für die Black Studies in Europa in weit geringerem Ausmaß. Wie schon durch die Gender Studies zeichnet sich jedoch auch im Gefolge der Postcolonial Studies eine Neuordnung des biographischen Feldes hinsichtlich der identitären Kategorie Ethnizität ab. Seit den 1980er Jahren erweitert sich der Kanon „biographiewürdiger“ Künstler und Künstlerinnen zunehmend um Personen, die einen nicht-weißen, multiethnischen oder postkolonialen Hintergrund haben. Christopher F. Laferl geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung der Kategorie Ethnizität für die Eigen- und Fremdsicht von drei afro-amerikanischen Autoren, nämlich Langston Hughes, Nicolás Guillén und Aimé Césaire zukommt. Er zeigt in seinem Beitrag, dass für schwarze Autoren der USA und der Karibik die Zugehörigkeit zu einer Minderheit und damit die Identitätskategorie Ethnizität eine determinierende Rolle spielt, die – zumindest bei den drei untersuchten Autoren – doch auch eine Einengung des individuellen künstlerischen Ausdrucks mit sich brachte. Einmal mehr zeigt sich hier wie im Falle Beuys’ oder Havel die Verschränkung von Kunst und Politik beziehungsweise der Anspruch der Künstler, nicht nur im Feld der Kunst, sondern auch im Feld der Politik zu wirken. Die Beschäftigung mit Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert zeigt eine zunehmende Annäherung von Künstlern und Stars. Als Relais fungieren hier nicht zufällig Performer wie Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen oder Musiker und Musikerinnen, Künstler also, in deren Professionen die Grenze zwischen individueller Persönlichkeit und medial vermitteltem Auftritt nicht immer klar zu bestimmen ist. Aber auch in anderen Künsten etwa in der Bildenden Kunst oder Literatur ist zu beobachten, dass Künstler ihren Status vor allem durch Auftritte im öffentlichen
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Vorwort Raum zu festigen suchen. Die Frage lautet also, wie es am Ende des 20. Jahrhunderts Künstlern gelingt, sich in aktuelle Stardiskurse zu integrieren, ohne den Anschluss an traditionelle Künstlerbilder zu verlieren. Im Beitrag Richard Dyers geht es um die Komponenten, die Star-Images ausmachen. In einer Analyse der Karriere Jane Fondas macht er deutlich, wie verschiedene Elemente aus ihrem Leben und ihren Filmen zu einem Image zusammenfließen, das ambivalente sexuelle Attraktivität, All-Americanness und politisches Engagement vereint. Dabei zeigt sich, dass sich Leben und filmisches Werk in der Konstruktion dieses Bildes gegenseitig stark beeinflussen. Anja Tippner nimmt in ihrem Beitrag ein spezifisch osteuropäisches Künstlerbild in den Blick – das des dissidentischen Autors. In Auseinandersetzung mit Biographien des Dramatikers, Dissidenten und Politikers Václav Havel zeigt sie, wie die verschiedenen öffentlichen Rollen einander hier ablösen, bis schließlich der Schriftsteller hinter dem Politiker und der Celebrity zurücktritt. Die Künstlerschaft Havels bildet die Grundlage für sein Wirken in das Feld der Politik hinein. Die Rolle des dissidentischen Künstlers ist jedoch auch abhängig von den wechselnden Parametern des Politischen. Erst in der Konstellation mit dem totalitären System kann sich die moralische Autorität des widerständigen Künstlers ganz entfalten. In der Zeit der stärksten Repression – Havels Haftstrafe Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre – kommen Kunst und Leben in seinen Gefängnisbriefen wie in seinen Essays noch zur Deckung. Für die auf die Wende von 1989 folgende Karriere als Politiker lässt sich jedoch kein ästhetisches Pendant mehr finden. Der abschließende Beitrag von Thomas Mießgang macht auf die Veränderungen in der Gestaltung von Künstlerbiographien unter den Bedingungen von Fernsehen, Videoclips und Unterhaltungsindustrie aufmerksam. Im Vergleich Marilyn Monroes und Madonnas zeigt er das Spektrum medialer Selbststilisierung auf, das von Partizipation und Selbstermächtigung (Madonna) bis hin zu einer totalen Reifizierung (Marilyn Monroe) reicht und dessen konstituierende Faktoren der Zugang zu und die Einsicht in die Produktionsweisen medialer Transmission sind. So unterschiedlich die Künstlerbilder sein mögen, die von Jean Cocteau bis zu Thomas Bernhard und Václav Havel, von Alma Mahler bis zu Marilyn Monroe und Madonna, von Nijinsky bis zu Joseph Beuys, von Langston Hughes bis Jane Fonda reichen, die Analyse ihrer Biographien macht deutlich, dass die Inszenierungsmodi nicht nur von der Kunstgattung, dem kulturellen und historischen Kontext, von Geschlecht und Ethnizität, sondern auch von medialen Vermittlungsformen stark abhängen. Mit neuen Medien entstehen auch neue Modi der Inszenierung von Künstlerschaft, wie nicht nur
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Christopher F. Laferl/Anja Tippner am Beispiel Marilyn Monroes oder Madonnas zu sehen ist, sondern auch an Václav Havel oder Jane Fonda, deren Werk und deren Leben doch mit ganz anderen Medien vermittelt und inszeniert werden, als dies bei Thomas Bernhard oder Aimé Césaire der Fall ist.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos1 CATHERINE M. SOUSSLOFF
Bald erfasse ich die Anwesenheit der Scheibe und die Entfernung der Landschaft, bald dagegen die Durchsichtigkeit der Scheibe und die Tiefe der Landschaft. Das Ergebnis dieses Alternierens ist jedoch konstant: die Scheibe ist für mich zugleich gegenwärtig und leer, die Landschaft ist für mich zugleich irreal und erfüllt. Genauso verhält es sich beim mythischen Bedeutenden: die Form ist leer, aber gegenwärtig, der Sinn ist abwesend und doch erfüllt. Ich kann mich über diesen Sachverhalt nur dann wundern, wenn ich absichtlich diesen Kreislauf von Form und Sinn unterbreche, wenn ich mich auf jedes der Elemente wie auf ein vom anderen getrenntes Objekt einstelle und auf den Mythos ein statisches Verfahren der Entzifferung anwende, kurz wenn ich seiner eigenen Dynamik Widerstand leiste. In einem Wort: wenn ich vom Zustand des Lesers des Mythos zu dem des Mythologen übergehe. (Roland Barthes: Mythen des Alltags) [Es ist unmöglich] einen Mythos […] als kontinuierliche Abfolge zu verstehen. Deshalb müssten wir, wenn wir versuchen, einen Mythos wie einen Roman oder eine Zeitung zu lesen, d.h. Zeile für Zeile, von links nach rechts, uns bewusst sein, dass wir den Mythos so nicht verstehen können. Wir müssen ihn stattdessen als ein Ganzes begreifen und gewahr werden, dass die eigentliche Bedeutung des Mythos nicht durch die Abfolge der Ereignisse, sondern – wenn ich so sagen darf – durch Ereignisbündel vermittelt wird, auch wenn diese Ereignisse an unterschiedlichen Stellen der Erzählung auftreten. (Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung)
Die Künstlerbiographie war, wie ich behaupte, seit Beginn der Frühen Neuzeit die dominierende kulturelle und damit kunsthistorische Quelle für die Konstruktion des Künstlerbildes. Im Genre der Künstlerbiographie herrschen seit jeher solche Züge vor, die ganz
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Aus: Soussloff, Catherine M. 1997: The Absolute Artist: Historiography of a Concept. Minneapolis (University of Minnesota Press). Kapitel 6, 138–193.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos allein den Künstler betreffen. Sie finden sich in den Künstlerbiographien von der Zeit der Herausbildung des Genres im Florenz des 15. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Für die Entstehung des Genres im italienischen Kontext hat Rosalie Colie überzeugend dargelegt, dass die literarische Herausbildung bestimmt war von „gattungsspezifischen Mitteln und Figuren“.2 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die vorherrschenden und bewahrten Züge der Künstlerbiographie am deutlichsten in den frühen Beispielen dieses Genres zu finden sind. Dies gilt beispielsweise für das Anekdotische, das sich durch ihre gesamte Geschichte zieht. Die Durchschlagskraft dieser frühen Texte, insbesondere hinsichtlich ihrer rhetorischen Charakteristika, ist der Strenge der frühen Biographien geschuldet, die Colie in Genese und Gestalt als Genre-Modelle beschrieben hat. Diese Strenge, man könnte auch sagen die Gattungskohärenz, der frühen Beispiele brachte es nicht nur mit sich, dass sie als Modelle für spätere Biographien desselben Genres dienen konnten und dienten. Sie führte zudem dazu, dass bestimmte Aspekte des Genres, abermals gilt das insbesondere für die Anekdote, von späteren Historikern für die Interpretation der kulturellen Stellung des Künstlers genutzt werden konnten, und zwar als Segmente oder „Zellen“, also Einheiten, jenseits derer eine weitere Untersuchung unnötig war oder denen man eine bestimmte Art von historischer Wahrheit zuschrieb. Ein anschauliches Beispiel dieser Funktion der Anekdote bietet die aus Biographien bestehende Geschichte der Bologneser Malerei Felsina Pittrice (1678) von Caro Cesare Malvasia. Giovanna Perini hat eine Anekdote aus dem Lebenslauf Guido Renis untersucht. Dieser Anekdote zufolge hat der Maler Annibale Carracci ein Gemälde des lombardischen Malers Caravaggio kritisiert, einem Vertreter jenes Stils, der mit seinem und Renis konkurrierte.3 Perini stellt ganz richtig fest, dass die Frage nach der Wahrheit der Anekdote – also, ob das Bild wirklich von Caravaggio war und ob es Carracci und Reni in Bologna damals zugänglich war, wie Malvasia berichtet – dahinter zurücktritt, dass die Anekdote verschiedene Unterschiede von Carraccis, Renis und Caravaggios Stil zur Sprache bringt, die sich bereits in zwei Texten finden, die vor der Geschichte Malvasias entstanden sind. Die Reihe von Lebensläufen des Kunsthistorikers Giovanni Pietro Bellori erschien 1672; die unterschiedlichen Stile von Reni und Caravaggio werden in der Biographie Caravaggios thematisiert.4 An anderer Stelle findet Perini eine genaue 2 3 4
Colie 1973, 17. Perini 1990. Bellori 1672, 212.
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Catherine M. Soussloff Übereinstimmung zwischen Malvasias Text und einem 1675 veröffentlichten Brief von Vicenzo Giustiniani, einem wichtigen Förderer Caravaggios.5 Auch der Bologneser Chronist Antonio Francesco Ghiselli hat sich die Anekdote im „Geist wenn auch nicht im Detail“ angeeignet. Er änderte ihren Inhalt, indem er den Verweis auf Carracci wegließ und Renis Beitrag hervorhob, um die Genauigkeit des Bolognesers Reni im Gegensatz zum Stil des Lombarden Caravaggio zu betonen.6 Hier wie auch an anderer Stelle zeigen die Lebensläufe eine übereinstimmende Tendenz. Sie werden (in ihrer Gesamtstruktur oder in einzelnen rhetorischen Zügen) an die nachfolgenden Beurteilungen des Künstlers angepasst, ungeachtet anderer Formen der Kunstgeschichtsschreibung. Aufgrund der typologischen Strenge der Künstlerbiographie formulierten Kris und Kurz die These, dass eben die Struktur dieser Texte dem Bild des Künstlers in einer Kultur zugrundeliegt: Die Urteile über einen Künstler von Zeitgenossen wie von der Nachwelt sind unsere zentrale Quelle – die Künstlerbiographie im wahrsten Sinne des Wortes. Den Kern bildet die Legende von diesem Künstler.7
Darüber hinaus fügten Kris und Kurz bei ihrer Untersuchung von Genrebedingungen des Künstlers den bildenden Künstler in den begrifflichen Rahmen von Mythos und Mythologie ein, in das also, was den „Künstlermythos“ ausmacht. In jüngster Zeit kritisierten britische marxistische und feministische KunstwissenschaftlerInnen, dass so der Blick auf den Künstler als Produkt historischer und kritischer Praktiken einer Gesellschaft verstellt werde.8 Dieser Kritik und der Stellung des Künstlers, wie sie Kris und Kurz beschrieben haben, wende ich mich hier zu, um das Problem der kulturellen Konstruktion des Künstlers zu diskutieren. Dabei werde ich historiographische Methoden direkt auf die Sphäre des Künstlermy5 6 7 8
Perini 1990, 156–58. Ebd., 150. Kris/Kurz 1979, 2. Die besten Beispiele für die feministische und die marxistische Position sind Pollock 1980; Parker/Pollock 1981; Christie/Orton 1988; Pollock 1988. Eine wichtige Methodenkritik am marxistischen Verständnis des Künstlers liegt mit Debora Silvermans Arbeit über van Gogh vor, vgl. Silverman 1994. Silverman fordert ein nuancierteres Bild davon, wie sich „die Idee eines freien künstlerischen Individualismus, die wir mit der modernistischen Avantgarde in Europa verbinden“, herausbildete (149). Zwar stimme ich ihr zu, dass die Auffassung von künstlerischem Individualismus zwischen Künstlern graduell variiert, ich würde aber behaupten, dass „freier künstlerischer Individualismus“ nicht auf die Avantgarde beschränkt war oder ist. Er haftet dem Begriff des Künstlers seit der Renaissance an.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos thos anwenden, denn genau hier muss die Diskussion um die kulturelle Bedingtheit des Künstlers beginnen. Anders als Kris und Kurz sowie spätere Kritiker in ihrer Diskussion von Künstlerbildern, die den Begriff des Mythos zum Ausgangspunkt nimmt, bin ich der Auffassung, dass die Vorstellung vom Künstler als einem Aenigma, dessen Identität und Grenzen jenseits der Interpretierbarkeit liegen, bereits ein Zugeständnis ist. So steht es im Grund genommen um die Interpretation aller Mythen, wie Roland Barthes 1957 in seinem Buch Mythen des Alltags argumentiert hat.9 Zwar kann der Mythos des Künstlers natürlich einen Mangel an historischen Details kompensieren, der sich in der Gegenwart im Hinblick auf den weit zurückliegenden Gegenstand bemerkbar macht. Die Biographie oder der Lebenslauf eines einzelnen Künstlers erweist sich dann als notwendige Ergänzung unser ungenügendes Wissen über das Vergangene. Trotzdem können die grundlegenden Interpretationsprobleme und die erkenntnistheoretischen Dilemmata, die sich ergeben, wenn der Künstler a priori als Mythos aufgefasst wird oder mythologisiert ist, nicht ignoriert werden. Die Motti aus den Arbeiten zum Mythos von Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss verdeutlichen wie schwierig es ist, Mythen gleich welcher Art zu entdecken, verstehen und zu interpretieren. Die vielen Diskussionen über die kulturelle Funktion des Mythos, die Anthropologen wie Malinowski und Lévi-Strauss, frühe Psychoanalytiker wie C. G. Jung und ihre späteren Kommentatoren und Kritiker im 20. Jahrhundert geführt haben, bringen die Komplexität und die jeweiligen Interessen dieser Vielzahl von an den Erfordernissen bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen orientierten Herangehensweise an den Mythos zutage.10 Diese Herangehensweisen beschreiben sich als selbst-reflexiv, und vielleicht haben sie daher einen kanonischen Status erreicht. Aber all diese Diskussionen setzen sich kaum mit dem spezifischen Inhalt und dem Ort des Mythos vom bildenden Künstler auseinander. Den heutigen Forschungsstand zum Mythos hinsichtlich der Repräsentation des Künstlers bringt Marcel Detiennes Buch L’invention de la mythologie, eine Untersuchung des Mythos im antiken Griechenland, auf den Punkt:
9 Barthes 1964, 85–151. 10 Lévi-Strauss 1980; ders. 1967, v. a. das elfte Kapitel, „Die Strukturen der Mythen“, 226–54; Jung 1976; Malinowski 1926; und die folgenden Verweise, insbesondere die Bibliographien in Detienne 1981 und Kris/Kurz 1979. Für eine neuere historiographische Diskussion des Mythos, vgl. Manganaro 1992.
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Catherine M. Soussloff Wer immer ohne die Ausrede auf die Jagd geht, dass das wilde Tier scheu sei, wird sich erinnern, dass im Frühjahr, ehe der Duft der Blumen den Geruchssinn des Hundes stört, die Spuren des Hasen klar, aber ineinander verschlungen sind. Das ist nicht so, weil der Hase aus Angst vor Verfolgung voller List seine Flucht durch dieselben Orte vornimmt, und dabei so springt, dass Spuren zusammenlaufen und er „Spuren innerhalb der Spuren“ platziert, sondern, weil vor allem zu dieser Jahreszeit Hasenpaare und ihr „gemeinsames Umherziehen… ähnliche Spuren hinterlassen“. Wie verwirrt er auch sein mag bei seiner Wahl zwischen der List und der Freude des Umherziehens, der Jäger des „Mythos“ wird nicht überrascht sein, dass im Land der Anfänge, zu dieser Jahreszeit der Geschichte, die „reinen“ Spuren, wie sie im Kynegetikos (auch: Über die Jagd) [von Xenophon] genannt werden, mit anderen vermischt, verwirrt und so schwach sind, dass die Fährte, der Fachbegriff des Jägers, zu verschwinden scheint. Noch weniger wird ihn überraschen, dass sein Wild gerne an den Orten der Illusion sein Lager macht.11
Bei der historiographischen und der literarischen Darstellung des Künstlers befinden wir uns immer noch gleichermaßen „im Land der Anfänge, zu dieser Jahreszeit der Geschichte“. Selbst wenn der Jäger heute Diana wäre (also die feministische Jägerin) und nicht Xenophon oder Detienne, mag die Fährte genauso vage oder an den Orten der Illusion lokalisiert sein wie eh und je. Der Mythos herrscht hier genau deshalb vor, weil der Ort des Mythos der Ort der Illusion ist. Der Mythos bleibt unangetastet, weil die Arbeit am Mythos, selbst die von Barthes, auf den sich Detienne stützt, den Ort nicht stört, was Barthes selbst am Ende des Essays „Mythos heute“ zugibt.12 Detiennes Darstellung der griechischen Tradition erlaubt die Argumentation, dass jede literarische und historiographische Annäherung an den Künstler oder jede Darstellung des Künstlers, die an
11 Detienne 1981, 63/1986, 63. [Übersetzt unter Abgleichung mit der von der Autorin zitierten englischen Übersetzung mit der französischen Originalausgabe.] 12 Barthes 1964: „Es scheint, daß es eine Schwierigkeit der Epoche ist; es gibt für den Augenblick nur eine Wahl, und diese Wahl kann nur zwischen zwei auf gleiche Weise exzessiven Methoden erfolgen: Entweder ein für die Geschichte vollkommen durchlässiges Reales setzen und ideologisieren, oder, umgekehrt, ein letztlich undurchdringliches, nicht reduzierbares Reales setzen, und in diesem Fall poetisieren. In einem Wort: ich sehe noch keine Synthese von Ideologie und Poesie (ich verstehe unter Poesie auf eine sehr allgemeine Weise die Suche nach dem nicht entfremdbaren Sinn der Dinge).“ 151 (Hervorhebung in der engl. Übersetzung); vgl. auch Barthes’ Vorwort zur Ausgabe seines Buches von 1970 [dieses ist auch in Neuauflagen der deutschen Übersetzung nicht enthalten; Anmerkung d. Übersetzerin].
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos den Ort der frühneuzeitlichen Lebensläufe des Künstlers zurückkehren, den mythischen Status des Künstlers in der Gesellschaft ebenso fortschreiben wie die Mythologien über den Künstler in der Kultur. Zum Beispiel haben alternative Vorstellungen von Autorschaft, die mit den Konzeptionen vom Tod des Autors/des Subjektes und der Geburt des Lesers im Werk von Barthes und Foucault und deren Rezipienten einhergingen, in der Kunstgeschichte kaum ein Echo gefunden.13 In der Literatur wurden sie als Ansätze gesehen, die den Autor entmythologisieren und sich auf eine dialogische Kritik, auf die Konstruktion eines Textes aus einem anderen Text, auf den Begriff einer gemeinsamen langue und so fort zubewegen. Dem gegenüber wurde der bildende Künstler mit der bedeutenden Ausnahme des auteur-Regisseurs nicht speziell angesprochen, und so wurde er auch in diesen Debatten theoretisch unzureichend reflektiert.14 Vor allem aber blieb der Ort des Mythos vom Künstler, das Genre der Biographie intakt, weil es in die Debatten über die Darstellung des Autors im Text nicht mit einbezogen wurde. Es fiel aus den poststrukturalistischen Bemühungen um ein Verständnis der Textkonstruktion und der narrativen Struktur heraus. So schrieb sich der mythologisierte Status des Künstlers fort, selbst als die parallelen Begriffe des auteur und des Autors zerfielen oder nur noch als historische und formale Konstrukte betrachtet wurden.
Beispielhaftigkeit, Narrativität und Mythos Es ist gut möglich, dass die Gesellschaft nach einer solchen, unhinterfragten Position des bildenden Künstlers verlangt. Wenn dem so ist, dann muss diese Annahme diskutiert werden. Über den Gebrauch mythologischer Konstruktionen im Film schreibt Bill Nichols: Mythische Bilder oder exemplarische Figuren stellen konkrete Repräsentationen kultureller Ideale und seelischer Sehnsüchte dar. Sie sind imaginäre Projektionen oder Fetische, die Bedürfnisse befriedigen, die aus den Notwendigkeiten eines Gemeinswesens oder aus dem Unbewussten entstehen. […] Die mythische Sphäre erheischt einen einzelnen Moment, einen aufblitzenden Anblick eines ansonsten obskuren Objektes der Begierde, und macht es unauslöschlich.
13 Barthes 2000, Foucault 2000. Vgl. auch Nehamas 1987; Moxey 1994. 14 Die beste Arbeit über die auteur-Theorie und Theorien der Autorschaft in den Filmwissenschaften findet sich in Caughie (Hg.) 1981. Griselda Pollock unternimmt den Versuch, eine Reihe verschiedener Theorien der Autorschaft in die Untersuchungen im Rahmen ihres Projekts zu van Gogh zu integrieren, vgl. Pollock 1989.
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Catherine M. Soussloff Es versucht, den Moment einzufangen und ihm Dauer zu verleihen. Ist die mythische Identifikation stark genug, unterbindet sie die narrative Entwicklung oder die historische Bezugnahme.15
Darüber hinaus glauben wir, wenn der mythologische Künstler in einer Biographie in Erscheinung tritt, wir sähen ein exemplarisches Beispiel vor uns, einen „Realitätsbeweis“ – buchstäblich die körperliche Gegenwart – des Historischen und des Imaginären. Hayden White führt die Funktion des Narrativen in der Geschichtswissenschaft auf ähnliche Weise theoretisch aus, nämlich als einen moralischen Imperativ, der das Imaginäre als „wirklich“ darstellt, um es zu bändigen oder zu verstehen.16 An anderer Stelle legt White dar, dass sich die Geschichtswissenschaft, anders als das fiktionale Schreiben, auf dieser moralischen Ebene der Bedeutungskonstitution „einer bestimmten, dominanten Modalität des Sprachgebrauches: Metapher, Metonymie, Synekdoche oder Ironie“ bedienen kann.17 Diejenigen Texte, die als Vorbilder für die kulturelle Darstellung des Künstlers dienen, Biographien, unterscheiden sich jedoch von diesen dominanten Arten der Geschichtsschreibung. Auch hier werden, wie bei Barthes, die kunstgeschichtliche Quellen, also die Biographien, nicht den grundlegenden Revisionen unterzogen, wie andere Disziplinen sie vorgenommen haben. An anderer Stelle habe ich dargelegt, dass die frühen Künstlerbiographien auf in der Landessprache geschriebenen Biographien von Dichtern, insbesondere von Dante, Petrarca und Boccaccio, basieren.18 Für diese frühen Dichterbiographien ist die Bedeutung der Poesie und poetischer Sprache zentral, die sich in der zeitgenössischen theoretischen Diskussion als „questione della lingua“ niederschlug. Wie wichtig die Darstellung des Imaginären in der „Realität“ des Künstlers in der Kultur ist, wird einsichtig, wenn wir uns zweierlei vor Augen halten: Zum einen, dass diese Dichterbiographien die ersten beispielhaften Vorbilder für das Bild vom Künstler darstellen, zum anderen, dass die hier und in der Folge genutzten sprachlichen Strukturen in Schreibweisen eingebettet sind, die gleichermaßen die Dichtung wie das geschichtswissenschaftliche Schreiben durchziehen. Wir können dann die Gestalt des Mythos erahnen, der eigens auf den Künstler als Mensch zugeschnitten wurde.
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Nichols 1991, 254. White 1990. White 1986, 152f. Soussloff 1990. Der Vorbildcharakter der frühen Lebensläufe von Dichtern kommt bei der Herausbildung der Lebensläufe von Künstlern auf vielfache Weisen zum Tragen.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos Ein Resultat einer solchen Betrachtungsweise hängt mit Whites Zielsetzung zusammen, nämlich der Einsicht über den Ort – um auf Detiennes Terminus zurückzugreifen – des mythischen Modus selbst, also die Tatsache, dass „diese mythischen Formen in historiographischen Texten leichter erkennbar sind als in literarischen Texten“.19 Diese Bestimmung greift hier nicht, weil „die Suspendierung des dichterischen Momentes“, die White für den Großteil historischer Schriften problematisiert und die die Identifikation mythischer Modi in der sprachlichen Darstellung der Dichtung erlaubt, für die Künstlerbiographie nicht offen zu Tage tritt.20 Das dichterische Moment ist niemals vollständig aufgehoben, wie es bei anderen Genres oder bei der Darstellung anderer historischer Persönlichkeiten der Fall ist. Was White als poetischen Modus bezeichnet wird gemeinhin als eine Eigenschaft literarischer, nicht historischer Schriften angesehen. Wie Tzvetan Todorov bemerkte, war es vermutlich diese Eigenschaft von Literatur, die Aristoteles zu der Feststellung brachte, dass erstens die poetische Darstellung jener „durch Form und Farbe“ gleicht und dass zweitens die Aussagen der Dichtung ihrer Natur nach auf das Allgemeine, die der Geschichtswissenschaft eher auf das Besondere abzielen.21 Zudem befriedigt die Dominanz der (mythischen) Realität des Künstlers in narrativen Kontexten wie den Biographien das Bedürfnis des Marktes nach der Authentizität von Kunstwerken und nach Zuschreibungen zu namhaften Künstlern, um so den Wert der „Kunstgegenstände“ oder seinen Warenwert zu steigern. Tatsächlich werden in den Biographien der Frühen Neuzeit zum ersten Mal Lebensgeschichte und Werkkommentar zusammengeführt. Vor dem Erscheinen der ersten Künstlerbiographien im 18. Jahrhundert verfügte die Kunstkritik über kein eigenes Genre. Im Fall der bildenden Künstler unterscheidet sich diese Verbindung deutlich von dem Bereich der Dichtung, wo die Biographie und der Kommentar, der sich der Dichtung selbst widmet, bereits in der Epoche der Frühen Neuzeit jeweils eigenständige Genres darstellten.22 Diese Verbindung von Künstler und Kunstwerk, die sich als Prozess bezeichnen ließe, in dessen Verlauf der Künstler zur Ware (und/oder zum Fetisch) wird, erklärt teilweise den bereits erwähnten Widerstand gegen jüngere Theorien von Autorschaft in Zusammenhang mit dem Künstler. Der Künstler lässt sich weniger leicht vom Kunstwerk oder von der Ware als solcher trennen. Die Verbindung der beiden macht ein Zu19 20 21 22
White 1986, 152. Ebd., 151. Vgl. Todorov 1978, 15f. Todorov bezieht sich hier auf Aristoteles’ Poetik. Die Unterschiede zwischen den beiden zeichne ich in Soussloff 1990 nach (158).
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Catherine M. Soussloff rücktreten des Mythischen in der sozialen Sphäre noch weniger wahrscheinlich. Weil die Biographie das dominante Genre bzw. der Ort ist, an dem diese Konstruktion stattfand, ist der Mensch sowohl in der kulturellen Konstruktion des Kunstwerkes als auch in den Texten, die Kunstwerk und Künstler gemeinsam darstellen, immer präsent. In diesem Sinne ähnelt der Diskurs der Künstlerbiographien dem pli, oder der Falte, verstanden als ein kontinuierliches Ausfalten und Zusammenfalten des Diskurses, wie es Gilles Deleuze in die Kulturtheorie eingeführt hat.23 Der Begriff Biographie, der seine Wurzeln im Griechischen „bios“ hat, bezieht sich explizit auf die menschliche Existenz, in Abgrenzung zum Tier oder zu anderen Kreaturen. Leben, ein menschliches Leben, gelebt in einem menschlichen Körper, lässt sich nicht von der Darstellung des Künstlers in dieser Kultur trennen. Ein neues Verständnis des Künstlers muss nicht nur das Narrativ und seine moralischen Implikationen, die Darstellung und ihre ethischen Implikationen, sondern auch die Verkörperkung des Künstlers in der Mythologie des Visuellen selbst reflektieren. Das Narrativ ist immer sprachlich, sei es textuell oder mündlich. In unserer Kultur erhält der Körper des Künstlers seine Existenz durch den Text, gemeinhin durch eine Biographie, oder, wie bereits dargelegt, durch das Kunstwerk selbst, die Ware. Im kunsthistorischen Diskurs werden, ganz wie in den frühen Biographien, der Körper des Künstlers und das Kunstwerk häufig narrativ zusammengeführt. Historisch geschah dies zuerst im Genre der Biographie. Dann, als die Kunstgeschichte sich zu einer Disziplin herausbildete, behielten ihre Genres – wie die Künstlermonographie oder das Werkverzeichnis – viele der rhetorischen Strukturen der Biographie bei, insbesondere die Anekdote, die Künstlerkörper und Kunstwerk verbindet. Verdeutlichen lässt sich genau dieser Punkt an Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien.24 In solchen spezifisch kunsthistorischen „Fachtexten“ wie dem kommentierten Werkverzeichnis oder dem Ausstellungskatalog werden der Künstlerkörper und das Werk gemeinsam behandelt.25 Letztlich laufen die textuellen Analogien zwischen dem ursprünglichen Genre, der Künstlerbiographie, und dem neuem wissenschaftlichen Genre, das viele der biographischen Tropen und rhetorischen Strukturen wiederholt, darauf hinaus, dass die Monographie über einen Künstler das kunstgeschichtliche Simulakrum der Künstlerbiographie ist. Als 23 Vgl. Deleuze 1991 und 1995. 24 Vgl. das Kapitel „The Artist in Culture: Kulturwissenschaft from Burckhardt to Warburg“ in Soussloff 1997, 73–93. 25 Pollock 1989, 4–15, zieht ebenfalls einige solcher Schlüsse hinsichtlich anderer Genres des Schreibens über Künstler und Kunst.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos Simulakrum ist sie noch weiter entfernt von dem ursprünglichen Ort der Illusion, und damit noch tiefer eingebettet in die Illusion, von der Detienne spricht. Auch wenn ich mich auf Whites Ideen über narrative Modi und die moralische Ebene der Geschichtsschreibung berufe, möchte ich behaupten, dass die Situation – ob moralisch oder in anderer Hinsicht – und damit die Dimensionen des Mythos im Fall des bildenden Künstlers noch komplexer ist als im Fall fiktionaler oder historischer Narrative. Das hat nicht nur mit der Durchschlagskraft des Genres und dem Gebrauch seiner rhetorischen Strukturen in nachfolgenden und anderen Texten über Künstler zu tun, sondern auch mit den Erwartungen, die wir an die Künstlerpersönlichkeit haben und die dieses Genre und dessen Strukturen hervorgebracht haben. Meine Beobachtungen deuten darauf hin, dass diese Komplexität in einer Fetischisierung resultiert, die den kritischen Blick der Interpretationsgemeinschaft verschiebt, und in einer kulturellen Verdrängung – um Detiennes Metapher aufzugreifen: „das Wild macht sein Lager gerne an den Orten der Illusion“.
Künstleranekdoten Wie Kris und Kurz als erste erkannt haben, ist der Künstler in der Kultur das Produkt einer textuellen und insbesondere biographischen Konstruktion. Ihre Untersuchung stützt sich auf Schlossers philologische Methoden und zeigt den Einfluss der Psychoanalyse, vorrangig von Rank und Freud. Der Rest dieses Beitrags wendet sich der folgenden Frage zu, die sich aus heutiger Sicht an Kris und Kurz stellt: Was geschieht, wenn wir mit Kris und Kurz akzeptieren, dass das Künstlerbild in der Biographie gründet und die Theoretisierung dieses Bildes wiederum in den kunstgeschichtlichen und psychoanalytischen Kreisen Wiens im frühen 20. Jahrhundert? Hier möchte ich mich dem Text der Künstlerbiographie auf der Ebene jenes rhetorischen Elementes nähern, das Kris und Kurz als „die ursprüngliche Zelle“ des Genres bezeichneten: die Künstleranekdote.26 In ihrer kurzen Charakterisierung erinnern sie an die 26 Kris/Kurz 1979, 11: „Ganz allgemein gesagt, suchen wir nach einem Verständnis der Bedeutung konstanter biographischer Themen. In diesem Sinn kann die Anekdote als die ‚ursprüngliche Zelle‘ der Biographie gelten. Während dies offensichtlich allgemein für die Biographie gilt, ist es im Fall der Künstlerbiographie von besonderer Bedeutung und historisch belegt“. Der Gebrauch des Adjektivs „ursprünglich“ in diesem Kontext ist vielsagend angesichts der Tatsache, dass die Autoren nach dem Verständnis strebten „einer Zeit, als der graphische Künstler Mitglied einer ,Gemeinschaft von
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Catherine M. Soussloff Wurzel des Wortes Biographie: das griechische „bíos“. In ihrer Untersuchung von Künstleranekdoten beharren Kris und Kurz darauf, dass die einzelnen Anekdoten in den von ihnen untersuchten Texten sich nicht auf die Existenz eines individuellen Künstlers, sondern auf die Existenz „des Künstlers“ beziehen: Anders und in Übereinstimmung mit der Grundbedeutung von Biographie gesagt, sie beziehen sich auf einen idealen Menschentypus, dessen Handlungen und Charakter mit gemeingültigen Konventionen und Standards in Einklang stehen. Seit der griechischen Antike ist dieser ideale Mensch als „der Held“ bekannt. Ranks Begriff des Helden ist für die Theoretisierung des Künstlers von Kris und Kurz von großer Bedeutung: Dem moralischen Exemplum, nach dem die Kultur verlangt und das die Texte darstellen, liegt die heroische Persönlichkeit des Künstlers zugrunde. Aus Kris’ und Kurz’ Untersuchung von Künstleranekdoten möchte ich zwei Thesen näher betrachten. Das erste ist ihre Behauptung, dass der Anekdote die Funktion eines Bedeutungsträgers der „konstanten“ oder „typischen“ Themen in den Überlegungen zum Künstler zukommt, dass sie deshalb die Grundlage der Typologie des Genres der Künstlerbiographie darstellt, mitsamt solcher Elemente wie Herkunft, Namensgebung, frühes Talent, einem anerkannten Schirmherrn und geistiger Reife im Alter. Eine ausgearbeitete Theorie der Anekdote brächte zutage, dass diese Typologie nicht so sehr durch das Genre bedingt ist, sondern vielmehr narrativ, durch die innere Form der Anekdote selbst. So wird klar, dass es sich bei der Anekdote um eine Genrekonvention mit einer narrativen Funktion handelt. Die Narrativität der Künstleranekdote ist so kohärent oder in sich geschlossen, dass sie unbeschadet aus dem ursprünglichen Kontext des Genres herausgelöst werden kann und als geschlossene und erkennbare narrative Einheit innerhalb anderer Narrrative bestehen bleibt. Die zweite These, die in der historiographischen Analyse wichtigere, besagt, dass die Anekdote „das Bild des Künstlers, das der Historiker im Sinn hatte“ enthält.27 Der Gedankengang von Kris und Kurz ist hier nicht ganz klar, denn wenn der Historiker dieses Bild im Sinn hatte, war es ein Bild, das – in ihrer Terminologie für die Anekdote – „ursprünglich“ war oder das – in der Terminologie Genies‘ wurde und seine Umgebung ihn auf dieselbe Weise wie andere kreative Persönlichkeiten zu betrachten begann“. (12) Die Idee des Vorläufers einer Legende oder des Bildes des Künstlers als „ursprüngliche Zelle“ des Künstlerbildes nimmt Bezug auf Ideen des Ursprünglichen, insbesondere in der Kunst, wie Marianna Torgovnick sie in ihrem Buch herausarbeitet, vgl. Torgovnick 1990. 27 Kris/Kurz 1979, 11.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos der Psychoanalyse – „instinktiv“ war. In beiden Fällen würde es der Geschichte vorausgehen. Angesichts ihres psychoanalytischen Hintergrundes ist es möglich, dass Kris und Kurz denken, der Künstler existiere bereits im Unbewussten des Historikers. Auf diese Weise theoretisiert C. G. Jung mythische Figuren. Damit enthält und trägt die Anekdote (gleich einem festen Behälter) die Vorstellungen der Kultur vom Künstler. Mit Narrativität als Grundlage einer Anekdotentheorie können wir dem Künstler Zugang zu dem Zirkel der kritischen Interpretation gewähren, aus dem er immer ausgeschlossen war, weil er von Historikern und Mythologen gleichermaßen als prähistorisch oder mythisch dargestellt wurde.28 Erst die Einsicht, dass die Künstleranekdote als narrative Form funktioniert, erlaubt es, den Künstler in der Kultur zu verstehen und die Voraussetzungen, die diese Form erfüllen muss bzw. die Gestalt des kulturellen Mythos. Joel Fineman untersucht die Anekdote in einem wichtigen und komplexen Artikel, „The History of the Anecdote: Fiction and Fiction“.29 Dem Spezifischen der Künstleranekdote schenkt Fineman keine besondere Beachtung; Kris’ und Kurz’ Arbeit zur Anekdote erwähnt er nicht. Allerdings bestimmt er die Anekdote und ihre Struktur als Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Konstruktion im philosophischen, historischen und literarischen Diskurs. Unter Rückgriff auf poststrukturalistische Rhetorik und Narratologie gibt er dem Terminus Historem den Vorzug, den er als „die kleinste Minimaleinheit der historischen Tatsache“ bestimmt. Wie für Kris und Kurz ist für ihn „die Anekdote, in einer ersten Annäherung, als Erzählung eines einzelnen Ereignisses die literarische Form oder das Genre, das auf einmalige Weise auf das Reale verweist“. Mit Barthes könnte man sagen, dass sie einen „Effekt des Realen“ hervorruft.30 Fineman bestätigt, dass sie als literarische Form „direkt auf das Reale verweist oder in ihm wurzelt […] und dass die Anekdote damit die Frage aufwirft, worin – als eine Engführung von Literatur und Referenz – ihre eigentümliche und ereignishafte narrative
28 Zum Zirkel kritischer Interpretation vgl. Hoy 1982. 29 Fineman 1989. Alles, auf das ich im Folgenden zurückgreife, ist einem Absatz von Finemans Essays (67) entnommen. Ein großer Teil seines Essays setzt sich mit der Darstellung von Geschichte vor dem Hintergrund der Anekdote auseinander und ist damit nicht zentral für mein Argument hier. Ich danke Harry Berger Jr. für den Hinweis auf diesen Artikel in unserem gemeinsamen Seminar „Culture and Society in Early Modern Europe“ im Winter und Sommer 1992 und unserem Studenten Scott Mobley für seine Beobachtungen. 30 Barthes 1989. Man vergleiche Barthes’ Aussagen über die „ReferenzIllusion“ mit Detiennes Mythos in den oben zitierten „Orten der Illusion“.
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Catherine M. Soussloff Kraft begründet ist“. Fineman nimmt eine wichtige Ergänzung zu Kris und Kurz vor, nicht nur, weil er präzisiert, auf welche Weise die Anekdote auf das Reale und die Historizität selbst Bezug nimmt, sondern auch weil er die Anekdote explizit als Form auffasst. Die Anekdote ruft den Eindruck des Realen aufgrund ihrer Form hervor. Die rhetorische Wirkungsweise und der Kontext beeinflussen unser Verständnis des Inhalts bzw. des Gegenstandes in der gegebenen Form mindestens eben so sehr wie der Inhalt oder der Gegenstand selbst es tun. Eine Kritik der rhetorischen Form und der Genrekonventionen der Biographie gemäß dem Beispiel der Anekdote eröffnet also Möglichkeiten, sich dem Text der Künstlerbiographie zuzuwenden, die zu einem Verständnis des Künstlers in der Kultur sowohl auf der historischen wie auf der mythologischen Ebene führen. Es handelt sich dabei um einen formaleren Ansatz als den der „Neuen Kunstgeschichte“, die den Künstler sozial zu verorten sucht. Dieser Ansatz, der dem Text Rechnung trägt und ihn zugleich historisch und kulturell verankert, kann für die Beantwortung der Frage, wie der Mythos des Künstlers produziert und wie er wirksam wird, fruchtbar gemacht werden. Er ermöglicht den bewussten Wechsel zwischen zwei verschiedenen Textebenen: dem Typischen und Symbolischen, auf dem Kris und Kurz in ihrer Einschätzung der Form insistieren und der Spezifizität der einzelnen Anekdote in einem bestimmten Text bzw. der bestimmten Darstellung eines Künstlers. Dieser Ansatz verbindet einen physischen Menschen und ein WerkCorpus mit einem Mythos, der über beide hinausgeht. Die zweite Analyseebene ist nur dann möglich, wenn wir im Anschluss an Finemans Argumentation die Anekdote rhetorisch kontextualisieren.
Die Funktion der Künstleranekdote Ich beginne meine Untersuchung der Künstleranekdote mit einem Blick auf ihre ursprüngliche Funktion und Eigenschaften. Anekdoten sind ein zentrales Element des historischen Narrativs vom Künstler; mit dem Zweck, das Geschichtenerzählen (also Biographie, die schriftliche Lebensgeschichte) mit Erfahrung (also „realen“ Ereignissen) zu vereinen. Im Künstlernarrativ geht die Anekdote als Genre dem Genre der Künstlerbiographie, die erstmals im 15. Jahrhundert mit Manettis Lebenslauf von Brunelleschi aufkommt, voraus. Künstleranekdoten finden sich schon deutlich früher. Selbst in ihren frühesten Ausformungen verknüpft die Künstleranekdote immer einen Namen (den des Künstlers) mit einer Handlung. Künst-
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos leranekdoten haben ihren Ursprung offenbar in der griechischen Antike wie Detiennes Mythologie.31 Die Naturgeschichte von Plinius dem Älteren (ca. 23–79 n. Chr.), welche die erste auf uns gekommene, längere Darstellung der griechischen Kunstgeschichte und Künstler enthält, zeigt, dass Darstellungen von Kunst und Künstlern Teil eines größeren historischen Projektes waren und dass sie ausgesprochen kohärent und gut erkennbar im Genre der Künstleranekdote gegeben sind. Diese Anekdoten finden sich bei Plinius in den Büchern 33–35, und werden – wie Kris und Kurz erkannt haben – (mit wechselnden Namen und Orten) in der gesamten folgenden Kunstgeschichte endlos wiederholt, insbesondere zu Beginn der Frühen Neuzeit. Eine der am häufigsten wiederholten und erläuterten Anekdoten handelt von dem Maler Zeuxis aus Crotone und seinem Rivalen Parrhasios: Der zuletzt genannte soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe so erfolgreich gemalte Trauben ausgestellt, daß die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.32
Diese Anekdote bringt uns zum Topos der Rivalität zwischen Künstlern zurück. Hier wird die Rivalität über die Wiedergabe der Natur (Mimesis) und über die Feststellung dargestellt, dass der gute, gar Wunder schaffende Künstler weiß, was gute, gar wunderbare Kunst ausmacht.33 Gute Kunst von guten Künstlern ist ein deutliches Anzeichen für die moralische Ebene, auf welcher der Künstler mit dem Kunstwerk in den frühesten Beispielen des Genres verbunden wird. Kris und Kurz weisen darauf hin, dass diese Anekdote ebenso wie die darin enthaltenen Tropen über den Künstler, von der Renaissance bis in die Gegenwart in anderen Anekdoten oft wiederholt werden, sei es als direktes, sei es als freies Zitat. Diese kurzen Er31 Vgl. zur Künstleranekdote in den Schriften der griechischen Antike die grundlegende Untersuchung von Pollitt 1974, der darlegt, dass sich die Künstleranekdote „mindestens bis zu Duris von Samos (ca. 340–260 v. Chr.) zurückverfolgen lässt“ (9). 32 Plinius Secundus der Ältere –1978, 55. Zu Plinius’ Künstleranekdoten vgl. auch Pliny the Elder 1896; Isager 1991; und die maßgebliche Rezension dieses Buches von Alice Donohue. 33 Pollitt 1974, 78.
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Catherine M. Soussloff zählungen sind freischwebend und aufgrund dieser Eigenschaft hängt ihre Bedeutung von ihrem Ursprungstext ab. Die Bedeutung bleibt zumindest teilweise vorgegeben, unabhängig davon, wo die Anekdote in einem neuen Text platziert ist. Mit der neuen Situierung, erhält der Inhalt der Künstleranekdote aber zudem eine zusätzliche Bedeutung, je nach den Gegebenheiten ihrer Platzierung, also dem, was der Anekdote innerhalb des größeren Narrativs vorangeht und was auf sie folgt. Diese Anekdoten sind eben deshalb so bedeutend für die Kunstkritik und den wissenschaftlichen Diskurs der Kunstgeschichte, weil sie sich so leicht verschieben lassen und sich so mühelos in die neuen Texte einfügen, in die sie eingehen. Die Anekdoten und Tropen finden sich somit in der Kunstkritik und im kunstgeschichtlichen Diskurs fern von ihrem ursprünglichen biographischen Ort und eingefügt in eine andere Art von Narrativ, das jetzt Kunstgeschichte heißt. Die der Künstleranekdote spezifischen narrativen Eigenschaften lassen dabei das Bild des Künstlers, wie es die Anekdoten konstruieren, fortleben. Daraus resultiert die Fortschreibung bestimmter Künstlermythen in der Kunstgeschichte, die von der Struktur der Anekdote getragen werden. Diesen Punkt möchte ich anhand dreier Beispiele weiter ausführen und näher bestimmen, weil er für meine Argumentation äußerst bedeutsam ist. Die Beispiele gehen auf die eben zitierte ZeuxisParrhasios-Anekdote zurück; sie sind drei Büchern aus den letzten drei Jahrzehnten von drei verschiedenen Autoren entnommen, die sich mit ganz unterschiedlichen Aspekten visueller Kultur auseinandersetzen. Diese Auswahl, oder dieses historiographische Beispiel der Verwendung der Zeuxis-Parrhasios-Anekdote erlaubt Rückschlüsse auf die Funktionsweise der Anekdote im neueren kunstgeschichtlichen Diskurs und in der Kunstkritik. Deutlich wird so außerdem, dass der Gebrauch der Anekdote einen universalisierenden Gestus darstellt, der unabhängig vom Datum oder den historischen Umständen des Auftretens in einem konkreten Text eines bestimmten Autors ist und auch unabhängig von dem Verweis auf einen bestimmten Künstler oder ein konkretes Kunstwerk. Ich habe oben dargelegt, dass sich die universalisierende Tendenz im Gebrauch der Künstleranekdote ihrer ausgeprägten poetischen Sprache verdankt. In Hinblick auf die Analyse des kunstgeschichtlichen Diskurses lässt sich dieses Charakteristikum der Künstleranekdote in einem historischen Kontext als historisierte Beispielhaftigkeit verstehen. In seinem Buch Annibale Carracci and the Beginnings of Baroque Style (1977) paraphrasiert Charles Dempsey die Anekdote in Plinius’ Version und zitiert dann Carlo Cesare Malvasia, der im 17. Jahr-
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos hundert in seinem Lebenslauf des Bologneser Malers Agostino Carracci ebenfalls eine Variante von ihr verwendet: Er malte ein graues Pferd (das Bild nutzte nämlich chiaroscuro für die Illusion) mit solcher Lebendigkeit, dass ein Hengst es anwieherte, sich ihm zu nähern versuchte und es schließlich frustriert mit einem Huftritt zerstörte. Er täuschte einen Maler mit einem Bild (dieses Mal, indem er Farbe für die Lichteffekte hinzufügte), das ein gehäutetes und ausgeweidetes Schaf darstellte, das an einem Haken hing. Der Maler pries im Näherkommen die gute Qualität des Fleisches und berührte es mit der Hand, was die Illusion zerplatzen ließ.34
Dempsey möchte zeigen, dass Carracci chiaroscuro „als Grundlage der perfekten Illusion verwendete“. Das ist eines von Plinius’ Anliegen in der ursprünglichen Anekdote. Mein Punkt ist, dass Dempsey durch die Wiederholung der Anekdote in seiner Interpretation den Stil Carraccis genau so beschreibt, wie Malvasia in seiner Biographie mittels der Wiederholung derselben Anekdote (und unter Hinweis auf Carraccis Namen). Malvasia fügt noch hinzu, dass ihm ein anderer Künstler, Faberio, die Geschichte erzählt habe. Die vielen Wiederholungen der Anekdote geben der Interpretation den Hauch von „Realität“. Die Anzahl (4) früherer Autoren, welche die Anekdote nutzten, erhöht deren Autorität: Dempsey (1) zitiert Plinius’ ZeuxisParrhasios Anekdote (2); Dempsey (1) zitiert Malvasia (3), der Faberios Verwendung der Anekdote (4) als tatsächliche Darstellung der Malweise des Künstlers Carracci zitiert. Man beachte, dass in diesem Fall die Anekdote im Kontext einer Kritik des Malstils steht. Mein nächstes Beispiel der Verwendung der Zeuxis-Parrhasios Anekdote ist Norman Brysons Buch Vision and Painting: The Logic of the Gaze (1983) entnommen. Bryson (1) zitiert die Anekdote wie sie bei Plinius (2) steht, und nutzt sie als Beleg für „das Weiterwirken weitgehend unhinterfragter Annahmen“ in der Disziplin der Kunstgeschichte, vor allem für die Wichtigkeit mimetischer Standards.35 Wie Dempsey zitiert Bryson die Anekdote, um die Arbeit eines früheren Kunsthistorikers, hier Ernst Gombrichs (3), zu kommentieren, dessen Buch über Malerei und Wahrnehmung, Art and Illusion, Bryson als „grundlegend falsch“ bewertet, wofür er die ZeuxisParrhasios Anekdote als emblematisch anführt. In diesem Fall steht die Anekdote im Kontext einer fachlichen Kritik über die Wahl des Stils. Mein letztes Beispiel ist das komplexeste; es ist Fredric Jamesons Buch über Film Signatures of the Visible (1990) entnommen. Jameson (1) zitiert Plinius’ (2) Anekdote nach Lacan (3), der sie wie34 Dempsey 1977, 72. 35 Bryson 1983, 1.
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Catherine M. Soussloff derum – wie uns James mitteilt – in seiner „Meditation über den skopischen Trieb im Elften Seminar“ benutzt bzw. „für die Definition des Freudianischen (4) Begriffs eines instinkthaften Triebs“.36 Jameson nutzt Lacans Verwendung der Anekdote als Ausgangspunkt, für ein Verständnis des postmodernen Bildes als Phänomen, in dem die skopische Zerstörung des Schleiers selbst zum Objekt der Begierde geworden ist: eine letzte Oberfläche, der es triumphierend gelungen ist, dieses „andere Ding“, dieses „etwas andere“, die Gegenstände dahinter zutage zu bringen, sie derart auf eine einheitliche Fläche zu stellen, dass sie ihre vorgängige Solidität und Tiefe beschatten und zu Bildern ihrer selbst werden, um nun in ihrem eigenen Recht betrachtet zu werden, als Bilder und nicht mehr als Repräsentationen von etwas anderem.37
Hier dient die Anekdote dazu, die Essenz des Bildes in der Postmoderne zu verstehen bzw. dazu sich an eine Auffassung von Mimesis anzunähern, wie sie sich zuerst in Plinius’ Anekdote findet. Ob die Anekdote nun dazu dient, ein Gemälde in Grau- und Weißtönen zu beschreiben (Dempseys chiaroscuro), eine als Mimesis bekannte Technik, die seit Beginn der Frühen Neuzeit vorherrschend ist, zu erklären (Bryson und Gombrich), oder ob sie zur Erklärung des Konzept des bewegten Bildes in der zeitgenössischen Kultur verwandt wird (Jameson): Die Verwendung der Anekdote ähnelt sich bei allen drei Autoren. Mit dem Textzitat an seiner ursprünglichen und an nachfolgenden Stellen ist ihr Gebrauch repetitiv. Mit jeder weiteren Zitierung wächst die Zahl der Autoren, deren Autorität dem Text anhaftet. Die Autorität etabliert sich damit nicht nur durch den Inhalt und die Rezipienten des Inhalts, die vielen genannten Autoren, sondern auch durch die Kunstgeschichte selbst, die sofort (aufgrund der Wiederholung) das Genre als ihr eigenes anerkennt. In diesem Fachdiskurs lenkt die Anekdote die Aufmerksamkeit auf sich und verweist den Leser auf die Anekdotenhaftigkeit des kunsthistorischen Diskurses, also auf jene Teile des Diskurses, die in der Anekdote repräsentiert sind, den Künstler und die Kunstwerke. Damit bleiben die Inhalte zumindest partiell in der Form gefangen – der Anekdotenhaftigkeit mit allem, wofür sie steht, wie ihre trügerische und impressionistische Referenz auf das „Reale“ oder die ihr innewohnende Dimension des Mythischen. Bei Dempsey, Bryson und Jameson stellt diese Anekdote also einen Weg dar, die Ziele des Künstlers und seine Arbeitsweise oder das Ergebnis dieses Arbeitens, das Bild zu verstehen. Das Genre der Anekdote ist eine Mimesis der Arbeitsweise der Kunst, ihrer 36 Jameson 1990, 139f. 37 Ebd.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos Wiederholungen und ihrer Ähnlichkeiten, ungeachtet des Mediums (Malerei bei Dempsey, Repräsentation bei Bryson, Film bei Jameson). Aber wenn wir die Verwendung der Form rhetorisch betrachten, wird einsichtig, dass sie kontinuierlich das anvisierte Ziel einer synchronen Kunstgeschichte bzw. Kunstkritik, die im zwanzigsten Jahrhundert dominiert, vereitelt. Die Spezifizität eines jeden Produzenten und eines jeden Objektes werden ausgeblendet oder unsichtbar gemacht, wenn sich Geschichte der Anekdote bedient. Kris und Kurz verdankt sich die Einsicht, dass keine Geschichtsschreibung mehr Anekdoten aufweist als die Kunstgeschichte. Diese Tatsache, die in der Kunstgeschichte am auffälligsten, aber auch in anderen Disziplinen gegeben ist, in denen die Interpretation kultureller Repräsentationen oder Bilder als zentral gilt, hat tiefgreifende politische Implikationen für die Disziplin. Illustrieren lässt sich dieser letzte Punkt bezüglich des Fachdiskurses anhand der Kritik, die James Clifford an der Anekdote und ihrer Funktion als autorisierendes Narrativ in der Anthropologie gemacht hat. James Clifford hat erkannt, dass in Clifford Geertz’ bekanntem Essay „Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ das Eingreifen der Polizei in den illegalen Hahnenkampf, das von dem Ethnographen-Autor als eine Anekdote erzählt wird, „die Annahme einer Verbindung“ zwischen Geertz’ früherem „kindlichen Status innerhalb der Kultur“ und einem „Erwachsenen, selbstbewussten“ Stadium „etabliert“. Wie Clifford darlegt, ist es die eingefügte Anekdote, die den akzeptierten und wissenden Anthropologen in Erscheinung treten lässt, der dann für den Rest der Geschichte zugegen bleibt.38 Genau an der Stelle also, an der die Polizei in den Hahnenkampf eingreift, bricht auch die Anekdote in Geertz’ Erzählung ein. Rhetorisch bildet hier das Eindringen der Anekdote das „reale“ Ereignis, die Polizei-Aktion, mimetisch ab. Die Verwendung der Form macht uns glauben, dass Autorität und Mimesis immer auf die eine oder andere Weise aufrechterhalten bleiben. Cliffords Analyse von Geertz’ Anekdote illustriert die mnemotechnische Funktion aller Anekdoten. An dieser Funktion lässt sich leicht ablesen, wie die Anekdote wesentlich zu einem kulturellen Gedächtnis beiträgt, insbesondere zur Art und Weise des Erinnerns. Wiederholung und Vertrautheit sind zwei grundlegende Aspekte des Erinnerns. Darüber hinaus trägt die vertraute narrative Struktur des Genres mit ihrer klaren Markierung von Anfang und Ende zur Gedächtnisfunktion bei. In dem Moment, in dem dieses Erzählelement in ein größeres oder längeres Narrativ eingebettet ist, führt es 38 Clifford 1988, 40f.; Geertz’ Essay „Deep play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ findet sich z. B. in Geertz 1983, 202–260.
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Catherine M. Soussloff zu einem Bruch oder einer Teilung innerhalb des „Träger“-Narrativs, im wahrsten Sinne des Wortes in medias res. Anfang und Ende der Anekdote markieren die Grenzen des sie umgebenden Narrativs. Die Wiederholung der Anekdote oder die Erinnerung an sie rufen uns also nicht nur ihren Inhalt, sondern auch den Inhalt des Textes, der sie einmal umgeben hat, wieder auf. Das anekdotische Narrativ erleichtert diesen Vorgang, weil es kürzer ist als das Narrativ, das es unterbricht. Als eine verkürzte und dennoch „ganze“ Form innerhalb eines längeren Narrativs lässt sie sich leichter erfassen als die ganze Geschichte, auf die sie sich immer beziehen kann und für die sie in jeder Hinsicht exemplarisch ist. Wenn Clifford die Anekdote von dem Polizeieinsatz im balinesischen Hahnenkampf erzählt, dient das der Erinnerung an den ganzen Essay mit seiner kanonischen bzw. maßgeblichen Rolle im Feld der Kulturanthropologie und in späteren Interpretationen – auf der Seite „der Eingeborenen“ und gegen die Unterdrückung ihrer Kultur.39 Das Aufgreifen der Anekdote stellt für Clifford eine Art Stenogramm dar, eine Möglichkeit, Geertz’ berühmten Essay und die Autorität dieses Textes in Erinnerung zu rufen, ohne über die Anekdote hinaus darauf Bezug nehmen zu müssen. Das ist für Cliffords eigenen Text The Predicament of Culture wichtig, der nicht nur die Ethnographie historiographisch kritisiert, sondern auch Geertz’ unkritischen Umgang mit narrativen Strukturen. Dasselbe wie für die Positionierung und Funktion von Geertz’ Anekdote gilt auch im Fall der Zeuxis-Parrhasios-Anekdote, vor allem in den paraphrasierenden Zitaten von Dempsey, Bryson und Jameson. In Hinblick auf mein hier diskutiertes Anliegen hat es eine eigene Ironie, dass Cliffords Version von Geertz’ Essay nicht nur am Ende eines Abschnitts steht, sondern fast genau in der Mitte des Kapitels. Diese Positionierung teilt Cliffords Essay in zwei zentrale Teile und legt ein weiteres Nachdenken über die textuelle Funktion dieser Anekdote nahe, das allerdings über die Künstleranekdote hinausgeht.
39 Einige grundlegende Elemente des ursprünglichen Narrativs, die in die Anekdote eingingen, fehlen sowohl in Cliffords Zitat als auch in Geertz’ eigener Konstruktion der Anekdote. Kathleen Biddick diskutiert einige davon in ihrer Version des Polizeieinsatzes, in der sie vor allem das Fehlen von Geertz’ Frau thematisiert, die ihren Ehemann bei seiner Feldforschung begleitete und die an einer früheren Stelle in dem Essay erwähnt wird. Vgl. Biddick 1994.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos
Geheimnisse in der Struktur Die Etymologie des Begriffes Anekdote wird in den wenigen Fällen einer selbstreflexiven historischen Interpretation gerne herangezogen. Kris und Kurz tun dies in der Einleitung zu ihrem Buch, wenn sie den Leser an die älteste Bedeutung dieses Wortes erinnern als „etwas Neues, Unbekanntes und daher Verborgenes“.40 Aber dieser Wortgebrauch lässt einen wichtigen Aspekt der frühesten Definition aus; Kris und Kurz blenden ihn aus, um die Anekdote mit dem Genre der Novelle oder der Kurzgeschichte zu assoziieren, zu denen sie aber meines Erachtens nur oberflächlich eine Nähe aufweist. Gerechterweise muss man Kris und Kurz zugute halten, dass die Anekdote um so mehr in die Nähe von Kurzgeschichte und Novelle rückt, je mehr sie sich von ihrem ursprünglichen narrativen Kontext entfernt, nämlich von der Biographie und der Historiographie. Am bekanntesten ist die Verwendung des Begriffs Anekdote als Titel der Schrift Anekdota des griechischen Historikers Prokopios aus dem sechsten Jahrhundert. Wie der Autor selbst mitteilt, gibt das Buch einen internen Bericht aus erster Hand oder eine alternative Geschichte zu der Darstellung in seinem früheren achtbändigen Werk De bellis (Kriegsgeschichten). Das frühere Buch versuchte einen strikten Tatsachenbericht von Justinians berühmtem General Belisarius. Prokopios’ Anekdota lässt sich im Gegensatz dazu als bitterer und schonungsloser Angriff auf alle Hauptakteure der Kriegsgeschichten charakterisieren. Als Gründe für die schwer erklärbare Boshaftigkeit der Anekdota wurden Prokopios’ Frustration darüber angeführt, dass er das herrschende Regime nicht offen kritisieren konnte, und seine politische Zugehörigkeit zur mächtigen und konservativen Aristokratie der Grundbesitzer genannt, die Justinian in ihre Schranken zu weisen versuchte.41 Das Geheimnisvolle, das Politische und das Private schwingen im Titel von Prokopios’
40 Kris/Kurz 1979, 10. 41 Vgl. die Einleitung von Arthur E. R. Boak zu der Übersetzung der Anekdoten (1961). [Dem Originaltext folgend, sei auch hier neben der Standardedition des Originaltextes der Werktitel in einigen verbreiteten Übersetzungen angeführt, Procopii Caesariensis Opera Omnia, [Hg.: Jacobus Haury], Leipzig 1905–1913, bzw. die neubearbeitete Ausgabe von G. Wirth in 4 Bd. Leipzig 1971. De Bellis, Bd. 1–2 sind die 8 Bücher über die Kriege. Eine deutsche Übersetzung von 1913 trägt den Untertitel Kriegsgeschichten in acht Büchern; Die Geschichtsschreiber ist der Titel einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert; meist sind die deutschsprachigen Übersetzungen unter Angabe des jeweiligen Krieges erschienen, z. B. Vandalenkrieg, Gotenkrieg etc.; Anmerkung der Übersetzerin.]
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Catherine M. Soussloff Buch und in der Bedeutung des Terminus mit. Arthur Boak bemerkt in seiner Einleitung zu Prokopios’ Buch: Den Titel trugen gemeinhin solche geheimen, posthum veröffentlichten, politischen Schriften, die politische Feinde verunglimpften, insbesondere wenn es aufgrund der Herrschaftsposition gefährlich gewesen wäre, diese öffentlich anzugreifen.42
In einer repressiven Gesellschaft wie im Italien der Frühen Neuzeit, zu einer Zeit unmittelbar nach der Erfindung des Buchdrucks, als das Genre der Biographie erstmals aufkam, konnten „Geheimnisse“ veröffentlicht werden und fanden eine größere Verbreitung. Die öffentliche Darstellung politischer Geheimnisse konnte als subversiv oder enthüllend bezeichnet werden, je nach Standpunkt des Autors und des Publikums.43 Vor dem Hintergrund der frühen Künstlerbiographien können wir die Anekdote auf spezifische Aspekte des Künstlers in der früh-neuzeitlichen Gesellschaft beziehen, in der Künstler und Öffentlichkeit klare, manchmal mit einander konkurrierende politische Ziele verfolgten. An Manettis Lebenslauf von Brunelleschi wird deutlich, dass zu den sozialen Neuerungen die Verschiebung des Künstlerstatus’ vom Handwerker zum „Künstler“, das Ende des Zunftwesens und seiner Regelungen, und die Gründung der ersten Kunstakademien mit ihrem Codex zur Ausübung der Kunst und dem Verhalten des Künstlers, beispielsweise im Fall von Konkurrenz, gehörten.44 Der Warenwert des mythischen Künstlers ist in diesem politisch und ökonomisch strategischen Bereich impliziert, wobei in den Anekdotendarstellungen der „reale“ Mensch „hinter“ einem gegebenen Œuvre zu stehen scheint. Die folgende bekannte Passage aus Giorgio Vasaris Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten bestätigt, dass der Inhalt seiner Biographien, vor allem im Fall der Künstleranek42 Ebd., viii. 43 Für eine hervorragende Übersicht über die verschiedenen Aspekte des Geheimnisses vgl. Bok 1982. Meine Auffassung vom Einfluss des Buchdrucks auf die Anekdote und das Offenlegen bzw. die subversive Veröffentlichung von Geheimnissen dieser Form ist Elizabeth Eisensteins Arbeit über die Entwicklung des Buchdrucks und seinen Einfluss auf das öffentliche Wissen in der Frühen Neuzeit verpflichtet, vgl. Eisenstein 1979. Hilfreich war hier außerdem Kernan 1987. 44 Die umfassende Literatur zu diesen komplexen Topoi kann hier nur angedeutet werden. Zum Status des Künstlers in der Frühen Neuzeit sind zunächst Cole 1983, dann Alpers 1990 zu nennen. Zum Zunftwesen, seiner veränderten Organisation und dem Kunstmarkt vgl. Baxandall 1972; Goldthwaite 1994. Zu den frühen Kunstakademien, ihren Zielen und Programmen vgl. Pevsner 1940; Dempsey 1984.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos dote, als enthüllend oder subversiv angesehen werden kann, dass also die politischen Geheimnisse des Künstlers von dem Historiographen offengelegt (oder verschwiegen) werden. In der Tat ist die folgende Passage aus Vasari grundlegend für das Gewicht, das die Kultur dem Künstler beimisst, weil sie in ihm letztlich einen Hüter des Imaginären sieht, mit dem dazugehörenden moralischen Gewicht bzw. der Verantwortung, wie sie keinem anderen Angehörigen der Gesellschaft zukommt. Vasari schreibt: Als ich unter Aufbietung aller meiner Kräfte damit begann, die Geschichte der vortrefflichsten Künstler zum Nutzen und zur Ehre der Künste aufzuschreiben, habe ich mich in der Nachahmung dieser tüchtigen Männer soweit wie möglich derselben Methode bedient und mich demnach nicht nur bemüht, ihre Taten zu schildern, sondern in der Darstellung außerdem zwischen Besserem und Gutem, Vortrefflichem und Allerbestem zu unterscheiden und mit einiger Sorgfalt die Arbeitsweise, das Aussehen, die Stilrichtungen, Eigenschaften und Gedanken der Maler und Bildhauer festzuhalten. Außerdem habe ich so gut wie möglich versucht, jenen, die alleine dazu nicht in der Lage sind, die Ursachen und Wurzeln der Stilrichtungen und der Verbesserung und Verschlechterung der Künste zu erklären, die zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Personen eingetreten sind.45
Der hier angeschlagene moralische Ton ist für die Repräsentation des Imaginären „real“ notwendig, obwohl nun langsam hervortritt, wie Detiennes „Orte der Illusion“ in der Mythologie selbst verankert sind. Auch zeichnet sich ihr Bezug zu den widerstreitenden Interpretationen rund um Machtprobleme ab, die der Form innewohnen. In diesem Sinn können wir auf der Metaebene jede Anekdote als Kommentar zum geheimen politischen Narrativ innerhalb des größeren historischen Narrativs verstehen. Die Unzugänglichkeit ist durch die Form bedingt, denn selbst wenn der Inhalt der Anekdote dem Leser scheinbar Zugang zu einem höheren Maß an Realismus oder Aktualität gibt – zu einer Erzählung aus erster Hand – , verweigert die Form eine Enthüllung. Wir haben anhand des Beispiels der Zeuxis-Parrhasios-Anekdote gesehen, wie die Anekdote unbeschadet von einem Narrativ zum anderen wandert und dabei die Integrität ihrer inneren Kohärenz beibehält, obwohl ihre späteren Bedeutungen mit der Entwicklung des Diskurses der Kunstgeschichte von der ursprünglichen Fassung leicht abweichen können. Das scheinbare Offenlegen und die „Realität“ des perpetuierten Geheimnisses bleiben dialektisch eng aufeinander bezogen. Dieser Widerstand, diese versprochene, aber niemals vollständig eingelöste Enthüllung durch die Anekdote, wird zudem dadurch er-
45 Vasari 2004, 78.
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Catherine M. Soussloff leichtert, dass die Form „Anekdote“ sich selbst trivialisiert. Wenn sie ihrer politischen Essenz zu entkommen versucht, wird sie zum Klatsch: „Das Geheimnis blieb nicht lange im Dunkeln, nachdem es von einer Frau ausgeplappert wurde“, schrieb der Dramatiker Stapylton 1650.46 Kunsthistoriker haben diesen der Form innewohnenden Widerspruch zwischen immenser Ernsthaftigkeit und Trivialität oft als einen Widerspruch in der Künstlerdarstellung aufgefasst. Mit viel Aufwand versucht man, ihn zu umgehen, anstatt ihn als Teil der Repräsentation selbst hinzunehmen.47 John Guare bringt in seinem jüngsten Stück und Film Six Degrees of Separation die Trivialität der Anekdote auf den Punkt. Die Hauptfiguren Ouisa und Flan diskutieren über die Bedeutung und die Erscheinung des schwer einschätzbaren Paul, der fälschlich behauptet, der Sohn Sidney Poitiers zu sein und ihnen beiden in der Kinoversion von Cats eine Rolle verschaffen zu können. Ouisa beschwert sich: Und wir verwandeln ihn in eine Anekdote, um uns die nächsten Monate zum Essen einladen lassen zu können. Oder um andere einzuladen. Wie integrieren wir das, was uns zugestoßen ist, ins Leben, ohne es in eine zahnlose Anekdote und eine Pointe zu verwandeln, die wir für die nächsten Jahre wiederkäuen müssen. „Erzähl’ die Geschichte von dem Schwindler, der in unser Leben trat… Das erinnert mich an die Zeit mit diesem Jungen…“ Und wir werden zu diesen menschlichen Leierkästen, die eine Anekdote nach der anderen ausspucken. Aber es war eine Erfahrung. Wie bewahren wir die Erfahrung?48
Die Anekdote in ihrer trivialisierten Form, dem Klatsch, wird hier als etwas aufgefasst, das die Erfahrung, man könnte auch sagen, die Wirklichkeit, unterläuft. Indem sie Erfahrung reduziert, sie enthält und einschließt, eignet sie sich besser dazu, die große (Illusion der) Wahrheit in der Biographie zu retten. Ganz im Gegensatz zu den Anekdoten, die ja bloß als „Beispiele“ zitiert werden, ist die (Il46 Oxford English Dictionary, 2nd ed., s.v. „gossip“. 47 Vgl. beispielsweise Kemp 1992, 182. In diesem Artikel versucht Martin Kemp, dieser Spannung in Künstlerbiographien und in den Monographien über die Künstler mit der Dichotomie von Faktualem und Fiktionalem beizukommen. Er verortet die „Praxis historischer Biographik“ und die Herstellung von Kunst „in einer spezifischen und vollkommen inzestuösen Beziehung“. Offensichtlich stimme ich seiner Einschätzung zu, sieht man davon ab, dass es sich bei „inzenstuös“ um ein Wort mit negativen kulturellen Konnotationen handelt, ein Grundgefühl, das ich nicht mit den Biographien oder der Herstellung von Kunst verbinden wollen würde, sondern eher mit der Praxis und den Grenzen von Kunstgeschichte in ihrem Umgang mit diesen Texten bis in die Gegenwart. 48 Guare 1990, 117f.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos lusion der) Wahrheit, die den Autor ganz und gar begleitet, eben nicht so trivial. Das „Reale“ bleibt in dem Genre ebenfalls nur aufgrund des Gegensatzes zwischen dem größeren Narrativ und den eingefügten Anekdoten erhalten. Die scheinbaren Widersprüche zwischen Inhalt und Form in der Anekdote als geheimes, subversives und politisches Narrativ auf der einen Seite, auf der anderen als enthüllender und trivialisierter Klatsch, sind grundlegend für ein Verständnis der Rezeption von Anekdoten, insbesondere von Künstleranekdoten, durch die Kunsthistoriker und deren Verwendung im Schreiben von Geschichte. In dem Moment, in dem wir die bislang nicht untersuchten Widersprüche als zentrales Element für das Funktionieren der Anekdote verstehen und als zentral für das Genre der Künstlerbiographie, können wir meines Erachtens sehr viel weitgehender beleuchten, warum sie bislang so wenig theoretisiert wurde.
Mythos, Geschichte und Historiker Der Widerspruch zwischen einem Inhalt, der die Hoffnung auf die Enthüllung der Wahrheit oder Wirklichkeit – „der Realität“ – nicht aufgibt, und dem Genre selbst, das am Unzugänglichen festhält, bringt einen grundlegenden Widerstand gegen die Interpretation auf vielen Ebenen mit sich. Er mag seinen Teil an der Zuflucht zum Mythos oder etwas Nicht-Wissbarem haben, die Kris und Kurz als die letzte Erklärung für die Form geben. Ihre Verwendungsweise des Terminus der „ursprünglichen Zelle“ in der Bezeichnung der Künstleranekdote bedeutete, dass der Künstler „aufs Engste mit der legendären Vergangenheit verbunden blieb“, von der er nicht losgelöst werden kann und ohne die kein Held oder Künstler je existieren würden. Sie schrieben: Denn Historiker kamen zu der Erkenntnis, dass die Anekdote in einem weiten Sinn die Bereiche von Mythos und Sage erschließt, für die sie einen Reichtum an imaginativem Material in die aufgezeichnete Geschichte einführt. So finden wir in den Geschichten von verhältnismäßig modernen Künstlern biographische Themen [z.B. Anekdoten], die zurückverfolgt werden können, Punkt für Punkt, zu der gott- und heldenerfüllten Welt vor der Morgendämmerung der Geschichte.49
Hier reist die Anekdote rückwärts durch die linear aufgefasste Zeit der Geschichte, um die andere narrative Zeit von Mythos und Vorgeschichte zu erschließen. Kris und Kurz übernahmen diese Auf49 Kris/Kurz 1979, 12.
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Catherine M. Soussloff fassung eines kulturell Vorbewußten aus Freuds Schriften, vor allem dem Buch Totem und Tabu, wobei sie sich in anderen Varianten auch bei Jung findet. Beginnend mit Lévi-Strauss haben Anthropologen allerdings die Mängel einer solchen Kulturauffassung aufgezeigt, und Kritiker von Freud haben die Probleme dieser Auffassung betont.50 Eine Auffassung des Künstlers, die – und sei es nur implizit – meint, dass die Idee des Künstlers in einer Kultur zu einem solchen vorhistorischen Stadium zurückverfolgt werden kann, spricht dem Künstler sowohl die historische Besonderheit als auch individuelles menschliches Handeln ab. Für Kris und Kurz geht die vorhistorische oder „ursprüngliche“ Anekdote der Geschichte selbst voraus. Diese Sicht auf die Form ignoriert ihren wesentlich literarischen und sprachlichen Charakter genauso wie ihre rhetorische Struktur, also jene Elemente, die Fineman ebenso wie White voraussetzen. Sie hält an einem Geheimnis fest, dass die „Realität“, eingefangen und bewahrt von der Anekdote, selbst mythisch und generisch sei. Die „Realität“ ist damit ein Typus von Erfahrung, dem unabänderlich die Gefahr der Enthüllung zukommt, rhetorisch verschleiert als Verführung. Das Bild des Künstlers, das sich daraus ergibt, markiert und produziert die von einer Kultur geforderten Illusionen über Kunst; sie ästhetisiert die Ware und macht deren Produzenten zu einem Menschen von höherem moralischen Format als andere Menschen. Dem gegenüber müsste eine rhetorische und diskursive Interpretation der Form nicht nur die Rückkehr zum Mythos, wie sie neben vielen anderen Kris und Kurz vorgenommen haben, kritisieren, sondern auch darauf bestehen, dass das Geheimnis, das der Form innewohnt, das Resultat des politischen Gewichtes des Narrativs ist, und nicht eines mystifizierten oder vorhistorischen Ursprungs. In der Kunstgeschichte wenigstens liegt die Macht der Geschichte in der Anekdote. Ich habe aufgezeigt, dass Kris und Kurz dies erkannten und dass Burckhardts Verwendung von Künstlerbiographien mit einer Vielzahl von Künstleranekdoten grundlegend war für kunstgeschichtliche Schriften, wie wir sie heute kennen. Eine rhetorische Interpretation der Künstleranekdote mit einer politischen Ausrichtung könnte die Wahl, die eben der Gebrauch der Form selbst hervorruft, ans Licht bringen. Sie würde die naturalisierenden Mythologien des Künstlers in der Kultur in Frage stellen. Wenn, wie Detienne es formulieren würde, der Hase immer „gerne an den Orten der Illusion sein Lager macht“, ist es endlich an der Zeit, diese Orte zu benennen und die Illusion zu beschreiben. In der Kunst50 Lévi-Strauss 1965. Der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi hat kürzlich Freuds grundlegende Totemtheorie diskutiert, vgl. Yerushalmi 1991, v. a. 113, hier Anmerkung 6 zur Diskussion von Freuds Kulturtheorie.
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Der Künstler im Text – Die Rhetorik des Künstlermythos geschichte ist es an der Zeit, den Schleier der Illusion zu lüften, den die Anekdote als ein Genre mit angefertigt hat. Zugleich sollten wir uns dessen bewusst sein, dass die Interpretin, insbesondere eine, welche die Geheimnisse der Form preiszugeben scheint, um die Bedeutung der Form und den Inhalt der einzelnen Anekdoten offen zu legen, immer bis zu einem gewissen Grad suspekt bleiben wird, weil sie – gleich der Jägerin Diana – in der dominanten politischen Realität eine Rebellin ist. Dieses Misstrauen wird sich in Grenzen halten, solange sie einen Aspekt zum Historischen hinzufügt (wie mit der Sozialgeschichte der Kunst) oder eine feministische Kontextualisierung einer immer noch intakten mythischen Form vornimmt. Das Misstrauen wird vor allem dann wachsen, wenn sie eben diese Form des biographischen Narrativs und der nicht-fiktionalen Darstellung selbst in Frage stellt. Ersichtlich wird dann, wie solche Institutionen wie die verschiedenen Disziplinen in der heutigen Wissenschaftslandschaft oder Berufsfelder wie das der Kunstgeschichte auf Denker reagieren, die nach Bedeutungen suchen „im Land der Anfänge, zu dieser Jahreszeit der Geschichte.“ Übersetzung: Anja Burghardt
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein SUSANNE WINTER
„En fin de compte, tout s’arrange, sauf la difficulté d’être, qui ne s’arrange pas“.1 Mit dieser Feststellung schließt Cocteau sein Vor2 wort zu La Difficulté d’être, einem autobiographisch geprägten Text, dessen Titel über Cocteaus gesamtem Leben stehen könnte. Wenn er sich im ersten Essay „De la Conversation“ mit über 50 Jahren umsieht, entdeckt er nur Legenden über sich, und es gibt in seinen Augen niemanden, der ihn von dieser „mythologischen Lepra“ befreien könnte, denn diejenigen, die guten Willens wären, wissen nicht, wie sie ihn anpacken sollen. Die Vielfalt, der Kontrastreichtum, die Behendigkeit, mit der er sich, bald diesem, bald jenem Anreiz folgend, der einen, dann der anderen Seite zuneigt und wieder ein Gleichgewicht herstellt, irritieren die Zeitgenossen und stehen einer Annäherung entgegen, die das Wahre vom Falschen trennte. Daher sieht Cocteau sich veranlaßt, in La Difficulté d’être für sich 3 selbst zu sprechen und seine eigene Sache zu verteidigen. – Je-
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Cocteau 1995, 860. Die Erstausgabe von La Difficulté d’être erschien 1947 in Paris bei Éditions Morihien. Vgl. „De la Conversation“ in La Difficulté d’être: „J’ai passé la cinquantaine. [...] Si je regarde autour de moi (en ce qui me concerne) je ne découvre que légendes où la cuiller peut tenir debout. [...] Ni dans l’éloge ni dans le blâme je ne rencontre la moindre tentative afin de démêler le vrai du faux. Il est vrai qu’à ce silence de ceux qui pourraient débrouiller ma pelote je trouve des excuses. J’ai toujours eu les cheveux plantés en plusieurs sens, et les dents, et les poils de la barbe. Or les nerfs et toute l’âme doivent être plantés comme cela. C’est ce qui me rend insoluble aux personnes qui sont plantées en un sens et ne peuvent concevoir une touffe d’épis. C’est ce qui déroute ceux qui pourraient me débarrasser de cette lèpre mythologique. Ils ne savent par quel bout me prendre. Ce désordre organique m’est une sauvegarde parce qu’il éloigne de moi les inattentifs. J’en tire aussi quelque avantage. Il me donne de la diversité,
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein doch, welche Sache und gegen wen? Die Vielseitigkeit und die Gegensätzlichkeit seiner Werke, die rasche Bekanntheit seiner Person und das lange Verkanntsein des Künstlers in Frankreich sind Aspekte der Biographie Cocteaus, die eine Unterscheidung von wahr und falsch, von Sein und Schein, von Authentizität und Inszenierung durch Dritte in der Tat erschweren. Dass eine solche problematisch und von Cocteau selbst im Grunde wohl auch nicht gewollt ist, machen zahlreiche Äußerungen Cocteaus deutlich, die das Verhältnis von wahr und falsch, von Wahrheit und Lüge als ein paradoxes, unentwirrbares und relatives erscheinen lassen. „Comprenne qui pourra: Je suis un mensonge qui dit toujours la vérité“, lautet etwa der vielzitierte letzte Satz des Prosagedichtes „Le Paquet rouge“ 4 im Gedichtband Opéra, der die Lüge zur Wahrheit in eine Beziehung setzt, die das Komplementäre der Begriffe unterstreicht, während die immer wieder beschworene „méthode picassienne du plus 5 vrai que le vrai“, die sich Cocteau für sein Schaffen zu eigen machte, die Absolutheit der Wahrheit in Frage stellt. Sowohl das Werk Cocteaus als auch sein Leben sind von einer Diversität geprägt, die einer einsinnigen Deutung zuwiderläuft; Grund genug für Cocteau, sein Schaffen und seine Biographie immer wieder zu reflektieren, ohne jemals eine Autobiographie im eigentlichen Sinn zu verfassen, und für seine Biographen, dem Schillernden, Ungewöhnlichen und Skandalösen auf die Spur kommen zu wollen. Wie bei kaum einem anderen Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen bei Cocteau Leben und Werk im Interesse der Öffentlichkeit und werden begleitet von Selbstinterpretationen und Selbstdarstellungen Cocteaus, die getragen sind von der Sorge um das persönliche und künstlerische Erscheinungsbild. Was in diesen, oft paraliterarischen Texten richtig oder falsch, Wahrheit
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du contraste, une vitesse à pencher soit d’un côté, soit de l’autre, selon que tel ou tel objet me sollicite, et à me remettre d’aplomb. Certes il rend mon dogme obscur, ma cause difficile à défendre. Mais puisque nul ne vient à mon aide, j’y courrai moi-même et tâcherai de me suivre de près“. (Cocteau 1995, 861) Cocteau 1999, 540. Die Erstausgabe von Opéra erschien 1927 bei Stock in Paris. Der über 20 Jahre später entstandene Essay „De la Conversation“ nimmt sich wie eine späte Reminiszenz an „Le Paquet rouge“ aus, ist doch hier wie dort die Rede von der Lepra, einem Äußeren, das die Welt täuscht und einer inneren Unordnung, die sich im Äußeren, dem kaum zu bändigenden Haar, zeigt und die anderen irritiert. Jean Cocteau, „Picasso“. In: Cocteau 1995, 555.
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oder Lüge ist, läßt sich nicht immer entscheiden, offensichtlich jedoch ist ihre konstruktive Dimension der Selbstinszenierung und Cocteaus Bemühen, die Wahrnehmung seines Künstlerlebens durch seine Um- und Nachwelt nicht dem Zufall zu überlassen.
Zur Biographie Jean Cocteaus Es ist dieser generöse, unbedingte Einsatz des ganzen Talents und Könnens bei jeglicher Verrichtung, in jedem Augenblick, durch den Jean Cocteau als Mensch verführt und fasziniert. Er spart nicht mit sich, wird sich selbst nie untreu: All seine Akzente und Gesten, seine Bonmots und Grimassen haben den konsequent durchgehaltenen, bewußt pointierten Stil des großen Virtuosen, dessen Ehrgeiz und „raison d’être“ eben darin bestehen, seine Virtuosität ständig zu bewähren, ständig zu wirken, zu frappieren, zu entzücken. Als Meister des Gespräches hat er heute nicht seinesgleichen: mit so fulminanter Verve, so leidenschaftlich sich verschwendendem Esprit ist wohl seit Oscar Wilde nicht ge7 plaudert worden.
Diese Charakterisierung Cocteaus durch Klaus Mann in seinem „Lebensbericht“ Der Wendepunkt macht die Faszination anschaulich, die Cocteaus Auftreten hervorgerufen haben muß. Als Dichter, Romanschriftsteller, Theaterautor, Essayist, Journalist, Karikaturist, Graphiker, Maler, Filmemacher, Regisseur pflegte er Verbindungen zu vielen anderen Künstlern der Zeit, verkehrte in Pariser Künstlerkreisen, zuerst der Rive droite, dann der Rive gauche, dann in beiden, war zu Lebzeiten bekannt, geliebt und gehaßt, und gehörte in den späten 1920er Jahren, wie Klaus Mann weiter schreibt, „zu den Mythen unserer übernationalen Brüderschaft; sein Name – wie der des André Gide, des Kafka, des Picasso – war eines der Losungsworte, an denen die jungen Schöngeister von Cambridge bis 8 Kairo, von Salzburg bis San Franciso sich erkannten“. 1889 in Maisons-Laffitte bei Paris als Kind einer gut situierten bürgerlichen Familie geboren und früh in das kulturelle Leben eingeführt, stand Jean Cocteau bereits 1908 im Mittelpunkt einer Matinée im Théâtre Femina, die der berühmte Schauspieler Édouard de Max zu seinen Ehren organisiert hatte. Mit einer Rede Laurent Tailhades und der Rezitation von Gedichten Cocteaus durch Künstler der Oper, der Comédie Française und des Odéon Theaters wurde
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Jean Touzot ist diesem Problem anhand ausgewählter Beispiele in mehreren Veröffentlichungen nachgegangen, u. a. in Touzot 1998 und Touzot 2000. Mann 1985, 222. Mann 1985, 218–219.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein der noch nicht 19-Jährige der Pariser Öffentlichkeit präsentiert und im großbürgerlichen Künstlermilieu mit Wohlwollen aufgenommen, wovon die Freundschaften mit Catulle Mendès, den Familien Daudet und Rostand, der Comtesse Anna de Noailles und Marcel Proust zeugen. In kurzem Abstand veröffentlichte Cocteau drei Gedichtbände,9 die er später als bedeutungslose Gelegenheitskunst und als Gesellschaftsspiel verurteilte und aus seinem Œuvre ausschloß. Bereits ein Jahr nach Erscheinen des dritten Gedichtbandes, La Danse de Sophocle, zeigt sich 1913 in Le Potomak ein deutlicher Wandel in seiner Ästhetik. Das 1916 ergänzte Vorwort und die Widmung des Werkes an Igor Strawinsky, die sich in traditionelle Kategorien literarischer Gattungen nicht mehr einordnen lassen, weisen auf die entscheidende Bedeutung von Le Sacre du Printemps für Cocteaus Umorientierung hin. Die Begegnung mit Strawinsky, mit Pablo Picasso und anderen kubistischen Malern stellte die bislang entstandene Dichtung radikal in Frage, und nicht zuletzt die Flüge mit Roland Garros, einem der berühmtesten französischen Flieger im Ersten Weltkrieg, animierten zum Aufbruch aus einem sklerotisierten Milieu. Sie bildeten den Kontext für eine avantgardistische Poetik Cocteaus, die sich im Gedichtband Le Cap de BonneEspérance (erschienen 1919) und öffentlichkeitswirksam im „ballet réaliste“ Parade manifestierte, das bei seiner Uraufführung 1917 einen Skandal hervorrief. In Zusammenarbeit mit Picasso, Erik Satie, Serge Diaghilev und den Ballets russes war eine Art Gesamtkunstwerk entstanden, das Guillaume Apollinaire in seiner Einführung im Programmheft zu Parade als sichtbare Manifestation des „esprit 10 nouveau“ charakterisierte und das von Cocteau als exemplarisches Dokument einer neuen, zeitgemäßen Kunst verstanden wurde. Auch der erste öffentliche Auftritt des „Groupe des Six“ 1918, einer Gruppe junger Komponisten, Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc, und einer Komponistin, Germaine Taillefer, die in engem Kontakt mit Cocteau und Satie standen, sowie die Veröffentlichung von Le Coq et l’Arlequin, einer aphoristischen Streitschrift Cocteaus für eine moderne Kunst im darauffolgenden Jahr, hatten Signalwirkung, so dass es kaum verwundert, wenn Cocteau sich nach dem Tod Apollinaires als dessen legitimer Nachfolger und damit als Fackelträger des Esprit nouveau verstand.11 Seine Offenheit für futuristische, kubistische, dadaistische und surrealistische Tendenzen schlug sich in weiteren Bühnenwerken und Gedichten nieder, brachte ihm jedoch den Vor9
La Lampe d’Aladin (1909), Le Prince frivole (1910), La Danse de Sophocle (1912). 10 Vgl. Apollinaire 1967, 70. 11 Vgl. Touzot 1989, 180.
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Susanne Winter wurf ein, sich wetterwendisch an den aktuellsten Strömungen auszurichten und setzte ihn vehementen Angriffen einiger Dadaisten und Surrealisten aus, denen die großbürgerliche Herkunft Cocteaus und seine Vertrautheit mit diesen Kreisen unvereinbar mit ihren provokatorischen Intentionen zu sein schien. Bereits Anfang der 1920er Jahre signalisierten die Vorträge Le Secret professionnel (1921) und D’un ordre considéré comme une anarchie (1923) einen „retour à l’ordre“ Cocteaus, in dessen Zusammenhang die Bearbeitungen von Sophokles’ Antigone und König Ödipus und der Gedichtband Plain-Chant stehen. Die Freundschaft mit dem jungen Schriftsteller Raymond Radiguet und dessen früher Tod waren von einschneidendem Charakter für Cocteau, der den Schmerz über den Verlust Radiguets beim Opiumgenuß zu vergessen suchte. Damit begann eine lange Abhängigkeit von der Droge, die Cocteau in mehreren Entziehungskuren zu überwinden suchte, wovon literarische Texte wie Maison de santé oder Opium zeugen. Auch in der Religion und einer Konversion suchte Cocteau im Umkreis von Jacques Maritain sein Heil, distanzierte sich jedoch bald wieder von Maritain. Neben den kurzen Romanen Le Grand Écart und Thomas l’imposteur entstanden in diesen Jahren eine große Anzahl von Zeichnungen, weitere Bühnenwerke, Gedichte und poetologisch-ästhetische Texte in aphoristischer Form oder als Vorträge. Bei seinem Erscheinen 1929 wurde der Roman Les Enfants terribles von der Kritik einhellig als Meisterwerk Cocteaus gefeiert und sein erster, 1930 gedrehter, surrealistisch geprägter Film, Le Sang d’un Poète, trat in unmittelbare Konkurrenz zu Buñuels Chien andalou. Auf Anregung des Direktors der Zeitung Paris-Soir begab Cocteau sich auf eine Weltreise auf den Spuren von Jules Vernes Le Tour du monde en 80 jours, von der er in Form eines Tagebuchs an Paris-Soir Bericht erstattete. Neben seiner journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit initiierte Cocteau ein Comeback des Boxers Al Brown, und er entdeckte den Schauspieler Jean Marais, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit verbinden sollte. Während des Krieges wurden einige seiner Stücke mit Aufführungsverboten belegt, doch werfen einerseits sein Artikel „Salut à Breker“, 1942 anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung mit Werken Arno Brekers in der Orangerie geschrieben, und andererseits sein Eintreten für verfolgte Schriftsteller wie Max Jacob und Jean Desbordes ein bezeichnendes Licht auf seine unreflektierte politische Haltung. Als Erfolgsjahr kann 1943 mit den Aufführungen der von Arthur Honegger komponierten Oper Antigone in der Opéra, von Renaud et Armide in der Comédie Française, der Wiederentdeckung von Le Sang d’un Poète und den Dreharbeiten zum Film L’Éternel Retour gelten, dessen Premiere zu einem Triumph für Cocteau wurde. Filmpräsentationen in England und Deutschland, eine Reise in die USA und eine
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein Theatertournée in den Nahen Osten sind Zeichen einer zunehmenden internationalen Bekanntheit Cocteaus, die sich in den folgenden Jahren auch in zahlreichen offiziellen und akademischen Ehrungen niederschlug. Cocteau wurde unter anderem Mitglied der Französischen Akademie und der Königlichen Akademie Belgiens und erhielt das Ehrendoktorat der Universität Oxford. In den letzten Lebensjahren Cocteaus rückte mit der Ausmalung der Kapelle Saint-Pierre in Villefranche, des Hochzeitssaales im Rathaus von Menton und weiterer sakraler und profaner Räume neben der schriftstellerischen Tätigkeit die Malerei in den Vordergrund. Am 11. Oktober 1963 starb Cocteau in seinem Haus in Milly-la-Forêt, kurz nachdem er vom Tod Edith Piafs erfahren hatte.
Zu Cocteaus Poetik Die Vielfalt von Cocteaus Werk, seine Betätigung in nahezu allen Bereichen der Kunst,12 trug ihm schnell und andauernd den Vorwurf ein, ein Vielschreiber, Alleskönner, ein künstlerischer Tausendsassa zu sein, der nicht ernstzunehmen war. Mit der Vielseitigkeit wurde Oberflächlichkeit assoziiert, mit der scheinbaren Leichtigkeit des Wechsels ein virtuoses Spiel, das jeder Tiefe und künstlerischen Ernsthaftigkeit entbehrte. Dieser Einschätzung setzte Cocteau in zahlreichen theoretisch-poetologisch ausgerichteten Texten eine Position entgegen, die den inneren Zusammenhang der unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen unterstreicht und maßgeblich mit dem Begriff der „poésie“ verbunden ist. Folgerichtig teilt Cocteau sein Werk nicht in die üblichen Kategorien Theater, Prosa, Lyrik ein, sondern in „poésie“, „poésie de roman“, „poésie de théâtre“, „poésie critique“, „poésie graphique“, „poésie cinématographique“ und verweist damit auf die alles verbindende Essenz der Poesie. Diese ist nicht nur Grundlage und Anlaß des künstlerischen Schaffens, sondern, wie Klaus Mann erkennt, auch des Lebens: „Das Werk Cocteaus ist ein durchaus und durchweg poetisches Produkt. Das Leben Cocteaus ist ein Dichterleben par excellence – noch seine Marotten, seine Spleens und Extravaganzen sind 13 Dichtung. Alles, was der Poet berührt, muß Poesie werden“. Cocteaus immer wieder unternommene Versuche, der Komplexität und der letztlichen Unerklärbarkeit dichterischen Schaffens in der poésie critique näher zu kommen, machen zwei Hauptaspekte 12 Nur als Komponist trat er nicht hervor, während er sich gelegentlich ad hoc als Schlagzeuger oder Pianist betätigte; vgl. dazu La Jeunesse et le scandale, in Cocteau 1950. 13 Mann 1968, 61.
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Susanne Winter des poésie-Konzepts deutlich. Sie ist zum einen die Kraft, die die künstlerische Tätigkeit auslöst, das Kunstwerk prägt und auch dem Rezipienten erkennbar sein muß, zum anderen ist sie das hinter der Wirklichkeit Verborgene, das Fremde, aber Wesentliche, das der Künstler ans Licht bringt. Ausgehend von der Vergleichbarkeit von Kunst und Wissenschaft unter den Aspekten der Objektivität, der 14 Präzision und der Folgerichtigkeit, ist das Wesen der poésie Exaktheit und Genauigkeit – eine Konzeption, die die Dichtung als schönen Schein und virtuoses Spiel hinter sich läßt. Poésie hat vielmehr die Aufgabe, das Essentielle hervorzubringen, zu enthüllen, freizulegen und sichtbar zu machen. Zum einen ent-deckt poésie, was im täglichen Leben verborgen bleibt, bringt Unbeachtetes ins Bewußtsein und läßt Gewohntes überraschend neu erscheinen. Zum anderen entkleidet poésie das Dargestellte alles Überflüssigen, komprimiert und konzentriert es, um das Wesentliche hervortreten zu lassen.15 Auf diese Weise wird das „plus vrai que le vrai“ sichtbar, ein „réalisme supérieur“, der auf einen Grad an Abstraktion und Allgemeinheit des Dargestellten zielt, der weit über eine erste Wahrnehmung hinausgeht. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, diese Augenblicke, in denen die „höhere Realität“ aufscheint, hervorzubringen, Gewohntes in einen fremden Kontext zu stellen, um den Eindruck der Fremdheit zu provozieren und so Verborgenes zu enthüllen und Verdecktes aufzudecken. So heißt es in Le Secret professionnel: „Mettez un lieu commun en place, nettoyez-le, frottezle de telle sorte qu’il frappe avec sa jeunesse et avec la même fraîcheur, le même jet qu’il avait à sa source, vous ferez œuvre de 16 poète“. Das Kunstwerk, das auf diese Weise entsteht und der Künstler, der mit diesem eine neue Wirklichkeit hervorbringt, stehen beide im Dienst der poésie, einer kaum faßbaren, noch vorstellbaren Kraft, die Cocteau auch mit „fluide“ und „électricité“ bezeichnet. Unsichtbar wie die Elektrizität, aber doch immer vorhanden, manifestiert sich poésie in unterschiedlichsten Formen, vergleichbar dem Licht, das durch verschiedenste Birnenformen und Lampenschirme leuch17 tet. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die richtige Form der Über14 Vgl. zum Beispiel die Le Coq et l’Arlequin eröffnende Feststellung: „L’art c’est la science faite chair.“ Cocteau 1995, 429. 15 Vgl. Le Secret professionnel: „Voilà le rôle de la poésie. Elle dévoile, dans toute la force du terme. Elle montre nues, sous une lumière qui secoue la torpeur, les choses surprenantes qui nous environnent et que nos sens enregistraient machinalement.“ Cocteau 1995, 509. 16 Cocteau 1995, 509. 17 Vgl. D’un ordre considérée comme une anarchie: „Car la poésie, telle que je l’entends [...], n’est pas ce qu’imaginent les néo-classiques. Elle
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein mittlung der poésie zu finden, die er erahnt, während die anderen noch ahnungslos sind. Der Dichter ist der Mittler, dessen die poésie sich bedient, um in Erscheinung zu treten. Die vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen sind die Fallen, in denen er sie zu fassen und ihrer habhaft zu werden versucht.18 Aus dieser Konzeption von poésie folgt die Ablehnung der Vorstellung einer Inspiration als Anlass zum Schaffensprozess, da poésie immer schon vorhanden und der Künstler von ihr umgeben ist, so dass das Bild einer von außen wirkenden Kraft unangemessen erscheint. Stattdessen operiert Cocteau mit dem Begriff der Expiration: „Ce n’est pas inspiration, c’est 19 expiration qu’il faut dire“. Damit werden die Komponenten der Äußerung und der Entäußerung unterstrichen, die noch eine weitergehende Veranschaulichung erfahren durch die Figur des Engels. Dieser ist nicht etwa ein liebreizender Putto, sondern vergleichbar 20 dem Wesen, das mit Jakob ringt und ihn gezeichnet zurücklässt. Dieser Kraft kann sich der Künstler nicht entziehen, denn ohne sie ist es ihm unmöglich etwas hervorzubringen. Die Auseinandersetzung mit dem Engel ist der Anlass für die „expiration“, denn im Kampf mit ihm ringt er sich das Kunstwerk ab. Das Verhältnis des Künstlers zu diesem inneren Engel, das Cocteau immer wieder thematisiert und das insbesondere in „L’Ange Heurtebise“ (1925) zum Gegenstand eines langen, mit dramatisch gestalteten Passagen durchsetzten Gedichtes wird, ist von paradoxer Art: Einerseits ist der Künstler unbedingt auf den Engel angewiesen, andererseits leim’autorise, contre toute attente, à louer ensemble la comtesse de Noailles et Tristan Tzara. La poésie est une électricité. Ils me la transmettent tous deux. La forme des lampes et des abat-jour est une autre affaire.“ Cocteau 1995, 536. 18 Vgl. Le Secret professionnel: „Nommons donc pour simplifier les choses ce fluide: poésie, et: art, l’exercice plus ou moins heureux par quoi on le domestique. Voilà le rôle de notre artiste“ und „[...] musique, peinture, sculpture, architecture, danse, poésie, dramaturgie et cette muse que je surnommais Cinéma, dixième muse, sont des pièges en qui l’homme essaye de capter la poésie à notre usage“. Cocteau 1995, 511 und 522. 19 La Difficulté d’être, Cocteau 1995, 886. 20 Vgl. Le Secret professionnel: „Selon eux et selon nous, l’ange se place juste entre l’humain et l’inhumain. C’est un jeune animal éclatant, charmant, vigoureux, qui passe du visible à l’invisible avec les puissances raccourcis d’un plongeur, le tonnerre d’ailes de mille pigeons sauvages. La vitesse du mouvement radieux qui le compose empêche de le voir. Se cette vitesse diminuait, sans doute apparaîtrait-il. C’est alors que Jacob, un vrai lutteur, lui saute dessus. Beau spécimen de monstre sportif, la mort lui demeure incompréhensible. Il étouffe les vivants et leur arrache l’âme sans s’émouvoir. J’imagine qu’il doit tenir du boxeur, du bateau à voiles.“ Cocteau 1995, 499.
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det er unter ihm. In Cocteaus Konzeption des künstlerischen Schaffensprozesses hat der Künstler zunächst die Funktion eines Mediums, durch das die poésie an den Tag tritt, wenn der Engel das Medium dazu drängt.21 Was dann allerdings nach außen dringt, ist eine noch ungeordnete poetische Substanz, die nach bewusster Formung verlangt. Die Materialisierung – in welcher Ausdrucksform auch immer –, muß den Maßstäben der Ernsthaftigkeit und der Wesentlichkeit genügen; in ihr darf nichts Überflüssiges hinzutreten, aber auch nichts Essentielles verlorengehen. Sie ergibt sich aus einer inneren Notwendigkeit, einer fast zwanghaften Befolgung undurchschaubarer Regeln, die aus dem Inneren des Künstlers kommen. Ein Kunstwerk kann dann als geglückt gelten, wenn die Transformation der poésie in das jeweilige Gefäß der literarischen Formen oder der anderen Künste den genannten Kriterien der Präzision, der Prägnanz und der Härte genügt. Trotz aller Erklärungsversuche bleiben letztlich allerdings sowohl die poésie als auch der künstlerische Schaffensprozess geheimnisvoll: „les Américains de Hollywood diraient un x mys22 térieux“.
Selbstdarstellung und Automythographie Wohl kaum ein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat so viel über sich selbst und sein Werk geschrieben wie Jean Cocteau. Wenn auch keine Autobiographie vorliegt, weist doch die Mehrzahl der Texte der poésie critique, Vorworte, Vorträge, Artikel, Essays, autobiographische Züge auf, legt Entstehungsprozesse der Werke offen, gibt Anleitungen zu ihrem Verständnis oder nimmt Stellung zum vermeintlichen oder tatsächlichen Eindruck, den das Werk oder die Person des Autors in der Öffentlichkeit erwecken. Sich zu erklären, sich zu kommentieren, ja sich zu zitieren, ist für Cocteau offensichtlich eine Notwendigkeit, der er sein Leben lang gehorcht, und die entsprechenden Texte gehören für ihn so selbstverständlich zu seinem Œuvre wie die Gedichte, Theaterstücke, Prosatexte, Filme und Zeichnungen, wenn er sie unter der Kategorie der poésie critique faßt. Damit erhält die Selbstdarstellung und Selbstdeutung einen eminenten Platz im Werk. Über vierzig Jahre, von Le Secret professionnel (1922) bis zu Le Cordon ombilical (1961), über Opium (Journal d’une désintoxication) (1930), La Difficulté d’être (1947),
21 Vgl. „Par lui-même“ im Gedichtband Opéra: „Toute ma poésie est là: je décalque/L’invisible (invisible à vous).“ Cocteau 1995, 313. 22 „Quelques articles“, in Cocteau 1950a, 271.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein Journal d’un inconnu (1952) und Démarche d’un poète (1953) um nur einige Texte zu nennen,23 begleitet Cocteau sich selbst und sein Werk und scheut sich nicht, immer wieder auf dieselben entscheidenden Aspekte zurückzukommen und diese in ein bestimmtes Licht zu rücken. Dabei fällt auf, dass bestimmte Ereignisse in verschiedenen Texten in unterschiedlicher Darstellung erscheinen, so dass sich bald die Frage nach der „Wahrheit“ stellt, die – dies sei vorweggenommen – trotz eines Überflusses an Material zu Cocteau24 nicht immer beantwortet werden kann. Den gängigen Begriff der Autobiographie spielerisch variierend, hat Jean Touzot die Texte Coctaus, die autobiographische Informationen oder Aspekte enthalten, als „automythographie“ bezeichnet.25 Er stellt fest, dass Cocteau zeit seines Lebens gegen die Legenden angeschrieben habe, die über sein Leben kursierten, und, so wäre 26 zu ergänzen, wohl auch gegen das Unbehagen am eigenen Sein. Aufgabe von Biographien und Untersuchungen, so Touzot weiter, sei es nicht, Cocteau als Lügner zu entlarven, sondern die Korrelation von Automythographie und Ästhetik bei Cocteau aufzudecken.
23 Hinzu kommen die zahlreichen Tagebücher, die Cocteau immer wieder geschrieben hat, sowie Texte, in denen er z. B. über die Dreharbeiten zu La Belle et la Bête oder seine Reise um die Welt in 80 Tagen berichtet. Die Tagebücher der Jahre 1942–45 wurden erst 1989 veröffentlicht, die ab 1951 bis zum Tod in 99 Heften geführten Eintragungen harren noch ihrer vollständigen Publikation. 24 Neben den Texten, Tagebüchern, Notizbüchern und Briefen des Autors existieren Photographien, Radio- und Fernsehaufzeichnungen und –gespräche und, aufgrund des öffentlichen Auftretens von Cocteau, eine Vielzahl an journalistischen Beiträgen. 25 Wohl erstmals verwendet Jean Touzot diesen Begriff, den er nach eigenen Angaben Mauriac entlehnt hat, in einem Vortrag von 1991, der erst 1998 gedruckt wurde; Touzot 1998. In Jean Cocteau. Le poète et ses doubles greift er ihn wieder auf, überschreibt ein eigenes Kapitel damit, „Le héros de l’automythographie“, und führt aus: „Jusqu’à sa mort, […], dans un discours critique, souvent paralittéraire, Cocteau ne s’est pas lassé de diffuser, sur sa vie et sur le destin de son œuvre, des informations qui relèvent de l’art et même de l’art de la déformation poétique. Le rythme de cette diffusion s’est accéléré dans la dernière décennie de sa vie“. Touzot 2000, 172. 26 Vgl. dazu den Essay „D’être sans être“ in La Difficulté d’être: „„Je sens une difficulté d’être.“ C’est ce que répond Fontenelle, centenaire, lorsqu’il va mourir et que son médecin lui demande: „Monsieur Fontenelle, que sentezvous?“ Seulement la sienne est de la dernière heure. La mienne date de toujours. Ce doit être un rêve que de vivre à l’aise dans sa peau.“ Cocteau 1995, 945.
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Susanne Winter Bedenkt man zum einen Cocteaus Forderung, als Dichter die Wahrheit hinter der Wahrheit zu suchen und darzustellen und zieht man zum anderen seine Zuordnung auch der kritischen Texte zur poésie in Betracht, so verschiebt sich die Perspektive, unter der solche Unstimmigkeiten betrachtet werden können: Sie erscheinen dann nicht als Lüge, Täuschung oder Versehen, sondern als beständig unternommener Versuch, die eigene Biographie und das eigene Werk samt ihrem Kontext in Einklang zu bringen mit dem Bild, das Cocteau sich von einer Künstlerexistenz unter dem Zeichen der poésie macht. Dies sei im folgenden an einem Beispiel illustriert. Mehrfach erwähnt Cocteau sein Alter, sowohl in Gedichten als auch in Texten der poésie critique, wobei nicht nur die Altersangaben im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen variieren, sondern sich auch beim Nachrechnen unterschiedliche Geburtsjahre ergeben. Bereits im zweiten der später verleugneten Gedichtbände, Le Prince frivole (1910), nennt Cocteau in zwei Gedichten ein präzises Lebensalter, 19 Jahre in „L’invisible couronne“, 18 in „Le petit prince en auto“,27 wobei dieses nicht unwesentlich, nämlich zwei oder drei Jahre, vom tatsächlichen Alter des Autors zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches abweicht. Könnte man die Abweichung hier noch mit dem Alter zur Entstehungszeit der Gedichte erklären, wird die Manipulation in späteren Texten, in denen Cocteau sich immer einige Jahre jünger macht, als er ist, sehr viel offensichtlicher, was auch für die frühen Gedichte eine bewußte Modifikation nahelegt. Bemerkenswerterweise weist selbst die Eintragung ins Schulregister des Lycée Condorcet mit 1891 statt 1889 ein falsches Geburtsjahr auf. In den 1920er Jahren mehren sich die irreführenden Angaben Cocteaus, 28 die auch später nicht revidiert wurden. Die Verjüngung um zwei,
27 „Je porte autour du front l’or de mes dix-neuf ans,/Et je marche léger sous l’invisible faste!“ („L’invisible couronne“, in Cocteau 1910, 9); „Soleil! J’ai dix-huit ans! cet empire me reste!“ („Le petit prince en auto“, in Cocteau 1910, 132). 28 Vgl. dazu Touzot 1998, 155f.: „Premier exemple: juillet 1920. Retour d’Angleterre, Cocteau monologue dans Le Coq parisien: „Plus les Anglais vieillissent, plus ils deviennent jeunes. Mais un Français qui débarque prend le double de son âge. J’ai 56 ans à Londres.“. En réalité il en a trente et un, pas vingt-huit. La notice du „Secret professionnel“, que signe Élie Gagnebin, mais que rédige l’auteur en secret, commet indirectement la même soustraction en chiffrant la précocité de l’auteur du Prince frivole: dix-sept ans, début 1910. Dans Le Figaro du 13 février de la même année 1923, qui publie „La Mort ou l’envers et l’endroit“, on lit: „Hélas! je vais avoir trente ans.“. Erreur: dites plutôt trente-trois.“ etc.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein drei Jahre scheint vor allem im Hinblick auf das Debüt Cocteaus in der Pariser Kulturszene hin konzipiert zu sein. Die Matinée im Théâtre Femina, bei der der junge Dichter und sein Werk vorgestellt wurden, nahm in Cocteaus Augen die Form einer Hommage an ein begabtes Wunderkind an, das im April 1908 tatsächlich noch gute zwei Monate vor seinem 19. Geburtstag stand, dank der Zahlenspielereien Cocteaus aber erst 16 Jahre alt war und so in der Tat als erstaunlich frühreifer Dichter gelten konnte. Wohl nicht zufällig wäre er damit ein Jahr jünger als ein anderer genialer Poet, der unter dem Beifall Verlaines mit 17 Jahren nach Paris gekommen war: Ar29 thur Rimbaud. Dass ihn mit dem „poète maudit“, der sich gerade nicht im großbürgerlichen Milieu, sondern in den Kreisen der Bohème bewegte, nicht mehr verband als der Mythos jugendlicher Genialität, hat Cocteau offensichtlich nicht davon abgehalten, sich unausgesprochen auf ihn und seine Fama zu beziehen. Welche Wichtigkeit dieser frühe Ausdruck künstlerischer Veranlagung für Cocteau hatte, läßt sich überdies an einem Artikel mit dem Titel „Venise vue par un enfant“ (1913) ablesen, in dem er angeblich im kindlichen Alter die Bedeutung der Stadt und ihrer berühmten Besucher erkannt hat sowie seiner erst spät erwähnten Flucht nach 30 Marseille während seiner Schulzeit, die als ein frühes Zeichen der
Tatsächlich finden sich in älteren Werken, Literaturgeschichten und Lexikoneinträgen zu Cocteau unterschiedliche Geburtsjahre, so zum Beispiel 1892 in Boisdeffre 1973, 1899 in Brunel et al. (Hg.) 1972 und 1891 in Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, 1952. 29 Darauf verweist Touzot 1998, 156. Rimbaud scheint allerdings für Cocteau nur im Hinblick auf seine frühe Genialität modellhaft gewesen zu sein, finden sich doch v. a. in D’un ordre considéré comme une anarchie eher kritische Äußerungen zu Rimbaud, der im Vergleich zu dem von Cocteau ebenfalls für genial gehaltenen Raymond Radiguet abgewertet wird: „J’ai eu la chance de voir Radiguet écrire son livre [i. e. Le Diable au corps], comme un pensum, pendant les vacances de 1921, entre dix-sept et dix-huit ans. Le reste est inexactitude. Je le consigne à cause que cet enfant prodige étonne par son manque de monstruosité. Rimbaud s’explique dans une certaine mesure par les cauchemars et les féeries de l’enfance. On se demande où ce prestidigitateur étoilé met ses mains. Radiguet travaille les manches retroussées, en plein jour. Rimbaud satisfait exactement l’idée dramatique, fulgurante et courte, que les gens se font du génie. Radiguet a eu la bonne fortune de naître après l’époque où trop de clarté fade commandait la foudre. Il peut donc surprendre par sa platitude, par le calme d’un génie qui ressemble au meilleur talent.“ Cocteau 1995, 536. 30 Erstmals taucht diese 1947 in La Difficulté d’être auf. Ausführlich belegt Jean Touzot die große Variationsbreite der zeitlichen Einordung dieses Er-
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Susanne Winter Unangepaßtheit und eines Unabhängigkeitsbestreben, kurz eines gewissen Anarchismus, gelesen werden konnte. Aus diesem Beispiel lässt sich unschwer ersehen, dass die autobiographischen wie auch die Werk-Informationen, die Cocteaus poésie critique zu entnehmen sind, weniger dazu dienen, historisch eindeutige Sachverhalte zu vermitteln oder das künstlerische Werk in einen nachprüfbaren biographischen Zusammenhang zu stellen. Vielmehr scheint die Darstellung im Hinblick darauf konzipiert zu sein, die eigene Biographie in Einklang zu bringen mit bestehenden Künstlerbildern, wie etwa dem des frühreifen Genies, sowie mit Cocteaus persönlichem poetologischem Entwurf.
Selbstbildnis Diese zweifache Ausrichtung an einem überindividuellen und einem individuellen Konzept zeichnet sich in zwei kurzen, um 1920 und 1930 entstandenen und posthum von Pierre Caizergues unter dem 31 Titel Autoportraits de l’acrobate herausgegebenen Texten deutlich 32 ab. Der erste, überschrieben mit „Selbstbildnis“, beginnt wie folgt: A 16 ans l’acrobate se sauve d’un milieu galvanisé par Cyrano de Bergerac. Jusqu’à 23 ans il traverse tous les milieux, il se cherche des compatriotes. Le Sacre du printemps, première halte. Il soigne sa mollesse d’âme à Leysin, où il séjourne avec Stravinsky. Le Potomak douloureux résume cette période. Le Potomak est drôle comme on chante pour se donner du cœur dans le noir. Style rococo, grimace de collégien à l’adresse du professeur André Gide. Des critiques ont consacré d’aimables études au Potomak, sans voir son noyau. Noyau amer, à partir de quoi, jusqu’à sa surface, le livre se trouve fait par couches. Cette construction déconcertant l’habitude, ils le prirent pour un ouvrage décousu. […] Le Cap évite les raffinements rimbaldo-mallarméens. C’est une fugue, grosse par dessus, subtile par dessous. […] 1917 rencontres haltes. Trouve enfin sa triste patrie à Montparnasse, après huit ans de route. […]
eignisses, von dem bis heute nicht sicher ist, ob es tatsächlich stattgefunden hat. Vgl. Touzot 1998, 159ff. 31 Cocteau 1995a. Pierre Caizergues erklärt in seinem Nachwort, daß weder die Entstehungsbedingungen noch die Bestimmung der beiden Texte bekannt sind. 32 Der Titel ist deutsch, was verständlich wird, wenn man weiß, daß Cocteau eine deutsche Kinderfrau hatte und selbst einige Gedichte in deutscher Sprache schrieb.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein Nouvelle halte. Rencontre de jeunes musiciens. Une réaction contre l’impressionnisme musical rapproche six natures différentes. […] De ces jeunes gens et de Satie se dégage une sorte de doctrine très libre qu’une brochure précise. Le Coq et l’Arlequin, pris pour un manifeste révolte les musicographes. […] Bref un livre fort mal compris du dehors, singulièrement par Gide, et utile au dedans.33
Dieser wie auch der zweite, unbetitelte Text stellten den Autor in der dritten Person vor, und beide rufen die wichtigsten Etappen seines Lebens und die zu dieser Zeit entstandenen Werke auf. Mit der unpersönlichen Form kontrastiert in gewisser Weise der Titel „Selbstbildnis“, der eine Rede in der Ich-Form nahelegt, allerdings durch die Titel in der Fremdsprache auch eine Distanznahme und leichte Verfremdung andeutet. Derjenige, der hier vorgestellt werden soll, wird nicht mit seinem Namen genannt, sondern mehrfach als „Akrobat“ bezeichnet, der auf dem Seil über der Leere balanciert – ein Bild, das auch in anderen Texten Cocteaus zu finden ist und die immer drohende Absturzgefahr in einem künstlerischen Dasein vor Augen stellt. Das Balancieren, das Austarieren, die Suche nach einem Gleichgewicht stehen in Zusammenhang mit der Flucht aus dem künstlerischen Milieu, das mit dem Titel Cyrano de Bergerac 34 ausreichend gekennzeichnet zu sein scheint. In diesen Kreisen hatte Cocteau 1908 in der von De Max initiierten Matinée sein Debüt gegeben, und diesem sind auch die drei frühen, zwischen 1909 und 1912 veröffentlichten Gedichtbände zuzurechnen. Wenn Cocteau nun seine Flucht mit 16 Jahren ansetzt, fiele diese in das Jahr 1905, lange bevor er öffentlich auftrat und seine später aus dem Gesamtwerk ausgeschlossenen Gedichte der Öffentlichkeit zugänglich machte. Tatsächlich, und dies betont Cocteau im selben Text, war es die Aufführung von Strawinskys Le Sacre du printemps 1913, die ihn zu einer radikalen ästhetischen Umkehr brachte.35 Während 33 Cocteau 1995a, 10–11. 34 Cocteau war aufs engste befreundet mit der Familie des Autors dieses Stückes, Edmond de Rostand, der damit einen der größten Theatererfolge der Zeit errang. 35 Diesen Prozeß bezeichnet Cocteau mit „la mue“. In Le Potomak fällt der Begriff mehrfach; z. B. „Demain, je peux ne plus pouvoir écrire ce livre. Il cessera le jour où cessera la mue: le dernier jour de la convalescence“, oder „Ici ce placent les Spectacles russes. – Ces grandes fêtes pouvaient perdre un jeune homme. Elles servirent ma mue“. (Cocteau 2006, 26 und 6). Im zweiten der in Autoportraits de l’acrobate enthaltenen Texte taucht der Begriff ebenfalls auf und wird bildhaft näher bestimmt: „Après une maladie et une sorte de crise de mue profonde, animale, végétale, découvre que la poésie n’est pas un jeu […].“ (Cocteau 1995a, 17).
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Susanne Winter Cocteaus Darstellung unter mathematischen Gesichtspunkten also keiner Überprüfung standhält, zeigt sich wiederum das Bestreben, die künstlerische Reife möglichst früh anzusetzen und den „Irrtum“ in die Kindheit zu verschieben. Konsequenterweise verlegt er im zweiten Text sein Geburtsdatum drei Jahre vor und gibt es mit 1892 an – ein Datum, an dem er sich auch in anderen Texten orientiert, wie oben bereits deutlich wurde. In beiden autobiographischen Texten klingt nicht nur der Mythos der frühen Reife an, sondern auch der des frühen Todes. So wähnt zum einen der Autor den Akrobaten in der Mitte des Seils oder in der Mitte des Lebens („Voici le milieu de la corde raide ou le milieu de l’âge“), zum anderen betont der zweite Text die im wahrsten Sinne verzehrende Kraft der Poesie, die den Dichter umzubringen droht, denn die Werke bedienen sich seiner und ruinieren ihn: „Elles se servent de lui, l’envahissent, le traversent, le ravagent, abîment sa santé, faisant de lui un écorché vif“.36 Hier durchdringen sich der Mythos einer kurz aufblühenden Genialität, wie er etwa in Bezug auf Rimbaud oder Mozart anzutreffen ist, und die persönliche poésie-Konzeption Cocteaus, die den frühen Tod als Konsequenz des Ausgeliefertseins an die poésie und der Auseinandersetzungen mit dem Engel erscheinen läßt. Die Vorstellung einer früh sich entfaltenden und schnell verblühenden Genialität ist darüber hinaus verbunden mit der des Unverstandenseins von Künstler und Werk und eines Außenseiterdaseins, das im besten Fall die Hoffnung auf Nachruhm zuläßt. In „Selbstbildnis“ heißt es: „Notre acrobate ne saurait devenir célèbre. L’artiste célèbre est un souteneur, richement entretenu par une idée, alors que lui change souvent d’idées et se ruine chaque fois pour elles“.37 Die Überzeugung und Besessenheit von dem Gedanken, dass poésie kein Spiel ist, sondern „un drame, une bête qui vous dévore, un ange qui vous gifle, qui vous 38 ordonne“ ist die Grundlage, auf der Cocteaus Künstler- und Werkverständnis basieren. Der Dichter als Medium, das einer unbekann-
36 Cocteau 1995a, 18. 37 Cocteau 1995a, 12. Das Unverständnis, dem sich Cocteau ausgesetzt sieht, und sein gleichzeitiger Wunsch nach Anerkennung und Liebe kommen in „D’être sans être“ besonders deutlich zum Ausdruck: „C’est ce qui trompe le monde qui prend mes hasards pour de l’adresse, mes fautes pour de la stratégie. Jamais homme ne fut environné de tant d’incompréhension, de tant d’amour, de tant de haines, car si le personnage qu’on me croit agace ceux qui me jugent de loin, ceux qui m’approchent ressemblent à Belle [i.e. die Protagonistin des Films La Belle et la Bête] lorsqu’elle redoute un monstre et découvre une bonne bête qui ne veut qu’atteindre son cœur“. (Cocteau 1995, 944). 38 Cocteau 1995a, 17.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein ten Kraft ausgesetzt ist und von ihr dominiert wird, liefert sich dieser nolens volens mit Leib und Seele aus.39 Paradoxerweise wird die kämpferische Auseinandersetzung nach außen hin nicht sichtbar, so dass der Schein, den Künstler und Kunstwerk erwecken, unvermeidlich ein trügerischer ist: Hinter der scheinbaren Leichtigkeit und Vielfältigkeit der Werke sowie dem brillanten öffentlichen Auftreten Cocteaus verbergen sich ein ermüdender Kampf und eine tiefe Einsamkeit. Dies führt in Cocteaus Selbstdarstellung zu einer permanenten, bewußten Kontrastierung eines Äußeren mit einem Inneren, die selbst in einem so kurzen Text wie „Selbstbildnis“ mehrfach zu finden ist, wenn zum Beispiel Le Potomak als „drôle comme on chante pour se donner du cœur dans le noir“, Le Cap de Bonne-Espérance als „une fugue, grosse par dessus, subtile par dessous“ und Le Coq et l’Arlequin als „un livre fort mal compris du dehors, singulièrement par Gide, et utile au dedans“ charakterisiert werden.40 Die Entgegensetzung einer Oberfläche und einer Tiefe, eines Außen und eines Innen, eines Scheinund eines Wahrhaften erlaubt es Cocteau, sich als unverstandenen Außenseiter und „poète maudit“ zu stilisieren. Zugleich aber rechtfertigt er mittels des intersubjektiven Konzepts des „poète maudit“ gewissermaßen die Fehleinschätzung durch die anderen, ja er fordert sie geradezu ein, um dem Mythos gerecht zu werden. Ein weiterer Aspekt, der den Mythos des „poète maudit“ stützt, ist Cocteaus Betonung des Skandalösen, vor allem im Hinblick auf einige seiner Bühnenwerke. Insbesondere der Skandal, den die Premiere von Parade 1917 hervorgerufen hat – ähnlich demjenigen bei der Aufführung von Le Sacre du printemps 1913 – wird von Cocteau immer wieder als Beispiel dafür herangezogen, wie wenig das Publikum bereit ist, sich auf eine neue Ästhetik einzulassen und wie wenig es das Wegweisende erkennt. „Parade (1917) – Ballet réaliste – Première ébauche d’une œuvre qui sera l’emblème de son théâtre. Gestes réalistes déformés jusqu’au style. Scandale formidable au Châtelet en 1917 où la première coïncide avec la Bataille de Verdun“, lautet die Notiz im zweiten Selbstportrait und verleiht dem Ereignis in der Koinzidenz mit der Schlacht von Verdun gar eine weltgeschichtliche Dimension. An die Aufführung von Parade reiht sich Skandal um Skandal, schenkt man der Fortsetzung des Textes Glauben: „Le Coq et l’Arlequin (1917) – (Notes autour de la musique) propose une nouvelle esthétique aux musiciens, une simplicité enrichie des complications précédentes. Groupe des musiciens. Premier concert rue Huyghens, dans une salle sans chaise, 39 Ebd.: „Il [i. e. der Dichter] devient le véhicule d’une force étrangère à laquelle il se dévoue corps et âme, mécaniquement“. 40 Cocteau 1995a, 9–11.
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Susanne Winter où s’empilaient côte à côte les snobs et les chandails de Montparnasse. Encore des scandales, scandale sur scandale.“41 Das Bild, das Cocteau von sich entwirft, ist auf den Künstler hin konzipiert und nicht auf den privaten Menschen, der ganz hinter dem künstlerisch Schaffenden zurücktritt, so dass in den autobiographisch geprägten Texten unübersehbar das Werk sowie das Medium, das dieses an die Öffentlichkeit trägt, im Zentrum stehen. Diese Fokussierung wird an kleinen, aber signifikanten Auslassungen in der Biographie deutlich, zu denen unter anderem die zeitweise angespannte finanzielle Situation Cocteaus42 und seine Homosexualität gehören. Würden Geldnot und Armut auch einem volkstümlich-romantischen Künstlercliché entsprechen, beträfe dieser Aspekt in Cocteaus Augen wohl zu sehr das Private, das er vor der Öffentlichkeit zu verbergen sucht und würde dem Selbstbildnis als Künstler keine poetologisch-ästhetisch integrierbare Facette hinzufügen. Im Kontext der Aspekte des Außenseitertums und des Skandals etwa, böte sich eine Reflexion über die Homosexualität an, doch vermeidet Cocteau eine solche ebenfalls sorgsam. Wie sehr Cocteau, nicht nur im Hinblick auf sich selbst, sondern auch auf andere, das Wesentliche eines außergewöhnlichen Menschen zu erfassen und zu vermitteln sucht, zeigt der Anfang von Portraits-Souvenir (1935), einer Folge von Artikeln zu bekannten Persönlichkeiten der Pariser Szene, denen Cocteau im Laufe seines Lebens begegnet war. Sie sind nicht als sachlich korrekte, möglichst vollständige Beschreibung von Personen und Umständen im Sinne eines Dokuments angelegte „Portraits“, sondern bildhafte Evokation und atmosphärische Teilhabe, die das Bemerkenswerte, Einmalige, Essentielle hervortreten läßt und damit der Ästhetik des „plus vrai que le vrai“ entspricht: Il me semble impossible d’écrire des Mémoires. D’abord j’embrouille les époques. Il m’arrive de sauter dix ans et de mettre des personnages dans des décors qui appartiennent à d’autres. La mémoire est une nuit terrible et confuse. Je craindrais à m’y aventurer d’encourir la punition des archéologues violant les sépultures d’Égypte. Les tombes se vengent. Il existe un sommeil qui refuse la lumière sacrilège et qui jette des maléfices. Non, plus raisonnable et moins funèbre serait, sans doute, de jouer au jeu de massacre à l’envers: c’est-à-dire de redresser la noce à coups de balles au lieu de l’abattre, et de viser de telle sorte qu’une figure surgisse de l’ombre apportant, accrochés autour d’elle, cer-
41 Cocteau 1995a, 18, 19. 42 Siehe dazu ausführlich das Kapitel „Ceinture dorée“ in Touzot 1989, 63ff.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein tains lieux, certaines circonstances, comme ces managers de PARADE que Picasso habillait d’une perspective de Paris et de New York.43
Wenn Cocteau auch die schreckliche, verworrene Nacht des Gedächtnisses für seinen höchst individuellen Umgang mit den Fakten verantwortlich macht, wäre es doch gleichermaßen unangemessen, diesen als versehentlichen Irrtum zu entschuldigen wie den Autor der Lüge zu bezichtigen. Zum einen ist es durchaus plausibel, dass er angesichts seiner zahllosen Bekanntschaften und vielfältigen Aktivitäten nur für ihn Wesentliches in Erinnerung behält, zum anderen aber ist die Tendenz zur Stilisierung und Inszenierung unübersehbar.
Abb.: Cocteau 1995a, 7. Dass für ein solches Konstrukt in Bezug auf Cocteau auch die Leerstellen von Bedeutung sind, wird insbesondere bei den graphischen Selbstportraits Cocteaus sichtbar, in denen häufig nur die Konturen des Gesichts, nicht aber Gesichtszüge, Augen, Nase und Mund angedeutet sind. So ist zwar eine charakteristische Pose erkennbar, 43 Cocteau 1995, 729. Ähnliche Äußerungen finden sich in vielen Texten Cocteaus, z. B. in „D’être sans être“ in La Difficulté d’être, wo es heißt: „J’ai été mêlé si fort à quantité de choses qu’il m’en tombe de la mémoire, et pas une, cinquante. Une vague de fond me les remonte à la surface, avec, comme dit la Bible, tout ce qu’il y a dedans. C’est à ne pas croire, le peu de traces que laissent en nous de longues périodes qu’il fallut vivre en détail. C’est pourquoi lorsque je fouille mon passé j’en dépote d’abord une figure qui entraîne sa terre après elle. Si je recherche des dates, des phrases, des lieux, des spectacles, je chevauche, j’interpole, je barbouille, j’avance, je recule, je ne sais plus rien.“ Cocteau 1995, 945.
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Susanne Winter doch bleiben die individuellen Züge verborgen und hinter einer ausgeprägten Selbstinszenierung scheint Cocteau sich unsichtbar zu machen. Leerstellen wie Wiederholungen, Auslassungen wie Hinzufügungen charakterisieren die poésie critique und die poésie graphique, in der Cocteau seine Künstlerbiographie entwirft, und so verwundert es nicht, dass er der Autobiographie eine fragmentarische oder essayistische Form der Selbstdarstellung vorzieht, die weder zur Vollständigkeit, noch zur Einheitlichkeit zwingt.
Spiegelbilder Neben den Selbstbildnissen des Dichters als Akrobat, als Medium der poésie und als von einem Engel Besessener finden sich in Cocteaus Œuvre Fragmente und Versatzstücke bekannter, vor allem antiker Mythen, die als Spiegelbilder des Künstlers fungieren. Antigone, Ödipus und Orpheus sind Gestalten, die in Theaterstücken, Filmen und Gedichten auftauchen und nur noch lose im Kontext des Mythos stehen. Sie erscheinen reduziert in ihrer Komplexität, versehen mit einer individuellen Deutung und lassen ihren zeichenhaften Verweischarakter offen zutage treten. Klaus Manns enthusiastische Besprechung der Pariser Uraufführung von La Machine infernale an der Comédie des Champs-Élysées im Jahr 1934 legt geradezu nahe, eine Analogie zwischen dem Künstlerbild des Autors und dem Protagonisten Ödipus herzustellen: Um was geht es in diesem hinreißenden Spektakel? Um das Letzte, Ernsteste, Eigentlichste: um das Schicksal. Denn nichts anderes ist die „machine infernale“. Ihr ist verfallen Œdipe, der Held und das Opfer. Das Schicksal möchte ihn entschlüpfen lassen; es flirtet mit ihm, kommt als junges Mädchen mit schmalen bezaubernden Augen, diese Mädchen-Sphinx will ihm das bittre Vorbestimmte ersparen, Nemesis hat Mitleid mit ihm und mit sich selbst, aber gerade so zwingt sie sich und ihn zur Erfüllung des fürchterlichen Gesetzes [...]. Ödipus tritt auf als der ruhmsüchtige Knabe; er will nur leben und, wenn möglich, König sein. Die Sphinx müßte ihn töten – so glaubt sie selbst. Aber sie schlägt sich selber – sich dem Schicksal – ein Schnippchen: sie verrät dem Knaben die Lösung des Rätsels, die er allein nicht gefunden hätte; so rettet sie ihm das Leben, auf daß sein weiterer Verlauf in unerbittlich festgelegter Weise sich vollziehen kann.44
Der ruhmsüchtige Knabe, der sich zum König bestimmt sieht und in der Begegnung mit der Sphinx an einen entscheidenden Wendepunkt seines Lebens gelangt, erinnert an den jungen, vielverspre-
44 „Jean Cocteau La machine infernale“. In Mann 1968, 58–60.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein chenden Dichter im großbürgerlichen Milieu, dem sich unter dem Eindruck von Strawinskys Sacre du printemps eine neue Dimension eröffnet, die allerdings die schicksalhafte Präsenz des Engels oder des „seigneur inconnu“, wie es an anderer Stelle heißt,45 mit sich bringt, der eine bedingungslose Unterwerfung fordert. Auch Antigone,46 von Cocteau einmal als seine Heilige bezeichnet, kann als sein Spiegel- oder vielmehr Vorbild betrachtet werden. In einer Phase der Umorientierung vom Modernismus zu einem „rappel à l’ordre“ steht Antigone für die Revolte und die Reinheit zugleich, zwei Werte, die für Cocteau zur Zeit der Entstehung von Antigone sowohl im Hinblick auf seine Poetik als auch in Bezug auf Raymond Radiguet von Bedeutung waren.47 Antigone ist, so erklärt Cocteau, wie Jeanne d’Arc eine Anarchistin, die sich durch eine Schwere, eine Gravität auszeichnet, die auch die der Dichter – also eine besondere – ist und oft unverstanden bleibt. Dies zeige sich beispielhaft an Rousseau, dessen Werk sichtbare Spuren der Ver48 achtung und Verfolgung durch die Enzyklopädisten trage. Mit Rousseau ist ein weiteres, nicht mythologisches, Spiegelbild genannt, das Cocteau mit einem Essay ehrt, dessen letzte Sätze die Entsprechung über das Bild des Akrobaten und Seiltänzers bestätigen: 45 Vgl. die Paraprosodies (1958) vorausgehenden „7 dialogues avec le Seigneur inconnu qui est en nous“. 46 Als Theaterstück wurde Antigone 1922 in Paris im Théâtre de l’Atelier uraufgeführt, als von Arthur Honegger komponierte Oper 1927 in Brüssel im Théâtre de la Monnaie. 47 Vgl. dazu den Kommentar Gérard Liebers zu Antigone in Cocteau 2003, 1652ff. 48 „Jeanne d’Arc est mon grand écrivain. Nul ne s’exprime mieux qu’elle, par la forme et par le fond. Sans doute se serait-elle émoussée, aurait-elle adopté un style. Telle qu’elle est c’est le style même et je ne cesse de lire et relire son procès. Antigone est mon autre sainte. Ces deux anarchistes conviennent à la gravité que j’aime, [...], gravité qui m’est propre et qui ne cadre pas avec celle qu’on a coutume d’appeler par ce nom. C’est celle des poètes. Les encyclopédistes de toute époque la dédaignent. S’ils la jalousent, sans se l’avouer, ils peuvent aller jusqu’au crime. Voltaire, Diderot, Grimm ne sont que l’affiche d’une attitude vieille comme le monde et qui ne passera qu’avec lui. Elle s’oppose aux poètes et tourne contre eux des armes courbes, fort terribles dans l’immédiat. Rousseau a laissé des traces sanglantes de cette chasse à l’homme jusque chez Hume où devait avoir lieu la curée. Qu’on ne croie pas qu’un tel acharnement s’évapore. Il en subsiste quelque chose. Rousseau restera toujours un exemple de l’esprit de persécution. Il l’avait. Mais on lui avait donné lieu de l’avoir. Autant reprocher ses crochets au cerf qu’on force.“ (La Difficulté d’être, in Cocteau 1995, 875–876).
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Susanne Winter Voici pêle-mêle et bien mal écrit, ce que je sais en bloc de Jean-Jacques Rousseau, artiste pur, génial, solitaire et maladroit. Il reste l’exemple de cet équilibre si difficile à maintenir lorsque la route est en l’air sur un fil inconnu au lieu d’être sur le sol et connue d’avance. Les gestes de l’équilibriste doivent sembler absurdes à ceux qui ne savent pas qu’il marche sur le vide et sur la mort.49
Über die künstlerische Wesensverwandtschaft hinaus verbindet Rousseau mit Cocteau auch der Vorname Jean, was in den Augen Cocteaus eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben dürfte, wie eine weitere, auf der Namensgleichheit beruhende Spiegelung nahelegt. Im ersten betont avantgardistischen Gedichtzyklus, Le Cap de Bonne-Espérance, überlagern sich im Angesicht der zerstörten, rau50 chenden Stadt Reims der Vorname des Dichters, Jean, mit dem des Verfassers der Offenbarung unter dem Vorzeichen der apokalyptischen Schau und des die Oberfläche durchdringenden Blicks des Sehers. Darüber hinaus nimmt Cocteau seine Initialien J. C. immer wieder zum Anlaß, auf mehr oder weniger eindeutige Weise auf Jesus Christus und die Passion anzuspielen, worauf schon Titel 51 wie Le Sang d’un poète oder La Crucifixion hindeuten.
Fremdbilder Der Impetus zur Selbstdarstellung oder -inszenierung, das öffentliche Auftreten Cocteaus und die offensichtlich faszinierende Wirkung, die von seiner Person ausging, weckten schon früh und bemerkenswert häufig das Interesse zeitgenössischer Autoren, wie Proust, Gide, Soupault, Aragon, Mauriac und anderer, die ihn als Person in fiktionalen Texten auftreten ließen, wobei im wesentlichen zwei Verfahrensweisen zu unterscheiden sind. In Aragons Roman Aurélien (1942) erscheint Cocteau unverstellt unter seinem Vornamen Jean, und er bewegt sich in den Künstlerkreisen, die er zu dieser Zeit tatsächlich frequentierte. Auch der innerfiktionale Hinweis auf die mögliche Provokation eines Skandals durch ein Theaterstück lässt sich unschwer auf die Wirklichkeit beziehen,52 so dass das fiktionale Cocteau-Bild dem wirklichen weitgehend entspricht.
49 „Rousseau“. In Cocteau 1950, 422. 50 „[...]/moi Jean/j’ai mangé le livre/sur une borne/Reims Jeanne Patmos/moi Jean j’ai vu Reims détruite/et de loin elle fumait/comme une torche/[...]“; „Géorgiques funèbres“, in Cocteau 1999, 38. 51 Ausführlicher dazu siehe Touzot 2000, 142ff. 52 Gemeint ist wohl die Aufführung von Antigone. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Touzot 1989, 41–49.
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein Dagegen erlaubt eine weitergehende Ablösung der fiktionalen Figur von der Wirklichkeit eine eigenständigere Gestaltung, die wiederum ein neues Licht auf die historische Person oder vielmehr auf ihr Erscheinungsbild zu werfen vermag. Dies führt Jean Touzot unter anderem an Prousts A la recherche du temps perdu und an Gides Faux-Monnayeurs aus. Folgt man Antoine Adam, der Prousts Romanzyklus als Schlüsselroman liest, verweist die Figur Octaves in A l’ombre des jeunes filles en fleurs (1918) auf den jungen Cocteau im Kontext des großbürgerlichen Künstlermilieus, der als leichtfüßiger, oberflächlicher Snob erscheint, während Octave in Albertine disparue (1925) eine spektakuläre Veränderung durchlaufen hat, die an die Umorientierung Cocteaus vom „prince frivole“ zum Avantgardisten erinnert, in dessen Parade oder Le Bœuf sur le toit sich eine ästhetische Revolution manifestiert. Wie Touzot feststellt, erscheint allerdings im fiktionalen Kontext die Rolle, die das Cocteau-Pendant im Rahmen der ästhetischen Neuerungen spielt, mehr als die eines Animators und Katalysators denn als die eines Erfinders und Initiators, so dass das Selbstbildnis Cocteaus als Neuerer durch das fiktionale Fremdbild zurechtgerückt und – unter heutiger Perspektive gesehen – der Wirklichkeit angenähert wird. Das problematische Verhältnis, das zwischen Gide und Cocteau herrschte, schlägt sich auch in den Romanen Gides nieder, in denen der Comte Robert de Passavant alias Jean Cocteau eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Als „Comte“ ist er unvermeidlich Teil des 53 aristokratischen Milieus der Grafen, Prinzessinnen, Herzoginnen und damit lächerlich und unglaubhaft als Vertreter der Avantgarde. Darüber hinaus verweist Passavant in Gides Roman La Barre fixe auf die vermeintliche oder tatsächliche Rivalität um einen Freund, die Gide Cocteau zum Vorwurf machte. Wenn auch in Les FauxMonnayeurs (1925) der aggressive Duktus gemildert erscheint, bleibt die skeptisch-negative Figurenzeichnung und die Infragestellung der Originalität unübersehbar: „„Faiseur“ plutôt qu’artiste, Passavant met au pillage „les idées dans l’air, c’est-à-dire celles d’autrui““.54 Ohne diese fiktionalen Texte im Hinblick auf das Cocteau-Bild überinterpretieren zu wollen, ist doch zu konstatieren, dass sich zwischen der Selbstdarstellung und dem Fremdbild vor allem im Hinblick auf die frühen Jahre und die Stellung Cocteaus im avantgardistischen Kontext Divergenzen ergeben. Weitere Varianten des Fremdbildes zeichnen die zahlreichen Biographien, die zum Teil bereits zu Cocteaus Lebzeiten entstanden und zum 100. Geburtstag 1989 – wie kaum anders zu erwarten – 53 Tatsächlich sind die Titel eines „comte“, einer „princesse“, „comtesse“ oder „duchesse“ in Cocteaus Freudeskreis nicht selten zu finden. 54 Touzot 1989, 47.
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Susanne Winter einen kleinen Höhepunkt erreichten. Auffällig ist vor allem die große Zahl der aus dem angelsächsischen Raum stammenden Biogra55 phien, zu denen sich eine deutsche aus dem Jahr 1961 gesellt, was zum einen auf Cocteaus rasche Rezeption und Anerkennung im Ausland zurückzuführen ist, die im Gegensatz steht zu einer angesichts der Vielfalt des Werkes und des öffentlichen und medialen Auftretens verbreiteten abwartenden bis ablehnenden Haltung in Frankreich. Zum anderen ist die Populärität der Biographie als Genre in England wie in Amerika weitaus größer als in Frankreich. Durch den Reichtum an interessanten Episoden und Anekdoten in Cocteaus Leben, die zahllosen Bekanntschaften mit teils berühmten Persönlichkeiten und sein öffentliches Auftreten wie auch die Vielfalt seines Œuvres ergibt sich in den fast ausnahmslos konventionellen, einem chronologischen Verlauf folgenden Lebensbeschrei56 bungen nicht nur ein lebendiges Bild des Künstlers Cocteau, sondern darüber hinaus ein Panorama der französischen, teils auch europäischen Kunst- und Künstlerszene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was in einem Titel wie Jean Cocteau. The History of a Poet’s Age deutlich zum Ausdruck kommt. Die Faszination der Künstlerpersönlichkeit, der öffentlichen Person, des Exzentrikers, des Außergewöhnlichen, des als Homosexueller, als Opiumraucher, als Konvertit Grenzen Überschreitenden wird unterschiedlich akzentuiert und zum Werk in Beziehung gesetzt, wobei meist Cocteaus eigene Texte als Referenz oder Beleg im Zentrum stehen. Nicht selten werden prägnante Formulierungen Cocteaus wie „étonne-moi“, „ce que le public te reproche, cultive-le: c’est toi“ oder „courir plus 57 vite que la beauté“ zu Überschriften und Motti in den Biographien,
55 Hagen 1961; Biographien in englischer Sprache u. a.: Crosland 1955; Fowlie 1966; Brown 1968; Kihm/Sprigge/Béhar 1968; Steegmuller 1973; Peters 1987; Williams 2008. 56 Eine Ausnahme bildet Philippe de Miomandres Moi, Jean Cocteau (1985), eine dialogische Biographie, in der der junge Angelo, ein alter ego Cocteaus, durch einen Spiegel in der von Cocteau ausgemalten Kapelle SaintBlaise des Simples eine andere Welt betritt, in der er auf Cocteau trifft. 57 Die Aufforderung „étonne-moi“ geht nach Cocteau auf Diaghilev zurück und wird von Cocteau immer wieder zur Erklärung ästhetischer Umorientierungen oder der Betätigung in neuen künstlerischen Bereichen herangezogen. Im Essay „De mes évasions“ erklärt er: „Diaghilev s’amusait de mes ridicules. Comme je l’interrogeais sur sa réserve (j’étais habitué aux éloges), il s’arrêta, ajusta son monocle et me dit: „Étonne-moi.“ L’idée de surprise, si ravissante chez Apollinaire, ne m’était jamais venue. En 1917, le soir de la première de Parade, je l’étonnai“. (La Difficulté d’être, Cocteau 1995, 880).
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein so dass die Selbstinszenierung Cocteaus unmittelbar auf die Darstellung durch andere wirkt und diese in ihrer Perspektive bestimmt. Dagegen unternimmt es Jean Touzot in seinen CocteauBiographien und Artikeln zum einen, die Chronologie der Lebensbeschreibung durch eine thematische Strukturierung zu ersetzen und zum anderen, den Selbstinszenierungsstrategien Cocteaus sowie ihren Auswirkungen auf das Cocteau-Bild nachzugehen. Dabei weist er auf die vielfach vereinfachenden Schemata hin, mit der die Cocteau-Kritik wie auch die Biographen versuchen, des Künstlers und des Werkes habhaft zu werden, und verortet ihren Ursprung bei Cocteau selbst. Seine Neigung zu antithetischen, paradoxen oder oxymoralen Formulierungen, die auf das Wesentliche zielen, und deren bekannteste der bereits zitierte Satz „Je suis un mensonge qui dit toujours la vérité“ ist,58 reduziert eine Komplexität auf Gegensatzpaare wie wahr – falsch, sichtbar – unsichtbar, bewusst – unbewusst, Ordnung – Unordnung etc., die zu einer plakativen Verwendung verleiten. Abschließend stellt Touzot fest: „Ainsi donc la contradiction reste, après examen, l’essentiel, et comme l’alpha et 59 l’oméga de la vulgate Cocteau“. So erklären sich dann wohl auch die gegensätzlichen Schlüsse, die James S. Williams und Pierre Caizergues aus Cocteaus Selbstinszenierungsstrategien ziehen: „the more visible the man, the greater the invisibility of the artist and the 60 more authentic the work“ und „Il s’agit de rendre l’homme Cocteau 61 invisible [...] pour qu’apparaisse l’écrivain dans sa vérité“.
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Das zweite Zitat, „ce que le public te reproche“, ist Le Potomak 1913–1914 entnommen und wird bereits in Le Coq et l’Arlequin von Cocteau selbst wieder zitiert. Das Motto „courir plus vite que la beauté“ erläutert Cocteau in Le Discours d’Oxford: „Picasso m’a enseigné à courir plus vite que la beauté. Je m’explique. Celui qui court à la vitesse de la beauté ne fera que pléonasme et carte postalisme. Celui qui court moins vite que la beauté ne fera qu’une œuvre médiocre. Celui qui court plus vite que la beauté, son œuvre semblera laide, mais il oblige la beauté à la rejoindre et alors, une fois rejointe, elle deviendra belle définitivement“. (Cocteau 1960, 187–188). In leicht variierter Form heißt es in Secrets de beauté: „ Le poète est un mensonge qui dit la vérité“. (Secrets de beauté, in Cocteau 1950a, 361). Nur ein weiteres Beispiel paradoxer Formulierungen sei noch genannt: „Un poème résulte du mariage entre le conscient et l’inconscient, entre le vouloir et le non-vouloir, entre l’exactitude et le vague“. (Secrets de beauté, in Cocteau 1950a, 358). Touzot 2000, 92. Williams 2008, 8. Cocteau 1995a, 35.
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Bibliographie Apollinaire, Guillaume 1967. „Parade et l’Esprit nouveau“. In: André Fermigier: Jean Cocteau entre Picasso et Radiguet. Paris (Hermann), 69–71. Bosdeffre, Pierre de 1973. Les Poètes français d’aujourd’hui. Paris (Presses universitaires de France). Brown, Frederick 1968. An Impersonation of Angels. New York (Viking P.). Brunel, Pierre et al. (Hg.) 1972. Histoire de la littérature française. Paris (Bordas). Cocteau, Jean 1910. Le prince frivole. Paris (Mercure de France). Cocteau, Jean 1950. Œuvres complètes. Bd. IX. Lausanne (Marguerat). Cocteau, Jean 1950a. Œuvres complètes. Bd. X. Lausanne (Marguerat). Cocteau, Jean 1960. Poésie critique. Bd. 2. Paris (Gallimard). Cocteau, Jean 1995. Romans, Poésies, Œuvres diverses. Hg. Bernard Benech. Paris (Le Livre de Poche). Cocteau, Jean 1995a. Autoportraits de l’acrobate. Hg. Pierre Caizergues. Saint-Clément (Fata Morgana). Cocteau, Jean 1999. Œuvres poétiques complètes. Hg. Michel Décaudin u. a. Paris (Gallimard). Cocteau, Jean 2003. Théâtre complet. Hg. Michel Décaudin u. a. Paris (Gallimard). Cocteau, Jean 2006. Œuvres romanesques complètes. Hg. Serge Linarès. Paris (Gallimard). Crosland, Margaret 1955. Jean Cocteau. London (Peter Nevill). Fowlie, Wallace 1966. Jean Cocteau. The History of a Poet’s Age. Bloomington (Indiana University Press). Gide, André 1995. Les faux-monnayeurs. Paris (Gallimard). Hagen, Friedrich 1961. Leben und Werk des Jean Cocteau. Wien/ München/Basel (Desch). Kihm, Jean-Jacques/Sprigge, Elizabeth/Béhar, Henri C. 1968. Jean Cocteau. The Man and the Mirror. London/New York (Victor Gollancz Ltd.). Mann, Klaus 1968. Prüfungen. Schriften zur Literatur. Hg. Martin Gregor-Dellin. München (Nymphenburger Verlagshandlung). Mann, Klaus 1985. Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt). Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2, Kassel (Bärenreiter) 1952. Peters, Arthur King 1987. Jean Cocteau and his World. London/ New York (Vendôme Press).
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Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein Proust, Marcel 1987. A la recherche du temps perdu. Paris (Gallimard). Steegmuller, Francis 1973. Cocteau. A biography. London (Macmillan). Touzot, Jean 1989. Jean Cocteau. Lyon (La Manufacture). Touzot, Jean 1998. „Jean Cocteau et son automythographie“. In: Jean Cocteau 2. Autour du „Requiem“. Paris (Minard), 153–172. Touzot, Jean 2000. Jean Cocteau. Le poète et ses doubles. Paris (Bartillat). Williams, James S. 2008. Jean Cocteau. London (Reaktion Books).
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ – Ausgangspunkte einer Biographie über Thomas Bernhard MANFRED MITTERMAYER
Nachlässe, Lebens-Schriften Die literarischen Arbeiten Thomas Bernhards lassen sich immer wieder auch als Kommentar zu jenem Projekt lesen, von dem hier die Rede sein soll: zur Arbeit an einer Biographie. In auffälliger Häufung finden sich darin die Versuche einzelner Figuren, eine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, die gegenwärtige Situation auf die dafür relevanten Entwicklungsprozesse zurückzuführen. „Die meisten Texte Bernhards handeln von einem biographischen Ereignis, das für das weitere Leben eines Protagonisten entscheidend gewesen ist“, fasst dies Christian Klug zusammen. Im Vordergrund stünden die „Fragen nach dem Sinn des gelebten Lebens und nach der Zufälligkeit oder Zwangsläufigkeit, mit der es abgelaufen ist“, also nach seinem „inneren Zusammenhalt“.1 In mehreren von Bernhards Büchern scheint dieses Unterfangen unter dem Begriff „Ursachenforschung“ auf – so etwa im Roman Das Kalkwerk (1970), dessen Protagonist Konrad mit dem Ausspruch zitiert wird: „Man suche hinter chaotischen oder wenigstens hinter merkwürdigen, jedenfalls hinter außergewöhnlichen Zuständen naturgemäß immer gleich nach der Ursache“.2 Den bemerkenswertesten Versuch der Annäherung an ein fremdes Leben enthält der Roman Korrektur (1975). Dessen Protagonist Roithamer ist vor kurzem verstorben – er hat Selbstmord begangen –; nun macht sich sein Freund daran, die vielen ungeordneten Blätter, aus 1 2
Klug 1991, 112. Thomas Bernhard Werkausgabe im Folgenden zitiert als TBW + Bandangabe. Hier TBW 3, 147f.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ denen sein Nachlass besteht, zu „sichten“ und zu „ordnen“. Es gelingt ihm freilich nicht, diese Ordnung herzustellen; schließlich wirft er verzweifelt alle Papiere, die ihm Roithamer hinterlassen hat, auf einen Haufen, nur um zu erkennen, dass er sie damit „vollkommen durcheinandergebracht“ hat, sodass sie „niemehr zusammengebracht werden“ können.3 Korrektur handelt also von einer autobiographischen Schrift, die auf den erwähnten Papieren überliefert ist – ohne tauglichen Hinweis auf eine mögliche Strukturierung durch den ‚Herausgeber‘ bzw. den möglichen Biographen. Roithamer wollte darin vor allem eine Beschreibung des Familienbesitzes „Altensam“ vorlegen, von dessen obsessiver Last er sich sein Leben lang vergeblich zu befreien versuchte. Das Thema der Erforschung der eigenen Herkunftsbedingungen avanciert bereits in den späten 1960er Jahren zu einem Hauptanliegen von Bernhards Schreiben. Schon 1968 steht in den „Papieren Karls“, aus deren Wiedergabe die Erzählung Ungenach z. T. besteht, das folgende Fragment über die Suche nach den Grundlagen der eigenen Existenz: „[…] nach und nach ein Ungenach rekonstruierend, das es nicht mehr gibt, in Wirklichkeit nie gegeben hat, Hunderte, Aberhunderte von Bedeutungen als dein zukünftiges Leben“.4 Im selben Jahr geht Bernhard mit dem kurzen Text Unsterblichkeit ist unmöglich (1968) erstmals öffentlich daran, seine eigene Herkunft nachzuzeichnen – der Terminus, den er dafür gebraucht, lautet ebenfalls: „Ursachenforschung“, diesmal „was meine Person betrifft“.5 Zeitlich parallel zum erwähnten Roman Korrektur erscheint tatsächlich der erste von Bernhards fünf autobiographischen Bänden Die Ursache. Eine Andeutung (1975). Vor allem in den ersten vier Teilen seiner Autobiographie (nach der Ursache sind dies Der Keller. Eine Entziehung, 1976, Der Atem. Eine Entscheidung, 1978, und Die Kälte. Eine Isolation, 1981) entwirft der Autor ein konsequent durchstrukturiertes Szenario der Selbstdurchsetzung eines Ichs gegen die von Beginn an feindliche Umwelt.6 Bernhard beschreibt hier die prägenden Jahre seiner Adoleszenz: die Schulzeit, die Kaufmannslehre und die lebensgefährliche Krankheit. Die literarische Rekonstruktion dieser Lebensphase ist einerseits ein unverzichtbares (Selbst-)Zeugnis für jede Beschäftigung mit der Entwicklung seiner Persönlichkeit, andererseits ist es ein instruktives Beispiel für die These Christian Kleins, dass im Hinblick auf biographische 3 4 5 6
TBW 4, 161. TBW 12, 49. Fellinger (Hg.) 1993, 27. Ich habe dieses narrative Programm andernorts im Detail dargestellt. Vgl. z. B. Mittermayer 2001.
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Manfred Mittermayer Darstellungen Begriffe wie „unmittelbar“ und „authentisch“ unbedingt durch „konstruiert“ und „inszeniert“ ergänzt werden müssen.7 Der Erzähler der Autobiographie weist selbst auf den Faktor der ironischen ‚Täuschung‘ seines Publikums hin: „Ich darf nicht leugnen, daß ich auch immer zwei Existenzen geführt habe“, schreibt er im Schlussteil des zweiten autobiographischen Bandes Der Keller, „eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte“; beide hätten in ihrem Zusammenspiel eine ihn „am Leben haltende Existenz ergeben“.8 In einem frühen Versuch, diese Haltung Bernhards zu interpretieren, spricht Franz Schuh von „Unverwundbarkeitstechniken“; mit ihrer Hilfe habe Bernhard einen „rhetorischen Panzer“ ausgebildet, hinter dem „sein Selbst unverwundbar“ weile. „Indem er immer, was er selber ist, zugleich auch denunziert, ist er zugleich auch das Denunzierte, ohne es zu sein“.9 „Nur die Verstellung rettet mich zeitweise und dann wieder das Gegenteil der Verstellung“, lautet ein weiterer Satz aus Der Keller,10 der die Vermutung Schuhs zu bestätigen scheint. Mitten in jener Schaffensphase, in der Bernhards Autobiographie entsteht, berichtet der Autor in seiner Erzählung Die Billigesser (1978) auf geradezu parodistische Weise von einer Praxis der Lebens-Rekonstruktion, wie sie der Protagonist dieses Buches durchaus zwanghaft betreibt. Dieser typisch Bernhard’sche „Geistesmensch“ namens Koller ist durch einen fatalen Hundebiss und die daraus resultierende Amputation seines linken Beines aus seiner „Lebenslaufbahn herausgerissen“ worden, wie der Erzähler des Buches es sieht. Nun hat er sich ein geradezu „mathematisches Denken erarbeitet“,11 mit dem er in seinem Leben jenen Zusammenhang etabliert, den auch biographische Narrationen den vereinzelten Details eines individuellen Daseins unterstellen. In geradezu aufdringlicher Häufung enthält Bernhards Texts an dieser Stelle Wörter, die Kontinuität und Konsequenz suggerieren: Koller habe immer wieder „seinen eigenen Weg und seinen Ursprung soweit als nur möglich in die Vergangenheit hinein und wieder zurück“ verfolgt, um den „Beweis zu erbringen“, dass sich seine Existenz „ganz und gar mathematisch genau und folgerichtig entwickelt“ habe.12 Auf diese Weise habe er das persönliche Unglück der körperlichen Deformation zur
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Klein 2002b, 14. TBW 10, 203f. Schuh 1981, 20f. TBW 10, 206. TBW 13, 133. Ebd., 144.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ Basis für einen „Geistesweg“ umgedeutet,13 dessen Ablauf „vorauszusehen und in sich logisch“ gewesen sei.14 Damit macht Bernhard in der ironischen Überzeichnung das Vorgehen des biographischen Handwerks deutlich, nämlich die „Verwandlung von Resten qua Verstehen in einen Wirkungszusammenhang“.15 Dieser Vorrat an „zurückgebliebenen Resten“,16 der Nachlass, bildet für eine Reihe seiner Texte den formalen Rahmen: Die Erzählung Watten (1969) heißt sogar im Untertitel Ein Nachlaß, und noch der als letzter publizierte Roman Auslöschung. Ein Zerfall (1986) endet mit der kurzen Bemerkung, dass sein Protagonist Franz-Josef Murau, der als Verfasser des umfangreichen Textes aufscheint, bereits verstorben sei.17 Das Scheitern des IchErzählers von Korrektur am Nachlass seines Freundes Roithamer lässt erkennen, wie skeptisch Bernhard die Möglichkeiten einer Annäherung an die schriftlichen Hinterlassenschaften eines Menschen eingeschätzt haben mag. Das traditionelle Konzept einer Lebensgeschichte als „kohärente Erzählung einer signifikanten und auf etwas zulaufenden Folge von Ereignissen“ stellt sich angesichts einer solchen Darstellung als jene „biographische Illusion“ heraus, von der Pierre Bourdieu in seinem viel beachteten Aufsatz spricht.18 Bernhards eigener literarischer Nachlass wurde nach seinem Tod 1989 zunächst von seinem Halbbruder und Erben Peter Fabjan gesammelt und gesichert, ehe ihn ab April 1999 der Germanist Martin Huber im Rahmen eines Forschungsprojekts erstmals bearbeitete. Hinzu kam ein wesentlicher Teil von Bernhards Korrespondenz, die sich ursprünglich im von Bernhards Halbschwester Susanne Kuhn betreuten Privatarchiv der Familie in Großgmain befunden hatte – insbesondere die Verlags- und Theaterkorrespondenz, deren Bedeutung für die Erforschung der Textgenese und Werkchronologie außerordentlich hoch ist; Briefe ausschließlich privaten Inhalts sind für die Öffentlichkeit bis heute gesperrt. Im November 2001 wurde in der Villa Stonborough-Wittgenstein in Gmunden das Thomas-Bernhard-Archiv eröffnet, wo die Nachlässe Bernhards und seines Großvaters, des Schriftstellers Johannes Freumbichler, seither für die Forschung zugänglich sind. Im Zentrum der Archivtätigkeit steht neben der fortlaufenden Aufarbeitung von Bernhards Nachlass vor allem die Herausgabe einer 22 Bände umfassenden Werkausgabe im Suhrkamp Verlag, wobei sämtliche 13 14 15 16 17 18
Ebd., 147. Ebd., 162. Weigel 2006, 168. Ebd., 169. Bernhard 1986, 640. Bourdieu 1998, 77.
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Manfred Mittermayer zu Bernhards Lebzeiten veröffentlichte Texte anhand des im Archiv erhaltenen Nachlasses kritisch durchgesehen und mit einem editorischen Anhang sowie einem Kommentar versehen werden. Auf der Basis des Archivmateriales läuft seit 2004 parallel dazu auch das Projekt einer umfassenden Bernhard-Biographie. Bereits 1993 hatte Hans Höller in der Reihe der „rowohlt monographien“ die erste Biographie des Autors vorgelegt – eine bahnbrechende und in vielem bis heute gültige Arbeit. 2000 folgte ein weiterer Band von ähnlichem Umfang, den Joachim Hoell für die Reihe „dtv-Porträts“ verfasste. In der Zwischenzeit war unter dem Titel Chronologie die biographische Materialsammlung des französischen Germanisten Louis Huguet erschienen, die beeindruckende und für die Arbeit an Bernhards Lebensbeschreibung überaus nützliche Dokumentation einer jahrelangen, geradezu obsessiven Forschungstätigkeit; leider ist sie aufgrund ungünstiger Publikationsumstände völlig unzulänglich ediert. Huguets Vorlass befindet sich mittlerweile ebenfalls im Bernhard-Archiv und wird derzeit wissenschaftlich erschlossen. Die erste biographische Darstellung von deutlich größerem Umfang stammt von Gitta Honegger, die selbst als Übersetzerin von Bernhards Dramen ins amerikanische Englisch gewirkt hatte; ihr Band war auch zunächst für den US-amerikanischen Markt geschrieben (unter dem Titel Thomas Bernhard. The Making of an Austrian, 2001), wurde aber von der Autorin selbst auch ins Deutsche übersetzt: Thomas Bernhard: „Was ist das für ein Narr?“ (2003). Alle drei Autoren konnten sich – bei allen Verdiensten ihrer Arbeit – noch nicht auf die zahlreichen Dokumente stützen, die im Thomas-Bernhard-Archiv seit dem Jahre 2001 eingesehen werden können. Das Bernhard-Archiv ging deshalb mit dem damals neu gegründeten Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie (zusammen mit der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Institut für Germanistik der Universität Wien und dem Jüdischen Museum der Stadt Wien) eine Kooperation ein. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurde ich damit beauftragt, auf der Basis der Nachlassmaterialien des Archivs eine ausführliche Biographie zu Thomas Bernhard zu erarbeiten; eine erste kürzere Darstellung von Leben und Werk (deren Erscheinen bereits vor Zustandekommen dieser Kooperation fixiert worden war) habe ich Anfang 2006 im Rahmen der Reihe „BasisBiographien“ im Suhrkamp Verlag veröffentlicht.19 Im Folgenden sollen einige Problembereiche angesprochen werden, die sich aus der Arbeit an einer Bernhard-Biographie erge-
19 Vgl. Mittermayer 2006b.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ ben.20 An anderer Stelle habe ich mich bereits ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern Bernhards Autobiographie als Quelle für eine Darstellung seines Lebens dienen kann; dieser Aspekt soll deshalb – mit dem Verweis auf diesen Artikel – im vorliegenden Beitrag ausgespart bleiben.21 Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass es für manche Zeiträume in Bernhards früher Lebenszeit kaum weitere Zeugnisse gibt, aus denen sich deren Ablauf bzw. ihre Auswirkungen auf die spätere Entwicklung des Autors erschließen ließe. In den letzten Jahren hat die unverkennbare Stilisierung, die der Autor bei der Darstellung mancher Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend einsetzt, freilich auch zu heftiger Kritik an diesen Büchern geführt. So hat etwa Andreas Maier unter dem Titel Die Verführung eine Studie vorgelegt, in der er Bernhards autobiographischer Darstellung vorwirft, es handle sich dabei um bloß rhetorische, auf den Effekt hin gebaute Texte ohne die darin behauptete existentielle Authentizität: Erstens würden darin „die eigene Herkunft und das eigene Umfeld ins Licht eines vermeintlich wohlhabenden Bürgertums beziehungsweise des exzeptionellen Künstlertums gestellt“, zweitens würden „Bernhards eigene Fähigkeiten und Erfolge vergrößert oder einfach erfunden“, und drittens erfinde und verfälsche er „Situationen und ganze Menschenschicksale, um Pointen und Effekte verschiedenster Art zu erzielen“.22 Man sollte jedoch das Element der literarischen Selbst-Inszenierung eher als dieser Gattung inhärentes Strukturmerkmal betrachten, das bei der Beurteilung dieser wie im Grunde jeder Autobiographie ohne den Vorwurf einer ‚unredlichen‘ Darstellung mit aller Skepsis, aber durchaus unaufgeregt mit ins Kalkül zu ziehen ist.23
Epitaphe Man weiß seit Langem, dass das Genre der Biographie nicht zuletzt auf die Praxis der Grabreden auf prominente Persönlichkeiten zurückgeht.24 Ein Blick auf die Nachrufe auf Thomas Bernhard ergibt ein interessantes Kaleidoskop der öffentlichen Images, die zur Zeit seines Todes (am 12. Februar 1989) in der deutschsprachigen Welt 20 Zur Theorie der Biographie vgl. u. a. die Sammelbände von Klein (Hg.) 2002a und Fetz (Hg.) 2009a, in letzterem besonders die Einleitung, Fetz 2009b. 21 Vgl. Mittermayer 2006a. 22 Maier 2004, 161. 23 Vgl. zur Gattung der Autobiographie grundsätzlich Holdenried 2000, Wagner-Egelhaaf 2005, Mittermayer 2009. 24 Vgl. Romein 1948, 46.
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Manfred Mittermayer existierten – die verschiedenen „Zuschreibungen“, denen die untersuchte Person unterliegt, gehören nach Hans Erich Bödeker „zur Rekonstruktion der Biographie“, und dies trifft auf einen Schriftsteller wie Thomas Bernhard, der in einem derartigen Ausmaß zum Gegenstand kontroverser Diskussionen wurde, in besonderer Weise zu. Es versteht sich von selbst, dass sowohl die zeitgenössischen Kommentare als auch die „Verarbeitungen des biographischen Sujets durch spätere Generationen“ stets als „zeitbedingte Interpretationen im politischen und gesellschaftlichen Kontext“ analysiert werden müssen.25 Bedenkt man die vielen öffentlichen Erregungen über Bernhards Aussagen, etwa den diesen Nachrufen unmittelbar vorausgegangenen Skandal rund um die Uraufführung seines letzten Theaterstücks Heldenplatz am 4. November 1988 am Wiener Burgtheater, so entsteht aus einer solchen Untersuchung auch ein aussagekräftiges Bild von der kulturpolitischen Situation dieser Zeit. Wilhelm Sinkovicz geht in seinem Artikel in der Wiener Tageszeitung Die Presse vom Bild des literarischen Provokateurs Bernhard aus. Bei ihm erscheint er als der „haßerfüllte Poet“, der sich „in seinen Schlupfwinkeln verschanzte“ und gleichsam „aus dem Hinterhalt“ stets „mit tonnenschwerer Vokabelmunition gegen alles vorgehen konnte, was ihm krankhaft, morbid, sinnentleert und ganz und gar widerwärtig erschien“. Sinkovicz definiert gleichzeitig, was Bernhard seiner Meinung nach „für krank, morbid, sinnlos und widerwärtig“ erachtet habe. Er denkt dabei durchaus nicht nur an politische und soziale Missstände, sondern auch an „all das, was unsere Gesellschaft sich an Mechanismen zurechtgelegt – und zurechtgelebt – hat“, um das „gedeihliche Zusammenleben“ oder die „friedliche Koexistenz“ der Menschen zu garantieren.26 Hansres Jacobi stellte unter dem Kürzel „haj“ in der Neuen Zürcher Zeitung ebenfalls den Gesellschaftskritiker Bernhard in den Mittelpunkt. Er habe den „Kunstbetrieb“ ebenso wie die „Alltagsgewohnheiten“ angeprangert und dabei die „politischen Parteien“, die „Presse“ und die „Kirche“ angegriffen. Als „Übertreibungskünstler“ (eine häufig gebrauchte Vokabel für die Charakterisierung Bernhards, die er selbst in seinem 1986 erschienenen letzten großen Roman Auslöschung geprägt hatte27) habe er „zu immer neuen Rundschlägen“ ausgeholt, wobei „haj“ ausdrücklich darauf hinweist, dass sich der Autor davon „selber nicht ausnahm“. Der Kritiker betont, dass das Bild des aggressiven Brachial-Literaten nicht verabsolutiert werden dürfe: Gerade in Bernhards Werken der letz25 Bödeker 2003, 37. 26 Sinkovicz 1989. 27 Vgl. dazu auch Schmidt-Dengler 1997.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ ten Jahre habe man „bei aller Rabiatheit der Angriffe“, bei der man sich gleichwohl fragen mochte, „bis zu welchem Punkte sie Element eines Spiels war“, sehr wohl „Spuren einer geheimen Zärtlichkeit spüren“ können. Deutlich sei darin die „innerste Liebe auch zu seinem Land“ angeklungen, das er „so oft in Aufregung versetzt“ habe.28 Die Wiener Kritikerin Karin Kathrein, die Bernhards Werk stets mit großer Sympathie und Einfühlungsvermögen publizistisch begleitet hatte, greift in der Zeitung Die Welt diesen Aspekt der Liebe zum so heftig gescholtenen Heimatland Österreich auf und versucht gleichfalls, ein ganz anderes Bild zu vermitteln, als es gerade im Anschluss an den Heldenplatz-Skandal in den Medien vorgeherrscht hatte: „Um die Welt und seine Heimat, um die Tragik der menschlichen Existenz ertragen zu können“, habe er sich „in den Zorn, in den Spott, in den Hohn“ geflüchtet. Im Gegensatz dazu sei er „in seinem Inneren“ jedoch ein „Liebender“ gewesen, „voll Schmerz und Trauer um das groteske Scheitern der Menschen“. Aus ihrer Sicht war er ein „zartfühlender, verletzlicher, leicht erregbarer Mensch“, der „privat von großer Behutsamkeit und Herzenswärme“ sein konnte: „höflich, verständnisvoll, übersprudelnd von komischen und skurrilen Geschichten“. Sie habe ihn als Menschen erlebt, dessen „Selbstironie“ seine Umgebung immer wieder „verblüffte“.29 Völlig konträr zu Kathrein hatte sich stets Sigrid Löffler mit Bernhard auseinandergesetzt; mit bedenkenswerten Argumenten, aber ohne die Sympathie ihrer Kollegin hatte sie sehr kritisch über das Werk ihres Landsmannes geschrieben. Auch ihr Nachruf im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt betont nicht ohne deutliche Hinweise auf problematische Seiten des Autors vor allem dessen Ambivalenzen: Thomas Bernhard sei ein „Mann der Widersprüche“ gewesen – ein „Heimatdichter mit dem Negativblick auf Heimat und Natur“; der uneheliche Sohn einer „Hausgehilfin“, der gleichwohl einen Hang zum „Großbürgertum“ hatte und sich dessen „Lebensstil […] einverleibte“, während er die Exponenten dieser speziell für Wien bedeutsamen Schicht „literarisch diffamierte“. Für Löffler war Bernhard ein „konservativer Anarchist“: einerseits ein „Provokateur“, andererseits ein „Repräsentant jener Zustände, die er bloßstellte“. Seine Literatur hält sie für eine „Bestätigung der österreichischen Stagnation, aber in ihrer aggressivsten Ausformulierung“.30 Zum Abschluss sei einer der zentralen Bernhard-Vermittler auf dem Feld der Zeitungskritik zitiert, Benjamin Henrichs, der in der 28 haj. 1989. 29 Kathrein 1989. 30 Löffler 1989.
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Manfred Mittermayer Wochenzeitschrift Die Zeit auf Leben und Werk des Autors zurückblickt und dabei zwar nochmals dessen kritische Haltung in Erinnerung ruft, zugleich aber auch die Transformation seiner Inhalte ins Medium der Kunst bedenkt: „Seine Texte sind furiose Anklageschriften (auf der Strafbank: Österreich und die Welt)“, meint Henrichs; der Dichter habe „alle beschuldigt“. Im selben Atemzug habe er jedoch (wenn man genau hinhöre) „alle freigesprochen“. Seine Texte würden nämlich „Verwünschung, Fluch und jüngstes Gericht“ in „grandiose, naturnotwendig tröstende, manchmal sogar rettende Sprachmusik“ verwandeln. Für seine Leser und Zuschauer sei Bernhard „kein Erzengel des Hasses gewesen, kein unzugänglicher Einsiedler“, sie hätten in ihm vielmehr einen „Freund, Helfer, Weltverbesserer“ gehabt. Henrichs weist auf ein Phänomen hin, das bis heute andauert – die ungewöhnliche Zuneigung einer treuen Leserschaft zu einem der gleichzeitig meistgehassten Autoren der zeitgenössischen Literatur: „Wahrscheinlich war er (ausgerechnet er!) der am meisten geliebte Autor unserer Jahre“.31
Zeitzeugen Ein spezifisches Phänomen der Bernhard-Rezeption ist die beträchtliche Zahl an Erinnerungsschriften, in denen Zeitgenossen des Autors ‚ihr‘ Bild von Thomas Bernhard festgehalten haben. Dazu gehören zunächst mündliche Statements aus einer Fernsehdokumentation, die von der in Sachen Bernhard besonders verdienstvollen ORF-Kulturjournalistin Krista Fleischmann zusammengestellt wurde.32 Im selben Jahr erschien der Interview-Band von Maria Fialik: Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. In beiden Bänden finden sich längere Stellungnahmen von Wegbegleiter/inne/n und Freund/inn/en, bei Fialik kommen jedoch auf durchaus kontroverse Art auch Menschen zu Wort, mit denen sich Bernhard nach früherer Freundschaft überworfen hatte. Ebenfalls 1992 wurden zwei weitere Einzelpublikationen veröffentlicht. Gerda Maleta, die Witwe des früheren ÖVP-Politikers und Nationalratspräsidenten Alfred Maleta, hielt in Form eines sehr persönlich gehaltenen Briefes an den Verstorbenen unter dem Titel Seteais33 ihre Erinnerungen an die „Tage mit Thomas Bernhard“ fest. Wesentlich 31 Henrichs 1989. 32 Fleischmanns Filme Monologe auf Mallorca, 1982, und Die Ursache bin ich selbst, 1986, sind neben dem Film Drei Tage von Ferry Radax, 1970, die wichtigsten filmischen Selbst-Porträts Bernhards; vgl. auch die DVD-Edition 2009 bei Suhrkamp. 33 Der Name eines Hotels in Bernhards portugiesischem Urlaubsort Sintra.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ nüchterner nimmt sich der Bericht des früheren Unterrichtsministers Herbert Moritz über die gemeinsame Arbeit beim Demokratischen Volksblatt aus, wo er Anfang der 1950er Jahre der Vorgesetzte des jungen Journalisten Bernhard war: Thomas Bernhard – Vom Journalisten zum Dichter.34 Zwei für die Wahrnehmung des Menschen Bernhards besonders folgenreiche Publikationen folgten um die Jahrtausendwende, beide im ehemaligen Salzburger Verlag des Autors, bei Residenz: 1999 erschien der Band Zeugenfreundschaft des Dirigenten und Komponisten Rudolf Brändle, eines Freundes aus der Lungenheilanstalt Grafenhof. Es ist ein mit großer Empathie, aber gelegentlich auch aus kritischer Distanz verfasster Erinnerungsband, der manche Stilisierungen in Bernhards Autobiographie mit der eigenen Wahrnehmung kontrastiert. Für die Bernhard-Rezeption vor allem in Deutschland von großer Bedeutung ist bis heute Karl Ignaz Hennetmairs 2000 erschienener Band Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. Der Ohlsdorfer Immobilienmakler, der mit Bernhard eine zehn Jahre andauernde Freundschaft unterhielt, hatte ein ganzes Jahr lang jedes seiner Erlebnisse mit dem Autor akribisch aufgezeichnet. Vor allem jenem Teil von Bernhards Publikum, der dessen konkrete Lebenswelt nicht so gut kannte, eröffneten sich dadurch überraschende Einblicke in die Existenz des Autors, die mit dem gelegentlich aus seinen Texten abgeleiteten Image als rein der Sphäre des Philosophischen zugewandter „Geistesmensch“ kaum kompatibel waren. Es ist auch im Zusammenhang mit den Charakterisierungsversuchen durch Bernhards Zeitgenossen sehr aufschlussreich, die jeweiligen Beschreibungen bestimmter Aspekte miteinander zu vergleichen: Markante Übereinstimmungen treten ebenso zutage wie der Eindruck sehr individueller Wahrnehmungsvarianten desselben Phänomens. Deutlich wird dabei, wie unterschiedlich die Aussagen von Zeitzeugen ausfallen können, wenn sie sich vermeintlich mit denselben Sachverhalten beschäftigen. Die Abweichungen zwischen öffentlichen Images und privaten Erinnerungen lassen sich aber auch auf die bereits angesprochene Praxis der Selbst-Inszenierung zurückführen – bei einem Menschen, den eben in der Tat gelegentlich „nur die Verstellung“ gerettet haben mag. Ein erstes Beispiel sind die Kommentare zu einem Charakterzug Bernhards, der in irgendeiner Variante von fast jedem Kommentator 34 Moritz war Mitte der 1980er Jahre als Unterrichtsminister Auslöser einer kulturpolitisch besonders wichtigen Diskussionen um Bernhard, als sein Ausspruch, der Autor sei längst zu einem Fall für die Wissenschaft geworden, womit allerdings „nicht die Literaturwissenschaft“ gemeint sei, als Aufruf zur Psychiatrierung missliebiger Schriftsteller interpretiert wurde.
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Manfred Mittermayer angesprochen wird: sein auffälliges Abgrenzungsbedürfnis, das zuweilen als Menschenscheu oder als Misanthropie (s. o.), aber auch als Zeichen beträchtlicher Arroganz wahrgenommen wurde. Schon ein früher Brief von Alice Zuckmayer,35 die zusammen mit ihrem Mann Carl zu Bernhards frühesten Förderern zu zählen ist, weist darauf hin. Sie berichtet darin dem jungen Autor, sie habe sich bei dem Verleger Paul Zsolnay für ihn eingesetzt, diesen jedoch gleichzeitig vor ihm gewarnt – er solle nicht an Bernhards Benehmen Anstoß nehmen, denn sie halte ihn zwar „fuer sehr begabt“, aber auch „fuer unertraeglich hochmuetig“. Sie glaube freilich, fügt sie hinzu, dass dieser Hochmut eine „Art Selbstschutz-Mauer“ ist, die im Fall eines künstlerischen Erfolgs „abbroeckeln, vielleicht mit einem Male stuerzen wird“. Wieland Schmied, einer der ältesten Freunde Bernhards (er hatte z. B. dessen Prosadebüt mit dem 1963 erschienenen Roman Frost vermittelt), meint im Gespräch mit Krista Fleischmann, „das Abweisende“ sei ein Teil von Bernhards Wesen gewesen, „auf den er nicht verzichten konnte“. Er habe einen „gewissen Panzer“ gehabt, der sich nur für diejenigen geöffnet habe, „die ihn seit früher Jugend kannten und denen er sich so zeigen konnte, wie er war“.36 Schmied führt dies darauf zurück, dass Bernhard in seiner Jugend, „so wie er es empfunden“ habe, „zu wenig an Liebe, an Zuneigung zuteil geworden“ sei. Er habe sich deshalb beim „leisesten Gefühl, daß er verletzt werden könnte“, sogleich „zurückgezogen“; er habe sich nie in eine Situation begeben wollen, wo er als derjenige dastehe, der „um etwas wirbt oder bittet oder ansucht“.37 Rudolf Brändle bemerkt im Zusammenhang damit, dass Bernhard gegenüber seiner Umwelt so oft aggressiv und provokant aufgetreten sei, und dass sein Freund ihm oft vorgekommen sei „wie ein Kind, das alles mögliche anstellt und sich dann wundert, daß es nicht alle lieben“.38 Annemarie Hammerstein-Siller, eine Bühnenbildnerin, mit der Bernhard seit der gemeinsamen Zeit am Kärntner Tonhof befreundet war, beschreibt eine besondere Variante von Bernhards Bereitschaft, Menschen von einem Augenblick auf den anderen vor den Kopf zu stoßen: Sie habe darin bestanden, dass er sich in bestimmte Personen buchstäblich „vernarrt“ habe, sich aber dann von einem Augenblick auf den anderen von ihnen abwenden konnte. Dieser Vorgang sei, so Hammerstein-Siller, bei ihm ein „viel 35 Alice Zuckmayer an Thomas Bernhard, 23.9.1955, aufbewahrt im ThomasBernhard-Archiv. 36 Fleischmann (Hg.) 1992, 21. 37 Ebd., 12. – Wieland Schmied legte vor kurzem eine Autobiographie vor, in der er ebenfalls ausführlich von seiner Freundschaft zu Bernhard erzählt; vgl. Schmied 2008, bes. 122–126. 38 Fleischmann (Hg.) 1992, 48f.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ intensiverer Prozeß“ gewesen als üblicherweise; er habe ihn „plötzlich abrupt beenden“ müssen, „um sich selbst zu befreien“.39 Unwillkürlich fühlt man sich dabei an ein Verhaltensmuster erinnert, das Bernhard in Holzfällen (1984) schildert – jenem Roman, der als Auseinandersetzung mit der radikalen Abwendung des Autors von seinem früheren Freund und Förderer Gerhard Lampersberg gelesen wurde: „Eine Zeitlang gehen wir mit Menschen in eine Richtung, dann wachen wir auf und kehren ihnen den Rücken“, schreibt der Ich-Erzähler. „Wir ketten uns an sie und verabscheuen sie auf einmal und lassen sie los. […] Oder wir entkommen ihnen und machen sie herunter, verleumden sie, verbreiten Lügen über sie, dachte ich, um uns zu retten“.40 Im Gegensatz zu dieser Schroffheit und Verletzlichkeit steht eine Eigenart, die insbesondere nach Bernhards Tod von zahlreichen Zeitzeugen den über ihn kursierenden Klischees entgegengehalten wurde. Auch hier gibt es recht unterschiedliche Wahrnehmungsweisen. Gerda Maleta spricht von seiner Fähigkeit, seine Umgebung stundenlang „zum Lachen“ zu bringen, wobei darin „auch sehr viel Schauspielkunst“ gesteckt habe, „gepaart mit der Beherrschung des bayrischen Dialekts“, also mit der Kunst der sprachlichen Parodie.41 Alexander Üxküll, der frühere UNO-Flüchtlingskommissär, in dessen Wohnung in der Brüsseler Rue de la croix 60 sich Bernhard wiederholt aufhielt,42 charakterisiert den Autor so, dass er „für das direkte Gespräch“ über konkrete Themen oder Probleme nicht geeignet gewesen sei; „bei ihm war alles entweder überhöht oder es war indirekt, sehr oft verbrämt durch die bei ihm sehr hohe Kunst des Blödelns“.43 Auch Rudolf Brändle berichtet, er und seine Familie hätten ihn immer wieder als „Meister des spontanen Einfalls und der geistreich-witzigen Improvisation“ erlebt.44 Wieland Schmied führt diesen Wesenszug auf die Tatsache zurück, dass Bernhard „nichts so sehr verhaßt“ gewesen sei „wie Geschwätz oder Drumherum-Reden“. Er habe „entweder das ganz ernste Gespräch“ angestrebt oder eben „das Blödeln“, den Versuch, „mit Kalauern“ darüber hinwegzugehen. Um den Ernst einer Sache, die ihm sehr wichtig war, „nicht zu verletzen“, habe er sich lieber „mit Phrasen“ darüber unterhalten, die man „in Anführungszeichen verwendet“, die man „sozusagen zitiert, um sie gleichzeitig lächelnd
39 40 41 42 43 44
Ebd., 60 und 62. TBW 7, 101. Fleischmann (Hg.) 1992, 98. U. a. schrieb er dort an seinem Roman Verstörung. Fleischmann (Hg.) 1992, 73. Brändle 1999, 112.
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Manfred Mittermayer abzutun“.45 Einen völlig anderen Aspekt dieser Fähigkeit, der Wirklichkeit mit Mitteln der Komik zu Leibe zu rücken, überliefert Ulrike O’Donnell, eine seiner Bekannten aus der österreichischen Aristokratie: Bernhard habe nicht nur – entgegen der anfänglichen Scheu in Anwesenheit einer größerer Anzahl von Personen – erstaunlich aus sich herausgehen, sondern auch „sehr zynisch sein“ können; wenn er „jemanden aufs Korn genommen“ habe, sei dieser „ganz schön drangekommen“. Man habe dabei allerdings gewusst, dass das „nicht nur Spott“ gewesen sei, sondern „auch eine gewisse Zuneigung“ ausdrücken konnte.46 Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Nuancierungen beim Blick auf einen Verhaltenskomplex bildet Bernhards Drang nach persönlicher Autonomie innerhalb einer Menschengruppe bzw. in Bezug auf die Interessen anderer. „Bestimmend, aber charmant. Charmant bestimmend“, lautet diesbezüglich die Einschätzung der eben zitierten Ulrike O’Donnell.47 Auch Gerda Maleta bezeichnet ihn als „sehr bestimmend“; sie erinnert sich, dass sie ihn gelegentlich nicht mehr „aushalten“ konnte, weil er „auf [ihre] Persönlichkeit losgegangen“ sei: „Ich wollte meine Persönlichkeit behalten, da mußte ich weggehen“.48 Franz Josef Altenburg, ein weiterer Freund aus der Adelsschicht, bemerkt, Bernhard sei in Gesellschaft durchaus „eifersüchtig“ gewesen, wenn er in Gefahr geriet, die Aufmerksamkeit mit anderen teilen zu müssen: „Er wollte Mittelpunkt sein“.49 Jeannie Ebner, deren Wahrnehmung freilich mit Sicherheit durch den Umstand beeinflusst war, dass sie sich gegen Ende ihrer Bekanntschaft in Bernhards Roman Holzfällen in Gestalt der Jeannie Billroth wenig schmeichelhaft dargestellt sah, erzählt, ihr ehemaliger Freund aus Wiener Tagen (Ende der 1950er Jahre) habe zwar gerne „beim Spazierengehen Gesellschaft gehabt“, allerdings nur von jemandem, „dem er seine Gedanken vortragen kann, der wenig spricht, nicht widerspricht, und der nicht kritisiert, sondern bewundert“.50 Noch wesentlich negativer wird dieser Wesenszug bei Gerhard Lampersberg ausgelegt – bei jenem ehemaligen Freund, der sich in demselben Roman als heruntergekommener Komponist Auersberger karikiert sah. Bernhard habe auf den ersten Blick den Eindruck gemacht, „ein liebenswürdiger Mensch zu sein“, aber in Wirklichkeit sei er ein „völlig beziehungsunfähiger Egozentriker“ gewesen. Er sei 45 46 47 48 49 50
Fleischmann (Hg.) 1992, 14. Ebd., 86. Ebd., 86. Ebd., 103. Ebd., 119. Fialik 1992, 33.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ auf alle, die bei den Lampersbergs zu Gast waren, „sehr eifersüchtig“ gewesen; er habe nur diejenigen geduldet, die „voller Bewunderung zu ihm aufblickten“, so der einstige Weggefährte. „Völlig auf sich selbst bezogen. Egozentrisch“.51 Im absoluten Gegensatz dazu steht Hilde Spiel, eine Vertraute über viele Jahre: Ihre Sympathie für Bernhard habe sie oft dazu veranlasst, ihm auch vieles zu verzeihen. Er sei „natürlich ein sehr schwieriger Mensch“ gewesen, räumt sie ein – aber: Man habe ihm „alles mögliche vergeben, was man jemandem andern nicht vergeben hätte“.52 Sie erinnert sich, ihm manchmal ein bekanntes Brecht-Zitat vorgetragen zu haben, wenn er z. B. wieder einmal ein Versprechen nicht eingehalten habe: „An mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“.53
Lebens-Menschen Gerade bei einer Persönlichkeit wie Thomas Bernhard, die aufgrund ihrer Selbstinszenierung als Einzelgänger und Querdenker stets eher als absolut individuelle und solitäre Figur wahrgenommen wurde, mag es überraschen, wie bedeutsam in diesem Leben Beziehungen zu anderen Menschen gewesen sind – und zu wie vielen Freunden und Bekannten er offenbar Kontakt pflegte, auch wenn er sich immer wieder für längere Zeit in seinen Ohlsdorfer Vierkanthof und seine weiteren Liegenschaften im oberösterreichischen Alpenvorland zurückzog und nie wirklich mit jemandem im Wortsinn ‚zusammenlebte‘. Der in der Überschrift dieses Abschnitts gebrauchte Begriff „Lebensmensch“, der 2008 im Zusammenhang mit dem Tod des Politikers Jörg Haider auf recht eigentümliche Weise ins Gerede kam,54 hat wohl als sprachliche Neuprägung Bernhards zu gelten. Er taucht in seinem Werk erstmals in der autobiographischen Erzählung Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft (1982) auf – allerdings nicht für den im Titel genannten Paul Wittgenstein, sondern für die im Text namentlich gar nicht identifizierte Hedwig Stavianicek, eine um fast 37 Jahre ältere Wiener Ministerialratswitwe, die Bernhard 1950 kennenlernte, also zwischen zwei für ihn traumatischen Erlebnissen: dem Tod seines Großvaters Johannes Freumbichler 51 Gemma Salem, Thomas Bernhard et les siens, zit. nach Huguet o. J. [1995], 377f. 52 Fleischmann (Hg.) 1992, 143. 53 Ebd. 54 Einige von Haiders politischen Freunden verwendeten den Begriff, um ihr Verhältnis zu ihm zu charakterisieren; er wurde sogar zum „Wort des Jahres 2008“ gewählt.
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Manfred Mittermayer (1949) und dem seiner Mutter Herta Fabjan (1950). Er schildert in diesem Text ihre regelmäßigen Besuche an seinem Krankenbett, als er 1967 im Pulmologischen Krankenhaus auf der Baumgartner Höhe in Wien lag: „[...] ich hatte ja meinen Lebensmenschen, den nach dem Tod meines Großvaters entscheidenden für mich in Wien, meine Lebensfreundin“. Und er betont, dass er ihr seit dem Moment, da er sie erstmals getroffen habe, „mehr oder weniger alles verdanke“.55 Die Bedeutung der beiden für Bernhard lebensentscheidenden älteren Menschen, die im Grunde an die Stelle von Vater und Mutter treten, sind Bestandteil der umfassenden Ausstellung Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß, die ich zusammen mit Martin Huber 2001 kuratiert habe: Neben Hedwig Stavianicek handelt es sich dabei natürlich um Johannes Freumbichler, den Großvater mütterlicherseits, die wichtigste Bezugsfigur von Bernhards gesamter Jugendzeit, über deren Einfluss auf das Leben und die literarische Arbeit des Enkels ich bereits 1999 eine kleinere Ausstellung im Ohlsdorfer Bernhard-Haus gestaltet hatte. Die jeweiligen Begleitbände stellen diese Persönlichkeiten und ihre Funktion im Leben des Autors ausführlich dar; ich kann mich deshalb auf kurze Andeutungen beschränken.56 Das öffentliche Bild von der Rolle Freumbichlers geht vor allem auf Bernhards eigene Schilderung in der Autobiographie zurück. Dabei überwiegt bei oberflächlicher Betrachtung seine Einschätzung als existentiell prägender Lehrer, die im Band Die Ursache von Beginn an formuliert ist: als „die einzige nützliche und für [s]ein ganzes Leben entscheidende Schule“ bezeichnet der Erzähler die Zeit mit seinem Großvater; dort sei er „das Leben gelehrt und mit dem Leben vertraut gemacht“ worden.57 Doch ein genauerer Blick lässt eine zunehmend ambivalente Beurteilung dieser Beziehung durch den Enkel erkennen – bei aller Betonung, wie sehr er den Großvater geliebt und von seiner Zuwendung gezehrt habe. So weist er z. B. auf den Widerspruch hin, dass er durch die Erziehung des Großvaters im Grunde für den Schulbesuch „untauglich“ gemacht worden sei,58 und er macht ihn für sein schulisches Scheitern verantwortlich: „[…] schuld an meinem Studierunglück war mein Großvater gewesen“.59 Bemerkenswert ist auch die Interpretation des plötzlichen Todes von Freumbichler, der als Basis für zuvor nicht zugängliche Existenzmöglichkeiten ausgewiesen wird: So „entsetzlich er sich gezeigt“ habe, er sei letztlich „auch eine Befreiung 55 56 57 58 59
TBW 13, 223f. Vgl. Mittermayer 1999, Huber/Mittermayer/Karlhuber (Hg.) 2001. TBW 10, 89. Ebd., 94. Ebd., 152.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ gewesen“, bemerkt Bernhard, und er fügt hinzu, dass er diese „Chance“ auf ein „neues Leben“, in dem er „vollkommen auf [s]ich selbst angewiesen war“, vermutlich „allein durch den Tod des Großvaters“ bekommen habe.60 Bernhard setzt sich Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre nicht nur im Medium der Autobiographie mit seinem Großvater auseinander. Zu dieser Zeit entstehen auch einige Theaterstücke, deren Protagonisten in auffälliger Weise nach dem Vorbild Freumbichlers gestaltet sind – wie der Zirkusdirektor Caribaldi in Die Macht der Gewohnheit (1974), die Hauptfigur des Stücks Der Weltverbesserer (1979) und der Staatsschauspieler Bruscon in Der Theatermacher (1984). Es sind Charaktere, an denen sich die gleiche Ambivalenz wie im Verhalten des Großvaters zeigt: die bedingungslose Verfolgung eines geistigen Projekts, aber auch der Anspruch, dass sich alle Menschen, mit denen man zu tun hat, dieser Lebensaufgabe unterzuordnen haben. Dabei erhält man den Eindruck, als hätte Bernhard die Darstellung Freumbichlers zunächst im Experimentierfeld der fiktionalen Literatur ausprobiert. Gelegentlich transferiert er einfach Elemente aus der Rede seiner Theaterfiguren in den Kontext der autobiographischen Narration: Im Mittelpunkt der Komödie Der Weltverbesserer steht ein Privatgelehrter, dessen eben von der Universität ausgezeichneter Traktat über die Verbesserung der Welt um den Gedanken kreist, dass man die Welt nur verbessern könne, indem man sie abschaffe: „Die Welt ist eine Kloake/aus welcher es einem entgegenstinkt/Diese Kloake gehört ausgeräumt“. Freilich, so fügt er hinzu, „bleibt uns nichts anderes übrig/als daß wir uns kopfüber hineinstürzen“.61 Die gleiche Aussage schreibt Bernhard auch dem „Philosophen“ seiner frühen Lebensjahre zu, und zwar werkgeschichtlich erst nach der Publikation des Weltverbesserers, in dem 1981 erschienenen autobiographischen Band Die Kälte. Dort heißt es, Freumbichler habe „die Welt richtig gesehen: als Kloake, in welcher die schönsten und die kompliziertesten Formen sich entwickelten, wenn man lange genug hineinschaut“. Wer lange hineinschaue, ermüde und sterbe „und/oder stürzt sich kopfüber hinein“.62 Hedwig Stavianicek kommt aus der Perspektive des Biographen u. a. das Verdienst zu, über viele Jahre die größeren Unternehmungen und Reisen Bernhards aufgezeichnet zu haben; in ihren Kalendern notierte sie jeweils die Daten von Abreise und Heimkehr, während der Autor selbst, der kein Tagebuch führte und auch sonst an keiner statistischen Erfassung seines Lebens interessiert war, 60 Ebd., 277f. 61 Bernhard 1988, 166. 62 TBW 10, 351.
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Manfred Mittermayer diesbezüglich keine aufschlussreichen Lebenszeugnisse hinterlassen hat. Sie war es wohl auch, die sich in Bernhards Frühzeit um die Archivierung seiner an den unterschiedlichsten Orten erscheinenden Zeitungspublikationen kümmerte; es existiert z. B. eine Zusammenstellung von Gerichtsreportagen, mit deren Hilfe eine Zuordnung zumindest eines Teils dieser grundsätzlich ohne Namensnennung publizierten Zeitungsbeiträge im Demokratischen Volksblatt möglich ist.63 In einem Gespräch mit Asta Scheib, das nach dem Tod Stavianiceks entstand, hebt Bernhard hervor, welchen Anteil die Verstorbene an seinem Erfolg gehabt habe: „Ich hatte nie einen besseren Kritiker als sie“, erinnert er sich. „Von dieser Frau kam immer eine ganz starke, positive Kritik, die mir nützlich war“.64 Und er fügt hinzu: „Sie war für mich das Zurückhaltende, das Disziplinierende. Andererseits auch das Weltaufmachende“.65 Über sie erhielt der angehende Autor Zugang zur Welt des Wiener Großbürgertums, die ihm sein Großvater nicht hätte erschließen können; genau dort ist ein wesentlicher Teil seines Werks angesiedelt, nicht zuletzt der späte Roman Alte Meister (1985) und das Skandalstück Heldenplatz (1988), mit dem die Öffentlichkeit den Namen Bernhard verbinden sollte wie mit keinem anderen Text. Die Beziehung zu Hedwig Stavianicek schlägt sich auch in Bernhards fiktionaler Literatur nieder – nicht so umfassend wie die zum Großvater mütterlicherseits, aber ebenfalls im Zusammenhang mit der für diese Texte so charakteristischen Selbstreflexion ihres Verfassers. Im selben Jahr wie die zitierte Hommage an den „Lebensmenschen“ (Wittgensteins Neffe) erscheint der Roman Beton (1982). Sein Protagonist Rudolf, der während der Arbeit an einer Studie über den Komponisten Mendelssohn Bartholdy in eine Schreibblockade hineingeraten ist, hat eben einen Besuch seiner Schwester hinter sich, die er zunächst für sein künstlerisches Scheitern verantwortlich macht, bis er sich eingestehen muss, dass er ohne sie nur schwer existieren kann und sie sogar selbst zu sich eingeladen hat. Diese Person trägt deutlich Züge von Bernhards Lebensgefährtin, genauso wie die Hauptfigur in vielen Einzelheiten stark an ihn selbst erinnert. Dabei wird sie im Roman zum Sprachrohr einer Kritik, die man nicht nur auf die literarische Figur, sondern auch auf den Autor selbst und seine Lebensform beziehen muss: „Du verachtest alles“, habe sie gesagt. „Und vor allem verachtest du dich selbst. Du bezichtigst alle aller Verbrechen, das ist dein Unglück“. Rudolf muss erkennen, dass sie, „die Hellsichtige“, damit „sozusa63 Bernhard war nicht der einzige Journalist, der damals für das Gerichtsressort dieser Zeitung arbeitete. 64 Dreissinger (Hg.) 1992, 151. 65 Ebd., 140.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ gen den Nagel auf den Kopf getroffen hat“.66 In Bezug auf den realen Autor lässt sich erneut Franz Josef Altenburg zitieren, der den Umgang Stavianiceks mit Bernhard so kommentiert: „Das war diese Intelligenz und diese scharfe Zunge, die war ja eine wahnsinnig bissige Frau. Die ist einmal zu uns in den Hof gekommen und hat gesagt: ‚Schau dir das an, da ist halt Leben, nicht so wie bei dir!‘“.67 Rudolf, Bernhards literarische Figur, reagiert auf die Vorwürfe seiner Schwester selbstkritisch: „Ich bildete mir ein, keinen Menschen zu brauchen, ich bilde mir das noch heute ein“. Doch „naturgemäß brauchen wir einen Menschen, sonst werden wir unweigerlich so, wie ich geworden bin: mühselig, unerträglich, krank, in des Wortes allertiefster Bedeutung unmöglich“.68 Eine Biographie über Thomas Bernhard muss sich eingehend mit den zahlreichen Fiktionalisierungen auseinandersetzen, denen die Menschen im Erfahrungsbereich des Autors unterlagen. Dabei ist die traditionelle Vorstellung einer eindimensionalen UrsacheWirkung-Relation zwischen Leben und Werk mit Sicherheit einer kritischen Revision zu unterziehen; es geht nicht darum, wie bestimmte Personen als literarische Figuren ‚abgebildet‘ werden – eine derartige Schlüsselloch-Perspektive in all ihren (auch juristischen) Konsequenzen löste in Bernhards Leben bekanntlich wiederholt öffentliche Diskussionen aus, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Skandal um seinen Roman Holzfällen, der bis zur vorübergehenden polizeilichen Beschlagnahme des Buches eskalierte. Sigrid Weigel schlägt vor, nicht mehr ein Verhältnis von äußeren Einwirkungen und Innerlichkeit vorauszusetzen, sondern die jeweilige „Korrespondenz“ zwischen schriftlichen Zeugnissen (auch im Hinblick auf die mit einzubeziehende ‚Realität‘) zu untersuchen und darin die Übereinstimmung spezifischer „Konstellationen“ zu analysieren.69 Peter André Alt sieht in seinen „Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographie“ Leben und Werk „in ihrer Wechselbeziehung“ und nicht als Pole eines Ableitungsverhältnisses; zwischen ihnen bestehe, was er die „Interferenz strukturverwandter Felder“70 nennt. Gerade im Fall eines Autors wie Thomas Bernhard, der in seinen Texten immer auch Lebensmodelle entwirft, denen die eigene Selbst-Inszenierung gelegentlich erst nachfolgt, ist Alts Hinweis zu bedenken, dass das Leben nicht allein der „Ermöglichungsgrund seiner literarischen Produktivität“ ist, sondern ebenso deren „Wiederholung mit anderen Mitteln“ sein 66 67 68 69 70
TBW 5, 22f. Fialik 1991, 145. TBW 5, 28. Weigel 2002, 47. Alt 2002, 29.
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Manfred Mittermayer kann: Das Leben könne „Konfigurationen des Werkes begründen, initiieren, motivieren“, es könne diese aber durchaus auch „aufgreifen und nachahmen“.71 Was die literarische Laufbahn Thomas Bernhards anbelangt, so war die wichtigste Beziehung die zu seinem Frankfurter Verleger Siegfried Unseld. Bernhard hatte bereits 1961 erstmals ein Typoskript an Unselds Suhrkamp Verlag geschickt (es handelte sich um den Prosatext Der Wald auf der Straße), jedoch eine Absage erhalten. 1963 brachte er über Vermittlung des damaligen Lektors Wieland Schmied im Insel Verlag den ersten Roman Frost heraus – was gleichzeitig den ersten Schritt zur Zusammenarbeit mit Suhrkamp bedeutete: Im selben Jahr übernahm Unseld auch die Leitung des Insel Verlags, und bereits Bernhards zweiter Prosaband wurde (nach der Erstpublikation bei Insel) 1965 in die Reihe „edition suhrkamp“ aufgenommen; ab dem Band Prosa (1968) erschienen seine Bücher (sofern sie nicht, wie z. B. die Autobiographie, bei Residenz in Salzburg herauskamen) im Suhrkamp Verlag. Der Briefwechsel zwischen Bernhard und Unseld ist eines der wichtigsten Dokumente zu einer biographischen Darstellung dieses Autorenlebens. Der Kommentar zu seiner Edition (2009) macht eine weitere Quelle zur Erschließung von Bernhards Lebensgeschichte zumindest teilweise zugänglich, nämlich den umfangreichen Nachlass Unselds mit unzähligen Reiseberichten sowie einer Chronik, in der er alle wichtigen Gespräche und Entscheidungen, die mit dem Suhrkamp Verlag und seinen Autor/inn/en zusammenhingen, detailliert aufzeichnete. Auf diese Weise lässt sich ein wesentlicher Sektor der literarischen Karriere Bernhards, darunter natürlich auch der ‚geschäftliche‘ Anteil dieses Lebenssegments, in vielen entscheidenden Einzelheiten rekonstruieren. An dieser Stelle können wiederum nur repräsentative Hinweise darauf gegeben werden, was in der Korrespondenz zwischen Autor und Verleger festgehalten ist. Es sind vor allem zwei inhaltliche Schwerpunkte, um die diese Briefe ständig kreisen. Zum einen lässt sich Bernhards Ringen um künstlerische Anerkennung nachvollziehen, das sich bei einem ‚freien Autor‘ nicht zuletzt im Beharren auf bestmöglicher finanzieller Behandlung und dem seiner Bedeutung entsprechenden ökonomischen Erfolg niederschlägt. Bernhard konnte auf diesem Gebiet äußerst zielstrebig und hartnäckig sein; Unseld hatte in ihm einen Geschäftspartner, der ihn mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln unter Druck setzte, um seine Wünsche zu verwirklichen.
71 Ebd.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ Dabei zeigen auch diese Briefe, die sich rein um finanzielle Belange drehten, die unverkennbare literarische Handschrift des Autors. Ein Beispiel dafür ist der Streit mit Unseld wegen der aus Bernhards Sicht viel zu niedrigen Verkaufszahlen seines 1967 erschienenen Romans Verstörung und der ihm ebenfalls zu geringen Vorauszahlung für seine neue Erzählung Ungenach, die ein Jahr später herauskam. Unseld hatte Bernhard bereits vor Drucklegung von Verstörung auf den seiner Meinung nach verkaufsschädigenden Titelvorschlag des Autors hingewiesen – fürs Weihnachtsgeschäft, so der Verleger, sei ein derartig düsterer Titel nicht besonders geeignet. Gleichwohl hielt ihm Bernhard in seinem Brief vom 11. Juli 1968 vor, wenn „ein so grosser und so guter Verlag […] nicht mehr als tausendachthundert Exemplare verkaufen“ könne, sei dies „so absurd“, dass es kein Mensch glauben werde. Denn, so Bernhard weiter, „selbst wenn ich ganz alleine mit meinem Rucksack durchs Land ginge, verkaufte ich in vier Wochen sicher mehr“.72 Das Problem mit Ungenach versuchte er Unseld mittels einer kleinen Erzählung nahezubringen: Ungenach, eine Geschichte (Von Thomas Bernhard) Es war einmal ein Autor, der schrieb Amras und bekam […] sage und schreibe 3000.– Mark dafür, dass sein Amras in der edition suhrkamp erschien. Der gleiche Autor schrieb zwei Jahre später einen Band Erzählungen, die er, so der Verleger, unglücklicherweise mit Prosa betitelte und bekam dafür auf einmal nur 2.000.–. Dann schrieb er, weil er ja immer schreibt, weil er einfach schreibt usf., ein Buch mit dem Titel Ungenach und verlangte (wie ein Schuhmacher für ein Paar gemachte Schuhe) so wie er für Amras es oder sie, bekommen hat, wieder 3.000.– und es waren ihm (vom Verlag) einstimmig 3.000.– versprochen, was ganz in Ordnung ist und jetzt, man stelle sich vor, bekommt dieser gleiche Autor von seinem Verleger (Jetzt mag der sein wie er will!) einen Vertrag (und eine Mahnung!) auf nur 2.000.– wobei sich auch die 2000.– als ganz und gar ausserordentliche Grosszügigkeit anbieten ... usf. ... (Fragment und Ende der Geschichte).73
Das zweite große Thema der Briefe zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld ist die Sorge des Autors um eine adäquate Betreuung seines Werks durch den Verlag. Ein besonders brillant vorgetragenes Beispiel ist der Brief vom 12. April 1973, in dem sich Bernhard auf die Premiere seines Stücks Der Ignorant und der Wahnsinnige im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele am
72 Fellinger/Huber/Ketterer (Hg.) 2009, 75. 73 Ebd., 76.
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Manfred Mittermayer 9. April 1973 bezog.74 Er habe eben, so Bernhard, die „hundsgemeine Hinschlachtung“ eines seiner Theaterstücke erleben müssen, wobei ein „Dramaturgenteam“ am Werk gewesen sei, das „aus ordinären Provinzidioten“ bestehe, sowie eine „Schauspielergarnitur, die in Sankt Pölten oder in der Kurstadt Baden bei Wien sich austoben“ könne „an einer Lehároperette“, die aber „niemals“ auf eine seiner Arbeiten „losgelassen werden“ dürfe. „So müsste es, wäre es möglich gewesen, Beethoven empfunden haben“, fügt er hinzu, wäre er „unversehens in die Aufführung seiner Neunten oder Siebten in den Wiener Musikverein hineingeraten, in welchem eine unterbesetzte Polizeimusikkapelle spielt“.75 Was sich zunächst als amüsant zu lesender Wutanfall eines angesichts der unzulänglichen Realisierung eines seiner Theaterstücke entsetzten Autors liest, hat für den Verlag Konsequenzen. Fürs Erste untersagt ihm Bernhard für die Zukunft, ohne seine Einwilligung Aufführungsgenehmigungen für seine Stücke zu erteilen; noch mehr: „Bis wir beide, wenn überhaupt noch möglich, eine neue und für mich mögliche Basis gefunden haben“, teilt er Unseld mit, „ruht meine Theaterarbeit im Suhrkampverlag“.76 Es ist ein Modell, das sich über all die Jahre in dieser Korrespondenz wiederholt: Geradezu euphorischen Aufschwüngen und Liebeserklärungen an Verlag und Verleger folgen heftige Zerwürfnisse und der unvermeidliche Liebesentzug, begleitet von Verdächtigungen und Vorwürfen, der Autor werde von ‚seinem‘ Verlag schlecht und unprofessionell betreut. Es ist nicht verwunderlich, dass sich der prinzipiell nüchtern protokollierende Unseld gelegentlich auch zu Einschätzungen wie der folgenden hinreißen lässt: „Er ist und bleibt ein merkwürdiger Mann. Sicher ein Genie, aber auch mit den Gefahren eines Genies geschlagen“, schreibt er in einer Notiz nach einem Gespräch am Samstag, 15. März 1975, in Frankfurt am Main. „Maßlosigkeit, Irrealität und bereit, in materiellen Dingen immer seinen Partner zu erpressen“. Gleichzeitig räumt er ein, Bernhard sei äußerst „liebenswürdig“ aufgetreten, und er habe sich in der Umgebung von Unselds Wohnung in der Klettenbergstraße „ungeheuer wohl“ gefühlt.77 Der Ausgang dieser jahrelangen Beziehung, die mit Sicherheit über alles Geschäftliche weit hinausging, zeigt noch einmal jene Widersprüchlichkeit, die für so viele Aspekte im Leben Thomas Bern74 Bei dieser Premiere wirkte übrigens Wolfgang Gasser, der später als Professor Robert Schuster wesentlichen Anteil am Erfolg der Wiener HeldenplatzInszenierung haben sollte, in der Rolle des Doktors mit. 75 Fellinger/Huber/Ketterer (Hg.) 2009, 363f. 76 Ebd., 364. 77 Ebd., 471.
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„Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ hards charakteristisch war. Als Bernhard seinen Verleger nach der Uraufführung seines letzten Stücks Heldenplatz davon in Kenntnis setzt, dass er – nach vielen Verstimmungen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seiner fünf autobiographischen Bücher im Salzburger Residenz Verlag – auch für 1989 ein neues Buch in diesem Verlag herausbringen werde, zeigt Unseld per Telegramm eine überaus emotionale Reaktion: „fuer mich ist eine schmerzensgrenze nicht nur erreicht, sie ist ueberschritten. […] ich kann nicht mehr“. Bernhards letzter Brief an Unseld, die Antwort auf das zitierte Telegramm, schließt mit einer verblüffenden Formulierung, aus der sich ein weiteres Mal die Kompliziertheit dieser Künstlerpersönlichkeit erahnen lässt – auch wenn er an der Oberfläche das genaue Gegenteil behauptet: „Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben“.78
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Manfred Mittermayer Bd. 12: Erzählungen II [Ungenach; Watten; Gehen]. Hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2006. Bd. 13: Erzählungen III [Ja; Die Billigesser; Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft]. Hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008. Bödeker, Hans Erich 2003. „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: Ders. (Hg): Biographie schreiben. Göttingen (Wallstein), 9–63. Bourdieu, Pierre 1998. „Die biographische Illusion“. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 75–83. Brändle, Rudolf 1999. Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard. Salzburg/Wien (Residenz). Dittmar, Jens (Hg.) 1991. Sehr geschätzte Redaktion. Leserbriefe von und über Thomas Bernhard. Wien (Edition S). Dreissinger, Sepp (Hg.) 1992. Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra (Bibliothek der Provinz). Fellinger, Raimund (Hg.) 1993. Thomas Bernhard. Ein Lesebuch. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Fellinger, Raimund/Huber, Martin/Ketterer, Julia (Hg.) 2009. Thomas Bernhard – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Fetz, Bernhard (Hg.) 2009a. Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin/New York (de Gruyter). Fetz, Bernhard 2009b. „Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie“. In: Ders. (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin/New York (de Gruyter), 3–66. Fialik, Maria 1991. Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staats-Theater. Wien (Löcker). Fialik, Maria 1992. Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. Wien (Löcker). Fleischmann, Krista (Hg.) 1992. Thomas Bernhard. Eine Erinnerung. Interviews zur Person. Wien (Edition S). haj. 1989. „Heilsamer Unruhestifter“. In: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.1989. Hennetmair, Karl Ignaz 2000. Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. Salzburg/Wien (Residenz). Henrichs, Benjamin 1989. „Der Triumph des Untergehers. Thomas Bernhard ist tot – es lebe Thomas Bernhard“. In: Die Zeit, 24.2.1989. Hoell, Joachim 2000. Thomas Bernhard. München (Deutscher Taschenbuch Verlag).
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Kunst und Leben – Joseph Beuys BARBARA LANGE
Zu Zeiten der alten Bundesrepublik Deutschland publizierte die auflagenstarke Wochenzeitung „Die Zeit“ als Supplement das sogenannte „Zeitmagazin“: eine kleinformatige, farbige Illustrierte, die in den 1990er Jahren eingestellt und heutzutage in neuem Format und neuem Profil wieder erscheint. Das alte „Zeitmagazin“ enthielt nicht nur den berühmten Fragebogen für Prominente und wöchentliche Rezepte des Kultkochs Wolfram Siebeck, sondern auch die Rubrik „Tratschke fragt“. Hier sollte auf der Basis einer als kulturellem Allgemeingut zirkulierenden Erzählung der Name einer Persönlichkeit aus Vergangenheit oder Gegenwart erraten werden. Im August 1993 fragte „Tratschke“ unter der Überschrift „Ein Leben lang gestorben“ nach einer Person, die während des Zweiten Weltkriegs Sturzkampfflieger der Deutschen Wehrmacht gewesen, über der Krim abgeschossen und von Tataren gerettet worden war. Diese hatten den schwer verletzten Soldaten neben dem Flugzeugwrack gefunden und ihn, wie es bei ihnen Brauch gewesen sein soll, zum Überleben in Fett und Filz gewickelt. Diese Erfahrung – so die Kolumne weiter – prägte das künstlerische Schaffen des Mannes, der nach Kriegsende eine Ausbildung als Bildhauer machte, so nachhaltig, dass er für seine Werke vor allem die Materialien Fett, Filz und Honig wählte. Wie die Tataren ihn mit sanfter Energie gerettet hatten, so wollte auch der Künstler gewaltlos, aber energiereich den Impuls für die Formierung einer neuen, auf Kreativität basierenden Gesellschaft geben – ein, wie „Tratschke“ kommentierte, kräftezehrendes Vorhaben, das den frühen Tod mit nur 64 Jahren begünstigte. Seinem Wunsch gemäß wurde die Asche des Verstorbenen in drei Honiggefäßen auf dem Grund der Nordsee bestattet.1 Anfang der 1990er Jahre war dieses Personenrätsel nicht nur für diejenigen leicht zu lösen, die mit dem Kunstbetrieb vertraut waren: Joseph Beuys, nach dessen Namen hier gefragt wurde, war 1
Tratschke 1993.
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Kunst und Leben – Joseph Beuys als charismatischer Künstler eine öffentliche Figur. Mit seiner Vita – zumindest mit dem Flugzeugabsturz und der wundersamen Rettung – war man allgemein vertraut. Zwar ist das Bild von Beuys als dem eines Gesellschaftsreformers mit dem Ende der Nachkriegsordnung verblasst. Die Projektion vom Schamanen lebt jedoch fort: In der von Bernd Jünger und Willi Blöß publizierten Reihe „ComicBiographie“ etwa, die das popularisierte Leben prominenter Künstler vorstellt, ist Joseph Beuys der „lächelnde Schamane“.2 Und bis heute operiert der Kunstbetrieb scheinbar ungebrochen mit der Vorstellung, Beuys habe als Auserwählter übermenschliche Kräfte besessen. Besonders in den ersten zehn Jahren nach dem Tod des Künstlers wurde mit diesem Topos gearbeitet, der einen Höhepunkt mit der von Harald Szeemann und Tobia Bezzola 1993/94 organisierten Ausstellung im Kunsthaus Zürich hatte. Der großzügig bebilderte Katalog zu dieser Schau, der mit den Fotos von Ute Klophaus die Inszenierung der großen Beuys-Retrospektive von 1979 in New York aufgriff,3 transportiert auf visueller Ebene eine eigene mythische Qualität. Durch das später auch als eigenständige Publikation veröffentlichte „Beuysnobiscum“ wurde eine entsprechende Interpretation der Werke und Äußerungen des Künstlers gleich mitgeliefert.4 Auch aktuell hat dieses Beuys-Bild noch nicht an Attraktivität verloren. So zeigte die Kunsthalle Krems von September 2008 bis März 2009 die Ausstellung „Joseph Beuys. Schamane“, bei der publikumswirksam der Beuys-spezifische Künstlermythos eines Wunderheilers bespielt und durch ein esoterisch ausgerichtetes Begleitprogramm verbrämt wurde.5 Und auch die kunsthistorische Forschung tradiert weiterhin völlig ungebrochen das Bild des besonderen Menschen, der wie ein Schamane im Dialog mit der Natur gestanden und Strukturen erkannt haben soll, die normalen Sterblichen verschlossen bleiben.6 Der Lebensentwurf mit autobiographischen Zügen, den Joseph Beuys Anfang der 1960er Jahre im Kunstbetrieb etablierte,7 ist zu einer Realität geworden, an
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Jünger/Blöß 2004. Von der New Yorker Ausstellung wird weiter unten noch die Rede sein. Ausstellungskatalog Zürich, Kunsthaus 1993/94. Die Stichworte im „Beuysnobiscum“, hier 237–289. 1994 erschien diese Zusammenstellung als eigenständige Publikation, 1997 bereits in einer Neuauflage. Vgl. Szeemann (Hg.) 1997. Ausstellungskatalog Krems, Kunsthalle 2008. Siehe auch die Ausstellungsankündigung im Internet der Kunsthalle Krems: http://www.kunsthalle.at/ ausstellungen/08/joseph-beuys-heilkrafte-der-kunst. Vgl. etwa die 2007 in Köln abgeschlossene Dissertation von Fuhlbrügge 2008. Lange 1999, 163–166.
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Barbara Lange der sich auch die Kritiker reiben, die mit Referenz auf „die Wahrheit“ Indizien sammeln, um den Künstler als Schwindler, als Scharlatan, und mehr noch: als Parteigänger des Nationalsozialismus zu enttarnen.8 Die Konstruktionsmechanismen dieser Identität habe ich an anderer Stelle ausführlich untersucht.9 Demnach ist die Selbstdarstellung von Joseph Beuys als Gegenentwurf zu einer zunehmenden Marginalisierung des Künstlers in den Industriegesellschaften zu verstehen. Beuys nutzte hierzu Stereotypen des Künstlerbildes, die er in einer Verdichtung ihrer verschiedenen Traditionsstränge erfolgreich zu aktualisieren wusste. Dies erklärt jedoch nicht die Faszination, die er beim Publikum erreichen konnte. Weder resultiert sie allein aus dem antirationalistischen Aspekt seiner Modernekritik, die ihn in die Nähe zur Esoterik rückt, noch war er gar eine Art Rattenfänger, der sein Gegenüber zu manipulieren wusste. Vielmehr haben wir es selbstverständlich auch bei Beuys mit einem komplexen Dispositiv zu tun, bei dem sich Konstellationen und Dynamiken überlagern, ergänzen oder behindern. Die Inszenierung seiner Biographie spielt dabei eine zentrale Rolle: Aus ihr erklärte er die Material- und Themenwahl wie sein äußeres Erscheinungsbild und seine Handlungsmuster. Im Rahmen der künstlerbiographischen Entwürfe im 20. Jahrhundert stellt sie eine eigene, unverkennbare Variante dar, die nicht nur durch die bewusst enge Bindung an die deutsche Geschichte, sondern auch durch das ErLeben sowohl als Handlungsrahmen als auch als ästhetische Form ihre Konturierung erhalten hat.
Nachkriegsdeutschland Künstlerbilder sind kulturspezifische Identitätsentwürfe, die weniger Aussagen über die Person des Künstlers liefern, als über den Stellenwert von Kunst in einer Zeit. Nur dieses spezifische Wechselverhältnis von Gesellschaft und Person führte überhaupt in der italienischen Renaissance, der Wiege des Künstlers, zur Ausgliederung der Bilderproduzenten aus dem Handwerk und deren Überhöhung zu besonderen Menschen, die mit der Begründung ihrer Besonderheit so auch außerhalb der normalen Ordnung gestellt wurden.10 Diese Besonderheit muss, wenngleich keineswegs eindimensional in der Funktion, immer der Gesellschaft dienlich sein, sonst kann die
8 Etwa Gieseke/Markert 1996; Famulla 2009. 9 Lange 1999. 10 Vgl. Bredekamp 2006.
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Kunst und Leben – Joseph Beuys Rolle nicht überzeugen. Die Authentizität von Beuys gründet auf seinen Kriegsverletzungen, die er für die Rezeption seiner Werke funktional machen konnte. Peter Bürger hat mit Blick auf die Dokumentarfotografien von Ute Klophaus zur Aktion wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (Düsseldorf, 26.11.1965) ausgeführt, wie sich das Erscheinungsbild des Künstlers, dessen Kopf bei dieser Aktion mit Honig beschmiert und Goldblatt belegt war, mit den mentalen Bildern von Kriegsversehrten überlagerte und so neben dem Eindruck des Mystischen auch den der Verletzbarkeit des Menschen im Krieg transportierte.11 Joseph Beuys agierte demnach bei dieser Aktion, die er anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung „... irgend ein Strang“ in der Galerie Schmela in Düsseldorf aufführte,12 nicht allein wie ein Schamane, der liebevoll mit dem Tier – tatsächlich einem Kadaver – kommunizieren konnte.13 Beuys war durch die Verfremdung seines Kopfes, die ihn wie ein Brandopfer erscheinen ließ, sichtbar akzentuiert auch ein Kriegsopfer. Den Selbstdarstellungsstrategien sind also nicht allein Auseinandersetzungen mit einem möglichen Grenzgängertum des Künstlers, einem Schamanen vergleichbar, eingeschrieben. Die Selbstdarstellung von Beuys transportierte vielmehr auch spezifische Erzählungen der deutschen Nachkriegsgesellschaften, die aus politischen Gründen nicht offen oder nur schwer kommuniziert werden konnten: • In den Erzählungen über seine Zeit als Sturzkampfflieger stellte Beuys den Krieg als positives Erlebnis dar, wobei er sich zugleich von den Kriegszielen distanzierte. Er nutzte seine Rolle, um das öffentlich zu sagen, was sonst nur im privaten Rahmen kommuniziert wurde. • Joseph Beuys thematisierte durch sein Erscheinungsbild die Kriegsverletzung als Trauma auch für Wehrmachtsangehörige, die sich begeistert zum Dienst an der Waffe in diesem Eroberungs- und Vernichtungskrieg gemeldet hatten. • Er sprach damit an, dass ein Leiden trotz Schuld bzw. ein Leiden mit Schuld existierte. • Er plädierte dafür, dass eine Bewältigung dieser Traumata durch Integration dieser Schuld und die Entwicklung neuer, pazifistisch fundierter Gesellschaftsentwürfe möglich sei, ohne dabei die inneren Konflikte negieren zu müssen.
11 Bürger 1987, 206–208. 12 Die Angaben über die Dauer der Aufführung variieren zwischen einer und drei Stunden. Vgl. Schneede 1994, 103. 13 Zur Funktionalisierung des Schamanen, der mit Tieren kommuniziert, durch Joseph Beuys vgl. Lange 2005, 40–47.
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Barbara Lange Joseph Beuys thematisierte damit, was viele Deutsche öffentlich mehr oder weniger unausgesprochen mit sich herum trugen. In der symbolischen Verschlüsselung der Kunstwerke waren die Themen jedoch kommunikabel. In Kombination mit dem Künstlerbild der Moderne konnte die Figur Beuys das Versprechen suggerieren, als Auserwählter die Leiden der Gesellschaft kurieren zu können. Diese Annahme war nur auf der Basis eines gesellschaftlichen, unausgesprochenen Konsenses möglich, bei dem das im bürgerlichdemokratischen wie im sozialistischen Nachkriegsdeutschland historisch bedingte Misstrauen gegenüber Politkern als Leitfiguren die Aufwertung der politischen Kompetenzen von Künstlern befördert hatte. Vor diesem Hintergrund ist es logisch, dass sich mit den veränderten politischen Bedingungen nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 diese Konstellation und damit auch der Status von Beuys verändert haben. Konnte Beuys in der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung als ein deutsches Schicksal fungieren, so ist es heute eher ein Künstler wie Gerhard Richter, der in beiden deutschen Staaten künstlerisch erfolgreich war und so quasi in seinem Körper die so schwer fallende Vereinigung schon vollzogen hat. Beuys ist heute kein „Retter“ mehr, da es dieses „Retters“ nicht mehr bedarf. Das Bild des Schamanen, der mit der Tierwelt kommuniziert und der als Auserwählter über besondere Fähigkeiten verfügt, ist jedoch geblieben.
Der Auserwählte In Gesellschaften, in denen Bildwerke – und sei es nur tendenziell – einen apotropäischen Stellenwert einnehmen, haben die Produzenten dieser Bilder einen prekären Status: So erwünscht ihr Können ist, so problematisch und Angst machend ist es zugleich, charakterisiert es die Künstler doch als im Besitz besonderer Kräfte, die, in der Logik der Verzauberung, magische Qualitäten haben. Die Geschichte der Bildkünste ist grundlegend von dieser Attraktion wie Angst geprägt. Die Tatsache, dass diese erst verhältnismäßig spät in den Kanon der freien Künste aufgenommen wurden, beschreibt die Abwehrmechanismen gegenüber den kreativen Potenzen des Bildermachens. Sie begründet aber auch den Status des Besonderen, der seither Künstlern zuerkannt wird. Innerhalb der Künstlerbiographik hat sich dabei das Muster etabliert, Lebensverlauf und Werkform untrennbar miteinander zu verknüpfen, genauso, wie es auch Beuys in seiner Selbstdarstellung praktizierte. 1964 führte er statt einer gewöhnlichen Auflistung seiner Ausbildungs- und Ausstellungsdaten den sogenannten Lebenslauf/Werklauf ein, eher eine
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Kunst und Leben – Joseph Beuys Erzählung, denn eine Chronologie, die seither in kaum einem Katalog zu seinen Ausstellungen fehlt. Ausgewählte Stationen seines Lebens werden hier mit seinen Werken zusammengebracht, aus der Verzahnung entsteht die von ihm proklamierte und in der BeuysForschung übernommene sogenannte „Einheit des Werkes“. Sie suggeriert eine zielstrebige künstlerische Entwicklung ohne Widersprüche, die sich logisch aus den Lebensumständen zu ergeben scheint. Die Erzählung selbst erinnert in ihrer Struktur nicht nur, wie wir dies auch von anderen Künstlerbiographien kennen, an Heiligenlegenden, sondern auch an die Vita eines Schamanen, in der auf die Initiation in der Kindheit die Prüfung als junger Erwachsener folgt. Diese geht, so wie das Grenzerlebnis von Beuys nach dem Flugzeugabschuss, immer mit einem temporären Wechsel in eine andere Welt einher, führt aber letztlich zur Läuterung. Diese transgressive Erfahrung ermöglicht es dem nun Etablierten, immer wieder die Welten zu wechseln. Anders, als wir es von anderen Künstlerviten kennen, betont Beuys in seiner Selbstdarstellung jedoch nicht nur das Außergewöhnliche, sondern gerade auch das Gewöhnliche, das ihm als eine Art Hintergrundfolie diente und von dem er sich an entscheidenden Punkten absetzen konnte. So ist seine Herkunft, der er nach eigenen Angaben lebenslang verbunden bleibt, wenig spektakulär: Joseph Beuys, geboren 1921, stammt aus Kleve am Niederrhein, einer flachen, nur karg besiedelten Gegend an der holländischen Grenze, in der vorwiegend Milchwirtschaft betrieben wird. Er erlebt eine für die damalige Zeit und die Region typische Kinder- und Jugendzeit mit Aufenthalten in der Natur, langen Fahrwegen als Gymnasiast, die den Heranwachsenden die wechselnden Jahreszeiten intensiv erleben lassen, und der Aufnahme in die Hitlerjugend. Später wird er erzählen, dass für ihn das eindringlichste Erlebnis der 1930er Jahre die Bücherverbrennung von 1933 gewesen sei, bei der er einen Band über den Bildhauer Wilhelm Lehmbruck aus dem Feuer gezogen habe. Das müssen wir ihm nicht unbedingt glauben. Einmal abgesehen davon, dass 1933 das Konzept zur Aktion „‚Entartete‘ Kunst“ noch nicht formuliert und Lehmbruck zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu den verfemten Künstlern gehörte, passt die von Beuys genannte Wertschätzung eher in die 1950er Jahre, als Die Knieende (1911) von Wilhelm Lehmbruck durch die Ausstellungsinszenierung auf der ersten Documenta 1955 zum Prototyp des durch die Nationalsozialisten zerstörten Kunstwerks stilisiert wurde.14 Die frühe Lehmbruckverehrung des jungen Beuys, von der er später erzählt, ist charakteristisch für das Konzept, nach dem der Künstler seine Bio-
14 Kimpel 1997, 9.
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Barbara Lange graphie ausstattete: Er orientierte sich an Wertvorstellungen der Gegenwart, die er auf seine Vergangenheit projizierte und so den Eindruck aufkommen lassen konnte, er, Beuys, habe schon früh die Ziele verfolgt, die sich später erst durchsetzen konnten. Wie alle gesunden Männer wurde auch Joseph Beuys nach seinem Schulabschluss 1941 zum Kriegsdienst eingezogen. Er meldete sich zur Luftwaffe und erhielt eine Ausbildung als Bordfunker, d. h. als Bordschütze. In den mit zwei Personen besetzten Sturzkampfflugzeugen, für die er trainiert wurde, oblag diesem die Betätigung der Waffen, während die andere Person als Pilot das Flugzeug manövrierte, das bei Kriegshandlungen dazu eingesetzt wurde, die kämpfende Truppe durch Beschuss aus der Luft zu unterstützen. In der Wehrmacht waren die Paare auf den Sturzkampflugzeugen zu festen Teams eingeteilt, die dazu ausgebildet wurden, in Stresssituationen, d. h. in lebensbedrohlichen Kampfhandlungen – die sie fast immer hatten, weil sie in niedriger Höhe leicht abschießbar operierten – ohne Worte miteinander kooperieren zu können. Der feste Partner von Beuys stirbt bei dem Abschuss 1944 auf der Krim, während er selbst mit schweren Knochenbrüchen und Kopfverletzungen den Absturz überlebt. Am darauf folgenden Tag wird Beuys von einem Suchtrupp der Wehrmacht gefunden und in ein Lazarett transportiert. Beuys selbst führte, wie oben bereits erwähnt, Anfang der 1960er Jahre die Legende von den nomadisierenden Krimtataren ein, deren Rettungsaktion ihn in der Materialwahl motiviert haben soll. Diejenigen, die ihm diese Geschichte zum Vorwurf machen, übersehen, dass er sich damit in die Konvention eingliedert, die sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte: Statt über die traumatischen Ereignisse selbst zu sprechen, wurden Ersatzgeschichten etabliert. So machte auch Beuys nicht seinen verunglückten Kameraden und Freund zum Thema, sondern die angeblich wundersame Rettung. Diese Legende wurde seit Anfang der 1960er Jahre in hagiographischer Manier zunehmend ausgeschmückt – vom Künstler selbst wie von Theoretikern, die über dessen Werk reflektierten: So erläuterte Joseph Beuys etwa 1977 in einem Interview mit dem Periodicum „Kunstnachrichten“, wie die Tataren ihn gefunden haben sollen: [Ich weiß noch] dass sie mich gefunden haben und so um mich rum standen und dass ich dann gesagt habe: woda, also Wasser sollte man – und dann hat’s bei mir ausgesetzt. [...] Das Bewusstsein habe ich praktisch erst nach zwölf Tagen wiederbekommen, da lag ich schon in einem deutschen Lazarett. Aber da – da sind mir all die Bilder, sind mir ganz, also ... eingegangen ... Die Zelte, also die hatten Filzzelte, das ganze Gehabe von den Leuten, das mit dem Fett, das ist sowieso wie ... ein ganz allgemeiner Geruch in den Häusern ... – so wo die
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Kunst und Leben – Joseph Beuys mit hantieren. Das ist praktisch alles so in mich eingegangen; ich habe das wirklich erlebt.15
Unterschwellig habe er die Affinität zur fremden Kultur der Tataren gespürt, die ihn auch als einen der ihren erkannt hätten: „Du nix Nemetzki, du Tatar“16 sollen sie daher zu ihm gesagt und ihn zum Bleiben aufgefordert haben. Später, als archivarisch begründete Zweifel an der Geschichte von der wundersamen Rettung durch die Tataren aufkamen – der Kunsthistoriker Franz-Joseph Verspohl hatte für eine Untersuchung über Joseph Beuys das Deutsche Krankenbuchlager in Berlin kontaktiert und dort erfahren, dass Beuys seit dem Tag nach dem Abschuss im Wehrmachtlazarett behandelt worden war17 – distanzierte sich Beuys von der Detailgenauigkeit seiner nur eingebildeten Erfahrungen mit der Kultur der Tataren und konstatierte, man müsse diese eher metaphorisch verstehen. In der reich bebilderten und von der den Nachlass verwaltenden Familie autorisierten Beuys-Biographie von Götz Adriani, Karin Thomas und Winfried Konnertz, 1994 in einer aktualisierten Überarbeitung publiziert, wird dennoch konstatiert: Die Eindrücke, die Beuys während dieser Zeit in einer fremden Landschaft [auf der Krim, B. L.], mit deren Bewohnern und ihrer mongolisch-slawischen Mentalität sammelt, wirken nachhaltig. Schon während des Krieges haben sich die fremden Landschaften und Menschen in vielen Notizen niedergeschlagen. [...] Was Beuys besonders fasziniert, ist der nomadische Charakter der Landschaftsbewohner, die praktisch ständig zwischen den Fronten leben.
Und weiter zitieren die Autoren Beuys mit den Worten: Seit meiner Kindheit sind Naturbilder für mich ganz einfach mit dem Nomadischen zu charakterisieren, und alles, was sich da unterbringen lässt wie Dschingis Khan, Hirtenvorstellungen, Tierbilder usw. trägt diese Züge.18
Die Selbstdarstellung von Joseph Beuys als eines umherziehenden Nomaden, als Grenzgänger zwischen Welten, der sich selbst mit einem Haken schlagenden, jegliche Zäune überwindenden Hasen verglich, hat tatsächlich hier ihre Wurzeln – allerdings weniger in dem kriegsbedingten Aufenthalt auf der Krim, als in der in den Zwischenkriegs- und Kriegsjahren geförderten Faszination für die zentralasiatischen Kulturen, in denen vor allem Tibet, aber auch Länder
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Beuys im Gespräch mit Georg Jappe 1977, 75 und 76. Beuys im Gespräch mit Georg Jappe 1977, 74. Vgl. Gieseke/Markert 1996, 76–77. Adriani/Konnertz/Thomas 1994, 18.
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Barbara Lange wie Afghanistan oder Persien als konkrete politische Utopie stilisiert wurden. Das spirituelle Grenzgängertum von Beuys, seine Faszination für Dschingis Khan und den Schamanismus gliedern sich mentalitätsgeschichtlich in das diffuse Konzept von Eurasien ein, wie es in dieser Zeit von zivilisationskritischen bzw. -müden Europäern in zahlreichen Reiseberichten, Abenteuerromanen und Mischungen aus beiden, wie sie etwa die Texte von Sven Hedin vertreten, regelrecht verschlungen wurden. Einflussreicher als die Krimtataren dürfte für Beuys der Kontakt zu Heinz Sielmann gewesen sein, mit dem er sich während seiner Ausbildungszeit bei der Wehrmacht Anfang der 1940er Jahre angefreundet hatte: Sielmann, der sich später in der alten Bundesrepublik Deutschland als Tierfilmer einen Namen machte, hatte als Kameraassistent 1938/39 die SSExpedition Schäfer begleitet, eine Kampagne des SS-Ahnenerbes, die u. a. der Suche nach magisch-religiösen Ursprüngen einer arischen Urreligion diente und bei der der Propagandafilm „Geheimes Tibet“ (Uraufführung zur Einweihung des „Sven Hedin-Reichsinstituts für Innerasien und Expeditionen“ 1943 in München) gedreht worden war.19 Die ideologischen Implikationen, die mit den Projektionen zu den zentralasiatischen Kulturen verbunden sind, finden sich im Werk von Beuys mit den thematischen Bezügen auf Nomadismus, Skythen, Amazonen und allgemein zu Eurasien wieder. Und dies heißt konkret: ab den Zeichnungen der frühen 1950er Jahre, mit denen Joseph Beuys beginnt, sich ein eigenes Image zu erarbeiten, um sich von seinem Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie, Ewald Mataré, zu lösen. Allerdings ist es nicht so einfach, sich als nicht mehr ganz junger Künstler zu etablieren. Anders als der in der Abfolge seiner Stationen schlüssige Lebenslauf/Werklauf glauben lassen will, stellt sich Joseph Beuys in den 1950er Jahren mehr als ein Suchender dar, denn als jemand, der seinen Weg schon gefunden hat. Ab 1946 hatte er in der Bildhauerklasse von Ewald Mataré an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Mataré pflegte einen ausgesprochen paternalistischen Unterrichtsstil, der allerdings auch einschloss, dass er seine Studenten an größeren Aufträgen mitarbeiten ließ. So beteiligte er seinen Schüler Beuys an der renommierten Gestaltung 19 Die Rolle dieser Projektionen gilt es noch näher zu erforschen. Protagonisten wie Schäfer oder Hedin sind in ihrem politischen Profil, wenngleich Anhänger des Nationalsozialismus, widersprüchlich, weshalb sie auch für diejenigen, die keine NS-Parteigänger waren, anregend wirken konnten. Vgl. zu den hier erwähnten Zusammenhängen Kater 2006, 213–214. Ausschnitte aus dem Filmmaterial, das während der genannten Tibetexpedition gedreht wurde, findet sich in unterschiedlichen Zusammenhängen auf youtube (Stichwort: Tibetexpedition Ahnenerbe).
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Kunst und Leben – Joseph Beuys der neuen Bronzetüren am südlichen Querhauseingang des Kölner Doms Mitte der 1950er Jahre, so verschaffte er ihm den Auftrag für ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, das in Büderich am Niederrhein errichtet wurde – die erste große eigenständige Arbeit von Beuys. Es sind vor allem Aufträge im Bereich der Sakralkunst, mit denen Beuys in diesen Jahren seinen Lebensunterhalt finanziert. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre durchlebt er eine schwere Depression – Beuys ist hier ein typischer Kriegsteilnehmer – die er letztlich 1961 mit seiner Berufung auf die Professur für Monumentale Bildhauerei an der Kunstakademie in Düsseldorf, der Nachfolge Mataré, überwinden kann. Er gehört zu diesem Zeitpunkt zwar nicht, noch nicht, zu den Künstlern, die wie seine Kollegen Norbert Kricke oder Karl Otto Goetz im internationalen Kunstbetrieb reüssieren. Durch die Arbeit als Hochschullehrer erhält er nun jedoch einen Handlungsrahmen, in dem er seine Vorstellungen von einer befriedeten Gesellschaft propagieren kann. Anfang der 1960er hat sich Beuys auf den Weg begeben, Politiker zu werden, und zwar ein Politiker, der der parlamentarischen Demokratie in der alten Bundesrepublik Deutschland die Gestaltung der Gesellschaft durch Kreativität entgegensetzt. Sein Forum ist nicht das Parlament, seine Foren sind die Kunstakademie und der Ausstellungsbetrieb, in denen er sich berufen fühlt, seine Mission durchzuführen: Ich bin ein Sender, ich strahle aus ist eine Zeichnung aus diesen Jahren betitelt. In diesem Kontext der 1960er Jahre entsteht die Künstlerfigur Beuys, wie wir sie kennen und wie sie im „Zeitmagazin“ oder in der Comic-Biographie dargestellt wird: Beuys ändert seinen Habitus hin zum unverkennbaren Outfit mit Hut, Anglerweste, Jeans und schwerem Schuhwerk; später ergänzt durch Luchsfellmantel und Spazierstock. Er führt den Lebenslauf/Werklauf ein und etabliert die Erzählung von der wundersamen Rettung durch die Tataren. Er beginnt damit, sein Werk und seine Handlungen genauer aufeinander abzustimmen, so, als ob alles dem „großen Plan“ zu entsprechen scheint, den er gegenüber einem seiner ersten Sammler, Karl Ströher in Darmstadt, immer wieder erwähnt und für den er Geld benötigt. Tatsächlich geschieht vieles, wie immer im Leben, durch Zufälligkeiten, die Beuys allerdings zu nutzen weiß: etwa, dass der in New York lebende FLUXUS-Künstler George Maciunas dringend Geld braucht, sich deshalb bei der US-Armee verpflichtet, in Wiesbaden stationiert wird, die FLUXUS-Gemeinde so nach Westdeutschland zieht und Beuys mit ihnen, die auf der Suche nach Aufführungsräumen sind, in Kontakt kommt. So beginnt er, performativ zu arbeiten und die Rolle des Schamanen für sich zu entwerfen; die Geschichte von den Tataren ist dafür funktional. In die-
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Barbara Lange ser Rolle des für andere unverständlichen Grenzgängers sah man ihn etwa in der Aktion DER CHEF THE CHIEF Fluxus-Gesang (Kopenhagen, 30.8.1964 und Berlin, 1.12.1964, Berlin), als er in einer Filzdecke eingehüllt auf dem Boden liegend über Stunden die Laute eines brünstigen Hirsches imitierte. Ein Chef, ein Häuptling, wird er im Grunde gleichfalls zufällig. Als 1967 bei einem Protest gegen den Schahbesuch in Berlin ein Demonstrationsteilnehmer erschossen wird, benennt Joseph Beuys spontan die sogenannte FLUXUS-Zone-West, an sich eine lose verbundene Künstlergruppe im Rheinland, in Deutsche Studentenpartei um, erklärt sich zum Sprecher dieser neuen Partei und agiert nun als solcher vor Kollegen an der Akademie und den Studierenden. Das vage politische Konzept dieser kurzlebigen Vereinigung geht später in den Protest um fehlende Studienplätze und die Reform der Akademieausbildung auf, an dem Beuys seine Vorstellung von Kreativität schärfen wird. Sein Auftritt 1972 auf der Documenta 5 in Kassel, bei dem er immer wieder den damaligen Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, verbal herausforderte und der letztlich die Vorstufe zur Entlassung des Künstlers von der Akademie bildete, entwickelten sich aus dieser Konstellation.
Korrekturen und Überarbeitungen Die fristlose Entlassung im Herbst 1972 aus seiner Anstellung als Professor und damit der Verlust eines regelmäßigen und gesicherten Einkommens machte auch aus wirtschaftlichen Gründen eine Internationalisierung notwendig, die allerdings nur bedingt glückte. Selbst ein Konzept wie die FIU – die Free International University – mit dem Beuys 1977 auf der Documenta 6 u. a. mit der Honigpumpe (1977) vertreten war, war auf ein Konzept von Bildung zugeschnitten, wie es in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war. „Kunst = Kapital“ – so einer der Beuys’schen Leitsätze aus den 1970er Jahren – bedeutete im Grunde nichts anderes als die Idee, dass der Reichtum einer Gesellschaft in ihrem Bildungsgrad begründet ist. Und auch 7000 Eichen (1982– 1987), sein großes Projekt, das auf der Documenta 7 1982 begann und das er bis an sein Lebensende 1986 weiter verfolgte, knüpfte an die Kultur der Vereine an, wie sie sich im 19. Jahrhundert in Deutschland als eine alternative Ebene zur großen Politik herausgebildet hatten. Die Entlassung als Professor bewirkte, dass Joseph Beuys nun – überspitzt gesagt – als Lehrer für die gesamte Menschheit auftreten musste – redend, diskutierend, überzeugend – und mit der Internationalisierung zunehmend auch das Image des
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Kunst und Leben – Joseph Beuys Kriegsversehrten zugunsten eines des Sehers aufgab. Bei allem inszenierte sich Joseph Beuys als ein Impulsgeber, ausgestattet mit übernatürlichen Kräften, der nimmermüde seinen „Plan“ realisierte. Bezeichnend ist es daher auch, dass in Berichten über seine Auftritte immer deren unendliche Dauer erwähnt wird, Zeichen einer besonderen Energie. Beuys war kein eloquenter Theoretiker, was die oben zitierte Passage aus den „Kunstnachrichten“ dokumentiert. Die programmatischen Texte, die unter seinem Namen erschienen, wurden von anderen Personen verfasst; auch seine Selbstdarstellung erfuhr durch Hilfe anderer ihre endgültige Form. Als kongenial für die Konturierung der persona Beuys erwies sich der Kontakt mit der englischen Journalistin und Kunsthistorikerin Caroline Tisdall, die Beuys um 1970 kennenlernte und die sein bis dahin noch brüchiges Profil zu einer geschlossenen Erzählung formte. Das „Meisterstück“ dieser Arbeit war die Einrichtung der großen Beuys-Retrospektive 1979/80 im Solomon R. Guggenheim-Museum in New York mit dem dazugehörigen aufwändig illustrierten – und schnell vergriffenen – Katalog, mit denen Tisdall das Beuys-Bild endgültig universalisierte.20 Auch wenn sich Beuys mit seinen Bezügen auf Theoreme der Romantik oder des Expressionismus im internationalen Kunstbetrieb in eine Tradition deutscher Befindlichkeitsreflexionen eingegliederte, übersetzte Tisdall diese kulturelle Bindung in eine generalisierende Auffassung vom Künstler, deren Beuys-spezifische Besonderheiten sie nicht historisch, sondern personenbedingt interpretierte. Auch wenn das Katalogbuch in seinen Texten ausführlich auf die kunsthistorischen Kontexte eingeht, wenn Referenzen und Kooperationen genannt werden, ist die Argumentation so konzipiert, dass alles in der Person Beuys und deren Lebensweg zusammenläuft. Caroline Tisdall hatte für die Ausstellung das Werk des Künstlers zu 24 Lebensstationen, „stations on a journey“,21 zusammengefasst, die in der Spindel des Museumgebäudes als eine Abfolge installiert worden waren. „Das hier ist bloß meine Vergangenheit, meine Biographie“,22 kommentierte Beuys die Ausstellung bei der Pressekonferenz. Wie sehr dabei die Erzählung den Menschen dominierte, machte die Ausstellungschoreographie deutlich: So, wie die Geschichte vom erwählten Joseph Beuys die Rezeption seiner 20 Ausstellungskatalog New York, Solomon R. Guggenheim Museum 1979/80. Die zahlreichen Fotografien, die im Katalogbuch eine eigene bildliche Narration aufbauen, stammen, wie bereits oben erwähnt, von Ute Klophaus. 21 Ausstellungskatalog New York, Solomon R. Guggenheim Museum 1979/80, 7. 22 Zitiert nach Adriani/Konnertz/Thomas 1994, 169.
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Barbara Lange Werke dominierte, so bestimmte das Ausstellungsgebäude mit der Kurvatur der Rampe die Struktur der Schau. Tisdall interpretierte dies als die lebensgestaltende Wirkungsmacht des Materials. Das Gegebene, Vorhandene bestimme die Ausrichtung des Lebens und setze Bedeutungen. Es obliege dem Künstler, diese Bedeutungen zu erkennen und zu transzendieren. Wie sie schreibt: These energies are not always visible, tangible, or accessible to analysis. Perception and embodiment of them has tradionally been left to the arts, while the rest of the world discovers them by default, in the terrible sense of something lacking in a world of crass materialist consumerism and greed.23
In Analysen zum Werk von Beuys wird dieses Konzept genauso auf eine Federzeichnung, bei der der Künstler Striche gestaltend auf das Papier setzt, bezogen, wie auf ein Aquarell, bei dem die Farbpigmente sich im Wasser und der feuchten Struktur des Papiers ausdehnen. Es gilt für objekthafte Installationen mit Elementen aus der Lebenswelt wie für Installationen mit Materialien aus der Natur. Es ist die Grundlage für die performativen Arbeiten. Das Konzept der Dominanz von Materie ist umfassend. Die New Yorker Ausstellung war selbst ein Kunstwerk, das dieser Vorstellung folgte und in dem das Leben von Beuys aufging. Der Mensch dient hier als das Material für eine höchst kunstfertige Erzählung.
Kunstwerk als Leben Dieses Aufgehen der Person in einer künstlerischen, manchmal auch künstlichen Existenz ist ein verbreitetes Phänomen im Kunstbetrieb spätestens seit den 1970er Jahren. Künstlerinnen und Künstler plaudern nicht nur in Interviews und Talkshows bereitwillig über die intimsten Dinge in ihrem Leben, sie machen dieses Leben auch zum Thema ihrer Kunstwerke. Dabei steht das offen zur Schau gestellte Spiel mit der (scheinbaren) Existenz, wie bei Jean Le Gac24 oder Sophie Calle25, neben dem scheinbar authentischen, mit Zeichnungen ausgestatteten und auf Ausstellungen präsentierten Tagebuch eines Jürgen Klauke26 oder den offenherzigen Berichten einer Tracey Emin, bei denen Alltag und Œuvre zusammen fallen.27 23 Ausstellungskatalog New York, Solomon R. Guggenheim Museum 1979/80, 7. 24 Vgl. Le Gac 1977. 25 Vgl. Calle 2004. 26 Vgl. Klauke 1978 27 Vgl. zu Emin Krause-Wahl 2006.
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Kunst und Leben – Joseph Beuys Unsere Zeugenschaft wird vielleicht genutzt, um Reflexionen über das Ich und seine Konstruktionen auszulösen, vielleicht aber auch, um mit der Selbstdarstellung von sogenannten Celebrities in einer massenkulturell organisierten Kommunikation gleichzuziehen. Dies alles jedoch unter dem Begriff einer „autorschaftsreflexiven Kunst“ abzulegen, die damit auf die Künstlerbiographik der Wissenschaftspraxis reagiert, beschreibt allenfalls eine Facette.28 Die Verquickung von Werk und Leben bei Joseph Beuys gehört in eine andere Kategorie. Zwar kritisiert auch Beuys den Kunstbetrieb, schlüpft auch er in Rollen, wenn er wie bei Titus/Iphigenie (Frankfurt am Main, 29.5.1969) auf der Bühne wie eine Schamane agiert oder wenn er im Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung, einem parlamentarischen Abgeordneten in seinem Wahlkreisbüro vergleichbar, mit dem Publikum diskutiert. Bei Beuys gibt es jedoch weder eine Distanz zwischen der Rolle und dem Selbst, die man bei Le Gac, Klauke und eventuell Calle ausmachen kann,29 noch ergibt sich das Selbst – sofern dieser Begriff hier noch angemessen ist – wie bei Emin aus den Diskursivierungen der Rolle. Auch werden Beuys und „Beuys“ – d. h. der private und der öffentliche Beuys – nie wie bei James Lee Byars identisch, auch wenn Beuys viel von seiner Privatheit Preis gab.30 Beuys leitet seine Autorität von „Beuys“ ab, dem sowohl der symbolische Status des Künstlers in der Moderne eingeschrieben ist, wie auch die Traditionen eines antirationalistischen politischen Engagements von Künstlern, die er von DADA und dem Surrealismus übernimmt. Insofern ist auch sein autoritäres Auftreten konsequent,31 ist in diesem Modell doch Beuys qua auserwählter Position die Autorität.32 Folgerichtig ist es daher auch, dass mit dem „Erweiterten Kunstbegriff“ im Werk von Beuys eine Verschiebung hin zu den prozessual angelegten, performativen Darstellungsformen der „Sozialen Plastik“ stattfindet, die ab der Mitte der 1960er Jahre den Kern seines Schaffens ausmachen. Mit dem Begriff der „Sozialen Plastik“ umfasste Beuys dabei jegliche seiner Äußerungen, nicht allein ein
28 Daher stellt Kampmann 2006 zwar interessante Fallstudien vor, anders als es der Anspruch der Autorin ist, sind diese jedoch keineswegs als umfassende Grundlage für eine Systematisierung von Autorschaft geeignet. Das System, in dem Beuys agiert, wird, obwohl Kampmann ihn wiederholt anführt, z. B. nicht erfasst. Zur „autorschaftsreflexiven Kunst“ vgl. Kampmann 2006, 132–139. 29 Vgl. Loh 2004, die Calle und Emin miteinander vergleicht. 30 Vgl. Ausstellungskatalog Bedburg-Hau, Museum Schloss Moyland u. a. 2000. 31 Vgl. Lange 1996. Vgl. hierzu auch Quermann 2006. 32 Vgl. Lange 1999.
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Barbara Lange Kunstobjekt im etablierten Sinne, sondern auch seine Auftritte, Reden, Klassenstunden etc., die für ihn gestalterische und damit auch kreative Prozesse waren. Diese Erweiterung ist tatsächlich, wie Dieter Mersch plausibel macht, keine Ergänzung des schon Vorhandenen, sondern „[...] die Um-Schreibung des Ästhetischen von der techne und poiesis, die sich der Stoffe bedient, zum Tätigsein, der Bildung im Umgang mit Anderem als einem Gegenüber.“33 Es ist der Prozess selbst, der Mensch als prinzipiell schöpferisches Wesen, der nun im Zentrum steht. Die objekthaften Werke können daher nur noch Krustationen des Prozessualen sein.34 Das eigentliche Kunstwerk in diesem Konzept ist das Leben. Die sensible Erfassung der Materialien, die symbolhafte Verbildlichung von Strömen und Bewegungen zu allen Formen des Seins mit der Perspektive auf eine Veränderung der politischen Verfasstheit der Gesellschaft haben ihre Legitimation in der Rolle des Auserwählten. Diese ist exklusiv, aber auch zugleich einsam – und zwar von einer Einsamkeit und Exklusivität, die Beuys auch von Anderen, sogar von anderen Künstlerkollegen isoliert. Mersch charakterisiert dies als zwangsläufige Tragik, die unausweichlich in dieser Art der Selbststilisierung angelegt ist: Das Konzept des selbstidentischen, impulsgebenden Künstlers setzt nicht nur dessen Isolierung, sondern auch die Unumkehrbarkeit der Isolation voraus. Die Absonderung des Künstlers von der Allgemeinheit, seine Kennzeichnung als quasi die eines Sehers, eines Schamanen, wird so zu einem gewaltsamen Vorgang, den der Künstler erleidet, aber auch verschuldet.35 Mit der Fundierung seines Werkes im spezifischen Kriegserleben eines verführten, verwundeten und geretteten Wehrmachtsoldaten paraphrasierte Joseph Beuys nicht ohne gesellschaftliche Brisanz damit nicht nur genau die Existenz, die die unausweichliche Schuld und das unausweichliche Leid der deutschen Kriegsteilnehmer ausmachte, er verkörperte sie auch. Künstlerischer Selbstentwurf und historisch spezifische Erfahrungen überlagern sich und definieren dabei ein Profil, das männlich und zeitgebunden ist. Das im religiösen Denken fundierte Phantasma, einen Erlöser gefunden zu haben, der durch sein eigenes Erleben zudem die (Er)lösung kennt, begründete den Erfolg wie die ausnehmende Skepsis gegenüber diesem Künstler. Ausstellungen, die heutzutage dieses Beuys-Bild bespielen, gleiten zwangsläufig in die Nähe zu ei-
33 Mersch 2002, 268. Hervorhebung im Original. 34 Insofern greift Schneede 1994 mit seinem Werkverzeichnis der Aktionen zu kurz, indem er nur solche Werke aufnahm, die in das Raster eines konventionellen Kunstverständnisses passen konnten. 35 Mersch 2002, 276.
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Kunst und Leben – Joseph Beuys ner populistischen Esoterik ab, da ihnen der historische Bezug fehlt. Indem das Leben selbst die Künstleridentität bestimmt, ist sie nicht wiederholbar. Damit scheitert aber auch jede Form der Repräsentation. Als 1989 anlässlich des 20. Jahrestages eines FLUXUSFestivals in Köln die FLUXUS-Stücke und -Aktionen u. a. von Joseph Beuys wieder aufgeführt wurden, brach das Publikum in schallendes Gelächter aus.36 Hier wurden keine Grenzen mehr vorgeführt und es kam keine Magie oder Spiritualität auf. Die Exklusivität der Rolle von Beuys wurde eklatant deutlich, die dessen sogenannte individuelle Ikonographie tatsächlich als an die leibliche Existenz des Künstlers gebunden zeigte. Stand Beuys für die unumstößliche Individualität ein, so wirken bildhafte Kopien, die ihn repräsentieren, lächerlich. Ihnen fehlt die Aura, die von Beuys ausgehen konnte. Nun ist „Aura“ zweifelsohne ein komplizierter und problematischer Begriff. Walter Benjamin verwendet ihn, um in den 1930er Jahren die Medienspezifik des reproduzierten Bildes, das die Aura des Kunstwerkes nicht besitzt, zu beschreiben und führt so den zuvor eher vage verwendeten Terminus in die Kunsttheorie ein.37 Das Numinose, das er damit zu benennen versucht, bleibt seinem Charakter gemäß dabei letztlich ungeklärt. Mit Blick auf das neuzeitliche Bild konkretisiert Dieter Mersch, dass die Aura eines Werkes durch dessen symbolische Struktur hindurch scheine. „Darum kommt die Aura nicht zusätzlich zum Symbolischen hinzu, sondern entspringt seiner Mitte als charakteristische Unerfülltheit.“38 Mit Bezug auf Heidegger erklärt er diese Unerfülltheit als eine Spannung, die zwischen dem Symbolischen und dem Auratischen bestehe und das Wesen eines Kunstwerkes ausmache. Während das Symbolsystem interpretierbar ist, entzieht sich die Aura einer eindeutigen Definition. Sie charakterisiert gewissermaßen ein Widerlager, das kein Bild abzugeben vermag. Die Spannung, die eine Aura zu begründen vermag, ist bei Beuys unmittelbar an die handelnde Person, an ihn selbst, an seine Biographie und seine persönliche Gegenwart gebunden. Von seiner Präsenz losgelöst, wird sie als Symbollektüre zur Heldenverehrung, die ihre Formen in einem „Beuysnobiscum“ oder ähnlichem finden. Der politische Gehalt hingegen, der in der Vermittlung durch das Leben liegt und der ein Grundzug der künstlerischen Existenz von Joseph Beuys war, geht so jedoch verloren. Biographie ist bei Beuys ein Gegenwartskonzept. 36 Vgl. Mersch 2002, 241. 37 Benjamin 1974. 38 Mersch 2002, 186.
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Barbara Lange
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? CLAUDIA JESCHKE
Als Tänzer wurde Wazlaw Nijinsky (er lebte von 1889 bis 1950) zur Legende. Nicht zuletzt ist es seinem Ruhm und seiner Popularität zu verdanken, dass sich die Position des männlichen Tänzers auf der Bühne nach Jahren der künstlerischen Missachtung wieder verbesserte. Nijinsky war zudem als innovativer Choreograph anerkannt, der im Verlauf nur weniger Jahre das Konzept des klassischen Tanzes revidierte und neue Möglichkeiten aufzeigte, die heute als konzeptionelle und stilistische Basis der Tanzmoderne gelten. Nijinsky hat nur vier Ballette kreiert: L’Après-midi d’un Faune (1912), Jeux und Sacre du Printemps (1913), Till Eulenspiegel (1916); aber jedes einzelne dieser Werke prägte die Tanzwelt nachhaltig. Er hat eine Tanzschrift erfunden, mit deren Hilfe er 1915 L’Après-midi d’un Faune bis ins letzte choreographische und tänzerische Detail notierte. Er konzipierte einige weitere Ballette im Kopf und auf Papier; die meisten schriftlichen Notizen (zu Musikauswahl, Bühnenbild, Bewegungsaufstellung) existieren zum sogennanten BachBallett,1 das 1913 auf der Schiffsreise nach Südamerika geplant wurde; es lässt sich mit einiger Sicherheit annehmen, dass der Beginn einer tanzschriftlichen Partitur mit dem Titel ‚Sarabande‘ dem Bach-Ballett zuzuordnen ist – es dürfte, wie die Faune-Partitur, 1915 während der kriegsbedingten Internierung in Budapest niedergeschrieben worden sein. An der Weiterentwicklung der Tanzschrift arbeitete Nijinsky während des Aufenthalts mit der Familie in St. Moritz seit Ende 1917 und fixierte die Ergebnisse in vier noch unveröffentlichten Schulheften.2 Seine Tagebücher, die auch 15 Seiten Tanzschrift enthielten, verfasste er zu Beginn des Jahres 1919, nach seinem verstörenden finalen Auftritt im Hotel Suvretta Haus. Die Verschriftungen seiner professionellen und privaten Überlegungen verschränken sich auf eigenartige Weise. Spätestens seit der 1 2
Vgl. Buckle 1971, 371f. und Nijinsky 1974, 211f. Vgl. hierzu auch Acocella (Hg.) 2006, 304.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? Veröffentlichung der vollständigen Textteile des Tagebuchs in den 1990er Jahren (es hatte zuvor die Publikation einer so genannten ‚gereinigten‘ Fassung gegeben) ist klar, dass sich Nijinskys Œuvre nicht auf seine tänzerische und choreographische Karriere eingrenzen lässt. Michel Foucault hat herausgearbeitet, wie schwierig es generell ist, das Gesamtwerk eines Autors, Künstlers abzugrenzen; er schreibt: Die Konstitution eines Gesamtwerks oder Opus setzt eine bestimmte Anzahl von Wahlmöglichkeiten voraus, die nicht einfach zu rechtfertigen, ja nicht einmal einfach zu formulieren ist: genügt es, den vom Autor veröffentlichten Texten diejenigen hinzuzufügen, die er in Druck zu geben vorhatte und die nur unvollendet geblieben sind, weil er gestorben ist? [...] Muß man die verworfenen Skizzen hinzufügen?3
Und Foucault resümiert, dass „das Werk [...] weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden [kann]“.4 Die Identifizierung des Werkes ist ebenso problematisch wie die Profilierung einer Lebensbeschreibung. Erzählte und gelebte Identität sind, wie Pierre Bourdieu in seinem Aufsatz Die biographische Illusion feststellt, zweierlei. Denn die Situation des Erzählens werde beim Erzählen kaum je berücksichtigt; Bourdieu verweist hingegen auf die ‚natürliche Komplizenschaft des Biographen‘.5 So auch im Falle der vielen Lebensbeschreibungen von Wazlaw Nijinsky. Und auch ich werde mich – nicht natürlich, sondern bewusst – zur Komplizin Nijinskys, wenn auch nur bedingt seiner Biographen, machen, wenn ich im Folgenden einige exemplarische Konstruktionen seiner Identität aus einem bestimmten Blickwinkel beleuchte – aus dem Blickwinkel seines Werkes, dessen Heterogenität, UnEinheitlichkeit, erst in den letzten Dekaden, nach dem Tod von Nijinskys Witwe Romola Ende der 1970er Jahre, in den Blick rücken konnte; Romola hatte die Mystifizierung des Künstlers als Genie betrieben und andere Perspektiven auf Person und Schaffen verunmöglicht. Der problematische Sachverhalt der nicht immer bewusst gemachten Wahlmöglichkeiten gilt in besonderem Maße für Nijinsky, der ein für einen darstellenden Künstler, einen Tänzer, höchst unorthodoxes ‚Opus‘ hinterlassen hat: Neben den ephemeren tänzerischen Auftritten und den bereits erwähnten choreographischen, 3 4 5
Foucault 1991, 37. Foucault 1991, 38. Vgl. Bourdieu 1990, passim.
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Claudia Jeschke d. h. also primär visuell-kinetischen Werken sind es ebenso optisch wirksame Gemälde und Zeichnungen,6 und es sind in besonderem Maße die Verschriftungen von Gedanken und – Bewegungen. Während er als „Gott des Tanzes“, so der suggestive Titel der ersten Biographie, geschrieben von seiner Frau Romola Nijinsky und dem Ghostwriter Lincoln Kirstein in den 1930er Jahren, auch in späteren Biographien weiterlebt, bildet der theoretische Grenzbereich des Œuvres Kontrast und Ergänzung zu den stetigen Re-Lektüren, die das Thema Nijinsky durch Biographen, Künstler und Wissenschaftler erfährt. Er bedeutet eine Art ‚verborgenes Wissen‘ über Nijinsky – ein Wissen, das sich deshalb nur schwer in die üblichen Formate der bislang vor allem anekdotischen Lebensbeschreibungen einreihen lässt, weil Nijinsky sich selbst in Verschriftungen äußert, die weder Fakten sind noch Erzählungen – seine Verschriftungen erscheinen kryptisch und – sie waren lange Jahre nicht zugänglich. Nijinsky sprengt mit diesen Äußerungen den Rahmen seiner eigentlichen Profession und bewegt sich damit außerhalb des Interesses seiner Biographen. Auf diesen Aspekt werde ich besonders im Mittelteil des Textes eingehen, wenn ich Nijinsky als Choreographen beschreibe. Im ersten Teil ‚Mythos Nijinsky – zur Biographik des Tänzers’ extrahiere ich kommentarlos Fakten-gestützte Anekdoten aus seinem Leben als ausführender Künstler. (Dieses aktive Leben endete bereits 1919, Nijinsky starb jedoch erst 1950, nach mehr als 30 Jahren seiner einer psychischen Krankheit geschuldeten Sprachlosigkeit.) Und im letzten Teil finden sich kritische Re-Lektüren seiner Aktivitäten als Theoretiker, die die Nijinsky-Biographik um eine weitere, andere Biographie ergänzen.
Mythos Nijinsky – zur Biographik des Tänzers 1898, im Alter von acht Jahren, tritt Wazlaw Nijinsky in die Ballettschule des Kaiserlichen Theaters in St. Petersburg ein. Das Curriculum spiegelt die Traditionen des klassisch-akademischen Tanzes; Tänzer und Choreographen aus Italien, Frankreich und Dänemark importierten ihr Wissen über Technik und Stil des Balletts nach Russland, schufen neue Choreographien, stellten jedoch vor allem die wesentlichen Werke des Repertoires auf die Bühne des Mariinsky. Während die Theatergattung Ballett um die Jahrhundert6
Vgl. die von Mai bis August 2009 in Hamburg gezeigte Ausstellung des bildkünstlerischen Werks Nijinskys: Tanz der Farben. Nijinskys Auge und die Abstraktion, vgl. vor allem aber auch den von Gaßner und Koep herausgegebenen Katalog, dessen Artikel kritisch mit der traditionellen Geschichtsschreibung zu Nijinskys Opus und Biographie umgehen (2009).
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? wende in Westeuropa nicht mehr hoch angesehen war, stand sie in Russland durch die großzügige finanzielle und ‚moralische‘ Unterstützung des Zaren in vorher nie da gewesener Blüte. Als Nijinsky mit seiner Ausbildung begann, war er als Tänzer nicht ganz unerfahren. Im Alter von vier Jahren hatte der Vater, der Tänzer Thomas Nijinsky, begonnen, ihm und dem vier Jahre älteren Bruder Stanislaw Ballett-Unterricht zu erteilen; sie standen bald in kurzen Tanznummern auf der Bühne. Ihre Mutter, Eleonora Bereda, war ebenfalls Tänzerin, und die jüngere Schwester Bronislawa begann ihre Ausbildung 1900, zwei Jahre nach ihrem Bruder, wie dieser in der Mariinsky Ballettschule. Nijinsky nahm an Schulaufführungen teil und war gelegentlich in Bühnenauftritte in Produktionen des Mariinsky Theaters eingebunden. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung bot man ihm noch als Schüler die Aufnahme in die Kompanie an; seine Mutter widersetzte sich jedoch diesem Vorschlag. Erst nach seinem Examen am 20. Mai 1907 wurde Nijinsky reguläres Mitglied des Balletts. Der Choreograph Michel Fokine war sofort von dem jungen Tänzer beeindruckt. Bereits während des ersten Jahres von Nijinskys Engagement choreographierte er für ihn die Rolle des Sklaven in Le Pavillon d’Armide. Als der Impresario Sergej Diaghilev 1908 Proben des Balletts besuchte, faszinierten ihn Tanzkunst und Person Nijinskys derart, dass er ihn zu seinem Protegé machte und ein Jahr später zum Star der eben gegründeten Ballets Russes, einer Kompanie, die bis zum Tod Diaghilews 1929 Europa und die beiden Amerikas bereisen sollte. In den Berichten über den Tänzer wiederholten sich die Verweise auf seine immense Sprungkraft und sein ungewöhnliches mimetisches Vermögen. Während der ersten Saison der Ballets Russes de Serge de Diaghilev am Théâtre du Châtelet in Paris 1909 trat Nijinsky in vier erfolgreichen Fokine-Balletten auf: Le Pavillon d’Armide und Le Festin hatten am 19. Mai Premiere, und Les Sylphides (vormals Chopiniana) und Cleopâtre standen zum ersten Mal am 4. Juni auf dem Spielplan. Die Kompanie wurde enthusiastisch gefeiert. Nijinsky etablierte seinen Status als Sensation und Star während der nächsten zwei Saisons in weiteren Fokine-Rollen: als Goldener Sklave in Schéhérazade, Premiere am 4. Juni 1910, in Spectre de la Rose, uraufgeführt am 19. April 1911, und in Petrouchka, das zum ersten Mal am 13. Juni 1911 gezeigt wurde. Die romantische Idee, dass künstlerisches Genie und Wahnsinn zusammenhängen (können), führte lange Zeit zu einer schwärmerisch idealisierenden, mystifizierenden Sicht auf Leben, Werk und
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Claudia Jeschke Wirkung von Nijinsky.7 Sie baute vor allem auf seinen Erfolgen als Tänzer auf, auf seiner Fähigkeit, androgyne, ephemere Rollen, weiblich konnotierte Qualitäten, mit außergewöhnlicher, männlich konnotierter Virtuosität zu gestalten – eine im damaligen Verständnis geniale, ‚göttliche‘ Eigenschaft, die durch ihre (vermeintliche) Nähe zum Wahnsinn an Spektakularität gewann. Dass Nijinsky später wirklich psychisch krank wurde, unterstützte die Genie-WahnsinnDebatte. Romola Nijinsky, seine erste Biographin, hat diesen identifikatorischen, vielleicht auch kannibalistischen Trend gesetzt: Sie sah Wazlaw tanzen und wollte ihn heiraten, vereinnahmen, was ihr auch gelang: So lange sie lebte, bis 1978, ging sie konsequent gegen mögliche ‚Beschädigungen‘ des Bildes vom wahnsinnigen Genie vor. Die Biographik änderte sich in den 1970er Jahren mit Richard Buckles Nijinsky und Lincoln Kirsteins Nijinsky Dancing. Beide beschrieben Nijinsky nicht nur als Tänzer, sondern a u c h als Choreographen. Zwar zogen auch sie Verbindungen zwischen dem experimentellen Wagemut seiner Ballette und der späteren Krankheit, sie malten das Bild jedoch in einer anderen Farbe, wenn sie feststellten, dass die ‚Werke‘ auch die intellektuellen, analytischen Fähigkeiten Nijinskys widerspiegeln würden, seinen Witz, seine Ironie.
Nijinsky kontrovers – zur Biographik des Choreographen REALISIERTE BALLETTE 1912 choreographierte Nijinsky sein erstes Ballett L’Après-midi d’un Faune. Seine Schwester Bronislawa berichtet, dass sich Nijinsky bereits 1910 während ausgedehnter Ferien mit ihr und dem Bühnenbildner Léon Bakst in Karlsbad, und danach mit Diaghilev und Bakst in Venedig und Paris mit dem Projekt beschäftigt habe. Bronislawa gilt in der Nijinsky-Forschung als wesentliche Referenz mit einem über sieben Dekaden anhaltendem Detailgedächtnis, als verläßlicher „Zeuge, der ihn am längsten kannte“;8 sie erinnert seine choreographischen Ideen in ihrer Biographie von 1981 folgendermaßen:
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Eine ausdifferenzierte Sicht auf das Verhältnis ‚pathologischer‘ und künstlerischer Inhalte der Zeichnungen Nijinskys ermöglicht der Aufsatz von Thomas Röske „Im Schnittfeld der Kreise. Vaslaw Nijinsky zeichnet“ (2009). So argumentiert im Programmheft der 15. Hamburger Ballett-Tage, 2.–25. Juni 1989, 164.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? Ich möchte weg vom klassischen Griechenland, das Fokine so gerne benutzt. Stattdessen will ich mich mit dem archaischen Griechenland befassen, das weniger bekannt ist, und bislang sehr selten auf dem Theater verwendet wird. Jedoch ist das nur die Quelle meiner Inspiration. Ich möchte es auf meine Art machen. Jede süßliche, sentimentale Linie in Form oder Bewegung wird ausgeblendet. Mehr wird sogar von Assyrien als von Griechenland übernommen werden.9
Zurück in St. Petersburg im Dezember 1910 probierte Nijinsky die Rollen des Faun und der Hauptnymphe mit seiner Schwester aus; und die Ästhetik des Balletts wurde festgelegt; es sollte eine Wiederbelebung des archaischen Griechenlands zur Musik von Claude Debussys Prélude à l’Après-midi d’un Faune werden.10 Im Frühjahr 1912 wurde das Ballett schließlich produziert. Nijinsky besetzte sich selbst als Faun, seine Schwester Bronislawa tanzte die vierte Nymphe und Lydia Nelidova die große (fünfte) Nymphe. Nach 120 Proben wurde Faune am 29. Mai in Paris am Théâtre du Châtelet uraufgeführt und höchst kontrovers aufgenommen. Vor allem ein Detail des szenischen Geschehens stand im Mittelpunkt der Diskussion: des Fauns symbolische Vereinigung mit dem Schleier am Ende des Balletts. Im Strudel der sich hochschaukelnden Emotionen kam dem Großteil des Publikums die Kühnheit des Werkes nicht zu Bewusstsein: weder die neuartige inhaltliche und dramaturgische Behandlung des Motivs ‚Faun und Nymphen‘, noch das ungewöhnliche Verhältnis zwischen Musik und Bewegung, und vor allem nicht das revolutionäre Konzept der Choreographie. Die Darstellung des kreatürlichen Verhaltens eines Naturwesens, des Fauns, war nicht im zeittypischen, von Konventionen und sozialen Normen geprägten Verhaltensraster angesiedelt und ließ sich auch nicht mit dem damals in Mode kommenden antigesellschaftlichen ausgerichteten Blick aufs Individuum erfassen. Die choreographische Ästhetik unterschied sich deutlich von der bisher üblichen Vorstellung von harmonischer Bewegung und dem von Diagonalen und Kreiswegen bestimmten Gebrauch des Bühnenraums. Und die impressionistisch bewegte Musik Debussys 9 Nijinska 1981, 315 (eig. Übers.). 10 Bronislawa Nijinska fasste die Eindrücke dieser Zeit so zusammen: „Ich sehe, dass Wazlaw etwas Neues und Bedeutendes in der Kunst der Choreographie gefunden und Bereiche entdeckt hat, die bislang in Tanz und Theater völlig unbekannt waren. Ich kann diese neuen Wege und Entdeckungen noch nicht definieren, aber ich weiß und spüre, dass sie da sind. Vor nicht langer Zeit hat Fokine sich von der klassischen Schule und aus der Gefangenschaft der Petipa’schen Choreographie befreit, und jetzt löst sich Wazlaw aus der Knechtschaft der Fokine’schen Choreographie. Wieder beginnt eine neue Phase in unserer Kunst.“ Nijinska 1981, 327 (eig. Übers.).
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Claudia Jeschke stand im akustischen Kontrast zu dem durch die Choreographie vermittelten minimalistischen Eindruck.11 1913 fanden die Premieren zweier weiterer Nijinsky-Ballette statt: Jeux wurde am 15. Mai und Le Sacre du Printemps am 28. Mai uraufgeführt, beide am Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Millicent Hodson und Kenneth Archer haben Jeux im Jahr 2000 für das Royal Ballet in London rekonstruiert. Sie verweisen in ihrer Einschätzung des Werks explizit auf den Zusammenhang zwischen Nijinskys ästhetische Praxis und seiner Theorie: Der aus Rußland emigrierte Autor André Levinson bezeichnete Nijinskys choreographische Methode als ‚geometrische Schematisierung‘ und behauptete, das Ballett ließe sich ‚graphisch durch gerade Linien darstellen‘. Das zeitgenössische Publikum erinnerte Jeux an die gebrochenen Winkel der neuen Malerei. Das traf zu, war aber nicht alles. Nijinsky lenkte den Blick auf ein Paradox, das seiner späteren Tanztheorie zugrunde liegt – die Quadratur des Kreises. Die Brüche in einem Liebeskonflikt werden abgeschwächt und in Kreisbewegungen überführt, und aus den gerundeten ‚ports de bras‘ fließt ein Moment der Harmonie. Während seiner Isolation vor und zur Zeit des Ersten Weltkriegs beschäftigte sich Nijinsky schreibend und zeichnend mit Leonardo da Vincis von der Renaissance geprägten Darstellung vom Menschen als ein in einem Kreis eingeschriebener Körper, und er übertrug das Modell auf heute, um das eckige Potential des menschlichen Körpers in zeitgemäßer Form zeigen zu können.12
Stärker noch als in Faune und Jeux konzentrierte sich Nijinsky in Le Sacre du Printemps auf die Entwicklung ausschließlich choreographischer Aspekte, die ihre Unabhängigkeit von literarischer Dramaturgie zeigten – einmal in der tänzerischen Konfrontation mit der als Ritual gestalteten musikalischen (rhythmischen) Bewegung der Partitur von Igor Stravinsky und zum andern in der Entwicklung eines neuen körperorientierten Bewegungsrepertoires, das auf pantomimische Erzählung vollständig verzichten konnte. Ein visio-
11 Meine Einschätzung des Werks beruht bereits auf einer Re-Vision der Quellen, nämlich der Entzifferung von Nijinskys Tanzschrift vom Faune aus den späten 1980er Jahren und deren Re-Konstruktion durch heutige TänzerKörper. Auch die Beschreibungen von Nijinskys zweitem und drittem Ballett, Jeux und Sacre, basieren auf Re-Konstruktionen. Die Lebensbeschreibung Nijinskys wird also ergänzt durch Re-Visualierungen seines Werks; diese lassen andere Perspektiven auf Person und Werk verfolgen als die von Romola Nijinsky, Richard Buckle, Lincoln Kirstein vorgeschlagenen Mystifizierungen. 12 Hodson/Archer, 2000, o. P. und, ausführlicher, in Gaßner/Koep 2009, 33– 65.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? närer Kritiker der Uraufführung, Jacques Rivière, beschreibt die Kühnheit Nijinsky’scher Bewegungsfindungen so: Neu an Nijinskys Le Sacre du Printemps ist die Rückkehr zum Körper, die Beschränkung auf seine natürlichen Bewegungen; nur die unmittelbarste, radikalste und ursprünglichste Aussage soll vernommen werden. Die Bewegung wird dem Körper untergeordnet, immer wieder zum Körper zurückgeführt, an ihn gefesselt, am Ausbrechen gehindert, ja gewaltsam gebändigt [...].13
So innovativ die Ballette in der Rückschau der Biographen auch wirken, Nijinskys Mitarbeiter wie etwa der Komponist Debussy oder auch Tänzerkolleginnen wie Lydia Sokolova – und wahrscheinlich auch Diaghilev selbst – schienen vor allem Druck durch die ungewöhnliche Ästhetik und Arbeitsweise des Choreographen empfunden zu haben. Nach der Uraufführung von Sacre jedenfalls begann Diaghilev, Nijinsky als Künstler fallen zu lassen. Dass dieser am 10. September desselben Jahres in Buenos Aires Romola de Pulszky, die Aristokratin und Tochter der berühmten ungarischen Schauspielerin Emilia Marcús während der Südamerika-Tournee der Ballets Russes heiratete, mag nicht unerheblich zu Nijinskys Isolation beigetragen haben. Romola hatte sich bei einer Aufführung der Truppe in Budapest in den Tänzer verliebt und reiste seitdem als Privatschülerin des Ballettmeisters Enrico Cecchetti mit der Kompanie und tanzte schließlich eine der Nymphen in Faune. Weil Diaghilev vor Schiffsreisen Angst hatte, war er in Europa geblieben. Er nahm die Heirat zum Anlass, empört und gekränkt zu reagieren, und entließ das Paar gegen Ende des Jahres 1913. Gemeinsam mit seiner Schwester Bronislawa und deren Mann etablierte Nijinsky seine eigene Ballett-Kompanie. Die ‚Saison Nijinsky‘ hatte am 2. März 1914 im Londoner Palace Theatre Premiere. Geplant war ein achtwöchiges Gastspiel, das aber am 16. März abgebrochen werden mußte, weil Nijinsky – wohl auch aufgrund psychischer Überbelastung – erkrankte und nicht auftreten konnte. Am 19. Juni 1914 wurde Kyra, die erste Tochter der Nijinskys, in Wien geboren. Die junge Familie plante, über Budapest nach Rußland zu reisen, wurde aber in Budapest vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht und im Haus von Romolas Eltern unter Arrest gestellt. In dieser Zeit arbeitete Nijinsky vor allem an seinem Notationssystem und stellte im August/September die endgültige Fassung der Faune-Partitur fertig. Nach dem Krieg brachte Nijinsky – in einer keineswegs ungetrübten Reunion mit den Ballets Russes – in New York unter großen Mühen ein weiteres Ballett zur Aufführung, Till Eulenspiegel. In sei13 Rivière 1913, 726f. (eig. Übers.).
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Claudia Jeschke nen Tagebüchern reflektiert er über Produktionsbedingungen und die traumatischen Zeitumstände: Ich habe ein Ballett nach der Musik von Richard Strauss geschaffen. [...] Man verlangte die Inszenierung binnen drei Wochen von mir. [...] Ich schlief nur wenig, ich arbeitete und arbeitete. [...] Ich begriff, dass ich im Dahinsterben war. Ich gab die Kostüme in Amerika bei einem Kostümbildner in Auftrag. Ich erklärte ihm alle Details. Er fühlte mich. Ich bestellte das Bühnenbild bei dem Maler Johnson [Robert Edmond Jones]. Dieser Maler schien mich zu verstehen, fühlte mich aber nicht. Er war ständig nervös. Ich war nicht nervös. [...] Ich ließ ihn Bücher besorgen über die Zeit, die dargestellt werden sollte. Er zeichnete mir auf, was ich ihm sagte. Seine Kostümzeichnungen waren besser. Sie waren von farbiger Lebendigkeit. Ich liebte farbiges Leben. [...] Ich hatte ein lustiges Ballett gemacht, denn ich fühlte den Krieg. Alle Leute hatten den Krieg satt, deshalb mußte man sie aufheitern. Ich hatte sie aufgeheitert. Ich zeigte Till in seiner ganzen Schönheit. Seine Schönheit war einfach. Ich zeigte das Leben Tills. Das Leben Tills war einfach.14
PROJEKT BACH-BALLETT Nach konzeptionellen Vorarbeiten in Baden-Baden mit Diaghilev und Nouvel („sie planten ein Ballett mit Musik von Bach, und das Werk sollte all die ausgeklügelte Pracht der Rokoko-Hoffeste haben – den Glanz der Paraden, Feuerwerke und Illuminationen“15) arbeitet Nijinsky auf der Schiffsreise nach Südamerika an der konkreten Choreographie. Ich zitiere neben Buckle wieder Romola Nijinsky, da die aktuelle Biographik dieses ‚Werk‘ nicht verhandelt. Auf dem C-Deck [...] stand ein Klavier. Hier spielte René Baton gegen drei Uhr Bach-Präludien und –Fugen und Nijinsky choreographierte. [...] Baton spielte und er stand neben ihm. Mitunter schloß er die Augen und vermittelte den Eindruck, daß er sich nun noch mehr auf ein ganzes choreographisches Thema konzentrierte. Oder er tanzte eine ganze Variation, die er komponierte, mit den Fingern, während Baton das Stück spielte. [...] Während er dastand, konnte man fühlen, dass er die von ihm erfundenen Schritte unentwegt tanzte. Derart wurde vor meinen staunenden Augen ein ganzes Ballett erschaffen. Manchmal suchte er mit Baton stundenlang nach einer passenden Chaconne oder einem Präludium. Oft unterbrach er Baton mit den Worten: ‚Crois, plus vite‘ und Baton lachte: ‚Wie wahr, ich habe mich geirrt; es soll schneller gespielt werden.‘ [...] Baton sagte mir, Nijinsky komponiere ein neues Ballett nach der Musik von Bach, es solle reiner Tanz werden, wie Bachs Musik absolut ist. Er wolle die Harmonie und die fundamentale Wahrheit der Bewegung darstellen. Das Ballett
14 Nijinsky 1998, 192ff. 15 Buckle 1971, übers. in Programmheft 26. Hamburger Ballett-Tage, 115.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? solle in die Epoche Ludwigs XIV. verlegt werden, aber keine Handlung haben, da es rein choreographisch sein solle.16
Nijinsky hat für das Bach-Projekt Notizen hinterlassen – tanzschriftliche und verbalschriftliche. Auch für dieses Ballett ist Nijinsky auf der Suche nach den jeweils spezifischen Bedingungen von Choreographie. Die ‚Sarabande‘, deren Anfang Nijinsky wohl auch während der Budapester Zeit notiert, ist für zwölf Paare konzipiert, davon ein zentrales Paar, dessen Bewegungen Nijinsky gesondert notiert.17 Die von Nijinsky skizzierte Musikauswahl umfasst u. a. Teile des Wohltemperierten Klaviers I und II, der Klavierwerke und der Englischen Suiten.18 Außerdem macht der Choreograph Angaben zum Bühnenbild, dessen Boden mit Blumenbeeten geschmückt sein soll. Körperhaltungen, Musikauswahl und der Hinweis auf das Bühnenbild bestätigen und konkretisieren den von Richard Buckle und Romola Nijinsky beschriebenen choreographischen Plan. Offensichtlich ist der musikalische Ausgangspunkt Nijinskys, der sich in einem höchst ausdifferenzierten Körperbild spiegelt: Nijinsky hat die körperlichen Erscheinungsformen des Barock/Rokoko durch Bewegungsanalyse gefiltert, dreidimensional erfahren und dann zweidimensional notiert. Welche Vorlagen ihm zum Studium tatsächlich zur Verfügung standen, ist nicht belegt; die Genese seiner anderen Ballette aber lässt vermuten, dass er auch hier von Bild-Quellen ausgeht und seine außergewöhnliche Fähigkeit der räumlichen Verkörperung wie der anschließenden abstrakt zeichenhaften Transformation in Notation nutzt.
16 Nijinsky 1974, 211f. 17 Seine Ausgangshaltung sei hier kurz aus der Nijinsky-Notation in Worte übersetzt: Die Dame steht rechts neben dem Herrn, beide sind leicht voneinander abgewandt in Posen, die an die Schäferballette des Rokoko erinnern: Der Oberkörper der Dame ist ein wenig zurückgelehnt, ihr Kopf neigt sich ebenfalls zurück und ihr Gesicht wendet sich dem Herrn zu, der den Körper aufrecht hält, seinen Kopf nach vorne neigt und das Gesicht nach rechts zur Dame richtet; sie schauen sich also an. Beide Arme sind relativ tief und ungefähr seitlich vom Körper gehalten; die Finger der beiden inneren Arme berühren einander; die beiden äußeren Arme sind leicht abgewinkelt und die Handgelenke in Watteauscher Manier locker. Die Ausdrehung der Beine ist gering (Nijinsky gibt etwa 45° an); das jeweils innere Bein (beim Herrn das rechte, bei der Dame das linke) fungiert als Standbein; das andere wird ohne Gewicht angestellt. Abb. in Hutchinson Guest/Jeschke 1991, 9. 18 Die Faksimile-Abbildung einer Seite der Notizen Nijinskys findet sich in Ostwald 1997, o. P. (=letzte Seite oben im Abbildungsteil zwischen 104 und 105).
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Claudia Jeschke Alle Biographien gehen (auf unterschiedliche Weise) auf Nijinskys Beschäftigung mit Notation ein. Die Verschriftung von Bewegung war also ungleich dem Choreographieren für die Biographik ein Topos, ein ernst zunehmendes Thema, das sich der Art der Lebensbeschreibungen nur zum Teil unterordnet beziehungsweise anpasst. Drei Beispiele verdeutlichen die unterschiedlichen Zugänge; sie stammen (in dieser Reihenfolge) von Romola Nijinsky, Richard Buckle und von Peter Ostwald. Hier also die Notation zunächst aus Romolas Sicht: Stundenlang wurden wir ins Kreuzverhör genommen. […] Der Chef [der Polizei] sagte mir: ‚Seit Monaten hat ihr Mann an einer Art Plan gearbeitet. Einem militärischen. Wissen Sie etwas darüber. Es muss ein Code sein‘. [...] ‚Lächerlich. Mein Mann arbeitet an einem System, menschliche Bewegungen schriftlich festzuhalten. Seit der Zeit Ludwigs XIV. haben Tänzer das versucht. Es stimmt, er beschäftigt sich den größten Teil des Tages bis spät in die Nacht mit dieser Arbeit. Aber sie hat mit Krieg und militärischen Plänen so wenig zu tun wie die Kanäle auf dem Mars‘. ‚Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit‘, erwiderte er. ‚Es gibt Aussagen gegen Sie […]. Im Schreibtisch Ihres Mannes ist ein Manuskript gefunden worden, das nach Mathematik aussieht, aber weder Geometrie noch Musik enthält. Was also kann es sein?‘ ‚Das System der choreographischen Notation‘.19
Es ist erstaunlich, wie genau Romola Nijinsky sich an das Gespräch mit dem Chef der Polizei von Budapest erinnert. Der Wortlaut muss sich tief ins Gedächtnis gegraben haben, ist aber wohl eher als Kunstgriff zu verstehen, der die Biographie Nijinskys lebendig und dramatisch gestalten sollte. Nijinskys Beschäftigung mit Notation findet sich eingebettet in familiäre und politische Dramen, die offen zu Tage traten, als Tochter, Mutter, Schwiegersohn (Nijinsky), wie bereits bemerkt, auf engem Raum im Haus der Mutter, der bekannten Schauspielerin Emilia Marcús, während des Ersten Weltkrieges interniert waren. Und darüber hinaus ist die Erwähnung der Notation ein Mittel, Nijinsky in der Tradition des Tanzes zu verorten, seine Bedeutung für die Tanzentwicklung zu unterstreichen. Darüber hinaus erfährt man über die Notation vergleichsweise wenig Konkretes: Sie sieht aus ‚wie Geometrie, wie Algebra’, ist aber keines von beiden, schreibt Romola an anderer Stelle (269). Das zweite Beispiel für die eigentümliche (Nicht-)Verschränkung von Lebensgeschichte, Werk und Notation stammt aus der Biographie von Richard Buckle, der ungewöhnlich unkritisch, ja fast desinteressiert der Erzählung Romolas folgt.
19 Nijinsky 1974, 276f.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? […] und die Nijinskys zogen sich immer mehr in ihren Teil des Hauses zurück. ‚Wir waren von der Außenwelt total abgeschnitten‘, schrieb Romola. ‚Waslaw und ich, wir mußten einander genug sein‘. […] Nijinsky hatte begonnen, ein Notationssystem zur Dokumentation von Tänzen zu entwerfen; diese Aufgabe sollte ihn einige Jahre lang beschäftigen. Er brachte es Romola bei.20 Emilia Markus Unternehmungen, Romola und Waslaw loszuwerden, gipfelten in einer polizeilichen Untersuchung: Die Offiziellen waren darüber informiert worden, dass Nijinsky an einem militärischen Plan arbeite, den er mit einem mathematischen Code dokumentiere. Nach Tagen der Vernehmung akzeptierte die Polizei den ‚Plan‘ als Nijinskys Notationssystem und gratulierte ihm dazu.21
Auch in Bezug auf Nijinskys weitere Schreibversuche in St. Moritz kommt die ansonsten ausdifferenzierende Haltung Buckles wenig zum Tragen. Die späteren Notationen zeigen in seinen Augen das Bild des beginnenden Wahnsinns, der sich des Genies Nijinsky bemächtigt hat. Das heißt: Auch wenn diese Notate unverständlich, unzugänglich bleiben, sind sie doch von einem Genie gefertigt. Und als solche werden sie auch von Buckle wie alles, was Nijinsky produziert, mystifiziert. Der Psychiater Peter Ostwald nun beschreibt Nijinkys Leben unter der Perspektive seiner Krankheit. So betrachtet er sowohl die Tanzschrift wie das Schreiben, den Zeichenaufbau wie die Situation, in der diese Konstruktion geschieht, aus analytischer, ‚wissenschaftlicher‘ Distanz. Fraglich erscheint in dieser Biographie das sonst als schlecht bezeichnete Verhältnis Wazlaw Nijinskys zu seiner Schwiegermutter Emilia Marcús. Ostwald zitiert Quellen, die auf ein gutes Verhältnis schließen lassen, stellt jedoch die ungetrübte Beziehung zwischen den Eheleuten in Frage, wenn er ausführt, dass sich Romola durch Nijinskys häufig nächtliche Arbeit am Notationssystem in ihrem Schlaf gestört fühlte und dass es zu Auseinandersetzungen kam, weil Wazlaw zu viel elektrischen Strom ver brau chte. Und Ostwald spekuliert weiter, ob dieses nächtliche Licht möglicherweise den Polizeieinsatz auslöste? Ostwald versucht sich auch in einer Schriftanalyse: Durch die Zusammensetzung von Rechteck und Kreis sei der Konfiguration statisch, sie lasse Linearität vermissen, sei notwendigerweise immer komplizierter geworden, so dass Nijinsky selbst Schwierigkeiten gehabt habe, sie zu entziffern bzw. zu schreiben.22
20 Buckle 1971, 347f. (eig. Übers.). 21 Buckle 1971, 349 (eig. Übers.). 22 Ostwald 1997, 172ff.
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Der Tanz-schreibende/schreibend-tanzende Nijinsky – zur (Auto-)Biographik des Theoretikers Romola Nijinsky, Buckle und Ostwald thematisieren in Zusammenhang mit der Notation die Situation der Gefangenschaft in Budapest und beschreiben die verzweifelten Versuche, ihr zu entfliehen. Wie schon erwähnt, fand Nijinsky in dieser Lage keine Gelegenheit zu tanzen, d. h. seiner gewöhnlichen Tätigkeit nachzugehen. Ist das Schreiben Nijinskys ein Teil dieses Fluchtversuchs – oder ein Teil von Realitätsannäherung? Kaum registriert wurde bislang, und dies sei zur Ergänzung bemerkt, dass er keine Leser hatte. Die Budapester Polizei bzw. die von ihr herbeigeholten Schrift-Spezialisten ließen sich zwar das System von ihm erklären und verstanden es auch. Als Austausch zwischen Schreiber und Leser ist dies aber kaum zu sehen. Darüber hinaus hatte Nijinsky wenig Erfahrung mit Schreibprozessen. Er kannte und beherrschte den Prozess des Tanzens, des Sich-Bewegens und Darstellens, der Verkörperung. Die Distanz zum Dargestellten bzw. der Austausch mit dem Zuschauer entwickelt sich in diesen Medien auf andere Weise als zwischen Autor und Leser. Dass er Bewegung oder Tanzen denken und schreiben konnte, zeugt allein schon von einer großen Abstraktionsfähigkeit; zudem entsprachen die Bewegungen, die Tänze, die er ausgeführt hatte und die er erfand, plante, nicht (nur) dem gewöhnlichen Repertoire. Neu zu denken und zu erinnern waren also sowohl die Verschriftung wie der Tanz. Dass der Versuch, die Schrift zu vereinfachen, wie er es selbst für die Periode in St. Moritz beschrieb, mangels Rezeption in Unverständlichkeit und Chaos mündete, erscheint ob der isolierten Situation schon fast erschreckend normal. Auch seine Biographen haben ihn in diesem Punkt nicht aus der Isolation befreit. Während des Krieges habe ich mich intensiv mit Tanz befaßt, und deshalb grosse Fortschritte gemacht. Ich möchte meine Fortschritte dem Publikum zeigen, aber ich möchte nicht mit Diaghilew arbeiten, denn er hat mir viele Unannehmlichkeiten gebracht. [...] Diaghilew denkt, dass ich für die Kunst tot bin. Ich bin nicht tot für die Kunst. Hier lebe ich mehr als früher.23
Dieser seinen Tagebüchern beigefügte (wahrscheinlich fiktive) Brief an seinen ehemaligen Impresario und Partner verdeutlicht Nijinskys 23 Nijinsky 1995, 289f. (eig. Übers.), Brief an Jean Reszke. Die letzten zwei Sätze sind in der englischen Übersetzung etwas anders widergegeben; sie lauten in meiner Übersetzung: „[...] Diaghilew denkt, dass ich für die Kunst gestorben bin. Ich bin lebendiger denn jemals zuvor. [...]“. Vgl. Acocella 2006, 237.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? Verständnis von der Gleichwertigkeit körperlichen, intellektuellen und geistigen Trainings. Schreiben, d. h. die Entwicklung der Tanzschrift als Bewegungsdokumentation und -analyse wie die Reflektion von Leben und Kunst im Akt des Niederschreibens, ist für ihn eine wichtige künstlerische Tätigkeit, die er dem physischen ‚BalletExercise‘ gleich stellt. Auch wenn eingeschränkt werden muss, dass Nijinsky immer nur dann auf das Schreiben zugreift, wenn er an physischer Bewegung gehindert wird – während der Kriegszeit 1914–16 in Budapest und 1917–18 in St. Moritz, wo er zu den in den Tagebüchern von 1919 zu findenden Seiten noch vier Schulhefte mit einer Art Notations-Systematik füllt –, so zeugt seine erste Version der Tanzschrift von außergewöhnlicher analytischer Begabung. Diese theoretische Leistung entspricht qualitativ zweifellos Nijinskys tänzerischen bzw. choreographischen Errungenschaften und lässt sich deshalb auch als Vergleichsfolie zur Einordnung seiner späteren Äußerungen verwenden. Joan Acocella, die Herausgeberin der englischen Fassung der Tagebücher, verweist ebenso auf die bei Nijinsky zu beobachtende Parallelität von praktischer und theoretischer Tätigkeit, erkennt dann aber zu Recht deren andere, dem Gestaltungsbewußtsein immer deutlicher entgleitende Qualität: Das heißt nicht, dass die Tagebücher den gleichen Bogen von Erfindung aufweisen wie die Ballette. In den Tagbüchern sind alle Dinge außer Tiefe, die Nijinsky zum Künstler machten, verschwunden oder verschwinden gerade – Formwillen, Verdichtung, der Sinn für Rhythmus und Klimax, die Kontrolle. Es ist dasselbe Instrument, aber ohne Spannung.24
Der Tanzkritiker und Psychiater Richard Merz geht noch einen Schritt weiter in der skeptischen Einordnung der letzten schriftlichen Äußerungen Nijinskys und warnt vor einer allzu ‚normalisierenden‘, weil verharmlosenden Lektüre des Textes: Der das geschrieben hat, ist kein faßbares Ich mehr für sich selber, kein faßbares Subjekt sinnhafter Aussage. Die schwer erträgliche Last dieser Tatsache mag den Leser dazu verleiten, aus der eigenen Sinnhaftigkeit doch noch Sinn und Ich-Identität in den Text hineinzulesen.25
24 Acocella 2006, XLII (eig. Übers.). 25 Merz 1995, 48.
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Claudia Jeschke
PROJEKT TANZSCHRIFT26 Die Notierungsmethode, wie sie Nijinsky zur Dokumentation des Faune oder zur Konzeption des Bach-Balletts benutzte, weist Ähnlichkeiten zum Stepanow-System auf, das in der Ballettschule des Mariinskij-Theaters gelehrt wurde. Es basiert auf einer anatomischen Bewegungsanalyse und verwendet Notenlinien und Musiknoten, um Bewegungen zu definieren. Nijinsky modifizierte und erweiterte diese Grundideen. Trotz seiner konzeptionellen Nähe zu Stepanov konnte Nijinskys System, zu dem keine Erläuterungen existieren, nicht mit dessen Regeln und Schreibweisen entziffert werden. Erst als in Nijinskys Nachlass zusätzliche Materialien gefunden wurden – etwa die Notierungen von Ballet-Exercises und einiger ‚Cantoria‘-Figuren von Luca della Robbia – wurde es möglich, die Partitur zu entziffern.27 Die spätere Version der Tanzschrift, die Nijinsky in St. Moritz in den Schulheften dokumentierte und in die Tagebücher integrierte, bezieht sich allerdings kaum auf seine Budapester NotierungsArbeit an Faune oder dem Bach-Ballett um 1915. Die Gemeinsamkeit besteht im Grundkonzept: In beiden Versionen geht Nijinsky von einer Analyse aus, die Richtungen und Höhengrade kreisförmig vom Körper aus bestimmt, die Gelenke des Körpers als die Zentren jeglicher Bewegungführung betrachtet. Während die 1915-Notation auf fünf Notenlinien Bewegung höchst konkret, detailgenau und in ihrem Bezug zur Musik beschreibt, verfolgt der spätere Entwurf vor allem das Konzept des Kreises (Hodson/Archer und Ostwald haben darauf hingewiesen) und versucht, Bewegung weniger in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu fassen als sie auf ihre zirkulären Grundbedingungen zu reduzieren, in denen sich mimetische Vorstellungskraft, körperliche Ausdrucksfähigkeit und analytisches Bewegungsverständnis treffen. Lässt man die wie in den Textteilen der Tagebücher manchmal obsessiven Wiederholungen bestimmter Aussagen oder Regeln beiseite, so deutet sich hier eine minimalistische Sicht auf Bewegung an, die die Erfassung und Formulierung von Prinzipien in den Mittelpunkt der geistigen und intellektuellen Auseinandersetzung stellt. Notationsbeispiele, die den dokumentarischen Gebrauchswert der Schrift nachweisen könnten, finden sich 26 Für Nijinskys konzeptionelle und künstlerische Leistung findet sich in der Tanzgeschichte nur ein Vorläufer, der wie er sowohl eine Notation entwickelt als auch Teile seines Werkes mit Hilfe dieser Notation dokumentiert hat: Arthur Saint-Léon, der einen ‚pas de six‘ aus seinem Ballett La Vivandière (1844) in der 1852 publizierten ‚Stenochorégraphie‘ niederschrieb. 27 Hutchinson Guest/Jeschke 1991, 7ff. und zum Verhältnis von Nijinsky und Cecchetti: Hutchinson Guest/Jeschke 2009, 90–95.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? deshalb nicht; das mag bedeuten, dass Nijinsky dieser Version, wie den Aussagen der Tagebücher allgemein, philosophische Dimension zuerkennt. So reduziert Nijinskys Äußerungen auch sind (und aus welchen Gründen, krankheitsbedingten und/oder konzeptionellen, er diese Reduktion verfolgt): Für die Entwicklung des modernen Tanzes sind sie deshalb wichtig, weil sie die Abkehr vom – wie auch immer gearteten – Stil als Grundlage tänzerischer Äußerungen bedeuten und die Körpermechanik als Referenzsystem für jegliche Bewegungsidee und -ausführung vorstellen. Das ‚Opus‘ Wazlaw Nijinskys hinterlässt eine Vielzahl von Spuren, in verschiedenen ‚Sprachen‘ verfasst und verschiedene ‚Sprachen‘ sprechend,28 von denen bislang nur die traditionell narrativierbaren Ereignisse Eingang die Biographik gefunden haben. Tanzschrift, Tagebuch und das bildkünstlerische Werk bildeten (inakzeptable oder unverständliche) Unterbrechungen, Brüche in der Lesbarkeit dieser Spuren und wurden deshalb als allmähliches Verblassen der Leistung Nijinskys interpretiert. Die Ent-Marginalisierung und Kontextualisierung der Zeichnungen ist inzwischen erfolgt.29 Und das Projekt Tanzschrift verweist auf eine weitere Dimension in der möglichen Rezeption der nichttänzerischen Äußerungen Nijinskys. Es lässt sich als eine Art autobiographischen Schreibens lesen – als ein Schreiben, in dem sich Nijinsky seiner Identität als Tanzschaffender versichert. Das Projekt Tanzschrift übersetzt korporale und kinetische Erinnerungen an das tänzerische und choreographische Können in Hypertexte. Da ist zunächst die Faune-Partitur, in der Nijinsky das eigene kreative Schaffen abbildet, ohne eine Anleitung zum Lesen der Schriftzeichen zu hinterlassen; dann spiegelt er in den Notizbüchern das repetitive Tun des Tanztrainings. In der Zusammenschau erscheint Nijinskys TanzSchreiben weniger als künstlerisches Programm denn als Selbstversicherung eines zum Nichttanzen verdammten Choreographen – als eine physische, motorische Ersatz‚hand‘lung, als eine Aktion, in der sich das Tanzen im Schreiben der Hand verdichtet. Ausgeblendet wurde in der Betrachtung der Notation Nijinskys die Problematik der Entstehung von Schriftsystemen. Also z.B. die Frage nach Vergleichen: zwischen dem Übergang von der Oralität zum Alphabet, der in der aktuell von der Tanzwissenschaft als verbal bezeichneten Sprache ca. 2000 Jahre dauerte, mit dem Prozess der bis heute andauernden oralen und visuell-kinetischen Kommunikation im Tanz und seiner Verschriftung; zwischen den Schriften, die nur Eliten zugänglich waren und den Schriften, die nur Tänzern zugänglich sind; zwischen Demokratisierungsprozessen von alpha28 Vgl. Foucault 1991, 37. 29 Gaßner/Koep 2009, passim.
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Claudia Jeschke betischen und nicht-alphabetischen Schriften und europäischen Tanzschriften; zwischen monogenetischen Thesen zur Entstehung von Schrift und den Versuchen einzelner Tanztheoretiker Tanzschriften zu kreieren.30 Nijinskys Tanzschrift verweist auf das Desiderat, in der Tanzwissenschaft die Problematik der Genese und Anwendung von Schriftsystemen zu reflektieren. Doch auch ohne diese weiter ausgreifenden Überlegungen vermittelt die Notation Nijinskys die Auseinandersetzung mit Bewegungswissen, mit den multimedialen, performativen Referenzsystemen körperlicher Äußerung und zeugt so von den Alltäglichkeiten eines Tänzer-Lebens. Als solche ist sie sowohl Teil seines Werkes als auch seiner Biographie.
Bibliographie Acocella, Joan (Hg.) 2006. The Diary of Vaslav Nijinsky. Übers. aus dem Russischen von Kyril FitzLyon. Urbana (University of Illinois Press). Bourdieu, Pierre 1990. „Die biographische Illusion“. In: BIOS, 3/1, 75–81. Buckle, Richard 1971. Nijinsky. New York (Simon and Schuster). Foucault, Michel 1991. Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Gaßner, Hubertus/Koep, Daniel (Hg.) 2009. Tanz der Farben. Nijinskys Auge und die Abstraktion. Hamburg (Hamburger Kunsthalle). Hodson, Millicent/Archer, Kenneth 2000. „Nijinsky’s Bloomsbury Ballet“. In: Programmheft The Royal Ballet, Covent Garden (Les Biches, L’Après-midi d’un Faune, Jeux, The Firebird). May 2000. o. P. (Übers. teilweise in Programmheft 26. Hamburger BallettTage. 2000, 110). Hutchinson Guest, Ann/Jeschke, Claudia 1991. Nijinsky’s Faune Restored. Philadelphia u. a. (Gordon and Breach). Hutchinson Guest, Ann/Jeschke, Claudia 2009. „Nijinsky und Cecchetti. Zur Aufzeichnung von Ballet-Exercises“. In: Jeschke, Claudia/Haitzinger, Nicole (Hg.): Schwäne und Feuervögel. Die Ballets Russes 1909–1929. Russische Bildwelten in Bewegung. Berlin (Henschel), 90-105. Merz, Richard 1995. „Vor dem Versinken. Waslaw Nijinskys Aufzeichungen in der ‚Version non expurgée‘“. In: Ballett-Journal/Das Tanzarchiv 43/4, 46–48.
30 Ich danke Gabi Vettermann für diese Hinweise.
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Wazlaw Nijinsky – ‚Opus‘ versus Biographie? Nijinska, Bronislava 1981. Early Memoirs. New York (Holt, Rinehart and Winston). Nijinsky, Romola 1974. Nijinsky. Der Gott des Tanzes. Frankfurt am Main (Insel). Nijinski, Vaslav 1995. Nijinski Cahiers. Version non expurgée. Paris (Actes Sud). Nijinsky, Waslaw 1998. Tagebücher. Frankfurt am Main (Insel). Ostwald, Peter 1997. „Ich bin Gott“: Waslaw Nijinsky – Leben und Wahnsinn. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt). Rivière, Jacques 1913. „Le Sacre du Printemps“. In: La Nouvelle Revue Française VII, Nov. 1913, 726–727 (Übers. in Programmheft 26. Hamburger Ballett-Tage, 112). Röske, Thomas 2009. „Im Schnittfeld der Kreise. Vaslaw Nijinsky zeichnet“. In: Gaßner, Hubertus/Koep, Daniel (Hg.): Tanz der Farben. Nijinskys Auge und die Abstraktion. Hamburg (Hamburger Kunsthalle), 69–85.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? MELANIE UNSELD
Über Alma Mahler sind bis in die jüngste Gegenwart zahlreiche Biographien erschienen.1 Auffallend ist dieser Befund insofern, als Alma Mahler damit rein quantitativ ein Stellenwert in der Musikgeschichtsschreibung eingeräumt wird, der für Frauen dort nicht eben selbstverständlich ist. Dieser Befund relativiert sich allerdings rasch, nimmt man die Biographien über sie genauer in den Blick: kaum eine, die Alma Mahler als komponierende und die Musikkultur aktiv mitgestaltende Person in den Blick nimmt, kaum eine, die nicht mit starken Modellen – etwa dem der Muse oder dem der Witwe – aufwartet. Gerade aber die starke Orientierung an ebendiesen Modellen lässt eine Irritation erkennen, die die biographierte Person auslöst(e). Denn Alma Mahler wurde bereits zu Lebzeiten höchst ambivalent wahrgenommen, Selbststilisierungen und eine lebenslange Auseinandersetzung mit Erwartungshaltungen und weiblichen Lebenslaufmodellen prägten ihre Person. Dass diese Irritationsmomente im Fall Alma Mahler in überindividuellen Formungen gebändigt werden, ist aus der Sicht der Biographik ein interessantes Phänomen,2 greifen hier doch verschiedene Fragstellungen ineinander: Wie kann biographisch auf die offenbar höchst ambivalente Wahrnehmung einer Person eingegangen werden? Nach Sigmund Freuds Aussage, dass die „biographische Wahrheit“ nicht zu haben sei, nach Diskussionen um Identität und das biographische
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Bibliographie hierzu in Filler 2008. Auf eine ähnliche Fragestellungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geht auch die Forschungsarbeit von Sandra Marchl ein, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Beitrages noch nicht veröffentlicht war, auf die aber hingewiesen werden soll – auch vor dem Hintergrund, dass die Bedeutung des „Falles“ Alma Mahler für die Diskussion innerhalb der Biographik zu Recht als wesentlich erkannt wird, vgl. Marchl 2009.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? Subjekt, scheint gerade eine so ambivalent wahrgenommene Person wie Alma Mahler die Diskussion um die ‚Wahrheit des Individuums‘ zu forcieren. Des Weiteren liegt die Frage auf der Hand, welchen Einfluss das Geschlecht auf die biographische Darstellung hat. Im Vordergrund steht hierbei – angesichts der überdeutlich starken Vereinnahmung wirkungsmächtiger Modelle für die biographischen Darstellungen von Alma Mahler – die Frage nach möglichen Lebenslaufmodellen für die Musikkultur mitgestaltende Frauen. „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen“.3 Auf diese Weise ablehnend reagierte Freud auf das Ansinnen Arnold Zweigs, sein Biograph zu werden. Wie viel (auto)biographische Selbststilisierung dabei auch immer mitspielen mag – erkennbar wird der tiefgreifende Zweifel Freuds an der Vorstellung, dass eine Biographie die ‚Wahrheit des Individuums‘ darzustellen vermöge. Gleichwohl galt und gilt zum Teil bis heute ebendiese als Ziel biographischen Schreibens, geben BiographInnen – ungeachtet von Subjektanalyse und dem postmodernen Identitäts-Diskurs4 – „die unverwechselbare intellektuelle oder vitale Individualität des oder der Biographierten als Darstellungsziel aus“.5 Doch die Vermutung, dass mit dem Festhalten an der Vorstellung von der ‚Wahrheit des Individuums‘ eine biographische Individualität korreliere, geht in die Irre: Der Literaturwissenschaftler Christian von Zimmermann betont, dass es gerade diese „Suche nach dem nie restlos erfaßbaren Individuellen, nach der ungeteilten Eigenheit, nach dem spezifischen psychophysischen Puzzle des Einzelwesens ist“, die die Biographen auf biographische Modelle zurückgreifen lassen, die im Wesentlichen von der Individualität weg- und zu einer Typologisierung hinführen: „Gerade auch in Biographien, welche sich der ‚Wahrheit des Individuums‘ widmen, werden häufig typologische Grundannahmen erkennbar, die apriori die Analyse auf den Typus des Künstlers, des Helden, des Erfinders, der mütterlichen Heroin usf., auf Konzepte seiner Geschlechtseigenheit, seiner nationalen und ethnischen Zugehörigkeit usf. festlegen“.6 Dieser Prozess lässt sich in der Alma Mahler-Biographik deutlich nachzeichnen, was im Folgenden in einigen Eckpunkten geschehen soll. Kaum eine Person der Musikgeschichte wurde ambivalenter wahrgenommen als Alma Mahler und dies bereits zu ihren Leb3 4 5 6
Freud und Zweig 1968, 137. Vgl. dazu auch Bruder 2003. Vgl. hierzu im Überblick Reckwitz 2008. Zimmermann 2005, 6. Ebd.
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Melanie Unseld zeiten. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen:7 „schön, klug, geistreich“ (Gustav Klimt) – „hingebende Hüterin der ihr von der Natur anvertrauten Kostbarkeiten, reich an Individualität“ (Berta Zuckerkandl) – „Zauberfrau“ (Franz Werfel) – „verführerisch“ (Oskar Kokoschka) – „imposante Erscheinung im stärksten Sinn des Wortes“ (Klaus Mann) – „leidenschaftliche Frau mit Künstlerblut“ (Willy Haas) – „voller Vitalität und Dynamik“ (Klaus Mann) – „eine bereichernde Muse“ (Nina Kandinsky). Andererseits: „eine ziemlich große, allseits überquellende Frau, mit einem süßlichen Lächeln ausgestattet“ (Elias Canetti) – „ungeheuer reaktionär“ (Klaus Mann) – „mit einer oft an Brutalität grenzender Energie“ (Friedrich Torberg) – „aufgequollene Walküre trank wie ein Loch“ (Claire Goll) – „Sie wollte nur beherrschen. Eine schreckliche Person“ (Ernst Krenek) – „Sie hat ein ungeheures Talent gehabt, Sklaven zu machen“ (Anna Mahler). Die Gründe für diese höchst unterschiedlichen, um nicht zu sagen diametral auseinanderliegenden Wahrnehmungen sind vielfältig. Zunächst stammen sie aus unterschiedlichen Lebensphasen: Während Gustav Klimt von der jungen, noch unverheirateten Alma Schindler spricht, erlebte sie Ernst Krenek später in der durchaus problematischen Rolle als Schwiegermutter. Auch die ausgeprägten Sym- bzw. Antipathien spiegeln sich in den unterschiedlichen Charakterisierungen wider. Dass Alma Mahler hier offenbar polarisierte, hängt neben ihrer Persönlichkeit auch mit der Schwierigkeit zusammen, ihre Person in Einklang mit weiblichen Rollenbildern ihrer Zeit zu bringen: Das Fehlen dieses Einklangs aber wurde, je nach Standpunkt des Betrachters oder der Betrachterin, als positiv oder negativ bewertet – ein Phänomen, das Virginia Woolf aus eigener Anschauung beschrieb: „Als ich las, was er über Frauen schrieb, dachte ich nicht an das, was er sagte, sondern an ihn selbst“.8 Diese Spiegelfunktion kommt auch in den Aussagen über Alma Mahler deutlich zum Vorschein: Die Beschreibungen reflektieren zu einem erheblichen Maß das persönliche Verhältnis und die Erwartungshaltung des/der Schreibenden, so dass mehr über die Schreibenden als über die Beschriebene ausgesagt zu werden scheint. So notierte etwa Romana Kokoschka, die Mutter Oskar Kokoschkas, über Alma Mahler: „Wie ich diese Person hasse, das glaubt mir kein Mensch. So ein altes Weib, die schon ein elfjähriges Familienleben hinter sich hat, hängt sich an so einen jungen Buben…“.9 Mit dem Hinweis Woolfs auf die Spiegelfunktion einer Aussage lässt sich die 7 8 9
Alle folgenden Aussagen finden sich in der Rubrik „Zeugnisse“ in Seele 2001, 139–142. Woolf 1981, 40. Wie Anm. 7, 139.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? Charakterisierung der 32-jährigen Alma Mahler als „altes Weib“ in einigen Facetten dechiffrieren: Dass Romana Kokoschka die Affäre ihres Sohnes mit Alma Mahler missbilligte, konnte sie mit dem Hinweis auf Alma Mahlers Witwenschaft begründen. Die Charakterisierung als „altes Weib“ hängt hierbei weniger mit ihrem realen Alter als vielmehr mit dem Weiblichkeitsbild der Jahrhundertwende zusammen, das die Wahrnehmung des Alters aufs engste mit sexueller Erfahrung verknüpfte: Als „junge“ Frau galt nach diesem Weiblichkeitsbild vor allem die unverheiratete, sexuell unerfahrene Frau, die Stefan Zweig plastisch in seiner Autobiographie Die Welt von gestern schilderte: „Ein junges Mädchen aus guter Familie durfte keinerlei Vorstellung haben, wie der männliche Körper geformt sei, nicht wissen, wie Kinder auf die Welt kommen, denn der Engel sollte ja nicht nur körperlich unberührt, sondern auch seelisch völlig ‚rein‘ in die Ehe treten“.10 Dieses Ideal konnte Alma Mahler als Mutter von zwei Kindern und als Witwe nicht erfüllen. Die Emotionalität der Wendung „wie ich diese Person hasse“ lässt darüber hinaus erkennen, dass der Widerspruch zwischen dieser Liaison und der bürgerlichen Norm als eklatant empfunden wurde. Nach dieser Art der Dechiffrierung lassen sich auch andere Charakterisierungen Alma Mahlers durch ihre Zeitgenossen „gegen den Strich“ lesen, indem das direkte Verhältnis zwischen Schreiber und Beschriebener betrachtet, Erwartungshaltungen und Normen befragt werden. Das Resultat aber wäre insofern immer dasselbe, als in jedem Fall mehr über die Schreibenden erfahrbar wird als über die Beschriebene. Die in vielen Fällen erkennbare (positive oder negative) Emphase spricht dabei immer auch von der Diskrepanz, die zwischen dem von Alma Mahler geführten Leben und der Norm weiblicher Lebensentwürfe im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert gesehen wurde. Auf diese Normverletzung reagierten die Zeitgenossen – je nach ihrer eigenen Haltung – mit scharfem Protest oder großer Bewunderung. Hierin scheint ein wesentlicher Grund zu liegen, warum Alma Mahler derart ambivalent wahrgenommen wurde. Wie in der Biographik mit dieser Ambivalenz umgegangen werden kann, ist eine methodische Herausforderung, die im Fall Alma Mahlers nur selten angenommen wurde. Praktikabler schien der Rückzug auf ein biographisches Modell, in das diese Ambivalenzen als Charakteristikum der dargestellten Person einschreibbar war: das Modell der Muse. Die Ambivalenzen sind hier nicht mehr Merkmal von Alma Mahlers Wirkung auf andere, sondern fester Bestanteil eines Modells, das Ambivalenzen in sich trägt und vor allem ein
10 Zweig 1990, 81f.
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Melanie Unseld hohes Maß an Stilisierung bereit hält. So konnte es im Fall Alma Mahlers mit einem überindividuellen Erklärungsmuster bereit stehen, um von einer real-lebensgeschichtlichen Verortung der Frau abzusehen. Bevor beispielhafte Mechanismen dieser Zuschreibung als Muse erläutert werden, seien allgemeine Überlegungen zur Modell-Konstruktion bei weiblichen Lebensläufen vorausgeschickt. Die Tatsache, dass Frauen lange Zeit aus dem ‚grand récit‘ der Geschichtsschreibung herausgehalten wurden, hatte direkte Rückwirkung auf ihre Biographiewürdigkeit: Im Umkehrschluss wurde aus Heinrich von Treitschkes Maxime „Männer machen die Geschichte“, von dem sich die Heroenbiographik ableiten ließ, die Konsequenz gezogen, dass Frauenleben nicht biographiewürdig seien. Ausnahmen hierzu bildeten lediglich Frauen, die eine ‚männliche‘ Position einnahmen (Herrscherinnen, Priesterinnen u. a.), oder – im Bereich der Musik – jene Frauen, denen in bedingtem Maße das Agieren in der Öffentlichkeit zugestanden wurde: Sängerinnen und Instrumentalistinnen.11 Als ab den 1970er Jahren die Abwesenheit von Frauen in der Geschichtsschreibung zum Nachdenken Anlass gab und sich im Zuge der feministischen Forschung das Interesse an Frauenbiographien kundtat, wurde nicht zuletzt auch das Fehlen von biographischen Modellen für Frauenlebensläufe deutlich. Denn nicht ohne weiteres waren Frauen in die traditionelle Geschichtsschreibung einzufügen – nicht nur, da Kanonisierung und Erinnerungskultur sie an den Rand oder gänzlich in Vergessenheit hatte geraten lassen und nun kein Raum im ‚Haus der Geschichte‘ für sie offen stand,12 sondern auch, weil ihre Lebensläufe nicht mit jenen Kriterien vereinbar waren, die bislang als historiographisch und biographisch relevant galten: Stefan Goldmann etwa beschrieb diese Kriterien mit Blick auf die Autobiographik als Topoi, die zu verstehen sind „als diskursive Plätze sozialer Bedeutsamkeit, als Argumente, deren Legitimität allgemein anerkannt wird“.13 Für die Beschreibung von Lebensläufen gehören zu diesen (auto)biographischen Topoi:14 genus (Abstammung/Familie) natio (Volkszugehörigkeit) patria (Vaterland) sexus (Geschlecht) aetas (Zeitalter/Zeiten)
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Vgl. dazu Unseld 2010. Vgl. dazu Hausen 1998. Wagner-Egelhaaf 2006, 54. Goldmann 1994.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? educatio et disciplina (Erziehung und fachliche Ausbildung) habitus corporis (körperliche Erscheinung) fortuna (Glück/Schicksal) conditio (Verfassung/Befindlichkeit) animi natura (geistige Natur) studia (Studien) acta dictaque (Taten und Aussprüche) commotio (Bewegung/Reisen) nomen et cognomen (Namen und Zunamen) Deutlich wird, dass diese Topoi sich an einem Lebenslauf für ein männliches Individuum orientieren, da sie Bereiche umfassen, die zum Teil exklusiv Männern vorbehalten waren – wie etwa fachliche Ausbildung und Studium, aber auch Reisen sowie acta dictaque, im Sinne von öffentlich wahrnehmbaren und wahrgenommenen Taten und Aussprüchen.15 Auch Musikerbiographien – in ihrem eigenen Spannungsfeld zwischen Berufs- und Künstlerbiographie – suchen diese Topoi regelmäßig auf. Und seit Ausprägung der Musikerbiographik ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, dann vor allem auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten sich auf ebendieser Grundlage vornehmlich zwei Lebenslaufmodelle etabliert: das Modell der Karriere und das Modell des Heroischen.16 Anders gesagt: Das Leben von Komponisten wurde entweder als Berufskarriere dargestellt – wobei das Vorbild des Entwicklungsromans prägend war – oder als Werdegang eines Heroen bzw. eines Genies, bei dem die „per aspera ad astra“Dynamik vorherrschend war. Beide Modelle aber waren im Sinne des geschlechterpolarisierenden 19. Jahrhunderts exklusiv männlich: Gegen ein Lebenslaufmodell der Berufskarriere stand die Überzeugung, dass Frauen die Handlungsräume des Öffentlichen weitestgehend verschlossen sein sollten, so dass keine professionelle 15 Dass diese Topoi auch Grundlage für weitere Ausschlussprozesse darstellen (etwa nationale Zugehörigkeit/Hautfarbe, sexuelle oder politische Orientierung und andere mehr) sei nur am Rande erwähnt, ebenso der Hinweis, dass diese Topoi letztlich auch Grundlage für kanonisierende Selektionsmechanismen darstellen. Marcia Citron spricht hierbei von „empowered groups“, die „can be defined by several parameters, such as class, race, gender, sexuality, age, occupation, nationality, and political orientation.“ (Citron 1993, 20). 16 Dass damit auch für Komponisten nur ein äußerst schmales Repertoire an biographischen Modellen vorlag und zahlreiche Komponistenbiographien deutlich zugeschnitten werden mussten, um in diese Modelle hineingepresst zu werden, ist ein wichtiger Befund gendersensibler Biographieforschung.
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Melanie Unseld Musikausübung möglich war. Damit schied das Modell der Berufskarriere aus. Ausnahmen waren hier zuweilen Frauen, die als Instrumentalistinnen oder Sängerinnen professionell tätig waren und deren Leben nach dem (männlichen) Lebenslaufmodell eines professionellen Musikers dargestellt werden konnte. Eine Frau wie Alma Mahler hingegen, die komponierte, dabei aber auf eine professionelle Karriere als Musikerin/Komponistin verzichtete, ging mit dem Lebenslaufmodell einer (erfolgreichen) Interpretin nicht konform. Gerade ihr Agieren in nicht als Profession ausgewiesenen Bereichen der Musikkultur verhinderte die Aufnahme in dieses biographische Modell. Mit der Etablierung des Geniegedankens als ausschließlich männlichem Terrain für Kreativität und Schöpfertum wiederum war auch hier die Geschlechtergrenze quasi unüberwindlich, erkennbar etwa an der problematischen Suche nach künstlerischer Identität von sich professionell verstehenden Komponistinnen wie Louise Adolpha Le Beau, Lili Boulanger oder Ethel Smyth. Beschriebenes Leben, gedacht als Vorbild oder als abschreckendes Beispiel, war ein Medium der Verständigung über das gesellschaftliche Selbstverständnis. Vor allem aber diente die Biographie auch der Verankerung bestimmter Persönlichkeiten im kulturellen Gedächtnis. Die Frage, welche biographischen Lebenslaufmodelle für Frauen vorgesehen waren, berührt daher auch die Frage nach der Funktion, die Frauen innerhalb der Gesellschaft zugewiesen wurde. Hierbei stand zuvorderst die Mutter, für die allerdings ein biographierbares Lebenslaufmodell nur schwer zu finden war, da die Mutter zwar für das genealogische Gedächtnis relevant war, nicht aber für das kulturelle.17 Anders gesagt: die Mutter war in ihrer Funktion, nicht aber mit ihrem individuellen Leben relevant. Dieses zyklisch-genealogische Modell wird exemplarisch zum Thema in Robert Schumanns Liederzyklus Frauenliebe und Leben op. 42, der im Juli 1840, nur wenige Monate vor seiner Hochzeit mit Clara Wieck entstand.18 Der Zyklus basiert auf einer Gedichtsammlung von Adelbert von Chamisso, der in neun Gedichten die Lebensstationen einer Frau – von der ersten Liebe bis zum Witwenstand – beschreibt. Forciert stereotyp werden diese Stationen zwar aus der Sicht der Frau aber in ausschließlicher Orientierung auf den Mann dargestellt: die aufkeimende Liebe zu ihm, das Erhörtwerden durch ihn, Verlobung und Hochzeit, Schwangerschaft, Muttersein und die damit sich verändernde Beziehung zum geliebten Mann, schließlich der Tod des Ehemanns. Sicherlich: Hier wird künstlerisch verarbeitet, was gesellschaftlich idealisiert, realiter wohl aber höchst selten in dieser Prononciertheit erlebt wurde. 17 Vgl. dazu Assmann 2006. 18 Vgl. dazu Borchard 2000, 107–109.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? Gleichwohl wird der Idealtypus eines Lebenslaufmodells für (bürgerliche) Frauen aufgerufen: die Frau in ausschließlichem Bezug zu einem Mann, die Lebensstationen der Jungfräulichkeit, der Brautund Mutterschaft sowie des Witwendaseins durchlaufend.19 Diese Modellfunktion im Blick behaltend scheint interessant, wie Schumann die Gedichte Chamissos als Zyklus konzipiert hat. Er eliminiert das 9. Gedicht der Vorlage und knüpft stattdessen musikalisch an den Beginn wieder an: Indem in einem umfangreichen Klaviernachspiel auf das 1. Lied des Zyklus rekurriert wird, scheint das Zwiegespräch mit der Enkeltochter, das im 9. Gedicht von Chamisso das Thema der Generationen aufscheinen ließ, in einen Kreislauf umgeformt zu werden. Der musikalische Hinweis darauf ist deutlich: Mit dem Ende eines Frauenlebens schließt sich ein Kreis, die nachfolgenden Generationen wiederum treten in diesen (als immerwährend imaginierten) Kreislauf ein.20 Das ausgedehnte Klaviernachspiel des letzten Liedes ist Ausdruck für das genealogische Gedächtnis.
1. Seit ich ihn gesehen [Nachspiel] 2. Er, der Herrlichste von allen
8. Nun hast du mir den ersten Schmerz getan
3. Ich kann's nicht fassen 7. An meinem Herzen ... 4. Du Ring an meinem Finger 6. Süßer Freund ... 5. Helft mir, ihr Schwestern
Abb.: Robert Schumann, Frauenliebe und Leben op. 42. Zyklischer Aufbau der Lieder Nr. 1–8 Dieses idealtypische Modell nicht nur als Artefakt, sondern auch mit Blick auf reale Lebensläufe zu betrachten, scheint vor dem Hintergrund der Entstehungszeit durchaus berechtigt: Schumann komponierte diesen Zyklus zu einem Zeitpunkt, an dem zwischen ihm und Clara Wieck sehr konkret über mögliche Lebenswegmodelle nachgedacht wurde, vor allem über die Frage, ob die pianistische
19 Vgl. dazu auch Walz 1996, 101. 20 Die Interpretation als „Ausdruck des Rückzugs in die Erinnerung“ (Walz 1996, 102) scheint mir an diesem Punkt zu schwach.
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Melanie Unseld Karriere Clara Wiecks nach einer Heirat weitergeführt werden könne bzw. wie ein Leben als Künstlerpaar zu realisieren sei. Auch Gustav Mahler entwarf kurz vor der Heirat ein Lebenslaufmodell für seine zukünftige Frau. Dabei sprach er sich in dem langen Brief vom 19. Dezember 1901 explizit für ein zyklisches und gegen ein künstlerisch-ambitioniertes Karrierewegmodell für seine zukünftige Ehefrau aus: „Wie stellst Du Dir so ein componierendes Ehepaar vor? Hast Du eine Ahnung wie lächerlich und später herabziehend vor uns selbst, so ein eigenthümliches Rivalitätsverhältnis werden muß? […] daß Du so werden mußt, wie ich es brauche, wenn wir glücklich werden sollen, mein Eheweib und nicht mein College – das ist sicher!“21 Neben dem kreisförmig-zyklisch gedachten Lebenswegmodell waren in gewissem Umfang weitere Modelle für die biographische Darstellung weiblicher Lebenswege denkbar. Da in ihnen aber weibliche Lebenswege jenseits der gesellschaftlichen Norm abzubilden waren, unterstreichen diese Modelle den Außenseiterstatus der Frau. Dieser wiederum ist deutlich seltener positiv konnotiert wie etwa der Außenseiterstatus des Genies. Ein knappes Beispiel: „An Macht eine Königin!/Ein Engel an dem Leib!/Ein Mann an Klugem Sinn!/An Unbestand ein Weib!“ Mit dieser subscriptio ist das Titelkupfer einer Biographie von Christina von Schweden versehen.22 Die Antiklimax, die in den vier Versen zum Vorschein kommt und im Begriff „Weib“ kulminiert, charakterisierte Joachim Grage treffend als „Entblößung“: „Ausgerechnet das biologische Geschlecht der Königin wird mit der einzigen negativen Eigenschaft in Verbindung gebracht, und gerade weil es sich um eine Antiklimax handelt, wirkt das letzte Wort […] besonders geringschätzig“.23 Die Ausnahmestellung der Herrscherin, von der die erste Zeile ausgeht, zerrinnt im Allgemeinen ihres Frauseins in der letzten Zeile, noch dazu versehen mit einer Schmähung. So schematisch die skizzierten Lebenslaufmodelle sind, so deutlich wird, dass gerade für künstlerisch aktive Frauen keine attraktiven Modelle vorhanden waren. Vor allem auch das biographische Schreiben über die junge, noch unverheiratete Alma Schindler, jene, deren künstlerische Ambitionen noch unwidersprochen und ohne größere Restriktionen sich entfalten konnten, findet in den Lebenslaufmodellen für Frauen keinen stimmigen, passgenauen Ort. Die allenthalben beobachtete Etikettierung als Muse greift auf ein überindividuelles Modell zurück, das als Pendant zum GenieModell funktioniert, als solches aber keinen Raum für die Darstel21 Ein Glück ohne Ruh’ 1997, 108. 22 Vgl. dazu Grage 2005. 23 Ebd., 35.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? lung eigenkreativen Handelns zulässt. Darin ist auch der Grund zu sehen, warum Biographien über Alma Mahler, die das Modell Muse wählen, die kompositorischen Arbeiten Alma Schindlers/Mahlers entweder überhaupt nicht oder nur sehr marginal erwähnen. Dazu kommt, dass biographisches Schreiben nach einem „Einheitsprinzip“ drängt, sich „auf den allgemeinen und verständlichen Wunsch“ stützend, „das Leben eines Menschen als zielgerichtet und vollendet zu begreifen. Das gilt für die Selbst- wie für die Fremddarstellung […]: Das Leben als Bildungsroman, das Leben als Kunstwerk“.24 Der Drang nach prägnanter Gestaltung (auto-)biographischer Formung des Lebens geht zuweilen so weit, dass Daten verändert werden, um die Chronologie des Lebenslaufs einem ordnenden Rhythmus oder gar künstlerischer Formung anzupassen: „Mit der behaupteten inneren Stringenz eines Lebensweges korrespondiert so die äußere Form“.25 Georg Philipp Telemann modifizierte entsprechend die Datierung seines Wechsels von Leipzig nach Sorau (1704 statt 1705), um einen vierjährigen Turnus zu erreichen,26 und Franz Liszt meinte sogar: „Mein geringfügiger Lebenswandel im Noten Spielen und schreiben zertheilt sich unclassisch, wie eine classische Tragödie, in 5 Acte […]“27 – wobei er für diese „Dramatisierung“ seines Lebens in Kauf nahm, dass einzelne Ereignisse umdatiert werden mussten. Diesen Glättungen und Glättungsversuchen unterliegt selbstverständlich auch biographisches Schreiben über Frauen. Erschwerend aber kommt hier hinzu, dass das biographische Material häufig wesentlich brüchiger ist. So erweist sich etwa das Grundmuster der Chronologie und der inneren Stringenz bei Frauenlebensläufen als problematisch: Gegen eine sukzessive, nach Einheit drängende Darstellung weiblicher Lebenswege spricht aus biographischer Sicht, dass systematischer Fortschritt bis in die Moderne weder für die Bildung und Ausbildung junger Frauen, noch für deren beruflichen und/oder künstlerischen Fortschritt überhaupt intendiert war. Chronologie in weiblichen Lebensläufen entstand allenfalls durch die Abfolge von Geburten, was Frauen im genealogischen Gedächtnis nicht aber im kulturellen bewahrte. Bettina Dausien weist dabei auf drei zentrale Merkmale von weiblichen Lebenswegmodellen hin, die dem Chronologiemodell, wie es vor allem für die Modelle männlicher Lebensläufe bestimmend ist, entgegenstehen: (1) die „doppelte Vergesellschaftung“, (2) Diskontinuitäten und Brüche sowie (3) eine stärkere Ausprägung von Vernetzungen, die auch dem 24 25 26 27
Siegele 2004, 58. Vgl. dazu auch Dausien 1994. Schaser 2001, 138. Vgl. Siegele 2004, 55. Zit. nach Heinemann 1997, 81.
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Melanie Unseld männlich konnotierten Genie- und Individualitätsbegriff zuwiderläuft.28 Was Christa Bürger über Caroline Schlegel schrieb, könnte daher – individuell modifiziert – für zahlreiche Künstlerinnen, auch Musikerinnen gelten: „An Caroline [Schlegel] läuft das [biographische] Erzählschema sozusagen vorbei. Wie immer man über sie schreibt, man stößt auf einen unaufhebbaren Widerspruch. Chronologie, Grund jeder Biographie, suggeriert Entwicklung. Hier ist aber keine.“29 Statt Chronologie erkennt Bürger in den Selbstbildern der von ihr in den Blick genommenen Schriftstellerinnen das Moment des Rhapsodischen, das allerdings verstörend gewirkt habe, da die Akteurinnen auf diese Weise „ihren Ort jenseits der Anerkennungslogik“30 gefunden haben. In den Biographien über Alma Mahler scheint das Problem der fehlenden Chronologie auf den ersten Blick nicht zu existieren. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass Chronologie hier anhand der Ehemänner und Liebhaber konstruiert wird – ähnlich konsequent beständig ausgerichtet auf das Verhältnis zum Mann wie in Schumanns Liederzyklus –, nicht an einer sukzessiven Darstellung ihrer Ausbildung oder ihrer kompositorischen Entwicklung. Diese übergreifenden Überlegungen zu Lebenswegmodellen scheinen notwendig zu sein, um sich mit der Alma MahlerBiographik auseinanderzusetzen. Denn einerseits war Alma Mahler – etwa als Biographin ihres ersten Ehemannes sowie als autobiographisch Schreibende – selbst auf der Suche nach möglichen Modellen. Andererseits steht außer Frage, dass die meisten biographischen Texte über sie mit starken Modellen arbeiten. Vor allem das Modell der „Muse“ – einerseits gedacht als weibliches Pendant zum männlichen Genie, andererseits als unter bürgerlichen Prämissen wenig wertgeschätzte, da polyandrisch veranlagte Frau und Außenseiterin – ist in ihrem Zusammenhang dominierend. Einige Beobachtungen dazu: Alma Mahler wird in Biographien häufig abreviativ mit dem Vornamen genannt, diese Namensverkürzung ist in mehrerlei Hinsicht bezeichnend, denn der Gebrauch des Namens steht für Identität. Die Identitätsbildung allein über den Vornamen aber, dies hat Beatrix Borchard klarsichtig formuliert, kommt einer Degradierung gleich, die im Zusammenhang mit biographischem Schreiben ausschließlich Frauen betrifft.31 Dieser Querstand wird umso deutlicher, wenn es sich um Paare handelt: um „Clara und Schumann“, um „Constanze und Mozart“, um „Alma und Mahler“. Die vorgebliche Vertrautheit, den die Verwendung des Vornamens 28 29 30 31
Dausien 1994, 137f. Vgl. dazu auch Schaser 2001. Bürger 1990, 171. Ebd., 174. Borchard 1997.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? impliziert, ist Spiegel einer Schlüssellochperspektive, die wesentlich unerschrockener an die Biographisierung von Frauenleben angelegt wird, als an die von Männerleben: „Während Mahler seine Proben leitete, traf sich Alma mit ihrem Geliebten im Regina Palast Hotel. Sie nutzten Mahlers Proben weidlich aus. Das Konzert war ein triumphaler Erfolg. Alma erlebte ihn an der Seite ihres Mannes. Auch Gropius war unbemerkt in den Zuschauerraum geschlüpft“.32 Das Argument der besseren Lesbarkeit ist dabei ein vorgeschobenes, lässt sich in der Nennung beim Vornamen doch unschwer eine Perspektive erkennen, die der biographierten Person unangemessen nahe tritt – bis hin zum Übertritt von Deskription zu Fiktion. Dies zeigt auch die Fortsetzung des eben zitierten Beispiels: Sie traf sich mit Gropius im Orient-Expreß. Er kam aus Berlin, sie aus Wien. Auf dem Münchner Bahnhof hielt sie ungeduldig nach ihrem Geliebten Ausschau. Nervös zerknüllte sie ein kleines Taschentuch in ihrem Muff. Ihr Gesicht hatte sie unter einem Hutschleier verborgen. Und wenn er nicht käme? Oder Mahler plötzlich auftauchte? […]
Die zitierte Biographie aufgrund der Konfabulationen als unwissenschaftlich zu kritisieren, wäre möglich, der Mahler-Forscher HenryLouis de la Grange aber plädiert für eine andere Interpretation: „Françoise Girouds Buch ist das erste Werk, das dieser Frau gerecht wird, das erste, das ausgewogen, präzise, unvoreingenommen und frei von allem Fieber, aller Phantasie ist – der geradlinige Bericht über ein außergewöhnliches Leben“.33 So verblüffend diese Einschätzung, so konsequent ist sie im Sinne Virginia Woolfs: Girouds Buch Alma Mahler oder Die Kunst, geliebt zu werden ist eine Biographie, die dem Bild Alma Mahlers gerecht wird, der Imagination, die man sich von ihr macht(e). Sie bedient sich des Modells Muse und überschreibt jegliche Ambivalenzen in der Person Alma Mahlers mit dem überindividuellen Erklärungsmuster. Ambivalenz wird hier nicht dargestellt, sondern im Modell der Muse gebändigt. Dass diese Biographie damit die Erwartungshaltung an ein nonkonformes Leben bedient, lässt sie in den Augen de la Granges zu einer „geradlinigen“ werden: nicht aufgrund ihrer tatsächlichen Präzision, sondern aufgrund der Präzision, mit der die Schilderung auf das Modell Muse zugeschnitten ist. Freilich: Keine Biographie, gleich welcher methodischen Grundkonzeption, kann der Umdeutung des individuellen in einen exemplarischen Fall, der Anlehnung an Modelle und überindividuelle Prägungen gänzlich entkommen. „Typisierungen der Charaktere, 32 Giroud 1989, 131. 33 Ebd. Umschlagrückseite.
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Melanie Unseld der biographischen Konstellationen, ja auch der historischen Situationen gehören zum üblichen biographischen Rüstzeug“,34 so Christian von Zimmermann. Umso wichtiger zu erkennen, „auf welche Bedürfnisse die Biographie reagiert, welche Probleme sie aufgreift oder verdeckt. Es ist wichtig zu wissen, in welcher literarischen Tradition sie steht; aber ebenso wichtig ist, welche sozialen, ideologischen oder didaktischen Wirkungen angestrebt bzw. erreicht werden“.35 Diese Perspektive, die den Adressatenkreis berücksichtigt, fragt zugleich nach der Perspektive des Biographen/der Biographin, um die Verortung der Biographie in ihren Entstehungskontext als wesentlichen Bestandteil zu erkennen. Schließlich seien, so Doris Lessing, die biographierten Künstler „wie Haken […], an denen die Leute ihre Phantasien aufhängen“.36 Diese Metaebene wahrnehmbar zu machen, ist Intention des Polydramas Alma – A Show biz ans Ende von Joshua Sobol und Paulus Manker. Der Theaterabend – ausgerichtet in weitläufigen Räumlichkeiten, an Orten, an denen Alma Mahler sich im Laufe ihres Lebens tatsächlich aufgehalten hat – beginnt mit der Überreichung einer „Hausordnung“ an alle „Gäste“. Darin ist u. a. zu lesen: 1.
„ALMA“ beschreibt in verschiedenen, parallel ablaufenden Handlungssträngen einen Zeitraum von 1901 bis jetzt. Die Schauplätze sind über das ganze Haus verstreut. Die Figuren der Handlung führen Sie durch die Zeiten und Räume. 2. Sie sind eine KAMERA. Ihr Auge schreibt das Theaterstück. 3. Konzentrieren Sie sich auf ein Objekt Ihrer Wahl und folgen Sie ihm wie eine KAMERA. Wenn Sie nur einem Objekt folgen, verwandelt es sich in Ihren ganz persönlichen Hauptdarsteller. […] Sie können jedoch die Objekte während der Aufführung auch wechseln und sich dadurch ein Handlungs-Mosaik zusammenstellen. […] 5. Als KAMERA bestimmen Sie allein die Entfernung zum Objekt Ihrer Wahl wie auch den Bildausschnitt. Sie können zwischen Großaufnahme und Totale jede beliebige Distanz wählen und Ihren Standort verändern, indem Sie während der Aufnahme vor- und zurückfahren oder zoomen. […] 10. Wenn Sie mit einer zweiten KAMERA kommen […], sollten Sie die verschiedenen Ereignisse getrennt festhalten. Am Ende des Abends können Sie dann wie am Schneidetisch Ihr Material mit dem der anderen austauschen und zu einem kompletten Ganzen montieren.37
34 35 36 37
Zimmermann 2005, 8. Scheuer 1982, 11. Zit. nach Runge 2002, 113. Aus der „Hausordnung“ von Alma – A Show Biz ans Ende, besuchte Vorstellung: 12. August 2007, Kurhaus Semmering.
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Alma Mahler – Biographische Lösungen eines unlösbaren Falles? Vier Schauspielerinnen treten in der Rolle der „Alma“ auf, drei identisch kostümierte junge „Almas“, eine alte. Jede dieser „Alma“Figuren spielt eigene Szenen, parallel laufen mithin vier Handlungsebenen ab. Die Gäste entscheiden sich, welche Szene sie sehen wollen, bewegen sich zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern frei und ohne jegliche Leitung durch das Haus. Keiner der Gäste kann alle Szenen erleben, jede/r erlebt eine eigene Zusammensetzung, je nachdem, welchem „Handlungsstrang“ man folgt. Mit der in der „Hausordnung“ beschriebenen „Kamera“Funktion kommt somit dem Publikum die aktive Rolle zu, die Bausteine der Handlung zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dabei erlebt jede/r Einzelne den Abend und damit die biographische Darstellung der Person „Alma“ gänzlich anders. Entsprechend definiert Sobol das Polydrama als „drama which, first of all, doesn‘t attribute much importance to a storyline, and disregards the storyline as an important fact. A Polydrama supposes that truth resides in a comprehensive structure of the entire story. And it does not matter in what way you are progressing or surfing through the story“.38 Die biographische „Wahrheit“ – die nach Freud ohnehin „nicht zu haben“ ist – spiegelt sich nach Sobol nicht in einer geschlossenen (Nach-)Erzählung eines Lebenslaufs wider, sondern im individuellen Verstehen und Kombinieren einzelner biographischer und autobiographischer Bestandteile. Ähnliche Ideen von Ich-Aufspaltungen sind freilich aus der Romantik bekannt. Dort waren es Spiegel-, alter ego-Figuren oder auch ein mehrköpfiges Figuren-Arsenal wie in Schumanns „Davidsbund“. Die Denkrichtung ist in diesen Fällen zentrifugal: Das Ich spaltet sich auf in mehrere Figuren. Anders in Sobols Polydrama: hier ist die Richtung zentripetal, vier Schauspielerinnen für die Rolle der Alma lassen die Figur für jedes Individuum im Publikum anders erscheinen. Es wäre ein Leichtes, das dramaturgische Konzept des Polydramas als Fiktionalisierung abzutun. Dagegen aber spricht das hohe Maß an Quellentreue und damit Authentizität, das Sobol in den Einzelszenen einsetzt: Primärquellen wie Briefe oder Tagebücher werden hier ebenso verwendet wie Interview-Sequenzen und anderes Quellenmaterial. Dagegen spricht auch, dass die Erinnerungsforschung (und in ihrer Folge die moderne Biographik) konstruktive Formen der Wirklichkeits- und Vergangenheitswahrnehmung annimmt, die dem Konzept des Polydrama erstaunlich nahe kommen. Sowohl die Erinnerung an Vergangenes als auch das Erfassen von Identität lässt sich demnach als umkreisendes, immer wieder nach38 Aus einem Interview mit Joshua Sobol, http://www.alma-mahler.com/text_ deutsch/sobol/sobol_interview01.html.
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Melanie Unseld fassendes, hochgradig vom individuellen Zugriff beeinflusstes Konstrukt begreifen. Nicht die in sich abgeschlossene Figur wird erkannt und als Identität begriffen, sondern – ähnlich wie bei der Erinnerungsleistung selbst – Bruchstücke und Bausteine immer wieder neu zu der Idee einer Figur kompiliert. Die Suche nach einer „authentischen“ Figur, nach der „wahren“ Alma Mahler, mündet entsprechend nicht in einer abgeschlossenen Identität, sondern im Bewusstsein, dass es eine „wahre“ Darstellung nie geben, die Aufspaltung in viele Darstellungsarten aber eine Annäherung an die Person sein kann. Ob damit die „Lösung“ eines „unlösbaren Falls“ gefunden ist, mag offen bleiben. Beeindruckend an dieser theatralen Biographie über Alma Mahler ist allemal, wie sie das Problembewusstsein gegenüber biographischer Darstellbarkeit, dem Einfluss biographischer Modelle und dem hohen Eigenanteil der Rezipienten am Zustandekommen biographischer Bilder zu schärfen versteht. Die künstlerische Freiheit im Umgang mit dem „Fall“ Alma Mahler gibt damit Anregungen, über Fragen von Identität und Polyperspektivität im Kontext der Biographik nachzudenken.
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Ethnizität und Biographie – Bemerkungen zu den Lebensentwürfen dreier afroamerikanischer Dichter: Langston Hughes, Nicolás Guillén, Aimé Césaire CHRISTOPHER F. LAFERL
One of the most promising of the young Negro poets said to me once, „I want to be a poet—not a Negro poet,“ meaning, I believe, „I want to write like a white poet“; meaning subconsciously, „I would like to be a white poet,“ meaning behind that, „I would like to be white.“ And I was sorry the young man said that, for no great poet has ever been afraid of being himself. And I doubted then that, with his desire to run away spiritually from his race, this boy would ever be a great poet. But this is the mountain standing in the way of any true Negro art in America—this urge within the race toward whiteness, the desire to pour racial individuality into the mold of American standardization, and to be as little Negro and as much American as possible. Langston Hughes, „The Negro Artist and the Racial Mountain“ (1926)1
So wie für die Biographik von Frauen festgestellt wurde, dass in ihnen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – wenn nicht bis in die Gegenwart – das Besondere, das geschlechtlich Markierte, das Weibliche unterstrichen werde, während in Biographien von Männern diese zwar als Männer, aber immer auch als Vertreter der universalen Menschheit dargestellt würden,2 so gilt dieser Befund wohl auch für die Lebensgeschichten von Angehörigen verschiedener Minderheiten. Auch ihre Lebensläufe werden vielfach in direkte Verbindung 1 2
Hughes 1994, 91. „Die Universalität bildet somit die Kehrseite der Bestimmung des weiblichen Geschlechts als anderes, sekundäres.“ – „Verkürzt könnte man sagen: Werden männliche Gestalten männlich markiert, zugleich aber als ‚Menschen‘ präsentiert, so dominiert in geschilderten Leben weiblicher Figuren das ‚Weibliche‘ als Geschlechtliches“. Reulecke 1993, 117 und 129.
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Ethnizität und Biographie mit ihrem Status als Ausnahmen in einer universal weißen, christlichen, heteronormativen und nicht von körperlicher Behinderung gezeichneten Umwelt gebracht. Handelt es sich um schreibende Mitglieder einer Minderheit, dann wird – wiederum nicht unähnlich der weiblichen Biographik3 – zusätzlich angenommen, dass in ihrer écriture ein besonderer Konnex zu ihrem Leben gegeben sei. Diese Wahrnehmung übersteigt die nach wie vor weit verbreitete biographistische Deutung von literarischen Texten noch bei Weitem. Es scheint fast, als ob die folgenden beiden Maximen die Biographien von nicht-weißen, nicht-christlichen, nicht-heterosexuellen oder behinderten schreibenden Männern und Frauen in Europa und in den Amerikas bestimmen würden:4 Erstens, in den Biographien Angehöriger von Minderheiten wird ihr Minderheitenstatus hervorgehoben, und zweitens wird in ihrem Werk dieser Minderheitenstatus aus- und festgemacht. Der Annahme, dass diese Konstruktionsregeln die Biographik von Angehörigen minoritärer Gruppen bestimmen, muss jedoch der soziale Kontext, in dem diese Minderheiten leben, wie auch die Sicht der Minderheiten selbst gegenübergestellt werden. Die Minderheitenbiographik schafft nämlich nicht nur Markierungsmuster, sondern folgt in vieler Hinsicht der sozialen Realität einer besonderen Hervorhebung des Minderheitenstatus. Viele Biographen mögen in ihren Darstellungen unreflektiert herrschende Inklusions- und Exklusionsmechanismen wiedergeben, das bedeutet aber nicht, dass diese nicht auch in der Gesellschaft genauso oder zumindest ähnlich funktionieren würden. Eine gewisse Anbindung an reale soziale Strukturen ist auch für die Minderheitenbiographik anzunehmen. Des Weiteren sind es nicht nur Angehörige jener Gruppen, denen der hegemoniale Diskurs in Bezug auf Gender, Ethnizität, Religion oder sexuelle Orientierung nützt, die Biographien über Minderheiten schreiben, sondern besonders oft gehören die Biogra-
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Runge 2002, 114: „Alle diese Probleme verschärfen sich noch, wenn es um schreibende Frauen geht: Die Neigung, literarische Werke autobiographisch zu lesen, findet sich nämlich in besonderem Maße im Umgang mit von Frauen verfassten Texten; sie gelten traditionell als lebensnah, als von ‚weiblicher‘ Erfahrung geprägt und deshalb für das Aufspüren privater und privatester Informationen als besonders geeignet“. Die Frage der Verknüpfung von verschiedenen von der Norm bzw. der Mehrheit abweichenden Identitätskategorien in Bezug auf die Biographik wäre natürlich ebenfalls eine höchst interessante und wohl auch lohnende Forschungsaufgabe, kann hier aber nicht geleistet werden. Eine Verbindung von Black Studies, Gender Studies, Queer Studies und Disability Studies würde in diesem Zusammenhang sicher einige neue Erkenntnisse zu Trage bringen.
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Christopher F. Laferl phInnen von Angehörigen einer Minderheit genau dieser Minderheit selbst an, was aber meist gerade nicht dazu führt, dass diese BiographInnen auf die Hervorhebung des Minderheitenstatus bei den Personen ihres Interesses verzichten würden. Die Betonung des Minderheitenstatus schließlich wird von den biographierten Personen oftmals selbst mit so großer Deutlichkeit hervorgehoben, dass es für jeden Biographen dieser Personen geradezu unmöglich wäre, diesem nicht einen ebenso prominenten Platz in der Lebensbeschreibung zuzuweisen. Es ist ein Ziel dieses Aufsatzes zu zeigen, wie die Zugehörigkeit zu einem ethnisch gefassten Kollektiv die Lebensläufe und die Lebensbeschreibungen von Angehörigen minoritärer Gruppen präformiert und weniger Raum für Individuelles lässt, als dies bei Vertretern majoritärer Kollektive der Fall ist. Um auf einer abstrakteren Ebene deutlich zu machen, wie sehr die Zugehörigkeit zu einem minoritären Kollektiv die Biographik der Mitglieder dieser Minderheit bestimmt, wurden drei Autoren unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kontexte ausgewählt, an deren Biographien genau dieses Übergewicht des Kollektiven zu Lasten des Individuellen sichtbar gemacht werden kann. In den folgenden Ausführungen werden das komplexe Zusammenspiel von Ethnizität, Leben und literarischem Werk und die Präsentation dieses Zusammenspiels in Selbstaussagen wie in biographischen Darstellungen dieser drei Autoren untersucht. Zunächst soll auf die Frage der Ethnizität in den Lebensläufen der drei aus den USA, Kuba und Martinique stammenden Autoren – nämlich Langston Hughes’, Nicolás Guilléns und Aimés Césaires – eingegangen werden. Im Zentrum wird die Kindheit und Jugend der Autoren und die Erfahrung des Nicht-Weiß-Seins, der blackness (im Falle Hughes), der négritude (im Falle Césaires) und der mulatez (im Falle Guilléns) stehen. Darauf soll der Stellenwert, den die Identitätskategorie Ethnizität in ihren Texten einnimmt, ausgelotet werden. Da es sich bei den drei Personen, deren Lebensläufe und Lebensbeschreibungen hier untersucht werden sollen, um Schriftsteller handelt, wird speziell der Frage nachgegangen, welches Gewicht und welche Intensität das Thema blackness5 in ihren Werken hat und welchen Stellenwert Fragen der Form und der Sprache in ihnen haben. Da alle drei Autoren ihre Texte in ursprünglich aus Europa und nicht aus Afrika stammenden Sprachen verfasst haben, soll der ambivalenten und komplexen Frage des Verhältnisses von literarischer Sprache und
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Unter diesen Begriff sollen alle Formen des Nicht-Weiß-Seins in den USA und der Karibik subsumiert werden, insbesondere jene, die an eine ganze oder partielle biologisch-genealogische Abstammung aus dem subsaharischen Afrika gebunden ist.
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Ethnizität und Biographie Identität besonderes Augenmerk geschenkt werden.6 Dabei wird zu beobachten sein, dass alle drei in manchen Selbstaussagen hinter die Komplexität der eigenen kreativen écriture zurückfallen. In einem dritten Schritt werden schließlich Möglichkeiten der Perspektivierung der Identitätskategorie Ethnizität kurz erläutert.
Leben in rassistischen Kontexten Wenn uns, wie mittlerweile nicht nur die feministisch orientierte Literaturwissenschaft deutlich herauszuarbeiten wusste, die Literaturhistorie lange Zeit viele schreibende Frauen vorenthalten hat, deren Texte lesenswert sind und ästhetischen Gehalt besitzen, so geht diesem Befund die nicht minder bekannte Tatsache voraus, dass Frauen der Zugang zu Wort und Schrift in der Geschichte Europas und der Amerikas vielfach und weitgehend vorenthalten wurde. Wenn nun Frauen fast jede Art des Schreibens über Jahrhunderte hinweg erschwert wurde, so gilt das gleiche auch für Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus dem subsaharischen Afrika nach Südeuropa, die Karibik, den Süden der USA oder Brasilien verschleppt wurden – auch diesen Menschen war der Zugang zur Schrift lange Zeit verwehrt. Natürlich gab es schon vor der Abschaffung der Sklaverei schwarze Männer und Frauen, die lesen und schreiben konnten und sich der Schrift in verschiedensten Kontexten und für verschiedenste Ziele bedienten, die Literaturgeschichten der Länder des amerikanischen Kontinents wie der Karibik kennen aber im Wesentlichen erst seit dem beginnenden 20. Jahrhundert eine größere Anzahl von schwarzen Autoren und Autorinnen, die es verstanden, durch ihre Texte auf sich aufmerksam zu machen. Vor allem in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren, also in einer Zeit, in der sich das literarische Leben sowohl Europas als auch Anglo- und Lateinamerikas im Zeichen der Avantgarden nachhaltig ändern sollte, konnten sich schwarze Männer und zu einem geringeren Teil auch schwarze Frauen durch ihre Texte einen Namen machen. Diese neue Präsenz und Visibilität von schwarzen AutorInnen verdankt sich nicht nur der gestiegenen Anzahl von schreibenden Schwarzen, sondern auch dem Interesse der klassischen Avantgarden an der Kultur Afrikas und der afrikanischen Diaspora. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts war Afrika, das die ganze Frühe Neuzeit hindurch als undurchdringlich galt, auch wenn die
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Der etwas umfangreichere mittlere Abschnitt soll auch eine Vorstellung von der Literatur aller drei Autoren bieten, die ja im deutschen Sprachraum leider nur sehr wenig bekannt sind.
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Christopher F. Laferl Küste schon seit dem ausgehenden Mittelalter von portugiesischen Schiffen befahren worden war, nicht nur aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in das Bewusstsein Europas und der Amerikas getreten, sondern auch die Kultur des Kontinents begann eine immer größere Neugier hervorzurufen. Verschiedenste Avantgardeströmungen widmeten sich ihm ab den frühen 1920er Jahren explizit.7 Vor allem die Annahme, dass den Kulturen Afrikas, die meist gar nicht in ihrer Pluralität wahrgenommen wurden, eine im Vergleich zu einem vergeistigt, dekadent und blutleer gedachten Europa stärkere Verbindung zur Natur, zum Körper und zum Unbewussten inhärent wäre, beherrschten die Vorstellungen der Avantgarden, die ja den Körper wiedergewinnen, die Umwelt neu erfahren und einen Königsweg zur Welt des Unbewussten finden wollten. Gepaart wurde die Präsenz Afrikas und der afrikanischen Diaspora in der Kunst und Literatur der Avantgarden durch die neu entstehende Popularmusik, die entscheidend und nachhaltig durch die Nachfahren der afrikanischen Sklaven sowohl in Anglo- als auch in Lateinamerika geprägt wurde. Im Klima dieses neuen Interesses an afrikanischer und afro-amerikanischer Kunst und Kultur konnten sich auch schwarze AutorInnen Gehör verschaffen, die die Erfahrung der blackness in das Zentrum ihres Werkes stellten. Die drei Kanonautoren, für die das Zusammenspiel von Leben und Werk hier näher untersucht werden soll, stehen – fast möchte man sagen auf programmatische Weise – sowohl für eine schwarze Identitätsfindung durch eine neue, weitgehend avantgardistische Literatur, als auch für das gesteigerte Interesse in Europa und den Amerikas an genau dieser Literatur: Langston Hughes gilt wie kein anderer afro-amerikanischer Autor als der zentrale Dichter der Harlem Renaissance,8 auch wenn sein Schaffen weit über die 1920er und 1930er Jahre hinausreicht, Nicolás Guillén verhalf der kubanischen poesía negrista zum entscheidenden Durchbruch9 und Aimé Césaire gilt zusammen mit Léopold Senghor als der Begründer der négritude,10 die in der französischsprachigen Karibik wie in vielen ehemals unter französischer Kolonialherrschaft befindlichen Ländern Afrikas für lange Zeit das zentrale identitäre Konzept darstellte. Um festzustellen, dass diese drei Autoren für „schwarze Literatur“ stehen, dazu bedarf es keiner aufwendigen Recherche. So kann man unter dem Lemma „Hughes, Langston“ in der Ausgabe der En7
Einen guten Überblick über das Interesse der Avantgarde an der Kultur Afrikas und der afrikanischen Diaspora bietet Schwartz 2002, 659–661. 8 Vgl. Huggins 2007, 5, 10, 65–69 oder Watson 1995, 72. 9 Vgl. Ruiz del Vizo 1975, 54 oder Ingenschay 2007, 297–299. 10 Vgl. Davis 2008, 1–3 oder Rosello 2005, 65.
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Ethnizität und Biographie cyclopedia Britannica des Jahres 2005 lesen: „black poet and writer who became, through numerous translations, one of the foremost interpreters to the world of the black experience in the United States“. Für Nicolás Guillén finden wir in demselben Lexikon die Definition „Cuban poet of social protest and a leader of the Afro-Cuban movement“, und unter „Césaire, Aimé“ steht gleich zu Beginn „French-speaking African [sic!] poet and playwright […]“. Auch viele andere Lexika, u. a. die mittlerweile dominierende Wikipedia, wie auch zahlreiche Literaturgeschichten beziehen sich in der Regel gleich zu Beginn des entsprechenden Eintrags bzw. Abschnitts auf die Kategorie Ethnizität. Dieser Ethnozentrismus hat seinen Grund und kann nicht nur als Gestus der Markierung alles nicht Europäisch-Weißen gesehen werden, denn wenn wir uns die Lebenszeit der drei Autoren ansehen, so sticht sofort der fast ubiquitäre Rassismus ins Auge, der sich in vielfältiger Diskriminierung in den Lebensläufen von Nachfahren schwarzer Sklaven, und damit auch von Langston Hughes, Nicolás Guillén und Aimé Césaire, manifestierte. Hierin stimmen nicht nur alle Biographien, sondern auch allgemeine historische Darstellungen zur ethnischen und sozialen Zusammensetzung der betreffenden Heimatländer und v. a. auch Aussagen der Autoren selbst überein. Die ethno-demographische Zusammensetzung ihrer Herkunftsländer sah allerdings ganz unterschiedlich aus. So waren in den Vereinigten Staaten während der Lebenszeit Hughes’ gleichbleibend rund 11% der Bevölkerung Afro-Amerikaner, die in den Volkszählungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als negroes bezeichnet wurden,11 während in Kuba am Beginn des Jahrhunderts rund 30% Afro-Kubaner (pardos) gezählt wurden. Diese Zahl sollte aber v. a. wegen der starken europäischen Einwanderung bis in die 1950er Jahre auf 13% zurückgehen.12 In Martinique bot und bietet sich schließlich ein ganz anderes Bild, hatten doch – und haben heute noch – 95% der Gesamtbevölkerung zum Großteil ausschließlich afrikanische Vorfahren.13 Auf den ersten Blick würde man meinen, dass diese unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in den drei Ländern einen je eigenen ethno-demographischen Kontext schaffen würden und dass die Erfahrung von blackness in Martinique doch anders gewesen sein müsse als in den USA oder auf Kuba. Als weitere Unterschiede kommen hinzu, dass in den USA die so genannte 11 Volkszählung 1900 (http://www2.census.gov/prod2/decennial/documents /03322287no8_TOC.pdf) und Volkszählung 1940 (http://www2.census. gov/prod2/decennial/documents/33973538v2p1ch2.pdf). 12 Cuba [1922?], 297 und Cuba 1957, 71. 13 Cardin 1990, 37.
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Christopher F. Laferl one-drop-rule, die jeden, der auch nur einen schwarzen Vorfahren hatte, zu einem Schwarzen machte, die Definition von ethnischer Zugehörigkeit bestimmte und bis zum Civil Rights Movement der 1950er Jahre in etlichen Bundesstaaten auch rechtliche Unterschiede zwischen der weißen und schwarzen Bevölkerung bestanden, während seit 1876 in Martinique und seit 1901 in Kuba alle männlichen Bürger das Wahlrecht hatten und vor dem Gesetz gleich waren.14 Sozial waren allerdings auch in Kuba die Nachfahren der schwarzen Sklaven, die ja endgültig erst 1886 befreit worden waren,15 schlechter als ihre weißen Mitbürger gestellt und vielfacher Diskriminierung ausgesetzt.16 In Martinique stellten die Nachfahren der Sklaven zwar fast die gesamte Bevölkerung der Insel, die ökonomische Macht lag aber auch im 20. Jahrhundert noch lange bei der weißen Oberschicht, den so genannten békés. Im größeren administrativ-politischen Kontext Frankreichs stellten die schwarzen EinwohnerInnen Martiniques, obwohl sie auf der Insel selbst die absolute Mehrheit bildeten, die zu markierende Ausnahme dar. Hinzukommt, dass sie auch kaum über reale politische Macht verfügten, v. a. nicht vor der Erhebung der Insel in den Status eines départements im Jahr 1946.17 Das Erbe der Sklaverei, die Ausbeutung Afrikas wie der weiße Überlegenheitsgestus, die alle im Gedächtnis der weißen wie der schwarzen Bevölkerung der Amerikas, Europas und Afrikas tief verankert waren und für lange Zeit eine schwer zu ändernde Grundeinstellung darstellten, ebneten die Unterschiede, die durch die demographischen Mehrheitsverhältnisse wie die unterschiedlichen Definitionen von ethnischer Zugehörigkeit vorhanden waren, zu einem großen Teil wieder ein. Langston Hughes (1902–1967), Nicolás Guillén (1902–1989) und Aimé Césaire (1913–2008) wurden in eine Welt hineingeboren, die
14 Adelaide-Merlande 1994, 251; Augier 2002, 10; Helg 1990, 53. 15 McFarlane 1985, 142. 16 In einem Begleittext zu den Ergebnissen der Volkszählung von 1919 kommt der weiße Überlegenheitsgestus deutlich zum Ausdruck (Cuba [1922?], 298): „Su disminución [del elemento de color], en relación con el elemento blanco durante los últimos 50 años, es indudablemente una prueba más del hecho de que la raza de color no puede competir con la raza blanca, según se ha demostrado prácticamente en mayor escala en los Estados Unidos de América“. Übersetzung: „Die Abnahme [des schwarzen Elements] im Vergleich mit dem weißen Element während der letzten 50 Jahre ist ohne Zweifel ein weiterer Beweis für die Tatsache, dass die farbige Rasse mit der weißen Rasse nicht mithalten kann, wie sich auch in größerem Maßstab in den USA gezeigt hat“. Anmerkung: Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser dieses Beitrags. 17 Parry/Sherlock/Maingot 1987, 250.
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Ethnizität und Biographie für sie als Nachfahren afrikanischer Sklaven kein Entkommen vor rassistischen Vorurteilen und Diskriminierungsdispositiven zuließ, weder in den USA, noch in Kuba und auch nicht auf Martinique. Auf der französischen Karibikinsel muss die Erfahrung der négritude wegen der bereits beschriebenen ethno-demographischen Verhältnisse dennoch etwas anders gewesen sein als in den beiden unabhängigen Staaten USA und Kuba, deren Bevölkerung mehrheitlich nicht schwarz war. Langston Hughes, der relativ helle Eltern hatte und der sich selbst als „brown“ und „unfortunately […] not black“ beschrieb,18 machte die Erfahrung, einer ethnischen Minderheit anzugehören, die von der Mehrheitsbevölkerung gering geschätzt wurde, schon sehr früh. In längeren wie kürzeren Darstellungen seines Lebens wie auch in seiner Autobiographie wird immer wieder hervorgehoben,19 dass die Haltung seines von der Mutter getrennt lebenden Vaters, der die Rassensegregation in den USA verdammte, zugleich aber auch die in den USA lebenden Schwarzen verachtete und deshalb in México-Stadt lebte, einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machte und ihn früh zu einer Auseinandersetzung mit einem negativen Selbstbild zwang. Zeigt das Verhältnis zum Vater, der auch die literarischen Ambitionen seines Sohnes weder würdigte noch unterstützen wollte, die Schwierigkeiten eines bewusst lebenden und kritisch denkenden Afro-Amerikaners im Umgang mit seinem Minderheitenstatus, so beleuchten zwei in den biographischen Texten anzutreffende Anekdoten aus dem Leben des jungen Langston die Unausweichlichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe wie auch sein Aufbegehren gegen rassistisch motivierte Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung. Bereits in der „weißen“ Volksschule in Topeka, die Langston auf Drängen der Mutter nur ausnahmsweise aufgenommen hatte, soll eine Lehrerin einer Schulkameradin den Genuss von Lakritze mit folgenden Worten verboten haben: „They’ll make you black like Langston. You don’t want to be black, do you?“20 In einer weiteren, allerdings gemischt-ethnischen Schule in Lawrence zwang der Lehrer alle schwarzen Schüler in einer Reihe zu sitzen, was Langston dazu veranlasste, diese Reihe als Jim Crow Row zu bezeichnen.21 Wenn wir von Langston Hughes zu Nicolás Guillén gehen, der ja im selben Jahr wie der US-amerikanische Schriftsteller geboren wurde und dessen Eltern in Kuba als Mulatten galten,22 dann fin18 19 20 21 22
Hughes 1993, 11. Leach 2004, 10; Rampersad 1986, I, 32–35; Hughes 1993, 40. Leach 2004, 4 und Rampersad 1986, I, 13. Leach 2004, 4 und Rampersad 1986, I, 17. Augier 1984, 13.
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Christopher F. Laferl den wir nicht nur einen ähnlichen ethno-sozialen Kontext, in dem der kubanische Lyriker aufwuchs, sondern in den Biographien über den Autor eine ganz ähnliche Gestaltung der Kindheit, für die auch der Gegensatz zwischen „schwarz“ und „weiß“ als grundlegend dargestellt wird. Aus Guilléns Kindheit ist zwar keine Anekdote überliefert, die den kubanischen Rassismus des beginnenden 20. Jahrhunderts ähnlich prägnant auf den Punkt bringen würde wie die beiden referierten Begebenheiten aus der Volksschulzeit Hughes’, aber auch er brachte in Aussagen aus seinem späteren Leben, die von seinem wichtigsten Biographen und persönlichen Freund Angel Augier wiedergegeben werden, den rassistischen Grundton der kubanischen Gesellschaft mit frühen Schulerfahrungen in Verbindung. So soll Guillén gesagt haben, dass ihm nicht nur die tägliche Messe in der Piaristenschule von Camagüey eine Qual gewesen sei, sondern dass er dort auch zum ersten Mal Rassismus zu spüren bekommen habe.23 Augier bringt die frühe schmerzhafte Erfahrung des Bewusstwerdens der rassistischen Grundkonstanten in der damaligen kubanischen Gesellschaft mit einer Haltung des Autors in Verbindung, die schon in der Kindheit gereift sein soll, dass man nämlich als Mitglied einer benachteiligten Minderheit größere Anstrengungen unternehmen müsse, um Anerkennung zu finden als die Angehörigen jener Bevölkerungsgruppe, die die Macht in Staat und Gesellschaft hatten, also die weiße Mittel- und Oberschicht.24 Wenn Guillén schon früh bewusst wurde, dass er Besonderes leisten müsse, um sich in einer vom Rassismus gezeichneten Ge23 Augier (1984, 17) zitiert Guillén selbst: „… Estuve en las Escuelas Pías, situadas en la Plaza de San Francisco, donde mi gran tortura era que había que oír misa todos los días. […] Fue entonces cuando sentí las primeras manifestaciones del prejuicio racial, pues éramos muy pocos, poquísimos, los niños negros que figuraban en aquella escuela católica, prácticamente para blancos“. Übersetzung: „Ich war bei den Piaristen am San Francisco Platz, wo ich damit gequält wurde, dass ich jeden Tag zur Messe gehen musste. […] Damals spürte ich auch zum ersten Mal den Ausdruck rassistischer Vorurteile, denn wir waren nur wenige, sehr wenige schwarze Kinder in dieser katholischen Schule fast nur für Weiße“. 24 Augier (1984, 24): „Creciéndose en la adversidad, se dio al estudio durante las noches con tanto afán que logró cursar el Bachillerato en sólo dos años, gracias a su talento y voluntad y a las clases gratuitas del profesor negro Tomás Vélez, amigo y correligionario del ex senador fallecido“. Übersetzung: „Da er in diesen widrigen Verhältnissen aufwuchs, gab er sich in den Nächten dem Studium mit solchem Eifer hin, dass es ihm dank seines Talents, seiner Willenskraft und der Gratisstunden des schwarzen Professors Tomás Vélez, eines Freundes und Mitstreiters des verstorbenen Senators [des Vaters von Nicolás Guillén; Anm. d. Verf.], gelang, die Oberstufe der Mittelschule in nur zwei Jahren abzuschließen“.
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Ethnizität und Biographie sellschaft behaupten zu können, so trifft dies auf ähnliche Weise auch für Aimé Césaire zu, der einer schwarzen Familie entstammte, die Bildung als den Hauptfaktor sah im Kampf um die Selbstbehauptung schwarzer französischer Bürger in einem kolonialistischrassistischen Gemeinwesen, wie es die Französische Republik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts trotz aller Beteuerungen der Gleichheit darstellte. Schon früh soll der wissbegierige und studierfreudige Césaire aber auch die Falschheit der gebildeten schwarzen Mittelschicht erkannt haben, die sich weißen Normen unterworfen habe.25 Die viele dem Studium und der Lektüre gewidmete Zeit ebnete dem jungen Césaire dennoch den weiteren Bildungsweg in Paris an einer der Grandes Écoles, zugleich brachte sie ihm die Erfahrung – so legen es zumindest seine Biographen und er selbst in seinen Erinnerungen nahe – einer Minderheit anzugehören auf eine Weise näher, wie er sie in Martinique nicht kennen gelernt hatte, denn dort lebte die schwarze Mittelschicht zwar nach französischen sozialen Idealen, war aber aus einer ethnischen Perspektive eben doch relativ homogen. In dieser Zurückgeworfenheit auf sein Andersein in der französischen Hauptstadt soll ihm die Begegnung mit dem fast gleichaltrigen Ousmane Socé und kurz danach mit dem sieben Jahre älteren Léopold Senghor, die beide aus dem Senegal stammten und ebenfalls schwarz waren, Trost und Rückhalt geboten haben. Die in einem langen Gang der Sorbonne erfolgte Begegnung mit Ousmane Socé und einige Tage später das Zusammentreffen mit Senghor an einem Tor des Lycée Louis-le-Grand26 und die sich anschließend entwickelnde Freundschaft Césaires mit Senghor, des einsamen jüngeren Studenten mit dem älteren, erfahrenen und selbstsichereren, wenngleich ebenso politisch unruhigen Kommilitonen, sollen ihm Afrika auf eine reale und lebhafte Weise näher gebracht haben und den Anstoß zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Leben und Denken der Schwarzen in einer verlogenen bürgerlich-weißen Gesellschaft gegeben haben.27
25 Ngal 1994, 31–37. 26 Ngal 1994, 46. 27 Ngal 1994, 47: „Mais dans sa signification profonde, Césaire rencontre en Senghor pour la première fois „l’Afrique“. Une certaine Afrique. Non abstraite mais réelle, „vivante“, quoique non plus „vierge“, déjà acculturée, „déracinée“, inquiète. C’est cette „inquiétude“ que Senghor communique à son ami“. Übersetzung: „Aber in einem tieferen Sinn traf Césaire in Senghor zum ersten Mal „Afrika“. Ein bestimmtes Afrika, kein abstraktes sondern ein wahres, „lebendes“, wenn auch nicht mehr „jungfräuliches“, sondern akkulturiertes, „entwurzeltes“, unruhiges. Diese „Unruhe“ vermittelte Senghor seinem Freund“.
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Christopher F. Laferl Ohne Zweifel erfüllen die Anekdoten rund um die Schulzeit der drei Dichter, die allesamt die staatliche oder kirchliche Institution Schule an Rassismus knüpfen, die Funktion, kindliche bzw. jugendliche Erfahrungen als auslösende Momente für die spätere aktive und bewusste Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung zu präsentieren. Es würde aber zu kurz greifen, wollte man die prominente Stellung dieser Anekdoten gleich zu Beginn der untersuchten Biographie als reinen Kunstgriff des Biographen sehen, gewissermaßen um den Lebensgeschichten der Schriftsteller ein Motto voranstellen zu wollen, das den „Sinn“ des Künstlerlebens durch eine Episode aus der Kindheit oder der Jugend zusammenfasst. Diesen Kunstgriff nur den Biographen anlasten zu wollen, würde außer Acht lassen, dass ja die drei genannten Schriftsteller in den eigenen Lebensnarrationen diesen Anekdoten einen zentralen Stellenwert zugewiesen haben28 und dass somit die biographische Sinnkonstitution schon von ihnen selbst ausging. Freilich gehen dieser Sinnkonstitution das Bild des Schriftstellers als Menschen mit besonderer Sensibilität wie auch die Annahme, dass eine rassistische Erfahrung in der Kindheit prägend wirke, voraus. Die genannten Kindheitsanekdoten müssen allerdings im Zusammenhang mit den weiteren Lebensläufen der drei Autoren gesehen werden, die sich alle lautstark und anhaltend in politischen und gesellschaftlichen Fragen, v. a. was die Bekämpfung von Rassismus und Segregation betraf, engagierten. Wären nicht alle drei Autoren politisch tätig geworden und hätten sie nicht Zeit ihres Lebens gegen Ungleichheit vor Recht und Gesetz und gegen soziale Benachteiligung gekämpft, dann würde der Betonung der Sensibilisierung für diese Fragen in der Kindheit weniger Bedeutung zukommen. Durch die Themen, für die sich unsere drei Autoren ihr ganzes Leben hindurch einsetzten, rechtfertigt sich die prominente Stellung der Anekdoten gleich zu Beginn der Biographien. In ihrem politischen Engagement ähneln die Biographien der drei Autoren einander frappant: Alle drei traten der kommunistischen Partei bei oder unterstützten diese, weil sie im Kommunismus eine Lösung für soziale, aber auch für rassistisch motivierte Ungerechtigkeit sahen, und alle drei äußerten sich schriftlich und mündlich zu politischen und sozialen Fragen. Unterschiede, die zum Großteil den verschiedenen national-politischen Kontexten geschuldet sind, dürfen allerdings nicht ausgeblendet werden. Langston Hughes musste sich unter dem politischen Druck am Be-
28 S. dazu Hughes 1994, 14; Augier 1984, 17 und Césaire 2005, 22–23. Zur Bedeutung der Anekdote in der Biographik s. Soussloff 1997, 145–153 bzw. die deutsche Übersetzung dieses Texts im vorliegenden Buch.
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Ethnizität und Biographie ginn des Kalten Krieges vom Kommunismus distanzieren,29 und Aimé Césaire trat aus der Kommunistischen Partei aus, weil er die von der Sowjetunion vorgeschriebene Spielart des Sozialismus nicht als einzig zulässige akzeptieren wollte und für Sonderentwicklungen plädierte.30 Für Guillén stellt sich die Situation gegenteilig dar, musste er doch wegen seiner Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei Kubas während der Diktatur Batistas das Land verlassen. Nach dem Ende der Revolution Fidel Castros 1959, die ja zunächst nicht nur von den im Exil lebenden kubanischen Intellektuellen, sondern weltweit enthusiastisch begrüßt wurde, kehrte er nach Kuba zurück und wurde gewissermaßen zum Vorzeigedichter des neuen Regimes und schließlich des ganzen Staates. Während aber Guillén und Hughes in der Rolle der Zuseher und Kommentatoren der Politik, wenngleich mit großem Engagement, blieben, griff Césaire aktiv – als langjähriger Bürgermeister von Fort-de-France und als Abgeordneter in die französische Nationalversammlung – in die Geschichte Martiniques und Frankreichs ein.
Schreiben und Sprechen im Zeichen der Ethnizität Auch wenn das Œuvre von keinem unserer drei Autoren – weder inhaltlich noch formal – auf die Thematik der blackness reduziert werden kann, so spielt diese doch durchgehend eine wichtige Rolle. Besonders deutlich wird dies bei Langston Hughes und Aimé Césaire, für Guillén müssen hingegen Abstriche bezüglich der Bedeutung des Themas blackness gemacht werden. Von Langston Hughes ist eine große Anzahl von Texten ganz unterschiedlicher Gattungszugehörigkeit erhalten. Wurde er zunächst als Lyriker, v. a. durch sein Gedicht „The Negro Speaks of Rivers“ (1921), bekannt, so machte er sich bald auch einen Namen durch seine Theaterstücke, Drehbücher und seine Erzählprosa, wie durch den Roman Not Without Laughter (1930) oder die Kurzgeschichtensammlung The Ways of White Folks (1934). Von ihm sind des Weiteren Kinderbücher und eine Unzahl von journalistischen Arbeiten und Essays zu verschiedensten Themen und auch zwei autobiographische Texte erhalten, nämlich The Big Sea (1940), das seine Lebenszeit von der Kindheit bis 1930 abdeckt, und I Wonder As I Wander (1956), das die Jahre 1931 bis 1938 zum Inhalt hat. Auch in seinen journalistischen und essayistischen Texten steht die Frage der Ethnizität im Vordergrund, wie z. B. in dem eingangs zitierten
29 Leach 2004, 98, 117–123, 133. 30 Arnold 1981, 169–180.
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Christopher F. Laferl „The Negro Artist and the Racial Mountain“. Schließlich sei seine Übersetzungstätigkeit erwähnt, durch die er viele schwarze Autoren, die in anderen Sprachen als in Englisch schrieben, in den USA bekannt machte.31 Im Gegensatz zu Langston Hughes ist Nicolás Guillén fast ausschließlich durch seine Lyrik und zu einem geringeren Maß auch durch seine journalistischen Texte bekannt geworden. Nach dem Durchbruch seiner Motivos de son, einer Handvoll von Gedichten, die im April 1930 im Feuilleton einer Zeitung erschienen waren, verfolgte Guillén diese Linie und erweiterte die ursprüngliche Sammlung über die nächsten 17 Jahre bis zum Erscheinen des umfangreichen Bandes El son entero (1947) beträchtlich. Danach wandte er sich vermehrt politischen Fragen zu und arbeitete als Journalist. Sein weiteres Werk kann hinsichtlich der Wirkung auf Publikum und Kritik mit seinen fulminanten Gedichten aus der frühen Phase nicht mithalten. Guillén betont – im Unterschied zu Hughes und Césaire, für die die Erfahrung oder besser die condition des „schwarz Seins“ zentral ist – den mulato-Charakter seiner Gedichte wie auch der Gesellschaft Kubas,32 was – wie wir noch sehen werden – auch für die Interpretation seiner Biographie zentral ist. Dass sich Guillén selbst als Mulatte sehen konnte und er auch von seinen Biographen so bezeichnet wird,33 hängt wiederum eng mit der kubanischen Auffassung von Ethnizität zusammen. In Kuba – wie auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas – wird keine klare Linie zwischen Schwarz und Weiß gezogen, wie dies in den USA der Fall ist, sondern ethnische Zuordnungsdefinitionen werden in einem Kontinuum zwischen diesen beiden Polen gedacht, das vielfältige Ethnizitätsklassifizierungen erlaubt, die nicht nur vom Aussehen und von der biologischen Abstammung abhängen, sondern v. a. auch vom individuellen Bildungsgrad und der jeweiligen materiellen und finanziellen Verfügungskraft.34 Bei Aimé Césaire finden wir – im Unterschied zu Nicolás Guillén und im Einklang mit Langston Hughes – eine große Bandbreite von Texten und Gattungen. Auch er trat zunächst als Lyriker und Essayist hervor, v. a. sein mehrfach überarbeiteter Cahier d’un retour au pays natal (erste Fassung 1939, definitive Ausgabe 1956) machte ihn kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt wegen des enthusiastischen Lob André Bretons, zunächst in der frankophonen 31 Hier sei v. a. seine mit Arna Bontemps herausgegebene Anthologie The Poetry of the Negro (1948) erwähnt; vgl. Patterson 2007. 32 Im Prolog zu Sóngoro Cosongo (1931) bezeichnet er seine Gedichte explizit als „versos mulatos“; zit. nach Guillén 1990, 75; vgl. auch Augier 2002, 14. 33 Vgl. Augier 1984, 13 und 25. 34 Davis 1991, 99–109.
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Ethnizität und Biographie Welt und schließlich Sprachgrenzen überwindend international bekannt. Hatte Césaire bereits in seinem relativ langen und ausgesprochen schwer verständlichen Prosagedicht des Cahier einem zornig-aufmüpfigen Ich eine Stimme gegeben, so schlägt er mit seinem deutlicheren und leichter verständlichen Discours sur le colonialisme in eine ganz ähnliche Kerbe des Aufbegehrens und der Anklage. Neben weiteren lyrischen Texten trat Césaire auch als Dramenautor hervor, v. a. durch La Tragédie du roi Christophe (1963), zu dem er – wie so viele andere Autoren vor und nach ihm35 – durch das Schicksal des haitianischen Königs Henri Christophe (1767– 1820) inspiriert wurde. Wie Guillén und Hughes machte sich auch Césaire als Essayist einen Namen. Sieht man sich die Werke der drei Autoren an, so scheint die Betonung ethnizitätsrelevanter Themen, wie sie sich in ihren Biographien, aber auch in jenen Selbstaussagen, die großes mediales Echo erfahren haben, findet, absolut gerechtfertigt. Allein schon Titel, wie „The Negro Speaks of Rivers“, „African-American Fragment“, The Ways of White Folks, The Book of Negro Humor, Poetry of the Negro, The Weary Blues; Motivos de Son, Sóngoro Cosongo, „Sensemayá“; La Tragédie du roi Christophe, Une saison au Congo, Discours sur le colonialisme, Discours sur la négritude, thematisieren Ethnizität, Unterdrückung oder Segregation. Die Inhalte all dieser Texte strafen die durch die Titel erweckten Hoffnungen keineswegs, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich das Œuvre aller drei Autoren um blackness bzw. négritude oder mulatez dreht. Wenn nun das Thema blackness, also das Nicht-Weiß- bzw. das Nicht-Ausschließlich-Europäisch-Sein, die Achse des Großteils der Werke unserer drei Autoren ist, so stellt sich die Frage, wie mit dem Problem umgegangen wird, dass die Sprache und die Schrift, derer sich alle drei Autoren bedienen, und auch ein guter Teil der Kultur, in der sie sich bewegen, aus Europa stammen, denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass blackness in den USA und auch in Kuba und Martinique im 20. Jahrhundert doch etwas ganz anderes bedeutete als im Inneren Afrikas vor dem 19. Jahrhundert. In den Amerikas gab es nie eine von europäischer Kultur und Sprache unkontaminierte blackness, was ja allein schon die historische Tatsache der Sklaverei belegt. Jede blackness in den Amerikas ist immer schon in einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmen gespannt, der von Weißen europäischer Abstammung gefertigt wurde. Wie drückt sich nun eine blackness, die in Opposition zu einer europäischen whiteness von allen drei Dichtern programmatisch postuliert wird, obwohl sie in diese eingebettet ist, sprachlich und 35 So z. B. auch Alejo Carpentier, El siglo de las luces oder Langston Hughes, Emperor of Haiti.
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Christopher F. Laferl literarisch aus? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb für unser Thema so relevant, weil durch die Gegenüberstellung des Werks, das sich durch hohe sprachliche Virtuosität und inhaltliche Subtilität auszeichnet, mit manchen pointiert-programmatischen Aussagen der Autoren selbst wie auch der entsprechenden Stellen in den Biographien gezeigt werden kann, dass die zentrale Setzung der blackness in Biographie und politisch-sozialem Engagement kein durchgehendes Äquivalent im Werk hat. Dieses kann eben nicht nur auf eine einzige Dimension, nämlich eine unproblematisch verstandene blackness, reduziert werden. Eines steht bei allen drei Autoren außer Zweifel: Sie haben in europäischen Sprachen geschrieben, auf Englisch, Französisch und Spanisch – in jenen Sprachen, die die Spanier, Engländer und Franzosen ihren Vorfahren aufzwangen. Hughes und Guillén legen ihren Figuren bisweilen als schwarz geltende Varietäten des Englischen bzw. Spanischen in den Mund, die Stimmen aber, die eine neutralere Erzählhaltung zum Ausdruck bringen, sprechen doch meist Standardenglisch bzw. -spanisch. Wenn also klar ist, dass Langston Hughes, Aimé Césaire und Nicolás Guillén auf Englisch, Französisch und Spanisch geschrieben haben, und nicht wie spätere Autoren, v. a. auf Martinique, in Créole, so müsste es eigentlich verwundern, wenn in ihren Werken, in denen ja die historische wie die gegenwärtige Unterdrückung der Schwarzen durch die Weißen ein zentrales Thema darstellt, der Gegensatz zwischen bewusst erfahrener und zum Ausdruck gebrachter blackness und europäischer Akkulturation keine Rolle spielen würde. Keiner der drei Autoren gibt sich hinsichtlich des europäischen Rassismus Illusionen hin, sie alle kennen die Geschichte der Ausbeutung Schwarzer durch Weiße zur Genüge, und sie alle schreiben darüber, und zwar nicht beiläufig, sondern mit all ihrer schriftstellerischen Energie. Aimé Césaire geht in seinem berühmten Discours sur le colonialisme aus dem Jahr 1950 sogar so weit zu sagen: „L’Europe est indéfendable“.36 Die bürgerlichen Werte Europas, das in der Frage des Proletariats genauso gescheitert sei wie in jener des Kolonialismus, seien nicht mehr haltbar. Hitler sei nur die logische Fortsetzung einer bürgerlich-rassistischen Ideologie und dies verbergen zu wollen, sei nur Heuchelei und Doppelbödigkeit.37 Die Vereinigten Staaten würden den europäischen Kapitalismus und Kolonialismus nur fortsetzen, auf sie sollte die so genannte Dritte Welt noch weniger setzen als auf Europa.
36 Césaire 1955, 7. 37 Ebd.
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Ethnizität und Biographie Trotz dieser Einsicht in die Unhaltbarkeit Europas ist es gerade Césaire, der ein Französisch schreibt, das kaum Einflüsse kreolischer oder afrikanischer Elemente kennt. Im Vergleich mit dem Spanisch Nicolás Guilléns oder Langston Hughes’ Englisch ist Césaires Französisch weit europäischer. Im Cahier d’un retour au pays natal, wirft das artikulierte Ich des Texts den Antillen und den Schwarzen ganz allgemein ihre Lethargie und Untätigkeit vor und ruft zu stolzem Selbstbewusstsein und Widerstand gegen die koloniale europäische Ausbeutung auf. Dieses Ich möchte zur Stimme der Stimmlosen und der Unterdrückten werden, und zwar auf Französisch.38 Partir. Mon coeur bruissait de générosités emphatiques. Partir… j’arriverais lisse et jeune dans ce pays mien et je dirais à ce pays dont le limon entre dans la composition de ma chair: „J’ai longtemps erré et je reviens vers la hideur désertée de vos plaies.“ Je viendrais à ce pays mien et je lui dirais: „Embrassez-moi sans crainte… Et si je ne sais que parler, c’est pour vous que je parlerai.“ Et je lui dirais encore: „Ma bouche sera la bouche des malheurs qui n’ont point de bouche, ma voix, la liberté de celles qui s’affaissent au cachot du désespoir.“ Et venant je me dirais à moi-même: „Et surtout mon corps aussi bien que mon âme, gardez-vous de vous croiser les bras en l’attitude stérile du spectateur, car la vie n’est pas un spectacle, car une mer de douleurs n’est pas un proscenium, car un homme qui crie n’est pas un ours qui danse…“39 Fort. Mein Herz brauste vor überschwenglicher Großmut. Fort… Ich käme an, jung und glatt, hier in meiner Heimat, und ich spräche zu diesem Land, dessen Fruchtschlamm eingegangen ist in mein Fleisch: ‚Ich bin lange umhergeirrt, und nun kehre ich heim zu deinen verlassenen häßlichen Wunden.‘ Ich käme in meine Heimat und spräche zu ihr: ‚Umarme mich, fürchte dich nicht. Und kann ich auch nichts als reden, so spreche ich doch für dich.‘ Und ich spräche weiter: ‚Mein Mund sei der Mund des Mißgeschicks, das keinen Mund hat: meine Stimme sie die Freiheit der Stimmen, die dahinwelken im Verlies der Verzweiflung.‘ Und bei der Ankunft spräche ich zu mir selbst: ‚Vor allem, mein Körper, und auch meine Seele, hütet euch, die Arme zu kreuzen in der unfruchtbaren Haltung des Zuschauers. Denn das Leben ist kein Schauspiel, ein Meer von Schmerzen ist kein Proszenium, ein Mensch, der schreit, ist kein Tanzbär…‘40 38 Zur Sprachenfrage, genauer zum Gegensatz zwischen Französisch und Créole, bei Césaire s. Confiant 2006, 107–128. 39 Césaire 1983, 44. 40 Übersetzung von Janheinz Jahn in Césaire 1962, 27–29.
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Christopher F. Laferl Hier ist von der Notwendigkeit des Sprechens die Rede, von „je lui dirais“, von „parler“, von „je parlerai“ und „je me dirais à moi-même“ von einem Sprechen für sich und für die anderen, einem Sprechen für die Unterdrückten und jene, die keine Stimme haben, aber auch von einem Sprechen vor den Unterdrückern: und daher in deren Sprache! Der Cahier bereitet nicht deshalb so viele Verständnisschwierigkeiten, weil Afrikanismen oder Kreolismen das Französische verfremden würden, sondern weil er voller Neologismen und Kultismen ist, die sich eher durch eine solide klassische Bildung als durch Kenntnis des Créole Martiniques auflösen würden. Und wenn das Verb „Partir“, das diesen Absatz einleitet, auch als Aufbrechen aus der Sprache der weißen Kolonisatoren aufgefasst wurde,41 so geht dieser Aufbruch nicht in Richtung kreolische Populärkultur oder Folklore, die dem jugendlich-zornigen Ich des Textes ein Gräuel sind. Wenn sich in den Texten Aimé Césaires kaum Anspielungen auf oder Entlehnungen aus frankophonen Kreolsprachen finden, so bietet sich uns bei dem bekanntesten Dichter der spanischen poesía negra oder poesía negrista, nämlich bei Nicolás Guillén, dergleichen allenthalben. Vor allem in seinen Gedichten bis in die 1940er Jahre wird die Sprache der Afro-Kubaner glaubhaft nachgebildet. Spanisch bleibt die Sprache seiner Son-Gedichte freilich trotzdem, und zwar auch dann, wenn er vorgibt, in einer anderen Sprache zu sprechen, wie in den berühmten Versen des „Son número 6“ aus dem Jahr 1942: Yoruba soy, lloro en yoruba lucumí. Como soy un yoruba de Cuba, quiero que hasta Cuba suba mi llanto yoruba; que suba el alegre llanto yoruba que sale de mí. Yoruba soy, cantando voy, llorando estoy, y cuando no soy yoruba, soy congo, mandinga, carabalí.42
41 Fleischmann 1989, 841–842. 42 Guillén 1990, 140.
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Ethnizität und Biographie Ich bin ein Yoruba, ich weine auf Yoruba, Lucumí. Da ich ein Yoruba aus Cuba bin, möchte ich, daß meine yorubische Klage bis nach Cuba aufsteigt; daß aufsteigt die heitere yorubische Klage, die von mir ausgeht. Ich bin ein Yoruba und werde singen, ich weine, und wenn ich kein Yoruba bin, dann Congolese, Mandiga, Carabalí. 43
Hier wird Spanisch gesprochen, es wird aber vorgegeben, dass es Yoruba sei. Auf spielerische und höchst kunstvolle Weise wird Synkretismus erzeugt und etwas eigentlich Unsagbares doch gesagt. Die Frage der Sprache, der Problematik der Verwendung des Spanischen wird zum Ausdruck gebracht, ohne direkt angesprochen zu werden. Eine Yoruba-Klage auf Spanisch mag zwar eine Denkunmöglichkeit darstellen, sie wird aber in der lyrischen Sprache des Gedichts dennoch simuliert. Reflektierter geht Guillén in dem rund zehn Jahre später verfassten Gedicht „El apellido“ vor: Desde la escuela y aun antes… Desde el alba, cuando apenas era una brizna yo de sueño y llanto, desde entonces, me dijeron mi nombre. […] ¿Es mi nombre, estáis ciertos? […] ¿Sabéis mi otro apellido, el que me viene de aquella tierra enorme, el apellido sangriento y capturado, que pasó sobre el mar entre cadenas, que pasó entre cadenas sobre el mar? […] Lo habéis disuelto en tinta inmemorial. Lo habéis robado a un pobre negro indefenso. Lo escondisteis, creyendo que iba a bajar los ojos yo de la vergüenza. ¡Gracias! ¡Os lo agradezco! Gentiles gentes, thank you! 43 Übersetzung von G. Batinic, I. Kerkhoff und J. Schmitt-Sasse in Guillén 1981, 143.
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Christopher F. Laferl Merci! Merci bien! Merci beaucoup!44 Seit der Schule und selbst schon früher… Seit der Morgenröte, als ich kaum mehr als ein Bündel aus Traum und Weinen war, seit damals hat man mir meinen Namen gesagt. […] Ist das mein Name? Seid ihr sicher? […] Kennt ihr meinen anderen Nachnamen, den, der mir von jenem enormen Land zukommt, der Name, blutend und gefangengehalten, der über das Meer kam in Ketten, der in Ketten über das Meer kam. […] Ihr habt ihn in uralter Tinte ausgelöscht. Ihr habt ihn dem schutzlosen, armen Schwarzen gestohlen. Ihr versteckt ihn, weil ihr glaubtet, ich würde meine Augen in Scham niedersenken. Danke! Ich bin euch zu Dank verpflichtet! Ihr ehrenwerten Leute, thank you! Merci! Merci bien! Merci beaucoup! 45
Kann hier das Auslöschen des Namens mit einem Auslöschen der Sprache gleichgesetzt werden? Da es hier nicht nur um einen Namen, sondern um einen Namen in einer anderen Sprache geht, liegt dieser Schluss nahe. Gestärkt wird diese Annahme durch die Verwendung des Englischen und Französischen, die Sprache zentral stellt. Hier weist Guillén durch ein sich auf Spanisch artikulierendes Ich erneut auf die Unmöglichkeit hin, sich in der Sprache der Vorfahren auszudrücken, die nicht einmal mehr im Namen erhalten ist. Aber auch hier spricht er diese Unmöglichkeit nicht konkret an. Den Gegensatz zwischen dem Sprechen der Sprache der Weißen und der Unmöglichkeit, diese zu vermeiden, finden wir als zentrales Thema in „Afro-American Fragment“, einem frühen Gedicht von Langston Hughes:
44 Guillén 1990, 179–183. 45 Übersetzung von G. Batinic, I. Kerkhoff und J. Schmitt-Sasse in Guillén 1981, 156–159.
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Ethnizität und Biographie So long, So far away Is Africa. Not even memories alive Save those that history books create, Save those that songs Beat back into the blood— Beat out of blood with words sad-sung In strange un-Negro tongue— So long, So far away Is Africa. Subdued and time-lost Are the drums—and yet Through some vast mist of race There comes this song I do not understand, This song of atavistic land, Of bitter yearnings lost Without a place— So long, So far away Is Africa’s Dark face.46
Was in Césaires Cahier weitgehend ausgeblendet wurde und bei Guillén widersprüchlich zum Ausdruck gebracht wurde, nämlich der Verlust der Sprache jener Vorfahren, die für die Fremd- und Selbstbeschreibung der eigenen Identität entscheidend sind, wird hier subtil angesprochen. Langston Hughes besitzt auch die Offenheit einzugestehen, dass sein artikuliertes Ich den Großteil seines Wissens über Afrika aus zweiter Hand habe und dass dieses Wissen nicht von Generation zu Generation weitergegeben worden sei, wie es die Fiktion von lebendiger Folklore gern hätte, sondern dass es kognitiv durch Geschichtsbücher erworben worden sei. Einzig der ferne Klang der schwarzen Musik kann eine zweite, weniger bewusst gezogene Traditionslinie darstellen. Die Einsicht in die Unmöglichkeit, lebendig tradierte Erinnerungen zu haben, entlarvt das „back to the roots“ als Selbsttäuschung; die Sehnsucht danach wird allerdings auch nicht aufgegeben. Durch den „vast mist of race“ erreicht das Ich des Gedichts ein atavistisches Lied, in dem sich unlokalisierbar die Sehnsucht nach Afrika zu sammeln versucht. Das sehnsüchtige Ich des „Afro-American Fragment“ ist sich vor allem
46 Hughes 1994, 129; vgl. auch Huggins 2007, 82.
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Christopher F. Laferl auch dessen bewusst, dass die Lieder in einer eigenartigen unschwarzen Sprache artikuliert werden – auf Englisch, in der Sprache derer, die Afrika vergewaltigt haben. Auch wenn Langston Hughes in anderen Texten den Dialekt der Schwarzen in den USA auf der Ebene der Figuren und von RollenIchs zum Ausdruck gebracht haben mag, halte ich die in „AfricanAmerican Fragment“ angesprochene Opazität für zentral. Wenn man Judith Butlers Gedanken, den sie in Giving an Account of Oneself ausführt, dass jedem Subjekt die Ursprünge seines Selbst opak bleiben müssen,47 in diesem Zusammenhang aufgreift, dann lässt sich in Kenntnis des Hughes’schen Gedichts sagen, dass diese Opazität nicht nur individuell gefasst werden kann, sondern auch kollektiv. Im „African-American Fragment“ macht ein weiter Nebel den direkten Zugang zu Afrika unmöglich. Geschichtsbücher und die gebrochene Tradition der Musik – die aber ebenfalls nicht in der Lage ist, sich einer ursprünglichen Sprache zu bedienen – geben der eigenen Vorgeschichte nachträglich einen Inhalt, einen Inhalt, der Klarheit vorgibt, wo eigentlich Opazität herrscht. Das nachträgliche Lichten des Nebels erfolgt durch Geschichte und zwar in einer Sprache, die jene des ehemaligen und in geringerem Ausmaß auch des zeitgenössischen Unterdrückers ist, einer Sprache, die auf Europa und whiteness, v. a. aber auf Kultur verweist. Deutlich wird in diesem Gedicht das komplexe Zusammenspiel von Ethnizität, Geschichte und Kultur wie auch die gegenseitige Bedingtheit der Definition von „weiß“ und „schwarz“.
(Sein) Leben Schreiben In verschiedenen Aussagen über ihr Verständnis von Literatur und das Verhältnis von blackness und einer Kultur, die zu einem guten Teil durch europäisch-weiße Normen vorgegeben ist, reduzieren Langston Hughes, Nicolás Guillén und Aimé Césaire die Komplexität des Zusammenspiels von Ethnizität, Geschichte und Kultur, wie sie uns in den zitierten Texten begegnet. Das Eingangszitat von Langston Hughes macht die Reduzierung der Komplexität, wie sie im „African-American Fragment“ zum Ausdruck kommt, sehr deutlich, geht es doch von einem grundlegenden Gegensatz zwischen „schwarz“ und „weiß“ aus. Wenn wir uns Aimé Césaires Äußerung über den Einfluss der griechischen, lateinischen wie französischen
47 Butler 2007, 30–31.
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Ethnizität und Biographie Literatur auf sein Werk ansehen, dann unterstreicht auch er sein „être nègre“:48 Quant à la question de la littérature, la littérature grecque, latine, française, il s’est trouvé effectivement que c’est de quoi je fus nourri. Il aurait pu en être autrement, j’aurais très bien pu être né anglophone, j’aurais eu une autre culture. […] Et je crois que le maître-mot a été ici prononcé par le poète Senghor, c’est une des choses vraiment importantes qu’il a dites: „L’importance ce n’est pas d’être assimilé, mais c’est d’assimiler.“ Eh bien lorsque je lis un auteur grec, lorsque je lis un auteur latin ou un auteur français, le fait est que je n’oublie jamais que je suis un Nègre.49 Was nun die Literatur betrifft, die griechische, lateinische, französische Literatur, dann ist sie tatsächlich das, womit ich aufgewachsen bin. Es hätte anders sein können, ich hätte sehr gut im englischen Sprachraum aufwachsen können, dann hätte ich eine andere Kultur gehabt. […] Ich glaube, dass hier das entscheidende Wort von dem Dichter Senghor gesprochen wurde, das gehört wirklich zu den ganz wichtigen Dingen, die er gesagt hat: „Es ist entscheidend, nicht assimiliert zu werden, sondern zu assimilieren“. Und wenn ich also einen griechischen Autor lese, wenn ich einen lateinischen Autor lese oder einen französischen, dann ist es gewiss, dass ich niemals vergesse, dass ich ein Schwarzer bin.
Bei Nicolás Guillén finden wir eine ganz ähnliche Parallelführung zwischen Werk und Autor unter Zentralsetzung der Ethnizität wie bei Hughes und Césaire, bei ihm ist allerdings nicht blackness oder négritude der Ausgangspunkt, sondern die mulatez, das MulattoSein.50 Guilléns Auffassung von Ethnizität, die ja auch bei ihm zentral ist, seine Selbstsicht wie auch seine Biographien erhalten durch diese hybride Auffassung von kubanisch-karibischer Identität eine ganz andere Ausrichtung, als dies bei Césaire und Hughes der Fall ist. Erlaubt wird Guillén die zentrale Setzung der mulatez, dieser besonderen Form von mestizaje, durch die bereits erwähnte Definition von blackness und whiteness in Iberoamerika, die ein inbetween nicht nur zulässt, sondern ihm sogar einen zentralen Stellenwert zuweist. Was in den USA unmöglich gewesen wäre, konnte in Kuba gedacht und gelebt werden, nämlich weder „weiß“ noch
48 In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Interview Césaires aus dem Jahr 2004 verweisen: Césaire 2005, 27–28. 49 Kesteloot/Kotchy 1993, 206–207, deutsche Übersetzung von Christopher F. Laferl. 50 S. dazu Miller 2004, 47–49.
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Christopher F. Laferl „schwarz“ oder besser sowohl „weiß“ als auch „schwarz“ zu sein. Guillén konnte sich so selbst als Mulatte sehen, und die Biographik wie auch die Literaturgeschichtsschreibung ist ihm darin gefolgt.51 Langston Hughes, der in Kuba wegen seiner relativ hellen Hautfarbe vielleicht auch als Mulatte gegolten hätte, war diese Möglichkeit wegen der US-amerikanischen one-drop-rule nicht möglich. Auch Aimé Césaire dürfte sie wegen der wohl fast ausschließlich afrikanischen Herkunft seiner Vorfahren nicht offen gestanden sein. Dieses Verständnis von Ethnizität bildet im Verein mit der politischen und sozialen Entwicklung in Kuba, die durch die Revolution Fidel Castros 1959 ausgelöst wurde, die Voraussetzung dafür, dass Guillén zu einem Dichter werden konnte, der für Kuba als Ganzes, für die Nation, ja sogar für Gleichheit schlechthin stehen konnte (zumindest aus einer kubanischen Perspektive), während Langston Hughes und Aimé Césaire „schwarze“ Autoren blieben. Alle drei Autoren verfassten im weitesten Sinne engagierte Literatur, mit der sie gegen Rassismus und Unterdrückung anschrieben, und sahen darin ihre Aufgabe als schwarze Dichter, als Dichter, die ihre eigene Ethnizität als Beglaubigung für ihre Texte und als Auftrag der Affirmation von blackness, négritude und mulatez sahen. Gerade aber das Konzept der mulatez erlaubt es Nicolás Guillén, sich im Rahmen eines Unterschiede und Ungleichbehandlung verneinenden Kommunismus von der zentralen Stellung der blackness zu lösen und biographisch zum kubanischen Nationaldichter zu werden, der nach Angel Augier ganz Kuba und darüber hinaus die klassenlose Gesellschaft repräsentiere52. Guilléns Dich51 Augier 2002, 3: „Nace Guillén de padres mulatos, a su vez descendientes de mulatos, lo que quiere decir que es producto de un tipo racial específico en cuyas venas desembocan los dos afluentes — europeo y africano — que participan en la composición étnica básica del pueblo fraguado en la Isla por el devenir histórico“. Übersetzung: „Guillén war das Kind von Mulatten-Eltern, die ihrerseits wieder von Mulatten abstammten, was so viel bedeutet wie das Produkt eines speziellen ethnischen Typs, in dessen Adern zwei Ströme münden, der europäische und der afrikanische, die die ethnische Zusammensatzung des Volks ausmachen, das durch den Lauf der Geschichte zusammengeschmiedet wurde“. 52 Augier 2002, 4: „Este mestizaje blanquinegro, síntesis de los criollo, va a permitir al poeta la asimilación de las esencias populares más directas, la absorción de los jugos más genuinos del espíritu nacional; […] Como los demás cubanos de piel oscura, fue víctima — en la Patria que su padre contribuyó a liberar — de una de las más infames manifestaciones de la mediatización republicana: la discriminación racial. Su poesía emergió en la aurora de una nueva era de la humanidad: la socialista, al resplandor de la Revolución de Octubre de 1917 […]“. Übersetzung: „Diese schwarzweiße Mischung, die Synthese des Kreolischen, sollte es dem Dichter erlauben,
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Ethnizität und Biographie tung sei kubanisch, karibisch und amerikanisch und darüber hinaus sei sie „universal, da sie die Ängste, den Kampfesgeist und die Hoffnung aller Menschen der Erde zum Ausdruck bringe, die gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpfen, der Arbeiter, die jeden Tag aufs Neue den Kampf gegen die kapitalistische Bourgeoisie und für den Frieden und den Sozialismus führen“.53 Wenn nun Guillén zum kubanischen Nationaldichter hochstilisiert wurde, so bleiben Langston Hughes und Aimé Césaire schwarze Dichter, auch wenn sie weltweit Anerkennung gefunden haben. Sie stehen in keiner Weise für die Vereinigten Staaten und Frankreich als Ganze, wie dies Guillén für Kuba tut, was die blackness bzw. négritude ihres Werks wie ihrer Biographien noch deutlicher hervortreten lässt. Wie die Lyrik Guilléns heute bewertet werden würde, hätte Castros Revolution keinen Erfolg gehabt, lässt sich schwer sagen. Es ist m. E. aber gewiss, dass seiner poesía mulata, die schon immer etwas Programmatisches hatte, durch die politisch-historische Entwicklung Kubas eine parteiprogrammatische Funktion zuwuchs, v. a. wenn man bedenkt, dass es in der kubanischen Gesellschaft auch über fünfzig Jahre nach dem Triumph der Revolution noch Rassismus gibt. Auch wenn aus Guillén in der kommunistischen Propaganda Kubas ein Nationaldichter mit universalem Anspruch wurde, so bleibt doch das Faktum, dass er diesen Status über eine Dichtung erreicht hat, für die Ethnizität, denn nichts anderes ist der Kern der mulatez, zentral ist. In diesem Punkt erfüllt er Hughes’ Forderung nach dem „being oneself“, genauso wie Hughes selbst und auch Aimé Césaire. Dieses „being oneself“ richtet sich aber fast ausschließlich an einer einzigen identitären Kategorie aus, jener der Ethnizität – sowohl in den Selbstaussagen der drei Dichter als auch bei ihren Biographen. Vieles andere bleibt durch diese Fokussierung außen vor: Über ihre Ansichten zu den Geschlechterbeziehungen, zum Verhältnis von privat und öffentlich, zum Altern oder zu Fragen von
das Wesentliche des Volkes direkt aufzunehmen und die Säfte echten Nationalgeistes zu trinken. […] Wie die anderen Kubaner dunkler Hautfarbe wurde auch er Opfer – in seinem Heimatland, das sein Vater mithalf zu befreien – der infamsten Machenschaften der Republik, der rassistischen Diskriminierung. Seine Dichtung entstand in der Morgenröte einer neuen Ära der Menschheit, der sozialistischen, im Glanz der Oktoberrevolution von 1917 […]“. 53 Augier 2002, 30: „Pero es, además, universal por cuanto expresa la angustia, el espíritu de lucha y la esperanza de los hombres que en cualquier rincón del mundo combaten contra la opresión y la injusticia, de los trabajadores, en fin, que cada día libran batallas contra el sistema burgués capitalista y por la paz y el socialismo“.
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Christopher F. Laferl Gesundheit und Krankheit erfährt man durch und über sie nicht annähernd so viel wie über Ethnizität. Fast möchte man sagen, dass durch die Autoren selbst wie durch ihre Biographen der Eindruck erweckt wird, dass der öffentliche Kampf mit Worten für ethnische Gleichberechtigung seit ihrer Kindheit ihr einziger Lebensinhalt gewesen sei. Der Druck, der aus der Mitgliedschaft in einem minoritären unterdrückten Kollektiv erwächst, lässt kaum Raum für eine individuellere Gewichtung der verschiedenen identitären Kategorien oder für eine Fokussierung auf Fragen, in deren Zentrum nicht die eigene ethnische Gemeinschaft steht. Zu der Vorstellung, dass sich fast alles in den Leben der drei Autoren um ihre ethnische Zugehörigkeit gedreht habe und sie so sich selbst treu geblieben wären, kommt noch eine zweite Annahme hinzu, die ihre Biographie genauso vorstrukturiert, nämlich die Auffassung, dass Kunst wahr sein müsse, dass es – um wieder die eingangs zitierten Worte von Langston Hughes zu gebrauchen – um „true art“ gehe, also um Authentizität, was – wiederum nach Langston Hughes – bedeute, dass schwarze Autoren über ihre blackness zu schreiben hätten, so als ob erstens jede Kunst „authentisch“ sein müsse und als ob man zweitens seiner selbst nicht auch auf andere Art treu sein könnte. Freilich gilt nach wie vor race matters, um den Titel eines bekannten Buches von Cornell West zu paraphrasieren, aber nicht ausschließlich. Dass in der Biographik – wie auch in der Metabiographik – von schwarzen Schriftstellern, die sich selbst als engagierte Intellektuelle auffassen und ihre eigene blackness, négritude oder mulatez als zentral sehen, kein Weg an der Kategorie Ethnizität vorbeiführt, dürfte außer Zweifel stehen. Wenn diese Kategorie aber zentral gestellt und ständig markiert wird, so gilt es, dieses Vorgehen zu begründen, nicht zuletzt deswegen, weil andere identitäre Kategorien sonst leicht – nicht unähnlich der Kategorie Ethnizität in der Biographik weißer, heterosexueller und gesunder Männer – als unproblematisch und nicht markierenswert gesehen werden. Aus zwei verschiedenen Gründen hat die Zentralsetzung einer einzigen identitären Kategorie wie jener der Ethnizität etwas Problematisches: Einerseits wäre es wohl eine unzulässige Reduzierung, wenn man auch bei schwarzen AutorInnen, die Ethnizität selbst weder in ihrem Leben noch in ihrem Werk kontinuierlich zentral gestellt haben, ihre ganze Biographie wie auch ihre Texte auf ihre blackness zurückführen wollte. Andererseits wird Ethnizität gewissermaßen ganz von selbst dezentriert, wenn andere identitäre Kategorien, die aus einer heteronormativen, maskulinen und post/christlichen Perspektive ebenfalls als markierenswert gelten, zu blackness hinzutreten, wie z. B. bei den Biographien schwarzer Frauen oder schwuler schwarzer Männer. Welche Kategorie dann zentral zu stellen wäre, lässt sich kaum schlüssig
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Ethnizität und Biographie beantworten, was – von den Rändern her gedacht und in Infragestellung gesellschaftlicher Normen (und damit des Markierenswerten) ganz allgemein – jede Zentralsetzung einer einzigen identitären Kategorie fraglich macht, wie verständlich der Druck eines minoritären Kollektivs, sich ständig zu ihm zu bekennen, auch sein mag.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder1 RICHARD DYER
Stars verkörpern soziale Typen, aber das Image eines Stars ist immer komplexer und spezifischer als das eines Typus. Typen sind gewissermaßen die Grundlage für die Konstruktion des Images von einem bestimmten Star. Dieses Image findet sich in einer ganzen Palette von Medientexten. […] Das Image eines Stars entsteht aus Medientexten, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Werbekampagne, Publicity, Filme und Kritik und Kommentar.
Werbekampagne Die Werbekampagne bezieht sich auf Texte, die als Teil der bewussten Entwicklung eines bestimmten Images oder seines Kontextes für einen bestimmten Star angefertigt wurden. Sie beinhaltet 1. Material, das den jeweiligen Star unmittelbar betrifft: Ankündigungen durch die Filmgesellschaft, Pressemitteilungen (inklusive Kurzbiographien), Veröffentlichungen von Fanclubs (die maßgeblich auch von den Filmgesellschaften kontrolliert wurden), großformatige Poster, Modeaufnahmen, Werbung, bei der Stars bestimmte Marken anpreisen, öffentliche Auftritte (z.B. Film- oder Zeitungsberichte über Premieren); und 2. Material, das für den Star in einem bestimmten Film wirbt: Plakatwände, Zeitschriftenanzeigen, Trailer etc. Thomas B. Harris hat das recht detailliert in The Building of Popular Images beschrieben.2 Die Werbekampagne ist vermutlich der Bereich, in dem die Texte am unmittelbarsten zur Konstruktion eines Star-Images beitragen, da sie beabsichtigt, direkt, gewollt und bewusst sind (womit
1 2
Gekürzte Fassung des 6. Kapitels aus Stars. London (British Film Institute) 1998, 60–85. Harris 1991, 40–44.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder unter keinen Umständen gesagt sein soll, dass sie irgend etwas dessen vollkommen ist). In der Werbekampagne kann es Irrtümer geben. Die anfängliche Werbekampagne kann andere Aspekte des Ausführenden in den Vordergrund stellen, als die, die ihn in der Folgezeit zum Star machen (so wurden z.B. sowohl Bette Davis als auch die Monroe anfangs als Fotomodels vermarktet). Allerdings ist das eher die Ausnahme als die Regel, und in beiden Fällen lässt sich die Werbekampagne als Indikator für die Konzeption des jeweiligen Star-Images durch das Studio (oder dessen PR-Abteilung), den Agenten oder den Star ansehen. […]
Publicity Theoretisch unterscheidet sich die Publicity von der Werbekampagne dadurch, dass sie ein Image nicht bewusst produziert. Es geht dabei darum, ,was die Medien herausfinden‘, ,was dem Star in einem Interview herausrutscht‘, und was sich in Zeitungen und Zeitschriften findet (nicht nur in den Filmzeitschriften), in Interviews in Radio und Fernsehen und den Boulevardblättern. In der Praxis wird – entgegen dem öffentlichen Eindruck – vieles davon ebenfalls von den Studios oder dem Manager des Stars kontrolliert, obgleich […] das in manchen Fällen definitiv nicht der Fall ist. Die einzigen Fälle, in denen man sich der Publicity im eigentlichen Sinne relativ sicher sein kann, sind die Skandale […]. Skandale können eine Karriere schädigen […], ihr aber auch neuen Aufwind geben (Lana Turner, Robert Mitchum, Liz Taylor). Als Beleg für eine Verbindung zwischen Skandal und Erfolg und Glamour zitiert Hollis Alpert ohne namentliche Nennung einen Gewährsmann aus der Werbung: Die Stars verlieren ihren Glamour. Es ist nahezu unmöglich, Burt Lancaster dieser Tage in die Schlagzeilen zu bringen. Das Publikum sieht es gerne, wenn seine Stars ein bisschen verrückt spielen. Denken Sie nur daran, wie gut die Drogen-Geschichten für Bob Mitchum waren oder wie Deborah Kerrs Scheidungsaffären ihren Marktwert in die Höhe getrieben haben! Wer möchte schon einen Fanclub für einen Geschäftsmann gründen?3
Die Wichtigkeit der Publicity liegt darin, dass sie – in ihrem scheinbaren oder auch wirklichen Abweichen von dem Image, das Hollywood zu etablieren versucht – ,authentischer‘ scheint. Darauf gründet sich die Annahme, sie gebe einen privilegierten Zugang zu der
3
Alpert 1962, 39.
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Richard Dyer realen Person des Stars. Sie ist außerdem der Ort, an dem Spannungen zwischen dem Star als Person und ihrem/seinem Image zutage treten, Spannungen, die auf einer anderen Ebene wiederum entscheidend für das Image werden (z. B. Marilyn Monroes Versuche, nicht nur als dumme Blondine und Sexobjekt betrachtet zu werden, oder Robert Redfords Image als Einzelgänger, der die Aufmerksamkeit, die sein Status als Star mit sich bringt, meidet.)
Filme Filme spielen unvermeidlich eine besondere und privilegierte Rolle für das Image eines Stars. Es geht uns hier ja schließlich um Filmstars – deren Berühmtheit eben von der Tatsache herrührt, dass sie in Filmen auftreten. Der Star ist allerdings zudem ein Phänomen des Kinos (das als Branche mit den Stars über das Filmemachen hinaus Geld machen konnte, z. B. in der Werbung, der Fankultur, persönlichen Auftritten) und von allgemeiner sozialer Bedeutung und es gibt Beispiele von Stars, deren Filme letztlich für ihre Karriere weniger wichtig sind als andere Aspekte. Brigitte Bardot ist ein solcher Fall, und Zsa Zsa Gabor ist ein Kinostar, deren Filme nur ein eingeschworener Fan aufzählen könnte. Bei Montgomery Clift, James Dean, Marilyn Monroe und Judy Garland ist ihr Tod vermutlich genau so bedeutend wie ihre Filme (bei Greta Garbo ist es der verfrühte Rückzug aus dem Filmgeschäft); Lana Turners späte Filme stellen hingegen nur eine Illustration ihres Lebens dar. Vermutlich sind bei Betty Grable und Rita Hayworth die Plakate das eigentlich Wichtige, bei Frank Sinatra und Bing Crosby dürfte der StarStatus ihren Musikaufnahmen geschuldet sein. Während also allgemein der Film den wichtigsten der Texte darstellt, muss man diese Punkte im Blick behalten, wenn wie hier das Image insgesamt, nicht die Rolle dieses Images in den Filmen, im Mittelpunkt stehen soll […]. Besonders wichtig ist hier die Idee, was eigentlich transportiert werden soll, die Idee einer „Bühne für den Star“ bzw. die Idee des „Vehikels“. Filme werden häufig um ein Star-Image herum konzipiert. Manchmal werden Geschichten ausdrücklich für einen bestimmten Star geschrieben oder Vorlagen gezielt für die Produktion mit einem bestimmten Star gekauft. Bisweilen wird die Geschichte verändert, um das Image des Stars aufrecht zu erhalten. Das verbirgt sich hinter der Wendung ,eine Bühne für den Star‘, hinter dem Begriff star vehicle (der tatsächlich von Hollywood selbst benutzt wird). Eine Bühne bekommen kann der Star als ein bestimmter Typus, den man mit ihm verbindet, (z. B. Monroes Rollen als „dumme
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder Blondine“, Garbos melancholisch-romantische Rollen); transportieren lassen sich eine Situation, ein Setting oder ein Genrekontext, der mit dem Star assoziiert wird […], „Star-Vehikel“ können auch Gelegenheiten für den Star darstellen, sein Ding zu machen (am offensichtlichsten bei Musical Stars […]). Vehikel sind also sowohl für die Etablierung als auch die Weiterentwicklung, sowohl für die einzelnen Bausteine eines Images als auch für deren Zusammensetzung wichtig. In mancher Hinsicht nähern sich die Star-Vehikel ganzen Filmgenres, wie dem Western, dem Musical oder dem Gangsterfilm, an. Wie bei Genres im eigentlichen Sinn kann man gewisse ikonographische Kontinuitäten der Bühnen für den Star über verschiedene Bereiche hinweg erkennen (z. B. die Art der Kleidung, der Frisur und des Make-ups; besondere Arten des Spielens; Settings, mit denen sie assoziiert werden), der visuelle Stil (z. B. die Beleuchtung, wie sie photographiert und innerhalb eines Rahmens platziert werden) und die Struktur (z. B. ihre Rolle in der Handlung, ihre Funktion in der Symbolstruktur eines Films). […] Natürlich transportiert nicht jeder Film, der von einem Star gemacht wurde, dessen Image; betrachtet man aber die Filme von Stars unter diesem Blickwinkel, wird man auf jene Filme aufmerksam, die nicht ins Schema passen und die eine Abweichung, eine Ausnahme oder eine Subversion des Vehikel-Musters wie auch des Star-Images darstellen. […]
Kritik und Kommentare Hier geht es darum, ob und wie Stars durch Kritiker und Schriftsteller geschätzt und interpretiert werden. Dieser Bereich, der zeitgenössische ebenso wie spätere Texte (inklusive Nachrufe und anderes Material, das nach dem Tod oder dem Rückzug eines Stars entstanden ist) umfasst, besteht aus Film-Besprechungen, Büchern über Filme und tatsächlich aus beinahe allen Texten, die sich auf die eine oder andere Weise mit der zeitgenössischen Szene befassen. Hinzuzufügen sind noch Film-, Radio- und Fernseh-Portraits der Stars. Diese erscheinen immer nach dem ersten öffentlichkeitswirksamen Auftritt des Stars bzw. nachdem der erste Film gemacht wurde, obgleich sie auf die spätere Werbung und weitere Filme wirken können […]. Diese ersten Kritiken und Kommentare müssen von jenen unterschieden werden, die erst nach der aktiven Teilhabe des Stars an der Filmproduktion erscheinen. Letztere können zu einer Interpretation gelangen, die nicht mit dem Image übereinstimmt, das zu Lebzeiten des Stars bestand (z. B. der heutige Kult um Humphrey Bogart und Marilyn Monroe – sehen wir mehr Weltweisheit bei ihm, mehr tragisches Bewusstsein bei ihr?).
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Richard Dyer Kritik und Kommentare haben einen eigenartigen Platz im Image von Stars. Sie sind Produkte der Medien, Teil der KinoMaschinerie, und doch denkt man gemeinhin, dass sie auf die Seite der Rezipienten gehören, also auf die Seite der Leser von Medientexten, nicht auf die Seite der Industrie, also der Produzenten von Medientexten. Für gewöhnlich glaubt man, dass Kritiker und Kommentatoren über die Reaktion auf einen Star berichten und nicht dass sie diese konstruieren; tatsächlich kleiden sie gelegentlich eine bereits bestehende, verbreitete Haltung oder eine Sichtweise gegenüber dem Star in Worte. Häufiger jedoch tragen sie zur Ausformung einer „öffentlichen Meinung“ über den Star bei (und das Verhältnis zwischen dem, was die Medien als „öffentliche Meinung“ bezeichnen, und der Öffentlichkeit ist immer problematisch). Davon abgesehen sind Kritiker und Kommentatoren nicht in demselben Bereich tätig wie jene, die das Bild über die Werbekampagne und durch die Filme konstruieren. Real besteht also eine Differenz zwischen der Konstruktion des Star-Images in der Werbekampagne und den Filmen auf der einen Seite und der Rolle von Kritik und Kommentaren auf der anderen (die zudem durch die höchst ambivalente Bezugnahme der Publicity auf Werbekampagne und Filme noch komplizierter wird). In eben dieser Differenz liegen die Ursachen sowohl für die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Polysemie der StarImages als auch für die Funktion der kritischen Meinung zu Neuausrichtung der Karriere, wie beispielsweise bei Davis und Monroe […].
Jane Fondas Image Ich werde mich gleich der Frage zuwenden, wie diese verschiedenen Medientexte zusammen ein bestimmtes Star-Image prägen. Doch zuvor gilt es zu zeigen, wie dieses Zusammenkommen beschaffen ist. Es ist genau so irreführend zu denken, dass die Gesamtheit aller Texte das Image ausmachen, wie zu glauben – auch wenn diese Einzelhervorhebungen wichtig sind –, dass es sich bei ihnen einfach um einzelne auf einander folgende Aspekte im Laufe der Karriere eines Star-Images handelt (diese Formulierung verwende ich durchweg, um die Tatsache zu betonen, dass es sich hier um Filmstars als mediale Texte und nicht als reale Personen handelt) […]. Das Image ist ein komplexes Ganzes mit einer zeitlichen Dimension. Wichtig ist, dass dieses Ganze in seiner Zeitlichkeit eine strukturierte Polysemie darstellt. Mit ,Polysemie‘ sind die vielfältigen, aber zahlenmäßig begrenzten Bedeutungen und Effekte gemeint, die ein Star-Image umfasst.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder In der Betrachtung von Jane Fondas Image werde ich nicht zu zeigen versuchen, was sie für „den Durchschnittsmenschen“ in verschiedenen Stadien ihrer Karriere bedeutete, sondern ich werde ihr Image hinsichtlich der Vielfältigkeit seiner Bedeutungen untersuchen. Das bedeutet nicht, dass sie endlos sind. Die Bedeutungsmöglichkeiten sind teilweise durch das limitiert, was der Text zur Verfügung stellt. Es handelt sich hier um eine strukturierte Polysemie. In manchen Fällen können die verschiedenen Bedeutungselemente einander wechselseitig verstärken. John Waynes Image führte seine massige Gestalt, seine Assoziation mit dem Wilden Westen, seine Unterstützung des rechten politischen Flügels, seine männliche Unabhängigkeit von Frauen, die seinem zuvorkommenden Verhalten keinen Abbruch tut, zusammen – diese Elemente verstärken sich wechselseitig und legitimieren eine bestimmte Art von Männlichkeit in der amerikanischen Gesellschaft. In anderen Fällen können sich die einzelnen Elemente bis zu einem gewissen Grad widersprechen oder gegensätzlich sein. Dann ist das Star-Image geprägt von Versuchen, die Differenzen zwischen den Elementen abzuschwächen, miteinander in Einklang zu bringen oder zu maskieren; andernfalls werden sie in einem spannungsreichen Gleichgewicht gehalten. Im Extremfall – beispielsweise bei Marilyn Monroes später Karriere – drohen die Widersprüche, das Image ganz zerfallen zu lassen. Images haben auch eine zeitliche Dimension. Strukturierte Polysemie impliziert keinen Stillstand; Images entwickeln sich oder wandeln sich im Laufe der Zeit. In Fondas Fall handelt es sich weitgehend um eine Wandlung, aber in anderen Fällen lässt sich auch eine Kontinuität beobachten. Marlene Dietrich ist ein Beispiel dafür: Das Image, das sich in ihren Filmen mit Josef von Sternberg (1930– 35) herauskristallisierte, legte den Grundstein für ihre weitere Karriere.4 Die Versuche, durch Rollen in Western (Der große Bluff – Destry Rides Again, 1939; Die Gejagten – Rancho Notorious, 1952)5 oder das Transportieren anderer „amerikanischerer“ Aspekte mit diesem Image zu brechen, hatten nur den Erfolg, ihr Bild als anziehende, exotisch weibliche „Andere“ zu verstärken. Selbst ihr Altern schwächte diesen Prozess nicht, sondern verstärkte ihn noch, teils wegen ihrer anhaltenden Schönheit, teils weil sie in Filmen, Konzerten, Aufnahmen und Photographien, so porträtiert wurde: als die „Ewig Weibliche“, deren lange Karriere das Versprechen auf Ewig4 5
Vgl. dazu David Shipmans Skizze einer „Kombination von Gegensätzen“ in The Great Stars – the Golden Years, 156. Anm. der Herausgeber: In der Folge werden bei der ersten Nennung eines Films der deutsche Verleih- und der englische Originaltitel genannt, danach wird nur mehr die deutsche Titelversion angeführt.
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Richard Dyer keit in sich birgt. Glamouröse Aufnahmen aus der frühen wie der späten Phase ihrer Karriere illustrieren diese Kontinuität, insbesondere durch die Art und Weise, in der sie aus einem vagen Hintergrund auftaucht, der sie jenseits alles Irdischen in eine „andere“ Sphäre der Existenz versetzt, und durch die Betonung ihrer beinahe orientalischen Augen, die direkt in die Kamera blicken.
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Umschlagbild der englischen Taschenbuchausgabe von J. Brough, The Fabulous Fondas (1975).
Die Abbildung auf dem Bucheinband der Taschenbuchausgabe von James Broughs The Fabulous Fondas (1975) illustriert anschaulich einen Gutteil der Spannungen in Jane Fondas Image. Henry Fonda ist als Cowboy zu sehen, Peter Fonda trägt die Kleidung aus Easy Rider, Jane Fonda wird zwischen den traditionellen Werten ihres
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder Vaters und den alternativen Werten ihres Bruders situiert. Dieses Bild steht, wie wir sehen werden, für die Karriere von Jane Fondas Image nicht ganz in Einklang mit der Rolle ihrer Familie, kommt doch der Beziehung zu ihrem Vater die größte Bedeutung zu. Hinsichtlich ihres Images ruft uns ihr Bruder hier eher den Radikalismus in Erinnerung, der für ihre spätere Karriere bedeutend wurde. Außerdem stehen die beiden männlichen Fondas ganz innerhalb des Zelluloidstreifens, in dem ihre Bilder platziert sind, während Jane Fonda über den Streifen hinausragt und keineswegs von ihm eingeschlossen ist. Analog war bei ihr das Leben ebenso wichtig für ihr Image wie die Filme, während ihr Vater und ihr Bruder als Images außerhalb der Filme wenig bekannt sind. Schließlich ist Jane Fonda fast nackt dargestellt in sexualisierter Pose, während von Henry und Peter Fonda, die beide angezogen sind, nur Kopf und Schultern, gewissermaßen Charakterbüsten, zu sehen sind. Jane Fondas Bild ist maßgeblich bestimmt von ihrer sexuellen Attraktivität, während meist nicht einmal zugegeben wird, dass dieser Faktor auch für die männlichen Fondas von Bedeutung sein könnte. Der Bucheinband legt also drei wichtige Aspekte von Jane Fondas Image nahe: die Verbindung zu ihrem Vater, Sex und Radikalismus. Ich werde meine weiteren Ausführungen anhand dieser drei Aspekte strukturieren und sie um einen weiteren ergänzen, ihr Schauspiel. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass Fondas Image über Elemente organisiert wird, die auf eigentümliche Weise miteinander verbunden sind. Während manche Stars solche widersprüchlichen Faktoren in ihrem Image verdichten – und zwar so, dass diese wahlweise vereinigt oder exponiert werden – ist es in Fondas Fall nicht so sehr eine Frage der Verdichtung als vielmehr des gegenseitigen Abwiegens dieser Elemente, eines Oszillierens zwischen ihnen, um einen Weg durch sie hindurch zu finden. Vor allem zu Beginn ihrer Karriere fragten sich Kommentatoren oft, wohin ihr Weg führen würde. So beobachtete Stanley Kauffmann in einer Besprechung von Begierde an schattigen Tagen (In the Cool of the Day, 1964 – ihr fünfter Film) in The New Republic, dass ihr Talent und ihre Persönlichkeit „beachtlich“ seien, dass man aber „zumindest derzeit noch Grund habe, sich zu fragen, was aus ihr werde“.6 Bis zu ihrer Verbindung mit Roger Vadim (1965–69) zeichneten sich noch nicht einmal Spuren eines klaren Images von ihr ab, und bis zu Klute (1971) blieben die Elemente des Images, wenn auch in einer gewissen dynamischen Spannung, mit einander vereinbar. Es ist dieses Spiel eines Vor und Zurück zwischen den verschiedenen Elementen und schließlich einer Bewegung durch sie hindurch, im 6
Springer 1974, 198. Alle zitierten Kritiken sind – soweit nicht anders vermerkt – dem Buch The Fondas von John Springer entnommen.
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Richard Dyer Gegensatz zu einer direkten Kombination dieser Elemente, das Fondas Image-Karriere auszeichnet.
DER VATER Während ihrer gesamten Karriere stellte ihr Vater einen Bezugspunkt für die Berichterstattung und Diskussion rund um Jane Fonda dar. David Shipmans Eintrag über sie in The Great Stars – the International Years – beginnt mit den Worten „Jane ist Henrys Tochter...“.7 Als ihr erster Film anlief, Je länger, je lieber (Tall Story, 1969), schrieb Ellen Fitzpatrick in Films in Review: „Dieser Film wird einzig deswegen auf diesen Seiten besprochen, weil Henry Fondas Tochter, Jane, in ihm ihr Filmdebut hat“,8 während Time von ihr als „eine Fonda der zweite Generation mit einem Lächeln wie dem ihres Vaters und den Beinen einer Revuetänzerin“ spricht (ebd.). Diese Betrachtungsweise begann sich erst mit Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss (They Shoot Horses, Don’t They?, 1969) und den Beginn ihres radikalen politischen Engagements abzuschwächen, eine Phase, in der ihr Vater zwar immer noch erwähnt wird, aber nicht mehr auf so prominente Weise. Vieles in der Diskussion rund um das Verhältnis zwischen Fonda und ihrem Vater beginnt mit der Feststellung der physischen Ähnlichkeiten zwischen beiden. John Springer behauptet, sie habe die „elektrisch-blauen“ Augen ihres Vaters und sein „flüchtiges, verlegenes Lächeln“,9 wohingegen Life beobachtet, dass „[Henry Fonda] ihr eine Stupsnase, blaue Augen, ein plötzliches Lächeln – und Talent vererbt hat“.10 Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin gehen in ihrem Film Letter to Jane weiter, wenn sie für einen bestimmten Gesichtsausdruck von ihr, den sie besonders im politischen Kontext verwende, auf den ihres Vaters verweisen. Ohne eine sehr präzise semiotische Kategorisierung von Gesichtszügen dürfte es ziemlich schwierig sein zu belegen, dass einige oder alle dieser physischen Ähnlichkeiten auf genauer Wahrnehmung beruhen. Wichtig ist die wiederholte Bekräftigung dieser Ähnlichkeit, die häufige Behauptung, man könne Henry Fonda in Jane sehen, eine Behauptung, die so verbreitet ist und die allein deswegen so eingängig ist, weil Jane Fonda den Namen ihres Vaters trägt, wobei ohnehin weithin bekannt ist, dass sie seine Tochter ist. Daraus resultiert die Übertragung bestimmter Konnotationen von Henry auf Jane, von denen die Americanness und die linkslibe7 8 9 10
Shipman 1972, 159. Springer 1974, 177. Ebd., 47. Zitiert in Springer 1974, 36.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder rale politische Einstellung die zwei wichtigsten sind. Die erste dieser Konnotationen klingt offensichtlich bei Ronald D. Katz in seinem Interview-Artikel „Jane Fonda – a Hard Act to Follow“11 an: „Sie wuchs mit einem Vater auf, der für eine ganze Nation all jene Qualitäten verkörperte, welche die Mittelklasse für sich in Anspruch nimmt, die als amerikanisch und gut gelten (Stolz, Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und das vollkommene Sublimieren von Emotionen – um nur einige zu nennen)...“. Diese All-Americanness ist in seinen Filmen ebenso präsent – insbesondere in seinen Rollen im Western, diesem unauslöschlichen, amerikanischen Genre, als Präsident (Young Mr Lincoln, 1939; The Longest Day, 1962; Fail Safe, 1964), als Präsidentschaftskandidat (The Best Man, 1964) und künftiger Außenminister (Advise and Consent, 1962) in der Zeit vor Watergate – wie in seinem familiären Hintergrund, wenn es heißt: „Die Werte und die Haltung des kleinstädtischen Amerikas hat er regelrecht in den Knochen und im Blut“;12 „Das Leben in seinem Haus war so konventionell wie ein Norman Rockwell-Einband in der alten Saturday Evening Post (8). Diese All-Americanness wird angeblich in Jane Fondas physischer Ähnlichkeit mit ihrem Vater reproduziert,13 wie auch in anderen Aspekten ihrer Karriere/ihres Images. Sie wurde auf einer Farm großgezogen, mit all den Konnotationen von Familienheim und -besitz, weit weg vom Glamour Hollywoods. Sie besuchte Vassar, eines der besten Frauen-Colleges in den Staaten, und in ihrer ersten Filmrolle in Tall Story war sie Studentin an einem College und Cheerleader beim Basketball. Ihr Kostüm darin macht sie offensichtlich zu einer der zentralen Ikonen der amerikanischen Normalität, der Majorette oder dem Tanzmariechen. Diese unauslöschliche Americanness war ein wichtiges Element in ihrer späteren Karriere, die mit französischen Sexfilmen und radikaler Politik substantiell die Antithese zur All-Americanness darstellte. Dennoch insistierten beinahe alle amerikanischen Kritiker von Barbarella (1968) darauf, dass Jane in diesem „abartigen“ Film „normal“, „gesund“ gespielt habe, und Pauline Kael sprach im New Yorker von ihr als „dem amerikanischen Mädchen, das aufgrund ihrer Unschuld über eine unanständige Comic-Strip-Welt der Zukunft triumphiere“.14 In Bezug auf ihre politische Tätigkeit haben Kommentatoren das Amerikanische entweder als Garantie ihrer Integrität angesehen („man konnte leicht erkennen, dass sie nicht nach ungewöhnlicher Öffentlichkeit suchte, sondern dass sie ihr ganzes 11 Katz 1978. 12 Brough 1973, 6–7. 13 Katz behauptet in Rolling Stone sogar, sie besitze die „amerikanische Durchschnittsstimme“. 14 Springer 1974, 262.
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Richard Dyer Trachten und Streben darin setzte, diesen Krieg in Vietnam zu einem Ende zu bringen“.) oder – Godards/Gorins Analyse – als einen Fall der Schwäche des amerikanischen Liberalismus. Janes Fondas politisches Engagement stellt aber gar keine vollkommene Abkehr von ihrem Elternhaus dar, wie es ihr Image suggeriert, hatte doch auch ihr Vater den Ruf eines Radikalen oder eines Liberalen des linken Flügels. Das kristallisierte sich am deutlichsten in seiner Identifizierung mit der Rolle von Tom Joad in Früchte des Zorns (The Grapes of Wrath, 1940) heraus, wobei er immer in die Politik der Demokraten involviert war (insbesondere der Kennedys) und kein Hehl aus seiner Ablehnung McCarthys machte. Nichts davon hatte derartige Folgen außerhalb des Systems wie die politische Aktivität oder die Ambitionen seiner Tochter, und in eben diesem Punkt hat sie in Interviews den Hauptunterschied zu ihrem Vater ausgemacht, selbst wenn auch auf dieser Ebene stets eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen den beiden bestehen blieb. Bislang habe ich Jane Fondas Verhältnis zu ihrem Vater hinsichtlich ihres „Erbes“, der physischen, kulturellen und politischen Züge betrachtet. So haben es Publicity und Werbekampagne, Kritiker und Kommentatoren immer wieder dargestellt, aber, wie oben nahgelegt, ebenso zentral für Fondas Image ist die Vorstellung, dass sie diesen Aspekt ihres Lebens erst einmal aushandeln musste. So sind es die Frage, die ihr von Reportern und Interviewern gestellt wurde, „Was hält ihre Vater davon?“ und Henrys angebliche Bemerkung in ihren ersten Jahren mit Vadim „Tochter? Ich habe keine Tochter“,15 die von den Medien über Jahre hinweg ausgeschlachtet wurden. Umgekehrt kam Jane Fonda in Interviews (soweit sie aufgezeichnet wurden) wiederholt auf einen anderen Aspekt aus dem Leben ihres Vaters zu sprechen – seine vier Ehen. Tatsächlich geht es in diesen Bemerkungen nur darum, dass sie infolgedessen einen gewissen „Zynismus“ gegenüber der Ehe entwickelt hatte.16 Vor dem Hintergrund dessen, dass sie mehrere Jahre eine Analyse machte, wurde dies nichtsdestotrotz als Hinweis auf eine psychologisch problematische Beziehung zu ihrem Vater gewertet. Mike Tomkies Artikel zeigt diesen Wandel: „Nervös und angespannt, hatte sie eine unkonventionelle Kindheit. Ihr Vater war vier Mal verheiratet...“.17 Er fährt dann mit dem Hinweis auf das eine definitiv traumatische Ereignis ihrer Kindheit fort, den Selbstmord ihrer Mutter, als sie zwölf Jahre alt war. Obwohl dieses Ereignis in den meisten Kurzbiographien von ihr erwähnt wird, liegt dennoch das Hauptaugenmerk 15 Zitiert von Brough 1973, 182, ohne Angabe einer Quelle. 16 Sunday Express, 22. März 1964. 17 Showtime, März 1967, 19.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder auf ihrem Vater. Das rührt offensichtlich von seinem Ruhm her und zweifelsohne von der Freud-Rezeption in Amerika, die der Vorstellung von Vater-Tochter-Beziehungen eine größere Bedeutung beimisst als jener zwischen Mutter und Tochter. Dabei handelt es sich, das sei betont, um eine selektive Rezeption von Freud, der darauf hingewiesen hat, dass für Töchter genau so wie für Söhne das erste Liebesobjekt die Mutter ist, was sich nach Freud in der größeren Neigung zur Bisexualität von Frauen zeige. All das geht in den vorherrschenden, heteronormativen Aneignungen von Freud verloren. Wie wir sehen werden, sind die Fragen der lesbischen Liebe und des tomboyism, also einer gewissen Burschikosität und Unbändigkeit, in Bezug auf Jane Fondas Image kompliziert und zentral. Die Betonung der problematischen, „psychologischen“ Aspekte von Fondas Beziehung zu ihrem Vater führt auch dazu, dass den Männern in ihrem Leben als Vaterfiguren nachdrücklich eine große Bedeutung in ihrem Image zugewiesen wird. Alle ihre folgenden Beziehungen zu Männern, so wird angenommen, weisen auf die mutmaßlichen Schwierigkeiten in der primären Vater-TochterBeziehung zurück. Ann Leslie impliziert im Daily Express (26. Januar 1969), dass mit dem Auftreten von Vadim sich Fonda vollkommen unter seinem Einfluss eines Svengali – so die oft in diesem Kontexte herangezogene Beschreibung – verwandelte habe. Die logische Fortführung dieser Linie, alle anderen Aspekte ihres Lebens unter diese Vater-Tochter-Beziehung zu subsumieren, so dass 1974 der Sunday Telegraph vom 31. März einen ihrer Biographen, Thomas Kiernan, mit den Worten: „Der grundlegende Motor für Veränderung in ihrem Leben sind Männer“, zitieren konnte. Auf diese Weise, fährt der Artikel fort, lassen sich alle ihre Vorstellungen auf eine Beziehung reduzieren, in der sie sich als Tochter den Vorstellungen von Männern ergibt – Vadim, Huey Newton („der schwarze Panther“), Fred Gardner („ein Marxist“), Tom Hayden (ihr Ehemann). Eine Tendenz ihres Images lässt sich so erkennen, nämlich ihre Persönlichkeit und ihre Ansichten auf ihren Vater zurückzubeziehen, über Vererbung und/oder die Psychoanalyse. Das ist jedoch nur die eine Tendenz. Die Filme greifen das nicht auf, und ihre spätere Karriere wurde als Etablierung ihrer selbst als eigenständige Person aufgefasst. Das bedeutet, dass die anderen Elemente ihrer Karriere – Sex, Schauspiel, Politik – nicht mehr reduziert werden auf die Reproduktion ihres Vaters bzw. als Reaktion auf ihn, wie es in früheren Momenten ihrer Karriere der Fall war. Es lässt sich jedoch auch dafür argumentieren, dass ihr derzeitiges Image eine Festigung seiner Werte darstellt, während es sich zugleich von ihm als Vater oder in der Form von Vaterfiguren loslöst.
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Richard Dyer
SEX Die Frage nach Jane Fondas Sexappeal wurde von Anfang an gestellt. Neben dem Bezug zu ihrem Vater galt sie stets als attraktiv. Die bereits zitierte Wendung „ein Lächeln wie ihr Vater und Beine wie eine Revuetänzerin“ aus der Times führt das sofort an, und es gibt sehr wenige Kritiken oder Pressestimmen, die nicht auf ihr Aussehen Bezug nehmen. Die Vermarktung ihrer Filme war fast ausschließlich darauf ausgelegt. Selbst am Ende eines verhältnismäßig wohlwollenden Berichts über ihre politische Entwicklung mit dem bezeichnenden Titel „Jane, die kämpfende Schönheit, die die Revolution predigt“ („Jane: the Battling Beauty who is Preaching Revolution“) schreibt Donald Zec: „Hollywood kann sich in seiner rasenden Suche nach dem eigenen Rückgrat gut Jane Fondas Philosophie zuwenden. Auch das Studium der Anatomie könnte nicht schaden“.18 Die Sunday Times legte in einer Sonderbeilage den Schwerpunkt ihrer Berichterstattung über die Produktion von Julia auf „Fonda mit Vierzig“ mit geschmackvollen Bildern, welche ihre unverminderte Schönheit feierten. Das Wort „Schönheit“ ist rar, wenn auch nicht ungewöhnlich in den Texten über Fonda geworden; doch die vorherrschende Betonung liegt bei weitem nicht auf ihm. Abgesehen von der Diskussion unter den Kritikern, ob sie wirklich schön sei oder eher alltäglich und doch attraktiv, ist es ziemlich erstaunlich, wie simpel ihr Sexappeal oft konstruiert wurde. Auf vielen Photographien wurde ihr Körper eher vulgarisiert als ästhetisiert. Insbesondere ihrem Po galt die Aufmerksamkeit: in den anfänglichen Szenen von Auf glühendem Pflaster (Walk on the Wild Side, 1962); die Bewegung ihres Hinterns auf einem Pferderücken, gefolgt von einem anzüglich grinsenden Lee Marvin als Reaktion darauf in der Verbindung von Cut in und Nahaufnahme in Cat Ballou – Hängen sollst Du in Wyoming (1965); und auf den amerikanischen Plakaten für Der Reigen (La Ronde/Circle of Love, 1965), gegen die sie Einspruch erhob. Es ist nicht überraschend, dass Pauline Kael in ihrem Artikel im New Yorker über Fonda schreiben konnte, sie sei bislang ein „nacktes Herzchen“,19 während Variety ihre „bisherige Karriere“ als „die eines SexBonbons“ kommentiert.20 Ihre Rollen verstärkten diese Derbheit teilweise: eine Landstreicher-Prostituierte in Auf glühendem Pflaster, eine „andere Frau“ in Begierde an schattigen Tagen; eine – in den
18 Zec 1970. 19 Springer 1974, 270. 20 Springer 1974, 268.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder Worten des Time-Magazins – „weiße Trash-Schlampe“21 in Ein Mann wird gejagt (The Chase, 1966); eine „dekadente Oberschichtengöre aus dem Süden“22 in Morgen ist ein neuer Tag (Hurry Sundown, 1967). Außer Begierde an schattigen Tagen sind das alles Melodramen im tiefen Süden, ein Genre, in dem „hysterische“, „nymphomanische“ Frauenportraits vorherrschen. Klute ist in dieser Hinsicht ein sehr interessanter Film, weil Fonda ihre früheren Rollen evoziert, indem sie die Rolle einer Prostituierten spielt, aber zugleich versucht, sie feministisch anzulegen, so dass – in Sheila Whitakers Worten – die Prostituierte als „die ehrlichste und die am meisten verachtete aller Frauen“23 aufgefasst werden kann. Unklar bleibt, ob die Rolle sie vom ausbeuterischen Charakter ihres früheren Images befreite oder ob letzteres dazu beitrug, das radikale Potential der Figur zu reduzieren. Dieselbe Frage stellt sich für die Diskussion der Sex- bzw. Kussszenen in Alles in Butter (Tout va bien, 1973) und der Nacktszene mit John Voigt in Sie kehren heim (Coming Home, 1978). Es hängt von der Haltung des Publikums ab, wie es diesen Film sieht, von seinem Interesse an Fonda und seinem Wissen über sie. Die Bedeutung von Sex für ihr Image wuchs natürlich mit ihrer Verbindung mit Roger Vadim. Allein die Verbindung mit ihm, dem „Schöpfer“ von Brigitte Bardot, dem Regisseur von Und immer lockt das Weib (And God Created Woman, 1956), stellte Sexualität in den Vordergrund, und ihre gemeinsamen Filme verstärkten das: Der Reigen (La Ronde, 1965), Die Beute (La Curée/The Game is Over, 1966), Barbarella (1968) und die „Metzengerstein“-Episode im gleichnamigen Film (Histoires extraordinaires, 1969). Überall wurde Sex transportiert. Allein die Tatsache, dass Jane Fonda Nacktszenen spielte, genügte, diese Filme als Teil von Werbekampagnen und als Publicity zu verstehen, zusätzlich verstärkten dies sowohl die Erzählungen als auch die mise en scène. Sie spielte eine „verheiratete Schürzenjägerin“24 in Der Reigen und eine Frau, die sich in ihren Stiefsohn verliebt hat in Die Beute. Barbarella ist eine einzige Serie von Liebesabenteuern, die darin kulminiert, dass Barbarella einer Maschine zum Opfer fällt, die sie durch erotische Lust umbringen soll, für die jedoch ihre sexuelle Energie zu stark ist, dass sie sie zum Explodieren bringt. Barbarella war außerdem gespickt mit perversen – oder, gemäß dem damaligen Jargon – „abartigen“ Elementen (kinky elements), etwa mit einem grotesk behaarten Jäger ins Bett zu gehen und von einer anderen Frau verführt zu werden. Diese „Abartigkeit“ findet sich auch in Metzengerstein, in der die von 21 Springer 1974, 223. 22 Judith Crist, New York World Journal Tribune. In: Springer 1974, 236. 23 Whitaker 1976, 13. 24 Shipman 1972, 160.
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Richard Dyer Fonda dargestellte Figur ein Pferd liebt. Die erotische Darstellung dieser Liebe wird dadurch erklärt, dass es sich bei dem Pferd in Wirklichkeit um die Reinkarnation ihres geliebten Cousins handelt. Eine besondere Note erhielt das Ganze durch die Tatsache, dass der Cousin, der in Rückblenden zu sehen ist, von Fondas Bruder Peter gespielt wurde. Obwohl sie in Interviews geleugnet hat, damit einen Inzest erregend andeuten zu wollen, wurde das sicherlich allgemein so aufgenommen. […] In Vadims Filmen sind Fondas Rollen durchweg erotisch; mit Sicherheit wurden ihre gemeinsamen Filme von den meisten so verstanden. Sheilah Grahams Artikel „The Fondas: The Papa, the Mamas and the Kids“25 gibt einen Hinweis darauf, wie weit verbreitet die vollkommene Gleichsetzung von Vadim mit Fondas sexuell aufgeladenen Rollen war: ,Warum ziehst du dich immer aus?‘ fragte ich Jane in Rom, und ,Warum zieht Vadim immer seine Frauen aus?‘ Sie protestierte, ,das ist nicht wahr. Ich war nur in drei Filmen nackt.‘ Warum scheint es, als wären es dreihundert? (201)
Die Verbindung mit Vadim intensiviert das sexuelle Moment in Fondas Image allerdings nicht nur, sondern macht es auch komplizierter. Sowohl Fonda als auch Vadim behaupteten in Interviews, dass er sie in ihrem gemeinsamen Leben wie auch durch diese Filmen „befreit“ habe. Mike Tomkies beispielsweise zitiert ihre Aussage „Von dem Moment an, in dem ich begriff, dass Roger mir ermöglichte, ich selbst zu sein, vertraute ich ihm vollkommen“26 und Vadims Standpunkt: „Heute ... ist es für Frauen kein Problem mehr, sexuell frei zu sein. Jetzt interessiert ihn nicht die Wahl der Freiheit, sondern der richtige Weg zu ihr“.27 […] Fonda wurde auch zitiert mit der Aussage, Barbarella sei „eine Art ironischer Satire gegen bürgerliche Moralvorstellungen“.28 All das legt nahe, dass die Beziehung mit Vadim nicht notwendiger Weise nur als Reduzierung Fondas auf ein Sexobjekt gesehen werden musste, sondern dass sie auch als Weg hin zu einer unproblematischen Sexualität gesehen werden konnte. Dass dies in Europa geschah, verleiht der Deutung als Befreiung auch eine gewisse Glaubwürdigkeit, ist es doch so Teil eines bekannten kulturellen Phänomens, das Sheilah Graham wenig freundlich mit der Rede von „dem amerikanischen Mädchen, das
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Graham 1969. Tomkies 1967, 21. Ebd. Photoplay, Februar 1968, 63.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder zum Sex ging“ (von Shipman zitiert, 160) aufruft und das auch Pauline Kael zu Beginn ihrer Besprechung von Barbarella ausführt: Was hätte Henry James mit Jane Fonda gemacht, einer Schauspielerin, die seinen Heldinnen so sehr ähnelt. Eine amerikanische Jahrhundert-Erbin im Ausland, verheiratet mit einem ausgezeichneten Exemplar eines James’schen Schurken, einem gebildeten Europäer (einem Franzosen mit russischen Wurzeln), der nach seichter Moral nur so riecht […]29
Wie bereits angemerkt, wurde die Auffassung, dass Fonda selbst in ihren „abartigsten“ Vehikeln etwas von ihrer All-Americanness behalten habe, von den meisten Kritikern vertreten und machte es vielleicht erst möglich, Vadims „Svengali“-Einfluss auf sie als einen weiteren Aspekt ihres Lebens zu betrachten, mit dem sie umzugehen lernte, anstatt von ihm bestimmt oder beherrscht zu werden.
SCHAUSPIEL Während ihrer gesamten Karriere wurde Fondas Begabung als Schauspielerin betont. Vor ihrem ersten Film Je länger, je lieber lernte sie für einige Zeit bei Lee Strasberg das Method Acting im Actors‘ Studio in New York. […] Dennoch wird man kaum ein Merkmal dieser Methode in Fondas Spielweise finden.30 Ihr Ansehen als Schauspielerin rührte eher von vier traditionelleren Faktoren her. Erstens stellte sie ihr Können mit ihrem wenn auch nicht sonderlich großen Erfolg beim Theater unter Beweis, das immer als der „eigentliche“ Test für das Schauspielen gilt. Zweitens ist die Bandbreite der Rollen zu nennen, die sie im Laufe ihrer Karriere spielte, insbesondere ihre Wechsel zwischen ernsten Spielfilmen (Auf glühendem Pflaster, 1962; Der Chapman Report, 1962; Begierde an schattigen Tagen, 1963; Ein Mann wird gejagt, 1966; Die Beute, 1966; Morgen ist ein neuer Tag, 1967; Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, 1969) und leichten Komödien. Letztere stellen den dritten Faktor in ihrer Qualität als Schauspielerin dar. Abgesehen von Cat Ballou – Hängen sollst Du in Wyoming (1965) gehören sie alle zu einem Genre, für das es nur das Label „Amerikanische Sexkomödie“ gibt. Es handelt sich um einen Typus von Komödie, der im Film mit der späteren Karriere von Doris Day und im Theater beinah ausschließlich mit den Stücken von Neil Simon verbunden 29 Springer 1974, 254. 30 Manche Beobachter meinen, Fondas Zugang zu Spiel und Rolle sei typisch für das Method Acting und diese Methode habe möglicherweise einigen ihrer späteren Filme den Improvisations-Charakter verliehen, auf den noch die Rede kommen wird.
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Richard Dyer ist; die Filmfassung seines Barfuß im Park (Barefoot in the Park) machte Fonda 1967. Die anderen Filme in dieser Kategorie waren Je länger, je lieber (1960), Zeit der Anpassung (Period of Adjustment, 1962), Sonntag in Ney York (Sunday in New York, 1964) und Jeden Mittwoch (Any Wednesday, 1966). Sie hatten alle erfolgreiche Broadway-Komödien zur Vorlage (weitere Bestätigung im Theater), und in allen von ihnen, sagten die Kritiker, zeige Fonda ihr Gespür für das richtige Timing, fraglos eine Qualität im Schauspiel. Der vierte Beleg ihrer schauspielerischen Fähigkeiten rührte von ihrer Oscarnominierung für Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss und der Verleihung eines Oscars für Klute (1971) her, sowie von der Verleihung des Preises als „beste Schauspielerin“ für beide Filme durch den New York Film Critics Circle, was im Hinblick auf das „Schaupielen“ im Gegensatz zu den Starqualitäten wichtiger ist. Ihre weitere Karriere blieb von dieser Definition ihrer schauspielerischen Leistungen bestimmt, und zwar durch einen Film mit Godard (Alles in Butter, 1973)31 und die Adaption eines Klassikers (Ein Puppenheim, 1974), die Verkörperung einer historischen Persönlichkeit (Lillian Hellman in Julia, 1977) ebenso wie durch die Rückkehr zur Komödie mit Steelyard Blues (1972) und Das Geld liegt auf der Straße (Fun with Dick and Jane, 1977). Ein weiterer Faktor neben ihrem Talent, verschiedene Arten von Rollen zu spielen, anstatt immer „sie selbst zu sein“ (wobei man die Gültigkeit dieser Unterscheidung in Frage stellen mag, allgemein wie im Fall von Fonda) sowie die Assoziation mit Nicht-Hollywood, nicht-glamourösen Figuren und allem, was sie transportieren, ist die Tatsache, dass die meisten der späteren Filme (seit Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss) weitgehend zum so genannten „New Hollywood“-Kino bzw. der „American New Wave“ gehören.32 Vom Blickpunkt der Schauspieler aus legt dieser Stil ein größeres Gewicht auf die Ausarbeitung der Charaktere innerhalb einer losen Erzählstruktur und auf naturalistische Verfahren wie unterbrochene Rede, Zögern, Murmeln, Ticks und andere Techniken, die dem Spielen einen Hauch von Improvisation verleihen. Fonda beherrscht diesen Stil – ihr „Naturalismus“ ist besonders markant in den Szenen mit dem Psychoanalytiker in Klute und durchgängig in Sie keh31 Godard setzt Schauspieler nicht „theatralisch“ ein – wichtig ist hier die Tatsache, dass Fonda in einem Film eines namhaften europäischen Regisseurs mitgewirkt hat, was allgemein als Anzeichen ihres „Schauspielens“ wahrgenommen werden dürfte. 32 Vgl. Neale 1976. Obwohl Godard nicht zum Hollywood-Kino gehört, stellten seine Filme aufgrund seiner Beteiligung an der Nouvelle Vague einen der wichtigsten Einflüsse auf den neuen Stil in der amerikanischen Filmproduktion dar.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder ren heim (1978) – und weil eben das im zeitgenössischen Kino „gutes“ Schauspielen ausmacht, bestätigt es ihr Ansehen als Schauspielerin.
POLITIK Mehrfach wurde in der Kritik die Frage aufgeworfen, ob Fonda als Sex-Star oder als Schauspielerin zu bewerten ist. Es finden sich Stimmen, die dahingehend argumentieren, dass sie, v.a. in Die Beute, ihr Fähigkeit unter Beweis gestellt habe, Sexualität schauspielerisch darzustellen; aber gemeinhin werden Sexualität und Schauspielkunst als zwei getrennte, wenn nicht gegensätzliche Elemente betrachtet. Ihre Hinwendung zur radikalen Politik brachte weit schärfere Gegensätze hervor. Umfängliche Presseberichte widmeten sich ihrem politischen Engagement in den vier zentralen Bereichen des Radikalismus, die von den amerikanischen Massenmedien respektiert werden: die indigenen Amerikaner (ihre Reise anlässlich der Besetzung von Alcatraz 1969), ihr Kontakt zu Huey Newton von den Black Panthers, ihr Antikriegseinsatz (Vietnam) in GI-„Kaffeehäusern“, der 1969 zu einer Festnahme führte, und ihr Feminismus. Zudem heiratete sie 1972 Tom Hayden, ein führendes Mitglied der militanten Studentenorganisation SDS (Students for a Democratic Society) und einen der „Chicagoer Sieben“. Sie unterstützte auch zwei AntikriegsAktionen, die (im Nachhinein verfilmte) Show Free the Army (oder Fuck the Army) (1972) und den Dokumentarfilm Vietnam Journey (1972). Einige ihrer Filme nehmen ebenfalls explizit eine radikale Position ein – in Alles in Butter ist sie eine radikale Journalistin, die das Erbe von 1968 wieder aufrührt; Ein Puppenheim ist Ibsens klassisches „feministisches“ Theaterstück; in Julia spielt sie die bekannte liberale Linke Lillian Hellman; und Sie kehren heim handelt von der Politisierung einer Frau aufgrund ihrer Arbeit mit verwundeten Soldaten während des Vietnamkrieges. Außerdem galten Klute und mehr noch Sie kehren heim als feministische Filme: Klute da hier Prostitution als eine Metapher für die sexuelle Behandlung von Frauen allgemein verwendet wird, und Sie kehren heim, weil Fonda darin eine Figur spielt, die ihr Potential zu autonomem Handeln und zum Orgasmus entdeckt.33 Die besondere Bedeutung all dessen – der Ereignisse wie der Filme – ist immer vor der Tatsache zu sehen, dass es Jane Fonda 33 Die Figur im Film hat das erste Mal einen Orgasmus, als sie mit der von Jon Voight gespielten Figur schläft. Der Gegensatz zwischen diesem für die Frau „befreiten“ und dem üblichen „bedrückenden“ Sex kommt durch eine frühere Sexszene mit ihrem Mann, gespielt von Bruce Dern, zum Ausdruck.
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Richard Dyer ist, die das macht. Es ist nicht nur die Presse, die sie immer ins Licht anderer Aspekte ihres Images stellt – Was würde ihr Vater davon halten? Hätte sie nicht das „sehr temperamentvolle und rebellische Sexsymbol bleiben können, das in 18 Filmen eine der Hauptrollen spielte“, anstatt „die neue Jane Fonda zu werden, [die] alles mögliche ist, aber mit Sicherheit eines nicht: ,liebenswert‘?“34 In welchem Verhältnis standen diese ganzen politischen Aktivitäten zu ihren Leistungen als Schauspielerin?35 Es handelt sich dabei nicht nur um die Schwierigkeiten der Medien, einen Umgang mit einem aufbegehrenden Star zu finden. Tatsächlich wäre es für die Medien schwierig, anders mit der aufrührerischen Haltung eines Stars umzugehen. Sie können das, was der Star tut, nur darstellen als den Star in seinem Tun, das Außergewöhnliche oder die Schwierigkeit seines Tuns, nicht aber die jeweiligen als politisch geltenden Themen. Dementsprechend lenkte Fondas Reise nach Alcatraz das Interesse der Öffentlichkeit nicht vorrangig auf die Situation der indigenen Bevölkerung, sondern warf vielmehr die Frage auf, was eine Frau tut, wenn sie sich an so einen Ort begibt. Anders gesagt: Sie warf das Problem des weißen Radikalismus auf. Fonda-als-Star-als-Revolutionärin macht das Problem, welche Rolle privilegierte weiße Menschen im Kampf der unterprivilegierten Nicht-Weißen haben, zum dramatischen Schauspiel.36 Genau dieses Problem griffen Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin in ihrem Film Letter to Jane (1974) auf. Ausgehend von der semiotischen Analyse eines Pressephotos von Fonda in Vietnam während der Dreharbeiten für Vietnam Journey weisen sie darauf hin, dass ihr politisches Engagement von reaktionären amerikanischen Werten durchdrungen ist.
34 Mike McGrady. Guardian, 5. Mai 1971. 35 Zec 1970 wies darauf hin, dass sie „ihre gefährlichen politischen Eskapaden … leicht um den Oscar am nächsten Abend bringen könnten“ – und tatsächlich erhielt sie den Oscar erst zwei Jahre später. 36 Die Frage nach dem Feminismus stelle ich für einen Moment zurück. Hinsichtlich der öffentlichen Ereignisse und Filme, – für manche ihrer Handlungen und Stellungnahmen gilt das nicht – fällt auf, dass das Problem der Klasse nur im Zusammenhang mit demjenigen Film aufgeworfen wird, der am weitesten von Fondas Realität und der der Öffentlichkeit entfernt ist, Alles in Butter, der die Probleme bourgeoiser Revolutionäre wieder ausgräbt.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder
Jane Fonda in Vietnam
Wie sie betonen, falle auf, dass das Photo sie mit Vietnamesen zeige und nicht die Vietnamesen selbst.37 Darüber hinaus, so ihre Argumentation, habe Fonda den gleichen Gesichtsausdruck auf dem Photo wie in politischen Kontexten. Sie finden ihn in Alles in Butter („als sie als Schauspielerin einem der Statisten des Films zuhört, der ein Lied nach einem Text von Lotta Continua singt“) und in Klute (als „sie einen Freund mitleidsvoll ansieht, einen von Sutherland gespielten Polizisten, und eine Spur von Tragik und Mitleid ihr Gesicht zeichnet, ehe sie beschließt, die Nacht mit ihm zu verbringen“) ebenso wie in den Filmen ihres Vaters (darunter Früchte des Zorns und Der junge Mr. Lincoln – Young Mr. Lincoln) und bei John Wayne als er in Die grünen Teufel (The Green Berets) sein „tiefes Bedauern über die Verwüstung des Vietnamkrieges zum Ausdruck bringt.“ Sie fahren fort: Unserer Meinung nach wurde dieser Gesichtsausdruck geliehen, Kapital und Zinsen, von dem freien Markenzeichen von Roosevelts New Deal. Tatsächlich handelt es sich um den Ausdruck eines Ausdrucks, und der erschien unweigerlich zufällig in dem Moment, als die Tonfilme ein finanzieller Erfolg zu werden begannen. Dieser Ausdruck spricht, aber nur um mitzuteilen, wie viel er zum Beispiel vom Zusammenbruch des Aktienmarktes weiß. Aber er teilt eben nur mit, dass er viel weiß.38
37 Sie kritisieren Fonda dafür; man könnte allerdings auch argumentieren, dass so etwas dem Starphänomen inhärent sei. 38 Aus einem Transkript von Nicky North.
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Richard Dyer Diese negative Sicht (die, nebenbei bemerkt, rein formal bleibt – sie untersucht nicht die Situation, innerhalb der Fonda arbeitet) und nicht so sehr der politischen Fragen, in die Fonda involviert ist, die Auffassung von Fonda-als-Politikum, ist bei der Linken wie bei der Rechten weit verbreitet. Als ein Beispiel für letztere ist interessant, wie oft die Presse Bemerkungen von Henry Fonda zitiert wie: „Für sie gibt’s den unmittelbaren Anlass, sie arbeitet für die richtigen Dinge, wie ich meine aus den falschen Gründen. Sie wird keine Ruhe geben, ehe man sie verbrennt wie Jeanne d’Arc“.39 Ein ähnliches Unbehagen kommt auch in der feministischen Haltung in Bezug auf ihren Feminismus zum Ausdruck, obwohl sie von vielen feministischen Texten weitgehend unterstützt wird. Diese Ambivalenz liegt vielleicht darin begründet, dass der Feminismus das persönliche politische Engagement sehr viel höher auf der politischen Agenda ansetzt als die traditionelle Politik, in der das „Persönliche“ im Angesicht des jeweiligen „Themas“ des Kampfes zurücktritt. Es geht nicht so sehr darum, dass alle Feministinnen sie als Vorbild anerkannten, als darum, dass sie vorführt, was es heißt, politisch zu sein – sie stellt nicht ein Problem dar, sondern die – selbst wiederum politische – Frage des Engagements für ein Problem. Tracy Young führt diesen Punkt aus. Sie vergleicht Fonda mit anderen weiblichen Stars ihrer Zeit, die vielleicht so etwas wie die „neue“ Frau verkörpern: „Anders als Faye Dunaways… ist Fondas Engagement nicht gerissen. Anders als Lily Tomlin… erscheint Fonda unendlich viel direkter, sie scheint immer noch an die positiven Aspekte des Ego zu glauben… anders als Diane Keaton… ist Fonda nicht unsicher“.40 Sie schließt ambivalent: In vielen Hinsichten ist [Fondas] Anziehungskraft als Publikumsmagnet ein indirektes Ergebnis der Frauenbewegung, einer Bewegung, die auf der ständigen Suche nach Rollenvorbildern war, und einer Bewegung, die bis vor kurzem (wie der Rest der Linken) vor allem aus der idealistischen Mittelklasse stammte. Und in vielen Hinsichten sind es deren Werte, die sie zelebriert und von neuem zur Gültigkeit bringt.
[…] Fonda bringt gewissermaßen die Ziele der Frauenbewegung mit „akzeptablem“, „normalem“ Verhalten in Einklang. Ihre AllAmericanness ist hier ebenso wichtig wie ihre Akzeptanz als gute Schauspielerin, aber am wichtigsten ist vielleicht die sexuelle Komponente. In all den „abartigen“ französischen Filmen wurden ihren „gesunden“, „amerikanischen“ Qualitäten gelobt, und Fonda blieb unbeirrbar „normal“, d. h. heterosexuell. Dass dies von Bedeutung 39 Sunday Mirror, 24. September 1972. 40 Young 1978, 57.
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ist, wurde mit Julia (1977) besonders deutlich. Wie Jennifer Selway in einer Ausgabe der Time Out mit Materialien zu dem Film beobachtet , „hält es [in Julia] niemand für nötig zu erwähnen, dass lesbische Liebe für das Stück Kinderstunde (The Children’s Hours) zentral ist, das Hellman zu schreiben versucht, während in einer Zusammenschau ,ihre Erinnerung sich wieder und wieder Julia zuwenden‘“. 41 Und in einem Interview in Télérama vom 18. Dezember 1976 sagt Fonda selbst: Man sagte mir in London, dass es [in Julia] um Homosexualität gehe. Ich würde das nicht sagen; es ist nur eine Geschichte über eine tiefe Freundschaft. Außerdem habe ich selbst angeboten, diese Rolle zu spielen.
Einer der größten „Makel“, der der Frauenbewegung, dank der Massenmedien, anhaftet, ist die lesbische Liebe. Während viele Frauen ihr eigene lesbische Liebe durch die Bewegung entdeckt haben und während die Frauenbewegung schon formell zur Verteidigung der lesbischen Liebe verpflichtet ist, bleibt diese sicherlich für viele Frauen (und Männer) doch ein Stein des Anstoßes. Ich möchte nicht behaupten, dass Fondas Image anti-homosexuell ist, aber es ist sicherlich deutlich nicht-homosexuell, und diese Tatsache lässt ihre politisches Engagement, insbesondere ihren Feminismus – zusammen mit ihrer Herkunft und ihrem Schauspieltalent – gewöhnlicher und normaler erscheinen.42 Die Karriere von Fondas Image lässt sich als Repräsentation der Reise von Fonda-als-Person durch verschiedene Möglichkeiten und Probleme betrachten, die ich unter den Stichworten Vater, Sex, Schauspiel und Politik behandelt habe. Meine Darstellungen der letzten Seiten legen nahe, dass ihr Image in dem betrachteten Zeitraum diese verschiedenen Elemente mit einander in Einklang bringt, dass die „Reise“ zu einem Ende gekommen ist. Natürlich kann ich von dem jetzigen Stand der Dinge her keine Vorhersagen machen, aber es scheint doch, dass mit Julia und Sie kehren heim ihr Ansehen als Star einen Höhepunkt erreicht hat, und die Theorie des Charismas […] unterstreicht insbesondere den Star als jemanden, der Widersprüche miteinander in Einklang bringt. Dennoch möchte ich mit einem weiteren Element schließen, das möglicherweise eine gewisse Kontinuität zwischen ihrem Image und dem, was als tomboyism bezeichnet wird, erlaubt. Verschiedene weibliche Stars hatten diese Qualität […], und die beim Publikum erfolg41 Selway 1978, 39. 42 Die bereits angesprochene Aussparung hinsichtlich der Freud-Rezeption, nämlich die der Freudschen Auffassung der Mutter-Tochter-Beziehung, ist im Hinblick auf lesbische Liebe äußerst vielsagend.
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Richard Dyer reichste Rollen Fondas vor Klute waren Tomboy-Rollen, wie in Auf glühendem Pflaster, Cat Ballou – Hängen sollst Du in Wyoming und Barbarella.
Jane Fonda in Cat Ballou – Hängen sollst Du in Wyoming, 1965.
Bilder aus verschiedenen Lebensphasen haben dieses Element betont, von Werbephotographien der Fonda-Familie bis zu ihrer Darstellung bei politischen Meetings mit Kurzhaarschnitt und in Jeans. Auch Tracy Young weist darauf hin, dass sie mit der Rolle der Lillian Hellman in Julia einen „legendären Tomboy“ spielte.43 In den Szenen mit Dashell Hammett/Jason Robards Jr. trägt sie Hose und Pullover, schreit ihn an und flucht über ihn. Hier ist nicht der Ort für eine Untersuchung, wo die Wurzeln für die Akzeptanz des tomboy-Images allgemein liegen, aber Folgendes lässt sich beobachten: Es ist fraglos akzeptabel für ein Mädchen ein tomboy zu sein (hingegen ist es für einen Jungen unmöglich, eine mädchenhaft-sanfte Prinzessin, eine Sissy zu sein), vermutlich, weil der Wunsch einer Person, die Eigenschaften des überlegenen Geschlechts anzunehmen, bewundernswert ist, nicht aber vice versa. Die Frau behält etwas von der „Unreife“ eines Jungen bei, und so stellt sie keine Bedrohung für einen erwachsenen Mann dar. Wenn, wie bei Fonda,
43 Young 1978, 57.
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Star-Images – Keine gewöhnlichen Bilder das Image sehr stark sexuell aufgeladen ist, können wir über die Rolle der Homosexualität darin spekulieren: physisch als eine phallische Substitution […] oder die Anziehungskraft dessen auf ihre heterosexuellen männlichen Fans – aber auch auf andere Frauen. Für die Frage nach der Anziehungskraft ergäbe sich daraus ein möglicher Widerspruch für das nicht-homosexuelle Element in ihrem Image auf der Ebene der Repräsentation (d. h. sie verkörpert eine nicht-homosexuelle Frau, die nichtsdestotrotz homosexuelle Gefühle bei ihrem Publikum ansprechen kann44). Solche Spekulationen sind riskant, aber es ist möglich, dass der Grund für ihr Charisma – das die Extreme von Hass und Liebe evoziert45 – eben darin liegt, dass hier Radikalismus und Feminismus mit dem Amerikanischen und dem Gewöhnlichen ausgesöhnt werden, aber auch in ihrer Fähigkeit (als Tomboy) Neudefinitionen von Sexualität zu eröffnen und zugleich offen und nachdrücklich an Heterosexualität festzuhalten. Übersetzung: Anja Burghardt
Bibliographie Anmerkung der Herausgeber: Eine ausführliche Bibliographie zum Thema Stars findet sich in Dyer, Richard 1998. Stars. London (British Film Institute), dem der vorliegende Aufsatz entnommen ist.
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44 Vgl. dazu, allerdings nicht spezifisch zu Jane Fonda, Sheldon 1984. 45 Vgl. Katz 1978.
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Richard Dyer Davis, Ronald L. 1993. The Glamour Factory: Inside Hollywood’s Big Studio System. Dallas (Southern Methodist University Press). DeCordova, Richard 1990. Picture Personalities: The Emergence of the Star System in America. Urbana (University of Illinois Press). Dyer, Richard 1978. Heavenly Bodies: Film Stars and Society. London (Macmillan). Dyer, Richard 1979. Teacher’s Study Guide 1: The Stars. London (British Film Institute Education). Dyer, Richard 1979. The Dumb Blonde Stereotype. London (British Film Institute). Dyer, Richard 1980. Star Dossier 1: Marilyn Monroe. London (British Film Institute Education). Featherstone, Mike/Hepworth, Mike/Turner, Bryan S. (Hg.) 1991. The Body: Social Process and Cultural Process. London (Sage). Graham, Sheila 1969. „The Fondas: The Papa, the Mamas and the Kids“. In: Graham, Sheilah: Scratch an Actor: Confessions of a Hollywood Columnist. London (W. H. Allen). Harris, Thomas 1991. „The building of popular images. Grace Kelly and Marilyn Monroe“. In: Gledhill, Christine A. (Hg.): Stardom: Industry of Desire. London (Routledge), 40–44. Hebdige, Dick 1979. Subculture: The Meaning of Style. London (Methuen). Katz, Ronald D. 1978. „Jane Fonda – a Hard Act to Follow“. In: Rolling Stone, 9. März. Kirkham, Pat/Thumin, Janet (Hg.) 1995. Me Jane: Masculinity, Movies and Women. London (Lawrence and Wishart). Lewis, Lisa A. (Hg.) 1992. The Adoring Audience: Fan Culture and Popular Media. London (Routledge). MacCann, Graham/Dyer, Richard 1992. The Stars Appear. Metuchen NJ (Scarecrow Press). MacCann, Graham 1988. Marilyn Monroe. Cambridge (Polity Press). Mayne, Judith 1993. Cinema and Spectatorship. London (Routledge). McGrady, Mike 1971. Artikel im Guardian vom 5. Mai. Moores, Shaun 1993. Interpreting Audiences: The Ethnography of Media Consumption. London (Sage). Neale, Steve 1976. „New Hollywood Cinema“. In: Screen 17/2 (Summer), 117-133. Schickel, Richard 1985. Common Frame: The Culture of Celebrity. London (Pavilion Books/Michael Joseph). Selway, Jennifer 1978. Artikel in Time Out vom 7.-13. Juli. Sheldon, Caroline 1984. „Lesbians and Film: Some Thoughts“. In: Dyer, Richard (Hg.): Gays and Film. New York (Zoetrope), 5-25. Shipman, David 1972. The Great Stars – The International Years. London (Hamlyn).
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie ANJA TIPPNER
Heiliger, Prophet, Priester, Rebell, Erfinder, (verkanntes) Genie – dies sind nur einige Rollen, die Künstlern und Schriftstellern in der Moderne für ihre öffentliche Selbstdarstellung zur Verfügung stehen. Künstler und insbesondere Schriftsteller in Osteuropa konnten bis zum Jahr 1989 noch auf eine weitere Rolle zurückgreifen – jene des Dissidenten. Allen Künstlerrollen ist gemeinsam, dass sich über sie exemplarisch ästhetische wie gesellschaftliche Fragestellungen und Probleme thematisieren lassen. Künstler werden somit zu gesellschaftlichen Rollenvorbildern, aber auch zu abschreckenden Beispielen unerwünschter Subjektentwürfe. Kaum ein Autor hat die Funktion von Vor- und Gegenbild für einen gewissen historischen Augenblick so idealtypisch verkörpert wie Václav Havel, der Dramatiker und spätere erste Staatspräsident der Tschechoslowakei, kaum ein Autor verfügt über ein ähnliches Charisma und kaum einem Schriftsteller wurde wie ihm eine Bedeutung zugesprochen, die das Feld der Kunst weit überschreitet. „Künstler“, „Dissident“, „Politiker“, „Celebrity“ – das sind Elemente von Havels Biographie. Manche dieser Positionen überschneiden sich, andere werden gleichzeitig von ihm ausgefüllt, wieder andere folgen aufeinander und scheinen nur schwer miteinander vereinbar wie die von Dissident und Staatspolitiker oder die des Kulturkritikers und der Celebrity. Es lässt sich jedoch festhalten, dass die öffentliche persona Havels seit der Wende von 1989 stärker unter dem Vorzeichen der Politik, als unter dem der Kunst wahrgenommen wird. Gleich wie die Biographie Havels kontextualisiert wird, ob im Feld der Kunst oder im Feld der Politik – in beiden Bereichen erscheint er als „symbolic leader“, als eine Person, die durch ihr Charisma Menschen bewegt.1 Ja 1
Zum Begriff des „symbolic leaders“ vgl. Klapp 1964, 23. „A symbolic leader moves people through his image, the kind of man he seems to be, the sty-
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie mehr als dies, er war, wie sein Biograph Kaiser schreibt, zeitweise der „Liebling der Nation“.2 Dies gilt schon für die Jahre vor seinem Amtsantritt 1989, denn wie Havel selbst anmerkt, war er „auch als „bloßer“ Schriftsteller – eine politische Erscheinung“, da in „totalitären Verhältnissen“ alles politisch sei.3 Diese Einschätzung wird auch von seinen Biographen übernommen, etwa von Keane, der schreibt, Havel sei „immer ein politisches Geschöpf“ gewesen.4 Die beiden Kategorien, die Havels Biographien strukturieren, sind mit den Begriffen „Kunst“ und „Politik“ benannt, und verbunden sind sie durch den Begriff der Inszenierung. Leben, Kunst und Politik bedürfen einer gewissen Inszenierungsleistung, um öffentlich sichtbar zu werden, um in Erscheinung zu treten.5 Für das Leben leisten dies nicht zuletzt biographische wie autobiographische Texte. Mit dem russischen Formalisten Boris Tomaševskij soll hier nicht die Biographie Havels diskutiert werden, sondern die biographische Legende6, wie sie sich in seinen eigenen autobiographischen Texten ebenso wie in den autorisierten und nicht-autorisierten biographischen Darstellungen geformt hat. Wiewohl Havel bis heute keine klassische Autobiographie verfasst hat, so liegt doch eine Vielzahl von Texten vor, die lebensgeschichtliches Material präsentieren und in denen sich seine öffentliche persona formt. Das von Havel bevorzugte (auto)biographische Genre ist das Gespräch oder der Briefwechsel.7 Gleich zweimal hat er seinem Freund und
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le of life or attitude he symbolizes. People respond to him in the mass and in audiences, so he does not need bureaucratic or other status to be effective“. Mit dieser Beschreibung lässt sich besonders das Wirken Havels seit den späten 1960er Jahren beschreiben, in denen er insbesondere seit Gründung der Charta 77 zwar keinen offiziellen Status hatte, wohl aber über das symbolische Kapital verfügte, um Menschen zu „bewegen“. Kaiser 2009, 201 (miláček národa). Havel 2006, 10. „[…] v jakési míře jsem vždycky – i jako „pouhý“ spisovatel – byl politickým úkazem“. Keane 2000, 410. Hier wie an anderer Stelle dient die Metapher der Inszenierung oder Aufführung auch den Biographen dazu, die Literatur, das Leben und die Politik zu verzahnen: „Er (Havel) plante, ein neues Stück zu inszenieren – das bisher größte seines Lebens.“ Gemeint ist die Präsidentschaft. Rocamora verweist schon im Paratext ihrer Biographie auf die Inszenierung als Strukturprinzip sowohl ihres Textes als auch des Havel’schen Lebens. Sie zitiert aus Shakespeare: „All the world’s a stage. And all men and women are merely players. They have their exits and their entrances; And one man in his time plays many parts …“. Rocamora 2005, v. Fischer-Lichte/Pflug (Hg.) 2000. Tomaševskij 1923, 53. Eine bedeutende autobiographische Quelle sind die Dopisy Olze (Briefe an Olga), die Havel im Gefängnis verfasste und die weniger private Briefe als
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Anja Tippner Gefährten Karel Hvížd’ala schriftlich und auch mündlich Rede und Antwort auf Fragen gestanden, die alle Aspekte seines Lebens – das Politische, das Ästhetische wie das Private berühren, wobei politische und ästhetische Fragen eindeutig im Vordergrund stehen. Zwar geht er immer wieder kursorisch auf Privates ein, wirklich tiefe Einblicke in sein Innenleben gewährt er jedoch nie. Dies liegt sicherlich auch an Karel Hvížd’ala, der Havels Antworten durch seine Fragen initiiert und dessen Interesse vor allem der Politik und weniger dem Privaten gilt. Havel erweist sich jedoch als wahrer KoAutor, da er selbst Fragen stellt und das Gespräch lenkt. Nach den Kategorien von Lejeune sind diese Texte zugleich auto- und heterobiographisch.8 Gerade in dem Briefwechsel und Gespräch mit Karel Hvížd’ala aus den 2000er Jahren zeichnet sich ein leicht verändertes Verhältnis im Hinblick auf Öffentlichkeit und Privatheit ab, da Havel nun tiefere Einblicke in persönliche Fragen gewährt, wenngleich er auch hier deutliche Grenzen setzt. Er begründet die veränderte Medienpolitik, die Hvížd’ala im Umgang mit der Krankheit und dem Tod von Havels erster Frau Olga konstatiert, durch seine Funktion als Politiker und merkt an: „Ich habe immer respektiert, dass die Bürger ein Recht darauf haben, mehr über einen Menschen zu erfahren, dem sie ein politisches Amt übertragen haben, als über jemanden, dem sie nichts übertragen haben.“9 Gleichzeitig
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vielmehr eine Mischung aus Essay, Memoiren und autobiographischen Fragmenten sind. Die zweite Quelle sind seine Gespräche mit Karel Hvížd’ala aus den Jahren 1986 und 2006. Siehe Havel 1985, Havel 1986, Havel 2006. Havel selbst gibt als Grund dafür, dass er nie eine Autobiographie oder ein Tagebuch geschrieben hatte, seine „Schamhaftigkeit“ an und verweist darauf, dass die eingeschobenen Kommentare zwischen Hvížd’alas Fragen, „ein entferntes Echo“ authentischer Tagebücher seien. Vgl. Havel 2006, 190-191. Andererseits hat Havel die Anregung zu zumindest zwei der über ihn verfassten Biographien gegeben: Havel fordert z.B. seine erste Biographin Eda Kriseová mit den Worten auf: „Du solltest es […] tun, um mich bekannter zu machen.“ Vgl. Keane 2000, 414. Lejeune 1989, 190. „The modern developements of interviewing techniques, while leaving room for rewriting and editing, make the person asking the questions and the one who is questioned intervene in an explicit way in the final text, and have opened the possibility for new intermediate solutions: we are coming closer to biography if the intervention is critical and creative, or rather to autobiography if it tries simply to relay the model by discreetly effacing itself.“ Havel 2006, 166–167. „Já vždycky respektoval, že občané mají právo vědět víc o člověku, kterého pověřili politickou funkcí, než o někom, koho ničím nepověřili.“ Und an anderer Stelle merkt er an, dass er in seiner Eigenschaft als Politiker das Nötige getan habe, damit man alles über ihn wisse. Havel 2006, 156.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie besteht er darauf, dass manche Aspekte seines Lebens – etwa Liebesbriefe – immer noch privat sind, und erläutert seine bisherige distanzierte Einstellung öffentlichen Verlautbarungen gegenüber auch durch seine Erfahrungen als Dissident. Die raison d’être, die seine Biographen Havel zuschreiben, ist eine zweifache: Kunst und Politik. Und so ist es kein Zufall, dass die Biographen wie Havel selbst in der Darstellung von Kindheit und Jugend vor allem zweierlei Arten von Erinnerungen und Episoden stark machen, solche, die mit Politik verbunden sind, wie die frühe Erfahrung von Andersheit und Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und solche, die mit der Literatur verbunden sind, wie die Gründung einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft oder ein Besuch bei dem Dichter Jaroslav Seifert, der den jungen Havel als Autor anerkennt. Havels eigentlichen Karrierebeginn als Künstler datieren die Biographien in die frühen 1960er Jahre. Mit anderen jüngeren Autoren und Theaterschaffenden führt er eine Wende auf den tschechischen Bühnen herbei. Havels Bekanntheit in den 1960er Jahren ist eher eine inner-tschechoslowakische. Im Kontext des Prager Frühlings ebenso wie in der Zeit nach 1989 war es von Bedeutung, dass Havel anders als Autoren wie Pavel Kohout oder Milan Kundera keine kommunistische Vergangenheit hatte, dass er nie Mitglied der Kommunistischen Partei war. Dies verleiht und verlieh seinen Interventionen neben seinem Erfolg auf der Bühne ein besonderes Gewicht. Über die tschechoslowakischen Landesgrenzen hinaus wird Havel aber erst in den 1970er und 1980er Jahren bekannt, als sein politisches Engagement in der Bürgerrechtsbewegung beginnt. In dieser Zeit überlappen sich seine politischen Interventionen als Dissident und seine literarischen Beiträge als Dramatiker und Essayist vollends bzw. sie fallen in eins, da es gerade seine Texte sind, die ihn öffentlich sichtbar werden lassen. In dieser Zeit ist es das symbolische Kapital, das er als Künstler gesammelt hat, das seinen politischen Aktionen Gewicht verleiht. Zugleich tritt das Künstlerbild, das Havel selbst als biographische Legende entwickelt und formt, in einen Dialog mit den „biographischen Formeln“ der Künstlerbiographie wie Ernst Kris sie beschrieben hat.10 Havels Wirkung gründet auf Fiktionen, die seine Bedeutung sowohl auf dem Feld der Politik als auch auf dem Feld der Kunst legitimieren. Anhand dieser Fiktionen soll der Frage nachgegangen werden, wie es dazu gekommen ist und was uns diese Fiktionen über bestimmte Künstlerrollen und –imagines sagen. Die unterschiedlichen Rollen, die von Havel zu verschiedenen Zeiten eingenommen beziehungsweise ihm zuge-
10 Kris 1977, 52.
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Anja Tippner schrieben wurden, sind Ausdruck seines Weges aus der Zurückgezogenheit und Anonymität des Schreibzimmers in das Rampenlicht der politischen Bühne und von dort aus zurück an den Schreibtisch. Diese letzte biographische Wendung markiert die Inszenierung seines ersten Theaterstücks nach 20 Jahren. Die Aufführung von Odcházení (‚Der Abgang‘) macht aus dem berühmten ExPräsidenten und „ehemaligen Dramatiker wieder einen Dramatiker“.11 Diese Peripetien markieren jedoch auch, so die Grundannahme dieses Beitrags, die Metamorphosen (s)einer Künstlerbiographie.
Narrative Muster der Biographik Havels Wie die Biographik im Allgemeinen so ist auch die Havelbiographik im Besonderen durch narrative Muster gekennzeichnet, die zur Konstruktion der „biographischen Illusion“ eines kohärenten und zielgerichteten Lebens führen.12 Die öffentliche Wahrnehmung von Havels Lebenslauf lässt sich in fünf Phasen unterteilen: Die erste Phase ist die Formierung des Schriftstellers und damit die Begründung der Künstlerbiographie, die jedoch schon durch die Betonung der sozialen Alterität des Autors einen leicht politischen Charakter hat, die zweite Phase umfasst seinen Weg vom Schriftsteller zum Dissidenten-Helden und die dritte die Verwandlung des widerständigen Dissidenten in einen staatstragenden Politiker, die vierte Phase schließlich ist Havels Transformation zur Celebrity und in jüngster Zeit eine wieder deutlicher hervortretende Profilierung als Autor. Die narrative Dynamik der Biographien, liest man sie denn als einen einzigen biographischen Text, folgt dem Prinzip der Konstruktion der Legende von Havel als Künstler/Politiker wider Willen (Kriseová, Keane, Simmons), seine Demontage oder Dekonstruktion (Svora, Rýc, Bauer) und seine Rekonstruktion (Kaiser, Rocamora). Dennoch fallen ihre Bewertungen unterschiedlich aus: Während sich für Eda Kriseová mit Havels Einzug auf der Prager Burg eine Entwicklung vollendet, die in den 1960er Jahren beginnt, entwirft Havels britischer Biograph John Keane den Lebenslauf als „Tragödie“,
11 Just 2008. „Bulvár má hody: slavný exprezident, "největší žijící Čech", není už "bývalý dramatik", ale "opět dramatik"!“. Das Stück hatte am 22. Mai 2008 im Divadlo Archa in Prag Premiere. Im Vorfeld gab es auch wegen der avisierten (und später abgesagten) Besetzung einer der Rollen mit Havels Frau, der Schauspielerin Dagmar Havlová, viel mediales Interesse, gerade auch im Bereich der Boulevardpresse. 12 Bourdieu 1990, 75.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie die mit Havels „Niedergang“ in den 1990er Jahren endet.13 Er schließt seine Biographie mit den Worten: „Über Václav Havel wird man eines Tages sagen, dass er ein guter Mann gewesen ist, ein großer Mann, ein Held seines Landes“.14 Hier ist der Schriftsteller und Künstler schon völlig aus dem Blick geraten und hinter dem politischen Helden verschwunden. Havel ist Gegenstand einer Vielzahl von Biographien, die einzelne Phasen oder Aspekte seines Lebens akzentuieren oder seinen Werdegang als Ganzes in den Blick nehmen.15 Dabei umfassen die vorliegenden Lebensbeschreibungen alle Facetten des Genres Biographie: Sie reichen von der verehrenden, nahezu hagiographischen Lebensbeschreibung über de-mystifizierende, kritische Biographien bis hin zu Asthenographien, die es sich zum Ziel machen, nicht nur gegen die offizielle Stilisierung anzuschreiben und Havel wieder zum Menschen zu machen16, sondern deren Ziel es ist, ihren Gegenstand geradezu zu demontieren und destruieren. Die Einstellung zum Objekt der Biographie manifestiert sich zumeist schon in der Frage der Autorisierung. Die vorliegenden Biographien nehmen in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Standpunkte ein: Eda Kriseová, Schriftstellerin und Weggefährtin Havels aus den Zeiten der Dissidenz, verweist schon im Untertitel ihrer Biographie auf die Autorisierung des Textes und unterstreicht dieses Faktum noch durch eine Nachbemerkung Havels zum Text, in der er schreibt: „Die Autorin schildert in diesem Buch mein Leben und meine Arbeit aus ihrer Sicht. Schwerlich kann ich ein objektives Urteil über ihre Sicht fällen. Zu hoffen bleibt, dass nicht nur meine Person, sondern auch mein Land den Lesern durch dieses Buch nähergebracht worden ist“.17 13 Keane 2000, 22-23. Nicht ganz so dramatisch, aber im Tenor ähnlich ist dieses Kapitel bei Simmons mit „Triumph und Ernüchterung“ überschrieben. Hier zitiert er Havel aus einem Interview mit folgender Aussage: „Ein Tag in diesem Amt [dem des Präsidenten] ist hundertmal schlimmer als ein Tag im Gefängnis.“ Simmons 1991, 296 (dt. Ausgabe). Zu Keanes Auffassung, dass Havel gescheitert sei, trägt entscheidend bei, dass dieser die Spaltung der Tschechoslowakei nicht verhindern konnte und sich seinem Gegenspieler Klaus geschlagen geben musste. 14 Keane 2000, 504. 15 Insgesamt sind es mehr als zehn: Kriseová 1991; Ramadan 1991; Simmons 1991; Rakušanová 1997; Svora 1998; Pokorný 1999; Rýc 1999; Keane 2000; Vostrý 2000; Bauer 2003; Rocamora 2005; Kaiser 2009. 16 Svora 1998, 5. 17 Kriseová 1991, 5. „Tato kniha je pohledem autorky na můj život a práci. Je to její pohled a já těžko mohu posoudit, do jaké míry je výstižný. Mohu jen doufat, že čtenářům přiblíží nejen mne, ale skrze mne i naši zemi.“ In diesem Zitat vollendet sich die Gleichsetzung Havels mit seinem Land, er ist (auch sich selbst) vollends zum Symbol geworden.
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Anja Tippner Auch Lída Rakušanovás Doppelbiographie von Václav Havel und Dagmar Havlová autorisiert ihr Buch durch den Verweis auf Gespräche mit dem Präsidentenpaar sowie die gemeinsame Arbeit an dem Buch und merkt an, beide hätten ihr in der Hoffnung Rede und Auskunft gestanden, dass „Liebe und Wahrheit über Lüge und Hass siegen“, und durch einen Aufdruck auf dem Buchumschlag, der lautet: „autorizováno“ (autorisiert) durch Václav und Dagmar Havel.18 John Keane betont im Vorwort seiner Biographie, dass er nicht an das Genre der „autorisierten Biographie“ glaube und dass er keine „Einwilligung [Havels, A. T.] bräuchte, um sein Leben so zu erzählen, wie [er] es für richtig“ halte.19 Jan Bauer setzt sich schon im Titel vom Konzept der autorisierten Biographie ab. Anders als Keane, der es nur am Rande streift, und Kriseová, die das Thema gar nicht berührt, geht Bauer auf die Klatsch- und Skandalgeschichten ein, die zumindest für die tschechische Öffentlichkeit auch mit der Person Havel verbunden sind, so beschäftigt er sich ausführlich mit Havels Liebesaffären so wie den Auseinandersetzungen um den Verkauf des restituierten Lucerna-Komplexes im Herzen Prags durch Havel und seinen Bruder. Přemysl Svoras Sedm týdnů, které otřásly Hradem (Sieben Wochen, die die [Prager] Burg erschütterten) legt den Schwerpunkt dann nur noch auf eine Episode von Havels Lebenslauf, nämlich seine Krankheit im Jahr 1996 und die Beziehung zu seiner späteren Ehefrau, der Schauspielerin Dagmar Veškrnová und ignoriert das Werk völlig. In diesem Fall legte Havel sogar öffentlich Einspruch gegen Svoras Interpretation seiner Lebensgeschichte ein und klagte nicht nur gegen Svoras Verlag, sondern auch gegen Zeitungen wie Lidové noviny und Blesk sowie die Fernsehstation Nová, die Vorabzüge aus dem Buch veröffentlicht hatten, zog die Klage aber später wieder zurück.20
18 Rakušanová 1997, 5. „pravda a láska zvítězí nad lží a nenávistí“: Diese Formulierung schließt an den Wahlspruch des tschechischen Präsidenten „Die Wahrheit siegt“ an. In der deutschen Ausgabe wird diese Autorisierung noch durch ein vorangestelltes Interview mit Havel verstärkt, in dem er betont, dieses Buch habe es sich – anders als andere Bücher – zur Aufgabe gemacht, der „Wahrheit“ nachzuspüren. Rakusan 1999, 5. Das Buch lässt sich also als offizielle und autorisierte Antwort auf die Skandalbiographien von Rýc und Svora lesen. 19 Keane 2000, 24–25 20 Vgl. dazu http://zpravy.idnes.cz/domaci.asp?r=domaci&c=981030_171110 _domaci_jkl. Die Klageschrift ist gleichfalls abgedruckt in einer Neuauflage des Buchs, Svora 1998, I–IX.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie Der Journalist Daniel Kaiser, der mit Disident. Václav Havel 1936–1989 im Jahr 200921 die aktuellste Lebensbeschreibung Havels vorgelegt hat, macht ebenfalls im Vorwort darauf aufmerksam, dass es sich um eine „nicht-autorisierte“ Biographie handle, wiewohl Havel sich ihm für eine Reihe von Gesprächen zur Verfügung gestellt und ihm Zugang zu einer Reihe von Auskunftspersonen verschafft habe. In gewisser Weise markiert Kaisers Biographie eine Abkehr von der lebenden Privatperson Havel und die vollendete Historisierung des Schriftstellers und ehemaligen Präsidenten. In der Zusammenschau wird deutlich, dass die tschechische Innensicht, so wie sie die Texte aus den 1990er und 2000er Jahren präsentieren, stark durch eine Auseinandersetzung mit Havels Privatleben geprägt ist, während die Biographien von Simmons und Keane oder Rocamora den Biographierten deutlicher in die Zeit- und Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts einordnen, wenngleich sie sein Privatleben nicht aussparen. Alle Biographien, ob autorisiert oder nicht, müssen sich mit Havels Selbstinszenierung auseinander setzen und zu ihr Stellung nehmen. Auffällig ist, dass gerade jene Biographien, die den Schwerpunkt auf das Werk Havels und auf seine Vita als Künstler legen, sich am stärksten an Havels eigenem Künstlerbild ausrichten und die jüngste Metamorphose Havels, seine Transformation in einen medialen Star nicht nachzeichnen. In ihrer Studie Die Legende vom Künstler schreiben die Kunsthistoriker Ernst Kris und Otto Kurz, dass Anekdoten eine „Ergänzung der „offiziellen“ Lebensbeschreibung“ seien, dass sie den großen Mann als Menschen vorführen.22 Havel selbst trägt dieser Einsicht Rechnung, wenn er in die Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit seiner zweiten Präsidentschaft immer wieder anekdotenhafte Episoden integriert, die ihn weniger als Staatsmann, sondern eher als humorvollen Bonvivant oder als Intellektuellen zeigen.23 Die meisten Biographien halten sich an die von Havel selbst inszenierten Meilensteine seines Lebens – wie die frühe Erfahrung von Alterität, die Begegnung mit Autoren wie Holan und Seifert, die nur schlecht verhüllt als Autorisierung durch die Dichterfürsten der vorhergehenden Generation entworfen wird und die Entdeckung des Theaters als wahre Berufung. Damit übernehmen diese biographi-
21 In den Paratexten machen Verlag und Autor deutlich, dass es einen zweiten Teil geben wird, der den Jahren 1990–2003, also der politischen Karriere Havels gewidmet sein soll. Kaiser 2009, 7. 22 Kris/Kurz 1995, 31. 23 So in Havel 2006. Havel führt als Leitmotiv in seinen Tagebuchauszügen und Anweisungen das Zubereiten eines Hechts auf dem Präsidentensitz Lány ein. Vgl. Havel 2006, 13, 187, 246.
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Anja Tippner schen Konstruktionen Havels eigene Selbststilisierung24 als Akteur im Feld der Kunst. Gedeckt werden solche Lektüren vor allem auch durch die Annahme, dass nicht nur jene Texte, die explizit dem Bereich des life-writing zuzuordnen sind, wie Briefe, Tagebuchauszüge und Interviews, sondern auch Havels Theaterstücke Auskunft über sein Leben und seine Person, seinen Charakter und seine Gedanken geben. So merkt sein Biograph Michael Simmons an, der Protagonist der Einakter Audience (Audienz) oder Vernisáž (Vernissage), Vaněk, sei „natürlich Havels Alter ego“, denn Havel sei „ein aufmerksamer Beobachter seiner selbst“ und leitet daraus ab, dass Havel wie Vaněk die Dinge gerne auf die lange Bank schiebe und sich weigere, Kompromisse einzugehen.25 Aber nicht nur seine frühen, absurden Dramen werden autobiographisch gelesen, sondern auch sein jüngstes Theaterstück Odcházení (‚Der Abgang‘) wird einer solchen Lektüre als Lebensdokument unterzogen.26
Der engagierte Schriftsteller Gerade Biographien werden häufig genug durch den Wunsch nach Kohärenz und Folgerichtigkeit eines Lebensentwurfs fundiert. Eine Kohärenz, die oft nur eine Folge der „Konstanz des Namens“, nicht aber der Handlungen des biographierten Objekts ist.27 So sind Havels Biographen und Biographinnen, sofern sie sein ganzes Leben in den Blick nehmen, darum bemüht, den Rollenwechsel vom Schriftsteller zum Politiker als Ergebnis oder Folge von Bestimmung, Disposition und Wahl erscheinen zu lassen. Künstler- und Politikerbiographie werden durch das Konzept des Dissidenten miteinander verzahnt. Es spielt im Kontext der biographischen Konstruktion Ha-
24 Zu diesem Begriff vgl. Greenblatt 1980, 1-9. Greenblatt verweist hier darauf, dass „self-fashioning“ in der Literatur wie im gesellschaftlichen Leben stattfindet. „It invariably crosses the boundaries between the creation of literary characters, the shaping of one’s own identity […] the attempt to fashion other selves.“ Greenblatt 1980, 3. Havel selbst greift diesen Gedanken in seinem (auto)biographischen schriftlichen Austausch mit dem Journalisten Karel Hvížd’ala auf, wenn Havel anmerkt, er gehe mit seinem Interviewer ein wenig so um wie mit einer der Figuren in seinen Theaterstücken („nakládám s panem Hvížd’alou trochu jak s dramatickou postavou ve své hře“). Havel 2006, 172. 25 Simmons 1992, 162. Die Stücke reflektieren die Lage eines widerstrebenden Dissidenten und Schriftstellers, der in einer Brauerei arbeitet, und weisen damit Parallelen zu Havels Biographie auf. 26 Just 2008 spricht von einem „autobiographischen“ Drama. 27 Bourdieu 1990, 79.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie vels eine entscheidende Rolle. Die Verbindung von Literatur und Politik, die der Begriff nahelegt ist keineswegs so gegensätzlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Max Weber weist in seiner Schrift Politik als Beruf darauf hin, dass der „Literat“ ein Vorläufer des Berufspolitikers sei, dass es also eine genetische Verbindung von literarischem und politischem Handeln gebe.28 Autorschaft und politische Dissidenz erscheinen aus der Perspektive der Biographen deshalb nicht von ungefähr als komplementäre Phänomene, bei denen das eine notwendig das andere bedingt. Wenngleich wenige Biographen diesen Zusammenhang so explizit machen wie Kaiser, der schreibt: „In der Zeit, in der er zum Dissidenten wurde, begann er logischerweise auch dissidentische Stücke zu schreiben“,29 so sehen doch die meisten Biographen Havels neue Dramen der Mittsiebziger Jahre als Folge seines neuen dissidentischen Engagements30 und lesen einen Einakter wie Protest als Paralleltext zur Charta 77. Die osteuropäischen Dissidenten erscheinen als die letzten Kulturhelden Europas im ausgehenden 20. Jahrhundert. Vielleicht auch deshalb, weil sie Helden- und Opferstatus miteinander verbinden und so die Figur des klassischen Helden modernisieren. Václav Havels Karriere als Dissident beginnt recht eigentlich in den 1970er Jahren nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Havel, der aus einer bekannten Unternehmerfamilie der Zwischenkriegszeit stammte, wurde in den 1950er weder an der geisteswissenschaftlichen Fakultät, noch an der Film- oder Theaterhochschule zugelassen, obwohl die Literatur und das Theater sein Ziel waren. Auch die biographische Stilisierung als Dissident lehnt sich an die narrativen Konventionen der Künstlerbiographie an. In seinen Gesprächen mit Hvížd’ala erwähnt Havel ein frühes Erlebnis von Alterität und geht dann auf die genannten Diskriminierungserfahrungen ein. Diese Episoden werden anekdotenhaft dann in die Biographien eingefügt. Havel, der in den 1960er Jahren einige öffentliche Funktionen als Redaktionsmitglied und in Schriftstellerorganisationen übernommen hatte und alle seine Theaterstücke auf die Bühne bringen konnte, war in den 1970er Jahren, der Zeit der sogenannten Normalisierung, völlig vom offiziellen Theater und öffentlichen literarischen Leben abgeschnitten. In dieser Zeit begann sein eigent28 Weber 1968, 24–25. 29 Kaiser 2009, 104. „V době, kdy se stal disidentem, začal logicky i psát disidentské hry.“ 30 Simmons 1992, 161 oder Rocamora 2005, 148. Anders gewichtet Keane, der im Erfolg der Aufführung der Bettleroper, den entscheidenden – ästhetischen – Impuls zur Entstehung des dissidentischen Engagements von Havel sieht. Keane 2000, 276.
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Anja Tippner liches politisches Engagement, das sich zunächst eher in kleinen, künstlerischen Widerstandsaktionen manifestierte – wie Laienaufführungen etwa seines Stücks Žebrácká opera (‚Bettleroper‘). In diesen Aufführungen ebenso wie im Erfolg seiner Stücke im westlichen Ausland, wo sie als Manifeste der Opposition rezipiert wurden, schien sich Havels Entwurf des Theaters als Ort, an dem die Zuschauer an „einem besonderen Abenteuer des Geistes, der Imagination“31 teilhaben und sich zugleich gemeinschaftlich engagieren, zu verwirklichen. Mit der Unterzeichnung der Charta 77 wird er zu einer der führenden Figuren der tschechischen Dissidentenbewegung, die mit den Mitteln einer unpolitischen Politik Widerstand leisten will. Der Begriff der Dissidenz oder des Dissents war lange Zeit auf die Bezeichnung der Opposition gegenüber ehemaligen Diktaturen des „real existierenden Sozialismus“ in Osteuropa beschränkt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem tschechischen Dissent vor 1989 wird der Begriff ausschließlich für jene Intellektuelle und KünstlerInnen verwendet, die zum Umkreis der Bürgerrechtsbewegung der Charta 77 gehörten. Kennzeichen dieser Gruppe waren ihre ständigen Bemühungen, durch das Medium des offenen Briefs in einen Dialog mit der Macht einzutreten und nicht einfach nur „Nein“ zu sagen.32 Julia Kristeva versucht, in einem Essay aus dem gleichen Jahr, der den Titel „A New Type of Intellectual: The Dissident“ trägt, das Phänomen Dissidenz zu beschreiben, und bestimmt das Verhältnis von Macht und dissidentem politischen Engagement genauer. Am Beispiel der Sowjetunion entwirft sie drei Typen von Intellektuellen/Dissidenten: a) den Intellektuellen, der die politische Macht direkt angreift und auf diese Weise mit ihr verstrickt bleibt b) den Psychoanalytiker, der sich vor allem an der Religion abarbeitet und c) den experimentellen Schriftsteller, der die Gesetze der symbolischen Sprache unterminiert.33 Vergleicht man Havels Aktivitäten mit Kristevas Definition, dann wird deutlich, dass Havel hier den ersten, politischen Typus von Dissidenz verkörpert und nicht den dritten, den ästhetischen. Zu diesem Zeitpunkt wird jedoch das politische Engagement immer wieder positiv aufgeladen durch das Künstlerische und den Anspruch auf Authentizität, der beide ver31 Havel 1991, 190. 32 Vgl. hierzu Schneider 2002. In dieser Studie, die sich v.a. mit dem Phänomen der Dissidenz in der DDR auseinandersetzt, wird der Dissident als „Archetyp des Neinsagers“ bestimmt. Diese Position ist zu differenzieren, zum „Verhaltenstyp“ der tschechischen Dissidenten gehörte nicht nur die einfache Opposition, sondern das Bedürfnis, auf die als falsch erkannten Umstände verändernd einzuwirken und zwar durch das Wort. 33 Kristeva 1977, 295.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie bindet. Havels Dissidenz ist also eng an die sozialistische Form des Totalitarismus gekoppelt und übersetzt sich deshalb nach der Samtenen Revolution nicht in eine Dissidenz postmodernen Typs, wie Diederich Diederichsen sie beschreibt und definiert als […] Praktiken der Negation, der Revolte oder des „Alternativen“, die nicht unmittelbar auf selbst erfahrene soziale, rassistische, sexistische und andere primäre Benachteiligungen, Entmündigungen oder Ausgrenzungen gründen, […] sondern auf „Überzeugungen“ – selbstgewähltes Außenstehen, Dandyismus, Jugend und andere sekundäre Bedingungen –, die zwar in der Regel mit den primären eine Legierung eingehen, um zur Welt zu kommen, aber […] an anderen Orten existieren […]34
Dissidenz, wie Havel sie versteht, ist zwar von einem Bekenntnis zur Gegenkultur nicht zu trennen. Havel selbst ist aber nun keineswegs Dissident per se, stattdessen setzt er sich nach 1989 in ein durchaus affirmatives Verhältnis zur Macht. Den Titel „Dissident“, so Havel, hätten augenscheinlich „alle jene Bürger des Sowjetblocks verdient, die sich entschlossen haben, in der Wahrheit zu leben“35 und die dazu noch Bedingungen wie „Öffentlichkeit der Äußerung“, „Bekanntheit im Westen“, „indirekte tatsächliche Macht“, den „politischen Charakter des Engagements“ sowie „intellektuelle Veranlagung“ erfüllen. „Es sind Menschen“, fasst Havel zusammen, „von denen man im Westen – unabhängig davon, was für einen Beruf sie haben – häufiger im Zusammenhang mit ihrem bürgerrechtlichen Engagement oder mit dem politisch kritischen Aspekt spricht als im Zusammenhang mit ihrer eigenen Arbeit in ihrem eigenem Beruf“.36 Im Grunde genommen liefert er mit dieser Definition auch eine Beschreibung seiner neuen Rolle, die von den Biographen vorbehaltlos übernommen wird. Damit wird aber auch die Abhängigkeit des Dissidenten von dem System, gegen das er opponiert, mit dem er in einen Meinungsstreit tritt, evident: Mit dem Ende des Totalitarismus war auch seine Funktionsperiode als Dissident beendet. Einige Dissidenten, unter ihnen Havel, transferierten das symbolische Kapital, das sie in der Zeit der Normalisierung erwirtschaftet hatten, unmittelbar in politisches Kapital. Der letzte Schritt in der Institutionalisierung des Dissidenten war seine Inthronisierung als „Held“. Dabei zeichnet sich das Havel̕sche Image gegen Ende der 1980er Jahre durch einige Besonderheiten aus. Zu seinem besonderen Nimbus trägt die Tatsache bei, dass er Held und zugleich Opfer war. Seine 34 Diederichsen 1991, 73. 35 Havel 1978, 47. 36 Havel 1978, 47.
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Anja Tippner Bereitschaft, für seine Überzeugung in Haft zu gehen und die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, wurde weit über die Grenzen der Tschechoslowakei hinaus registriert. Die Außergewöhnlichkeit dieses Verhaltensmusters insbesondere in der auf die Wahrung kleiner persönlicher Vorteile bedachten Gesellschaft der Normalisierungszeit wird von Mitstreitern und ausländischen Unterstützern hervorgehoben. Auch hier ist es wieder der öffentliche Einsatz des Privaten, Persönlichen, der Anspruch auf Authentizität, der seine Bedeutung erhöht. So vergleicht Heinrich Böll ihn in einer Rezension anläßlich der Ausgabe seiner Gefängnisbriefe mit Christus: „I dare say, that Christ is speaking in these letters, albeit a Christ who does not describe himself by that name and yet is still a Christ […]“.37 Bölls Beschreibung verbindet in Havels Porträt konkrete Details des dissidentischen Protestmodells – Gewaltfreiheit, die Bereitschaft sich für andere zu opfern – mit einem älteren christologischen Künstlermodell. Auch Havel selbst schließt in dieser Zeit das dissidentische mit einem älteren Künstlermodell kurz, das in der Avantgarde entwickelt worden ist und auf der besonderen Leidens- und Rezeptionsfähigkeit basiert.38 Die Dissidenten haben im Sinne Bourdieus „Epoche gemacht“ und sind durch ihren Erfolg dazu verdammt, „der Vergangenheit anheim zu fallen, klassisch oder deklassiert zu werden, sich aus der Geschichte verbannt oder aber auch „in die Geschichte eingehen“ zu sehen, in die ewige Gegenwart der kanonisierten Kultur, in der die „zu Lebzeiten“ miteinander unverträglichsten Tendenzen und Schulen, weil kanonisiert, akademisiert, neutralisiert, friedlich nebeneinander existieren können“.39 Havel ist als Künstler in diesem Sinne in die Geschichte eingegangen, als zeitgenössischer Schriftsteller ist er neutralisiert worden. Seine öffentliche Präsenz verdankt sich letztlich anderen Faktoren als literarischen. Andere Dissidenten, die weniger exponiert waren als Havel, sind nach 1989 aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Einige haben sich wieder in das Feld der Kunst zurückgezogen, andere sind im Feld der Politik verblieben, wieder andere sind nach ihren „fünf Minuten Ruhm“, wie Andy Warhol sagte, völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Doch zunächst verlieh das symbolische Kapital, das sie sich durch ihre dissidentischen Aktivitäten erworben hatten, den tschechischen Schauspielern, Schriftstellern und Regisseuren um Havel, eine Aura von Authentizität und Wahrhaftigkeit. Sie werden zum Inbegriff von Ehrlichkeit. Dabei verkehrt sich unsere Erwartung von Inszenierung und Authentizität in das Gegenteil: „Vom 37 Böll 1986, 211. 38 Kuspit 1995. 39 Bourdieu 1999, 249.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie Schauspieler erwarten wir das perfekte Spiel. (…) Der Politiker mag eine kunstvolle Politik betreiben, aber er ist – in der Rolle des politisch Handelnden – kein Künstler, er lebt und agiert, (…) nicht im geschlossenen Sinnbereich der Kunst (…)“.40 Dieses Kapital in Kombination mit Havels charismatischer Aura ließen ihn als den natürlichen Führer in der Wendezeit erscheinen. So schreibt etwa Rocamora in ihrer Biographie, dass Havel mit der gleichen Leidenschaft, mit der er die Handlung seiner Stücke entwerfe und in Szene setze, auch die Protestaktionen im Dissent inszeniert habe.41 Hier findet schon eine Verlagerung statt – als Werk erscheint nicht mehr nur der Text, das Theaterstück, sondern vor allem auch die Tat, die Signatur unter der Charta 77, die Gefängnishaft. Die Ära der Normalisierung ebenso wie die Übergangsphase vom kommunistischen zu einem demokratischen System sind die Zeiten, in denen Havel die größte gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung hatte. Er verkörpert in idealer Weise den Typus des Kulturheroen, der seinem Staat zu einem neuen, kulturellen Selbstverständnis verhilft. In der Figur des Kulturhelden deutet sich jedoch auch schon eine Verlagerung vom schriftstellerischen Werk zu Taten an. Havel erscheint hier noch als Symbol einer besseren tschechischen Identität.
Vom Politiker und politischen Autor zur Celebrity Verfolgt man Havels öffentliches Bild, so sieht man, dass sich in den 1990er Jahren ein Wechsel vollzieht – Havel wird vom Helden zur Celebrity. Während der Held über seine Leistung definiert wird, sticht die Celebrity vor allem durch ihr Image hervor.42 In Havels Fall speist sich sein Starstatus aus zwei Quellen – seinem Nimbus als Kulturheld und seiner Weigerung, vollständig im Amt des Politikers aufzugehen. So wenn er bei einem seiner ersten Auftritte als Amtsinhaber mit einer Aufführung von Dvořáks Te Deum im Veitsdom einerseits seine präsidiale Macht nahezu imperial in Szene setzte, diesen Eindruck jedoch durch einen second-hand Anzug mit zu kurzen Hosen wieder konterkarierte.43 Die Botschaft war deutlich: Havel partizipierte hier deutlich an der magischen Wirkung des höchsten Amtes im Staat, um zugleich durch seinen empirischen 40 Soeffner 1998, 229. 41 Vgl. Rocamora 2005, 164. 42 Boorstin verweist auf die grundsätzliche Verschiebung in der kulturellen Axiologie, die mit der Fokussierung auf Celebrities im 20. Jahrhundert einhergeht. „The hero was distinguished by his achievement; the celebrity by his image or trademark.“ Boorstin 1961, 81. 43 Keane 2000, 410.
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Anja Tippner Körper das Amt zu ironisieren. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat darauf hingewiesen, dass das „Rollenrepertoire“ der Politik beschränkt ist.44 Durch seine Weigerung, vollständig im symbolischen Körper aufzugehen, erweitert Havel dieses Repertoire – ebenso wie andere zeitgenössische Politiker, zum Beispiel Tony Blair – um den Preis einer kurzfristigen Erhöhung des eigenen symbolischen Kapitals, bei einer langfristigen Devaluierung des institutionellen Kapitals. Dabei sind die Entscheidungen, die er in dieser Zeit mit Hinblick auf seine eigene Rolle als Präsident und die Inszenierung der neuen demokratischen Republik trifft, durchaus nicht zufällig. Václav Havel weist 1996 in einer Rede „Über das Theatralische in der Politik“ auf die genetische Verbindung beider Felder in seiner eigenen Doppelrolle als Politiker und Dramatiker hin.45 Die Verwandlung Havels vom Schriftsteller zum politischen Helden manifestiert sich visuell sehr deutlich. Sieht man Havel auf den Bildern aus den 1960er/1970er Jahren noch häufig mit dem Handwerkszeug der Zunft (Papier, Bücher, Schreibmaschine) oder des künstlerischen Milieus des Theaters (Bühne, Schauspieler), finden wir seit 1980er Jahren vor allem Aufnahmen, die ihn als Politiker oder schon als Celebrity mit anderen Celebrities zeigen. Das, was im Kontext der Staatskultur des Sozialismus noch als rebellische Geste erschien, nämlich die Assoziation mit Musikern der Band Plastic People of the Universe, erscheint nun in einem anderen Kontext, nämlich dem einer kommerziellen Popkultur nicht als widerständig. Wenn Havel sich mit Mick Jagger fotografieren lässt, mit Lou Reed Musik macht oder mit Madonna meditiert, dann wird hier ein ganz neuer Kreislauf des Ruhms errichtet, in dem sich Berühmtheiten gegenseitig Bedeutung geben und sich mit glamour aufladen. Immer wieder berichten Magazinartikel und Interviewer über den unmittelbaren Zugang zum Präsidenten, die scheinbare Authentizität seiner öffentlichen Auftritte, die sich nicht hinter dem Protokoll versteckt. So erscheint im deutschen Journal Stern kurz nach der Amtsübernahme ein Portrait des neuen Präsidenten, das mit folgender Szene beginnt: 44 Münkler 2001, 144. 45 Havel 1998, 197. „Das Theater zeichnet sich […] durch eine spezifische Fähigkeit zur Anspielung und zur Mehrdeutigkeit [aus]. Über die konkrete Handlung auf der Bühne hinaus wird dann eine allgemeinere Botschaft spürbar, ohne dass diese unmittelbar ausgesprochen werden muss. Wichtig ist auch die Kollektivität des Theatererlebnisses: Theater setzt immer eine bestimmte Gemeinschaft – von Schauspielern und Publikum – voraus, und gerade diese Gemeinsamkeit ist ein wichtiger Teil der Erfahrung, die es vermittelt. Alle diese Dinge […] haben ihr Gegenstück auch in der Politik.“
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie Wir kommen in eine großzügig geschnittene Wohnung mit hohen verschnörkelten Stuckdecken. Das Ambiente ist noch das des Dichters. Spuren einer durchzechten Nacht. Überall stehen leere Bier- und Sektflaschen. Aus dem Schlafzimmer blickt eine übernächtigte First Lady im Negligé, Olga Havlová, und zieht sich sofort wieder zurück. Und dann kommt der Präsident, vom ersten Augenblick an nervös und noch ziemlich verkatert. […] Nach sechs Minuten springt er auf und läuft ins Schlafzimmer. Er verschwindet im begehbaren Kleiderschrank auf der Suche nach einer staatsmännischen Krawatte.46
Diese Beschreibung ist insofern typisch als sie Havel als einen Politiker in Szene setzt, der gänzlich anders gelagert ist als seine westeuropäischen Gegenstücke. Einerseits wird hier die private Seite des Politikerstars medial vermittelt und inszeniert, indem uns ein Einblick in eine Welt geboten wird, zu der wir sonst keinen Zugang haben – das Schlafzimmer. Zum anderen wird hier sehr deutlich das Motiv der Investitur des Herrschers angesprochen. Es sind die äußeren Attribute, wie die staatsmännische Krawatte, die Havel wieder von einem Künstlerbohèmien – symbolisiert durch die leeren Flaschen – in den politischen Funktionsträger verwandeln, der er nun ist. Seine Kleidung transportiert die gleiche ambivalente Aussage wie die oben beschriebene Szene – sie ist zu lässig für das gewichtige Amt. Gleichzeitig bringt sie zum Ausdruck, dass Havel Wichtigeres zu tun hat als sich um sein Aussehen zu kümmern. Havels scheinbare Nonchalance im Umgang mit seinem öffentlichen Image setzen fast alle Biographien durch die eine oder andere Anekdote in Szene und unterstreichen so eine Authentizität, die nur scheinbar ist.47 Sie lassen das Staatspräsidentenamt zugleich als eine Rolle erscheinen, die er spielt. Sie tun seinem Ansehen jedoch keinen Abbruch, erhöhen es nur: Allen für Stars in Frage kommenden Professionen ist gemeinsam, dass ihre Ausübung im besonderen als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit angesehen wird, die Grenze zwischen den Persönlichkeitssphären somit durchlässiger ist.48
46 Stern 11.1.1990 hier zitiert nach Ramadan 1991, 39. 47 Vgl. auch Kriseová 1991, 254. „Alle drei waren wir schlecht und unpassend gekleidet [für die Bühne des Nationaltheaters], da wir uns nicht mehr hatten umziehen können. Danach fuhren wir zum Abendessen in die deutsche Botschaft, wo Václav den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Die Damen trugen Abendkleider, während wir im Pullover kamen. Wir entschuldigten uns bei Botschafter Huber und seiner Gattin, und sie zeigten vollstes Verständnis.“ 48 Ruchatz 2001, 334.
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Anja Tippner Havel erscheint als besonders befähigter Politiker, weil er sich nicht politisch verhält, weil er hier einmal mehr Authentizität demonstriert. Diese Szene, die zugleich eine Medienkritik enthält, verweist auf eine weitere Eigenschaft des Celebrity-Status – seine Abhängigkeit von Medien und medialer Vermittlung. Denn anders als die Berichte von Besuchen bei den Havels auf der chata, dem Sommerhaus, aus den 1970er und 1980er Jahren, die ebenfalls die besondere Nähe zum kulturellen Helden und seine Authentizität präsentierten, wurde der oben zitierte Sternbericht von Fotos des Sternfotografen Robert Lebeck begleitet, die genau das zeigten, was hier beschrieben wird – einen verkaterten Präsidenten und eine empörte Olga Havlová. An dieser Stelle muss man sich natürlich auch vor Augen führen, dass Havel nach 1989 in eine vollständig andere mediale Situation katapultiert wurde – vom sozialistischen Staatsfernsehen mit zwei Kanälen und einer Staatspresse, deren personality stories äußerst harmlos und selten waren, mitten in das Scheinwerferlicht der Weltpresse. Die Inszenierungsmodi von Künstlertum, die in der sozialistisch gelenkten Öffentlichkeit zur Verfügung standen, waren eingeschränkt und vor allem wortzentriert. Die Aufwertung des Theatralischen, die 1989 eingesetzt hatte und die ersten Jahre von Havels Amtsführung kennzeichnete, hielt jedoch nicht lange an. Die hier beschriebenen Grenzüberschreitungen funktionierten vor allem auch deshalb so gut, weil die Grenzen zwischen Politik und Privatsphäre im Sozialismus sehr deutlich markiert waren und das Privatleben von Politikern wie etwa Husák im öffentlichen Bewusstsein so gut wie keine Rolle spielte. Den meisten Tschechen wäre es schwer gefallen, Genaueres über die Familie des Staatsoberhauptes zu sagen. Im Kontext der Verbindung von Künstlerrollen und Dissidenz ist bereits evident geworden, dass ein Aspekt der Strahlkraft Havels auf seiner scheinbaren Uneigennützigkeit beruhte, auf seiner Bereitschaft, für andere zu leiden und persönliche Interessen hintan zu stellen. Im Laufe der 1990er Jahr wird Havel immer mehr zum Star, das heißt zu „eine[r] Person, die durch ihre öffentliche Darstellung, ihre Erfüllung einer performativen Rolle, bei einem großen Publikum ein übergreifendes Interesse an ihr als „Mensch“ – und das heißt vor allem: an ihrer Privatexistenz – weckt“.49 Havel trägt bereits von Beginn seiner Präsidentschaft dazu bei, indem er die Wachen mit neuen Uniformen versah, die Tore der Burg, des Amtssitzes des tschechischen Präsidenten, öffnete, und Schauspieler wie Jane Fonda oder Musiker wie Frank Zappa zu sich einlud. Eine Beschleunigung erfährt diese Entwick-
49 Ruchatz 2001, 333.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie lung durch seine Heirat mit der Schauspielerin Dagmar Veškrnová im Jahr 1994. Für diese Transformation spricht nicht nur, dass neben den intellektuellen Biographien wie etwa von Keane, Kriseová oder Simmons nun auch viele Veröffentlichungen erscheinen, in denen Havels literarische Produktion nur noch am Rande Erwähnung findet und die als homestory das Leben auf der Burg mit Dagmar und den beiden Boxerhunden vorstellen. Hier seien nur Publikationen genannt wie: Pravda z Hradu. Očima bodyguarda (‚Die Wahrheit aus der Burg. Mit den Augen eines Bodyguards‘), Václav a Dagmar Havlovi: 2 osudy v jednom svazku (‚Václav und Dagmar Havel. Zwei Schicksale in einem Band‘); Zpověd‘ tajemníka. Ve službách Dagmar Havlové a Václava Havla (‚Beichte eines Sekretärs. Im Dienst von Dagmar und Václav Havel‘); Václav Havel a ženy (‚Václav Havel und die Frauen‘).50 Eine Flut von Artikeln widmet sich dem Erbschaftsstreit um den Lucerna-Komplex am Prager Wenzelsplatz, den Havel gemeinsam mit seinem Bruder Ivan geerbt hat. Um dieses Gebäude entspinnt sich eine lang anhaltende Auseinandersetzung, in die auch die Ehefrauen der Brüder involviert sind. Am Ende verkauft Havel seinen Anteil für 200 Millionen Kronen an einen dubiosen Konzern namens Chemapol. Auch diese Affäre findet ihren Niederschlag in einem Buch. Allen diesen Publikationen ist gemeinsam, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Privatleben Havels legen, seine Texte ebenso wie seine politischen Überzeugungen spielen kaum noch eine Rolle. 2002 nahm Havel indirekt zu dieser Entwicklung Stellung, als er anlässlich einer Feier zum 25ten Jahrestag der Charta 77 die Personalisierung von Dissidenz und Konformität und damit seine Reduktion auf persönliche Gegensätze mit den Worten kritisierte: „Als Chartist stört mich die Boulevardisierung dieses Themas“.51 Betrachtet man die letzte Peripetie der Havelschen Selbstinszenierung, wird sein Weg in die Celebrity-Kultur erst recht evident. Die Zeitschriftenartikel, die anlässlich der Premiere seines jüngsten Theaterstücks Odcházení (‚Der Abgang‘) – des ersten seit fast zwanzig Jahren – erschienen, beschäftigten sich weniger mit Inhalt und Form des Dramas als mit der Frage, ob Havels Frau die Hauptrolle spielen würde und welche der dramatis personae Havel selbst verkörpert und welche seinen früheren politischen Gegenspieler und heutigen Staatspräsidenten der Tschechischen Republik, Václav Klaus. Nach langem Hin und Her und nachdem Dagmar Havlová schon an den Proben teilgenommen hatte, sagte sie in letzter Minute ihre Teilnahme ab. Das Stück, das sich mit der Frage nach der Möglichkeit eines würdigen Abgangs aus Machtpositionen ausei50 Vostrý 2000; Rakušanová 1997; Rýc 1999; Pokorný 1999. 51 Schultheis 2007.
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Anja Tippner nandersetzt, erscheint nicht nur durch die Besetzungsstrategie, sondern auch durch sein Thema biographisch fundiert.52 Einmal mehr kommt es hier zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Bühne bzw. öffentlichem Leben und Privatsphäre, weil Havel sein Publikum nicht mehr wie noch in den 1970er als Bürger und Kunstrezipienten anspricht, sondern als Konsumenten eines populärkulturellen Events. Vor der endgültigen Verwandlung in eine Celebrity hätte Václav Havel nur der Tod retten können. Und Ende der neunziger Jahre sah es so aus, als würde Havels Tod noch rechtzeitig kommen, um ihn als Helden zu verewigen. John Keane beendet seine Biographie mit einem Kapitel unter der Überschrift „Tod und Verwandlung“, in dem er unter dem Eindruck von Havels schwerer Krebserkrankung schon über den Nachruhm des Dichters und Politikers räsonniert. In der Realität jedoch wird Havels Status als kultureller Held immer mehr von seinen Status als Celebrity überschattet. Havel verwandelt sich in seinen eigenen Worten immer mehr in einen „pohádkový princ“, einen Märchenprinzen, den Protagonisten in einer märchenhaften Geschichte.53 Die Tatsache, dass die Überlagerung der Felder Literatur/Medien und Politik nicht nur Havels persönliche Selbstinszenierung kennzeichnet, sondern ein allgemeines Kennzeichen moderner Politik ist, lässt die biographischen Entwürfe, die auf dieser Dualität aufbauen, umso glaubwürdiger erscheinen. Dass Havel die veränderten medialen Bedingungen von politischer Inszenierung
52 Just 2008. 53 Vgl. Havel 2006, 22 und nochmals 66. Hier wie an anderer Stelle unterstreicht Havel die „pohádkovost“ seiner Biographie. An anderer Stelle setzt er den Begriff jedoch auch kritisch ein und merkt an, man wolle ihn immer wieder als Märchenprinz demontieren, s. Havel 2006, 192. Vgl. auch das gleichnamige Kapitel in Bauers Biografie (2003). Diese Bezeichnung erscheint in einem besonderen ironischen Licht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die tschechischen Demonstranten während der Samtenen Revolution auf dem Wenzelsplatz das Ende der sozialistischen Ära mit Glöckchen- und Schlüsselgeklingel und der Märchenformel („zazvonil zvonec a pohádky je konec“) einläuteten. Vgl. Adler 1995, 567. Keane verweist ebenfalls auf die Anklänge an Märchen, die Havels politischer Inszenierung innewohnen. Etwa durch die Theatralisierung des Rituals der Wachablösung auf der Burg, die unter Havel weniger militärische Zeremonie, denn Märchenvorstellung ist. Vgl. Keane 2000, 411–412. Eine weitere Referenz auf das Motiv des (Märchen)Königs findet sich in Havels neuestem Theaterstück Odcházení aus dem Jahr 2008, das intertextuell immer wieder auf Shakespeares King Lear verweist.
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Václav Havel – Vom Ende einer Künstlerbiographie so frühzeitig erkannt hat, gehört nicht zu seinen geringsten Leistungen.54 Folgt man Bill Nichols Überlegung, dass „mythic icons or exemplary figures give concrete representations to cultural ideals and psychic desires. They are imaginary projections, or fetishes, answering to the needs that arise within the body politic or the unconscious […]“,55 dann muss man zu der Auffassung gelangen, dass die tschechische Gesellschaft heute auffallend andere kulturelle Ideale hat als noch vor zwanzig Jahren. Havels Imagewechsel lässt sich als Antwort auf dieses neue Begehren nach glamour, Reichtum, Einfluss, Schönheit lesen, aber auch als Folge der Devaluierung des alten Künstlermodells im Feld der Kunst. Es ist ein Resultat der „umgekehrten Ökonomie“ im Verhältnis von Warenwert und symbolischem Wert eines Künstlers.56 Der „anti-ökonomischen“ Logik der Kunst folgend, sinkt Havels künstlerischer Wert, je höher der Autor als Politiker und Celebrity in Kurs steht. Im freien Spiel der literarischen, politischen und biographischen Motive gewinnt Havels Lebensgeschichte eine neue Interpretation: Sie wird zur Erzählung von der Bedeutung einer neuen, alten Elite, denn wie Havels Biographen nicht müde werden zu betonen und wie auch Havels offizieller Lebenslauf auf seiner website hervorhebt: Havel stammt aus einer Unternehmer- und Intellektuellenfamilie, die zur Führungselite der ersten Tschechischen Republik gehörte. Auch wenn Havel heute faktisch keine politische Macht mehr hat, wird ihm doch aufgrund seiner eigenen Biographie und seiner Familiengeschichte immer noch symbolische Macht zugeschrieben. Ein Anspruch, den er durchaus teilt. Anders als Madonna, die von einem beständigen Imagewechsel lebt, sind Havels Imagewechsel jedoch mit seinem Grundanspruch auf Authentizität nicht vereinbar. Sein spezifisches Charisma, das auf seinem künstlerischen Talent und seinen moralischen Überzeugungen basierte, konnte er zunächst für das politische Aktionsfeld kapitalisieren. Das daraus und aus dem Enthusiasmus der Umbruchsituation resultierende Startum sowie sein neuer Status als politische Celebrity lassen sich jedoch nach dem Abgang aus dem Amt nur schlecht in eine erneute ästhetische Führungsrolle umwandeln, weil die hier zur Verfügung stehenden bzw. von Havel angestrebten Künstlerrollen wie die des Dichter-Denkers nur schwer mit dem Bild des Medienstars vereinbar sind. Havels 54 Meyer/Kampmann 1998. Keane unterstreicht dies in seiner Biographie, wenn er schreibt, Havel habe sich sofort nach seinem Amtsantritt daran gemacht, „die Burg zu einem Kunstwerk umzukrempeln“ und eine theatralische Politik zu machen. Keane 2000, 411. 55 Nichols 1991, 254. 56 Bourdieu 1999, 228.
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Anja Tippner Biographie macht deutlich, dass sich symbolisches Kapital nicht beliebig von einem Konto auf das andere transferieren lässt.
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Der Marilyn-Madonna-Komplex THOMAS MIESSGANG
Michael Jackson, Madonna, David Bowie und Co. repräsentieren die erste Generation von Celebrities, die im Rahmen expandierender Medien-Netzwerke ein kombinatorisches Spiel der Imagekomponenten veranstalteten und sich beinahe im Jahresrhythmus neu erschufen oder erschaffen ließen, um ihren Fans ständig aktualisierte Benutzer- oder Betrachteroberflächen zu bieten. Es ging nicht mehr, wie in der heroischen Zeit der Hollywoodhelden um Konsistenz der Erscheinung, sondern, im Gegenteil, um symbolische Dislokation, um Fragmentierung und um Bricolage. Mittlerweile ist die Entwicklung schon wieder einen Schritt weiter: Benötigte man früher zumindest noch eine Schwundstufe an menschlicher Authentizität, um daraus einen Star zu basteln, so kann er heute zur Gänze am Computer errechnet werden. Digitale PC Game-Helden, vor allem aus dem ‚Third Person Shooter‘- Subgenre wie Max Payne oder Tommy Angelo aus „Mafia: The City of lost Heaven“ aktivieren die affektive Energie von Jugendlichen so wie früher Popstars oder Protagonisten aus TV und Film. Seit rund zehn Jahren kann man beobachten, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Produktion von Stars der Ausgangspunkt nicht ein Mensch, sondern ein Pixelhaufen ist. Am nachhaltigsten vielleicht in der Figur der Lara Croft, die sich von der virtuellen Computerspiel-Heroine in die reale biologische Präsenz der Schauspielerin Angelina Jolie verwandelte. Der Schritt vom Star zum Superstar muß irgendwann in den 1980er Jahren stattgefunden haben und reflektiert in der Steigerungsstufe den Zuwachs an globaler Relevanz. Denn das Starsystem ist nur auf der obersten Benutzerebene scheinbar unpolitisches Entertainment. Insbesondere wenn man in Rechnung stellt, dass neben der Ausübung von ‚harter Macht‘ mit den traditionellen Mitteln Armee, Polizei und Justizapparat auch eine ‚weiche Macht‘ existiert, der es eben nicht darum geht, die Körper zu domestizieren, sondern die Seelen und Gemüter zu kolonisieren, wie das ja bereits in den 1960er Jahren Guy Debord in Die Gesellschaft des 245
Der Marilyn-Madonna-Komplex Spektakels1 beschrieben hat, dann sind die Superstars nur scheinbar machtlose Repräsentanten eines auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochenen kollektiven Begehrens, in Wahrheit jedoch symbolpolitische Repräsentanten eines Willens zur Macht, der sich dort manifestiert, wo der Mensch am verwundbarsten und manipulierbarsten ist: In der Hölle seiner inneren Konvulsionen und existentiellen Traumata. „In einer Welt, die die Grenzen zunehmend hinter sich lässt“, schreibt der Politologe Nathan Gardels, „hat Macht mit ökonomischer Potenz zu tun und mit der Fähigkeit, die Herzen und Gedanken der Menschen zu beherrschen. Dieselben Kräfte, die den Nationalstaat untergraben haben, haben einen globalen Markt geschaffen und eine in seinem Gefolge aufkeimende globale Zivilgesellschaft“.2 Es gab einen historischen Augenblick in den 1990er Jahren, schreibt Gardels, als man keinen noch so entlegenen Winkel der Welt aufsuchen konnte, ohne dass einem das Gesicht entweder von Michael Jackson oder von Madonna von irgendeinem Bildschirm entgegengeblickt hätte. Die Art und Weise, wie heute populärkulturelle Leitbilder als globale Superstars geschaffen werden, lässt sich somit auf einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess zurückführen, dessen Beginn bereits mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges anzusetzen ist. Der Aufstieg des medienindustriellen Komplexes durch unter anderem zivile Nutzung von Militärtechnologie führte zu einer Proliferation populärkultureller Images amerikanischer Prägung. Schon in den 1960er Jahren konnte Régis Debray, der Theoretiker des Guerillakampfes behaupten, dass „Bluejeans und Rock’n’Roll mehr Macht verkörpern als die gesamte Rote Armee“.3 Der Star traditioneller Prägung und fest verankert im Hollywood-Studiosystem sollte eine konsistente Erscheinung sein: Einmal bad boy, immer bad boy, siehe James Cagney. Einmal Sexbombe, immer Sexbombe, siehe Rita Hayworth. „Variationen des Erscheinungsbildes wurden in der Regel nur dann vorgenommen, wenn sich das jeweilige Image an der Kinokasse nicht mehr als zugkräftig erwies“,4 schreiben Werner Faulstich und Helmut Korte. „In dieser Form diente das Starsystem als Mechanismus der Produktdifferenzierung und der Anpassung an einen schwer kalkulierbaren Markt“.5 In der zweiten Studioepoche ab ca. 1955 lockerte sich der ‚iron grip‘ der Bosse und Geldgeber ein wenig: Schauspieler gingen nun 1 2 3 4 5
Debord 1996. Gardels 2005, 38. Zit. nach Gardels 2005, 38. Faulstich/Korte 1997, 13. Ebd.
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Thomas Mießgang häufig dazu über, ihr Image selbst zu kontrollieren, engagierten PRAgenten oder versorgten die Medien höchstpersönlich mit dem Stoff, aus dem die Träume sind. Sie versuchten auch, durch sorgfältig gewählte Filmprojekte der Falle des ‚type casting‘ zu entgehen und ein differenzierteres schauspielerisches Profil anzubieten. Trotzdem übten die Stars ihre ‚charismatische Herrschaft‘ (Max Weber) bis in die 1980er Jahre im Wesentlichen nach einem Vorkriegsdrehbuch aus. Erst mit dem Heraufdämmern jener Ära, die aus heutiger Sicht häufig als ‚MTV-Epoche‘ bezeichnet wird, änderten sich die gesellschaftlichen und medientechnischen Rahmenbedingungen so stark, dass die populärkulturelle Idolatrie einen Paradigmenwechsel erlebte: Der Star wurde zum Superstar, dessen Design schon in der konzeptionellen Phase auf globale Wirkung ausgelegt war. Stars – mittlerweile eher aus dem Feld des Pop als aus der Filmszene wurden in einer Epoche der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘, in der die ‚nicht mehr versammelbaren Massen‘ wie es Peter Sloterdijk genannt hat, Surrogate für jene ideengeschichtlichen Erscheinungen suchen, die in der Lage waren, den Himmel durch ‚gesteigerte Menschhaftigkeit‘ (Friedrich Nietzsche) zu sprengen. In seinem Essay „Aufstieg und Niedergang von Stars als Teilprozeß der Menschlichkeitsentwicklung“ schreibt Peter Ludes: Stars der verschiedensten Art werden zu herausragenden Leitbildern, deren Verständnis ähnlich relevant wird wie in früheren Phasen der Menschheitsentwicklung das Verständnis von Göttern, Helden und Staatsoberhäuptern. Sie bieten symbolische Projektionsoberflächen, die tieferliegende Ungleichheiten und Konflikte medial überspielen oder verschleiern.6
Eine wesentliche Rolle bei der Produktion von zeitgenössischen Superstars spielte MTV und nach dem gleichen Muster gebaute Musikkanäle, die, zumindest in ihrer Anfangszeit, vor allem Videoclips abspielten und damit eine neuartige Rezeptionshaltung des Publikums in Szene setzten. Vor der Herrschaftsübernahme durch die MTV-Ästhetik mit ihren exzentrischen Perspektiven, schnellen Schnitten und schrillen Farbdramaturgien waren die Star-Images noch in narrative Strukturen eingebettet, die sich von der Idee des Romans herleiten lassen: Die große Erzählung als Versuch, das Gesamte der Gesellschaft in einer Nussschale zu fassen und zu transzendieren. Man denke an die gewaltigen Filmepen von Griffith bis Ford. Und selbst die kritischen oder degenerativen Formen des Kinos der 1960er und 1970er Jahre (New Hollywood, Italo-Western) entfalten sich im Sin-
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Ludes 1997, 89.
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Der Marilyn-Madonna-Komplex ne einer negativen Dialektik noch vor der Folie eines emphatischen Amerikanismus. Mit MTV jedoch verschwand das Vertrauen auf die Suggestivität und die Beweiskraft der narrativen Konsistenz. Im flüchtigen Bildkaleidoskop der Musikclips verflüchtigten sich inhaltliche Zusammenhänge; Geschichten wurden nicht mehr in angemessener Breite erzählt, sondern als Fragmente in den metaphorischen Partikelbeschleuniger gefüllt. An die Stelle von Durchführung und Entwicklung traten visuelle Kompression und Wiederholung („Heavy Rotation“). „Im Video transzendiert der Star durch die Verhinderung eines längeren Zuschauerblickes auf Grund extremer Einstellungskürze“,7 schreibt Jens Thiele. „Das Starbild formt sich zwischen den vorbeieilenden, fragmentarisierten Bildeindrücken als Vision im Kopf des Zuschauers“.8 Das vielfach diagnostizierte Phänomen der geringen Aufmerksamkeitsspanne von Teenagern, die in schönen, neuen Medienwelten sozialisiert worden waren, fand in der fragmentarisierten, epigrammatischen Erzählweise von MTV und Co. seine mediale Entsprechung. Das Musikfernsehen mit seinen innovativen visuellen Charakteristika und der Nivellierung kommerzieller und inhaltlicher Levels ist die Benutzeroberfläche eines ökonomischen Produktionssystems, das von Walter Benjamin in einem hellsichtigen prognostischen Text von 1921 als Religionsersatz beschrieben wurde: Es hat in ihm [im Kapitalismus] alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. […] Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen „Wochentag“, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.9
Die Pionierarbeit in der Anpassung von Imagekreationen an veränderte medientechnische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen wurde in den frühen 1980er Jahren geleistet. Damals tauchte der Begriff Superstar, der vom Avantgardefilmemacher Jack Smith in den 1960er Jahren als ironische terminologische Prägung erfunden worden war, in den Medien zur Kennzeichnung der Top-Kategorie von Celebrities auf. Im Zusammenspiel mit der flächendeckenden Visualisierung von Popklängen durch das Musikfernsehen („Be in my video“ hieß damals ein Song von Frank Zappa) ergaben sich völlig neue Mög7 8 9
Thiele 1997, 141f. Ebd. Benjamin 1921, 100.
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Thomas Mießgang lichkeiten der opulenten dekorativen Ausstattung von Images. MTV war, bei behaupteter Modernität und Zeitgenossenschaft, von Beginn an auch eine gewaltige Recyclingmaschine, ja möglicherweise der Anfang jener periodisch einsetzenden Wiederholungszyklen, die bis heute die populärkulturellen Paradigmenwechsel bestimmen. In Bildern sichtbar gemachte Epochen purzelten ineinander wie im Jüngerschen „Blechsturz“ und erzeugten ein historisches Pastiche, das den Eindruck von zeit- und ortloser Kontingenz nährte. Die archetypische Popfigur einer aufs kulturhistorische Zitat gegründeten Luminosität ist Madonna, die den bürgerlichen Namen Ciccone im Zuge ihrer Transsubstantiation verlor. In ihrer 25 Jahre dauernden Karriere hat sie eine mittlerweile kaum noch registrierbare Zahl von Rollen verkörpert: Lola in ‚Der Blaue Engel‘, Amy Joly aus ‚Marocco‘, mit Frauen flirtend, Lorelei Lee in ‚Gentlemen prefer blondes‘, wo sie Marilyn Monroes Choreographie bis ins Detail kopierte. Madonna spielte Carmen, Evita Perón, Marie-Antoinette, sie trug ein Clockwork Orange Outfit oder einen Lack-Overall. Sie posierte in einer Saison als Shiva und Geisha, in einer anderen als Cowgirl. Die von der Industrie implementierte Strategie der permanenten Imagetransformation wird von Madonnas meist weniger begabten Nachfolgerinnen wie Britney Spears, Christina Aguilera und Beyoncé und von männlichen Stars wie P. Diddy, Robbie Williams und Eminem bis zum heutigen Tag als probateste Methode zur Verlängerung der Zeit im Scheinwerferlicht angewendet. Natürlich gibt es aufgrund der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch im Jahr 2008 noch den Künstlertypus Bruce Springsteen, der, scheinbar direkt von den Docks kommend, mit schwielenbedeckten Händen zur Gitarre greift und Lieder von Blut, Schweiß und Tränen, von Fahrten im Buick und den weißgewaschenen Gehsteigen im Vorort singt. Doch die Cool Hunters, die in den Superstar-Entwürfen der Gegenwart die Muster zukünftiger Lebenswirklichkeiten erkennen wollen, orientieren sich eher an der Genealogie, die sich von Michael Jackson, dem Urvater gegenwärtiger Superstarkonfigurationen herleiten lässt. Man hat seine unzähligen kosmetischen Operationen, mit denen er sein Gesicht zu einer in katatonischer Starre gefrorenen No-Maske machte, einem derangierten Geisteszustand (‚Wacko Jacko‘) zugeschrieben. Ist es aber nicht eher so, dass man darin eine faziale Entsprechung zu den universalistischen Tendenzen einer globalisierten Ökonomie sehen muß? In einer Epoche, die populärkulturelle Images und die damit verbundenen Warenangebote über ethnische Grenzen hinweg transportieren möchte, ist eine eindeutige afroamerikanische Zuordnung ein Hindernis, da damit nur ein partikulares Marktsegment affektiv stimuliert werden kann. So hat Michael Jackson sein Gesicht sukzessive von Spuren ethnischer und geschlechtlicher Zu-
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Der Marilyn-Madonna-Komplex gehörigkeit und individueller Charakteristik gesäubert und zu einer leeren Projektionsfläche gemacht, die es Millionen Fans aus fünf Kontinenten ermöglichte, ihre ‚Markierungen auf dem Körper der Dinge‘ (Toni Negri) anzubringen. Der Superstar als Wunschmaschine, als Man in the Mirror, der jedem das Bild zurückspiegelt, das er gern sehen möchte. Globales Marketing auf höchstem Niveau. Michael Jackson ist somit Ausgangspunkt und Apotheose jenes ‚Superstar‘-Syndroms, das in zeit- und ortloser Omnipräsenz eine politische Ökonomie des Substanzverlustes visuell konkretisiert. Der ‚gasförmige‘ Aggregatzustand der Hyperidole, die den biologischen Körper nur noch als Aide-mémoire mit sich schleppen oder ganz auf ihn verzichten können, signalisiert den Wegfall des Anderen als Möglichkeit der ‚realen Gegenwart‘ (George Steiner). Transparenz statt Transpiration. Es findet ein Prozess der Entweltung statt, der in letzter Konsequenz die noch beispielsweise von Emmanuel Lévinas gedachte Möglichkeit des ‚Durchbrechens der in sich verschlossenen Einsamkeit‘ zur Andersheit unmöglich machen würde.10 Am Zustand der Star-Imagines, die sich die Gesellschaft als Leitbilder erfindet, lässt sich ablesen, wohin der lange und seltsame Trip der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung geht. Elisabeth Bronfen vermutet, dass die „heiligen Monster“ des Starsystems im kaleidoskopischen Wirbel der flüchtigen Augenreize verschwinden werden. Man müsse bezweifeln, dass ein ausschließlich oberflächliches Starimage, das nicht von der Spannung lebt, die sich zwischen Aneignung vorgegebener Starbilder und der Substanz einer Körperlichkeit, mit und gegen die die Selbstdarstellung unternommen wird, ergibt, überhaupt eine Wirkungskraft hat, die über die Macht des Augenblickes [...] hinausreicht.11
Dieser hier beschriebene Prozess der Entwicklung der Star-Images von relativ konventionellen Identifikationsfiguren der Massen hin zu jenen ‚heiligen Monstern‘ einer entwelteten Medien-Surrealität lässt sich gut an den zusammengerechneten Karrieren von Marilyn Monroe und Madonna darstellen, die den gesamten Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart abdecken. Der MarilynMadonna-Komplex als Mediengeschichte. Als Christie’s vor einigen Jahren bei einer Zweitagesauktion rund tausend Gegenstände aus dem persönlichen Besitz von Marilyn Monroe versteigerte, wurde ein Ergebnis erzielt, das alle Erwartungen übertraf: Das berühmte figurbetonte Kleid, mit dem die 10 Wenzler 1989, 69. 11 Bronfen 2003, 133f.
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Thomas Mießgang Schauspielerin 1962 im Madison Square Garden „Happy Birthday Mr. President“ gesungen hatte, erzielte 1,26 Millionen Dollar. MM selbst hatte seinerzeit 12.000 Dollar dafür bezahlt. Aber auch weniger glamouröse Objekte konnten beachtliche Wertsteigerungen erfahren: Die Urkunde, die Marilyns Übertritt zum Judentum nach der Hochzeit mit dem Dramatiker Arthur Miller bescheinigte, wurde für 90.000 Dollar verkauft, eine kleine Auswahl an Küchenutensilien für 9.200 Dollar. Die Marke Marilyn Monroe hat seit dem Tod des Stars vor mehr als vierzig Jahren nicht etwa gelitten, sondern im Gegenteil einen enormen Bedeutungszuwachs erlebt. Das finanzielle Resultat der Auktion entspricht einer symbolischen Aufwertung, die mit einer fundamentalen Imagetransformation einherging: Erst nach ihrem tragischen Ableben, meint die Filmhistorikerin Juliane Vogel, sei MM zur mythischen Ikone geworden: „Galt sie zu ihren Lebzeiten als Sexsymbol, so verkörpert sie heute darüber hinaus das Star-Sein an sich, ist gewissermaßen zum Inbegriff des Filmstars geworden“.12 Marilyns Karriere post mortem ist ein exemplarischer Fall für das retroaktive Wirken der Superstar-Maschinerie: Ein relativ kleiner Kanon an Bildern – darunter Stills aus ihren berühmtesten Filmen und die stark stilisierten Aufnahmen aus den Sitzungen mit den Fotografen Bert Stern, André de Dienes, Milton Greene et. al. – wurde in die Medien der visuellen Zirkulation geschleust und erlebt bis zum heutigen Tag ein endloses Recycling. Dazu kommen verwertungstaugliche biografische Fakten und Fiktionen wie der einsame Tod im Pillendelirium, die Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit den Kennedy-Brüdern und die spektakulär gescheiterten Ehen. „Ein Mythos“, schreibt Roland Barthes, „ist kein Objekt, sondern eine Aussage. Daher kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden. Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er dieses ausspricht“.13 Der Mythos Marilyn Monroe steht im Zentrum einer diskursiven Polyphonie, die emphatisch, kritisch, analytisch, oft widersprüchlich ein wild wucherndes Gewebe aus Worten und visuellen Flashes erzeugt, das die reale Person Norma Jean Baker wie ein Kokon einhüllt. Dazu gehört das immerwährende Aufbereiten von Trivialitäten zwischen Vergötterung und Entzauberung im Boulevard genauso wie in der filmhistorischen Studienarbeit und als Mantra einer außer Rand und Band geratenen Fanbegeisterung, die sich im Internet artikuliert. Relativ neu ist die seit dem Aufkommen der Cultural Studies populär gewordene Mode, den realen und metaphorischen 12 Vogel 2002, 70. 13 Barthes 1964, 85.
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Der Marilyn-Madonna-Komplex Körper Marilyns als all-amerikanischen zu lesen, der Aufschlüsse über die Zerrissenheit und Traumatisierung der Nation geben soll. An die Schauspielerin und ihre medialen Doubles werden Fragen nach der Identität in fragmentarisierten Hybridwelten herangetragen, nach dem Vokabular der Erinnerung und nach den transgressiven Möglichkeiten der amerikanischen Popkultur. Die Theoretikerin S. Page Baty ernennt Marilyn in ihrem Buch American Monroe: The Making of a Body Politic zur „Mediatrix“: einer dem Wirbelsturm der medialen Manipulationen und Repräsentationen ausgesetzten Oberfläche, die alles widerspiegelt, was sie berührt: „In der Mitte, in der Matrix, schaffen die Medien eine virtuelle Welt, wo sich die Toten und die Lebenden treffen“.14 Die Monroe-Rezeption im akademischen Feld mag häufig nur ein Vorwand sein, um die handelsüblichen Derrida- und FoucaultZitate auf einen neuen Gegenstand anzuwenden, der auf interessante Weise das Erhabene der biografischen Tragödie mit dem Talmiglanz einer konstruierten Glitzerwelt verknüpft. Trotzdem hat sie entscheidend dazu beigetragen, MM als Allzweckikone in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus zu verankern und zu einem bevorzugten Zielobjekt der „Sprachen des Begehrens“ (Baty) zu machen, die die massenmedialisierte politische Landschaft dominieren. Warum hat es gerade Marilyn geschafft, dem Pool heftig konkurrierender Hollywood-Schauspielerinnen zu entkommen und sich als dauerhafte Inkarnation all-amerikanischer Träume und Traumata zu verewigen? Neben dem Zufall, der bei solchen Prozessen natürlich immer eine Rolle spielt, kann man konstatieren, dass bei Marilyn genügend biographische Verwerfungen und innerpsychische Turbulenzen vorlagen, um ihr von Hollywood geformtes Image als simpel gestrickte Sexbombe gründlich zu unterminieren und damit jene existentielle Komplexität zu erzeugen, die sie als Zielobjekt für Bildende Kunst und andere Formen hochkultureller Appropriation interessant machte. Das beginnt bei der schwierigen, neurotisch geprägten Beziehung zu ihrer Mutter Gladys. Als Marilyn, die damals noch Norma Jean hieß, noch klein war, erlitt ihre Mutter einen Nervenzusammenbruch und hatte von diesem Zeitpunkt an mit psychischen Problemen zu kämpfen. Ihre Tochter wuchs von nun an in mehreren Pflegefamilien und einem Kinderheim auf. Sie hat später in Interviews immer wieder von dem Gefühl berichtet, dauernd abgeschoben worden zu sein. Marilyn Monroe begab sich später als er-
14 Vgl. Baty 1995, 9. [Übers. des Verf.].
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Thomas Mießgang wachsene Frau mehrfach in Psychoanalyse, um ihre Kindheitsprobleme und deren Folgen zu lösen. So schreibt sich in diese zerrissene Biographie unmittelbar die Dualität des amerikanischen Traumes ein: Einerseits der ‚pursuit of happiness‘, der sich in einer exemplarischen Filmkarriere auf’s Schönste verwirklichte, andererseits die Erfahrung von physischer und psychischer Ortlosigkeit in einer desintegrierenden Gesellschaft, deren innere Widersprüche spätestens in den 1960er Jahren mit Vietnamkrieg, Studentenprotest und den symbolischen Vatermorden an John F. Kennedy, seinem Bruder Robert und Martin Luther King als innenpolitisches Theater der Grausamkeit explodieren sollten. Interessant, dass Marilyn durch die ihr zugeschriebenen Affären sowohl mit dem Präsidenten als auch dessen Bruder biographisch mit diesem amerikanischen Ur-Trauma verknüpft ist. Ein weiteres biographisches Faktum von Relevanz ist die enge Koppelung der Starpersönlichkeit Monroe an den militärischindustriellen Komplex. Entdeckt wurde die damals noch braunhaarige Norma Jean, die in einer Rüstungsfabrik arbeitete, von dem Armee- und Militärfotografen David Conover. Die ersten Fotos erschienen Mitte 1945 im Magazin der U.S.-Army Yank. Während des Koreakrieges arbeitete Marilyn Monroe in der US-Truppenbetreuung als Sängerin, ungeachtet harter äußerer Umstände. So ist sie, die zeitweise das beliebteste Pin-up in den USA war, von Beginn ihrer Karriere an, Sehnsuchtshorizont und Projektionsfläche eines frauenlosen Milieus, das zwar machtpolitisch begründbar ist, aber trotzdem bereits symbolisch jene Identitätskonfusionen vorwegzunehmen scheint, die in den 1980er Jahren als GenderTheorie zum hippen akademischen Gegenstand wurden und in denen wiederum Madonna eine prominente Rolle spielte. Sich als symbolische Präsenz in ein Territorium gesellschaftlichen Mangelerlebens zu setzen, war immer eine der Hauptenergien von Monroes Karriere und hat wohl nachhaltig dazu beigetragen, dass ihre Wirkung weit über das unmittelbare Milieu der trivialen Massenunterhaltung wahrgenommmen wurde. Schon unmittelbar nach Marilyns Tod begann die Kunst, an der ästhetischen Kanonisierung der Schaupielerin zu arbeiten, die zu Lebzeiten als Inkarnation der „blonde bombshell“ und intellektuell inadäquate Partnerin des Geistesriesen Arthur Miller gegolten hatte. Andy Warhol war von MM besessen und hatte ungefähr tausend Fotos von ihr gesammelt, die er intensiv studierte. Einen Monat nach dem Tod der Schauspielerin suchte der PopArt-Künstler schließlich jenes Bild aus, das er in einer endlosen Serie von Variationen und farblichen Neuinszenierungen zu einem der nachhaltigsten Symbole des Monroe-Kultes machte: Ein Porträt, auf dem Marilyn mit Schlafzimmerblick als fleischgewordene Verführung posiert. Warhol
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Der Marilyn-Madonna-Komplex hatte den Kopf aus einem Publicity Still ausgeschnitten, der von Gene Kornman für 20th Century Fox hergestellt worden war, um den Film Niagara aus dem Jahr 1953 zu promoten. „Insbesondere die Siebdrucke auf historisierendem Goldgrund“, schreibt Heiner Bastian, „die die Leere implizieren und das Einst und die Jenseitigkeit, aber auch die Antinomie zwischen Reliquie und Gefallensein begründen, sprechen auch das ‚Hohe und das ganz Niedere‘ an, das im Werk Warhols immer gleichzeitig wahrnehmbar ist“.15 Auf Andy Warhols Einschreibung in den medialen Schattenkörper der Filmgöttin antwortet wiederum die Vertreterin der Appropriation Art, die Künstlerin Elaine Sturtevant mit ihrer detailgetreuen Kopie von Warhols Gold Marilyn. So entsteht eine Genealogie der Kopien und Abbilder, eine quasi-dynastische Abfolge von Repräsentationen eines „repräsentativen Charakters“16 (Page Baty), die dem dargestellten Subjekt/Objekt in zeitentrückter Allgegenwart den Status des Numinosen zuordnet. Elaine Sturtevant sieht im reproduktiven Akt neben der zyklischen Wiederkehr des Immergleichen auch die Darstellung des Absoluten: Im Prozess der Aneignung, im Auftritt der Doubles auf den unterschiedlichsten Benutzeroberflächen äußere sich das Transzendentale als essenzialisiertes „Seyendes“. So wandert der Mythos Marilyn von Generation zu Generation: Er trägt die Signaturen unterschiedlicher Urheberschaften, die ihm ihre jeweiligen subjektiven Deutungen aufprägen wollen. Er wird palimpsestartig von immer wieder neuen Manifestationen zivilisatorischen Unbehagens überschrieben. Marilyn Monroe als Idee und visualisierte Chiffre ist dazu verdammt, als Untote die geisterhaften Alptraumszenarien hinter den Masken der ökonomischen und politischen Effizienz zu durchwandern. „Die Leute sahen mich immer an, als ob ich eine Art Spiegel wäre“, hat die Schauspielerin selbst einmal gesagt. Ein Spiegel allerdings, der nicht zur Einheitswahrnehmung verhilft, sondern dem Individuum, das sich im Vollbesitz seiner stabilen Identität wähnt, eine zerstückelte Imago zurückwirft. Um die große Erzählung von Amerika durch die Konstruktionen Marilyns hindurch lesen zu können, um die multiplen Aspekte dieser hypostasierten öffentlichen Figur zu fassen, braucht es vielleicht den objektivierenden Blick von außen. Der schottische Künstler Douglas Gordon zeigt in der kleinformatigen Fotoarbeit Self Portrait as Kurt Cobain, as Andy Warhol, as Myra Hindley, as Marilyn Monroe (1986) das eigene stoppelbärtige Gesicht unter einer zerzausten wasserstoffblonden Perücke: Die Augen sind melancholisch verschleiert, die Mundwinkel leicht herabgezogen. Es ist kein trium15 Bastian 2002, 28. 16 Baty 1995 passim.
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Thomas Mießgang phalistisches Behauptungsbild, sondern ein Symbol der Entleerung: Keine expressive Mimik, keine Anzeichen für emotionale Bewegtheit. Unter der Last der Images, die sich in der zur Charaktermaske geformten Individualität bündeln, ist die Auslöschung der subjektiven Emphase die einzige Möglichkeit, dem Druck des kollektiven Gedächtnisses standzuhalten. Die drei amerikanischen Ikonen Warhol, Cobain und Monroe, die in diesem Konzentrat der Celebrities zusammenschmelzen, repräsentieren einen dunklen Glamour: Der Einbruch des Realen wirbelt zwar die Choreografie im Theater der Illusionen durcheinander, fügt aber andererseits jene Dosis an „Authentizität“ hinzu, die den Mythos erst möglich macht. Die Attacke von Valerie Solanas auf Andy Warhol und der glanzlose Selbstmord Kurt Cobains sind – so Douglas Gordons Deutung – Manifestationen von existenziellen Katastrophenszenarien, die bereits in der Figur Marilyn angelegt sind und an anderen Körpern realisiert wurden. Durch die Inklusion der britischen Serienmörderin Myra Hindley bricht der Künstler die Konsistenz der Metaphorik auf. Man könnte im Sinne Lacans von einem Objekt klein a sprechen: ein auf die physische Ähnlichkeit reduziertes leeres Zeichen, das in einer hoch symbolisch strukturierten Umgebung einen Mangel indiziert: indifferente Präsenz des Inkommensurablen, fleischliche Gegenwart eines absoluten Bösen, das sich einer konventionellen popkulturellen Lesart von „live fast, die young“ widersetzt, amerikanische „body politic“ durch das Prisma der sprachlosen Perversionen aus „old Europe“ gebrochen. Mit seinem Selbstporträt als multiple Persönlichkeit spannt Douglas Gordon jene Serie von Dichotomien auf, die auch seine Arbeiten in anderen Medien kennzeichnen: Liebe und Hass, Verführung und Gewalt, Leben und Tod, Wahrnehmung und Erinnerung. Gordons gnadenlos sezierender Blick auf Marilyn Monroe als Ikone eines schizophrenen Bewusstseins und einer dämonischen Leere markiert eine Art Endpunkt im künstlerischen Deutungswettbewerb um das öffentliche Bild der Schauspielerin, der schon mit den Zeitgenossen Marilyns begonnen hat: Der Fluxus-Künstler George Brecht, geboren 1925, lebt in dem Werk Reunis: Marilyn Monroe – Piero Manzoni (1970) seinen Hang zum stillen Paradox aus: In einem Objektkasten symbolisiert ein Tragegriff die Verbindung zwischen einem Marilyn-Button und einem schlaffen Luftballon, der einst den „konservierten Atem“ des Künstlerkollegen Piero Manzoni beherbergt hat. Ein minimalistisches Spiel mit dem Reliquiencharakter von auratisch aufgeladenen Objekten und gleichzeitig die Frage nach den Bedingungen, die die Systeme der Kunst und der Populärkultur in Bewegung versetzen. Claes Oldenburg, geboren 1929, abstrahiert in seiner Arbeit Ghost Wardrobe (for Marilyn Monroe) von der physischen Erscheinung des Stars und präsentiert
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Der Marilyn-Madonna-Komplex stattdessen ein Ensemble von Gegenständen, die in ihrer Kombination den Geist, die Transparenz, die Flüchtigkeit Marilyns evozieren: die zurückgebliebenen Gebrauchsgegenstände des Lebens als bedrückende Metapher der Absenz und des Todes. Der italienische Décollagen-Künstler Mimmo Rotella, geboren 1918, traktiert das Bild Marilyns mit seiner bekannten Technik des Plakatabreißens. Rupture als Methode, Sand ins Getriebe der auf Perfektion erpichten Bilderproduktionsmaschine zu streuen und gleichzeitig die Schönheit, die sich im Verlust, in der Zerstörung als bittere Erinnerung manifestiert, auszustellen. Das zerrissene Plakat als entmythisierende Überpräsenz. „Im dynamischen Kontext der anonymen Abrisse gewinnen das Aufblitzen eines Lächelns, das Auftauchen eines Gesichts, die Erscheinung eines Körpers eine ungeahnte Wirkung“, hat Pierre Restany im Vorwort zur RotellaAusstellung Cinecittá geschrieben: „Der zerrissene Star ist weniger ein Star, aber tausendmal mehr eine Frau“.17 Gleich in den ersten Jahren nach ihrem Tod war Marilyn Monroe von Pop Art- und Fluxus-Künstlern als „Göttin aus der Maschine“ in den Kanon der bearbeitungwürdigen Bildvorlagen aufgenommen worden. Doch auch spätere Generationen ließen sich, ungeachtet ihrer stilistischen Präferenzen und Milieuzuordungen, vom medialen Körper der Hollywood-Heroine inspirieren. Die visuelle Metapher Marilyn Monroe ist bis heute eines der häufigsten Motive aus der Populärkultur in der zeitgenössischen Kunst und wird mit den unterschiedlichsten ästhetischen Strategien bearbeitet: Die Modefotografin Ines van Lamsweerde hat das Bild einer Mülltonne mit Marilyn-Konterfei aufgenommen: Der Superstar als Endlagerstätte von zivilisatorischen Abfallprodukten wie gebrauchten Kondomen oder beschmutzten Papierservietten, die von verwelkten Träumen und zerstobenen Illusionen erzählen. Der japanische AppropriationArtist Yasumasa Morimura projiziert seinen eigenen Körper in die mittlerweile klassischen Marilyn-Settings wie etwa die berühmte Tom Kelly-Serie auf rotem Samt. Mimesis als Methode, Fragen nach „race“ und „gender“ zu stellen und gleichzeitig verblüffende Trompel’Œil-Effekte zu erzielen. Die interessantesten neueren Arbeiten knüpfen bei Claes Oldenburgs Ästhetik der Absenz an. Sie favorisieren die Zungenrede und die Mehrfachbelichtung des Mythos; sie untersuchen jenen Nullpunkt der auratischen Diffusion, wo Marilyn entweder verschwindet oder zum Teil der eigenen Weltwahrnehmung wird. In der SoundArbeit Talking without thinking (in the voice of Marilyn Monroe) führt der New Yorker Künstler Jonathan Horowitz einen ungeprobten,
17 Restany 1962.
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Thomas Mießgang ungeschnittenen Monolog auf, in dem er sich darum bemüht, die Stimme der Schauspielerin nachzuahmen. Sein Werk ist als performative Geste zu verstehen, die untersucht, wie durch Timbre, Expressivität und Tonhöhe kulturelle Identitäten konstruiert werden, wie die Zuschreibung einer spezifischen Form von sprachlicher Artikulation gesellschaftliche Rollen determiniert. Marilyn als Conduit für die kommunikativen Kurzschlüsse eines solipsistischen Environments. Paul Pfeiffer, ebenfalls aus New York, eliminiert in Red Background mit digitalen Mitteln das zentrale Motiv einer Fotoserie von Bert Stern Marilyn Monroe. The Lady vanishes: Zurück bleiben ein leicht derangierter, faltiger roter Hintergrund und, in einem Fall, eine Silhouette, die als blasse Erinnerungsspur auf eine reale Gegenwart verweist. Pfeiffer führt uns durch den Irrgarten unserer fragmentierten Perzeption. Er lenkt den Blick auf das vermeintlich Nebensächliche, das durch die Neukonzeption des Bildraumes das gesamte bewusste Gewahren absorbiert. Die Falte mag nicht nur als Zeichen des gegenständlichen Gebrauchs gelesen werden, sondern als ontologische Verwerfung, die Silhouette als Signatur einer Abwesenheit, die uns als Mängelwesen kennzeichnet. „Der Fremde in uns“, schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen, „das ist der uns eigene Teil, der uns abhanden kam und den wir Zeit unseres Lebens, jeder auf seine Weise, wiederzufinden versuchen“.18 Marilyn Monroe ist heute nicht nur in ihren Filmen, Abbildern und künstlerischen Transformationen allgegenwärtig, sondern auch in der Leiblichkeit ihrer Doppelgängerinnen: Monroe-Ebenbilder sind fixer Bestandteil der Lookalike-Wettbewerbe, vor allem in den USA. Auch zahlreiche Popsängerinnen und Filmdiven haben Teile des Marilyn-Images recycelt und zum Teil ihrer eigenen Corporate Identity gemacht, darunter Gwen Stefani, Christina Aguilera, Jessica Alba und, am berühmtesten, Madonna Louise Ciccone. Einige Jahre lang kopierte die Italoamerikanerin den platinblonden Glamour der 1950er Jahre und verschob ihn ins hedonistische Schwulen-Milieu New Yorks zwischen Tanzekstase und AIDS-Tod. Das Video zu Material Girl ist Kader für Kader nach dem Vorbild der Varieté-Einlage „Diamonds are a girl’s best friend“ aus dem Film Gentlemen Prefer Blondes modelliert, wenn auch mit neuen postfeministischen und sexualpolitischen Subtexten ausgestattet. Heute kann man kaum mehr Marilyn sagen, ohne Madonna dazu zu denken, vor allem, weil die Diva der MTV-Epoche eine ähnliche Flut an akademischem Räsonnement ausgelöst hat wie ihr Vorbild. Madonna wurde um 1990, als ihr Ruhm in außermusikali-
18 Gruen 2002, 7.
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Der Marilyn-Madonna-Komplex schen Zirkeln am größten war, wahlweise als „soziologische Urgewalt“ (Joel D. Schwartz)19 bezeichnet, als archetypische Repräsentantin einer „postmodernen Plastizität“ (Susan Bordo)20 oder „als wandelbarste Projektionsfläche dieses Jahrhunderts in Form eines menschlichen Stars“ (Boris Penth).21 Vor allem im Zusammenhang mit Judith Butlers Queer-Theorie in Gender Trouble wurde Madonna zum heißen akademischen Diskussionsgegenstand. Butler kritisiert in ihrem paradigmatischen Text Identitätspolitik als Methode der weiblichen Emanzipation, denn die Präsentation von Frauen als kohärente Gruppe würde die patriarchalische Konstruktion einer binären Geschlechterordnung unterstreichen. Butler wendet sich vehement gegen die sozialen Machtdispositive, die natürliche Geschlechteridentitäten und eine Logik der Heterosexualität behaupten und damit die Frauen unterjochen und Homosexuelle, Transvestiten und andere sexuelle Outlaws ausschließen. Butler schlägt vor, dass durch ‚subversive‘ Identitätsbildungen die Konstruiertheit der traditionellen Sex-Geschlechts- und Begehrenskontinuität aufgedeckt und ausgehebelt werden könnte. Und Madonna mit ihren ständigen Imagewechseln, Parodien blonder Sexbomben, ihrer Selbstermächtigung als starker Frau, die keinen ‚starken Mann‘ im Hintergrund braucht, um ihre Karriere zu kontrollieren, und ihren Appropriationen aus der schwulen Kultur fügte sich perfekt in dieses akademisch-theoretische Szenario. Eine Spekulation, die vor allem an amerikanischen Universitäten mal heftig unterstrichen wurde – berühmt geworden sind Anfang der 1990er Jahre zwei Aufsätze der sogenannten Postfeministin Camille Paglia – gelegentlich aber auch massiv in Frage gestellt wurde. So behaupteten Kritiker, dass Madonna sich bestimmte visuelle Erkennungszeichen aus subkulturellen Milieus nur aneignen würde, um ihre Karriere durch eine Strategie des kalkulierten Tabubruchs voranzutreiben, dass sie aber keineswegs daran interessiert sei, durch lebenspraktische Solidarität mit den symbolisch Enterbten und Entrechteten tatsächlich politische Zeichen zu setzen. Der späte Schwenk der Sängerin zu einer durchaus konventionell gelebten Mutterschaft im Sinne traditioneller Identitätsfestlegungen mag ein Indiz dafür sein. Madonna bedeutet für viele vieles, und da ihr Auftritt auf der Weltbühne im Rahmen der neuen Diffusionstechniken des Musikfernsehens und der globalen Networks orchestriert wurde, ist ihr Media Impact möglicherweise noch stärker als der Marilyns. Die 19 Schwartz 1985, 119–124. 20 Bordo 1993, 265–290. 21 Penth/Woerner 1993, 28.
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(poststrukturalistischen) Theoretiker, die seit rund 15 Jahren den „Text“ Madonna zu dechiffrieren versuchen, haben immer darauf hingewiesen, dass sie sich durch einen Akt der Selbstermächtigung von den Stars etwa des alten Hollywood-Studiosystems abgesetzt hat. Während Marilyns öffentliche Erscheinung noch weitgehend von der Werbeabteilung ihres Studios geformt worden war, hat man den Eindruck, dass Madonna alle Imagekomponenten, wenn schon nicht völlig kontrolliert, so doch entscheidend mitbestimmt. Auch in der Rezeption durch die Kunstszene gibt es entscheidende Unterschiede. Marilyn wurde dank ihres glamourösen Nachruhms zum Objekt der ästhetischen Bearbeitung, Madonna hingegen, die immer schon mehr sein wollte als eine reine Popsängerin, setzte sich selbst als Subjekt der Kunst ein. In den Video- und Fotoinszenierungen des New Yorker Modefotografen Steven Klein ist sie gleichberechtigte Mitspielerin: Das Performance-Projekt X-STaTIC PRO =CeSS, in dem Madonna als finster blickende Königin oder als maskierte Domina zwischen Kojoten sinistre Rollenspiele aufführt, knüpft an bekannte Motive aus ihren Videos an: Ein Hochzeitskleid erinnert an den Clip zu Like a Virgin aus den 1980er Jahren, ein Bett an den Film In Bed with Madonna. Doch in Steven Kleins digitaler Bearbeitung kommt das Kaleidoskop der Bilder und Farben zur Ruhe, statt Akzeleration gilt das Prinzip der Entschleunigung. Die Videos wirken beinahe wie Filmstills, Bewegung reduziert sich auf ein Flackern am Rande der Wahrnehmung. Steven Klein/Madonna untersuchen die dunkle Seite von Celebrity – ein klaustrophobisches Universum von Bondage, latenter Gewalt und vergossenem Blut: Marquis de Sade in viktorianischen Kulissen und durch die schwindsüchtige Sensibilität Aubrey Beardsleys gefiltert. Es ist nur folgerichtig, dass Teile von X-STaTIC PRO=CeSS im Rahmen von Madonnas Re-Invention-Tour gezeigt und somit wieder in den unendlichen Kreislauf des Recyclings populärkultureller Ikonizität eingespeist wurden. In Steven Kleins Tableaux vivants mit Madonna als Regentin in einem imaginären Reich der schwarzen Romantik, das von Huysmans erdacht sein könnte, manifestiert sich der Marilyn MonroeKomplex in seinem aktuellsten visuellen Design. Die Aura der Schauspielerin, jenes nahe und doch gleichzeitig so ferne Ding, hat im Verlauf von vier Jahrzehnten eine Vielzahl von medialen Systemen berührt. Ihr geisterhaftes Nachbild ist wie ein Astralleib durch die Körper anderer hindurchgewandert und ihr physisches Verschwinden als Phantomschmerz bis heute zu spüren. In den Doppelgängern und „evil twins“, die das Panoptikum der Populärkultur bis heute bevölkern, wird Marilyns Absenz zum Teil kompensiert. Doch unter den Härtebedingungen der Überbelichtung verwandelt sich der „weiche Glamour“ (Juliane Vogel) aus der Hollywood-
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Der Marilyn-Madonna-Komplex Historie in eine Ästhetik der Kontraste: Die Bilder, die der Erinnerung Konturen geben sollen, sind schärfer, als der Star selbst je sein konnte – und gerade deshalb so unwirklich wie eine digitale Simulation. Deconstructing Marilyn – das wäre ein Film, den Woody Allen noch drehen könnte. Vielleicht mit einem Hinweis auf den New Yorker Fotografen Weegee alias Arthur Fellig, der das Bild der Monroe schon zu ihren Lebzeiten verzerrt hat – lange bevor die Kunstszene sie als Motiv und Inspiration entdeckte. Berühmt wurde Weegee durch seine dokumentarischen Fotoserien, die „crime scenes“, Autounfälle und blutüberströmte Körper in den Straßenschluchten New Yorks zeigten und in den 1930er und 1940er Jahren in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht wurden. Doch der Fotograf wollte sich nicht mit der Rolle eines Reporters des alltäglichen Grauens bescheiden, sondern strebte zum Experiment: Weegee manipulierte Negative, indem er sie in kochendes Wasser warf und sie über einer offenen Flamme einschmolz. Er kombinierte mehrere Abzüge eines Negativs zu einer Art Hyperfoto oder er ersetzte die Kameralinse durch ein Kaleidoskop, das aus einer fotografierten Einzelperson eine Laokoongruppe im Spiegelsaal des Irrwitzes machte. Oft arbeitete Weegee mit dem Bild Marilyn Monroes: Er deformierte ihr Gesicht mit grotesker Distortion zur Daumier’schen Karikatur, er veränderte die Größenverhältnisse der Körperteile, er vervielfältigte ihren Kussmund und montierte mehrere Abbilder ihres Rumpfes im Badeanzug zu einem quasi-kubistischen visuellen Phantasma. Weegee, der Pressefotograf als selbsternannter Künstler, entwarf Marilyn in einer Form von fotografischer Art Brut als metaphorische Multitude und bewies damit prognostische Qualitäten: In diesen naiven Experimenten, die von der etablierten Kunstszene seinerzeit mit Hohn rezipiert wurden, stecken schon die Ideen von der Auferstehung des Idols als symbolische Vielheit und der Fragmentierung der Persönlichkeit als Bedingung für die Hybridisierung von Kunst. Körperteile/Teilkörper als Materialien im Werkzeugkasten der Imageproduktion, Insistenz statt Konsistenz, Tranformation statt Identität. Marilyn Monroe – die Schizo-Göttin im Paralleluniversum der Medien. Scheinbar ganz nahe und doch unendlich weit entfernt. Ewige Projektionsfläche unseres Begehrens, das sich im unendlichen Kreisen des Wunsches erfüllt. „After you get what you want, you don't want it“, hat Marilyn im Film There’s No Business Like Showbusiness gesungen. „If I gave you the moon you’d grow tired of it soon“.
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Der Marilyn-Madonna-Komplex Schwartz, Joel D. 1985. „Virgin Territory: How Madonna straddles innocence and decadence“. In: Benson, Carol/Metz, Allan (Hg.): The Madonna Companion: Two Decades of Commentary. New York 1999 (Schirmer), 119–124. Thiele, Jens 1997. „Künstlerisch-mediale Zeichen der Starinszenierung“. In: Faulstich/Korte (Hg.) 1997, 136–145. Vogel, Juliane 2002. „Himmelskörper und Schaumgeburt: Der Star erscheint“. In: Ullrich, Wolfgang/Schirdewahn, Sabine (Hg.): Stars – Annäherungen an ein Phänomen. Frankfurt am Main (Fischer), 11-39. Wenzler, Ludwig 1989. „Nachwort. Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Lévinas“. In: Lévinas 1989, 67–92.
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Autorenbiographien
Richard Dyer, Professor für Film Studies am King’s College in London. Forschungsschwerpunkte: Unterhaltung und Repräsentation sowie deren wechselseitige Beziehung, italienischer Film (bes. in seiner populären Form), Film und Musik, Starfiguren und Fankulturen. Claudia Jeschke, Professorin für Tanzwissenschaften an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Historiographie, Bewegungsanalyse und ‚Rekonstruktion‘ von Tanz und Choreographie. Christopher F. Laferl, Professor für Iberoromanische Literaturwissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: spanische und lateinamerikanische Literatur der Frühen Neuzeit, Literatur und Popularkultur Brasiliens und der Karibik im 20. Jahrhundert, spanisch-österreichische Kulturbeziehungen. Barbara Lange, Professorin für Kunstgeschichte an der Eberhard Karls Universität-Tübingen. Forschungsschwerpunkte: identitätsstiftende Funktion von Kunst vor allem in der Moderne in Deutschland, Bildmedien und Bildtheorien sowie die Wissenschaftsgeschichte der Kunstwissenschaften. Thomas Mießgang, Kurator an der Kunsthalle Wien. Forschungsschwerpunkte: Semantik und Rezeption populärer Kunst und Musik. Manfred Mittermayer, Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie. Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur der Gegenwart (bes. Thomas Bernhard), Literatur und Film, Biographie und Film.
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Autorenbiographien Catherine M. Soussloff, Professorin für Kunstgeschichte und Visual Culture an der University of California in Santa Cruz. Forschungsschwerpunkte: Historiographie, Theorie und Philosophie der Kunst in der europäischen Tradition von der frühen Moderne bis zur Gegenwart. Anja Tippner, Professorin für Slawistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Kinderkultur und -film, Avantgarde und Intermedialität, Konzepte des Biographischen und Dokumentarischen in der russischen und tschechischen Literatur. Melanie Unseld, Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität-Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: europäische Musik- und Kulturgeschichte um 1900, die Musikkultur der Mozart-Zeit sowie Fragen der Gender Studies, der Biographik und der Musikgeschichtsschreibung. Susanne Winter, Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Jean Cocteau, italienisches Theater des 18. Jahrhunderts, v. a. Carlo Gozzi.
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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge April 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0
Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion
Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3
Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld September 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika November 2010, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7
Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Februar 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2
Sandra Evans, Schamma Schahadat (Hg.) Nachbarschaft, Räume, Emotionen Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform Juni 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1653-8
Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale September 2011, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität Juli 2011, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8
Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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