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German Pages [472] Year 1984
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Bcrding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehlcr
Band 62 Ute Frcvert Krankheit als politisches Problem 1770-1880
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht ' 1984 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Krankheit als politisches Problem 1770-1880 Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung von
Ute Frevert
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht ■ 1984 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
CAP-Kurztitelaufnahme der Dvutschai Bibliothek I-'rvvfrt, t V(\
Krankheit als politisches Problem Ι770- 1880: soziale Unterschichten m Preussen zwischen med Polizei u. staatl. Sozialversicherung von Ute I revert Gottingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1984. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft: Bd. (62) ISBN 3-525-35721-4 NE:GT Mit finanzieller Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984. - Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfaltigung und der Übersetzung vorbehal ten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet. das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie. Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfaltigen. Gesetzt aus Bembo auf Lmotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co.. Göttingen.
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Inhalt Vorwort
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Einleitung
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1. A llgemeine Fragestellung 2. Strukturierende Begriffe und historische Entwicklungslinien 3. Gliederung, Quellen und Forschungssituation
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1: Der Diskurs über Krankheit und Gesundheit in der
KAPITEL
Endphascdes preußisch-deutschen A bsolutismus (1770-1830) . .
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I. Strukturbedingungen und Motive der öffentlichen Gesundheits propaganda im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert 1. Innere Staatsbildung, Bevölkerungswachstum und Gesundheits politik 2. Bürgerliche Öffentlichkeit, A ufklärung und Gesundheitsbewegung 3. Professionalisierung und ärztlicher Machtanspruch
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II. Formen und Bezugspunkte der Politisierung von Gesundheit und Krankheitim ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert 1. Gesundheitsautklarung im Spiegel ärztlicher Interessenpolitik 2. »Medizinische Polizei« und öffentliches Gesundheitswesen Exkurs I: Pockenimpfung Exkurs II: Krankenhäuser
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KAPITEL
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2: Die Medikalisicrung der A rmut vom späten
18. Jahrhundert bis zur Pauperismus-Debatte I. A rmut, Krankheit und Reformadministration im ausgehenden 18.Jahrhundert 1. Klassifikation der Armut: Bettler-Hilfsbedurftige- A rme a) Bettler b) Hilfsbedürftige c) Arme
2. Die »medicinische Armenpraxis« im ärztlichen Selbstverständnis . . . 3. Institutionalisierte Modelle der Armenkrankenpflege im Kontext der Reformbevvegung
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IL Massenarmut und Massenkrankheit im Vormärz 1. Soziale Reform, Bevölkerungsexplosion und Pauperismus: Vom »Stand der Armut« zu den »potentiellen Armen« 2. Die pauperisierten Unterschichten als Krankheitsträger: Das Beispiel derCholera 1831/32 3. Medikalisierung zwischen »Sittlichkeits«-Kontrolle und präventiver Sozialpolitik
KAPITEL
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3: Industrialisierung, A rbeiterfrage und Krankenkassen
(1840-1880): Der Blick »von oben« I. Staatliche Kassenpolitik zwischen Armutsprävention und sozialer Integrations-Technologie 1. »Selbsthülfe« als Gegcnmodell zum »Hospitalgeist«: Spar- und Krankenkassen im Spiegel bürgerlicher und kommunaler Interessen 2. Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und staatliche Kassengesetz gebung 1845-1854 3. Kassenfreiheit oder »Staatssozialismus«: Die preußische Kassen politik der 1860er und 1870er Jahre im Spannungsfeld zwischen Liberalität und Solidarprotcktionismus II. A rbeiterkrankheit und Fabrikkassen im Spiegel unternehmerischer Betriebspolitik 1. Industriekritik, Gesundheitsökonomie und betriebliche Sozialpolitik 2. Betriebliche Krankheitssicherung zwischen patriarchalischer Fürsorge und staatlich verordneter Unterstützungspflicht 3. Fabrikkrankenkassen als Instrumente der Disziplinierung und Sozialintegration III. Medizin und Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert: Ärzte als »Gesundheits priester« der »arbeitenden Volksclassen« 1. Ungleiche Lebenschancen, Berufskrankheiten und das »Privilegium des Todes« 2. Öffentliche Hygiene, Arbeiterschutz und Krankenkassen
KAPITEL
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4: Gesellen und Fabrikarbeiter als Kassenmitgliedcr.
Krankhcitsbewältigung als Medium sozialer Erfahrung und politischer Organisation-der Blick »von unten« I. Die Krankenversorgung der Handwerksgesellen: Von der Gesellcnlade zur Krankenkasse 1. »A ltes Handwerk«, »ganzes Haus« und Gesellenkassen im 18. und frühen 19. Jahrhundert 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
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2. Binnenstruktur und Innenleben der Gescllenkassen seit den 1840er Jahren: Organisation, Beiträge, Leistungen 3. Medizinische Versorgung zwischen Herberge und Krankenhaus . . . II. Fabrikarbeiter und Krankenkassen 1. Vorindustrielle Krankheitsbewältigung und betrieblicher Kassen zwang 2. Soziale Differenzierungen im Betrieb und Kassen-Klassen 3. »Krankenrolle« zwischen Betriebskasse und Familie
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III. Krankenkassen und politisches Oreanisationspotential 1. »Zwangskassen« oder das Ende historischer Mythenbildung 2. »Freie Kassen« in Fachverbänden und Arbeiterbildungsvereinen . . . Exkurs: Die Gesundheitspflegevereine der »Arbeiterverbrüderung« 3. Krankenkassen und Gewerkschaften seit den 1860er jahren 4. »Lutschbeutel« oder »Gewerkschaftssäule«? Krankenkassen in der politischen Diskussion
297 297 302 306 314
Rückblick
333
Abkürzungsverzeichnis
339
Anmerkungen
340
Quellen-und Literaturverzeichnis
423
323
I. Quellen 1. A rchivalien 2. Penodika 3. Gedruckte Quellen
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IL Sekundärliteratur
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Register
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Vorwort »Es ist kein sicherer Weg, sich einen Namen zu machen, als wenn man über Dinge schreibt, die einen A nschein von Wichtigkeit haben, die sich aber nicht leicht ein vernünftiger Mann die Zeit nimmt zu untersuchen.« (Georg Christoph Lichtenberg, A phorismen)
Zeit genommen habe ich mir, dreijahre, um der Frage nachzugehen, wie Krankheit und Gesundheit zum Gegenstand öffentlicher Diskurse und poli tischen Handelns werden konnten. Ob dieses Thema nun nur »einen An schein von Wichtigkeit« besitzt oder ob es für die gegenwärtige Diskussion um die Grenzen unseres Gesundheitswesens nicht vielleicht doch von Be deutung sein kann, darüber mag der Leser entscheiden. Meinem »Namen« jedenfalls habe ich mit Hilfe dieser A rbeit zwei Buchstaben voranstellen können: sie ist im August 1982 von der geschichtswisscnschaftlichcn Fakul tät der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen worden. Gering fügig überarbeitet und erheblich gekürzt liegt siejetzt als Buch vor. Dan es soweit kommen konnte und daß ich trotz des Themas bei bester Gesundheit geblieben bin, verdanke ich vor allen anderen Uli Schreiterer, seinem engagierten Interesse, seiner nachhaltigen Orientierung auf die »großen Linien« und seinen Kochkünsten. Herrn Prof. Dr. Jürgen Kocka, meinem »Doktorvater«, danke ich für wichtige Anregungen und praktische Unterstützung, Herrn Prof. Dr. Florian Tennstedt für manchen Hinweis und persönliche Ermutigung. Die Bielefelder Freunde Claudia Huerkamp und Karl Ditt haben das Manuskript gelesen; ihre Kritik und Vorschläge sind zum Teil bei der Überarbeitung berücksichtigt worden. Nicht zuletzt bin ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes für ihre Unterstützung in Form eines Promotionsstipendiums und langjähriger För derung verbunden. Die Drucklegung des Buches wurde durch die großzü gige Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung ermöglicht.
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Einleitung 1. Allgemeine Fragestellung »Übermedikalisierung«, »Kostenexplosion«, »Ineffizienz«, »Enteignung der Gesundheit« - unter diesen Begriffen sammelt sich die Kritik am ge genwärtigen Gesundheitswesen, dessen Struktur und Errungenschaften seit einigen Jahren international ins Zwielicht geraten sind1. Wachsende Zweifel an Formen und Inhalten einer medizinischen Versorgung, die den kranken Menschen in einen den A nbietern medizinischer Dienstleistungen und Techniken hilflos ausgelieferten Konsumenten verwandelt, treffen ei nen medizinisch-industriellen Komplex, dessen Steuerungs- und Finanzie rungsprobleme in fast allen spätindustriellen Gesellschaften immer größer und dessen Erfolgsbilanzen immer fragwürdiger werden. Das aktuelle Unbehagen legt die Frage nahe, wie es zur A usbildung eines alle Bereiche menschlichen Lebens erfassenden, straff organisierten Gesundheitssystems kommen konnte. Welchen gesellschaftlichen Ent wicklungslinien und historischen Triebkräften, welchen Interessenkon stellationen und Strukturentscheidungen haben wir es zu verdanken, daß Gesundheit heute in einer Vielzahl sozialer Institutionen verwaltet, ge plant und gesteuert wird, daß es eine Gesundheitspolitik, eine Gesund heitsindustrie und ein öffentliches Gesundheitswesen gibt? Seit wann gibt es den »Patienten« als passives Objekt einer allgemeinen Gesundheitsma schinerie? War er in allen sozialen Schichten und Klassen zu Hause oder verlief die »Patientenkarriere« nach sozialspezifischen, zeitlich verschobe nen Mustern? Und WO liegen die historischen Wurzeln jener öffentlichen, von Staat und korporierten Interessen überwachten, im weitesten Sinn »politischen« Bearbeitung von Krankheit und Gesundheit der vielen ein zelnen? Auf der Suche nach Bedingungen und Verlaufsformen einer solchen »Politisierung« stößt man rasch auf das System der sozialen Krankenver sicherung. Immerhin sind heute mehr als 90% der bundesrepublikani schen Bevölkerung gegen Krankheitsrisiken versichert. Ihre Krankenkas senbeiträge finanzieren die Leistungen des Gesundheitswesens und ma chen somit die Verwaltung der Gesundheit überhaupt erst möglich. Die gesetzliche Krankenversicherung, 1883/84 im Rahmen der Bismarckschen Sozialreformpolitik eingefuhrt, erscheint daher als ein zentrales Struktur element des Politisierungsprozesses, als grundlegende Voraussetzung ci11
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ner Entwicklung, die immer mehr Menschen den immer haufiger genutzten Zugang zu medizinischen Expertendiensten gestattete. Die Krankenversicherung kann jedoch keineswegs als A usgangspunkt des beobachteten Politisierungsprozesses angesehen werden. Zwar ver mochte sie Richtung und Inhalt dieses Prozesses in den vergangenen hundert Jahren entscheidend zu beeinflussen, indem sie die Verrcchtlichung, Monc tarisierung und Bürokratisierung der Krankheitsbearbeitung einleitete und förderte. A ndererseits war sie selbst wiederum nur vorläufiger und folgen reicher Kulminationspunkt einer Kette historischer Entwicklungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert auf die Entprivatisicrung und »Vergesellschaf tung« von Krankheit und Gesundheit hinsteuerten. Betrachtet man es lediglich vom Endpunkt dieser Entwicklung, so will das System einer öffentlich-politisch geregelten und überwachten Kranken versicherung als ein sich geradezu zwangsläufig einstellendes Derivat des Industrialisicrungsprozesscs, als unabdingbare Voraussetzung fortlaufender Reproduktionsfähigkeit des industriekapitalistischen Systems erscheinen. Das, was sich historisch durchgesetzt hat, wird post festum als »funktional« oder modernisicrungstheoretisch als »notwendig« deklariert. Den Histori ker müssen solche pauschalisicrenden »A bleitungen« unbefriedigt lassen. Zumal dann, wenn Schwächen und Grenzen der als funktional und altcrna tivlos dargestellten Einrichtungen deutlich zutage treten, gewinnt die Frage nach den besonderen historischen Entstehungsbedingungen dieser Institu tionen an Bedeutung und Interesse, Die »Politisierung« von Krankheit und Gesundheit vor dem Hintergrund säkularer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse einerseits und diverser so zial-politischer Interessen andererseits zu rekonstruieren, ist das Thema dieser A rbeit. Dabei steht die Entwicklung eines Problembewußtseins für die Gesundheitsverhältnisse speziell der sozialen Unterschichten und die Herausbildung von Verfahren und Instanzen zur Bearbeitung dieser Ver hältnisse im Mittelpunkt.
2. Strukturierende Begriffe und historische Entwicklungslinien Die Untersuchung geht von der Beobachtung aus, daß der preußische Staat seine Vcrwaltungstätigkcit seit dem 18. Jahrhundert Schritt für Schritt aus dehnte und immer neue Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens in die Arena staatlicher Politik einbezog. Was im spätabsolutistischen Staat viel fach noch programmatische A bsichtserklärung geblieben war, entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bei stetig wachsenden staatlichen Macht ressourcen zu einem weitgefächerten System politisch-administrativer Re gelungen und Kontrollen, die die soziale, ökonomische und kulturelle Wirk lichkeit breiter Bevölkerungsschichten nachhaltig beeinflußten. 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Staatliches Vcrwaltungshandeln machte nicht mehr bei der klassischen Aufgabe halt, die äußere und innere Sicherheit der Untertanen zu gewähr leisten, sondern erfaßte nach und nach den engeren Bereich sozialer Re produktion. Im Kontext absolutistischer Bevölkerungspolitik wurde so auch Gesundheit als Gegenstand staatlicher Interessen und Eingriffe ent deckt. Krankheit und Gesundheit unterlagen fortan einer allmählichen »Politisierung«2, die mit dem öffentlichen Diskurs über ihre Bedeutung für das Staatswohl begann. Im weiteren Verlauf verschoben sich aller dings sowohl die Bezugspunkte und Ziele als auch die Interessengruppen und Bearbeitungsweisen: während im ausgehenden 18. Jahrhundert noch die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt erörtert wurde, gab im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem die pathologische Konstitution sozialer Unterschichten A nlaß zur Beunruhigung. Unter dem Eindruck der indu striellen Revolution geriet schließlich die Gruppe der gewerblichen Lohn arbeiter zum eigentlichen A dressaten staatlicher Gesundheits- und Sozial politik, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich darauf konzentrierte, die physische (Über)Lebensfähigkeit dieser A rbeiter sicher zustellen. Damit sind bereits die wichtigsten gesellschaftsgeschichtlichen Rah menbedingungen angedeutet, unter denen Krankheit eine öffentlich-poli tische Dimension gewann: - Seit dem 16./17. Jahrhundert hatte der Prozeß innerer Staatsbildung zur Ausformung zentralistischcr Herrschaftsstrukturen und zum A ufbau einer bürokratischen Verwaltung geführt. Die Entmachtung ständischer Herr schaftsverbände und die Monopolisierung der Herrschaftsrcchte in der Person des Landesherrn gingen mit einer A usweitung der Staatstätigkeit einher, die auf die umfassende Förderung und Kontrolle ihrer Machtres sourcen abzielte. Vor allem im 18. Jahrhundert intensivierte der von der Aufklärung beeinflußte absolutistische Staat seinen Zugriff auf die ökono mischen, militärischen und sozialen Bedingungen seiner Machtentfaltung und entwickelte ein weitläufiges Programm wirtschafts- und wohlfahrts politischcr Interventionen. - Parallel dazu verstärkten sich jene Tendenzen, die auf die Desintegra tion der ständischen Gesellschaft hinwirkten. Hatte schon die Zentralisierung und Bürokratisierung des Staates zum A bbau ständischer Strukturen bei getragen, so gingen auch von seiner Wirtschafts- und A grarpolitik Impul se aus, die die A ushöhlung der traditionalen Sozialverfassung beschleu nigten. Ein spektakuläres Bevölkerungswachstum trieb die weitere Erosion der »alten Ordnung« voran. Das unaufhaltsame A nwachsen ländlicher Unterschichten und ihre zunehmende »Nahrungslosigkeit« wurden im Vormärz zum dominierenden gesellschaftspolitischen Problem. Der Pau perismus, die Massenarmut breiter Bevölkerungsschichten, die aus ihren ständischen Bindungen und damit auch aus den bislang gültigen sozialen Sichcrungssystemen herausgefallen waren, konfrontierte Staat und Ge13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
mcinden mit einer Fürsorgeverpflichtung, die angesichts der Größendimen sion der »sozialen Frage« nicht mehr einzulösen war. - Langfristig A bhilfe schuf hier die seit den 1840er Jahren schnell voran schreitende Industrialisierung, die einem wachsenden Teil der Unterschichten neue Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten eröffnete. Kurzfristig allerdings trug die Expansion des Fabrikwesens eher dazu bei, die soziale Not zu verschärfen, indem vor allem hausindustriellc Produzenten sowie manche Handwerkergruppen der Maschinenkonkurrenz nicht standhielten und außer A rbeit gesetzt wurden. Das Angebot industrieller A rbeitsplätze vermochte die Nachfrage bei weitem nicht zu decken, so daß die frühindu strielle Stadt einem explosiven Sammelplatz verarmter, ungesicherter, hei matloser Existenzen glich. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erhöhte sich die Absorptionskraft des industriekapitalistischen Produktionssystems, das jetzt immer mehr Angehörige der Unterschichten in gewerbliche Lohn arbeiter verwandelte. Damit veränderten sich auch die Lebensverhältnisse dieser Menschen, die sich aus ihren zumeist ländlichen Herkunftsmilieus herauslösten und in den expandierenden Industriestädten ansiedelten. - Industrielle Arbeits- und urbane Lebensformen wirkten gemeinsam auf eine Rationalisierung der Lebensföhrung hin, die jetzt auch die sozialen Unter schichten erfaßte. Unter dem Druck einer rigiden Disziplin, die in Fabriken, Schulen, Krankenhäusern gleichermaßen praktiziert wurde, gewöhnten sie sich allmählich an die neue Ordnung, die ihnen ein planvolles, systemati sches, zukunftsorientiertes Verhalten abverlangte. An die Stelle »traditiona lcr« und »affektueller« Handlungsweisen, die sich beispielsweise in der Neigung zur Zeitvergeudung, zu unbefangenem Gegenwartsgenuß und zur Arbeitsunlust ausdrückten, trat eine zunehmend »zweckrationale« Lebens gestaltung, die durch ökonomische Nützlichkeitserwägungen und kogni tiv-instrumentcllc Einstellungen gekennzeichnet war3. - Die Erfahrung eines rapiden ökonomischen und sozialen Wandels schärfte auch das öffentliche Bcwußtsein für die prinzipielle Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Die A rbeiterunruhen des Vormärz und die Revolutionscrcignisse von 1848/49 hatten überdies deutlich angezeigt, daß sich die »arbeitenden Klassen« mit den bestehenden sozialen, ökonomischen und politischen Zuständen nicht mehr widerspruchslos abzufinden gedach ten. Die Erfahrung sozialer Ungleichheit und politischer Rechtlosigkeit in der entstehenden Klassengesellschaft verstärkte die soziale Konfliktbereitschaft der gewerblichen A rbeiterschaft, die seit den 1850er Jahren in selbständigen Organisationen um die Verbesserung ihrer A rbeits- und Lebensbedingun gen kämpfte. Parallel dazu wuchs bei bürgerlichen Gruppen die Einsicht in die Notwendigkeit sozialer Reformen, die den Klassenkonflikten ihre revo lutionäre Sprengkraft nehmen konnten. In diesem historischen Kontext wurde die Pathologie sozialer Unter schichten als ein soziales Problem erkannt, das ein politisches Regclungsinter essc begründete. Die staatliche Bevölkerungs- bzw. Sozialpolitik, die sich 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
der Verwaltung von Gesundheit und Krankheit annahm, erscheint hier als das Endresultat eines kollektiven Definitionsprozesses, in dessen Verlauf Ge sundheit aus dem Bereich privater Zuständigkeiten entlassen und zum Ge genstand politischer Deutung erhoben wurde. Erst die öffentliche Wahrneh mung eines Mißstandes kennzeichnet ihn als »soziales Problem«, dasdiskus sions- und regelungswürdig ist4. Bevor sich Problemlösungsstrategien aus formen, vollzieht sich ein äußerst vielgestaltiger Prozeß kollektiver Defini tion, der darüber befindet, wann, warum und mit welchem Ziel ein Problem als solches begriffen und bearbeitet wird. Entscheidend für die politischen Aktionen, die auf das Problem einwirken sollen, sind demnach vor allem die Art und Selektivität der Problemwahrnehmung sowie die Motive und Inter essen der Wahrnehmungsinstanzen. Eben an diesen Wahrnehmungs- und Defmitionsmustern setzt die vorliegende Untersuchung an. Für sie ist Krankheit kein »objektives Arrangement eige ner Gestalt« (Blumer), das zur gegebenen Zeit mit »Naturnotwendigkeit« zum sozialen Zündstoff wird. Vielmehr zeichneten sich Regierungsbehör den, Ärzte, Unternehmer, kommunale Verwaltungsbeamte, bürgerliche Sozialreformer und letztlich auch die »Betroffenen« selbst durch verschiede ne Perspektiven und Interessen aus, die aufeinander einwirkten und die Problemwahrnehmung entscheidend prägten. Was einen städtischen Magi strat am Gesundheitszustand der »armen« oder »handarbeitenden Volksklassen« beunruhigte, konnte sich sehr wohl von dem unterscheiden, was Medizinern beim A nblick dieser Bevölkerungsgruppe auffiel. Divergent waren nicht nur die von der Perspektive vorgegebenen Problemgewichtun gen, sondern auch die Vorstellungen, die die wahrnehmenden Instanzen und Gruppen über Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der bezeichneten Mißstände entwickelten. Dem politisch-administrativen System oblag es, die Fülle von Problcmdefinitioncn und Lösungskonzepten so zu filtern, daß seine eigenen Optionen gewahrt blieben und krasse Konflikte vermieden wurden. Seit dem späten 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert kristallisierten sich zwei Bearbeitungsformen des sozialen Problems »Krankheit« heraus: - Zum einen bot die Medikalisierung der gesamten Bevölkerung und vor allem der »arztfernen« Schichten ein probates Mittel, Krankheit zu isolieren, zu bekämpfen und sachlich zu verwalten. Der von Michel Foucault entwik kelte Begriff der Medikalisierung5 wird hier als zusammenfassende Kenn zeichnung all jener Prozesse und Strukturen gewählt, die auf die Einbindung von Individuen, Familien, Schichten und Klassen in ein komplexes System medizinischer Institutionen hinzielten. Dazu gehörten beispielsweise die staatlichen Bemühungen, durch die Einsetzung einer Gesundheitsadmini stration A ufschlüsse über die physische Reproduktion der Bevölkerung zu gewinnen, ebenso wie die Versuche von Ärzten, ihre Dienstleistungen auch jenen Sozialschichten anzubieten, die traditionsgemäß eher andere Formen der Medikation bevorzugten. A uch die Gesetze, Verordnungen und Sank15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
tioncn, mit denen der Staat das Gesundhcitsvcrhalten seiner Untertanen oder Bürger zu beeinflussen suchte, waren Teil des breit angelegten Medika lisierungsprozesses, der seiner Intention nach alle Menschen gleichermaßen erfassen und sie der Kontrolle medizinischer Experten unterstellen wollte. Damit eng verbunden war die Ausdiffcrenzicrung einer besonderen Kran kenrolle, die Krankheit als Verhaltensmöglichkcit zuließ und genaue Regeln für den Fall bereithielt, daß diese Möglichkeit ausgeschöpft wurde. Krank heit entwickelte sich zu einem Zustand, der zunehmend institutionell um grenzt und in seinem sozialen Status normiert wurde. Ein Kranker sollte von seinen normalen Verpflichtungen freigestellt werden, wobei vorauszusetzen war, daß er sich nicht mehr allein helfen konnte. Um seine prinzipiell unerwünschte Krankheit möglichst rasch zu beenden, mußte er die Dienste kompetenter Sachverständiger in Anspruch nehmen6. Die Bedeutung der Medikalisierung beschränkte sich allerdings nicht darauf, daß allmählich immer mehr Menschen in das Netz medizinischer Versorgung einbezogen waren und, erkrankten sie, nicht mehr von unkon trollierteren Laienheilern, sondern von staatlich ausgebildeten, geprüften und autorisierten Medizinalpersonen behandelt wurden. Die Medikalisie rung der Gesellschaft fand vielmehr auch auf der Ebene von Normen und Deutungsmustern statt, die die Mentalität sozialer Schichten und Klassen prägten und ihre Handlungen strukturierten. Mit der Propagierung von Gesundheitsregeln grenzten Ärzte und Gesundheitsadministration zugleich solche Verhaltensweisen aus, die sie als krankheitsfördernd und gesund heitsschädlich bezeichneten. Die Rationalisierung menschlichen Verhaltens, seine Ausrichtung an verbindlichen, zweckgebundenen, von der Obrigkeit positiv sanktionierten Standards fand damit auch Eingang in die »Körper ökonomic«. Der Umgang mit dem eigenen Körper wurde gesellschaftlich normiert und kontrolliert, und die Einhaltung der Normen konnte als Gradmesser sozialer Integration und »Zivilisicrung« gelten7. - Neben die Medikalisierung trat im 19. Jahrhundert das Konzept der sozialen Versicherung als zweite Bearbeitungsform des sozialen Problems »Krankheit«. Damit die Krankenrollc überhaupt praktiziert werden konnte, bedurfte es finanzieller Reserven, aus denen der Kranke seinen Lebensunter halt während der arbeitsfreien Zeit bestreiten und die Dienstleistungen von Ärzten und Apotheken bezahlen konnte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die kollektive Versicherung gegen andere Finanzicrungsmodelle individuelles Sparen, staatliche Alimentation - durchgesetzt und entwickel te sich fortan zum allgemcingültigen, ausbaufähigen und exportträchtigen System sozialer Sicherung. Die Versicherung der A rbeitsfähigkeit beruhte auf der A nnahme einer Gesundheitsgefährdung, die für alle Versicherten prinzipiell gleich wäre. Ob und wann diese Gefährdung wirklich eintrat, war allerdings relativ zufällig, und dieser Zufall sollte nun in der allgemeinen Wahrscheinlichkeitsverteilung aufgehoben werden. Die regelmäßig einge zahlten Beiträge der Versicherungstcilnehmer flössen in einem Fonds zu16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sammen, aus dem kranke Mitglieder unterstützt werden konnten, bis sie wieder erwerbsfähig waren. Die Krankenkassen, in denen schon vor der allgemeinen Einfuhrung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883/84 etwa die Hälfte der gewerbli chen Lohnarbeiter Preußens versichert war, hatten neben ihrer unmittelbar existenzsichernden A ufgabe jedoch noch eine andere, weiterreichende Be deutung. A bgesehen davon, daß sie traditionale Netzwerke gegenseitiger Hilfeleistung - Familie, Nachbarschaft, Korporationen - ergänzten oder ersetzten, waren die Kassen auch Sozialisationsinstanzen, in denen zweckra tionales, langzeitorientiertes, auf Zukunftssicherung bedachtes Verhalten und Disziplin gelernt wurden. A n der Prägung des »modernen« Lohnarbei ters und seiner A npassung an die Verhaltensimperative und Verkehrsfor men der kapitalistischen Markt- und Klassengesellschaft war diese Erzie hungsarbeit der Krankenkassen maßgeblich beteiligt.
3. Gliederung, Quellen und Forschungssituation Die Gliederung der A rbeit folgt im wesentlichen einem chronologischen Muster, in das die skizzierten Prozesse der Politisierung, Medikalisierung und versicherungsrationalen Bearbeitung des Krankheitsproblems einge woben sind. Sie umfaßt den Zeitraum vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1880er Jahre. Sachliche Eckdaten bilden der öffentliche Diskurs über Ge sundheit und Krankheit im spätabsolutistischen Preußen und die staatliche Sozialversicherungsgesetzgcbung im Deutschen Kaiserreich. Räumlicher Bezugspunkt der Untersuchung ist das preußische Staatsgebiet, dessen insti tutionelle und gesetzliche Rahmenregelungen nach 1871 auch in den übrigen deutschen Tcilstaatcn übernommen wurden. Dabei bleibt es - auch ange sichts der desolaten Forschungslage - nicht aus, daß diese räumliche Begren zung bisweilen überschritten bzw. noch enger gezogen werden muß. Gera de für den Bereich der Krankenkassenentwicklung erscheint es sinnvoll, allgemeinere Hypothesen am Beispiel ausgewählter, relativ stark und früh zeitig industrialisierter Regionen und Städte zu überprüfen. Ohne den A nspruch zu erheben, den Formwandel von Krankheit von einem ehemals unpolitischen, nicht regelungsbcdürftigen Phänomen zu einem politisch bearbeiteten Problem in all seinen Facetten und Referenzen auszuleuchten, konzentriert sich die Untersuchung auf einzelne Phasen und Schwerpunkte, die für die oben entwickelte Fragestellung besonders be deutsam erscheinen: - Im ersten Kapitel, das sich mit der öffentlichen Diskussion über Ge sundheit und Krankheit im Kontext der spätabsolutistischen Staats- und Sozialverfassung beschäftigt, steht die Frage nach den Motiven, Formen und Orientierungen dieser Diskussion im Mittelpunkt. Mit Hilfe der breiten 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zeitgenössischen medizinischen und polizeiwisscnschaftlich-staatstheoreti schen Literatur werden die Grundlinien rekonstruiert, an denen sich die Auseinandersetzungen um medizinische Gesundheitsaufklärung und staatli che Medizinalpolitik ausrichteten. A usgehend von den Diskurstcilnchmern Staat, bürgerliche Öffentlichkeit und Ärzte werden die Bedingungen. Vor gaben und Interessen analysiert, unter denen Gesundheit bzw. Krankheit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zum Objekt von Erziehung, Verwal tung und Kontrolle werden konnten. - Die sachliche Verengung des allgemeinen Problems »Gesundheit« auf die spezifische Krankheitsbetroffenheit sozialer Unterschichten beschreibt das zweite Kapitel, das den zeitlichen Rahmen um die Periode des Vormärz erweitert. Staatliche A rmenpolitik, bürgerlich-kommunale Reformansätzc und medizinische A rmenpraxis werden unter dem Gesichtspunkt vorge stellt, welche Perzeptionsmuster und -intcressen der verbreiteten Gleichset zung von Armut und Krankheit zugrunde lagen. Dabei steht die Bedeutung der A rmenmedikalisierung als Präventions- und Kontrollmechanismus im Vordergrund. Besondere Erwähnung findet die soziale Expansion der A r mut im Vormärz, die Überschreitung ihrer noch tolerierbarcn Grenzen und ihre Wahrnehmung als Massenphänomen, das die Gesellschaft bedroht. Welchen Einfluß die neuen Epidemien, vor allem das Auftreten der Cholera in den 1830er Jahren auf die zeitgleiche Definition des Problems Massenar mut/Massenkrankheit ausübten und welche Rolle die Medizin hierbei spiel te, interessiert vor allem im Hinblick auf die erprobten und diskutierten Therapien des »sozialen Krankheitsstoffs«. A ls Materialbasis dient haupt sächlich die zeitgenössische Literatur zum Armenwesen und zur Armenme dikalisierung, wobei sich die A uswertung exemplarisch auf Hamburger, Berliner und Bielefelder Quellen stützt. - Das dritte Kapitel zeigt, wie sich aus der öffentlichen Debatte um Pauperismus und »soziale Frage« allmählich die »A rbeiterfrage« als beson deres und im Kontext der Industrieentwicklung zunehmend bedeutungs volleres Problem herauslöst8. Bei dem Versuch, die randständigen A rbeiter mittels einer positiven Sozialpolitik in die Gesellschaft zu integrieren und ihre Marginalisierung als Empfänger öffentlicher Unterstützungsleistungen zu verhindern, ging es vor allem darum, das Lohnarbeitsverhältnis zu stabi lisieren und den einzelnen A rbeiter gegen Kriscnfälle wie Krankheit abzu schirmen. A n die Stelle staatlicher Fürsorge sollte jetzt die soziale Selbsthilfe der Betroffenen treten. Wie und warum sich die Krankenkassen als Instru mente sozialer Sicherung und Mcdikalisierung durchsetzten, wird auf dem Hintergrund kommunaler, staatlicher und unternehmerischer Kassenpolitik zu klären sein. Die medizinische A useinandersetzung mit der A rbeiterpa thologie bildet einen weiteren Schwerpunkt dieses Kapitels, das insgesamt den »Blick von oben«, die Perspektive der krankheitsverwaltcnden Instan zen, ausleuchtet. Kann die Problemwahrnchmung der Kommunen im we sentlichen auf der Basis lokaler Magistratsakten rekonstruiert werden, so 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
erschließt sich die parlamentarisch-staatliche Bearbeitung der »Kassenfrage« vornehmlich aus den Protokollen der Parlamentsdebatten und aus den um fangreichen Erlassen, Verfügungen und Verordnungen, mit denen die preu ßische Regierung ihren kassenpolitischen Vorstellungen auf regionaler und kommunaler Ebene Gehör zu verschaffen suchte. Der Stellenwert von Arbeiterkrankheit und Krankenkassen in der Betriebspolitik industrieller Unternehmer wird an einzelnen Fallstudien konkretisiert, wobei vor allem auf Material aus dem Werksarchiv der Hoesch AG Dortmund sowie auf die Geschäftsberichte und Korrespondenzen Bielefelder, Düsseldorfer und Es sener Firmen zurückgegriffen werden kann. Der »medizinische Blick« wie derum kommt in der voluminösen zeitgenössischen Literatur zu Berufs und A rbeiterkrankheiten sowie zum öffentlichen Gesundheitswesen zum Vorschein. - Nachdem die Vorstellungen, A bsichten und Vorgehensweisen derjeni gen Instanzen und Gruppen untersucht wurden, die die Krankenkassen als geeignetes Medium zur Lösung des Problems »A rbeiterkrankheit« ansahen und wirksam werden ließen, bleibt es dem letzten Kapitel vorbehalten, die Erfahrungen der von dieser Politik Betroffenen nachzuzeichnen. Dabei wird zunächst versucht, den Auswirkungen der Kassenorganisation auf die Pro blemwahrnchmung gewerblicher Lohnarbeiter auf die Spur zu kommen. Auf der Grundlage von Kassenstatuten werden die Binnenstruktur der Gesellen- und Fabrikarbeiterkassen, ihre Ordnungsregeln, Leistungsbilan zen und Kontrollmechanismen rekonstruiert. Diese normativen Vorgaben können sodann mit Hilfe kommunaler und betrieblicher Kassenakten auf ihren Wirklichkeitsbezug hin überprüft werden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Veränderungen, die sich infolge der Mitgliedschaft in einer Krankenkasse im Krankheits- und Gesundhcitsvcrhaltcn der Arbeiter voll zogen haben. Daran anschließend wird zu klären sein, unter welchen Bedin gungen und mit welchen Konsequenzen Krankheit fur Gesellen und Fabrik arbeiter zu einem »organisationsfahigen Interesse«9 werden konnte. Mit Blick auf die Krankenkassen der frühen Gewerkschaften und A rbeiterverei ne soll das Verhältnis von sozialer Sicherung, A rbcitersclbsthilfe und poli tisch-sozialer Organisation diskutiert werden, wobei den Kassen weit grö ßere Aufmerksamkeit geschenkt wird, als dies in der herkömmlichen A rbci terbewegungs- und Gewerkschaftsgeschichtsschreibung mit ihrer Konzen tration auf offensiveren A ktionsformen bislang geschehen ist. Das hier vorgestellte Untersuchungsraster kann sich nur auf wenige Vor arbeiten stützen, da diese Thematik weder von der Sozialgeschichtc noch von der Medizingeschichtc bisher als bearbeitungswürdig entdeckt worden ist. Ganz im Unterschied zu Großbritannien oder Frankreich haben sich Sozialhistoriker in der Bundesrepublik bislang nur sehr selten mit Pro blemen aus den Bereichen Krankheit, Gesundheit und Tod beschäftigt10 und dieses Feld fast vollständig der Mcdizingcschichte überlassen. Die spezifi sche Lehr- und Forschungssituation dieses Faches wiederum, das durchweg; 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
an medizinische Fakultäten angebunden und von der Geschichtswissen schaft organisatorisch wie inhaltlich weitgehend abgekoppelt ist, hat nun aber dazu geführt, daß sich hier Erkenntnisinteressen und Fragestellungen in der Regel auf im engeren Sinne disziplin- und wissenschaftsgeschichtliche Themen zuspitzten, die für die Sozialgeschichte in ihrer breiteren Definition als Gesellschaftsgeschichte zunächst nur von untergeordnetem Interesse sein können11. Wichtiger dagegen sind die Ergebnisse, die die neuere Demogra phiegeschichte über die »Körperwelt« der Menschen in historischer Per spektive zutage fördert12. A llerdings konzentrieren sich demographische Studien vornehmlich auf die allgemeinen Determinanten von Mortalität, Morbidität und »Volksgesundheit«, während sich die folgenden A usfüh rungen bemühen, Krankheit als sozialspezifischcs Phänomen im komplexen Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Be stimmungsfaktoren zu erfassen. Die vorliegende A rbeit kann deshalb als Versuch angesehen werden, die Perspektive sozialgeschichtlicher Forschung in drei Richtungen zu erwei tern: sie will zum einen einen Beitrag zur Arbeiter- und Arbeitcrbcwegungs geschichte leisten, indem sie die Bedeutung von Krankheit und die Formen ihrer Abwehr in den proletarischen Lebens- und Erfahrungszusammenhang einbettet. Daneben begreift sie sich als Teil der Diskussion, die in der jüngeren sozial- und rcchtswissenschaftlichen Forschung um die Vorausset zungen, Intentionen und Funktionen staatlicher Sozialpolitik geführt wird und an der sich die Fachhistorie bislang kaum beteiligt hat13. Drittens schließlich nimmt sie vor dem Hintergrund verallgemeinerter industrieka pitalistischer Produktions- und Lebensformen ein Stück Mcntalitätsgc schichte in den Blick, das von einer umfassenden Rationalisierung menschli cher Lebensführung geprägt ist und in dem der Aspekt der Instrumentalisie rung und Disziplinierung des Körpers eine wichtige Rolle spielt14.
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KAPITEL 1
Der Diskurs über Krankheit und Gesundheit in der Endphase des preußisch-deutschen Absolutismus (1770-1830) Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der deutschsprachige Bücher- und Zeitschriftenmarkt mit einer Unzahl von Publikationen medizinischen In halts überschwemmt. Speziell für die bürgerliche Öffentlichkeit bestimmte, kurzweilig geschriebene »Gesundheitszeitungen«, in Paragraphen gefaßte, systematische Traktate über Gesundheitspolitik und -polizei und experten orientierte Fachrepetitorien suchten ihr »geneigtes Publicum«. Diese »Ge sundheitspropaganda«1 war in ihrer Dichte und Intensität ein historisch neuartiges Phänomen; zwar hatten sich die seit dem Ende des 17. Jahrhun derts erschienenen Moralischen Wochenschriften auch schon mit hygieni schen Fragen beschäftigt2, und die Hausvätcrliteratur des frühen 18. Jahr hunderts enthielt gleichfalls Passagen über die Bedeutung der Gesundheits ichre im Rahmen der Ökonomie des »ganzen Hauses«3. Selbst das Nachden ken über gesundheitspolitische A ufgaben des Staates war keine innovative Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, denn schon aus dem 16. und 17. Jahr hundert liegen uns Abhandlungen über »Politia Mcdica« oder die »Gesetz mäßige Bestellung und A usübung der A rtzneykunst« vor4. Entscheidend aber war, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Krankheit und Gesundheit erstmalig als verbindliche Orientierungswerte individuellen Verhaltens und staatlicher »policies« festgeschrieben wurden. Die »innere Haushaltung des Leibes«5 und der äußere Maßnahmenkatalog zur Regulie rung dieser »Ökonomie« gewannen einen politischen Stellenwert, der sich sowohl in der psychosozialen Konstitution der »bürgerlichen Gesellschaft« als auch in der »Verstaatlichung« des aufgeklärten A bsolutismus abbildete. Dieser Prozcß der »Politisierung« von Gesundheit und Krankheit, ihre Wahrnehmung und Bearbeitung in der Sphäre öffentlichen Raisonncments und staatlich-administrativer Verfahren, begann in dem Moment, als sich spezifische Erfahrungen und Interessenlgen (der Ärzte, des bürgerlichen Publikums, des Staates) verbanden und in Zeitschriften, Gesetzesinitiativen und Verwaltungsabteilungcn eine institutionelle Form fanden. Der Um gang mit dem eigenen Körper geriet zum Politikum, das in vielfältiger Weise beeinflußbar erschien. A uf das Individuum bezogene »Gesundheits21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
aufklärung« und die Empfehlung ärztlichen Expertenwissens hatten hier ebenso ihren Platz wie allgemeine Maßnahmen zur Sicherung der medizini schen Infrastruktur oder zur Kontrolle des Gesundheitsverhaltcns. »Izt will man alles gesund und wohlgebildet machen«, faßte ein Zeitgenosse 1789 zusammen, »lauter starke frische Leute sollen erzielt werden, damit sie Krankheiten und Seuchen besser widerstehen können«6. Wer verbarg sich nun hinter diesem »man«, der »alles gesund« machen wollte, bzw. - wollte »man« wirklich »alles« gesund machen, oder gab es Gruppen, die in besonderer Weise angesprochen wurden? Kurz - warum gewann »Gesundheit« im ausgehenden 18. Jahrhundert eine solche Bedeu tung, daß sie zu einem bevorzugten Gegenstand öffentlich-publizistischer Diskussion und politisch-staatlichen Handelns wurde? Diese Fragen, die in der medizinhistorischen Literatur weitgehend unbe rücksichtigt geblieben sind7, dienen den folgenden A usführungen über die Gesundheitsbewegung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Leit faden. Der öffentliche Diskurs über Gesundheit und Krankheit soll dabei auf seine Motive und Bezugspunkte hin untersucht werden, um auf diese Weise zu einer gesellschaftsgeschichtlichen Einordnung des neuartigen Interesses an Gesundheit, Medizin und Körperbeherrschung zu gelangen.
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I. Strukturbedingungen und Motive der öffentlichen Gesundheitspropaganda im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert
1. Innere Staatsbildung, Bevölkerungswachstum und Gesundheitspolitik Zentraler Bezugspunkt der öffentlichen Gesundheitsdiskussion im ausge henden 18. Jahrhundert war das System politischer Herrschaft, das sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts in den deutschen Flächenstaaten und in besonders ausgeprägter Form - in Brandenburg/Preußen herausgebildet hatte. Die für den absolutistischen Staat charakteristische Zusammenfas sung aller Kräfte und Ressourcen im Prozeß der inneren und äußeren Staats bildung legte auch eine stärkere Berücksichtigung der gesundheitlichen Verhältnisse nahe, die über den Erfolg der politischen Maximierungsstrate gien mitbestimmten. Gesundheit wurde zu einer Bedingung staatlicher Machtvollkommenheit, die auf die physische Reproduktion der Bevölke rung gerichteten administrativen Maßnahmen zu einem wichtigen Teil des inneren Staatsbildungsprozesscs. »Innere Staatsbildung« - mit diesem Begriff werden in A nlehnung an Otto Hintze jene Entwicklungen beschrieben, die im 18. Jahrhundert in Preußen die administrative Konsolidierung eines nach außen gesicherten und abgegrenzten Gebietes vorantrieben. Es sind vor allem zwei Faktoren, die diesen Prozeß, dem Gerhard Ocstreich die A spekte »Verstaatlichung« und »Sozialdisziplinierung« zuordnete8, entscheidend becinflußtcn: Militär und Bürokratie. Beide, das königliche Heer und die königliche Verwaltung, wirkten seit dem Ende des 17. Jahrhunderts auf eine allmähliche A uflösung territorialständischer Partikularismen und ihre Absorption in einem zentral gesteuerten, von oben nach unten durchgegliederten und nach rationalen Verfahrensregeln handelnden Staatswesen hin9. Staatliche Eingriffe in die traditionale Wirtschafts- und Sozialverfassung - in Form der Militärpflicht beispielsweise, die das gutsherrliche Rechtsverhältnis suspendierte, oder auch durch gezielte Wirtschaftsförderungsmaßnahmen, die Manufakturen und Verlage außerhalb der Zunftordnung stellten10 - durchlöcherten ständi sche Strukturen und adlige Herrschaftsprivilegien zugunsten der monarchi schen Zentralgewalt und vergrößerten zugleich den Wirkungsraum der »königlichen Bedienten«. Das Interesse des absolutistischen Staates an einer optimalen Mobilisie23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
rung aller verfügbaren Ressourcen zur Steigerung seiner militärischen und finanziellen Macht äußerte sich aber nicht nur auf der Ebene von Wirt schaftsförderung und innerer Verwaltung, sondern richtete sich in immer stärkerem Maße auch auf die bevölkerungspolitischen Grundlagen dieser Strategien. Vor allem unter Friedrich II. gelangte der merkantilistische Grundsatz, »que lc nombre des peuples fait la richesse des Etats«11, zu neuer Wertschätzung. Danach hing sowohl die außenpolitische, d.h. durch das Militär gesicherte, Bedeutung des Staates als auch seine innere Machtentfal tung entscheidend von der Zahl seiner Untertanen ab: je größer die Bevölke rung, desto stärker, reicher und mächtiger der Staat. Unter dieser Prämisse hatte Preußen bereits die französischen und salzburgischen Glaubensflücht linge bereitwillig aufgenommen, zudem man sich von ihnen eine Belebung der städtischen Wirtschaft versprach. In erster Linie aber konzentrierte sich die populationistische Politik auf die ländliche Bevölkerung: schließlich waren es die Bauern, aus denen sich die Soldaten für die preußische A rmee rekrutierten. A ußerdem waren die bäuerlichen Stellen mit festen Vermö genssteuern (Kontributionen) belegt, die dem Militärhaushalt nicht uner hebliche Geldmittel zuführten. Besonders die von Friedrich II. in Gang gesetzten agrarpolitischen Maß nahmen (Landesausbau, Binnenkolonisation, Verbot des Bauernlegens), beruhten unmittelbar auf populationistischen Erwägungen. Infolge der ver heerenden A uswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, der die Bevölke rung Deutschlands von etwa 16 auf 10 bis 11 Millionen Einwohner dezimiert hatte, waren weite Teile des Landes entvölkert, ganze Dörfer verlassen und viele ehedem bebaute Flächen wüst geworden. Obgleich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der alte Bevölkerungsstand wieder erreicht war, wirkte der demographische Schock von 1648 im Bewußtscin der Zeitgenos sen weiter nach. So begann der Schweizer Arzt Tissot sein 1762 in Lausanne erscheinendes Buch »A vis au peuple sur sa sante« mit der These: »Die Verminderung der Anzahl der Einwohner dieses Landes ist eine unstreitige Wahrheit, welchcjedermann in die Augen leuchtet, und durch die Verzeich nisse erwiesen wird«, und der deutsche Übersetzer pflichtete ihm 1766 ausdrücklich bei12. Der Mediziner Johann Friedrich Zuckert konnte 1773 dieser allgemeinen Trendaussage zwar nicht mehr folgen, nahm aber das schon von Tissot benutzte Reizwort »Entvölkerung« in den Titel seiner Schrift über die Bekämpfung von Epidemien auf13. Auch die »PolizeyWissenschaft« des 18. Jahrhunderts propagierte einen unverhohlenen Populationismus und legte den »weisen Regenten« nahe, geeignete Maßregeln zur Vermehrung ihrer Untertanen zu ergreifen. Jo hann Heinrich Gottlob von Justi beispielsweise, ein zu seiner Zeit vielgelesc ner und beachteter Staatswisscnschaftler, erhob 1764 das Bevölkerungs wachstum zum »Hauptaugenmerk eines ächten und weisen Cameralisten« und vertrat die These, »daß ohne starke Bevölkerung kein Überfluß von Landesgüthern und mithin kein wahrer Reichthum des Staats möglich sey«. 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Die Warnung an den absolutistischen Staat, mit einer restriktiven Gewcrbe und A grarpolitik und einem despotischen Geldbeschaffungssystem die »gänzliche Verarmung des Landes und die äußerste Entvölkerung dessel ben« 14 zu provozieren, war weder beijusti noch bei dem brandenburgischen Regimentsprediger Johann Peter Süßmilch zu überlesen. Letzterer hatte zwei Jahrzehnte früher in seinem Friedrich II. gewidmeten Buch über die »Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen« festgestellt, daß das Wachstum der Bevölkerung durch Kriege, Seuchen und Hungersnöte, aber auch durch politische und soziale Mißstände in höchst nachteiliger Weise beeinflußt würde 15 . Daß er damit an einen empfindlichen Nerv der absolutistischen Staatspro grammatik gerührt hatte, beweist die Aufmerksamkeit, die Friedrich IL in seiner Regierungszeit der Bevölkerungsentwicklung widmete. A uf A nre gung Süßmilchs ließ er seit 1748 jährliche Volkszählungen in Preußen durchführen16, um auf der Basis von Populationslisten, die Daten über Geburten, Stcrbefälle und Trauungen aufzeichneten, exakte Informationen über die Zu- oder A bnahme der Bevölkerung und damit die finanziellen Ressourcen des Landes zu erhalten. Anläßlich der Durchsicht dieser Aufstel lungen schrieb er 1753, daß »es Mir ein besonderes Vergnügen gemacht hat, daß die Anzahl derer in solchen Jahren gebohrenen die von denen gestorbe nen beträchtlich überstiegen hat«17. In der Tat war den von örtlichen Pfarrern zusammengestellten und an die Regierungsbehörden weitergeleitcten Tabellen, die seit 1764 auch die To desursachen vermerkten, eindeutig zu entnehmen, daß sich die Bevölkerung der preußischen Monarchie stetig vermehrte: von 3,48 Millionen im Jahre 1747 stieg sie innerhalb eines halben Jahrhunderts auf 6,22 Mill. Einwoh ner18. Damit hatte sich die Prognose Süßmilchs, der anhand der Entwick lung zwischen 1720 und 1740 eine Verdoppelung der preußischen Bevölke rung binnen hundert Jahren vorausgesagt hatte, mehr als erfüllt. Vor allem die ländlichen Regionen erlebten seit den 1770er Jahren eine beispiellose Bevölkerungsexplosion, die in den ostclbischcn Gebieten auf das Konto gutsabhängiger Landarbeiter19, in den protoindustriell durchsetzten Lan desteilen (Minden-Ravensberg, Schlesien) auf das der im Heimgewerbe beschäftigten Gruppen ging20. Dagegen wiesen die Städte eine eher negative Bevölkcrungsbilanz auf. Drcißigmal zwischen 1749 und 1795 verzeichneten die jährlichen Berliner Volkszählungen Mortalitätsüberschüsse, d.h. in 30 von 46 fahren war die Zahl der Gestorbenen höher als die der Geborenen. Insgesamt ergab sich damit für diese Zeitspanne ein Geburtendefizit von 24798 Köpfen21, obgleich sich die Zivilbevölkerung gleichzeitig um 43 174 Menschen vermehrte. Diese nicht nur für Berlin bezeugte Struktur22 läßt keinen Zweifel daran, daß die städtische Bevölkerung sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren konnte, sondern auf ländliche Zuwanderung angewiesen war. 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Schon den Zeitgenossen war bekannt, daß in der Stadt mehr gestorben und weniger geboren wurde als auf dem Land23, und neuere Untersuchun gen bestätigen, daß vor allem die Säuglings- und Kindersterblichkeit in ländlichen Gebieten geringer war 24 . Diese Stadt-Land-Differcnzierurg, die von einem regionalen Ost-West-Gefälle begleitet wurde, soll jedoch nicht verdecken, daß die Todesrate von Säuglingen und Kleinkindern insgesamt exorbitant hoch war. Kleinkinder und Säuglinge stellten das größte Kon tingent der Totenlisten des 18. und 19. Jahrhunderts: in der Berliner Doro theenstadt waren von den zwischen 1790 und 1794 Gestorbenen 52,8% noch keine fünf Jahre alt gewesen; über die Hälfte dieser Kinder war noch im Säuglingsalter gestorben25. Der Berliner Leibarzt Ludwig Formey schätzte 1796, daß zwischen 1779 und 1794 52,4% der Neugeborenen »in den ersten Jahren ihres Lebens wieder zu Grabe getragen werden 2 6 . In Leipzig starben 1786 25,9% der Säuglinge, bevor sie das erste Lebensjahr vollendet hatten, 1792 30,6%. 1794 wurden 34% der Neugeborenen nicht einmal ein Jahr alt, 46% eines Jahrgangs erreichten nicht das 6. Lebens jahr 27 . Kinderkrankheiten wie Diphtherie, Scharlach, Masern oder Keuch husten28 nahmen oft einen tödlichen A usgang, und die gerade im 18. Jahr hundert grassierenden Pockenepidemien fanden in den noch nicht immu nen Kleinkindern eine leichte Beute. Aber auch die Lebenszeit der Erwachsenen wurde durch periodisch wie derkehrende Kriege, Seuchen und Mißernten erheblich eingeschränkt. Sol che demographischen Krisen, die die Kurve der Todesfälle steil ansteigen ließen, während die Zahl der Geburten unter ihrem »normalen« Niveau blieb29, schienen die angestrebte Bevölkerungsvcrmehrung immer wieder massiv zu gefährden. Zugleich gingen dem Staat eine Unmenge steucr und militärfähiger Untertanen verloren, was der Jenaer Medizinprofessor Christian Rickmann in die emotionslose Formel kleidete: »A llerdings ist also das Leben eines jeden Mitbürgers, er scy arm oder wohlhabend, ein Capital, von welchem der Staat die Nutzung zieht . . . Der Tod eines jeden Unterthanen ist hingegen für den Staat ein wesentlicher Verlust, wobei das Capital mit den Interessen verschwindet.«30 Dieser »human capital«-A n satz stand denn auch Pate bei den verschiedenen Maßnahmen, die der absolutistische Staat zur Erhaltung und Verlängerung des Lebens seiner Untertanen ergriff. Hierzu gehörte beispielsweise die vorsorgliche Magazinierung billigen Getreides, um die tödlichen Folgen von Mißernten und Lebcnsmittelteue rungen (1770/71) abzuschwächen31. A llerdings konnten solche Hilfsaktio nen die Krisenmortalität letztlich nur hinauszögern und verdecken32, denn die vor dem unmittelbaren Hungertod Geretteten wurden aufgrund ihrer durch permanente Unterernährung geschwächten Konstitution ein um so schnelleres Opfer von Mangelkrankheiten oder Epidemien. In diesem Sin ne ist der nach der Teuerung 1816/17 in Schlesien und Westfalen ausbre chende Hungertyphus zu deuten, ebenso die nach der letzten agrarzykli26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sehen Krise 1847 in Oberschlesien wütende und von Rudolf Virchow so eindringlich beschriebene Typhusepidemie. Auf solche epidemische Bedrohungen reagierte der preußische Staat, indem er eine Sanitätsbehörde einrichtete. Das seit 1709 bestehende Pest Kollegium in Berlin wurde, nachdem die Pestgefahr durch wirksame Qua rantänemaßnahmen und »cordons sanitaires« zu Beginn des 18. Jahrhun derts endgültig gebannt war, in Collegium Sanitatis umbenannt, in dessen Aufgabenbereich die Überwachung von Nahrungsmitteln und Friedhofsan lagen sowie die Wasser- und Straßenhygiene fielen33. Diese Präventivmaß nahmen waren in ihrer Durchsetzungskraft allerdings sehr begrenzt, da das Kollegium lediglich beratende Funktion hatte, die Ausführung seiner Vor schläge jedoch den Polizeibehörden oblag34. Zudem waren seine techni schen Mittel noch recht unvollkommen; so konnte das Gebot, allwöchent lich die Straßen zu fegen, angesichts des Mangels einer wirksamen Kanalisa tion und Abwässerbeseitigung gegen die extreme Verunreinigung von Flüs sen und Verkehrswegen nicht viel ausrichten35. Gegenüber diesen noch schwach entwickelten Ansätzen zu einem vorbeu genden öffentlichen Gesundheitsschutz nahmen die im engeren Sinne medi zinalpolitischen A ufgaben größeren Raum ein. Die Ausbildung, Examina tion und Approbation der Heilpersonen und die Regelung ihrer Zuständig keiten machten seit der Errichtung des Collegium Medicum 1685 den ei gentlichen Kern staatlicher Gesundheitspolitik in Preußen aus. Die Versor gung der Bevölkerung mit Ärzten, Chirurgen, Hebammen, Badern, A po thekern etc. und die Kontrolle dieser Medizinalpersonen durch staatliche Beamte unterlagen in erster Linie bevölkerungspolitischen Begründungen: nur mit einem hinreichend qualifizierten und in seiner Berufsausübung überwachten Heilpersonal schien es möglich, die durch unsachgemäße Krankheitsbchandlung oder Vernachlässigung verursachten Todesfälle zu mindern und dem Staat seine Untertanen zu erhalten. Andererseits entsprach die von oben (Medizinische Fakultäten, Medizi nalkollegien) nach unten (praktizierende Ärzte etc.) durchstrukturierte und mit vielen Zwischengliedern (Provinzialkollegien, beamtete Physici) verse hene Organisation des Medizinalwesens auch dem ausgeprägten Bedürfnis des »wohlwollenden, aufgeklärten, bevormundenden Polizeistaats« (Hint zc) nach einer komplexen Regulierung und Kontrolle aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Ärzte und Medizinalbeamte mußten der Obrigkeit über alle Ereignisse und Gegebenheiten im Bereich öffentlicher und privater Gesundheitspflege Bericht erstatten. Wie die Wohnungen beschaffen waren, welche Nahrungsmittel die »gemeinen Leute« zu sich nahmen, welche »Vorurtheile und nachtheilige(n) Gewohnheiten hinsichtlich des Beneh mens während der Schwangerschaft der Frauen, ihrer Entbindung, ihres Wochenbettes, des Betragens der Hebammen, der Behandlung der Neuge borenen und der physischen Erziehung der Kinder, des Benehmens bei Krankheiten«36 obwalteten - über diese und ähnliche Fragen wünschte der 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Staat ausfuhrlich informiert zu werden37. Im Gegenzug erließ er Gesetze, Anordnungen und Verfügungen, mit denen er in die als gesundheitsgefähr lich betrachteten Verhältnisse eingriff und sie durch positive wie negative Sanktionen zu verbessern suchte. Die auf die Herstellung und Erhaltung der Gesundheit abzielenden Maß nahmen des aufgeklärt-absolutistischen Regierungssystems gehörten damit einerseits in das Arsenal jener Maximierungsstratrgien, mit denen die öko nomischen und sozialen Ressourcen staatlicher Machtausübung gesichert und gesteigert werden sollten. Zum anderen waren sie eng mit einer Politik der »Sozialdisziplinierung« verknüpft, die den inneren Staatsbildungspro zeß durch ein Programm der kulturell-sozialen Anpassung und Vereinheitli chung ergänzte. »Gesundheit« als Norm individuellen Verhaltens und kol lektivstaatlicher Verantwortlichkeit konnte in diesem Zusammenhang so zial integrierende Funktionen wahrnehmen - nicht zufällig war das Interesse an Gesundheit mit der Vorstellung einer allgemeinen politischen und gesell schaftlichen Harmonie verbunden, die der lippische Mcdizinalbeamte Scherf 1790 mit den Worten charakterisierte: »Das Volk würde gut, folg sam, treu, wahr, arbeitsam, bieder, gerade und hellköpfig, weil es gesund, stark, kräftevoll und frohen Sinnes ist. «38
2. Bürgerliche Öffentlichkeit, A ufklärung und Gesundheitsbewegung Als Hintze des Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft im 18. Jahrhun dert mit dem Bild umschrieb, daß der Staat »die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Nahrungssorgen und ihrem Intcresscnstreit gleichsam in sich ver schlungen« hätte39, gewann er diese Einsicht primär durch seine A rbeiten zur Regierungs- und Verfassungsgeschichte Preußens im 17. und 18. Jahr hundert. Die staatszentrierte Perspektive, die sich daraus notwendig ergab, ließ ihn jedoch übersehen, daß auch die »bürgerliche Gesellschaft« aus sich heraus Kräfte entwickelte und Energien freisetzte, die dem Staat ihren Stempel aufdrückten. Wollte man die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einzig und allein unter dem A spekt ihrer »Verstaatlichung« betrachten, müßten die vielfältigen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen ausge blendet bleiben, die auch damals schon zwischen staatlicher und gesell schaftlicher Sphäre bestanden. Bereits im Zeitalter des Absolutismus wur den die Keime für eine neue Staatsauffassung gelegt, die sich bei dem Vcrwaltungswissenschaftler Robert von Mohl, einem Liberalen des Vor märz, in dem Satz ausgedrückt fand: »Der Staat tritt keineswegs an die Stelle des gesamten Volkslebens, dasselbe völlig verschlingend, sondern er ist nur ein, freilich höchst mächtiges und unentbehrliches Mittel zur A usbildung desselben.«40 In der Tat hatte die aufklärerische Bewegung des 18. Jahrhunderts auch im 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Bereich staatlicher Hcrrschaftslcgitimation zu einem bedeutsamen Orien tierungswechsel geführt, der die Beziehungen zwischen Regierten und Re gierenden neu definierte. Je mehr sich der Staat als Sphäre öffentlicher Gewalt konstituierte und seine göttlich-sakrale Legitimation mit einer sä kular-rationalen Bestimmung vertauschte, desto einleuchtender erschien es, eine Trennung und sogar einen Gegensatz zwischen dieser öffentlichen Gewalt und den ihr unterworfenen Privatpersonen zu konstruieren. Indem sich der Staat von der standisch-patrimonialen Herrschaft des Fürsten, der sich nunmehr als erster Staatsdiener verstand, löste und sich als rational bürokratischer »A nstaltsbetrieb« etablierte41, trat er der Gesellschaft als abgesonderte, depersonalisierte Sphäre entgegen. Damit eröffnete sich zu gleich die Möglichkeit, die Gesellschaft als eigenständiges soziales System zu begreifen und ihre Beziehungen zum staatlichen A pparat auf eine neue Grundlage zu stellen. Eine solche Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft zeichnete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch in Preußen ab. Federführend waren hier die neuen Gruppen des städtischen Bürgertums, dessen soziale Basis sich - nicht zuletzt als Folge staatlicher Wirtschafts- und Verwaltungspoli tik - deutlich verbreitert hatte. Zu den »Bürgerlichen« gehörten nicht mehr nur die Handwerker und Kauflcute, die entweder als »wirkliche Bürger« mit allen Rechten der ökonomischen und politischen Repräsentation oder aber als »Schutzverwandte« traditionell in Städten ansässig waren42. Die wirtschaftsfördernden Maßnahmen des absolutistischen Staates hatten da neben die Herausbildung einer Unternehmerschaft begünstigt, die ihren ökonomischen und sozialen Raum jenseits der Zunftorganisation fand. Die Bankiers, Großverleger und Manufakturbesitzer waren Teil des »neuen Bürgertums«, das im Prozeß der inneren Staatsbildung an Zahl und Bedeu tung erheblich zunahm. Zu der (Ober-)Schicht der »Eximicrtcn«, d. h. der unmittelbar staatlicher Gerichtsbarkeit unterstellten Bürger, zählten jedoch vor allem die verschiedenen Gruppen der Beamten und A kademiker, die entweder im Staatsdienst beschäftigt waren oder unter lokal-ständischen Obrigkeiten arbeiteten43. Juristen, Pfarrer, Professoren, Gymnasiallehrer, Offiziere und besonders der »Stand« der eigentlichen Staatsdiener besaßen innerhalb der städtischen Sozialstruktur einen privilegierten Status, der sich aus ihrer bildungsmäßigen und amtlichen Qualifikation herleitete. In dieser neuen bürgerlichen Oberschicht, die untereinander durch viel fältige soziale und verwandtschaftliche Beziehungen verbunden war44, ent wickelte sich nun im 18. Jahrhundert ein moderat-aufgeklärtes Forum po litischen Räsoniercns, eine »bürgerliche Öffentlichkeit« als eine vom Staat getrennte, aber immer auf ihn bezogene Sphäre der Sclbstvcrständigung45. In Zeitschriften, Salons und literarisch-wissenschaftlichen Gesellschaften wurden aufgeklärte Ideen herumgereicht, pädagogische und politische For derungen diskutiert und verbindliche Normen des privaten und öffentli chen Umgangs aufgestellt. Hier entdeckte sich »der Untertan als Bürger« 46 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
und erwarb ein Selbstbewußtsein, mit dem er das absolutistische Herr schaftssystem kritisch konfrontieren konnte. Ohne die Notwendigkeit einer staatlichen Sphäre im geringsten anzu zweifeln, band die »humanitäre Staatsidee« (Meineckc) der Aufklärung die regulativen Funktionen des Staates wieder an die »vernünftigen« Interessen der Privatleute zurück. Das von Rousseau am radikalsten formulierte Kon zept des Gesellschaftsvcrtragcs, in dem sich die Menschen unter Verzicht auf ihre natürliche Freiheit zu einer auf rationales Handeln gegründeten gesell schaftlichen Organisation zusammenschließen, wies dem Staat als »sittlicher Gesamtkörperschaft«47, als Organ der Volkssouveränität, vor allem die Aufgabe zu, eine durch Gesetze geregelte Rechtssphäre zu schaffen, die Einhaltung der Gesetze polizeilich sicherzustellen und zwischen den beson deren Interessen der Individuen und denen der Gemeinschaft zu vermitteln. In der deutschen A ufklärungsphilosophic erfuhr diese Staatsauffassung eine aufschlußreiche Umdeutung. Zwar ging auch der cinflußrcichc Hallen ser Professor Christian Wolff davon aus, daß der Staat nur das Resultat eines freiwilligen Vertrages der Bürger untereinander sei und demgemäß lediglich den Zweck habe, die »gemeine Wohlfahrt und Sicherheit« zu fordern und zu garantieren48. Zugleich sei jedoch der Bürger noch unmündig, unreif und seiner vernünftigen Interessen kaum bewußt, so daß der Staat als höhere sittliche Instanz von sich aus initiativ werden und seine Untertanen schritt weise und von oben herab zur politischen Mitwirkung befähigen müsse. Dabei dürfe er auch zu unpopulären Zwangsmitteln greifen, wenn die Bürger die Berechtigung staatlicher Maßnahmen nicht von selbst einsähen. Mit dieser Konzeption, auf die sich fortan die gesamte Vcrwaltungstheoric (»Polizcywissenschaft«) des aufgeklärten A bsolutismus stützte, war der Ar gumentationsrahmen abgesteckt, in dem das Verhältnis Untertan-Bürger Staat im 18. und frühen 19. Jahrhundert diskutiert werden konnte. Der Staat des aufgeklärten A bsolutismus akzeptierte die Verpflichtung, dem Volk ein Leben voller Glückseligkeit^ eine Existenz in Sicherheit und Wohlstand zu ermöglichen49; das politisch machtlose bürgerliche Bildungspublikum schuf sich einen Binnenraum moralisch-rationaler Diskurse, die gleicherma ßen praktische Lebenshilfe und soziale Sclbstvcrortung vermittelten. Wenn diese Diskurse auch hauptsächlich in den Beamten- und Gelchrtcnzirkeln beheimatet waren und selbst wohlhabende Kaufleute nur in Ausnahmcfällen aktiv daran teilnahmen50, so ist doch anzunehmen, daß die in Zeitschriften und Büchern veröffentlichte »neue bürgerliche Lebensauffassung« nicht auf den engen Kreis der akademischen Berufsstände beschränkt blieb51, sondern nach und nach auch die mittleren und unteren Schichten des Bürgertums erreichte. Zu dieser Lebensauffassung zählten vor allem zwei Dinge: A rbeit und Bildung, die im bürgerlichen Normensystem an oberster Stelle standen. Die Arbeit war es, die das (Wirtschafts-)Bürgertum vom Adel unterschied, dem die gewerbliche und kaufmännische Tätigkeit verschlossen blieb. Durch 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Bildung wiederum grenzte sich das städtische (Bildungs-)Bürgertum von den unwissenden und irrationalen Vorstellungen verhafteten Bauern und Unterschichten ab. A rbeit und Bildung bestimmten damit den Platz des »dritten Standes« in der gesellschaftlichen Hierarchie und prägten sein Selbstbewußtsein als das eigentlich wertvolle Fundament des Staates. Die normativen Orientierungen des bürgerlichen Lebenszusammenhangs: Ver nunft, Sitte, Sparsamkeit, A rbeitsmoral52, gewannen von daher einen uni versalistischen Anspruch, der die geradezu mit missionarischem Eifer antre tende Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts beflügelte. Während sich die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kursierenden Moralischen Wochenschriften an ein überwiegend bürgerliches Lesepublikum wandten, fanden die bürgerlichen Tugenden in der zweiten Jahrhunderthälfte auch auf dem Lande Verbreitung: allein in Deutschland erschienen in dieser Zeit etwa fünfzig; Bücher, die die bäuerlich-ländliche Bevölkerung belehren wollten53. Neben der christlichen und sittlichen Unterweisung und der Vertilgung abergläubischer A rchaismen stand die Vermittlung zweckrationalcr, öko nomisch kalkulierender Verhaltensweisen im Vordergrund der aufkläreri schen Bemühungen. In Ergänzung der vom Staat ausgehenden sozialdiszi plinierenden Einflüsse (Militär, Bürokratie, Merkantilismus) wirkte der Normendiskurs der bürgerlichen A ufklärung damit »von unten« auf eine Vereinheitlichung des »Staats-und Gesellschaftskörpers« (Hintze), auf die Einbindung aller Sozialschichten in die neue »bürgerliche Gesellschaft« hin. In diesem Normendiskurs spielte Gesundheit eine wichtige Rolle. Ge sundheit - das war gleichermaßen Voraussetzung und Folge eines recht schaffenen, unverfälschten und geordneten Lebens, Bedingung des indivi duellen Glücks und Ergebnis einer vernünftigen Lebensführung. Nur ein gesunder Mensch, dessen Organe, Kräfte und Funktionen sich im Gleichge wicht befanden und »dessen Glieder zu ihren Verrichtungen geschickt« waren54, konnte seinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft richtig ausfül len und seine Fähigkeiten zum Wohl des Ganzen und zu seinem eigenen Vorteil ausschöpfen. Die Erhaltung der Gesundheit war deshalb nicht nur ins Belieben des einzelnen gestellt, sondern bedeutete gleichsam eine Pflicht gegenüber der A llgemeinheit. So hieß es 1788 in Krünitz' Oeconomischer Encyklopädie: »Wer das edle Kleinod der Gesundheit vernachlässigt, beleidigt die ganze Gesellschaft, von der er ein Mitglied ausmacht. Mit Recht forderte sie von ihm, daß er einen Teil seiner Kräfte und Zeit ihren Bedürfnissen und Vorteilen aufopferte; sie, welche an jedem Tage zu seinen Bedürfnissen und Vorteilen so vieles beiträgt. «55
Gesundheit war also nicht nur ein privater Wunsch, sondern eine gesell schaftliche Verbindlichkeit, die Grundlage allgemeiner »Glückseligkeit«. Kranke Menschen konnten nicht arbeiten, produzierten keinen Reichtum und hemmten den gesellschaftlichen Fortschritt. Ihre Existenz war geradezu parasitär, folgt man dem Urteil des Dresdener A rztes Friedrich A ugust 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Röber: »Der Bürger muß gesund und arbeitsfähig seyn, um das Seine zur Erhaltung des Ganzen beitragen zu können. Ist er dieses nicht, so fallt er dem Staate zur Last und ist schlimmer, als ein todtes Mitglied. «56 Diesem ökonomistischen Credo entsprach die Auffassung, daß das Indi viduum im Prinzip selbst dafür verantwortlich war, seine Gesundheit zu schützen und zu erhalten. »So bald wir uns entschlössen, den Regeln der Lebensordnung (Diät) gemäß zu leben«57, wäre die grundlegende Voraus setzung für körperliches und geistiges Wohlergehen geschaffen. Lediglich Verstöße gegen diese Regeln wären schuld daran, daß so viele Menschen ihre Kräfte und Fähigkeiten brachliegen lassen müßten und der Gesellschaft produktive Energien entzögen. Worin bestand denn nun eine solche vernünftige Lebensordnung? Wie lauteten die Regeln, die es zu befolgen galt, und wer hatte sie erlassen? Die Antwort auf diese Fragen liegt nahe, wenn man sich der inhaltlichen A rgu mentationsstruktur des aufgeklärten Diskurses zuwendet. Schon Rousseau hatte die Rückkehr zu Natur und Natürlichkeit als Bedingung für ein nach vernünftigen Grundsätzen organisiertes Leben propagiert; im Gegensatz zur »Verfeinerung« und »Verkünstelung« städtischer Verkehrsformen galt ihm die Annäherung an den naturgegebenen Rhythmus, wie er ihn im Landleben vermutete, als erster Schritt hin zu einem von Degenerationen des Ge schmacks und der Bedürfnisse freien Leben. Seinem einflußreichen und auch in Deutschland vielgelesenen Roman »Emil oder Über die Erziehung«, der 1762 in erster Auflage erschien, stellte er das Motto voran: »Tout est bon qui sort des mains du créateur de la nature, tout dégcnérc dans les mains de l' homme.« Folgerichtig gab es das absolute Glück nur im Naturzustand des Menschen, und einzig und allein eine naturgemäße Lebensweise bot ausrei chenden Schutz vor Krankheit und schwerem Leiden. Rousscaus Devise »Leb natürlich, sei geduldig, verjag den Arzt«58 durch zog sein ganzes Erzichungsprogramm, das sehr viel Wert auf die Erhaltung und Kräftigung der Gesundheit legte. Sport, harte Betten, kalte Waschun gen wirkten der Verzärtelung der Kinder (und der Erwachsenen) entgegen und stärkten ihre Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen und Schwäche krankheiten59. Je weiter sich die Menschen allerdings »von dem Stande der Natur« entfernten60, desto wahrscheinlicher wäre es, daß auch ihre körperli che Verfassung aus der ursprünglichen, naturhaften Harmonie herausträte. Unregelmäßigkeiten in den elementaren Lebensverhältnissen müßten zwangsläufig zu krankhaften Störungen fuhren, die hauptsächlich durch eine vernünftige, auf den Ausgleich der Bedürfnisse bedachte Lebensweise behoben werden könnten. Eine stabile Ernährung, genügend frische Luft und Helligkeit, ausreichend viel Schlaf, ein ausgewogenes Verhältnis zwi schen A rbeit und Ruhe sowie ein harmonischer Gefuhlshaushalt böcen die beste Gewähr, daß sich die Organe und Säfte im Körperinncrn im Gleichge wicht befanden und ein reibungsloses Funktionieren ermöglichten. Diese Elemente der »Diätetik«, der auf die Lehren der Antike zurückge32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
hcndcn Kunst der Lebensführung, gelangten im Jahrhundert der A ufklä rung zu neuer Wertschätzung, kamen sie doch dem Normensystem des Bürgertums 61 und seinem Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem Adel aus gesprochen entgegen. Die »gute Lebensordnung, die Mäßigkeit und die Gemütsruhe« als Gesundheitsgaranten62 waren Kampfbegriffe, die man dem auf Ausschweifungen, Exaltationen und prahlerischen Konsum orien tierten A del vorhielt. Gegenüber den verweichlichten, nur auf raffiniertes Genießen bedachten Angehörigen des »ersten Standes« vertraten die Expo nenten der bürgerlichen A ufklärung ein Lebenskonzept, das sich an einer mit den Regeln der Natur zu vereinbarenden Anspannung aller produktiven Energien bei gleichzeitiger Eindämmung irrationaler Leidenschaften aus richtete. Die »listigen Triebe« (Unzer), die den Menschen zu unvernünfti gen, mit seinen langfristigen Interessen unvereinbaren Handlungen verführ ten, mußten unter Kontrolle gehalten werden, damit sie das Ideal eines arbeitsamen, auf Sparsamkeit und Mäßigung gegründeten Lebens nicht durchkreuzten. Sportliche Betätigung, Spaziergänge, A bhärtungen ver folgten den doppelten Zweck, den Körper gegen ungesunde Leidenschaften zu immunisieren und zugleich für eine zweckbestimmte Tätigkeit im Dien ste von Arbeit und Erfolg nutzbar zu machen. Die A ufklärung strebte folglich der Utopie einer Gesellschaft nach, die frei von Krankheit war. Krankheit paßte nicht mehr in die bürgerliche Lebenswelt hinein, sie war ein Relikt vergangener und falscher Verhältnis se63. Unter der Prämisse, daß Krankheit lediglich Resultat menschlicher Dummheit und Vcrkünstclung war, konnte man sich durchaus eine soziale Ordnung vorstellen, die Krankheit durch vernünftige Vcrhaltcnsregeln und Vorschriften aus dem menschlichen Erfahrungszusammenhang ver bannen würde. Wenn Rousseau »Mäßigkeit und A rbeit« als »die beiden wahren Ärzte des Menschen«64 bezeichnete, formulierte er damit den Ge sundheitshymnus der bürgerlichen Gesellschaft, die sich der Krankheits keime der ständischen Ordnung entledigen wollte. Gesundheit wurde zum Codewort für eine auf größtmögliche Effizienz, Disziplin und Rationalität bedachte Lebenspraxis, der alle abweichenden Verhaltensweisen rigoros zum Opfer fielen. Zu den letzteren zählten sowohl der ausgeprägte Hedonismus der A delskultur, ihre »Pracht und Schwclgerey« (Tissot), als auch der sprichwörtliche A berglaube der Landbevölkerung, den man als eine unerschöpfliche Quelle gesundheitsschädlicher Gewohnheiten beargwöhnte. Dieser hohe Stellenwert, den Gesundheit im bürgerlichen Wertckanon besaß, trat in den literarisch-pädagogischen Publikationen des 18. Jahrhun derts sehr deutlich zutage. Die Moralischen Wochenschriften enthielten lange Passagen über hygienische Probleme und Fragen der Gesundheitser ziehung, in denen das Bild einer gesunden, nach natürlichen Maßstäben lebenden Menschheit gezeichnet wurde. Dem blassen Teint des adligen Fräuleins stellte man die rosige Gesichtsfarbe des Bürgermädchens gegen33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
über, die kindsmordenden Gepflogenheiten des Adels, Säuglinge von Am men nähren zu lassen, kommentierte man mit der Ermahnung an die bür gerlichen Mütter, ihre Kinder selbst zu stillen. A uch die pädagogischen Romane der Zeit lenkten die A ufmerksamkeit ihrer Leser(innen) auf die Bedeutung einer gesunden Lebensführung. Der erfolgreiche Briefroman des Aufklärungspädagogen Christian Gotthilf Salzmann »Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend« {Leipzig 1784-88) las sich auf weite Strecken wie ein Gesundheitsbrevier, wobei Gesundheit als individueller und auch als sozialer bzw. politischer Orientierungswert erschien. Das sechsbändige Werk lebte von der Kontrastierung adliger und bürgerlicher Lebenswelten; der Degeneration und »Unnatur« des Adels stand die natürli che Vernunft und moralische wie körperliche Gesundheit des Bürgertums gegenüber. A m deutlichsten wurden die beiden stark typisierten Positionen in der Korrespondenz zwischen dem adligen Helden und seiner Mutter herausgearbeitet: Carl will die Tochter eines einfachen A mtsschreibers hei raten und bittet seine Mutter um ihre Zustimmung. A ls eine der wichtigsten Eigenschaften seiner Braut rühmt er ihre ausgezeichnete Gesundheit: sie sei »so gesund, so munter, daß ich mir mit Recht von ihr lauter frische und lebhafte Kinder versprechen kann. Ihr Leib wurde nie durch eine Schnür brust zusammengepreßt, und wird also Platz genug haben, daß Ihre Enkel darinne sich bilden können. Daß ein so gesundes Mädchen auch gesunde Milch zur Stillung ihrer Kinder haben werde, zweifle ich im Geringsten nicht«. Die Majorin antwortet ihrem Sohn mit beißender Ironie: »Was fragt denn der Adeliche nach Gesundheit, wenn er sich verheyrathen will? Ahnen und Geld mußt du suchen, wenn du eine Mariagc treffen willst, aber nicht Gesundheit. Gesundheit mag der Bürger und der Bauer schätzen, der kein größer Gut kennt. Wer aber Ahnen hat, dem ist Gesundheit ein Bagatell. « 65 Der bloß auf »conspieuousconsumption« basierenden Adelskultur wurde hier die produktive Funktion von Gesundheit als A ttribut eines auf wirt schaftlichen Erfolg setzenden Bürgertums entgegengehalten. Während der Adel auf seine ererbten Herrschaftsprivilegien pochte (»Wenn meine Kinder auch etwas schwächlich sind, so sind sie doch adelich, und wenn sie zur Armee kommen, so müssen ihnen doch alle Bürgerlichen nachstehen«66), mußten sich die bürgerlichen Schichten ihre gesellschaftliche Stellung durch Leistung erst erwerben - Gesundheit war dafür die Voraussetzung. Deshalb gehörte es auch zum festen Erziehungsprogramm der Bürgerkin der (vor allem der Töchter, die in ihrer Eigenschaft als spätere Hausmütter in besonderem Maße für das physische Wohlergehen der Familie verantwort lich waren), ihre Gesundheit als Kapitalanlage schätzen und das Geheimnis ihrer Pflege kennenzulerncn. Ob es sich dabei um Kleidermode oder Turn übungen handelte, um die Einrichtung des Schlafraumcs oder die Zuberei tung von Speisen, um die Gestaltung von Spielen, Vergnügungen und Geselligkeiten oder die Vermeidung extremer Gefuhlswallungen - immer standen Gesundheitserwägungen im Mittelpunkt der pädagogisch-aufkläre34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
rischcn Ratschläge. Diese »Hygienisicrung« des menschlichen Lebens si cherte die Tabuisierung bestimmter mißliebiger Verhaltensweisen ab, die der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr tolerierbar erschienen67. Unter dem Verdikt ihrer Gcsundhcitsschädlichkeit konnten Gewohnheiten be quem ausgegrenzt werden, die sich mit den Standards einer zweckrationalen und effizienzorientierten Lebensführung nicht vereinbaren ließen. Dies be traf nicht allein den physischen Habitus68, sondern auch den Bereich der Gefühle, Emotionen und vor allem der Sexualität. A llzu große Leidenschaf ten brächten die natürliche Harmonie der Körpersäfte durcheinander und führten zu krankhaften Reaktionen. Onanie galt als »Selbstschwächung« (Salzmann) und bedingte den frühzeitigen, auch körperlich sichtbaren Ver fall. Gesundheit erhielt immer stärker einen sanktionierenden, ausgrenzen den Charakter, sie wurde zur Chiffre, zum Ideal und Erziehungsmittel des bürgerlichen Normendiskurses. Als Aufforderung zur aktiven Lebensgestaltung, zum tatkräftigen Bemü hen um einen möglichst »haushälterischen« Umgang mit dem Körper und seinen Potenzen entsprach die Gesundheitsnorm zugleich auch jenem Be dürfnis nach rationalen Deutungsmustern, das im Zuge der Säkularisierung den Glauben an eine vorfabrizierte göttliche Sinnstiftung ablöste. Krankheit war in diesem Zusammenhang nicht mehr eine von Gott gesandte unabän derliche Strafe, Gesundheit kein barmherziges Geschenk, das man dankbar hinnehmen konnte. Der »irrationale« Fatalismus solcher Fremdzuschrei bungen paßte nicht zur Ideologie des aufgeklärten, kritischen Humanismus, der auf die Kraft des Individuums vertraute und den Ursachen bestimmter Erscheinungen statt in außerweltlichen Einflüssen im Wirken der (menschli chen) Natur nachspürte. Gesundheit als Produkt einer richtigen Lebensfüh rung, als Ergebnis bewußter Sorgfalt wurde folglich zu einer genuin bürger lichen Tugend, in der Rationalismus, Individualitätsdcnkcn und säkulare Begründungsschemata eine enge Verbindung eingingen. Eben dieser breite Bedeutungshorizont der Gesundheitsnorm war wohl auch dafür verantwortlich, daß sie sich im bürgerlichen Lebcnszusammcn hang recht erfolgreich durchsetzen und behaupten konnte. Die medizini schen Aufklärungsschriften des späten 18. Jahrhunderts waren, wie Goethe aus eigener Anschauung wußte, »zu ihrer Zeit sehr wirksam« 69 und wurden in den mittleren und oberen Schichten des Bürgertums offenbar eifrig gelesen. 1772 klassifizierte der Mediziner Grüner dievonj. A . Unzer redi gierte Gesundheitszeitung »Der A rzt« (1. Auflage 1759) als »Modebuch solcher Leser . . ., die sich sonst eben nicht mit Schriften überhäufen«70. Zwar sollten die Ärzte als professionelle Gesundheitsexperten noch lange (bis heute) über die mangelhafte A kzeptanz hygienischer Lebensregeln in ausnahmslos allen Schichten der Bevölkerung lamentieren, doch gehör(t)en solche Klagen eher zum Handwerkszeug berufsständischer Politik, als daß sie als A ussagen über reale Verhältnisse ernstgenommen werden dürfen. Allerdings waren Diskrepanzen zwischen den von Medizinern verfaßten 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Programmen gesundheitsgemäßer Lebensführung und ihren tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten ohnehin nicht zu vermeiden, denn ein regl konformes Leben stellte derartig hohe Ansprüche an Zeit, Geld und Diszi plin, daß es selbst jene Gruppen, an die sich die medizinische Gesundheits propaganda in erster Linie richtete, heillos überforderte.
3. Professionalisierung und ärztlicher Machtanspruch Wenn der absolutistische Staat den Gesundheitsverhältnissen der Bevölke rung vorwiegend aus militär- und steuerpolitischen Gründen seine A uf merksamkeit schenkte, waren seine Medizinalbeamten daran nicht ganz unschuldig, hatten sie doch immer wieder auf den Zusammenhang zwi schen Gesundheit und staatlicher Machtentfaltung hingewiesen. Und wenn das Bürgertum Gesundheit zum Maßstab individuellen und kollektiven Verhaltens erhob, hatten die Ärzte als sachkundiger Teil des bürgerlichen Publikums die schon aus der Antike herrührenden Regeln der guten Lebens ordnung zur Hand, die sich mühelos zu einem verbindlichen Programm bürgerlich-rationalen Lebensstils umformulieren ließen. Doch war die me dizinische Zunft nicht nur Transmissionsriemen für die Interessen anderer Herrschaftsträger - sie hatte auch durchaus selbstbestimmte Motive, Ge sundheit als politisches Problem zu thematisieren. Diese Motive lassen sich im Rahmen des Professionalisierungstheorems als Bemühen deuten, das Prestige und die A utorität der ärztlichen Berufsgruppc durch die Erweite rung ihres Praxisfcldes und die A usdehnung ihrer Expcrtcnkontrolle zu steigern. Zwar gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch keine ärztliche Berufs organisation, die im allgemeinen als wichtiges Kennzeichen der Professiona lisierung gilt71, sondern lediglich lose Verbindungen von Medizinern in Form wissenschaftlicher Gesellschaften. A ndererseits besaßen die Mcdizi nalkollegien, die fast ausschließlich mit Ärzten besetzt waren, weitgehende innerberufliche Kontrollbefugnisse und können von daher als semi-profes sionellc Organe betrachtet werden. Darüber hinaus lassen sich aber bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Entwicklungstendenzen erkennen, welche auf jene »Dominanz der Experten« hinweisen, die in der neueren Professionalisicrungsdiskussion als zentrales Charakteristikum einer Profes sion im Prozeß sozialer A rbeitsteilung eingeführt wurde 72 . Wenn auch die Notwendigkeit bestimmter nichtärztlicher Heilpersonen (Chirurgen, Heb ammen, Bader etc.) im medizinischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts noch anerkannt wurde, ist doch die zunehmende Monopolisierung des Marktes medizinischer Dienstleistungen durch die akademischen Ärzte un übersehbar. Die »professional dominance« schränkte die Kompetenzen der übrigen Berufe im Gesundheitswesen immer stärker ein; zugleich suchten 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
die Ärzte ihren Kontrollbereich auch auf jene Schichten auszudehnen, die ihnen zuvor ablehnend oder gleichgültig gegenüberstanden. A ußerdem wirkte die medizinische Gesundheitspropaganda daraufhin, den Einfluß der akademischen Ärzte zu vergrößern und ihren Expertenstatus nicht nur in der Heilung von Krankheiten, sondern auch in der Erhaltung der Gesundheit zu festigen. A ll diese Strategien, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer ärztlichen Standesbewegung zusammenflössen73, waren auch schon im aus gehenden 18. Jahrhundert präsent, zwar noch unzureichend koordiniert und deshalb häufig nicht sehr erfolgreich, aber in ihrem Ansatz ernst zu nehmen. Die medizinische Publikationswellc des späten 18. Jahrhunderts erscheint so zugleich als Bemühen, die soziale Wertschätzung der Ärzteschaft durch die öffentliche Diskussion über Krankheit und Gesundheit und die Institu tionalisierung eines medizinischen Diskurses zu erhöhen. Dieser Diskurs bestand aus zwei aufeinander verweisenden Teilen: zum einen umfaßte er die immer dringlicher vorgebrachten Forderungen der Ärzte nach einer Intensi vierung staatlicher Gesundheitspolitik, zum anderen die Anweisungen und Konzepte zur Erhaltung der Gesundheit und Verlängerung des Lebens, die den »Frauenzimmern«, »Familienvätern«, dem »Landvolk« oder den »auf geklärten Ständen« in gemeinverständlichem Plauderton nahegebracht wer den sollten. Beide Teile des Programms gipfelten in dem ambitionierten Traum von einer gesellschaftlichen Ordnung, die sich den Gesetzen der Gesundheitser haltung widerspruchslos unterwarf. Die Ärzte als einschlägige Experten standen in diesem Modell ganz oben, an der Spitze der sozialen Pyramide: ihre systembeherrschende A utorität gründete sich nicht nur auf ihre Funk tion als Garanten dieser durch Gesundheit zusammengehaltenen Ordnung, sondern sie waren zugleich auch die eigentlichen Konstrukteure, die »mait rcs-penseurs« des neuen, vernunftgemäßen Gebildes. Hinter diesen Wunschvorstcllungcn der Mediziner steckte ein kaum verhüllter sozialer Geltungsdrang, der sich aus der leidvollen Erfahrung gesellschaftlicher Sub ordination wie auch aus dem Bewußtscin einer durch Vernunft und Wissen legitimierten historischen Mission im Sinne bürgerlicher A ufklärung spei ste. »Es scheint die Zeit gekommen zu seyn, da die Ärzte regieren wollen. Vormals stand die Geistlichkeit hinter dem Steuermann; izt tritt die Medicin hinzu«74, konnte man 1789 in Todes Gesundheitszeitung lesen: eine prag matische Umschreibung jenes »grand réve de l'ordre médical«75, dem Ende des 18. Jahrhunderts die nicht gerade mit sozialer Ehre überhäuften oder mit politischer Anerkennung verwöhnten Ärzte nachhingen. In der Tat war die sozioökonomischc Position der Ärzte in der Gesell schaft des 18. Jahrhunderts ziemlich prekär. Zwar sorgte die wissenschaftli che Ausbildung an den Universitäten des Landes dafür, daß sich die Medici durchaus als »gelehrter Stand« begriffen und hier mit Juristen und Theolo gen gleichzogen. A us dieser akademischen Qualifikation leiteten die Ärzte ihren Anspruch auf ein autonomes Berufsprofil her, d. h. sie verstanden sich 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
als wissenschaftlich legitimierte76 Experten, deren Tätigkeit nur innerhalb ihrer Profession angemessen beurteilt werden konnte. Von ihren Patienten verlangten sie demzufolge unbedingten Gehorsam und A chtung des ärztli chen Monopolwissens. Nach A nsicht des Breslaucr Mediziners Samuel Breinersdorf mußte der »Nichtarzt« »blindlings dem wahren A rzte folgen, und seine Aussprüche für heilig halten; er darf nicht daraufsehen, ob die eine Verordnung ästhetisch, die andere unästhetisch sey, und keineswegs die Verfahrungsart des einen A rztes, in Vergleich mit der des andern gesetzt, weder loben noch tadeln, sondern mit Bescheidenheit einräumen, daß die ärztliche Kunst eine eigene, tiefgedachte sey, die, so wie der Heilkünstler, nur vor den Richterstuhl des Sachkenners gehört«77. Gerade diesem (hier besonders offenherzig vorgebrachten) Wunsch nach allgemeiner A nerkennung der professionellen A utonomiebestrebungen blieb jedoch seine Erfüllung vorerst versagt. Die als Kennzeichen einer akademischen Profession so wichtige Macht über ihren Klienten78 war in dem hier behandelten Zeitraum des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts lange nicht so konsolidiert, wie es die verschiedenen Auto ren berufsständischer Traktate erhofften. A nspruch und Wirklichkeit klaff ten noch weit auseinander, und die meisten Mediziner erfuhren diesen Widerspruch täglich am eigenen Leibe. Eine Unzahl nichtakademischer »Heilkünstler« machte ihnen das Behandlungsmonopol streitig; ihre Dia gnosen und Therapien wurden mitnichten »für heilig (ge)halten«, sondern von Laicn (Patienten, Familienmitgliedern, Besuchern) nach Kräften kriti siert und in Frage gestellt79; Kollegen konkurrierten rücksichtslos um die Gunst der Kranken. In Zeitschriften und Kalendern, in philosophischen Werken (Rousseau) und auf der Bühne (Moliére) ernteten die Medizin und ihre Jünger beißenden Spott und Herablassung, so daß sich Christian Gott fried Gruner in einer dickleibigen Verteidigungsschrift 1772 bitter beklagte: »Der Pöbel im Sammtc sowohl, als der unwissende Laie, glauben das Recht zu haben, die Ärzte lächerlich, und ihre Wissenschaft verächtlich zu ma chen.« 80 Abgesehen von der Handvoll Berühmtheiten, die sich entweder durch wissenschaftliche Leistungen, mehr noch aber durch ihre guten persönlichen Beziehungen zum Hof die besondere Hochachtung der Gesellschaft erwor ben hatten, fristete die Mehrzahl der Ärzte ein durchschnittliches und mit Geld oder Macht nicht gerade gesegnetes Dasein. Der Bedarf an ihren Diensten hielt sich in Grenzen, die sowohl von den Finanzverhältnissen der Patienten als auch vom Vertrauen in die Heilkompetenz des Arztes gesetzt waren. Prinzipiell kamen ohnehin nur die wohlhabenden Schichten als Nachfrager medizinischer Leistungen in Betracht, denn sie allein verfugten über die Geldmittel, um das Honorar des Arztes zu bezahlen. Bedenkt man, daß ein A rztbesuch laut Medizinaltaxe von 1725 den Wochenlohn einer Köchin kostete81, so wird deutlich, daß sich die Klientel der Ärzte auf eine relativ kleine Gruppe begüterter A deliger und Bürger beschränken mußte. 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Der Handwerker, Krämer oder subalterne Beamte konnte sich einen stu dierten A rzt im Normalfall gar nicht leisten, vom Tagelöhner oder Manu fakturarbeiter ganz zu schweigen. Der wissenschaftlich gebildete Arzt hatte seine Kuren folglich nur wenigen Leuten anzubieten, was seine Beschäfti gungs- und Verdienstmöglichkeiten empfindlich schmälerte. Es kann daher nicht verwundern, daß die Anzahl der Ärzte, gemessen an der Zahl der Bevölkerung, sehr gering war: so praktizierten imjahre 1750 in Berlin, das damals 89523 zivile Einwohner hatte, nur 17 Ärzte; im gesamten Gebiet der brandenburgischen Kurmark waren es 51 »MedicinaeDoctores«, denen eine Bevölkerung von über einer halben Million gegenüberstand. Fünfzig Jahre später waren insgesamt 114 Ärzte in den kurmärkischen Städten ansässig, denen formaliter die »innere Kur« von 334931 Stadt-und 439162 Landbewohnern oblag82. In Berlin selbst, das als Residenzstadt und Produktionszentrum eine besonders finanzkräftige Klientel versammelte, gab es Ende des 18. Jahrhunderts bei einer Bevölkerung von annähernd 130000 Zivilpersonen zwischen 40 und 50 Ärzte, und selbst dieses Verhält nis schien noch zu ungünstig zu sein. So beklagte der königliche Leibarzt Formey 1790, daß die Ärzte kaum ihr Auskommen fänden, da sie unter der zunehmenden Konkurrenz anderer Heilpersonen zu leiden hätten. Vor al lem die Chirurgen, von denen in Berlin damals etwa fünfzig praktizierten, liefen den reinen Medikern den Rang ab: » Der Bürger und der Mittelstand in Berlin nehmen gewöhnlich in Krankheiten ihre erste Zuflucht zu den Wund ärzten und der Arzt wird nur dann mit zu Rathe gezogen, wenn die Gefahr am höchsten gestiegen ist.« 83 Diese Bevorzugung beruhte aber wohl nicht darauf, daß wundärztliche Leistungen billiger als ärztliche Hilfe waren, wie viele Medizin(historik)er argwöhnten, gestand doch die Medizinaltaxe von 1725 den Chirurgen weitaus höhere Honorare zu. Es scheint eher so gewe sen zu sein, daß der fachliche Ruf der handwerklich ausgebildeten Wundärz te häufig besser war als der ihrer akademischen Kollegen, daß man sich also von ihnen einen rascheren und besseren Heilerfolg versprach und ihnen größeres Vertrauen entgegenbrachte84. Die an Universitäten ausgebildeten Ärzte hatten während ihres Studiums kaum klinische Erfahrungen machen können, selbst ihre anatomischen Kenntnisse waren eher begrenzt85. Die medizinischen Theorien der Zeit vermochten keine definitiven A ufschlüsse über die im Körperinnern lokali sierten Vorgänge zu geben. Im wesentlichen verharrte der Blick nach innen immer noch bei der schon von Hippokratcs entwickelten A nnahme, daß die Gesundheit des Menschen von dem Gleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle abhängig wäre 86 . Ein falsches Mischungsverhältnis dieser Flüssigkeiten, ein Überschuß der einen oder ein Mangel der anderen führte zwangsläufig zu gesundheitlichen Störungen, und die A ufgabe des A rztes mußte es dann sein, die Harmonie der Säfte wiederherzustellen. Dies geschah entweder durch die Verabreichung von Arzneimitteln, die die Ausscheidung des im Überfluß vorhandenen Saftes in 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Gang setzten oder unterstützten, oder durch Medikamente, die die Produk tion des fehlenden Saftes stimulierten. Brechmittel, Schröpfköpfe, Blutegel und Arzneien auf überwiegend pflanzlicher Basis gehörten demnach ebenso wie die berüchtigten, aber unverzichtbaren Klistiere zu den wichtigsten Utensilien des Arztkoffers im 18. und frühen 19. Jahrhundert. So berichtete der Ende des 18. Jahrhunderts in Bielefeld und Umgebung praktizierende Arzt Georg Wilhelm Consbruch über seine »Kuren« bei den vielfältigen Formen »hitzigen Fiebers«: »Da, wo ich gleich zu Anfange der Krankheit gerufen wurde, gab ich . . . sofort ein kräftiges Brechmittel . . . Große Spanischfliegenpflaster, fleißiges Waschen mit Brandwein, Wein oder Kamphergeist thaten, nebst den inneren Arzneyen aus der reizenden gewürzhaften Klasse, der Schlangenwurzel, der A ngelica, dem Baldrian, Kampher und vorzüglich dem reichlichen Genüsse von Wein bei den meisten erwünschte Wirkung. «87
Eine solche Behandlung unterschied sich nun allerdings nicht grundle gend von den Therapien der Selbstmedikation, wie sie seit Jahrhunderten von den Frauen aller sozialen Schichten praktiziert wurde. Bei einer auf merksamen Lektüre des »Medicinischen Ephemeriden« des gelehrten Arztes Consbruch fällt diese Gleichförmigkeit unmittelbar ins A uge. Wein, Schnaps, Öl und alle im Gewürzgarten angepflanzten Heilkräutcr gehörten zu den gebräuchlichsten Hausmitteln, die von Bäuerinnen, Bürgersfrauen und adligen Damen gleichermaßen gegen innere Krankheiten verabreicht wurden. Insofern hatten die Ärzte nicht viel zu bieten, was über die im Erfahrungsschatz der Bevölkerung vorhandenen volksmcdizinischen Kenntnisse hinausging. Demgegenüber konnten die nur für äußere Krank heiten zuständigen Wundärzte zum Teil mit Leistungen aufwarten, die nicht ohne weiteres durch A lltagswissen ersetzbar waren. Während die »reinen Mcdikcr« lediglich »visitirten« und »konsultirtcn«88, legten die Chirurgen selbst Hand an und flickten gebrochene Glieder wieder zusammen, verban den offene Wunden oder schnitten Geschwüre und Geschwulste weg 89 . Ihre siebenjährige, größtenteils handwerkliche A usbildung, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts durch anatomische und chirurgische Kurse am A natomi schen Theater bzw. am Collcgium medico-chirurgicum90 ergänzt werden konnte, garantierte ein umfassendes praktisches Wissen, das das der nur theoretisch versierten Ärzte zuweilen weit übertraf91. A uch die bessere Überprüfbarkeit ihrer Arbeit, die sich auf die äußeren und sichtbaren Teile des Körpers beschränken mußte, trug dazu bei, daß die Nachfrage nach Wundärzten deutlich größer war als der Bedarf an Ärzten. Auf diese gleichermaßen auf dem Lande (hier konkurrierten Ärzte und Wundärzte um die reiche Klientel des Landadels und der wohlhabenderen Bauern) und in größeren Städten spürbare Konkurrenz reagierten die Ärzte mit dem Ruf nach »gesetzliche(r) Einschränkung der Wundärzte auf den ärmern Theil des Volkes«; darauf, daß sie (die gebildeten Medici) »sich durch ihre größern Kenntnisse in ihrem Kredite erhalten werden«92, moch ten nicht einmal sie selbst sich verlassen. Daß sie damit so Unrecht nicht 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
hatten, bestätigte auch Formey. Selbstkritisch mußte er eingestehen, daß das Zutrauen zu den gelehrten Medizinern nicht gerade groß war, daß man sich vielmehr von ihren Behandlungsmethoden keinen großen Nutzen ver sprach93. Höhcrc Erwartungen richteten sich durchweg auf die von Zeit zu Zeit in Mode kommenden »Wunderdoktoren«, die mit magischen Kräften angeb lich unvorstellbare Heilerfolge erreichten. Die Ärzte standen dieser über mächtigen Konkurrenz völlig hilflos gegenüber und mußten untätig mitan sehen, wie selbst gebildete und wohlhabende Leute, also ihre potentielle Klientel, in Scharen Hilfe bei den von ihnen als »Pfuscher«, »A fter-Ärzte« oder »Harn-Propheten« beschimpften Heilern suchten. So hielt 1784 ein sog. »Monddoktor« in Berlin die ganze medizinische Fachwelt in A tem, weil er einen riesigen Zulauf aus allen Schichten der Bevölkerung hatte. Seine Therapie, die hauptsächlich aus Handauflegen und Hinwendung der kranken Körperteile zum Mond bestand, kam bei den Kranken (wohl gerade wegen ihrer Sanftheit) gut an, und der mit der Untersuchung dieses Phäno mens betraute Berliner Stadtphysikus J . Th. Pyl bekam recht drastisch zu spüren, »wie enthusiastisch das hiesige Publikum (und hierunter waien sehr viel vornehme und sonst kluge Leute) für ihn eingenommen war« 94 . Selbst in der Metropole Berlin, »wo man so viel von Aufklärung spricht«, konnte ein einfacher Strumpfwirker den gelehrten Medizinalpersoncn den Rang ablaufen, ebenso wie in Hinterpommern «Vornehme und Geringe, Reiche und Arme, sogar Landräthe, die die Polizei des Kreises haben«, einen Jäger aufsuchten, der sie »alle auf eine einfache und wohlfeile Weise« heilte95. Auf diese Weise gingen den Ärzten nicht wenige Verdienstmöglichkeiten verloren, und um die verbleibenden gab es ein ständiges Gerangel. Die medizinische Profession war dafür bekannt, daß sich ihre A ngehörigen in unaufhörlichem Brotneid in den Haaren lagen, und gerade das 18. Jahrhun dert produzierte eine große Anzahl bissiger Karikaturen, die die streitenden Ärzte am Krankenbett zeigten96. Schon die ersten medizinalpolitischcn Kodifikationen in Brandenburg/Preußen hatten es deshalb für nötig befun den, den Ärzten strenge Verhaltensmaßregeln aufzuerlegen und sie zu »gu ter Verträglichkeit und Vertraulichkeit« anzuhalten97. Doch war die beschä digte Berufsehre nicht durch moralische A ppelle an das Gewissen und den Stolz der Ärzte zu retten, solange nicht die Ursache dieser harten Konkur renz, nämlich die mangelnden Beschäftigungs- bzw. Verdienstmöglichkei ten, beseitigt war. Deshalb hielten auch die Klagen über das selbstzerstöreri sche Verhalten der Kollegen im 18. und 19. Jahrhundert weiter an; Formey beispielsweise wies bitter daraufhin, daß das Sprichwort »Mendicus Mendi cum non magis odit quam medicus medicum« nach wie vor Gültigkeit beanspruchen könnte und »Spott und Mangel an A chtung« seitens der Öffentlichkeit auf die Ärzte und ihre Wissenschaft häufte98. All diese Faktoren: mangelnde therapeutische Effizienz, Konkurrenz von nichtakademischen Heilpersonen, innerprofcssioneller »Neid und Schcel41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sucht« (Formey), trugen nicht gerade dazu bei, A nsehen und Einfluß der Ärzte in der Gesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu verbessern. Das Verhältnis zu ihren Patienten, die überwiegend dem Adel oder reichen Bürgertum angehörten, war denn auch von einer strukturellen A symmetrie gekennzeichnet: der A rzt stand sozial meist tiefer als der Kranke und war von dessen Wünschen und Vorstellungen hinsichtlich der Behandlungsme thoden abhängig“. Die soziale Kontrolle seitens der Patienten erstreckte sich nicht nur auf die Berufsrollc des A rztes, sondern bezog seine ganze Persönlichkeit ein. Zu den »Forderungen« des Kranken an seinen A rzt schrieb der Hamburger Mediziner Johann Jakob Rambach 1801: »Er ver langt einen hohen Grad von Fleiß und Aufmerksamkeit; der Arzt muß seine Kranken möglichst oft besuchen; er darf die Untersuchung keines Sym ptoms vernachlässigen; er wird zwar häufig in Gesellschaft gezogen, aber man sieht es nicht gerne, wenn er diesem Vergnügen zu viel Zeit opfert; er darf nur in höchst seltenen Fällen es wagen, eine Nacht außer der Stadt zuzubringen, und würde alle Liebe verlieren, wenn es dieß öfters thäte.« 100 Angesichts des Überangebots an Ärzten konnte der Patient beliebig auswäh len, mehrere Mediziner hinzuziehen und sie gegeneinander ausspielen, so daß der Arzt immer den schwächeren Part hatte. Das Patronage-Verhältnis zwischen A rzt und Patient verstärkte den Druck zu sozialer Anpassung und Wohlverhalten und verwies den gelehrten Medicus auf die Position eines abhängigen, untergeordneten Lakaien101. Dafür spricht auch, daß nicht der Patient zum Arzt kam, sondern umge kehrt der A rzt zum Patienten: Hausbesuche blieben im 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die normale Art der Krankenbetreuung102, wodurch sich die Patientenkontrolle noch verstärkte. Zum großen Leidwesen der Ärzte war es allgemein üblich, daß Familienmitglieder oder Besucher bei der Behandlung anwesend waren und mit Kommentaren und Ratschlägen nicht gerade geizten. In einer 1784 erschienenen Schrift »Über die schädlichen Krankenbesuche« beklagte sich der Bremer A rzt Bicker über diese Ein schränkung seiner therapeutischen Bewegungsfreiheit und bezeichnete die Besucher als »die größten Hindernissein der Cur«: »Je mehr Besuchende der Kranke hat, je mehr Consulenten und Beurteiler hat auch der Arzt . . . so wird alles mögliche hervor gesucht, den Patienten mit Mißtrauen gegen seinen Arzt anzufüllen, und sein Gemüt auf die schädlichste Weise zu beun ruhigen. A lte Frauen sind durchgehends am allergefährlichsten und schäd lichsten beim Krankenbette, vorzüglich für den jungen A rzt.« 103 In solchen Schilderungen, mit denen fast jeder »doctor medicinac« aufwarten konn te104, spiegelte sich deutlich der marginale Status des Arztes in der Gesell schaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, der sich nicht einmal mit dem Hinweis auf seine akademische Bildung der lästigen sozialen Kontrolle entledigen konnte. Von einer professionellen A utonomie war in seiner alltäglichen Praxis noch wenig zu spüren, wie der Würzburger Medizinpro fessor Senfft 1781 verbittert feststellen mußte. A uf die Frage, warum die 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ärzte »so unglücklich« seien, erwiderte er: »Der A dvocat, wenn er einen Proccß zu verfechten hat, darf schalten und walten, wie er will; man vertrau et auf ihn; aber der Arzt wird von einer jeden alten Frau gehofmeistert und durch die Hechel gezogen.« 105 Zuweilen verzichtete man sogar ganz auf die Anwesenheit des Arztes im Krankenzimmer und ließ Rezepte und schriftliche Konsultationen von der Dienerschaft abholen106. A uch die A rt der Bezahlung unterstrich die A b hängigkeit des A rztes von seinen Patienten: zwar legte die Medizinaltaxe Mindesthonorarc für die diversen medizinischen Leistungen fest, aber im allgemeinen war es üblich, dem Arzt des Hauses eine einmalige Pauschalver gütung am Jahresende zukommen zu lassen107. Wie hoch diese Vergütung war, stand dabei ganz im Ermessen der Patienten. Ihre Willkür degradierte den A rzt zum untertänigen Bittsteller: »Der Große betrachtet den Arzt, als einen Mann, der sich eine Ehre daraus machen muß, von ihm geholt zu werden, und der Kaufmann, der solche hohe Mienen gerne nachzuahmen sucht, und glaubt, daß ihm jeder Gelehrte vor Geld zu Diensten stehen muß, läßt vielleicht einen Hagel von Flüchen regnen, so bald der A rzt nach Belohnung seines Eifers fragt.« 108 Die relative Unsicherheit ihres Einkommens motivierte viele Ärzte dazu, sich neben ihrer Privatpraxis noch um ein städtisches oder staatliches Amt zu bewerben. Dafür kam vor allem die Stellung eines Stadt- oder Kreisphysi kers in Frage. Seit dem 16. Jahrhundert beauftragten die städtischen Magi strate einen Arzt mit der Wahrnehmung bestimmter gesundheitsfursorgeri schcr A ufgaben; dazu zählten die A ufsicht über die Hospitalkranken, die Visitation der Apotheken, die Examinierung von Hebammen und Barbier gcsellcn, die Bekämpfung der Pfuscherei und die Einleitung seuchenhygie nischcr Maßnahmen im Falle einer Epidemie109. Darüber hinaus waren diese Ärzte verpflichtet, arme Kranke kostenlos zu behandeln110. Für ihre Tätig keit erhielten sie ein festes Gehalt, welches von vornherein so kärglich bemessen wurde, daß ein privater Zuverdienst unumgänglich war 111 . 1827 hatte fast die Hälfte aller promovierten preußischen Ärzte ein solches besol detes Nebenamt innc112 und stand damit als Beamte unmittelbar dem Staat zur Verfügung. Seit 1812 wurden die Stadt- und Kreisphysici direkt vom Staat eingestellt und bezahlt113. Doch auch durch diese Nähe zur staatlichen Macht scheinen sie nicht viel an Prestige und Autorität hinzugewonnen zu haben. Durch die medizinische Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zog sich wie ein roter Faden die stete Klage der Ärzte, in ihren medizinalpolitischen Wirkungs möglichkeiten durch die Dominanz der Juristen empfindlich eingeschränkt zu sein. Immer wieder machten Ärzte und Medizinalbeamte ihrem Ärger über das Monopol der »Rechtsgelehrten« Luft, setzten sich gegen ihre Bevormundung zur Wehr und meldeten den Anspruch an, »auch eine Stelle in der Reihe der Staatsdiener zu haben«114. Dieser Anspruch erschien umso berechtigter, als die Ärzte sich tatkräftig »für das Wohl des Staats« engagier43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
ten und seine bevölkerungspolitischen Interessen praktisch und theoretisch unterstützten115. Eben diese enge Verbindung von staatlichen Zielvorgaben und ärztlichen Aufstiegswünschen kennzeichnete denn auch die Versuche der Mediziner, mittels einer öffentlichen Gesundheitspropaganda ihren marginalen Status zu überwinden und einen größeren gesellschaftlichen und politischen Ein fluß zu gewinnen. Der Traum einer mcdikalisiertcn Gesellschaft, die unter der Kontrolle der Medizin und nach ihren Vorschriften arbeitete, aß, schlief, tanzte, Kinder zeugte und starb, geisterte in mehr oder minder angriffslusti ger Diktion durch alle Publikationen, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhun derts um die Verbreitung hygienisch-diätetischer Kenntnisse und gesund heitspolitischer Maximen bemühten.
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IL Formen und Bezugspunkte der Politisierung von Gesundheit und Krankheit im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert Auf der Suche nach den Einflußfaktoren, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts daraufhinwirkten, gesundheitliche Probleme politisch zu diskutieren und zu bearbeiten, sind wir auf drei Interessengruppen gestoßen, denen aus ganz verschiedenen Beweggründen daran gelegen war, Gesund heit und Krankheit als Themen von allgemeiner und öffentlicher Bedeutung anzusprechen: der auf Machtsteigerung, Ressourcenoptimierung und So zialdisziplinierung bedachte spätabsoluüstische Staat betrachtete Gesundheit primär als Bedingung der Durchsetzbarkeit seiner politischen Expansions ziele; das sich in den Bereichen von Produktion und Kultur konstituierende Bürgertum benutzte Gesundheit als Norm, um sich politisch-sozial vom Adel abzugrenzen und eine eigenständige bürgerliche Lebensweise zu begründen; die eher marginale Berufsgruppe der akademischen Ärzte schließlich sah die Chance, durch eine gezielte Gesundheitspropaganda ihre Reputation als Autoren und Vermittler des neuen Verhaltensprogramms sowie als Berater und Exckutorcn der staatlichen Gesundheitspolitik aufzuwerten und im Zuge ihrer Profcssionalisierung (Expertenkontrolle) eine soziale Statusver besserung durchzusetzen. Während die vorangegangenen A usführungen die Motive für eine Politi sierung der Gesundheitsproblematik in den Mittelpunkt stellten, konzen triert sich die folgende Untersuchung stärker auf den Prozcß der Politisie rung selbst, wie er sich unter den oben skizzierten Bedingungen im Preußen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vollzog. Kern und Konsequenz dieses Prozesses war die Medikalisierung des gesam ten Lebens und der gesamten Bevölkerung, d. h, die Verallgemeinerung gesundheitsbewußter Verhaltensstandards und medizinischer Versorgung in allen Bereichen und auf allen Ebenen des sozialen Systems. A ls offizielle Legitimationsgrundlage galt die bürgerliche Doktrin, nach der es der höch ste Staatszweck sein müßte, den »inneren Wohlstand« der »bürgerlichen Gesellschaft«, folglich ihr Glück, zu fordern. Da Gesundheitals »ein wesent liches Stück der menschlichen Glückseligkeit« und Bedingung des privaten und öffentlichen Wohlstands gleichermaßen definiert wurde, waren ihr Schutz und ihre Erhaltung sowohl die »allgemeine Pflicht eines jeden Men schen« als auch der »Endzweck der Policei«1. Diese doppelte Begründung 45
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einer Pflicht zur Gesundheit wiederholte sich in den Verfahren und Pro grammen der Medikalisierungspolitik: einerseits bemühte man sich, so weit es ging, mit den Mitteln der »Belehrung« und »A ufklärung« um eine freiwillige Unterwerfung der Individuen unter den diätetischen Code; ande rerseits griff der Staat durch seine gesetzgeberischen A ktivitäten und seine Polizeiorgane sanktionierend ein, wenn es galt, gcsundhcitspolitischc Inno vationen gegen den Widerstand oder die verweigernde Indifferenz der Be völkerung durchzusetzen. Wie sich dieser im späten 18. Jahrhundert einsetzende und das ganze 19. Jahrhundert prägende Prozeß der Medikalisierung in seiner sanften und autoritären Variante vollzog, soll im folgenden anhand ausgewählter Bei spiele illustriert werden: der vor allem von Ärzten getragenen Bewegung medizinischer Volksaufklärung und der staatlichen Medizinalpolitik, wobei der Durchsetzung der Pockenschutzimpfung und der Entwicklung des Krankenhauses aufgrund der Tiefenwirkung dieser Maßnahmen ein beson deres Gewicht zugemessen wird.
1. Gesundheitsaufklärung im Spiegel ärztlicher Interessenpolitik Dem kritischen Blick der aufklärungsverbundenen Mediziner, ihrer Suche nach gesundheitswidrigen Einflüssen und Verhaltensweisen boten sich die Städte als Räume exorbitanter Krankheitshäufigkeit und Mortalität dar. Nachdem schon Süßmilch die negative Bcvölkerungsbilanz der Städte, die ihre Einwohnerzahl nur durch Zuwanderung vom Land vermehren konn ten, zum A nlaß genommen hatte, auf die spezifischen Gesundheitsgefahren des urbanen Lebens hinzuweisen2, zeichnete auch die ärztliche Literatur des späten 18. Jahrhunderts das Bild einer degenerierten und kranken Stadtbe völkerung, die an ihren Maßlosigkeiten zugrunde ging und sich durch eine widernatürliche Lebensform ihr eigenes Grab schaufelte3. Diese Wahrneh mung legte es nahe, daß sich die Ärzte mit ihrer selbstgcwähltcn pädagogi schen Mission vor allem auf die Städte konzentrierten, um den lasterhaften, ungesunden Genüssen und Leidenschaften frönenden oberen Gesellschafts schichten (wohlhabendes Bürgertum, A del) eine vernünftige Gesundheits erziehung angedeihen zu lassen. In der Tat wandten sich die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in großer Zahl erscheinenden Gesundheitszei tungen überwiegend an das gebildete städtische Publikum, dem sie »gute Maximen zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit mitzutheilen« wünschten5. In kurzen, populär geschriebenen A ufsätzen wurde die Leser schaft über schädliche Kleidermoden, über die »Mäßigkeit im Speisen«, über die »Leibesbewegung«, über einen guten Schlaf, über die »Fehler der Kinderzucht« oder die »Schädlichkeit der feuchten Luft«, über Opium, Tee, Kaffee, Schokolade, Wein, Schnupftabak und Heringe, über das Tanzen 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
oder über die »diätetischen Regeln von der Reinlichkeit« informiert6, und von der Geburt bis zur Leichenrede gab es kein Thema, das nicht in diesen Zeitschriften behandelt wurde. Die Ärzte als Autoren dieser später auch in Buchform publizierten Aufklärungsartikel präsentierten sich hier als berufe ne Gesundheitserzieher, die ihren potentiellen Patienten vorbeugende Rat schläge gaben, wie sie ihr Leben »wieder in das Gleis der Natur zurück brächten«7. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn in kaum einem Artikel der Hinweis fehlte, daß sowohl für einen kundigen Rat als auch bei akuten Leiden »der Beystand guter Ärzte eine der nothwendigsten Stücke zu unsrer Glückseligkeit« wäre 8 . Die Vielzahl dieser A ufklärungsschriften und ihre mehrmalige A uflage deuten daraufhin, daß ihr Inhalt auf ein großes Interesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit stieß. Das Credo der medizinischen Diätetik, der Appell an die Eigeninitiative des Individuums bei der gesundheitsgemäßen Regelung seiner Lebensverhältnisse, kam dem bürgerlichen Selbstverständnis unmit telbar entgegen. Indem die Verhaltensanweisungen sich ganz an den persön lichen Verhältnissen jedes einzelnen orientierten und die Sphäre des Fami lienkreises niemals überschritten, griffen sie die Bedürfnisse eines bürgerli chen Publikums auf, das auf die Konstitution eines abgegrenzten Privatbe reichs hinarbeitete. Nur der Arzt konnte Zugang zu diesen privaten und den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entzogenen Haushalten beanspru chen, indem er sie einer hygienischen Prüfung unterzog. A ls Hausarzt wurde er (unter Verdrängung des Pfarrers8) zum engsten Vertrauten der bürgerlichen Familie, der gleichzeitig Rat erteilte und die Ausführung seiner Anweisungen überwachte. Sein Wirkungskreis beschränkte sich aber nicht auf die Behandlung von Gesundheitsstörungen, sondern erstreckte sich auf alle »Lebensfragen«, in denen er als »Lehrer der Menschen« (Unzer) ausge wiesene Autorität erlangt hatte. A uf diese Weise hielt er seiner bürgerlichen Klientel einen Spiegel vor, der die Normativität bürgerlicher Wertvorstel lungcn auf eine besondere, nämlich medizinisch gefilterte Weise ver stärkte10. Vor allem über die Frauen des Hauses wurde der Arzt in den intimen Kreis der Familie einbezogen. »Im Ganzen hängt das Glück der Ärzte von der Gunst der Frauen ab. Schwerlich wird sich einer erhalten, wenn er nicht das Zutrauen der Hausfrau hat.« 11 Als Mütter und Erzieherinnen waren sie die bevorzugten A nsprechpartnerinnen medizinischer Gesundheitsaufklä rung12. Das Interesse am Kind, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahr hunderts im Bürgertum und im aufgeklärten A del entwickelte, motivierte auch die Ärzte, ein ausgeklügeltes Vorschriftensystem für die Behandlung der hochgradig gefährdeten Säuglinge und Kleinkinder auszuarbeiten. Das begann mit der A ufstellung von Verhaltensmaßregeln während der Schwangerschaft, setzte sich in der lebhaft geführten Diskussion über das Selbststillen der Mütter fort und endete mit konkreten Ratschlägen für Ernährung, Kleidung und Erziehung der Kinder. Dieser Traum von der 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Medikalisierung des Kleinkindes und der Mutterrollc13 kollidierte gegen Ende des 18. Jahrhunderts allerdings noch mit einer Realität, in der gerade die Frauen dem Machtanspruch der Ärzte den größten und nachhaltigsten Widerstand entgegensetzten. Sämtliche Teilnehmer des medizinischen Dis kurses waren sich darin einig, daß die Frauen die gefährlichsten Gegenspie ler, ja Konkurrenten des Arztes wären, und sie wurden nicht müde, allerorts und jederzeit vor »dem bekannten Hange des schönen Geschlechts zum gefährlichen Spiele mit der Schlange Aeskulaps« zu warnen14. Diese nicht schichtenspezifisch differenzierbare A ussage gründete sich auf die traditionell starke Position der Frau im Familicnhaushalt, in dem ihr seit altersher die Heilung von Krankheiten und die Pflege der Erkrankten oblag. Die am eigenen Leib gemachten Erfahrungen mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, mit Schmerz und möglichem Tod gaben den Frauen eine lange Zeit unangefochtene A utorität in allen Dingen, die mit Gesundheit und Krankheit zusammenhingen. A uch die Sorge für das schwache und immer nahe am Grabe stehende Leben der Säuglinge und Kleinkinder zählte zu ihren »natürlichen« Kompetenzen, was von den Ärzten des späten 18. Jahrhunderts zuweilen auch noch anerkannt wurde 15 . In anderen Bereichen zeigten sich die Gesundheitsaufklärer nicht so kom promißbereit. Die Behandlung erwachsener Kranker gehörte ausschließlich in die Hände des Arztes; hier war er es, der entscheiden und sich nicht mehr durch die Frauen des Hauses oder die alten »Dorfhexen« kontrollieren lassen wollte. Hier hatten die Frauen hinter der Autorität des Arztes zurückzuste hen; sie wurden nur noch als Pflegerinnen geduldet und sollten sich jeder eigenmächtigen medikamentösen Behandlung enthalten. Der Monopolan spruch des A rztes in Diagnose und Therapie basierte ausschließlich auf seiner wissenschaftlichen A usbildung, nicht auf Erfahrung. Seine theoreti sche Qualifikation erlaubte es ihm, wie er meinte, Kausalbczichungcn zwi schen Krankheit und Therapie herzustellen, d.h. Heil- und A rzneimittel konkret auf ihre Wirksamkeit hin zu verordnen. Dagegen wäre das Wissen der Frauen lediglich symptomorientiert und baute auf unsystematischen Erfahrungsgrundsätzen auf16. In diesem Sinne polemisierte Scnfft gegen über seinem unter der weiblichen Macht »leidenden« bäuerlichen Zuhörer: »Sic [die Frauen] wollen klüger seyn als die Männer; und wenn sie es auch wären, so sind sie doch nicht gelehrt. A lso, so lang keine Frau aufs Rathhauß gelassen wird, so lasset sie auch nicht zum Rath am Krankenbette.«17 Allenfalls in der Krankenwartung konnten Frauen nützlich sein, aber auch dort nur unter strenger A ufsicht des A rztes, der sie zur gewissenhaften Befolgung seiner A nweisungen verpflichtete. Die aktive Rolle des Heilens übernahm der Doktor, die passive des Pflegens die »Hausmutter«. Die Vorstellung eines »Geschlechtscharakters«, der verbindlichen Zuweisung von geschlechtsspezifischen Eigenschaften18, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts gerade von Ärzten bereitwillig rezipiert und mitgeformt, bot sie doch eine willkommene Legitimation, um die A usgrenzung von 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Frauen aus der Medizin und ihre Reduktion auf eine Gehilfinnenrolle zu begründen. So argumentierte man 1791: »A uch ist das männliche Ge schlecht weniger zu dieser Art von Geschäften [gemeint ist die Krankenpfle ge] fähig, als das weibliche, welches seiner Natur nach, und durch Erziehung gewöhnt, biegsamer und duldender, weichherziger und mitleidiger, als jenes, folglich zur Pflege ungeduldiger und eigennütziger Kranken ge schickter ist.« 19 A ls Untergebene des Arztes, die seine A nordnungen und Befehle peinlich genau ausführten, behielten die Frauen ihren Platz in der Welt der Medizin; hier waren sie auch unersetzbar. Nur in ihrem eigenver antwortlichen Handeln witterte man Gefahr, unter ärztlicher Kontrolle jedoch richteten sie keinen Schaden an. Da konnten sie sogar zum engsten Verbündeten des A rztes werden, weshalb die Gesundheitsaufklärer und -erzieher die Frauen als wichtigste A dressaten schätzten. Tissot beispiels weise erklärte, »daß ich noch mehr Zutrauen in das Frauenzimmer setze, als in ihre Ehegatten, Väter oder Brüder« und begründete diesen Vorschuß damit, daß die Frauen »eine lebhaftere Menschenliebe, eine standhaftere Geduld, ein mehrerer Aufenthalt zu Hause, eine Scharfsinnigkeit . . ., end lich eine ganz besondere Eigenschaft, sich das Zutrauen der Kranken zu erwerben« zum Pflegedienst qualifizierte20. Wenn es den Ärzten also gelän ge, die Frauen von der Überlegenheit ärztlicher Kunst und ihrer exklusiven Kompetenz zu überzeugen, wäre zugleich der stärkste Widerstand gegen die Medikalisierung gebrochen und der Einfluß des A rztes auf das familiale Gesundhcitsverhalten langfristig gesichert. Neben den Frauen wohl aller sozialen Schichten21 waren es in besonderem Maße die »gemeinen Leute,«, die den Mcdikalisierungsbemühungen der Ärzte ablehnend gegenüberstanden. Unter dem »gemeinen Volk«, vor al lem in den ländlichen Gebieten war, will man Tissot glauben, die A uffas sung allgemein verbreitet, »daß seine Krankheiten eine besondre Classc ausmachen, und daß die Ärzte der Reichen solche nicht kennen«; zudem empfänden die ländlichen und städtischen Unterschichten »eine A rt von Furcht, daß die Ärzte und Wundärzte sich nicht Mühe genug geben und sie allzustolz ansehen«22. Während die im medizinischen Diskurs mitschwin genden Vorstellungen von Rationalität, Effizienz und Disziplin im städti schen Bürgertum und im aufgeklärten A del auf fruchtbaren Boden fielen, zumal die urbanen Lebensformen den überlieferten Gebräuchen längst ihre Basis entzogen hatten, war die Destruktion traditionaler Mentalitäten und Handlungsmuster auf dem Lande nicht so einfach. Die Bauern und »Ackers leute« hatten kaum Kontakt mit jener »aufgeklärten« Welt der Städte; die auf Autarkie bedachte Ökonomie des >ganzen Hauses< schloß den bäuerlichen Haushalt weitgehend nach außen ab. Städtische Marktgänge bildeten ober flächliche Berührungspunkte mit der neuen Körper- und Lebenskultur und vermochten das ländliche Normensystem noch nicht zu erschüttern. Richte ten die medizinischen »Volksaufklärer« in der zweiten Hälfte des 18. Jahr hunderts ihren Blick über die engen sozialen und räumlichen Grenzen ihrer 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Umgebung auf das Land hinaus, bot sich ihnen dort das Bild einer eigenstän digen und fest umgrenzten »A grarkultur«, die sie gleichermaßen faszinierte und abstieß. Auf der Suche nach der natürlichen Vernunft und den Grundlagen des menschlichen Glücks hatten Philosophen, Philanthropen und Ökonomen um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Land entdeckt. Der Bauer galt als Symbol des glücklichen Menschen: er erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit und eines reinen Gemüts, seine Arbeit war hart, aber kräftigend, seine Nahrung derb, aber unverfälscht23. Dieses Hohelied des Landlebens, in das auch die meisten Ärzte einstimmten24, war jedoch nicht frei von Mißklängen. Besonders monierten die A ufklärer den Mangel an Bildung und Rationalität; Unwissenheit und A berglaube (»Unmündigkeit«) waren weit verbreitet und verursachten eine endlose Kette von Übelständen, die sich vor allem im hygienischen Bereich bemerkbar machten. Die ursprüng lich der Gesundheit zuträgliche Lebensart der Landleute erwies sich beim näheren Hinsehen gar nicht mehr als so gesund, beinhaltete sie doch einen Schatz überlieferter Verhaltensregeln, die allen Grundsätzen aufgeklärter Diätetik Hohn sprachen. Am heftigsten beanstandeten die Ärzte die vermeintliche schicksalhafte Ergebenheit der ländlichen Bevölkerung in Gesundheitsfragen, ihre angeb liche Gleichgültigkeit gegenüber Krankheitssymptomen und verfrühtem Tod. Schon Tissot hatte beklagt, »daß man die Sorgfalt nicht begreifen kann, mit deren der Bauer für sein krankes Vieh die beste Hülfe auf sucht . . . Aber so bald es um ihn selbst, um sein Weib und Kinder zu thun ist, so versäumt er alle Hülfe, oder bedient sich der ersten, die sich ihm anbiethet, sie mag so schädlich seyn, als sie will« 25 . Diese Bemerkung, die von den späteren Gesundheitsaufklärern als Stereotype übernommen wurde und sich in fast jeder populärmedizinischen Schrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts fand, könnte jedoch mehr über die Motive der beobachten den und kritisierenden Ärzte verraten als über das Gcsundhcitsvcrhaltcn der Bauern selbst. Wenn beispielsweise Zuckert 1773 tadelte: »Das gemeine Volk kennt sein eigenes Beste nicht , . . vornehmlich in der Sorge für seine Gesundheit legt es die Hände in den Schooß, und befördert nichts durch eigenes Zuthun26, reproduzierte er damit lediglich das medizinische Vor Urtcil, das alles, was nicht unter der Kontrolle von Ärzten geschah, als zutiefst irrational, abergläubisch und gefährlich abqualifizierte. Gesund heitspraktiken, die den Ärzten fremd waren oder von Personen ausgeübt wurden, die nicht offiziell (d. h. durch die Ärzte selbst) dazu befähigt wor den waren, begegneten die gelehrten Mediziner mit abgrundtiefem Miß trauen und der Überheblichkeit theoretisch gebildeter Experten. Dabei übersahen sie nicht selten, daß die so heftig kritisierte Laienheilkun de im Grunde nichts anderes war als das Fortwirken bestimmter medizini scher Therapien, die lange Zeit von der offiziellen Medizin selbst vertreten worden waren. Dieser Zusammenhang läßt sich am Beispiel der »Schwitz50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
methodc« gut illustrieren. Die ärztliche Aufklärungsliteratur des ausgehen den 18. Jahrhunderts empfahl dringend, die Krankenzimmer immer gut zu lüften und den Patienten nur leicht zuzudecken. Dagegen war es allgemein üblich - getreu der Devise, daß innere Krankheiten am besten durch äußere Hitze bekämpft und »ausgetrieben« werden konnten -, die Kranken in abgedunkelten, fest verschlossenen Räumen zu halten und sie mit schwerem Bettzeug zu bedecken. Gleichzeitig verabreichte man schweißtreibende und zuweilen sehr scharfe A rzneien, um das A usschwitzen von innen zu be schleunigen. Diese Methode, die von den Ärzten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit großem Eifer angewandt wurde, diskreditierten ihre Kollegen um diejahrhundertwende als absolut schädlich und widersinnig27. Allerdings wies gerade die Geschichte der Medizin im 18. Jahrhundert einen beständigen Wechsel der verschiedensten medizinischen »Systeme« auf, die einander erbittert bekämpften. A uf die »Aderlaßperiode« der ersten Jahrhunderthälfte, als es - nach dem selbstkritischen Urteil eines zeitgenössi schen A rztes - »fast keine Krankheit [gab], in der man nicht Blut ließ, welches bei den kräftigen Naturen unserer Vorfahren wohlgethan war, das aber jetzt viel seltener geschehen darf«28, folgte die Epoche des »Gastricis mus«. Dem damals üblichen exzessiven Gebrauch von Laxativmitteln und Purganzen29 standen viele Ärzte gegen Ende des Jahrhunderts schon wieder vorsichtiger gegenüber; statt dessen kam das Brownsche System in Mode, das Schwäche als Krankheitsursache deklarierte und sich auf die Verordnung von Stärkungsmitteln verlegte30. A ngesichts dieser Vielfalt von Behand lungsmethoden und medizinischen »Schulen« verblüfft die Einmütigkeit um so mehr, mit welcher man von ärztlicher Seite all das disqualifizierte, was aus den medizinischen (Irr-)Lehrcn vergangener Zeiten in das volksme dizinische Wissen »abgesunken« war 31 . Sehr deutlich spiegelte sich diese Ausgrenzungsstratcgic in der offiziellen Kampagne gegen den »A dcrlaß«, der zu den beliebtesten Gcsundhcitsritua len im ganzen 18. Jahrhundert zählte32. Es gab bestimmte Jahreszeiten (Frühjahr, Herbst) und besondere Tage, an denen die Bader alle Hände voll zu tun hatten, um Blutegel und Schröpfköpfc anzusetzen. Mindestens zwei mal im Jahr ließ man zur A der, um sich von altem, verbrauchtem Blut zu reinigen33. Die günstigsten Termine entnahm man dem Kalender, dem in jedem Haushalt zu findenden »Licblingsbuch« der »gemeinen Leute«. Er enthielt gemeinhin spezielle Aderlaßtafcln, daneben auch Rezepte für Haus mittel, Wettervorhersagen, kleine Geschichten und A nweisungen für die Einnahme von A rzneien, Brcch- und A bführmitteln etc.34, Richtschnur aller dieser A ngaben war der Mond; nach seinem Stand bemaß man die alltäglichen Verrichtungen im agrarischen Lebensrhythmus. Die Zeit des Säcns und Erntens war ebenso vom Mondzyklus abhängig wie das Pflanzen von Heilkräutcrn oder das A bstillen der Kinder. A uch der weibliche Mo natszyklus galt als von den Mondphasen bestimmt, ebenso wie die Vorstel lungen über Fruchtbarkeit und Empfängnisfähigkeit. 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Solche an Magic und Zauberei grenzenden Versatzstücke volksmedizini scher Praktiken, diese »ungegründeten Überbleibsel des Heidenthums«35, paßten nun nicht mehr in das rationalistische Weltbild der Ärzte. Neben den Kalendern waren es die »gemeinen Volksbücher«, die das Mißfallen der Mediziner erregten: A lbertus Magnus' »Bewährte und approbirte sympa thetische und natürlich egyptische Geheimnisse für Menschen und Vieh«36, die »Entdeckten weiblichen Geheimnisse Alberti Magni« 37 und die »6. und 7. Bücher Mosis« 38 . Die eigentümliche Mischung von Kräuterheilkunde und Zaubersprüchen war besonders bei der Landbevölkerung, die diese Schriften aufJahrmärkten »in großer Menge« kaufte39, sehr beliebt, und alle Versuche der Aufklärer, den magisch-naturmystischen »Irrlehren« den Bo den zu entziehen, schlugen fehl. Noch im 20. Jahrhundert ist die ausgedehn te Verbreitung der »Hausbücher« dokumentiert40. Im Fall der Kalender verfiel die akademische Medizin auf den Gedanken, die schlechten Inhalte unter Beibehaltung der äußeren Form durch vernünf tige Gesundheitsratschläge zu ersetzen. Schon der Ulmer Stadt- und Land physikus Rau hatte 1764 vorgeschlagen, »stückweise von Jahr zu Jahr« anstelle der »läppischen Geschichten« »dienliche Vorschriften zur Diät und Erhaltung der Gesundheit« einzuschieben41. Die gleiche Überlegung stellte Rickmann an, der die Kalender zu einem »Mittel, landschädliche Irrthümer und Vorurtheile auszurotten und gemeinnützige Dinge auszubreiten«, um funktionieren wollte 42 . A ls die preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin es aber daraufhin wagte, einen Kalender ohne »astrologischen A ber glauben« auf den Markt zu bringen, erlebte sie eine eindeutige Niederlage: »Allein die Bauern kauften lieber gar keine Calender, und die Akademie sah sich also genöthigt den Vorurthcilcn des Volks nachzugeben und in dem nächsten Jahre wieder bunte Calender mit Purgierzeichen und Saugekannen zu liefern«43. Trotz dieses Mißerfolgs setzten die Ärzte ihre »Wühlarbeit« fort, und seit Beginn des 19. Jahrhunderts fanden auch »von oben« autori sierte Gesundheitslehren, beispielsweise »populäre Gespräche über die Rein lichkeit«44, Eingang in die beliebten Kalenderblätter, ohne allerdings die Figur des Adcrlaßmännlcins ganz verdrängen zu können45. Eine ähnliche Strategie der Vermengung volks- und schulmedizinischer Inhalte prägte auch die eigentliche Gesundheitsaufklärung, die seit der zwei ten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit staatlicher Unterstützung von Schulen, Pfarrern und Behörden auf der Basis populärmedizinischer Schriften betrie ben wurde. Schon der kurpfälzische Obcramtsphysikus Gottfried Samuel Bäumler hatte 1731 eine Reihe »gemeine aber doch auserlesene Haus-Mit tel« aufgeführt, die der unbemittelte Kranke, insbesondere »die von Medicis abgelegenen Land-Leute« benutzen konnten46. A uch Tissot empfahl in seiner weitverbreiteten »A nleitung an das Landvolk« einfache »Hülfsmit tel«, die überwiegend »aus dem Lande gezogen« waren47. Doch war die »Zunft« gerade in dieser Frage außerordentlich gespalten. Viele Ärzte lehn ten eine Selbstmedikation auf der Grundlage von Hausmitteln kategorisch 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
ab, da sie darin nur eine (diesmal autorisierte) Verlängerung der Pfuscherei sahen, gegen die sie erbittert kämpften. Lediglich ein »Verhütungswissen« wollte man anerkennen, d.h. die Bevölkerung sollte mit den Mitteln zur Verhinderung von Krankheiten bekannt gemacht werden. Sowie aber eine Störung des Gesundheitszustandes eintrat, sollte niemand als der A rzt als Heilungsexperte zuständig sein48. Diese rigorose Haltung setzte sich um die Jahrhundertwende immer mehr durch und fand durch die gesundheitsauf klärerischen Publikationen eine immense Verbreitung. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich der Gesundheitskatechismus des Bückeburger A rztes B. Ch, Faust. A uf A nregung der lippischen Fürstin verfaßte Faust als ihr Leibarzt einen Entwurf zu einem Gesundheitskatechis mus, der 1792 in Druck ging. Das Büchlein, das 1794 unter dem Titel »Gesundheits-Katechismus zum Gebrauch in den Schulen und beym häusli chen Unterricht« neu aufgelegt wurde, verkaufte sich binnen zwei Jahren 80000mal und wurde in vielen Schulen als Lehrbuch eingeführt49. So ver teilte beispielsweise die würzburgische Landesregierung an alle Lehrer ein Exemplar dieser A ufklärungsschrift und wies sie an, eine Schulstunde pro Woche für die Gesundheitserziehung zu verwenden. Indem die Kinder den »Katechismus« diktiert bekamen, wurde der Inhalt des Bändchens auch in die Familien hineingetragen. Diese A rt der Wissensdiffusion schien allge mein erfolgreich gewesen zu sein; so berichtete der Dresdener Stadtphysikus Röber, »daß der Bauer und sein Gesinde, oft lieber auf der Kinder Nacher zählungen der Lehren des Schulmeisters, als auf den besten Vortrag seines Predigers hört und die Schulbücher der Jugend allen anderen Büchern, zu seiner Unterhaltung und Belehrung vorzieht«50. Die A rgumentationsstruktur der Gesundheitsaufklärung läßt sich an Fausts Gesundheitskatechismus besonders gut nachzeichnen. Zunächst wird die Bedeutung der Gesundheit als Bedingung individuellen Wohlergehens herausgestellt und den Lesern die Gesundheitspflege als persönliche und religiös motivierte Pflicht aufgetragen. Nachdem die Ursachen der Krank heiten in einer »üblen Erziehung und Lebensart« lokalisiert worden sind, folgen eine Reihe von Erziehungsmaßregcln (lockere Kleidung, einfache Ernährung, Bewegung, Sauberkeit), die als Präventivmittel gegen Gesund heitsstörungen empfohlen werden und zugleich ein aktives und bewußtes Interesse am Körper und seinen Funktionen wecken sollen. Der zweite Teil handelt von den Krankheiten, und hier ist nichts mehr von Selbsttätigkeit und -Verantwortung zu spüren. Vielmehr liegt die Kontrolle und Behand lung der Kranken ausschließlich beim A rzt, der seine »schwere Kunst . . . ordentlich erlernet hat« und von der Obrigkeit die Erlaubnis zur Krankheits heilung bekommen hat. Vor Hausmitteln und Pfuschern wird eindringlich gewarnt, statt dessen soll bei jeder Erkrankung sofort ein A rzt konsultiert werden, dessen Verordnungen genau zu befolgen sind; auch »muß man von einem verständigen Arzte nicht zum andern laufen«51. Begründet wurde diese dominierende Stellung des A rztes mit seiner 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
wissenschaftlichen Qualifikation, die ihn dazu befähigte, Ursachen der Krankheit und Wirkungen der Medikamente in der kunstvollen A natomie des menschlichen Körpers zu entziffern. In diesen Fähigkeiten war er ausge bildet, geprüft und von der Obrigkeit zur Praxis zugelassen worden. Die Betonung der innigen Verbindung zwischen politischen Machtträgern und Medizinern sollte offenbar dazu dienen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Ärzte als Sachwalter der landesväterlichen Sorge für die Untertanen in medizinischen Dingen zu stärken. Der A rzt als rechter A rm des gütigen Fürsten oder Königs, als von der Obrigkeit eingesetzter und kontrollierter Wohltäter - dieses Bild suchten die Ärzte durch ihre gesundheitsaufkläreri sche Propaganda bei den »unaufgeklärten Massen« zu verbreiten. Welches Verhalten sie sich von ihren potentiellen Patienten wünschten, formulierte sehr einprägsam der Würzburger Medizinprofessor Senfft, der seinen bäuer lichen Gesprächspartner sagen ließ: »Ich glaube meinem Landarzt mehr, denn dem Bader. Jenen hat die Herrschaft gesetzt. Sie wird doch mein Bestes bedacht und mir einen ehrlichen und geschickten Mann vorgegeben haben.«52 Von dieser medizinischen Utopie war man Ende des 18. Jahrhunderts allerdings noch weit entfernt. Zum einen gab es nicht überall gelehrte Ärzte, an die sich die Bevölkerung im Krankheitsfall wenden konnte. A ndererseits erkannten Ärzte und Politiker mehr und mehr, daß es längst nicht ausreich te, ein A ngebot an qualifizierten Ärzten und Wundärzten bereitzustellen. Denn - so konnte man 1804 in der renommierten Hallenser A llgemeinen Literatur-Zeitung lesen: »Der ganze Bauernstand, die mchrsten Bewohner der Flecken und kleinen Städte, der große Haufe in sehr vielen größern Städten, die keine vorzüglichen A rmenanstalten haben, diese ungeheuren Menschenmassen . . . sehnen sich eben so wenig nach ordentlicher medicinischer Hülfe, als es bey der jetzigen Lage der Dinge möglich ist, sie ihnen zu leisten, es scy nun, weil es in Bezug auf die ganze Bevölkerung zu wenige Ärzte giebt, diese sich zu sehr in den großen Städten häufen und zu sehr den Reichen fröhnen, oder weil der gemeine Mann die Kosten des Arztes und der A rzneyen scheut oder nicht aufbringen kann, oder Mangel an Einsicht und Glauben hat, um zu folgen und auszudauern, wenn der wohlthatige Erfolg sich nicht, wie nur selten der Fall seyn kann, alsbald zeigt.«53
Folglich mußte man die Nachfrage nach ärztlichen Dienstleistungen erst noch schaffen, oder, wie es in einem Circular der würzburgischen Schul kommission von 1793 hieß, »Leute, welche der Ärzte und Wundärzte be dürftig sind, für ihre Heilung empfänglich« machen54. Gerade die A ufgabe der Gesundheitsaufklärung war es nun, diese »Empfänglichkeit« zu wecken. Ihr kam es darauf an, die »so schädliche Selbst-Cur und den Gebrauch der sogenannten Hausmittel zu vertilgen, und überhaupt die Unterthanen zu belehren, daß es nöthig scy, sich den Händen geschickter Ärzte und Wund ärzte in Krankheitsfällen anzuvertrauen«55. Ob der Hinweis auf die obrigkeitliche Legitimation der Mediziner dabei wirklich geeignet war, Mißtrauen und Verhaltensbarrieren abzubauen, mag 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
bezweifelt werden. Weitaus wichtiger dafür war zweifellos die Religion. Nicht von ungefähr griffen viele Aufklärungsschriften den Zusammenhang zwischen religiöser Pflichterfüllung und Gesundheitsverhalten schon im Titel auf, wie ζ. Β. Senffts »Gesundheitskatechismus für das Landvolk und den gemeinen Mann« oder auch Fausts Broschüre. Beide Autoren benutzten die Struktur des kirchlichen Unterrichts, den Dialog: bei Senfft stand dem gelehrten Arzt der unmündige Bauer gegenüber, bei Faust fragte der Lehrer, und die Schüler antworteten. In jedem Fall erhielten die A ussagen durch diese religiöse Form einen besonderen Stellenwert: ebenso wie die kirchli chen Lehren wurden die gesundheitsaufklärerischen A nweisungen als un umstößliche und mit einer »höheren Weihe« versehene Wahrheiten darge boten, die einen uneingeschränkten Glauben und eine kompromißlose Um setzung beanspruchten. Diese »Katechisation der Gesundheit«56 sollte offensichtlich der gerade in den sozialen Unterschichten weit verbreiteten fatalistischen Einstellung zur Krankheit entgegenwirken. Danach deutete man jede Störung der Gesund heit als unabänderliches Schicksal, das von Gott gesandt wurde und vom Menschen nicht verändert werden konnte. Wenn es der Wille des Schöpfers war, so starb man eben - daran konnten auch Medikamente und Kuren nichts ändern. Wollte es die Bestimmung jedoch, daß die Krankheit nicht mit dem Tod endete, »so sey man um so mehr berechtiget, den Ausgang der Natur zu überlassen«57. Diese »Krankheits-Theologie«58 war eng verknüpft mit einer bildhaften Vorstellung von Krankheit als einem äußeren, hinzuge kommenen Wesen, das nur durch übernatürliche Kräfte (Besprechen, Ent zaubern, Suggestion) gebannt werden konnte59. Gegen eine solche, im volksmedizinischen Brauchtum sehr lebendige A uffassung setzte Fausts Gesundheitskatechismus den eindeutigen, in der göttlichen Schöpfungslo gik enthaltenen Auftrag, sich aktiv, vorbeugend und mit gänzlich weltlichen Hilfsmitteln um die Pflege der eigenen Gesundheit und die Verlängerung des Lebens zu bemühen60. Die Religion und die Geistlichkeit hatten somit eine Vorrciterposition in der Kampagne für ein rationales, von Ärzten kontrollierbares Gesundheits vcrhalten innc. Sie wurden zu Legitimationsinstanzen der Medikalisierung und zu den heftigsten Widersachern der laienmedizinischen Subkultur. Die traditionell mit Magie und Geisterbeschwörung verknüpfte Naturmystik, die manchen volksmedizinischen Praktiken zugrunde lag, war auch vielen Pfarrern suspekt, da sie darin - nicht zu Unrecht - ein heidnisches Relikt, einen unkirchlichen A berglauben vermuteten. Deshalb griffen sie die Anre gung der Ärzte, sich intensiver um die medizinische Aufklärung ihrer Pfarr kinder zu kümmern, bereitwillig auf61. Viele der populärmedizinischen Schriften waren vor allem für die Landgeistlichen geschrieben worden, die die darin enthaltenen Lebensregeln an die Bauern weitervermitteln sollten. Außerdem gab es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an vielen Universitä ten speziell für Theologen gedachte medizinische Vorlesungen62, in denen 55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
die zukünftigen Pfarrer mit den Grundlagen von Diätetik und Hygiene vertraut gemacht wurden. Im allgemeinen sollte sich ihre medizinische Praxis lediglich auf die Ein übung eines gesundheitsbewußten Verhaltens in der Bevölkerung beschrän ken; nur bei einfachen oder sehr dringenden Erkrankungen durften sie selbst kurieren. Die Vertrautheit des Pfarrers mit den Sorgen und Gewohnheiten der Dorfbewohner und seine religiöse A utorität schienen den Gesundheits aufklärern die Gewähr dafür zu bieten, daß die Menschen ihn als Heilkundi gen akzeptieren und den weltlichen Pfuschern langfristig vorziehen wür den63. Gleichzeitig ebnete der Pfarrer dem Arzt den Weg zu den ihm bislang verschlossenen Türen der Kranken, denn natürlich mußte der Geistliche in schwierigeren Fällen »auf die Herbeirufung des A rztes dringen« und ihm sodann »zum Berichterstatten, so wie zur Ausführung seiner Befehle behülf lich seyn« 64 . In dieser Lesart erschien der Pfarrer geradezu als ein berufener Stellvertreter des Arztes; von ihm ging keine Gefahr für das Berufsmonopol der gelehrten Mediziner aus, da er die gesundheitserzieherische Praxis ja nur als Nebentätigkeit ausübte und die höhere A utorität des A rztes neidlos anerkannte. Damit eignete er sich vorzüglich für einen Zweck, den Hufe land so formulierte: »Das große Problem bleibt immer dies: für das Landvolk, in den ihm gewöhnlichen Krank heitsfällen eine hinlängliche Anzahl von höherer Aufsicht untergeordneten Helfern zu schaffen, welche die dazu nothige Geschicklichkeit besitzen, ohne auf größere Vortheilc oder wissen schaftliche Selbständigkeit Anspruch zu machen, und ohne dadurch Gefahr zu laufen, eine neue Klasse von Pfuschern zu bilden, die um so gefährlicher seyn würden, da sie vom Staate legalisirt wären.«65
Mit diesem Problem hatten sich alle Teilnehmer des medizinischen Dis kurses in ihren schriftlichen Äußerungen auseinandergesetzt. Man war sich darin einig, daß das »platte Land« fest in der Hand unautorisierter Pfuscher war, die als »Pest in der bürgerlichen Gesellschaft«66 für das große Sterben hauptverantwortlich waren. Eine unendliche Vielfalt trieb da ihr Unwesen: »gewöhnliche Zunftchirurgen; concessionirtc Bader; Empiriker in der Thierarzneikunde, wofür sich Nachrichter, Hirten und Schäfer auszugeben pflegen; A rzneifabrikanten und ihre Unterhändler, A rzneiträger, Olitenkrämer, Wurmsamenhändler; Noth- oder eigentlich Win kel-Apotheker; Leute, die mit Schönheitsmitteln handeln - A rcana feilbieten und ausgeben; festsitzende und herumziehende Operateurs, als Staarstecher, Bruch- und Steinschneider, Zahnbrechcr, Hühneraugenschneider; Laien, welche Kuhpocken impfen, oder Buckel, krum me Glieder und Klumpfüße heilen zu können vorgeben; so wie endlich alle Experimentenma cher, welche die Electricität, das galvanische Fluidum und den Magnetismus bei Kranken anwenden, durch Sympathie, Berührung mit der Hand zu heilen sich einbilden u. dgl. «67.
Diese wahrscheinlich noch unvollständige Liste von Pfuschern und Quacksalbern sollte dem Wunsch der Ärzte entsprechend auf den staatlichen Index gesetzt werden - was aber trat an ihre Stelle? A uf diese brennende Frage gab jeder Mediziner eine andere Antwort: während der Ulmer Stadt physikus Rau die Kriminalisierung der Quacksalber forderte und die »Bür56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gcr und Unterthanen« anwies, sich »lediglich, in gesunden und kranken Tagen an die ordentlich bestellten Ärzte, A potheker und Wundärzte zu halten«68, erkannte der Jenaer Medizinprofessor Rickmann ein paar Jahre später, daß neben das polizeiliche Verbot der »menschenfressenden Charla tanerie« ein positiver Ersatz treten müßte. Deshalb befürwortete er eine staatliche Besoldung der Ärzte, um auf diese Weise ihre Präsenz auch auf dem Lande sicherstellen zu können69. Einen noch weitergehenden Vor schlag machte um die Jahrhundertwende der Hallenser Mediziner Johann Christian Reil: »Für den gemeinen Haufen« sollten spezielle »Heilkünstler« geschaffen werden, die in staatlichen Bildungsanstaltcn, sog. Pepinieren, ein medizinisches Grundwissen erwerben und dann auf dem Lande und in den Städten für die medizinische Versorgung der mittellosen Schichten einge setzt werden sollten. In ihrer Praxis würden die Funktionen des A rztes, Chirurgen und Wundarztes zusammenfallen und die unselige und kostspie lige Trennung der »medicinischen Gerätschaften« aufgehoben sein. Ihre soziale Herkunft (sie mußten lediglich lesen und schreiben können, um zum Unterricht zugelassen zu werden) ermöglichte einen direkten Kontakt mit der Bevölkerung: »Der Routinier sey endlich in seinem Äußeren, kurz in der Manier der Mittheilung, dem gemeinen Haufen in der Art verwandt, daß er ihn als zu seiner Zunft gehörig ansehe.«70 A uf diese Weise gelänge es ihm eher als dem gelehrten A rzt, »den Pfuscher zu verdrängen« und die Kluft zwischen offizieller Medizin und ihren potentiellen Patienten zu über brücken. Reil erntete mit diesen Überlegungen von seinen Ärztekollegen haupt sächlich Kritik, Man warf ihm vor allem vor, eine neue Klasse medizinischer Pfuscher heranzubilden, diesmal mit staatlicher Legitimation, die zu den approbierten Ärzten in Konkurrenz treten würden. Nur unter der Voraus setzung, daß die »Routiniers« einer strikten A ufsicht durch die Mediziner und ärztlichen Kollegen unterworfen würden, sei überhaupt an eine solche Maßnahme zu denken71. Insbesondere Hufcland, dem Reil seine Schrift gewidmet hatte, stand seinen Vorschlägen sehr ablehnend gegenüber. A ls Leibarzt der königlichen Familie und Direktor des Medizinisch-Chirurgi schen Kollegiums hatte er auf die Organisation des Gesundheitswesens im preußischen Staat den größten Einfluß, den er vorwiegend dazu nutzte, die Professionalisierung der Ärzte über ihre wissenschaftliche Qualifizierung und Kompetenzausweitung voranzutreiben. Eine staatlich geförderte und eigenständig praktizierende Schar von medizinischen Hilfstruppen, die völ lig abgekoppelt von den gelehrten Ärzten ihr Unwesen trieben und die Masse der Bevölkerung mit medizinischem Halbwissen versorgten, er schien den Professionalisierungspolitikern als eine zu große und vor allem unkalkulierbare Gefahr72. Andererseits mußte in der Tat etwas geschehen, um das »platte Land« als »désert médical«73 der ärztlichen Kontrolle zu erschließen. Promovierte Ärzte konzentrierten sich ausschließlich in den Städten, wo sie einen wohl57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
habenden und ihren Lehrmeinungen relativ aufgeschlossenen Patientenkreis erwarten durften. Doch waren es offensichtlich nicht nur finanzielle Grün de, die für den Mangel an Ärzten in ländlichen Regionen verantwortlich waren. Hinzu trat eine eigentümliche Berührungsangst der Ärzte, die den allzu engen Kontakt mit Menschen »niederen Standes« scheuten. Eine Mi schung aus Furcht und Überheblichkeit charakterisierte das Verhalten der Praktiker gegenüber den sozialen Unterschichten74: Furcht vor dem »wil den Denken«, dem Rohen, Ungezähmten und Unkultivierten, das das Naturell der »gemeinen Leute« prägte, und zugleich das Bewußtsein der eigenen Überlegenheit, die auf der aufgeklärten Bildung als Universitätsab solventen beruhte. Jene häufig beschriebenen Ärzte, »denen bey der unver meidlichen A nnäherung eines Geringen angst und bange ist, von den Sitten und der Sprache, ach! der abscheulichen Sprache des Pöbels angesteckt zu werden, so daß man es ihnen in den erhabenen Kreisen, worin sie sich wälzen, anhören könnte, daß sie sich in ihrem Beruf encanaillirt hätten«75, scheinen keine Ausnahme gewesen zu sein. Auch in diesem Beruf befand der soziale Status der Klientel über Prestige und gesellschaftliche A nerkennung, so daß der Leibarzt der königlichen Familie im öffentlichen A nsehen unend lich viel höher stand als sein Kollege, dem die Betreuung der städtischen Armen übertragen worden war. Der A ppell an die Ärzte, nicht mehr nur »medicinischer Prälat, sondern Apostel« zu sein76, und nicht nur im Hoch parterre, sondern auch in Dachstuben und Kellern nach Patienten zu suchen, entsprach daher sicher nicht dem Wunschdenken des durchschnittlichen Medicus. Berühmte Ärzte wie Heim oder Hufeland in Berlin konnten es sich schon wieder erlauben, A rmenpraxis zu betreiben und damit ihr soziales Verantwortungsbcwußtsein unter Beweis zu stellen; für die Masse ihrer Kollegen aber, deren sozialer Status und ökonomisches Fundament ohnehin ziemlich labil waren, bedeutete die A nnahme einer Landarztpraxis den endgültigen A bschied vom bürgerlichen A ufstiegsdenken. An diesem Punkt offenbarte sich ein strukturelles Dilemma, das im medi zinischen Diskurs um Gesundheitsaufklärung und Medikalisierung nur un vollkommen gelöst wurde. Einerseits propagierten die Ärzte eine allgemei ne, moralisch und politisch begründete Pflicht zur Gesundheitserhaltung für alle Menschen und in besonderem Maße sogar für diejenigen, deren körper liche Unversehrtheit die Grundbedingung ihrer ökonomischen Existenz war. A ndererseits waren gerade die »produktiven Stände«, von deren A r beitskraft und Militärtauglichkeit der Wohlstand der Gesellschaft wie auch die Macht des Staates abhingen, am allerwenigsten in der Lage, die empfoh lenen Präventivmaßnahmen durchzuführen. Ihre Lebens- und A rbeitsbe dingungen ließen es nicht zu, täglich auszureiten, wie es Hufeland seinen Lesern als Ausgleichssport nahelegte. A uch der Rat, »große Erhitzung und Erkältung, oder schnellen Übergang von einem ins andre«77 zu vermeiden, war für die Beschäftigten in Gerbereien oder im Eisengewerbe in den Wind gesprochen. »Wozu kann es helfen, den Postknecht für Nässe, und den 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Armen für Völlercy zu warnen?« fragte Reil seine auf eine universale Diäte tik schwörenden Kollegen, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen78. Die große Mehrzahl ärztlicher A utoren begnügte sich damit, ein Pro gramm des guten und gesunden Lebens aufzustellen; ob es auch den Bedürf nissen und Möglichkeiten der A dressaten entsprach, kümmerte sie dabei wenig. Obgleich sie die soziale, ökonomische und politische Notwendig keit, auch für die Gesundheit der »gemeinen Leute« Sorge zu tragen, sehr deutlich erkannten, reichten doch weder ihre Phantasie noch ihre sozialen Erfahrungen hin, praktikable Vorstellungen zur Medikalisierung der Unter schichten zu entwickeln. Zu groß waren die Distanz und die Unkenntnis der konkreten Lebensumstände dieser Menschen, zu stark auch das Befremden und die A bneigung, unmittelbar Kontakt mit dem noch nicht zivilisierten Teil der Gesellschaft aufzunehmen. Die Furcht vor sozialer Deklassierung und die Angst vor den unbekannten und unberechenbaren Patienten gingen Hand in Hand. Nur aus sicherer Entfernung, in Büchern, Kalendern und Zeitschriften, wagte man, das »Volk«, diese »unterste, ungebildete Klasse darunter, den Bürger und den Landmann«79 über seine Gesundheit und die Mittel ihrer Erhaltung aufzuklären. Mit viel mehr Energie widmete man sich der Erziehung der »gebildeten Klasse des Volks«80, bei der man auf eine gewisse Bereitschaft zur A nnahme der ärztlichen Verhaltensempfehlungen rechnen konnte. A ußerdem gewann man hier Patienten, die den Experten dienst auch bezahlen konnten. Die große Bewegung der medizinischen Volksaufklärung war folglich in ihrer tatsächlichen Praxis höchst gespalten und inkonsequent. Während die Programmatik darauf abzielte, allen Bevölkerungsschichten zu einem besse ren und gesünderen Leben unter dem Beistand und der Kontrolle ärztlicher Ratgeber zu verhelfen, beschränkte sich die Umsetzung dieser Pläne ledig lich auf jene sozialen Gruppierungen, die für ein solches Programm bereits empfänglich waren und es auch finanzieren konnten. Den Rest überließ man wohlmeinenden Lehrern, Pfarrern oder Gutsherrn, die im Rahmen ihrer patriarchalischen Fürsorgepflicht auf eine allmähliche Gcsundheitscrzic hung der unaufgeklärten Landlcute hinwirken sollten. Erst als im Vormärz die Problematik der verarmenden und aus der ständischen Gesellschafts struktur herausfallenden ländlichen und städtischen Unterschichten als so ziale und politische Bedrohung wahrgenommen wurde, gingen auch die Ärzte planvoller und motivierter an die praktische Medikalisierung des »großen Haufens« heran und verzichteten auf eine weitere Delegation dieser Aufgabe.
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2. »Medizinische Polizei« und öffentliches Gesundheitswesen Deutlicher noch als auf der Ebene der aufklärerisch-pädagogischen Gesund heitspropaganda waren ärztliche und staatliche Interessen in der eigentlichen Gesundheitspolitik miteinander verwoben. Ärzte wirkten bei der Formulie rung und Durchsetzung staatlicher Interventionen in den Bereich von Krankheitsprävention und -heilung mit; sie waren die »Fachkundigen«, die den Staat auf die Wahrnehmung notwendiger Aufgaben aufmerksam mach ten, und übernahmen in ihrer Funktion als staatliche bzw. kommunale Beamte zugleich die A usführung der regicrungsamtlichen Direktiven81. Der »ärztliche Blick« war also gleichermaßen Voraussetzung und Konse quenz staatlicher Problembearbeitung. Das heißt nun nicht, daß all das, was die Mediziner als gesundheitspolitisches Problem orteten, auch vom poli tisch-administrativen System als solches anerkannt wurde. Nur allzuoft überstiegen die Forderungen der Ärzte die finanziellen und politischen Mög lichkeiten des Staates, und im allgemeinen wußte die Regierung sehr wohl zwischen den »eigennützigen« Professionalisicrungsbestrebungen der Ärzte und den »gemeinnützigen« Bedürfnissen des öffentlichen Gesundheitswe sens zu unterscheiden. Nicht in jedem Fall waren die Interessen des aufgeklärt-absolutistischen Staates mit denen seiner medizinischen Experten deckungsgleich, was sich in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, pragmatischen Kompromis sen und zeitweise gegensätzlichen Medikalisierungsstrategien äußerte. Dif ferenzen zeigten sich vor allem dort, wo es um die konkrete Organisation staatlicher Medizinalpolitik und die Kompetenzen der einzelnen Heilberufe ging. Wenngleich alle Medizinalordnungen und -edikte der preußischen Regierung die Dominanz wissenschaftlich qualifizierter Ärzte über ihre handwerklich ausgebildeten Kollegen (Barbierchirurgen, Bader, A pothe ker, Hebammen etc.) bestätigten und festschrieben82, verschloß sich die Obrigkeit doch allen weitergehenden Initiativen der gelehrten Medikcr. die auf eine Stärkung ihrer professionellen Hegemonie hinauswollten. Besonders deutlich traten die divergenten Standpunkte in der Frage der »Pfuscher« zutage. Zwar bekannte sich auch der Staat unumwunden dazu, diejenigen Personen, die ohne seine formale Erlaubnis Kranke gegen Bezah lung behandelten und Medikamente verkauften, strafrechtlich zu verfolgen. Alle gesundheitspolitischen Instruktionen des 18. und frühen 19. Jahrhun derts begannen mit der Feststellung, daß man den »Medizinalpfuschcrey cn . . . Einhalt zu gebieten« hätte83. Im Unterschied zu den Ärztenjedoch, die auf die rigorose Bekämpfung und Ausschaltung ihrer unliebsamen Kon kurrenten drängten, definierte das politisch-administrative System den Be griff des Pfuschers wesentlich laxer. So gewährte beispielsweise die Königli che Generalmcdizinalordnung für das Herzogtum Schlesien von 1744 den Scharfrichtern das Recht, Beinbrüche zu heilen84, und zwei Jahre später modifizierte der preußische König - trotz empörter Proteste der Wundärzte 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
- diese Bestimmung dahingehend, daß die in der menschlichen A natomie berufsmäßig bewanderten Henker nach bestandener Zusatzprüfung bei der obersten Medizinalbehörde »gewisse äußere Schaden« kurieren durften85. Auch »Hühncraugcnoperateure« oder Besitzer von Wasser-Heilanstalten ohne medizinische Qualifikation erhielten staatliche Konzessionen zur Aus übung ihres Gewerbes86. Zudem stellte das Allgemeine Landrecht nur jene unautorisierten Heilhandlungen unter Strafe, die als »Gewerbe mit Gewinn sucht« betrieben wurden 87 . Damit waren unentgeltliche medizinische Hilfs leistungen, beispielsweise im Familien- und Nachbarschaftsverband, prinzi piell erlaubt und straffrei. Wenn sich, wie es häufig geschah, die »autorisier ten« Heilpersonen darüber beklagten, daß »Unbefugte« in ihren Kompe tenzbereich eindrangen, reagierte die Regierung äußerst zurückhaltend. A uf die Beschwerde einer Hebamme, die den Schutz des Staates gegen »gewerb liche Beeinträchtigungen« anforderte, teilte ihr der preußische Innenmini ster lakonisch mit, daß, »wenn keine Fälle vorliegen, in denen gegen bare Bezahlung und mithin gewerbsweise bei Entbindungen von Hebammen Hilfe geleistet worden, auch eine Veranlassung zum obrigkeitlichen Ein schreiten nicht vorhanden wäre« 88 . Im allgemeinen scheinen auch die Sanktionen, die von Regierungsseite gegen erwiesene Fälle gewerblicher Pfuscherei ausgesprochen wurden, von den unteren Polizei- und Verwaltungsbehörden nicht ernsthaft umgesetzt worden zu sein. Häufig gehörten die von A mts wegen zur Verfolgung der Quacksalber verpflichteten Staatsdiener zu den Patienten der illegalen Hei ler, wie jene Landrätc, die zum Jäger Droge gingen, »wenn sie einen Kno chenbruch, eine Luxation und dergleichen haben«89. In der Theorie zogen Mediziner und Bürokratie an einem Strang, praktisch jedoch wurden die »Volkshcükundigcn« lokal geduldet und zuweilen selbst von der Obrigkeit mit Berufskonzessionen versehen90. Die enorme Konkurrenzfurcht der pro movierten Ärzte, die auf ihr »gegründets Recht« pochten, »auf eine nach drücklichere Beschützung ihrer Privilegien zu dringen«91, wurde auf Regie rungsebene mit eher ambivalenten Gefühlen beobachtet. Einerseits hatte der Staat im Rahmen seiner administrativen Rationalisic rungsabsichten unleugbar ein starkes Interesse daran, all das, was sich auf der Ebene gesellschaftlichen Verhaltens und Organisation bewegte, zu zählen, zu erfassen und in politische Verfahren einzubinden. Diese Tendenz trat in dem Bemühen um eine genaue Bevölkerungsstatistik ebenso zutage wie in den Straf- und Kontrollbestimmungen zur Verhütung von Kindsmord, die seit 1765 durch schärfere Kontrolle und »A ufsicht« eine »Verheimlichung der Schwangerschaft und Niederkunft« verhindern sollten92. Gerade im Bereich der Bevölkerungspolitik lassen sich eine Unmenge gesetzlicher Vorschriften aufzählen, die zwar kaum je durchsetzbar waren, aber in ihren Absichten das staatliche Interesse an einer möglichst vollständigen admini strativen Durchdringung der Gesellschaft dokumentierten. Man wollte kei ne weißen Flecken mehr, kein von der politischen Gewalt unberührtes 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Terrain, das es in einer dezentralisierten, ständischen Ordnung noch hatte geben können. Doch akzeptierte der Staat des aufgeklärten A bsolutismus durchaus auch Grenzen - sein Gewaltmonopol war nicht beliebig anwendbar, sondern orientierte sich an politischen Optionen, die Wissen und Kontrolle zumeist höher einschätzten als direkte Unterwerfung und Machtübernahme. Gerade in der Gesundheitspolitik kam es den Regierungsbehörden offenbar mehr darauf an, einen Einblick in die Gewohnheiten, Verhaltensmuster und Men talitäten der Bevölkerung zu gewinnen und »weiche« Steuerungsmethoden zu entwickeln, als daß sie durch rigide Eingriffe jene medizinische Volkskul tur zerstören wollten, die den Ärzten so gefährlich schien. In gewisser Weise war das politisch-administrative System des späten 18. und frühen 19. Jahr hunderts demnach »liberaler« als die den Freiheitsraum des Individuums betonenden bürgerlichen Ärzte. Während die aufgeklärten Mediziner das Volk notfalls mit Gewalt aus seiner medizinischen Unmündigkeit heraus fuhren wollten, verfolgte der monarchisch-bürokratische Obrigkeitsstaat eine eher gemäßigte und abwartende Strategie und verhielt sich letztlich weniger »bevormundend« als die ärztlichen Verfechter einer autoritären und »von oben« durchzusetzenden Medikalisierung. Diese Zurückhaltung resultierte zum einen aus den begrenzten Steue rungsmöglichkeiten der königlichen Verwaltung, die gerade auf der lokalen Ebene - trotz der in Preußen besonders weit fortgeschrittenen Verstaatli chungstendenzen - an nur schwer zu überwindende ständisch-traditionalc Barrieren stieß93. Schon bei den Landräten, die sich den Interessen der Rcgionalstände häufig mehr verpflichtet wußten als denen der absolutisti schen Zcntralgewalt, liefen viele Berliner Initiativen ins Leere, wurden entweder gar nicht oder nur schleppend umgesetzt. A ber auch die chroni sche Knappheit der öffentlichen Finanzen sprach gegen eine konsequente Mcdikalisierungspolitik, Schließlich war es nicht zuletzt eine Kostenfragc, ob man der ländlichen Bevölkerung und den städtischen Unterschichten die Leistungen akademischer Ärzte zugänglich machte und ihnen ihr paramedi zinisches Versorgungsnetz entzog. Staatlich angestellte und besoldete Ärzte - und nur solche hätten auf dem Land überleben können - waren teuer, teurer jedenfalls als die eingesessenen Laicnheilcr, die dem Bedürfnis nach Hilfe auch ohne staatliche Subventionen nachkamen. Andererseits teilte der Staat die Auffassung seiner medizinischen Exper ten, daß es vor allem die nicht kontrollierte Heilpraxis war, die für die »Entvölkerung« des Landes, die hohe Säuglingssterblichkeit und Epidemic mortalität verantwortlich war, nur bedingt. Die vorgebliche Überlegenheit der »gelehrten« Medizin gegenüber der Laienheilkunde vermochte er nicht in jedem Fall anzuerkennen. A ls die Berliner Wundärzte sich wegen der Konzessionierung von Scharfrichtern zur äußeren Praxis 1744 beim preußi schen König beschwerten, antwortete ihnen Friedrich L: 62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
»Wann die Chirurgi so habil seind, als sie sich in ermeldeten ihrer Vorstellung gerühmet haben, jedermann sich ihnen Heber anvertrauen, als bei einem Scharfrichter in die Kur gehen wird: wohingegen aber, wenn unter den Chirurgen Ignoranten seind, das Publikum darunter nicht leiden kann, sondern jene sich gefallen lassen müssen, daß sich jemand lieber durch einen Scharfrichter kuriren und helfen lasse, als ihnen zu gefallen lahm und ein Krüppel bleibe. Und also sollen sich die Chirurgi nur erst alle recht geschickt machen und habilitiren, so werden die Kuren derer Scharfrichter von selbsten und ohne Verbot aufhören. «94
Ähnlich skeptische Urteile mußten sich auch die Ärzte gefallen lassen. Angesichts der vielen, zum Teil in bitterer Fehde miteinander liegenden Schulmeinungen, die gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in rascher Folge aufeinandertrafen, war es zweifellos keine leichte A ufgabe, den Anspruch der Medizin(er) auf eine wissenschaftlich abgesicherte Theo riebildung nachzuvollziehen. Jener fiktive »Staatsmann«, dem ein ärztlicher Autor eine Menge (Vor-)Urteile über das Niveau der damaligen A rznei kunst in den Mund legte, war sicherlich keine darstellerische Erfindung, sondern ein offenbar wohlbekannter Gegenspieler der medizinischen »Mo nopolisten«. In seiner zweifelnden Frage an die Ärzte: »Könnt ihr denn wohl uns, oder auch euch selbst Rechenschaft ablegen, worein ihr den unentbehr lich großen Nutzen Eurer Wirksamkeit seht?«95 spiegelte sich das tiefsitzen de Mißtrauen, das auch die A dministratoren des absolutistischen Systems den Hegemonialinteressen des ärztlichen Berufsstandes entgegenbrachten. Schließlich bediente man sich der im A ufklärungsdiskurs entwickelten These von der größeren Krankheitsresistenz der Landbevölkerung, um die Klassengebundenheit der ärztlichen Versorgung regierungsamtlich zu rechtfertigen. 1838 behauptete der preußische Obermcdizinalrat Rust, daß die spezifische Lebensart der Städter (damit meinte er die Reichen) ganz andere und ungleich komplexere Krankheiten hervorriefe, als man es auf dem Lande beobachten könnte: »Das ganze Heer chronischer und acuter Krankheiten, welche durch eine sitzende Lebens weise, durch geistige Anregung, die verfeinerte Kochkunst, die wechselnde Kleidertracht und den städtischen Luxus überhaupt herbeigeführt werden, sind nur seltene Erscheinungen . , . auf dem Lande. Eine gleichartigere Lebensweise, die Gleichheit der Beschäftigung, zum Theil selbst des Lebensalters, begründen auch ein gleichförmigeres A uftreten der Krankheiten und schützen vor den unendlichen Complicationcn. «96
Rust begründete auf diese Weise die seit 1825 staatlich sanktionierte Praxis, spezielle Landärzte (die sog. Wundärzte I. Klasse) auszubilden, de nen ausschließlich die medizinische Versorgung der ländlichen Bevölkerung oblag. Im Prinzip hatte der Staat damit nur ein Verfahren legalisiert, das sich schon lange - hinter dem Rücken der offiziellen Bestimmungen über Kom petenzgrenzen - durchgesetzt hatte. Während die preußischen Medizinal edikte 1685 und 1725 nur den promovierten Ärzten die Behandlung innerer Krankheiten erlaubt hatten, war es auf dem Lande bzw. in den kleinen Städten, in denen keine Ärzte ansässig waren, durchaus üblich, daß die Wundärzte (Barbierchirurgen) »weit über ihre Sphäre gehen«97. Sic konnten 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sich dabei auf einen kleinen Passus der Medizinal ordnung von 1725 berufen, der »denen zur Praxi medica tüchtig befundenen Chirurgis oder A pothe kern« die Erlaubnis erteilte, »auf denen kleinen Städten oder Flecken, wo selbst kein Medicus wohnen und subsistiren kann, . . . die vorfallenden Krankheiten zu curiren«98. 1773 erneuerte das Obcrcollegium Medicum als oberste Medizinalbchörde des preußischen Staates diese längst zur Regel gewordene A usnahmebestimmung, und 1785 gab die gleiche Behörde ein Unterrichtswerk heraus, das die »Wundärzte auf dem platten Lande« dar über informierte, »wie solche bei der Cur der innerlichen Krankheiten unter den Menschen verfahren sollen«99. Während die ärztlichen »Standespolitiker« das Problem der ländlichen Unterversorgung dadurch in den Griff bekommen wollten, daß sie langfri stig die Zahl der Ärzte zu vermehren und sie in staatlich besoldeten Stellen unterzubringen gedachten, ging der Staat den finanziellen Mehrbelastungen solcher Maßnahmen erst einmal aus dem Wege und suchte nach billigeren Ersatzmedikern, die den einfacheren Bedürfnissen der »gemeinen Leute« ebensogut genügten wie die ökonomisch und sozial anspruchsvolleren Ärz te. Neben den Wundärzten kamen dafür vor allem die Landgeistlichen in Betracht, die ohnehin durch ihre seelsorgcrische Tätigkeit einen guten Ein blick in das Krankhcitsvcrhalten ihrer Gemcindcmitgliedcr gewannen. So verfugte beispielsweise die »churfürstliche Württembergischc Instruction für die evangelischen Geistlichen« aus dem Jahre 1804: »Zur Erhaltung der Gesundheit ist es des Seelsorgers Pflicht, bewährte Entdeckungen allgemeiner zu machen, um Familienleiden zu entfernen, und dies um so mehr, wenn sie wie z.B. die Empfehlung der Kuhpocken-Impfung von Seiten des Staats ihm zur besonderen Obliegenheit gemacht werden. A uf diesem Wege wird er Gelegenheit haben, religiösen A ber glauben aller Art zu verbannen, die Hülfe der ärztlichen Kunst zu befördern und die dem Leben so wohl als dem Wohlstände schädlichen Medikaster und Wunderthäter zu entfernen.«10°
Daneben wandte sich der Staat aber auch auf direktem Wege an seine ländlichen Untertanen und gab ihnen Ratschläge, wie sie ohne medizinische Hilfe ihre Gesundheit erhalten und Krankheiten heilen konnten, im Jahre 1769 publizierte das preußische Obcrcollegium Medicum »auf Königl. Be fehl« eine A nleitung, »wie der Landmann und diejenigen, welche keinen Arzt erlangen können, sich bei der Pockenkrankheit zu verhalten haben«101. Darin wurde zunächst über die Erscheinungsformen der Krankheit infor miert, bevor Bchandlungsregcln (Isolierung der Kranken, Lüftung und Reinigung der Räume, Ernährungshinweise) und Rezepturen für einfache Hausmittel (A ugen- und Gurgelwasser, A bführmittel) folgten. Erst bei tödlichen A nzeichen sollte sich der »Landmann« an die Obrigkeit wenden und alsdann von den Stadt- und Kreisphysici mit A rzneimitteln versorgt werden. 1772 erließ die gleiche Behörde ein Publikandum, das A uskunft darüber gab, »auf was A rt der Landmann bei gegenwärtig sich äussernden hitzigen Fiebern in Ermangelung eines geschickten und erfahrenen Medici sich selbst behandeln könne« 102 , und fast dreißig Jahre danach wurde der 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
»Landmann« darüber belehrt, wie er sich »beim Scharlachfieber zu verhalten habe« 103 . Wieder dreißig Jahre später tauchten in den A mtsblättern der preußischen Bezirksregierungen Bekanntmachungen über die Behandlung des Wechselfiebers auf, die sich vorzugsweise an die »Landleute« und die »zu der arbeitenden Klasse Gehörenden« richteten104. Darin warnte man ein dringlich vor bestimmten und offenbar weitverbreiteten Hausmitteln, vor allem aber vor den »so häufig von Quacksalbern ausgegebenen, die Gesund heit oft gänzlich zerstörenden, ja den Tod selbst veranlassenden Geheimmit teln«, die man des weiteren durch die Empfehlung unschädlicher, billig herzustellender und »übrigens längst bekannter Hausmittel« zu verdrängen suchte. Diese Ratschläge erschienen auf den ersten Blick völlig absurd - der »aufgeklärte« Leser würde vermuten, daß sie eher aus dem A rsenal eines fahrenden Geheimmittelkrämers stammten als aus der Feder »rationaler« Medizinalpolitiker. A us den leider nicht in ihrem ganzen Umfang mitteilba ren Rezepten sei hier ein besonders obskures herausgegriffen: die als »wirk sam« empfohlenen Spinnweben. »Man sammelt dieselben in hinreichender Menge, reinigt sie durch A usklopfen von allem Staube und Schmutz, zer schneidet sie aufs Feinste, und vermischt ein halbes Quentchen derselben mit anderthalb Loth frischer Butter, welche man auf eine dünne Scheibe Schwarzbrod schmiert, diese zusammenklappt, eine Stunde vor dem zu erwartenden Fieberanfall langsam kauend verzehrt und sich damit zu Bette legt.« 105 Es ist kaum anzunehmen, daß Spinnweben, Butter und Schwarzbrot das zuweilen lebensgefährliche Wechselfieber wirklich heilen konnten, aber schädlich waren sie gewiß nicht. Und hier mag auch der tiefere Grund verborgen liegen, der diesem Skurrilitäten-Kabinett seine eigentliche Funk tion gab: die Medizinalpolitikcr hatten akzeptieren müssen, daß der landläu fige Glaube an der Natur entnommene und gleichsam mystische Heilwir kung versprechende Mittel nicht durch rigide Verbote, Strafandrohungen oder polizeiliche Kontrollen zu erschüttern war. Indem man die traditionel len Heilmethoden gelten ließ und sie nur partiell abwandelte, hoffte man, einen informellen, vertrauensbildenden Einfluß ausüben zu können und auf »sanftem Wege«, d'. h. unter Einbeziehung überlieferter und der Volkskul tur entnommener Praktiken, eine allmähliche »Rationalisierung« des Ge sundheitsverhaltens zu erreichen. In all diesen A nweisungen tauchte der Arzt nur am Rande auf, als gewissermaßen letzte Instanz, die lediglich bei wirklich »bösartigen« Krankheitsfällen eingreifen sollte. Natürlich waren die von den Regierungen und Medizinalbehörden propa gierten Anweisungen zur Selbstmedikation wesentlich realitätsnäher als der Anspruch der Ärzte, jeden Kranken so früh wie möglich ärztlicher Behand lung zu überantworten. A ngesichts der politischen Prioritätensetzung des absolutistischen Staates, der alle Kräfte im militärischen und ökonomischen Bereich konzentrierte, war die Forderung, daß jeder Bürger in den Genuß ärztlicher Dienstleistungen kommen müßte, illusorisch: einmal reichten die 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ausbildungskapazitäten dafür nicht aus, und zum andern ließ es die durch Kriege äußerst angespannte Haushaltslagc nicht zu, den Ärzten ein festes Gehalt für die Behandlung zahlungsunfähiger Kranker auszusetzen. Der Rückgriff auf (begrenzte) Selbstmedikation, billige A rzneien auf der Basis von Kräutern und althergebrachten Hausmitteln106 und Ersatzheiler in Ge stalt von Pfarrern und materiell bescheideneren Wundärzten hatte demnach auch finanzpolitische Gründe. Gerade diese Begründung akzeptierten die medizinischen »Professioni sten« jedoch nicht. Ob sie mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse des Staates argumentierten oder das Recht des steucrzahlcnden Bürgers auf »zuverlässigen Rath durch approbirtc Ärzte«107 betonten - immer war die Kritik an der Gleichgültigkeit des Staates, der die Gesundheit seiner Bürger zu den »Ressorts der Vorsehung« rechnete, für die »der Finanzier keine Auslagen macht«108, scharf, radikal und verbittert. Die Reformkonzepte der Ärzte gingen erheblich über die bestehenden Einrichtungen hinaus und hätten in ihrer Konsequenz zu einer vollständigen »Verstaatlichung« der Gesundheitsfürsorge führen müssen. Während es den frühen Autoren medi zinalpolitischer Traktate (Rau, Rickmann) vor allem um eine Verhinderung der Pfuscherei gegangen war, enthielten die späteren Publikationen ausge feilte Programme einer medizinischen Gesetzgebung und Verwaltung, die auf eine nahtlose Mcdikalisicrung und Kontrolle der gesamten Gesellschaft hinausliefen. Angeführt wurde der Reigen der neu entdeckten »Staatsarzncykundc« von dem Medizinprofessor Johann Peter Frank, der 1779 den ersten Teil seines sechsbändigen Monumentalwerks »System einer vollständigen medi cinischen Polizcy« veröffentlichte. Darin legte er die »vorzüglichsten Regeln zur Verbesserung des Gesundheitswesens« nieder und äußerte den Wunsch, daß diese »von wohldenkenden Vorstehern in Erfüllung gebracht werden mögen« 109 . A usgehend von der zum Gemeingut des 18. Jahrhunderts gehö renden Beobachtung einer »A bnahme unseres Geschlechts« entwickelte Frank ein ausgeklügeltes System staatlicher Eingriffe, die von der »Fort pflanzung« und den »Ehe-A nstalten« bis zu den A rbeitsverhältnissen alle Bereiche des menschlichen Lebens abdeckten. Ob es sich nun um die »Erhal tung und Pflege schwangerer Mütter« oder das »geflissentliche Mißgcbäh ren und andere Mißhandlungen der unehelichen Kinder« handelte oder um die »Reinlichkeit menschlicher Wohnungen« 110 -der Staat hatte überall das Recht und die Pflicht, regulierend, kontrollierend und sanktionierend tätig zu werden. Die A ufgaben der »Medizinischen Polizei« waren unbegrenzt und machten selbst vor dem intimsten Familicnbcrcich nicht halt. Diese totalitäre Utopie einer überall wirksamen staatlichen Bevormun dung blieb das Licblingskind auch anderer ärztlicher A utoren: so nahm der Mannheimer Physikus Franz A nton Mai die A nregungen Franks auf und faßte sie in einem knapperen » Entwurf einer Gesetzgebung über die wichtig sten Gegenstände der medizinischen Polizei« zusammen111. Der Dresdener 66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Physikus Röber stellte 1806 einen gleichfalls an Frank orientierten Forde rungskatalog zur »Staatsdiätetik« auf, der die Aufsicht der Luftbeschaffen heit ebenso enthielt wie die »Sorge gegen die Gefahren bey öffentlichen Zusammenkünften und Belustigungen«112. Den vor allem an den popula tionistischen und Kontrollinteressen der inneren Staatsbildung ausgerichte ten Inhalt solcher medizinalpolitischen Konzepte formulierte sehr deutlich der hessische Mcdizinalrat Stoll, dem es in seinen »staatswissenschaftlichen Untersuchungen und Erfahrungen über das Medicinalwesen« in erster Linie um die »Erhaltung und Vermehrung einer der Production und den Bedürf nissen des Staats angemessenen gesunden Bevölkerung« ging113. Wenn sich auch die Legitimationsgrundlagc der »Medizinischen Polizei« allmählich änderte und die obrigkeitsstaatliche A rgumentation immer häu figer durch eine auf das Wohl des einzelnen Bürgers abzielende Begründung ersetzt wurde, blieb doch das Programm staatlicher Gesundheitsfürsorge weitgehend konstant. Bei dem Berliner Arzt und Jakobiner Erhard, der das »Wohl der Bürger« und ihre »Mcnschcnrechtc« zum alleinigen Maßstab der Politik machte, erschien der gleiche Gegenstandskatalog medizinischer Poli zeimaßnahmen, wie wir ihn von seinen ausschließlich am Wohl des Staates orientierten Kollegen kennen114. A uch bei anderen Vertretern einer libera len Rechtsstaatlichkeit wie dem Braunschweiger Medizinprofessor A ugust Winkelmann, dem Berliner A rzt A . H. Nicolai oder dem Klagcnfurtcr Kreisphysikus Georg M. Sporcr115 hatte lediglich die Präambel einen ande ren Wortklang - die Bereiche gcsundheitspolizcilichcr Intervention und Kontrolle blieben die gleichen. Der entschieden vertretene Wunsch der medizinischen Profession nach einer allseitigen Medikalisierung und einer möglichst umfassenden Kontrol le des Gesundheitsverhaltens stieß aufsehen des Staates auf unübersehbare Widerstände, die zum einen, wie bereits dargelegt, in der Skepsis gegenüber dem ärztlichen Machtanspruch wurzelten, teilweise aber auch in objektiven Finanzierungs- und Durchführungsschwierigkeiten begründet lagen. Eine totale »hygienische« Kontrolle überstieg bei weitem das A rbeitsvermögen selbst der preußischen Verwaltung und Polizei - sie war schlicht nicht umsetzbar116. Die Medizinalkollegien in den Provinzen und die ihnen zuge ordneten Stadt- und Kreisphysici waren zwar formal für alle Bereiche der »medizinischen Polizei« zuständig, doch war ihre Personaldccke nicht dicht genug, um diese A ufgaben auch wirklich erfüllen zu können. So gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise in der Kurmark insgesamt 30 Land-, Kreis- und Stadtphysici, die allein in den Städten 114 Apotheker (samt 235 Gesellen und Lehrlingen), 249 Barbierchirurgen (samt 353 Gesel len/Lehrlingen), 158 Hebammen und 114 Ärzte beaufsichtigen mußten117, wobei die auf dem Lande praktizierenden Heilpersonen noch nicht mitge zählt waren. Die eigentliche Funktion dieser A mtsärzte bestand jedoch in der sanitätspolizeilichen Überwachung des allgemeinen Gesundheitszustan des, der Kontrolle der Luftreinheit, Gewerbebetriebe, Wohnungen, Nah67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
rungsmittel und Kleidung. A ußerdem waren sie für die rasche Eindämmung von Epidemien verantwortlich, mußten gcrichtsmedizinischc Gutachten verfassen, regelmäßige Sanitätsberichte für die Regierungen schreiben und die kommunalen A rmenkranken betreuen118. Bedenkt man, daß das Gehalt dieser Beamten absichtlich niedrig gehalten wurde, damit sie zugleich noch eine private Praxis führten, so wird deutlich, daß die Physiker als wichtigste Administratoren der »Medizinischen Polizei« hoffnungslos überlastet wa ren und an eine auch nur annähernde Erfüllung ihrer A mtspflichten über haupt nicht zu denken war. In der Praxis konzentrierten sie sich vorwiegend auf ihre gcrichtsmcdizinischen A ufgaben, zumal sie in der öffentlichen Gesundheitspflege ohnehin nur ratgebendc Kompetenzen besaßen119. Überhaupt verhielt sich die Regierung eher zurückhaltend, wenn es um den Erlaß verbindlicher hygienischer Vorschriften ging. Selbst die ein schneidende Erfahrung der großen Epidemien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermochte diese distanzierte, abwartende Haltung nicht von Grund auf zu verändern. Zwar wurde nach dem Einfall der Cholera 1831/32 rasch ein Regulativ über die sanitätspolizeilichen Vorschriften bei den am häufigsten vorkommenden ansteckenden Krankheiten erlassen (1835), das die Einrichtung von Sanitätskommissionen verfügte und Quarantäne- und DesinfektionsanwcisLingen enthielt. A ndererseits aber fanden diese öffentli chen Maßregeln ihre Grenze an der Scheu des Staates, mit physischem Zwang in den Entschcidungsbereich der Familien einzudringen. So be stimmte beispielsweise der 1857 vorgelegte Revisionsentwurf des Regula tivs, daß selbst bei ansteckenden Krankheiten »in der Regel . . . kein Kran ker wider den Willen des Familienoberhauptes aus seiner Wohnung entfernt werden« dürfte120. Dem Interventionsrecht der Polizeibehörden und Kreis physici waren somit reale Grenzen gesetzt; die vormundschaftlichc Pflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern oder Untertanen brach sich letztlich am Sclbstbcstimmungsrccht des Individuums und des Familienverban des 121 . Dieser Grundsatz galt lediglich dort nicht mehr, wo der Staat die unmittelbare Kontrolle ausübte und keine vermittelnden Instanzen dazwi schentraten: im Militär und bei den A rmen. In diesen beiden Bereichen ist denn auch die A nwendung direkter Zwangsmaßrcgeln zur Durchsetzung medizinalpolitischer A bsichten am reinsten zu beobachten. So rühmte bei spielsweise der Medizinalpräsident Schöpff in seiner scharfen Kritik staatli cher Medizinalpolitik den »wohlthätigcn Zwang« und die »gleichförmige Aufsicht«, der die Erkrankten beim Militär unterlägen und die sich äußerst positiv auf den Gesundheitszustand der Soldaten (vor allem im Vergleich mit dem schweren Los der »unbeachteten Landbewohner«) auswirkten 122 . Ähnliches galt für die unter der Obhut von staatlich besoldeten Armenärzten stehenden Kranken, auf die ebenfalls keine therapeutische Rücksicht ge nommen werden mußte. Transparent wurde dieser gewaltsame Zugriff besonders in zwei Berei chen staatlicher Mcdikalisierung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
den bevorzugten Themen der Gesundheitspolitik gehörten: bei der Schutz pockenimpfung und im Krankenhauswesen. Hier entfaltete der Staat die mei sten medizinalpolitischen A ktivitäten, was sich schon an der Menge der Verfügungen ablesen läßt, die um die Jahrhundertwende und danach zu diesen beiden Problemen erlassen wurden123. Exkurs I: Pockenimpfung Nachdem die Pest ihren Schrecken - zumindest in Mittel- und Westeuropa verloren hatte, zog eine andere todbringende Seuche die A ufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich: die Pocken. In unregelmäßigen Abständen trat die ansteckende Krankheit in Städten und auf dem Land gleichermaßen auf und ließ bei ihrem A bklingen eine große A nzahl toter Kinder und Säuglinge zurück. Nach den Berechnungen des Bückcburger Arztes Faust wurden vier von fünf Kindern angesteckt, 5% der Bevölkerung büßten durch die Pocken ihre »Gesundheit oder Schönheit« ein und 10% starben daran124. Ein so enormer »Verlust an Zeit und Arbeit« beunruhigte sowohl die Arzte als auch die Regierungen, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts inten siv mit den Möglichkeiten der Eindämmung dieser »Kinderpest« beschäf tigten. Während Londoner Ärzte bereits 1721/22 die aus dem Orient stammende Variolations-Mcthodc, das »Einpfropfen« von Menschenpocken, prakti zierten und hochgestellte Persönlichkeiten ihre Kinder erfolgreich impfen ließen, konnte man sich in Deutschland über die Strategien der Bekämpfung dieser »Menschengeißel« lange nicht einig werden. Es fehlte zwar nicht an Befürwortern der Impfung, doch auch ihre Gegner blieben nicht stumm. 1755 führte der Magdeburger Physikus Keßler die ersten Pockenimpfungen durch, und einzelne A rzte ahmten seine Methode nach125. Daß sich diese ersten Versuche noch keiner allgemeinen A nerkennung erfreuten und auch von den Regierungsbehörden nicht verbindlich akzeptiert wurden, geht aus einer A nleitung hervor, die das preußische Obcrcollcgium Mcdicum 1769 auf Befehl Friedrichs II. erließ und die den »Landmann und diejenigen, welche keinen Arzt erlangen können« über die »in der Krankheit der natürli chen Pocken anzuwendenden Mittel« informierte126. Darin war ausführlich von diätetischen Maßregeln und diversen Hausmitteln die Rede, die bei einer A nsteckung von Nutzen sein könnten; über Impfungen jedoch schwieg sich die Medizinalbehördc aus. Erst eine Neuauflage dieser Anwei sung, die 1796 herausgegeben wurde, machte auf den Mortalitätsrückgang aufmerksam, den die Variolation in denjenigen Regionen, in denen sie verstärkt angewandt wurde, in Gang gesetzt hatte127. In der Zwischenzeit hatte sich die Zahl der A rzte, die die Impfung für richtig hielten, vermehrt128, zumal man sich davon ein lukratives Ncbcngc schäft erhoffte. A us diesem Grunde verwarfen die Mediziner auch den 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Vorschlag der Regierung, Hebammen und Wundärzte zur Impfung zuzulas sen. Mit dem A rgument, diese Personen wären nicht kompetent genug, lehnte das Obcrcollcgium Medicum 1791 eine Mitwirkung von Nichtärzten an der Pockenimpfung ab. Etwas offenherziger begründete der Hallenser Medizinprofessor Juncker 1792 seine Forderung nach einem ärztlichen Impfmonopol: »Dadurch, daß die natürlichen Pocken ungleich seltner ge macht werden, verlieren die Ärzte etwas an ihrer Praxis. Es ist billig, und zugleich klug, wenn man ihnen durch das Impfgeschäft einigermaßen einen Ersatz zu verschaffen sucht. Ich sage klug, weil im entgegengesetzten Falle einige Ärzte die A bhaltung der natürlichen Pocken um desto weniger mit Eifer betreiben würden.« 129 Dabei wäre nur durch die Einbeziehung der nichtärztlichen Heilpersonen eine Ausdehnung der Schutzimpfung auch aufjenc Bcvölkerungsschichtcn, die traditionell von der ärztlichen Versorgung abgeschnitten waren, mög lich gewesen. Indem ausschließlich Ärzte zum Impfgeschäft zugelassen waren, kamen die Vorteile der Impfung lediglich den Kindern der »hüb schen Leute« zugute130; die ländliche Bevölkerung und die städtischen Un terschichten überließ man, wie es der Publizist justus Moser zynisch formu lierte, ihrem »Vorurteile oder der Natur, und was diese nicht mütterlich wegnimmt, wird durch jene aufgerieben«131. Gerade an »Vorurteilen« gegen die Impfung herrschte in der Bevölkerung kein Mangel; häufig empfand man die Variolation als einen künstlichen Eingriff, der den Gesetzen der Natur und der Religion zuwiderliefe. A llge mein verbreitet war die A uffassung, daß sich die »Pockenmatcric« von Geburt an im Körper des Kindes befände und bei besonderen »Konstitutio nen« (Witterungsverhältnissen etc.) zum A usbruch käme. Die Kindsblat tern wurden als eine »vermeyntliche Erbsünde« betrachtet, als ein »ange bohrnes, eingewurzeltes und [zur Reinigung des Körpers) notwendiges Übel« 132 . Religiöser Fatalismus paarte sich mit einem traditionalen Habitus, der eine hohe Kindersterblichkeit als quasi natürliche Gegebenheit ansah und in nicht wenigen Fällen als nachträgliche Geburtenkontrolle akzeptierte. A uf diese vielfach dokumentierte Einstellung bezog sich der schwäbische Medi zinalrat Wctzlcr, als er in seiner tausendfach verteilten »Belehrung des Landvolkes über die Schutzblattcrn« 1802 wetterte: »Viele von euch, Altern, die mehrere Kinder haben, wünschen, daß einige davon sterben möchten, wünschen daher, daß der Blatternmann, wie sie sich ausdrücken, über sie kommen, und sie mit sich fortnehmen möchte.«133 Noch krasser faßte Moser die landläufige Meinung zusammen: »Vordem dankte eine gute Mutter dem lieben Gott, wenn er redlich mit ihr teilte und auch noch wohl ein Schäfgcn mehr nahm; man erkannt es als ein sicheres Naturgesetz, daß die Hälfte der Kinder unter dem zehnten Jahre dahin sterben müßte und richtete sich darnach mit den Wochenbetten.«134 Einer durch die Impfung möglichen A ufhebung dieses »Naturgesetzes« standen große Bevölkerungsschichten zunächst offensichtlich skeptisch gc70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gcnübcr. Vor allem auf dem Land organisierte sich der Widerstand gegen die von Pfarrern, Lehrern, Ärzten und Behörden propagierte Schutzimpfung. Ganze Dörfer verweigerten die Einimpfung135; andere erklärten, »ihre Kin der nur von ihrem Barbier, oder gar nicht impfen lassen zu wollen« 136 . Der Bielefelder A rzt Consbruch berichtete, daß die Impfung in seinem Einfluß bereich »noch nicht so ganz allgemein beliebt« wäre 137 und seit einem Unglücksfall (die Tochter eines Arztes war trotz Variolation an einer Pok kenansteckung gestorben) auf noch größere A bneigung stieße. Diesem kollektiven und in seiner Breitenwirkung beispiellosen Widerstand gegen eine gcsundheitspolizcilichc Maßnahme standen die Behörden weitgehend machtlos gegenüber. Grundsätzliche Bedenken gegen eine Einführung der Zwangsimpfung sowie Zweifel an ihrer Unschädlichkeit hielten die Regie rungen zunächst noch davon ab, die verbindliche und gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzende Impfung aller Säuglinge anzuordnen. Es hatte Fälle gegeben, in denen durch die künstliche Einimpfung menschlicher Pocken lymphe andere Krankheiten, vor allem Syphilis, übertragen worden waren. Zudem passierte es nicht selten, daß sich nach einer Variolation die Pocken epidemicartig unter der Bevölkerung verbreiteten, daß also die Schutz impfung eine A nstcckungswelle erst auslöste. Viele Ärzte weigerten sich deshalb ganz, Impfungen außerhalb von Epidemien vorzunehmen138. Mit welchen Nachteilen die Impfung mit Menschenpocken in der Tat verbunden war, zeigte sich in ganzer Offenheit, nachdem gegen Ende des 18. Jahrhunderts diejennersche Methode der Kuhpocken-Impfung (Vakzi nation) bekannt geworden war. Nach einer kurzen Erprobungsphasc stellte das preußische Obcrmcdizinalkollcgium im Jahre 1802 fest, daß die Vakzi nation der Impfung mit natürlichen Pocken in jedem Falle vorzuziehen sei, »1) weil jene nach allen angestellten Erfahrungen als eine äußerst leichte gefahrlose Krankheit wirkt, die sich auch 2) nicht wie die menschlichen Pocken durch die Luft oder Berührung des Pockenkranken, sondern nur durch die wirkliche Inoculation fortpflanzen«139. Die A uslösung eigentli cher Epidemien konnte durch die Impfung mit Kuhpocken ebenso verhin dert werden wie die von vielen Eltern mit Sorge betrachtete schwere Er krankung der Kinder nach der künstlichen Infektion. Erst nach dieser überzeugenden Innovation erließ der preußische König 1803 ein Reglement, in dem er »die Beförderung der Schutzblatternimpfung nunmehr zu einem besonderen A ugenmerk Unserer Staatsverwaltung« er hob, damit »das menschliche Pockcnübel, welches im Durchschnittjährlich mehr als 40000 Menschen in Unscrn Landen wegraffte, sobald als möglich vertilgt und ausgerottet werde«. Zu diesem Zweck wurden alle Lokalbehör den angewiesen, in ihrem Wirkungsbereich auf eine stärkere Verbreitung der Vakzination hinzuarbeiten und »besonders das noch immer dagegen obwaltende Vorurthcil, soviel an ihnen ist, zu zerstreuen und aus dem Wege zu räumen«140. Nur noch in A usnahmcfällen und auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern war es den Medizinalpcrsonen erlaubt, die Variolations71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
mcthode anzuwenden; ansonsten galt die Impfung mit Kuhpocken als ver bindliche Norm, deren Übertretung mit Geldstrafen geahndet wurde. Das weitaus unproblematischere Vakzinationsverfahren eröffnete nun auch die Möglichkeit, den Kreis der Impfberechtigten über die bisher allein autorisierten praktischen Ärzte und Regimentschirurgen (für das Militär) hinaus auszudehnen. Die Regierung setzte sich diesmal über den Widerstand der akademischen Ärzte hinweg und erlaubte den Wundärzten, Pfarrern, Lehrern und Hebammen auf dem Lande die Impfung in ihren Gemein den141. Dahinter stand die Erwägung, daß jene Bevölkcrungsschichten, die aus strukturellen Gründen keinen Kontakt zu Ärzten hatten und/oder der Pockenimpfung distanziert gegenüberstanden, am leichtesten durch ihnen bekannte und vertraute Personen von den Vorteilen der Vakzination über zeugt werden konnten. Allerdings waren alle Impfberechtigten angewiesen, jeglichen Zwang zu vermeiden und »durch zweckdienliche Vorstellungen möglichst dafür zu sorgen, daß Eltern und Kinder sich freiwillig zur Anwen dung dieses Schutzmittels entschließen«142. Besonders die Geistlichen und Lehrer ersuchte man um tatkräftige Unterstützung, um die vor allem in der ländlichen Bevölkerung noch vorhandenen Vorbehalte gegen die Kuhpok kenimpfung zu zerstreuen und den Eltern eine »moralische Pflicht« zur Rettung ihrer Kinder nahezulcgcn. Appelle an die Elternliebe und Empfehlungen seitens der Behörden und Amtsträger waren offensichtlich nicht immer erfolgreich. A uch die hohen Impfgebühren, die bei drei bis fünf Talern pro Impfung lagen, trugen nicht unbedingt dazu bei, den Pockenschutz auf alle Bevölkerungsgruppen auszu dehnen und nicht nur den aufgeklärten und bemittelten Gcsellschaftsschich ten zuteil werden zu lassen. Lediglich für die mit einer Bescheinigung der Armcnvcrwaltung versehenen Unterstützungsbedürftigen war die Impfung kostenlos. In manchen Städten, zuerst in Berlin, wurden sog. Schutz pockenimpfungsanstalten eingerichtet, in denen besonders die A rmen, aber auch andere Bürger, ihre Kinder unentgeltlich impfen lassen konnten. Die Verbindung dieser Institute mit Waisen- oder Krankenhäusern jedoch wirkte auf die Adressaten im höchsten Grade abschreckend, so daß anzuneh men ist, daß sich unter den hier geimpften Kindern und Erwachsenen vornehmlich die Insassen von A rmenhäusern und Erziehungsanstalten be fanden, die unmittelbar der Vormundschaft des Staates unterstanden. In Breslau mußten sich die Eltern und Pflegeeltern der unterstützten A rmen kinder »im Fall sie nicht des A lmosens verlustig gehen wollen, durch ein ärztliches Zeugnis über die wirklich erfolgte Impfung ihrer Kinder auswei sen« 143. Direkter Zwang wurde darüber hinaus nur noch bei den Militäran gehörigen angewendet, die sowohl während als auch nach ihrer Dienstzeit mit disziplinarischer Gewalt zur Impfung verpflichtet waren144. A nsonsten scheute sich der Staat, allgemeine Zwangsmaßregeln zu verfugen und wies alle dementsprechenden A nträge, die hauptsächlich von Ärzten an die Re gierung gerichtet wurden145, ab. A ls verschiedene Bczirksrcgicrungen von 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sich aus die Einführung der Zwangsimpfung verordneten, erklärte die Staatsregicrung diese Maßnahme für unrechtmäßig und befahl den Unter behörden die Aufhebung des Impfzwangs146. Lediglich indirekte Beeinflussung hielt die preußische Regierung für ver tretbar; direkter Zwang jedoch, »der zu sehr in die häuslichen Verhältnisse eingreift«147, war nicht gestattet. Nur bei ausgebrochenen Pockenepide mien konnten Zwangsimpfungen durchgeführt werden148; ansonsten oblag es der formal freien Entscheidung der Erziehungsberechtigten, ihre Kinder impfen zu lassen oder nicht. A llerdings wurden immer häufiger Strafbe stimmungen erlassen, die den indirekten Zwang auch wirksam werden ließen. Erkrankten Kinder, deren Eltern die Impfung unterlassen oder ver weigert hatten, an Pocken, so wurden die Eltern »in polizeiliche Strafe« genommen. Das Regulativ von 1835 setzte darüber hinaus fest, daß »Schul vorsteher, Handwerksmeister, andere Gewerbetreibende und Dienstherr schaften« darauf achten sollten, »daß die bei ihnen in Unterricht, Lehre oder Dienst tretenden Personen geimpft sind. Personen, welche für ihre Kinder oder Pflegebefohlenen die A ufnahme in öffentliche A nstalten des Staats, Stipendien oder andere Benefizien nachsuchen, sind abzuweisen, wenn sie den Nachweis über geschehene Impfung nicht fuhren können«149. Auf diese Weise versuchte man also, die Pockenimpfung ohne unmittel bare polizeiliche und gesetzliche Gewaltanwendung zu verallgemeinern. Impfprämien für Ärzte, Verringerung der Impfgebühren und eine in Schu len und Kirchen, Zeitungen und Flugschriften organisierte Impfpropaganda waren die positiven Mittel, mit denen man die Resistenz der noch nicht medikalisicrten Bevölkcrungsschichtcn brechen wollte; eine Zwangsmedi kalisierung der Familien, die von vielen Ärzten gefordert wurde, erschien mit der vor allem seit der Jahrhundertwende praktizierten Selbstbcschrän kung der staatlichen Gewalt nicht vereinbar. Nur denjenigen Personen, die unmittelbar der staatlichen Fürsorge anheimgestellt waren, den Zöglingen der Waisen- und A nnenhäuser sowie den A ngehörigen des Militärverban des, gewährte man keinen »freien Willen«. Wenn der administrativen Behandlung der Impffrage hier so viel Raum zugestanden wurde, so vor allem deshalb, weil sich an diesem Beispiel die Entwicklung und Probleme der Mcdikalisierung besonders dicht und qucl lennah nachzeichnen ließen. Das Zusammenspiel ärztlicher und staatlicher Interessen, aber auch ihre Differenzen traten bei der allmählichen Durchset zung der Variolation und Vakzination sehr offen zutage. Betrachteten die Ärzte das Impfgeschäft zunächst vorwiegend als eine willkommene Mög lichkeit, einen nicht unansehnlichen Zuverdienst durch Impfgebühren und staatliche Prämien einzustecken, akzeptierten sie es schon bald als »das wichtigste Mittel, die Ärzte mit dem Publicum in nähere Berührung zu bringen«150. Die Verallgemeinerung der Impfung in Form eines gesetzli chen Impfzwangs stand folglich im Forderungskatalog der Mediziner an eine staatlich initiierte und beaufsichtigte Gesundheitspflege ganz oben. 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Obgleich auch der Staat ein unverkennbares Interesse an einem wirksamen Schutz gegen die durch die Pocken verursachten Menschenverlustc hegte, war er doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht bereit, legislative Zwangsmittel zur Durchsetzung dieses Interesses anzuwenden. Grundsätzliche Bedenken gegen die Zulässigkeit direkter Eingriffe in die individuelle Freiheit des Staatsbürgers (bzw. der Eltern) sowie die Erwä gung, daß polizeiliche Gewalt nur verbietend, nicht aber befördernd tätig werden sollte151, standen der Einführung des gesetzlichen Impfzwangs ent gegen. Die unüberschaubarc Menge von Verfügungen und A usfuhrungsbestim mungen, die die Pockenimpfung auf sanftem Wege gesellschaftsfähig ma chen sollten, belegt jedoch die große Wichtigkeit, die das politisch-admini strative System dieser Präventivmaßnahme beimaß. Der offizielle Verzicht auf exekutive Zwangsmittel hatte dabei auch die Funktion, die Untertanen von den wohltätigen Absichten ihrer Obrigkeit zu überzeugen und auf eine, wenn auch vorsichtige, A nnäherung zwischen »Volk« und »Staat« hinzu wirken. Die Hoffnung der preußischen Regierung, »daß die zur Ausführung der Schutzpockenimpfung getroffenen Einrichtungen nicht weiter als bloße polizeiliche, sondern vielmehr als solche Maaßrcgcln von den Unterthancn betrachtet werden, durch welche ihnen der Schutz ihrer Kinder gegen die natürlichen Pocken erleichtert wird« 152 , war allerdings noch etwas verfrüht; das Mißtraucn und der Widerstand gegen die Impfungen ließen sich nicht so rasch ausräumen. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichte ten Landärzte über die negative Einstellung der Bevölkerung zur Pocken schutzimpfung, die »vielfach übel angeschrieben (sei) als Ursache schwerer und langwieriger, selbst tödtlicher Krankheiten. Man sagt, es komme dabei ein Gift in den Körper und nennt den Impfstoff auch geradezu >das Giftder Fuß in den Steigbügel gesetztDa kommen die Schinderknechte! Ins Wasser mit ihnen!< Schon begann man mit Steinen zu werfen und die uns begleitenden zwei Gensdarmen waren zu unserem Schutz nicht hinreichend gewesen, hätten wir nicht bei Zeiten noch die Brücke und das jenseitige Ufer erreicht. Der Physikus durfte sich nicht anders als bewaffnet und in starker Begleitung nach Ostrog wagen.« 80
In der Tat hatte die Empörung des »aufgebrachten Pöbels« (Lorinser) gute Gründe. Schließlich waren die Ärzte dafür verantwortlich, daß das Versor gungssystem aufgrund der vielen Kontrollen, Verbote und Begrenzungen dem Zusammenbruch nahe war und daß der (ohnehin nie ganz freie) Ver kehr der Personen weiter eingeengt wurde. Bauern wurde es verwehrt, ihre Produkte auf öffentlichen Märkten feilzubieten; Händler, wandernde Hand werksgesellen, arbeitsuehendc, von Ort zu Ort ziehende Tagelöhner waren in ihrer Mobilität eingeschränkt oder wurden in Quarantäne genommen. Die Mannahmen, die von der alarmierten Bürokratie und aufgeschreckten Privatleuten gegen die Cholera ergriffen wurden, konnten deshalb bei den dadurch in ihrer Subsistenzweise behinderten Unterschichten kaum auf Verständnis treffen. A uch die hysterische Formen annehmende Furcht vor der Seuche scheint im großen und ganzen eher bei der bürgerlichen Bevölke rung zu Hause gewesen zu sein. Die ärmeren Leute, um deren Gesundheit sich bislang noch niemand aktiv bemüht hatte, standen der Epidemie eher gleichgültig gegenüber. Krankheit und Tod waren für sie unwägbare und auch unbeinflußbare Faktoren des alltäglichen Lebenszusammenhangs, man konnte ihnen nicht entweichen, sie kamen und gingen nach eigenen Bewegungsgesetzen81, A ußerdem war die Cholera nur eine unter vielen lebensbedrohenden Krankheiten: wenn sie nicht zum Tode führte, starb man eben an einem der vielen »Fieber« oder Schwindsuchten, die alljährlich weit mehr Menschen dahinrafften als die Cholera82. In diesem Licht mußten die Errichtung von Sperranlagen und Quarantänestationen, die Propagierung von Verhaltensregeln und -verboten als übertriebene und unsinnige Eingrif fe in einen ohnehin nicht zu ändernden Kreislauf erscheinen. Für diese eher fatalistische Einstellung sprach auch die Reaktion der Bevölkerung auf die Gründung eines »Vereins zur wechselseitigen Versi cherung gegen die Folgen der Cholera« im Jahre 1832. Dieser von Ärzten, Gesundheitskommissionen und Behörden ins Leben gerufene Verein, des sen Einzugsgebiet sich auf die Rheinprovinz und Westfalen beschränkte, bot denjenigen »Ernährern«, die ihre Familien mit einem Taler versicherten, im Falle ihres Choleratodes eine über zehn Jahre laufende Geldunterstützung von maximal 120 Talern an: »Eine solche Betheiligung muß dem Familien vater eine große Beruhigung gewähren, indem er auf den Fall seines A bster bens seine Hinterbliebenen vor Noth geschützt weiß; sie wird daher die Furcht vor der Cholera, mithin auch schon die Gefahr selbst vermindern. 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Die minder bemittelten Familien und alle diejenigen, deren Lebensunterhalt nur auf der Arbeitsfähigkeit des Familienvaters beruht, haben demnach das größte Interesse, an der Versicherung Thcil zu nehmen.«83 Offenbar ging diese apodiktische Aussagcjcdoch an der Wirklichkeit vorbei: die »Tagelöh ner, Fabrikarbeiter, Hausarmen etc«, die man ansprechen wollte, machten nur den geringsten Teil der Subskribenten aus, bürgerliche Berufe (Ärzte, Kaufleute, Förster, Juristen, Pastoren, Lehrer etc.) waren weitaus in der Überzahl. Wenn überhaupt A ngehörige der unteren Schichten in den Mit gliederlisten des Vereins auftauchten, so mit dem Vermerk, daß sie als Cholera-Krankenwärter auf Kosten der Gemeinde versichert waren 84 . Der Warburger Landrat gab als Grund für diese Abstinenz an, daß »die A rmuth der Eingesessenen in hiesigem Kreise zu groß ist, und selbe nicht die Steuern und sonstigen A bgaben berichtigen können, vielweniger aber im Stande und geneigt zu machen sind, dem Verein beizutreten und dadurch zur Verminderung einer Gefahr etwas zu thun, welche ihnen, ihrer Meinung nach, jetzt nicht mehr droht«85. Bedrohlich war die Situation allerdings im vorhergegangenen Jahr gewe sen, als die Cholera sich mit Vorliebe in den Wohnquartieren der unbemit telten Bevölkerungsschichten eingenistet hatte und von hier aus ihren tod bringenden Siegeszug fortsetzte. In den Wohnungen der ärmeren Leute fand die Seuche einen idealen Nährboden vor: enge, häufig feuchte und dumpfe Räume, vitamin-, fett- und eiweißarme Kost, schlechte Hygienebedingun gen und vor allem schmutziges Wasser bereiteten ihr den Weg. In einem Bericht über die vierte Choleraepidcmie Berlins 1848 beschrieb der dortige Armenarzt Schütz ein besonders stark von der Seuche heimgesuchtes Quar tier: »Die Straße ist . . . finster, verhältnismäßig immer feucht, für Luft und Licht weint; zugäng lich. Die Häuser sind ziemlich dicht von der ärmeren, wenn auch nicht von der ärmsten Klasse bewohnt und durch Mangel geräumiger Höfe und gehöriger Latrinen unreinlich. Hiczu kommt noch schlechtes, meistens trübes, mooriges, etwas eisenhaltiges Trinkwasser, welches namentlich im neuen Hospital zum Trinken und Kochen nicht benutzt werden kann. Besonders dunkel, feucht und unreinlich sind die Kellerwohnungen, welche denn auch während der Choleraepidemie manche Opfer gefordert haben.«86
Zu den Bewohnern dieser Häuser gehörten Witwen, A rbeitsleutc, Schneider, Färberei- und Goldarbeiter mit ihren Familien87. Diese häufig nahe an der Armutsgrenze lebenden Menschen hatten bei einer Infektion nur sehr geringe Überlebenschancen, da ihnen zumeist das Geld zur Bezahlung stärkender Nahrungs- und A rzneimittel fehlte und eine - nur bei äußerst kräftiger Konstitution überhaupt mögliche - Genesung auf diese Weise nur selten eintrat88. Die offensichtliche Bevorzugung sozialer Unterschichten durch die Cho lera89 blieb den Zeitgenossen nicht verborgen. Vor allem die Ärzte sorgten durch eine weitgestreute Publikationstätigkeit dafür, daß der Zusammen hang zwischen A rmut und Cholera einer breiteren Öffentlichkeit bekannt 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
wurde. Nachdem 1831 allein in den östlichen Provinzen des preußischen Staates, Preußen und Posen, die für die Armut ihrer Bevölkerung bekannt waren, insgesamt 25685 Menschen von der Cholera getötet worden waren, konnte man 1833 in der Medicinischen Zeitung lesen, »daß die Cholera nur da haftet, wo die Sterblichkeit im Allgemeinen ungewöhnlich groß ist; und daß diese Krankheit also, wo sie als verheerende Seuche auftreten soll, eines krankhaften Zustandes der Bevölkerung bedarf, der die Sterblichkeit auch ohne ihre Mitwirkung schon beträchtlich erhöht«90· Im Klartext hieß dies, daß die bereits durch A rmut und Not geschwächte pathogene Konstitution der Bevölkerung auch die Cholera magnetisch anzog. Andererseits war nicht zu übersehen, daß die Seuche die von der Armut gezogene Grenze zuweilen überaus leichtfüßig übersprang und sich auch in den Wohnvierteln des wohlhabenden Bürgertums einnistete. Immerhin gehörte 1831 fast jeder zwölfte Cholerakranke in Berlin den »höhern und gebildeten Ständen« an91, die nicht in feuchten und dunklen Wohnungen lebten und denen, wie Casper schrieb, »hundert geschäftige Hände, vom Arzt bis zum A usternhändler, alle Bequemlichkeiten, vom Rollstuhl bis zum Luftkissen, zu Gebote stehen, die sich die entferntesten Heilquellen, die seltensten Weine für ihr Geld in ihre Nähe zaubern«92. Trotzdem konnten auch sie an der tückischen Seuche erkranken, wobei allerdings ihre Gene sungschance größer war als die der auf all diese Annehmlichkeiten verzich tenden Unterschichten. Gerade die Unwägbarkeit, mit der die Cholera sich ihr Standquartier auswählte, erhöhte die Angst des Bürgertums: solange die Epidemie ihre Opfer nicht zweifelsfrei unter den ärmeren Leuten fand, war die Gefahr, selbst zu den Opfern zu gehören, ständig präsent. Diese Erfah rung einer latenten Bedrohung ließ städtische Honoratioren und A dmini stratoren aktiv werden, wobei sie von der Überlegung ausgingen, daß »besonders der mit leiblichen Gütern Gesegnete . . . in der Gesundheit des ärmeren Mitbruders seine eigene schützt«93. Unter reger Beteiligung von Ärzten entstanden seit Beginn der 1830er Jahre in vielen Städten des preußischen Staates Initiativen und Vereine zur Bekämpfung der Cholera. Durch konkrete Hilfeleistungen (Geld-, Nah rungs-und Kleiderspenden) sollte den »handarbeitenden Volksklassen« ge holfen werden, eine Infizierung zu überstehen oder zu verhindern. Mittels scharfer Sauberkeitskontrollen hoffte man, der Cholera ihren Keimboden zu entziehen und damit auch für die bürgerlichen Schichten die permanente Übertragungsgefahr zu eliminieren. In diesem Sinne wirkte beispielsweise der in Hamburg 1831 gegründete Cholera-Verein, dem zahlreiche »ach tungswerthe Bürger« der Hansestadt beitraten. Gemeinsam mit den A r menpflegern gingen seine Mitglieder in die Wohnungen der ihnen bekann ten A rmen, wobei der Kreis der regelmäßigen Unterstützungsempfänger weit überschritten wurde. Nicht nur die »eingeschriebenen A rmen«, son dern auch ein großer Teil der »potentiellen A rmen« erhielt hohen Besuch. Über jede Familie wurde ein » Abhörungs-Bogen« angefertigt und auf dieser 133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Grundlage das von der Bürgerschaft gesammelte Geld (immerhin 60000 Taler) verteilt. Neben Kleidungsstücken und finanziellen Beihilfen gaben die Vereinsmitglieder vor allem Anweisungen für Hygiene und Sauberkeit, »damit diese, so große Gefahr drohende Krankheit nicht durch Unreinlieh keit und Mangel in den Wohnungen der Armen um so gefährlicher werden möchte«94. Scharfe Kontrollen und auf den Einzelfall bezogene Anordnungen sollten die »Pest früherer Jahrhundertc« (Voght) aus den Armenquartieren vertrei ben, zumindest aber das Übel »in seiner Ausbreitung« hemmen. Familien orientierte Hygiene, häufiges Waschen, Reinhaltung der Wohnungen und Kleider schienen angesichts fehlender, sicher wirkender Radikalkuren aus reichende Kampfmittel zu sein. Dem individualisierenden Charakter solcher Verhaltensvorschriften entsprachen auch die behördlichen und öffentlichen Reaktionen auf den akuten Ausbruch der Epidemie. Da die Cholera weithin als A nsteckungskrankheit galt, war die Isolation der von ihr befallenen Personen die wichtigste Voraussetzung ihrer Eindämmung. Je nach Um ständen wurden die Kranken in ihren Wohnungen behandelt oder in ein Krankenhaus gebracht. Für alle sichtbar versah man verseuchte Häuser mit der Aufschrift »Cholera« und sperrte sie ab95. A ußerdem mußten Wohnun gen und Kleidungsstücke fortwährend gründlich desinfiziert werden, um Infektionskeime abzutöten. All diese Maßnahmen, die 1835 in Preußen erstmals verbindlich in ei nem sanitätspolizeilichen Regulativ kodifiziert wurden, waren immer nur auf einzelne Krankheitsfälle beschränkt. Ohne den Entstehungsbedingun gen und A usbreitungsformen der Cholera auch nur andeutungsweise auf die Spur gekommen zu sein, verlegte die Medizin die Krankheitsursache am liebsten in den Einzelmenschen, der durch Verhaltensfehler, morali sche Degeneration und ungünstige Umwelteinflüsse der Seuche einen fruchtbaren Nährboden lieferte. Je nachdem ob äußere Faktoren oder in dividuelles Fehlverhalten und »Unsittliehkeit« als primäre Krankheitsträ ger angesehen wurden, erzwang man die Räumung besonders gefährdeter Wohnungen und Straßenzüge oder sperrte die Erkrankten ein und desinfi zierte ihre Umgebung. A n eine grundlegende Neuordnung der sanitären Infrastruktur dachten die Stadtverwaltungen damals noch lange nicht. Obgleich von Ärzten immer wieder auch die extremen Verunreinigungen des Trink- und A bwassers als mögliche Kausalfaktoren genannt wurden und Pettenkofer bereits 1855 die »Zersetzungprodukte menschlicher und thierischer Excrementc« als A nsteckungsboden identifiziert hatte96, ver hielten sich die meisten Kommunen weiterhin passiv. A ußer Berlin, das bereits 1852 mit dem Bau einer A bwasserkanalisation begann, blieb die große Mehrzahl der preußischen Städte bis weit in die 1880er Jahre hinein auf diesem Gebiet untätig. Noch 1883 konnten nur 27,3% der preußi schen Stadtbürger die Vorteile einer planmäßigen Kanalisation genie ßen97. Mit der Trinkwasserversorgung ließen sich die Kommunen noch 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
mehr Zeit; so pumpten die Hamburgischen Wasserwerke bis 1894 unfil triertes Elbwasser in die Leitungen98. Angesichts der hohen Kosten, die solche Assanicrungsmaßnahmen für die Kommunen mit sich brachten, war ihre lange Verzögerung leicht erklärlich, zumal eine wissenschaftlich verifizierte A nalyse des Zusammenhangs zwi schen Infektionskrankheiten wie Cholera oder Typhus und schmutzigem Trink- und A bwasser noch nicht vorgelegt bzw. akzeptiert worden war“. Dennoch lassen sich die oben skizzierten, ausschließlich am Einzelfall anset zenden frühen Reaktionsweisen kommunaler und medizinalpolitischer In stanzen auf die Cholera nicht allein durch den Mangel theoriefester Untersu chungen oder finanzieller Ressourcen begründen. Solange die gesamte A r menfürsorge auch und vor allem im Vormärz von der Überzeugung getra gen wurde, daß die Armen an ihrem Schicksal selbst schuld seien, war auch an eine durchgreifende Sozialpolitik im Sinne präventiver gesundheitspoliti scher Maßnahmen nicht zu denken. A nstatt Konzepte darüber auszuarbei ten, wie der besonderen und für die Gesellschaft insgesamt gefährlichen Krankheitsanfälligkeit der sozialen Unterschichten wirksam vorgebeugt werden konnte, entwickelte man komplizierte Quarantänepläne, diejedoch erst nach einem Ausbruch der Seuche in Kraft treten sollten. Die Isolierung der Hauskranken in ihren abgesperrten Wohnungen, die Einrichtung zentraler Cholcrahospitäler außerhalb der Städte und die gründliche Desinfizierung aller im Umkreis von Cholcrakranken gesichte ten Objekte konnten, wie die Erfahrung hinlänglich bewiesen hatte, weder die Epidemie selbst verhindern noch ihre weitere Ausbreitung unterbinden. Trotzdem hielt man seitens der Medizinalbürokratie und der kommunalen Sanitätskommissionen weiter daran fest, so daß sich der Eindruck auf drängt, als ob es vor allem darauf ankommen sollte, die Infizierten zu bestrafen. Stets war hervorgehoben worden, daß bestimmte, vor allem bei den »niederen Ständen« anzutreffende Verhaltensweisen wie A lkoholismus und Unreinliehkeit die Erkrankungswahrsehcinlichkeit wesentlich erhö ten100. Wenn nun aber die ärmeren Schichten sich nicht nach den ärztlich empfohlenen Gesundheitsregeln richteten, forderten sie die Cholera gerade zu heraus und waren eigentlich selbst für ihr Unglück verantwortlich. Dieses Selbstsehuld-Paradigma, das uns schon im Kontext der Armutsde batte begegnet ist, bürgerte sich seit den 1830er Jahren auch in den öffentli chen Auseinandersetzungen um die pathologische Konstitution der pauperi sierten Bevölkerungsgruppen ein. Die »wissenschaftliche« Medizin, die an der Cholera-Herausforderung so kläglich gescheitert war, konnte hier ihre Qualitäten als »Verhaltenswissensehaft« unter Beweis stellen und entwik keltc einen ausgefeilten Erklärungsansatz für die »sittlichen« Ursachen der vermehrten Krankheitsanfälligkeit sozialer Unterschichten. A rmut und Krankheit waren danach zwei sich wechselseitig verstärkende Seiten dersel ben Medaille, die mit den Stichworten »Unsittliehkeit« und »Immoralität« ausreichend charakterisiert zu sein schien. 135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
3. Medikalisierung zwischen >>Sittlichkeits«-Kontrolle und präventiver Sozialpolitik Sehr deutlich läßt sich dieser soziale Zuschreibungsprozeß von selbstver schuldeter Armut und Krankheit in den Veröffentlichungen der Hamburger Armenverwaltung nachvollziehen. Hatte das Armenkollegium gegen Ende des 18. Jahrhunderts den durch »hohes A lter, körperliche Gebrechen und Kränklichkeit allein« in Not Geratenen noch »A chtung und Mitleiden« entgegengebracht, wurden schon in dem Bericht von 1817 ganz andere Töne angeschlagen. Dort hieß es nämlich in kaum zu übertreffender Eindeu tigkeit: »Wie viele Kranke müssen wir heilen, die sich in den Krügen die Wassersucht, auf den Tanzsälen die Schwindsucht und in anderweitiger liederlicher Lebensart den ersten Krankheitsstoff holten?« Ebenso hatten es die Armcnpfleger in einer Erfolgsbilanz der ersten zchnjahre noch als höchst »erfreulich« bezeichnet, daß sich eine große Zahl von Kranken, die nicht zu den eingezeichneten A rmen gehörten, an die Medizinalanstalt wandten und dadurch ihrer gänzlichen Verarmung vorbeugten. Zwanzig Jahre später verlautete es dann zu diesem Punkt, »daß eingezeichnete Kranke sich krank meldeten, um Krankengeld zu erschleichen, daß unter den Uncingezcichne ten viele eine freye Kur erhielten, die sie selbst bezahlen konnten, andere, in Hoffnung des Krankengeldes und künftiger Einzeichnung, eine leichte Krankheit durch Betrug größer scheinen machten«101. Für diesen Meinungsumschwung war zweifellos die enorm gestiegene Zahl derjenigen verantwortlich, die bei der A rmenanstalt um kostenlose ärztliche Hilfe und Medikamente nachsuchten. Während 1791 insgesamt 4474 Kranke (3232 eingezeichnete und 1242 uncingezeichnete) behandelt worden waren, kletterte ihre Zahl 1821 auf 16442, von denen drei Viertel nicht zu den gewöhnlichen A lmosenempfängern gehörten, sondern aus der Gruppe der Noch-Nicht-Gänzlich-Verarmten stammten. Im gleichen Zeit raum hatte sich die Menge der regelmäßig unterstützten A rmen erkennbar verringert: 1791 waren 3890 Familien (5114 Erwachsene und 2700 Kinder) mit A lmosen versorgt worden, 1821 nur noch 2653 Familien102. Dieses auffällige Mißvcrhältnis zwischen sinkender A rmen- und steigender Kran kenzahl erhöhte die Bereitschaft des Armenkollcgiums, die Kranken nicht nur der Selbstschuld, sondern auch der Simulation zu bezichtigen. Die »Entsittlichung« und »Verwilderung« der Unterschichten sei so weit voran geschritten, daß nunmehr jedes Schamgefühl, jeder Ehrgeiz verschwunden sei und einem unverschämten A nspruchsdenken Platz gemacht habe. Bei jeder Kleinigkeit bäten Familien, die »nicht im Wohlstande« lebten, um einen Krankenzettel, der ihnen freie ärztliche Behandlung und kostenlose Medikamente ermöglichte. Zumeist sei dies aber nur ein Vorwand gewesen, um ein ein- oder zweimaliges Krankengeld beziehen zu können, so daß »Arzt und Mediein unbenutzt blieben, sobald das Krankengeld bewilligt war« 103 . 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich auch in Berlin ab, wo die Anzahl der im Rahmen der A rmcnkrankenpflege behandelten Personen im Vormärz ebenfalls Rekordhöhen erreichte. Während sich die Menge der Almosenempfänger zwischen 1822 und 1845 knapp verdoppelte, erhöhte sich die Zahl der in ihren Wohnungen oder in der Charite ärztlich versorgten Kranken von 11543 im Jahre 1824 auf schätzungsweise 36000 im Jahre 1843104. A ngesichts dieser explosionsartigen A ufwärtsbewegung platzten die Medizinaleinrichtungen der städtischen A rmenverwaltung aus allen Nähten. Gab es seit 1823 im Zuge der »Einführung einer verbesserten Armen-Krankenpflege« insgesamt zwölf Ärzte, ebenso viele Wundärzte, zwei Augenärzte und einen Geburtshelfer, die für ihre Dienstleistungen von der Stadt besoldet wurden, so hatte diese Organisation bald die Grenze ihrer Kapazitäten erreicht. Zwölfjahre später wurden deshalb die die ganze Stadt umfassenden Medizinalbezirke erneut geteilt und die Zahl der angestellten Armenärzte auf 31 erhöht105. Obgleich die vorliegenden Berliner Quellen nicht nach eingezeichneten und nichteingezeichneten A rmenkranken differenzierten, ist anzunehmen, daß der enorme A nstieg der Patientcnzahlen ähnlich wie in Hamburg auf einer zunehmenden Inanspruchnahme medizinischer Sach- und Personallei stungen seitens der noch nicht völlig verarmten Bevölkerungsschichten beruhte. Dies ging auch aus einem Bericht des Berliner Armenarztes Liman hervor. Danach war die Vermehrung der Armenkranken pro Zivileinwoh ncr »nicht zu suchen in einer größeren Zunahme der am meisten der Armen pflege anheim fallenden Personen, der Almosenempfänger«, sondern in der extensiven Beanspruchung der Medizinaleinrichtungen durch außenstehen de Personen. Liman hatte in den Listen der A rmenärzte vor allem die sehr »zahlreich . . . figurirenden Familien von Handwerkern, kleinen Meistern, Gesellen, A rbeitsleuten, Executoren, Gerichtsschreibern, Constablern, von im Dienst befindlichen Bedienten oder Kutschern von Generalen und sonsti gen Herrschaften, ja hoher Herrschaften u.s.w. u.s.w.« gefunden106. Die absolute und relative Vermehrung dieser am Rande der Armut leben den Bevölkerungsgruppen spiegelte sich folglich nicht so sehr in den Bi lanzen des offiziellen A lmosenfonds der A rmendirektion, sondern in den Statistiken ihrer Medizinalabteilungen107. Den sozialen Unterschichten blieb in Krisensituationen gar nichts anderes übrig, als zumindest zeitweilig die Kompensations- und Überbrückungsangebote der Armenverwaltung in Anspruch zu nehmen. Gerade die Einrichtungen der A rmenkrankenpflege waren hier besonders gefragt, wofür wohl hauptsächlich die Gewährung kostenloser A rzneien (die auch als Nahrungsersatz und Stärkungs- und Aufputschmittel benutzt werden konnten) als auch die Bestimmung verant wortlich gewesen sein mögen, daß es den Armenärzten freistand, »in dazu geeigneten Fällen den armen Kranken veränderte oder verbesserte Nah rungsmittel als Heilmittel zu verordnen (Fleisch, Fleischbrühe, Wein etc.), welche die A rmenkommissionen auf Spcisewirthe, mit welchen sie Con137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
tracte geschlossen, anweisen«108. Nicht von ungefähr verzeichnete gerade dieser Posten der »diätetischen Verpflegungsmittel« nach 1823 die schnellste Progression im Ausgabenbudget der A rmenkrankenpflege109. Viele Zeitgenossen deuteten die steigenden Patientenzahlen schlichtweg als Simulation: durch die »Erheuchelung« von Krankheiten spekulierten die unbemittelten Bcvölkcrungsschichten auf das Mitgefühl der A rmenpfleger und verlören jegliches Schamgefühl und Menschenwürde. Der »Ehrgeiz, welcher sonst so wirksam verhinderte, sich als einen Gegenstand öffentli cher Milde zu zeigen«110, sei bei den ärmeren Leuten völlig hinter »Egois mus« und »Immoralität« zurückgetreten; die »entsittlichten«, aller morali schen Restriktionen ledigen Unterschichten schreckten selbst davor nicht mehr zurück, ihre Lethargie und Arbeitsscheu hinter vorgeschützten Krank heiten zu verstecken. Im Gegenzug bemühten sich die Armenverwaltungen, durch »vergrößerte Strenge minder bedeutende Krankheiten, bloße Indis position oder erheucheltes Unwohlseyn« auszugrenzen111. Das bedeutete jedoch nicht, daß zugleich den »wahrhaft Kranken« eine moralische Ehren rettung zuteil wurde. Vielmehr gerieten auch sie in die Mühlen der seit den 1830er Jahren das armenpolitische Feld beherrschenden Diskussion über die zunehmende »Entsittlichung« der Unterschichten. Hier hatte man die Wur zel des Pauperismus entdeckt, und alle Erscheinungen des Elends, der Not und der Verzweiflung wurden über diesen Leisten geschlagen. A ls sich 1831 in Hamburg ein Verein zur Bekämpfung der Cholera konstituierte und eine exakte Bestandsaufnahme der A rmenbevölkerung vorlegte, waren es »hauptsächlich die Sucht, in der Zahlen-Lotterie zu spielen und die Trunk sucht . . ., welche sich uns klar als nächster Grund der Verarmung darstell ten, und möchten wir diese beyden hier als die eigentlichen Plagegeister der Armen, als die Grund-Ursache ihres Übels bezeichnen«112. Eben dieser völlige Mangel an Selbstkontrolle und »Mäßigung«, den die bürgerlichen Beobachter des A rmenmilieus bei ihren »Schutzbefohlenen« entdeckt zu haben meinten, stand im Mittelpunkt aller Diskussionen um den Pauperis mus, den der Oberregierungsrat Hoffmann mit dem Terminus »entsittli chende Dürftigkeit« übersetzte113. Viel allgemeiner und rigoroser noch als in den Debatten über eine Reform des Armenwesens gegen Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte die morali sche Verurteilung der Armut seit den 1830er Jahren das soziale Bewußtscin der bürgerlichen Öffentlichkeit. A ll das, was die bürgerliche Klasse als »Sittlichkeit« definierte, suchte sie bei den unterbürgerlichen Schichten vergebens: »Fleiß, Ordnungssinn, Sparsamkeit oder vernünftige Neigung zur Vermehrung des Besitztums, A chtung vor den Familienbanden und Erfüllung der Familienpflichten«114. Statt dessen schienen »die vielseitige moralische Zerrüttung, die allmählige und allgemeiner verbreitete, exzessi ve Indolenz der untern Volksklasse wegen des Fortkommens im Leben; das leichtsinnige >in den Tag hineinleben 115 immer mehr um sich zu greifen. Gerade in dieser »entsittlichten« Mentalität und Handlungsorientierung 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
lag dn auch - nach Meinung bürgerlicher Kommentatoren - eine entschei dende Ursache der Massenverarmung. Die sexuelle Zügellsigkeit der Un terschichten, ihre Unfähigkeit zum Triebverzicht oder -aufschub, hätten zu vorzeitigen Familiengründungen gefuhrt und den Grundstein für die rasch voranschreitende Pauperisieung gelegt. Sinnenfreude und Faulheit der A r men wären dafür verantwortlich, daß sie nicht ausdauernd genug arbeiteten. Der Reiz des Lottos verführte sie dazu, ihr b i ß c h e n b und Gut aufs Spiel zu setzen und zu verlieren. Ebenso wäre ihre Vorliebe für Rausch und Geselligkeit daran schuld, daß das Familieneinkommen nicht für Brot und Kartoffeln, sondern für Fusel ausgegeben würde 116 . Wenn auch manchmal die A nsicht laut wurde, daß all diese Indizien moralischer Geunkenheit lediglich das Ergebnis äußerster Armut wären, daß die »materielle Dürftig keit« der »sittlichen« voranginge117, folgte doch die öffentliche Paupeis musdebatte mehrentels der umgekehrten, verantwortungsentlastende Be weisführung. An der moralischen Ausgrenzung der verarmenden Unterschichten wirk te auch die Medizin mit. Sie war es, die dem Selbstschuld-Paradigma einen geradezu wissenschaftlichen A nstrich gab, indem sie die A rgumenta tionskette »Entsittlichung - A rmut« um ein weiteres Glied »Krankheit« ergänzte. Immer häufiger und massiver beriefen sich Ärzte auf ihre fachliche Kompetenz, wenn es darum ging, die Sclbstvcrantwortliekeit der Unter schichten für ihre elende Lage zu begründen. Indem sie »typische« Krank hcitsbildcr der »armen Leute« identifizierten, lieferten sie ein legitimatori sches Gerüst für deren soziale und moralische Stigmatisierung. Es waren vor allem drei pathogaic Befunde, die die Mediziner bei den A rmen entdeckt hatten: Alkohol, ungezügelte Sexualität und Schmutz. Im »Branntweintrin ken«, in »sexueller A usschweifung und Lüsternheit« und in der »Unrein liehkeit« sahen viele Ärzte die Ursachen für die auffällige Krankheitsbetrof fenheit der Unterschichten, wobei sich alle drei Faktoren bequem aus indivi duellem Fehlverhaen und einer psychisch-sozialen Deformation herleiten ließen. Die Sucht nach Geuß, die Gleichgültigkeit gegenüber Schmutz und Unordnung legten den Keim für gravierende Gesundheitsstörungen, die nicht selten zur völligen Arbeitsunfähigkeit und Verarmung führten. Damit schloß sich der Kreis: die »Liederlichkeit« als Charaktemcrkmal der A r menbevölkerung brachte spezifische Krankheiten hervor, die die gänzliche Verarmung begleiteten, beschleunigten oder überhaupt erst herbeiführten. In diesem Sinne argumentierte beispielsweise der Berliner Charitéarzt Wolff, der das »Branntweintrinken« als »Grundlage der A rbeitsscheu, des physischen Unvermögens zur Arbeit und mannigfacher Laster« bezeichnete und ihm die Krankheitsbilde »Lungenschwindsucht« und »Epilepsie« zu ordnete118. Der ebenfalls in Berlin praktizierende A rzt, Wundarzt und Ge burtshelfer Wollhem berief sich auf eigene Erfahrung und das Urteil seiner Berufskollegen, als er feststellte, »daß die übertriebene Volkssitte des Branntweintrinkens das physische Wohl der ganzen Generation unter139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gräbt«. Zu den pathologischen Folgen er »Trunksucht« zählte e »Conges tionen nach Kopf, Brust oder Unterleib, Entzündungen des Magens, der Därme, Lungen und Leber, Schlagflüsse, chronisches Erbrechen, Gicht, Wassersuchten, Nervenfieber und Zitterwahnsinn«119. Noch umfassender war das Krankheitsspektrum, das der Oppelner Medizinalrat Lorinser bei seinen dem Suff ergebenen oberschlesischen Mitbürgern gefunden hatte. Danach waren schon die Säuglinge alkoholverseucht, die »außer der spin tuösen Muttermilch, zuweilen noch mit reinem Schnaps getränkt« würden. Selbstmorde und Unglücksfälle, Wochenbettsterblichkeit und Totgeburten mußten laut Lorinser »zum großen Theil der Trunksucht beigemessen werden« 120 . Neben dem A lkohol war es die vermeintlich unkontrollierte Sexualität der Unterschichten, die ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit unterminieren und für immer schwächen sollte. Der häufig durch A lkohol stimulierte Hang zur »geschlechtlichen A usschweifung« wäre Männern und Frauen des »gemeinen Volkes« gleichermaßen eigen und führte nicht allein zur vorzeiti gen und materiell ungesicherten Eheschließung, sondern auch zu spezifi schen Krankheitsformen, von denen die Svphilis die abschreckendste war. Wollheimschätzte 1844 die Zahl der syphilitischen Krankheitsfälle in Berlin pro Jahr auf etwa 6000 und zitierte aus einer Statistik, nach der hauptsächlich Angehörige der sozialen Unterschichten zu den Krankheitsträgern gehör ten. In der Tat tauchten in den mit der Behandlung von Syphiliskranken betrauten Krankenhäusern beinahe ausschließlich die »niedern Stände« der Gesellschaft auf: unter den zwischen 1833 und 1837 in der Charité versorgten venerischen Männern waren genau zwei Drittel Handwerksgesellen und Lehrlinge und ein Viertel »Domestiken und A rbeitsleute«. Unter den be handelten Frauen stellten die Prostituierten das größte Kontingent (fast 50%); die andere Hälfte bestand im wesentlichen aus Dienstmädchen und Handarbeiterinnen121, Obgleich allgemein klar sein durfte, daß aus dieser Statistik die große Zahl derjenigen herausfiel, die schon aus Statusgründen niemals ein Krankenhaus aufgesucht hätten und sich statt dessen heimlich kurieren ließen, mußten solche A ngaben die verbreitete Meinung von der Selbstschuld armer Kranker weiter verfestigen. Der dritte auf eigenem Felverhalten beruhende Krankheitsfaktor, den die Mediziner anführten, war die sprichwörtliche Unreinliekeit der ärme ren Leute, ihr völliger Mangel an Sauberketsempfinden. Weder auf die eigentliche Körperhygiene noch auf die Reinhaltung der Wohnungen oder Nahrungsmittel legten die Unterschichten angeblich irgendeinen Wert; A r mcnpflegcr, Pfarrer und Ärzte entsetzten sich immer wieder von neuem und seit den 1830er Jahren immer lautstarker - über die Schmutzanhäufun gen vor und in den Häusern der A rmen122. In jedem Bericht über die Arnienbevölkerung (in ihrem weitesten Sinne) wurde der sorglose Umgang der Menschen mit ihren A usscheidungen besonders hervorgehoben und scharf kritisiert. So schrieb Rudolf Virchow: »Der Oberschlcsier wäscht sich 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
im A llgemeinen gar nicht, sondern überläßt es der Fürsorge des Himmels, seinen Leib zuweilen durch einen tüchtigen Regenguß von den darauf ange häuften Schmutzkrusten zu befreien. Ungeziefer aller A rt, insbesondere Läuse, sind fast stehende Gäste auf seinem K ö r p e r . « 1 2 3 e i a ß ein kausa ler Zusammenhang zwischen Schmutz und Krankheit überhaupt schon beweisbar war - eine chemisch-naturwissenschaftlich begründete Bakterio logie entwickelte sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts -, galt den Medizinern, und nicht nur ihnen, eine solche ursächliche Beziehung als unumstößliche Tatsache. Nicht nur bei den eigentlichen Hautkrankheiten (Krätze) wurde Unreinlichkeit lsKrankheitsursache diagnostiziert, son dern auch bei epidemisch auftretenden Krankheiten zog man eine direkte Verbindung zwischen mangelnder Sauberkeit (am Körper, in der Woh nung, bei der Essenszubereitung und Abfallbeseitigung) und Ansteckungs häufigkeit. Indem Ärzte in dieser Weise Schmutz, Sexualität und Alkohol als patho gene Faktoren kennzeichneten, schoben sie den kranken A rmen und den armen Kranken selbst die Verantwortung für ihre Situation zu. Wenn nun aber die »Inimoralität« der »niedern Stände« für ihre physische Verelendung verantwortlich gemacht werden konnte, entzog man sich zugleich der Not wendigkeit, die sozialen Mißstände wie ungesunde Ernährungs- und Wohn vcrhältnissc, mangelhafte sanitäre Infrastruktur usw. zu bearbeiten und aufzuheben. Die »Heilung« des »krankhaften Zustande«, in dem sich die ärmeren Beölkeungsschichten per definitionem befanden, begann dann eben nicht mit einer gründlichen Städtessanierung, sondern mit ihrer Erzie hung zu Selbstkontrolle, Disziplin und Sauberkeit. Für diese zivilisatorische Aufgabe schienen die »rationellen Ärzte« beson ders geeignet zu sein. In den öffentlichen A useinandersetzungen um zuneh mende A rmut und Krankheit in den »unteren Ständen« wurden sie denn auch immer wieder als kompetente Experten aufgerufen, »die großen Mas sen der niedern Proletarier« aus ihrer »entsittlichenden Dürftigkeit« heraus zuführen: »Der A rzt, welchen sein Beruf genauer, als fast irgend einen andern Stand, mit dem menschlichen Elende bekannt macht, darf auch vorzüglich sich berechtigt und verpflichtet achten, hier kräftig einzugrei fen.«124 Dieses »Eingreifen« sollte einerseits darin bestehen, bereits ausge brochene Krankheiten zu heilen und Epidemien unter Kontrolle zu halten; genauso wichtig war jedoch der erzieherische Einfluß, den der A rzt auf seinen armen Patienten ausüben konnte. Vor allem diese letzte Funktion hatte offensichtlich Rudolf Virchow im Blick, als er 1848 anläßlich der obcrschlesischen Typhusepidemie schrieb: »Es handelt sich für uns nicht mehr um die Behandlung dieses oder jenes Typhuskranken durch A rzneimittel und Regulirung der Nahrung, Wohnung und Kleidung; nein, die Cultur von W: Millionen unserer Mitbürger, die sich auf der untersten Stufe moralischer und physi scher Gesunkenheit befinden, ist unsere Aufgabe geworden.«125
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Wie wichtig gerade auch die Vertreter einer »socialen Medicin« die A n passung der »degenerierten« Unterschichten an bürgerliche Werte und Vcr haltensstandards nahmen, zeigte sich in Virchows A ufzeichnungen, die er als Abgesandter der preußischen Regierung über die vom Typhus heimge suchte Bevölkerung Oberschlesiens machte. Sic lesen sich auf weite Strek ken wie ein Lehrbuch bürgerlicher Tugenden, die ihre Höherwertigkeit gegenüber vielfältigen Beispielen empörender Untugend begründeten. Da war die Rede von der »vollkommen hündischen Unterwürfigkeit« der Oberschlesier, von ihrer extremen »Unreinlichkeit und Indolenz«, von ihrer »Abneigung gegen geistige und körperliche A nstrengungen«, von ihrer ausgeprägten »Neigung zum Müßiggang oder vielmehr zum Müßiglie gen«. Vor dem Enthaltsamkeitsfeldzug der katholischen Kirche wären die Obcrschlesier überdies ein Volk von Säufern gewesen, »dem Brandweinge nuß in der extremsten Weise ergeben« und der »Befriedigung des Ge schlechtstriebes« hemmungslos verfallen. Diese charakteristischen Merk male machten laut Virchow »einen so widerwärtigen Eindruck auf jeden freien, an Arbeit gewöhnten Menschen . . ., daß man sich eher zum Ekel, als zum Mitleid getrieben fühlt«126. Eben diese Mischung aus »Ekel« und »Mitleid« war konstitutiv für die Einstellung, mit der sich auch liberale und sozialkritische Ärzte den kranken Unterschichten näherten. Einerseits rief der A nblick der unterernährten, zwischen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit schwankenden A rmen bei diesen Ärzten Patronageneigungen hervor, die sich zuweilen in scharfe, politisch gemünzte Attacken gegen die systembedingten A usdrucksformen sozialer Ungleichheit umsetzten. Nicht wenige Mediziner hatten im Vor märz ein Gespür für krasse soziale Ungerechtigkeiten entwickelt und waren gegenüber den gesellschaftlichen Ursachen oder Verstärkungen individuel ler Krankheitsbilder durchaus nicht blind. So gab es für Virchow keinen Zweifel, daß die Typhusepidemie »nur unter solchen Verhältnissen, wie sie Armuth und Mangel an Cultur in Oberschlesien gesetzt hatten«, ausbrechen konnte, und er schlußfolgerte daraus: »Man nehme diese Verhältnisse hin weg, und ich bin überzeugt, daß der epidemische Typhus nicht wiederkeh ren würde.« 127 Auf der anderen Seite war das, was bürgerlich sozialisierte Mediziner in den Hütten und Kellerwohnungen sahen, ihren eigenen Verhaltensstan dards so fremd, daß sich Gefühle der Verachtung, der kulturellen A rroganz und Hegemonie einstellten. Bezeichnend für diese Ambivalenz waren auch die Sprachformen, in denen die »sociale Medicin« ihr Verhältnis zu den Armen beschrieb. Berühmt und viel zitiert ist Virchows Formulierung, die Ärzte seien die »natürlichen A nwälte der A rmen« 128 . Der komplementäre »andere Blick«, die Perspektive des Helfens »von oben«, kam dagegen zum Vorschein, wenn er davon sprach, daß »das Volk, so wie es jetzt ist, körperlich und geistig schwach, . . . einer A nleitung, einer A rt von vor mundschaftlicher Leitung« bedürfe129. Dieser ärztliche Führungsanspruch, 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gepaart mit einem unerschütterlichen (natur)wisscnschaftlichcn Fort schrittsglauben, bildete sich in einer Medikalisierungspraxis ab, die sich sowohl der allgemeinen »Zivilisierung« der Unterschichten als auch einer engagierten Sozialreform verpflichtet wußte. Einerseits hielten es die Ärzte für wichtig, ihre armen Patienten zu einem rationalen, kalkulierten Gesund heitsverhalten zu erziehen. Jenseits individueller Schuldzuschreibungen wandten sie sich aber auch gegen die unhaltbaren und gesundheitszerstöreri schen Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Bevölkerung leben muß tc. Verseuchtes Trinkwasser, verschmutzte Straßen und Gänge, zu enge und feuchte Wohnungen, schlechte Nahrungsqualität rückten häufiger in den Mittelpunkt ärztlicher Kritik, wenngleich der Hinweis auf die »Indolenz« und Sittenlosigkeit der »niedern Stände« als verstärkendes Moment niemals fehlte. Letztlich war jedoch das Bewußtsein für die Notwendigkeit grundle gender (infra-)struktureller Veränderungen unter den Medizinern noch nicht besonders ausgeprägt, und selbst Virchow als einer der radikalsten Verfechter einer sozialen Medizin hielt sich mit konkreten sozialreformcri schen Forderungen auffallend zurück. Aufschlußreich war sein Verhalten während der obersehlesisehen Ty phusepidemie. In seinem Erfahrungs- und Rechenschaftsbericht redete er einer klaren Trennung von Medizin und Politik das Wort: die Medizin »als eine sociale Wissenschaft« sollte auf Probleme aufmerksam machen und ihre »theoretische Lösung« anpeilen, wogegen die Politik die »Mittel zu ihrer Lösung« zu finden hatte130. Eine derartige A ufgabenteilung führte bei Vir chow dazu, daß er der Regierung die A nstellung zusätzlicher Ärzte im Krisengebiet vorschlug: nur die konsequente Medikalisierung, der finanz kräftige A usbau der medizinischen Infrastruktur wären in der Lage, die Epidemie kurzfristig und auf lange Sicht einzudämmen und ihre Wurzeln abzugraben. Über die skeptischen Einwände des Oppelner Medizinalrats Lorinser, der auf die ökonomischen und psychosozialen Schwierigkeiten einer solchen Intervention aufmerksam gemacht hatte, setzte sich Virehow mit scharfen Worten hinweg und beschuldigte Lorinser der »sträflichen Unkenntnis der loealen Verhältnisse«131. Seiner A nsicht nach könnte man die Seuche nur durch die unverzügliche Entsendung zahlreicher Ärzte an ihrer Ausbreitung hindern. Lorinser argumentierte dagegen: »Das Volk hat kein Vertrauen zu den rationellen Ärzten . . . Pflege, Trost und Lebensrnittel thun vor Allem noth und die Kranken werden meistens ohne Arzt gesund. Cessante causa cessat effeetus. Und was für Ärzte haben sich gemeldet? Meistens junge Leute (sogar aus Berlin), die keine Praxis haben, sich versuchen wollen, kein Wort polnisch verstehen und selbst am Hungertuche nagen. So ein Mann, zuweilen noch von allem Hochmuth der Schule aufgebläht, verlangt täglich 3 bis 5 Thaler Diäten, außerdem noch Reisekosten und würde für ein paar Dörfer alle Tage um 30 Thaler Median verschreiben, mithin einen Kostenaufwand verursa chen, mit welchem die ganze Bevölkerung des Dorfes gespeist werden kann. Ich bin von Anfang gegen die Hinsendung von solchen fremden Hülfstruppen gewesen und der Ober Präsident hat sich bei seiner Anwesenheit selbst überzeugt, daß diese Maßregel nicht ausführbar ist und überall von den Leuten verschmäht wird.« 132 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
aIn diesem Prinzipienstreit war Lorinser schließlich der Verlierer: die preu ßische Regierung schickte Ärzte und Medikamente, um der beunruhigen den Epidemie, deren Ätiologie man noch nicht einmal kannte, Herr zu werden. In neun obersehlesisehen Kreisen wurden insgesamt 26 besoldete Distriktärzte eingestellt, die »zur Verhütung der neuen Entwicklung und weiteren Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten« wirken sollten133. Indem sich die Medizin für die physische und moralische »Cultur« der Bevölkerung zuständig erklärte, bot sie dem politischen System Program me an, die den sozialen Desintegrationsprozeß aufzufangen und zu entschär fen versprachen. Einerseits erhob sie den Anspruch, die Gesellschaft vor den pathologisierten und mit A nsteckungskeimen behafteten Unterschichten schützen zu wollen; zum anderen bearbeitete sie den »Krankheitsherd« selbst und suchte ihn mittels »Sittlichkeits«-Erziehung und ärztlich-medika mentöser Betreuung zu eliminieren. Die Forderung nach einer konsequen ten, vom Staat finanzierten und durchgesetzten Medikalisierung der unbe mittelten Bevölkerung verstand sich folgerichtig als Teil einer präventiven Sozialpolitik, die die sich vertiefende Kluft zwischen den »Besitzenden« und der »pauperisierten« und »proletarisierten« Unterschicht134 allmählich überbrücken konnte. Dieses Konzept, das schon bei der Einrichtung einer Medizinalabtcilung der Hamburger A rmenanstalt Pate gestanden hatte, tauchte nun wieder in den Stellungnahmen und Petitionen von Medizinern auf, die sich im Kon text der Medizinalreformbewegung der 1840er Jahre um die politische, soziale und ökonomische A ufwertung des ärztlichen »Standes« bemüh ten135, aber auch nach neuen Berufschancen für die in eine Übcrfüllungskri se geratene Profession suchten136. So bezeichnete es der Mediziner Karl Deutsch 1846 als »ein Hauptmotiv des Elends und der Noth unter den arbeitenden Volksklassen«, »daß der Arme, der in seiner und seiner A nge hörigen Gesundheit die Grundlage seiner ganzen Subsistenz, sein einziges Erwerbskapital besitzt, von der Wohlthat der ärztlichen Hilfe . . . ausge schlossen sein soll«, und empfahl in einem A temzug die »von Seiten des Staates erfolgende A nstellung und Besoldung der Ärzte; die auf öffentliche Kosten stattfindende Bezahlung der Arzneien; — Errichtung und Unterhal tung von Distrikts-Hospitälern auf öffentliche Kosten«137. Sehr deutlich spiegelte sich dieses doppelte Interesse der A rzte an einer Ausweitung der Medikalisierungsprogramme auch in der A useinanderset zung, die 1848/49 in der »Medieinisehen Reform«, einer von Virchow und Leubuseher herausgegebenen Zeitschrift, um Status und A nstellungsmodus der Armenärzte gefuhrt wurde. Virchow hatte in einer vielbeachteten A rti kelserie das bestehende System der A rmenkrankenpflegc scharf kritisiert und vor allem zwei Punkte herausgehoben: die offene Diskriminierung der armen Patienten und die Demütigung der Ärzte durch die A dministration. Seine Forderung, den besonderen, von der staatlichen oder kommunalen Bürokratie definierten Status des Armenarztes abzuschaffen, leitete sich aus 144
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einer Überzeugung her, nach der die Armcnmedikalisierung personell und konzeptionell zu einem System allgemeiner Gesundheitspflege fortentwik kelt werden müßte. Zu diesem Zweck war es nach Virchows A uffassung unbedingt notwendig, den Kreis derjenigen, die in den Genuß kostenfreier ärztlicher Behandlung kamen, auszudehnen und auf diese Weise ein wirksa mes Gegengewicht gegen die physische und psychische Verelendung breiter Bevölkerungsschichten zu schaffen138. Die Armenkrankenpflege übernahm folglich unmittelbare A ufgaben einer sinnvollen A rmutsprävention. Das konnte aber nur unter der Voraussetzung gelingen, daß sie sich nicht wie bisher als »eine exceptionelle und exclusive . . . Institution« verstand, son dern als Teil einer bewußten Politik, deren Ziel die Integration aller Staats bürger auf der Basis einer »gesundheitsgemäßen Existenz« zu sein hatte139. Im Gegensatz zu der bestehenden Gepflogenheit, nur völlig verarmten Perso nen unentgeltliche ärztliche Hilfe zu gewähren, gälte es nun, »erfolgreiche Maßregeln gegen die Steigerung des Pauperismus (zu) treffen«140 und den unbemittelten Bevölkerungsschichten quasi prophylaktisch eine umfassen de Medikalisierung anzubieten. Damit hätte sich dann aber auch die Institution besonderer A rmenärzte überlebt. Schließlich ging es nicht an, die Armen, die man aus ihrer »A us nahms-Stellung befreien« wollte, dadurch zu diskriminieren, daß ihnen nur ein bestimmter, von der Obrigkeit eingesetzter A rzt zur Verfugung stand. Der Tagelöhner, der Handwerksgeselle, der Fabrikarbeiter, der Heuerling mußte wie der Begüterte auch »Herr seines Leibes« werden. Deshalb sollte man die armenärztliche Praxis frei geben und die daran interessierten Ärzte eine »A ssociation« bilden lassen. Mit diesem sich selbst kontrollierenden Verein könnte dann die Kommune einen Behandlungsvertrag schließen und ein Pauschalhonorar vereinbaren. Für die Ärzte wäre ein solcher Modus weit angenehmer als die bisherige Verfahrensweise, nach der »Nepotismus« und »Connaissance« die A uswahl der A rmenärzte beherrschten. Sic könnten sich in »freier Concurrenz« und »gegenseitiger Überwachung« darüber abstimmen, wie und nach welchen Grundsätzen die Behandlung unbemit telter Kranker durchzufuhren wäre, und lösten sich auf diese Weise von der irrationalen und einer allgemeinen Gesundheitspflege absolut hinderlichen Kontrolle durch die sachfremde Bürokratie. Darüber hinaus würden sich auch die ökonomischen Verhältnisse der Ärzte wesentlich verbessern, in dem die von ihrer »A ssociation« ausgehandelten Honorare »nicht in einem so schreienden Mißverhältnis zu der geleisteten Arbeit stehen, wie es bei den jetzigen A rmenärzten der Fall ist« 141 . Dieses Reformkonzept fand unter den Medizinern »großen A nklang« 142 , versprach es doch, die von den meisten Ärzten gefurehteten harten Konkur renzkämpfe um die wenigen A rmenarztstellen durch eine allgemeine Parti zipation an den öffentlichen Fonds zu ersetzen. A ber Virchow erntete auch Widerspruch. Zwar sprachen sich alle Kritiker unisono dafür aus, die Will kür der Kommunen bei der Besetzung der Armcnarztstellen durch rationale, 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
leistungsbezogene A uswahlverfahren abzulösen. A uf der anderen Seite schien die Vorstellung, alle Ärzte gleichmaßig an der A rmenkrankenpflcge zu beteiligen, für manche Berufskollegen nicht sehr angenehm gewesen zu sein. Einmal befürchteten sie davon eine Erosion ärztlicher und kommuna ler Kontrolle über die Patienten, die ihren Arzt nun genauso aufsuchen und wechseln konnten wie wohlhabende Kranke. Die besondere herrschaftliche Autorität des fest angestellten A rmenarztes und seine Überwachungsfunk tion waren damit gleichermaßen in Frage gestellt143. Mit tiefer Skepsis begegneten nicht wenige Ärzte auch Virchows Konzept der freien A ssocia tion: letztendlich würden dadurch ohnehin nur wieder die schon etablierten und bekannten Ärzte den finanziellen Rahm abschöpfen; ihren jungen und unerfahrenen Kollegen blieben dagegen Praxis und Honorar vorent halten144. Diese Interessendivergenz kam nicht nur in den Heften der Medicinischen Reform zum Ausdruck, sondern auch in den Medizinalkonferenzcn, die seit 1831 unter Beteiligung der A rmenärzte und Mitgliedern der A rmendirek tion in Berlin stattfanden. Die Uneinigkeit der Mediziner machte es den anwesenden Magistratsvertretern leicht, den zur Debatte stehenden Vor schlag, »statt den bisherigen A rmenärzten jedem approbirten A rzt die Be handlung der Armenkranken zu gestatten«, abzulehnen. Das Protokoll der Sitzung vom 13. 11. 1849 vermerkte dazu, daß in einem solchen Fall »all' und jede Controle in Bezug auf die Behandlung der A rmenkranken, die Listen über dieselben, die Disciplin der Ärzte und die zu verschreibenden Arzneien verloren« ginge und dies »der hauptsächlichste Grund zur A bwei sungjencs Vorschlages« gewesen wäre 145 . Auch das nicht allein von Virchow 146 vertretene Konzept einer A uswei tung der Armenkrankenpflege auf alle diejenigen sozialen Schichten, die sich wegen Geldmangels oder traditionaler Vorurteile keinem A rzt anvertrau ten, fand bei den kommunalen und Regierungsbehörden kein offenes Ohr. Lediglich in extremen Notfällen, wie z. 13. bei der obersehlesisehen Typhus epidemic, zeigte sich der preußische Staat bereit, das Netz der Medikalisie rung auch über jene zu breiten, die noch nicht zu den offiziellen A rmen gehörten. A nsonsten vermied er es tunlichst, in Bereichen aktiv zu werden, wo noch keine unmittelbare Intervention vonnöten schien. Solange ein Individuum nicht völlig hilflos und zur eigenen Reproduktion unfähig war, war kein Grund vorhanden, ihm die Sorge für sich selbst abzunehmen. Von einer staatlich initiierten und durchgeführten »öffentlichen Gesundheitspfle ge« hielt man auf Regierungsebene überhaupt nichts. Das mußte auch der Bündener Arzt Schmidtmann erfahren, der 1834 bei der Mindener Bezirks regierung die »Gründung von Gemeindeheilanstalten« anregte. Schmidt mann hatte in seiner Eingabe bemängelt, daß die Kommunen grundsätzlich »nur denjenigen ärztlichen Beistand . . . gewähren, die entweder aus A rmenmittcln regelmäßige Unterstützungen empfangen, oder die dem gänzli chen Untergange nahe sind«. Die restriktive Verfahrensweise sei politisch 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
wie ökonomisch äußerst kurzsichtig, da »durch Krankheiten Unbemittelter die Gemeindelasten beträchtlich gehäuft und die A rmuth vermehrt wird. Auch lehrt die Erfahrung, daß Nichts der Sittlichkeit gefährlicher ist, als Armuth: Noth und Elend erstickt endlich alle edlen und reinen Gefühle und macht aus guten Menschen oft Verbrecher«. Um dieser zweifachen Bedro hung zuvorzukommen, sollten die Gemeinden auch den »wenig bemittelten Kranken zu wohlfeilerem ärztlichen Beistande und zu Rendit auf der Apo theke verhelfen«. Nicht nur die sog. etatmäßigen »A rmen«, sondern auch die »dürftigen« Gemeindemitglieder, die »nur so lange wie sie gesunde Hände haben, für ihre notwendigen Bedürfnisse selbst zu sorgen vermögen, aber gewöhn lich in die kummervollste Noth gerathen, und sich selbst und der Gemeinde zur Last fallen, wenn sie von Krankheiten, besonders langwierigen, heimge sucht werden«, also vorzüglich »Tagelöhner, Fabrikarbeiter, und derglei chen Menschen« sowie »Heuerlinge«, sollten in den Genuß kostenloser Medikalisierungsleistungen gelangen. Indem man ihnen freie (oder zumin dest billigere) A rzneien und ärztliche Visiten gewährte, konnte man nach Schmidtmanns Ansicht auch dem gerade unter den ärmeren Leuten grassie renden Unwesen der Quacksalber entgegenwirken147. Bereits zwei Wo chen, nachdem Schmidtmann der Mindener Regierung seine Vorschläge für eine medizinische Versorgung der »unbemittelten - nicht gerade armen Kranken« unterbreitet hatte, traf die Antwort ein. Die Regierung bedankte sich - und lehnte ab: »Für die Gesundheitspflege der anerkannten Ortsarmen ist in allen Gemeinden gesorgt, über dies Bedürfnis hinauszugehen ist aber den letzteren nach ihrer Natur und nach ihren Mitteln versagt.« Die Medika lisicrung der besitzlosen Unterschichten müßte deshalb »als Privat-Bcdürf nis angesehen werden und kann dabei nur Belehrung und Privat-Wohlthä tigkeit Erleichterung gewähren« 148 . Tatsächlich sahen sich die meisten Kommunen außerstande, die finanziel len Mittel für eine Erweiterung ihrer Sozialklientel aufzubringen. Schon mit den offiziellen A rmen taten sie sich schwer und ergriffen jede Möglichkeit, sich ihrer im A llgemeinen Landrecht kodifizierten subsidiarischen A rmen pflicht zu entledigen. A bschiebungen neu zugezogener A rmer über die Gemeindegrenzen waren an der Tagesordnung149, ebenso »die besonders in der jetzigen erwerbs-leeren Zeit häufig entstehenden Streitigkeiten zwi schen Provinzen und Kommunen unter sich, über die Frage, wer zur Ver sorgung eines Armen verpflichtet scy« 150 . Jeder neuen Direktive der Regie rungsadministration über eine Intensivierung der A rmenpflege setzten die kommunalen Selbstverwaltungsorgane massiven Widerstand entgegen, da sie zusätzliche Kosten auf sich zukommen sahen. A uch nachdem 1842 ein Gesetz »über die Verpflichtung zur Armenpflege« erlassen worden war, das einen Kompromiß zwischen Freizügigkeitsprinzip und kommunaler A r menpflicht anstrebte, unterliefen viele Gemeindebehörden die neuen Rege lungen, indem sie jene Zugezogenen, die keinen selbständigen Wohnsitz 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
nachweisen konnten151, vor Ablauf der Dreijahresfrist abschoben und ihnen damit die Unterstützungsfähigkeit verwehrten152. Eine noch stärkere Bela stung des Armenfonds durch die Ausdehnung des Medikalisierungsnetzes in Richtung auf eine »allgemeine Gesundheitspflege« war angesichts dieser Widerstände undenkbar. Schon die staatlich verordnete A nstellung eines besoldeten A rmenarztes wurde von vielen städtischen Magistraten nur wi derwillig und auf wiederholte Ermahnung der Bezirksregierungen und Landräte befolgt. Solange sie das Medikalisicrungsprogramm finanziell tra gen mußten, war von den Kommunen kein Entgegenkommen zu erwarten. Andererseits kamen sie aber nicht umhin, Krankheit als Verarmungsfaktor in ihre Abwehrstrategien einzubeziehen. Wenn das ehrgeizige Heilsverspre chen der Medizin, die sich als doppeltes Sicherheitsventil gegen den sozialen Druck von unten empfahl, auch nicht in dem Maße ernst genommen wurde, wie es seine Autoren wünschen mochten, wurde doch der Zusammenhang von Armenlast und Krankheit gerade auf der kommunalen Erfahrungsebene mehr und mehr zu einem Politikum, das neue Bearbeitungsmechanismen erforderte. Im Gegensatz zu den um die Jahrhundertwende erprobten Konzepten, den Adressatenkreis armenmedizinischer Dienstleistungen über die Grenzen der eigentlichen Unterstützungsempfänger auszudehnen und das System der Medikalisierung gleichsam »von oben« herab zu verallgemeinern, setzte man seit den 1840er Jahren zunehmend auf alternative, selbstfinanzierte Programme sozialer A bsicherung und medizinischer Versorgung. Dieser Orientierungswandel, seine Bedingungen und A usdrucksformen sind das Thema des folgenden Kapitels.
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KAPITEL 3
Industrialisierung, A rbeiterfrage und Krankenkassen (1840-1880): Der Blick »von oben« Wenn die aus der Medizinalreformbewegung kommende Forderung nach einer allgemeinen, alle unbemittelten Bevölkerungsgruppen erfassenden »öffentlichen Gesundheitspflege«, mit der man die drohende »Pauperisie rung« und »Proletarisierung« (Schneer) der Unterschichten abzuwehren hoffte, in Ministerien und kommunalen Verwaltungsbehörden nicht auf fruchtbaren Boden fiel, hatte dies nicht nur finanzielle Gründe. Eine in ihren Folgen unabsehbare Sozialpolitik »von oben« widersprach auch der libera len Orientierung, die sowohl der preußischen Gewerbepolitik als auch der erstarkenden Wirtschaftsbourgeoisie eigen war, und die allzu weitgehende Eingriffe marktfremder Kräfte in die Ökonomie rigoros ausschloß. In dem Maße, wie sich die Diskussion um Pauperismus und »soziale Frage« Schritt für Schritt zu einer Debatte über Lohnarbeiter umformte, die sich seit den 1840er Jahren als der eigentliche »Krankheitsstoff der bürgerlichen Gesell schaft«1 entpuppten, entfernte man sich zugleich von paternalistischen Ver sorgungskonzepten. Statt dessen sollten die Arbeiter zur »Selbsthilfe« ange spornt werden und sich in eigener Verantwortung um ihre physische Repro duktion kümmern. Weder Unternehmer noch Kommunen oder Staat woll ten die Kosten für eine Wiederherstellung der durch Krankheit geschwäch ten A rbeitskraft tragen. Da sich alle an dem Gesundheitsverlust unbeteiligt erklärten und den Arbeitern selbst die Schuld anlasteten, war es nur konse quent, die Schuldner auch zur Kasse zu bitten, wenn es um die Finanzierung ihrer Genesung ging. Die kollektive Krankenversicherung der A rbeiter in Form gemeinsamer Kassen wurde daher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr zum bevorzugten Modell, das die Folgeprobleme einer nach Ansicht vieler Zeitgenossen zunehmenden Erkrankungshäufigkeit und -dauer handarbei tender Unterschichten zu lösen versprach. Dem eigentlichen Problem nä herte man sich nur auf Zehenspitzen: A rbeiterschutzmaßnahmen, »Gewer behygiene«, eine Verbesserung insbesondere der Wohnverhältnisse von Arbeiterfamilien blieben zwischen 1850 und 1880 weithin unterbelichtete Themen. Die Entwicklung des Krankenkassenwesens wurde dagegen mi nutiös beobachtet und durch Gesetze, Verordnungen, Kontrollen gesteuert. 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Welch tiefgreifende Veränderungen sich zwischen 1845 und 1883 auf dem Gebiet der Krankenversorgung und -Versicherung von A rbeitern einstell ten, läßt bereits ein flüchtiger Blick auf die beiden legislativen Eckpfeiler dieser Entwicklung erahnen. 1845 trat die Allgemeine Gewerbeordnung in Preußen in Kraft, die den Gemeinden die Möglichkeit einräumte, die am Ort beschäftigten »Gesellen und Gehülfen« zum Beitritt zu gewerblichen Unter stützungskassen zu verpflichten. 1883 verabschiedete der Deutsche Reichs tag das Gesetz über die Krankenversicherung, das einen Versichcrungs zwang für fast alle in Handwerk und Industrie beschäftigten A rbeiter konsti tuierte. A us einer Kann-Regelung war eine Muß-Regelung geworden, die »Gesellen und Gehülfen« hatten im Gesetzestext den »A rbeitern« weichen müssen. Die Ursachen, Motive und Triebkräfte dieser Veränderungen werden im folgenden für die Arena staatlicher und betrieblicher Sozialpolitik sowie im Rahmen des medizinischen Diskurses untersucht. Dahinter steht die Ver mutung, daß sich Entstehungsbedingungen und Funktionen der Kranken kassen nicht, wie oftmals behauptet wird, auf einen einzigen Erklärungsan satz verengen lassen. Die Kassen verkörperten nicht nur die »sozialpolitische Zwangskollektivierung der Risikoverarbeitung«2 oder die »materielle Absi cherung der Reproduktion der A rbeitskraft«3. Genauso wenig waren sie ausschließlich »Organe des Klassenkampfs« oder Lernzirkel für Arbeiterso lidarität4, Der entscheidende Mangel aller vorliegenden Untersuchungen zur Krankenkassenproblematik liegt eben darin, daß sie die Kassen immer nur einem partiellen A spekt ihrer Wirkungsgeschichte zuordneten und das allgemeine gesellschaftspolitische Umfeld weitgehend unberücksichtigt ließen.
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I. Staatliche Kassenpolitik zwischen Armuts prävention und sozialer Integrations-Technologie5
1. »Selbsthülfe« als Gegenmodell zum »Hospitalgeist«: Spar-und Kranken kassen im Spiegel bürgerlicher und kommunaler Interessen Der staatliche Umgang mit der Armenfrage, die Versorgungsbereitschaft, mit der die preußische Regierung auf das drängende Problem wachsender potentieller und realer Armut reagierte, rief schon in den 1830er und 1840er Jahren Widerspruch hervor. Neben kirchlich-katholischen Kreisen, die sich gegen die Dominanz der öffentlichen A rmenpflege zur Wehr setzten, mel deten hauptsächlich bürgerliche Kaufleute und Industrielle Kritik an. Ihnen ging der preußische »Hospitalgeist« viel zu weit, der, wie der A achener Kaufmann David Hansemann 1840 in einer offiziellen »Denkschrift« schrieb, »durch gesetzliche Bestimmungen und durch Beförderung man cher Einrichtungen, die Sorglosigkeit und die A rbeitsscheu der unteren Volksklassen vermehrt«. Eine falschverstandene »Philanthropie auf Staats wirtschaft« sei absolut unpassend, die brennende Zeitfrage der unruhig und unzufrieden gewordenen Unterschichten zu lösen. Indem die Regierung »ein Institut nach dem andern errichtet, um die A rmen zu speisen, zu kleiden, die jüngeren von ihnen zu erziehen, die alten zu verpflegen, den armen Kindbetterinnen zu helfen usw.«, gebe sie nur »die direkteste, wirk samste Aufforderung zur Verschwendung und zur Faulheit«. Die staatliche Organisation der A rmenpflege verleihe der A rmut den Charakter eines »Rechts-Zustands« und erzeuge bei den Bedürftigen die Meinung, daß sie einen »rechtlichen A nspruch« auf öffentliche Unterstützung hätten. Ein solches A nspruchsdenken jedoch laufe unweigerlich darauf hinaus, die »Sittlichkeit« als normative Grundlage sozialen Zusammenlebens zu unter graben6. An diesem Punkt traf sich die bürgerliche Kritik mit den kirchlichen Einwänden gegen eine gesetzlich aufgegebene Verpflichtung der Kommu nen zur A rmenpflege. So führte die Ständeversammlung im Rheinischen Landtag 1833 aus, daß ein Rechtsanspruch der Armen auf Unterstützung die »verderblichsten Folgen« nach sich ziehen müßte. Insbesondere - und hier war der katholische Einfluß unüberhörbar - würde die »gesetzliche A r muth« »die Schaam und die Religion des A rmen austilgen . . ., und nicht mehr mit Scheu wird der A rme fordern, nicht mehr suchen, sich selbst zu 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
helfen und Unterstützung, Trost und Hoffnung im Christenthume zu fin den«7. Sah die Kirche die Lösung dieses Problems darin, daß man sie institutionell an der A rmenpflege beteiligte, so war für Hansemann und seine liberalen Bundesgenossen die nicht reglementierte Privatwohltätigkeit keine ausreichende Alternative zur staatlichen Armenversorgung. Vielmehr konnte langfristig allein eine verstärkte Eigeninitiative der Unterschichten die Verarmungsgefahr eindämmen. Nur wenn es gelänge, den »niederen Volksklassen« ein Bewußtsein ihrer Selbstverantwortlichkeit einzuprägen und ihnen die bürgerlichen Tugenden Arbeitsamkeit, Mäßigung, Sparsam keit, Ordnungssinn und Daseinsvorsorge nahezubringen, könnte man die »soziale Frage«, die lediglich an ihren Rändern mit der »A rmenfrage« iden tisch wäre, als prinzipiell gelöst betrachten8. Innerhalb dieses Normenkatalogs avancierte »Vorsorge« immer mehr zum Schlüsselbegriff und Orientierungswert sozialer Reformbemühungen. Die offenkundige Unbeständigkeit des Verdienstes, der jederzeit durch Wirtschaftsflauten oder persönliche Krisen unterbrochen werden konnte, verlangte dringend nach einer praktikablen Form individueller Lohnkom pensation. Dazu bot sich nach Meinung bürgerlicher A rbeiterfreunde in erster Linie ein kontrolliertes Sparen an. Das Sprichwort »Spare in der Zeit, damit Du habest in der Noth« war seit dem Neubeginn der A rmutsdebatte im späten 18. Jahrhundert ein unzählige Male wiederholter Refrain, in den Staat, bürgerliche Wohltätigkeitsvercine und kommunale Behörden ge meinsam einstimmten. Die Empfehlung, bei auskömmlichem Verdienst einen Notpfennig für Phasen der Krankheit, der A rbeitslosigkeit und des Alters zurückzulegen, verband sich dabei mit einer doppelten Erwartung: einerseits galt das Sparen als Palliativmittel gegen Verarmung und Unter stützungsbedürftigkeit und konnte die A rmenkassen der Städte entlasten. Zum anderen war es ein Erziehungsmittel im eigentlichen Sinn, ein Medium soziokultureller Integration auf der Ebene bürgerlicher Verhaltensnormen. Sparsamkeit war gleichbedeutend mit Selbstbescheidung, mit Einschrän kung, Disziplin und persönlicher Zurückhaltung, und trug zugleich dazu bei, soziale Standesunterschiede und Hierarchien als »verdient« zu rechtfer tigen. Sic war die Waffe gegen die allerorts beklagte Luxussucht der »kleinen Leute«, die heute praßten und morgen darbten. Sie war die Garantie für ein gleichförmiges, ordentliches Leben, in dem sich Einnahmen und A usgaben immer die Waaee hielten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Initiativen, die auf eine Institutionalisierung von Sparsamkeit drängten. Der weithin übliche »Spar strumpf«, das Horten von Geld oder auch die Investition in Sachwerte fanden ihre »öffentliche« A lternative in sog. »Ersparungskassen«, die unter der Obhut staatlicher oder kommunaler Instanzen standen und das Einlage kapital durch Verzinsung zu vermehren versprachen. In Hamburg nahm sich die Patriotische Gesellschaft 1794 dieses Themas an und diskutierte den Vorschlag, nach dem Vorbild englischer Institute eine allgemeine Sparkasse 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
für »Professionisten, Fabriken- und andere Gewerbe-Arbeiter, Tagelöhner, Dienstboten usw.« zu gründen9. Sechs Jahre später richtete der Kaufmann Caspar Voght an diese Bevölkerungsgruppen einen in mehreren tausend Exemplaren verteilten und in vielen Zeitschriften publizierten A ufruf, sich an einer solchen »Ersparungs-Anstalt« zu beteiligen. Die Kasse sollte für alle diejenigen da sein, »die in Tag- und A rbeits-Lohn arbeiten, vom ersten Handwerker an, bis zum Wasserträger an der Gasse, für Männer sowohl auch für Weiber, für Ledige sowohl als für Verheirathete«10. Durch eine wöchentliche Rücklage von einigen Schillingen erwürbe sich der Einleger ein gewisses Kapital, das ihn (und seine Familie) bei Krankheit und im Alter vor der Armenanstalt retten konnte. An anderer Stelle äußerte sich Voght konkreter über die Funktionen einer solchen Kasse: zuallererst sollte sie die Kommune von den Folgen der notwendigen Freizügigkeit entlasten, indem sie »die Einwanderung so vie ler tausend Fremden, deren die Stadt zum Theil bedarf, die aber großentheils in Hamburg verarmen, . . . fast gänzlich unschädlich« machte. Darüber hinaus wirkte sie als Differenzierungsmittel innerhalb der Unterschichten und sonderte die »unnützen« und arbeitsscheuen Armen von den nützlichen und fleißigen sinnfällig ab. Die Aussicht, sich »ein unabhängiges Alter durch eignen Fleiß« sichern zu können, gäbe den »redlichen A rbeitern« zudem ein höheres Maß an »Würde und Selbständigkeit«, was sich wiederum positiv auf die »Moralität« sowie »bürgerliches und häusliches Wohl« auswirken müßte. Dies wäre nicht nur für das Individuum von großem Vorteil, son dern auch für die Gesellschaft und ihre staatliche Verfaßtheit, denn: »der Mensch, der durch eignen Fleiß sich sein A uskommen gesichert hat, ist gewiß ein besserer Bürger als der Leichtsinnige, der, die Zukunft nicht achtend, aus Noth und Verzweiflung A nthcil an Verbrechen nimmt, zu denen ihm die Versuchung so nahe liegt«. Zu guter Letzt könnte auch das Verhältnis zwischen den »Klassen« nur profitieren und an »Liebe und A n hänglichkeit« gewinnen, wenn die »Wohlhabenden« ihre Dienstboten oder Arbeiter in eine solche Kasse einkaufen würden11. Im wesentlichen waren hier alle A rgumente aufgelistet, die auch in der späteren Diskussion um Sparkassen als Gegenmittel gegen den überhand nchmenden Pauperismus immer wieder vorgebracht wurden12. A uf die sozialintegrative Bedeutung der Selbsthilfe verwies beispielsweise die Denkschrift, die der Rheinische Provinziallandtag 1845 dem preußischen König vorlegte und die die Förderung der Sparkassen als »ein sehr wirksa mes Mittel« zur Verbesserung des materiellen und sittlichen Zustandes der Unterschichten anregte. Die Eingabe, die die Handschrift des »dritten Stan des« sehr deutlich zu erkennen gab, hob besonders hervor, daß alle Bemü hungen um das »Wohl der arbeitenden Klassen« davon abhingen, inwieweit die A dressaten dieser »Sorge« bereit wären, »durch eigene Anstrengung aus dem Stande geistiger und leiblicher Besitzlosigkeit in den Stand der Besit zenden hinüberzutreten«13. 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Eine fast gleichlautende Rezeptur schlug auch der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen vor, eine Vereinigung von Kaufleuten, Fabri kanten und Regierungsbeamten, die sich anläßlich der deutschen Gewerbe ausstellung 1844 zusammengeschlossen hatten, um konkrete Maßnahmen zur »Verbesserung des sittlichen und wirthschaftlichen Zustandes der arbei tenden Klasse« zu koordinieren und in Gang zu setzen. Zu diesen Maßnah men zählte in erster Linie die Einrichtung von Sparkassen, »weil erfahrungs gemäß der Antrieb zur Sparsamkeit und der darauf gegründete Erwerb eines wenn auch geringen gesicherten Eigenthums, zugleich die wesentliche Grundlage zur Verbesserung des sittlichen Zustandes ist« 14 . Obgleich sich die A ktionspalette des Centralvereins in den folgenden Jahren beträchtlich erweiterte15, blieben die Sparkassen auch weiterhin sein Lieblingskind, von dem man sich zwar keine Wunder erhoffte, das aber hervorragend geeignet schien, die ökonomische und sozio-kulturelle Integration der handarbeiten den Unterschichten in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft herbeizu führen. Schließlich garantierte ein Sparbuch nicht nur einen finanziellen Rückhalt in Notzeiten, sondern vermittelte auch ein »Kapital von Tugen den«16, welche aus einer disziplinlosen, fluktuierenden, unkalkulierbaren Masse eine geordnete, fleißige, vorausplanende »A rmee« anpassungsberei ter Arbeitskräfte machen konnten. Daran waren vor allem die Unternehmer interessiert, die denn auch im Centralverein zu den eifrigsten Befürwortern der Sparkassenidee gehörten und die Zweifel der anderen Mitglieder aus dem Kreis der Ministerialbcamten an der Effektivität solcher »Palliativmittel« überstimmten17. Gerade auf die Kaufleute und Fabrikbesitzer, die den Verzicht auf eine unmittelbare Wunscherfüllung und die A usrichtung an langen Zeitperspektiven zum Inbegriff rationaler Lebens- und Geschäftsplanung erhoben hatten, wirkte das auf direkte Bedürfnisbefriedigung bedachte Verhalten ihrer A rbeiter fremd und bedrohlich. Was der ersten Fabrikarbeitergeneration offensicht lich am meisten fehlte, war ein Gefühl für Zukunft, konkret: die Einsicht in die Notwendigkeit, in guten Tagen für schlechtere vorzusorgen, in der Jugend an das A lter und bei guter Gesundheit an Krankheit und Tod zu denken. Der westfälische Unternehmer Friedrich Harkort faßte diesen Ein druck 1856 in dem Bild zusammen: »Die Arbeiter gleichen in vielen Dingen den Kindern, welche heute das Vergnügen in vollen Zügen genießen, ohne an den morgenden Tag und den Mangel zu denken.«18 Wie Kinder besaßen die A rbeiter weder Sinn für Zeit noch für Geld. Unpünktliehkeit und Blaumachen waren ebenso Symbole der sprichwörtli chen Verschwendungssucht, die bürgerliche A utoren bei den Unterschich ten feststellten, wie hemmungsloses Prassertum, »Völlerei« nach der Löh nung und bei Festen19. Die politische Kehrseite dieses Disziplinmangels bestand in einer ausgeprägten moralischen Bindungslosigkeit, die in »unste ten Zeiten« von staatsfeindlichen Elementen für ihre zerstörerischen Zwek ke mißbraucht werden konnte, wie die jüngsten Ereignisse im In- und 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ausland sattsam bewiesen hätten. Wenn es dagegen gelänge, die Arbeiter an ein regelmäßiges Sparverhalten zu gewöhnen, wäre ein wichtiges Etappen ziel erreicht: das zugleich mit dem Sparguthaben wachsende Bewußtsein des Sparers, doch mehr zu verlieren zu haben als nur seine Ketten, würde ihn sowohl von politischen Unruhestiftern fernhalten als auch dem für die Gesellschaft genauso bedrohlichen Gefühl der Lethargie, Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit entgegensteuern. Diese A rgumentation entwickelte der Brackweder Fabrikant Möller 1867 in einem Vortrag, aus dem die Angst vor einem auf das Niveau unverantwortlicher und unberechenbarer Unterstüt zungsempfänger heruntergekommenen »Proletariat« deutlich herauszule sen war. Vor dem Bielefelder Polytechnischen Verein sagte er zum Thema »Arbeiterkassen«: »Die große Gefahr, die uns droht, ist das Entstehen eines Fabrikarbeiter-Proletariats, daß viele Familien aus der Reihe der Fabrikarbeiter in das Proletariat herabsinken und der A rmenunterstützung anheim fal len . . . Das wichtigste Mittel, den Arbeiterstand materiell und moralisch zu heben, und die Gemeinde und den Staat vor der drohenden Gefahr zu bewahren, ist, die Arbeiter zum Sparen zu veranlassen.«20 Im Gegensatz zu anderen Unternehmern, aie eigene FabriKspaneassen gründeten, sprach sich Möller im Namen der Brackweder Industriellen entschieden gegen solche »Wohlfahrtseinrichtungen« aus, da sie erstens zu unsicher wären, zweitens die Arbeiter in eine zusätzliche Abhängigkeit vom Fabrikbesitzer brächten und drittens bei der Belegschaft verpönt wären, weil sie »den A rbeitgebern einen klaren Einblick in ihre Verhältnisse« gestatte ten. A uch einen formellen Sparzwang, wie er in manchen Betrieben be stand21, lehnte er ab, denn »kein Fabrikbesitzer kann beurteilen, wieviel dieser oder jener A rbeiter entbehren kann«. Ob mit oder ohne Sparzwang: fabrikinterne Sparkassen schienen - trotz tatkräftiger Unterstützung durch den preußischen Staat - bei den Arbeitern nicht besonders beliebt gewesen zu sein. So beteiligten sich 1867 nur 41 der insgesamt 1480 A rbeiter und Arbeiterinnen der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld an der fabrikeigenen Sparkasse. Ungeachtet der günstigen Konditionen zogen es die Arbeiter vor (wenn sie überhaupt sparten), ihre Beiträge bei städtischen oder Kreisspar kassen einzuzahlen, wie die Bielefelder Handelskammer 1867 feststellen mußte22. Diese Tendenz war im ganzen preußischen Staat zu beobachten und wurde in einer vom Handelsministerium 1875 in A uftrag gegebenen Erhebung wie folgt bestätigt: »A uch die freiwillige Sparkasse der Fabrik benutzen sie [die Arbeiter] vielfach nicht, auch bei dem Vorhandensein von Ersparnissen und bei dem Wunsche, solche verzinst zu sehen. Das Mißtrau en, daß der Fabrikherr nur die Arbeiter, welche etwas erübrigen, ermitteln wolle, um sie demnächst im Lohne zu drücken, fuhrt sie vielfach eher zu den öffentlichen Sparkassen des Orts oder der Umgebung, auch wenn diese weit niedrigere Zinsen geben, als die Sparkasse der Fabrik. «23 Doch klagten auch die öffentlichen Sparkassen24 durchweg über die man gelnde Sparneigung der Fabrikarbeiter. War z.B. die Bielefelder Sparkasse 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
1825 mit dem erklärten Ziel gegründet worden, »alle Tagelöhner, Dienstbo ten, Fabrikarbeiter« zu erfassen, »bei welchen es fast mit Gewißheit voraus zusehen ist, daß sie nur eine gewisse Zeit ihres Lebens hindurch, tagelöh nern, dienen oder arbeiten können, und welche also für die übrige Zeit, sowie wenn sie krank werden, Unterstützung erhalten müssen, wenn sie nicht Hungers sterben sollen«25, verteilten sich ihre Einlagen 1863 nur zu einem Drittel auf Fabrikarbeiter. Von den Kunden der 1847 eingerichteten Bielefelder Kreissparkasse gar waren 1863 nur zehn Prozent Fabrikarbei ter26. Dagegen gehörten Dienstboten, bei denen die Rücklage des Barlohnes traditionell in den Zyklus eines zeitlich begrenzten Dienstverhältnisses ein gebunden war, und »Handarbeiter« zu den eifrigeren Sparern, wie sich aus den Kassenbilanzen entnehmen läßt. A n den 25 Sparkassen, die es 1852 im Regierungsbezirk A rnsberg gab, beteiligten sich insgesamt 773 Gesellen, 1268 Handwerksmeister, 899 Fabrikarbeiter, 3139 Dienstboten und 2612 »andere Personen aus den handarbeitenden Klassen«, worunter Tagelöhner, Bergleute und kleine Grundbesitzer fielen27. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch in Bielefeld. Hier waren die Beamten und Bauern, gemessen an der Gesamtgröße der einzelnen sozialen Gruppen, eindeutig am sparfreudig sten, während Gesellen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter offenbar am wenig sten Interesse hatten: von ihnen zählte nur etwa jeder zehnte zu den festen Sparkassenkunden, wobei sich die Gesellen noch stärker zurückhielten als die Fabrikarbeiter28. Eine solche Distanz der Gesellen und Fabrikarbeiter gegenüber den öf fentlichen Sparanstalten machte sich auch in anderen Regionen bemerkbar29 und wurde von Behörden und sozialreformeriseh engagierten Zeitgenossen als typisches A nzeichen für die diesen A rbeitergruppen eigene Verschwen dungssucht und den Mangel an Selbstdisziplin gedeutet30. A ndererseits gab es gerade für Gesellen und Fabrikarbeiter bereits eine Alternative zur Spar kasse, und häufig war die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten keine freie mehr, sondern schon vorher durch gesetzlichen Zwane: entschieden. Zu der Zeit, als sich Ludwigjaeobi, A rnsberger Regierungsbeamter, über das mangelnde Interesse der Fabrikarbeiter an »diesen merkwürdigen Ein richtungen, bestimmt, aus dem A rmen einen Kapitalisten zu machen«, beklagte und laut über einen gesetzlichen Sparzwang nachdachte31, waren in ganz Preußen bereits 254420 Gesellen und Fabrikarbeiter in insgesamt 2576 Unterstützungskassen versichert, die speziell zur Bewältigung des Krank heitsrisikos errichtet worden waren32. Im Gegensatz zu den Sparkassen, die die eingezahlte Summe - um Zinsen vermehrt - auch wieder auszahlten, bemaßen sich die Leistungen der Krankenkassen prinzipiell nicht nach der Höhe der Beiträge, sondern nach der jeweiligen Bedürftigkeit des Kassen mitglieds. Bei einer Erkrankung bekam es folglich nicht seine Einlage zurück, sondern wurde nach Maßgabe der Krankheitsdauer aus den gemein samen Beiträgen aller Mitglieder unterstützt. Zur Abfederung persönlicher Krisensituationen war das in den Kranken156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kassen institutionalisierte kollektive Versieherungsmodell demnach wesent lich besser geeignet als ein individualisiertes Sparverhalten. Zu diesem Schluß gelangte auch der Berliner Lokalverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, als er 1850 die Vor- und Nachteile der beiden konkurrierenden Systeme gegeneinander abwog: »Wenn ihm [dem Arbeiter] etwas übrig bleibt, tut er denn nicht besser daran, sein Geld in die Kranken- und Sterbe-Kasse und in den Gesundheitspflege-Verein zu tragen, wo er in den^ Tagen der Noth dasselbe nicht einfach und mit 3½% Zinsen, sondern oft zehnfach zurückemp fangt? Durch die Krankenkasse und den Gesundheitspflege-Verein sichert er seine Existenz und die seiner Familie für den Fall der Krankheit, während dies die Ersparnisse selbst bei hohen Zinsen niemals tun können . . . Wir verwerfen die Sparkassen nicht, aber wir halten sie für kein gewichtiges Mittel gegen die A rmut; wir betrachten sie als das, was sie sind, als nützliche Institute für junge, unverheiratete Arbeiter und Dienstboten und suchen sie deshalb möglichst zu fördern; aber wir stellen sie hinter andere bedeutendere Einrichtungen zurück und können ihnen nicht die volle Teilnahme zuwenden.«33
Zu diesen »bedeutenderen Einrichtungen«, die vor Armut schützen soll ten, gehörten in erster Linie die Krankenkassen. Sie schienen sich in beson derem Maße dazu anzubieten, »dem A ufkommen und Fortschreiten eines Proletariats entgegen zu arbeiten«, wie es der Mediziner Blümlein 1878 ausdrückte34. Krankenkassen überbrückten die Zeit der krankheitsbeding ten A rbeits- und Verdienstlosigkeit durch einen bescheidenen »Kranken lohn« und stellten medizinische Hilfe bereit, die die Krankheitsdauer ver kürzen konnte. Die A usgaben wurden von den Beiträgen der Mitglieder gedeckt, und da das Krankheitsrisiko mit statistischer Wahrscheinlichkeit zeitlich gestaffelt auftrat, reichten relativ geringe, aber kontinuierlich einge zahlte Summen zur Bildung eines Kassenfonds aus. Solche Kassen waren nun keine Neuschöpfung erfindungsreicher Lokal politikcr, sondern besaßen bereits eine lange und offenbar erfolgreiche Tra dition, die über die bergbaulichen Knappschaften bis zu den spätmittelalter lichcn Gesellenverbänden reichte. Während jedoch die Knappschaftskassen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ihren patriarchalischen Charakter be wahrten, hatten sich die Gesellenkassen schon früh von den Zunftkontrollen gelöst und waren zu selbständigen, nach Ansicht der Behörden und Meister oftmals allzu selbständigen Organen kollektiver Selbsthilfe geworden35. Allerdings litten sie seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend unter Auf lösungserscheinungen, worauf ein »Specialbefehl« des preußischen Königs aus dem Jahre 1783 hindeutete. Demnach war es offenbar üblich geworden, die auf der Wanderschaft oder während der Arbeit erkrankten Handwerks gesellen »ohne Rücksicht auf ihren elenden Zustand, blos um ihrer Cur und Verpflegung entlediget zu werden, von Ort zu Ort bis zu ihrer Heimath auf den Transport« zu schicken. Die Verfügung Friedrichs II. suchte diese oft tödliche Praxis dadurch zu unterbinden, daß sie nacheinander die Gesellenla de, die Gewerkskasse, die Armenkasse und - in letzter Instanz - die Orts kämmerei dazu verpflichtete, subsidiarisch für die Kosten der »Verpflegung 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
und Cur des Kranken« am Ort seines A ufenthalts aufzukommen36. Das Allgemeine Landrecht von 1794 bekräftigte diese Bestimmungen und schloß einen Regreßansprueh der Unterstützungsgemeinde gegen die Hei matgemeindc aus, da, wie es 1822 in einer Verfugung hieß, »das Interesse sich durch Gegenseitigkeit ausgleicht«37. Die ständig steigende Zahl von Bekanntmachungen, Verfügungen, Ver ordnungen und Erlassen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts von den preußischen Regierungsbehörden zu diesem Thema publiziert worden sind, zeigt sehr deutlich, wie regelungsbedürftig das Problem der »Kur und Verpflegung erkrankter Handwerksgesellen« offenbar war 38 . Die Bezirks regierungen wurden von den Kommunen förmlich mit A nträgen und Be schwerden überschüttet, wonach die lokalen Armenverwaltungen sich dem Ansturm versorgungsbedürftiger Gesellen nicht mehr gewachsen fühlten. Besonders die Städte,, in denen sich Krankenhäuser befanden, klagten über die Überbeanspruchung ihrer A rmenfonds seitens kranker durchreisender Handwerksgesellen. 1828 teilte die Liegnitzer Regierung mit, daß »die in einigen Städten unseres Verwaltungsbezirks vorhandenen öffentlichen Heil anstalten nur deshalb mit auf der Wanderschaft erkrankten Handwerksge sellen überfüllt werden, weil die Gewerksältesten der benachbarten Städte die sich daselbst krank meldenden Gesellen . . . durch Betheiligung mit einem außergewöhnlichen Zehrgeld und Hinweisung auf die in jenen öf fentlichen Heilanstalten zu erwartende bessere Pflege unziemlich zur Fort setzung der Wanderschaft bewegten«39. Mit der Bitte, ein derart ungesetzli ches Verfahren zu unterbinden, wandte sich im gleichen Jahr auch der Bielefelder Bürgermeister Delius an den zuständigen Landrat: die A rmen kasse hätte »dadurch eine enorme A usgabe zu bestreiten, wozu sie keine Mittel besitzt«40. In den Regierungsakten finden sich zahllose Beispiele für die ständigen Konflikte zwischen einzelnen Städten und Gemeinden, die sich gegenseitig bezichtigten, die Gesellen abzuschieben. Unaufhörlich be schwerten sich Städte »über den fortwährenden A ndrang krätziger Hand werksgesellen, die von den vorliegenden Polizeibehörden, ohne den Krank heitszustand zu beachten, hierhin dirigirt werden. Häufig scheinen diese die Krankheit absichtlich zu übersehen, um dem vorgeschriebenen Zurückhal ten solcher Reisenden und den damit verbundenen Verpflegungs- und Kur kosten auszuweichen«41. Doch richteten sich die Besorgnis und der Unmut der Kommunalverwal tungen nicht allein auf die Gesellen, die sich auf der Durchreise befanden und dabei der A rmenkasse zur Last fielen. A uch die über einen längeren Zeit raum bei einem ortsansässigen Meister beschäftigten Handwerksburschen wurden zu einer öffentlichen Belastung, wenn sie erkrankten und ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten. Sofern sie keiner Zunft bzw. Brüder schaft angehörten, die in einem solchen Fall für ihre Versorgung aufzukom men hatten, mußten die kommunalen A rmenkassen die Kosten ihrer Wie derherstellung tragen. Gerade diese subsidiarische Verpflichtung wurde nun 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum großen Kummer der Gemeindebehör den immer häufiger eingelöst. Schon die zitierte Verordnung von 1783 kann als Indiz dafür gedeutet werden, daß die ehemals selbstverständliche Fürsor ge des Meisters für seine krank gewordenen Gesellen wie auch die entspre chende Verantwortung der Zunft oder des Gesellenverbandes zu diesem Zeitpunkt bereits im Schwinden begriffen war. Es bedurfte nicht erst der offiziellen A ufhebung von Zunftzwang und Zunftmonopol, damit die so ziale Sicherungsfunktion dieser Korporationen zu existieren aufhörte. Schon lange vor der Einfuhrung der Gewerbefreiheit in Preußen bzw. den französisch besetzten und verwalteten Gebieten seit 1794 waren die Leistun gen der Zunftverfassung nach und nach ausgehöhlt worden. Die gesamt staatliche Freigabe des Gewerbebetriebs 1810 beschleunigte allerdings die sen Prozeß, indem sie die Zünfte und Gesellenverbände auf die Grundlage des freiwilligen Beitritts stellte. Parallel zur selbständigen Reorganisation von Gesellenbruderschaften mehrte sich in der Folge die Zahl der unzünfti gen Gesellen, für die kein sozialer Verband mehr verantwortlich war und die im Fall ihrer Erkrankung aus der Armenkasse verpflegt werden mußten. Gegen diese ihrer Meinung nach unzumutbare und unnötige Belastung setzten sich die städtischen Kommunen seit den 1820er Jahren immer energi scher zur Wehr. 1821 wandte sich der Bielefelder Magistrat an den Landrat und schilderte ihm das Problem aus seiner Sicht. Zunächst rühmte er die bestehenden Gesellen-Krankenkassen, die es in Bielefeld für jedes Gewerk gesondert gab, als »unleugbar zweckmäßige« Einrichtungen. Sämtliche in der Stadt beschäftigte Gesellen eines Gewerks hatten gegen die Zahlung eines monatlichen Beitrags von zwei Silbergroschen A nspruch darauf, bei einer Erkrankung auf Kosten ihrer Kasse verpflegt und medizinisch versorgt zu werden. Da die Gesellen »in der Regel« vermögenslos waren und Ver wandte, bei denen sie eventuell unterkommen konnten, zu weit entfernt wohnten, war diese Form einer kollektiven A bsicherung äußerst vorteilhaft, und der Magistrat betonte mehrmals, wie »wünschenswert« ihr Fortbeste hen sei. Letzteres sei nun aber dadurch gefährdet, daß immer mehr fremde Gesellen Teilnahme und Beitragszahlung verweigerten42. Der Magistrat und auch der Landrat plädierten deshalb dafür, alle Gesellen zwangsweise zum Kassenbeitritt zu verpflichten und den Meistern aufzuge ben, den Krankenkassenbeitrag einfach vom Gesellenlohn abzuziehen und direkt an die Kasse abzuführen. Die Mindener Regierung jedoch sah sich nicht »autorisirt«, »Zwangsmaßregeln« zu verfugen. Statt dessen sollten die Meister von sich aus mit den Gesellen einen Lohnabzug verabreden, der dann der Kasse überwiesen würde 43 . Eben diese private Vereinbarung kam jedoch nicht zustande, weil sich einige Meister quer stellten und eine allge meine Regelung somit ausgeschlossen war. Trotz solcher Rückschläge ließ der Bielefelder Magistrat nicht von seinem Plan ab, verbindliche »private« Organisationen der Krankenversicherung zu schaffen und auf diesem Wege die Armenpflicht der Kommunen zu lockern. 1824 richtete er Anfragen an 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
die Oberbürgermeister von Elberfeld und Berlin, wie die dortigen Ge werkskrankenkassen organisiert wären. A us Elberfeld kam die Nachricht, daß auch dort die noch bestehenden »Kranken- und Sterbeauflagen« »schwer . . . in Ordnung zu erhalten« seien, da eine Zwangsverpflichtung zum Beitritt nicht ausgesprochen worden sei. Allerdings hatte der Oberbür germeister einen »Ersatz« gefunden, den er seinem Bielefelder Kollegen zur Nachahmung empfahl: »Einem jeden einwandernden Gesellen wird näm lich bedeutet, daß er seinen Brodherrn als Bürgen darzubringen hat, oder einen anderen hiesigen Bürger zur Erklärung veranlassen, für ihn im Falle einer Krankheit gutzusorgen, und ihn verpflegen zu wollen. Höchst selten wird eine solche Bürgschaft geleistet, und dann ist kein ander Mittel vorhan den, als der Gesellenauflage beizutreten, was dann auch gleich geschieht. Diese A nordnung hält diese Institute noch am meisten im Gleise.« A ller dings sei auch dieses Verfahren noch nicht aller Weisheit Ende, und der Oberbürgermeister befürwortete deshalb dringend, das Problem auf der nächsten Ständeversammlung zur Sprache zu bringen. Schließlich gehörte es »zu einer wichtigen Communal-A ngelegenheit«44. Der Bericht des Berliner Oberbürgermeisters Büsching klang nicht so besorgt. Seinen Angaben zufolge war die »alte Ordnung« in Berlin noch in Kraft und »bis jetzt keine Zunft aufgehoben«. A lle zünftigen Gesellen müß ten einen Beitrag, der sich monatlich auf zwei bis vier Silbergroschen beliefe, zur Gewerkskasse zahlen, aus der sie im Fall ihrer Erkrankung unterstützt wurden. Unzünftige Gesellen wurden nur am Rande erwähnt: für sie seien die Meister, bei denen sie in Arbeit stünden, verantwortlich45. Mit einer solchen A uskunft war den Bielefeldern nicht gedient - wobei noch zu bezweifeln wäre, daß Büsehings Schilderung der Wirklichkeit entsprach und die keiner Zunft angehörenden Gesellen in der Tat nur eine marginale Gruppe waren, für die es nicht lohnte, genauere Versorgungsbe stimmungen auszuarbeiten46. Das Elberfelder Modell erschien dagegen praktikabler. Nach seinem Vorbild entwickelte der Bielefelder Magistrat einen Organisationsvorschlag, der die Errichtung von Gcsellenkrankenkas sen »für jedes Gewerk oder auch mehrere Gewerke zusammen« vorsah. Abgesehen von den in Bielefeld verheirateten oder ansässigen mußten alle Gesellen dieser Kasse beitreten und Beiträge entrichten. Lediglich wenn sie einen »sicheren Bürgen« stellen konnten, der Krankheits- und Beerdigungs kosten zu übernehmen gewillt war, konnten sie von der Beitragszahlung befreit werden. Die meisten Gewerke erklärten sich mit dieser Regelung einverstanden und arbeiteten entsprechende »Gesellenreglements« aus, die die Modalitäten der Kassenverwaltung verbindlich festschrieben. A ber es gab auch Widerstand, und in solchen Fällen besaß der Magistrat keinerlei Rechtsmittel, um seine Vorstellungen durchzusetzen. A lle Eingaben bei der Bezirksregierung blieben erfolglos: das Mindener Innenministerium äußerte sich zwar durchweg anerkennend über die Initiativen, hielt sich aber »zu einer zwingenden Einschreitung . . . durch kein Gesetz autorisirt« und 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
empfahl dem Bürgermeister in schöner Regelmäßigkeit, »die Sache vorläu fig im Weg des reinen Privatvereines zu organisiren«47. Negative Erfahrungen mit einer zurückhaltenden Regierungsbürokratie, die die Einmischung in gewerbliche A ngelegenheiten nach Möglichkeit vermied, machte nicht nur der Bielefelder Magistrat. Viele andere Städte, vor allem solche, in denen sich Fabrikindustrie anzusiedeln begann, suchten dringend nach Möglichkeiten, sich der sozialen Belastung durch neu zuzie hende besitzlose Arbeiter und Gesellen zu entledigen, fanden aber mit ihrem Wunsch nach staatlicher Unterstützung lange kein Gehör. Wenngleich die Bezirksregierungen den »schönen, wohlthätigen Zweck« der Krankenladen oder -kassen stets hervorhoben und sie als »gemeinnützige Einrichtungen«, als »die Armenpflege so bedeutend erleichternde Anstalten« der »allseitigen Beförderung« durch die Kreis- und Ortsbehörden anempfahlen48, waren sie doch nicht dazu zu bewegen, die von den Kommunen geforderte Zwangs verpflichtung auszusprechen. Die Düsseldorfer Regierung gab statt dessen 1829 bekannt, daß der (unbedingt begrüßenswerte) Beitritt zu den Kranken laden der Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen »durchaus freiwillig blei ben« müsse, und lehnte anderslautende Gesuche unbeirrbar ab49. 1843 schließlich richteten die rheinischen Stände an den preußischen Kö nig die »unterthänigste Bitte«, »durch gesetzliche Verfugung die Polizei und Verwaltungsbehörde solcher Orte, wo sich das Bedürfnis herausstellt, Allergnädigst ermächtigen zu wollen, die Aufnahme fremder, arbeitsuchen der Arbeiter und Handwerksgesellen an die Bedingung knüpfen zu dürfen, daß sie vor A llem den Beitritt zu den bestehenden oder zu errichtenden Unterstützungs-und Krankenkassen . . . nachzuweisen haben«. Viele Ge meinden hätten solche Kassen bereits einrichten wollen, was jedoch »wegen Mangels gesetzlicher Bestimmungen« nicht möglich gewesen wäre. Man sähe aber nicht ein, warum die kommunalen A rmenkassen beansprucht werden sollten, wenn für das Verpflegungsbedürfnis erkrankter A rbeiter und Gesellen auch auf anderem Wege, nämlich durch kollektive Selbsthilfe, gesorgt werden könnte. Gerade »Fabrikorte und große Städte« seien beson ders daran interessiert, derartige Auffanginstitutionen unter den unselbstän digen Gewerbetreibenden zu schaffen und ihren ohnehin begrenzten A r menfonds zu entlasten. A bgesehen von diesem finanziellen A rgument hät ten die Krankenkassen auch noch einen moralischen Nutzen, insofern ihre Mitglieder durch die Erfahrung ihrer Eigenverantwortlichkeit »an Selbst achtung, Mäßigkeit und Ordnungssinn gewinnen« würden50. Hier war wieder die Handschrift rheinischer Kaufleute und Unternehmer unverkennbar51, die in all ihren sozialreformerisehen Initiativen gleicherma ßen auf die ökonomische und die psychosoziale Einbindung der »niederen Volksklassen« in die bürgerliche Marktgesellschaft Wert legten. Ihre Inter essen ließen sich zunächst noch problemlos mit den Bemühungen der Kom munen um eine Reduzierung der Armenlast in Einklang bringen, so daß sich die preußische Regierung in den 1840er Jahren mit einer nicht unbedeuten161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
den Kräftekoalition konfrontiert fand, die auf einer gesetzlichen Kodifika tion des Selbsthilfemodells als Heilmittel der A rmen- und A rbeiterfrage beharrte.
2. Handwerkseesellen, Fabrikarbeiter und staatliche Kassengesetzgebung 1845-1854 Nachdem die Mindener Bezirksregierung schon 1826 darauf verwiesen hatte, daß die Frage der Krankenkassen »jetzt unter einem allgemeinen Gesichtspunkte die Aufmerksamkeit höherer Behörde auf sich gezogen zu haben scheint, und davon der Erfolg abzuwarten ist«52, dauerte es noch fast zwanzig Jahre, bis der »Erfolg« in Form einer gesetzlichen Regelung wirk lich eintrat. Im Januar 1845 teilte das preußische Staatsministerium dem Rheinischen Provinziallandtag mit, sein A ntrag »wegen Errichtung von Kranken- und Unterstützungskassen für Handwerks-Gesellen« werde »durch die Publication der allgemeinen Gewerbe-Ordnung seine Erledi gung finden«53. In der Tat bestimmte § 144 der im gleichen Monat veröf fentlichten GO, daß bereits bestehende Kasseneinrehtungen - unter mögli cher Modifikation ihrer Organisation - beibehalten und neue gebildet wer den könnten. Darüber hinaus durften die Gemeinden für alle am Ort be schäftigten »Gesellen und Gehülfen« die Verpflichtung aussprechen, diesen Kassen beizutreten.54 Damit war die Regierung den Wünschen von Kommunalverbänden und vormärzlichen Sozialreformern nachgekommen, den Selbsthilfeorganisa tionen der »unselbständigen Gewerbetreibenden« einen formaljuristischen Charakter zu verleihen und sie nötigenfalls auch durch Zwang für alle Handwerksgesellen verbindlich zu erklären. Ein an lange Traditionen an knüpfendes Modell wechselseitiger Versicherung gegen die destabilisieren den Folgen von Krankheit und Tod55 hatte sich als Leitmotiv staatlicher Gesetzgebung und Sozialpolitik durchgesetzt. Weder der patriarchalische Ordnungsgedanke, der ausschließlich den »Brotherren« die Fürsorge für ihre hilfsbedürftigen Beschäftigten übertrug56, noch die an den Grundsätzen der kommunalen A rmenpflege orientierte Vorstellung, auch die Kranken versorgung der »handarbeitenden Volksklassen« der Gemeinde zu überant worten57, konnten sich gegenüber dem Selbsthilfe-Konzept behaupten. So war bei den Beratungen zur Gewerbeordnung auch der Vorschlag diskutiert worden, die Meister und Fabrikinhaber generell zur Unterstützung ihrer erkrankten Gesellen und Arbeiter heranzuziehen. Dies war jedoch ebenso als »ungerecht und unbillig« abgelehnt worden wie der Antrag, die Gesellen schaften insgesamt zu verbieten und ihre Kasseneinrichtungen unmittelbar in die kommunale Armenfiirsorge einzugliedern58. Statt dessen akzeptierte der Staat die bestehenden handwerklichen Unter162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
stützungsvereine als Grundlage der gesetzlichen Regelung des Krankheits problcms59 und billigte den Kommunen das Recht zu, die Zugehörigkeit zu bereits bestehenden oder neu zu gründenden Kassenverbindungen für alle Handwerksgesellen und -gehilfen verbindlich vorzuschreiben. Es entsprach dem allgemeinen Kompromißeharakter der GO60, daß diese Bestimmun gen nur fakultativer A rt waren und der Staat von sich aus einen direkten Eingriff in die Wirtsehaftsverhältnisse seiner Bürger vermied. A uf der einen Seite wurde der Grundsatz der Gewerbefreiheit bekräftigt, während ande rerseits die Bildung »besonderer Verbindungen und Vereine« unter den Gewerbetreibenden gefördert und bei Bedarf auch zwingend angeordnet werden konnte. Damit war zwar ein wesentliches Ziel der Gewerbeord nung, nämlich die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverfassung im ganzen preußischen Staate61, in der Frage der Krankenversorgung der Handwerks gesellen faktisch nicht erreicht worden, indem die Kann-Formulierung un terschiedlichen lokalen A uslegungen Vorschub leistete. Wichtiger schien dem Staat dagegen das Prinzip der Freiwilligkeit zu sein, welches er nur im Bedarfsfall durch behördliche Eingriffsrechte ergänzt wissen wollte. Die einzelnen Berufs- und Sozialgruppen des Handwerks sollten sich aus freiem Entsehluß zu Organisationen zusammenfinden, dieje für sich und unterein ander engere soziale und ökonomische Beziehungen anknüpfen und selb ständig an der »Regelung ihrer Verhältnisse« mitarbeiten würden. Das »unter den Handwerkern erwachte Streben« nach »freiwilliger Vereinigung ihrer Kräfte«, den »nationalen Hang zu Bündnissen«62 versuchte die Regie rung dadurch zu unterstützen und in geordnete Bahnen zu leiten, daß sie den Handwerksmeistern den Zutritt zu freien Innungen nahelegte, während die Gesellen ihre traditionellen Unterstützungseinrichtungen, sofern diese die polizeiliche Repression der vergangenen Jahrzehnte heil überstanden hat ten63, behalten und ausbauen sollten. Elegant konnten so mehrere Zwecke auf einmal erfüllt werden: den Gemeindeverbänden stand eine gesetzlich autorisierte A lternative zur A r menpflege offen, wodurch ein zunächst finanzpolitisches, dann aber auch soziales Problem ersten Ranges aus dem Weg geräumt schien. Die infolge der Freizügigkeits- und A rmengesetze von 1842 befürchtete Belastung der kommunalen A rmenfonds wurde umverteilt, womit zugleich ein Modell für weitere potentielle Kandidaten der öffentlichen A rmenversorgung (Fa brikarbeiter, Tagelöhner) vorgegeben war. Langfristig konnten folglich das Problem einer krankheitsbedingten Pauperisierung handarbeitender Unter schichten in den administrativen Griff genommen und die Armensäekel der Gemeinden von einem unangenehmen Druck befreit werden. Überdies kristallisierten sich in den Selbsthilfcorganisationen der Hand werksgesellen aber auch Elemente sozialer Strukturierung heraus, die sich den allgemeinen A uflösungserscheinungen in der vormärzlichen Sozialver fassung wirkungsvoll widersetzten. Seit der formellen A ufhebung des Zunftzwangs 1810 hatten die Klagen der Handwerksmeister über die de163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
struktiven Konsequenzen der Gewerbefreiheit kein Ende gefunden, und die Statistik bestätigte diesen Eindruck: während die Gesamtbevölkerung des preußischen Staates zwischen 1822 und 1846 um 38% wuchs, erhöhte sich die Zahl der selbständigen Meister in dieser Zeit um 46%, die der Gesellen und Lehrlinge jedoch um 128%64. Die Konkurrenz im Handwerk und gegenüber der expandierenden Fabrikindustne beförderte die »A uflösung der Ordnung in den Verhältnissen zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlin gen«. Der »korporative Geist« des Handwerks, das »soziale Zusammenhal ten« wichen einem sozialen Gegeneinander; Lehrlinge und Gesellen waren »zu bloßen A rbeitern im Gegensatz zu dem Meister herabgesetzt, welcher als Arbeitgeber nur den Vortheil seiner Produetion verfolgt«65. Zwangsläu fig lockerten sich Moral und »Ehrgefühl« der Gesellen, was sich in mancher lei Formen von Unruhe und Unzufriedenheit äußerte, in dieser Situation standen dem Staat prinzipiell zwei Handlungsalternativen zur Verfügung: entweder mußte er versuchen, die Tendenzen sozialer Desintegration durch einen verstärkten polizeilichen Druck zu stoppen, d.h. alle selbständigen Vereinigungen der Gesellen verbieten und auflösen. Oder aber er ließ diese »Bündnisse« zu und funktionierte sie zu sozial integrativen Einrichtungen um, indem er ihnen bestimmte A ufgaben verbindlich zuwies und deren Ausführung maßvoll überwachte. Beide Möglichkeiten waren im Vorfeld der GO von 1845 erwogen wor den. Die Entscheidung fiel schließlich zugunsten des »integrativen« Kon zepts, weil man der repressiven Variante ohnehin keine langfristige Wir kung zutraute: »Die Auflösung [der Gesellschaften] würde zwar einstwei len die Nachteile beseitigen, aber nicht dauernd sein, vielmehr würden sich die Massen bald wieder vereinen und wider das Gesetz Verbindungen bil den, die eben deswegen als ein noch größeres Übel zu betrachten wären.« 66 Mit der gleichen Begründung lehnte es der preußische Handelsminister auch 1857 ab, schärfere Strafbestimmungen gegen die »Mißbräuehe verschiede ner Gesellen-Verbindungen« zu erlassen: »Durch nicht gerechtfertigten po lizeilichen Druck wird die bei dem Gesellenstande vorherrschende Hinnei gung zu geselligem und genossenschaftlichem Verkehr voraussichtlich auch fernerhin auf A bwege gedrängt werden, während das Bestreben der Ver waltung dahin gehen muß, den Trieb zur A ssociation auf die Förderung heilsamer Zwecke hinzulenken. «67 Ein solcher »heilsamer Zweck« bestand vor allem in der wechselseitigen Versicherung der Gesellen gegen Krankheit und ihre Folgen. Schon der Bielefelder Bürgermeister hatte 1826 den disziplinierenden Effekt solcher instrumentellen Bündnisse gerühmt: die Gesellenladen hätten demnach »auf das Betragen der Gesellen den günstigsten Einfluß gezeigt, da die Gesellen, seit sie einen Verein bilden, übereinander wachen oder Verstöße unter sich regeln, sobald sie dadurch die ganze Brüderschaft beschimpft glauben« 68 . Abgesehen von diesem neuen »Corps-Geist« bot die Einrichtung von Kran kenkassen aber auch den Vorteil einer wirksameren obrigkeitlichen Kon164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
trolle, »denn gerade dann ist eine scharfe Aufsicht auf die Gesellen möglich, wenn sie sich an einem Orte versammeln«69. Eine korporative Organisation der Handwerksgesellen unterstützte folg lich nicht allein die interne Disziplinierung der Mitglieder, sondern erleichter te auch die polizeiliche Überwachung. Der möglichst freiwillige Zusammen schluß verschiedener Berufs- und Sozialgruppen zu eigenen, auf dem Prinzip der Selbsttätigkeit und -hilfe beruhenden Verbänden empfahl sich damit als stabilisierendes Gerüst für eine aus den Fugen geratende Sozial- und Wirt schaftsverfassung, in dem die politischen, ökonomischen und sozialen Ener gien der Bürger gebündelt, kanalisiert und in eine konstruktive Richtung geleitet werden konnten70. In diesem Sinne verformte die staatliche Gesetzgebung von 1845 auch die aus eigener Initiative der Gesellen entstandenen Verbände. Ihre politische Aufwertung als verallgemeinerbare Institutionen der Krankenversicherung brachte ihnen einerseits eine deutlich gestärkte Klientel ein, indem die Ge meinden darauf drängen konnten, daß alle in ihren Grenzen beschäftigten Gesellen einer solchen Kasse beitraten. Auf der anderen Seite verloren sie aber ihren bisherigen Charakter als »Privatvereine«, die nach eigenem Gutdünken Mitglieder aufnehmen und ausschließen, Modalitäten und Verfahren ändern konnten, und wurden zu halböffentlichen Institutionen mit fest umrissenen, obrigkeitlich abgesegneten und kontrollierbaren Aufgaben. Sic mußten ihre Statuten an die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Bestimmungen anpassen und die Aufsicht der Ortsbehörden über ihre Versammlungen und Kassen führung hinnehmen. Diese Zwitterstellung als Einrichtungen kollektiver Selbsthilfe und gleichsam öffentlich-rechtlich begründete Organe sozialer Sicherung entsprachen detail dem in der Gewerbeordnung verankerten Kompromiß zwischen liberalem Marktmodell und konservativen Ord nungsinteressen. Verstärkt wurde die Einbindung der Gcsellenkassen in ein komplexes System staatlich autorisierter und überwachter korporativer Zuständigkeiten durch die 1849 erlassene Verordnung über die Errichtung von Gewerberäten, in der auch die Kassenfrage eine genauere Regelung erfuhr. Darin fand sich erstmals die Bestimmung, wonach die selbständigen Gewerbetreibenden von den Kommunen verpflichtet werden konnten, für die Unterstützung ihrer erkrankten Gesellen und Gehilfen Sorge zu tragen. Zu diesem Zweck sollten sie ebenfalls Beiträge zu den Krankenkassen entrichten, wobei ihr Beitragssatz auf maximal 50% der Gesellenbeiträge begrenzt wurde 71 . Die Regierung verband damit die Erwartung, das verlorengegangene »Band« zwischen Meistern und Gesellen auf dem Wege materieller Fürsorge wieder neu zu knüpfen. Überdies ging mit der finanziellen Beteiligung der Meister an den Gesellenkassen auch ihre stärkere Repräsentation in der Kassenverwal tung einher, wovon man sich eine effektivere Kontrolle der Kassen versprach, »um auf diesem Wege Mißbräuehen vorzubeugen, welche bei den sich selbst überlasscnen Gesellenverbindungen nicht selten vorkommen«72. 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Um den Bestimmungen Nachdruck zu verleihen und die Gemeinden in die neue Verwaltungspraxis einzuführen, verschickte das Handelsministe rium mit gleicher Post detaillierte A usfuhrungspläne nebst Statutenent würfen, welche sowohl den Ortsbehörden als auch den Gesellenkassen als Vorbild dienen sollten. Zudem war damit eine gewisse Gleichförmigkeit über die Ortsgrenzen hinaus gewährleistet, die jenseits der immer wieder betonten lokalen Besonderheiten ein verwaltungstechnisch notwendiges Mindestmaß an Vergleichbarkeit garantierte. Nach wie vor überließ der Staat jedoch den Kommunen die Entscheidung darüber, ob sie die Einrich tung von Gesellenkassen und die Beitragsverpflichtung der Handwerks meister zwingend vorschreiben wollten oder nicht. Er erwartete lediglich, »daß die Communalbehörden von selbst erkennen werden, welch ein wirksames Mittel zur Verbesserung der Lage der betheiligten Gesellen und Arbeiter, mithin des A rbeiterstandes am Orte überhaupt, ihnen in der zeitgemäßen Umgestaltung und Errichtung jener Kasseneinrichtungen ge boten ist« 73 . Der Optimismus der preußischen Regierung wich allerdings bald einer skeptischeren Einschätzung kommunaler Handlungsmöglichkeiten. Zwar unterstützten die städtischen Behörden durchaus die Gründung und Reor ganisation von Kassenvereinen: einerseits legten sie den bereits bestehen den Kassen nahe, ihre Statuten den gesetzlichen Vorgaben anzupassen, oder aber sie arbeiteten eigenhändig Statutenentwürfe aus, holten die Zu stimmung von Unternehmern, Handwerksmeistern, Gesellen und Fabrik arbeitern ein und hoben dann ganz neue, künstlich geschöpfte Kassengebil dc aus der Taufe74. Zwischen 1849 und 1853 gaben sich insgesamt 226 preußische Gemeinden Ortsstatute, in denen die Verpflichtung der Gesel len und Fabrikarbeiter, einer Krankenkasse beizutreten (Kassenzwang), rechtskräftig ausgesprochen war. Der Regierung ging dieser Umsetzungs prozeß jedoch nicht schnell genug, zumal sie sich von anderer Seite (ζ. Β. vom Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen) mit immer dringlicher vorgebrachten Forderungen nach einer besseren Unterstützung kranker, invalider und alter A rbeiter und Gesellen konfrontiert sah75. Das Gesetz über die gewerblichen Unterstützungskassen vom 3. 4. 1854 er mächtigte daher die Bezirksregierungen, anstelle der säumigen Magistrate den Kassenzwang für einzelne oder mehrere Orte zu verordnen76. In einem Erlaß vom 18. 4. 1854 verlangte der Handelsminister, »daß mit der A us führung des Gesetzes sofort und energisch vorgegangen werde, und daß jene Einrichtungen, deren große sociale und politische Wichtigkeit von mir bei verschiedenen Gelegenheiten dargelegt und bei den Berathungen des Gesetzes in den Kammern allseitig anerkannt worden ist, eine möglichst weite Verbreitung finden«77. Um den Handlungsdruck auf Regierungen und Kommunen zu verstärken, mußten innerhalb von drei Monaten »Nachweisungen« über die bereits bestehenden Kassen und ihre Modalitä ten in Berlin eingegangen sein. A ußerdem hatten die Kommunen in der 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gleichen Frist regclkonforme Ortsstatuten auszuarbeiten bzw. die bereits bestehenden an die von der Regierung festgesetzten Bedingungen anzu passen. An dieser Stelle zeigte sich sehr deutlich, daß die A bsichten des preußi schen Handelsministeriums weit über die ursprüngliche Intention hinaus gingen, die Kassen nur oder hauptsächlich als Entlastung der kommunalen Armenpflege einzusetzen. Zwar stand das A rgument, die Krankenkassen der handarbeitenden Unterschichten gewährten »den Gemeinden wirksa men Schutz gegen die Verarmung jener zahlreichen Klasse der Einwoh ner« 78 , nach wie vor an der Spitze der Begründungen und Rechtfertigungen, die für die staatliche Kassengesetzgebung bemüht wurden. A llein die Tatsa che aber, daß es seit 1854 möglich war, den Kommunen solche Einrichtun gen zwangsweise zu oktroyieren, war ein Indiz dafür, daß sich der Staat nicht primär an den Interessen der Gemeinden orientierte, sondern durchaus eigene Ziele verfolgte. Schließlich hätte er ja, sofern lediglich der kommuna le Wunsch nach alternativen Versorgungsinstitutionen als Leitmotiv der Gesetzesinitiative maßgebend gewesen wäre, getrost warten können, bis die Ortsbehörden von sich aus einen Versicherungszwang ausspraehen79. Daß die Regierung sich jedoch das Recht nahm, eigenmächtig in die lokalen Kassenverhältnisse zu intervenieren, legt die Vermutung nahe, daß es hier bei entscheidend um die Durchsetzung ordnungspolitischer Vorstellungen im Rahmen der korporativen Integrationsstrategien ging80, um derentwil len ein Konflikt mit den Kommunen durchaus riskiert werden konnte. Allerdings hatte sich der Fokus staatlicher Sozialpolitik gegenüber den 1840er Jahren erheblich verschoben. Waren es damals die Handwerksgesel len, auf die sich die Intentionen der Gesetzgebung konzentrierten, so rückten seit der Revolution von 1848/49 die Fabrikarbeiter mehr und mehr in den Mittelpunkt öffentlicher A ufmerksamkeit und administrativer Regelungs intercssen. Zwar war schon 1845 in die GO ein Zusatzparagraph aufgenom men worden, der auch den Fabrikarbeitern die Bildung von Unterstüt zungskassen gestattete (§ 145); verpflichtet werden konnten sie dazu aller dings nicht81. Erst die Verordnung von 1849 gab den Kommunen die Möglichkeit, einen Kassenzwang für Fabrikarbeiter auszusprechen. Zudem konnten ab jetzt auch die Fabrikinhaber zu Beiträgen herangezogen werden, die aber die Hälfte der Arbeiterbeiträge nicht überschreiten durften. Hatten die beigefügten Statutenentwürfe noch ausschließlich die Bedingungen des Handwerks im Blick gehabt82, so beschäftigten sich die folgenden A usfüh rungscrlassc überwiegend mit den Verhältnissen in der Fabrikindustrie. Hinter diesem Perspektivenwechsel stand die Erfahrung sämtlicher am Gesetzgebungsprozeß beteiligten Instanzen, daß die Fabrikarbeiter nach Zahl und sozialer/politischer Bedeutung eine ungeheuer expansive Gruppe darstellten, von der in Zukunft wichtige Impulse für die bestehende Wirt schafts- und Gesellschaftsstruktur zu erwarten waren. Vor allem die Ereig nisse von 1848 hatten einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wie Georg 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
von Vicbahn 1849 vor der Zweiten Kammer des Preußischen A bgeordne tenhauses bestätigte: »Das Bedürfniß einer der Willkür der Betheiligten enthobenen Regelung der Verhältnisse der Arbeitgeber und Arbeiter in den Fabriken ist besonders bei den unruhigen Bewegungen des vergangenen Jahres hervorgetreten.«83 Eine solche Hinwendung zu den Fabrikarbeitern als besonders exponier ter »Fraktion« der Unterschichten läßt sich seit der Mitte der 1840er Jahre auch in der Pauperismus-Literatur verfolgen. Nachdem sich hier zunächst in Absetzung zur Begrifflichkeit des späten 18. Jahrhunderts - eine immer engere Identifikation von »A rmen« und »handarbeitenden Volksklassen« abgezeichnet hatte, richtete sich die A ufmerksamkeit nunmehr auf eine »speciellere Classe« der Armen84: die Fabrikarbeiter. In ihnen verkörperte sich nach beinahe übereinstimmendem Urteil der Zeitgenossen die eigent lich »wunde Stelle der Bevölkerung unseres Zeitalters«85. Dabei empfand man nicht so sehr ihr numerisches Wachstum als besorgniserregend: schließ lich bildeten die Fabrikarbeiter in der Gesamtheit der »sogenannten A rbei terklassen« (Dieterici) eine noch relativ kleine Gruppe. 1846 schätzte der Leiter des preußischen statistischen Bureaus, C. F. W. Dieterici, die Zahl der Fabrikarbeiter in Preußen auf 553542 Personen, denen er 100805 Berg- und Hüttenarbeiter, 379313 Handwerksgesellen und -lehrlinge, 1470091 »Handarbeiter und Tagelöhner« sowie 1271608 Dienstboten (Gesinde) ge genüberstellte86. Selbst in Berlin, wo die Maschinisierung und Zentralisie rung der Produktion seit den 1830er Jahren rasch voranschritt und zur Gründung arbeitsintensiver Fabrikbetriebe führte, stellten die Fabrikarbei ter 1846 nur 5,8% der Gesamtbevölkerung, die Handwerker dagegen 11,7% 87 . In den meisten Gebieten Preußens, vor allem in den ostelbisehen Provinzen, fanden sich überhaupt keine Fabrikarbeiter, dort dominierten Tagelöhner und Gesinde. Lediglich in Sachsen, im Rheinland und in be stimmten Gegenden Westfalens hatte die industrielle Entwicklung eine grö ßere Anzahl Fabrikarbeiter hervorgebracht. Es war denn auch gar nicht der quantitative Aspekt, der die Fabrikarbeiter zum bevorzugten Gegenstand sozial-politischer Diskurse machte. Wenn gleich der Blick auf Großbritannien zuweilen eine Ahnung davon aufkom men ließ, wie beherrschend sich die »große Industrie« mit der Zeit auch in Preußen-Deutschland ausbreiten würde, konzentrierte man sich doch zu nächst überwiegend auf die qualitative Dimension des »Problems«. Nicht nur Karl Marx galt das Fabrikarbeiter-Proletariat als die am meisten entäu ßerte und entfremdete Klasse der Gesellschaft, auch die bürgerlichen Paupe rismus-Autoren hoben das Schicksal dieser Gruppe als besonders bemitlei denswert hervor. Ihre Motive waren dabei durchaus ambivalent: entsetzten sich die einen über die moralische Verwahrlosung der Fabrikarbeiter, über ihre soziale und geographische Heimatlosigkeit, fiel anderen die existentielle Unsicherheit der Fabrikarbeiter, ihre hochgradige ökonomische A bhängig keit von Konjunkturen und Unternehmerwillür ins Auge. Für viele Chroni168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sten, die den ökonomischen Strukturwandel mit Skepsis betrachteten, war die soziale Situation des Fabrikarbeiters die wirkungsvollste A nklage gegen das expandierende »Maschinenwesen«, die Fabrikindustrie. Gerade die 1840er Jahre waren Zeuge einer Art bürgerlicher Masehinenstürmerei, eines weitverbreiteten Widerwillens gegen die neuen wirtschaftlichen Entwick lungen, den »Industrialismus«. Wenn auch eine derart rigorose A blehnung, wie sie etwa der Eilenburger Arzt Bernhardi der maschinellen, fabrikmäßig betriebenen Produktion entgegenbrachte, eher zu den A usnahmen gehör te88, war doch ein tiefes Unbehagen ob der sozialen Kosten dieser Produk tionsweise nicht zu verkennen. Bereits 1835 verfaßte Robert Mohl einen äußerst scharfsinnigen A ufsatz »über die Nachtheile, welche sowohl den Arbeitern selbst als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesamten bür gerlichen Gesellschaft von dem fabrikmäßigen Betrieb der Industrie zuge hen und über die Notwendigkeit gründlicher Vorbeugungsmittel«89. Im Mittelpunkt dieser Schrift stand der »beklagenswerte« Einfluß, den das Fabriksystem auf die Fabrikarbeiterschaft ausübte, sowie die »drohenden Folgen dieses Zustandes«. Neben der großen A bhängigkeit des A rbeiters von seinem »Lohnherren« und der Hoffnungslosigkeit seiner unselbständi gen ökonomischen Existenz betonte Mohl vor allem die demoralisierenden Elemente des Fabrikarbeiterdaseins: die Zerstörung der Familie, den Alko holismus und die sexuelle »Versunkenheit«. A uch die Untergrabung der Gesundheit lastete Mohl unmittelbar der Struktur und Organisation der Fabrikindustrie an. A ngesichts solcher Mißstände sei es nicht verwunder lich, wenn sich die A rbeiter über kurz oder lang gegen die bürgerlichen Besitzverhältnisse und einen Staat, der diese Verhältnisse schützte, erheben und sie zu zerstören trachten würden. Es bedürfe daher einer entschiedenen Steuerungspolitik seitens der Unternehmer und der Regierung, um a) den feindlichen »Gegensatz zwischen Lohnherr und Arbeiter« abzugleichen, b) dem Arbeiter Aussicht auf eine selbständige Existenz zu geben und c) für die »körperliche und geistige Verbesserung seines Wesens« zu sorgen. Mohl hatte dies alles mit Blick aut England, Frankreich und Belgien geschrieben, ließ aber keinen Zweifel daran, daß er auch in Deutschland ähnliche Entwicklungen erwartete, zumal sich die »ersten unzweideutigen Symptome« einer »Ansteckung« bereits gezeigt hätten. Vollendet schien die Inkubationszeit schließlich im Revolutionsjahr 1848, als die so sehr gefureh tete »Möglichkeit eines gewaltsamen A uftretens der A rbeitermassen«90 Wirklichkeit wurde. Die während der Märzereignisse aktualisierte A ngst bürgerlicher Schichten vor »A narchie« und »A rbeiterdespotie« machte sich nicht primär an den Elendsgestalten pauperisierter Tagelöhner fest, sondern an den selbstbewußteren Fabrikarbeitern, die sich politisch und gewerk schaftlich zu organisieren wußten. Diese Erfahrung spiegelte sich auch in dem Kommissionsbericht, der 1850 in der Ersten Kammer des Preußischen Abgeordnetenhauses diskutiert wurde. Die zehnköpfige Kommission hatte sich mit dem A ntrag einer A bgeordnetengruppe unter Federführung des 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Eupener Fabrikanten Hüffer beschäftigt, der 1849 eine Denkschrift mit Vorschlägen »zur Bekämpfung des bei den arbeitenden Klassen immer mehr einreißenden Pauperismus und des daraus hervorgehenden Proletariats« vorgelegt hatte91. Darin wies Hüffer auf die staatsgefährdenden »Wirkun gen der Verarmung« hin, welche sich »am entschiedensten in den Fabrikge genden herausgestellt (haben), wo eine große Menschen- und A rbeiter Masse auf einem Punkt zusammengedrängt, vor allem auf den Betrieb der Fabriken angewiesen sind, die, wenn dieser stockt, rasch in Armut versin ken«. Die Kommission sehloß sich dieser Interpretation jedoch nicht an. Eine solch unmittelbare Verbindung von A rmut und Umsturzaktivitäten entspräche nicht den Erfahrungen der jüngsten Zeit. Schließlich seien »die unbeschäftigten ärmeren Fabrikarbeiter nicht allein die Träger der revolu tionären oder demokratischen Ideen« gewesen, vielmehr seien »diese Ideen besonders auch bei solchen Fabrikarbeitern zum Vorschein gekommen . . ., die sich noch in kürzester Zeit vor dem Ausbruche der Unruhen des Jahres 1848, besonders in der Hauptstadt in stetiger A rbeit bei reichlichem Lohne befunden haben«92. Ob ganz arm oder nicht arm, ob als Industrialisierungsopfer oder als potentielle Revolutionäre - den in Fabriken beschäftigten A rbeitern galt seit Ende der 1840er Jahre die besondere A ufmerksamkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit, des Staates und der Parlamente. War die Diskussion über die Verordnung von 1849 noch ganz von den massiv und in einer Unzahl von Petitionen vorgebrachten Interessen des Handwerks an einer korporativen Organisation und an der Zurückdrängung industrieller Produktion be stimmt gewesen, spitzte sich die vielbeschworene »soziale Frage« in den folgenden Jahren auf eine »Fabrikarbeiterfrage« zu. Diese Tendenz bildete sich auch in den gesetzgeberischen A ktivitäten ab, die das preußische Handelsministerium in den 1850er und 1860er Jahren auf dem Gebiet des Kassenwesens entfaltete. Gerade für die »freien« Fabrikar beiter bedurfte es nach Meinung von Regierung und Parlament besonderer Auffanginstitutionen, die die destruktiven Protestenergien in positive Inte grationsarbeit umwandelten. In den Krankenkassen konnten die A rbeiter einen neuen Kristallisationspunkt ihrer korporativ-genossenschaftlichen In teressen finden; im Gegensatz zu den nunmehr verbotenen freien »Koalitio nen« aber standen die Kassen unter kontinuierlicher A ufsicht. Sowohl die Arbeitgeber als auch die Behörden hatten dafür zu sorgen, daß sich die Kassenmitglieder nur mit solchen Dingen beschäftigten, die mit der Organi sation der Einnahmen und Ausgaben zusammenhingen. Zu diesem Zweck sollten sich die Fabrikanten aktiv an der Verwaltung der Kassen beteiligen und im Vorstand eine »ihrer Stellung als A rbeitgeber und der Höhe ihrer Beiträge entsprechende Theilnahme« eingeräumt bekommen93. Diese Par tizipation erkauften sich die Unternehmer mit einem regelmäßigen Beitrag, der auf die Hälfte der Summe festgesetzt war, die ihre Arbeiter an die Kasse entrichteten94. 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ein solcher A rbeitgeberbeitrag schien dem Staat aus mehreren Gründen unverzichtbar: erstens materialisierte er eine über den bloßen A nkauf der Arbeitskraft hinausgehende Verantwortung des Unternehmers für seine Arbeiter und deren Lebensrisiken. Zweitens stellte er die Kassen auf ein stabileres finanzielles Fundament und entlastete damit sowohl die A rbeiter als auch die Kommunen, die bei unzureichenden Kassenmitteln einspringen mußten. Darüber hinaus und prinzipiell sei aber die »Heranziehung der Fabrikinhaber zu den gedachten Kassen nur zu sehr in der Billigkeit begrün det, da sie bei ungünstigen Con juneturen und mangelnder Beschäftigung der Gemeinde die Sorge für die Arbeiter und deren Familien überlassen«95. Das letzte Argument war in der hitzigen Diskussion, die um diejahrhun dertmittc über die Vor- und Nachteile des »Fabrikwesens« geführt wurde, häufig zu hören. Sehr pointiert fand es sich in einem anonymen Essay aus dem Jahre 1849 formuliert, der zuvor in der konservativen Neuen Preußi schen Zeitung erschienen war. Der Autor griff die bestehende Armengesetz gebung scharf an, nach der den Gemeinden die Versorgung verarmter Fabrikarbeiter oblag: »Der gesunde Menschenverstand begreift nicht, nach welchem Grunde des Rechts oder der Billigkeit eine Gemeinde dazu kommt, Hunderte von Menschen zu ernähren, weil es irgend einem Kapita listen eingefallen war, in ihrem Bezirk A nlagen zu machen, an denen sie nicht das mindeste Interesse hatte, dagegen sich aber bei unrichtigen Specu lationen mit dem Gewinn zurückzuziehen und der Gemeinde den Schaden allein aufzubürden. Hier muß derjenige, welcher den Schaden veranlaßt hat, ihn offenbar auch tragen.« 96 Diese Ansicht teilten auch die Kommunen selbst, die mit der A nsiedlung größerer Fabrikbetriebe den Zustrom von A rbeitsuchenden verkraften mußten. Die neu zuziehenden, oft von weither kommenden Männer und Frauen waren in ihrem Lebensunterhalt ausschließlich auf den Verdienst angewiesen, den ihnen die Fabrikarbeit gewährte. Im Gegensatz zu den ortsansässigen oder aus den umliegenden Gemeinden »nachbarschaftswan dernden« A rbeitern, die nicht selten noch ein Stück Land besaßen und dort die notwendigsten Lebensrnittel anpflanzten, waren diese »Fernwanderer« (aber auch die aus der gleichen oder anliegenden Provinz kommenden »Nahwanderer«97) ohne zusätzliche Subsistenzquelle. Nach A uskunft der Bielefelder Stadtverwaltung von 1867 »leben jetzt die Fabrikarbeiter in der Mehrzahl fast nur von dem Lohn, welchen der Tag einbringt. Eine Krank heit von etwas längerer Dauer, eine kurze Zeit der Arbeitslosigkeit bringt sie sofort in Not und weist sie auf die Armenkasse hin«98. Eben diese Belastung der öffentlichen Fürsorge bewog die städtischen Behörden, bei den ortsansässigen Fabrikbesitzern auf eine rasche Umset zung der im Ortsstatut vorgeschriebenen Krankenversieherungspflicht zu drängen. Zumeist legten sie den Unternehmern nahe, betriebliche Kranken kassen für ihre Beschäftigten einzurichten99 bzw. unterstützten entspre chende Initiativen, die von den Fabrikanten selbst ausgingen. Zuweilen 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
arbeiteten sie aber auch daraufhin, allgemeine Fabrikarbeiterkassen zu grün den, deren Mitgliedschaft allen A rbeitern, gleich welcher Betriebszugehö rigkeit, zur Pflicht gemacht wurde 100 . Im preußischen Handelsministerium favorisierte man eher das erste Verfahrensmodell, was nicht zuletzt auf die beharrliche Agitation des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klas sen zurückzuführen war. Dem Centralverein ging es in erster Linie darum, »zwischen den Fabrikbesitzern und Arbeitern ein engeres sittliches Verhältniß zu begründen«. A ls Einstieg empfahl er die Gründung von Krankenkassen, zu denen sowohl A rbeiter wie Unternehmer beisteuerten. A bgesehen von dem unmittelbaren Zweck, den Arbeitern »bei Krankheits- und Unglücks fällcn . . . eine gesicherte Existenz zu gewähren«, sollten diese Institutionen zugleich auch dazu beitragen, daß »sich von selber ein innigeres Verhältniß zwischen A rbeitern und A rbeitgebern bilden« würde. Kassen galten dem nach als vorbildhafte Keimzellen, die langfristig wichtige A nstöße für eine korporative Verbindung von A rbeiter- und Unternehmerinteressen geben könnten. »In Anknüpfung an dieses gesetzlich geregelte Institut« würde sich alsdann, so hoffte der Centralverein, »von selber eine A ssociation beider« anschließen, die nur als freiwillige die erwünschte »moralische Wirkung« hätte101. Der dem preußischen Staatsministerium 1849 vorgelegte Entwurf einer »Verordnung, betreffend die Verhältnisse der A rbeiter und A rbeitgeber in den Fabriken« wurde auf parlamentarischer Ebene von einflußreie.hen Mit gliedern des Centralvereins (von Viebahn, Harkort, Degenkolb u.a.) ver treten und fand bereits im gleichen Jahr in dem Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe über die Revision der Verordnung vom 9. 2. 1849 eine lebhafte Resonanz102. Wenn die preußische Regierung der Vorlage auch nicht in allen Punkten folgte und beispielsweise vor dem verbindlichen Erlaß von Fabrikordnungen, A rbeitszeit- und A rbeitsbuchregelungen zurück schreckte, bestätigten die Vorschläge zum Kassenwesen genau ihre politi sche Strategie. Trotz versehiedentlieher Kritik an dem »kommunistischen« Prinzip des Versicherungszwangs103 beharrte das Handelsministerium auf der Beitragsverpflichtung aller Fabrikinhaber. Seit der Mitte der 1850er Jahre riß die Flut von Nachfragen, Ermahnungen und ultimativen A ufforde rungen nicht mehr ab, mit denen Berlin die A nwendung des gesetzlichen Zwangsinstrumentariums auf Ortsebene erreichen wollte. A lle A ngaben über das Kassenwesen wurden genauestens nachgeprüft, Ungereimtheiten sofort moniert. Gegen Fabrikanten, die entweder keine eigene Kasse einge richtet hatten oder aber keinen Beitrag zahlten, zog man solange zu Felde, bis sie den Bedingungen der Regierung Folge leisteten104. Während viele Kommunalbehörden und Landräte eher Nachsicht übten, wenn es um die Ausübung von Zwang auf die Unternehmer und Handwerksmeister ging105, ließen Handelsministerium und Bezirksregierungen nicht locker und suchten den Gesetzesparagraphen auch gegen lokale Widerstände Gel tung zu schaffen. Doch nur höchst selten folgten dem verbalen Drängen 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
auch unmittelbare Zwangsinterventionen, wenn sich eine Kommune dem staatlichen Druck nicht beugen wollte. Im konkreten Fall schienen die Behörden nicht fähig oder willens zu sein, von ihrem seit 1854 beste henden gesetzlichen Recht Gebrauch zu machen, wonach sie auch ohne Zustimmung der Gemeinden einen Versicherungszwang erlassen konn ten. So sah beispielsweise das im Januar 1855 genehmigte Bielefelder Ortsstatut die prinzipielle Beteiligung der A rbeitgeber an den Gesellen und Fabrikarbeiterkassen noch nicht vor, und selbst das Handelsministe rium verzichtete darauf, eine entsprechende Bestimmung einfugen zu lassen. Offensichtlich scheute die Regierung in der Praxis davor zurück, allzu autoritativ in die inneren Betriebsverhältnisse der Fabriken einzugreifen und hoffte statt dessen auf die eigene Einsicht der Besitzer. In diesem Sinne hatte auch eine Kommission des preußischen A bgeordnetenhauses votiert, »indem unter Umständen besserer Erfolg zu hoffen sei, wenn dieser Beitritt freiwillig bleibe, und dem Ehrgefühl der Fabrikherren überlassen werde. - Ihr eigenes Interesse würde ihren Beitritt herbeifüh ren; - sie verlören an A chtung, wenn man den Beitritt zwangsweise for dere« 106 . Wenn sich dieses wohlverstandene Eigeninteresse jedoch nicht einstellte und auch die Kommunen passiv blieben, griffen die Behörden zuweilen unmittelbar ein, wie der Fall des Bielefelder Seidenfabrikanten Delius zeigte. A ls letzterer der Bezirksregierung das Statut seiner Fabrik krankenkassc zur Genehmigung vorlegte, lehnte das Ministerium ab und revidierte es in zwei wesentlichen Punkten: zum einen ersetzte es die Be stimmung, die den Fabrikherrn von jeder definitiven Beitragspflicht frei sprach, durch eine Drittelbeteiligung; zum andern verringerte es die Hö he der A rbeiterbeiträge um eben dieses Drittel. Der Bielefelder Magistrat seinerseits hatte an dem Kassenstatut keine Mängel gefunden und es oh ne Veränderungen nach Minden weitergeleitet107. Für die allgemein bezeugte Unwilligkeit der Kommunen, den A rbeit gebern einen festen Kassenbeitrag zwingend vorzuschreiben, machte die Regierung die Repräsentation der Unternehmer in den Selbstverwal tungsorganen der Gemeinden (Stadtverordnetenversammlungen) verant wortlich: in vielen Fällen hätten »die Fabrikanten ihren Einfluß geltend gemacht, um sachgemäße Beschlüsse zu hintertreiben«108. In der Tat war ein solcher Einfluß nicht zu übersehen109 und führte wohl auch in einzelnen Fällen dazu, daß die Rcgelungsbemühungen der Regierungsad ministration auf dieser Ebene blockiert wurden. Viel häufiger jedoch kam es vor, daß die Handwerksmeister gegen die Beitragsverpflichtung opponierten und sich schlichtweg weigerten, den offiziellen A nordnun gen Folge zu leisten110. Vor allem im Baugewerbe, das in der Regel eine große A nzahl Gesellen beschäftigte, liefen die Meister Sturm gegen die ihrer Meinung nach unzumutbare Belastung und machten all ihren Ein fluß in der Stadtverordnetenversammlung dagegen geltend. So resümier173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
te denn auch die Mindener Regierung 1869, als sie dem Handelsministerium über das Kassenwesen der Region Bericht erstattete: »Einem Widerstände seitens der Beitragspflichtigen sind wir bei den Fabrikherrn und Fabrik arbeitern gar nicht, sondern nur bei den Handwerksmeistern . . . begegnet, als wir die Heran ziehung der Handwerksmeister sämtlicher Städte unseres Bezirks zu Beiträgen für die Gesellen unterstützungskassen angeordnet hatten. A ls Grund hierfür wurde angeführt, daß es den Gesellen heutzutage vielfach besser einee als den Meistern.«111
Abgesehen von diesen durch ökonomische Interessen motivierten Ein wänden war in den Kommunalverwaltungen die Neigung unübersehbar, sich zwar nicht in der Sache, wohl aber in der Form von der obrigkeitlichen Interventionsmacht zu lösen. A ngesichts der Tatsache, daß jene Fabrikan ten, die keine Beiträge zahlten, nur eine kleine Minderheit bildeten, hielt man es für ratsamer und der »herrschenden Zeitrichtung« angemessener, auf staatlichen Zwang zu verzichten und die wohlmeinenden Unternehmer nicht durch Polizeistaatsmethoden abzuschrecken112. Den Arbeitern gegen über zeigte man sich allerdings nicht so permissiv: sie seien nur durch Zwang dazu zu bewegen, den so ungemein nützlichen Selbsthilfeeinriehtungen beizutreten. A uf die Anfrage des Handelsministers, ob bei einer A ufhebung des Versicherungszwangs eine A uflösung der bestehenden Kassen zu be fürchten sei, ohne daß sich an ihrer Stelle freiwillige Vereinigungen der Arbeiter bildeten, antworteten alle Landräte und Magistrate im Regierungs bezirk Minden 1869 mit einem klaren Ja. Ohne allgemeine Verpflichtung zum Kassenbeitritt würden die A rbeiter ihre Beiträge »lieber den Vergnü gungen und A usschweifungen widmen und bei eintretender Hülfsbcdürf tigkeit den Armen- und Gemeindekassen zur Last« fallen113. Mit dieser Aussage stützten die Behörden die Position der Regierung, die sich seit den späten 1850er Jahren einer immer schärferen liberalen Kritik ausgesetzt fand. Zwangskassen, Kassenzwang und Kassenfreiheit hießen die Schlagworte, die bis zum Erlaß des Krankenversieherungsgesetzes die kas senpolitischc Diskussion beherrschten und die Sozialpolitik der 1860er und 1870er Jahre prägten.
3. Kassenfreiheit oder »Staatssozialismus«: Die preußische Kassenpolitik der 1860er und 1870er Jahre im Spannungsfeld zwischen Liberalität und Solidarprotektionismus Nicht nur auf kommunaler Ebene, auch in der politisch-wissenschaftlichen Diskussion und in den parlamentarischen Gremien wurde seit Ende der 1850erjahrc immer lauter Kritik an der staatlichen Kassengesetzgebung und -politik geübt. Zu einer Zeit, als liberale Wirtschafts- und Gcscllschaftstheo rien großen Anklang fanden, mußtejede Staatsintervention in die ökonomi schen oder sozialen Verhältnisse als störender und überflüssiger A kt erschei174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
nen, der die Energie der Wirtschaftssubjekte lahmte und die Eigendynamik des Marktes außer Kraft setzte. In der Frage der Krankenkassen gewann dieser Konflikt zwischen liberalen Freiheitsprinzipien und staatlichen Rege lungsintercsscn eine besondere Schärfe, prallten unterschiedliche sozialpoli tische Ordnungsvorstellungen ungebremst aufeinander. Ließ sich die Kassenpolitik des preußischen Handelsministeriums von dem Konzept leiten, in die frei und chaotisch fließende Ökonomie einen Hauch von korporativer Gliederung einzustreuen, so waren den Anhängern liberaler A nschauungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik alle Ten denzen suspekt, in denen sie ein Wiederaufleben zünftleriseher Gängelung vermuteten. Die Wirtschaft des Landes konnte ihrer Meinung nach nur dann gedeihen, wenn sie frei von jeder äußeren Beeinflussung blieb; zwangsweise durchgesetzte Einrichtungen, die nicht aus der freien Initiative der Vertrags partner hervorgegangen waren, mußten demnach als widersinnige Behin derungen des sich selbst regulierenden Marktes angesehen werden. Daraus folgte jedoch nicht, daß die Existenzberechtigung von Versicherungsverei nen grundsätzlich in Frage gestellt wurde, denn auch den Liberalen waren die ökonomisch und sozial stabilisierenden Eigenschaften der A rbeiterkas sen nicht unbekannt. A ls schädlich galt lediglich jede Form obrigkeitlichen Zwanges, der in die privaten Verhältnisse von Arbeitern und Unternehmern intervenierte und ihnen ein bestimmtes Handeln verbindlich vorschrieb114. Schon anläßlieh der Beratungen über das Kassengesetz von 1854 hatten viele A bgeordnete ein tiefes Unbehagen über Umfang und Richtung des staatlichen Engagements geäußert. Vor allem die Verpflichtung der Arbeit geber, Beiträge zu den Kassen ihrer A rbeiter zu zahlen, stieß auf große Vorbehalte. Betrachteten die einen den Beitragszwang als unzumutbare Belastung der Kapitalseite, so entdeckten die anderen darin eine neue Unge rechtigkeit für die A rbeiter. Schließlich sei davon auszugehen, daß die Unternehmer ihren Beitrag aus dem Lohnfonds bestritten, wodurch der Arbeiter sozusagen »einen Theil seines Lohnes als Geschenk« empfmge. Zugleich werde damit »eine Lohnerhöhung für die Zukunft geradezu ver hindert«, da der Arbeitgeber die Prämien am Arbeitslohn wieder einspare. Nur durch Lohnerhöhungen aber sei letztendlich sicherzustellen, daß das Arbeitseinkommen die tatsächlichen Reproduktionskosten der A rbeitskraft decken könne. Der Unternehmerbeitrag zur Krankenversicherung seiner Arbeiter verschleiere demnach das grundlegende Problem, daß der Arbeits lohn im allgemeinen nicht ausreiche, um die A bnutzung der A rbeitskraft sowie periodische Störungen durch Krankheit zu kompensieren. Eine von oben oktroyierte »Humanität« trete folglich an die Stelle eines freien und marktgerechten A ushandelns des Lohnsatzes zwischen A rbeitnehmern und Arbeitgebern115. Neben diesem Eingriff des Staates in die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit störte die Liberalen vor allem die Anmaßung der Regierung, ihre Politik autoritativ und über die Köpfe der kommunalen Selbstverwaltungs175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
organe hinweg polizeilich durchzusetzen. Gestützt auf Interesscnbckundun gen verschiedener Handelskammern und Magistrate, die jeglichen Zwang bei der Organisation des Kassenwesens entschieden ablehnten, unternah men Mitglieder der liberalen Fraktionen mehrere A nläufe, Parlament und Regierung zu einer Revision der bisherigen Kassengesetzgebung zu veran lassen. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stand dabei zunächst das Zurück drängen der staatlichen Initiative. Im Zuge des sich verschärfenden Kon flikts zwischen Abgeordneten und Regierung116 wurden dann aber auch die sozialpolitischen Vorstellungen der Liberalen wesentlich kompromißloser formuliert, bis sie 1862/63 in den Entwürfen zu einem neuen Gewerbegesetz die vollständige A ufhebung jeder Beitrittsverpflichtung für A rbeiter und Unternehmer forderten117. Mit diesen Anträgen hatte sich das Handelsministerium auseinanderzuset zen, als es Ende der 1860er Jahre die Vorbereitung einer neuen Gewerbeord nung in A ngriff nahm. Die liberalen Vorarbeiten hatten immerhin die Wirkung, daß sich die Regierung in der Kassenfrage sehr zurückhielt und das Problem des Zwangsbeitritts grundsätzlich »der Ordnung durch lokale Statuten« überlassen wollte, was der engagierte Verfechter des Prinzips der Kassenfreiheit, der Fortschrittsabgeordnete Sehulze-Delitzseh, als Durchlö cherung des Kassenzwangs feierte118. Diese Stärkung der kommunalen Entscheidungsbefugnis aber wies implizit darauf hin, die Kassen einem System erweiterter A rmenpflege zuzuordnen. Die amtlichen »Motive« des neuen Gesetzeswerkes suchten die Existenzberechtigung der Kassen denn auch hauptsächlich in ihrer Funktion als »unentbehrliche Ergänzung zur lokalen A rmenpflege«, als Instrument in der Hand kommunaler Selbstver waltung, um die »Schwierigkeiten zu beseitigen, welche aus der Kollision der Freizügigkeit mit der Unterstützungspflicht der Gemeinden entstehen können«119. Mit dieser legitimatorisehen Klausel entzog sich die Regierung allen wei teren Begründungspflichten, die - sofern sie das sozialpolitische Konzept korporativer Organisation berührt hätten - mit Sicherheit auf den Wider spruch der liberalen Parlamentsmehrheit gestoßen wären. Eben dieses Kon zept wurde allerdings in der Plenardebatte des Reichstags von konservativen Abgeordneten aufgegriffen. Vor allem der Saarindustrielle von Stumm warf dem Regierungsentwurf vor, daß er viel zu stark den Konnex zwischen Armenpflege und A rbeiterkassen in den Vordergrund stellte: »Er ignoriert die sehr viel höherstehende A ufgabe, das Vertrauen des A rbeiters in Zu kunft, seine Selbständigkeit, seine sittlichen Elemente zu heben und das Zusammenwirken zwischen Kapital und Arbeit nach jeder Richtung hin zu befördern.«120 Während Stumm auf eine Verschärfung der Zwangsbestimmungen durch den Staat drängte, um dieser »höheren Aufgabe« einer sozialen Integrations politik gerecht zu werden, lehnten die Liberalen seinen A ntrag ab. Sie machten sich statt dessen für ein freies Kassenwesen stark, das einzig und 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
allein von den Arbeitern selbst gestaltet werden sollte. Nur in freien Kassen ohne Gängelung durch Behörden und Arbeitgeber fände der Arbeiter »seine beste Schule für die Selbsterziehung und Selbsthilfe«. In den von Kommu nen oder Fabrikbesitzern eingerichteten »Zwangskassen« dagegen, denen die Arbeiter bislang angehören mußten, lernten sie nur Entmündigung und Unterdrückung kennen. Es sei nun aber an der Zeit, den »gerechten Forde rungen« der A rbeiter nach A bschaffung der Zwangskassen entgegenzu kommen, um »den zum Theil zu weit gehenden Forderungen auf A bhilfe ihrer gedrückten Lage, diesen Forderungen, die über das Rechtsgebiet hin ausgreifen, die die Freiheit beschädigen, mit gutem Gewissen und Erfolg entgegentreten« zu können121. A ls Kompromißvorsehlag brachte Schulze Dclitzsch einen Antrag ein, der die Zwangskassen zwar nicht grundsätzlich beseitigte, ihnen aber die freien Kassen der Gewerk- und A rbeitervereine gleichberechtigt zur Seite stellte. Dieser Antrag wurde angenommen und in die Gewerbeordnung von 1869 eingefügt, allerdings mit der A uflage, die Regierung möge in kürzester Frist eine umfassende gesetzliche Regelung des Kassenwesens ausarbeiten. In der Tat zeigte sich schon bald, daß eine solche Allgemeinregelung bitter not tat. Die Regierung legte die neuen Kassenbestimmungen so aus, daß auch die freien Kassen ihrer Kontrolle und Genehmigungspflicht unterlagen und nur unter dieser Bedingung als Alternative zu den Zwangskassen gelten durften. Dagegen wehrten sich die freien Kassen und beharrten auf ihrer Unabhängigkeit, die ihnen auch von den Gerichten bescheinigt wurde 122 . Um diese Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, legte die Regierung dem Reichstag 1876 zwei Gesetzentwürfe vor, nachdem sie bereits 1869 bei den Bezirksbehörden um grundsätzliche Äußerungen zum Komplex Kassen freiheit versus Kassenzwang bzw. Zwangskassen nachgesucht hatte. A uf grund der eingegangenen Stellungnahmen, die eine breite Meinungspalette repräsentierten, gelangte die Regierung zu dem Sehluß, daß »ein Verzicht auf den Versicherungszwang die kräftige Fortentwicklung des Hülfskassen wesens in Frage stellen« und die bestehenden Kassen austrocknen würde 123 . Entgegen den Unkenrufen der Liberalen habe sich das Prinzip der Zwangs kassen sehr wohl bewährt, was sich schon an der großen Zahl versicherter Arbeiter ablesen lasse: 1872 waren in Preußen insgesamt 776563 Fabrikar beiter und Handwerksgesellen in 4763 Kassen gegen Krankheit versi chert124. A ngesichts dieser Größenordnung sei es völlig abwegig, von einer globalen Bedeutungslosigkeit der unter staatlicher Kontrolle stehenden Krankenkassen zu sprechen. Gerade im Vergleich zu den sog. freien Kassen, die in Verbindung mit Gewerkvereinen oder ähnlichen Organisationen entstanden seien, trete die Dominanz der Zwangskassen noch klarer hervor: für 1873 schätzte die Regierung die Zahl der freien Kassen auf etwa 600 bis 700 mit nicht mehr als 50000 Mitgliedern125. Da man nicht davon ausgehen könne, daß diese Kassen in Zukunft eine größere Verbreitung fänden, sei es aus staatspolitischen Gründen nicht zu rechtfertigen, die Versicherung nur 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
der freiwilligen Initiative der Arbeiter zu überlassen. Vielmehr solle das seit 1869 bestehende Mischsystem von Zwangs- und freien Kassen beibehalten werden126. A rbeiter, die ihre Mitgliedschaft in einer freien Kasse nachwei sen konnten, waren danach auch weiterhin von der Beitrittsverpflichtung zu einer Zwangskasse befreit. Zur Vereinheitlichung der verschiedenen Kassenformen und -leistungen stellte die Regierung zudem eine Reihe von Mindestanforderungen, die alle Kassen verbindlich erfüllen mußten. Dazu gehörte beispielsweise, daß Krankenunterstützungen wenigstens dreizehn Wochen lang gewährt wur den, Krankenlöhne für Männer die Hälfte, für Frauen ein Drittel des ortsüb lichen Tagelohns betragen sollten, und daß unterschiedlos alle Krankheiten unterstützungspflichtig waren127. A m wichtigsten war dem Staat offenbar das in § 6 kodifizierte Verbot eines obligatorisehenjunktims von Kassenbei tritt und Vereinszugehörigkeit128. Hier zeigten sich denn auch die tiefsten Gegensätze zwischen Regierungsvertretern und liberaler Parlamentskom mission: fürchtete der Handelsminister, daß die »Vereine von dem Privile gium der Kasse den wesentlichsten Nutzen ziehen, und zweitens, daß die Arbeiter außerdem in derartige Verbände hineingetrieben werden«, war die Kommission davon überzeugt, »daß die organische Verbindung von Kassen und von Vereinen durch die Gewohnheit und Sitte unseres Volkes einmal eingebürgert sei, daß sie in den A nschauungen unserer A rbeiterkreise von allen Zeiten her begründet sei, daß deshalb bei uns in Deutschland nur auf dem Wege solcher Organisationen eine gedeihliche Entwicklung des Kas senwesens zu erreichen sei« 129 . Die A ngst vor einem durch ein freies Kassenwesen gesteigerten Einfluß der A rbeitervereine richtete sich nicht so sehr auf die immer wieder als Vorbild zitierten Hirseh-Dunekersehen Gewerkvereine, sondern auf sozial demokratische Organisationen. Dem hielt Sehulze-Delitzseh in den Parla mentsberatungen listig entgegen, die Gegner der Sozialdemokraten könnten »es sich gar nicht besser wünschen, als daß wir recht viele solcher Kassen unter jener Partei erblühen sehen . . . Denn in diesen Kassen bricht man mit dem eigentlichen Parteiprinzip; das Prinzip der Selbsthilfe, dem man in jenen Klassen sonst entgegentritt, das wird hier Ja etabliert in einer der allersehwierigsten Lagen der Beteiligten . . . das wird uns die ganze Partei näher bringen und das wird viele Mitglieder derselben ganz gewiß zu konservativeren Prinzipien bekehren, als wir sie jetzt von dieser Seite zu hören gewöhnt sind«. 13°
In dieser Argumentation, die nicht allein von Sehulze-Delitzseh vertreten wurde 131 , trat die Hoffnung auf die soziale Befriedungsfunktion der Kassen deutlich zutage. In der Wahrnehmung liberaler Politiker trugen die Kran kenkassen entscheidend dazu bei, das soziale System zu stützen, indem sie die Arbeiter materiell absicherten und ihnen, was noch wichtiger war, ein sozialpolitisches Betätigungsfeld gaben. Seit das Koalitionsverbot 1869 ge fallen132 und gleichzeitig die Sozialdemokratie mit einem harten Klassen kampfprogramm auf der politischen Bühne erschienen war, suchte man noch intensiver als zuvor nach Organisationsformen, in die sich die Arbeiter 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gefahrlos einbinden, ihre möglichen revolutionären Energien in konstruk tiv-bewahrende Richtungen umbiegen ließen. Vereine, die mit Kassen ver bunden waren, boten am ehesten die Gewähr, besitzstandswahrend aufzu treten und ihr Kassenvermögen nicht unkalkuliert für Streiks zu verschleu dern. Dieser Ansicht neigte auch Theodor Lohmann, Verwaltungsjurist im Handelsministerium, zu: »Unsere neueren A rbeiterverbindungen wird man, wenn man ihnen dieses Feld der Tätigkeit nimmt, meiner Überzeu gung nach immer mehr nach links und auf das reine A gitationsgebiet und folgeweise der Sozialdemokratie in die Arme drängen.« 133 Lohmann, der in den 1870er und 1880er Jahren an exponierter Stelle mit der A usarbeitung von Gesetzentwürfen zum sozialen Versicherungswesen beschäftigt war, gehörte - ebenso wie der konservative Politiker Hermann Wagener - zu den einflußreiehsten Theoretikern einer staatlichen Sozialpoli tik, die auf die soziale Befriedung und Integration der Arbeiterklasse in die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung abzielte. Während Wagener, von A ugust Bebel spöttisch als »Königlich-preußischer Hof-Sozialist«134 klassifiziert, die Idee des »socialen Königtums« propagierte und die in »eorporative ständische Genossenschaften« eingebundenen A rbeiter durch rechtliche Gleichstellung und »Socialreform« an den Staat heranfuhren wollte 135 , schwebte Lohmann eine »versöhnende Arbeiterpolitik« vor. Un ter dem Schutz und der Kontrolle des Staates sollte der »A rbeiterstand« eigene Organisationen bilden und auf diesem Wege zum »Bewußtsein seiner Selbstverantwortliehkeit . . . und der Mitverantwortlichkeit für das allge meine Wohl« erzogen werden. Der Staat hatte die Rechtsformen zu ermög lichen und zu garantieren, in denen sich eine solche politisch-soziale Be wußtwerdung vollziehen konnte. Lohmann dachte dabei an berufsbezogene Korporationen (Gewerkvereine), die positiv-praktische Ziele verfolgten und daraus eine »gewisse Mäßigung« zogen136. An diesem Funkt trafen sich Lohmanns Vorstellungen mit denen des seit 1872 bestehenden Vereins für Socialpolitik, der sich unter dem Einfluß führender »Kathedersozialisten« massiv für eine staatliche Sozialreform ein setzte. Nachdem das Gros der preußisch-deutschen Nationalökonomen in den 1860er Jahren kompromißlos auf der Seite der liberalen Wirtschaftsthco ric gestanden und jeden äußeren Eingriff in die Gewerbeverhältnisse rigoros abgelehnt hatte, löste sich Anfang der 1870er Jahre eine Gruppe von Wissen schaftlern um Gustav Schmoller von dieser im Volkswirtschaftlichen Kon greß zusammengeschlossenen Richtung und organisierte ein Treffen mit Fabrikanten, Beamten, Rechtsanwälten, Journalisten und A bgeordneten. Aus dieser »Eisenaeher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage« entstand dann der »Verein für Soeialpolitik«. Er machte es sich zur Aufgabe, als »Gegner der sogenannten Manchesterpartei« in Parlament und Regie rung auf eine mit administrativ-gesetzlichen Mitteln durchzusetzende Wirt schafts-, Sozial-und Arbeiterpolitik hinzuwirken, die die »mögliche Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von ferne, aber doch deutlich genug drohenden 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
socialen Revolution« bannen und den »tiefen Zwiespalt« zwischen Unter nehmern und A rbeitern ausgleichen konnte. Eine über den »egoistischen Klasseninteressen« stehende »starke Staatsgewalt« sollte Reformen initiie ren, um »die untern Klassen soweit zu heben, zu bilden, zu versöhnen, daß sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus der Gesellschaft und des Staates einfügen«137. Wie Lohmann pries auch Gustav Schmoller als theoretischer Kopf des Vereins die Organisationsform des Gewerkvereins als geeigneten »eorpora tiven Verband«, der »die Keime der Ordnung und des Friedens in sich trägt«. Vor allem die sozialen Einrichtungen der Gewerkvereine, speziell die Krankenkassen mit ihren bedeutenden Finanzmitteln, schienen ihm die Gewähr zu bieten, daß von dieser A rt A rbeiterverein keine Gefahr für den »socialen Frieden« ausginge, im Gegenteil der integrative Einfluß eher noch verstärkt würde. »Ohne diese Kassen«, so Schmoller, »fehlt den Gewerk vereinen die wichtigste äußere Funktion und Thätigkeit, ohne diese Kassen werden sie bloße Strikevereine, die Händel suchen, nur um etwas zu thun zu haben.« 138 Wie wichtig der Verein für Soeialpolitik die A rbeiterkrankenkassen nahm, zeigte sich auch daran, daß er kurz nach seiner Gründung sozialpoli tisch erfahrene Beamte, Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker auffor derte, Gutachten über die Wirksamkeit des bisherigen Kassenwesens und die Wünsehbarkeit seiner Ausdehnung abzufassen. In diesen Gutachten gelang ten die A utoren einmütig zu der Überzeugung, daß Kranken-, Invaliden und Alterskassen ungemein wertvolle sozialpolitische Einrichtungen seien, die vor allem in ihrer »sittlichen« Erziehungsfunktion kaum überschätzt werden könnten. Der Dortmunder Bergassessor Hiltrop feierte die Kassen geradezu als Mittel zur »Aufhebung des Proletariats«, indem sie die Arbeiter »gegen die materiellen Folgen der natürlichen Nothstände des Lebens« absicherten und damit zugleich »auf die sittliche und geistige Fortentwick lung unserer Mitbürger den segensreichsten Einfluß« ausübten139. Noch deutlicher drückte sich der Fabrikbesitzer Fritz Kalle, Vorsitzender des Mittelrheinisehen Fabrikantenvereins, aus. Die Kassen entzögen die Arbei ter den »Umsturzlehren der Soeial-Dcmokratie«, indem sie ihren Mitglie dern einen »größeren moralischen Halt« gäben. Ein A rbeiter, dessen Exi stenz gegen die Weehselfälle des Lebens gesichert wäre, brächte zwangsläu fig ein größeres Interesse »an dem Bestehenbleiben des Ganzen« auf, würde »conservativer oder vielmehr weniger revolutionär« und stellte keine A n sprüche mehr an die Arbeitgeber, »welche die betreffende Industrie unmög lich machen mußten«. Schon aus diesem Grunde sei die Existenz von Kranken-, Invaliden- und Alterskassen ein unverzichtbares sozialpolitisches Erfordernis, das angesichts der den A rbeitern eigenen Lethargie wohl nur durch staatlichen Zwang durchzusetzen sei140. Daß sich ein Unternehmer für die vom Staat auszusprechende Versiche rungspflicht aller A rbeiter stark machte, war in den 1870er Jahren keine 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ausnahme mehr. In weiten Teilen der Industrie hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß eine allgemeine Regelung der Kassenfrage letztlich nur von Vorteil sein könnte, da sie für alle Unternehmen gleiche Bedingungen schuf und die Wettbewerbsvorteile ausräumte, die ein lokaler Verzicht auf die Durchsetzung des Kassenzwangs mit sich brachte. Folgerichtig anti chambrierte der 1876 gegründete Centralverband Deutscher Industrieller, eine pressure group der Eisen- und Textilindustrie141, sehr beharrlich bei der Regierung, um seinen Vorstellungen einer staatlichen Zwangsversicherung Gehör zu verschaffen. A llerdings stand dabei zunächst die Revision des Haftpflichtgesetzes von 1871 im Vordergrund, da auf dem Gebiet des Un fallschutzes die einschneidendsten Mängel zu beobachten waren und der von den Unternehmern so geschätzte »soziale Friede« hier empfindlich bedroht schien142. Der Schutz vor Krankheit bzw. ihren Folgen war dagegen ver gleichsweise gut organisiert - es fehlte lediglich an einer allgemeinen, für alle Arbeiter unabhängig von ihrer lokalen Zugehörigkeit verbindlichen Rege lung. Infolgedessen konzentrierte sich die industrielle Lobby fast ausschließ lich auf die geplante Unfallversicherung143 und schaltete sich lediglich am Rande in die Beratungen über die Neuordnung der Krankenversicherung ein144. Ganz ähnliche Prioritäten setzte auch die Regierung, besonders der Reichskanzler, der die Krankenversicherung gar nur als »untergeschobenes Kind« ansah und der Unfallversicherung einen weit größeren Stellenwert in seinem Gesetzgebungsprogramm einräumte145. Die Krankenversicherung war gleichsam nur ein Vorsehaltgesetz, der Unfallversicherung funktional zugeordnet, indem nunmehr alle Unfälle, die eine A rbeitsunfähigkeit von höchstens dreizehn Wochen nach sich zogen, in das Ressort der Krankenkas sen gehörten. A uf diese Weise wurden die konfliktträchtige Differenzierung zwischen selbst- und fremdversehuldeten Unfällen aus der Welt geschafft und klare Finanzierungskompetenzen abgesteckt: die Unternehmer mußten für alle größeren Unfälle allein aufkommen, die Arbeiter zahlten durch ihre Krankenkassenbeiträge zwei Drittel der Genesungskosten bei kleineren, rascher heilenden Verletzungen. Um sicherzustellen, daß die Krankenversicherung eine »ausreichende Ergänzung der Unfallversicherung« bildete, mußte die Gesetzgebung vor allem dafür sorgen, daß alle A rbeiter, die gegen Unfall versichert werden sollten, auch gegen Krankheit versichert waren. Dieses Ziel, so die einhelli ge Meinung der Regierung, war nur durch die »Einführung eines möglichst allgemeinen, unmittelbar auf gesetzlicher Vorschrift beruhenden Kranken versicherungszwanges« zu erreichen. Weder hätten sich seit der Neurege lung des Hilfskassenwesens 1876 die Kommunen fähig oder willens gezeigt, den Versicherungszwang lokal durchzusetzen, noch böte die Entwicklung der freien Hilfskassen Grund zu der A nnahme, daß eine allgemeine Kran kenversicherung auch ohne staatlichen Zwang zustande kommen könnte. Die Arbeiter bewiesen nur sehr wenig Neigung, »sich aus freier Entschlie181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
ßung zu Krankenkassen zu vereinigen«, so daß es »im Interesse einer Ver besserung der wirtschaftlichen Lage der A rbeiter und einer Erleichterung der öffentlichen A rmenlast dringend geboten« sei, ihnen diese Vereinigung zwingend vorzuschreiben146. Damit war die in langen Jahren parlamentari scher A rbeit erreichte Entmachtung der Regierungsbehörden vollständig zurückgenommen, und der Staat hatte sich in seiner sozialpolitischen Gestal tungsautorität mehr als rehabilitiert. Die Streitfrage Kassenfreiheit oder Kassenzwang war eindeutig zugunsten des Zwanges entschieden worden, der Zielkonflikt zwischen subsidiärer A rmen- und positiver A rbeiterpolitik hatte sich letztendlich zuungunsten der Armenpolitik aufgelöst. A bgesehen von dem erstmals konstituierten allgemeinen Versieherungszwang für alle Arbeiter, die in Berg- und Hüttenwerken, Fabriken und mit Dampfmaschi nen betriebenen Handwerken beschäftigt waren, schrieb das Gesetz von 1883 lediglich jene Grundsätze fest, die bereits seit 1849 zum ständigen Repertoire staatlicher Kassenpolitik gehörten: obligatorischer A rbeitgeber beitrag von der Hälfte der Arbeiterbeiträge, dezentrale Organisationsform von berufsbezogenen Ortskrankenkassen und betriebsbezogenen Fabrik krankenkassen, vereinheitlichte Mindestleistungen, A rbeitgebereinfluß in der Kassenverwaltung entsprechend der Beitragsquote, Kontroll- und Auf sichtsrechte der Behörden147. Die Kontinuität der Institutionen hatte sich demnach in der Krankenversi cherung als Ordnungsprinzip durchgesetzt148. Lediglich der A llgemein heitsgrad dieser Institutionen wurde durch die neue Regelung erhöht, so daß sich der Kreis der vom Versicherungszwang erfaßten A rbeiter nach 1883 verdoppelte149. Im Gegensatz zur Unfallversicherung, die von Bismarek nachweislich als Bollwerk gegen die Sozialdemokratie konzipiert worden war, und auch zur Invaliden- und Altersversicherung, an die sich die Hoff nung auf ein politisch loyales Staatsrentnertum knüpfte150, stand die Kran kenversicherung 1883 nicht mehr im Rampenlicht sozialpolitischer Befrie dungspolitik, die, wie es die Kaiserliche Botschaft von 1881 ausdrückte, die Arbeiter nicht mehr nur negativ, »im Wege der Repression sozialdemokrati scher A usschreitungen«, sondern durch die »positive Förderung des Wohles der A rbeiter« an den Staat zu binden suchte151. Über mehrere Jahrzehnte hinweg waren die Krankenkassen bereits das Experimentierfeld staatlicher Arbeiterpolitik gewesen, auf dem sich Strukturelemente und Instrumente des wilhelminischen Interventions- und Sozialstaats nach und nach hatten ausbilden können. Diese Politik folgte im wesentlichen einer eigenen Handlungslogik des politisch-administrativen Systems, das sich nur mittelbar auf gesellschaftli che Interessen einließ152. Im Prinzip hatte der preußische Staat seit Beginn der Kassengesetzgebung 1845 zwischen zwei grundsätzlichen Orientierun gen geschwankt: einerseits war die Idee der Krankenversicherung von Ge sellen und A rbeitern eine Reaktion auf kommunale Bedürfnisse gewesen, weshalb die Initiative folgerichtig den Gemeindebehörden überlassen wur182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
de. Die Kassenpolitik war in diesem Sinne nicht mehr als eine erweiterte Armenpolitik, die zwar das Konzept vertrat, die »ehrlichen A rbeiter« von den »Vagabunden« zu separieren153, zugleich aber den Arbeiter immer mit einem Fuß im Armenhaus sah und ihn durch eine Art von »Sondersteuer« in Form des Kassenbeitraes vor diesem Schicksal bewahren wollte 154 . Auf der anderen Seite enthielt die staatliche Kassenpolitik spätestens seit 1849 deutlich identifizierbare sozialpolitische Gestaltungselemente, die weit über den unmittelbaren Zweck einer finanziellen Entlastung der öffentlichen Armenpflege hinausgingen. Der Arbeiter entwuchs der Rolle des potentiel len A rmen und wandelte sich in den A ugen der A dministration zum inte grierfähigen, vor allem aber integrationsbedürftigen Staatsbürger. Kran kenkassen waren demzufolge nicht mehr nur Instrumente einer vorbeugen den Armenpolitik, sondern in erster Linie Einrichtungen, die der politischen Erziehung und sozialen Disziplinierung von Fabrikarbeitern und Hand werksgesellen dienen sollten. Die finanzielle und administrative Koopera tion von Unternehmern und A rbeitern in den Kassenvorständen konnte gleichsam als Vorbild einer allgemeinen gesellschaftlichen Organisation gelten, worin dem Staat die Rolle eines Oberaufsehers zukam, der die Einhaltung der Spielregeln überwachte. In diesem Sinne pries der preußi sche Handelsminister von der Heydt in seinem Verwaltungsbericht von 1855 den verbindlichen A rbeitgeberbeitrag als innovativen sozialpolitischen Akt, da auch das »Gemeinwohl« erkenntlich von dem konfliktglättenden Einfluß der Krankenkassen profitieren würde 155 . Im Rahmen einer solchen Befriedungsstrategie kam dem Staat die Aufga be zu, die allgemeine Reehtsfbrmigkeit des Versieherungsverhältnisses si cherzustellen und zu kontrollieren. Diese »Verreehtliehung« bedeutete sozialpolitisch betrachtet - einen enormen Fortschritt gegenüber dem mehr oder weniger willkürlichen und juristisch »vertragsfreien« Unterstützungs modus der A rmenpflege und schuf erst die Voraussetzung dafür, daß die Arbeiter als unabhängige Rechtssubjekte angesehen und in eine Staatsbür ger-Gesellschaft eingebunden werden konnten156. Ein solches Integrations modell157 sollte nach dem Willen der preußischen Regierung überall dort verwirklicht werden, wo die industrielle Entwicklung bereits zu Erschei nungen gesellschaftlicher Desorganisation und Desintegration geführt hat te. A llerdings umfaßte es nicht alle A rbeitergruppen gleichermaßen, son dern nur jene, die über einen längeren Zeitraum hinweg als Lohnarbeiter beschäftigt waren158. Die Versicherungspflicht sollte diesen Lohnarbeiter status verstetigen und einer ökonomischen und sozialen Marginalisierung der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter infolge krankheitsbedingter A r beitsunterbrechungen vorbeugen. Die staatliche Kassenpolitik reagierte dabei weder unmittelbar auf einen Druck der Unternehmer, noch entsprach sie den Wünschen einer ohnehin noch kaum organisierten A rbeiterschaft. Von einem Kausalnexus zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und staatlich forcierter Kassenbildung konnte 183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
in der Vor-Zcit der Versicherungsgesetzgebung, also zwischen 1840 und 1880, keine Rede sein. Zumindest sind derlei Überlegungen nachweislich nicht in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen. Zwar hatten manche Fabrikherren mit der Zeit sehr wohl bemerkt, daß ein wirksamer Schutz der Arbeiter vor Krankheitsfolgen auch positive Folgen für die innerbetriebliche Arbeitsorganisation hatte, indem die Produktion verstetigt und die »von allen Kontingenzen bereinigte Figur des durchschnittlichen A rbeiters< zur Kalkulationsgrundlage rationaler Unternehmensfuhrung« werden konn te 159 . Im Widerspruch zu A nalysen, die die Kapitallogik als »treibende Kraft« jeder staatlichen Sozialpolitik und vor allem der A rbeiterversiche rung 160 zu erkennen glauben und deren ökonomische Funktionsnotwendig keit unbeirrt behaupten, war für den Entwicklungsprozeß der preußischen Krankenversicherungspolitik eine solche Verknüpfung jedoch keineswegs konstitutiv. Hier ist Rimlinger zuzustimmen, der feststellt, daß »in keinem Land A rbeitsproduktivität und A rbeitskräftepotential eine entscheidende Rolle gespielt (haben), als die ersten Gesundheits- und Sozialprogramme erstellt wurden« 1 6 1 -was nicht aussehloß, daß die wirtschaftlichen A uswir kungen dieser Programme »früher oder später« erkannt wurden.
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II. A rbeiterkrankheit und Fabrikkassen im Spiegel unternehmerischer Betriebspolitik
1. Industriekritik, Gesundheitsökonomie und betriebliche Sozialpolitik Unter den Kritikpunkten, die schon im Vormärz gegenüber der sich ausbreitenden Fabrikindustrie namhaft gemacht wurden, befand sich auch der Vorwurf, die Fabrikarbeit führe zu schweren gesundheitlichen Schädigungen. Der neue Zeitrhythmus, die extensive Beanspruchung der A rbeitskraft und vor allem die sozialen Begleitumstände wirkten zu sammen, um die Gesundheit der in den Fabriken Beschäftigten dauerhaft zu untergraben. Kinder- und Frauenarbeit seien dabei nur die auffällig sten Spitzen des Eisbergs - auch für normale, kräftige Männer habe das mörderische A rbeitstempo, die überlange A rbeitszeit, die verpestete Luft in den Fabrikräumen über kurz oder lang tödliche Folgen. Der niemals ausreichende Lohn bedinge überdies, daß an den unmittelbarsten und zur Reproduktion unbedingt notwendigen Lebensbedürfnissen wie Nahrung und Wohnung gespart werden müßte. Eine abgezehrte, physisch und psychisch verelendete A rbeiterschaft sei das zwangsläufige und bereits sichtbare Ergebnis dieser Mißstände, und in den kommenden Generatio nen würde sich die Situation eher noch verschlimmern1. Diese Beurteilung der Fabrikarbeit als zutiefst gesundheitsschädlicher Tätigkeitsform und Lebensweise war in der bürgerlichen Öffentlichkeit Preußen-Deutschlands um die Mitte des 19. Jahrhunderts weit verbrei tet. Nicht nur Ärzte und Gesundheitspolitiker, sondern auch Publizisten, Universitätsprofessoren und Beamte entdeckten die außerordentliche Krankheitsanfälligkeit der Fabrikarbeiterbevölkerung und deuteten sie als logische Konsequenz der neuen Produktionsweise. Dabei waren es nicht nur moralische Entrüstung, »Philanthropismus«, allgemeine Menschen liebe oder Humanität, die viele Zeitgenossen zum Einspruch veranlaß ten. A uch ökonomische und politische Motive spielten eine nicht zu un terschätzende Rolle. So führte der Statistiker Engel 1856 aus, daß die Verwüstung der menschlichen A rbeitskraft als »eine nothwendige Folge des Industriesystems« eine erhebliche »Verringerung des Nationalvermö gens« nach sich zöge. Indem die mittlere Lebensdauer der Fabrikarbeiter nur sehr kurz sei, könne sich das in ihre Ernährung, Erziehung und Bil dung investierte Kapital nicht mehr aus sich selbst heraus amortisieren, 185
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so daß »jede verfrühte Sterblichkeit . . . eine Quelle der A rmuth für den Staat« sei2. Daneben wurde noch ein weiterer Umstand sehr aufmerksam registriert: die manifeste Schwächung der »Wehrkraft« aufgrund einer sich stetig ver schlechternden »physischen Beschaffenheit der militärpflichtigen Bevölke rung«3, Seitdem erstmals in den 1820er Jahren die Nachricht, die Fabrikar beit von Kindern mache dieselben unfähig zum Militärdienst4, Öffentlich keit und Bürokratie aufgeschreckt und in große Unruhe versetzt hatte, riß die Kette statistischer Untersuchungen über Rekrutierungsquoten in den deutschen Staaten nicht mehr ab. Selbst unter Berücksichtigung sog. Ne beneinflüsse - wie etwa der je nach Bedarf schwankenden Tauglichkeitskri terien - kamen die Autoren »unzweifelhaft« zu dem Sehluß, daß die hohen Ausmusterungsziffern A usdruck einer »A bnahme der physischen Tüchtig keit« der Bevölkerung seien5. Einen Großteil der Verantwortung für diese alarmierende Tendenz schob man der industriellen Entwicklung zu, wobei vor allem die in der Haus- und Fabrikindustrie übliche Kinder- und Jugend lichen-Arbeit als gesundheitszerstörend gebrandmarkt wurde 6 . Um die Jahrhundertmitte entspann sich nun ein offener Streit um die gesamtwirtschaftliche und soziale Bilanz der industriellen Produktionswei se. A ngesichts der massiven Vorwürfe, die gegen das »Maschinen- und Fabrikwesen« erhoben wurden, rüsteten sich Fabrikanten und Unternehmer zur Gegenwehr. Den sozialkonservativen Kritikern, die in der neuen Pro duktionstechnik und -Organisation den Grund für die Auflösung aller Bin dung und Ordnung, für die Zerrüttung traditionaler Lebens- und Arbeits formen sahen, hielten sie entgegen, daß nicht die Industrie dafür verant wortlich zu machen sei, sondern Bevölkerungsvermehrung und allgemeine Armut. Fabriken und Maschinen hätten »das Proletariat« nicht etwa er zeugt, sondern vermindert. Ohne die industrielle Entwicklung wären die sozialen Probleme noch viel dringlicher gewesen, ja die Industrie könne geradezu als ein Abflußrohr des sozialpolitischen Zündstoffs gelten, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angehäuft habe. Deshalb verdiene sie die harsche Kritik ganz und gar nicht, vielmehr sei nur durch ihre Förderung und staatlichen Schutz eine positive und konstruktive Lösung der sozialen Frage und des Pauperismus möglich7. Abgesehen von dieser gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der »großen Gewerbe« als »Quelle des Wohlstandes für die ganze übrige Bevölkerung« 8 entbehrten nach Ansicht der Unternehmer auch die Einzelargumente gegen das Fabrikwesen jeglicher Grundlage. So sei besonders der Vorwoirf, die Industrie zerstöre die Gesundheit der Arbeiter und damit das »Menschenka pital« des Staates, völlig aus der Luft gegriffen. Zwar sei nicht von der Hand zu weisen, daß ein infolge der scharfen Konkurrenz oftmals recht niedrig angesetzter Lohn die Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiter einschränke und den Nahrungs- und Wohnungsstandard herabdrücke. Von einer dem Fa briksystem als solchem innewohnenden Gesundheitsgefährdung könne je186
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doch keine Rede sein. Der Eilenburger Kattunfabrikant Degenkolb bezog sich bei dieser Behauptung ausdrücklich - wenn auch in negatorischer Absicht - auf die Schilderungen, die Friedrich Engels in seinem stark beach teten Buch über die »Lage der arbeitenden Klasse in England« aus dem Jahre 1845 gegeben hatte. Der junge Wuppertaler Kaufmannssohn hatte in seiner Philippika gegen den menschenverachtenden Charakter der »großen Indu strie« der physischen Verelendung der (Fabrik-)A rbeiter besondere A uf merksamkeit geschenkt und sowohl die allgemeine soziale Lage der A rbei terfamilien als auch die aus der »Natur« der Fabrikarbeit selbst resultieren den Krankheitsfaktoren für die hohe Morbidität und Mortalität in den Fabrikdistrikten verantwortlich gemacht9. A ls Beleg zog er seitenweise Berichte von Ärzten, Sanitätsbeamten und Regierungskommissionen her an, die sämtlich einen negativen Einfluß der Industrie auf das Leben und die Gesundheit der Arbeiter nachzuweisen suchten. Diese Berichte waren auch auf dem Kontinent bekannt und wurden in Diskussionen über Vor- und Nachteile des Industriesystems häufig zitiert10. Degenkolb behauptete demgegenüber, der Industrie könne die soziale Lage ihrer A rbeiter nicht zum Vorwurf gemacht werden, da sie sie nicht verur sacht habe. Außerdem seien auch Art und Umstände der industriellen Arbeit nicht übermäßig gefahrvoll, so daß »die Sterbliehkeitslisten . . . ebenfalls nicht gegen die Industrie« zeugten11. Eine geradezu klassische Formulierung dieses A rguments fand sich schon 1828 in einem A rtikel des Schweizer Statistikers Bernoulli, der die Industrie gegen landläufige Vorurteile in Schutz nahm. Insbesondere der Einwand, das Fabrikwesen zerstöre die Gesundheit der Arbeiter, gehörte nach Meinung des Autors »zu den grund losesten«. Die unbestreitbare Tatsache, daß die Sterblichkeit in Fabrikregio nen höher sei als in agrarisch strukturierten Gebieten, sei lediglich A usdruck der größeren A rmut, die man jedoch nicht der Fabrikindustrie anlasten dürfe. Schließlich wirke sich schon der Umstand, »daß die A rbeiter ge wöhnlich aus einer ziemlichen Entfernung in die Fabriken gehen müssen«, äußerst »wohlthätie und stärkend« auf ihre physische Konstitution aus. Zwar könne eine extreme Beanspruchung der Arbeitskraft durch »übermä ßige A nstrengung« oder Nachtarbeit in der Tat zu Gesundheitsstörungen fuhren, doch gelte dies in gleicher Weise für Heimarbeit und sei überdies der freien Entscheidung des A rbeiters anheimgegeben. Die spezifischen, mit den »mechanischen« und »chemischen Operationen« bestimmter Tätig keitszweige verknüpften Gefahren seien ebenfalls nicht nur bei Fabrikarbei tern, sondern auch bei Handwerkern zu verzeichnen. Ein Unterschied liege allerdings darin, daß diese schädlichen Wirkungen in einer Fabrik »weit mehr auffallen, weil sie viele Individuen zugleich treffen«. Das dem A uge der Öffentlichkeit verborgene Einzelschicksal des Heimwebers oder Schnei ders sei jedoch nicht weniger besorgniserregend als das Massensehieksal der in zentralen Produktionsstätten zusammengefaßten Fabrikarbeiter12. Das letzte A rgument zielte insbesondere gegen die im Vormärz weit 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
verbreitete Idyllisierung hausindustrieller A rbeitsformen, die der »Fabrik ausbeutung« als positive A lternative gegenübergestellt wurden. Die bil dungsbürgerliche Öffentlichkeit der Pfarrer, Beamten, Publizisten, Lehrer und Ärzte teilte überwiegend die A uffassung, daß Heimarbeit sowohl in physischer als auch in »sittlicher« Beziehung allemal gesünder sei als die Arbeit in der Fabrik: schon der Familienzusammenhang und die selbstbe stimmte A rbeitszeit schützten angeblich vor den destruktiven Einflüssen, die der fremdbestimmten und an einem vom Haushalt getrennten Ort durchzuführenden Fabrikarbeit anhafteten13. Für diese Überzeugung gab es allerdings keine untrüglichen Beweise. Vielmehr mehrten sich schon in den 1840er Jahren die Berichte vom Elend hausindustrieller A rbeiter14. Besonders der sehlesisehe Weberaufstand lenk te die Aufmerksamkeit der Medien auf die gar nicht so freie und selbstbe stimmte Produktions- und Lebensweise der von Verlegern abhängigen Heimweber15. Das auch von Engels gezeichnete Bild der zufriedenen, kör perlich und moralisch gesunden, autarken, in einem ausgeglichenen Zeit rhythmus arbeitenden und feiernden Heimarbeiterfamilie16 erwies sich mehr und mehr als ideologisierende Schönfärberei, der die wirklichen Ver hältnisse Hohn sprachen. Das Schwarz-Weiß-Schema Fabrikarbeit versus Heimarbeit ließ sich denn auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufrechterhalten und machte einer differenzierteren A nalyse Platz. Dazu mag auch die Agita tion vieler Unternehmer und Vereine (vor allem des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen in Preußen und seiner Lokalgliederungen) beigetragen haben, die sich unter Verweis auf arbeiterfreundliehe Modcll einrichtungen um eine Ehrenrettung der industriellen Produktionsweise bemühten. Die Fabrik stellte sich in diesen Lobreden als ein Hort der Ordnung, Sauberkeit und Disziplin vor. Klare Verhaltensanweisungen und -verböte, in Fabrikordnungen niedergeschrieben, verringerten das ohnehin nicht sehr hohe Krankheitsrisiko in einem Maße, wie es in der der Eigenver antwortlichkeit des Arbeiters überlassenen Heimindustrie völlig undenkbar wäre. Wenn überhaupt Erkrankungen aufträten, wären sie durchweg leich terer Natur und überdies der Unachtsamkeit und Sorglosigkeit der Arbeiter selbst zuzuschreiben. So führte ζ. Β. die Direktion der zur Preußischen Seehandlung gehörenden Flachsgarn-Maschinenspinnerei und -weberei im sehlesisehen Erdmannsdorf die vorgekommenen Krankheitsfälle auf die »wenige Rücksichtnahme« des vornehmlich weiblichen Personals zurück, »welches, aller Ermahnungen ungeachtet, häufig in den Freistunden oder am Schlüsse der Arbeit selbst beim größten Unwetter oder strenger Kälte in leichter Bekleidung die warmen Säle verläßt, auch außer der A rbeit nicht vorsichtig genug ist«. A us diesem Grund könnte man unmöglich der Fa brikarbeit die Schuld an den Krankheiten der Arbeiterinnen geben. Darüber hinaus 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
»möchte die in manchen Regionen noch immer herrschende A nsicht über die große Gefahr auch für das körperliche Gedeihen der in Fabriken Beschäftigten mit Leichtigkeit als eine irrige zu beweisen sein, da bei einer gleichen A nzahl von Fabrik-Arbeitern und anderen Individuen der ärmeren und arbeitenden Klassen der ganze physische Zustand der Ersteren in geordneten Fabriken ein ungleich befriedigender sein dürfte, als der letzteren, welche häufig in ungesunden Wohnungen bei mangelhafter Nahrung aller ärztlichen Hülfe und Medikamente entbehren.«17
Auch diese Behauptung mußte allerdings unbewiesen bleiben, da es an statistischem Material zur Krankheitsanfälligkeit und -häufigkeit verschie dener sozialer Gruppen damals noch fast gänzlich fehlte18. Nichtsdestotrotz beharrten die Fabrikbesitzer auf ihren Entlastungsargumenten und wehrten sich heftig gegen alle Versuche, ihnen wirksamere A rbeiterschutzmaßnah men anzutragen. Solange jeder besondere Einfluß der Fabrikarbeit auf den Gesundheitszustand der Arbeiter standhaft geleugnet wurde, war auch nicht einzusehen, warum der Industrie kostenaufwendige Vorsichtsmaßregeln, Schutzvorkehrungen, A rbeitszeitverkürzungen oder Beschäftigungsverbo te aufgebürdet werden sollten. Vielmehr mußte, da A rbeiter durch ihr augenfälliges Fehlverhalten Krankheiten provozierten, auch an diesem Punkt angesetzt werden: das Fehlverhalten selbst als Wurzel allen Übels, die Sorg- und Rücksichtslosigkeit der Arbeiter, ihre mangelhafte Selbstdisziplin und Neigung zu »A usschweifungen« waren durch geeignete Erziehungs mittel auszuschalten. In diesem Sinne argumentierte beispielsweise der Inhaber einer Magde burger Bleiweißfabrik. A larmiert durch ärztliche Berichte über die Häufig keit von Bleikoliken bei Arbeitern, die beim Glasieren von Tongefäßen mit Blei in Berührung kamen, hatten das Ministerium für geistliche, Unter richts- und Medizinalangelegenheiten und das preußische Innenministerium 1841/42 eine Umfrage bei Fabrikanten und Gesundheitsbehörden gestartet, um genauere Informationen einzuholen. Der besagte Unternehmer nun vermochte dem nachforschenden Kreisphysikus glaubhaft zu versichern, daß »nichts mehr als Branntweingenuß zur Bleikolik disponire«. In seiner Fabrik wären derartige Erkrankungen früher sehr häufig vorgekommen, hätten auch »ungeachtet vermehrter Ventilationen in den Schlemmereien und Trockenstuben und geschärfter Beaufsichtigung der A rbeiter« nicht verringert werden können. »Seitdem es aber zum Prineip gemacht sei, durchaus keinen Trinker darin anzustellen oder zu dulden, hätten die Bleiko liken beinahe ganz aufgehört und es befänden sich Leute darunter, welche ungeachtet eines 15jährigen täglichen Verkehrs mit dem nicht minder schäd lichen Bleiweiß noch nicht einmal an Bleivergiftung laborirt hätten.« Dem Kreisphysikus leuchtete dieser Zusammenhang unmittelbar ein, und er fügte dem Bericht hinzu: »Da in der Fabrikation eine Veränderung nicht eingeführt worden, der Krankenstand gegen früher aber so bedeutend besser geworden ist, so hat die obige Behauptung allerdings viel für sich, und verdient dies Verfahren Nachahmung.« 19 Im unternehmerischen Kostendenken stellte sich eine solche Problemlö189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sung sicherlich als die billigste dar, wie denn auch die Sorge um eine Schwächung der Wettbewerbsposition immer an erster Stelle genannt wur de, wenn es um die Abwehr von A rbeitersehutz-Forderungen ging. Selbst in jenen Fällen, in denen der Zusammenhang zwischen Berufsarbeit und Krankheit unstrittig geklärt war, wie z.B. bei den Merkurialerkrankungen der Spiegelbeleg-A rbeiter, widersetzten sich die Fabrikanten allen Versu chen, die Arbeitszeit zu verkürzen, mit dem A rgument, sie fühlten sich in ihrer ökonomischen Existenz bedroht. Der Fürther A rzt Wilhelm Mayer brachte die seit den 1840er Jahren andauernde A useinandersetzung um die Quecksilber-Industrie 1884 auf den Begriff: »3 bis 4mal im Laufe von ca. 15 Jahren vollzieht sich immer derselbe Kreislauf in der Behandlung unserer Frage: Bericht des Amtsarztes mit Darlegung der hygienischen Schädlich keiten - Enquete seitens der Regierung - darauf Erlassung polizeilicher Vorschriften, die nicht gehalten oder umgangen oder so lange bekämpft wurden, bis man sie wieder aufhob«20. Mit dem Satz »Die Industrie ist der Hebel des Nationalwohlstandes« konnte sich die Mehrzahl der Unterneh mer im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts den sanitätspolizeilichen Be mühungen um eine verbesserte »Gewerbehygiene« in den Betrieben entzie hen21, zumal die Regierungsbehörden den Vorschriften nur geringen admi nistrativen Nachdruck verliehen. Die Fabrikbesitzer hielten es ganz über wiegend mit der alten Faustregel, die der Detmolder Medizinalrat Seherf 1805 bereits bei den lippischen Handwerksmeistern kritisiert hatte: »Die reichen Sehuhmaehermeister, die ihr Handwerk fabrikmäßig treiben, sind selten geneigt, etwas neues zu benutzen, wenn es nur für die Gesundheit ihrer Gesellen, und nicht für die Einträglichkeit der Waare vortheilhaft ist.« 22 1877 schätzte der A rbeitsmediziner Ludwig Hirt die Anzahl der »gewis senhaften und für ihre Arbeiter besorgten Arbeitgeber« im Deutschen Reich auf etwa 1()%23, wobei es, wie ein Rezensent zwei Jahre zuvor bemerkt hatte, auffällig sei, daß »je kleiner die A nlagen und je beschränkter der Betrieb, um so weniger die Interessen der Sicherheit und Gesundheit der Arbeiter gewahrt werden«24. Gewerbeärzte und Sanitätsbeamte berichteten oftmals, daß ihnen ihre Kontroll- und Untersuchungsarbeit gerade in klei neren Fabriken künstlich erschwert, ja daß ihnen dort häufig sogar der Zutritt verwehrt würde. Der A rzt Göttlich Merkel schilderte 1875 einen Betriebsrundgang, bei dem ihn der Fabrikbesitzer »bescheiden« ersuchte, »in den Arbeitsräumen keine Äußerung über das Gesundheitsgefährliche des Geschäfts fallen zu lassen«. In einem anderen Fall war ihm von einer Nürn berger Fabrik eine detaillierte Krankheits- und Mortalitätsstatistik verspro chen worden. »Dies Versprechen wurde wieder zurückgezogen, weil ich im Feuilleton einer hiesigen Zeitung einen Artikel über Staubinhalationskrank heiten veröffentlicht hatte . . . Diese Publication wurde als ein Eingriff in die Interna der Fabrik, als eine >Aufwieeelung< der Arbeiter bezeichnet. « 25 Der Breslauer Kreisphysikus Hermann Friedberg, zu dessen A mtsoblie190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
genheiten auch die sanitätspolizeiliche Überwachung der Fabrikbetriebe gehörte, hatte Ähnliches erlebt. Nach seiner Erfahrung war die Besorgnis bei Behörden und Unternehmern »sehr verbreitet«, daß eine Aufklärung der Arbeiter über die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Gesundheitsrisiken dazu fuhren könnte, »daß die A rbeiter sich von gewissen A rbeiten fern hielten oder zu große Ansprüche machten, und das Gewerbe Schaden litte«. Dann sei es ihm mehrfach begegnet, »daß der Arbeitgeber die Natur gesundheits schädlicher Verhältnisse wohl erkannte, aber aus finanziellen Rücksichten oder aus Gleichgültigkeit gegen die Arbeiter eine Abänderung nicht treffen wollte« 26 . Nur wenigen Unternehmern schien die Argumentation der Me diziner einzuleuchten, daß »Arbeiterhygiene« auch in ihrem eigenen Interes se läge. Gesundheitsökonomisehe Überlegungen, Berechnungen des betriebs wirtschaftlichen Werts gesunder A rbeitskräfte, lassen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allenfalls in solchen Betrieben antreffen, die sehr viele A rbeiter beschäftigten und/oder als Aktiengesellschaften einer beson deren staatlichen A ufsicht unterstanden. Die mit der Konzessionsbewilli gung verbundenen sanitäespolizeiliehen A uflagen wurden hier weit eher befolgt als in kleineren Fabriken: sowohl Schutzvorkehrungen wie Ventila toren oder Maschinenblenden als auch sog. »äußere« Wohlfahrtsleistungen gehörten seit den 1860er Jahren zur normalen Ausstattung größerer »Fabrik etablissemcnts«. Dafür mag einerseits die schärfere Kontrolle der Polizeibe hörden und Fabrikinspektoren verantwortlich gewesen sein; zum andern fügten sich diese »fürsorgerischen« Maßnahmen sehr wirkungsvoll in ein weitgespanntes Netz betrieblicher Sozialpolitik ein, wie sie gerade in Unter nehmen mit einem hohen Bedarf an qualifizierteren A rbeitskräften zuneh mend praktiziert wurde 27 . Diese den Arbeitsprozeß selbst nicht tangierende Politik zielte darauf ab, die materielle Lage der Belegschaft durch lohnergän zende Vergünstigungen zu verbessern, um die A rbeiter auf diese Weise stärker an den Betrieb zu binden. Gerade angesichts hoher Fluktuationsraten und eines vielerorts als bedrängend empfundenen Mangels an geeigneten Arbeitskräften war es für die Fabrikinhaber eine ökonomische Existenzfra ge, die Stetigkeit und Kontinuität des Produktionsprozesses zu gewährlei sten. Der Bau von Werkswohnungen, die Einrichtung von Kantinen und »Menagen«, die Bereitstellung von A rbeitskleidung und die Vorfinanzie rung von Lebensrnitteln sollten die Arbeiter davon abhalten, sehr rasch und auf die Aussicht hin, einen höheren Lohn zu erhalten, ihren A rbeitsplatz zu wechseln28. Betriebliche Sozialleistungen dieser Art waren aber nicht nur Instrumente zur Loyalitätssicherung und Betriebsbindung. Die Fabrikbesitzer erhofften sich davon auch einen positiven Einfluß auf die ökonomische Leistungsfä higkeit und -bereitsehaft ihrer Belegschaft. In den 1860er und 1870er Jahren schien es sich allmählich herumgesprochen zu haben, daß das Arbeitsvermö gen der Fabrikarbeiter durch unzureichende Ernährung, schlechte Wohn191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Verhältnisse und überlange A rbeitszeiten erheblich beeinträchtigt werden konnte. Manche Unternehmen, so ζ. Β. die Höchster Farbwerke, entschie den sich schon von sich aus für kürzere A rbeitszeiten, wobei sie davon ausgingen, »daß eine solche etwas verkürzte Arbeitszeit die Leistungsfähig keit der A rbeiter erhöhe, und daß somit an Arbeitskraft gewonnen werde, was an Arbeitszeit verloren gehe«29. A ndere Fabriken waren - in günstigen Konjunkturphasen - auf Druck der Arbeiter gezwungen, A rbeitszeitverkür zungen und Lohnerhöhungen einzuführen30, wodurch sich der Preis der Arbeitskraft in der betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung merklich ver teuerte. Die zusätzlichen Kosten konnten nur von einer Produktivitätsstei gerung aufgefangen werden, die eine intensivere Nutzung der vorhandenen Arbeitskräfte voraussetzte. Dies wiederum erforderte Investitionen in die »Betriebsfähigkeit« der Arbeiter, vor allem in ihre physische Gesundheit31. Kräftige, gut ernährte Arbeiter konnten schneller und ausdauernder produ zieren; zum andern war von ihnen auch eine größere Immunität gegenüber Krankheiten zu erwarten, wodurch sich die Ausfallzeiten verringerten. Zwar gab es immer noch genügend Fabrikanten, die solche Investitionen scheuten und ihre von der A rbeit verschlissenen Belegschaften lieber aus wechselten. So zogen es, nach Auskunft eines Kölner Bleifabrikanten, viele Unternehmer vor, »jeden Augenblick ihre Arbeiter (zu) entlassen und neue an(zu)nehmcn, um sie vor Krankheiten zu bewahren«32. Eine solche »ge lenkte« Fluktuation war jedoch mit großen Nachteilen für den Produktions prozeß verbunden, da immer wieder andere A rbeiter angelernt werden mußten und Zeit brauchten, bis sie sich den ungewohnten A rbeitsverrich tungen angepaßt hatten. Manchen Fabrikbesitzern erschien es daher ver nünftiger und zugleich humaner, »die Arbeiter durch gute Behandlung und Pflege zu fesseln«33 und sich damit einen zufriedenen, in seinem Arbeitsver mögen verläßliehen und konstanten A rbeiterstamm zu schaffen. Betriebliche Sozialpolitik erschöpfte sich jedoch nicht nur darin, »durch Fürsorge für die materielle Wohlfahrt der A rbeiter zur Hebung der indu striellen Tätigkeit mitzuwirken«34. Mindestens ebenso wichtig war es, den Arbeitern »die Gewohnheit der Voraussicht, der Ordnung und Sparsamkeit ein(zu)impfcn«35. Im sozialen Mikrokosmos der Fabrik waren diese neuen »Qualifikationen« am leichtesten zu erlernen, und hier konnten sie auch gleich gewinnbringend eingesetzt werden36. Die Unternehmer der ersten Industrialisierungsphase waren sehr daran interessiert, das trunksüchtige, schmutzige, von der Hand in den Mund lebende, unzuverlässige »Proleta riat« - notfalls auch unter Anwendung von Zwang - in einen disziplinierten, arbeitsamen, ehrerbietigen und für alle Wechselfälle des Lebens vorsorgen den »A rbeiterstand« zu verwandeln. Eine beliebte Methode, die »morali sche Ökonomie« der Arbeiter umzuprägen37, bestand darin, sie in ein festes Korsett von Pflichten, Verboten und Vorschriften einzubinden und drako nische Strafen für eine Übertretung dieser in Fabrikordnungen38 kodifizier ten Regeln anzudrohen. 192
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Auffällig war hier die enge Verknüpfung disziplinierender Verbots- und Kontrollmaßnahmen mit gesundheitliehen Rücksichten, wie sie z.B. in dem Fabrikreglement der Bielefelder Spinnerei »Vorwärts« sichtbar wurden: § 6: »Zur Beförderung und Erhaltung der Gesundheit der Arbeiter darf Niemand ungewa schen, ungekämmt, oder sonst schmutzig in die Arbeit kommen, und so weit es sich mit der Beschäftigung irgend vereinigen läßt, auch auf die Erhaltung körperlicher Reinlichkeit be ständig achten, weil bei Krankheiten, die durch Unreinlichkeit entstanden sind, jede Unter stützung wegfällt.« § 13: »Das Tabakrauchen und Branntweintrinken ist in der Fabrik und den Gehöften streng verboten, ebenso darf Niemand betrunken in A rbeit kommen, und werden Branntwein Zuträger ebenso bestraft, als die Branntweintrinker. Die dafür, sowie für alle A rten von Unfug von der Fabrik-Verwaltung angeordneten Geldstrafen kommen der Krankenkasse zu gut, wogegen diejenigen Personen, welche sich eine Krankheit durch Trunksucht zuziehen, auf eine Unterstützung daraus nicht zu rechnen haben. «39
Der Wink mit der Krankheit als angeblich natürlicher Konsequenz man gelnder Reinlichkeit und Nüchternheit verstärkte die Stigmatisierung sol chen Un-Verhaltens; zugleich verbarg sich dahinter aber auch eine deutli che Aufwertung von Gesundheit als Synonym von Effektivität, »Tugend«, Selbstdisziplin und -Verantwortlichkeit. Ein gesunder A rbeiter war gleich zusetzen mit einem fleißigen, ordentlichen und loyalen A rbeiter, der auf Körperhygiene hielt und alle Handlungen vermied, die eine Schwächung seiner physischen Konstitution und Leistungsfähigkeit nach sich ziehen konnten. Gelernt werden sollte ein solches gesundheitsbewußtes Verhalten aber nicht nur durch die »negativen« Strafbestimmungen der Fabrikord nungen, sondern auch und vor allem in den »positiven« Institutionen der Krankenkassen. Sie waren das früheste und in seiner Multifunktionalität schillerndste Instrument unternehmerischer Sozialpolitik; zugleich setzten sie unmittelbar an den Problemen von Gesundheit und Krankheit an und können daher wichtige A ufschlüsse und Informationen über den Stellen wert dieser Probleme in der Fabrik der ersten Industrialisierungsphase ver mitteln.
2. Betriebliche Krankheitssicherung zwischen patriarchalischer Fürsorge und staatlich verordneter Unterstützungspflicht Die im A uftrage des preußischen Handelsministers erarbeitete Zusam menschau der Wohlfahrtseinrichtungen, die die größeren Fabriken Preu ßens für ihre Arbeiter bereitstellten, listete 1876 im Kreis Bielefeld 31 Indu striebetriebe auf, die insgesamt 4380 A rbeiter, darunter 1524 Frauen, be schäftigten. 13 dieser Unternehmen hatten eigene Krankenkassen, in denen 3395 A rbeiter versichert waren. 1855 gab es in der Stadt und näheren Umgebung 14 Fabriken mit zusammen 855 A rbeitern. Eine Fabrikkran193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kenkasse (mit 190 Mitgliedern) war jedoch nur in der Deliussehen Seidenfa brik vorhanden40. Diese nüchterne Gegenüberstellung sagt etwas aus über die industrielle Entwicklung Bielefelds, über die Expansion des Fabrikwesens und der Arbeiterschaft. Vor allem aber dokumentiert sie die wachsende Bedeutung von Krankenkassen in der sozialen Betriebspolitik: waren 1855 nur 22,2% aller Fabrikarbeiter Mitglied einer Fabrikkrankenkasse, so stieg ihr A nteil binnen 20 Jahren auf 77,5% 41 . Da sich die gesetzlichen Rahmenbedingun gen in dieser Zeit nicht wesentlich verändert hatten, liegt es nahe, diesen markanten A nstieg auf ein verstärktes Interesse der Unternehmer an den Versicherungseinrichtungen zurückzufuhren. Welche Motive dabei eine Rolle spielten, soll im folgenden an einigen exemplarischen Fällen dargelegt werden. Fabrikkrankenkassen existierten in Preußen schon lange bevor der Staat 1845 auch den Fabrikarbeitern das Recht einräumte, sich zu gegenseitigen Unterstützungsvereinen zusammenzuschließen. In der Gußstahlfabrik A l fred Krupps bestand spätestens seit 1836 eine Krankenkasse, der die 80 Arbeiter, die damals auf dem Werk beschäftigt waren, nach Belieben beitre ten konnten42. Die Mechanische Werkstätte Friedrich Harkorts besaß seit 1820 eine Fabrikkrankenkasse43, und auch die Hüttenwerke des Ruhrgebiets richteten bereits in der ersten Jahrhunderthälfte eigene Unterstützungskas sen ein44. Frühe Kassengründungen sind aus der Textilindustrie (Spinnerei en, Webereien, Kattundruckereien) überliefert. Fast alle Kassen entstanden unter der Obhut und Initiative der Fabrikherrn, nur wenige waren von den Arbeitern selbst ins Leben gerufen worden. Der Beitritt war oftmals noch fakultativ; nur die Arbeiter, die sich davon einen Vorteil versprachen, sollten sich als Kassenmitglieder einschreiben. Gegen einen festen wöchentlichen Beitrag erwarben sie das Anrecht, im Krankheitsfall ein Unterstützungsgeld zu beziehen. Zugleich erhielten sie unentgeltlich ärztliche Hilfe und Medika mente. Die Fabrikbesitzer ihrerseits beteiligten sich nur sporadisch an den Kassen, indem sie nach eigenem Gutdünken »Zulagen«, zusätzliche Unter stützungen zahlten oder eine negative Kassenbilanz durch eine einmalige Schenkung ausglichen. A ußerdem hatten sie fast durchweg die Verwaltung der Kasse an sich gezogen. Für den frühindustriellen Unternehmer waren die betriebseigenen Kassen von doppeltem Vorteil: Zum einen konnte auf diesem Wege das zuvor noch gänzlich ungeregelte Problem der Krankenhilfe in feste und geordnete Bah nen gelenkt werden. A nstatt von Fall zu Fall an arbeitsunfähige Beleg schaftsmitglieder (die man halten wollte!) Unterstützungen zu verteilen, stand dem Fabrikherrn nunmehr eine nach kodifizierten Regeln arbeitende Institution zur Seite, die seine persönliche Hilfeleistung überflüssig machte. Die A rbeiter finanzierten ihre Krankheit selbst, und nur in besonderen Notfällen sprang der Fabrikinhaber ein. Ein solches System war für ihn sowohl übersichtlicher als auch entlastender, was denn auch dem Elbinger 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Kaufmann und Industriellen Ignaz Grünau Grund genug war, für seine Arbeiter 1836 eine freiwillige Krankenkasse zu stiften. Ursprünglich hatte er es als selbstverständlich angesehen, daß bei Erkrankungen »zuerst der Brod herr in Anspruch genommen wird, sei es durch einen Vorsehuß oder kurz weg durch eine Unterstützung. Wer aber gezwungen ist, viele Leute halten zu müssen, dem werden dergleichen immerwährende A usgaben lästig und befriedigen dennoch nicht die Anforderungen, indem der Zweck, der damit erreicht werden sollte, nicht erreicht werden kann«45. Mit zunehmender Betriebsgröße wuchs demnach auch die Notwendig keit, das Problem »Krankheit« durch formalisiertere Verfahren zu lösen, zumal die finanzielle Belastung den Unternehmern nicht mehr tragbar er schien. Fast alle Fabrikanten, die Fabrikkassen einrichteten, zeigten sich nicht abgeneigt, bei Gelegenheit einen größeren Geldbetrag zu spenden oder in Not geratenen A rbeitern unmittelbar unter die A rme zu greifen. Eine regelmäßige Beteiligung am Beitragsaufkommen aber lehnten sie rigoros ab. A uf diese Weise - und darin bestand der zweite Vorteil der frühen Betriebskassen - konnte jeder Zusehuß des Unternehmers als großzügiges Geschenk, als Zeichen seiner patriarchalischen Fürsorge und als Belohnung außerordentlicher Loyalität und Leistung gewertet werden. Daß er auch so gewertet werden sollte, geht aus einer Notiz über die Kruppsche Kranken kasse hervor. In der landrätliehen Nachweisung über die im Kreis Duisburg 1854 vorhandenen gegenseitigen Unterstützungskassen hieß es dazu: »Ein festes Statut besteht nicht; der Fabrikherr will in seiner Freigebigkeit gegen treue Arbeiter nicht eingeschränkt, ebenso wenig aber auch gleichgültigen und weni ger achtungswerten A rbeitern gegenüber gebunden sein.« 46 Der Fabrikant, in diesem Fall Krupp, setzte seinen Zusehuß also bewußt als soziales Differcnzierungs- und Selektionsmittel ein, mit dem er auf Fleiß und Betriebstreue seiner A rbeiter einzuwirken hoffte47. A ngesichts der immensen Schwierigkeiten, die frühindustrielle Unternehmungen bei der »Beschaffung und Conservirung« ihrer Arbeitskräfte zu gewärtigen hatten, waren solche Wohlfahrtsleistungen ein betriebspolitisches Erfordernis er sten Ranges. Schon die Porzellan- und Textilmanufakturen des 18. Jahrhun derts, deren A rbeiter vor Abwerbungen niemals sicher waren, hatten nach dem Vorbild bergmännischer Knappschaften48 Unterstützungskassen ein gerichtet, um ihre A rbeiter längerfristig an sich zu binden49. Viele im Vormärz neugegründete Firmen übernahmen diese Institutionen und setz ten sie als Stabilisierungs- und Integrationsmedien ein. Zu diesem Zweck war es aber notwendig, den Wohlfahrtseharakter der Kassen nachdrücklich zu unterstreichen, denn nur so konnte der patriarchalische Grundzug ge wahrt bleiben und die freiwillige Großzügigkeit des Unternehmers als be sonderer Gnadenbeweis erscheinen50. Indem die Fabrikbesitzer die finanzielle Last der Krankenversorgung ab streiften und den A rbeitern selbst übertrugen, machten sie andererseits deutlich, daß sie sich für die physische Reproduktion ihrer Belegschaft nicht 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
verantwortlich fühlten. Hatte man die anfängliche Methode, erkrankten Arbeitern direkte Geldspenden zukommen zu lassen, möglicherweise noch als Eingeständnis einer Mitverantwortung oder gar Mitschuld auslegen können, so symbolisierte die Einrichtung von Krankenkassen, die aus schließlich auf der Basis regelmäßiger A rbeiterbeiträge funktionierten, ei nen radikalen Bruch. Für den Fabrikherrn war die Sachlage damit eindeutig geklärt: er betrachtete sich als nicht zuständig für die Gesundheitsprobleme seiner A rbeiter. Schließlich hatte er nur die gesunde A rbeitskraft gekauft und sie mit einem angemessenen Lohn bezahlt. A bnutzungen dieser A r beitskraft gingen nicht auf sein Konto, sondern auf das der Arbeiter, die von sich aus Vorsorge für solche Fälle zu treffen hätten. Von einer prinzipiellen Sorgepflicht für ihre Belegschaften, wie sie Kom munen und industriekritische Öffentlichkeit immer wieder beschworen, wollten die Fabrikanten nichts wissen. Immerhin stellten sie mit den be triebseigenen Krankenkassen Einrichtungen bereit, die die kommunalen Armenbudgets vor hohen Ausgaben bewahrten51. Darüber hinausgehende, womöglich noch rechtsförmige Leistungen wiesen sie jedoch mit Entschie denheit zurück. So argumentierte beispielsweise A lfred Krupp 1843, als er die Stadt Essen um Unterstützung für einen seit längerer Zeit kranken Arbeiter ersuchte, dessen Familie von dem Krankengeld nicht mehr leben konnte, Er allein, so Krupp, sähe sich außerstande, »in allen vorkommenden Fällen« mit zusätzlichen Leistungen einzuspringen. A ußerdem ginge es nicht an, nur den Fabrikherren die Fürsorge für die Beschäftigten aufzubür den, denn letztendlich zöge ja auch die Stadt Gewinn aus seinem Betrieb52. Dieser offensiven A rgumentation schlossen sich andere Unternehmer an53, und sie fand sich auch in der Denkschrift des Eupener Kommerzienrats Hüffer wieder, die 1849 in der preußischen Verfassungsgebenden Ver sammlung diskutiert wurde. Darin hieß es, es sei »unbillig«, dem Fabrikan ten allein »die Beseitigung der Verarmung der arbeitenden Klassen« aufzu tragen, »da doch Rentner und Gutsbesitzer und alle anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft an den Segnungen, die eine schwunghafte Indu strie über die ganze Gegend verbreitet, mittelbar und oft eben so reichlich, wie die Industriellen, theilnehmen, und diese für sie, selbst in schlechten Zeiten, nicht ganz aufhören«54. Aus dieser Einstellung heraus wehrten sich die im Sehußfeld öffentlicher Kritik stehenden Unternehmer der ersten Industrialisierungsphase denn auch vehement gegen jede Form staatlicher oder kommunaler Intervention, die auf eine A usdehnung fabrikinterner Sozialleistungen und eine höhere finanzielle Belastung der Fabrikanten hinauslief So klassifizierte die Ver waltung der Oberhausener Gutehoffnungshütte die Einrichtung einer Un terstützungskasse 1848 als reine »Privatsache« und verbat sich ausdrücklich eine »Einmischung der Behörden«55. A m massivsten organisierte sich der Widerstand gegen die 1849 erlassene Auflage, die Fabrikbesitzer sollten sich mit einem eigenen, auf die Hälfte der Arbeitereinlagen bemessenen Beitrag 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
an den Krankenkassen ihrer Belegschaften beteiligen. Der Düsseldorfer Damastfabrikant Thiel teilte dem Bürgermeister 1856 mit, er werde »sämtliche A rbeiter heute entlassen, denn unter solchen unerhörten Zwangsmaßregeln kann ich mich nicht fügen, ich finde darin die menschliche Rechte niedergetreten, ebenso könnte man mich zwingen, für meinen Schuster und Schneider zu zahlen, denn auch diese beschäftigen sich ftir mich; überhaupt ist Jetzt der Fabrikant in Preußen so gedrückt; Rechte geben es keine mehr für ihn; bei Tag und Nacht soll mein Geschäftslokal der Behörde offen stehen, gleich als gehöre man zu der berüehtigsten Mensehenklasse, sonst war man noch Herr in seinem Hause, doch das hat aufgehört. - A lles Errungenschaften von 1848, wofür ich herzlich danke, denn ich kann sie entbehren«56.
Die preußischen Unternehmer wollten sich keinesfalls vom Staat vor schreiben lassen, in welcher Form und in welchem Umfang sie sich um die bei ihnen beschäftigten Arbeiter zu kümmern hatten. Die offizielle Gegenar gumentation bezog sich allerdings vorwiegend auf innerökonomische Pro blemlagen, konkret: auf die befürchtete Schwächung der nationalen und internationalen Konkurrenzfähigkeit. Der obligatorische A rbeitgeberbei trag werde den Produktionspreis der Waren natürlich verteuern und die Wettbewerbsposition preußischer Fabrikanten verschlechtern. Solange es zudem den einzelnen Gemeinden anheimgestellt war, ob sie einen Beitrags zwang für Fabrikinhaber ausspraehen oder nicht, war von einer sehr »un gleichen Belastung« der Unternehmer auszugehen. Manche »übelwollen de« Fabrikinhaber drohten deshalb, die ihnen auferlegten Beiträge vom Lohn ihrer A rbeiter abzuziehen, wenn die Regierung sich nicht zu einer Änderung ihrer Politik entschließen könnte57. Offenbar wehrten sich vor allem Unternehmen mit einem relativ hohen Lohnniveau gegen die staatlich oktroyierte Beitragspflicht. Schließlich rich tete sich die »Krankensteuer« der Arbeiter (demnach auch die der Fabrikbe sitzer) immer nach dem Verdienst: je höher der Lohn, desto höher auch die Kassenabgaben58. Die höchsten Löhne wurden in den Metallfabriken und Hüttenwerken gezahlt, die eine große Anzahl gelernter Arbeiter beschäftig ten. In Spinnereien, Webereien, Tuch- und Tabakfabriken dagegen, »bei denen vielmehr die leichte Handthierung sich ohne lange Erlernung befrie digend verrichten läßt«, näherte sich der Verdienst der Fabrikarbeiter deut lich »dem Lohne des gemeinen Handarbeiters« an59. Damit sank aber zu gleich auch der Beitrag zur Krankenkasse. Wie stark sich die Beitragssummen in den einzelnen Industriezweigen unterschieden, zeigt ein punktueller Vergleich zweier Betriebe: 1866 be schäftigte die Braekweder Maschinenfabrik Möller 120 Arbeiter, die nach Verdienst gestaffelte Beiträge zur fabrikeigenen Krankenkasse entrichteten. Insgesamt nahm die Kasse in diesem Jahr 310 Taler an Arbeiterbeiträgen ein, d.h. auf jeden A rbeiter entfielen etwa 2,6 Taler. Die Krankenkasse der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld hatte zur gleichen Zeit 1480 Mitglieder, die eine Beitraessumme von 2433 Talern aufbrachten. Jeder A rbeiter bzw. jede A rbeiterin hatte damit durchschnittlich 1,6 Taler im Jahr an die Kran197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kenkasse abgeführt. Für diese beträchtliche Differenz von immerhin fast vierzig Prozent bieten sich nun zwei Erklärungen an: zunächst könnte sie auf einen höheren Beitragsanteil in der Maschinenfabrik zurückgeführt werden. Eine Gegenüberstellung zeigt jedoch, daß sowohl in dem Brackweder Be trieb als auch in der Ravensberger Spinnerei die Krankenkassenbeiträge der Arbeiter ca. 1,7% des Verdienstes ausmachten. Damit bleibt nur die zweite Erklärung übrig, daß nämlich das unterschiedliche Lohnniveau in den bei den Fabriken für das abweichende Beitragsaufkommen verantwortlich war. Dementsprechend variierte natürlich auch der Beitrag, den die Fabrikbe sitzer zur Krankenkasse beisteuern mußten. Während die Direktion der Ravensberger Spinnerei 1866 1217 Taler, d.h. pro A rbeiter 24 Silbergro schen aufbrachte, zahlten die Inhaber der Braekweder Maschinenfabrik für jeden ihrer A rbeiter einen halben Taler mehr in die Krankenkasse ein60. Noch wesentlich größer war die Belastung der Fabrikbesitzer in der Mon tan- und Hüttenindustrie, wo einerseits relativ hohe Löhne gezahlt wurden, zum andern aber auch die Beitragsquoten - in A nlehnung an das knapp schaftliche Vorbild - höher bemessen waren. So schwankte beispielsweise der A nteil der Kassenbeiträge am Verdienst eines A rbeiters bei Krupp zwischen 2 und 2,4%, und auf den Stahl- und Eisenwerken des Hörder Bergwerk- und Hütten-Vereins lag der Satz sogar noch darüber61. Höheres Lohnniveau und höhere Beitragssätze waren hier der Grund dafür, daß die Kasseneinnahmen enorme Größenordnungen erreichten. Bei Krupp zahlten die im Jahre 1858 beschäftigten 1047 Arbeiter insgesamt 4094 Taler in die Krankenkasse: auf einen Arbeiter kamen folglich fast 4 Taler Jahresbcitrag62. Ähnliche Beträge summierten sich auch beim HBHV: dort betrugen die Einnahmen aus den laufenden A rbeiterbeiträgen 1856 13077 Taler. Bei insgesamt ca. 2900 Beschäftigten entfielen demnach 4,5 Taler auf jedes Kassenmitglied63. Die Zahlungen des Unternehmens beliefen sich auf noch einmal 6538 Taler. Diese Summe entsprach genau dem gesetzlich vorgegebenen A nteil von 50% der Arbeiterbeiträge. Gerade seitens der besonders belasteten Montan industriellen erhob sich allerdings in den 1850er und 1860er Jahren ein mannigfacher Protest gegen eine derart hohe Unternehmensbeteiligung. 1854 setzte der Verwaltungsrat des HBHV die betriebseigene Krankenkasse davon in Kenntnis, daß er die Unternehmerbeiträge von sich aus auf ein Drittel der A rbeiterbeiträge zu kürzen gedächte, weil sich gezeigt hätte, »daß diese Beteiligung weit über die Bedürfnisse Ihrer Einrichtung und Verhältnisse hinausgeht«. Daraufhin schaltete sich die A rnsberger Regie rung ein und verfugte, »daß es den A rbeitsgebern durchaus nicht gestattet werden kann, ihre Beiträge zu den gewerblichen Unterstützungskassen wegen angeblich genügend vorhandener Mittel beliebig zu verringern«64. Während den A nträgen der Handwerksmeister auf Beitragsermäßigung häufig stattgegeben wurde65, gewährten die Behörden den Fabrikbesitzern keinen Naehlaß. Mit der Zeit fanden sich denn auch widerstrebende Unter198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
nehmer mit den neuen Regelungen ab. 1855 sprach sich der Düsseldorfer Gewerberat für einen »angemessenen Beitrag« der Fabrikanten aus, »indem in diesem Gewerbestande die Arbeitnehmer in einem dauernden Dienstver hältnisse stehen und in Folge Familien-Rücksichten mehr der Unterstützung ihres A rbeitgebers bedürftig sind«66. Sechs Jahre später gab eine Gruppe westfälischer Hüttenbesitzer ihre »Überzeugung« kund, daß die Beitrags verpflichtung den Fabrikinhabern »einestheils erhebliche Opfer auferlegt, diese doch nur vorübergehend sind, in der verbesserten Lage der A rbeiter und deren vermehrten physischen und moralischen Tüchtigkeit einen Ersatz finden«67. Selbst unter rein finanziellen Gesichtspunkten hatten die Krankenkassen nicht nur Schattenseiten für die Unternehmer. Da die Ausgaben die Einnah men häufig unterschritten, sammelte sich mit der Zeit ein nicht unbeträchtli ches Vermögen an, das von der Firmenleitung »krisensicher« angelegt und verzinst wurde. Beim HBHV bezifferte sich das Kassenvermögen 1864 auf insgesamt 79334 Taler, von denen 52283 investiert waren68. A uch die Kassen der drei Bielefelder Großunternehmen machten Bilanzgewinne: Das Vermögen der Ravensberger Spinnerei-Kasse stieg von 441 Talern (1859) auf 3884 Taler (1874). 1880 verfügte die Kasse über ein verzinstes Kapital von 14698 Mark. Ähnliche Summen akkumulierten sich bei der Mechani schen Weberei, die ihr Kassenvermögen von 471 Talern (1865) auf 3848 Taler (1874) erhöhen konnte und 1880 16171 Μ besaß, sowie bei der Spin nerei Vorwärts (1864: 392 Taler; 1874: 2992 Taler; 1880 16790 M) 69 . Dieses Geld war billiges Investitionskapital in der Hand des Unternehmers; in der Regel flöß es in den eigenen Betrieb. Die günstige Gelegenheit zur finanziel len Selbstbedienung belohnten die Fabrikherren mit einem Zinssatz von 5%, die der Kasse gutgeschrieben wurden. Die Kassen bildeten folglich einen ansehnlichen Kapitalfonds, der von den Firmen gern angezapft wurde, so daß die eigenen Beiträge sich auch mate riell rentierten. Darüber hinaus erschienen die Zahlungen der Unternehmer nur auf den ersten Blick so gewaltig, daß sie Befürchtungen über eine Schwächung der Konkurrenzfähigkeit oder gar über Liquiditätsprobleme der Betriebe Nahrung gaben. Im Verhältnis zur Gesamtsumme der gezahl ten Löhne waren sie verschwindend niedrig. So zahlte die Ravensberger Spinnerei 1860 86000 Taler an Arbeitslöhnen70 - der Beitrag zur Kranken kasse von 676 Talern (= 0,8%) nahm sich im Vergleich geradezu winzig aus. Zwei Jahre später war die Lohnsumme auf 130000 Taler gestiegen71, während 765 Taler (= 0,6%) in die Krankenkasse flössen. In anderen Großunternehmen der Bielefelder Textilindustrie sah das Ver hältnis Lohnsumme zu Krankenkassenbeitrag nicht anders aus. Die Lohn kosten der Spinnerei Vorwärts, die 1871 632 A rbeiter und A rbeiterinnen beschäftigte, beliefen sich im gleichen Jahr auf 90606 Taler. Der Firmenbei trag zur Krankenkasse betrug dagegen nur 700 Taler (= 0,8%). A uch in den folgenden Jahren72 blieb das Verhältnis konstant: 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Jahr
Arbeiter zahl
Lohnsumme
Krankenkassen beitrag d. Unternehmens
in % d. Lohnsumme
1872 1873 1874 1876
675 598 645 700
99787 Taler 106683 Taler 114716 Taler 360625 Μ
781 Taler 828 Taler 928 Taler 3038 Μ
0,8% 0,8% 0,8% 0,8%
Gemessen an den Lohnkosten machten die Krankenkassenbeiträge der Unternehmer also nur eine geringfügige Summe aus, die noch unter der 1-Prozcnt-Marke blieb. Obsehon sich nur sehr wenige Fabrikbesitzer ganz offen über die staat lichen A uflagen hinwegsetzten73 und eine Beitragsbeteiligung ablehnten, hielt sich doch in weiten Kreisen der Industrie die tiefe A bneigung gegen die administrative Intervention von oben. Dieses Ressentiment schuf sich auch im Preußischen A bgeordnetenhaus und später im Reichstag ein öf fentliches A rtikulationsforum. Immer wieder lagen dem Parlament Peti tionen von Handelskammern und einzelnen Fabrikanten vor, die eine Aufhebung des Kassenzwangs forderten74. A nläßlieh einer Umfrage des preußischen Handelsministeriums 1869 plädierte auch die Bielefelder Handelskammer dezidiert für die Freigabe des gewerblichen Hilfskassenwesens und die Rücknahme aller staatlichen Regelungen. Die Begrün dung schöpfte aus dem kompletten A rsenal liberaler Freihandelsideologie, die sich kompromißlos gegen jede Form obrigkeitlicher Eingriffe in die wirtschaftlichen Verhältnisse verwahrte. Die Einwände gegen die staatli che Kassenpolitik gipfelten in dem Vorwurf, letztere leiste dem Sozialis mus Vorschub, indem sie »das Gefühl der Sclbstverantwortlichkeit der Arbeiter eher vernichtet als hebt«. Die A llgegenwart des Staates lähme jede eigene Initiative, und der A rbeiter müsse zwangsläufig zu der Über zeugung gelangen: »>Wenn der Staat das Gewissen für mich übernimmt, so brauche ich es nicht zu haben< . . . A us solchen Irrthümern aber keimt der Sozialismus«, Um dieser gefährlichen Tendenz vorzubeugen, müsse man das Kassenwesen »auf die Sclbstverantwortliehkeit, Pflichttreue und Sparsamkeit der A rbeiter gründen«. Damit verbunden sei aber auch die Aufhebung der unternehmerischen Beitragspflicht, denn »sonst würde al les beim A lten bleiben«. Schließlich könne kein Fabrikbesitzer »den er zwungenen Beitrag aus dem Ärmel schütteln; er kürzt ihn am Lohn, spielt also nur die Rolle eines Vormundes und Zahlmeisters für den A rbei ter«. Diesem wirtschaftlichen A rgument gesellte sich noch ein morali sches Motiv hinzu: so »möge man doch ja nicht glauben, daß die Fürsor ge eines verständigen A rbeitgebers nicht weiter reiche und nicht tiefer begründet sei, als die Zwangsvorschrift eines Hülfskassen-Gesctz-Para graphen! Diese Fürsorge hat sich bethätigt neben dem staatlichen Hülfs200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kassenwesen und weit über dessen enge Grenzen hinaus: - sie wird auch Früchte tragen nach Aufhebung des Zwangs« 75 . Eine solche Doppelgleisigkeit war charakteristisch für die unternehmeri sche A bwehrstrategie gegen den von der Regierung ausgeübten Druck. Einerseits spielte der finanzielle A spekt gewiß eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn auch eine Zulage von noch nicht einmal einem Lohnprozent wahrscheinlich keinen Betrieb an den Rand des Konkurses brachte. Wenn die Fabrikinhaber zudem im gleichen Atemzug ihre Bereitschaft verkünde ten, freiwillige Unterstützungen zu gewähren und dabei nicht unter den staatlich verordneten Leistungen bleiben zu wollen, war dies sicherlich nicht immer eine bloße Scheinkonzession, wie die Vielzahl betrieblicher Wohl fahrtseinrichtungen gerade in größeren Fabriken hinlänglich beweist. Hier galt nun das finanzielle A rgument auf einmal nicht mehr bzw. wurde mit dem Hinweis auf die »reichlichsten und segenvollsten Früchte«76 dieser Sozialinvestitionen vom Tisch gewischt. Der Widerstand der industriellen Unternehmer gegen den gesetzlichen Kassenzwang und die damit verbundene Beitragspflicht reduzierte sich daher in seinem Kern auf den als A nmaßung empfundenen A nspruch des politischen Systems, in die wirtschaftlichen Verhältnisse hineinzuregieren und noch dazu, wie man meinte, einseitig zu Lasten der Arbeitgeber Partei zu ergreifen. A llerdings war diese Einstellung nicht für alle Fabrikbesitzer kennzeichnend. So verteidigte die Mindener Handelskammer 1869 die Bei behaltung von Kassenzwang und Zwangskassen mit dem Hinweis auf die »augenblicklich wieder schärfer und lebhafter hervortretende sozialdemo kratische Frage«. Einerseits sei es wichtig, einen allgemeinen Versiche rungszwang auszusprechen; dadurch würden die kommunalen A rmenkas sen entlastet und zugleich den Sozialisten ein Tätigkeitsfeld entzogen. Im merhin sei es eine Erfahrungstatsache, daß Situationen, in denen eine große Anzahl besitzloser Proletarier durch »Störungen und Verdruß« aus dem Lohnverhältnis heraus- und der öffentlichen Unterstützung anheimfielen, geradezu »Brutstätten sozialdemokratischer A gitationen« bildeten. A nde rerseits könne man auch auf Zwangskassen nicht verzichten, denn die »A gi tatoren« würden sich gewiß nicht scheuen, »Gärungsstoffe« in sog. freie Kassen hineinzutragen und dort »einen mehr oder minder gefährlichen gesellschaftlichen Prozeß zu erzeugen«. Deshalb sei »die Kreirung von Unterstützungskassen mit dem Zwange der Beteiligung seitens der Arbeit nehmer eine erfolgreiche Maßregel gegen die Bestrebungen der Sozialde mokratie«77. Im Reichstag machte sich der saarländische Hüttenmagnat Stumm zum Fürsprecher der Zwangskassen und Arbeitgeberbeiträge. Den freien Kassen stand er ungemein skeptisch gegenüber. Neben verwaltungstechnischen Unsicherheiten befürchtete er vor allem, »daß namentlich in aufgeregten Zeiten, wo der Gegensatz zwischen A rbeitgebern und A rbeitern geschärft wird, diese Kassen sehr leicht benutzt werden könnten, als Kriegskassen zur 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Förderung von Strikes«. Statt dessen forderte er eine höhere finanzielle Beteiligung der Unternehmer an den Zwangskassen und ihre »entsprechen de Theilnahme an der Verwaltung der Kassen«. Nur auf diesem Wege könne »die Zusammengehörigkeit von Kapital und A rbeit, die Zusammenwir kung der beiden Faktoren nach einer Richtung hin in Eintracht gefördert werden«78. Selbstverständlich war dieses Interesse an einer »Harmonie aller Klassen der Gesellschaft« (Stumm) kein Spezifikum der schwerindustriellen Unter nehmerfraktion, die der Versicherungsgesetzgebung des preußischen Staa tes generell positiv gegenüberstand. Die Idee, über die Kassen eine »Art von Familienband unter einzelnen besonderen A rbeitergruppen mit ihrem A r beitgeber zu rekonstruiren«, wie es der Bielefelder Landrat 1869 formulier te79, war auch den Gegnern des Versicherungszwangs nicht fremd. Die meisten Unternehmer sahen die Vorteile einer fabrikeigenen Krankenkasse durchaus ein, zumal die Regierung alles tat, um diese Einsicht zu befördern. Ausfuhrungserlasse zu der Verordnung von 1849 legten fest, daß diejenigen Fabrikanten, die bereits eigene Unterstützungskassen für ihre Arbeiter ge bildet hatten, diese auch beibehalten konnten80. Ihre A rbeiter wurden zu dem verpflichtet, »der für sie errichteten Kasse beizutreten, und solche Arbeiter sollen dann zum Anschlusse an eine andere Kasse nicht angehalten werden« 81 . Nur sehr wenige Unternehmer nahmen dieses A ngebot nicht wahr und verzichteten auf eigene Unterstützungseinrichtungen. In der Re gel waren es kleinere, verlagsmäßig strukturierte Betriebe, die die Bildung einer Fabrikkasse mit der Begründung ablehnten, die dezentral produzieren den Arbeiter seien nicht dazu zu bewegen, einer zentralen Kasse beizutreten. Außerdem sei es auch nicht die A ufgabe des Fabrikherrn, für seine in anderen Gemeinden wohnenden A rbeiter eine am Fabrikort angesiedelte Unterstützungskasse zu bilden82. Der Unwilligkcit dieser Unternehmer begegneten die Kommunen damit, daß sie allgemeine Ortskassen einrichte ten und den Beitritt der betreffenden Fabrikarbeiter sowie ihrer Arbeitgeber polizeilich erzwangen. Der Düsseldorfer Magistrat gründete 1855 eine Fa brikarbeiterkasse für Spinner, Weber, Drucker und Färber, der die Arbeiter von 13 Firmen angehören mußten83. Im allgemeinen aber waren Zusammenschlüsse mehrerer Betriebe zu einer gemeinsamen Fabrikkrankenkasse höchst selten. In ganz Preußen gab es 1872 1591 Krankenkassen für Arbeiter einer Fabrik bzw. eines Unterneh mers und nur 263 für A rbeiter mehrerer Fabriken verschiedener Unterneh mer84. Zwar tauschten sich die Unternehmer untereinander aus, wenn es um die zweckmäßige Kodifikation von Statuten ging85; darüber hinausge hende Kooperationsformen waren jedoch mit großen Schwierigkeiten be haftet. Jeder Unternehmer schien eilfertig darauf bedacht, eine eigene Kasse unter seiner Kontrolle zu haben und sich in seine soziale Betriebspolitik nicht von potentiellen Konkurrenten hineinreden zu lassen. Häufig verzichteten Fabrikbesitzer lieber ganz auf eine Kasse, als daß sie sich mit anderen 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zusammentaten. Schließlich war der augenfälligste Vorzug einer fabrikeige nen Krankenkasse, nämlich die unmittelbare Kommunikation zwischen Unternehmer und Arbeitern, in einer zusammengefaßten Kasse nicht mehr gegeben, was die A ttraktivität dieser Einrichtung für den Fabrikanten er heblich schmälerte. So sprach sich beispielsweise die Mindener Handels kammer dezidiert gegen zusammengelegte Kassenverbände aus und hielt die Einrichtung selbständiger Kassen in Fabriken mit wenigstens 20 Beschäftig ten »unter eigener Verwaltung« für die zweckmäßigste Organisationsform, »da der Arbeitgeber mit seinen speziellen Arbeitern wohl am besten über die etwaigen Unterstützungen zu beschließen imstande sein dürfte«86. A ußer dem war die Verwaltung und Kontrolle in einem überschaubaren Betrieb wesentlich einfacher, vor allem »die genaue Überwachung strenger Befol gung der Statut-Vorschriften, namentlich die Verhütung jeden Mißbrauchs durch ungerechtfertigte Unterstützungs-A nsprüche«87. Wie wichtig den Unternehmern eine eigene Krankenkasse war, zeigte sich auch in einem Konflikt, der Anfang der 1860erJahre zwischen der Brackwe der Spinnerei Vorwärts und der dortigen Ortsbehörde ausbrach. Der Brack weder Amtmann hatte die Firmenleitung ultimativ aufgefordert, ihre Kasse (mit damals über 500 Mitgliedern) aufzulösen und die Arbeiter an eine von der Kommune eingesetzte allgemeine Unterstützungskasse zu überweisen. Offensichtlich ging es bei dieser Umverteilung darum, die nicht sehr zahl reichen Handwerksgesellen und -gehilfen mit den Beschäftigten der Spinne rei zu einer gemeinsamen Kasse zusammenzufassen, da erfahrungsgemäß die Leistungsfähigkeit einer Krankenkasse mit der Zahl ihrer Mitglieder stieg. Nach fünfjährigem Bestehen mußte daher die »Gesellen- und Fabrik arbcitcr-Unterstützungskassc der Spinnerei Vorwärts« zum Jahresende 1860 liquidiert werden und in einer allgemeinen »Kranken- und Unterstüt zungskasse der Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter« aufgehen. Eine Be schwerde bei der Mindener Regierung blieb ohne Erfolg, wie der Geschäfts bericht 1861 bedauernd feststellen mußte: »Wir haben jedoch unser Bestre ben, zu dem früheren, für unsere Arbeiter so gedeihlichen Zustande zurück zukehren, durch Vorstellungen bei den höheren A dministrativ-Behörden fortgesetzt und hoffen, auf diese Weise die gegen uns zur A usführung gebrachte Maßregel wieder zu beseitigen«. EinJahr später sah die Unterneh mensleitung bereits »gegründete A ussicht«, »daß eine baldige A uflösung der Brackweder Krankenkasse erfolge, und daß wir dadurch in den Stand gesetzt werden, unsere frühere eigene Krankenkasse, die so lange und so gut sich bewährt hat, wieder in das volle Leben zu rufen«. 1863 schließlich hatte der Verwaltungsrat sein Ziel erreicht: »Unseren fortgesetzten Bemühungen ist es endlich gelungen, in Beziehung auf unser Arbeiter-Personal, uns von der Brackweder Krankenkasse und von den durch die letztere uns aufgebür deten Verpflichtungen zu befreien. Mit dem 1. Oktober v.J. sind wir in unser früheres abgesondertes Verhältnis zurückgekehrt und fühlen uns mit unseren A rbeitern wohl dabei.« 88 A uch in anderen Städten, in denen die 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Behörden zunächst betriebsübergreifende Krankenkassen gegründet hatten, petitionierten Fabrikbesitzer immer wieder um die Erlaubnis, eigene Kassen einrichten zu dürfen - in der Regel mit Erfolg89. 1864 wandte sich der Düsseldorfer Dampfkesselfabrikant Piedboeuf, dessen 85 A rbeiter bislang der allgemeinen Metallarbeiterkasse angehörten, an den Oberbürgermei ster: »Als Gründe warum ich eine eigene Krankenkasse dem Beitritt an die hiesige Metallarbeiter Kasse vorziehe, erlaube ich mir anzuführen, daß 1. . . . meine kranken resp. arbeitsunfähigen Leute eine verhältnismäßig größere Unterstützung wie die Metallarbeiter erhalten; 2. die Leute in Fabriken wie diese hier vielen Zufällen ausgesetzt, weshalb eine gute Unterstützung in Nothfällen sehr am Orte ist; 3. fühle ich mich dazu bewogen, weil sehr viele meiner Arbeiter es wünschen.«90
1860 beantragte der Essener Maschinenfabrikant Hilger seinen A ustritt aus der A llgemeinen Handwerksgesellen- und Fabrikarbeiter-Unterstüt zungskasse: »Durch Vermehrung meiner Arbeiterzahl, welche über 110 beträgt und in nächster Zeit noch zunehmen wird, stellt es sich immermchr als ein nothwendiges Bedürfniß heraus, eine eigene Kranken- und Sterbekasse zu haben. Es läßt sich dadurch das auszuführende Reglement und die bei einer so großen Anzahl Arbeiter so sehr erforderliche Ordnung leichter handhaben & ferner fühlt sich der Arbeiter selbst, durch eine solche Einrichtung, die in jeder Beziehung zu seinem Besten ist, mehr an die Fabrik gebunden, was auf seine Aufführung und moralisches Betragen im Allgemeinen auch nicht ohne Einfluß sein wird. «91
Es waren vor allem größere Betriebe, die ein starkes Interesse an fabrikei genen Krankenkassen besaßen. So beschäftigten von 17 Bielefelder Unter nehmen, die 1876 nicht über eine Krankenkasse verfügten, 10 weniger als 50 Personen. Dagegen gab es unter den 14 Betrieben mit Krankenkasse nur einen einzigen, der unter dieser Belegschaftsgröße blieb. Noch deutlicher spiegelte sich diese Struktur in der Zahl der von den Fabrikkassen erfaßten Arbeiter und A rbeiterinnen: während die Unternehmen mit Kassen insge samt 3395 Arbeiter beschäftigten, waren es in den kassenloscn Fabriken nur 98592. Gerade für Betriebe mit großem A rbeitskräftebedarf ergab sich die Not wendigkeit, ein funktionierendes Regelsystem zu entwerfen, mit dessen Hilfe alle Zufälligkeiten und Krisensituationen rasch und reibungslos bear beitet werden konnten. War es in kleineren Fabriken noch eher vorstellbar, Störungen im A rbeitskräfteeinsatz durch direkte und persönliche Interven tion des Fabrikherrn zu beheben, so schied diese Möglichkeit bei großen Industrieanlagen mit mehreren Hundert oder gar Tausend Beschäftigten aus. Hier mußten formalisierte Entscheidungs- und Kontrollmechanismen geschaffen werden, die für alle Beteiligten transparent und verbindlich zu sein hatten. Ein fest umrissenes und kodifiziertes System von Pflichten und Rechten, von Leistungen und Gegenleistungen trat an die Stelle früherer Verfahren, nach denen der alles überblickende Fabrikant in patriarchalischer Autorität einsame Personalbeschlüsse gefaßt hatte. 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ein solcher »rationeller« Verfahrensmodus bot sich auch in der Frage der Gesundheits- und Krankheitsverhältnisse einer Belegschaft an. Ganz abge sehen von dem Handlungsdruck, den Kommunen und Regierungsbehörden auf die Betriebe ausübten, lag es durchaus in deren eigenem Interesse, mögliche Konflikte über Umfang und Formen der Krankenversorgung von vornherein abzuwehren. Die Einrichtung von Krankenkassen, die Festset zung finanzieller Beitragsquoten und Leistungen, der verbindliche Erlaß von Verhaltensvorschriften, die genaue Normierung von Zeit und Ort medizinischer Krankenpflege - all diese in öffentlich zugänglichen Statuten niedergelegten Bestimmungen halfen dabei, die Schwierigkeiten, die von der Erkrankung eines Arbeiters ausgelöst wurden, sachlich und ohne Rei bungsverluste zu beheben. Für jedes Bedürfnis, für jeden A nspruch gab es eine verantwortliche Instanz, selbst Beschwerden wurden von den zuständi gen Gremien »objektiv« verwaltet. Eine »angemessene« Repräsentation der Arbeiter im Kassenvorstand sorgte dafür, daß unterschiedliche A uffassun gen eine A rtikulationschance bekamen und wenigstens formal bei der Be schlußfassung berücksichtigt wurden. A ndererseits bot die Präsenz der Un ternehmer bzw. ihrer Stellvertreter im Vorstand die Gewähr, daß niemals etwas gegen ihren Willen entschieden wurde. Im ganzen bildeten die Kassen also ein zweckdienliches Instrument, um ein den Betrieb belastendes soziales Problem mit Hilfe formalisierter Bear beitungsverfahren so zu regeln, daß einerseits das Bedürfnis nach sozialer Sicherung mit minimalem Kräfteeinsatz aufgegriffen wurde und es anderer seits nicht zu folgenreichen Interessendivergenzen zwischen den Parteien kam. Daß dieser allgemeine Nutzen gerade auch von den Großunternehmen in ihre Kostenrechnung einbezogen wurde, beweist die Schnelligkeit und Unkomplizicrthcit, mit der diese Firmen seit den 1850er Jahren Kassen einrichteten und ihren A rbeitern die Mitgliedschaft zur Pflicht machten. So legte die Ravensberger Spinnerei bereits kurz nach ihrer Gründung ein Kassenstatut vor, das sämtliche A rbeiter und A rbeiterinnen für die Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses zur Teilnahme an der Fabrikkrankenkassc zwang. A uch die Spinnerei Vorwärts und die Mechanische Weberei in Bielefeld richteten sofort eigene Kassen ein, deren Bestimmungen fast wort wörtlich mit den Statuten der Ravensberger Spinnerei-Kasse übereinstimm ten. Ebensowenig ließen es sich die meisten der in den 1860er und 1870er Jahren entstandenen Maschinenfabriken nehmen, für ihre A rbeiter eigene Kassen mit Beitrittszwang ins Leben zu rufen93. Selbst nach 1869, als die Regierung auf Druck der Liberalen das Prinzip der Zwangskassen aufhob und »freie Kassen« als alternative Organisationsform des Versicherungs zwangs zuließ, änderte sich nichts an diesem Muster. Diejenigen Firmen, die bereits eigene Kassen hatten, hielten daran fest; andere ließen sich rasch die Beitrittsverpflichtung ihrer Arbeiter von der Regierung bestätigen. Hier trat also ein offenkundiger Widerspruch zwischen politischer Rheto rik und tatsächlichen Regelungsinteressen auf: während die Bielefelder Han205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
delskammer 1869 die völlige A ufhebung von Kassenzwang und Zwangs kassen gefordert und für reine Selbsthilfeorganisationen der A rbeiter plä diert hatte, war die Mehrzahl der Unternehmer gleichzeitig eifrig darauf bedacht, ihre eigenen Kassen zu behalten und alle bei ihnen beschäftigten Arbeiter zum Beitritt zu zwingen. Noch deutlicher wurde dieses Auseinan derklaffen von Theorie und Praxis nach 1876, als die neue Hilfskassengcsetz gebung die Bildung sog. »eingeschriebener Hilfskassen« ohne Beitritts zwang empfahl. Von den 13 Fabrikkassen, die es 1878 im Kreis Bielefeld gab, hatte noch keine einzige den Status einer eingeschriebenen Hilfskasse beantragt. Vier Jahre später hatte sich das Bild ein wenig verschoben: mittlerweile bestanden in sechs Fabriken eingeschriebene Hilfskassen. Fünf davon waren Neugründungen, mußten sich also an dem gesetzlich vorge schriebenen Organisationsmodel] ausrichten. Nur die Hälfte machte von der Möglichkeit Gebrauch, die A rbeitgeber von der Beitragspflicht ganz oder teilweise zu befreien94. Die bereits seit längerem bestehenden Fabrikkassen weigerten sich be harrlich, eine Umwandlung vorzunehmen. Obgleich die Regierungsbehör den immerzu darauf drängten und Statutenänderungen nicht mehr geneh migten, solange die Kassen ihre alte Struktur beibehielten, gaben die Unter nehmer nicht nach. Offenbar war ihnen der fakultative Charakter der neuen Kassenform doch nicht recht: danach konnte kein Arbeiter mehr verpflichtet werden, der Krankenkasse »seiner« Fabrik anzugehören, sofern er nach wies, daß er schon bei einer anderen Kasse Beiträge zahlte. Zugleich war aber auch die Beitragsverpflichtung des A rbeitgebers aufgehoben: zu den ohne Intervention der Kommunalbchörde errichteten Hilfskassen brauchten die Unternehmer nicht mehr beizusteuern. Es blieb, wie die regierungsamt lichcn »Motive« ausführten, der freien Entscheidung dieser Kassen überlas sen, »inwieweit sie zu den A rbeitgebern in eine Beziehung treten wollen oder nicht«95. Dieses Angebot der Gesetzgebung, welches den Forderungen der liberalfrcihändlerisch orientierten Unternehmer nach absoluter Kassenfreiheit weit entgegenkam, wurde in der Praxis offenbar nicht angenommen. A ls der Bielefelder Magistrat 1879 die Direktion der Ravensberger Spinnerei ersuchte, »geneigtest nunmehr in Erwägung ziehen zu wollen, ob es jetzt bei Gelegenheit der Abänderung des alten Kassenstatuts nicht vorzuziehen sei, die Kasse in eine eingeschriebene Hülfskasse umzuwandeln«, traf er auf Ablehnung. Schließlich hätte »das Statut unserer Kasse seit seinem 22jähri gen Bestehen weder bei uns, noch bei unseren A rbeitern die geringste Ursache zur Unzufriedenheit gegeben«96. Hier bewahrheitete sich die Vermutung des Handelsministeriums von 1876, »daß das anfängliche Widerstreben der Fabrikbesitzer gegen ihre Heranziehung, nachdem die letztere erst einmal in einem gewissen Umfange durchgeführt war, mehr und mehr geschwunden und angebahnt durch die gesetzlichen Bestimmungen allmählig eine A uffassung zur Herrschaft ge206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
langt ist, welche es als selbstverständlich ansieht, daß für jede Fabrik eine Unterstützungskassc besteht, an welcher auch der Unternehmer sich mit Beiträgen betheiligt«97. In den fast dreißigjahren, die seit der ersten gesetzli chen Regelung des Fabrikkassenwesens verstrichen waren, hatten die Un ternehmer offensichtlich gelernt, mit den Krankenkassen so umzugehen, daß sie als ein sinnvolles Instrument betrieblicher Sozialpolitik genutzt werden konnten. Der Tausch Geld (Kassenbeitrag) gegen Macht (Einfluß auf die Kassen vcrwaltung) schien Ende der 1870erJahre nicht mehr so ungleich wie um die Jahrhundertmitte. Damals war die staatliche Gesetzgebung in der Tat auf Kosten der Fabrikbesitzer gegangen: die finanziellen Belastungen durch regelmäßige Beitragszahlungen waren spürbar größer geworden, und gera de solche Unternehmer, die schon vorher eine eigene Kasse für ihre Arbeiter eingerichtet hatten, konnten die neuen Vorschriften nur als Rückschritt begreifen. Neben den ökonomischen Nachteilen sahen sie sich mit dem Problem konfrontiert, daß die staatliche Intervention den patriarchalischen Charakter ihrer Personalpolitik ganz empfindlich unterhöhlte. Unterneh merische Fürsorge war nunmehr ein juristisch einklagbarer Rechtstitel, eine versachlichte Sozialleistung, eine reine Selbstverständlichkeit, an die sich kein Anspruch auf besondere Gegenleistungen oder Dankbarkeit der Arbei ter knüpfen konnte. Daß eine solche Versachlichung der Beziehungen auch Vorteile mit sich brachte, zeigte sich erst im Laufe der Zeit, als die Unterneh mer die Erfahrung machten, daß klar umrissene Kompetenzen, Pflichten und Verantwortlichkeiten sich als innerbetrieblicher Ordnungsfaktor ein setzen ließen.
3. Fabrikkrankenkassen als Instrumente der Disziplinierung und Sozialintcgration Wenn Unternehmer ein so großes Interesse an eigenen Krankenkassen hat ten, daß sie auch nach der Lockerung des Zwangskassensystems an ihren auf einer obligatorischen Beitrittsverpflichtung beruhenden Fabrikkassen fest hielten, mußten sie vor der Nützlichkeit dieser Einrichtungen voll und ganz überzeugt gewesen sein. Worin diese Nützlichkeit nun aber im einzelnen bestand, ist nur schwer zu rekonstruieren. Weder gibt es Äußerungen von Fabrikanten darüber, welche konkreten Erfahrungen sie mit »ihren« Kassen machten, noch liegen »harte« ökonomische Bilanzen vor, an denen der betriebswirtschaftliche Nutzeffekt abzulesen wäre. Auf einer sehr allgemeinen Ebene war die Rede von den »humanitären Pflichten als Arbeitgeber«, von dem »Gefühl der Genugthuung und Freu de«, das den Unternehmer angesichts der erfolgreichen Fürsorge für seine Arbeiter ergriff und ihn für seine finanziellen Opfer reichlich entschädigte98. 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Dieses »humanitäre« Bewußtsein mag sicherlich bei manchen Fabrikbesit zern vorhanden gewesen sein - es als Triebfeder unternehmerischer Kassen und Sozialpolitik zu begreifen, würde jedoch in die Irre ideologieverdächti ger Deutungen fuhren. Näher an die Motive und Intentionen einer solchen Politik reichten die Bemerkungen heran, mit denen der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, rührig in der Propagierung modellhafter betrieblicher Wohlfahrtsleistungen, einen Bericht über das Kassenwesen des Hörder Bergwerks- und Hüttenvereins einleitete: »Die Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit, die Ordnungsliebe, die Mäßigkeit sind die Cardinaltugenden des A rbeiters, keine noch so große Geschicklichkeit vermag den Mangel auch nur einer derselben dauernd zu ersetzen, weder für den A rbeiter selbst, noch für den Unternehmer. Kein noch so großes, noch so geschickt angelegtes, noch so sehr durch die Conjunkturen und die Bedürfnisse unterstütztes Unternehmen wird, soweit es auf die Arbeits kräfte der Menschen angewiesen ist, mit solchen A rbeitern fortkommen können, die an Mängeln dieser Art kranken.«99
Gelernt werden sollten diese »Cardinaltugenden« auch und vor allem in den Krankenkassen. Letztere bearbeiteten nicht nur Gesundheitsstörungen, indem sie ihren Mitgliedern eine medizinische Infrastruktur zugänglich machten und den Genesungsprozeß unter die Kontrolle ärztlicher Experten stellten, Sie federten auch nicht nur die Folgeprobleme eines Gesundheits verlustes ab, wenn sie dafür sorgten, daß eine zeitweilige, durch Krankheit bedingte A rbeitsunfähigkeit noch kein gänzliches Herausfallen aus dem Lohnverhältnis nach sich zog. Neben diesem materiellen Leistungsangebot stand ein moralischer Erziehungseffekt, den der Saarindustrielle Stumm 1869 so umschrieb: »A uf diese Weise tritt er [der in eine Fabrik-Hilfskasse eingebundene Arbeiter] aus dem Proletariat heraus und gewinnt eine solide re Lebensauffassung.«100 Betrieblichen Krankenkassen war somit eine ent scheidende sozialintegrativc Funktion zugedacht. Je mehr sich diese Bedeutung verallgemeinerte, desto stärker schwächte sich der in der Frühindustrialisierung zentrale Stellenwert der Fabrikkassen als »Bindemittel« ab. Zwar nahmen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr hunderts alle Kassenstatuten einen Paragraphen auf, wonach »jeder freiwil lig A ustretende oder aus der Fabrik entlassene A rbeiter . . . vom Tage des Austritts oder der Entlassung seine A nrechte an die Kasse sowie an die kostenfreie ärztliche Behandlung« verlor101. Wer dies jedoch als Beleg für die Bindungsfunktion der Fabrikkrankenkassen interpretiert102, läßt das weitere Umfeld des betrieblichen Kassenwesens unberücksichtigt. Warum sollte sich der A rbeiter durch seine Kassenmitgliedschaft an einen Betrieb gebunden fühlen, wenn ihn doch bei einem Arbeitsplatzwechsel eine ähnlich strukturierte Kasse erwartete, in die er sogleich nach A ntritt seines neuen Beschäftigungsverhältnisses eintreten mußte? Wartezeiten, in denen das neue Mitglied zwar schon Beiträge zahlte, aber noch keine Leistungen zu erwarten hatte, gab es bei den Fabrikkassen nur selten, und abgesehen von den Hüttenwerken, die ihre Statuten denen der Knappschaften nachgebildet 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
hatten, fand auch keine Bevorzugung dienstälterer Arbeiter statt. Einzig und allein das Eintrittsgeld, das ζ. Β. bei Krupp einen halben Tagelohn ausmach te, mußte immer wieder neu entrichtet werden und verfiel beim Austritt. Im allgemeincnjedoch waren Fabrikkassen kein sehr wirkungsvolles Mittel, die Arbeiter zu einer längerfristigen Bindung an den Betrieb zu motivieren. Je mehr sich diese zu Anfang der Industrialisierung noch exklusive Organisa tionsform ausdehnte, desto deutlicher schwächte sich ihre »mobilitätshem mende Funktion« (I. Fischer) ab. Diese Sachlage war auch den Unternehmern bekannt; auf die Frage der Regierungsbehörden, ob »die Arbeiter - auch bei sonst vorliegender Veran lassung zum Ortswechsel - dennoch einen solchen vermieden haben, um nicht ihre jahrelang gezahlten Beiträge im Stich zu lassen«, antwortete die Bielefelder Handelskammer 1869 mit einem klaren Nein. »Die A rbeiter ziehen, unbekümmert darum, daß sie ihre Einlagen verlieren und ihre Rechte aufgeben, von Ort zu Ort, von Fabrik zu Fabrik.« 103 In einer Zusammenfassung sämtlicher Stellungnahmen der Landräte, Handelskam mern und Magistrate zu diesem Thema ergänzte die Mindener Regierung diese Aussage noch durch den Hinweis, »die Arbeiter fänden überdies in der Regel an anderen Orten gleichartige Kassen, in welche sie eintreten müssen oder könnten, ohne daß besondere Nachzahlungen erforderlich wären, und bei denen sie in den Genuß derselben Nutzung träten, welche sie am frühe ren Aufenthalts- resp. Arbeitsorte verlassen haben, auch den älteren Mitglie dern in keiner Weise nachstehen«104. Dem erklärten Ziel vieler Unternehmen, sich einen »festen A rbeiter stamm« zu schaffen, der sein Schicksal langfristig mit dem der Firma ver band, kam man mit Prämiensystemen und Werkswohnungen weit näher als mit Krankenkassen105, und es läßt sich aus den Verlautbarungen der Fabrik besitzer ohne große Schwierigkeiten herauslesen, daß auch sie die Kassen nicht primär unter diesem A spekt schätzten106. Maßgeblicher war ihr Stel lenwert als Ordnungs- und Disziplinierungsinstrumcnt. Diese Funktion bildete sich sehr deutlich in den Kassenstatuten ab, die - trotz kleinerer Abweichungen - in ihren Kernelementen identisch waren. Typisch für die Struktur der frühen Fabrikkassen war die herausgehobene Stellung des Fabrikherrn. Er vereinigte auf sich zugleich exekutive und legislative Befugnisse, indem er einerseits für die Verwaltung und Rech nungsführung zuständig war (die er von einem seiner »Privatbeamten« erledigen ließ), andererseits aber auch im Vorstand Sitz und Stimme hatte, dort sogar den Vorsitz führte und sich weitreichende Entscheidungskompe tenzen vorbehielt. Zuweilen konnte der Eindruck entstehen, daß die Kasse, die immerhin zu zwei Dritteln aus Beiträgen der A rbeiter bestand, das alleinige Eigentum des Fabrikbesitzers war. So sah beispielsweise das Kas senstatut der Ravensberger Spinnerei eine uneingeschränkte Befehlsautori tät der Direktion vor: die gesamte Verwaltung der Kassenfinanzen, also die Einziehung der Beiträge und die Vergabe von Krankengeldern, spielte sich 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
auf dem »Comptoir« der Fabrikverwaltung ab. Letztere entschied völlig autonom darüber, ob und in welchem Umfang Leistungen gewährt oder verweigert wurden. Zwar war sie an die in den Statuten festgelegten Sätze gebunden, doch gab es immer wieder Grenzfälle und Unsicherheiten, die verschiedenartig interpretiert werden konnten. Die Betroffenen selbst hat ten überhaupt keine Möglichkeit, auf solche Entscheidungen unmittelbar Einfluß zu nehmen. Das einzige Mitwirkungsrecht der Kassenmitglicder bestand darin, daß drei von der Belegschaft gewählte Vertrauensmänner am Jahresende die Kassenbilanzen einsehen und »etwaige Erinnerungen« vor bringen durften. »Beschwerden und Klagen« wurden alsdann von der Fa brikverwaltung geprüft und »soll deren Berücksichtigung und A bstellung nach gemeinsamer Berathung erfolgen, soweit dies möglich ist« 107 . Eine zusätzliche Kontrolle »von oben« fand offenbar nicht statt: zwar war der Magistrat offiziell verpflichtet, neben den lokalen Gesellenkassen auch die Fabrikkassen im Auge zu behalten, doch lassen sich den Verwaltungsakten keinerlei Hinweise darauf entnehmen, daß dies auch tatsächlich geschah. Rückendeckung gewährte den Ortsbehörden in diesem Zusammenhang ein Statutenparagraph, nach dem der Magistrat »diese Beaufsichtigung auch einem der Herren der Fabrikverwaltung übertragen« konnte (§ 19). Perfekter konnte die Machtposition des Unternehmers nicht abgesichert sein: er entwarf die Statuten, d. h. die Geschäftsgrundlage, er beschloß eine Erhöhung der Beiträge, er zog die Beiträge ein, er entschied über die Ausgaben, er verwaltete und investierte das Kassenvermögen, und er kon trollierte sich selbst. Die Kassenmitglieder hatten mit diesem ganzen Prozeß kaum etwas zu tun, der Einfluß ihrer Vertrauensmänner trug höchstens kosmetischen Charakter. Sic kamen zudem mit ihrer Kasse nur dann wirk lich in Berührung, wenn sie krank waren, denn schon ihre Beiträge liefen nicht mehr durch ihre Hände. Sie wurden vom Unternehmer direkt vom Lohn abgezogen und der Kasse überwiesen. Die Krankenkasse, die haupt sächlich von den A rbeitern finanziert wurde, geriet auf diese Weise zum exklusiven Ordnungsinstrument des Fabrikherrn: er war der einzige, der einen genauen Überblick über die Kassenbestände besaß108, damit zugleich aber auch über den Gesundheitszustand und die Krankheitsverhältnissc seiner A rbeiter. Gerade in größeren Betrieben wurde über die Häufigkeit, mit der Kassen lcistungen in A nspruch genommen wurden, eine genaue Statistik geführt. Häufig legten die Firmeninhaber Wert darauf, die Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zum Teil mit dem Hintergedanken, auf diese Weise das geläufige Vorurteil über die großen Gesundheitsgefahren der Industriearbeit zu widerlegen. Die Geschäftsberichte der drei großen Bielefelder Textilfabriken versäumten niemals, auf den »befriedigenden« Gesundheitszustand ihrer Belegschaften hinzuweisen. A uch wenn sonst nur die Rede war von Konjunkturentwicklungen, Gewinnrechnungen oder Ab satzproblemen und die »Arbeiterverhältnisse« mit keinem Wort zur Sprache 210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kamen - der Satz: »Der Gesundheitszustand unserer A rbeiter war befriedi gend, Unglücksfälle hatten wir nicht zu beklagen«109 durfte keinesfalls fehlen. Sollten die Ausgaben der Krankenkasse einmal höher als gewöhnlich gewesen sein, lag das zweifelsfrei an den »außerordentlichen Witterungsver hältnissen des vergangenen Jahres«, welche »viele kleinere Krankheitsfälle hervorgerufen« hätten110. Seit 1871 veröffentlichte die Spinnerei Vorwärts sogar fortlaufend A nga ben über Krankheits- und Todesfälle unter den Arbeitern111: Jahr
1871 1872 1873 1874 1875 1876 1878 1879 1880
Zahl der Beschäf tigten 600 630 563 645 605 700 759 745 776
Zahl der Zahl der Unter Krankheits stützungsfälle fälle 332 366 359 322 327 374 391 509 411
206 204 222 229 240 232 337 405 335
Zahl der Todesfälle 11 16 11 9 9 9 10 9 6
Zahl der Krankenhausfällc 9 15 10 12 10 10 6 5
Aus dieser Statistik geht - auf den ersten Blick - hervor, daß auf 100 Beschäftigte im Durchschnitt 56,4 Krankheitsfälle kamen, wobei diese Zahl erheblichen Schwankungen (von 50 bis 68,3%) ausgesetzt war. Nicht für alle diese Erkrankungen wurde ein Krankcn»lohn« gezahlt: nur in 7 von 10 Fällen bestand ein Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Diese Differenz zwischen Krankheits- und Unterstützungsfällen erklärt sich einmal daraus, daß nicht alle Krankmeldungen mit einer A rbeitsunfähigkeit einhergingen. Andererseits galt eine Karenzfrist von mehreren Tagen, d.h. wenn eine Krankheit nur kurze Zeit dauerte, standen dem Kranken zwar ärztliche Hilfe und Medikamente zu, aber kein Krankengeld. Diese Bestimmung, die- mit unterschiedlichen Zeitangaben - in allen Krankenkassenstatuten verankert war, sollte die Kasse vor Simulanten schützen, die sich unter Vorgabe einer Erkrankung ein paar freie Tage machen wollten. In der Statistik tauchten also die leichteren und nur kurze Zeit dauernden Krankheiten nicht unter der Rubrik der »Unterstützunesfälle« auf112. Das Zusammentragen solcher Krankendaten diente jedoch nicht nur der propagandistischen Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit; es war zugleich auch eine wichtige Informationsquelle für das Unternehmen selbst. Nach Auskunft des Fabrikarztes Grandhomme bemühten sich die Besitzer der Höchster Farbwerke aus zwei Gründen um »eine möglichst genaue Beob achtung und Verfolgung aller Erkrankungen, einmal, um die Berechtigung 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
oder Nichtberechtigung der vielfach gegen die Beschäftigung in solchen Fabriken herrschenden Vorurtheile zu prüfen, und dann, um die wirklichen sanitären Verhältnisse ihrer A rbeiter genau kennen zu lernen und dieselben gegen nachtheilige Einwirkungen auf ihre Gesundheit zu schützen«113. Drittens, so könnte man hinzufügen, vermittelte die Kassenstatistik der Betriebsleitung einen anschaulichen Einblick in die betriebswirtschaftlichen Kosten von Krankheit, wobei der obligatorische A rbeitgeberbeitrag von eher untergeordneter Bedeutung war. Viel schwerer wog der Produktivi tätsverlust, der auf krankheitsbedingte Ausfallzeiten zurückging. So berech nete der Fabrikarzt des HBHV, Dr. Marten, daß zwischen 1851 und 1859 die Riesensumme von 130300 Krankenschichten = 356,9 Jahre »an A rbeits kraft« verlorengegangen wären114. Wenn man die 2550 Krankheitstage, die 1874 von den Arbeitern der Höchster Farbwerke »gefeiert« wurden, auf die Gesamtbelegschaft von 349 Personen verteilte, ergab dies einen Ausfall von 7,3 Tagen pro A rbeiter, mithin eine erhebliche Beeinträchtigung des Pro duktionsprozesses115. Der Firmenleitung selbst war daran gelegen, solche Ausfallquoten nach Möglichkeit zu reduzieren, vor allem wenn es sich um Erkrankungen handelte, die »mit der Fabrikation sicher oder muthmaßlich in Verbindung« standen. Von den Fabrikärzten wurde verlangt, genaue Fragebögen zu erstellen, auf denen die Krankheitssymptome ausführlich zu beschreiben waren 116 . A ufgrund dieser Angaben konnte dann der »revidie rende Fabrikarzt« den Ursachen der Krankheitsbilder nachgehen und zu sammen mit der technischen Verwaltung auf eine Änderung der inkrimi nierten Bedingungen hinwirken. Eine andere, nicht so aufwendige Strategie, den Krankheitsstand der Belegschaft zu beeinflussen, setzte beim aktiven und passiven Gcsundheits verhaltcn der Arbeiter an und ließ sich von der Überzeugung leiten, daß die meisten Krankheiten lediglich A usfluß einer allgemein verbreiteten Nach lässigkeit wären. A uch hier bot sich die Krankenkasse als ein Instrument an, das die A rbeiter dazu bewegen konnte, ihrem körperlichen Wohlbefinden mehr Beachtung zu schenken und sich tatkräftig um die Pflege und Erhal tung ihrer A rbeitsfähigkeit zu bemühen. Immerhin waren die Kassenlei stungen an bestimmte Voraussetzungen gebunden - nicht jeder Kranke hatte ohne weiteres A nspruch auf Krankengeld und medizinische Versor gung. Ein solcher Anspruch mußte erst durch ein »hygienisches« Wohlver haltcn verdient werden, für das sich in den Kassenstatuten und Fabrikord nungen eine Fülle von Normativbedingungen fanden. A bweichungen von dieser Norm wurden unter Strafe gestellt, d. h. der bei einem gesundheitli chen Fehltritt ertappte Arbeiter erhielt während seiner Krankheit weder den eigentlichen »Krankenlohn« noch unentgeltliche ärztliche Hilfe und A rz neien, Zu solchen A bweichungen gehörte es zum Beispiel, »unreinlich« am Arbeitsplatz zu erscheinen. A ußerdem fehlte in keinem Kassenstatut der Selbstschuld-Paragraph, der bei Krupp so formuliert war: »Wer sich durch 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Leichtsinn, Streitigkeiten oder ausschweifenden Lebenswandel Verwun dungen, körperliche Gebrechen oder Krankheiten zugezogen hat, verliert nicht allein jeden A nspruch auf Krankengeld, sondern kann noch in eine Strafe bis zu 5 Taler zum Besten der Kasse genommen werden.« 117 In anderen Betrieben war das unbotmäßige Verhalten noch näher definiert und begriff vor allem »Trunkenheit«, »Raufereien« und »syphilitische Krank heiten« mit ein118. Bei Gesundheitseinbußen, die der Fabrikarzt auf solcher art »statutenwidrige« Gewohnheiten oder Handlungen zurückführen konn te, gab es kein Pardon. Überhaupt kam den Ärzten eine entscheidende Bedeutung bei der Nor mierung und Kontrolle des Gesundhcitsverhaltens der Kassenmitglieder zu. Sic waren es zunächst, die über die Einstellung eines Arbeiters zu befinden hatten. Nach und nach gingen immer mehr Unternehmen dazu über, einen Arbeiter nur dann zu beschäftigen, wenn ihm ein Attest des Fabrikarztes eine gute physische Konstitution bescheinigte119. Wurden bei der ärztlichen Untersuchung falsche A ngaben gemacht, verlor der Arbeiter, wie es in der Fabrikordnung der Höchster Farbwerke hieß, »sofort seine Unterstützungs rechte an die Fabrik und wird entlassen«120. Beim Hörder Bergwerks- und Hütten-Verein wurden festgestellte Mängel in der Personalkartei vermerkt, Arbeiter, die bei ihrer Einstellung »nicht durchaus gesund befunden wer den«, mußten zwar Krankenkassenbeiträge entrichten, hatten aber nur dann einen A nspruch auf Krankengeld und medizinische Versorgung, wenn sie »im Dienste« verwundet wurden, nicht aber »beim Eintritt anderer Krank heiten«121. Dabei war die Definition »dienstlicher« Verletzungen ganz in das Ermessen des Fabrikarztes gestellt, der- im Interesse der Kassenbilanzen nicht selten geneigt war, eine Erkrankung auf die schon zuvor konstatierten Gesundheitsmängel zurückzuführen. Ein solches Schicksal erlitt 1856 der Hochofenarbeiter Carl Bach, der auf der Dortmunder Hermannshüttc (die zum HBHV gehörte) beschäftigt war. Als er sich nach dreitägiger A rbeit einen Bruch hob, verweigerte ihm der Kassensekretär das Krankengeld mit der Begründung, Bach sei ohnehin nur unter großen Bedenken eingestellt worden, da er für die Arbeit am Hoch ofen »nicht kräftig genug« sei. Überdies sei er »nicht im Dienste erkrankt« und hätte von daher auch keinen A nspruch auf Unterstützung122. Noch krasser lag der Fall des Puddlermeisters Joseph Raulf, der während der Arbeit »wegen Fallen Rückschmerzen erlitt«. Da ihm von seinem Kranken geld vier Schichten abgezogen wurden, wandte er sich mit einer »Biett schrieft« an den Kassenvorstand. Das Kassenstatut des HBHV sah vor, daß der Krankenlohn erst vom fünften Tage der A rbeitsunfähigkeit an ausge zahlt werden durfte. Lediglich bei »Verwundungen im Dienste« sollte die Unterstützung vom ersten Tag an beansprucht werden können. Der Kas sensekretär verschärfte diese Ausnahmeregelung nun noch dadurch, daß er unter Berufung auf das ärztliche Gutachten den Begriff der »wirklichen Verwundung im Dienst« einführte und diese als eine »sichtbare Verletzung« 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
definierte. Rückenschmerzen, die man nicht sehen konnte, waren damit aus dem Kanon der A rbeitsunfälle ausgeschlossen, und dem Puddlermeister konnte das Krankeneeid abgeschlagen werden123. Ärztliche Bescheinigungen bildeten generell die Voraussetzung dafür, daß ein Arbeiter in den Genuß von Krankengeld kam. Sobald er sich krank fühlte, sollte er sich an einen der Fabrikärzte wenden, der darüber befand, ob die Krankheit eine Fortsetzung der Arbeit ausschloß oder erlaubte. Der Arzt setzte auch die Dauer der A rbeitsunfähigkeit fest und behielt den Kranken während dieser Zeit im Auge. Sofern der Arzt ihm keine absolute Bettruhe verordnet hatte, mußte sich der A rbeiter alle zwei Tage in dessen Praxis einfinden und neu untersuchen lassen; tat er das nicht, wurde ihm das Krankengeld gestrichen. Die Verhaltensanweisungen der Fabrikärzte waren streng zu befolgen; »Zuwiderhandlungen werden mit Verlust des Kranken geldes bestraft«124. Entdeckte der A rzt bei der Untersuchung, daß der Arbeiter die Krankheit nur vortäuschte, drohten drakonische Geldstrafen oder sogar die Entlassung. Der A rzt besaß folglich im System der fabrikinternen Krankenversor gung und -kontrolle eine starke Machtposition: sein sachkundiges Urteil war das Sesam-Öffne-Dich für Krankengelder, er verfügte die Einweisung ins Krankenhaus und definierte, was eine unterstützungswürdige Krankheit war. In den meisten Fällen stand er im Dienst der Krankenkasse und wurde von ihr bezahlt. Eine Ausnahme machten die Höchster Farbwerke, die die Arzthonorare aus dem Unternehmenstopf finanzierten125. Obgleich das Gehalt der Fabrikärzte also in der Regel zu zwei Dritteln von den A rbeitern selbst aufgebracht wurde, war es nicht ihre Aufgabe, sich als Sachwalter von Belegschaftsinteressen zu verstehen. Das kam schon in ihrer A mtsbezeich nung zum A usdruck: sie hießen nicht etwa, wie aufgrund des Besoldungs modus zu erwarten gewesen wäre, »Kassenärzte« oder gar »A rbeiterärzte«, sondern »Fabrik«- oder »1 Kittenärzte«. Häufig wurden sie vom Fabrikanten ausgewählt und eingestellt, und nicht selten waren enge persönliche Bezie hungen zur Unternehmensspitze vorhanden. So stammten beispielsweise die beiden langjährigen Fabrikärzte der Ravensberger Spinnerei und der Mechanischen Weberei in Bielefeld, Bertelsmann und Tiemann, aus altein gesessenen, angesehenen Kaufmannsfamilien, und ihre Verwandten saßen in den A ufsichtsräten und Vorständen jener Firmen, deren A rbeiter sie kurierten126. Daß angesichts solcher Verflechtungen von einem unabhängigen Status des Fabrikarztes kaum die Rede sein konnte, liegt auf der Hand. Mit großem Bedauern nahm der schweizerische A rzt und Fabrikinspektor Schuler die »Rücksichten und Schwierigkeiten« zur Kenntnis, die die Fabrikärzte daran hinderten, ihre »Erfahrungen über Gefahren und sanitärischeÜbclstände, welche den betreffenden Betrieben anhaften, zu publiciren und so auch weitere Kreise zur Beobachtung anzuregen«127. A uch der Arbeitsmediziner Ludwig Hirt begegnete den Fabrikärzten mit großer Skepsis, weil er ihnen 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
kein objektives Urteil zutraute. Die als hygienische Präventivmaßnahme geforderte regelmäßige Untersuchung aller Fabrikarbeiter wollte er keines falls vom Fabrikarzt durchführen lassen, sondern von einem Medizinalbe amten128. Soziale Konflikte zwischen A rbeitern und Fabrikärzten waren folglich so gut wie vorprogrammiert, Klagen über unbotmäßiges Verhalten der jeweils anderen Partei an der Tagesordnung. Offensichtlich ließen viele Fabrikärzte ihre proletarischen Patienten deutlich spüren, daß sie einer anderen, minder wertvollen sozialen Klasse angehörten. Umgekehrt erwarteten sie ein re spektvolles, ja demütiges Verhalten der Arbeiter, die für die ihnen erwiesene Gnade einer medizinischen Betreuung dankbar zu sein hatten. Das bei manchen Arbeitern vorhandene Selbstbewußtsein, mit ihrem Kassenbeitrag für die ärztliche Dienstleistung bezahlt zu haben und diese auch einklagen zu können, rief bei nicht wenigen Fabrikärzten offene Empörung hervor. So ärgerte sich der Hörder Hüttenarzt Marten über die Unverschämtheit der Arbeiter, die ihn wegen jeder Kleinigkeit konsultierten129, und auch der seine Erlebnisse in Rübenzuckerfabriken zu Papier bringende Dr. Kuntz empfand die »Belästigungen« der Arbeiter als äußerst »ungebührlich«: »Es ist eine bekannte, von allen durch Arbeiter-Krankenkassen besoldete Ärzte in Erfahrung gebrachte Thatsache, daß für den doch immerhin geringen Beitrag, den der A rbeiter zahlt, derselbe sehr oft unverständige Prätensionen erhebt und sich nicht genug berücksichtigt glaubt, wenn er gerade so behandelt wird wie Andere, die eine höhere sociale Stellung einnehmen als er. Ernst und Energie Seitens des Arztes verträgt er nicht; er will subtiler behandelt sein als sein Herr selbst, und verlangt, weil er ja bezahlt, A rznei auf Arznei.«130
Was Dr. Kuntz hier als »Ernst und Energie« umschrieb, kam bei den Arbeitern offenbar als Arroganz und Schroffheit an. Zuweilen spitzten sich die Konflikte zwischen A rbeitern und Fabrikärzten so zu, daß sie in Form schriftlicher Beschwerden vor den Richterstuhl des Kassenvorstandes ge bracht wurden. Ein solcher Fall ereignete sich Anfang der 1860er Jahre beim HBHV, als sich ein A rbeiter beim Kassenvorstand über das Benehmen des Hüttenarztes Dr. Fleischhauer beschwerte. Nachdem er die A ngelegenheit geprüft hatte, wandte sich der Vorsitzende schriftlich an den beschuldigten Arzt, der seinerseits das unehrerbietige Verhalten des A rbeiters kritisiert hatte. Offensichtlich war dieser Konflikt nicht der erste seiner Art, denn der Kassenvorsitzende nahm »wiederholt Veranlassung, Ihnen auf das Dringendste zu empfehlen, in Ihrem Verkehre mit den Arbeitern unseres Vereins sich eines durchaus leidenschaftslosen und ruhigen Auftretens zu befleißigen und da, wo Sic Ursache zu haben glauben, sich über das Benehmen eines Patienten beklagen zu müssen, Ihre Beschwerde direkt bei mir einzureichen, da nur auf diese Weise Conflicte zu vermeiden sind, welche sonst leicht zu sehr unangenehmen Consequenzen führen können«131.
Kam dem Kassenvorstand hier die Rolle eines Schlichters zu, der den Arzt in seine Schranken wies, so sah sich letzterer auch in seiner »normalen« Berufsausübung unter Druck »von oben« gesetzt. Grob gesagt gaben die 215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Ärzte die Kontrolle, die sie seitens der Kassenverwaltung erfuhren, nur nach unten weiter. Die maßgeblichen Richtlinien ihrer Tätigkeit waren nicht von ihnen selbst entworfen worden, sondern stammten aus der Feder der Kas senvorstände. Kassenstatuten und »Dienst-Instruktionen« definierten den Handlungsspielraum der Fabrikärzte und engten ihre professionelle A uto nomie ζ. Β. in der Therapie von Krankheiten erheblich ein. Oberstes Leit motiv des Kassenvorstandes aber war es, die Ausgaben klein zu halten -nur unter dieser Voraussetzung konnten auch die Beiträge, die Unternehmer wie Arbeiter belasteten, auf einem möglichst niedrigen Niveau eingefroren werden. Rigide A nspruchskontrollen und äußerste Sparsamkeit der Lei stungen lagen daher letztendlich im gemeinsamen Interesse von Kassenmit gliedern und Fabrikbesitzern, so daß die Ärzte, wenn sie restriktive Diagno sen und Behandlungen vornahmen, lediglich den allgemeinen Zielvorgaben des Mitgliederkollektivs folgten. Daß es dabei im konkreten Fall zu Kollisionen zwischen Einzel- und Gesamtinteressen kommen mußte, war nicht verwunderlich. Ein krankes Kassenmitglied hatte naturgemäß andere Erwartungen an die Unterstüt zungslcistungen als seine gesunden Kollegen bzw. der im gemeinsamen Interesse aller Mitglieder operierende Kassenvorstand. So fanden sich in den Krankenkassenakten des HBHV eine ganze Reihe von Beschwerdebriefen, in denen A rbeiter gegen Beschränkungen des Krankengeldes protestierten und vor allem den vom Kassenvorsitzenden ernannten Sekretär scharf an griffen. 1855 beklagte sich ein Tagelöhner über das harsche Benehmen des Sekretärs, der ihm »mit Grobheiten« kam, als er seinen Krankenlohn ver langte: »Einzelne Worte teile ich dem Herrn Spezial-Direktor mit: >Sie stehen alle Augenblicke im Krankenregister; wenn Sic künftig wieder krank sind, feiern Sic auf Ihre Kostenbeschreit< sei«. Mit symbolischen Ritualen suchte sie die Krankheit zu »bannen«, ebenso wie auch Drüsen- und Zahnschmerzen »versprochen« wurden: »Bei letzteren mußte ich Wasser in den Mund nehmen. Dreimal und Dreimal in das Waschbecken spucken, dabei die Formel sagen: >Nimm Wasser in den Mund und spei es in den Grund. Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. A men!Königseer< oder einem >Großbrei tenbachen A rzneihändler gekauft hatte«. A ls er später an Gelbsucht er krankte und der A rzt trotz wochenlanger Bemühungen nichts ausrichten konnte, stieß die Familie auf ein Zeitungsinserat, wonach »ein Spezialist Dr. Mahler in Nymwegen (Holland) brieflich Gelbsucht heilte, wenn ihm die Krankheitsgeschichte eingesandt würde«. A uf ihre A nfrage hin erhielt sie nach einigen Tagen ein Päckchen mit Medizin, für das sie 25 Mark bezahlen mußte »für unsere Verhältnisse nach etwa dreimonatlicher Krankheit meines Vaters eine schier uner schwingliche Summe. Doch was tut man nicht, um das höchste menschliche Gut, die Gesund heit wieder zu erringen? Wir mußten uns einen Teil des Betrages zur Einlösung leihen. Die Medizin bestand in Pulver, das zu einem gewissen Quantum täglich zweimal in heißes Bier geschüttet und mit Zucker aber ohne Milch genossen werden mußte. Und die Wirkung? Selbstverständlich null. Ja, im Gegenteil, das Leiden verschlimmerte sich noch. Wir waren einem Charlatan in die Hände gefallen«72.
In diesem Fall hatten die Ärzte recht behalten, die immerfort darauf pochten, daß solche Parallelbehandlungen die Gesundheit ruinierten und daß nur sie allein in der Lage wären, eine Erkrankung fachgerecht und verantwortungsbewußt zu heilen. A llerdings war dieser Monopolanspruch nur bedingt einlösbar und traf außerhalb der Fabriktore auf enge Grenzen. 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Daß sich Selbstmedikation und Geheimmittelkonsum in den A rbeiterfami lien behaupten konnten, lag nicht zuletzt daran, daß der A rzt nicht allen Familienmitgliedern gleichermaßen als A nlaufstelle zur Verfügung stand. Immerhin war nur diejenige Person gegen Krankheitsfolgen versichert, die ein A rbeitsverhältnis in der Fabrik eingegangen war, in der Regel also der Mann und Familienvater. Frauen und Kinder waren in den meisten Fabrik arbeiterkassen von allen Unterstützungen ausgeschlossen: Sic konnten we der die unentgeltliche Hilfe eines A rztes noch kostenlose Heilmittel bean spruchen, von einem Krankengeld, das ja einen Verdienst voraussetzte, ganz zu schweigen. Nur sehr wenige Fabrikkassen hatten ihre Sachleistungen auf alle Familienmitglieder ausgedehnt73. Die Gußstahlfabrik Friedrich Krupps richtete in den 1860er Jahren eine »Familienarztkasse« ein, die den zum Haushalt des Belegschaftsmitglieds gehörenden Frauen, Kindern, Geschwi stern oder Eltern offenstand. Gegen einen geringen Jahresbeitrag konnten die A rbeiter ihre Verwandten in die Kasse einkaufen und ihnen damit im Krankheitsfall die unentgeltliche Behandlung durch einen Fabrikarzt zu gänglich machen. Darüber hinaus bezahlte die Familienarztkasse auch die Hilfe des A rztes bei Früh- oder Fehlgeburten, während normale Geburten mit der Hälfte der Medizinaltaxe berechnet wurden. Medikamente konnten »ohne sofortige Bezahlung« aus der A potheke geholt werden, waren aber nicht generell kostenfrei, sondern wurden später abzüglich eines Rabattes von 30% mit dem Arbeitslohn des Kassenmitglieds verrechnet74. Wenn hier auch Ansätze erkennbar wurden, das Netz der Medikalisierung über die Arbeiter und ihre Familien zu breiten, blieben die Krankenkassen im 19. Jahrhundert doch in erster Linie Versicherungseinrichtungen für die gegen Lohn getauschte Arbeitskraft. Frauen und Kinder hatten in der Regel keinen eigenen Zugang zum medizinischen Experten, so daß sie »sich mit Hausmitteln u. dgl. zu behelfen suchen und sich dadurch Schaden am Leben und Gesundheit zufügen«75. Nur in ganz schwierigen und aussichtslosen Fällen rief man einen Arzt zu Hilfe, der in dieser Situation erst recht machtlos war. A ls Ottilie Baaders Vater, der in der Borsigschen Maschinenfabrik in Berlin arbeitete, nach längerer A bwesenheit heimkehrte, »erschrak er über das Aussehen unserer Mutter und ließ den Arzt kommen. Dieser ging nach der Untersuchung mit ihm heraus und sagte, er wollte etwas verschreiben, und nach zwei Tagen wiederkommen und sehen, ob noch zu helfen wäre. Aber es war zu spät und sie starb dann sehr bald an der galoppierenden Schwindsucht«76. Die Bereitschaft, eine Krankheit als solche zu akzeptieren, war bei den Arbeiterfrauen womöglich noch geringer ausgeprägt als bei ihren Männern. In fast allen A rbeiterautobiographien begegnet uns die Frau als beharrliche, selbstlose, aufopferungsvolle Kämpferin, die die Bedürfnisse der Kinder und des Mannes haushoch über ihre eigenen stellte. Das fing damit an, daß sie bewußt auf ihren Essensanteil verzichtete oder ihn zugunsten der anderen Familienmitglieder einschränkte77, und ging bis zur geflissentlichen Ver288 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
leugnung von Krankheitssymptomen. Der unaufhörliche physische und psychische Druck durch Familien-, Haushalts- und Zuverdienstpflichten setzte ihre Gesundheit immensen Belastungsproben aus. Schwangerschaf ten, Geburten und A btreibungen als besondere, geschlechtsspezifische Ge fahrenmomente kamen hinzu und waren dafür verantwortlich, daß Frauen in der Regel erheblich früher starben als Männer78. Zugleich stand den Frauen keine »Krankenrolle« zur Verfügung, in der sie zumindest zeitweilig von den Strapazen des A lltags hätten ausruhen und neue Kräfte sammeln können. Während die Männer als Mitglieder einer Krankenkasse die Chance hatten, sich in das Regelsystem krankheitsdefnierender und -bewältigender Instanzen einzupassen, mußten ihre Frauen einen solchen Schritt möglichst lange hinauszögern und vermeiden. Wenn sie ihre Haus-, Heim- und Fami lienarbeit nicht mehr verrichten konnten, war diese Lücke kaum zu füllen. Lag der Mann dagegen krank, fehlte seine A rbeitskraft nur in der Fabrik. Zwar geriet die Haushaltsführung in einer solchen Situation noch mehr zu einer Ökonomie des Mangels, weil das Krankengeld lediglich die »noth wendigsten Bedürfnisse« abdeckte. Trotzdem war der Mangel nicht annä hernd so spürbar wie im umgekehrten Fall, wenn die Frau ausfiel und ihrer normalen Arbeit nicht mehr nachgehen konnte. Das Essen blieb ungekocht, die Kinder unversorgt, die Wäsche ungewaschen, Hauswesen und Familien leben verkamen in kurzer Zeit. A uch das nicht unbeträchtliche finanzielle Einkommen, das die Arbeiterfrauen durch »eine kleine Oeconomie«, Heim arbeit, Untervermietungen oder außerhäusliche bezahlte Tätigkeiten wie Putzen, Waschen oder Plätten verdienten79, fiel fort. Übernahm die Arbei terfrau bei ihrem kranken Mann zusätzlich zu ihren sonstigen A ufgaben noch die Rolle der Krankenpflegerin, so konnte sie selbst eine solche Dienst leistung nicht erwarten, da der Mann außer Haus arbeitete. Aus all diesen Gründen dauerte es gemeinhin sehr lange, bis Arbeiterfrau en aufgaben und sich und ihren A ngehörigen eingestanden, daß sie krank und leistungsunfähig waren. Moritz Brommes Mutter, die das Familienein kommen dadurch aufbesserte, daß sie Schlafgänger hielt, war »von je her . . . kränklich gewesen und litt fast täglich an Magenkrämpfen, so daß ihre Nahrungsaufnahme äußerst gering war«. Trotzdem war sie unermüd lich auf den Beinen, versorgte und bekochte die »Kostgänger« in der engen Wohnung, führte ihren eigenen Haushalt und pflegte Mann und Kinder bei ungezählten Krankheiten gesund. A ls ihre dreijährige Tochter an Scharlach erkrankte und jede Nahrungsaufnahme verweigerte, hielt sie das Kind mit Hilfe künstlicher Ernährung am Leben. Über neun Monate lang träufelte sie mehrmals täglich Wein, Fleischbrühe oder Milch auf einen Lappen und drückte ihn dann dem Mädchen in den Mund. Irgendein Kind war fast immer krank, so daß die Mutter kaum jemals zum Atemholen kam. Für ihre eigene Krankheit blieb da keine Zeit übrig, und die Kinder merkten gar nicht, wie schlecht es der Mutter oft ging, Sie kam offenbar auch nicht auf den Gedanken, für sich selbst einen A rzt rufen zu lassen, der ihr - was sie 289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
wohl wußte - ohnehin nicht hätte helfen können. A ls sie dann schließlich »krankheitshalber das Bett aufsuchen« mußte, konnte sie es »nur als Leiche wieder verlassen« - innerhalb weniger Wochen starb sie an »galoppieren der Schwindsucht«80. Diese nicht untypische Lebens- und Leidensgeschichte81 illustriert die Schwierigkeiten und Barrieren, die dafür verantwortlich waren, daß die Krankheitsschwelle von A rbeiterfrauen enorm hoch angesetzt war. Ver heiratete A rbeiter82, aber auch ihre ledigen Kollegen, die noch im elterli chen Haushalt wohnten, befanden sich demgegenüber in einer »double bind«-Situation: einerseits wurden sie in der Fabrik mit völlig neuartigen Erwartungen an ihr Gesundheitsverhalten konfrontiert, sie erlebten die Vor- und Nachteile ärztlicher Kontrolle und Hilfe, sie mußten sich daran gewöhnen, Krankheit als Risikofall bewußt einzukalkulieren und sich durch kollektives Sparen gegen die Folgen abzusichern. A ls Belohnung dieser planvollen Vorsorge durften sie eine Gesundheitsstörung als solche bezeichnen, sachliche und finanzielle Unterstützung beanspruchen und »krank feiern«. A uf der anderen Seite stand die Familie, die - abgesehen von wenigen A usnahmen - nicht in die medizinische Infrastruktur der Krankenkassen einbezogen war und in der überlieferte Normen und Vor stellungen über die Bewältigung von Krankheit fest verankert waren. Sachliche Unterstützung durch Nachbarn und Verwandte innerhalb eines dichten, auf gemeinsamer Erfahrung beruhenden Kommunikations- und Selbstmedikationsnetzes ersetzte die isolierende Dienstleistung des Arztes, und die symbolische Zeichenwelt der naturverbundenen Krankheitsspra che trat an die Stelle rational-verordneter Verhaltensreglements. Zwar be mühten sich Mediziner durchaus darum, den »abergläubischen« und »ge sundheitsschädlichen« Krankheitsauffassungen den Boden zu entziehen und die Dominanz professioneller Lehrmeinungen auch in den Familien der Arbeiter zu institutionalisieren. So hielten Ärzte im Leipziger Gewerbli chen Bildungsverein gesundheitspraktische Vorträge, die ausschließlich »für die Frauen und Jungfrauen der Vereinsmitglieder« bestimmt waren83; sie beteiligten sich an der A bfassung von Haushaltslehrbüchern für A rbei terfrauen und steuerten »Rathschläge« zur gesunden Ernährung bei84, und sie veröffentlichten populäre Gesundheitsratgeber, die sich speziell an die Frauen der »ärmeren und arbeitenden Volksklassen« wandten85. A ll diese Versuche, mittels Belehrungen und Ermahnungen auf die A rbeiterfrauen und ihren »Gesundheitscode« einzuwirken, hatten allerdings solange nur eine sehr geringe Reichweite, als den Familienmitgliedern der Arbeiter der unmittelbare Kontakt mit der offiziellen, »rationalen« Medizin faktisch verwehrt war. Weder das Hilfskassengesetz von 1876 noch das 1883 erlas sene Krankenversicherungsgesetz änderten etwas an diesem Zustand: Sie räumten den einzelnen Kassen lediglich das Recht ein, von sich aus ihre Leistungen auch auf die Familienangehörigen der versicherten A rbeiter auszudehnen. Dieses A ngebot wurde aber nur von einer Minderzahl der 290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Kassen wahrgenommen86, so daß der Medikalisicrung der A rbeiterfamilien in dieser Hinsicht enge Grenzen gesetzt waren. Der traditionale Rückhalt laien- und parallelmedizinischer Praktiken in den Familien vieler Industriearbeiter begünstigte auch die Ausbildung na turheilkundlicher Orientierungen, die sich bewußt von der »Medizinheil kunde« absetzten. 1882 berichtete der Düsseldorfer Regierungs- und Medi zinalrat Beyer, daß viele Arbeiter (und Kleinbürger) sogenannten homöopa thischen Vereinen angehörten. Die Mitglieder dieser Vereine sollten sich »in Krankheitsfällen unter Anwendung der homöopathischen Heilmethode ge genseitig helfen und unterstützen sowie zur Verbreitung der Homöopathie nach Kräften beitragen. Zu dem Zweck werden Niederlagen homöopathi scher Arzneien und Schriften errichtet, welche den Mitgliedern zur Verf gung stehen und welche einem Verwalter unterstellt sind, welcher auch, wenn es gewünscht wird, die Kranken besucht und die Arzneien bezeich net« 87 . Trotz beispielloser Verleumdungs- und Repressionskampagnen sei tens des Staates und der »Schulmedizin«88 gewannen homöopathische und andere von den »rationellen« Ärzten nicht gerade hofierte Heilmethoden (Kneipp-Kuren, Magnetismus etc.) unter den Arbeitern eine große Anhän gerschaft89. Die Skepsis vieler A rbeiter gegenüber einer medizinisch-ärztlichen Ver sorgung, die ihnen als »Patienten« jedes Mitspracherecht verweigerte und sie von der A utorität eines Experten abhängig machte, äußerte sich auch darin, daß sie ihre Krankheit weit lieber in der Familie auskurierten als im Krankenhaus. In den A rbeiterautobiographien finden sich immer wieder Hinweise auf die tiefe A bneigung gegen diese Einrichtung des öffentlichen Armen- und Gesundheitswesens: A delheid Popps Vater, der an Krebs er krankt war, wehrte sich mit aller Kraft gegen seine Einweisung ins Hospital. Auch ihre Mutter hegte einen großen Widerwillen gegen das Krankenhaus, weshalb die Tochter jeden Pfennig zurücklegte, um die Mutter »im Falle der Erkrankung vor dem Krankenhaus zu behüten«. Sic selbst hatte allerdings nur gute Erfahrungen gemacht, als sie als 14jährige nach mehrfachen Ohn machtsanfällen und auf eigenen Wunsch in eine psychiatrische Klinik einge liefert wurde: »Es war ja, so paradox es klingen mag, die beste Zeit, die ich bis dahin verlebt hatte. A lle Menschen waren gut gegen mich. Die Ärzte, die Pflegerinnen und auch die Patienten. Ich bekam einigemale im Tag gute Nahrung, selbst gebratenes Fleisch und Kompott, das ich vorher nicht gekannt hatte, erhielt ich öfter. Ich hatte für mich allein ein Bett und immer reine Wäsche.«90
Die Krankenkassen respektierten die Abneigung ihrer Mitglieder gegen einen Krankenhausaufenthalt nicht zuletzt aus Kostengründen91 und griffen gern auf die krankenpflegerischen Leistungen der Familie, d.h. der A rbei terfrauen zurück. Bei Krupp gehörten alle verheirateten A rbeiter, »falls sie nicht ausdrücklich die Verpflegung in einem Krankenhaus wünschen«, von vornherein in die Abteilung, »welche in Erkrankungsfällen Pflege bei ihren 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Familien« fand. Das gleiche galt für ledige A rbeiter, »welche bei ihren nächsten A ngehörigen wohnen«. A lle übrigen Kassenmitglieder wurden, wenn sie erkrankten, »in einem der Krankenhäuser verpflegt«92. Ähnliche Bestimmungen fanden sich in fast allen Krankenkassen, gleichgültig ob sie für Fabrikarbeiter oder Handwerksgesellen konzipiert waren. Nur bei hoch gradig ansteckenden Krankheiten konnte der Arzt auch verheiratete A rbei ter ins Krankenhaus einweisen. Insgesamt blieb die Zahl der Krankenhaus patienten im Vergleich zur Gesamtbelegschaft eines Unternehmens jedoch eher gering: Von 100 A rbeitern der Kruppschen Gußstahlfabrik suchten zwischen 1867 und 1874 etwa 11 das fabrikeigene Krankenhaus auf93. Die Arbeiter und A rbeiterinnen der Bielefelder Spinnerei Vorwärts schlossen noch weit seltener Bekanntschaft mit dem örtlichen Hospital: In den 1870er Jahren, als die Fabrik durchschnittlich 670 Personen beschäftigte, wurden pro Jahr zwischen 5 (1880) und 12 (1875) A rbeiter im Krankenhaus ver pflegt, d. h. nie mehr als 2% der Belegschaft94. In ihrer überwiegenden Mehrzahl kurierten die Arbeiter und A rbeiterin nen ihre Krankheiten folglich zu Hause aus. A uch unter den Bedingungen der Industrialisierung, die die Familie als Einheit von Arbeit und Leben, von Produktion und Reproduktion aufsprengte, behielt sie demnach ihre fürsor gerischen Funktionen. Krankheit wurde noch nicht ausgelagert, aus dem Alltagsleben wegrationalisiert95, wenngleich die psychischen, ökonomi schen und sozialen Kosten eine solche Ausgrenzung nahegelegt hätten. Die Wohnungen waren in der Regel schon unter normalen Umständen eng und überbelegt, und jedes vorhandene Bett teilten sich zwei bis drei Personen96. Ein Kranker, der tage-, wochen- oder auch monatelang Bett und Zimmer nicht verlassen konnte, schränkte den Bewegungsspielraum der übrigen Familienangehörigen oder Schlafgänger zusätzlich ein, okkupierte Raum, der sonst für mehrere gereicht hätte und produzierte nervliche Spannungen, die für alle Beteiligten nur schwer auszuhalten waren. Trotzdem wurde das Angebot eines Krankenhausaufenthalts nur selten akzeptiert, weit seltener zumindest als die übrigen Kassenleistungen, die die Familienfunktionen lediglich ergänzten, nicht aber ersetzten. Erst das 20. Jahrhundert erlebte den Durchbruch des Krankenhauses als »normalem« Ort des Leidens und Sterbens und den Triumph der Medikalisierungsbewegung, die die Familie zugunsten professioneller Instanzen der Krankheitsdefinition und -therapie entmachtete. In den Krankenkassen unseres Untersuchungszeitraums deutete sich diese Entwicklung bereits im Detail an, hatte aber noch mit starken Gegenkräften zu kämpfen. Einerseits schufen die Kassen für einen wachsenden Teil städti scher und ländlicher Unterschichten erstmalig die Bedingungen, unter de nen Krankheit als bewußte Verhaltensmöglichkeit zugelassen werden konn te. Sie gaben relativ klare, wenn auch nicht immer einheitliche Definitionen vor, was unter einer »Krankheit« zu verstehen sei und stellten Einrichtungen bereit, die in einem solchen Fall in Aktion traten und die Krankheit »bearbei292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
teten«. Zugleich erlaubten sie den Kranken, sich für eine gewisse Zeit, zumeist zwischen zwei und sechs Monaten97, von der Berufsarbeit zurück zuziehen und ihre Krankheit auszukurieren. Zwar mußten sie dafür emp findliche Lohneinbußen in Kauf nehmen und sich mit einem Bruchteil ihres normalen Verdienstes zufriedengeben. Doch war selbst ein niedriges Kran kengeld besser als gar keines, bewahrte es die Familie doch zumindest vor dem Verhungern oder der Armenpflege. A uch die Sachleistungen der Kran kenkassen, die unentgeltliche ärztliche Hilfe, die kostenlosen Medikamente und Heilmittel, trugen erheblich dazu bei, Krankheit im Bewußtsein der Betroffenen ihres dramatischen Katastrophencharakters zu entkleiden, sie zu entmystifizieren und den Umgang mit ihr zu versachlichen. Offensichtlich gewöhnten sich die Fabrikarbeiter relativ rasch an die Verhaltensangebote, die ihnen ihr Status als Kassenmitglieder offerierte. Die Tatsache, daß sie regelmäßige Vorleistungen in Form von Beiträgen er brachten, gab ihnen das Gefühl, einen rechtmäßigen A nspruch auf die Kassenleistungen erheben zu können. Daß auch die Unternehmer Beiträge entrichteten, wurde als normal empfunden, zumal sie dazu ja auch vom Gesetzgeber verpflichtet waren. Von überschäumender Dankbarkeit war selbst in den oft sehr devot formulierten Bittgesuchen der HBHV-A rbeiter nichts zu spüren, vielmehr überwog eine Haltung, wonach sich die Arbeiter in ihren Unterstützungsansprüchen sachlich und moralisch vollauf legiti miert fühlten. Im Umgang mit den Krankenkassen lernten die A rbeiter aber auch, Krankheit als Attribut des Arbeitsprozesses wahrzunehmen. Wenn Krank heit innerhalb des Beschäftigungsverhältnisses therapeutisch und finanziell aufgefangen wurde, lag es nahe, sie auch unmittelbar mit der täglichen Fabrikarbeit zu verknüpfen, d.h. die Ursachen und Voraussetzungen im Arbeitsprozeß selbst zu suchen. Eine solche Interpretation drängte sich vor allem bei sichtbaren Gesundheitsschäden auf, die Arbeiter infolge von Ma schinen- oder sonstigen A rbeitsunfällen erlitten. Quetschungen, Verbren nungen, Verstauchungen und andere äußere Verletzungen standen - vor allem in der Metallindustrie - in der Krankheitsstatistik an oberster Stelle: beim HBHV z.B. entfiel in den 1850er Jahren immerhin ein Drittel aller Krankheitsfälle auf diese zumeist mit einer längeren A rbeitsunfähigkeit verbundenen Schädigungen98. Hier lagen die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Krankheit offen zutage, offener zumindest als bei den »schlei chenden« Berufskrankheiten, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg ankündigten und im Bewußtsein der A rbeiter nicht unbedingt auf ihre berufliche Tätigkeit zurückzuführen waren. So antworteten A rbeiter einer Jacquardweberei dem Schweizer Arzt und Fabrikinspektor Schuler auf seine Frage nach speziellen Krankheitssymptomen, »bestimmte Bleikrankheiten kenne man nicht, >aber man sei stets halb krankskrophulösen Gesindels< wurde« 104 . Seinen Berufskollegen Julius Bruhns, der schon als Kind A nfang der 1870er Jahre am Tabaktisch stand, hatten »ungenügende Nahrung, feuchte, ungesunde Wohnung und mangelnde Bewegung in frischer Luft . . . skrofulös gemacht«, und Josef Peukert, dessen Mutter um die Mitte des 19. Jahrhunderts als hausgewerbliche Glas schlcifcrin arbeitete, erkannte sehr genau die Beziehung zwischen ihrem frühen Tuberkulose-Tod und den im höchsten Grade gesundheitsgefährli chen Arbeitsbedingungen in der Glasindustrie105. Trotzdem führten solche Erfahrungen, zumal bei politisch ungeschulten Arbeitern, in der Regel nicht dazu, Krankheit als politischen Konfliktstoff zu begreifen. Zu ausgeprägt und verwurzelt war die traditionale Mentalität, Krankheit als unabwendbares Schicksal zu akzeptieren. A ußerdem nahm Gesundheit im Lebenszusammenhang sozialer Unterschichten einen eher nachgeordneten Stellenwert ein. Solange der normale A lltag von einer Ökonomie des Mangels beherrscht wurde, wäre die Forderung nach ge sundheitsgemäßen Lebens- und Arbeitsverhältnissen geradezu luxuriös ge wesen. Bevor nicht die elementaren Lebensbedürfnisse- Wohnung, Essen und Trinken, Kleidung, Feuerung - gedeckt waren, konnte man sich Ge sundheit, so paradox es klingen mag, gar nicht leisten. Schutzvorkehrungen am A rbeitsplatz hätten das Arbeitstempo nur verlangsamt, den Verdienst 295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
geschmälert und wurden daher zumeist abgelehnt. Eine gründliche und regelmäßige Körperpflege kostete viel Zeit und Geld, und gesündere Woh nungen waren nicht bezahlbar, so daß die Vorschläge wohlmeinender Ärzte und Sozialpolitiker, die extrem gesundheitsschädlichen Kellerwohnungen zu räumen, bei den Bewohnern auf erbitterten Widerstand stoßen mußten. »Politisierung von Krankheit« konnte für A rbeiter im 19. Jahrhundert daher kaum bedeuten, die unmittelbare, sinnlich erfahrbare Krankheitsbe troffenheit zum Ausgangspunkt politischer Forderungen zu machen, die auf grundlegende Veränderungen der industriekapitalistischen Produktions und Reproduktionsverhältnisse abzielten. Gleiche Überlebenschancen konn ten erst dann gefordert werden, wenn das tägliche Leben eine Chance hatte, gemeistert zu werden. Den Krankenkassen kam hierbei eine nicht zu unter schätzende Bedeutung zu: so unvollkommen ihre Unterstützungsleistungen auch waren, vermochten sie existentielle Krisensituationen doch zumindest zu entschärfen. »Politisiert« wurde somit die Bearbeitung von Krankheits folgen und -risiken: als Krankenkassenmitglied konnte man höhere Versor gungsleistungen einklagen, restriktivere oder auch liberalere Kriterien für die Bemessung von Unterstützungen empfehlen, das Verhalten des Arztes anprangern oder die Verwaltungspraxis des Vorstandes kritisieren. Einen anderen Weg wählten jene A rbeiter, die als Kompensation für ihr in den Kassenstatistiken dokumentiertes Krankheitsrisiko Lohnerhöhungen for derten106. In jedem Fall stand Krankheit als kollektives Problem im Mittel punkt, kollektiv in seiner konkreten Erscheinung wie auch in seiner Bewäl tigung.
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III. Krankenkassen und politisches Organisationspotential
1. »Zwangskassen« oder das Ende historischer Mythenbildung Wenn Anfang der 1880er Jahre ungefähr die Hälfte der gewerblichen Arbei ter Preußens gegen Krankheit versichert war1, erfaßten die Krankenkassen immerhin über eine Million Menschen. Ob alt oder jung, verheiratet oder ledig, gelernt oder ungelernt, organisiert oder unorganisiert - die Mitglied schaft in einer Krankenkasse konstituierte für eine wachsende Zahl von Arbeitern eine gemeinsam erfahrene Bedingung ihrer Lohnarbeiterexistenz. Hier wurden sie nicht nur mit neuen Formen sozialer Sicherung und Krank heitsbewältigung konfrontiert, die ihnen ein hohes Maß an Vorsorge, Pla nung und Rationalität abverlangten. Hier erlebten sie auch die Möglichkei ten und Grenzen einer kollektiven Organisation gemeinsamer Interessen. Im Gegensatz zu Gewerkschaften oder politischen Vereinen und Parteien, die im 19. Jahrhundert nur einen Bruchteil der gewerblichen A rbeiterschaft zur Mitarbeit bewegen konnten2, erreichten die Krankenkassen einen weit aus breiteren A dressatenkreis. Trotz der von oben oktroyierten Versichc rungspflicht waren die Krankenkassen keinesfalls nur behördlich gesteuerte und überwachte Zwangsinstitutionen, sondern vermittelten ihren Mitglie dern zugleich wichtige Erfahrungen mit formalen Organisationen, ökono misch-sozialer Interessenvertretung und Selbstverwaltung. Schon der Rückblick auf die Geschichte der Gesellenbrüderschaften im 18. und 19. Jahrhundert hat deutlich gemacht, wie komplex und eng verwo ben die Funktionen dieser Verbände waren. Neben ihrer unmittelbaren Aufgabe als Unterstützungsvereine kranker Gesellen wirkten sie als »clca ring«-Stcllcn des lokalen und überlokalen A rbeitsmarktes, als Zentren so zialer Kommunikation und Geselligkeit3 sowie als Kristallisationspunkte für politische A ktionen und Proteste. Diesen »multifunktionalen« Charakter bewahrten sie ungeachtet aller staatlichen und kommunalen A bwehrmaß nahmen, die sich unablässig bemühten, die Gesellenverbindungen auf ihren sozialen Unterstützungszweck zurechtzustutzen und ihnen alle über die Versorgung kranker und Beerdigung verstorbener Mitglieder hinausgehen den Aktivitäten zu untersagen. Auch nach der gesetzlichen Regelung des Kassenwesens in den 1840er Jahren durften die Gesellen in regelmäßigen Abständen zusammenkommen 297
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und ihre »A uflage« abhalten. A uf diesen Versammlungen wurden jedoch nicht nur die Beiträge abgeführt und Bier getrunken, sondern auch Erfahrun gen über Meister und A rbeitsverhältnisse ausgetauscht, Unzufri.edenheit artikuliert und gemeinsame A ktionen geplant. Gerade zu einer Zeit, als Koalitionen der A rbeiter und Gesellen verboten waren und jede politische Regung argwöhnisch ausgespäht wurde, bildeten die Krankenkassen einen wichtigen Organisationsrückhalt. Immer wieder liefen Handwerksmeister und Innungsvorstände Sturm gegen die vom Gesetzgeber erlaubten Ver sammlungen der Kassenmitglieder, in denen sie Keime des A ufruhrs und Widerstandes vermuteten. 1835 beschwerten sich Bielefelder Tischlermeister beim Magistrat über die zahllosen »Mißbräuche« in der Gesellenkasse. Sie monierten vor allem, »daß den Gesellen zu viel Gelegenheit zu Vereinigungen und dadurch Veranlassung gegeben werde, sich gegen die Meister zu verbin den, und mancherlei Widerrechtliches gegen diese durchzusetzen«4. Solche » Mißbräuche« häuften sich in der Revolutionszeit und dann wieder in den 1860er und 1870erJahren, als sich die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung zu konstituieren begann. Diesen Zusammenhang hatte auch die preußische Regierung im A uge, als sie 1876 im Hilfskassengesetz verankerte, daß »zu anderen Zwecken« als denen der finanziellen und sachli chen Krankenunterstützung »weder Beiträge von den Mitgliedern erhoben werden . . . noch Verwendungen aus dem Vermögen der Kasse erfolgen« durften5. Jetzt waren es nicht mehr die »geselligen Ergötzlichkeiten«, die Feste und Trinkgelage, die die Regierung beunruhigten, sondern die Streiks und politischen » Umtriebe«, die in den Kassen einen organisatorischen Kern zu finden drohten. Der Obrigkeit lag an erster Stelle daran, »Fürsorge zu treffen, daß die Kassen nicht fremdartigen, ihrer A ufgabe fern liegenden Interessen dienstbar gemacht und daß nicht die vom Staat ihnen verliehenen Rechte geradezu gegen die Interessen des Staats verwerthet werden können.«6 Hier trafen sich die Interessen der Regierung mit denen der A rbeitgeber, denen die weitreichende A utonomie der Gesellen und Fabrikarbeiter in den Ortskassen schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. 1868 beschwerte sich ein Düsseldorfer Buchdruckereibesitzer, daß die dortigen Buchdrucker gesellen ihren Streik, mit dem sie »höheren Lohn bei niedriger A rbeitszeit« erzielen wollten, aus ihrer Krankenkasse finanzierten. Da viele Kassen um herziehenden arbeitslosen Gesellen in alter Brüderschaftstradition eine Rei seunterstützung zahlten, konnten die streikenden Düsseldorfer Gesellen »die ihnen offerirte A rbeit zum üblichen Lohn von der Hand weisen« und statt dessen »täglich 2 bis 3 Orte besuchen«, wo sie, »da fast an jedem Orte Hülfskassen bestehen«, in den Genuß einer Reisebeihilfe kamen. Solche Eigenmächtigkeiten, »wohl organisirt und mit aller Malice ausgeführt«, erregten naturgemäß den Zorn der Meister und Unternehmer, die in diesem Fall durch ihre Kassenbeiträge sogar »gezwungen sind, zu derartigen Striken, theilweise die Mittel zu gewähren«7. 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Unruhe und A ufruhr witterten die Arbeitgeber auch in den regelmäßig anberaumten Mitgliederversammlungen der Krankenkassen, 1873 zogen dreißig Bielefelder Maler- und Glasermeister gegen die »A uflagen« ihrer Gesellen zu Felde: »Die Auflagen sind von jeher und insbesondere in jetziger Zeit die Brutstätte aller thcils von jugendlichem Unverstande ersonnenen, theils durch A ufwiegelei von außen geforderten ein seitigen Bestrebungen, an deren Folgen das Handwerk jetzt so sehr leidet. Jede Gesellenkranken kasse mit Auflage ist gewissermaßen eine Filiale der socialdemokratischen Vereine. Es findet sich dort stets ein alter Stamm verkommener Geschöpfe, welcher nie ausstirbt und in den A uflagen Gelegenheit findet, den neu zuziehenden, ordentlichen, jüngeren Collegen in ihre unbedachten, einseitigen Bestrebungen hineinzuziehen. A lle Ketzereien und Aufwiegeleien werden von dort aus eingeleitet, und solange die Auflagen bestehen und jeder Gesell gezwungen ist, dort seine Zahlungen zu leisten, ist es dem Meister unmöglich, Einfluß auf seine Gesellen auszuüben, und den noch unverdorbenen jungen Zuwachs zu besseren Grundsätzen und besserer Gesellschaft heranzubilden.«8
Die Meister ersuchten den Magistrat, die Statuten der Gesellenkasse so abzuändern, daß die Auflagen fortan überflüssig wurden. Die Kassenbeiträ ge sollten statt dessen von einem auf Kosten der Meister angestellten Kassen boten eingesammelt werden. Wenn die Handwerksmeister von sich aus Geld bereitstellen wollten, um die Gesellenversammlungen zu umgehen, mußten sie ihnen tatsächlich äu ßerst gefährlich erscheinen. Schließlich hatten sie sich jahrelang erbittert dagegen gewehrt, die gesetzlich vorgeschriebenen A rbeitgeberbeiträge zu den Krankenkassen zu entrichten, und alle möglichen Tricks und Finessen angewandt, um dieser finanziellen Belastung aus dem Wege zu gehen9. Den Aufsichtsbehörden dagegen war seit jeher daran gelegen, die Meister für eine Mitarbeit in den Gesellenkassen zu gewinnen, um auf diese Weise eine wirkungsvollere Kontrolle über die weitgehend selbständigen Gesellenver bindungen zu institutionalisieren. Zwar gab es in allen Gesellenkassen tradi tionsgemäß einen Ladenmeister, der die Belange der Meister vertrat und dem formal die Leitung und Repräsentation der Kasse oblag. In den meisten Kassen allerdings wurde der Ladenmeister von den Gesellen gewählt und nicht etwa von der Innung delegiert. Damit war sichergestellt, daß er sich gegenüber den Kassenmitgliedern loyal verhielt und keine Intcrcssenkon flikte provozierte. Die dominierende Figur war durchweg der A ltgeselle, der dem Ladenmeister eigentlich nur zur Seite stehen sollte, in Wirklichkeit aber ungleich stärker in die Kassengeschäfte eingriff. Wenn schon die Position des Ladenmeisters die Selbstverwaltung der Kassen nicht entscheidend relativierte, ging auch von der in den Kassensta tuten verankerten Interventionsbefugnis der Kommunalbehörde keine reale Gefahr aus. Die von den zeitgenössischen Kritikern der Zwangskassen so bekämpfte administrative Kontrolle reduzierte sich in der Regel darauf, daß der Magistrat alljährlich den Rechnungsabschluß der Kassenvorstände ent gegennahm und der Wahl der Vorstandsmitglieder beiwohnte. A nsonsten mischte er sich nur dann ein, wenn die Kassenvertreter selbst darum baten 299 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
und beispielsweise um offizielle Unterstützung nachsuchten, wenn Meister oder Gesellen die Beitragszahlung verweigerten. In solchen Fällen übernah men es die Ortsbehörden, die Säumigen anzumahnen, Strafmandate zu verschicken und die ausstehenden Summen exekutivisch einzuziehen10. Von drangsalierenden Eingriffen und Beschränkungen war wenig zu spü ren, so daß die Gesellenkassen auch in dieser Hinsicht nichts von ihrer Selbständigkeit einbüßten. Wie unrichtig die weithin verbreitete Gleichsetzung der unter behördli cher Aufsicht stehenden lokalen Kassen mit herrschaftlichen Zwangsinstitu tionen11 ist, zeigt sich auch daran, daß die Gesellenkassen noch in den 1870er Jahren erbittert um ihre Unabhängigkeit kämpften und sich allen Versu chen, ihre Autonomie zu begrenzen, standhaft widersetzten. Sic verzichte ten sogar freiwillig auf das Beitragsdrittel ihrer Meister und gaben sich lieber mit geringeren Krankengeldsätzen zufrieden, als den A rbeitgebern eine Partizipation an der Kassenverwaltung einzuräumen. Die Düsseldorfer Schuhmachergesellen »wünschen selbst die angeordnete Beihülfe der Mei ster nicht«, und die Bielefelder Tischlergesellen sprachen sich sogar einstim mig dafür aus, »zu ihren Beiträgen auch noch die 50% der Meister zu zahlen, wenn die Meister sich damit einverstanden erklärten, die Verwaltung der Kasse allein den Gesellen zu überlassen«12. A uch die dortigen Schneiderge scllen lehnten es ab, den Meistern größere Vollmachten zuzubilligen und ihr Recht, den Ladenmeister zu wählen, gegen die finanzielle Beteiligung der Arbeitgeber einzutauschen13. Die Mitglieder der A llgemeinen Gesellen krankenkasse in Bielefeld schließlich zogen ihre Aufforderung, die Meister möchten doch ihrer Beitragspflicht nachkommen, sofort wieder zurück, als ihnen klar wurde, daß sie sich damit auch eine schärfere Überwachung einhandelten14. Wenn diese A bwehrversuche auch oft erfolglos blieben, da die A dmini stration die Wünsche der Meister nach stärkeren Partizipationsrechten un terstützte, verdeutlichten sie doch, daß die lokalen Krankenkassen der Handwerksgesellen beileibe kein befriedetes und entradikalisiertes Instru ment obrigkeitlicher Disziplinierung waren. Die Strukturen und Verkehrs formen der alten, berufsbezogenen Gesellenladen setzten sich in den unter kommunaler A ufsicht reorganisierten Krankenkassen fort15, und selbst in den auf A nregung der Behörden neugegründeten Kassen war das Streben nach Selbstverwaltung und Entscheidungsautonomie nicht zu übersehen. Daß sich darüber hinaus das Interesse der Gesellen nicht nur auf die Abwick lung der Kassengeschäfte konzentrierte, sondern nahtlos in politische Aktio nen überging, war ebenfalls kein Spezifikum der Selbsthilfeorganisationen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sondern läßt sich noch in den 1860er und 1870er Jahren nachweisen. Die Hoffnungen der preußischen Regierung, den politisch explosiven A ssoziationswillen der Gesellen und A rbeiter in den Kassen zu domestizieren und von gefährlicheren Organisationen wegzulei ten, hatten sich damit nicht erfüllt. 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Vor allem der Revolutionsschock von 1848/49 hatte bei den staatlichen Behörden Überlegungen ausgelöst, wie die destruktive Energie der Gesellen und Fabrikarbeiter am besten einzudämmen und umzupolen sei. Die polizei liche Repression der »geheimen Verbindungen« reichte dazu nicht aus; positive Integrationsansätze mußten das entstandene Organisationsvakuum füllen. Die Kassen schienen hier eine wertvolle Ersatzfunktion einnehmen zu können, indem sie an die Stelle der verbotenen Verbände traten und ihre Mitglieder durch eine beaufsichtigte Selbstverwaltung auf konstruktive Zie le verpflichteten. Der Berliner Polizeipräsident von Hinckeldey, der die Unterdrückung der A rbeitervereine mit viel Engagement betrieb, schlug 1855 vor, »daß in jeder Stadt und bei jedem Gewerbe Kassenvereine unter Autorität der Behörden und unter Verwaltung der Innungsvorstände errich tet« würden, und auch der preußische Innenminister von Westphalen wollte die Unterstützungskassen als Korrekturanstalten oppositioneller Gesinnun gen verstanden wissen16. 1857 warnte er gemeinsam mit dem Handelsmini ster von der Heydt davor, durch eine kompromißlose Verbotspraxis »den Trieb zu corporativer Vereinigung in die Verborgenheit zurück zu drängen und seine schädlichen Richtungen der polizeilichen Wahrnehmung zu ent ziehen«. Statt dessen stünde in den lokalen Krankenkassen ein Instrument bereit, die Gesellen und Fabrikarbeiter unter behördlicher A ufsicht zusam menzufassen und ihren »unschädlichen und ungefährlichen Äußerungen des genossenschaftlichen Sinnes« einen »freieren Spielraum« zu gewähren17. Allerdings war dieser »genossenschaftliche Sinn« durchaus nicht immer »ungefährlich«, und die Kassenmitglieder nutzten ihren »Spielraum« oft mals zu nicht unbedingt »unschädlichen« A ktionen gegen Staat und Unter nehmer. Gewiß waren nicht alle lokalen Kassen Keimzellen der proletari schen Klassenbewegung, und es mag nicht wenige Einrichtungen gegeben haben, auf die der Begriff der »Zwangskassen«, jener »A usflüsse polizeili cher Bevormundung und lokaler A bschließung« auch im wörtlichen Sinn zutraf18. Vor allem die Fabrikkassen waren aufgrund der dominanten Stel lung des Unternehmers im Kassenvorstand kaum geeignet, Kristallisations punkte gewerkschaftlicher oder politischer Zusammenschlüsse zu bilden, zumal jede Form »widerständigen« Verhaltens vom Fabrikherrn sofort mit der Entlassung und damit auch mit einem Ausschluß aus der Krankenkasse geahndet werden konnte19. A ndererseits boten sich die berufsbezogenen, lokalen Gesellenkassen mit ihren regelmäßigen Versammlungen und ihrer homogenen Mitgliederstruktur als Sozialisationsinstanzen der A rbeiterbe wegung geradezu an20. Neben den von der Ortsbehörde beaufsichtigten Gesellen- und Fabrik arbeiterkassen existierten jedoch an vielen Orten noch sog. freie Kranken kassen, die weder ihre Statuten von der Regierung genehmigen ließen noch der Kontrolle lokaler Beamter unterstanden. Sie tauchten deshalb auch in den offiziellen Statistiken über das preußische Kassenwesen nicht auf, und ihre Spuren finden sich höchstens in den Polizeiakten - oder in 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
der Presse der frühen A rbeitervereinsbewegung, zu der sie in einer sym biotischen Beziehung standen.
2. »Freie Kassen« in Fachverbänden und A rbeiterbildungsvereinen Als der ehemalige Schriftsetzergehilfe Stephan Born in seinen »Erinnerun gen eines A chtundvierzigers« auf die A nfänge der Berliner A rbeiterbewe gung zu sprechen kam, erwähnte er an erster Stelle die traditionellen, an zünftlerische Vorbilder anknüpfenden Selbsthilfcorganisationen der Hand werksgesellen: »Die Elemente zu einer Arbeiterpartei waren zumeist in den Genossenschaften vorhanden, die in einem und demselben Gewerbe einer Kranken-, Invaliden- und Witwenkassen oder einer Unterstützungskasse für die reisenden >Kollegen< angehörten.«21 Bevor es allerdings diese »A r beiterpartei« gab, entstanden zunächst auf lokaler und nationaler Ebene Berufsvereine, die sich im Kontext der Revolutionszeit um die Neuregelung der A rbeitsverhältnisse, um die Festsetzung höherer Löhne und kürzerer Arbeitszeiten bemühten und zur Bekräftigung ihrer Forderungen Streiks organisierten. A uch diese Vereine entwickelten sich oftmals auf der Grund lage bestehender Gesellenkassen und hielten ihre Versammlungen in den Gesellenherbergen ab, in denen zugleich die Kassenauflagen stattfanden22. Der 1848 gegründete nationale Buchdruckerverein stützte sich in seinen lokalen Mitgliedschaften überwiegend auf bestehende Kassenverbände, in denen nicht nur über die Höhe der Krankenunterstützung debattiert wurde, sondern auch über Lohn- und A rbeitsverhältnisse23. In Hamburg entstand 1849 ein Gewerkverein der Schiffszimmerer, der »aus einem losen Zusam menschluß der vier in Flamburg bestehenden Scbiffszimmererkassen« her vorging24. A uch die Altonaer und Hamburger Zigarrenarbeitervereine ba sierten auf lokalen Krankenkassen, ebenso wie die dortigen Zahlstellen des Bäckerverbandes, dessen organisatorisches Rückgrat die alten Gesellenbrü derschaften und ihre Kasseneinrichtungen bildeten25. In eben diesen Kasseneinrichtungen wurden 1848/49 (und auch vorher) erbitterte Kämpfe ausgetragen. In einer Erklärung an die Frankfurter Bür gerschaft führten die dortigen Bäckergesellen 1848 unter Punkt 3 ihrer Streikforderungen auf, daß sie ihre Auflage »selbst zu erheben [wünschen], und nicht mehr unter der Verwaltung der Meister, denn bei der Mündig keitserklärung des ganzen deutschen Volkes dürfte doch wohl der Bäckerge selle auch nicht mehr unter Vormundschaft stehen«26. Der Wunsch nach autonomen, selbstverwalteten Unterstützungseinrichtungen ohne »Laden meister« durchzog die meisten A useinandersetzungen, die sich zwischen Meistern und Gesellen in der Revolutionsperiode abspielten. In Bremen verlangten die Schuhmachergesellen Einsicht in die Verwaltung der Kran kenkasse, die als Zunfteinrichtung bislang von den Meistern allein verwaltet 302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
wurde. Da sich die Meister den Partizipationsforderungen nicht beugten, gründeten die Gesellen eine eigene Kasse27. Im Sommer 1848 wollten die vereinigten Färbcrgescllen aus Elbcrfeld und Barmen einen Tarifvertrag mit den Färbereibesitzern abschließen, um auf dieser Grundlage einen Unter stützungs- und Pensionsverein zu errichten. Das Statut dieses Vereins sah die unumschränkte Selbstverwaltung der Kasse durch ihre Mitglieder vor, den Unternehmern war lediglich ein Platz im paritätisch besetzten Ehrenrat eingeräumt28. Wenn sich einerseits politische und gewerkschaftliche Vereine das soziale Bezichungsnetz der bestehenden Gesellenladen und -brüderschaften zunutze machten, gingen von den neuen Verbindungen wiederum starke Impulse zu einer Neuordnung und Autonomisierung der Unterstützungseinrichtungen aus. Kranken- und Sterbekassen, zuweilen auch Invaliden- und Witwenkas sen waren für die entstehenden Fach- und Arbeitervereine offensichtlich von großer Bedeutung: einerseits bildeten sie das lokale Organisationsfunda ment der nationalen Verbände, zum andern kamen ihre Unterstützungslei stungen den elementaren Bedürfnissen der Arbeiter entgegen und warben Mitglieder. Der Selbsthilfegedanke setzte sich konkurrenzlos als Leitmotiv durch und begründete ein komplexes A ssoziationswesen. So gab sich bei spielsweise die Zigarrenarbeiter-A ssoziation auf ihrem zweiten Kongreß 1849 ein Statut, in dem es zu Anfang hieß: »Der Zweck der Assoziation ist das moralische und materielle Wohl der vereinigten Arbeiter auf dem geeig netsten Wege durch gegenseitige Unterstützung oder mit vereinter Kraft zu erzielen und zu befördern.« A ls zweckdienliche Mittel betrachtete man neben Lehre und Unterricht die kollektive Versorgung der Mitglieder »bei unverschuldetem Unglück, Krankheit usw.«. In den örtlichen Filialen der nationalen Organisation bestanden dafür eigene Kranken-, Sterbe- und Wanderunterstützungskassen, deren Verwaltung in den Händen der Ver cinsmitgliedcr lag29. Der lokale Unterbau der A ssoziation wurde unter dem mißtrauischen Blick der Polizeibehörden noch gefestigt30. 1850 verabschiedete eine Zigar renarbeiterkonferenz ein neues Statut, das die »gegenseitige Unterstützung unserer Gewerbsgenossen in den Wechselfällen des menschlichen Lebens« als »einzigen Zweck« des Verbandes bezeichnete und die Kassen als »selb ständige Lokaleinrichtungen« fortfuhren ließ31. Diese Strategie erwies sich in der Repressionsperiode als äußerst wirkungsvoll: bevor noch die Gerichte die Liquidierung der bestehenden Lokal- und Regionalvereine anordneten, gaben letztere offiziell ihre Selbstauflösung bekannt - und gingen in den autonomen Kasseneinrichtungen auf32. In den Krankenkassen waren die politisch und/oder gewerkschaftlich engagierten A rbeiter und Handwerksgesellen vor staatlicher Verfolgung relativ sicher, wenngleich die Behörden vielfach versuchten, diese Einrich tungen unter ihre Kontrolle zu bringen. In Berlin z.B. wurde die ehemals unabhängige Zigarrenarbeiterkasse in eine unter Magistratsaufsicht stehen303 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
de Kasse umgewandelt, und das gleiche Schicksal ereilte die Kassen des nationalen Buchdruckerverbandes »Gutenberg«33. A llerdings blieb selbst in den administrativ überwachten »Zwangskassen« die politische Kontinuität der frühen Gewerkschaften gewahrt. So war ζ. Β. der Vorstand der 1854 mit behördlich genehmigten Statuten versehenen Krankenkasse aller Bielefelder Zigarrenarbeiter, in der die Kasse des 1848 gegründeten Zigarrenarbeiter vereins aufgegangen war, fest in der Hand der alten Vereinsgenossen34, so daß die Tradition der 1848er Zeit personell und organisatorisch fortlebte. Der durch den Kassenzwang erweiterte Mitgliederkreis bot den A ktiven zudem ein dankbares Agitationsfeld, und es ist anzunehmen, daß sich die an tradierte Gesellenladen anknüpfenden Zwangskassen in den 1850er und frühen 1860er Jahren vielerorts zu »previous organisations« der niedergehal tenen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung entwickelten35. Obgleich sie lokal begrenzt waren, ermöglichte doch die hohe Mobilität der Gesellen einen überlokalen Zusammenhang, der bei der Entstehung nationaler Ge werkschaften in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre nicht unwichtig war. Einfacher war die Kontaktaufnahme für die autonomen Kassen, die an manchen Orten mehr oder weniger im Verborgenen weiterbestanden36. Sie versahen ihre Mitglieder mit Quittungsbüchern, die sie in anderen Städten als Vereinsgenossen auswiesen37. Damit war erstmals jenes Prinzip der Freizügigkeit und Wechselseitigkeit verwirklicht, das in den 1860er Jahren zum Hauptanliegen der gewerkschaftlich orientierten A rbeiter und Hand werksgesellen werden sollte und das auch von den Behörden - wenngleich aus gänzlich anderen Motiven - zunehmend eingeklagt wurde. Gerade in den Handwerkskassen gab es oftmals sehr lange Aufschubfristen und hohe Eintrittsgelder, die die von Ort zu Ort wandernden Gesellen stark belaste ten. A bsprachen unter den freien Kassen, ihren Mitgliedern diese A uflagen zu erlassen38, waren daher eine großc Erleichterung. Abgesehen von den berufsgenossenschaftlich strukturierten Kassen, die die verbotenen Fachvereine und »A ssoziationen« der 1848er Bewegung überlebten, hatten sich schon vor und während der Revolutionszeit berufs übergreifende Vereine auf lokaler Ebene gebildet, die ebenfalls Krankenkas sen einrichteten39. A uch diese allgemeinen A rbeitervereine, die oft mit der »Arbeiterverbrüderung« verbunden waren40, wurden A nfang der 1850er Jahre polizeilich aufgelöst. Erst als sich die staatliche Repression gegen Ende des Jahrzehnts lockerte, konnten jene Organisationsansätze - unter reger Beteiligung von Beamten, Kaufleuten, Rechtsanwälten und Handwerks meistern, die sich als geistige Ziehväter der Arbeitervereinsbewegung ver standen, - wieder aufgenommen werden. Die meisten der neu errichteten Arbeiterbildungsvereine gliederten sich rasch eine Krankenkasse an, die ausschließlich für Vereinsmitglieder bestimmt war 41 . Der Stuttgarter A r beiterverein beschloß unmittelbar nach seiner Konstituierung, eine Kran kenunterstützungskasse ins Leben zu rufen, die als »ein gutes Bindemittel für unsere Mitglieder« gedacht war 42 . A uch die Bildungsvereine in Biele304 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
feld, Celle, Stettin, Coburg, Danzig, Esslingen, Gotha, Hameln, Landshut, Mannheim, München und Nürnberg verfügten über eigene Krankenkas sen43, die von den Vereinsvorständen vor allem wegen ihrer Werbewirk samkeit geschützt wurden: so berichtete der Esslinger A rbeiterverein, daß viele Mitglieder »nur dem Verein beigetreten sind, um diese Kasse benützen zu können«. Es sei zwar zu bedauern, daß die Leute »die Vereinsabende fast nur besuchen, um den Beitrag zu zahlen«, und daß ihnen das »richtige Verständnis für die jetzige A rbeiterbewegung« noch fehle. Dennoch sei selbst ein solches reduziertes Interesse besser »als gar keine Beteiligung, denn hie und da bleibt doch etwas hängen«44. Was da hängenbleiben sollte, läßt sich aus den Verlautbarungen der Arbei terbildungsvereine unschwer erschließen. Zum einen war - gemäß dem selbstgewählten Bildungs- und Versittlichungsauftrag - eine innere Diszi plinierung der Mitglieder angestrebt, eine Ausrichtung ihres Verhaltens an den Bedingungen einer marktförmig strukturierten Ökonomie und Lebens welt. Indem die A rbeiter bzw. Gesellen für die »Wechselfälle des Lebens« vorsorgten und beizeiten einen Teil ihres Verdienstes für schlechtere Tage zurücklegten, lernten sie, »sich erlaubte Genüsse zu versagen . . . und die Herrschaft über ihren Willen zu erlangen«. Schließlich sei das Leben eines Mannes »kein Spiel«, sondern ein »ernstes Ringen, und nur, wer gelernt hat, seinen unaufhörlichen A nforderungen sich zu unterziehen, kann im Leben einen Preis erringen«45. A ugenblickliche Wünsche, Vergnügungssehnsüch te mußten hinter dieser Langzeitperspektive zurückstehen und »beherrsch bar« werden, wofür Spar- und Krankenkassen geeignete Sozialisationshilfen leisteten. Darüber hinaus waren die Kassen aber auch Lernzirkel für Solidarität und damit eine zentrale Instanz der Binnenhomogenisierung in den Arbeiterver einen. In den Worten des Freiburger Vereinsvorstandes: »Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Gemeinschaft in Zweck und Mittel, das gegen seitige Bedürfen und Helfen lehrt Jeden in dem A ndern sich selbst achten und weckt den Sinn für gemeinnütziges Wirken.« Gerade die »Betheiligung an der Krankenunterstützung« würde das »Herz« der Vereinsmitglieder »zur Mildthätigkeit« anregen und ein kollektives Bewußtsein von »Brüder lichkeit« erzeugen46. Eben diese Brüderlichkeit aber war ein vorrangiges Lernziel für kollektive Aktionen jeder Art. Jenseits dieser symbolischen Funktionen kam den Krankenkassen der Arbeitervereine aber auch eine konkrete existenzsichernde Bedeutung zu, die ihren Mitgliedcrerfolg primär zu erklären vermag. Offensichtlich er schienen vielen A rbeitern und Gesellen die Unterstützungsleistungen der »offiziellen« Orts- oder Fabrikkrankenkassen, denen sie nach dem Gesetz anzugehören verpflichtet waren, nicht ausreichend47. Besonders das Kran kengeld galt als viel zu niedrig. Der Beitritt zu einer »privaten« Krankenkas se konnte hier Abhilfe schaffen, indem man im Krankheitsfall fortan doppelt kassierte. Dafür zahlte man auch gern einen zusätzlichen Beitrag, gewann 305 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
man doch im Gegenzug die Sicherheit, bei einer Erkrankung keine oder nur geringe Einkommenseinbußen zu erleiden. Die Kassen der A rbeiterbil dungsvereine - wie auch die der Fachverbände - ergänzten demnach die Leistungen der obrigkeitlich angeordneten Unterstützungskassen. Erst seit 1869 waren sie als Ersatzeinrichtungen zugelassen. Dieser komplementäre Charakter legte es nahe, daß die freien Kassen in der Regel nur Krankengeld zahlten, aber keine medizinische Versorgung anboten. Ärztliche Hilfe und Medikamente erhielten die Arbeiter ohnehin in ihren »Zwangskassen«, Engpässe traten dagegen bei der finanziellen A bsi cherung des Lebensunterhalts auf. Dazu erklärte der Hamelner A rbeiterbil dungsverein, der seine kranken Mitglieder durch »bares Geld« zu unterstüt zen plante: »Da nun aber nicht in A brede zu stellen ist, daß bei manchem Kranken sich kleinere Bedürfnisse einstellen, wozu Geld erforderlich ist und es leicht geschehen kann, daß dem Einen oder Andern solches fehlt und er zu Veräußerungen seiner Effekten sich schließlich gezwungen sieht, so glauben wir, daß mit dem Entstehen der fraglichen Kasse einem längst empfundenen Bedürfnisse Rechnung getragen wird.« 48
Exkurs: Die Gesundheitspflegevereine der »Arbeiterverbrüderung« So plausibel die Selbstbeschränkung der freien Kassen auf finanzielle Unter stützungen, die die Leistungen offizieller Kassen nur ergänzten, auch sein mochte, so weit entfernte sie sich doch von jener Praxis, die zwischen 1849 und 1853 im Kontext der ersten allgemeinen Arbeiterbewegung in Deutsch land modellhaft ausprobiert worden war. Die auf einem Berliner A rbeiter kongreß 1848 ins Leben gerufene »A rbeiterverbrüderung« hatte den Grund satz der Selbsthilfe auch und vor allem auf die Krankenversorgung bzw. Gesundheitspflege ihrer Mitglieder angewandt und mit ihren »Gesundheits pflegcvcrcincn« ein neuartiges und zu seiner Zeit einmaliges gesundheitspo litisches Instrument geschaffen, das weit über die bestehenden Organisa tionsformen medizinisch-sachlicher Hilfeleistung hinauswics. Hier ging es nicht in erster Linie um das A rrangement auskömmlicher Geldunterstüt zung, sondern um die Bearbeitung des Gesundheitsverlustes als Ursache materieller Bedürftigkeit. Oberstes theoretisches Prinzip war die Erhaltung der Gesundheit, nicht das Abfedern von Krankheitsfolgen. Ursprünglich hatte sich die im Windschatten der 1848er Revolution kon stituierte Arbeiterbewegung solcher Probleme gar nicht annehmen wollen. Als das Berliner Zentralkomitee für A rbeiter49 im Mai 1848 über das neue Gesellenreglement des Berliner Magistrats diskutierte, bemängelte es vor allem jene Passagen, die sich mit der Verwaltung der Krankenkassen be schäftigten. Ohne sich auf das konkrete Verfahren näher einzulassen, äußer te das Zentralkomitee seine grundsätzliche A bneigung gegen eine selbstfi nanzierte Krankenversicherung der Arbeiter: »Es ist Pflicht des Staates, . . . 306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
die Sorge für die Kranken wie die invaliden A rbeiter . . . zu übernehmen. Jedenfalls ist es dem A rbeiter unmöglich, bei seinem geringen Verdienst noch einen Beitrag zu Unterstützungskassen zu geben.« A nstatt nachträg lich die Schäden auf dem Rücken der Betroffenen zu kurieren, sollte der Staat präventiv zugunsten der Arbeiter eingreifen: »Stellt die Arbeiter bes ser, gebt ihnen einen höhern Lohn, . . . schafft gesündere Wohnungen, im Ganzen setzt einen Damm wenigstens gegen die tausend Zufälligkeiten, die den A rbeiter ins Elend fuhren, und denen ihr ihn überlassen habt, so wird auch die Zahl der Kranken und Unterstützungsbedürftigen sich vermin dern.« 50 Die kämpferische Forderung nach einer systematischen, vom Staat orga nisierten Krankheitsprävention war ebenso revolutionär-utopisch wie die, der Staat solle die Versorgung der kranken A rbeiter auf eigene Kosten übernehmen. Offensichtlich hatte das Zentralkomitee A nleihen beim Köl ner Kommunistenbund gemacht, in dessen maßgeblich von Marx und Engels bestimmten Programm auch die Forderung nach staatlicher Exi stenzsicherung auftauchte51. Wahrscheinlich auf Anregung Borns, der da mals noch eng mit dem Bund der Kommunisten zusammenarbeitete, fand sich dieser Punkt in den im Juni 1848 veröffentlichten Forderungen des Berliner Zentralkomitees wieder, wo es hieß: »Der Staat versorgt alle Hilf losen und also auch alle Invaliden der Arbeit. «52 Unter dem Eindruck der konkreten Verhältnisse und Ereignisse verän derte sich in den folgenden Monaten auch die politische Perspektive der Berliner A rbeiterbewegung. Der Ruf nach Staatshilfe trat immer mehr hinter die Organisation von Selbsthilfemaßnahmen zurück, und die im August/September gegründete »A rbeiterverbrüderung« begann unverzüg lich damit, »A ssoziationen« auf lokaler Ebene ins Leben zu rufen, um dem »Einzelnen« zu zeigen, daß »er selber seines Glückes Schmied würde und nicht ferner im bequemen Sich verlassen auf Andere oder auf den Staat und die Regierung tiefer und tiefer sinke durch Theilnahmlosigkeit und Unthätig keit zur Schwäche und Unfähigkeit«53. »Jeder für A lle« - dieses Motto kollektiver Selbsthilfe materialisierte sich in einer Reihe genossenschaftlicher Unternehmungen (A nkaufsgesellschaf ten, A ssoziationswerkstätten, Bildungsvereine, Unterstützungskassen), von denen der Berliner Gesundheitspflege-Verein langfristig am erfolg reichsten war. Nüchtern ausgedrückt, handelte es sich dabei auch um eine Art»Ankaufsgesellschaft«, um die Organisation von Konsumenten zwecks billigerer Beschaffung erwünschter Güter. Diese Güter bestanden nun aber nicht aus Rohstoffen, Nahrungsmitteln oder Werkzeugen, sondern aus medizinischen Sachleistungen, mit deren Hilfe die Gesundheit der Konsu menten »gepflegt« werden sollte. Dazu gehörten im wesentlichen ärztliche und wundärztlichc Hilfe, Medikamente, Bäder, Brillen, Bruchbänder. Der Gesundheitspflegeverein stellte seinen Mitgliedern alle diese Leistungen gegen eine regelmäßige Pauschalsumme zur Verfügung. 307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Mit einem solchen A ngebot ließ die A rbeiterverbrüderung ihre im Mai 1848 angekündigte Verweigerung in Sachen A rbeiterkrankenVersorgung fallen und wandte sich einer pragmatischen, auf die situativen Bedürfnisse der Gesellen und Fabrikarbeiter zugeschnittenen Politik zu. Sofort nach seiner Gründung im A nschluß an den Berliner A rbeiterkongreß nahm das dortige Bezirkskomitee »die Regelung der Krankenkassenverhältnisse Ber lins in die Hand und stiftete den Gesundheitspflegeverein«54. A uf den 5. A pril 1849 war das provisorische Statut des neuen Vereins datiert, der am 1. Mai 327 Mitglieder aufnahm. Im September beteiligten sich bereits 5110 Personen, und im A ugust des folgenden Jahres war die Zahl auf 7253 gestiegen55. Der Gesundheitspflegeverein (GVBA ) kannte zwei Arten von Mitglied schaften: Zum einen gehörten ihm lokale, nach Berufszweigen gegliederte Krankenkassen an, die geschlossen eintraten und gegen einen monatlichen Beitrag von 1½ Sgr. pro Kassenmitglied die Leistungen des Vereins in Anspruch nehmen konnten. Daneben gab es noch den Status des »unmittel baren«, d.h. nicht über Genossenschaften versicherten Mitglieds, der aber nur selten nachgefragt wurde. Im August 1850 waren unter den erwähnten 7253 Personen, die dem GVBA angeschlossen waren, nur 154 unmittelbare männliche Mitglieder und 82 »unmittelbare Frauen«. Nach und nach traten immer mehr Gesellenkassen dem Verein bei: waren es im Mai 1849 erst 5, zumeist kleinere Kassen gewesen, kamen bis September noch 14 hinzu, darunter die mitgliedcrstarken Kassen der Schneider (1253 Mitglieder), Seidenwirker (1115) und Schuhmacher (1077). Elf Monate später gehörten dem Verein immerhin 28 Gewerkskassen an56. Den Mitgliedern der einzelnen Krankenkassen brachte die Zugehörigkeit zum Gesundheitspflegeverein deutliche Vorteile. Bei gleichbleibender Bei tragshöhe wurde ihnen nunmehr neben dem von der Kasse ausbezahlten Krankengeld eine geregelte medizinische Versorgung zuteil, die weit über das hinausging, was in den Gesellenkassen der damaligen Zeit sonst üblich war. A llein die Tatsache, daß sich jetzt in jedem Berliner Wohnbezirk ein vom GVBA angestellter A rzt befand, erleichterte die konkrete Verfügbar keit medizinischer Hilfe ungemein. In einer Großstadt war das gewöhnlich von den Krankenkassen praktizierte Verfahren, einen Arzt mit der Versor gung ihrer Mitglieder zu betrauen, äußerst dysfunktional: die weiten Weg strecken regten nicht unbedingt zur häufigen Konsultation des womöglich am anderen Ende der Stadt wohnenden Kassenarztes an. Der Gesundheits pflegeverein dagegen hatte die Stadt in mehrere Bezirke eingeteilt und in jedem Bezirk einen Arzt zur Mitarbeit gewonnen. Jeden Morgen von 7 bis 9 Uhr hielten diese Ärzte ihre Sprechstunde ab; bettlägerige Kranke wurden in ihren Wohnungen besucht. Medikamente und sonstige Sachleistungen be zog der Verein aus den Berliner Apotheken, die ihm einen 25%igen Rabatt einräumten. Jeder Patient hatte das Recht, mehrere Vercinsärzte zu konsultieren, wenn 308 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
er mit der Diagnose und Therapie »seines« A rztes nicht zufrieden war. Auch bei Streitigkeiten, die sich über der Feststellung einer eventuellen Arbeitsun fähigkeit ergaben, konnte er das Urteil anderer Vereinsärzte einholen57. Diese Bestimmungen, die zwischen dem Vorstand des Berliner Bezirks der deutschen A rbeiterverbrüderung und dem Ärztekomitee des Gesundheits pflegcvercins ausgehandelt worden waren, räumten den Patienten weit größere Handlungsmöglichkeiten ein, als es in den »normalen« Kranken kassen der Fall war. Einerseits lag die Entscheidungsbefugnis über Arbeits unfähigkeit und Krankengeldbewilligung eindeutig in der Hand der Ärzte; andererseits aber besaß der Betroffene ein verbürgtes Einspruchs- und Be schwerderecht und konnte zudem andere Sachverständige um Stellungnah men bitten. Etwaige Konflikte wurden in der Regel öffentlich und im Beisein aller Beteiligten verhandelt. Dazu bot sich die wöchentlich am arbeitsfreien Sonntag abgehaltene »Consultationsstunde« an, die »von den Ärzten des Comites zahlreich und mit immer steigendem Interesse, von den Kranken des Vereins sehr gern besucht« wurde 58 . Hier wurden zweifelhafte Diagno sen überprüft, schwierige und seltene Fälle untersucht, Gesundheitsatteste abgestimmt, Invaliditätserklärungen beraten. Konflikte zwischen A rzt und Patient wurden in einer versachlichten A tmosphäre besprochen, wobei die Anwesenheit von Krankenkassen- und Vereinsvorständen dazu beitrug, daß »das Interesse des Vereines oder der Kasse, des Arztes oder Patienten nach allen Seiten hin gewahrt wurde. So ward hier Simulation bald entlarvt, ein gegenseitiges Mißtrauen im Keime erstickt«59. Eine solche Situation war sowohl für die Arzte als auch für die Kranken ein absolutes Novum. Die Öffentlichkeit der sonntäglichen Konsultations stunde wirkte sich demokratisierend auf das A rzt-Patient-Verhältnis aus und zwang den A rzt dazu, seine Entscheidungsprämissen und -kategorien transparent zu machen. Zugleich eröffnete die »assoeiierte Thätigkeit« den Ärzten aber auch die Möglichkeit, in wechselseitiger Unterstützung und Kontrolle einerseits die so häufig eingeklagte »Collegialität« zu praktizieren und zum anderen ihre wissenschaftliche Qualifikation durch regelmäßigen Erfahrungsaustausch zu erhöhen60. Dieses Experiment, das den reformpolitischen Vorstellungen engagierter Mediziner im Umkreis der »Medicinischen Reform« sehr nahekam, wurde hauptsächlich von jungen Ärzten getragen, die sich in ihrer Mehrzahl der demokratischen Bewegung angeschlossen hatten61. Die politische A uf bruchsenergie der Revolutionszeit traf bei ihnen mit einer schwierigen öko nomischen Lage zusammen: Gerade frisch approbierte Mediziner hatten es schwer, eine Praxis zu gründen, und eine feste Anstellung war deshalb sehr gefragt. Immerhin kam jeder Vereinsarzt auf ein durchschnittliches Jahres gehalt von etwa 300 Talern62, was zum damaligen Zeitpunkt nicht wenig war, zumal die Ärzte nebenbei noch anderen bezahlten Tätigkeiten nachgin gen. Doch soll hinter diesem ökonomischen Motiv 63 die konzeptionelle 309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Innovation nicht geringgeschätzt werden - wenngleich die Organisations struktur des GVBA keinesfalls so originell war, wie oftmals behauptet wird. Immerhin hatte der demokratische GVBA bereits einen Vorläufer: den Berliner Gewerkskrankenverein (GKV)64. Um die Gesellenkassen stärker auf ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Versorgung ihrer erkrankten Mitglieder zurechtzustutzen, hatte sich der städtische Magistrat bereits in den 1840er Jahren um eine stärkere Formalisierung ihrer krankenpflegeri schen Funktion bemüht. Dabei ging es ihm einerseits darum, die Verwen dung der Kassengelder zu »sogenannten Zunftzwecken«, sprich: Festivitä ten, überregionaler Kommunikation etc., zu unterbinden; zum anderen beschwerte sich die Charite, daß die Gesellenkassen ihr zu viele Kranke zuschoben. A ber auch die Gesellenkassen selbst waren an einer perfekteren medizinischen Versorgung interessiert. Im Oktober 1845 kamen die mit gliederstarken Kassen der Schlosser-, Schmiede-, Schneider-, Schuhma cher-, Seidenwirker-, Tischler- und Webergesellen überein, ihren Kranken zu gestatten, jeden A rzt, der von einer dieser Kassen bezahlt wurde, ko stenlos zu konsultieren65. A m 1. A pril 1846 nahm der vom Magistrat ge nehmigte und beaufsichtigte »Gewerks-Kranken-Verein«, dem die Gesel lenkassen beizutreten hatten, seine A rbeit auf und stellte zunächst zehn Ärzte ein. Die Kranken sollten sich bei Bedarf an denjenigen A rzt wenden, der in ihrer Nähe wohnte; es stand ihnen jedoch frei, auch einen anderen vom GKV bezahlten A rzt, zu dem sie ein besonderes Vertrauen hegten, zu wählen66. Ende 1848 waren dem Verein bereits 43 Gewerkskassen mit knapp 10000 Mitgliedern angeschlossen67. In dieses Terrain brach nun der GVBA ein, der sich von A nfang an als politische Konkurrenzorganisation des GKV verstand. Innerhalb weniger Monate gelang es ihm, dem letzteren 17 Gesellenkassen abspenstig zu ma chen, worauf der GKV die Zahl seiner angestellten Ärzte von zehn auf sechs reduzieren mußte. Mit der Zeit wechselten immer mehr Krankenkas sen die Seiten, wozu nicht zuletzt die kontinuierliche A gitation des Berliner Bezirkskomitees beitrug, das bei den einzelnen Kassenvorständen um einen sachlich und politisch motivierten Beitritt warb. In der Tat war der GVBA in seiner Programmatik weitaus »politischer« orientiert als der GKV. Ein im April 1849 publizierter A ufruf an alle Berli ner Gesellenkassen, dem das Vereinsstatut beigelegt war, begann mit einer offensiv formulierten Einschätzung des Werts »Gesundheit«: »Die Gesundheit, für alle Menschen, ohne Unterschied des Standes und des Ranges, in gleicher Weise ein unschätzbares und unveräußerliches Gut, ist für Denjenigen, welcher in der Gesundheit sein einziges und vorzügliches Eigenthum besitzt, von doppelt hoher Bedeutung. Ohne dieselbe ist er nicht im Stande, seine A rbeitskraft wie es sich gebührt, zu verwerthen. Niemand aber in unserer Gesellschaft setzt gerade durch seine Berufsthätigkeit seine Gesund heit so mannigfachen Gefahren aus, als der Arbeiter, welcher durch die unmittelbare A nwen dung seiner Leibeskräfte seine Existenz sich sichern soll. Dem ungeachtet sind die bisherigen Einrichtungen, welche den A rbeitern zum Schutze ihrer Gesundheit, wie zur Heilung in
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Erkrankungsfällen dienen sollten, nur sehr mangelhaft gewesen und haben weder dem wahren Zwecke noch dem wirklichen Bedürfnisse entsprochen.«68
Schon durch seinen Namen setzte sich der GVBA von seinem Vorläufer und Konkurrenten ab: Im Gegensatz zum »Gewerkskrankenverein« wollte der »Gesundheitspflegeverein« nicht nur kurative A ufgaben übernehmen, sondern seine Mitglieder zugleich auch bei der »Erhaltung ihrer Gesund heit« unterstützen. »Gleichsam wie Hausärzte« sollten die Vereinsärzte den Mitgliedern »in gesunden wie in kranken Tagen mit Rath und That zur Seite stehen«69 und damit gleichermaßen zur Heilung und Verhütung von Krank heiten beitragen. Wie man sich diese präventive Tätigkeit vorzustellen hatte, erläuterte der damals 24jährige Mediziner Abarbanell. Jeder Arzt sollte nach und nach alle Betriebe und Werkstätten seines Wohnbezirks aufsuchen und »den Einfluß der Arbeit auf den Gesundheitszustand« seiner Patienten ken nenlernen. Überdies würde die problemlosere Erreichbarkeit des in der Nähe wohnenden A rztes dazu fuhren, daß die A rbeiter schon in einem frühen Krankheitsstadium ärztlichen Rat suchten70. Den meisten Kollegen Abarbanells schwebte allerdings eine eher mittelbare arbeitsmedizinische Praxis vor: Indem sie ihre Erfahrungen mit den Krankheiten der Gesellen und Fabrikarbeiter vierteljährlich publizierten, wollten sie die Grundlage zu einer umfassenden Gewerbestatistik legen, mit deren Hilfe die Regierung wissenschaftlich untermauerte A rbeiterschutzgesetze erlassen konnte71. Vor allem Salomon Neumann erwies sich als rühriger Datensammler, der seine Tabellen und Schlußfolgerungen nicht nur in medizinischen Zeit schriften, sondern auch in den Publikationen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, dessen Mitglied er war, einer breiteren Öffentlichkeit vorlegte. Der von den sozialmedizimsch orientierten Ärzten so sehr betonte Aspekt der Krankheitsprävention und Gesundheitserhaltung scheint mit der Zeit jedoch in den Hintergrund gerückt zu sein. Letztlich beschränkte sich die Tätigkeit der Vereinsärzte auf die Versorgung kranker Gesellen und Fabrik arbeiter mit Medikamenten und anderen Sachleistungen. Einzig und allein die Tatsache, daß Syphiliskranke ebenfalls in den Genuß ärztlicher Hilfe und Medikamentierung kamen, unterschied ihn sachlich vom GKV und anderen zeitgenössischen Krankenkassen. Eine »Selbstschuld« der Betroffenen woll ten die Mediziner nicht mehr als Ausschlußgrund gelten lassen. A us berufs ethischen und sozialhygienischen Gründen setzten sie sich beim Vereinsvor stand dafür ein, daß die Leistungen des GVBA auch »gefallenen« Mitglie dern zuteil wurden 72 . Abgesehen von dieser Innovation waren die Versorgungsansprüche der GVBA-Mitglieder weitgehend identisch mit denen ihrer nicht zum Verein gehörenden Kollegen. Es finden sich sogar A nzeichen und Hinweise, daß der GVBA übermäßig restriktive A ufnahme- und A usgrenzungskriterien anwandte, um seine Finanzen zu schonen. So mußten sich die Neueintreten311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
den einer ärztlichen Voruntersuchung unterziehen; nur das A ttest eines Vereinsarztes, der ihnen eine makellose Gesundheit bescheinigte, machte sie zu vollberechtigten Vereinsmitgliedern. Etwa 10% der Eintrittswilligen wurden nur als bedingt gesund aufgenommen oder sogar zurückgewiesen, seltsamerweise auch wegen solcher Krankheiten wie Tripper oder Krätze, deren nichtdiskriminatorischer Behandlung sich der GVBA in allen offiziel len Verlautbarungen rühmte. Das Vereinsstatut nahm im übrigen solche Krankheiten von der medizini schen Betreuung aus, die als unheilbar galten. Die Versorgung dieser Patien ten hätte die finanziellen Mittel des Vereins zu stark belastet, ohne daß positive Ergebnisse, nämlich eine Wiederherstellung ihrer A rbeitsfähigkeit, zu vermelden gewesen wären. In dem Maße, in dem die Mittel knapper wurden, verstärkte sich auch die Kontrolle über die Kranken. Ein Defizit in der Vereinskasse führte 1852 zu einer Statutenrevision, womit »eine strenge re Controlle der Genußberechtigten erzielt und die Verpflegung Unberech tigter künftig vermieden wird« 73 . Ohnehin hatte sich der GVBA - ganz ähnlich wie der GKV 1846 - den Krankenkassenvorständen damit empfoh len, daß die Kassen ihren Vereinsbeitrag »durch bessere Kontrolle der Kran ken und durch seltenere Beschickung der öffentlichen Heilanstalten, die sehr kostspielig ist, . . . ersparen«74. Die ursprünglich beabsichtigte Ausdehnung der Vereinsleistungen auf die Familienangehörigen der Gesellen und Fabrikarbeiter (etwas mehr als die Hälfte war verheiratet) war gleichfalls an den finanziellen Restriktionen gescheitert. Nur die Ehefrauen (»A rbeiterinnen«) durften dem Verein seit 1850 beitreten, hatten aber trotz erhöhtem Beitrag nicht einmal A nspruch auf ärztliche Hilfe bei Entbindungen75. Das Beitrittsangebot wurde daher zum Leidwesen der Vereinsärzte 76 - kaum angenommen. Ein anderes Mo dell hatten die in A nlehnung an den GVBA in einzelnen Berliner Bezirken eingerichteten Familien-Gesundheitspflege-Vereine erprobt. 1850 bestan den in Berlin elf solcher Vereine, die »fast ausschließlich aus den Familien des Arbeiterstandes und der kleineren Handwerker bestehen« und insgesamt zwischen 5000 und 6500 Mitglieder hatten. Diese Vereine, die nicht auf Krankenkassen aufbauten, leisteten nur medizinische Hilfe. Sie verlangten weder Gesundheitsatteste noch kannten sie - wie der GVBA - geschlechts spezifische Beitragsbedingungen. Vielmehr erleichterten sie durch eine re gressive Beitragssteuer den Beitritt ganzer Familien: Eine vier- oder mehr köpfige Familie zahlte nur doppelt so viel wie eine einzelne Person77. Sei es als Familienverein oder als reine Arbeiterorganisation - das Modell des Gesundheitspflegevereins fand trotz wiederholter A nregungen seitens der A rbeiterverbrüderung außerhalb Berlins - mit A usnahme Breslaus nicht die gewünschte Resonanz78. Dafür mag sowohl die von Neumann beklagte »allgemeine Ungunst der Ärzte« verantwortlich gewesen sein als auch die in kleineren Städten nicht so erforderliche Bezirkseinteilung. Ein übriges tat die Repressionspolitik der Regierungs- und Lokalbehörden, die 312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
die politisch eingebundenen Vereine argwöhnisch beobachteten. Schon 1849 hatte ein Berliner Stadtrat die Vermutung geäußert, »daß sich hinter Scheinthätigkeit für die Gesundheitspflege die Propaganda für die rothe Republik verberge«79. Im Juni 1850 wurde die A rbeiterverbrüderung in Preußen polizeilich verboten und ihre Vereine verfolgt. A uch der GVBA mußte seine Arbeit zum 31. A ugust 1850 einstellen. A llerdings löste er sich nur der Form nach auf und ließ seine »Grundidee« unter einem anderen Namen, aber mit personeller und inhaltlicher Kontinuität »fortwirken«80. Am 1. 9. 1850 konstituierte sich der »Berliner Gesundheitspflegeverein« (BGV). Er übernahm die bisherigen Mitglieder des GVBA und gewann binnen kurzem die 1849 gegründete mitgliederstarke Krankenkasse der Maschinenbauarbeiter hinzu, so daß er schon im Dezember 1850 9422 Personen umfaßte. A nfang 1851 kündigten die Krankenkassen der Schlosser (mit 1031 Mitgliedern) und Drechsler (338 Mitglieder) auf Intervention des Magistrats die Mitgliedschaft auf und wechselten zum nach wie vor beste henden Gewerkskrankenverein über. Viele Schlosscrgescllen, die mit dieser Entscheidung nicht einverstanden waren, verließen daraufhin ihre Kasse und schlossen sich der Maschinenbauerkasse an81. Der Magistrat hatte sich seit jeher bemüht, die Gewerkskrankenkassen vom Gesundheitspflegeverein fernzuhalten, indem er ihnen verbot, ohne Zustimmung des jeder Kasse beigeordneten Magistratsbeamten Beitritts verträge abzuschließen. Die zwischen dem GVBA und der Steinsetzergesel lenkasse getroffene Vereinbarung konnte beispielsweise keine »bindende Gültigkeit« beanspruchen, da der zuständige Stadtrat nicht gefragt worden war 82 . Viele Gesellenkassen leisteten aber trotz offiziellem Verbot weiterhin Zahlungen an den GVBA und seinen Nachfolger, und auch die Steinsetzer kassc ließ sich nicht beirren. Im April 1853 allerdings hatte die abwartende Tolerierungspolitik des Magistrats ein Ende, Die Aufdeckung eines »hoch verrätherischen Complotts« im Frühjahr des Jahres83 nahm der Berliner Polizeipräsident zum A nlaß, den BGV offiziell zu verbieten und einige seiner Mitglieder hinter Schloß und Riegel zu bringen. Der Verein hätte schon längst den Verdacht erregt, »daß derselbe unter dem Deckmantel der Gesundheitspflege lediglich verbrecherische Tendenzen verfolgt« und der »demokratisch-communistischen Partei in Berlin eine feste Organisation« gäbe84. Die Mitglieder des aufgelösten Vereins mußten sich auf Anordnung des Magistrats dem nunmehr reorganisierten Gewerks-Krankenverein anschlie ßen, der 1857 bereits 70 Kassen mit ca. 47000 Mitgliedern umfaßte85. Zwar waren die Geschäftsprinzipien des GKV im wesentlichen mit denen des BGV identisch, und auch unter den Vereinsärzten gab es eine gewisse Kontinuität: So setzte Salomon Neumann seine medizinische und medizi nalstatistische Tätigkeit als A rzt des GKV fort. A llerdings wurde der Ge werkskrankenverein ganz anders verwaltet als der Gesundheitspflegeverein: Im Vorstand saßen je zur Hälfte Gesellen und Arbeitgeber, und die Oberauf313 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sicht lag beim Magistrat, dessen Abgeordneter bei allen Verhandlungen den Vorsitz führte, »über die Gesetzmäßigkeit der Beschlüsse zu wachen hat . . ., überhaupt das ganze Geschäftsverfahren regulirt« und bei Stim mengleichheit den Ausschlag gab 86 . Die selbstverwalteten Initiativen der Revolutionszeit waren somit - zu mindest auf der Oberfläche - erfolgreich zerstört worden. Die Behörden hatten ihre Lektion gelernt. 1854 konnte man im »Verschwörungs«-Hand buch der Polizeidirektoren Wermuth und Stieber lesen: »Es läßt sich nicht läugnen, daß sich an manchen Orten die Behörden und die conservativen Elemente zu wenig um den erkrankten Arbeiter kümmern. In dem Elende und der Erbitterung, welche dann über ihn und seine Familie hereinbricht, ist er für die communistischen und überhaupt revolutionairen A genten am meisten zugänglich, und wenn sich dieselben in diesem Zustande noch überdieß seiner annehmen und ihm Hülfe und Trost bringen, so wird er nur zu leicht ein feuriger A nhänger derselben. In Berlin ist man daher in neuester Zeit darauf bedacht gewesen, conservative Gesundheitspflege-Vereine zu errichten, und es wäre wohl zu wün schen, daß auch an anderen Orten dieses Beispiel Nachahmung fände.«87
3. Krankenkassen und Gewerkschaften seit den 1860er Jahren Als sich 1865/66 die Zentralgewerkschaften der Buchdrucker und Zigarren arbeiter in Deutschland konstituierten, waren immerhin eineinhalb Jahr zehnte seit dem Verbot der ersten nationalen Fachvereinsbewegung vergan gen. Trotzdem blieb die organisatorische und ideelle Kontinuität gewahrt 88 , was in erster Linie als Verdienst der Krankenkassen angesehen werden kann. Sic waren in den 1850er und frühen 1860er Jahren fast die einzigen Organisa tionen, die den vom Koalitionsverbot betroffenen A rbeitern einen legalen, wenn auch unter obrigkeitlicher Kontrolle stehenden Sammlungspunkt geboten hatten. Nicht zufällig gingen die lokalen Gewerkschaftsfilialen häufig aus den berufsspezifisch gegliederten Krankenkassen hervor, in de nen viele politisch aktive A rbeiter und Gesellen während der Periode scharfer polizeilicher Repression überwintert hatten. Dieser Zusammen hang läßt sich bis in personelle Verflechtungen hinein nachweisen: So wurde beispielsweise der Vorsitzende der Bielefelder Schneidergesellenkasse in den späten sechziger Jahren Führer der dortigen Schneidergewerkschaft89. Eine ähnliche Traditionslinie kennzeichnete den seit 1868 bestehenden Gewerkverein der deutschen Maschinenbauer und Metallarbeiter: Er war die nationale Erweiterung des zwei Jahre zuvor zusammengetretenen Ver eins der Berliner Maschinenbauer, der sich wiederum explizit auf den Ma schinenbauarbeiter-Verein der Revolutionszeit bezog. Die Kontinuität zwi schen 1849 und 1866 stellte die 1849 gegründete und seit 1854 unter Magi stratsaufsicht stehende Krankenkasse her, der 1862 12384 Fabrikarbeiter angehörten90. Das »gemeinsame Interesse, welches die vielen Tausende der in den hiesigen Fabriken beschäftigten A rbeiter an der allgemeinen Kran314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
ken- und Sterbekasse haben«, bildete 1866 den A usgangspunkt für die Gründung des Berliner Fachvereins, der sich - parallel zu den berufsüber greifenden Arbeiterbildungsvereinen - um die fachliche Aus- und Weiterbil dung der Berufsgenossen verdient machte. Jedes Mitglied der Krankenkasse konnte auch Mitglied im Maschinenbauer-Verein werden91. Daß die gewerkschaftliche A rbeiterbewegung zumindest im gleichen Maße aus den Krankenkassen heraus entstand, wie sie auf die »organisa tionsstimulicrende« Wirkung von Streiks rekurrierte92, sollte für ihre inhalt liche Orientierung nicht ohne Bedeutung bleiben. Vor allem in der Anfangs phase war die Dominanz des Unterstützungswesens auf den zentralen Kon ferenzen der einzelnen Berufsverbände unübersehbar. So stand auf dem Leipziger Zigarrenarbeitertag von 1865, auf dem sich der Allgemeine Deut sche Zigarrenarbeiterverein konstituierte, die »Beratung und Beschlußfas sung über die Statuten zu einer Krankencassen-Versicherungs-Gesellschaft« an erster Stelle der Tagesordnung93. A ls 1867 eine Kölner Schneidergesel len-Versammlung einen Aufruf zur Gründung einer Allgemeinen deutschen Schneider-Assoziation erließ (und dabei gleichzeitig eine lokale, selbstver waltete Krankenkasse ins Leben rief), lautete der zweite vorgeschlagene Programmpunkt: »Zentralisation sämtlicher Kranken- und Sterbekassen in einem A ssekuranzverband«94. A uch die Buchdrucker schenkten den Kran kenkassen viel Beachtung. Der Gründungskongreß des deutschen Buch druckerverbandes 1866 verpflichtete die Lokalvereine dazu, eine Unterstüt zungskasse zu unterhalten und untereinander »Freizügigkeit und Gegensei tigkeit« einzuführen95. Gerade unter den Buchdruckergesellen war die Kassenfrage heftig disku tiert worden, nachdem sich Anfang der 1860er Jahre der Konflikt zwischen den Leipziger Gesellen und ihren »Prinzipalen« an unterschiedlichen Vor stellungen über die Verwaltung der lokalen Innungskrankenkasse entzündet hatte. Der Wunsch nach Kassenautonomie führte hier dazu, daß die Buch druckergcscllcn eine selbständige Krankenkasse gründeten und ihren Kolle gen in anderen Städten eine ähnliche Organisationsform nahelegten96. A uch die Dresdener Schuhmachcrgesellen leiteten ihren Organisationsprozeß 1868 mit der Einrichtung einer Kranken- und Begräbniskasse ein, zu der die Meister keinen Zutritt hatten97. In Chemnitz kamen 1869 etwa 60 Schuhma chergcscllen aus Dresden und Leipzig zusammen, um über »Geschäftsinter essen« zu reden. Man einigte sich darauf, fortan in allen Krankenkassen-und Unterstützungsangelegenheiten zusammenzuarbeiten und darauf aufbau end die Gründung einer Gewerksgenossenschaft ins Auge zu fassen98. 1868 versammelten sich in Berlin etwa 1000 Bauarbeiter, um über eine neue Krankenkasse zu diskutieren. In einer am Schluß der Veranstaltung verab schiedeten Resolution sprachen sich die Teilnehmer für die Gründung einer allgemeinen Bauarbeiter-Unterstützungskasse aus, »in welcher alle Bauar beiter Aufnahme finden sollen, welche mit ihrem betreffenden Zwangskas senwesen unzufrieden, Verbesserungen der Kassenverhältnisse wün315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
schen«99. 1875 wiederholte sich diese Ereignischronik bei den Berliner Schmiedegesellen. Nachdem die lokale Gewerkskrankenkasse eine Verdop pelung der Mitgliederbeiträge verfugt hatte, setzten sich die sozialdemokra tisch orientierten Gesellen zusammen und beschlossen, eine öffentliche Ver sammlung einzuberufen, um sich dort über Organisationsalternativen zu verständigen. A uf der Versammlung, die von etwa 1500 Schmiedegesellen besucht wurde, gründete man einen Verein und eine freie Krankenkasse, die in kurzer Zeit 900 Mitglieder aufnahmen100. Die Initiative zur Gewerkschaftsgründung ging demnach vielerorts zwar von den lokalen berufsspezifischen Krankenkassen aus. Im Verlauf des Organisierungsprozesses schlossen sich die Mitglieder der neu entstandenen nationalen Fachvereine aber zu eigenen gewerkschaftlichen Kassen zusam men, die parallel zu den »Zwangskassen« existierten. Mit dieser Parallelität gaben sich die Gewerkschaftskassen allerdings nicht zufrieden. In einer Reihe von Petitionen an den Norddeutschen Reichstag verlangten sie die Aufhebung der Zwangskassen, die, wie es in einer Eingabe des Allgemeinen deutschen Maurer-Vereins hieß, »der Entwicklung solcher Gewerkschaften, die aus freier Selbstbestimmung entstanden sind . . ., äußerst hinderlich« seien101. Kein Arbeiter dürfe mehr gezwungen werden, einer bestimmten, vom A rbeitgeber oder den Ortsbehörden eingerichteten Krankenkasse an zugehören, sofern er bereits Mitglied in einer anderen, freien Kasse sei. Als die 1869 verabschiedete Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes den Arbeitern die Möglichkeit einräumte, ihre Krankenkasse frei zu wählen, waren die freien Kassen der Gewerkschaften und Arbeitervereine offiziell als gleichwertige Substitute lokaler Fabrik- und Magistratskassen anerkannt und konnten fortan um so eifriger und erfolgreicher um Mitglieder werben. Die Gewerkschaftskassen unterschieden sich von den »Zwangskassen« vor allem danin, daß sie weder der Regierung, noch den Ortsbehörden oder den Meistern bzw. Unternehmern einen Einfluß auf ihr »Innenleben« ge statteten. Sie verzichteten freiwillig auf Kassenbeiträge der Arbeitgeber und nahmen dafür höhere finanzielle Belastungen ihrer Mitglieder in Kauf. Allerdings waren auch die von den freien Kassen gezahlten Unterstützungen im Verhältnis zur Beitragssummc ungleich höher als bei den offiziellen Kassen. So bekam beispielsweise ein Schuhmacher, der 1873 der lokalen Bielefelder Schuhmachergesellenkasse angehörte, bei einem monatlichen Beitrag von 40 Pfennigen einen wöchentlichen Krankenlohn von 1,50 M. Sein Kollege, der Mitglied der nationalen Schuhmachergewerkschaft war, konnte dagegen bei gleichem Beitragssatz 6 Mark Krankengeld beanspru chen, also viermal soviel102. Ähnliche Relationen waren bei den Zigarrenar beitern anzutreffen. Die unter Magistratsaufsicht stehende Bielefelder Ta baks- und Zigarrenarbeiterkrankenkasse verlangte von ihren Mitgliedern je nach Verdienst 20, 39 oder 50 Pfennig Krankenkassenbeitrag im Monat, wozu die Arbeitgeber noch einmal die Hälfte zuschossen. Dafür zahlte die Kasse ein wöchentliches Verpflegungsgeld von 1,75, 3 bzw. 4,50 M. Die 316 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zentrale Krankenkasse des Deutschen Tabakarbeitervereins kannte ebenfalls differenzierte Beitragsklassen, die sich jedoch nicht automatisch nach dem Verdienst richteten, sondern zur freien Wahl standen. In der niedrigsten Klasse betrug der monatliche Kassenbeitrag 60 Pfennige. Er berechtigte zu einem Krankengeld von 6 Mark pro Woche. Ein Mitglied, dem diese Sum me nicht ausreichend schien, konnte sich durch einen verdoppelten Beitrag auch ein doppeltes Krankengeld erwerben103. Die höheren Unterstützungssätze der freien Kassen waren allein schon deshalb möglich und notwendig, weil die Kassen in der Regel nicht für die medizinische Versorgung ihrer Mitglieder aufkamen104. In der Tradition der autonomen Kassen der 1850er und frühen 1860er Jahre, die lediglich ergänzende Geldleistungen gewährt hatten, räumten auch die Gewerk schaftskassen der finanziellen Absicherung höhere Priorität ein. A rztkosten, bisweilen auch A usgaben für Medikamente mußten die Kranken selbst begleichen. Nur wenige Kassen hatten eigene Kassenärzte angestellt. Zu meist konnten die Mitglieder entscheiden, welchen A rzt sie konsultieren wollten. Mit dieser »freien A rztwahl« verzichteten die Kassen implizit dar auf, die medizinische Versorgung ihrer Mitglieder so zu steuern und zu kontrollieren, wie es ihnen mit besonderen Kassenärzten möglich gewesen wäre. Wie die Kranken ihren »Krankenlohn« ausgaben, welchen Teil sie für Arzt und A rzneien verbrauchten und ob sie überhaupt einen »richtigen« Arzt konsultierten - darüber stand der Kasse kein Urteil zu. Manche Kassen legten allerdings fest, daß sich erkrankte Mitglieder »sogleich der Kur eines praktischen A rztes unterziehen« müßten, »damit nicht durch verkehrte Behandlung die Dauer der Krankheit verlängert wird« 105 . A uch die Arbeits unfihigkcitsbcschcinigungcn mußten von einem approbierten Mediziner ausgestellt sein, um vom Kassenvorstand akzeptiert zu werden. Die Vergabe des Krankengeldes war ansonsten in den freien Kassen an ähnlich restriktive Bedingungen geknüpft wie in ihren behördlich kontrol lierten Konkurrentinnen. A uch die Mitglieder der A rbeiter- und Fachver einskassen hatten ein Interesse an möglichst niedrigen Beiträgen, und die Vorstände praktizierten hier wie dort eine Politik, die mit den Mitteln des Ausschlusses und der Kontrolle nicht gerade zimperlich umging. 1866 dis kutierte man im Berliner Buchdruckergehilfen-Verein über die Verhältnisse der Vereinskrankenkasse. Der Vorsitzende Dittmann hob hervor, »daß gerade diese Kasse am meisten dadurch belastet sei, daß hier, wie in keiner anderen Kasse, die Meisten schon krank aufgenommen würden«. Um dieser unzuträglichen Belastung der Krankenkasse abzuhelfen, wäre es daher »wünschenswerth«, bei der A ufnahme ein ärztliches Gesundheitsattest zu verlangen106. Solche A tteste, die von den A rbeitern aus ihrer eigenen Tasche bezahlt werden mußten, waren auch in anderen Berufsvereinskassen üblich. Dem Arzt mußten bei der A ufnahmeuntersuchung alle eventuell vorhandenen Krankheiten ungefragt mitgeteilt werden; Verheimlichungen zogen den 317 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
sofortigen A usschluß aus der Kasse nach sich. Ergab die Untersuchung, daß der Betreffende nicht ganz gesund war, hatte er keinen A nspruch auf den vollen Umfang der Unterstützungsleistungcn. Unheilbar Kranke - wie Blinde, körperlich Behinderte, Epileptiker oder Geisteskranke - wurden gar nicht erst aufgenommen. Jedes Mitglied mußte eine Erklärung unterschrei ben, in der es »auf Ehrenwort« versicherte, »daß ich an einer unheilbaren Krankheit nicht leide, noch mit Schäden oder Gebrechen behaftet bin, die ich bei meiner Aufnahme in die Kasse verheimlicht habe«107. Die meisten Kassen kannten zudem Höchstaltersgrenzen sowie ausge dehnte Probefristen, die zwei bis drei Monate dauerten. Erkrankte ein neu aufgenommenes Mitglied in dieser Zeit, war es nicht unterstützungsberech tigt, Im übrigen galten auch hier die Kassenleistungen nur für solche Mit glieder, die ohne eigenes Zutun erkrankt waren. Für »selbstverschuldete Krankheiten und Unglücksfälle, die durch mutwillige Schlägereien, aus schweifenden Lebenswandel in geschlechtlicher Beziehung usw. zugezogen sind«, zahlte der Leipziger Senefelder Verein, eine Kasseneinrichtung der dortigen Lithographen- und Steindruckergesellen, kein Krankengeld108. Die Kassen arbeiteten strenge Verhaltensregeln aus, deren Übertretung unangenehme Konsequenzen nach sich zog. So durfte sich ein krankes Mitglied der Schuhmachergewerkschaftskasse »unter keinerlei Vorwand nach 8 Uhr A bends außerhalb seiner Wohnung aufhalten, keine Beschäfti gung vornehmen, welche als A rbeit angesehen werden kann, und keine öffentlichen Vergnügungsorte besuchen, selbst nicht am Tage der A bmel dung«. Hielt der behandelnde Arzt körperliche Bewegung und Spaziergän ge für erforderlich, mußte der Patient dem Kassierer der Krankenkasse eine entsprechende ärztliche Bescheinigung »mit Angabe der Zeit des Ausgangs« vorlegen. Die Einhaltung dieser Verhaltensrcgeln wurde scharf kontrolliert109. Die Schuhmacherkasse verpflichtete ihre Mitglieder, »die Handhabung aller Vorschriften dieses Statuts streng zu überwachen und Wahrnehmungen von Unrichtigkeiten und Pflichtverletzungen sofort der Centralverwaltung an zuzeigen«. Besonders wachsam mußten die Vorsitzenden der lokalen Kas senfilialen sein, denen eine Reihe von »Ortscontroleuren« aus dem Kreis der Mitglieder zur Seite stand. »Wöchentlich zweimal und unverhofft« wurden die Kranken in ihrem Domizil aufgesucht; für den Fall, daß die Wohnungs angabe vergessen worden war und »in Folge dessen der Kranke nicht con trolirt werden« konnte, bekam er auch kein Unterstützungsgeld110. Restriktive A ufnahmebedingungen, A ltersgrenzen, strenge A usschluß bestimmungen und eine scharfe gegenseitige Kontrolle zeichneten demnach auch die freien Kassen der Gewerkschafts-, Fach- und Arbeitervereine aus. Die Solidarität der Mitglieder, das Füreinander-Einstehen in Notsituatio nen, galt in einem äußerst exklusiven Raum, der zwischen dem Kreis der Berechtigten und dem der Nichtberechtigten peinlich genau differenzierte. Es war eine Solidarität der Jungen und Gesunden, die ihre A rbeitsfähigkeit 318 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
gegen eventuelle Risiken versicherten. Ältere A rbeiter, deren Kräfte im Produktionsprozeß schon abgenutzt waren, Gebrechliche oder Behinderte mußten den freien Kassen fernbleiben; für sie standen entweder die örtlichen »Zwangskassen« oder die Armenpflege ein. Ebenso wie die Gewerkschaften fast ausschließlich gelernte Arbeiter oder Handwerksgesellen organisierten111, wurden auch ihre Kassen im wesentli chen »von der Elite der gelernten, ökonomisch und sozial besser bestellten Arbeiter« benutzt112. Ungelernte Fabrikarbeiter waren als Mitglieder nicht willkommen, wie das Beispiel der Berliner Steinsetzergesellen zeigt. Diese wehrten sich in den 1880er Jahren heftig dagegen, in eine Ortskrankenkasse einzutreten, weil dort auch Hilfsarbeiter aufgenommen wurden. Der Gesel lenverband wandte sich deshalb an die Behörde und gab seine A bsicht bekannt, eine freie Hilfskasse zu gründen, »um an unseren alten zünftigen Gebräuchen festhalten zu können . . . nur die Wahrung unseres Standes zwingt uns zu diesem Schritt«113. A uch die 1883 gegründete »Zentralkran ken- und Sterbekasse des Deutschen Senefelder Bundes« nahm lediglich gelernte Lithographen, Stein-, Licht- und Zinkdrucker auf, nicht aber die »bei den genannten Berufsarten vorübergehend, tageweise, beschäftigten Hilfsarbeiter«114. In den überwiegend handwerklich geprägten Berufsverei nen wirkten die Traditionen der zünftigen Gesellenverbände beharrlich fort und wurden nur vereinzelt zugunsten allgemeinerer Organisationsmuster durchbrochen115. Nach wie vor galt das Prinzip: je mehr Exklusivität nach außen, desto mehr Integration und Stabilität im Inneren. Unter diesem Gesichtspunkt fand auch die Devise »Überwachen und Strafen« in den freien Kassen großen Anklang. Was auf den ersten Blick nur ökonomisch motiviert schien - die Mitglieder wollten möglichst niedrige Beiträge zahlen -, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein politisch sehr ertragreiches Organisationselement. Denn die mit einem A rbeiter- oder Fachvcrein verbundenen Kassen waren nicht allein Werbeträger, Mitglie derbasis für den Verein, sie produzierten auch gemeinsame Orientierungen. Indem jedes Mitglied unter Sanktionsdrohungen verantwortlich handeln mußte, um der praktischen Solidarität seiner Kollegen teilhaftig zu werden, bildete sich allmählich ein einheitliches Verhaltensprofil von »Sekundärtu genden« heraus, die für die Arbeiterbewegung genauso wichtig waren wie für den Staat oder für Unternehmer. Der disziplinierte, verantwortungsbe wußte, zweckrational denkende und handelnde A rbeiter, der sich seiner Verpflichtungen gegenüber den Genossen bewußt war und den gemeinsa men Zweck nicht durch persönliche Verfehlungen und Maßlosigkeiten desavouierte, wurde nicht zuletzt in den Krankenkassen sozialisiert116. Selbstverwaltung und formale Struktur der Kassen mit festen Statuten, Straf- und Gebührenordnungen machten sie zu »schools of experience« (Thompson) für die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung. In einer sozialdemokratischen Zeitung konnte man 1883 lesen, die freien Kas sen der Arbeiter seien eine »gute Schule für die Erziehung zur Selbstverwal319 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
tung, zu selbständigem Urtheile über Gesetzgebungs- und Verwaltungssa chen« und »für das allgemeine politische Leben«. Die Kassen vermittelten ihren Mitgliedern ein größeres »Selbstbewußtsein« und damit die »Fähig keit und Kraft, demselben in politischen Handlungen A usdruck zu geben«. Darüber hinaus steigerten sie die »Organisationslust des Arbeiterthums«117. Um von dieser »Organisationslust« zu profitieren, bauten die Gewerk schaften ihr Unterstützungswesen in den 1870er Jahren kräftig aus. Von den 30 »freien« Gewerkschaften mit insgesamt fast 50000 Mitgliedern, die Au gust Geib Ende 1877 in Deutschland aufspürte118, besaßen fast alle eine eigene Krankenkasse. 16 Gewerkschaften hatten ihre Kasseneinrichtungen bereits den Normativbestimmungen des Hilfskassengesetzes angepaßt und von der Regierung genehmigen lassen. Auch die in Geibs Statistik fehlenden liberalen Gewerkvereine, denen 1878 nur noch 16525 A rbeiter angehör ten119, hatten ihre Krankenkassen in »eingeschriebene Hilfskassen« umge wandelt. Dabei hatten sich sämtliche Arbeiterorganisationen zunächst heftig gegen das 1876er Gesetz gewehrt, unterstellte es doch alle Kassen, die den Status einer »eingeschriebenen Hilfskasse« erlangen wollten und damit rechtsfähige A lternativen zu den alten Zwangskassen bildeten, der Aufsicht der Regierungsbehörden. Mit dieser Regelung fand ein langwieriger Streit zwischen Regierung und Gerichten sein Ende, der seit 1869 zu widersprüch lichen Ergebnissen geführt hatte. Während die Regierung seit der Freigabe des Kassenwesens der A nsicht war, auch die freien Kassen bedürften der behördlichen Genehmigung, bestritten die von den freien Kassen angerufe nen Gerichte eine solche Konzessionspflichtigkeit120. Viele Kassen prote stierten gegen das im Hilfskassengesetz fixierte »Bevormundungssystem« und erblickten darin eine »schwere Schädigung und Beeinträchtigung des Selbstverwaltungs- resp. Verfügungsrechtes der Mitglieder über ihr in sol chen Kassen angesammeltes Eigenthum«121. A lle Petitionen und Protester klärungen änderten jedoch nichts daran, daß das Genehmigungs- und Kon trollrecht der Behörden gesetzlich verankert wurde. Viele Berufsverbände mußten nach 1876 befürchten, daß ihre lokalen Kassenvereine den Leistungsanforderungen des Gesetzes nicht genügten und daher auch nicht als eingeschriebene Hilfskassen anerkannt wurden. Eine Zusammenfassung der lokalen Kassen in einem zentralen Dachver band, der Lücken ausglich und Ungleichheiten glättete, bot sich daher an, zumal das Gesetz eine solche Zentralisation ausdrücklich erlaubte und die Verbandsmitglieder seit jeher eine Aufhebung lokaler Begrenzungen gefor dert hatten: 1876 sprach sich der Kongreß deutscher Zimmerer dezidiert für die »Notwendigkeit einer gut organisierten Krankenkasse« aus, »da die örtlichen Krankenkassen meist noch aus der Zeit der alten Zunftverhältnisse existieren und so den heutigen Zeitverhältnissen nicht mehr angepaßt sei en« 122 . Noch im gleichen Jahr richtete die Zimmerer-Gewerkschaft eine zentrale Kasse ein. Der 1877 stattfindende Kongreß der deutschen Zimmer leute nahm daraufhin einstimmig eine Resolution an, die »allen deutschen 320 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Genossen den Anschluß an diese Kasse empfahl«123. A uch der 1877 gegrün dete Verband der deutschen Schmiede richtete sogleich eine zentrale Kran kenkasse ein, die den Normativbestimmungen des Hilfskassengesetzes an gepaßt war 124 . Bei fast allen Berufsverbänden war demnach der Trend zur Zentralisation der lokalen Krankenkassen deutlich erkennbar. Einerseits empfand man die lokale A bgeschlossenheit der Vereinskassen als großes Hindernis für die erstrebte Freizügigkeit und Mobilität der Arbeiter125. Daneben konnte eine zentrale Organisation gute Dienste für die Integration der Berufsgenossen in einen nationalen Verband leisten und lokale Partikularismen, die nicht selten zum Ausdruck kamen, einebnen. Die Zentralkrankenkassen wiesen sich bereits in ihren Statuten als A ffilia tionen der Gewerkschaften aus. Beitrittsberechtigt (nicht aber-verpflichtet!) waren nur Personen, die zugleich auch der jeweiligen Berufsorganisation angehörten. Mitglieder, die »die Gesamtinteressen der Gewerkschaft vor sätzlich zu schädigen« versuchten, wurden auch aus den Kassen ausgeschlos sen126. Die Leitung der Zentralkassen oblag in der Regel dem Gewerk schaftsvorstand, der beide Ämter in Personalunion ausübte. Nach A nsicht des Vorsitzenden des Deutschen Tabakarbeitervereins, Fritzsche, würde eine Trennung von Gewerkschaft und Krankenkasse »gerade das Gegenteil von dem erzielen, was man beabsichtigt. Statt daß die Zentralkranken- und Sterbekasse ein Mittel zur Kräftigung und Vergrößerung der Gewerkschaft werde, würde sie bei getrennter Verwaltung den Dualismus großziehen; die Zentralkranken- und Sterbekasse würde sich selbst Zweck werden« 127 . Unter den seit Mitte der 1870er Jahre verschärften politischen Rahmenbe dingungen hatte eine solch enge Verbindung von Krankenkasse und Berufs verband allerdings auch gravierende Nachteile. Das zeigte sich vor allem 1878, als die Regierung mit Hilfe des Sozialistengesetzes die politischen und beruflichen Organisationen der A rbeiter verbot. Da sich die Identität von Kassen und Gewerkschaften statutennah rekonstruieren ließ, löste man zugleich auch die Krankenkassen auf. Selbst wenn die Kassenvorstände darauf hinwiesen, daß die Kassen lediglich soziale Unterstützungsfunktio nen wahrnahmen und »jede Politik verpönt« gewesen sei, schützte sie das nicht vor dem Verbot128. Vielmehr beharrte das Innenministerium darauf, daß die Kassen organisatorisch ein Teil der Gewerkschaft wären und daß deshalb »diejenigen Bestrebungen, welche den Verband überhaupt beherr schen, notwendig auch innerhalb seiner Teile zu Tage treten, mithin auch innerhalb der beklagten Kasse«129. Gleich in den ersten Wochen nach Erlaß des Sozialistengesetzes wurden neben 17 Zentralverbänden und 63 Lokalvereinen auch 16 zentrale Unter stützungskassen offiziell aufgelöst130. Nur vier gewerkschaftliche Hilfskas sen blieben bestehen (Tischler-, Zimmerer-, Maurer- und Wagenbauerkas se) und setzten ihre Unterstützungstätigkeit fort131. A llerdings unterlagen sie einer strengen polizeilichen Überwachung. Der Braunschweiger Polizei321 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
direktor gestattete den Mitgliedern der lokalen Kassenfilialen nicht einmal, Kassenversammlungen abzuhalten, da er annahm, »daß letztere zur Förde rung verbotener sozialdemokratischer Bestrebungen bestimmt seien; diese Annahme rechtfertigt sich durch die Thatsachen einerseits, daß die Unter stützungsverbände als integrierende und für die Polizei A ngesichts des Hülfscassengesetzes >unnahbare< Theile der socialdemokratischen Gewerk schaftsorganisation gegründet sind«132. Die A usfuhrungsbestimmungen legten es den örtlichen Polizeibehörden nahe, die eingeschriebenen Hilfskas sen ganz besonders »sorgfältig« zu beobachten und »umsichtig« zu behan deln. Einerseits sollte »jede Beeinträchtigung ihrer heilsamen Zwecke thun lichst vermieden«, zum andern aber »dem bereits vielfach bemerkten und voraussichtlich noch zunehmenden Mißbrauch dieser Vereine zur Förde rung socialdemokratischer Bestrebungen entgegengetreten werden« 133 . Die relativ »unnahbare« Position der eingeschriebenen Hilfskassen ließ sie, ganz wie die Behörden befürchtet hatten, in den folgenden Jahren tatsächlich zu einem Sammelbecken politisch und gewerkschaftlich aktiver Arbeiter werden. Schon bald nach der Auflösung der zentralen Unterstüt zungskassen bildeten sich, zuerst auf lokaler, dann auf nationaler Ebene, neue Kassenorganisationen, die nach außen hin politische Neutralität wahr ten. Zwischen 1879 und 1884 entstanden insgesamt 27 Zentralkassen, und obwohl sie, wie der Berliner Polizeipräsident 1886 an den Innenminister schrieb, »fast durchweg unter sozialdemokratischem Einfluß stehen«, boten sie keine Handhabe zu einem Verbot aufgrund des Sozialistengesetzes, »da ihnen eine Agitation im Sinne dieses Gesetzes nicht nachzuweisen gewesen ist« 134 . Fast immer waren diese Kassen mit Berufsvereinen verbunden, die meist in Anlehnung an bereits bestehende Hilfskassen (neu-)gegründet wor den waren. Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes erwiesen sich die Krankenkassen erneut als wirksame Instrumente, den Gewerkschaften Mitglieder zuzuführen und einer verbandsinternen Fluktuation entgegenzu wirken. Ähnlich wie in der Reaktionsperiode der 1850er Jahre hatten die Arbeiter in ihren behördlich kontrollierten Kassen die Möglichkeit, einen relativ autonomen Binnenraum sozialer und politischer Kommunikation zu entwickeln, der A nstöße für weitergehende Organisationsprozesse gab. Daß die gewerkschaftliche und politische A rbeiterbewegung eher gestärkt aus den Jahren der Verfolgung und Repression hervorging135, lag nicht zuletzt auch an den Integrations- und Organisationsleistungen der Kranken kassen, deren unabhängige Existenz nach A nsicht A ugust Bebeis »für die Blüthe des Fachvereins- und Gewerksgenossenschaftswesens eine Lebensfrage« war 136 .
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4. »Lutschbeutel« oder »Gewerkschaftssäule«? Krankenkassen in der politischen Diskussion Die positive Beurteilung der Arbeiterkrankenkassen aus dem Munde eines sozialdemokratischen Politikers war 1883 nichts Neues mehr. Ebenso wie die Gewerkschaften als unverzichtbarer Bestandteil der gesamten A rbeiter bewegung akzeptiert worden waren, erfreuten sich nunmehr auch die Kas sen großer Beliebtheit - zumal sie die Möglichkeit boten, verdiente Mitglie der, die wegen ihrer Parteizugehörigkeit auf »schwarzen Listen« standen, auf sicheren und bezahlten Verwaltungsposten unterzubringen137. Vierzehn Jahre zuvor hatte Bebel im Norddeutschen Reichstag die Kran kenkassen noch als »Palliativmittelchen« bezeichnet, »die nur wenig nüt zen«. Nachdem er, wie er selbst zugab, lange Zeit »einer der entschiedensten Anhänger der sogenannten Selbsthülfe« gewesen sei, habe er sich nunmehr auf das »socialdemokratische Prinzip« gestellt138. Damit spielte Bebel offen sichtlich auf seine langjährige Mitarbeit in der A rbeiterbildungsvereins Bewegung an, die zumindest bis 1867 fest in der Hand liberaler Politiker gewesen war. A uf den seit 1863 stattfindenden Vereinstagen deutscher Arbeitervereine war das Kassenwesen stets ein zentrales Thema gewesen. Spar-, Kranken-, Invaliden-, A ltersversorgungs- und Wanderunterstüt zungskassen standen jedes Jahr von neuem auf der Tagesordnung und wurden den Arbeitern wärmstens empfohlen, um ihre materielle Situation zu verbessern139. Die Genossenschaftsideen des Fortschritts-A bgeordneten Schulze-Delitzsch fanden gerade in den A rbeiterbildungsvereinen starke Resonanz: »Selbsthilfe« stand bei den zumeist dem handwerklichen Milieu entstammenden Vereinsmitgliedern hoch im Kurs. Das liberale Credo, wonach der einzelne nur durch A nspannung aller Kräfte, aber in »A ssocia tion« mit Gleichgesinnten und Gleichbefähigten »auf dem Felde des Erwer bes« vorwärts kam und zum Bürger, zum Besitzer wurde 140 , tauchte konti nuierlich in allen programmatischen Verlautbarungen der A rbeitervereine auf, die sich scharf von der Lassalleschen Forderung nach »Staatshilfe« distanzierten141. Prominente Theoretiker des Genossenschaftskonzepts wie der konservative Professor V. A . Huber waren Gäste auf den Vereinstagen, liberale Politiker wie Max Hirsch Delegierte der lokalen A rbeiterbildungs vereinc142. Unter dem Eindruck der Mitgliedererfolge, die der 1863 gegründete lassalleanischc A llgemeine Deutsche A rbeiterverein für sich verbuchen konnte, machte sich seit 1866/67 auf den Vereinstagen der Arbeiterbildungs vereine immer häufiger Unmut über die dezidiert »unpolitische« Haltung der Organisation bemerkbar. Besonders offenherzig äußerte sich das Unbe hagen am Selbsthilfe-»Evangelium« der Liberalen in einer A rtikelserie des Demokratischen Wochenblattes, das seit 1868 als Organ des Verbandes Deutscher A rbeitervereine unter der Redaktion von Wilhelm Liebknecht erschien. Unter dem Titel »Selbsthilfe und Staatshilfe« polemisierte der 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
anonyme Verfasser gegen die bestehenden Unterstützungskassen, die die gedrückte Lage der A rbeiter lediglich auspolsterten und die »Bourgeoisie« von jeder Verantwortung freisprachen. Eigentlich sei das »Kapital, welches die A rbeitskraft schrankenlos ausbeutet«, auch verpflichtet, »die Mittel herzugeben, damit der Arbeiter Beistand und Pflege erhalte, wenn er krank wird, damit er nicht Hungers sterbe, wenn er durch Verletzungen oder Alter arbeitsunfähig wird«. Die Selbsthilfe der Arbeiter nähme der »Bourgeoisie« diese Reproduktionspflicht ab und belastete die Betroffenen mit kaum er träglichen Kosten, während sich die Unternehmer über diese »neue Lehre von der Sündenvergebung« freuen könnten. Sie sei für den Arbeiter weiter nichts als ein »Lutschbeutel . . . der ihn still macht, und ihn, da er selbst so vortrefflich für seine Gesundheit, Nahrung und Invalidität fürsorgt, arbeits fähiger im Interesse des Kapitals« werden lasse143. Trotz dieser massiven Verdammung des Unterstützungswesens waren die Arbeitervereine nicht bereit, diesen Zweig ihrer Tätigkeit gänzlich abzu spalten - zumal man sich von dem »gegenwärtigen Staat in seiner fehlerhaf ten Organisation, welche den Staatszweck in der herrschenden Klasse aufge hen läßt«144, keine positive Hilfe versprach. Bis der »Klassenstaat« von einem »freien Volksstaat« abgelöst wurde, mußte man den Bedürfnissen der Arbeiter nach sozialer Sicherung weiterhin in Form von selbstorganisierten Unterstützungskassen Rechnung tragen. Allerdings sollten die »Lutschbeu tel« weder ideologisch noch praktisch im Mittelpunkt stehen, sondern einer offensiveren Strategie weichen, die sich in erster Linie auf allgemeinpoliti sche Fragen und A nliegen konzentrierte. Der 5. Vereinstag beschloß 1868 mehrheitlich, sich von einer Politik der »Palliativmittel« zu trennen: »Die Arbeiterbildungsvereine haben lange genug, und doch in der Hauptsache erfolglos, mit den kleinen Fragen der sozialen Besserstellung der A rbeiter kostbare Zeit und A rbeitskraft vertändelt; jetzt heißt es: Organisation, Machtentfaltung unter dem Banner der sozialen Demokratie!«145 Auf Antrag mehrerer Redner (u. a. Liebknecht und Vahlteich) sprach sich der Vereinstag dafür aus, berufsmäßig differenzierte »Gewerks-Genossen schaften« nach dem Vorbild der englischen Trade Unions zu gründen und diesen Organisationen auch die A ufgaben des Unterstützungswesens zu übertragen. A uf diese Weise wollte man mehrere Ziele auf einmal erreichen: Zum einen könnte es gelingen, für den Berufsverein auch solche Arbeiter zu gewinnen, die der politischen Bewegung bislang noch fernstünden, und sie allmählich in diese Bewegung hincinzusozialisieren. Die Gewerksgenossen schaften würden damit zu einer »allezeit schlagfertigen A rmee für die politi sche und soziale Emanzipation des Volkes«. Die Kassen als werbewirksames Instrument würden der Bewegung »neue Kräfte« zuführen, die »vereint mit uns zu kämpfen haben im Dienste der großen Principien, für deren Verwirk lichung zu arbeiten speziell unsere A ufgabe ist«. Zum andern wäre die Organisationsstruktur der Gewerksgenossenschaften gerade für das Unter stützungswesen von großem Vorteil: Die »Gleichartigkeit des Gewerkes, 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
der Lebensweise und des Lohnes, sowie das gegenseitige Bekanntsein der Mitglieder« könnten sich nur positiv auf die innere Geschlossenheit und Funktionsfähigkeit der Kassen auswirken146. Mit diesem Plädoyer für berufsmäßig gegliederte Unterstützungskassen, die mit Berufsvereinen verknüpft waren, nahm der Vereinstag bzw. seine Mehrheitsfraktion A bschied von dem bisherigen Organisationsmodell der Arbeiterbildungsvereine, die berufsübergreifend strukturiert waren und folglich auch allgemeine Krankenkassen eingerichtet hatten. Sowohl für die Mitgliederwerbung als auch unter dem Aspekt einer pragmatischen Arbeits teilung schien es sinnvoller, an den traditionellen Organisationsfundus der im handwerklichen Milieu beheimateten A rbeiter anzuknüpfen, die nach wie vor in die gewerksbezogenen Einrichtungen sozialer Sicherung und Kommunikation eingebunden waren. Daß man diese Bindungen nicht so rasch aufheben konnte, hatte die Entwicklung in jenen Städten gezeigt, wo Versuche mit lokalen berufsübergreifenden Krankenkassen gemacht wor den waren. In Leipzig hatte der Gewerbliche Bildungsverein Ende 1864 eine Initiative zur Vereinigung sämtlicher Fachverbände gestartet, die sich um die jeweiligen Gewerkskrankenkassen gruppierten. Obgleich die Vorstände der Verbände eine solche Verschmelzung wünschten, kam sie doch nicht zustande. Die Zimmerer-, Buchdrucker- und Maurergesellen scherten aus, und nur der Verein »Vorwärts« schloß sich mit dem »Gewerblichen Bil dungsverein« zu einem »A rbeiterbildungsverein« zusammen. A uch das auf der Versammlung aller Vereinsvorstände angesprochene Projekt einer allge meinen Krankenkasse fand keinen Rückhalt in den Berufsvereinen147. In Dresden bildete sich 1867 aus den Vertretern verschiedener Gewerkskran kenkassen ein »Deputiertenverein«, der es sich zur A ufgabe machte, »die Krankenkassen zu reformieren, sowie die Rechte der A rbeiter allenthalben zu wahren« 148 . Der Plan einer allgemeinen Krankenkasse für alle Gewerks zweige wurde nicht realisiert; vielmehr stimmte eine sehr gut besuchte Arbeiterversammlung mehrheitlich gegen eine lokale Zusammenfassung aller Kassen und befürwortete die Beibehaltung der berufsmäßigen Organi sation, allerdings unter voller Selbstverwaltung der Gesellen149. Solche Erfahrungen legten es nahe, die verschiedenen A nliegen und A n satzpunkte der A rbeiterbewegung organisatorisch zu entflechten. Die Be rufsvercine sollten erhalten bleiben und sich der sozialen und ökonomischen Lebensbedürfnisse ihrer Mitglieder annehmen. Parallel dazu konstituierte sich ein politischer Verband, dem die allgemeine Vertretung der A rbeiterin tercssen im Staat oblag. Beide Teile der Bewegung waren sowohl personell als auch programmatisch eng miteinander verflochten. Diese auf dem 5. Vereinstag diskutierte Doppelstruktur entsprach ziem lich genau dem Organisationsmodell der 1866 in Genf gegründeten und maßgeblich von Marx und Engels beeinflußten Internationalen A rbeiter Assoziation, der sich der Vereinstag auf Antrag Bebeis anschloß. Um diese Verbindung zu unterstreichen, wählte Bebel für die geplanten Berufsver325 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
bände die Bezeichnung »Internationale Gewerksgenossenschaften«. In ei nem auf Beschluß des Nürnberger Vereinstags ausgearbeiteten Musterstatut wurden die Ziele und Handlungsfelder der Gewerksgenossenschaften klar definiert. Im Mittelpunkt stand ein weitgefächertes Kassenwesen, das mit der Streikunterstützung begann und bei der Wanderunterstützung aufhör te 150 . Dabei sollten die Gewerksgenossenschaften die Kassen nicht unbe dingt neu gründen, sondern sich bemühen, »die fast überall schon bestehen den Kassen dieser Art heranzuziehen«. A uf diese Weise könnten sie auf eine Mitgliederbasis zurückgreifen, die über den Kreis der politisch und gewerk schaftlich interessierten A rbeiter weit hinausreichte. Die an vielen Orten aufbrechenden Konflikte zwischen Meistern und Gesellen um die Verwal tung der Krankenkassen boten den umherreisenden »A gitatoren« eine gün stige Gelegenheit, die Kassenmitglieder zu politisieren und für die entste henden Gewerksgenossenschaften zu interessieren. In diesem Sinne hob der provisorische Verwaltungsrat der Internationalen Gewerksgenossenschaft der Schuhmacher hervor, es sei zweifellos »ein sehr gutes A gitationsmittel, wenn die Gewerkschaften überall dahin streben, entweder Ortskrankenkas sen zu gründen, wo keine sind, oder die Vereinigung der bestehenden Krankenkassen mit den Gewerkschaften herbeizuführen«151. Die Gewerksgenossenschaften, die 1872 11358 Mitglieder hatten152, wa ren personell und sachlich eng mit der 1869 gegründeten Sozialdemokrati schen Arbeiterpartei (SD AP) verbunden, die die auf dem Nürnberger Ver cinstag von 1868 eingeschlagene Linie fortsetzte. A uf dem Eisenacher Grün dungskongreß betonten viele Delegierte, wie wichtig die Gewerkschaften als »Hebel unserer A gitation«, als Transmissionsriemen der »socialpoliti schen Ideen« der Partei in die »A rbeitermassen« wären. Vor allem die Kranken- und Unterstützungskassen spielten dabei eine große Rolle: Sic zögen die Arbeiter in die Gewerkschaften hinein, und von da war der Weg bis zur Parteimitgliedschaft nicht mehr weit: »Daß Wander-. Kranken- und Invaliden-Unterstützungen nothwendig sind, begreift jeder Arbeiter, und bald finden sie, daß sie unter den heutigen Lohnverhaltnissen nicht in der Lage sind, die Mittel zu diesen Unterstützungen aufzubringen, sondern daß sie auf Erhöhung des Verdienstes und, als Vorbedingung, auf A bkürzung der A rbeitszeit hinwirken müssen. So werden sie der sozialen Bewegung zugeführt.«153
Um den Gewerksgenossenschaften ihr »A gitationsmittel« zu sichern, setzten sich die Parlamentarier der A rbeiterpartei im Reichstag für eine Aufhebung der Zwangskassen ein und forderten den Staat auf, die Autono mie der freien Kassen zu garantieren. Bebel sprach sich ebenso wie die Abgeordneten der Fortschrittspartei dafür aus, den »heutigen Staat« von den Arbeiterkassen fernzuhalten und die Verwaltung der Kassen den A rbeitern selbst zu überlassen154. Die Übereinstimmung mit der »liberalen Bourgeoi sie« reichte allerdings nur bis zur A blehnung staatlicher Kontrolle und Intervention. A uf dem Gebiet praktischer Kassenpolitik dagegen faßte die SDAP die Fortschrittspartei als unliebsame Konkurrentin auf. In Anlehnung 326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
an die Organisationsstruktur und inhaltliche A usrichtung der englischen Trade Unions, die der sozialpolitische Wortführer der Partei, Max Hirsch, 1868 auf einer Reise genauer studiert hatte, entstanden 1868/69 die ersten berufsspezifischen »Gewerkvereine«. Nach mehreren A uftritten Hirschs und Dunckers auf Versammlungen der Berliner Maschinenbauer konstitu ierte sich Ende 1868 der Gewerkverein der Maschinenbau- und Metallarbei ter. 1869 folgten Gewerkvereine der Tischler und Zimmerer, der Schuhma cher, Porzellanarbeiter, Maler, Bergarbeiter und andere mehr155. Das 1868 veröffentlichte Musterstatut der Deutschen Gewerkvereine, das auf vielen Arbeiterversammlungen diskutiert worden war, wies, ähnlich wie das der Gewerksgenossenschaften, dem Unterstützungswesen eine immense Be deutung zu. Der Zweck des einzelnen Gewerkvereins, nämlich der »Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder auf gesetzli chem Wege«, sollte hauptsächlich mit Hilfe von Kranken-, Sterbe- und Invalidenkassen erreicht werden. A n erster Stelle standen die Krankenkas sen, die jeder Gewerkverein, »falls eine solche noch nicht vorhanden ist«, einzurichten hatte. »Zu diesem Behufe« sollte er sich für die »Beseitigung der Zwangskassen« einsetzen bzw. »soweit dies nicht möglich ist«, die »Vereinigung und Verbesserung der bestehenden« in Angriff nehmen. Ge rade ihr unermüdlicher Einsatz für freie Krankenkassen - 1868 gründeten Hirsch, Duncker und Schulze-Delitzsch in Berlin sogar ein offizielles »Ko mite zur A gitation gegen die Zwangs-Gewerks-Kassen«156 - verschaffte den Fortschrittsliberalen bei den Arbeitern viele Sympathien und trug wahr scheinlich auch zum Mitgliedererfolg ihrer Gewerkvereine bei. Ende 1869 gehörten dem ein halbes Jahr zuvor konstituierten Verband der Deutschen Gewerkvereinc immerhin 12 zentrale Fachverbände mit 267 Ortsvereinen und etwa 30000 Mitgliedern an157. Darüber, daß die meisten A rbeiter den Gewerkvereinen nur wegen ihrer Unterstützungseinrichtungen beitraten, waren sich die Verbandsgründer durchaus im klaren. Hirsch beklagte 1871 die restriktive Haltung der Regierung, die auch die freien Kassen einer staatlichen Genehmigungspflicht und Kontrolle unterwerfen wollte. Ohne diese Politik hätten die Gewerkvereine »die zehnfache A nzahl von Mitglie dern« gewinnen können. »So aber sind viele Tausende von A rbeitern zu rückgehalten worden, weil damals der Wahn herrschte: Du mußt der Zwangskasse angehören, die anderen Kassen haben keine gesetzliche Exi stenz und sind nicht berechtigt.« 158 Die Kassen warben nicht nur Mitglieder - sie waren ebenso dazu da, »den Zusammenhalt der Organisation (zu) vermitteln«159. Grundlage war auch hier das Berufsprinzip, das die innere Homogenität am besten zu garantieren schien und die Integrationskraft der Vereine stärkte. Darüber hinaus hatten die Krankenkassen in der Optik der Fortschrittsliberalen eine eindeutig konservative Funktion, und nicht zufällig gewann das Unterstützungswe sen in der Verbandspolitik desto mehr an Bedeutung, je entschiedener sich die Leitung von den Streikbewegungen der A rbeiter distanzierte. In dem 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Maße, wie die Gewerkvereine »jede prinzipielle Feindseligkeit gegen das Kapital« von sich wiesen160, wollten sie die Kassen zur Befriedung unruhi ger Arbeiter benutzen. Hirsch, der auch im Reichstag immer wieder auf die anti-sozialdemokratische Wirkung des Kassenwesens zu sprechen kam, faß te den negativen Zusammenhang von Hilfskassen und Sozialismus 1875 in die Worte: »Wenn die Gefahr der Klassenorganisation unleugbar in dem Mißbrauch der vereinten Kräfte zu einseitigem und gewaltsamen Eingriff in den Wirthschaftsorganismus, insbesondere zu ungerechtfertigten Strikes, besteht, so wirkt nichts dem so sicher und kräftig entgegen, als die friedliche und vorsorgende Beschäftigung mit der Hülfskasse. Durch diese wird Sinn und Interesse der Mitglieder und Leiter auf das Solide und Stetige, auf das allgemein Menschliche hingelenkt; man sucht das Heil nicht mehr blos im Kampfe nach außen, sondern auch in der inneren Entwicklung, in der Pflege der Gegenseitigkeit.«161
In schroffem Gegensatz zu den Gewerksgenossenschaften dienten Kassen hier also nicht als »Durchlauferhitzer«, in denen erste politische Erfahrungen gesammelt und für die revolutionäre Parteiarbeit agitiert werden konnte. Statt dessen sollte ein solcher Politisierungsprozeß durch die bestandssi chernde Tätigkeit der Kassen geradezu verhindert werden. Die enorme A ufwertung des Kassenwesens innerhalb der liberalen Ge werkvereine und sein großer Erfolg - 1873 zählten die Gewerkvercinskassen an die 20000 Mitglieder162 - setzten die sozialistischen Gewerkschaften einem starken Nachahmungsdruck aus. Hatten die Internationalen Ge werksgenossenschaften den Unterstützungskassen schon breiten Raum ge geben, so sah sich auch die dritte, den Lassalleanern nahestehende »Frak tion« der gewerkschaftlichen A rbeiterbewegung genötigt, werbewirksame Integrationsstrategien zu entwickeln. Ursprünglich hatte Ferdinand Lassalle als Gründer des Allgemeinen Deutschen A rbeitervereins (A DA V) die öko nomische Bewegung der A rbeiter eher stiefväterlich behandelt und sein Organisationsgeschick vornehmlich auf die Konstituierung einer selbstän digen politischen A rbeiterpartei verwandt. Ebenso wie sein »ehernes Lohn gesetz« den Gewerkschaften prinzipiell keinen Handlungsspielraum ein räumte, war für ihn auch der Nutzen von Unterstützungskassen »kaum der Rede wert«. Die angestrebte nationale Organisation aller Arbeiter sollte sich mit einem so »kleinen Mäuschen« nicht abgeben, sondern statt dessen auf politischem Wege darauf hinarbeiten, die »normale Lage des gesamten Arbeiterstandes . . . über ihr jetziges Niveau zu erheben«. Spar-und Kran kenkassen dagegen wollten lediglich »das Elend von A rbeitcrindividuen erträglicher« gestalten und verhindern, daß »einzelne A rbeiterindividuen noch unter die normale Lage des A rbeiterstandes hinuntergedrückt wer den«. Dieser »so höchst beschränkte und untergeordnete Zweck« sei am besten den lokalen Vereinen zu überlassen; eine allgemeine A rbeiterpartei durfte ihre Energien nicht damit vergeuden163. An der ersten Gründungswelle zentraler Gewerkschaftsverbände zwi schen 1865 und 1868 nahm der A DA V denn auch nur geringen A nteil164. 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Sein Vorsitzender Schweitzer stand der neuen Bewegung zunächst sehr skeptisch gegenüber, befürchtete er von ihr doch eine Schwächung der politischen »Tatkraft« des A DA V 165 . Unter dem Eindruck der bevorste henden Initiative des Vereinstags deutscher A rbeitervereine zugunsten be rufsgebundener Fachverbände setzte sich jedoch auch im A DA V eine ge werkschaftsfreundlichere Haltung durch, die 1868 zur Einberufung eines Allgemeinen Deutschen A rbeiterkongresses führte166. A uf diesem Kon greß, der von 205 Delegierten besucht war, die 142000 A rbeiter aus 56 Berufszweigen vertraten, konstituierten sich mehrere neue »A rbeiterschaf ten« und schlossen sich in einem »A llgemeinen Deutschen A rbeiterschafts verband« zusammen167. A uf dessen erster Generalversammlung ein Jahr später entspann sich eine heftige Kontroverse über den Stellenwert von Krankenkassen. Während Theodor Yorck von der Holzarbeitergewerk schaft die Kassen als »zweckmäßiges A gitationsmittel« rühmte und ihren weiteren A usbau empfahl, wollte Fritzsche vom Tabakarbeiterverein eine solche Priorität nicht zulassen. Außer ihm sprachen sich jedoch alle weiteren Redner für Krankenkassen aus und nahmen schließlich eine Resolution an, die die einzelnen Arbeiterschaften aufforderte, zentralisierte Krankenkassen zu gründen. Eine berufsübergreifende allgemeine Verbandskrankenkasse hielt man nicht für opportun168. Dieses Organisationsmodell, das das zentralistische Zwischenspiel von 1870/71 (Auflösung aller Fachverbände und Verschmelzung in einem A rbei tcr-Unterstützungsverband) unbeschadet überlebte, bestand auch nach der Vereinigung lassalleanischer und Eisenacher Gewerkschaften imjahre 1875 fort. In den einzelnen Berufszweigen existierten selbständige Fachverbände, die über ein autonomes zentralisiertes Kassenwesen verfügten. Die Kassen galten ausdrücklich als »Fundamente der Bewegung, und es basiren alle Erfolge auf der zweckmäßigen und billigen Einrichtung derselben«169. Nachdem das Hilfskassengesetz 1876 in Kraft getreten war, paßte sich die Mehrzahl der Gewerkschaften der neuen Situation an und beantragte für ihre zentralen Kassen den Status eingeschriebener Hilfskassen. Die Sozialdemokraten hatten dieses Gesetz scharf kritisiert und letztlich ebenso wie das Krankenversicherungsgesetz von 1883 - abgelehnt. Sic stimmten zwar mit der Regierung darin überein, daß ein Kassenzwang notwendig war, um die soziale Sicherung der A rbeiter zu gewährleisten, verbaten sich aber jede Einmischung der Behörden in die inneren A ngele genheiten der Arbeiterkassen. Schon das Gothaer Programm von 1875 hatte in seinem letzten Punkt die »volle Selbstverwaltung für alle A rbeiterhülfs und Unterstützungskassen« gefordert170. A uch im Reichstag setzten sich die sozialdemokratischen A bgeordneten, vor allem Bebel, Hasselmann, Rei mer, Geib und Vahlteich, entschieden für die »vollständige Freiheit und das Recht auf Selbstverwaltung der A rbeiter in Bezug auf ihre Kassen« ein171. Sie wandten sich sowohl gegen ein Kontroll- und Konzessionsrecht der Behörden als auch gegen die Beteiligung der A rbeitgeber an den Kassen, 329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
worin sie den Versuch sahen, »die soziale Bewegung, die in den A rbeiter kreisen immer mehr und mehr um sich greift, niederzuhalten«. Die Kran kenkassen sollten das alleinige Eigentum der Arbeiter sein, A usdruck ihrer Selbständigkeit und »Mündigkeit«. A nstatt die Fabrikanten zu geringfügi gen Beiträgen heranzuziehen, mit denen sie sich von ihrer sozialen Verant wortung freikaufen konnten, sollte der Staat für einen wirksamen A rbeiter schutz sorgen. Schließlich sei es allemal leichter, »Krankheiten zu verhüten, als zu heilen«. Unbestreitbar trage »das jetzige Fabrikwesen . . . unendlich zu den Krankheiten bei«, und es sei deshalb weit wichtiger, die Arbeitgeber zu veranlassen, »die gehörigen Räumlichkeiten und Einrichtungen, wie sie für die Erhaltung der Gesundheit, vielleicht auch für die Erhaltung des Lebens der A rbeiter erforderlich sind, zu beschaffen«, als daß man ihnen Beiträge zur Krankenversicherung abverlange172. Diese Argumentation, die sich in den Parlamentsdebatten zum Kranken versicherungsgesetz 1883 fast unverändert wiederholte, ließ die prinzipielle Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber den Krankenkassen nicht im unklaren. Zur Lösung der eigentlichen sozialen Probleme waren die Kassen gänzlich ungeeignet, da sie Schäden letztlich nur reparierten, aber nicht dauerhaft beseitigten. In diesem Sinn waren sie also nur »Palliativmittel chen«, und die staatliche Versicherungsgesetzgebung der 1870er und 1880er Jahre hatte, wie Bebel es formulierte, »von unserem prinzipiell socialisti schen Standpunkt aus sehr wenig Interesse für uns« 173 . Ein umfassender Arbeiterschutz, Fabrikinspektionen und eine systematische Gesundheitspo litik auf kommunaler Ebene konnten die soziale Lage der Arbeiterklasse weit wirksamer verbessern als Kranken-, Invaliden- oder A ltersversorgungs kassen174. Andererseits schätzten Sozialdemokraten gerade die Krankenkassen als vielversprechendes A gitationsmedium175, das die abseits stehenden »A rbei termassen« an die »soziale Bewegung« heranführen und den A rbeiterorga nisationen Stabilität und Zusammenhalt verleihen konnte. Vor allem in Repressionsperioden war dies von unschätzbarer Bedeutung, da die Kran kenkassen die Kontinuität der verbotenen oder unterdrückten Gewerk schafts- und Parteiverbände verbürgten. A uf den Diskussionsveranstaltun gen zum Krankenkassengesetz von 1883, die unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes stattfanden, setzten sich die sozialdemokratischen Parla mentarier deshalb auch entschieden für den Beitritt der A rbeiter zu freien Hilfskassen ein, in denen Sozialdemokraten häufig den Vorsitz führten176. Viele Arbeiter kamen dieser Aufforderung nach und traten den »gewerk schaftlichen« Zentralkassen bei, die 1886 insgesamt 263684 Mitglieder in 2764 lokalen Filialen hatten177. Vor dem Erlaß des Sozialistengesetzes waren dagegen maximal 50- bis 60000 Arbeiter in den von liberalen und sozialde mokratischen Gewerkschaften gegründeten Krankenkassen organisiert ge wesen178. Hinter diesen Erfolgen verbarg sich jedoch weniger eine bewußte politische Entscheidung der Mitglieder für eine sozialdemokratisch beein330 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
flußte Kasse als vielmehr die attraktiven Beitrags- und Leistungskonditio nen der freien Hilfskassen. A ufgrund ihrer hohen Exklusivität, die ältere und kränkliche A rbeiter von vornherein ausschloß, konnten sie verhältnis mäßig niedrige Beiträge mit hohen Leistungsangeboten verbinden. A uch die Form dieser Leistungen kam den Bedürfnissen und Wünschen der Klien tel entgegen: Die Hilfskassen zahlten nur Geldunterstützungen und überlie ßen es den A rbeitern, wieviel sie von ihrem Krankengeld für A rztbesuche und Medikamente ausgaben. Freie A rztwahl und arbeitgeberfreie Kassen verwaltung mögen die A nziehungskraft der »gewerkschaftlichen« freien Hilfskassen noch verstärkt haben. Trotzdem blieb das Gros der versicherungspflichtigen A rbeiter diesen Kassen nach wie vor fern. Von den 4,3 Millionen A rbeitern, die Ende 1885 einer Krankenkasse angehörten, waren nur 17% in eingeschriebenen Hilfs kassen versichert, dagegen fast 30% in Fabrikkassen, 35,7% in Ortskran kenkassen und der »negative« Rest in sog. Gemeindekassen179. Unter den Hilfskassenmitgliedern gehörte wiederum nur jeder dritte einer sozialdemo kratisch orientierten Kasse an, so daß insgesamt lediglich 6% der in Industrie und Handwerk beschäftigten und gegen Krankheit versicherten A rbeiter von den unmittelbar »politischen« Krankenkassen erfaßt wurden. Die Kassenpolitik der Sozialdemokraten und Gewerkschaften blieb in ihrer praktischen Reichweite mithin äußerst begrenzt. Dies sollte sich erst ändern, als die Partei zu Beginn der 1890er Jahre ihre Hauptaufmerksamkeit den mitgliederstarken Ortskrankenkassen zuwandte. In diesen von A rbei tern und A rbeitgebern gemeinsam verwalteten und finanzierten Kassen konnten die Sozialdemokraten ihren Einfluß auf die Masse der noch unpoli tisierten A rbeiter ausdehnen und ihrer »Doppelstrategie«, die Kassen nicht als Endzweck, sondern gleichsam als A nsatzpunkt und Mittel politischer Praxis zu nutzen, einen größeren Erfolg sichern180. Insgesamt, so läßt sich resümieren, war ein »organisationsfähiges Interes se« an der Versicherung ihrer Arbeitsfähigkeit vor allem bei jenen Arbeiter gruppen stark ausgeprägt, die an eine vorindustrielle Tradition formaler Sichcrungssysteme anknüpfen konnten181. Im sozialen Erfahrungsbereich von Handwerksgesellen oder gelernten Fabrikarbeitern handwerklicher Herkunft hatte die kollektive Selbsthilfe bei Krankheit und Tod einen festen Platz inne, und von ihnen gingen folgerichtig auch die Initiativen zur Grün dung freier Krankenkassen aus. Die ungelernten Fabrikarbeiter dagegen, die größtenteils dem ländlich-heimgewerblichen Milieu entstammten, mußten sich erst allmählich an die ihnen gänzlich unvertrauten Institutionen sozialer Vorsorge und Unterstützung gewöhnen. Ebenso wie sie sich erst nach und nach und unter beharrlichem Zwang in die Ordnung und Zeitdisziplin der Fabrik einfügten, dauerte es eine geraume Zeit, bis sie die in den Kassen vermittelten Lektionen von Regelmäßigkeit, instrumenteller, zweckgebun331 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
dener Solidarität und kollektiver Kontrolle gelernt hatten. A uch die Sozial demokraten wußten, daß die Mehrzahl der Arbeiter nicht aus freien Stücken einer Krankenkasse beitreten würde, und sprachen sich daher grundsätzlich für einen allgemeinen Versichcrungszwang aus 182 . Langfristig konnte dieser Zwang dazu beitragen, daß sich die Mentalitäts- und Verhaltensunterschie de, die zu Beginn der Industrialisierung gelernte »Fabrikgesellen« und unge lernte Arbeiter getrennt hatten, langsam einebneten und von gemeinsamen Orientierungen abgelöst wurden. Vorsorge, Planung, Verwaltungserfahrung, Beitragsdisziplin, kollektive Risikobearbeitung, kontrolliertes Krankheits- und Gesundheitsverhalten diese Lerninhalte paßten vorzüglich zu den Verhaltensanforderungen, die das neue System des Produzierens und Lebens an die A rbeiter stellte. Zu mindest mittelbar profitierten aber auch die Organisationen der Arbeiterbe wegung von diesen Sozialisationsleistungen. »Moderne« Tugenden wie Disziplin, Stetigkeit und zweckrationale Abwägung von Handlungsalterna tiven waren - zumal wenn sie als Zwillingseigensehaften brüderlicher Soli darität und kollektiver Selbsthilfe auftraten- unverzichtbare Voraussetzun gen im politischen Kampf um die soziale Emanzipation der Arbeiterklasse. Die Durchsetzungsfähigkeit sozialdemokratischer Forderungen hing ebenso wie der Erfolg der Partei bei ihrer Klientel von der geduldigen Kärrnerarbeit der Genossen in Betrieben, Parlamenten und Parteiapparat ab. Ohne strategisches Kalkül und ohne taktisches Verhalten, das in Basisorga nisationen wie den Kassen erlernt werden konnte, wären die beharrliche Agitation und die politische Vertretung der A rbcitcrintercssen undenkbar gewesen.
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Rückblick Die etwa hundertjährige Politisierungsgeschichte von Krankheit und Ge sundheit, die in der gesamtstaatlichen Einführung der sozialen Krankenver sicherung ihren vorläufigen Höhepunkt fand, begann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Diese »Schwellenzeit« brachte eine öffentliche Gesund heitsbegeisterung und -bewegung hervor, bei der Interessen des Staates an der Sicherung und Ausweitung seiner Ressourcen, bürgerliche Tugendidea le und Effizienzbestrebungen sowie ärztliche Professionalisierungsbemü hungen ineinandergriffen und eine irreversible, sich beschleunigende Ent wicklung wohlfahrtsstaatlicher Gesundheitsfürsorge einleiteten. Während einerseits die individuelle Verantwortlichkeit für die Erhaltung der Gesund heit betont und durch ein System von Lebensregeln kodifiziert wurde, fielen Diagnose und Therapie eines Gesundheitsverlustes in den ausschließlichen Kompetenzbereich staatlich autorisierter Medizinalpersonen. Um ihren Monopolanspruch auf dem Markt medizinischer Dienstleistungen gegen andere Anbieter durchsetzen zu können, verbündeten sich die Ärzte mit dem aufgeklärt-absolutistischen Staat, der aus bevölkerungspolitischen Erwä gungen die Wohlstands-, Macht- und Glücksressource »Gesundheit« als politisch regulierungsbedürftig und -fähig ansah. Noch blieben Staats-und Standesinteressen auf dieser Stufe die entscheidenden Triebfedern des Politi sierungsprozesses. Seine A dressaten, die gesundheitsgefährdeten sozialen Unterschichten, meldeten ihre Bedürfnisse jedenfalls nicht so an, daß ein zusätzlicher Handlunesdruck entstanden wäre. Die staatliche Intervention reduzierte sich zunächst auf vermittelte und »sanfte« Formen gesundheitspolitischer Steuerung und Kontrolle. Im großen und ganzen beschränkte sich die »Medizinische Polizei« des aufge klärt-absolutistischen Staates in Preußen darauf, die institutionellen Rah menbedingungen abzustecken, unter denen die Untertanen bzw. Bürger ihrer Gesundheitspflicht nachzukommen hatten. Die Utopie der totalen Medikalisierung, eine Lieblingsidee vieler Ärzte, blieb vorerst kaum mehr als ein blasser Traum. Die schwerwiegenden Bedenken, die die staatliche Administration gegen allzu weitgehende Eingriffe in die private Lebensfüh rung der Untertanen hegte und die sich beispielsweise der verbindlichen Einführung der Pockenschutzimpfung schon um die Jahrhundertwende widersetzten, kamen jedoch dort, wo die Freiheit des Individuums nicht mehr existierte, gar nicht erst auf: Gegenüber den Insassen staatlicher Zucht und Waisenhäuser, den A rmen und den Soldaten konnte der Staat seine 333
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politischen Optionen ungehindert verwirklichen - Widerstände räumte er mit Zwangsmitteln beiseite. Das zeigte sich vor allem in der staatlich kommunalen A rmenpflege, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unter dem wachsenden Druck der A rmut und des »Pauperismus« rationalisiert und effizienter gestaltet werden sollte. Um zu verhindern, daß immer mehr Menschen von der »Dürftigkeit« in die »Bedürftigkeit« überwechselten und aufgrund ihrer physischen Arbeitsunfähigkeit der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen, wurden die »A rmen« gewissermaßen »zwangsmedikalisiert«: Besondere Armenärzte hatten den Gesundheitszustand der Unterstützungs empfänger zu überwachen und Krankheitsstörungen so rasch wie möglich zu beheben. Als Instrument der A rmenpolitik erfuhr die medizinische Versorgung sozialer Unterschichten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine politische Aufwertung und faktische Ausdehnung, die über ihren vormaligen Charak ter als christlich motiviertem A lmosendienst weit hinauswiesen. Damit trat zugleich die Politisierung von Krankheit und Gesundheit in eine neue Phase ein: Krankheit wurde jetzt erstmals als wichtige Ursache sozialer Destabili sierung und als politischer Unruhefaktor wahrgenommen. In dieser Situa tion ließ der aufgeklärt-absolutistische Staat auch jene Selbstbescheidung fallen, mit der er gemeinhin der Selbstbetätigung seiner Bürger den Vortritt einräumte. Zwar galt nach wie vor der erklärte Grundsatz preußischer Medizinalpolitik, daß keinesfalls »dem Bürger Vorschriften über Gegen stände der Gesundheitspflege gegeben werden, die er auch selbst zu besor gen vollkommen imstande ist«1. Bei den Armenjedoch, die »wegen Dürf tigkeit oder anderer Personal-, Local- oder Dienstverhältnisse außer Stande sind, sich jene Hülfe selbst auf eine angemessene Weise zu beschaffen«, mußte der Staat »unmittelbar eingreifen, gleichsam selbst als Arzt auftreten, die Sorge für die wirkliche Benutzung und A nwendung des möglichen Heilverfahrens übernehmen«2. Das politisch-administrative System akzep tierte also die sachwalterische Verantwortung für die Gesundheits- und Krankenpflege der »armen« Bevölkerungsschichten, delegierte seine ar menmedizinischen A ufgaben allerdings an nachgeordnete Behörden bzw. an die Kommunen. Damit war der erste Schritt getan zu einer aktiven Gesundheitspolitik, die sich nicht mehr ausschließlich als allgemeine, schichtenunspezifische »Zivi lisationspolitik« verstand, sondern einen im engeren Sinne sozialpolitischen Charakter annahm. Sehr deutlich trat diese Tendenz in den Auseinanderset zungen um den Pauperismus zutage, der seit den 1830er Jahren bürgerliche Öffentlichkeit und staatliche A dministration beunruhigte. Gegen die Be drohung der Besitz- und Staatsverfassung durch eine zahlenmäßig explodie rende, ständisch nicht mehr eingebundene Bevölkerung bot man die gesam melten Integrationspotentiale von Industrie, Medizin, Religion, Schule und Polizei auf. Immer stärker und eindringlicher definierte sich nun auch die Medikalisierungsbewegung als eine offene, die Begrenzung auf die margi334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
nale Gruppe von Unterstützungsempfängern überwindende Kraft, die ge sellschaftspolitisch wirksam werden wollte. Mit der Forderung nach einer »öffentlichen Gesundheitspflege«, die allen unbemittelten Personen, nicht allein den bereits aktenkundig gewordenen »A rmen«, medizinische Hilfe zugänglich machen sollte und vom Staat zu finanzieren und zu verwalten war, ordnete sie sich in das breite Spektrum gesellschaftlicher und staatlicher Initiativen ein, die sich um die soziale Integration der armuts- und krank heitsgefährdeten Unterschichten bemühten. Ohne die politische Sprengkraft der »sozialen Frage« zu verkennen, lehnte es der preußische Staat jedoch ab, alleinverantwortlich für die Versorgung der unaufhaltsam anwachsenden Menschenmenge aufzukommen, die zu ihrer eigenen Reproduktion nicht mehr fähig war. A uch kommunale Ver waltungsbehörden und bürgerliche Schichten stimmten darin überein, daß eine bloße und ohne Gegenleistungen gewährte Alimentation der notleiden den Armen nicht länger haltbar sei, ja sogar konterproduktiv wirken müßte. Der A limentationsgedanke hatte in einer marktbestimmten Gesellschaft keinen Platz mehr: er widersprach ihrem elementaren Selbstverständnis und war außerdem zu teuer. Grund genug also, es mit weniger kostspieli gen, »modernen« und sozial integrativen Modellen der A rmutsprävention zu versuchen. An die Stelle öffentlicher Fürsorge - als Relikt einer ständischen Gesell schaft - trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Konzept der Versicherung auf Gegenseitigkeit. Unter Rückgriff auf traditionale Selbst hilfeeinrichtungen der Handwerksgesellen erhob die preußische Regierung seit 1845 die kollektive Krankenversicherung der gewerblichen A rbeiter (Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter) zum rechtsverbindlichen Prinzip, das die Armenfürsorge ersetzen und langfristig überflüssig machen würde. Fortan standen Krankenkassen im Mittelpunkt einer Sozialpolitik, die sich darum bemühte, die volkswirtschaftlich nutzlosen, nicht in den Produk tionsprozeß eingespannten A rmen in Lohnarbeiter zu überführen, dieses Lohnarbeitsverhältnis dauerhaft zu stabilisieren und schließlich die indu strielle A rbeiterschaft mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu versöh nen. War den Kommunal- und Regierungsbehörden vor allem daran gele gen, einen wirksamen Puffer zwischen »A rbeiter« und »Arme« zu schieben, sahen Ärzte in den Krankenkassen eine willkommene Möglichkeit, ihren Einfluß und ihre Verdienstchancen zu erweitern. Unternehmer wiederum, die sich mit gesetzlich vorgeschriebenen Beiträgen an den Krankenkassen ihrer Beschäftigten beteiligen mußten, nutzten die fabrikeigenen Kassen als betriebspolitisches Kontroll- und Disziplinierungsinstrument. Mit den Krankenkassen war zugleich aber auch ein Forum entstanden, in dem erstmals die Betroffenen selbst ihr Interesse an einer verbesserten materiellen Sicherung und medizinischen Versorgung anmelden und durch setzen konnten. Nun war diese Emanzipation vom bloßen Empfänger staat licher oder unternehmerischer Sozialleistungen zum mitspracheberechtig335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
ten (und beitragspflichtigen) Subjekt durchaus zweischneidig. A ls legitime Forderungen galten nämlich nur solche, die sich auf die Verteilung finan zieller Lasten oder auf A rt und Umfang gewährter Leistungen bezogen. Denkbaren revolutionären A nsätzen, Krankheit als »Waffe« in der Klassen auseinandersetzung zu benutzen, war damit die Spitze genommen: pro blematisiert wurde nicht die Krankheitsbetroffenheit an sich, sondern die Chance ihrer Therapie. A ndererseits ist es fraglich, ob eine »radikalere« Politisierung, die die schlechte gesundheitliche Lage der Arbeiter zum A n satzpunkt für eine grundlegende Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse ge nommen hätte, zu jener Zeit tatsächlich greifbar gewesen wäre. Offensicht lich galt Krankheit solange nicht als politischer Konfliktstoff, wie einerseits individualisierende Zurechnungen - Krankheit als Schicksal - überwogen und andererseits die alltäglichen Lebensbedürfnisse nicht gesichert waren. Für den einzelnen Arbeiter gab es daher keine Alternative zur beschriebenen Verstaatlichung des Gesundheitswesens - im Gegenteil versetzten ihn die sozialen Sicherungsleistungen der Krankenkassen überhaupt erst in die La ge, den krisenhaften A lltag etwas kontinuierlicher zu meistern. Während die von den Kassen finanzierte medizinische Versorgung der Arbeiter vormals bestehende krasse Klassenunterschiede in der Krankheits bewältigung tendenziell nivellierte3, blieben die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die für die ungleiche Verteilung von Lebens- und Gesund heitschancen verantwortlich waren, zunächst unverändert erhalten. Staatli che und unternehmerische Sozialpolitik griffen nicht direkt in Produktions und Reproduktionsverhältnisse ein, sondern beschränkten sich darauf, des integrierende Folgen des Krankheitsrisikos abzuwenden. Von einer wirksa men Krankheitsprävention in Arbeits- und Lebensumwelt, wie sozial enga gierte Ärzte und A rbeiterbewegung sie forderten, war man noch weit entfernt. Schienen den Unternehmern Krankenkassen schlichtweg billiger als kostenaufwendige A rbeitsschutzmaßnahmen, so favorisierte der preu ßisch-deutsche Staat die Kassen vor allem deshalb, weil sie seinen Wünschen nach korporativer Reorganisation als Voraussetzung einer sich in ihren ökonomischen und sozialen Lebensinteressen selbst regulierenden Gesell schaft entgegenkamen. Politische Stabilität, im staatlichen Handlungshori zont von höchster Priorität, schien mit solchen Vernetzungen, die zudem existentielle Interessen der A rbeiter sicherten, problemloser erreichbar zu sein als durch eine komplizierte, juristisch und ideologisch nur schwer durchsetzbare A rbeiterschutzpolitik. Krankenkassen waren allerdings nicht nur Versicherungsagenturen, die ein soziales Problem kurzfristig entschärfen konnten. Indem sie den Kran ken gleichermaßen finanzielle und medizinische Hilfe zukommen ließen, erwiesen sie sich überdies als bedeutende Transmissionsriemen der Medika lisierung. Was im »neuen Bürgertum« des späten 18. Jahrhunderts begon nen hatte, setzte sich nun in den Unterschichten fort: Gesundheit, jener aufklärerische Kampfbegriff gegen eine morbide, degenerierte A delskultur, 336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zielte seit der Industrialisierung vor allem auf den physischen Habitus der Arbeiter. Hatte die frühe Gesundheitsbewegung ihre »vernünftigen« Ver haltensmaximen vornehmlich den bürgerlichen Schichten und der Landbe völkerung ans Herz gelegt, erschien es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend wichtiger, die gewerblich-industrielle A rbeiterschaft medizi nisch zu betreuen und ihr eine gesundheitsbewußte, »sittliche« Lebensfüh rung nahezubringen. Das Gesundheitsideal, das den Leistungsnormen der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar entsprach, sollte auch für die Unter schichten zum »Gegenstand rationalen Bemühens«4 werden und traditiona le Körperorientierungen langfristig verdrängen. Als Mitglieder von Krankenkassen lernten A rbeiter rationale, experten orientierte Formen der Krankheitsbewältigung und -Vorsorge kennen und gewöhnten sich allmählich daran, ihre Gesundheit als »Kapital« zu begrei fen, mit dem man wirtschaftlich umgehen, das man pflegen und erhalten mußte, damit es den größten Gewinn brachte. Dazu bedurfte es jedoch einer strengen Disziplin, die, von Kassenärzten und -vorständen verlangt und kontrolliert, den berüchtigten »Prädestinationsglauben« der »handarbeiten den Volksklassen« gegenüber Gesundheit und Krankheit ersetzen sollte. In dieser Beziehung zogen alle Krankenkassen, waren sie nun Fabrik-, kom munale Zwangs- oder freie Gewerkschaftskassen, an einem Strang. Nicht nur die betrieblichen Krankenkassen, in denen Unternehmerinteressen do minierten, bemühten sich darum, ihre Klienten zu zweckrational denkenden und handelnden, gesundheitsbewußten Mitgliedern der modernen Markt gesellschaft zu erziehen. A uch die selbstorganisierten Kassen der A rbeiter vereine kannten ein solches »hidden curriculum«, ließ es sich doch im politischen Klassenbildungsprozeß äußerst sinnvoll nutzen. Krankenkassen waren in der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung belieb te Agitationsmedien, um die Arbeiter an Ziele und Aktionsformen »ihrer« sozialen Bewegung heranzuführen. Disziplin und langfristige Kalkulation wurden hier mindestens ebenso geschätzt und gewünscht wie in den Fabrik kassen. Trotz des starken Rückhalts, den Praktiken der Selbst- und Laienmedika tion in den Familien sozialer Unterschichten besaßen, entwickelten sich Krankenkassen zu langfristig einflußreichen Sozialisationsagenturen, die Mentalitäten und Verhaltensmuster der industriellen A rbeiterschaft nach haltig umzuprägen vermochten. Dieser vielschichtige und überaus langwie rige Prozeß, der am Ende unseres Untersuchungszeitraums keineswegs abgeschlossen war und sich mit der Ausweitung der sozialen Krankenversi cherung nach 1883 erheblich beschleunigte, hatte mit der Medikalisierungs bewegung des späten 18. Jahrhunderts eingesetzt und ist heute an einem Punkt angelangt, der ein gründliches Umdenken, ja sogar deutliche Um kehrungen erforderlich zu machen scheint5. Die berechtigte Kritik an Fehl entwicklungen unseres Gesundheitswesens, an der Entmündigung der Pa tienten durch die »Halbgötter in Weiß«, an der gesundheitspolitischen Kon337 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
zeptionslosigkeit der Krankenkassen und ihrer Passivität heute solltejedoch nicht dazu verfuhren, die Vergangenheit nur als eindimensionale Vorge schichte unserer Gegenwart zu interpretieren und zu belasten. Gewiß ist es wichtig und notwendig, den Herrschaftscharakter der Medikalisierungsbe wegung zu verdeutlichen, die Disziplinierungsfunktionen der Krankenkas sen gebührend herauszuarbeiten. A ndererseits darf nicht übersehen werden, daß die Kassen die Lebensverhältnisse sozialer Unterschichten durchaus auch positiv beeinflußten. Trotz aller Vorbehalte, die gegen die therapeuti sehe Effizienz einer nur allzuoft verklärten Medizin für diesen Zeitraum anzumelden sind, kann ihr langfristiger Beitrag zur Entschärfung sozialer Ungleichheiten kaum in Abrede gestellt werden. Indem die Krankenkassen ihren Mitgliedern den Zugang zu ärztlichen Dienstleistungen eröffneten, durchlöcherten sie zugleich die sozialen Klassenschranken, die den »aufge klärten«, ärztlichen Rat favorisierenden Bürger vom ungebildeten, irratio nalen Praktiken verhafteten A rbeiter trennten. In doppelter Weise wirkten die Medikalisierungsanstrengungen der A rbeiterkassen folglich auf eine Aufweichung sozialer Klassenunterschiede hin - ohne diese allerdings je mals ganz aufheben zu können.
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Abkürzungsverzeichnis
ALR ALZ ASG BHM BzG CSSH DVöG EHR GG GO GVBA HBHV HStA HZ IRSH JbWG JHM JIH JSH Math.-Nat. R. MCrwÄ MCV MR MS ND NF NPL NTM PVS RD RT SOWI VgM VSWG WZ
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ZfGS ZKPSB ZUG ZVS
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Anmerkungen
Einleitung 1 Stellvertretend für viele andere vgl. I. Mich, Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek 1981; C. v. Ferber, Woran das Gesundheitswesen wirklich krankt, in: Frankfurter Rundschau v. 7. 8. 1982, S. 14; W. Schluchter, Legitimationsprobleme der Medizin, in:ders., Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt 1980, S. 185-207. 2 Zum Begriff und Bedeutungsinhalt von »Politisierung« vgl. C. Offe, In Search ofthe Non Political. Α Proposal, unveröffentlichtes Manuskript 1978. 3 Zum Konzept der »rationalen Lebensführung« und seinen Konnotationen vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte A ufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 19222, S. 17-206, v.a. S. 115f., 141 ff., 167-195. S. auch ders., Wirtschaft und Gesellschaft,'Tübingen 1922; ND Tübingen 1972, S. 15f., 326ff. Dort auch (S. 12f.) eine Klärung der verschiedenen Handlungsbegriffe. Vgl. dazu auch die kritisch interpretierende Auseinandersetzung beiJ. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt 1981, Kap. 2, S. 207-366. 4 Vgl. zu diesem A nsatz H. Blumer, Soziale Probleme als kollektives Verhalten, in: W. R. Heinz u. P. Schöber (Hg.), Theorien kollektiven Verhaltens, Bd. 2, Darmstadt 1972, S. 149— 165. 5 M. Foucault, La politique de la sante au XVIIIe siecle, in: ders. u.a., Les machines á guérir. Aux orieines de Thópital moderne, Paris 1976, S. 11-21. 6 Zum Konzept der Krankenrolle vgl. T. Parsons, Social Structure and dynamic process: the casc of modern medical practice, in: ders., The Social System. London 1970, S. 428-479, v. a. S. 436 ff
7 Vgl. dazu N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt 1976. v. a. S. 336ff., sowie L. Boltanski, Die soziale Verwendung des Körpers, in: D. Kamperu. V. Ritttier (Hg.), Zur Geschichte des Körpers, München 1976, S. 138-183. 8 Diese Perspektive rechtfertigt auch die Ausgrenzung bergbaulicher Knappschaften aus der Untersuchung. Vor allem die hoheitliche Tradition des Bergbaus und seine besonderen Rechts verhältnisse lassen diese Nichtberücksichtigung geraten erscheinen. 9 Der Begriff des »organisationsfähigen« Bedürfnisses oder Interesses stammt von C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress u. D. Senghaas (Hg.), Politikwissen schaft, Frankfurt 1975, S. 135-164, v.a. S. 145. 10 A uf mögliche Forschungs»rä-ume« machte erstmals aufmerksam D. Blasius, Geschichte und Krankheit. Sozialgeschichtliche Perspektiven der Medizingeschichte, in: GG, Jg. 2, 1976, S. 386-415. 11 A ls Überblick vgl. A . Labisch, Zur Sozialgcschichte der Medizin, Methodologische Überlegungen und Forschungsbericht, in: ASG, Bd. 20, 1980, S. 431-469. 12 Zur historischen Demographie in der Bundesrepublik vgl. vor allem die im Literaturver zeichnis aufgeführten A rbeiten Α. Ε. Imhofs. 13 Exemplarisch vgl. H. Zacher (Hg.), Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979, sowie die im Literaturverzeichnis zu findenden A rbeiten F. Tennstedts zur Sozialgeschichte von Sozialpolitik und Sozialversicherung in Deutschland. 14 Zur A nwendung des Rationalisierungsbegriffs auf den »Körper« vgl. neuerdings D.
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Anmerkungen zu Seite 20-23 Kamper u. C. Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt 1982, v.a. S. 9ff. Zur Mentalitätsgeschichte allgemein vgl. P. A ries, Interpretation pour une histoire des mentali tes, in: H. Bergues (Hg.), La prévention des naissances dans la famille, Paris 1960, S. 311327. Kapitel 1 1 G. Mann, Medizin der Aufklärung, in: Medizinhistorisches Journal, Jg. 1, 1966, S. 69. 2 Vgl. W. Martern, Die Botschaft der Tugend, Stuttgart 1968; W. Kaiser u. W. Piechocki, Populärwissenschaftliche Gesundheitsaufklärung in den »Wöchentlichen Hallischen A nzei gen« des 18.Jahrhunderts, in: NTM.Jg. 13, 1976, S. 37-50. 3 H. O. Lichtenberg, Unterhaltsame Bauernaufklärung, Tübingen 1970, S. 8 ff. 4 »Politia Medica« hieß die 1638 erschienene Schrift des Frankfurter Stadtarztes Ludwig von Hörnigk; der zweite Titel stammt von Κ. Β. Behrens und wurde 1696 in Frankfurt und Leipzig veröffentlicht. Vgl. dazu A . Fischer, Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, Berlin 1933; ND Hildesheim 1965, Bd. 1, S. 325ff.; F.-W. Schwarz, Idee und Konzeption der frühen territorial-staatlichen Gesundheitspflege in Deutschland («Medizinische Polizei«) in der ärztlichen und staatswissenschaftlichen Fachliteratur des 16.-18. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt 1973, S. 153-161. 5 Dieser Begriff stammt von J. S. Carl (1748), zit. in: M. Mattis, Geschichte der A rmen Pharmakopöen in Deutschland von 1781 bis 1834, Diss. Frankfurt 1965, S. 12. 6 J . C. Tode, Der unterhaltende A rzt über Gesundheitspflege, Schönheit, Medicinalwe sen, Religion und Sitten, Bd. 4, Kopenhagen 1789, S. 53. 7 Die Mehrzahl medizinhistorischer A rbeiten verzichtet völlig auf eine den engen Rah men der analysierten Quellen sprengende Fragestellung und beschränkt sich auf überwie gend narrative Darstellungen. Vgl. ζ. Β. I. Barthel, Über Diätetik und Gesundheitserziehung in den »Medicinischen und Chirurgischen Berlinischen wöchentlichen Nachrichten« von Sa muel Schaarschmidt, Diss. Berlin (DDR) 1969; ähnlich R. Glauer, Gesundheitserziehung durch Ärzte als naturrechtlich begründetes Programm aufgeklärter Medizin im 18. Jahrhun dert, Diss. Hannover 1977. A uch die Untersuchungen von G. Rosen (Cameralism and the concept of medical police, in: BHM, Jg. 28, 1953, S. 21-42; Die Entwicklung der sozialen Medizin, in: H.-U. Deppe u. M. Regus (Hg.), Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt 1975, S. 74-131; From Medical Police to Social Mediane, New York 1974) zeich nen sich letztlich durch ein Defizit allgemeinhistorischer Bezüge aus und verharren zu eng bei einer textimmanenten Darstellung einschlägiger medizinhistorischer Quellen, ohne in tensiver nach den sozialen Bezugspunkten dieses Materials, nach den Interessen der A utoren und breiteren gesellschaftspolitischen Problemlagen zu fragen. I Strukturbedingungen und Motive der öffentlichen Gesundheitspropaganda im späten 18. undfrühen19. Jahrhundert 8 G. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen A bsolutismus, in: VSWG, Bd. 55, 1968, S. 329-347. S. auch R. Vierhaus, A rt.: A bsolutismus, in: Sowjetsystem und demokra tische Gesellschaft, Bd. 1, 1966, v.a. Sp. 33-36. 9 Zu den Strukturelementen innerer Staatsbildung in Preußen vgl. die grundlegenden Arbeiten Otto Hintzes; Staat und Verfassung, Göttingen 19703, v.a. S. 34-51, 52-83, 424456, 470-496; Regierung und Verwaltung, Göttingen 1967, v. a. S. 1-29, 313-418, 419-428. 10 Vgl. dazu Kurt Hinze, Die A rbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1685-1806, Berlin 19632, S. 136f, sowie W. Mager, A bsolutistische
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Anmerkungen zu Seite 24-26 Wirtschaftsförderung (am Beispiel Frankreichs und Brandenburg-Preußens), in: SOWI, Bd. 3, 1974, S. 4ff. 11 Zit. bei O. Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 144. 12 S. A. Tissot, Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit. Übersetzt von H. C. Hirzel, A ugsbure 1766, S. 1. 13 J . F. Zückert, Von den wahren Mitteln, die Entvölkerung eines Landes in epidemischen Zeiten zu verhüten. Berlin 1773. 14 J . H. G. v. Justi, Von der Bevölkerung als dem Haupt-A ugenmerke weiser Finanz Collcgiorum, in: ders., Gesammelte Politische Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens, Bd. 3, Kopenha gen 1764, S. 379-409; Zitate in der Reihenfolge S. 379, 382, 383. 15 J . P. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Ge schlechts . . ., Bd. 1, Berlin 17653, Kap. IX (»Von den größeren und gewaltsamen Hindernis sen der Vermehrung des menschlichen Geschlechts«), S. 311-394. 16 Bereits im 17. Jahrhundert wurden Volkszählungen in Brandenburg-Preußen abgehal ten, allerdings in unregelmäßiger Folge. S. dazu K. Weimann, Bevölkerungsentwicklung und Frühindustrialisierung in Berlin 1800-1850, in: O. Büsch (Hg.), Untersuchungen zur Geschich te der frühen Industrialisierung, vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, Berlin 1971, S. 170ff., sowie Behre. v.a. S. 131 ff., 162ff. 17 Zit. bei Behre, S. 146 f. 18 G. Hohorst, Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914, Diss. Münster 1978, S. 125. 19 W. Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800-1970, in: H. A ubin u. W. Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 9f.; G. Ipsen, Bevölkerungsgeschichte, in: W. Köllmann u. P. Marschalck (Hg.), Bevölkerungsge schichte, Köln 1972, S. 84-92 (die - trotz Neufassung durchgehaltene - faschistische Diktion dieses 1933 erstmalig veröffentlichten A rtikels macht seine Lektüre im höchsten Maße unange nehm); H. Harnisch, Bevölkerung und Wirtschaft, in:Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1975/ II, S. 84. 20 W. Fischer, Rural Industnalization and Population Change, in: CSSH, Bd. 15, 1973, bes. S. 163, sowie P. Kricdteu. a., Industrialisierung vor der Industrialisierung, Göttingen 1978, v. a. S. 171-186. 21 Berechnet nach: E. Engel, Die Sterblichkeit und die Lebenserwartung im preußischen Staate und besonders in Berlin, in: ZKPSB, Jg. 2, 1862, S. 192f. Zum Vergleich: in den Dörfern und Marktflecken der preußischen Kurmark starben zwischen 1787 und 1798 insges. 141 198 Menschen, geboren wurden dagegen 197275 (F. W. A . Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg, Bd. 1, Berlin 1804; ND Berlin 1968, S. 80). Genaue Angaben finden sich bei W. H. Müller, Tabellarische Nachrichten über die Population der gesammten Königlich Preußischen Staaten, Berlin 1799, T. I, v.a. S. 1-26. A lle diese Zahlen aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sind im Zweifelsfall Näherungswerte, d.h. sie beruhen zum großen Teil auf Schätzungen und Interpolationen. Für unseren Zweck reichen sie trotzdem aus, da es hier nicht so sehr um eine datengesättigte historisch-demogra phische Untersuchung geht, sondern um auf den medizinischen Diskurs bezogene Trendaus sagen. 22 Für Leipzig vgl. G. F. Knapp, Ältere Nachrichten über Leipzigs Bevölkerung 1595-1849 und über den Bevölkerungswechsel in den Jahren 1868-1871, in: Mitteilungen des Statistischen Bureaus der Stadt Leipzig, H. 6, Leipzig 1872, Tafel V (S. 8-11) und VII (S. 17-20). Danach übertraf die Zahl der Gestorbenen während des ganzen 18. Jahrhunderts deutlich die Zahl der Geborenen. 23 F. L. Augustin, Die Königlich-preußische Medicinalverfassung oder vollständige Darstel-
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Anmerkungen zu Seite 26-28 lung aller, das Medicinalwesen und die mechanische Polizei in den Königlich Preussischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen und Einrichtungen, Bd. 1, Potsdam 1818, S. 167. 24 A . E. Imhof, Sterblichkeitsstrukturen im 18. Jahrhundert auf Grund von massenstatisti schen A nalysen, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft und Demographie, Jg. 3, 1976, S. 108. 111. 25 Ders., Mortalität in Berlin vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Berliner Statistik, Jg. 31, 1977, Tab. S. 140. 26 L. Formey, Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin, Berlin 1796, S. 132. 27 Berechnet nach: Knapp, Tafel V und VII. Nach Müller, Nachrichten, starben 1790 in der Kurmark Brandenburg 27,9% aller Säuglinge vor ihrem ersten Geburtstag, 44,1% vor ihrem sechsten (berechnet nach den Tabellen S. 1-57). Bei fast zwei Dritteln aller gestorbenen Säuglinge war als Todesursache »Epilepsie und an den Zähnen« angegeben (ebd., Tabelle S. 60f.). 28 Vgl. J.-N. Biraben, A rzt und Kind im 18. Jahrhundert, in: Α. Ε. Imhof (Hg.), Biologie des Menschen in der Geschichte, Stuttgart 1978, S. 261-273. 29 Vgl. dazu K. Kisskalt, Die Sterblichkeit im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Hygiene, Bd. 93, 1921, S. 438-511, v.a. S. 453f.; Imhof, Mortalität, S. 138f.; ders., Bevölkerungsge schichte und historische Demographie, in: R. Rürup (Hg.), Historische Sozialwissenschaft, Göttingen 1977, S. 16-58. 30 Ch. Rickmann, Von dem Einfluß der A rzneiwissenschaft auf das Wohl des Staats und dem besten Mittel zur Rettung des Lebens, Jena 1771, S. 30. 31 W. A bel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Gottingen 1977, S. 46. 32 Vgl. zu den »crises larvées« J . Meuvret, Les crises de subsistances et la Demographie de la France d'Ancien Regime, in: Population. Bd. 1. 1946. S. 643-650. 33 Vgl. R. A. Dorwart, The Prussian Welfare State before 1740, Cambridge 1971, S. 253ff. 34 S. die zeitgenössische Kritik bei J . Ch. F. Scherf A nmerkungen zu der Hochfürstlich Lippischen Medizinalordnung, in: Beiträge zum A rchiv der medicinischen Polizei und der Volksarzneikunde, Bd. 2, Leipzig 1790, S. 105-134, v.a. S. 107-110. 35 Formey beschrieb die hygienischen Zustände in Berlin um die Jahrhundertwende wie folgt: »Die Straßen werden auf öffentliche Kosten zwar, so viel als möglich, gereiniget und im guten Stande erhalten, bei anhaltendem Regen nimmt jedoch der Koth so überhand, daß man in manchen Gegenden der Stadt nicht zu Fuß durchkommen kann.« »Es ist daher ein, in jeder Rücksicht unverantwortlicher und höchst schädlicher Mißbrauch, daß die Nachteimer in die Spree ausgegossen werden, wodurch nicht allein in der Nachbarschaft des Flusses, sondern über einen großen Theil der Stadt ein eben so unangenehmer als der Gesundheit nachtheiliger Geruch verbreitet wird, und wodurch zugleich das Wasser auf die abscheulichste A rt verun reiniget . . . wird«' (Formey, S. 10, 12f.). Über die ravensbergischen Landstädte gegen Ende des 18. Jahrhunderts schrieb der Bielefelder A rzt Consbruch: »Diese Städtchen . . . bestehen größtenteils aus einer Hauptstraße und mehreren kleinen Gassen, die entweder gar nicht, oder doch schlecht gepflastert sind . . . Vor der Thüre oder unter dem Fenster haben die gemeinen Bürger fast alle eine Mistgrube . . . Neben der Kirche ist der Kirchhof, der mit Leichen so besäet ist, daß man kein freyes Fleckgen findet, und bey schweren Epidemien, welche viele Menschen wegraffen, kann man oft sehen, daß halbvermoderte Theile von Men schen aus der Erde aufgegraben werden« (G. W. C. Consbruch, Medicinische Ephemeriden nebst einer medicinischen Topographie der Grafschaft Ravensberg, Chemnitz 1793, S. 23f.). 36 A us der Instruktion der Mindener Regierung für ihre Kreisphysiker und -Chirurgen aus dem Jahre 1819, zit. bei L. v. Rönne u. H. Simon, Das Medicinal-Wesen des Preußischen Staates. Bd. 1. Breslau 1844. S. 206f. 37 Diesem Informationsbedürfnis entsprachen die seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts von Ärzten zusammengetragenen Medizinischen Topographien (vgl. dazu A . Fischer, Beiträ-
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Anmerkungen zu Seite 28-30 ge zur Kulturhygiene des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reiche, Leipzig 1928, v. a. Kap. 1 u. 2) sowie die von den A mtsärzten zu schreibenden Sanitätsbe richte. 38 Scherf, A nmerkungen, S. 122. 39 Hintze, Regierung und Verwaltung, S. 432. 40 R. v. Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Bd. 1, Tübingen 18442 (1. A ufl. 1832), S. 8. 41 Weber, Wirtschaft. S. 29 f. 42 Bratring, S. 49. Vgl. auch Consbruch, S. 23, zur Sozialstruktur des Bürgertums in den ravensbergischen Landstädten. 43 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 19752, S. 90f.; F. Kopitzsch, Die Sozialgeschichte der deutschen A ufklärung als Forschungsaufgabe, in: ders. (Hg.), A ufklärung, A bsolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976, v. a. S. 35ff. Zur sozialen Binnendifferenzierung des Bürgertums vgl. auch Η. Η. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800, Göttingen 1976, S. 29ff., sowie J . Schnitze, Die A useinandersetzung zwischen A del und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806), Berlin 1925; ND Vaduz 1965, S. 3f., die die »bürgerliche Noblesse« (Beamte, Kaufleute, Gelehrte) gegen den »gemeinen Bürger« abhebt. S. auch die auf einer Auswertung zeitgenössischer bürgerlicher Selbstzeugnisse beruhende Arbeit von W. Ruppert, Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1981, v. a. S. 26-33. Wenig ergiebig für die hier behandelte Zeitspanne ist H. P. Liebel, The Bourgeoisie in Southwestern Germany, 1500-1789: Α Rising Class, in: IRSH, Bd. 10, 1965, S. 283-307. Hauptsächlich mit Handwerkern beschäftigt sich P. A ycoberry, Der Strukturwandel im Kölner Mittelstand 1820-1850, in: GG, Jg. 1, 1975, S. 78-98. Zum Bildungsbürgertum jetzt R. S. Turner, The Bildungsbürgertum and the Learned Professions in Prussia, 1770-1830: The Origins of a Class, in: Histoire Sociale - Social Histo ry, Bd. 13, 1980, S. 105-135. 44 R. Vierhaus, Deutschland im 18. Jahrhundert: soziales Gefüge, politische Verfassung, geistige Bewegung, in: Kopitzsch, Aufklärung, S. 181. 45 S. dazu Gerth, S. 65ff ;J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 19715, v.a. S. 28-41; R. Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 19692, S. 49-53. 46 Koselleck, Kritik, S. 12. 47 J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1979, S. 18. 48 C. Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Ge schlechts, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Frankfurt 17364, S. 163. S. dazu F. Hartung, Der A ufgeklärte A bsolutismus, in: K. O. Frhr. von Aretin (Hg.), Der A ufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 59ff. 49 W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, Stuttgart 19702, S. 216; E. Walder, Aufgeklärter A bsolutismus und Staat, in: Aretin, S. 124ff. 50 Eine solche Ausnahme bildete Hamburg, wo sich im 18. Jahrhundert eine enge Symbio se von »Bildung« und »Besitz« entwickelte (Kopitzsch, Sozialgeschichte, S. 62f.). In der 1765 neugegründeten Patriotischen Gesellschaft waren die Kaufleute, Makler und Unternehmer gegenüber den A kademikern (und Beamten) eindeutig in der Überzahl (zur Berufsstruktur der Mitglieder s. F. Kopitzsch, Die Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe [Patriotische Gesellschaft von 1765] im Zeitalter der Aufklärung, in: R. Vierhaus [Hg.], Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 78f.,84). 51 W. Martens, Bürgerlichkeit in der frühen A ufklärung, in: Kopitzsch, A ufklärung, S. 357 ff.
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Anmerkungen zu Seite 31-35 52 S. dazu Ruppert, S. 33-74; Schultze, A useinandersetzung, S. IIIff; Martens, Bürgerlich keit, S. 356. 53 J . Voss, Der Gemeine Mann und die Volksaufklärung im späten 18. Jahrhundert, in: H. Mommsen u. W. Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 208-233. Vgl. auch H. G. Zerrenner, Volksaufklärung, Magdeburg 1786, sowie B. S. Walther, Über die Aufklärung des Landvolks, Halle 1782. 54 J . G. Krünitz, Oeconomische Encyklopaedie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 17, Brünn 1788, S. 795. 55 Ebd., S. 806. Vgl. auch F. A. May, Medicinische Fastenpredigten oder Vorlesungen über Körper- und Seelen-Diätetik, zur Verbesserung der Gesundheit und Sitten, Mannheim 1792, v.a. S. 6 ff. 56 F. A. Röher, Von der Sorge des Staats für die Gesundheit seiner Bürger, Dresden 1806, S. 15f. 57 Krünitz, S. 797. 58 J.-J. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 19753, S. 59. 59 Über die Rezeption dieses Gesundheitsprogramms berichteteJ. W. von Goethe in seinen Lebenserinnerungen (A us meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, T. 2, Buch 8 [= Goethes Werke, hg. v. K. Heinemann, Bd. 12], Leipzig o.J., S. 365): »Ferner war damals [1768] die Epoche des Kaltbadens eingetreten, welches unbedingt empfohlen ward. Man sollte auf hartem Lager schlafen, nur leicht zugedeckt, wodurch denn alle gewohnte A usdünstung unterdrückt wurde. Diese und andere Thorheiten, in Erfolg von mißverstandenen Anregungen Rousseaus, würden uns, wie man versprach, der Natur näher führen und uns aus dem Verderbnisse der Sitten retten.« 60 Krünitz, Bd. 47, 1791, S. 630. 61 Vgl. dazu (für Frankreich) W. Coleman, Health and Hygiene in the Encyclopedie: Α Medical Doctrine for the Bourgeoisie, in: IHM, Bd. 29, 1974, S. 339-421. 62 J . A. Unzer, Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift, Hamburg 1769, Bd. 3, S. 569. 63 W. Rüegg, Der Kranke in der Sicht der bürgerlichen Gesellschaft an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, in: W. Artelt u. W. Rüegg (Hg.), Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. 38. 64 Rousseau, Emil, S. 31. 65 C. G. Salzmann, Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, Bd. 1, Leipzig 17842, S. 355; Bd. 2. S. 209. 66 Ebd., Bd. 2, S. 213 (Carls Bruder). 67 Insofern trifft Elias' These, daß die »Verbote und Restriktionen, mit denen man diese Triebäußerung [stellvertretend für viele andere führt Elias hier das Spucken an] umgibt«, erst im 19. Jahrhundert durch die A ngabe von »hygienischen Gründen« auf eine rationale Basis gestellt werden, nicht ganz zu. Es bedurfte im allgemeinen nicht erst der naturwissenschaftli chen Beweisführung, um bestimmte als gesundheitsschädlich bezeichnete Verhaltensweisen auszugrenzen. Schon die medizinischen Theorien des 18. Jahrhunderts erfüllten diesen Zweck. Insgesamt ist jedoch Elias'A uffassung zuzustimmen, daß ein bestimmtes »zivilisiertes« Verhal ten zunächst durch eine gesellschaftlich gesetzte »Peinlichkeitsschwelle« begründet und erst im nachhinein durch die Anfuhrung hygienischer Erwägungen, d. h. »durch klarere Einsicht in die kausalen Zusammenhänge gerechtfertigt und weiter in der gleichen Richtung vorangetrieben oder verfestigt« wird (Elias, Bd. 1, S. 155, 215f). 68 Zum Begriff des »Habitus« im Rahmen symbolischer Systeme vgl. P. Bourdieu, Klassen stellung und Klassenlage, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt 1974, v.a. S. 63ff. 69 Goethe. S.307f. 70 C. G. Gruner, Gedanken von der A rzneiwissenschaft und den Ärzten, Breslau 1772, Vorrede. 1801 führte der Hamburger A rzt Rambach das aufgeklärte Verhalten »unsere(r)
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Anmerkungen zu Seite 36-39 vornehmere(n) Klassen« und ihr »vernünftiges Zutrauen zur Arzneikunst« auf die »vortreffli che, von unsern Eltern vielgelesene Wochenschrift, der A rzt, die der verstorbene Unzer in Altona herausgab«, zurück (J. J . Rambach, Versuch einer physisch-medizinischen Beschreibung von Hamburg, Hamburg 1801, S. 379f.). 71 Vgl. D. Rüschemeyer, Professionalisierune, in: GG. Ig. 6, 1980, S. 321. 72 Vgl. E. Freidson, Dominanz der Experten, München 1975; M. S. Larson, The Rise of Professionalis™, Berkeley 1977. 73 Zur Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts s. C. Huerkamp, Ärzte und Profes sionalisierung in Deutschland, in: GG, Bd. 6, 1980, S. 349-382, sowie dies., Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte der Ärzte in Preu ßen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Diss. Bielefeld 1983. Vgl. auch C. Huerkamp u. R. Spree, Arbeitsmarktstrategien der deutschen Ärzteschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhun dert, in: T. Pierenkemper u. R. Tilly (Hg.), Historische A rbeitsmarktforschung, Göttingen 1982, S. 77-116. 74 Tode. Bd. 4. S. 53. 75 J . P. Peter, Le Grand Rêve de l'Ordre médical, en 1770 et aujourd'hui, in: Autrement, Jg. 4, 1975/76, S. 183-192. 76 Gerade diese Legitimation durch Wissenschaftlichkeit spielte in der Verteidigungslitera tur der Medizin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Gegenüber dem häufig geäußerten Vorwurf der »Muthmassungskunst« beharrten die Ärzte darauf, »daß die Arzneikunst den gegründesten Anspruch auf das Recht und den Titel einer Wissenschaft« habe (Gruner, Gedanken, S. 34). 77 S. Breinersdorf, Über die falsche Beurtheilung des Arztes vom Nichtarzte. Ein Wort zu seinerzeit, Breslau 1807, S. 18 f 78 Vgl. dazu aus der breiten Professionalisierungsliteratur z. B. G. Ritzer, Man and his Work: Conflict and Change, New York 1972, v. a. S. 56-63. 79 Der in Breslau praktizierende A rzt Breinersdorf beklagte sich 1807: »Der solideste A rzt wird daher oftmals, wenn er die Heilung nicht schnell bewirken kann, verdrängt, wenn ζ. Β. eine alte Matrone oder ein Krankenwärter, oder ein fleißiger Krankenbesucher, der sich viele medizinische Kenntnisse zueignen will, oder wenn eine andere erfahren seyn wollende Person einen andern Arzt, der sich auf diese Krankheitsform besser verstehen soll, anrühmt. Ein jedes altes Weib, möcht' ich sagen, untersteht sich hier ihre Stimme hören zu lassen, und ihr Urtheil hat nicht selten mehr Gewicht, als das des kompetentesten Sachkenners« (Breinersdorf S. 69f.). Auch Gruner wetterte gegen die »Schändlichkeit des ewigen Widersprechens der Kranken«, das der ärztlichen Kunst »die Rechte versagt, die man dem geringsten Handwerker zugesteht. Diesem überläßt man die Einrichtung der Arbeit, die er verstehen soll, und tadelt dennoch den Arzt bei aller Gelegenheit in seinen Verordnungen« (Gruner, Gedanken, S. 430). 80 Ebd., S. 107 (Kap. 5: »Von den Feinden der A rzneiwissenschaft«). 81 Vgl. M. Stürzbecher, Über die medizinische Versorgung der Berliner Bevölkerung im 18. Jahrhundert, in: ders., Beiträge zur Berliner Medizingeschichte, Berlin 1966, Tab. IV, S. 148. 82 Bratring, Bd. 1, S. 68, 79. 83 Formey, S. 284. In Bielefeld stand es in dieser Zeit noch ungünstiger für die Ärzte: drei gelehrte Medici (der älteste war gleichzeitig Stadt- und Landphysikus) und sechs Stadtwund ärzte teilten sich die medizinische Versorgung einer städtischen Bevölkerung von ca. 3000 Seelen (Consbruch, S. 85). 84 Dies traf allerdings hauptsächlich auf die in größeren Städten praktizierenden Wundärzte zu (auf eben diese - in Berlin - bezog sich auch Formey in obigem Zitat), von denen angenom men werden darf, daß sie geschickter und besser qualifiziert waren als ihre Kollegen, die sich in Dörfern, Kleinstädten oder auf dem »platten Lande« niederließen (s. dazu M. v. Mederer, Beantwortung der Frage: Wie man auf eine leichte und nicht allzukostspielige A rt den Wund ärzten, denen das Landvolk anvertrauet ist, und die der leidenden Menschheit oft mehr 346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Anmerkungen zu Seite 39-41 schädlich, als nützlich sind, einen bessern und zweckmäßigem Unterricht beybringen könne? Eine von der Kurfürstl. Mainzl. A kademie nützlicher Wissenschaften zu Erfurt den 3. Januar 1791 gekrönte Preisschrift, Erfurt 1791, S. 17f). Nur sie (die städtischen Wundärzte) hatten überhaupt die Möglichkeit (und die staatlich verordnete Pflicht!), ihr handwerkliches Wissen durch anatomische und chirurgische Kurse an öffentlichen Lehranstalten weiterzuentwickeln. Die ländlichen »Barbierchirurgen« dagegen konnten nicht viel mehr als »ein Messer wetzen, damit einen Bart scheren, und wenn das Glück günstig ist, auch eine A der einen, einen Schröpfkopf aufsetzen, in den Rachen und in den A fter spritzen, ein Vesikator auflegen« (Mederer, S. 7f.; ähnlich äußert sich auch Gruner, Gedanken, S. 505f.). Allerdings ist Mißtrauen gegenüber dieser unisono vorgebrachten Disqualifikation der Wundärzte durch die »gelehrten Medici« angebracht, da letztere schon aus den skizzierten Konkurrenzgründen daran interes siert waren, die Wundärzte herabzustufen. Zudem scheint es so gewesen zu sein, daß die Tätigkeit der Wundärzte im Normalfall darin bestand, kleinere ungefährliche, quasi rituelle Verrichtungen vorzunehmen. Dazu gehörten das Aderlassen, Schröpfen, Klistieren, Blutegel setzen, allenfalls noch das Zahnausziehen. Komplizierte Operationen kamen nur höchst selten vor und wurden häufig sogar den umherziehenden »Bruch- und Steinschneidern« überlassen. 85 Dies bestätigten selbst die angesehensten Mediziner jener Zeit, z. B. J . P. Frank, der 1784 bemängelte, daß »auf Universitäten blos für die theoretische Bildung des Arztes gesorgt wird« (J. P. Frcnk, A nkündigung des klinischen Instituts zu Göttingen, wie solches bey seiner Wieder herstellung zum Vortheil armer Kranker und zur Bildung praktischer Ärzte eingerichtet werden soll, Göttingen 1784, S. 7). S. auch G. Fischer, Chirurgie vor 100 Jahren. Historische Studie über das 18. Jahrhundert aus dem Jahre 1876, Berlin 1978, S. 25f., 39f. 86 E. Seidler, Probleme der Tradition, in: M. Blohmke u.a. (Hg.), Handbuch der Sozialmedi zin, Bd. 1, Stuttgart 1975, S. 53ff. 87 Consbruch, S. 90f. 88 Daß die Hauptbeschäftigung des Arztes lediglich darin bestand, Medikamente auszuwäh len, geht noch aus einer Definition des A rzt-Begriffs aus dem Jahr 1836 (!) hervor. Das »Allgemeine deutsche Sach-Wörterbuch aller menschlichen Kenntnisse und Fertigkeiten oder Universallcxikon aller Künste und Wissenschaften« beschrieb den A rzt als jemanden, der Arzneien »in zweckmäßige A nwendung bringt und hierzu vorschreibt« (Bd. 1, Meißen 1836, S. 401). 89 Vgl. die Leistungsaufstellung »von denen Medicis« und »von denen Chirurgis« in der Medizinaltaxc von 1725 bei Stürzbecher, S. 148 ff; s. auch die häufig unhistorisch argumentie rende, mit ideologischen Rückprojektionen arbeitende Studie von G. Fischer, Chirurgie, v. a. S. 34-46. 90 1713 ließ Friedrich-Wilhelm I. in Berlin ein A natomisches Theater einrichten, das den Medizinern durch Leichensektionen ein größeres anatomisches Wissen vermitteln sollte. Zehn Jahre später gründete der König, ebenfalls in Berlin, eine medizinisch-chirurgische Lehranstalt, an der Ärzte und Chirurgen, sogar Hebammen, gleichermaßen Kurse in Anatomie, Chirurgie, Geburtshilfe etc. belegen konnten. Vgl. dazu R. A . Dorwart, Medical Education in Prussia under the Early Hohenzollem, 1685-1725, in: BHM, Bd. 32, 1958, S. 335-347, sowie ders., The Royal College of Medicine and Public Health in Brandenburg-Prussia, 1685-1740, in: Medical Historv, Bd. 2, 1958, S. 13-23. 91 S. die Einschränkung in Anm. 84. 92 J . J . Kausch, Über die wohlfeilste und dennoch zweckmäßige Ausbildung der Wundärzte zur innerlichen Praxis beym gemeinen Landvolke, Erfurt 1791, S. 41. 93 Formey, S. 285. 94 J . Th. ΡγΙ, Der Monddoktor in Berlin, in: ders. (Hg.), Neues Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medizinische Polizei, Bd. 1, Stendal 1785, S. 320. 95 Zit. bei Wasserfuhr, Gutachterliche Äußerung über einige Gegenstände der Preußischen Medizinal-Verfassung, Berlin 1837, S. 86.
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Anmerkungen zu Seite 41—43 96 Ein Beispiel für diese Konkurrenzhaltung unter Ärzten, die sich gegenseitig der Verleum dung beschuldigten und Ehrenerklärungen forderten, findet sich im Briefwechsel des Berliner ArztesJ. B. Erhard. Am 25. 7. 1800 antwortete Erhard dem Regimentschirurgus M. auf dessen Anschuldigung, er (Erhard) hätte ihn (M.) wegen dessen Kurmethode bei einem Patienten verhöhnt und schlecht gemacht. Das Ganze hatte damit angefangen, daß Erhard, der damals schon ein hinlänglich berühmter A rzt war, zu einem sterbenskranken Hauptmann gerufen wurde, der bislang von M. behandelt worden war. Erhards Verteidigungsschrift gegen M.'s Vorwurf, er betrage sich »unanständig, unehrbar, unmäßig u.s.w.«, sei hier in ihren Haupt punkten zitiert: »Ihre Arznei, bis auf den schwefelsauren Saft, wollte ich fortgebrauchen lassen, sie war aber verdorben. Der Form wegen wollte ich mit Ihnen konsultiren (denn materiell war keine Gelegenheit dazu vorhanden, indem ich gewiß sagen konnte, daß der Kranke diesen Monat stirbt, und keine Hülfe mehr dagegen ist), aber ich bekam zur Antwort, Sic kämen nicht mehr, und so blieb mir die Wahl, entweder dem Kranken zum Trost . . . zu verordnen, oder ihn durch meine Entfernung ganz trostlos zu lassen. Bloß um eine Bestimmung zu haben, was ich verordnen könnte, verordnete ich das, was ihm in einem frühern Stadium der Krankheit hätte dienen können, und verheimlichte es nicht, sondern setzte meinen Namen darunter. Ich rühmte mich auch nicht, daß er sich unter meiner früheren Behandlung würde besser befunden haben. Auf Untergrabung Ihres Ansehens ist es von mir so wenig angelegt, daß es mir leid thut, wenn Sie durch Ihr Betragen mich zwingen, Sie durch meine nothwendige Vertheidigung zu kränken« (Κ. A. Varnhagen von Ense (Hg.), Denkwürdigkeiten des Philosophen und A rztes Johann Benjamin Erhard, Stuttgart 1830, S. 461). 97 A us dem Medizinaledikt von 1725, zit. bei Rönne u. Simon, Bd. 1, S. 18. 98 Formey, S. 285. 99 Rambach, S. 381, beklagte den »Hang zu symptomatischen Kuren, dem der Arzt nur zu oft nachgeben muß« (Hervorhebung v. UF). S. auch Gruner, Gedanken, S. 451. 100 Rambach, S. 361. S. auch Gruner, Gedanken, Kap. 10 («Von den Kennzeichen guter und schlechter Ärzte«). 101 Vgl. dazu S. W. F. Holbway, Medical Education in England, 1830-1858: Α Sociological Analysis, in: History, Bd. 49, 1964, v.a. S. 301 f.; I. Waddington, The Role of the Hospital in the Development of Modern Mediane, in: Sociology, Jg. 7, 1973, v.a. S. 213. Die Klagen der Mediziner über »Ungehorsam und Widerstand gegen den A rzt und überhaupt ein falsches Benehmen gegen denselben« sind Legion. S. z. B. J . C W. Juncker, Gemeinnützige Vorschläge u. Nachrichten über das beste Verhalten der Menschen in Rücksicht der Pockenkrankheit. Halle 1792, der sich bitter über das mangelnde Vertrauen, das herablassende Verhalten und die Gewohnheit des «Publikums«, mehrere Ärzte zugleich zu konsultieren, ausläßt (v.a. S. 118, 213ff). Ähnlich Gruner, Gedanken, Kap. 5 (»Von den Feinden der Arzneiwissenschaft«) u. 13 (»Von den Vorurteilen und Mißbräuchen der Menschen, in A bsicht auf ihre Gesundheit«), sowie Breinersdorf. v.a. S. 146 ff. 102 N. Duka, Zur privat- und hausärztlichen Tätigkeit im 18. Jahrhundert, in: WZ d. Univ. Halle, Math.-Nat. R., Bd. 16. 1967, S. 655-662, sowie D. Tutzke u. R. Engel, Tätigkeit und Einkommen eines Allgemeinpraktikers vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete, Jg. 24, 1978, S. 460-465. 103 Zit. bei Krünitz, Bd. 47, 1791, S. 38. 104 Vgl. A nm. 79, sowie die Beispiele bei E. Heischkel, Der A lltag des A rztes, in: Ciba Zeitschrift, Jg. 7, 1956, S. 2668 f. 105 Α. Α. Senfft, Gesundheitskatechismus für das Landvolk und den gemeinen Mann, Berlin 1781, S. 358. 106 Stürzbecher, Medizin. Versorgung, S. 75. 107 Vgl. E. Heischkel, Weihnachtsgeschenke und Neujahrshonorare, in: Medizinischer Mo natsspiegel, 1954, Nr. 12, S. 3; Tutzke u. Engel, S. 464. 108 Gruner, Gedanken, S. 465.
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Anmerkungen zu Seite 43-47 109 Vgl. die Bestallungsurkunde des Hallenser Stadtphysikus aus dem Jahre 1720, abge druckt in: W. Piechocki, Die A nfänge des Halleschen Stadtphysikats, in: A cta Historica Leo poldina, Bd. 2, 1965, S. 14-16. 110 § 5 der Instruktion für die Land-, Kreis- und Stadtphysici in den Preußischen Ländern v. 17. 10. 1776, zit. bei Rönnen. Simon, Bd. 1, S. 200. 111 W. Kaiser u. W. Piechocki, Zum Physikatwesen des frühen 19. Jahrhunderts, in: WZ d. Univ. Halle, Math.-Nat. R., Jg. 23, 1974, S. 149. 112 Huerkamp, Ärzte, S. 361; s. auch Ε. Η. Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Me dizinalreform von 1848, in: Sudhoffs A rchiv für Geschichte der Medizin, Bd. 25, 1932, S. 92. 113 J . N. Rust, Die Medicinal-Verfassung Preußens, wie sie war und wie sie ist, Berlin 1838, S. 56f 114 J . D. Schöpff, Über den Einfluß des Medizinalwesens auf den Staat, und über die Vernachlässigung desselben in den meisten deutschen Staaten, in: Beiträge zum A rchiv der medizinischen Polizei und der Volksarzneikunde, Bd. 8, 1799, S. 1. A uch im 19. Jahrhun dert ging der »Rangstreit zwischen dem A rzte und dem Juristen, wer von beiden dem Ge meinwesen nützlicher und nothwendiger sey« unvermindert weiter, v.a. auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin: vgl. dazu Werres, Über das Verhältniß des gerichtlichen A rztes zu den Juristen und über die Stellung des gerichtlichen A rztes vor dem A ssisengerichtshofe, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, Bd. 21, 1831, S. 245-278. 115 J . Ch. F. Scherf, Über den Begriff der Gesundheits-Polizey, in: ders. (Hg.), A llgemei nes Archiv der Gesundheitspolizcy, Bd. 1, Hannover 1805, S. 4f. II. Formen und Bezugspunkte der Politisierung von Gesundheit und Krankheit im ausgehenden 18. undfrühen19. Jahrhundert 1 E. B. G. Hebenstreit, Lehrsätze der medicinischen Polizeywissenschaft, Leipzig 1791, S. 4-7. 2 Süßmilch, Bd. 1, Kap. III: »Einige Ursachen von der größeren Sterblichkeit in Städten« (S. 102-117). 3 Vgl. zu diesem nicht nur für Deutschland dokumentierten Tableau auch M.-F. Morel, Ville et Campagne dans le discours médical sur la petite enfance au XVIIIe siéde, in: A nna IcsE. S. C , Bd. 32, 1977, S. 1007-1024. 4 S. die Zusammenstellung bei E. Dreiβigacker, Populärmedizinische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zur hygienischen Volksaufklärung. Diss. Marburg 1970. 5 Unzer, Vorrede zur 1. Ausgabe 1759, 6 A uszüge aus den Inhaltsverzeichnissen von Unzer und Tode. Vgl. auch May, Fastenpre digten, sowie C. W. Hufeland, Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu ver längern, Berlin 1796; ND München 1978. 7 Unzer. S. 569. 8 Ebd., S. 572. 9 Vgl. C. F. Koch, Bemerkungen zur Reform des Preuß. Medicinal-Wescns aus dem Standpunkte der Verwaltung, Merseburg 1847, S. 52. 10 S. K. Figlio, Chlorosis and chronic disease in nineteenth-century Britain: the social Constitution of somatic illness in a capitalist society, in: Social History, Bd. 3, 1978, v.a. S. 176f. 11 Rambach, S. 362. A uch Gruner gestand ein, daß der A rzt seinen Patientenkreis oft genug »den Schmeicheleien gegen das schöne Geschlecht« verdankte, »als welches sich schon seit undenklichen Zeiten das Recht, Ärztinnen zu seyn, erkauft, und sich noch außer dem den stolzen Vorzug angemaßt hat, Ärzte nach Belieben ein- und abzusetzen, und seine
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Anmerkungen zu Seite 47-50 Gunstbezeugungen, wie einige ausgeartete Kinder desselben, an die Meistbietenden und Gefäl ligen zu verkaufen« (Gruner, Gedanken, S. 380, sowie auch S. 442 f.). 12 Vgl. z.B. Juncker, S. 135 ff: »A n die Damen insbesondere. Sie sind es meine liebenswür digen Damen, die bey dieser wichtigen A ngelegenheit [gemeint sind die Pockenimpfungen] unsers Hauswesens das allermeiste beytragen können . . . was wissen doch die Männer von allen den kleinen Betriebsamkeiten, welche die Pflege der Kinder nothwendig erheischt.« S. dazu auch die scharfsinnige Skizze bei J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt 1980, v.a. S. 30ff. 13 Vgl. ζ. Β. U. Ottmüller, >Mutterpflichten( - Die Wandlungen ihrer inhaltlichen A usfor mung durch die akademische Medizin, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 14, Frankfurt 1981, S. 97-138; M.-F. Morel, Mére, enfant, médicin: la médicalisation de la petite enfance en France (XVIIIe-XIXe siécles), in: Α. E. Imhof(Hg.), Mensch und Gesundheit in der Geschichte, Husum 1980, S. 301-313; F. Loux, Recours convergents à lamédecine officielle et à la médecine parallele en matiére de soins aux enfants en France (XIXe-XXe siécles), in: ebd., S. 315-321. 14 So ein Rezensent in der Berliner Medizinischen Zeitung, Ig. 1, 1832, Sp. 56. 15 S. dazu U. Frevert, Frauen und Ärzte im späten 18. und 19. Jahrhundert - zur Sozialge schichte eines Gewaltverhältnisses, in: A. Kuhn u. J . Rüsen (Hg.), Frauen in der Geschichte II, Düsseldorf 1982, S. 177-210, v.a. S. 188. 16 Wie uneins die Mediziner selbst in der argumentativen Begründung ihres Monopolan spruchs waren, zeigt sich vor allem an diesem Punkt. Die hier zitierte, ζ. Β. von Senfft vertretene Auffassung kollidierte völlig mit Gruners 1772 formulierter These, daß die «A rzneikunst« im wesentlichen eine Erfahrungswissenschaft sei: »Die Kenntniß der Ursachen so vieler Krankhei ten und die Wirkung der Mittel ist nicht so untrüglich, als es das Publikum wünscht; und ich räume es gerne ein.« Dagegen sei es »dem Arzte Beruhigung genug, wenn er die Erfahrungen so vieler Jahrhunderte sammlet, ordnet und nach dem mehr oder weniger guten Ausgange die Gewißheit seiner Erfahrungssätze nicht allein behauptet, sondern sie auch bei der A usübung seiner Kunst befolgt. Der Beweis bleibt hinreichend, wenn die Folge richtig, und die Sätze, worauf sie gebauet ist, ausgemachte Wahrheiten sind, und die A rzneiwissenschaft verliert nichts an ihrer Gewißheit, ob ihre Gesetze aus der Natur der Sache oder Erfahrung hergeleitet werden« (Gruner, Gedanken, S. 26). 17 Senfft, S. 324. 18 K. Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, in: W. Conze (Hg.), Sozialge schichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. 19 Krünitz, Bd. 47, 1791, S.607f. 20 Tissot. S.17f. 21 Die Ärzte beklagten sich sowohl über die »alten Weiber« als auch über die Rhabarber austeilenden Damen des Landadels: J . C. Reil, Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers als Bedürfnisse des Staates nach seiner Lage wie sie ist, Halle 1804, S. 13; Ο. Döhner, Historisch soziologische A spekte des Krankheitsbegriffs und des Gesundheitsverhaltens im 16. bis 18. Jahrhundert (anhand von gedruckten Leichenpredigten), in: R. Lenz (Hg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Köln 1975, S. 455. 22 Tissot, S. 610. S. auch L. A . Baumann, Über die Mängel in der Verfassung des platten Landes der Kurmark Brandenburg, Potsdam 1796, S. 12f: »Sehr selten ist er [der »geringe Landmann«] zu bewegen, einen ordentlichen Stadtarzt zu Rathe zu ziehen, weil er die Kosten scheuet; theils und noch mehr aber, weil er kein Zutrauen zu ihm hat, weil der Mann ihm zu vornehm, zu gelehrt und zu fremde ist und sich nicht zu ihm herablassen kann, wie er es gern hat.« 23 Lichtenberg, S.16 ff., 23 ff. 24 Unzer, S. 341 f.; Hufeland, Makrobiotik 1978, S. 206: »Nirgends wirkt alles um und in dem Menschen auf den Zweck, Erhaltung der Gesundheit und des Lebens hin, als hier. Der
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Anmerkungen zu Seite 50-52 Genuß einer reinen gesunden Luft, einfacher und frugaler Kost, tägliche starke Bewegung im Freien, eine bestimmte Ordnung in allen Lebensgeschäften, der schöne Blick in die reine Natur und die Stimmung von innrer Ruhe, Heiterkeit und Frohsinn, die sich dadurch über unsern Geist verbreitet - welche Quellen von Lebensrestauration!« 25 Tissot. S. 593 f. 26 Zückert, S. 71. 27 Senfft, S. 325. Das gleiche Schicksal erwartete allerdings auch die darauf folgenden Lehrmeinungen und »Schulen«, die in den 1840er Jahren wegen ihrer Dogmatik und Erfah rungsgläubigkeit von der physiologischen Medizin scharf kritisiert wurden: vgl. W. Roser u. C. A. Wunderlich, Über die Mängel der heutigen deutschen Medicin und über die Nothwendigkeit einer entschieden wissenschaftlichen Richtung in derselben, in: A rchiv für physiologische Heilkunde, Jg. 1, 1842, S. I-XXX, wieder abgedruckt bei Κ. Ε. Rothschuh (Hg.), Was ist Krankheit?, Darmstadt 1975, S. 45-71. 28 Stütz, Bemerkungen über die Reilsche Schrift: Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers usw. und ihre Recension in der Halleschen A LZ im November 1804, in: Neues Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, Bd. 19, 1807, S. 44. 29 Salzmann, Bd. 1, S. 235ff., berichtet ζ. Β. von festen »Purgiertagen« in einem ländlichen Pfarrhaus. 30 Vgl. dazu Ο. ν Boltenstein, Die neuere Geschichte der Medicin, Leipzig o.J., v. a. S. 204-210. 31 In der Tat erscheint die Volksmedizin des 18. und 19. Jahrhunderts als eine Mischung naturmystischer Vorstellungen und schulmedizinischer Lehren, die, vermittelt durch die »Hilfstruppen« der Bader, Barbiere und Hebammen, in die Bevölkerung »diffundierten« (vgl. dazu H. P. Fielhauer, Volksmedizin-Heilkulturwissenschaft, in: Mitteilungen der Anthropo logischen Gesellschaft in Wien, Bd. 102, 1973, S. 114-136). Die These Schendas, daß es sich bei der Volksmedizin um ein deviantes System handele, das in der Deprivation bestimmter Bevölkerungsschichten (medizinische Unterversorgung) seine Wurzeln habe (R. Schenda, Stadtmedizin - Landmedizin. Ein Versuch zur Erklärung subkulturalen medikalen Verhaltens, in: G. Kaufmann (Hg.), Stadt-Land-Beziehungen, Göttingen 1975, S. 147-170), kann aufgrund ihrer funktionalistischen A rgumentationsstruktur, die die historischen Bedingungen der Her ausbildung volksmedizinischen Wissens nicht berücksichtigt, nicht überzeugen. 32 So berichtete beispielsweise Consbruch über die Heilpraktiken der Ravensberger Bevölke rung: »A derlassen ist gemeiniglich das erste und vornehmste Mittel bey allen Krankheiten, und wenn das nicht hilft: so folgt ein purgier- oder schweißtreibendes Mittel« (Consbruch. S. 25). 33 R. Fåhræus, Grundlegende Fakten über die Pathologie der Körpersäfte und ihre Relikte in Sprache und Volksmedizin, in: E. Grabner(Hg.), Volksmedizin, Darmstadt 1967, bes. S. 456f. 34 Vgl. dazu die Inhaltsanalyse von E. Lombard, Der medizinische Inhalt der Schweizeri schen Volkskalender im 18. und 19. Jahrhundert, Zürich 1925. S. auch B. C. Hansch-Mock, Deutschschweizerische Kalender des 19. Jahrhunderts als Vermittler schul- und volksmedizini scher Vorstellungen. A arau 1976. 35 Rickmann, S. 271. 36 Vgl. H. Höhn, Volksheilkunde 1, in: K. Bohnenberger(Hg.), Volkstümliche Überlieferung in Württemberg, Stuttgart 19632, S. 240. 37 Zit. bei J . Stoll, Staatswissenschaftliche Untersuchungen und Erfahrungen über das Medicinalwesen nach seiner Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung, T. 1, Zürich 1812, S. 43. Vgl. auch den Neudruck der A usgabe von 1581: Albertus Magnus, Daraus man alle Heimligkeit deß Weiblichen geschlechts erkennen kan, Deßgleichen von ihrer Geburt, sampt mancherley arztney der Kreuter, auch von tugendt der edlen Gestein und der Thier, mit sampt einem bewehrten Regiment für das böse ding, Frankfurt 1977. 38 ND Berlin 1979. 39 Stoll, S. 43. 351 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35721-8
Anmerkungen zu Seite 52-56 40 Vgl. A . Berg, Der Krankheitskomplex der Kolik- und Gebärmutterleiden in Volksmedi zin und Medizingeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Volksmedizin in Ostpreu ßen, Berlin 1935; ND Nendeln 1977, S. 93. 41 W. T. Rau, Gedanken von dem Nutzen und der Nothwendigkeit einer medicinischen Policeyordnung in einem Staat, Ulm 17642, S. 21 f. 42 Rickmann, S. 270. 43 Walther, A ufklärung, S. 80. S. auch E. Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten A bsolutismus, Wien 1959, S. 91. 44 Scherf, Anmerkungen, S. 127. 45 A . Fischer, Deutsches Gesundheitswesen, Bd. 2, S. 459f. Lombard, S. 43f., berichtet, daß schweizerische Volkskalender seit etwa 1825 die Hinzuziehung eines Arztes empfahlen. 46 G. S. Bäumler, Mitleidiger A rzt überhaupt gegen alle arme Kranke, ins besondere gegen die von Medicis abgelegene Land-Leute; welcher mit gemeinen Haus-Mitteln oder doch wenig kostenden A rzneyen die mehresten Leibes-Krankheiten nach der einfältigen Methode der Natur sich selbst zu curiren aufrichtig und gründlich lehret, Straßburg 1731, s. bes. die Vorrede. 47 Tissot, S. 21. 48 Vgl. v.a. Scherf, Anmerkungen, S. 118f; Hufeland, Makrobiotik (1958), S. 249; Gruner, Gedanken, S. 555ff; v. Mederer, S. 17. 49 B. Ch. Faust, Gesundheits-Katechismus zum Gebrauch in den Schulen und beym häusli chen Unterricht, Bückeburg 1794, S. 12. 50 Röber, S. 716f. 51 Faust, S. 16, 66,69. 52 Senfft, Vorrede. 53 A llgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 325, 1804, Sp. 353. S. auch Krünitz, Bd. 51, Brünn 1791, S. 204, wonach es allgemein bekannt war, »wie weit die A bscheu und das Vorurtheil vieler gemeiner Leute gegen alle A rzneyen und alle regelmäßige medicinische Behandlung geht«. 54 A bgedruckt bei Faust, S. 1. 55 Ebd.,S. 1f 56 D. Tutzke, Inhaltliche und methodische Entwicklungstrends der Gesundheitserziehung von der Renaissance bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, in: NTM, Bd. 13, 1976, S. 30. 57 Rickmann, S. 37. 58 Vgl. dazu C. L. P. Trüb, Heilige und Krankheit, Stuttgart 1978, v.a. S. 14f 59 »Das Fieber ist z. B. bey dem gemeinen Mann keine besondere Verstimmung der Funk tionen seines Körpers, . . . sondern ein wahres Wesen, das in ihm wohnet, und das von ihm vertrieben werden muß« (J. B. Erhard, Theorie der Gesetze, die sich auf das körperliche Wohlseyn der Bürger beziehen, und der Benutzung der Heilkunde zum Dienst der Gesetzge bung, Tübingen 1800, S. 109f). 60 Faust, Kap I: »Von der Gesundheit, ihrem Wertheund der Pflicht, sie zu erhalten, und die Menschen, vorzüglich die Kinder, darüber zu unterrichten.« 61 Vgl. Stoll, T. 1, S. 39 ff; Tissot, S. 15 f.; Baumann, S. 22 f. 62 H. Pompey, Pastoralmedizin - der Beitrag der Seelsorge zur psycho-physischen Gesund heit. Eine bibliographisch-historische A nalyse, in: Imhof Mensch, S. 121. S. auch R. Heller, »Priest-Doctors« as a rural health service in the age of enlightenment, in: Medical History, Bd. 20, 1976, S.361-383. 63 Vgl. das Schreiben eines A rztes an einen Landgeistlichen, in: Olla Potrida, Jg. 9, 1786, v. a. S. 152; s. auch v. Mederer, v. a. S. 27f 64 Ch. W. Hufeland, Medizinische Praxis der Landgeistlichen, in: Journal der practischen Heilkunde, Bd. 29, 1809, S. 8. Stoll, S. 41f., bezeichnete es als die staatsbürgerliche Pflicht des Geistlichen, »Kranke vor der Ertheilung der Sakramente an die von der Obrigkeit angestellten
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Anmerkungen zu Seite 56-63 Medicinalpersonen (zu) verweisen (und) diese in dringenden Fällen unaufgefordert an das Krankenbett (zu) befördern«. 65 Hufeland, Medizinische Praxis, S. 4f. 66 Stoll, S. 193. 67 Ebd.,T. 2, S. 58f. 68 Rau, S. 44. 69 Rickmann, S. 249. 70 Reil, S. 66, 67. Vgl. auch R. Heller, Johann Christian Reifs training scheme for medical auxilianes, in: Medical History, Bd. 19, 1975, S. 321-332. 71 So ein Rezensent der Reilschen Schrift in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 325, 1804, Sp. 372 f. 72 S. C. W. Hufeland, Über Ärzte und Routiniers, in: Neues Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, Bd. 21, 1805, S. 9-21. 73 S. auch J.-P. Goubert u. F. Lebrun, Médecins et chirurgiens dans la société française du XVIIIe siècle, in: Annales Cisalpines d'histoire sociale, Bd. 4, 1973, S. 136; J.-P. Goubert, L'art de guérier, in: Annales E. S. C., Bd. 32, 1977, S. 910. 74 S. auch H. Mitchell, Rationality and control in French Eighteenth-Century Medical Views of the Peasantry, in: CSSH, Bd. 21, 1979, S. 82-112. 75 Tode, Bd. 4, S. 143. 76 Ebd.,S. 142. 77 Hufeland, Makrobiotik (1958), S. 252. 78 Reil, S. 114. 79 Scherf, A nmerkungen, S. 123. 80 Ebd.: s. auch die Kritik bei Schlegel, Medicinisch-topographische Bemerkungen über das Thüringer Waldgebirg überhaupt und das A mt und die Stadt Ilmenau insbesondere, in: Materialien für die Staatsarzneiwissenschaft und praktische Heilkunde, Bd. 2, 1801, v.a. S. 135. 81 Der Mediziner Gruner pries 1772 den A rzt als »Erhalter des Staats und Bewahrer der Gesetze« an: »Er entscheidet, mit den Sätzen der Zergliederungskunst und einer vernünftigen Heilkunde bekannt, die Grade der Verbrechen, auf welche die Gesetze die Todesstrafe gesetzt haben, bewahrt den Staat vor Giftmischereien, Kindermord, und gräulichen Schandthaten, sorgt für die Luft, die seine Mitbürger athmen, für die Nahrungsmittel, die sie zu sich nehmen, für die Entstehung und Erziehung einer neuen Nachkommenschaft, und vergißt selbst die Leichname der Todten nicht, die dem Leben der andern oft nachtheilig werden können« (Gruner, Gedanken, S. 11). 82 M. Stürzbecher, Zur Geschichte der brandenburgischen Medizinalgesetzgebung im 17. Jahrhundert, in: ders., Beiträge, S. 27-34, 59; Rönne u. Simon, Bd. 1, S. 15-26; M. Pistor, Geschichte der preußischen Medizinalverwaltung, in: DVöG, Bd. 40, 1908, S. 227-231. 83 A us der Kgl. Preußischen Instruktion für die Provinzialkollegien (1800), zit. bei Krünitz, Bd. 86. 1807, S. 345. 84 Ebd. S. 572. 85 Pistor, S. 235. 86 Rönnen. Simon, Bd. 1, S. 756f.; Bd. 2, S. 405. 87 Ebd., Bd. 1, S. 419. 88 Zit. ebd., S. 565. 89 Zit. Wasserfuhr, Äußerung, S. 86. 90 Vgl. für Frankreich die Analyse von Ramsey, v. a. S. 574f. 91 Rickmann,S. 173, 225f. 92 Vgl. dazu Augustin, Bd. 2, 1818, S. 58. 93 Oestreich,S. 331. 94 Zit. bei G. Fischer, Chirurgie, S. 62f.
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Anmerkungen zu Seite 63-68 95 Zit. in der Rezension der Reilschen Schrift »Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routi niers«, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 327, 1804, Sp. 370. 96 Rust, S. 176f. 97 Consbruch, S. 24. 98 Zit. bei Rönnen. Simon, Bd. 1, S. 19. 99 Zit. bei Rust, S. 49f. 100 Zit. bei J. Ch. F. Scherf (Hg.), Allgemeines Archiv der Gesundheitspolizey, Bd. 1, 1806, S. 106. 101 Zit. in: Walther u. Ph. Zeller, Die Medizinalpolizei in den preußischen Staaten, Quedlin burg 1829, S. 254-264. 102 Zit. bei Pistor, S. 805. 103 Zit. bei Walther u. Zeller, S. 222-228. 104 Bekanntmachung der Regierung zu Minden vom 18. 6. 1831 über die Behandlung des Wechsel-Fiebers, abgedruckt bei Rönne u. Simon, Bd. 2, S. 136-139. Ähnliche Empfehlungen waren 1830 auch von der Magdeburger Regierung erlassen worden. 105 Ebd., S. 138. 106 Gerade die geringen Kosten der Kräuterkuren machten sie-zumindest für den unbemit telten Teil der Bevölkerung - auch nach Meinung der Ärzte salonfähig. So enthielt die von Hufeland ausgearbeitete preußische A rmenpharmakopöe vor allem einheimische Naturpro dukte, und die Armenärzte waren explizit darauf verpflichtet, nur solche Arzneien zu verschrei ben. Finanzielle Erwägungen mögen auch bei dem 1823 gestarteten A ppell des Rheinischen Medizinalkollegiums an alle Ärzte und Wundärzte Pate gestanden haben, den im Volk ge bräuchlichen Heilmitteln nachzuspüren, »sich von ihrem Gebrauch und ihrer Wirkung die möglichst genaue Kenntnis zu verschaffen und alles mitzutheilen« (zit. bei A ugustin, Bd. 4, 1828, S. 919). 107 Schöpft, S. 16. 108 Scherf, A nmerkungen, S. 91. 109 J . P. Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 1, Mannheim 1779, S. 14. 110 Vgl. die jeweiligen Untertitel der einzelnen Bande. 111 F. A. Mai, Stolpertus der Polizei-Arzt im Gerichtshof der medizinischen Polizeigesetz gebung, Mannheim 1802, v.a. S. XXIIf. (zu den Pflichten eines »Polizeiarztes«). 112 Röber, S. 13. 113 Stoll, T. 2. S. 14; ähnlich J . D. Metzger, Handbuch der Staatsarzeneykunde, enthaltend die medicinische Policey und gerichtliche Arzeneywissenschaft, Züllichau 1787, S. 5. 114 Erhard, S. 21 ff. 115 A . Winkelmann, Kenntniß der öffentlichen Gesundheitspflege. Frankfurt 1804; Α. Η. Nicolai, Grundriß der Sanitäts-Polizei mit besonderer Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1835; G. M. Sporer, Grundriß eines vollständigen Systems der Staatsarzneikunde für Ärzte, Sanitätsbeamte und Rechtsgelehrte, Klagenfurt 1837. 116 Die in der medizinhistorischen Literatur (v. a. bei G. Rosen, The Fate of the Concept of Medical Police, 1780-1890, in: ders., Medical Police, S. 142-158) immer wieder geäußerte These, das von Frank u.a. entwickelte Konzept der Medizinischen Polizei entspräche mit seinem »authoritarian and paternalistic character« dem politischen System Deutschlands, wo »individual freedom and initiative« völlig fehlten (ebd., S. 143), erscheint deshalb eher als funktionalistische Überinterpretation. 117 Berechnet nach Bratring, S. 64-73, 222. 118 Vgl. die Instruktion der Mindener Regierung für ihre Kreisphysici, zit. bei Rönne u. Simon, Bd. 1, S. 206-209. 119 Ebd., S. 63. Vgl. auch die Kritik bei Finkeinburg, Die öffentliche Gesundheitspflege Englands nach ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Organisation, nebst
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Anmerkungen zu Seite 68-71 einer vergleichenden Übersicht der sanitarischen Institutionen in anderen Culturstaaten, Bonn 1874, S. 181 f. 120 Zit. im Archiv der deutschen Medieinalgesctzgebung und öffentlichen Gesundheitspfle ge für Ärzte, A potheker und Beamte, Jg. 1, 1857, S. 51. 121 S. dazu Rönne u. Simon, Bd. 1, S. 4ff.; L. v. Stein, Das Gesundheitswesen, Stuttgart 18822, v.a. S. 133. 122 Schöpff, S. 26f. 123 Vgl. A ugustin, Bd. 1-7, Berlin 1818-1843. 124 B. C. Faust, Über die Ausrottung der Blattern. Eingabe an den Congress zu Rastadt von 1798, in: DVöG, Bd. 9, 1877, S. 706 f. Im letzten Drittel des Jahres 1766, als die Pocken in Mainz grassierten, starben hier dreimal so viele Kinder wie in normalen Jahren (W. G. Rödel, Die Pocken in Mainz im Jahre 1766, in: Medizinhistorisches Journal, Bd. 14, 1979, S. 66). 125 Pistor, S. 779f.; W. Kaiser u. K. Werner, Die Anfänge der Pockenschutzimpfung (Vano lation) in Halle und Umgebung, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene, Bd. 19, 1973, S. 809f.; W. Kaiser, Impfärzte des 18. Jahrhunderts, in: Zahn-, Mund- und Kiefernheilkunde, Bd. 64, 1976, S. 385-396. 126 Zit. bei Walther u. Zeller, S. 254—264. Vgl. auch die »Anweisung über das Verhalten vor, während und nach den Pocken« von 1796 aus der Feder des Probstes Visbeck. Diese Anweisung wurde mit finanzieller Unterstützung der Hamburger Patriotischen Gesellschaft an alle Schu len, Prediger und Dorfvorsteher der Umgebung verteilt (in: Verhandlungen und Schriften der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe, Bd. 6, Hamburg 1801, S. 71 f., 489-494). 127 Zit. bei Pistor, S. 781. 128 Formey, S. 165, schrieb 1796, daß die Mehrheit der Ärzte mittlerweile für die Pocken impfung sei. 129 Juncker, S. 99. 130 Tode, Bd. 1, S. 26 f. Der Verfasser kritisierte, daß mindestens zwei Drittel aller geimpf ten Kinder den »bessern Ständen« entstammten und »wieder die Hälfte von den meisten aufgestellten Impflingen Frauenzimmer (waren): allerdings schöne, wohlerzogene, hoffnungs volle I )amen und Mädchen, allerdings jede für sich wohl werth, daß sie wider die mörderischen und, was noch ärger ist. schönheitszerstörenden Blattern in Sicherheit gesetzt werden«. A ber, so wandte der Verfasser ein. gerade diese Mädchen wären »für den Staat bey weitem nicht so nützlich, also auch nicht so wichtig, als die arbeitenden Töchter des gemeinen Mannes. Das Bürgermädchen, die Bauerndirne u. d. ü. sind zwar nicht allemal so weis als die Lilien auf dem Felde; aber sie können arbeiten, sie können nähen, spinnen: und das ist mehr als manche von denen kann, die durch den giftschwangern Faden sind erhalten worden«. 131 J . Möser, Anwalt des Vaterlands. Ausgewählte Werke, Leipzig 1978, S. 328. 132 Juncker, S. 60. 133 J . E. Wetzler (Hg.), A ktenstücke über die Schutzpocken-Impfung in der kömglich baier'schen Provinz in Schwaben, Ulm 1807, S. 31. An anderer Stelle machte sich Wetzler eben diese, nach außen scharf bekämpfte Haltung zu eigen, als er dem Staat vorschlug, nur Kinder über einem Jahr impfen zu lassen, da ohnehin ein Drittel der Neugeborenen in den ersten Lebensmonaten stürbe: »Sonach würden nicht nur die Kosten für die Impfung der Kinder, welche im ersten Jahre noch sterben, ersparet, sondern es würde auch verhütet, daß nicht so viele Krankheiten, welche geimpften Kindern in der Folge zustoßen, der Einimpfung der Kuhpocken zur Last gelegt würden« (S. 134). 134 Möser, S. 327; ähnlich Juncker, S. 122. 135 Wetzler, S. 89f. Vgl. auch M. Schmid, Bericht über die Schutzpocken-Impfung im Physikatsdistrikte Rosenheim, Rosenheim 1816, S. 20, der von der kollektiven Verweigerung abgelegener Regionen berichtete. 136 Wetzler, S. 127.
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Anmerkungen zu Seite 71-75 137 Consbruch, S. 166. 138 Röber, S. 586. Vgl. zu den Widerständen auch J.-P. Rupp, Die Entwicklung der Impfge setzgebung in Hessen, in: Medizinhistorisches Journal, Bd. 10, 1975, S. 115ff. 139 Zit. bei Augustin, Bd. 2, 1818, S. 612. 140 Zit. ebd., S. 614, 615. 141 § 4 und 5 des Reglements von 1803, zit. ebd., S. 616. 142 Deklaration und Erweiterung des Impfungsreglements v. 13. 10. 1804, zit. ebd., S. 618. 143 J . J . H. Ebers, Das Armenwesen der Stadt Breslau nach seiner früheren und gegenwärti gen Verfassung dargestellt, Breslau 1828, S. 38. 144 Vgl. Walther u. Zeller, S. 270f.; Pistor, S. 785. 145 S. z. B. W. Harcke, Einige Worte über die Nothwendigkeit die Ausrottung der Men schenpocken durch gesetzliche Vaccination ins Werk zu richten. Nebst einem A nhange von Hufeland, in: Journal der practischen Heilkunde, Bd. 28, Berlin 1809, S. 16-56. Hufeland sprach sich hier unumwunden für einen gesetzlichen Impfzwang aus: »Wenn irgendwo, so ist hier der Fall, wo Regierungen mit Kraft einwirken, und sich als Vormünder des in diesem Punkte immer unmündig bleibenden Volkes annehmen müssen« (S. 47). 146 So hatte beispielsweise die Düsseldorfer Regierung 1821 und 1824 festgestellt, daß die bisherigen Maßregeln über die Pockenimpfung »nicht hinreichen, um auf dem Wege der Berathung das Publikum vor der verheerendsten aller Seuchen zu schützen« und eine »allge meine Einführung der Schutzpockenimpfung« verfügt (zit. in: Augustin, Bd. 3, 1824, S. 661672; Bd. 4, 1828, S. 738-754). Daraufhin erließen das Innenministerium sowie das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (im folgenden: GUMA ) 1829 eine Zirkularverfügung, die die Aufhebung dieser Bestimmungen veranlaßte (zit. ebd., Bd. 5, 1833, S. 664f.). 147 Order v. 30. 5. 1826, zit. bei Pistor, S. 785. 148 § 55 des Regulativs v. 8. 8. 1835, die sanitätspolizeilichen Vorschriften bei den am häufigsten vorkommenden ansteckenden Krankheiten betreffend, zit. bei Rönne u. Simon, Bd. 2, S. 255 ff 149 Zit. ebd., S. 271. 150 Stoll, S. 265. 151 Vgl. Pistor, S. 784. 152 Reskript des Kgl. Ministeriums der GUMA v. 1.5. 1825, zit. bei Augustin, Bd. 4, 1828, S. 760f. 153 Flügel, Volksmedizin und Aberglaube im Frankenwalde, München 1863, S. 56. 154 Einer der hartnäckigsten Impfgegner war der einflußreiche Berliner Arzt Johann Benja min Erhard, der 1800 an einen Freund schrieb: »Die Kuhpocken inokulire ich so wenig als die natürlichen. Ich habe gegen die ersten noch den Grund, daß sich nicht vorhersehen läßt, was aus dieser endemischen Krankheit, wenn sie sich den menschlichen Körper in verschiedenen Gegenden aneignet, werden wird, und ob dadurch dem menschlichen Körper nicht unabsehba res Elend bereitet werden kann« (Brief Erhards an Osterhausen v. 7. 3. 1800, in: Varnhagen von Ense, S. 459). 155 S. auch die für Frankreich aufgestellte These von G. D. Sussman, Enlightened Health Reform, Professional Medicine and Traditional Society: The cantonal Physicians of the Bas Rhin, 1810-1870, in: BHM, Bd. 51, 1977, S. 575: »Vaccination was the first step in the medicalization of the general population and in the medicalization of the life cycle of contempo rary man.« 156 D. Jetter, Grundzüge der Hospitalgeschichte, Darmstadt 1973, S. 110. 157 Vgl. Formey, S. 264f; »Summarische Übersicht der im Jahre 1838 im Kgl. Charité Krankenhause verpflegten Kranken, nebst einem Überblick der Veränderungen dieser Anstalt in dem letzten Decennium«, v. 9. 3. 1839, abgedruckt bei: Augustin, Bd. 7, 1843, v. a. S. 100. 158 Krünitz, Bd. 47, 1791, S. 506.
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Anmerkungen zu Seite 75—79 159 Formey, S. 265. 160 Krünitz, Bd. 47, S. 514. 161 Vgl. die Analyse der 1731 in dieCharitéeingelieferten Patienten bei Stürzbecher, Medizini sche Versorgung. S. 126. 162 Vgl. I. Wikström-Haugen, Patienten im Sahlgren'schen Krankenhaus Göteborg 17821822, in: Imhof, Mensch und Gesundheit, S. 323-337, v. a. S. 327 ff; T. Gelfand, Les caractères originaux d'un hospice pansienàlafinde l'Ancien Regime, in:ebd., S. 339-355;H. Rodegra, Vom Pesthof zum Allgemeinen Krankenhaus, Münster 1977, v.a. S. 79 ff. 163 Zit. bei Krünitz, Bd. 47, S. 128. 164 Vgl. dazu Α. Η. Murken, Die bauliche Entwicklung des deutschen allgemeinen Kranken hauses im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, sowie D. Jetter, Das Krankenhaus des 19. Jahrhun derts, bauliche Entwicklung und gesellschaftliche Funktion, in: Artelt u. Rüegg, S. 70-81. 165 A ugustin, Bd. 7, 1843, S. 98: 1838 wurden hier 121 Kranke behandelt, in der Charité selbst aber 9079. 166 Jahresbericht über die Verwaltung des Medicinalwesens, die Krankenanstalten und die öffentlichen Gesundheitsverhältnisse der Freien Stadt Frankfurt a. M., Jg. 2, Frankfurt 1860, S. 42. 167 J . Goudsblom, Zivilisation, Ansteckungsangst und Hygiene, in:P. Gleichmann u.a. (Hg.), Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, Frankfurt 1977. S. 213-253. 168 Formey, S. 273. S. auch E. Horn, Öffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauscs in Berlin, Berlin 1818, S. 65. 169 P. G. Hensler, Über Kranken-Anstalten, Hamburg 1785 (ohne Seitenzählung). 170 Vgl. dazu Α. Ε. Imhof, Die Funktion des Krankenhauses in der Stadt des 18.Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Bd. 4, 1977, bes. S. 227. 171 Hensler. 172 Frank, System, Bd. 1, 1779, S. 8. A n anderer Stelle bezeichnete Frank die (älteren) Krankenhäuser als »privilegirte Mördergrube« (ders., A nkündigung, S. 4). Karl Gutzkow erwähnte in seinen Jugenderinnerungen die »schreckenerregende Charité«, die »wie dem Volke alle Krankenhäuser, gleichbedeutend mit dem Vorzimmer des Todes war« (K. Gutzkow, Aus der Knabenzeit. Frankfurt 1852, S. 109). 173 Stoll. T. 1, S. 298. 174 Krünitz, Bd. 47, S. 486. Auch Formeys Bemerkung, die Armen hatten »mehrentheils eine solche Furcht für diese Anstalt, daß sie es eher als eine Strafe, denn als eine Wohlthat ansehn, darin aufgenommen zu werden« (Formey, S. 273), legt diese Interpretation einer »Strafanstalt« nahe. 175 Zit. in: Krünitz, Bd. 47. S. 240. 176 Ebd.. S. 241. 177 Vgl. Dorwart, Medical Education, S. 340ff. 178 Formey, S. 271; Krünitz, Bd. 47, S. 543; C. W. Hufeland, Nachrichten von der Medizi nisch-Chirurgischen Krankenanstalt zu Jena, nebst einer Vergleichung der Klinischen und Hospitalanstalten überhaupt, in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, Bd. 3, 1797. S. 556f. 179 Zum Leichenmangel und -raub in Deutschland s. Fischer, Chirurgie, S. 95-98; zu den englischen »bodysnatchers« R.J. Morris, Cholera 1832. London 1976, S. 159, und für Frankreich das 1787 erschienene populäre »Tableau de Paris« von L. S. Mercier (dt.: Mein Bild von Paris, Frankfurt 1979, S. 70-72: »A natomisches«). 180 G. Adelmann, Über die Krankheiten der Künstler und Handwerker nach den Tabellen des Instituts für kranke Gesellen der Künstler und Handwerker in Würzburg von den Jahren 1786 bis 1802 nebst einigen allgemeinen Bemerkungen, Würzburg 1803, S. 72. 181 Zuckert, v.a. S. 73-77. 182 Hebenstreit, S. 191. 183 Zückert, S. 74.
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Anmerkungen zu Seite 79-86 184 Hebenstreit, S. 191. 185 Krünitz, Bd. 47, S. 495f., 514. 186 Vgl. M. Foucault, Die Geburt der Klinik, Frankfurt 1976, S. 98ff. 187 Α. Η. Wagemann, Was ist von öffentlichen Versorgungshäusern in der Armenpflege zu halten? in: Göttingisches Magazin für Industrie und A rmenpflege, Bd. 2, Göttingen 1791, S. 100. S. auch A . F. Markus, Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat, Bamberg 1790, v.a. S. 12ff. 188 Foucault, S. 75. 189 Hufeland, Nachrichten, S. 534. 190 Vgl. Formey, S. 263, 269; Jetter, Grundzüge, S. 80; Augustin, Bd. 1, 1818, S. 282; Pyl, Neues Magazin, Bd. 1, 1785, S. 194, 272. 191 Stoll, T. 1, S. 155; Frevert, Frauen, v. a. S. 191-200. 192 Vgl. Waddington, S. 213, 217. 193 Vgl. dazu Foucault, S. 100f. 194 Zit. in: Augustin, Bd. 7, 1843, S. 99. 195 Zit. bei: H. Rodegra, Das Gesundheitswesen der Stadt Hamburg im 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung der Medizinalgesetzgebung (1586-1818-1900), Wiesbaden 1979, S. 118. 196 Vgl. Jetter, Grundzüge, S. 71. 197 Hier ist Jetter zu widersprechen, der die Invalidenhäuser offenbar mit Militärkranken häusern verwechselt (ebd.). In Preußen waren die Heime für Kriegsinvaliden reine Versor gungsanstalten; seit 1791 wurden sie gemeinsam mit öffentlichen A rbeitshäusern, allerdings in voneinander getrennten Gebäuden, errichtet. Die Invaliden bekamen besseres Essen und konn ten auch außerhalb der A nstalt A rbeit annehmen und den Lohn für sich verwenden (nach: Augustin, Bd. 2, 1818, S. 129f.). 198 Das heißt allerdings nicht, daß die medizinische Versorgung der Soldaten überhaupt vorbildlich war - lediglich das Prinzip der Trennung von Heilung und Verwahrung wurde im Militär konsequent praktiziert. Zu der zeitgenössischen Kritik an der (lieblosen, flüchtigen, unhygienischen) Militärkrankenpflege vgl. Krünitz, Bd. 51, 1791, Art.: »Kriegs-oder Feldlaza reth«. Kapitel 2 1 J. P. Frank, A kademische Rede vom Volkselend als der Mutter der Krankheiten, Pavia 1790; ND Leipzig 1960, S. 33. I. Armut, Krankheit und Reformadministration im ausgehenden 18. Jahrhundert 2 Pyl, Neues Magazin, Bd. 2, 1787, S. 121 f.; fast wortgleich F. X. Häberl, Abhandlung über öffentliche A rmen-und Kranken-Pflege, München 1813, S. 173. 3 Z.B. die »Mildtätige Gesellschaft zu München«, die »Gesellschaft freiwilliger A rmen freunde« in Kiel, die »Gesellschaft zur Einrichtung des A rmenwesens« in Zerbst u.a. (K. Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1979, S. 320). 4 1790 stellte die Hamburger Patriotische Gesellschaft eine Preisaufgabe, in der sie nach der »Entstehung, Behandlung und Erwehrung der Armuth« fragte. S. dazu die prämiierte Schrift v. F. W. Wilcke, Über Entstehung, Behandlung und Erwehrung der A rmuth, Halle 1792. S. auch Kopitzsch, Hamburg. Gesellschaft, S. 71-118. 5 S. z.B. A . F. Büsching(Hg.), Magazin für die neue Historie und Geographie, Bd. 21, Halle 1787, Vorrede.
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Anmerkungen zu Seite 86-89 6 Vgl. Pyl, Neues Magazin, Bd. 1 (1785) und 2 (1787). 7 Kgl. Preuß. Edikt v. 28. 4. 1748, zit. bei H. Krüger, Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen, Berlin 1958, S. 600-609. 8 Denkschrift von D. Hansemann über Preußens Lage und Politik (1840), in:J. Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und A kten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd. 1, Essen 1919; ND Osnabrück 1967, S. 242. 9 S. dazu A. Kraus, Die Unterschichten Hamburgs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1965, S. 45ff.; L. Koch, Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der A ufklä rung, Erlangen 1933, S. 153ff.; E. Köhler, Arme und Irre, Berlin 1977, S. 92ff.;C. Sachße u. F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Stuttgart 1980, S. 125ff.; M. Linde mann, Bürgerliche Karriere und patriotische Philanthropie. Armenpolitik in Hamburg vor und nach der Reform von 1788, in: C. Sachße u. F. Tennstedt (Hg.), Jahrbuch der Sozialarbeit 4, Reinbek 1981, S. 157-180; B. Mehnke, Armut und Elend in Hamburg, Hamburg 1982. 10 A ugustin, Bd. 1, 1818, S. 84 ff; F. Stiller, Das Berliner Armenwesen vor dem Jahre 1820, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 21, 1908, S. 192ff. 11 F. Rösch, Die Mainzer Armenreform vom Jahre 1786, Berlin 1929, S. 35 ff Vgl. auch die mit historischen Rückschauen versehenen Lokalberichte in: A. Emminghaus (Hg.), Das Armen wesen und die Armengesetzgebung in europäischen Staaten, Berlin 1870, sowie J. Schwarz, Das Armenwesen der Stadt Köln vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis 1918, Köln o.J. (1923), v.a. S. 23-81; P. Albrecht, Die Übernahme der Prinzipien der Hamburger A rmenreform für die Stadt Braunschweig, in: Sachße u. Tennstedt, Jahrbuch, S. 181-203; für Göttingen: U. Herrmann, Armut- Armenversorgung- A rmenerziehung an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), >Das pädagogische JahrhundertNicht eingezeichneter A rmen auf dem KrankenZettel beizufügen vergißt« (J. A . Günther, A rgumente und Erfahrungen über Kranken-Be suchs-Anstalten für A rme, aus den zweijährigen Rechnungs-A bschlüssen des Medicinal-De partements der Hamburgischen A rmen-A nstalt mitgetheilt, Hamburg 1791, S. 6). 127 Voght, Über die Hamburgische A rmen-A nstalt, S. 38; ders.. Gesammeltes, S. 59. 128 Zit. bei Günther, Einrichtung. S. 27f. 129 Ders., Argumente, S. 19. 130 Zit. bei Günther, Einrichtung, S. 22. 131 Fischer, Versuch, S. 14f., 59. 132 A us dem Bericht des Hamburger A rmenkollegiums von 1791, zit. bei Voght, Gesam meltes, S. 20. 133 »Manche A rme schützen irgend eine Krankheit vor, um eine oder ein paar Wochen lang Krankengeld zu genießen« (Rambach, S. 394). 134 Günther, Einrichtung, S. 4. 135 Rambach, S. 175. 136 Günther, Einrichtung, S. 3.
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Anmerkungen zu Seite 116-118 11. Massenarmut und Massenkrankheit im Vormärz 1 D. Hansemann, Denkschrift über Preußens Lage und Politik, v. 31. 12. 1830, abge druckt bei Hansen, Briefe, S. 12. 2 F. Harkort, Bemerkungen über die Hindernisse der (Zivilisation und Emancipation der untern Klassen, Elberfeld 1844, S. 33, 47. 3 Hansemann, Denkschrift 1830, in: Hansen, Briefe, S. 12ff. 4 F. Heusinger, Deutschlands Wohlstand an der Stelle des durch die Übervölkerung her vorgebrachten Nothstandes nebst Abhülfe desselben, Frankfurt/M. 1830, S. 30. 5 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IE Nr. 2487: Bericht des Landrats v. Borries v. 27. 6. 1817. Ähnlich Häberl, S. 151. 6 Vgl. C. M. Barth, Nachwort, in: T. R. Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977, S.173-198. 7 Die Übersetzung (»Versuch über die Bedingungen und Folgen der Volksvermeh rung«) stammte von dem Kieler A rzt (!) F. H. Hegewisch. Der »time-lag« ist vielleicht da mit zu erklären, daß das Bürgertum zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zu stark mit den Folgen der politischen und militärischen Geschehnisse beschäftigt war, als daß es die sich ankündigenden sozialen Umbrüche mit seismographischer Genauigkeit hätte bemerken können. Sämtliche Veröffentlichungen von A rmenkommissionen und -direktonen aus den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts betonten gleichlautend, daß sich »der Bürger« im Zuge der napoleonischen Fremdherrschaft ganz aus den öffentlichen A ngelegenheiten herausgezogen hätte und vor allem auch den Belangen der A rmenpflege vollkommen des interessiert gegenüberstände (vgl. v. Borries, Bericht 1817; Voght, Gesammeltes, S. 110ff.; Öffentliche A rmenpflege, S. 5). 8 Die Bibliographie von Ruth Hoppe (in: J . Kuczynski, Die Geschichte der Lage der A r beiter unter dem Kapitalismus. Bd. 9: Bürgerliche und halbfeudale Literatur aus den Jahren 1840 bis 1847 zur Lage der A rbeiter, Berlin 1960, S. 265-284) verzeichnet 371 Titel, die zwischen 1831 und 1850 zum Komplex Pauperismus/Proletariat erschienen sind. S. auch P. Mombert, A us der Literatur über die soziale Frage und über die A rbeiterbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: A rchiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Jg. 9, 1921, S. 169-236. 9 Eine Übersicht der A ntworten ist abgedruckt bei: J . Kuczynski, Die Geschichte der Lage der A rbeiter unter dem Kapitalismus. Bd. 8: Hardenbergs Umfrage über die Lage der Kinder in den Fabriken und andere Dokumente aus der Frühgeschichte der Lage der A r beiter. Berlin 1960, S. 125-156. 10 S. dazu K.-J. Matz, Pauperismus und Bevölkerung, Stuttgart 1980, S. 60f. 11 C. A . Weinhold, Über die Population und die Industrie, oder kritischer Beweis, daß die Bevölkerung in hochkultivirten Ländern den Gewerbfleiß stets übereile, Leipzig 1828, S. 15f.; ders., Von der überwiegenden Reproduktion des Menschenkapitals gegen das Be triebskapital und die A rbeit, in den civilisirtesten europäischen Ländern, Leipzig 1828, S. 45. 12 Von Rochow, S. 34. 13 Weinhold, Reproduktion, S. 57, 52ff. 14 Eine A usnahme war z.B. der liberale Nationalökonom F. Bülau, der die »Nahrungs losigkeit«, nicht aber die »Übervölkerung« als Ursache des Pauperismus ansah und den »Reichen« auftrug, den A rmen zu helfen, »sich durch eigene A nstrengung auf eine höhere Stufe sinnlicher und geistiger Wohlfahrt zu heben« (F. Bülau, Übervölkerung und Nah rungslosigkeit, in: Jantke u. Hilger, S. 257). Die A nlage von Fabriken und »technischer Kultur« als Heilmittel gegen die Verarmung der anwachsenden Landbevölkerung empfahl auch der Königsberger Regierungsrat und Professor F. W. Schubert (Statistische Beurthei lung und Vergleichung einiger früherer Zustände mit der Gegenwart für die Provinz Preu-
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Anmerkungen zu Seite 119-122 ßen, mit besonderer Berücksichtigung des jetzigen Nothzustandes dieser Provinz, in: ZVS, Jg. 1, 1847, S. 24-39). 15 C. A . Weinhold, Von der Übervölkerung in Mittel-Europa und deren Folgen auf die Staaten und deren Civilisation, Halle 1827, S. 25, 32, 45-47. 16 Vgl. dazu Matz, S. 80ff.; Jantke u. Hilger, S. 17; als zeitgenössische Kritik s. F. v. Baader, Reflexion über einen neuerlich Öffentlich gemachten skandalösen Vorschlag gegen die Über völkerung [1829/30], in: ders., Gesellschaftslehre, München 1957, S. 264f. 17 Nach Matz, S. 74f., betrachteten zwei Drittel aller Autoren, »die sich an zentraler Stelle mit den Ursachen des Pauperismus beschäftigten, direkt oder indirekt eine generelle oder relative Übervölkerung oder doch zumindest das Überwuchern eines massenhaft oder unver nünftig sich mehrenden Proletariats als wichtige Ursache für das wachsende Elend breiter Schichten im Vormärz«; nur 8% waren der entgegengesetzten A nsicht. 18 Hohorst, S. 131; Engel, Sterblichkeit, S. 336. 19 H. Thümmler, Zur regionalen Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1816 bis 1871, in: JbWG 1977/I, S. 55-72. 20 A . Schneer, Über die Zunahme der Bevölkerung in dem mittleren Europa und die Besorgnisse vor einer Übervölkerung, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift, H. 3, 1844, S. 121; G. Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: Köllmann u. Marschalck, S. 158ff. 21 Berechnet nach: Schubert, S. 26-29. 22 Ebd., S. 29, 30. 23 Vgl. dazu W. v. Laer, Bericht über die Lage der arbeitenden Klassen des Kreises Herford an das Kgl. Preuß. Landes-Ökonomie-Kollegium 1851, in: Jantke u. Hilger, S. 93 ff; G. Funke, Über die Verhältnisse der Einlieger in den Fürstenthümern Lippe-Detmold und SchaumburgLippe, in: ZVS, Jg. 2, 1848, S. 1104ff.; W. Schulte, Volk und Staat, Münster 1954, S. 111-132; Mooser, S. 233 f. 24 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IE Nr. 2487; ebenso argumentierte auch Bitter, S. 42. 25 S. dazu Koselleck, Preußen, S. 589ff., 605ff.; J . Bergmann, Das »A lte Handwerk« im Übergang, in: Büsch, Untersuchungen, S. 224-269. 26 Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1829 bis incl. 1840, Berlin 1842, S. IV; Harkort, Bemerkungen, S. 33. Zur »Bevölkerungsbewegung« in Berlin s. Engel, Sterblichkeit. S. 193; in Leipzig Knapp, S. 8-11, 17-20; in Breslau J . Grätzer, Beiträge zur Bevölkerungs-, A rmen-, Krankheits- und Sterblichkeits-Statistik der Stadt Breslau, Breslau 1854, Tab. I. 27 Vgl. Büsch, Erfahrungen, S. 88, 300ff.; Garn, S. 29; Wagemann, Ursachen, S. 64ff; Wilcke, S. 43ff. 28 E. H. W. Münchmeyer, Über die beste Einrichtung des Medicinalwesens für Flecken und Dörfer oder für das platte Land, Halberstadt 1811, S. 47. 29 J . H. Schmidt, Die Reform der Medicinal-Verfassung Preußens, Berlin 1846, S. 19. 30 S. dazu u. a. Koch, Bemerkungen, S. 87 ff; K. Deutsch, Publikum und Ärzte in Preußen, in ihren Verhältnissen zu einander und zum Staat, Gleiwitz 1846, S. 41 ff. 31 Sofern Daten zur sozialen Zusammensetzung der unterstützten A rmen aus den 1830er und 1840er Jahren vorliegen, ergeben sie kein grundsätzlich anderes Bild als die aus dem späten 18. Jahrhundert. 1832 waren von den 2846 Armen(familien) Hamburgs 55% über 60 und 36% zwischen 40 und 60Jahre alt. Auch die geschlechtsspezifische Gliederung war annähernd gleich geblieben: es wurden weitaus mehr Frauen als Männer unterstützt, darunter sehr viele Witwen, aber auch ledige »Scheuerfrauen und Wäscherinnen« (Voght, Gesammeltes, S. 141). Der Berliner Verwaltungsbericht von 1842 vermerkte, daß von den 1840 unterstützten 5138 Almo senempfängern »fuglich5/6« wären, »welche hoch bejahrt, gebrechlich und sonst arbeitsunfähig sind« (Bericht, S. 168). 32 Für Berlin: K. Nauwerck, Die städtische Armenpflege zu Berlin, in: ZVS, Jg. 2, 1848, S. 703f.; für Hamburg: Nessmann, A rmenwesen, S. 274; vgl. auch Siemens, Armuth und Armen-
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Anmerkungen zu Seite 122-125 pflege in Hamburg früher und jetzt vergleichend, in: ZVS,Jg. 2. 1848, S. 838-853; für Breslau: Grätzer, Beiträge, Tab. IV. 33 Dies fand seinen Niederschlag in der enormen Aufblähung des Postens »außerordentliche Unterstützungen« in den kommunalen A rmenbudgets: in Berlin z.B. stiegen diese Ausgaben zwischen 1822 und 1845 um fast 360% (Nauwerck, S. 703). 34 Vgl. z.B. den Bericht von J. K. Porsch, der in einer Landgemeinde insgesamt 33 arme Familien fand, während die Kommune zugleich »doch nur ein einziges Kind als konskribierten Armen auf dem Papier hat, für welches sie bloß das jährliche Schulgeld zahlt« (A us einer Landgemeinde ]1840], in: Jantke u. Hilger, S. 149-156); s. auch Mooser, S. 255 ff. 35 E. Bruch, A rmenwesen und A rmengesetzgebung im Königreich Preußen nach seinem Bestande vor 1866, in: Emminghaus, S. 35 f. 36 Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat für das Jahr 1849, Bd. 4, Berlin 1853, zit. nach Sachße u. Tennstedt, Geschichte, S. 269. 37 Die quantitative Erfassung der A rmenbevölkerung in Preußen ist für den Vormärz außerordentlich schwierig, da sich zwei ζ. Τ. widersprechende und gegenläufige Zählsysteme gegenüberstanden: einerseits gaben die Kommunen bzw. die unter staatlicher Aufsicht stehen den Armenanstalten die Zahl der von ihnen Unterstützten bekannt, zum anderen lagen seit 1829 Aufstellungen über die Klassensteuerbefreiungen wegen Armut vor. Beide Erfassungssysteme haben jedoch schwerwiegende Mängel (Doppelzählungen bei den kommunalen A rmenlisten, Veranlagungsdifferenzen bei der Erhebung der Klassensteuer etc.), so daß gesicherte Daten über den Umfang der A rmen bzw. Unterstützten - zumal im gesamtstaatlichen Maßstab nicht verfügbar sind. Vgl. dazu auch Bruch, v.a. S. 37-41. 38 Mohl, Polizei-Wissenschaft, Bd. 1, S. 416; s. auch Bitter, S. 34; Zur Lösung der sozialen Frage, Berlin 1849, S. 7; Pauperismus und Industrie [1847], in: Jantke u. Hilger, v. a. S. 270. 39 O. Lüning (Hg.), Dies Buch gehört dem Volke, Jg. 2, Bielefeld 1845, S. 109. 40 C. v. Rotteck, Armenwesen, in: Staatslexikon, Bd. 1, 1845, S. 670. 41 Mohl, Polizei-Wissenschaft, Bd. 1, S. 417. Relativ verständnisvoll urteilte 1844 der Unternehmer F. Harkort: »Das Gefühl der Noth hat zur gemeinsamen Vertheidigung die der öffentlichen Wohlfahrt so schädlichen A rbeiterassociationen und sogar den Kommunismus hervorgerufen. Der A rme wird verhindert Eigenthum zu erwerben, deshalb denkt er an Theilung durch physische Gewalt« (Harkort, Bemerkungen, S. 9). 42 Mohl, Polizei-Wissenschaft, Bd. 1, S. 422. 43 Vgl. dazu auch W. Conze, Vom >Pöbel< zum >Proletariatsittliche Ökonomie< der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: D.
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Anmerkungen zu Seite 192-195 Puls (Hg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschich ten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt 1979, S. 13-80. Fürs 19. Jahrhundert s. die Studie v. Peter Borscheid, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung, Stuttgart 1978, v.a. S. 373f., sowie Braun, Wandel, Kap. IV: Volksleben und Volkskultur im Spannungsfeld des Fabrikbetriebes und der Fabrikarbeit, S. 185-254. 38 Beyer, Fabrik-Industrie, S. 134f.; Borscheid, S. 375ff.; Gruner, Stellung, S. 320ff.; K. Ditt, A rbeitsverhältnisse und Betriebsverfassung in der deutschen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Bielefelder Leinenindustrie, in: ASG, Bd. 21, 1981, v.a. S. 66-70; s. auch die Fabrikordnung Degenkolbs, in: MCV, 7. Lief., 1850, S. 64—67; Reglement für die Fabrik-Arbeiter in der Neuburgerschen Maschinen weberei zu Marklissa und Beerberg, in: ebd., 2. Lief., 1849, S. 142-147; Fabrikordnung des Hörder Bergwerk- und Hüttenvereins, in: Huyssen, Beiträge zur Kenntnis der Lage der Berg- und Hüttenleute, besonders in Bezug auf die Knappschaftsvereine. II: Lage der A rbei ter auf den Eisenhütten des Hörder Bergwerks- und Hüttenvereins, in: ZCV, Jg. 3, 1861, S. 375-380. 39 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IG Nr. 378. Der enge Zusammenhang zwischen Gesund heit und Moral/Disziplin kam auch dort zum Ausdruck, wo beispielsweise die Direktion der Ravensberger Spinnerei ihren A ktionären gegenüber die Einrichtung von fabrikinternen Ba de- und Waschanlagen damit begründete, daß dadurch »Reinlichkeit und Ordnung«, »Spar samkeit und Moralität« gefördert würden (s. Protokoll d. 1. ordentl. Generalversammlung der Ravensberger Spinnerei AG, in: ebd., Μ 1 IG, Nr. 380, v. 29. 4. 1856). 40 Einrichtungen 1876, S. 114-117; Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1431: Nachwei sung der im Kreise Bielefeld vorhandenen F abriken mit Angabe der Unterstützungsverhält nisse der Arbeiter 1855, v. 9. 2. 1856. In der Gemeinde Düsseldorf bestanden 1854 4 Fabrik krankenkassen mit insg. 249 Mitgliedern, 1874 waren es 19 Betriebskassen mit 3120 Mitglie dern (HStA Düsseldorf, RD Nr. 738: Nachweisung v. 2. 8. 1854; Stadtarchiv Düsseldorf, III Nr. 12054: Nachweisung v. 6. 3. 1875). 41 Im Reg.bez. A rnsberg, einer relativ früh und stark industrialisierten Region, gehörten 1855 bereits 66,4% aller über 16jährigen Fabrikarbeiter einer Fabrikkasse an (Jacobi, Bergwe sen, S. 564; ders., Nachrichten, S. 90f.). Volkmann, S. 76, schätzt den A nteil der gegen Krankheit versicherten preußischen Fabrikarbeiter für 1860/61 auf 45%. 42 W. Vossiek, Hundert Jahre Kruppsche Betriebskrankenkasse 1836 bis 1936, Berlin 1937, S.16ff. 43 Harkort, Bemerkungen, S. 67f.; ders., A rmenwesen, S. 10f., 20-22. Die Maschinenfa brik Esslingen richtete 1846 noch vor der vollständigen Inbetriebnahme der Firma eine Fa brikkrankenkasse mit Beitrittszwang ein (H. Schomerus, Die A rbeiter der Maschinenfabrik Esslingen, Stuttgart 1977, S. 179ff). 44 A delmann, Quellensammlung, Bd. 2, Bonn 1965, S. 431 ff. (Krupp), 530ff. (Gutehoff nungshütte); H. J . Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland, Tübingen 1961, S. 185--200; Puppke, S. 74-156; Lohmann, S. 75-182. 45 I. Grunau, Motive zum Statut für die Kranken- und Sterbe-Kasse für die arbeitende Volks-Klasse in Elbing [1844], in: MCV, 2. Lief, 1849, S. 113; vgl. dazu auch B.-M. Rosen berg, Die »Kranken- und Sterbekasse für die arbeitende Volksklasse der Stadt Elbing«, in: Zeitschrift für Ostforschung, Bd. 21, 1972, S. 150-157. 46 Zit. in: Vossiek, S. 18. Ähnlich äußerte sich 1848 auch ein anonymer Tuchfabrikant; er schlug die Bildung von Kranken- und Sterbekassen seitens der A rbeiter vor und empfahl den A rbeitgebern, »ausgezeichnet treuen A rbeitern durch fortlaufende oder außergewöhnli che Mit-Einlagen ihre Dankbarkeit zu bezeugen« (Die soziale Frage im Vordergrunde oder die drei Hauptforderungen der A rbeiter an den Staat: A rbeit für jeden Müßigen, Brod für jeden Invaliden, Freier Unterricht für jedes Arbeiter-Kind, in ihrer Ausführbarkeit nachgewie sen von einem Tuchfabrikanten, Grünberg 1848, S. 13).
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Anmerkungen zu Seite 195-199 47 Zum Herrschafts- und Disziplinierungscharakter dieser freiwilligen »assistance« s. auch Lenoir, v. a. S. 271 ff 48 Zu den Unterstützungssystemen im Bergbau: H. Thielmann, Die Geschichte der Knapp schaftsversicherung, Bad Godesberg 1960, S. 11-61; L. Lingnau, Das System sozialer Hilfelei stungen für die Bergarbeiter in der Knappschaftsversicherung des Ruhrbergbaus 1767-1961, S. 42-91; Schirbel, S. 99-109, 161-210; K. Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1977, S. 90-98. 49 Teuteberg, S. 155-176, v. a. S. 168f. 50 In diesem Sinne wurde noch 1880 die Aufhebung des obligatorischen Unternehmerbei trags und sein Ersatz durch freiwillige Leistungen gefordert, »da eine solche Gabe als ein Geschenk betrachtet werden muß und auf Versöhnlichkeit hinwircken wird« (A . Sartorius von Waltershausen, Die wirtschaftlich-sociale Bedeutung des obligatorischen Zuschusses des Unter nehmers in den Arbeiterversicherungs-Kassen, Diss. Göttingen 1880, S. 34). 51 Degenkolb, Arbeits-Verhältnisse, S. 66. 52 W. Berdrow (Hg.), A lfred Krupps Briefe 1826-1887, Berlin 1928, S. 70f.: Krupp an Bürgermeister Pfeiffer v. 5. 12. 1843. 53 Sie findet sich auch bei Harkort, Armenwesen, S. 3, 8. 54 Sten.Ber., 1. Kammer, Bd. 1, 1849, S. 299. 55 Jacobi, Haniel & Huysseu, Statut einer Unterstützungs-Kasse zum Wohle unserer Arbeiter und A ngestellten auf den Werken Gutehoffnungshütte, St. A ntoni, Oberhausen und NeuEssen, in: MCV,Jg. 1, 2. Lief, 1849, S. 133. 56 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 348: Brief v. 19. 1. 1856. 57 Diese Argumente sind wiedergegeben in einem Erlaß des preußischen Handelsministers v. 31. 5. 1855 über die Ausführung d. Gesetzes v. 3. 4. 1854, in: Hülfskassen, S. 265f. Zum Widerstand märkischer Unternehmer gegen den Kassenbeitrag vgl. W. Reininghaus, Die Gesel lenladen und Unterstützungskassen der Fabrikarbeiter bis 1870 in der Grafschaft Mark, in: Der Märker, Jg. 29, 1980, S. 53. Zur Haltung der Unternehmer im Reg.bez. Düsseldorf s. Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 347: Konferenzprotokoll v. 23. 5. 1857. 58 In den meisten Fabriken gab es - analog zu den verschiedenen Lohnklassen - abgestufte Beitrags- und Leistungsklassen, so daß diejenigen Arbeiter, die am meisten verdienten, auch die höchsten Beiträge zahlen mußten, dafür aber auch den höchsten Krankengeldsatz beanspruchen konnten. S. dazu Kap. 4, II.2. 59 Jacobi, Bergwesen, S. 546f. S. für die 1860er Jahre die Lohntabelle der Bielefelder Handelskammer, in: Jahresbericht der Handelskammer zu Bielefeld pro 1869, Bielefeld 1870, S. 77f. [im folgenden:Jahresbericht 1869]. 60 Berechnet nach den Lohnklassen- und Beitragstabellen im Statut der Unterstützungskas se für die Arbeiter der Fabrikanlagen der Firmen K. & Th. Möller (Maschinenfabrik, Eisengie ßerei und Kesselschmiede) und Fr. Möller (Gerberei) zu Kupferhammer bei Brackwede, Bielefeld 1865, in: Staatsarchiv Detmold, Μ 2 Kr. Bielefeld, Nr. 316; für die Ravensberger Spinnerei vgl. die entsprechenden A ngaben in der Nachweisung der gewerblichen Unterstüt zungskassen für 1866, in: Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1292. 61 Berechnet nach: Statut der Krupp'schen Krankenkasse, abgedruckt in: Vossiek, S. 22; Werksarchiv Hoesch, DHHU 1841: Notizen d. Krankenkassensekretärs v. 5. 8. 1855. 62 Einrichtungen 1876, S. 109. 63 Jacobi, Bergwesen, S. 578f 64 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1841: Schriftwechsel v. 22. 7. 1854 u. 21. 6. 1855. 65 Ζ. Β. in Essen, wo die Meister nur 25% der Gesellenbeiträge zahlen mußten (HStA Düsseldorf, RD Nr. 935: Briefwechsel v. 31. 10. 1855 u. 24. 11. 1855). 66 Ebd., Nr. 738: Verhandlungen des Düsseldorfer Gewerberats v. 11. 1. 1855. 1873 war der 50%igc A rbeitgeberanteil in den Fabrikarbeiterkassen des Reg. bez. Düsseldorf die Regel (ebd., Nr. 13749: Nachweisung pro 1873).
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Anmerkungen zu Seite 199-204 67 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1906: Schreiben d. General-Direktion d. Eschweiler Ge sellschaft für Bergbau und Hütten sowie der General-Direktion der AG für Bergbau, Blei- und Zinkfabrikation zu Stolberg und in Westfalen, v. 25. 2. 1861. 68 Ebd.: Jahresabschluß 31. 12. 1863-31. 12. 1864; zur Entwicklung des Kassenvermögens 1853-59 s. auch Huyssen, S. 407. 69 Nachweisungen der im Kreise Bielefeld vorhandenen Kassen zur Unterstützung der Handwerker-Gesellen, -gehülfen und Fabrikarbeiter (f. d. Jahre 1854-1881), in: Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1292, Μ 2 Kr. Bielefeld, Nr. 316. 70 Bericht des Verwaltungsrats v. 17. 4. 1861, in: ebd., Μ 1 IG Nr. 380. 71 Bericht des Verwaltungsrats v. 5. 5. 1863, in: ebd., Μ 1 IG Nr. 383. 72 Berechnet nach: Geschäftsberichte der Spinnerei Vorwärts, in: ebd., Μ 1 IU Nr. 504; Nachweisungen. 73 Unter den ca. 1660 F abrikarbeiter-Kassen, die es Ende 1874 in den alten preußischen Provinzen (d. h. dem Gebiet, das auch schon vor 1866 zu Preußen gehörte) gab, waren nur etwa 100, zu welchen die Arbeitgeber keine Beiträge leisteten (Hülfskassen, S. VI). 74 Volkmann, S. 125 ff. 75 Jahresbericht 1869, S. 12-15. 76 A ntrag Müller u. Reichenheim v. 31. 1. 1861 auf A nnahme eines Gewerbegesetzent wurfs, zit. nach Volkmann, S. 127f. 77 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288, v. 1. 9. 1869. 78 Verhandlungen 1869, S. 822. 79 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288: Regierungsbericht v. 1. 9. 1869. 80 Bemerkungen zu dem Entwurfe eines Ortsstatuts in Betreff der Gesellenkassen (lagen dem Erlaß v. 1.4. 1849 über die A usführung der die Unterstützungskassen betreffenden Bestimmungen der Gewerbeordnung und der Verordnung vom 9. 2. 1849 bei), in: Hülfskassen, S. 259. 81 Verfügung d. Handelsministers v. 19. 1. 1855, in: Staatsarchiv Detmold. Μ 1 IU Nr. 1288. 82 Ebd., Μ 1 IU Nr. 1292: Schreiben d. Reg. Minden v. 28. 7. 1865. Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 347: Konferenzprotokoll v. 23. 5. 1857; HStA Düsseldorf, RD Nr. 25194 (Barmen). 83 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 348. Auch der Bielefelder Magistrat faßte die Arbeiter und Unternehmer mehrerer kleinerer Webereien 1857 in einer »Vereinigten Fabrikarbeiterkasse« zusammen, der 8 Fabrikanten und etwa 200 Weber angehörten (Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1292: Nachweisung pro 1857). 84 Hülfskassen, S. 15. 85 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1841; Schriftwechsel zwischen dem HBHV und dem Bochumer Bergamt, der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft und dem Fabrikanten Diergardt; DHHU 1906: Schreiben d. HBHV an die Flachsgarn-Maschinen-Spinnerei Erdmannsdorf v. 23. 3. 1865; Schreiben der Verwaltungskommission der Krankenkasse an den Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation v. 14. 6. 1861. 86 Staatsarchiv Detmold, Μ 1IU Nr. 1288, Bericht v. 1. 9. 1869. 87 Jacobi, Bergwesen, S. 572. 88 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 504: Geschäftsberichte v. 10. 5. 1861 u. 8. 5. 1862; Μ 1 IG Nr. 382: Geschäftsbericht v. 15. 5. 1863. 89 Vgl. z.B. HStA Düsseldorf, RD Nr. 25196 (Barmen); 738 (Konflikt zwischen den Fabrikanten Dawans, Orban & Comp, und der Stadt Düsseldorf, die um den Fortbestand der allg. Metallarbeiterkasse fürchtete und deshalb den Wunsch der Fabrikbesitzer nach einer eigenen Kasse zunächst ablehnte: Briefwechsel v. 4. 7. u. 28. 9. 1859; s. dazu auch Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 351: Briefwechsel v. 15. 6. u. 23. 6. 1861); 935 (Essen): Anträge v. 11. 7. 1860 u. 15.2. 1864. 90 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 351: Schreiben v. 14. 6. 1864.
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Anmerkungen zu Seite 204-209 91 HStA Düsseldorf, RD 935: Schreiben v. 11.7. 1860. 92 Einrichtungen 1876, S. 114—117. Die dortigen Angaben wurden in einem Fall korrigiert, da die Maschinenfabrik Gildemeister bereits 1874 eine eigene Kasse eingerichtet hatte. Von den 11 Bielefelder Fabriken mit mehr als 100 Beschäftigten hatten 8 eine Krankenkasse; von den 20, die unter dieser Belegschaftsgröße blieben, nur 7 (ebd.). Den Eindruck, daß größere Betriebe auch ein größeres Interesse an Krankenkassen hatten als kleinere, bestätigte 1869 der Bielefelder Magistrat in einer offiziellen Stellungnahme: »A uch bei den Fabrikanten, namentlich den Vertretern der größeren Etablissements unseres Bezirks, hätten die gedachten Einrichtungen auch die Einführung der Beitragspflicht - nicht allein keinen Widerspruch gefunden, sondern die letzteren seien sogar bemüht gewesen, durch freiwillige Opfer A nstalten in ähnlicher Richtung zu gründen und die bestehenden Unterstützungskassen durch gute Verwaltung und angemessene Dotierung in dem ihrem Zwecke entsprechenden Umfang zu erhalten« (Staats archiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288). 93 Stadtarchiv Bielefeld, Rep. III L 20. 1860 berichtete der Essener Bürgermeister: »Es bestehen hier bereits für alle Fabriken besondere Kassen mit Ausnahme der von dem g. Hilger und der wenigen von Herrn Kesselfabrikanten Berninghaus beschäftigten A rbeiter« (HStA Düsseldorf, RD Nr. 935, Brief v. 11.7. 1860; s. dort auch die Kassenstatuten verschiedener großer Fabriken). Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 351: Betriebskrankenkassen der meisten Düsseldorfer Firmen. 94 Zusammenstellung der Rechnungsabschlüsse der eingeschriebenen Hilfskassen in Biele feld für 1882, in: Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1297. 95 RT, 2. Leg.per., III. Sess., 1875/76, Bd. 3, 1876, S. 50. 96 Stadtarchiv Bielefeld, F ach 44 Nr. 15: Schriftwechsel v. 17. und 21. 4. 1879. 97 Hülfskassen, S. VI. 98 Leyendecker, S. 43. 99 Die Kranken- und Unterstützungs-Kassen des Hörder Hütten- und Bergwerks-Verei nes, in: MCV, NF Bd. 1, 1855, S. 433. 100 Verhandlungen 1869, S. 819. 101 § 14 des Statuts der Bielefelder Ravensberger Spinnerei, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. III L20. 102 I. Fischer, Industrialisierung, S. 199; Braun, Wandel, S. 152f.; T. Offermann, A rbeiterbe wegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850-1863, Bonn 1979, S. 142. 103 Jahresbericht 1869. S. 13. 104 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288, v. 1.9. 1869; zu dem gleichen Schluß kam 1857 auch Jacobi, Bergwesen, S. 570. 105 Vor allem Einrichtungen zur Invaliditäts- und Alterssicherung (mit laufenden Beiträgen der Arbeiter und großzügigen Prämien der Unternehmer) versprachen in diesem Zusammenhang Erfolge, die sich besonders Großunternehmen zunutze zu machen suchten. So rühmte bei spielsweise der HBHV 1865 seine Pensionskasse mit dem Hinweis: »Die Fabrik gründet sich dadurch einen soliden und anhänglichen A rbeiter-Stamm und wirkt dadurch einem häufigen Wechsel der Arbeiter entgegen« (Hoesch-Werksarchiv, DHHU 1906: 23. 3. 1865). 1872 grün dete die Berliner Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske eine Pensionskasse, an die sie weitreichende Hoffnungen knüpfte: einerseits erwartete sie eine größere »Stabilität des Arbei ter-Personals«, da die A rbeiter nunmehr bestrebt sein müßten, »durch längere Dienstzeit größere Rechte auf Pension zu erwerben«. A us dieser längeren Dienstzeit ergäbe sich wiederum eine größere Geschicklichkeit und Leistungsbereitschaft, wodurch sich die Produktionskosten langfristig senken und die Qualität der Produkte erhöhen würden. Dies wirkte sich uneinge schränkt positiv auf die Konkurrenzfähigkeit der Firma aus, zumal »sie auch gegen Strikes sicher ist, und deshalb bestimmte Lieferungs-Termine einhalten kann« (Jahres-Berichte der Fabriken-Inspektoren für das Jahr 1878, Berlin 1879, S. 50). Aus ähnlichen Motiven errichtete in den 1860er Jahren auch die Bielefelder Ravensberger Spinnerei eine A rbeiterinvalidenkasse
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Anmerkungen zu Seite 209-212 (für die männlichen Arbeiter) und eine Aussteuerkasse (für die weiblichen Arbeiter), allerdings mit zunächst nur geringer Resonanz. Vgl. dazu Frevert, Arbeiterkrankheit, S. 305f. 106 Vgl. z. Β. den Geschäftsbericht der Ravensberger Spinnerei v. 7. 5. 1866 (Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IG Nr. 380), wonach der Schwerpunkt der betriebsinternen Bindungspolitik eindeutig auf Institutionen wie Prämienkassen, Konsumvereinen und Wohnungen lag (zit. bei Frevert, Arbeiterkrankheit, S. 302f.). 107 Stadtarchiv Bielefeld, Rep. III L 20: § 16 des Statuts der Ravensberger Spinnerei v. 7. 3. 1857. 108 Zumeist wurde über jeden Krankheitsfall ein Krankenschein angelegt, auf dem Art und Dauer der Krankheit verzeichnet waren (s. für Krupp Vossiek, S. 28; f. d. HBHV: MCV 1855; f. d. Höchster Farbwerke: Grandhomme [1880], S. 96ff.). 109 Geschäftsbericht der Spinnerei Vorwärts f. d. J . 1867, Bielefeld 1868, in: Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 504. 110 Ebd.: Geschäftsbericht f. d. J . 1868, Bielefeld 1869. 111 Die Daten stammen aus den Geschäftsberichten der Spinnerei Vorwärts. 112 Überhaupt geben solche fabrikinterne A ufstellungen mehr Fragen als Antworten auf. So wäre es z. B. für eine Morbiditätsstatistik unbedingt notwendig, nicht nur die Zahl der durchschnittlich pro Jahr beschäftigten A rbeiter zu kennen, sondern die aller A rbeiter, die im Laufe dieses Jahres in der Fabrik gearbeitet haben. Denn schließlich bezieht sich die Zahl der Erkrankungsfälle auf diese konkrete Gesamtheit und nicht auf eine fiktive Durchschnittszahl. Angesichts der hohen Fluktuationsziffern ergaben sich aus einer solchen Bereinigung bedeuten de Veränderungen (vgl. dazu Leyendecker, S. 44). Abgesehen von dieser systematischen Fehler quelle sind solche Statistiken für einen Branchen- oder Fabriken vergleich ganz und gar ungeeig net, so daß sich ihre wissenschaftliche Verwendbarkeit erheblich reduziert. Das wird z.B. deutlich, wenn man eine entsprechende A ufstellung der Firma Krupp (Essen) betrachtet (Einrichtungen 1876, S. 109). Danach kamen zwischen 1856 und 1874 auf 100 Kassenmitglieder 199 Krankmeldungen, das sind 3,5mal soviel wie in der Spinnerei Vorwärts. Daraus zu schließen, daß die Arbeit in der Gußstahlfabrik fast viermal gefährlicher gewesen wäre als die in der Maschinenspinnerei, ist angesichts der dokumentierten Gesundheitsgefahren in den Tex tilfabriken völlig abwegig. Erklären läßt sich der enorme Unterschied lediglich dadurch, daß die Zählmethoden in den einzelnen Unternehmen voneinander abwichen bzw. daß die Grund gesamtheit (mit Fluktuationszulage) anders berechnet wurde. Wie stark veränderte Zählmetho den die Ergebnisse beeinflussen konnten, zeigt sich am Beispiel der Höchster Farbwerke. Dort stieg der Prozentsatz der erkrankten A rbeiter von 43% im Jahre 1878 auf 90% im Jahre 1879der Grund lag darin, daß seit 1879 auch Erkrankungen, die nicht zur A rbeitsunfähigkeit führten, in die Statistik miteinbezogen wurden (Grandhomme, Die Theerfarben-Fabriken der Actien-Gesellschaft Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning zu Höchst a. M. in sanitärer und socialer Beziehung, Heidelberg 1883. S. 95). Diese Hinweise illustrieren die Probleme, die mit der statistischen A ufbereitung von Krankheitsdaten in bestimmten Industriezweigen oder Unternehmen zwangsläufig verbunden sind. Da es nicht das Interesse dieser A rbeit ist, eine quantitative Analyse des Zusammenhangs von Arbeit und Krankheit zu erstellen, kann auf eine derart vage und ungesicherte Zahlenartistik jedoch verzichtet werden. Die angeführten Bei spiele haben nur einen Wert als Quellenzitate, die die Problemwahrnehmung der Verfasser kennzeichnen, aber keine Klärung der Frage beanspruchen, wie hoch das Gesundheitsrisiko eines A rbeiters in einem bestimmten Betrieb zu einer bestimmten Zeit (oder gar im Zeitver gleich) zu veranschlagen war. 113 Grandhomme (1880), S. 122. 114 Marten, Zur medicinisch-statistischen Geschichte der Hermannshütte zu Hörde, in: Beiträge zur exaeten Forschung auf dem Gebiete der Sanitäts-Polizei, H. 1, 1860, S. 2; s. auch den Artikel: Zur Gesundheitspflege beim Bergbau, in: Glückauf. Berg- und Hüttenmännische Zeitung für den Niederrhein und Westfalen. Zugleich Organ des Vereins für die bergbaulichen
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Anmerkungen zu Seite 212-218 Interessen, Nr. 23, 1878, in dem die Begriffe »Gesundheitsschädlichkeit« und »Unrentabilität« als Synonyme gebraucht wurden. 115 Grandhomme (1883), S. 95. 116 Satzungen f. d. Fabrikärzte der Farbwerke Höchst, in: ebd., S. 79. Vgl. auch die Zusammenschau aus Grandhommes Berichten bei G. Kern, Der Beginn werksärztlicher Dien ste und betrieblicher Sozialeinrichtungen in der chemischen Industrie, Diss. Heidelberg 1973. 117 Zit. in: Vossiek, S. 26. 118 Statuten des Krankenunterstützungsvereins für die Arbeiter der Werkzeugmaschinenfa brik Gildemeister in Bielefeld v. 3. 12. 1874, in: Stadtarchiv Bielefeld, Fach 44, Nr. 15, sowie das Statut der Kranken- und Unterstützungskasse für die Arbeiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei Th. Calow in Bielefeld v. 20. 5. 1865, in: ebd., Rep. III, L 20. Am umfassendsten war der entsprechende § im Kassenstatut der Höchster Farbwerke formuliert: »A usgeschlossen von jedem A nspruch auf Unterstützung sind Kranke oder Verwundete, die in Folge von Ausschweifungen, Völlerei, Rauferei, Unreinlichkeit sowie anderen groben Selbstverschul dungen es geworden sind, oder ihre Krankheit durch Ungehorsam gegen die Anordnungen des Arztes verlängert haben« (Grandhomme [1880], S. 93). 119 Von 542 Arbeitsuchenden, die der Hörder Hüttenarzt Marten 1857 untersuchte, lehnte er 60(= 11%) als ungeeignet ab (Marten, Zur Sanitäts-Polizei der Eisenhütten, in: VgM, Bd. 20, 1861, S. 106). 120 Zit. in: Grandhomme (1883), S. 45. 121 MCV, NF Bd. 1,1855, S.434. 122 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1841: Unterstützungsgesuch d. A rbeiters v. 18. 5. 1856 und die Replik des Kassensekretärs v. 24. 5. 1856. 123 Ebd., DHHU 1906: Bittgesuch v. 12. 1. 1861, Schreiben des Kassensekretärs v. 16. 1. 1861. 124 Vossiek, S. 26. 125 Grandhomme (1883), S. 73. 126 Zur sozialen Verflechtung des Bielefelder Bürgertums s. Hofmann, v. a. S. 33ff, 148, 154ff. 127 F. Schuler, Über Bleivergiftung von Jacquardwebern, in: DVöG, Bd. 17, 1885, S. 281. 128 Hirt, Vergiftungen, S. 226. 129 Marten, Geschichte, S. 3. 130 Kuntz, Die sanitätspolizeiliche Überwachung der Fabrikation des Zuckers aus Runkel rüben in Bezug auf die dabei beschäftigten A rbeiter und die Nachbarschaft der Fabriken, in: VgM, NF Bd. 9, 1868, S. 203. 131 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1906: Schreiben v. 20. 12. 1861. 132 Ebd., DHHU 1841: Brief v. 31. 12. 1855; DHHU 1906: Brief v. 22. 2. 1861. 133 Ebd., DHHU 1841: Schreiben v. 31. 12. 1855 u. 30. 8. 1856. 134 Ebd., DHHU 1906, Brief v. 7. 1. 1859. 135 Vgl. dazu Kap. 4, I.2. 136 So ζ. Β. Krupp (Vossiek, S. 31). 137 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1906: Brief v. 5. 10. 1870. 138 Zit. in: MCV, Bd. 1, 1855, S. 443. 139 K. Möller, Über die A rbeiterverhältnisse der Maschinenfabrik, Kesselschmiede und Gerberei ν. Κ. & Th. Möller zu Brackwede bei Bielefeld, in: Der Arbeiterfreund, Jg. 10, 1872, S. 150. 140 Teuteberg, S. 209.
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Anmerkungen zu Seite 220-223 III. Medizin und Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert: Arzte als »Gesundheitspriester« der »arbeitenden Volksclassen« 1 A delmann, Krankheiten, S. 10. 2 A . C. L. Halfort, Entstehung, Verlauf und Behandlung der Krankheiten der Künstler und Gewerbetreibenden, Berlin 1845, S. III. S. dazu K.-H. Karbe, Zur Bedeutung von A . C. L. Halforts Werk . . ., in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene, Bd. 21, 1975, S. 74-78. 3 Röber, S. 179f.; Erhard, S. 106-108; Wildberg, S. 160f.; Winkelmann, Kenntniß, S. 62f. 4 Nicolai, S. 403-418, 630-637. 5 Ebd., S. 631. 6 J . Η. Μ. Poppe, Die Kunst, Leben und Gesundheit der Handwerker, Künstler, Fabrikanten und anderer Handarbeiter, so viel wie möglich, vor den Gefahren ihres Lebens zu sichern, Heilbronn 1833, S. 5. 7 S. dazu v. a. K.-H. Karbe, Die Entwicklung der Arbeitsmedizin in Deutschland von 1780 bis 1850 im Spiegel der zeitgenössischen medizinischen Literatur, Habil. Leipzig 1978, bes. Kap. 2-4; D. Jetter, Geschichte der A rbeitsmedizin, in: A rbeitsmedizin - Sozialmedizin Arbeitshygiene, 1966, S. 162-165, 206-209, 243-248; H. Buess, Über den Beitrag deutscher Ärzte zur Arbeitsmedizin des 19. Jahrhunderts, in: Artelt u. Rüegg, S. 166-178; Karbe, Arbeits medizinische Probleme im deutschen Schrifttum der dreißiger Jahre des XIX. Jh., in: Zeit schrift für die gesamte Hygiene, Bd. 17, 1971, S. 121-127; ders., Der Stand der Arbeitsmedizin in Deutschland im Jahrzehnt der bürgerlichen Revolution, in: Das deutsche Gesundheitswesen, Bd. 28, 1973, S. 423-426. 8 In: MCrwÄ, Jg. 1, 1842, Sp. 9. S. dazu auch K.-H. Karbe, Über Forderungen deutscher Ärzte zur Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse der Fabrikarbeiter im Jahrzehnt der bür gerlichen Revolution von 1848, in:NTM,Jg. 8, 1971, S. 45-53. 9 Casper, Lebensdauer 1835, S. 150 ff; Rampold, Über die Mittel, dem üblen Einflusse mancher Gewerbe auf die Gesundheit der sie Ausübenden vorzubauen, in: Annalen der gesam ten Staatsarzneikunde, Jg. 11, 1846, v. a. S. 684 ff; F. Sasse, A ufruf zur thätigeren Sorgfalt für die Gesundheit der Fabrik-Arbeiter, Bonn 1845, S. 19f; s. auch Karbe, Entwicklung, Kap. 3. 10 Ernsts, A rmenkrankenpflege, in: ders. u. a., Zur Reform der Medicinal-Verfassung Preu ßens, Düsseldorf 1847, S. 102f. A . Geißel (Öffentliche Gesundheitspflege, in: ders. u.a., Handbuch, S. 127) bestätigte, »daß die Mortalität der Fabrikarbeiter und ihrer Kinder beinahe um das Doppelte diejenige der übrigen Bevölkerung übersteigt«. 11 W. C. de Neufville, Lebensdauer und Todesursachen zweiundzwanzig verschiedener Stände und Gewerbe, nebst vergleichender Statistik der christlichen und israelitischen Bevölke rung Frankfurts. Frankfurt 1855, ν a. Tabelle VIII, S. 108. Vgl. auch F . Oesterlen, Handbuch der Hygiene Air den Einzelnen wie für eine Bevölkerung, Tübingen 1851, S. 790-794, der zu ähnlichen Ergebnissen kommt. 12 Die Berufsgruppen waren zahlenmäßig sehr verschieden: umfaßte beispielsweise die Gruppe der Lithographen nur 37 Individuen, so waren es bei den Kaufleuten 2941. Angesichts solch unterschiedlicher Gesamtmassen muß die A ussagekraft der Ergebnisse stark relativiert werden. 13 J . Conrad, Beitrag zur Untersuchung des Einflusses von Lebensstellung und Beruf auf die Mortalitätsverhältnisse, auf Grund des statistischen Materials zu Halle a. S. von 1855-74, Jena 1877, S. 51. 14 Ebd., Tabelle V, S. 155, 145. 15 R. Kayser, Über den Einfluß des Berufs auf Sterblichkeit und Lebensdauer, in: VgM, NF Bd. 34, 1881, S. 127, 138. 16 So z.B. in einem Leitartikel der Vossischen Zeitung, Nr. 120, 1865, der Neufvilles Ergebnisse über die unterschiedliche Lebensdauer einzelner Handwerkergruppen zugrunde legte, um die Frage der Lohnerhöhungen als Ausgleich für geringere Lebensdauer zu diskutie-
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Anmerkungen zu Seite 223-225 ren (s. dazu S. Neumann, Das Sterblichkeits-Verhältnis in der Berliner A rbeiterbevölkerung, in: Der Arbeiterfreund, Jg. 4, 1866, S. 142). 17 Diese Belege reichten zwar aus, den Zeitgenossen einen Eindruck von der sozialen Ungleichheit vor Krankheit und Tod zu vermitteln, sind aber methodisch nicht geeignet, längere Entwicklungslinien und Zusammenhänge zu dokumentieren. Vgl. dazu auch R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Göttingen 1981, S. 46. 18 Während z.B. der Statistiker Engel der A uffassung zuneigte, daß die Sterblichkeitszif fern infolge zunehmender A rmut gestiegen seien (E. Engel, Die Statistik der Morbidität, Invalidität und Mortalität, sowie der Unfall- und Invaliditätsversicherung der Erwerbstäti gen, in: ZKPSB, Jg. 16, 1876, v.a. S. 129), wandte sich Oesterlen heftig gegen die A nsicht, »als seyen Wohlfahrt und Gesundheit jener Volksclassen die letzten Zeiten her schlechter geworden« (Oesterlen, Handbuch 1851, S. 767). Ganz ähnlich wie er argumentierte 1844 der Göttinger Medizinprofessor Marx, der zwar den »Pauperismus der arbeitenden Klassen« als »kaum vermeidbare Folge der steigenden Cultur« und als eine »fast unversiegbare Krank heitsursache« deutete, zugleich aber der Meinung war, »daß neben diesen unvermeidlichen Ausflüssen eines ausgebildeten Culturzustandes auch in gleichem Maße die Mittel sich ent wickeln und vervielfältigen, ihnen zu begegnen und sie in ein beschränktes Bette zu leiten« (Marx, A bnahme, S. 9). 19 S. z. B. Dieterici, S. 68-74. Ebenso S. Neumann, Zur medicinischen Statistik des preußi schen Staates nach den A cten des statistischen Bureau's für das Jahr 1846, in: A rchiv für pathologische A natomie u. Physiologie u. f. klinische Medicin, Bd. 3, 1851, S. 13-141. S. dazu auch D. Tutzke, Die Entwicklung der Geburts- und Sterbestatistik einschließlich der Todesursachenstatistik, in: NTM, Jg. 6, 1969, S. 93-110; ders., Zur Entwicklung der allge meinen Krankenstatistik, in: ebd., Jg. 5, 1968, S. 83-100. 20 Oesterlen, Handbuch 1851, S. 763. 21 Beyer, Fabrik-Industrie, S. 110; s. auch Buschbeck, Über den Einfluß der Fädelarbeit bei der Maschinenstickerei auf die Gesundheit und insbesondere auf die Sehkraft der mit Fädeln beschäftigten Kinder, in: VgM, NF Bd. 34, 1881, S. 69f., 83. 22 Blümlein, Topographie, S. 345f., 350ff.; s. auch ders., Die Samt- und SeidenstoffWeberei in ihrem Einflusse auf den Körper- und Geistes-Zustand der Weber, in: VgM, Bd. 15, 1859, S. 32-74, 201-250. Diese negative Bewertung der Hausindustrie im Vergleich zur Fabrikindustrie setzte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch im medizinischen Dis kurs weitgehend durch. S. z.B. M. Pistor, A rtikel: Gewerbe-Sanitätspolizei, in: H. Eulenberg (Hg.). Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens, Bd. 1, Berlin 1881, S. 704. 23 E. Engel, Die Unfallversicherung, in: ZKPSB, Jg. 6, 1866, S. 294, der die Zunahme der Unfallhäufigkeit darauf zurückführte, »daß alle Productionszweige jetzt viel intensiver betrie ben und auf einen gegebenen Raum immer mehr Menschen zusammengedrängt werden, und daß letztere deshalb und aus hundert anderen Motiven gezwungen sind, ein Maximum an Thätigkeit in einem Minimum von Zeit und Raum zu entfalten. A lles Schaffen ist an kurze Fristen gebunden. ›Go ahead‹ sagt der A merikaner, ›time iS money‹ der Engländer. Des Deutschen ›Eile mit Weile‹ hat hiergegen keinen Bestand mehr«. A uch der im Kreis Kattowitz praktizierende Knappschaftsarzt Schlockow konnte anhand von Statistiken des Oberschlesi schen Knappschaftsvereins nachweisen, daß »die Häufigkeit der Verunglückungen . . . in dem letzten Jahrzehnt zugenommen [hat] entsprechend der gesteigerten Kohlenförderung, dem Eindringen des Bergbaues in größere Tiefen und der Vermehrung der Maschinen« (Schlockow, Über die Gesundheits- und Sterblichkeits-Verhältnisse im Kreise Beuthen mit besonderer Rücksicht auf die Kinder-Sterblichkeit und auf die dagegen zu ergreifenden sani tätspolizeilichen A nordnungen, in: VgM, NF Bd. 22, 1875, S. 322). 24 A lbrecht, Handbuch, S. 8, S. auch M. Popper, Lehrbuch der A rbeiterkrankheiten und Gewerbehvgiene, Stuttgart 1882, S. 93. 25 K. H. W. Sundelin, Über die, durch das Einathmen der Quecksilberdämpfe entstehende
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Anmerkungen zu Seite 225-228 Krankheit und ihre Behandlung, in: Archiv für medizinische Erfahrung, Bd. 1, 1820, S. 550— 558. 26 L. Teleky, Die gewerbliche Quecksilbervergiftung, Berlin 1912, S. 215 f. 27 Wollner, Die Quecksilberspiegelbelegen in der Stadt Fürth, in: DVöG, Bd. 19, 1887, S. 426. 28 Mayer, Zustände, S. 182. 29 J . Kerschensteiner, Die Fürther Industrie in ihrem Einflusse auf die Gesundheit der Arbei ter, München 1874, S.20f. 30 Hirt, Vergiftungen, S. 154f. 31 W. Zürn, Die deutsche Zündholzindustrie, Tübingen 1913, S. 51. S. auch K.-H. Karbe, Zur Frühgeschichte des Kampfes gegen die Phosphornekrose in Deutschland, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene, Bd. 22, 1976, S. 447-454. 32 E. Lesky, Die Phosphornekrose, klassisches Beispiel einer Berufskrankheit, in: Wiener klinische Wochenschrift, Bd. 78, 1966, S. 602; W. Neumann, Die Nekrosis der Kieferknochen bei Phosphor-Zündholz-Arbeitern, in: Medicinische Zeitung, Jg. 15, 1846, S. 131. 33 Neumann, Nekrosis, S. 141 f., 146. 34 E. v. Bibra u. L. Geist, Die Krankheiten der Arbeiter in den Phosphorzündholzfabnken, insbesondere das Leiden der Kieferknochen durch Phosphordämpfe, Erlangen 1847, S. 99. 35 S. das Gutachten d. Kgl. Wiss. Deputation, in: VgM, Bd. 13, 1858, S. 285-324; Verord nung betr. die sanitätspolizeiliche Einrichtung der Zündwaaren-Fabriken v. 29. 10. 1857, in: ebd., S. 170-173. 36 Bibra u. Geist, S. 323,306. 37 Hirt, Vergiftungen, S. 231. 38 Zürn, S. 53ff. 39 Halfort, S. 431 f. 40 Nasse, Bedürfnis 1842; ders., Aufruf, S. 18: »So ein Schleifer hält seine zwölfjahre, dann ist es aus mit ihm« (Zitat eines Nadelfabrikanten). 41 Zit. bei L. Pappenheim, Über das Schleifen der Nähnadeln im Regierungsbezirk A rns berg, in: Monatsschrift für exaete Forschung auf dem Gebiete der Sanitäts-Polizei, Jg. 2, 1860, S. 70. 42 Jordan, S. 147f.; Beyer, Fabrik-Industrie, S. 40ff. 43 A . Oldendorff Der Einfluß der Beschäftigung auf die Lebensdauer des Menschen nebst Erörterung der wesentlichsten Todesursachen, Berlin 1878, S. 146f.; Berechnungen nach Tab. 50a, S. 160. 44 G. Ettmüller, Die Krankheiten der Silberhüttenarbeiter in den Freiberger Hüttenwerken, in: Archiv der deutschen Medicinalgesetzgebung, Jg. 2, 1858, S. 391, 406. S. auch F. A. Zenker, Über Staubinhalationskrankheiten der Lungen, in: Deutsches Archiv für klinische Medizin, Jg. 2, 1867, S. 116-172; Schirmer, Die Krankheiten der Bergleute in den Grünberger Braunkohlen gruben, in: VgM, Bd. 10, 1856, S. 300-326; C. H. Brockmann, Über die Lungenmelanose der Bergarbeiter, in: Hannoversche A nnalen für die gesamte Heilkunde, NF Bd. 4, 1844, S. 391443,521-538. 45 F. H. Härting u. W. Hesse, Der Lungenkrebs, die Bergkrankheit in den Schneeberger Gruben, in: V g M , W Bd. 31, 1879, S. 325. 46 S. die Klagen Hirts über den Mangel ausreichender Statistiken: »Nur in einer verschwin denden Anzahl von industriellen Anlagen etc. findet man statistische Notizen, und auch da sind sie meist so wenig umfangreich, so wenig geordnet, daß man sie kaum irgendwie verwerten kann« {Hirt, Vergiftungen, 1875, S. V). Vgl. dazu auch Spree, Ungleichheit, S. 29f 47 Besonders rührig war in dieser Beziehung der Fabnkarzt des HBHV, Dr. Marten, der eine Reihe von Artikeln über die Gesundheitsverhältnisse der Hörder Hüttenarbeiter verfaßte, aber auch Dr. Grandhomme, dem das Kassenmaterial der Höchster Farbwerke zur Verfügung stand.
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Anmerkungen zu Seite 228-230 48 S. Kap. 3. II., Anm. 112. 49 Neumann, Sterblichkeits-Verhältnis, S. 137-142. Diese Kritik mußte sich auch auf Engels Mortalitätsstatistik von 1862 beziehen, die ebenfalls das Durchschnittsalter der Gestorbenen aus verschiedenen Berufen (vom Ackerbürger bis zum Zimmermann) berechnete, wonach erwar tungsgemäß die Schüler und Studenten die geringste (13,5 Jahre) und die »Rentiers und Particuliers« mit 66,6 Jahren die höchste Lebensdauer besaßen (Engel, Sterblichkeit 1862, S. 242). 50 S. Neumann, Zur Krankheitsstatistik der Berliner Gesellen und Fabrikarbeiter, ein Bericht über den Berliner Gewerkskrankenverein für das Jahr 1863, nebst summarischer Übersicht für das Jahrzehnt von 1854-1863, in: Monatsblatt für medicinische Statistik und öffentliche Ge sundheitspflege, 1864, S. 27f. 51 Ders., Sterblichkeits-Verhältnis, S. 154f., 164. S. auch ders., Die Todten des Berliner Gesundheitspflegevereins, in: VgM, Bd. 5, 1854, S. 20-42. 52 Ders., Sterblichkeits-Verhältnis, S. 162. 53 Ders., Die Fragestellung in der Krankheits-Statistik, mit besonderer Beziehung auf die arbeitenden Klassen, in: Deutsche Klinik, 1854, S. 216f. 54 L. Teleky, Vorlesungen über soziale Medizin, T. l,Jena 1914, S. 146; Ergebnisse, S. 38ff.; C. Reclam, Die Fabnkinspection im Canton Glarus, in: DVöG, Bd. 1, 1869, S. 45; F. Schuler, Die glarnerische Baumwollindustrie und ihr Einfluß auf die Gesundheit der Arbeiter, in: ebd., Bd. 4, 1872, S. 128f. 55 F. Oesterlen, Handbuch der medicinischen Statistik, Tübingen 18742, S. 238; ders., Hand buch 1851, S. 750, 761 ff. S. zur medizinischen Kritik der Wohnverhältnisse auch die ärztlichen Erfahrungsberichte bei Schneer, Zustände, v.a. S. 25-28, sowie Hecker, Die Wohnungen der Armen, in: VgM, Bd. 5, 1854, S. 43-71; Bressler, Die Kellerwohnungen und ihre Bewohnerin sanitätspolizeilicher Beziehung, in: ebd., Bd. 6, 1854, S. 294-313; W. Baring, Wie A rbeiterwoh nungen gut und gesund einzurichten und zu erhalten seien, Basel 1860; Lehnerdt, Über Keller wohnungen, insbesondere die Berliner, in hygienischer und sanitätspolizeilicher Beziehung, in: VgM, NFBd. 8, 1868, S. 250-277; A. Friedländer, Über die Wohnungsverhältnisse der ärmeren Classen der ländlichen Bevölkerung in hygienischer Beziehung, in: DVöG, Bd. 9, 1877, S. 126— 156; R. Virchow, Einfluß der Kellerwohnungen auf die Gesundheit, in: ders., A bhandlungen, Bd. 2, S. 466L; Boronow, Die A rbeiterwohnungen im oberschlesischen Industriebezirk, in: DVöG, Bd. 20, 1888, S. 589-599. 56 Vgl. dazu z. B. Hirt, Vergiftungen, S. 219f.; Ergebnisse, S. 46; Schuler, Baumwollindu stric, S. 115 f.; Köttnilz, Schuler u. Schwanz, Die Überbürdung der Arbeiterinnen und Kinder in Fabriken, in: DVöG. Bd. 18, 1886, S. 119; T. Sommerfeld, Die Schwindsucht der Arbeiter, ihre Ursachen, Häufigkeit und Verhütung, Berlin 1895, S. 15ff.; Schneer, Zustände, S. 26ff.; F. Küpper, Krankheiten und Gefahren, welche den Bergmann in den Steinkohlengruben bedro hen, in: MCrwÄ, Jg. 4, 1845, v.a. S. 294; F. Erismann, Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände, München 18792, S. 220f. 57 Zit. bei Pappenheim, Schleifen, S. 73; Schuttes Amtskollege aus Altena allerdings schloß diesen Faktor explizit aus (ebd., S. 71). 58 Märten, Sanitäts-Polizei, S. 118. S. auch L. Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, Berlin 18682, S. 583, 592; Sommerfeld, S. 17f.; Oesterlen, Handbuch 1874, S. 231. 59 A . Bernhardi, Der Handarbeiterstand und sein Nothstand, nebst einer gelegentlichen Erörterung der diätetischen Bedeutung und bedingungsweisen Nothwendigkeit des Brand weins in gewissen Ständen und Verhältnissen, Eilenburg 1847, v.a. S. 22ff.; Heise, Die Krankheiten der A rbeiter in den Ziegelsteinfabriken, in: VgM, Bd. 17, 1860, S. 27; L. Hirt, Gesundheitslehre für die arbeitenden Klassen, Berlin 1891, S. 25f. 60 Einrichtungen 1876, S. 81. 61 F.J. Behrend, Über den Einfluß der Beschäftigung auf die Gesundheit und Sterblichkeit:1) Maschinisten (Lokomotivführer) und Heizer auf Eisenbahnen. - 2) Fleischer. - 3) Kau-
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Anmerkungen zu Seite 230-232 tschukarbeiter. - 4) Kohlengrubenarbeiter, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, Bd. 80, 1860, S. 24. 62 A . Moers, Beiträge zur Behandlung und Prophylaxis der Bleivergiftungen, in: VgM, NF Bd. 27, 1877, S. 252: »Bei den meisten A rbeitern ist der Gebrauch einer Zahnbürste ein unerhörter Luxus, und sich mehr wie Gesicht und Hände zu waschen, gilt vielfach für minde stens überflüssig.« S. auch Schneer, Zustände, S. 28. 63 Vgl. z.B. Most, Hausarzt, S. 34; C. E. Bock, Das Buch vom gesunden und kranken Menschen, Leipzig 18593, S. 397; Klencke, Hauslexikon, S. 394; Friedrich, Gesundheitspflege, v. a. S. 130ff.; Erismann, S. 183ff. 64 Geigel, Gesundheitspflege. S. 130. 65 Hirt, Gesundheitslehre, S. 3: »Von den Gütern, die ungleich verteilt sind >unter den Menschen flücht'gem Geschlecht*, ist die Gesundheit das höchste.« 66 Popper, Lehrbuch, S. 16. 67 Vgl. die A rtikelserie Virchows über »öffentliche Gesundheitspflege« 1848, abgedr. in: ders., A bhandlungen, Bd. 1, S. 14-30, sowie S. Neumann, Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigentum, Berlin 1849, v. a. S. 69ff. S. dazu auch Ackerknecht, Beiträge. 68 Η. Ε. Richter, Über Medicinalreform und ihr Verhältnis zum Staat [1844], in: ders., Schriften zur Medicinalreform, Dresden 1865, S. 8. 69 Oesterlen, Handbuch 1851, S. 9. Seiner A uffassung nach war »unsere Heilkunde mit all ihren von A lters her überkommenen A rzneien jenen Leiden gegenüber nur eine großartige Pfuscherin«. Diese Einschätzung teilte auch der spätere Ärzteverbandsfunktionär Hermann Eberhard Richter, der 1844 schrieb: »Es ist längst bekannt . . ., wie wenig das Patientencuriren der Privatärzte, das was man so bei uns unter Heilkunst versteht, im Ganzen und Grossen ausrichtet. Ein Viertheil aller Gebornen stirbt in den ersten Lebensjahren, ein anderes Viertheil an den der Kunst fast ganz unzugänglichen Tuberkelkrankheiten (besonders der Lungen schwindsucht), ein drittes Viertheil an Ursachen, zu deren Beseitigung der Einzelarzt fast gar nichts thun kann (wie Ansteckungen, Seuchen, Proletariat, Säuferei, Wollust usw.) und gegen welche das Predigen von der Kanzel oder der Kanzlei aus auch nicht viel hilft« (Richter, Schriften, S. 8). 70 Es soll nicht übersehen werden, daß diese Reformideen selbst während der »heißen Phase« der medizinischen Reformbewegung kein allgemeines Anliegen der Ärzteschaft waren. Insgesamt richteten sich die ärztlichen Interessen weitaus mehr auf die Regelung berufsständi schcr Probleme (Prüfungs wesen, Einheitsstand, Militärmedizin, Verdienstchancen) als auf die Mängel der »öffentlichen Gesundheitspflege« oder gar die »Specialverhältnissc« des Proleta riats (s. dazu auch Ackerknecht, Beiträge, v. a. S. 113ff; Genschorek; C. Redam, Bericht über die medicinischen Reformbewegungen zu Leipzig, in: Allg. Med. Central-Zeitung, 1848, Sp. 451453,601-603). 71 H. Haeser, Über die sociale Bedeutung der Heilkunde, in: ZCV, Bd. 1, 1859, S. 199. 72 Denkschrift des Kaiserlichen Gesundheitsamtes von 1878, in: DVöG, Bd. 10, 1878, S. 389. 73 Göttisheim, Die öffentliche Gesundheitspflege und das Recht des Einzelnen, in: ebd., Bd. 9, 1877, S. 475. 74 Beispielsweise konstituierte sich der Niederrheinische Verein für öffentliche Gesund heitspflege, in dem Bürgermeister, Stadtverordnete, Ärzte, Bauingenieure und Chemiker zusammenarbeiteten, im A nschluß an die Weimarer Cholera-Konferenz 1867. Vgl. dazu das Korrespondenzblatt des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, Bd. 1 (1871) ff. 75 Vgl. z. Β. die Sitzungsthemen der 1867 gegründeten Sektion für öffentliche Gesundheits pflege der Versammlung deutscher Ärzte und Naturforscher (abgedruckt in: DVöG, Bd. 1 ff., 1869ff.). A uch die 1872 gegründete Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege in Berlin beschäftigte sich in ihren ersten Sitzungen beinahe ausschließlich mit Kanalisationssystemen
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Anmerkungen zu Seite 232-234 und Epidemieverhütung (s. DVöG, Bd. 4ff., 1872ff), ebenso wie der 1873 gegründete Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege, in dem Ärzte, Kommunalpolitiker, Che miker, Techniker und Fabrikanten zusammengeschlossen waren (bei der Gründungsversamm lung 1873 waren anwesend: 113 Ärzte, 43 Kommunalpolitiker bzw. -beamte, 12 Chemiker und Apotheker, 31 Techniker, 10 Fabrikanten und Kaufleute; die Versammlungsberichte sind abgedruckt in: DVöG, Bd 5 ff., 1873ff). Das gleiche galt für die wichtigsten Periodika der öffentlichen Gesundheitspflege, v. a. für die Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge sundheitspflege, Jg. 1, 1869ff, und die hochoffizielle, unter Mitwirkung der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen im Ministerium der geistlichen, Unter richts- und Medizinal-A ngelegenheiten herausgegebenen Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin, NF Bd. 1 ff., 1864ff, die in den 1870er Jahren vor allem Themen wie Infektionskrankheiten, Epidemien, Pockenimpfung, Kanalisation, Desinfektion, seit der 2. Hälfte der 1870er Jahre allerdings auch zunehmend Arbeiterkrankheiten behandelte. 76 So der Arzt und Fortschritts-Abgeordnete Lowe im Reichstag anläßlich der Beratungen über eine Petition betr. die Verwaltungsorganisation der öffentlichen Gesundheitspflege im Norddeutschen Bund, abgedruckt in: DVöG, Bd. 2, 1870, S. 300. S. auch R. Volz, Ärztliche Briefe. Besprechungen über die Stellung der Ärzte im Staate, Karlsruhe 1869, S. 46. 77 Die Aufschlüsselung der Einzelunterzeichner nach Berufen ergab folgendes Bild: 1090 Ärzte (davon mindestens 200 im Staatsdienst) ca. 800 Fabrikbesitzer, Gewerbetreibende, Chemiker 720 Kommunalpolitiker und-beamte 544 Kaufleute 189 Lehrer und Journalisten 139 Baumeister und Ingenieure 112 Richter und Rechtsanwälte 100 A potheker 78 Beamte (DVöG, Bd. 2, 1870, S. 137f.). Zur Konkurrenz zwischen diesen Berufsgruppen s. Η. Ε. Richter, Was haben die Ärzte für die Öffentliche Gesundheitspflege gethan?, in: Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland, Nr. 18, 1873, S. 137-143. 78 Motive der Petition betr. die Verwaltungsorganisation der öffentlichen Gesundheitspfle ge im Norddeutschen Bunde, in: DVöG, Bd. 2, 1870, S. 134. 79 Göttisheim, Gesundheitspflege, S. 476. Auch Löwe (in: DVöG, Bd. 2, 1870, S. 298) wies auf den Zusammenhang zwischen einer Reduzierung der Krankheitstage und dem »Gewinn für die Arbeitskraft« hin. 80 C. Reclam, Die heutige Gesundheitspflege und ihre Aufgaben, in: DVöG, Bd. 1, 1869, S. 1-5, sowie ders., Das Buch der vernünftigen Lebensweise, Leipzig 1863, S. IIIf. S. auch E. Reich, Volks-Gesundheitspflege, Coburg 1862, S. 14: »Je größer die Gesundheit des Einzelnen, desto größer die Arbeitskraft, die Ausdauer und Beharrlichkeit A ller, desto besser die Sittlich keit.« Ähnlich R. Schwarz, Die Gesundheitspflege der Arbeiter, Prag 1874, S. 1. 81 So die Argumentation des nationalliberalen A bgeordneten von Sybel im Norddeutschen Reichstag 1870, in: DVöG, Bd. 2, 1870, S. 304f. 82 L. Hirt, Die Staubinhalations-Krankheiten und die von ihnen besonders heimgesuchten Gewerbe und Fabrikbetriebe, Breslau 1871, S. 271 ff; Friedberg, Geltendmachung, S. 4. Vgl. dazu allgemein R. Campbell, Economics and health in the history of ideas, in: Annales Cisalpi nesd'Histoire Sociale, Jg. 4, 1973, S. 63-81. 83 S. z.B. die ausführliche Debatte über »Fabrikhygiene« auf der 5. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege 1878, in: DVöG, Bd. 10, 1878, S. 137199; Haegler, Über den wöchentlichen Ruhetag vom Standpunkt der Gesundheitspflege (Refe rat auf dem 4. Internationalen Kongreß für Gesundheitspflege), in: DVöG, Bd. 15, 1883, S. 244f; Sapias, Über das Recht und die Pflicht des Staates und der Fabrikanten, Maßregeln für
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Anmerkungen zu Seite 234-236 die Gesundheit der A rbeiterbevölkerung zu ergreifen (Thesen und Diskussion auf dem 5. Internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie in Haag 1884), in: DVöG, Bd. 17, 1885, S. 254 ff; F. Schuler, Fabrikhygiene und Fabrikgesetzgebung, in: Arbeiten der hygieni schen Sektionen auf dem VI. Internationalen Congress für Hygiene und Demographie, Wien 1887, S. 1-54; ders. u. F. H. Whymper, Fabrikhygiene und Fabrikgesetzgebung, in: DVöG, Bd. 20, 1888, S. 283-302. 84 Die Hausindustrie spielte in den medizinischen Forderungen zur Arbeiterhygiene nie eine Rolle, da man sich scheute, in die »Privatverhältnisse« der Arbeiter einzugreifen. Vgl. L. Hirt, Über Frauenarbeit in Fabriken, in: DVöG, Bd. 7, 1875, S. 114; F. J . Neumann, Zur Reform deutscher Fabrikgesetzgebung, Leipzig 1874, S. 18: »Zu welchen sehr bedenklichen Eingriffen in die Rechte des Hauses und der Familie könnte es fuhren, wenn auch die Hausindustrie stetig beaufsichtigt werden sollte!« 85 Hirt, Frauenarbeit, S. 111. 86 Noch weiter ging Hirts Kollege Göttisheim, der ein gänzliches Beschäftigungsverbot verheirateter Frauen in Fabriken forderte (Göttisheim u. Hirt, Welche Anforderungen sind vom hygienischen Standpunkte aus bezüglich der Beschäftigung von Frauen und Kindern an die Gesetzgebung zu stellen, in: DVöG, Bd. 7, 1875, S. 306f. 87 E. Lewy, Welche Anforderungen hat die öffentliche Gesundheitspflege an die Gesetzge bung betreffs Beschäftigung der Frauen und Kinder in Fabriken zu stellen, in: ebd., S. 654-673; B. Meding, Welche Anforderungen hat die öffentliche Gesundheitspflege an die Gesetzgebung betreffs Beschäftigung der Frauen und Kinder in Fabriken zu stellen, in: Schmidt's Jahrbücher der in- und ausländischen gesamten Medizin, 1877, S. 201-211. 88 H. Wasserfiihr, Über die Sterblichkeit der Neugeborenen und Säuglinge in Deutschland, in: DVöG, Bd. 1, 1869, S. 533-552, 593-595. Zum A nstieg der Säuglingssterblichkeit vgl. Dietrich, Hygiene des frühen Kindesalters; Säuglingspflege und Haltekinderwesen, in: Rap mund, S. 217 (Tabelle von 1816-1906). 89 Merkel, S. 575 f. S. dazu auch S. 190f. 90 Tracinski, Die oberschlesische Zinkindustrie und ihr Einfluß auf die Gesundheit der Arbeiter, in: DVöG, Bd. 20, 1888, S. 85. S. auch Halfort, S. 510, sowie Leubuscher, in: MR, 1848, S. 48. 91 Jordan, S. 167f.; F. Meine!, Über den gegenwärtigen Stand der Staubinhalationskrankhei ten, in: DVöG, Bd. 8, 1876, S. 672f. 92 Μ. Μ. v. Weber, Die Gefährdungen des Personals beim Maschinen- und Fahrdienst der Eisenbahn, Leipzig 1862, S. 50. 93 Klingelhöffer, Erläuterung der bei Eisenbahnbeamten in Folge ihres Dienstes häufig vorkommenden Krankheiten und der zur Verhütung derselben zu empfehlenden sanitätspoli zeilichen Vorschriften, in: DVöG, Bd. 14, 1882, S. 323. 94 Hirt, Staubinhalations-Krankheiten, S. 267f.; Merkel, S. 575;Jordan, S. 167; Hirt, Vergif tungen, S. 226; ders., Gesundheitslehre, S. 12. 95 Ebd.; A mtliche Mittheilungen aus den Jahresberichten der mit Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten für die Jahre 1884 und 1885, in: Veröffentlichungen des Kaiserli chen Gesundheitsamtes, Jg. 11, 1887, S. 279. 96 C. Raedell, Über die zweckmäßige Einrichtung und Benutzung von VersicherungsAnstalten, besonders in Bezug auf die arbeitenden Klassen, in: ZCV, Bd. 1, 1859, S. 110f. 97 Reich, Volks-Gesundheits-Pflege, S. 14; ders., System der Hygiene, Bd. 1, Leipzig 1870, S. XVI; Reclam, Buch. 98 C. Michaelis, Über den Einfluß einiger Industriezweige auf den Gesundheitszustand, Glauchau 1866, S. 16. 99 E. Liese, Über öffentliche Versorgung der arbeitenden Volksklassen in den Tagen der Krankheit und Not, A rnsberg 1848, S. 100 (gesperrt gedr.), 86. 100 Blümlein (1878), S. 365.
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Anmerkungen zu Seite 236-241 101 E. Beyer, Zweiter Bericht über das Öffentliche Gesundheits-Wesen des RegierungsBezirks Düsseldorf für das Jahr 1880, Düsseldorf 1882, S. 95, 99. 102 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 348: Brief d. Kassenarztes v. 20. 2. 1871. 1858 erhiel ten die Barmer Kassenärzte ein Jahresgehalt von je 125 Talern (HStA Düsseldorf, RD Nr. 25196). 103 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 348: Briefeines A rztes v. 10. 3. 1859. 104 Ebd.: Brief Dr. Eckarts v. 7. 2. 1858; Beschwerde eines Fabrikbesitzers Lupp v. 7. 2. 1867. 105 Ebd.: Briefwechsel v. 27. u. 30. 11. 1856 u. ff. 106 Ebd.:Beschluß v. 27. 12. 1872. 107 Werksarchiv Hoesch, DHHU 1906: Rundschreiben v. 10. 12. 1863. 108 § 14 der Dienst-Instruktionen für die Hüttenärzte des HBHV legte nicht nur die »Kontrolle der Kranken«, sondern auch die »Überwachung der Wirksamkeit der Hüttenärz te« fest (Ebd., DHHU 1841). 109 Ebd., DHHU 1906: Brief der Verwaltungskommission an den Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation v. 14. 6. 1861. 110 Beyer, Fabrik-Industrie, S. 142. 111 Marten, Sanitäts-Polizei, S. 121 f.; ders., Die Syphilis in den Krankenkassen, in: VgM, Bd. 18, 1860, S. 77; ders., Schädlichkeiten, S. 277. 112 Marten, Syphilis; Pappenheim, Handbuch, Bd. 1, S. 591; S. Neumann, Die Berliner Syphilisfrage, Berlin 1852; Kuntz, S. 206f. 113 Lediglich große Fabrikkassen, wie die des HBHV und die der Kruppschen Gußstahl fabrik, bezogen die Frauen und Kinder der (männlichen) Kassenmitglieder in die medizini sche Versorgung mit ein, indem sie ihnen einen Rabatt auf alle Sachleistungen einräumten. 114 Kuntz, S. 202ff.; Beyer, Fabrik-Industrie, S. 141. 115 Marten, Sanitäts-Polizei, S. 121 f. 116 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 352: Schreiben v. 23. 2. 1869. 117 I. Zadek, Die Arbeiterversicherung j e n a 1895, S. 32ff. 118 Kuntz, S. 202. 119 Pistor, Gcwerbe-Sanitätspolizei, S. 711. 120 L. Hirt, Die Gasinhalations-Krankheiten und die von ihnen besonders heimgesuchten Gewerbe-und Fabrikbetriebe, Breslau 1873, S. 203. 121 Eine A usnahme machten hier die Fabrikärzte der Höchster Farbwerke, zu deren A uf gaben auch die »specielle Beobachtung aller mit der Fabrikation in Verbindung stehenden Krankheiten« gehörte (Grandhomme, Theerfarben-Fabriken 1880, S. 95). 122 Beyer, Fabrik-Industrie, S. 141 f. 123 1872 boten 85% aller preußischen Krankenkassen, die über 90% aller versicherten Arbeiter erfaßten, ihren Mitgliedern »freien A rzt und A rznei« (berechnet nach: Hülfskassen, Tab. S. 174). Zur Inanspruchnahme dieser Leistungen vgl. Kap. 4, IL 3. 124 Η. Ε. Richter, Das Überwiegen des Kapitals im ärztlichen Stande [1848], in: ders., Schriften. S. 59. 125 Zur Gesundheitspflege beim Bergbau, in: Glückauf, Nr. 23, 1878. 126 Friedberg, Geltendmachung, S. 24f. 127 E. Marcus, Die Verhandlungen des Deutschen Reichstages über das Impfgesetz, in: DVöG, Bd. 6, 1874, S. 355. 128 Göttisheim, Gesundheitspflege, S. 477. 129 Vgl. diese A rgumentation auch in einer Hirt-Rezension, in: DVöG, Bd. 11, 1879, S. 274f. 130 So der A ntrag des praktischen A rztes Fischer auf dem 5. Kongreß deutscher Volks wirte 1862, abgedruckt in: Der Arbeiterfreund, Bd. 1, 1863, S. 108. S. dazu auch U. Freuert, The civilising tendency of hygiene: Working-class Women under medical control in Imperial
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Anmerkungen zu Seite 241-248 Germany, in: J . C. F out (Hg.), German Women in the Nineteenth Century: Α Social History (erscheint New York 1984). 131 Volz, Briefe, S. 47. 132 Eulenberg, Handbuch, Bd. 1, S. 34. Kapitel 4 1 M. Pflanz, Gesundheitsverhalten, in: A. Niitscherlich u.a. (Hg.), Der Kranke in der mo dernen Gesellschaft, Köln 1967, S. 283-289; ders., Der Entschluß, zum A rzt zu gehen, in: Hippokrates, Bd. 35, 1964, S. 894-897. I. Die Krankenversorgung der Handwerksgesellen: Von der Gesellenlade zur Krankenkasse 2 GO vom 17. 1. 1845, § 144, zit. nach Hülfskassen, S. 251. 3 M. Stürmer (Hg.), Herbst des A lten Handwerks, München 1979; Bergmann, Das »A lte Handwerk«; ders., Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, Berlin 1973. 4 Zum Konzept des »ganzen Hauses« vgl. O. Brunner, Vom »ganzen Haus« zur »Familie«, in: H. Rosenbaum (Hg), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt 1978, S. 83-91. 5 M. Mitterauer, Zur familienbetrieblichen Struktur im zünftischen Handwerk, in: H. Knittler (Hg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge, München 1979, S. 218f.; H. Rosen bäum, Formen der Familie, Frankfurt 1982. S. 179. Für Berlin stellte ein Gutachten bereits 1818 fest, daß die Gesellen vieler Gewerke (v. a. Schuhmacher, Schneider, Tischler, Schlosser) nicht mehr im Hause des Meisters wohnten und aßen. 1827, bei einer Umfrage des Magi strats, hielten sich die Gewerkszweige, in denen die Gesellen in den Meisterhaushalt integriert waren, und die, in denen das nicht mehr der Fall war, ungefähr die Waage (Bergmann, Berliner Handwerk, S. 55). 6 W. Fischer, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 328ff 1843 kamen in Preußen auf einen Maurermeister 7 bis 8 Gesellen, während das allgemeine Verhält nis bei 1 zu 0,87 lag (berechnet nach: Dieterici, Tabellen, S. 144 ff). 7 Mitterauer, Struktur, S. 217; C. T. Perthes, Das Herbergswesen der Handwerksgesellen, Gotha 1856, S.7.Jacohi, Bergwesen, S. 539. 8 A LRT. II, Tit. 8, § 317. 9 G. Schanz, Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände, Leipzig 1876; ND Glashüt ten 1973, S. 26ff; S. Fröhlich, Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976, S. 31-37; W. Reininghaus, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter, Wiesbaden 1981; ders., Vereinigungen der Handwerksgesellen in Hessen-Kassel vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 31, 1981, S. 97-148. 10 A bgedruckt bei Stürmer, Altes Handwerk, S. 54-71. 11 A bgedruckt in: ebd., S. 74-90. 12 Der entsprechende Gildebrief für die Maurer ist abgedruckt bei F. Paeplow, Zur Ge schichte der deutschen Bauarbeiterbewegung, Berlin o.J., S. 643-653, der Gildebrief der Schneider von 1774 bei E. Bernstein, Die Schneiderbewegung in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1913, S. 36-44. 13 R. Wissell, Des Alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 3, Berlin 1981, S. 199 ff. 14 A . Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre, Frankfurt 1981, S. 255-285; Wisseil, S. 205 ff.
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Anmerkungen zu Seite 248-253 15 Zit. bei Grießinger, S. 277. Vgl. ebenso Wissell, S. 218, sowie M. Quarck, Von der Zunft zur A rbeiterbewegung, in: Kölner sozialpolitische Vierteljahresschrift, Jg. 3, 1924, S. 89; Reininghaus, Vereinigungen, S. 140. 16 Zur ähnlichen Entwicklung in Sachsen vgl. Paeplow, S. 167ff; Wisseil, S. 211-213. Zu Hannover s. Wissell, S. 214-216, für das übrige Deutschland Grießinger, S. 272ff, sowie E. Todt u. H. Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1800-1849, Berlin 1950, S. 42-46. 17 Rauert, S. 91 f. 18 Zu den Streiks der Berliner Gesellen s. Grießinger, S. 266-271, sowie H. Müller, Die Organisationen der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, Berlin 1917, S. 7 f. 19 Grießinger, S. 78, 264f., 273. 20 Rauert, S. 81. Zu den Ritualen der Gesellenschaften vgl. die Zitate bei Grießinger, S. 101 ff, sowie bei Wissell, S. 241 ff; Stürmer, A ltes Handwerk, S. 166; Reininghaus, Vereini gungen, S. 118ff. 21 Kap. 3, 1.1; Reininghaus, Vereinigungen, S. 144. 22 HStA Düsseldorf, RD Nr. 13660: Brief d. Elberfelder Oberbürgermeisters v. 17. 8. 1837; Stadtarchiv Bielefeld, Rep. III L 20: Brief d. Bielefelder Magistrats v. 5. 10. 1821. S. für Barmen u. Elberfeld auch Emsbach, S. 243. 23 A us dem Bundestagsbeschluß vom 3. 12. 1840, zit. bei Wissell, S. 219. Zu den Regie rungsinitiativen gegen die Gesellenverbände in den 1830er Jahren vgl. auch Quarck, Zunft, S. 87-91. 24 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20: Delius an von Borries v. 23. 3. 1826; Emsbach, S. 242 ff 25 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20: Büsching an Delius v. 18. 8. 1824. 26 Ebd.: Elberfelder OB an Delius v. 22. 6. 1824. Vgl. auch HStA Düsseldorf, RD 13660: Übersicht der in dem Kreise Elberfeld bestehenden Kranken- und Sterbeauflagen, v. 8. 11. 1836, sowie Brief v. 17.8. 1837. 27 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20: Protokoll v. 8. 8. 1824. 28 Ebd.: Gesellenrcgcln für die Brüderschaft der Damast-, Drall-, Leineweber- und Tuch machcrgesellen in Bielefeld v. 25. 3. 1828. 29 Ebd.: Instruction v. 11.7. 1823. 30 Bergmann, Berliner Handwerk, S. 66. 31 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20, v. 26. 1. 1835. 32 Ebd., v. 8. 5. 1826. Die Berliner Magistratsumfrage von 1827 hatte dagegen ergeben, daß die Gewerke keine Sanktionen mehr gegen Fabrikgcsellcn ausübten (Bergmann, Berliner Handwerk, S. 66). 33 1837 drohte der Bielefelder Bürgermeister mit der Schließung der Tischlergesellenkasse, wenn den Gesellen eines Tischlermeisters, der »nicht nach dem alten Zunftgebrauch« gelernt hatte, der Kassenbeitritt weiterhin verwehrt würde (Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20, v. 8. 8. 1837). 34 § 144 der GO v. 17. 1. 1845, in: Hülfikassen, S. 251. Daß damit die Konflikte noch lange nicht beigelegt waren, beweist der Fall des Berliner Steinsetzergesellen Dellos, dem 1846 die Aufnahme in die Gewerkskrankenkasse verweigert wurde, weil er »bei einem unzünftigen Meister gelernt hat« (A ktenvorgang zit. bei A . Knoll, Geschichte der deutschen SteinsetzerBewegung, Bd. 2, Berlin 1913, S. 117-121). 35 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20, v. 8. 5. 1826. 36 Mitterauer, Struktur, S. 218 f. Nach Perthes, S. 15, hatten in Bonn im Sommer 1855 nur 387 von 1465 Gesellen »Wohnung und Kost bei ihren Meistern«. In kleineren Städten, z.B. Eisenach oder Gotha, gehörten solche Verhältnisse noch zu den A usnahmen; lediglich im Baugewerbe, bei Schneidern, Schuhmachern und Webern hatte sich auch hier bereits die lebensweltliche Trennung des Gesellen vom Meisterhaushalt durchgesetzt (S. 16).
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Anmerkungen zu Seite 253-258 37 Bergmann, Berliner Handwerk, S. 50. Für Leipzig vgl. H. Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse, Berlin 1978, S. 119-129. 38 Kassenartikel vom 11.4. 1849, zit. bei O. Allmann, Geschichte der deutschen Bäcker-und Konditor-Bewegung, Bd. 2, Hamburg 1910, S. 40. Vgl. auch Schanz, S. 73, 103, 130f. Ausgeschlossen waren die »ansässigen und verheiratheten« Gesellen auch von der Teilnahme am Nürnberger Krankheits-Versicherungs-Verband (VgM, Bd. 3, 1853, S. 151). 39 Stadtarchiv Bielefeld, Rep III L 20: Protokoll v. 8. 8. 1824. 40 Ebd.: Delius an von Borries v. 13. 5. 1826. 41 Ebd.: Verfügung des Landrats v. 29. 5. 1826. 42 Ebd.: A ngaben aus den Gesellenregeln für die Brüderschaft der Damast-, Drall-, Leine weber- und Tuchmachergesellen in Bielefeld v. 25. 3. 1828, die in ähnlicher Form auch für die Brüderschaften anderer Gewerke (Eisenarbeiter, Schuhmacher, Schneider, Maurer etc.) galten. 43 Ebd.: Schriftwechsel v. 11, 16. u. 23. 4. 1826. Das gleiche galt übrigens auch für die Meister, die seit altersher über gewerksmäßig organisierte »Sterbeladen« verfügten. 1842 berichtete der Mindener Magistrat, daß der »Versuch einer Vereinigung sämtlicher hier beste hender Sterbekassengesellschaften . . . nicht gelingen« wollte (Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1302: Schreiben v. 28. 5. 1842). 44 Staatsarchiv Detmold, Μ 2 Kr. Bielefeld, Nr. 316: Bemerkungen zu dem Entwurfe eines Ortsstatuts in Betreff der Gesellenkassen, S. 1. 45 HStA Düsseldorf, RD Nr. 25195: Briefwechsel v. 20. 2., 18. 3., 22. 4. u. 28. 10. 1857. Vgl. dazu auch W. Reininghaus, Das erste staatlich beaufsichtigte System von Krankenkassen: Preußen 1845-1869. Das Beispiel der Regierungsbezirke Arnsberg und Minden, in: Zeitschrift fürSozialrcform,Jg. 29, 1983, v.a. S. 277ff. 46 Jacobi, Bergwesen, S. 571 f.; Hülfskassen, Tab. Α 1 u. Α 2. Eine ähnliche Struktur fand sich z. B. in Essen, wo so gut wie alle Fabriken eigene Betriebskassen hatten, die Gesellen jedoch in einer allgemeinen Kasse zusammengefaßt waren (HStA Düsseldorf, RD Nr. 935). 47 S. dazu Hülfskassen, S. IX. Insgesamt waren 1872 in ganz Preußen 122983 Gesellen in 1161 Krankenkassen versichert, die mehrere Gewerke organisierten. 146981 Gesellen gehörten 1641 berufsspezifischen Kassen an (ebd., Tab. Α 1 und Α 2). 48 Vgl. die Kassenstatuten der Maurer-und Steinhauergesellen von 1851, der Schuhmacher gesellen von 1855, der Schneidergesellen von 1857, der Glaser- und Malergesellen, der Weber und Tuchmachergesellen von 1858, der Eisenarbeiter von 1864. der Webergesellen von 1866 u.a.m., in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. III L 20. Eine vergleichbare Entwicklung fand in Düsseldorf statt, wo »aus dem Schooßedes Gesellenstandes selbst ohne äußern Anstoß sich das Streben kundgegeben, die Bestimmungen des Ortsstatuts . . . sich zu Nutzen zu machen« (HStA Düsseldorf, RD Nr. 738: Brief v. 11.2. 1854 u. ff.). 49 Stadtarchiv Bielefeld, Fach 44 Nr. 15: Briefwechsel v. 26. 1. 1872, 11.2. 1872,22.2. 1872, 2. 7. 1872, 13. 9. 1872 und 23. 1. 1873. 50 1860 faßte die Mitgliederversammlung der Düsseldorfer Schuhmachergesellenkasse die sen Beschluß: »Die verheiratheten und dadurch ortsangehörigen Schuhmachergesellen sind künftighin von der Lade ausgeschlossen. Diese Gesellen unterliegen mehr als die unverheirathe ten Gesellen temporären Krankheiten und sind durch die hiernach zu gewährenden Unterstüt zungen, die bereiten Mittel insbesondere in Anspruch genommen worden« (HStA Düsseldorf, RD Nr. 738: Brief v. 16. 8. 1860). 51 Raedell, S. 113. 52 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288: Bericht v. 1. 9. 1869. 1856 schon hatte der Wittener Bürgermeister berichtet, daß Gesellen und Arbeiter eine tiefe »Abneigung« gegen den Zusammenschluß zu einer gemeinsamen Krankenkasse hegten (zit. bei Reininghaus, Gesellcnla den, S. 54). 53 HStA Düsseldorf, RD Nr. 738: Schreiben v. 30. 7. 1858. 54 Jacobi, Bergwesen, S. 573.
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Anmerkungen zu Seite 259-264 55 HStA Düsseldorf, RD Nr. 935: Statut v. 8. 10. 1856, 56 Ebd., Nr. 25195: Brief d. Düsseldorfer Gewerberats v. 20. 2. 1857. 57 Neumann, Krankheitsstatistik, S. 27 f. Die Repräsentativität der Zahlen erscheint dadurch gewährleistet, daß sie jeweils große Grundgesamtheiten voraussetzten: die Krankenkasse der Maschinenbauer hatte durchschnittlich etwa 10000, die der Schneider und Maurer 3000, die der Schuhmacher 2300 und die der Zimmerleute 1800 Mitglieder. In diesem Fall kann ausgeschaltet werden, daß die Differenz der Krankheitsquote auf andere als »objektive« Ursachen zurück ging, da alle aufgeführten Kassen den gleichen Formprinzipien genügten, d. h. ζ. Β. die gleichen Sachleistungen gewährten. 58 Ders., Sterblichkeits-Verhältnis, S. 138. 59 Koblank, Notizen über den Gewerks-Kranken-Verein in Berlin und den finanziellen Zustand der zu demselben gehörenden Krankenkassen, in: Congrès International de Bienfai sance 1857, Bd. 2, Frankfurt 1858, S. 166. 60 Hülfskassen, Tab. 8, S. 176-179. 61 S. dazu Kap. 4,11.3. 62 Neumann, Krankheitsstatistik, S. 27 f. Subtrahiert sind die Werte jener Kassen, die nur Fabrikarbeiter organisierten. Vgl. auch ders., Die Krankheitsverhältnisse der Berliner Gesellen und Fabrikarbeiter im Jahre 1856, in: Monatsblatt für medicinische Statistik und öffentliche Gesundheitspflege, 1857, S. 21. 63 Stadtarchiv Bielefeld, Geschäftsstelle VI Nr. 16: Statut v. 11. 10. 1876; Nr. 26: Statut v. 20. 10. 1879. 64 A bgedruckt in: Hülfskassen, S. 274. 65 Daß dieser Paragraph nicht nur auf dem Papier stand, sondern auch fleißig angewandt wurde, belegen z. Β. die entsprechenden Konflikte in der Düsseldorfer Krankenkasse für Spinner, Weber, Drucker und Färber: Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 348: Schreiben v. 10. 9. und 13. 9. 1872. 66 Der Mediziner Raedell beschrieb diesen informellen Druck wie folgt: die Gesellen »üben gleichsam eine moralische Überwachung unter einander aus, die Niemanden verletzt« (Raedell, S. 116). 67 Staatsarchiv Detmold, Μ 1 IU Nr. 1288: Bericht d. Bielefelder Magistrats v. 1.9. 1869. 68 Stadtarchiv Bielefeld, F ach 44, Nr. 14: Schreiben des Zigarrenarbeiter-Kassenvorstandes v. 16. 3. u. 25. 3. 1876. 69 Ebd.: Beschwerde d. H. Noltev. 12. 11. 1874 und Vorladungsprotokoll v. 18. 11. 1874. 70 Hülfskassen, Tab. Α 1, Α 2, Β 1. Β 2. 71 Stadtarchiv Düsseldorf, II Nr. 349: Schriftwechsel ν. 9. u. 1Das pädagogische Jahrhundert