Konstruktivismus und Roman: Erkenntnistheoretische Aspekte in Alain Robbe-Grillets Theorie und Praxis des Erzählens 3515102787, 9783515102780

Was veranlasst Alain Robbe-Grillet zu Beginn der 1950er Jahre dazu, einen 'neuen Roman' zu entwerfen? Nicht zu

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German Pages 302 [306] Year 2012

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INHALTSVERZEICHNIS
DANK
1 EINLEITUNG
1.1 LITERATUR, ERKENNTNISTHEORIE UND KONSTRUKTIVISMUS
1.2 UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND VORGEHEN
2 DIE KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
2.1 KONSTRUKTIVISMUS – ZUR BEGRIFFSBESTIMMUNG
2.2 ZUR ENTSTEHUNG DES KONSTRUKTIVISTISCHEN PARADIGMAS
2.3 DIE KONSTRUKTIVISTISCHE KOGNITIONSTHEORIE
2.4 GRUNDTHESEN KONSTRUKTIVISTISCHER ERKENNTNISTHEORIE
2.5 KONSTRUKTIVISMUS UND POSTMODERNE
2.6 KONSTRUKTIVISMUS IN ÄSTHETIK UND KUNSTTHEORIE:ECOS ‚OFFENES KUNSTWERK‘
3 ZUM FORSCHUNGSSTAND
3.1 KONSTRUKTIVISMUS UND LITERATUR
3.2 ROBBE-GRILLET UND DIE ERKENNTNISTHEORIE
3.3 ROBBE-GRILLET UND DIE WISSENSCHAFT
3.4 ZUR ZUORDNUNG VON ROBBE-GRILLETS WERK ZU MODERNEODER POSTMODERNE
4 ROBBE-GRILLETS THEORIE DES ERZÄHLENS
4.1 ZUR KONSTRUKTIVISMUS-REZEPTION BEI ROBBE-GRILLET
4.2 DIE FRÜHPHASE: DIE WIRKLICHKEIT ALS KONSTRUKT
4.3 DIE ‚MITTLERE‘ PHASE: DER TEXT ALS KONSTRUKT
4.4 DIE SPÄTPHASE: DAS ICH ALS KONSTRUKT
4.5 ZUSAMMENFASSUNG
5 LES GOMMES (1953)
5.1 ZUM INHALT
5.2 DER ROMAN ALS RÉÉCRITURE VON KÖNIG ÖDIPUS
5.3 DIE WIRKLICHKEIT ALS KONSTRUKT
5.4 DER TEXT ALS KONSTRUKT
5.5 DIE KONSTRUKTION DES ICH IM SPIEGEL
5.6 ZUSAMMENFASSUNG (LES GOMMES)
6 PROJET POUR UNE RÉVOLUTION À NEW YORK (1970)
6.1 DIE ARTIFIZIALISIERUNG DER ROMANWIRKLICHKEIT
6.2 METAFIKTIONALITÄT UND WAHRHEITSKRITIK
6.3 DIE DYNAMISIERUNG DES ERZÄHLENS
6.4 THEATRALITÄT: INSZENIERUNG, PLAN UND ABWEICHUNG
6.5 PROJEKTIVITÄT
6.8 WER SPRICHT? – ERZÄHLER, AUTOR, REFERENZPROBLEM
6.9 ZUSAMMENFASSUNG
7 LES ROMANESQUES (1984–1994)
7.1 DAS PROJET AUTOBIOGRAPHIQUE – EINE ÜBERRASCHENDE WENDE?
7.2 DIE DOPPELTE ABGRENZUNG VON RADIKALERA REFERENTIALITÄT UND AUTOBIOGRAPHISCHEM WAHRHEITSANSPRUCH
7.3 DIE AUTOFIKTION ALS SELBSTSCHÖPFUNG DES SUJET DISPERSÉ
7.4 DAS ICH ALS KONSTRUKT
7.5 DIE DISKREDITIERUNG DES AUTOBIOGRAPHISCHENWAHRHEITSANSPRUCHS
7.6 DIE DEKONSTRUKTION DES THEORETISCH-POETOLOGISCHEN DISKURSES
7.7 KRITIK DER PSYCHOANALYSE
7.8 DER TEXT ALS KONSTRUKT
7.9 ZUSAMMENFASSUNG (LES ROMANESQUES)
8 SCHLUSS
9 LITERATURVERZEICHNIS
9.1 PRIMÄRTEXTE
9.2 SEKUNDÄRLITERATUR
ABSTRACT
SIGLENVERZEICHNIS
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Konstruktivismus und Roman: Erkenntnistheoretische Aspekte in Alain Robbe-Grillets Theorie und Praxis des Erzählens
 3515102787, 9783515102780

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Christina Schaefer Konstruktivismus und Roman

zeitschrift für fr anzösische spr ache und liter atur beihefte Nach Peter Blumenthal und Klaus W. Hempfer herausgegeben von Guido Mensching und Ulrike Schneider Neue Folge | Heft 39

Christina Schaefer

Konstruktivismus und Roman Erkenntnistheoretische Aspekte in Alain Robbe-Grillets Theorie und Praxis des Erzählens

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10278-0

INHALTSVERZEICHNIS DANK ............................................................................................................. 9 1 EINLEITUNG ........................................................................................... 11 1.1 Literatur, Erkenntnistheorie und Konstruktivismus ........................... 13 1.2 Untersuchungsgegenstand und Vorgehen .......................................... 15 2 DIE KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE ................... 19 2.1 Konstruktivismus – Zur Begriffsbestimmung .................................... 19 2.2 Zur Entstehung des konstruktivistischen Paradigmas ........................ 23 2.3 Die konstruktivistische Kognitionstheorie ......................................... 25 2.4 Grundthesen konstruktivistischer Erkenntnistheorie ......................... 28 2.4.1 Antirealismus und Antiessentialismus .................................... 28 2.4.2 Viabilität statt Objektivität und Wahrheit ............................... 28 2.4.3 Die wechselseitige Konstitution von Subjekt und Objekt ...... 31 2.4.4 Ordnung und Unordnung ........................................................ 32 2.4.5 Kontinuität, Kausalität, Raum und Zeit .................................. 33 2.4.5.1 Kontinuität ................................................................. 34 2.4.5.2 Kausalität ................................................................... 34 2.4.5.3 Exkurs I: Projektivität und Intentionalität ................. 36 2.4.5.4 Exkurs II: Selbsterfüllende Prophezeiungen und Ödipuseffekt .............................................................. 37 2.4.5.5 Raum ......................................................................... 39 2.4.5.6 Zeit ............................................................................ 40 2.4.6 Wahrnehmung, Erinnerung, Vorstellung und Traum ............. 42 2.4.7 Das Selbstbewusstsein und die Konstruktion des Ich ............. 45 2.4.8 Zur Konstruktivität von Sprache, Texten und Fiktionen ........ 46 2.4.8.1 Sprache, Bedeutung, Kommunikation ...................... 48 2.4.8.2 Fakten und Fiktionen aus konstruktivistischer Sicht .. 50 2.5 Konstruktivismus und Postmoderne .................................................. 55 2.6 Konstruktivismus in Ästhetik und Kunsttheorie: Ecos ‚offenes Kunstwerk‘ ......................................................................................... 58 3 ZUM FORSCHUNGSSTAND .................................................................. 61 3.1 Konstruktivismus und Literatur ......................................................... 62 3.2 Robbe-Grillet und die Erkenntnistheorie ........................................... 65 3.3 Robbe-Grillet und die Wissenschaft .................................................. 69

6

Inhaltsverzeichnis

3.4 Zur Zuordnung von Robbe-Grillets Werk zu Moderne oder Postmoderne............................................................................................... 73 4 ROBBE-GRILLETS THEORIE DES ERZÄHLENS ............................... 75 4.1 Zur Konstruktivismus-Rezeption bei Robbe-Grillet .......................... 75 4.2 Die Frühphase: Die Wirklichkeit als Konstrukt ................................. 77 4.2.1 Der ‚Neue Roman‘ und die Unerkennbarkeit der Welt .......... 78 4.2.2 Robbe-Grillets Realismuskritik als Kritik am epistemologischen Modell des 19. Jahrhunderts ....................................... 82 4.2.3 Die Realismusillusion der frühen Jahre .................................. 87 4.2.3.1 Die réalité brute ........................................................ 88 4.2.3.2 Die mentalistische Wende: eine neue Realismusillusion? ...................................................................... 90 4.3 Die ‚mittlere‘ Phase: Der Text als Konstrukt ..................................... 96 4.3.1 Die Selbstreferentialität der literarischen Sprache .................. 96 4.3.2 Die thèmes générateurs und das Bekenntnis zur Artifizialität des Schreibens................................................................... 97 4.3.3 Die littérature conflictuelle ................................................... 102 4.3.3.1 Der Konflikt auf der Metaebene und das Vorführen von Sinnkonstitutionsprozessen .............................. 102 4.3.3.2 Der Referenzkonflikt und die Präsenz des Autors im Text .................................................................... 104 4.4 Die Spätphase: Das Ich als Konstrukt .............................................. 106 4.4.1 Literatur als philosophisches und wissenschaftliches Projekt .................................................................................... 106 4.4.2 Das fragmentierte Subjekt und die Konstruktion des Ich ..... 108 4.4.3 Die écriture du fragment ....................................................... 111 4.4.4 Die Unmöglichkeit der traditionellen Autobiographie ......... 113 4.5 Zusammenfassung ............................................................................ 115 5 LES GOMMES (1953) ............................................................................ 119 5.1 Zum Inhalt ........................................................................................ 5.2 Der Roman als réécriture von König Ödipus .................................. 5.3 Die Wirklichkeit als Konstrukt ........................................................ 5.3.1 Der Riss in der ‚idealen Ordnung‘ der Wirklichkeit ............. 5.3.2 Determinismus und Freiheit .................................................. 5.3.3 Zeit, Raum, Kontinuität, Kausalität ...................................... 5.3.4 Die Absage an die Wahrheit ................................................. 5.3.5 Objektbeschreibung und Objektivität ................................... 5.3.6 Punktuelle Unbestimmtheit und Offenheit ........................... 5.3.6.1 Glissements zwischen den Realitätsebenen ............. 5.3.6.2 Unzureichende oder widersprüchliche Information ........................................................................... 5.3.6.3 Wiederholungen und Varianten ..............................

119 122 127 127 130 135 140 143 148 148 150 150

7

Inhaltsverzeichnis

5.4 Der Text als Konstrukt ..................................................................... 5.4.1 Intratextuelle Rekurrenzen oder ‚Dramatische Ironie‘ ......... 5.4.2 Der Konstruktcharakter sprachlicher Bedeutung .................. 5.4.3 Intertextuelle Bezüge und Steigerung der Artifizialität ........ 5.4.3.1 Dramen- und Theaterverweise: Der Roman als Inszenierung ............................................................ 5.4.3.2 Balzac-Pastiches und antirealistische Romanästhetik .................................................................... 5.4.4 Vorführen des kreativen Schaffensprozesses ........................ 5.5 Die Konstruktion des Ich im Spiegel ............................................... 5.6 Zusammenfassung (Les Gommes) ...................................................

153 153 155 156 157 159 162 164 167

6 PROJET POUR UNE REVOLUTION A NEW YORK (1970) .............. 171 6.1 Die Artifizialisierung der Romanwirklichkeit ................................. 6.2 Metafiktionalität und Wahrheitskritik .............................................. 6.3 Die Dynamisierung des Erzählens ................................................... 6.4 Theatralität: Inszenierung, Plan und Abweichung ........................... 6.5 Projektivität ...................................................................................... 6.5.1 Das ‚Schauspiel‘ des Erzählens ............................................ 6.5.2 Der Text als projet ................................................................ 6.6 Die Revolution des Erzählens .......................................................... 6.6.1 Revolution ............................................................................. 6.6.2 Generation ............................................................................. 6.6.3 Reprise .................................................................................. 6.6.4 Serialität und Offenheit ......................................................... 6.7 Zeit, Kausalität, Raum ..................................................................... 6.7.1 Zeit- und Kausalstruktur ....................................................... 6.7.2 Raum ..................................................................................... 6.7.3 Exkurs: Topologie ................................................................. 6.8 Wer spricht? – Erzähler, Autor, Referenzproblem ........................... 6.8.1 Die Dezentrierung der Erzählinstanz .................................... 6.8.2 Die Illusion vom ‚Tod des Autors‘ ....................................... 6.8.3 Das unlösbare Referenzproblem ........................................... 6.8.4 Sadoerotik: Katharsis des ‚gesellschaftlichen Unbewussten‘? ...................................................................... 6.9 Zusammenfassung (Projet pour une révolution à New York) ..........

172 175 177 182 186 186 189 191 191 192 194 195 196 196 199 201 204 204 209 213 215 217

7 LES ROMANESQUES (1984–1994) ...................................................... 221 7.1 Das projet autobiographique – eine überraschende Wende? .......... 7.2 Die doppelte Abgrenzung von radikaler Areferentialität und autobiographischem Wahrheitsanspruch ................................................ 7.3 Die Autofiktion als Selbstschöpfung des sujet dispersé .................. 7.4 Das Ich als Konstrukt ....................................................................... 7.4.1 Der Fremde im Spiegel .........................................................

221 225 230 235 235

8

Inhaltsverzeichnis

7.4.2 Die ambige Kommunikationssituation: ‚Ich bin es und ich bin es nicht‘ ........................................................................... 7.5 Die Diskreditierung des autobiographischen Wahrheitsanspruchs ... 7.5.1 Ambivalente Signale ............................................................. 7.5.2 Die ‚wahre Angélique‘ .......................................................... 7.6 Die Dekonstruktion des theoretisch-poetologischen Diskurses ....... 7.6.1 Der Theoriediskurs der Romanesques ................................... 7.6.2 Fiktionale Wucherungen in den Paratexten .......................... 7.7 Kritik der Psychoanalyse ................................................................. 7.8 Der Text als Konstrukt ..................................................................... 7.8.1 Die Narration als ‚Versuchslabor‘ oder: L’écriture de l’imaginaire ........................................................................... 7.8.2 Die Dynamisierung des Schreibens und das hic et nunc der Selbstfiktion .................................................................... 7.8.3 Die Freiheit der Konstruktion: Das tableau symboliste ......... 7.8.4 Die Signatur des abwesenden Autors .................................... 7.9 Zusammenfassung (Les Romanesques) ...........................................

237 241 241 242 247 247 251 254 258 258 262 264 268 269

8 SCHLUSS ................................................................................................ 273 9 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................. 283 9.1 Primärtexte ....................................................................................... 9.1.1 Erzähltexte ............................................................................ 9.1.2 Essays, Interviews ................................................................. 9.2 Sekundärliteratur ..............................................................................

283 283 283 284

ABSTRACT ................................................................................................ 301 SIGLENVERZEICHNIS ............................................................................ 303

DANK Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht gekürzte und aktualisierte Fassung meiner 2010 am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem überaus geschätzten akademischen Lehrer und Betreuer, Prof. Dr. Klaus W. Hempfer, der mich über viele Jahre hinweg sehr gefördert und meinen wissenschaftlichen Werdegang stets wohlwollend kritisch und mit einem Sinn fürs Wesentliche begleitet hat. Sehr verbunden bin ich ebenfalls Prof. Dr. Joachim Küpper, der nicht nur das Zweitgutachten für die vorliegende Arbeit erstellt, sondern schon im Prozess der Ausarbeitung hilfreiche Anstöße gegeben hat. Ganz besonders danken möchte ich Prof. Dr. Ulrike Schneider, die mir seit Jahren zuverlässig mit Rat und Tat zur Seite steht und mir zuletzt bei der Fertigstellung der Druckfassung engagiert unter die Arme gegriffen hat. In diesem Zusammenhang sei auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses gedankt sowie dem Franz Steiner Verlag für die überaus zuvorkommende Betreuung. Für die kritische Durchsicht bzw. Korrektur der Kapitel danke ich herzlich Dr. Bärbel Bohr, Şirin Dadaş, Dr. Bernd Häsner, Katja Heinrich, Marie Jacquier, Dr. Angelika Lozar und ganz besonders meinem Vater. Für kritische Anregungen und fruchtbare Diskussionen zu literaturwissenschaftlichen Fragen aller Art bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen des Oberseminars sowie meiner Freundin Dr. Stefanie Rentsch sehr verpflichtet. Schließlich – und nicht zuletzt – gilt mein Dank meiner Familie und meinen Freunden, die mich und mein Projekt unermüdlich begleitet und unterstützt haben: allen voran meinen Eltern Brigitte und Willi Schaefer sowie Andreas Hübinger, denen ich dieses Buch widme.

Je ne transcris pas, je construis. (A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 139) … percevoir beaucoup et comprendre peu, c’est peut-être de toute éternité ce qui produit de la fiction. (A. Robbe-Grillet, Préface à une vie d’écrivain, Paris 2005, S. 106)

1 EINLEITUNG Alain Robbe-Grillet zählt neben Nathalie Sarraute, Claude Simon und Michel Butor zu den Begründern des im Frankreich der 1950er Jahre entstandenen Nouveau Roman. Man hat ihn aufgrund seiner zentralen Rolle und seiner umfangreichen theoretischen Äußerungen mitunter sogar als ‚Papst des Nouveau Roman‘ bezeichnet. Mit seinem Tod 2008 ging eine Ära des französischen Romans zu Ende. Seine Romane haben nicht nur von Beginn an, sondern auch nachhaltig für Furore gesorgt. Von der Forschung sind sie bereits unter vielfältigen Aspekten betrachtet worden. Oft stand dabei die Entwicklung und Erneuerung der Erzähltechniken im Mittelpunkt, mit denen sich Robbe-Grillet gegen traditionelle Formen des Erzählens, genauer: gegen das wirklichkeitsillusionistische Erzählen gewandt hatte. Erklärtes Feindbild des 1922 in Brest geborenen, in Paris als ingénieur agronome ausgebildeten und dann in den frühen fünfziger Jahren zur Literatur übergewechselten Robbe-Grillet war von Anfang an jene Romanästhetik, die bis dahin am engsten mit dem Anspruch auf adäquate Wirklichkeitsdarstellung verbunden war: die des realistischen Romans nach dem Vorbild Balzacs. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang Robbe-Grillets Forderung nach Abschaffung einer Reihe ‚überholter‘ Konzepte, wie er sie in dem Essay Sur quelques notions périmées (1957) formuliert hat. Diese veralteten Konzepte waren: l’histoire im Sinne einer linear erzählten, kohärenten Geschichte; le personnage, einer als ‚runderʻ Charakter gestalteten Figur; l’engagement im Sinne einer Indienstnahme von Literatur und Kunst für außerliterarische (d.h. politische, moralische oder didaktische) Zwecke; und schließlich la forme et le contenu, die Trennung von Form und Inhalt.1 Die Abkehr vom traditionellen Erzählen hat Robbe-Grillet in den fünfziger Jahren damit begründet, dass dieses der ‚neuenʻ Zeit nicht mehr angemessen sei, einer Zeit, die nicht mehr die Epoche des Individuums, sondern die der Matrikelnummer sei. Von der Robbe-Grillet-Forschung wurde dieser Wandel des Epo1

A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris: Minuit, 1963, S. 26–44; im Folgenden kurz PNR, wobei die hinter der Sigle genannten Zahlen in eckigen Klammern auf das Jahr der Erstpublikation des jeweils zitierten Artikels verweisen.

12

1 Einleitung

chenbewusstseins oft auf die damals noch frische Erfahrung zweier Weltkriege und die daraus resultierende Verunsicherung und Infragestellung traditioneller Werte bezogen.2 Weniger häufig wurde gesehen, dass dieser Bewusstseinswandel mit einem grundsätzlich neuen Wirklichkeitsverständnis zusammenhängt, das sich für Robbe-Grillet nicht nur aus der Erfahrung politischer und gesellschaftlicher Veränderungen speist, sondern ganz wesentlich auch auf Umbrüche und Neuerungen im Bereich von Wissenschaften und Philosophie zurückzuführen ist. In seinem Essay Du réalisme à la réalité (1955/63) schreibt Robbe-Grillet: D’une part, […] la vie matérielle, la vie intellectuelle, la vie politique se sont modifiées considérablement […]. D’autre part, la connaissance que nous avons de ce qui est en nous et de ce qui nous entoure (connaissance scientifique, qu’il s’agisse de sciences de la matière ou de sciences de l’homme) a subi de façon parallèle des bouleversements extraordinaires. À cause de ceci et de cela, les relations subjectives que nous entretenons avec le monde ont changé du tout au tout. Les modifications objectives de la réalité, jointes au „progrès“ de nos connaissances physiques, ont retenti profondément – continuent de retentir – au sein de nos conceptions philosophiques, de notre métaphysique, de notre morale.3

Wenn Robbe-Grillet hier das grundsätzlich gewandelte Verhältnis des Menschen zur Welt nicht nur mit materiellen Veränderungen, sondern auch mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erklärt, dann zeigt dies, dass es ihm um die modifizierten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Zeit geht. Denn es ist ja nicht zuletzt das wissenschaftliche Wissen, das vorgibt, was wir für Wissen, Erkenntnis und letztlich für ‚realʻ halten. Unsere Auffassung von Wirklichkeit hängt wesentlich von den zugrunde liegenden Kriterien der Wissens- und Erkenntnisproduktion ab, davon, was als ‚legitimesʻ Wissen gilt und wie und wozu es produziert wird.4 Da Robbe-Grillet also die Notwendigkeit eines ‚neuen Romansʻ mit den gewandelten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seiner Zeit begründet, hat die vorliegende Untersuchung zum Ziel, die epistemologischen Fundamente von Robbe-Grillets Theorie und Praxis des Romans herauszuarbeiten. Sie wendet sich damit ausdrücklich gegen die Annahme, dass Robbe-Grillets literarischen Neuerungsbestrebungen eine ausschließlich ästhetische Stoßrichtung innewohnt. Anders als etwa Marjorie Hellerstein, die Robbe-Grillets Erzähltexte auf einen Appell an das menschliche Bedürfnis nach spielerischen Herausforderungen und 2 3 4

Vgl. etwa Guidette-Georis (1993: 259) oder Groß (2008: 13 und 19), die die Entstehung des Nouveau Roman wesentlich auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und seiner gesellschaftlichen Folgen zurückführen. PNR [1955/63]: 136f. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Begriff Epistemologie (frz. épistémologie) von engl. epistemology herleitet, einem Neologismus, der seinerzeit zur Übersetzung des deutschen Begriffs ‚Wissenschaftslehreʻ diente (vgl. Fichant 2000: 135). Im Folgenden werden ‚Erkenntnistheorieʻ und ‚Epistemologieʻ synonym verwendet, obgleich sie dies etymologisch gesehen nicht sind: Während Epistemologie ursprünglich nur ‚Wissenschaftslehreʻ bzw. ‚Philosophie der Wissenschaftenʻ (frz. philosophie des sciences) meinte, weist die heutige Epistemologie zusätzlich Einflüsse der ‚Erkenntnistheorieʻ (frz. théorie de la connaissance) kantischer Tradition auf (vgl. ebd. 136–138).

1 Einleitung

13

nach den Schönheiten von sprachlichen Rhythmen, Bildern, Organisation und Verbindungen reduziert, möchte ich die Ansicht vertreten, dass Robbe-Grillets Texten eine über das rein Ästhetische hinausweisende epistemologische Bedeutung zukommt und sie sich dabei nicht darauf beschränken, die Differenz von Text und Wirklichkeit aufzuzeigen, sondern durchaus auch etwas über die Wirklichkeit aussagen, und sei dies auch nur die Feststellung, dass sichere Aussagen und Erkenntnisse unmöglich sind.5 1.1 LITERATUR, ERKENNTNISTHEORIE UND KONSTRUKTIVISMUS Dass das erkenntnistheoretische Fundament eines literarischen Werks grundsätzlich interessant und relevant ist, fällt anzuerkennen nicht schwer. Schließlich prägt der Umgang mit Wissen und Erkenntnis nicht nur das Wirklichkeitsmodell und das Welt- und Menschenbild, sondern beeinflusst auch die kulturelle und künstlerische Produktion. Die epistemologischen Prämissen einer Epoche, die Modi der Wissensproduktion und -ordnung, schreiben sich immer in der einen oder anderen Form in ein Kunstwerk ein. Umberto Eco hat deswegen auch vom Kunstwerk als ‚epistemologischer Metapherʻ (metafora epistemologica) gesprochen.6 Vor diesem Hintergrund lässt sich grundsätzlich jedes Kunstwerk auf seine epistemologischen Implikationen befragen. Bedenkt man nun, dass sich Robbe-Grillet schon zur Begründung des Nouveau Roman explizit auf erkenntnistheoretische Umwälzungen beruft, so steht zu vermuten, dass der epistemologische Aspekt in seinem Denken und Werk eine besonders wichtige, möglicherweise fundamentale Rolle spielt. Allen Thiher hat die These vertreten, dass in der Literatur des 20. Jahrhunderts epistemologische Fragen generell in den Vordergrund treten.7 Wenn dies stimmt, so stellt sich die Frage, was Robbe-Grillets Umgang mit diesem Thema spezifisch macht bzw. von dem anderer Autoren unterscheidet. Damit sind wir bei der Kernproblematik angelangt: Vor dem Hintergrund der Frage, auf welche Weise Literatur überhaupt erkenntnistheoretische Positionen zum Ausdruck bringen kann, gilt es, die Verfahren zu ermitteln, deren Robbe-Grillet sich hierzu bedient, und – mit Blick auf die potentielle Leserschaft – die Funktion zu bestimmen, die einer solchermaßen epistemologisch fundierten Literatur zukommt. Für die einzelnen erkenntnistheoretischen Konzepte, die sich in diesem Kontext bei Robbe-Grillet ermitteln lassen, liegt es nahe, sie einer bestimmten Art, Richtung oder Schule von Erkenntnistheorie zuzuordnen. Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist daher die Hypothese, dass Robbe-Grillets Denken und Werk im Zusammenhang mit der Ausbildung eines neuen epistemologischen Paradigmas zu sehen ist, das sich aus heutiger Sicht als ‚konstruktivistisches Paradigmaʻ beschreiben lässt. Sollte sich dies als plausibel erweisen, ließe sich Robbe-Grillets 5 6 7

Vgl. Hellerstein 1998: 20. Vgl. Eco 1971: 42 und 151. Vgl. Thiher 2005: 212.

14

1 Einleitung

Werk als exemplarisch für eine epistemologische Erneuerung lesen, die ihre Wurzeln im beginnenden 20. Jahrhundert hat, aber erst in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlichere Züge annahm und schließlich unter dem Namen Konstruktivismus als eigenständiges Paradigma Anerkennung fand.8 Der Konstruktivismus beantwortet die alte Frage nach der Erkennbarkeit der Wirklichkeit für den Menschen dahingehend, dass Wirklichkeit stets (kognitiv) konstruiert wird und für den Menschen nie objektiv, also nie unabhängig von einem subjektiven Beobachterstandpunkt erfasst werden kann: „Die Wirklichkeit [wird] von uns nicht gefunden, sondern erfunden (konstruiert).“9 Jede Art von Vorstellung der Welt, die sich der Mensch bewusst oder unbewusst macht, ist demnach als Konstrukt zu begreifen. Abgelehnt wird vom Konstruktivismus die Annahme, der Mensch könne eine objektive Wirklichkeit erkennen, eine Realität, wie sie vermeintlich ‚wirklichʻ und unabhängig von menschlicher Erfahrung ist. Die konstruktivistische These der Konstruktivität aller Erkenntnis und Wirklichkeitserfahrung hat tief greifende Auswirkungen auf das gesamte Welt- und Menschenbild. Wenn Erkenntnis stets vom Menschen konstruiert und das Produkt seiner subjektiven Sicht und Erfahrung ist, so ist sie prinzipiell limitiert. Wenn die Welt für den Menschen grundsätzlich nicht erkennbar ist, wie sie ‚wirklichʻ ist, dann wird der Anspruch auf (objektive) Wahrheit problematisch. Es gibt, so eine der konstruktivistischen Kernthesen, nicht die Wahrheit, sondern nur verschiedene, gleichermaßen ‚passendeʻ (viable) Konstruktionen.10 Mehr noch, auch die Selbsterkenntnis ist dem Menschen aus Sicht der Konstruktivisten versagt; er muss feststellen, dass auch sein ‚Ichʻ nur ein kognitives Konstrukt ist. Damit wird der Mensch sozusagen ein weiteres Mal aus dem Zentrum des Universums verbannt, das anthropozentrische Weltbild erleidet Schiffbruch. Das von Robbe-Grillet postulierte von Grund auf gewandelte Verhältnis des Menschen zur Welt steht, so meine These, im Zeichen eines radikal neuen Wirklichkeitsverständnisses, wie es vom Konstruktivismus formuliert worden ist. In Robbe-Grillets Theorie und erzählerischer Praxis gilt es daher nach Elementen zu suchen, die sich unter das Paradigma konstruktivistischer Erkenntnistheorien subsumieren lassen. Sollte sich die These erhärten und der Robbe-Grillet’sche Roman tatsächlich ‚im Zeichen des Konstruktivismusʻ zu verorten sein, so wäre dies insofern bemerkenswert, als es über Jahrhunderte hinweg dominante literarische Praxis war, gerade umgekehrt die Konstruktivität und Artifizialität des fiktionalen Textes zu verschleiern. Erst vor dem Hintergrund dieses traditionellen Verschleierungsgestus wird die Originalität und Unkonventionalität all jener Texte ersichtlich, die ihre eigene Gemachtheit aufdecken.11 Eine Besonderheit wäre es zudem, wenn der Robbe-Grillet’sche Roman nicht nur den eigenen Konstruktcharakter als 8 Vgl. dazu Kap. 2.4 Grundthesen konstruktivistischer Erkenntnistheorie. 9 Gumin/Mohler 1985a: VIII. 10 Die prinzipielle Ablehnung des Wahrheitskonzepts wird nicht von allen konstruktivistischen Strömungen geteilt, bildet jedoch u.a. die Basis des sog. Radikalen Konstruktivismus, dessen Positionen für vorliegende Untersuchung zentral sind. Vgl. dazu Kap. 2.4 Grundthesen konstruktivistischer Erkenntnistheorie. 11 Ein im Bereich des Romans bis heute eindrückliches Beispiel bietet Cervantes’ Don Quijote.

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schriftstellerisches Artefakt, sondern darüber hinaus die Konstruktivität der gesamten kognitiven Wirklichkeit reflektieren würde. Gerade Letzteres ist zentral für die Anschlussfähigkeit an konstruktivistische Theorien. Eine Untersuchung der epistemologischen Fundamente von Robbe-Grillets Narrativik ist schließlich auch deswegen sinnvoll, weil es für die Rezeption und Kanonisierung literarischer Texte keineswegs unerheblich ist, inwiefern sie sich an zeitgenössisch virulente nichtästhetische Diskurse anbinden lassen.12 Dass Robbe-Grillets innovative, aber für eine breite Leserschaft eher schwer zugängliche Texte im damaligen literarischen Feld überhaupt Beachtung fanden, wäre dann nicht zuletzt damit erklärbar, dass zumindest ein Teil des Feldes (darunter Roland Barthes, Maurice Blanchot und die Éditions de Minuit) bereit war, sich für eine Literatur zu interessieren, die, wie zu zeigen sein wird, einem damals neuen Weltmodell verpflichtet war und sich mit einem emergierenden konstruktivistischen Diskurs kompatibel zeigte. Es ist so gesehen also durchaus bedeutsam, dass Barthes den Debütroman Les Gommes schon 1954 mit dem Weltbild der Neuen Physik in Verbindung brachte oder dass Renato Barilli den Nouveau Roman zu Beginn der siebziger Jahre emphatisch als ‚Allianz von Roman und Epistemologie gegen Positivismus und Determinismusʻ feierte.13 Erklärbar wird so der verblüffende Erfolg einer Avantgardeliteratur, die zwar nicht unbedingt leicht lesbar war, aber durch ihre Anbindbarkeit an außerliterarische Diskurse neue Perspektiven eröffnete und sich hierüber letztlich einen Platz im Kanon sicherte. Nicht umsonst sind Robbe-Grillets Romane eher zu long- als zu bestsellern geworden. 1.2 UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND VORGEHEN Den Gegenstand der Untersuchung bildet zunächst Robbe-Grillets Theorie bzw. explizite Poetik, wie sie sich aus zahlreichen Kommentaren, Essays, Vorträgen und Interviews des Autors ergibt. Sodann wird es um das Erzählwerk selbst gehen, welches von Les Gommes (1953) bis La Reprise (2001) insgesamt fünfzehn größere narrative Texte umfasst und für das ich die Entwicklung der erkenntnistheoretischen Implikationen anhand von drei exemplarischen Einzeltextanalysen nachzeichnen will.14 Für diese Analysen wurden Les Gommes (1953), Projet pour une révolution à New York (1970) sowie die Romanesques-Trilogie ausgewählt. Die Trilogie besteht aus den Bänden Le Miroir qui revient (1984), Angélique ou l’enchantement (1988) und Les Derniers jours de Corinthe (1994), wird hier aber als zusammenhängendes Werk behandelt. 12 Dies hat Joachim Küpper (1999: 224) am Beispiel Petrarcas überzeugend demonstriert. 13 Vgl. Barthes 1964: 34 und 39; Barilli 1972: 109. Zu Barthes vgl. auch Kap. 3.3 Robbe-Grillet und die Wissenschaft. 14 Keine Berücksichtigung finden hier Robbe-Grillets ciné-romans, die keine genuingen Erzähltexte sind, sondern intermedial konzipierte, teilweise illustrierte Dreh- oder Begleitbücher zu Robbe-Grillets Filmen. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird Robbe-Grillets zuletzt publizierter, stark erotischer Erzähltext Un Roman sentimental (Paris: Fayard, 2007), der von ihm selbst nicht zu seinem ‚literarischenʻ Werk gezählt wird.

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Dieses Textkorpus deckt den Zeitrahmen des gesamten Robbe-Grillet’schen Œuvre von den fünfziger Jahren bis heute ab und berücksichtigt alle Phasen des Werks von der Früh- bzw. Nouveau Roman-Phase (bis Anfang/Mitte der sechziger Jahre), über die Nouveau Nouveau Roman-Phase (ca. 1965–1981) bis zur ‚autobiographischenʻ bzw. autofiktionalen Phase rund um die Romanesques. Mit Bedacht fiel die Auswahl nicht auf den zu Recht vielbeachteten Roman La Jalousie (1957), sondern auf den Debütroman Les Gommes. Zum einen mag es einer umfassenden Studie wie der vorliegenden erlaubt sein, nicht ausgerechnet den Text zu untersuchen, bei dem die Bezüge zum konstruktivistischen Gedankengut geradezu auf der Hand zu liegen scheinen,15 sondern einen, bei dem erst ein genauerer Blick die entsprechenden Zusammenhänge erhellt. Ist dies dann geschehen, so ist das Ergebnis im Fall von Les Gommes – und dies ist der zweite Grund für die Wahl dieses Textes – umso signifikanter: Denn damit wäre der Nachweis geführt, dass Robbe-Grillets Werk nicht einfach ab einem bestimmten Zeitpunkt, sondern von Beginn an konstruktivistisch fundiert ist. Zugleich ließe sich damit ein hartnäckiges Vorurteil der Forschung revidieren, wonach das Debüt noch nicht repräsentativ für Robbe-Grillets Erzählen insgesamt oder gar noch eher traditionell sei.16 Als Leitfaden der Untersuchung dient zum einen die Frage, was jeweils als Konstrukt ausgewiesen wird: die Wirklichkeit, das Ich oder der (literarische) Text selbst. Zum anderen gilt es zu erörtern, wie, d.h. mit welchen erzähltechnischen Mitteln, dies geschieht. Zu vermuten steht, dass die verschiedenen Texte und Phasen des Werks dabei unterschiedliche Akzente setzen. Zunächst müssten sich freilich die verschiedenen Phasen überhaupt als ‚konstruktivistischʻ erweisen. Es fragt sich, ob Robbe-Grillet schon von Beginn seines Schaffens an einem konstruktivistischen Denken verpflichtet war oder ein solches erst später ausgebildet hat. Ebenfalls wird zu sehen sein, ob Theorie und Praxis hierbei Hand in Hand gehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient Robbe-Grillets Bezugnahme auf den Wissenschaftsdiskurs: nicht nur aufgrund der generellen Verzahnung von Erkenntnistheorie und Wissenschaften, sondern auch, weil Robbe-Grillets Wirklichkeitsverständnis ebenso wie das der Konstruktivisten ganz wesentlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Robbe-Grillet beruft sich auf gewisse „bouleversements extraordinaires“ in den Natur- und Humanwissenschaften, die Konstruktivisten auf neue Erkenntnisse der Biologie, Psychologie, Physik, Logik und der sog. ‚neuen Wissenschaftenʻ, darunter Kybernetik, Systemtheorie, Chaosbzw. Komplexitätstheorie und Informationstheorie. In der nachfolgenden Untersuchung gilt es freilich, jede direkte Übertragung wissenschaftlicher und erkennt15 Konstruktivistische Prämissen werden in La Jalousie insbesondere aufgrund der strikt durchgeführten internen Fokalisierung anschaulich: darunter die Unhintergehbarkeit des subjektiven Beobachterstandpunktes, die wechselseitige Prägung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis sowie die Nichtermittelbarkeit einer ‚Wahrheit‘. Zu La Jalousie als einer „œuvre limite“, in der die focalisation interne ausnahmsweise „de façon tout à fait rigoureuse“ zum Einsatz kommt, vgl. Genette 1972: 209f. 16 Vgl. beispielsweise Wellershoff 1980: 10 oder Bernal 1964: 133.

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nistheoretischer Kategorien auf den Bereich von Kunst und Literatur zu vermeiden. Die Inbezugsetzung kann, wie schon Umberto Eco betont hat, nur auf der Ebene struktureller Ähnlichkeiten, also von Strukturhomologien erfolgen.17 Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass eine narrative Fiktion über verschiedene Möglichkeiten verfügt, den Leser auf das Phänomen der ‚Konstruktivitätʻ aufmerksam zu machen. Sie kann beispielsweise die Konstruktivität der kognitiven Wirklichkeit und damit die epistemologische conditio humana bewusst machen, ihre eigene sprachliche bzw. textuelle ‚Gemachtheitʻ hervorkehren und damit die Konstruktivität von Sprache und Texten in den Blick nehmen sowie ihre Fiktionalität ausstellen bzw. ihren Weltbezug problematisieren und damit den Konstruktcharakter der erzählten Welt markieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass es nicht das Ziel dieser Arbeit ist, konstruktivistische Modelle oder Konzepte auf ihre Stichhaltigkeit oder Plausibilität zu überprüfen oder zu bewerten.18 Ebenso wenig wird es darum gehen, Robbe-Grillets Romane mit den Methoden oder Erkenntnisinteressen der ‚konstruktivistischen Literaturwissenschaftʻ zu untersuchen, wie sie sich in Deutschland vor allem im Umfeld von Siegfried J. Schmidt herausgebildet hat, denn diese Literaturwissenschaft versteht sich ausdrücklich als empirische Literaturwissenschaft (sie nennt sich auch Empirische Theorie der Literatur).19 Sie verlagert den Blick ‚weg vom Text‘ und hin zu den ‚textfokussierenden Aktivitätenʻ der Subjekte, weg von ‚Strukturenʻ und hin zu ‚Funktionenʻ und kognitiven ‚Prozessenʻ, da sie nur die letzteren für empirisch überprüfbar hält.20 Erforscht werden damit nicht mehr literarische Texte, sondern nur noch die Modi der Literaturrezeption, die Rezeptions- und Verstehensprozesse sowie das Verhalten der Akteure im literarischen System.21 Durch diese Abwendung von der Textanalyse und die Hinwendung zum gesellschaftlichen Literatursystem stellt sie mehr eine Sozial- denn eine Literaturwissenschaft (im Sinne einer Philologie) dar.22 Damit unterscheidet sie sich fundamental vom Ansatz der vorliegenden Arbeit, die bewusst an der Analyse literarischer Texte und der dazugehörigen Poetiken festhält. Wenn daher im Folgenden Verbindungen von ‚Konstruktivismus und Literaturʻ untersucht werden, so sind damit allein Realisierungsmodi konstruktivistischer Epistemologie in literarischen Texten gemeint (nicht die ‚konstruktivistische Literaturwissenschaftʻ im genannten Sinne). 17 Vgl. Eco 1971: 14 und 48. 18 Wenn dennoch gelegentlich kritische Bemerkungen, ergänzende Präzisierungen und Differenzierungen eingefügt werden, dann, um einen Konflikt zwischen bestimmten konstruktivistischen Konzepten und den dieser Arbeit zugrunde gelegten Begriffen zu verhindern (dies gilt insbesondere für die Unterscheidung von ‚Konstruktʻ und ‚Fiktionʻ). 19 Vgl. dazu grundlegend Schmidt 1980/82 und Hauptmeier/Schmidt 1985, sowie einführend Schmidt 1989. 20 Vgl. Schmidt 1989: 328. 21 Polemisch prangert die Empirische Theorie der Literatur den angeblichen gesellschaftlichen ‚Unnutzenʻ der traditionellen Literaturwissenschaft und die vermeintliche ‚Unwissenschaftlichkeitʻ philologischer Interpretationen an. Vgl. etwa Rusch 1987: 385f. und 390. 22 Vgl. Schmidt 1989: 324f. und Rusch 1987: 397f.

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Zu reflektieren ist schließlich, dass sich die vorliegende Arbeit, obwohl sie im Konstruktivismus primär ihren Erkenntnisgegenstand sieht, teilweise selbst methodisch an konstruktivistische Konzepte und Termini anknüpft. Kunstwerke, Texte oder Gattungen werden beispielsweise als Konstrukte betrachtet. Darüber hinaus ist auch die Kernthese dieser Arbeit, d.h. der Zusammenhang zwischen Robbe-Grillets Literatur einerseits und konstruktivistischer Erkenntnistheorie andererseits, als bloßes Konstrukt aufzufassen: als wissenschaftliche These, die nicht verifizierbar ist, sondern nur auf Basis gängiger Wissenschaftlichkeitskriterien wie Kohärenz, Intersubjektivität etc. mehr oder weniger plausibel gemacht werden kann. Da der Konstruktivismusbegriff keine einheitliche Verwendung findet, wird er im Folgenden zu präzisieren sein. Daneben liefert das folgende Kapitel einen Abriss der Entstehungsgeschichte des konstruktivistischen Paradigmas. Die anschließende Darstellung der Kernthesen konstruktivistischer Erkenntnistheorie erfolgt, dies ist zu betonten, ausschließlich im Hinblick auf die späteren RobbeGrillet-Analysen, erhebt also keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Sinne einer kohärenten, nachvollziehbaren Darstellung werde ich weitgehend darauf verzichten, auf die Divergenzen zwischen den einzelnen konstruktivistischen Theorien einzugehen. Auf Basis des so abgesteckten Rahmens kann anschließend die Diskussion einschlägiger Forschungsliteratur geführt werden.

2 DIE KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE 2.1 KONSTRUKTIVISMUS – ZUR BEGRIFFSBESTIMMUNG Laut Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie bezeichnet der Begriff Konstruktivismus diverse, „in verschiedenen Kulturbereichen der neueren Zeit entstandene Richtungen, die den Begriff der Konstruktion in den Mittelpunkt ihrer Theorie der jeweils intendierten Kulturprodukte stellen“.1 Abgesehen von der Verwendung des Konstrukt(ions)begriffs jedoch, der zudem unterschiedlich gefasst wird, findet sich kein Merkmal, das alle Formen des Konstruktivismus gemeinsam hätten.2 Von dem Konstruktivismus kann also genau genommen keine Rede sei. Daher ziehen es Raymond Gassin und Jean-Louis Le Moigne vor, von den Konstruktivismen bzw. von den ‚konstruktivistischen Epistemologien‘ oder dem ‚konstruktivistischen Paradigma‘ (in Anlehnung an Thomas Kuhn) zu sprechen.3 Wenn im Fortgang dieser Arbeit dennoch weiter der Singular verwendet wird, so alleine aus Gründen der besseren Lesbarkeit; die Vielfalt konstruktivistischer Ansätze sei implizit mitgedacht. Grundsätzlich zu unterscheiden ist zwischen einem älteren Konstruktivismus, der zum einen in der Mathematik und zum anderen in der Bildenden Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in Erscheinung trat, sowie einem jüngeren Konstruktivismus, wie er sich seit den 1960er Jahren entwickelt hat. Dieser jüngere Konstruktivismus lässt sich in einen sozialwissenschaftlichen und einen erkenntnistheoretischen Zweig unterteilen, die ihrerseits zahlreiche Unterformen kennen.4 Es kann und soll hier nicht dem gesamten Spektrum von konstruktivistischen Richtungen Rechnung getragen werden. Meine Darstellung wird sich daher auf jene prominenten Formen des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus beschränken,

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Vgl. Thiel 2004: 449. Vgl. Gassin 2000: 162f. und Keucheyan 2007: 63ff. Vgl. Gassin 2000: 163 und Le Moigne 1999. Zum Paradigmenbegriff vgl. Le Moigne 1999: 9, 36 und 119. – Einen umfassenden Überblick über die zentralen Strömungen des Konstruktivismus gibt neuerdings der von Bernhard Pörksen herausgegebene Band Schlüsselwerke des Konstruktivismus (2011), der allerdings für die vorliegende Darstellung nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Am Beginn des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus steht der sog. Sozialkonstruktivismus Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns, der soziale ‚Realität‘ oder ‚Tatsachen‘ nicht mehr als naturgegeben, sondern als Produkte bestimmter sozialer Verhältnisse betrachtet (vgl. Berger/Luckmann 1966). Der Sozialkonstruktivismus gilt als noch ‚ontologisch gefärbt‘, weil er „Aussagen über den Seinszustand von Phänomenen“ wie „soziale ‚Realität‘, ‚Tatsache‘ oder ‚Wirklichkeit‘“ macht, aber die soziale Konstruiertheit dieser Phänomene ohne Nachweis „vorweg unterstellt“ (Knorr-Cetina 1989: 87f.). Für einen Überblick über die Geschichte des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus vgl. Keucheyan 2007, für eine kritische Auseinandersetzung vgl. Hacking 1999 und Latour 2003a.

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die zum einen paradigmatisch für den Konstruktivismus, zum anderen brauchbar für die Analyse der Robbe-Grillet-Texte sind. Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus, der gelegentlich auch als kognitionstheoretischer Konstruktivismus bezeichnet wird,5 geht im Wesentlichen auf die entwicklungspsychologischen und epistemologischen Studien Jean Piagets zurück. Zu seinen wichtigsten Ausprägungen gehören der Dialektische Konstruktivismus Piagets, der Radikale Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds, Humberto Maturanas oder Paul Watzlawicks sowie der Projektive Konstruktivismus JeanLouis Le Moignes.6 Die folgenden Ausführungen beziehen sich, sofern nicht anders erwähnt, auf diese drei (jüngeren) Formen des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus.7 Wenig zu tun hat der erkenntnistheoretische Konstruktivismus mit dem sog. Russischen Konstruktivismus, also jener Avantgarde-Kunst der 1920er-Jahre, die für ihre abstrakte geometrische Formsprache berühmt wurde und zu deren bekanntesten Vertretern Kasimir Malewitsch und Wassily Kandinsky zählen.8 Deutliche Verbindungen zeigen sich dagegen zum mathematischen Konstruktivismus Luitzen E. J. Brouwers, der auch unter dem Begriff Intuitionismus bekannt ist. Piaget selbst bezieht sich in Logique et connaissance scientifique (1967) – dem Buch, in dem er den Begriff ‚konstruktivistische Epistemologien‘ prägt – mehrfach auf Brouwer.9 Und noch zur Jahrtausendwende wird Brouwer von Le Moigne als Wegbereiter des Konstruktivismus gewürdigt.10 Zugleich weist aber schon Piaget auf die grundlegende Differenz zwischen Brouwers Intuitionismus und den konstruktivistischen Epistemologien hin. Der Intuitionismus sei zwar auch von 5 6 7

Vgl. Knorr-Cetina 1989: 88. Diese drei Konstruktivismen betrachtet auch Gassin 2000 als paradigmatisch. Daneben ist auch ein älterer, der sog. methodische Konstruktivismus zu erwähnen, für den Hugo Dingler steht und dem es „nicht um den Zusammenhang von Wissen und Wirklichkeit, sondern um den widerspruchsfreien Aufbau“ der Wissenschaft bzw. ihrer Untersuchungsobjekte geht (Jensen 1999: 187). In Nachfolge des methodischen Konstruktivismus situiert sich der Erlanger bzw. Konstanzer Konstruktivismus um Paul Lorenzen bzw. Jürgen Mittelstraß (vgl. einführend Thiel 2004: 451f.; zur Abgrenzung des Erlanger vom Radikalen Konstruktivismus vgl. Janich 1992). 8 Anderer Auffassung ist Jensen, der einen Zusammenhang zwischen dem Russischen Konstruktivismus und dem (jüngeren) erkenntnistheoretischen Konstruktivismus postuliert. Sein Argument, es gehe auch im Russischen Konstruktivismus um den ‚Blick des Betrachters‘, da der Sinn erst in der aktiven Auseinandersetzung des Betrachters mit den abstrakten Strukturen entstehe (vgl. Jensen 1999: 107 und 119f.), vernachlässigt allerdings die Tatsache, dass dies kein Spezifikum des Russischen Konstruktivismus ist, sondern auf viele Avantgardekunstwerke zutrifft. Bezeichnenderweise findet Jensen seine Beispiele dann auch nicht im Russischen Konstruktivismus, sondern bei Marcel Duchamp und dem Verpackungskünstler Christo. – Gemeinsamkeiten zwischen dem Russischen Konstruktivismus und dem sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus sieht Keucheyan (2007: 24–32): darunter eine in Kantianismus, Marxismus und Nietzscheanismus verankerte Denktradition, eine anti-repräsentationalistische Grundhaltung und eine prozessuale Auffassung von Realität. 9 Vgl. Piaget 1967: 53f. und 1238. 10 Vgl. Le Moigne 1999: 38–41 und Le Moigne 2000: 150. Zur Relation von erkenntnistheoretischem Konstruktivismus und Brouwer vgl. auch Rockmore 2005: 31.

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allgemeinem erkenntnistheoretischen Interesse, bleibe aber doch in erster Linie eine mathematische Theorie.11 Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus zeichnet sich durch die Verbindung von Empirie und Epistemologie sowie durch seine Interdisziplinarität aus. Piagets epistemologische Überlegungen basieren beispielsweise ganz wesentlich auf seinen empirischen Studien zur kognitiven Entwicklung von Kindern. Ähnlich begannen Humberto Maturana, Ernst von Glasersfeld, Jean-Louis Le Moigne, Heinz von Foerster und Paul Watzlawick ihre Karrieren zunächst als Biologen, Linguisten, Ingenieure, Physiker, Mathematiker bzw. Psychologen, bevor sie sich zunehmend epistemologischen Problemen zuwandten.12 Konstruktivistisches Denken speist sich aber nicht nur aus den Erkenntnissen traditioneller Disziplinen, sondern ist zudem eng mit der Herausbildung der sog. ‚neuen Wissenschaften‘ wie Kybernetik, Kognitionswissenschaft, Kommunikations- und Informationswissenschaft, System- und Komplexitätstheorie verbunden.13 Ein Blick auf seine Entstehungsgeschichte zeigt, dass der Konstruktivismus nicht von Philosophen oder ‚professionellen Erkenntnistheoretikern‘ als stringente Theorie entworfen und dann in die einzelnen Wissenschaften hineingetragen wurde, sondern aus innerdisziplinären Debatten dieser Wissenschaften selbst entstand.14 In den sechziger bis achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich in verschiedenen Wissenschaftsbereichen unabhängig voneinander sehr ähnliche Konzepte ausgebildet, die eine Reflexion über die jeweils eigenen Modi der Wissensproduktion sowie, in der Folge, allgemeine erkenntnistheoretische Probleme auslösten. Zu diesen Konzepten gehören u.a. Nichtlinearität, Rekursivität, systemisches Denken und Ordnung. Zurückzukommen ist auf den Paradigmenbegriff, mit dem Le Moigne und andere versuchen, den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Konstruktivismen Rechnung zu tragen.15 Da er meist nicht weiter reflektiert wird, sind einige Überlegungen zu seiner Funktion und Brauchbarkeit angebracht. Der Paradigmenbegriff kann dazu dienen, das Spektrum der Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb des Begriffsfelds von Episteme und Epistemologie zu erweitern.16 Als Episteme lässt sich, anknüpfend an Foucault, jene unhintergehbare Ebene der epistemologischen Konstellation fassen, die sämtliche Strukturen, Ordnungen und Diskurse einer Epoche ordnet und beeinflusst, aber der Epoche selbst unbewusst 11 Vgl. Piaget 1967: 53. 12 Vgl. dazu exemplarisch Glasersfeld 1996: 22–55. 13 Einen Überblick über die Disziplinen, in denen der Konstruktivismus verbreitet ist, geben Schmidt 1987a sowie die Beiträge in Watzlawick 1990 und Schmidt 1987. Im Unterschied zum Radikalen Konstruktivismus und zu Le Moigne rekurriert Piaget nur auf die traditionellen, nicht die ‚neuen‘ Wissenschaften, für die er umgekehrt jedoch prägend war. Auf Piaget beruft sich die Kognitions- und Hirnforschung noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts (vgl. Quartz/Sejnowski 1997). 14 Vgl. Le Moigne 1999: 37. 15 Vgl. ebd. 9, Schmidt 1987a: 72–76 und Fischer 1995. 16 Die folgenden Überlegungen knüpfen an Hempfers (2007: 255–257) Überlegungen zur Relationierung von Foucaults ‚Episteme‘, Cassirers ‚Denkform‘ und Flecks ‚Denkstil‘ an.

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bleibt und erst rückblickend beschreibbar ist. Von dieser sehr abstrakten Ebene lassen sich dann konkrete Epistemologien, d.h. zeitgenössisch formulierte oder zumindest formulierbare Theorien, unterscheiden. Epistemologische Paradigmen wären hingegen, so mein Vorschlag, auf einer dazwischen liegenden Ebene anzusiedeln. Ein epistemologisches Paradigma wäre zum einen zeitgenössisch formulierbar, zum anderen nicht auf eine bestimmte Erkenntnistheorie zu beschränken, sondern könnte verschiedene Konkretisierungen annehmen. Anders als die Episteme, die immer monistisch ist, könnten zudem verschiedene epistemologische Paradigmen nebeneinander existieren.17 Neben einem konstruktivistischen Paradigma könnte es also auch ein positivistisch-realistisches Paradigma geben.18 Als Alternative zum Paradigmenbegriff kommt der von Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (§§ 66f.) geprägte Begriff der ‚Familienähnlichkeit‘ in Betracht, mit dem Razmig Keucheyan versucht, der Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Konstruktivismen Rechnung zu tragen.19 Gegenüber dem Paradigmenbegriff hat das Konzept der Familienähnlichkeit den Vorteil, gerade kein einzelnes paradigmatisches Merkmal vorauszusetzen, das allen Einzelepistemologien gemeinsam wäre. Eine Familienähnlichkeit kann nämlich auch zwischen Einheiten bestehen, die über kein gemeinsames Merkmal verfügen; es genügt, dass zwischen Teilmengen Ähnlichkeiten bestehen. Wittgenstein hat dies am Beispiel des ‚Spiels‘ illustriert: Auch wenn Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele und Kampfspiele kein Merkmal besitzen, das allen gemeinsam wäre, so gibt es zwischen manchen von ihnen dennoch Ähnlichkeiten und Verwandtschaften.20 Kartenspiele und Ballspiele haben etwas gemeinsam, Ballspiele und Kampfspiele etwas anderes; vermittelt über die Ballspiele sind dann Karten- und Kampfspiele Teil einer ‚Familie‘. Angewendet auf den Konstruktivismus würde dies bedeuten, dass es nicht eine Definition geben müsste, die auf alle konstruktivistischen Epistemologien passte, sondern dass es genügte, wenn zwischen einzelnen von ihnen Gemeinsamkeiten bestünden. Mein Vorschlag lautet, den Paradigmenbegriff mit dem der Familienähnlichkeit zu vermitteln bzw. ersteren dahingehend zu präzisieren, dass die innerhalb eines epistemologischen Paradigmas zusammengefassten Epistemologien über 17 Nach Kuhn (1976: 190) befinden sich die Geisteswissenschaften noch in der „präparadigmatischen“ Phase, in der diverse, teils unvereinbare Paradigmen nebeneinander bestehen, es aber, anders als in den Naturwissenschaften, noch kein dominantes Paradigma gibt. 18 Ob und wie stark sich ein epistemologisches Paradigma durchsetzen kann, hängt von sozialen und institutionellen (Macht-)Strukturen ab. Das Paradigma ist stets an soziale Akteure, eine ‚Gemeinschaft‘, gebunden (vgl. ebd. 87ff.). So ließe sich ggf. auch erklären, weshalb sich der Konstruktivismus im stark positivistisch geprägten Frankreich weniger deutlich als in Deutschland oder den USA etablieren konnte. Zu den wenigen französisch(sprachig)en Wissenschaftlern, die sich, abgesehen von Piaget, selbst als Konstruktivisten bezeichnen, gehören der Soziologe Bruno Latour (vgl. Latour 2003: 26 und Latour 2003a) und die Chemikerin und Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers. Zur Ablehnung des Konstruktivismus in Frankreich vgl. Le Moigne 1999a, Le Moigne 1999: 12–16 und Le Moigne 2002: 219; zur globalen Situation des Konstruktivismus vgl. Rockmore 2005: 1–3. 19 Vgl. Keucheyan 2007: 85–96. 20 Vgl. Wittgenstein 1984: 277f.

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eine Struktur der Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind. So präzisiert kann der Paradigmenbegriff eine Handhabe bieten, um sowohl weiter von dem Konstruktivismus zu reden als auch der Vielfalt konstruktivistischer Epistemologien Rechnung zu tragen, die darunter gemeinhin subsumiert werden. 2.2 ZUR ENTSTEHUNG DES KONSTRUKTIVISTISCHEN PARADIGMAS Der Konstruktivismus beruft sich auf eine Reihe von Vordenkern, die von den antiken Skeptikern über Leonardo da Vinci, die britischen Empiristen Locke, Hume und Berkeley, Vico und Kant bis hin zur modernen Physik (Einstein, Heisenberg), Mathematik (Poincaré, Brouwer) und Wissenschaftstheorie (Bachelard, Popper) reicht.21 Mit dem Verweis auf diese Ahnen wollen die Konstruktivisten nach eigenen Angaben zeigen, dass viele ihrer Thesen gar nicht unbedingt neu sind: Neu, betonen sie, sei bloß die Zusammenführung zu einer eigenständigen Theorie.22 Sicher geht es aber auch darum, eine möglichst weit zurückreichende Tradition konstruktivistischen Gedankenguts zu begründen, um der eigenen Theorie Autorität zu verleihen.23 Die entscheidenden Impulse für die Entstehung des Konstruktivismus gehen gleichwohl von den Wissenschaften und der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts aus. Darüber hinaus kommt dem im 19. Jahrhundert dominierenden Realismus bzw. Positivismus eine zentrale Rolle bei der Formierung der konstruktivistischen ‚Gegenbewegung‘ zu. Im Bereich der Wissenschaftstheorie fordert Gaston Bachelard schon 1934 in Le Nouvel esprit scientifique eine neue Epistemologie, eine „épistemologie non-cartésienne“.24 Und nur vier Jahre später, in La Formation de l’esprit scientifique (1938), schreibt er in deutlichem Bekenntnis zur Konstruktivität des Erkenntnisobjekts: [D]ans la vie scientifique, les problèmes ne se posent pas d’eux-mêmes. […] Pour un esprit scientifique, toute connaissance est une réponse à une question. S’il n’y a pas eu de question, il ne peut y avoir de connaissance scientifique. Rien ne va de soi. Rien n’est donné. Tout est construit.25

Und doch ist Bachelard kein Konstruktivist, denn ein konstruktives Tun sieht er allein im wissenschaftlichen, nicht aber im gewöhnlichen Erkenntnisakt gegeben. Konstruiert ist für ihn also ausschließlich das wissenschaftliche Objekt.26 Von den Konstruktivisten wird er gleichwohl hoch geschätzt, weil er mit der Revision des 21 Rockmore (2005: 47) nennt als Vertreter von „some form of constructivism“ zudem Bertrand Russell, Edmund Husserl, Alfred North Whitehead, Rudolf Carnap, Nelson Goodman, Ludwik Fleck, Thomas Kuhn, Richard Rorty, Paul Feyerabend und John Searle. 22 Vgl. Glasersfeld 1996: 56, Le Moigne 1999: 38 und Schmidt 1987a: 40. 23 Vgl. etwa Glasersfeld 1985: 1f., Glasersfeld 1996: 56–93, Le Moigne 1999: 35–65 und Rockmore 2005: 29–52, insb. 32 und 47. 24 Bachelard 1968: 135. 25 Bachelard 1965: 14. 26 Vgl. dazu auch Fichant 2000: 150.

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wissenschaftlichen Objektbegriffs zur Infragestellung des positivistisch-realistischen Paradigmas beigetragen habe.27 Den entscheidenden Schritt macht Jean Piaget. Anders als Bachelard hält der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe auch das gewöhnliche (Welt-)Wissen für konstruiert – was ihm den Ruf des ‚Vaters‘ des (jüngeren, erkenntnistheoretischen) Konstruktivismus einträgt. Die These, dass der Mensch seine gesamte Erfahrungswirklichkeit aufgrund von selbst konstruierten kognitiven Schemata aufbaut, hat Piaget schon 1937 in seiner entwicklungspsychologischen Studie La Construction du réel chez l’enfant niedergelegt. Dreißig Jahre später präsentiert er in Logique et connaissance scientifique (1967) eine systematisierte Zusammenfassung seiner epistemologischen Überlegungen.28 Darin prägt er für das neue erkenntnistheoretische Paradigma den Begriff Konstruktivismus („constructivisme“) bzw. konstruktivistische Epistemologien („épistémologies constructivistes“).29 Dieses neue Paradigma, unter das Piaget auch seine eigene „épistémologie génétique“ subsumiert, wird von ihm explizit als Alternative zum realistisch-positivistischen Paradigma konzipiert.30 In den siebziger und achtziger Jahren hat sich der Konstruktivismus in Europa und Amerika nach und nach institutionalisiert, und zwar sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen.31 Einem breiteren, nichtwissenschaftlichen Publikum bekannt geworden ist der Konstruktivismus dabei nicht zuletzt durch Paul Watzlawicks populäres Buch How Real is Real? (1976). Diese zweite Generation von Konstruktivisten (von Glasersfeld, von Foerster, Le Moigne u.a.) sieht Piagets Arbeit als eine Pionierleistung, die sie selbst weiterentwickelt hat. Der sog. Radikale Konstruktivismus situiert sich dabei in direkter Nachfolge Piagets, ergänzt, untermauert und modifiziert dessen Thesen aber durch Ideen der Kybernetik und neurobiologische Erkenntnisse aus Maturanas Theorie autopoietischer Systeme. Autopoiesis meint in der Biologie die Selbsthervorbringung und -erhaltung eines Organismus bzw. Systems: „Ein autopoietisches System ist nach dieser Theorie [Maturanas] ein System, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält“.32 Aufschlussreich ist, dass die zweite Generation der Konstruktivisten in Piagets Schriften noch einige ‚Reste von Realismus‘ moniert. Daran wird deutlich, dass sich der Konstruktivismus zumindest in Teilen radikalisiert hat und nun einen gesteigerten Antirealismus vertritt.33 Dies zeigt sich beispielsweise an der Rolle, die dem Objekt im Konstruktionsprozess zugeschrieben wird. Wo Piaget 27 Vgl. Le Moigne 1999: 55–57. 28 Piaget hat mehrere Kapitel dieser von ihm edierten Pléiade-Enzyklopädie über die epistemologischen Probleme der Wissenschaften selbst verfasst, u.a. die zur Mathematik, Physik und den Humanwissenschaften (vgl. Piaget 1967: 554–596, 599–622, 754–778 und 1114–1146). 29 Vgl. ebd. 1238–1246, insb. 1243f. 30 Vgl. ebd. 1243ff. Zur „épistémologie génétique“ vgl. Piaget 1970a. 31 Vgl. Le Moigne 1999: 62–65. 32 Roth 1987a: 258. 33 Vgl. insb. Le Moigne 2001a: 203–207 und Le Moigne 1999: 4–35.

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sowohl Beiträge des Subjekts als auch des Objekts sieht, halten einige jüngere Konstruktivisten die Wissenskonstitution für deutlich stärker subjekt- als objektdeterminiert.34 Dabei verläuft der Bruch allerdings durch den Radikalen Konstruktivismus selbst. Während von Glasersfeld Piagets Meinung teilt, dass auch die Struktur des Objekts Einfluss auf die Wirklichkeitskonstruktion nimmt und diese daher nicht beliebig ist, gestehen Maturana und Varela nur zu, dass das Objekt Veränderungen im kognitiven System durch Impulse auslöst, nicht jedoch, dass es die konkrete Beschaffenheit dieser Veränderungen mitbestimmt.35 2.3 DIE KONSTRUKTIVISTISCHE KOGNITIONSTHEORIE36 Der Konstruktivismus versteht sich nicht als Weltanschauung, sondern nur als eine Theorie des Wissens und der Erkenntnis.37 Deren Kern bildet eine Kognitionstheorie, die dann in eine umfassende Neukonzeption von Wirklichkeit, Wissen und Erkenntnis mündet.38 Die Kognitionstheorie basiert ihrerseits ganz zentral auf Piagets Thesen zur kognitiven Entwicklung von Kindern und auf Maturanas Idee der ‚operationalen Geschlossenheit‘ von Nervensystemen. Sowohl Piaget als auch Maturana kommen zu dem Ergebnis, dass sämtliche kognitiven Strukturen, einschließlich der ‚Wirklichkeit‘, Konstrukte neuronaler Prozesse sind. Kognition bzw. Erkenntnis wird im Konstruktivismus weniger als psychischer denn biologischer Prozess aufgefasst. Maturana definiert: „Kognition ist ein biologisches Phänomen und kann nur als solches verstanden werden. Jegliche epistemologische Einsicht in den Bereich der Erkenntnis setzt dieses Verständnis voraus.“39 Maturana nennt seinen Ansatz entsprechend eine „biologische Epistemologie“ oder auch „Biologie der Kognition“; und schon Piaget spricht von „der biologischen Erklärung des Wissens“.40 Daher wird der Konstruktivismus gelegentlich auch als biologische Erkenntnistheorie bezeichnet.41 Das konstruktivistische Welt- und Menschenbild kann jedenfalls als ein szientistisches gelten. 34 Für Piaget besteht die Konstruktion aus einer „interaction indissociable entre les apports du sujet et ceux de l’objet“ (Piaget 1967: 1243f.). Allerdings schreibt auch er dem Subjekt den aktiven Part an der Konstruktion zu: „[L]’enfant organise ses schèmes moteurs et élabore des relations opératoires plus qu’il ne subit passivement la pression des faits“ (Piaget 1973: 83; Herv. C. S.). Allgemein zur Rolle des Objekts im Konstruktivismus vgl. Le Moigne 2001: 15f. 35 Vgl. Maturana/Varela 1987: 185. 36 Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf die Konzepte Piagets, Le Moignes sowie der Radikalkonstruktivisten (von Glasersfeld, Maturana, Rusch, u.a.). 37 Als bloße Theorie erhebt der Konstruktivismus ausdrücklich weder Anspruch auf objektive Wahrheit noch auf ausschließliche Gültigkeit. Er will nur ein (falsifizierbares) Modell der Wissenskonstitution sein. Vgl. Glasersfeld 1996: 23 und 50. 38 Es handelt sich genau genommen nicht um eine geschlossene Theorie, sondern um diverse kognitionstheoretische Annahmen aus unterschiedlichen konstruktivistischen Theorien. 39 Maturana 1982a: 33. 40 Maturana 1982, Maturana 1982a und Piaget (hier zit. nach Glasersfeld 1996: 101). 41 Vgl. Simon 2006: 50.

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Kognition heißt für Piaget, dass das Subjekt nach und nach immer differenziertere kognitive Schemata ausbildet, mit denen es die Welt erfasst bzw. seine persönliche (Erlebens-)Wirklichkeit konstruiert. Dabei ist ‚Konstruieren‘ „nicht als ein bewusster Prozess zu verstehen in dem Sinne, in dem etwa ein Ingenieur eine Brücke konstruieren würde, sondern als unbewusster Prozess, bei dem Erfahrungen geordnet und zueinander mehr oder weniger konsistent in Beziehung gesetzt werden“.42 Ebenso wird ‚Erkennen‘ als eine aktive, aber nicht zwangsläufig auch bewusste Tätigkeit des Subjekts gefasst. Die Ausbildung der kognitiven Schemata erfolgt nach Piaget in einem dialektischen Prozess von Assimilation und Akkomodation. Assimilation meint das Subsumieren neuer Erfahrungen unter bereits vorhandene Schemata. Wenn diese Subsumtion nicht oder nicht vollständig gelingt, muss das Subjekt seine Schemata akkomodieren, d.h. so anpassen, dass sich die neuen Erfahrungen einordnen lassen. Akkomodation bedeutet also Modifikation der Schemata und führt zu einer Veränderung bzw. Erweiterung der Klassifikationsmöglichkeiten. Nach Piaget sind Assimilation und Akkomodation untrennbar miteinander verbunden, bilden zwei komplementäre Pole ein und desselben Prozesses.43 Dieser Prozess wird von Piaget als Äquilibration bezeichnet, weil er das kognitive System im Gleichgewicht hält.44 Entscheidend ist also nicht nur, dass neue Erfahrungen immer nur unter Maßgabe bereits vorhandener Schemata gemacht werden, sondern auch, dass diese neuen Erfahrungen ihrerseits wieder auf die Struktur der schon vorhandenen Schemata zurückwirken und diese modifizieren. Piaget resümiert dies so: „L’intelligence […] organise le monde en s’organisant elle-même“.45 Die späteren Konstruktivisten sprechen hier auch von der Selbstbezüglichkeit, Rekursivität bzw. Zirkularität kognitiver Prozesse.46 Die Neurobiologen Maturana und Varela kommen in ihrer Theorie autopoietischer Systeme zu ähnlichen Ergebnissen. Gehirn und Nervensystem sind kognitivinformationell geschlossene Systeme, d.h. sie interagieren diesbezüglich immer nur mit sich selbst bzw. auf Basis ihrer eigenen Strukturen (materiell-energetisch dagegen sind sie offen, d.h. es können Nährstoffe und Mineralien mit der Umwelt

42 Simon 2006: 68. 43 Vgl. Piaget 1973: 309. Zu Details, wie etwa der zunehmenden Verflechtung von Assimilation und Akkomodation im kognitiven Prozess, vgl. ebd. 307–313. 44 Vgl. dazu auch Glasersfeld 1996: 119–121. 45 Piaget 1973: 311. 46 Die Rekursivität kognitiver Prozesse wird mitunter auch mit dem kybernetischen Prinzip der ‚negativen Rückkopplung‘ verglichen, wie es z.B. beim Thermostat vorkommt: Das Resultat einer Regulierung wird seinerseits zum Ausgangspunkt einer neuen Regulierungstätigkeit; der eigene Output steuert als neuer Input das weitere Verhalten des Systems (vgl. Foerster 1985, insb. 51). Die Konstruktivisten weisen aber darauf hin, dass die Input-Output-Vorstellung der kybernetischen Rückkopplung der menschlichen Kognition insofern unangemessen ist, als kognitive Information gerade nichts ist, das von außen ‚importiert‘ würde, sondern erst im System selbst entsteht. Zum konstruktivistischen Rekurs auf die Kybernetik vgl. Foerster 1987, Richards/Glasersfeld 1987, insb. 196–202, Glasersfeld 1996: 237–258, insb. 246ff. und Schmidt 1987a: 12 und 17f.

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ausgetauscht werden).47 Das Gehirn ist demnach ein System, das „nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß“.48 Es empfängt keine Information, sondern erschafft sie, unter Maßgabe biologischer Gegebenheiten und des Funktionierens der Sinnesorgane, selbst.49 Information ist so gesehen nichts, was von außen durch die Sinnesorgane ins Gehirn hineingelangen würde, sondern ein neuronaler Zustand, der vom Gehirn selbst gebildet bzw. eingenommen wird. Wahrnehmung, heißt es, vollziehe „sich nicht in den Sinnesorganen […], sondern in spezifischen sensorischen Hirnregionen“: Laut Gerhard Roth „sehen wir nicht mit dem Auge, sondern mit, oder besser in den visuellen Zentren des Gehirns“.50 Hieraus leitet sich die zentrale erkenntnistheoretische These ab: Wenn Wahrnehmung und Erkenntnis vom Subjekt immer nur im Rückgriff auf die eigenen, internen Schemata konstruiert werden, können sie unmöglich ein getreues Abbild der äußeren Welt liefern.51 Generell lasse sich kein systematischer Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Umwelt feststellen, der es erlauben würde, verlässlich auf die Struktur der äußeren Welt zu schließen.52 Wissen spiegelt demnach nie die objektiven Gegebenheiten der äußeren Welt, sondern besteht in der Organisation einer – auf Basis subjektiver Erfahrung – selbstkonstituierten Wirklichkeit. Damit bildet die skizzierte Kognitionstheorie das Fundament der konstruktivistischen Grundthese, dass wir niemals sicher wissen können, ob unsere Wirklichkeitsmodelle mit der Welt, wie sie ‚wirklich‘ ist, übereinstimmt. Hieraus also gewinnt der Konstruktivismus seine dezidiert antirealistische Stoßrichtung.

47 Vgl. Maturana/Varela 1987: 180, Varela 1987: 124-126 und Roth 1987a: 263, ferner Schmidt 1987a: 14f. und Simon 2006: 34. – Die These lautet nicht, dass das Gehirn solipsistisch arbeite, denn Impulse erhält das neuronale System ja durchaus von der Umwelt (vgl. dazu Maturana/Varela 1987: 185). Es geht nur darum, dass die Umwelt keinen unmittelbaren Einfluss auf die internen Strukturen des Systems hat, das System also entsprechend nicht von außen steuern kann. Die Impulse der Umwelt können das neuronale System perturbieren und zur Äquilibrierung zwingen (vgl. ebd. 180). Diese äußeren Reize sind für das System aber nur quantitativ, nicht qualitativ messbar – ein Phänomen, das laut von Foerster (1987: 138) als „Prinzip der undifferenzierten Codierung“ bekannt ist: „Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache. (Codiert wird nur: ‚Sound-so viel an dieser Stelle meines Körpers‘ aber nicht ‚was‘)“. 48 Roth 1987: 235. Vgl. zusammenfassend auch Schmidt 1987a: 14–17. 49 Vgl. Roth 1987a: 275. 50 Schmidt 1987a: 14, unter Verwendung eines Zitats von Roth. 51 Vgl. Glasersfeld 1985: 17 und 19f. 52 Vgl. Roth 1995: 48.

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2.4 GRUNDTHESEN KONSTRUKTIVISTISCHER ERKENNTNISTHEORIE 2.4.1 Antirealismus und Antiessentialismus Der konstruktivistische Antirealismus geht mit einem ausgeprägten Antiessentialismus einher.53 Wenn, so das Argument, alle Wirklichkeit ein kognitives Konstrukt und damit stets Erfahrungswirklichkeit ist, kann es grundsätzlich keine objektive, beobachterunabhängige Erkenntnis geben. Über eine erfahrungsjenseitige Wirklichkeit oder ein ‚eigentliches Wesen‘ der Dinge kann man nichts wissen.54 Der Konstruktivismus trennt also zwischen einer kognitiv unzugänglichen ontischen Welt und den subjektiv konstruierten und einzig zugänglichen kognitiven Wirklichkeiten (qua menschlichen Modellen der Welt). Dass sich das menschliche Wissen auf die kognitive(n) Wirklichkeit(en) beschränkt, betont auch Edgar Morin, der als Wegbereiter des französischen Konstruktivismus gilt.55 Er plädiert für eine „connaissance qui devrait connaître son ignorance“, ein Wissen, das sich seiner Unwissenheit bewusst ist.56 Diese Idee ist, wie noch zu sehen sein wird, für Robbe-Grillets Ästhetik zentral. An dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, dass der Konstruktivismus keinen Solipsismus vertritt: Er leugnet nicht die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Welt, sondern nur ihre Intelligibilität.57 Der Konstruktivismus versucht daher, strikt zwischen Epistemologie und Ontologie zu trennen und sich ontologischer Aussagen ganz zu enthalten.58 Le Moigne grenzt in diesem Zusammenhang auch die ‚phänomenologische Hypothese‘ des Konstruktivismus von der ‚ontologischen Hypothese‘ des Realismus-Positivismus ab.59 2.4.2 Viabilität statt Objektivität und Wahrheit Das Neue des Konstruktivismus ist die Radikalität, mit der die Intelligibilität der Welt, der Erwerb sicheren, objektiven (im Sinne von beobachterunabhängigen) 53 Den Essentialismusvorwurf erheben die Konstruktivisten mehr oder weniger pauschal gegenüber allen realistischen, positivistischen und naturalistischen Epistemologien. Vgl. Le Moigne 2001a: 203 und Rockmore 2005: 10f. 54 Vgl. Schmidt 2004: 706, Le Moigne 1999: 16–24 und Le Moigne 2001: 132. 55 „Dès lors nous apparaît le champ réel de la connaissance: c’est celui, non d’un univers en soi, mais d’un univers vu/perçu/conçu par un esprit humain hic et nunc, c’est-à-dire un univers d’où on ne peut exclure l’esprit humain qui le considère“ (Morin 1990: 89). – Zu Morin als Wegbereiter des französischen Konstruktivismus vgl. Le Moigne 2001: 17 und 126, Le Moigne 1999: 65 und Gumin/Mohler 1985a: VIII. 56 Morin 1990: 99. 57 Vgl. Schmidt (1987a: 35) unter Rekurs auf von Glasersfeld: Der Radikale Konstruktivismus „leugnet nicht ‚die Wirklichkeit‘; er sagt nur, ‚… daß alle meine Aussagen über diese Wirklichkeit zu hundert Prozent mein Erleben sind‘.“ Zur Entgegnung auf den Solipsismusvorwurf vgl. auch Schmidt 1989: 322, Le Moigne 2001: 133 und Glasersfeld 1985: 18f. 58 Vgl. Glasersfeld 1987: 411. 59 Vgl. Le Moigne 2001: 133 und Le Moigne 1999: 70–74.

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Wissens und wahrer Erkenntnis infrage gestellt wird. Unter Verweis auf die unhintergehbare Subjektivität jeder Wirklichkeitskonstruktion wird der traditionelle Objektivitätsbegriff ebenso aufgegeben wie die Idee einer absoluten Wahrheit.60 Als Vorbild dienen hier die modernen Naturwissenschaften, die vor dem Hintergrund der Standortgebundenheit aller Erkenntnis „den alten Begriff der ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘ längst aufgegeben“ haben und ihre Modelle, „sobald sie nicht mehr brauchbar sind, durch andere ersetz[en].“61 Wissen und Erkenntnis werden im Konstruktivismus an einem neuen Maßstab gemessen: nicht mehr an dem der Wahrheit, sondern der „Viabilität“.62 Von Glasersfeld hat dieses Konzept anhand folgender Allegorie veranschaulicht.63 Ein blinder Wanderer irrt durch den Wald, bis er sein Ziel, den Fluss, erreicht. Auf seinem Weg stößt er allerdings immer wieder gegen Hindernisse (Bäume, Steine u.Ä.). Obwohl er auf seinem Weg einen Eindruck von der Umgebung bekommen hat, stellt dieser Eindruck kein objektives Bild des Waldes dar. Der Wanderer kann am Ende nicht sagen, wie der Wald ist, sondern nur, wie er ihn erfahren hat. Zum einen illustriert das Beispiel die Grenzen menschlicher Erkenntnis: Wie der Wanderer erfährt der Mensch die Welt nur als ‚Hindernis‘, gerät mit seinem Wissen an die Schranken der Wirklichkeit. Die ontische Welt, so von Glasersfeld, beginne „eben dort, wo das, was wir als Handeln erleben, behindert wird oder scheitert.“64 Bestenfalls passe unser Wissen zur Welt, es könne sie aber „nicht ikonisch widerspiegeln“.65 Zum alleinigen Kriterium für ‚gutes‘ Wissen wird so das ‚Passen‘: Die Konstruktionen müssen sich in der Praxis bewähren, müssen funktionieren.66 Zum anderen zeigt das Beispiel, dass es keinen objektiv richtigen Weg gibt, denn der Waldläufer hätte sein Ziel auch auf anderen, ebenso viablen Wegen erreichen können. Für ihn ist es letztlich unerheblich, wie der Wald objektiv beschaffen ist, solange er so unkompliziert wie möglich ans Ziel kommt. Ebenso müssen unsere Wirklichkeitskonstruktionen kein wahres Bild, sondern nur ein viables Modell der Welt liefern.67 Verschiedene (kognitive) Wirklichkeiten können sich somit als gleichermaßen passend erweisen. Diese Pluralisierung des Wirklichkeitsbegriffs geht mit seiner Historisierung einher. An die Stelle einer überzeitlichen Realität tritt eine Reihe alternativer 60 Der Konstruktivismus kritisiert sowohl den älteren, ontologischen Objektivitätsbegriff, dem es um die Beschreibung einer subjektunabhängigen ontischen Welt geht, als auch die ‚aperspektivische Objektivität‘ des Positivismus, die auf die Enthaltung von subjektiv gefärbten und emotionalen Urteilen zielt. Zu den verschiedenen Formen von Objektivität vgl. Newell 1986: 16–38 und Daston 2001: 142f. – Zur Ablehnung des traditionellen Objektivitäts- sowie Wahrheitsbegriffs vgl. Glasersfeld 1985, Le Moigne 2001: 133 und Schmidt 1987a: 34-38. 61 Gumin/Mohler 1985a: VIII. 62 Glasersfeld 1996: 43. Le Moigne (1999: 87) spricht hier von „faisabilité“, „effectivité“ bzw. „constructibilité“. 63 Vgl. Glasersfeld 1985: 9–11. 64 Ebd. 19. 65 Ebd. 25. 66 Ebd. 18f. Die Argumentation versteht sich als eine offen instrumentalistische (vgl. ebd. 8). 67 Während der Begriff des ‚Weltbildes‘ eine Abbildbarkeit der Welt suggeriert, macht der des ‚Welt- bzw. Wirklichkeitsmodells‘ den Konstruktcharakter terminologisch explizit.

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Wirklichkeitsmodelle, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gültigkeit haben können. Aus der Pluralisierung folgt allerdings keine Beliebigkeit: Auch wenn es kein richtiges Modell gibt, so kann es doch falsche, unpassende Konstruktionen geben. Viabilität impliziert eben auch, dass nicht jedes Wirklichkeitsmodell zur Welt passt. Für den Waldläufer heißt dies, dass er, immer wenn er gegen ein Hindernis stößt, sein Wirklichkeitsmodell ‚anpassen‘ (akkomodieren) muss. Die Idee, dass etwas unwahr sein kann, hat der Konstruktivismus also keineswegs aufgegeben.68 Das Kriterium der Viabilität ist von den Konstruktivisten wiederholt in die Nähe von Poppers Falsifizierbarkeitskriterium gerückt worden.69 Nach Popper ist eine wissenschaftliche Theorie grundsätzlich nicht verifizierbar, sondern kann sich nur vorläufig bewähren, d.h. sie gilt nur so lange, bis sie falsifiziert ist. Des Weiteren muss eine Theorie zumindest prinzipiell falsifizierbar sein, sonst ist sie keine wissenschaftliche Theorie.70 So ist für Popper eine Theorie, die sich grundsätzlich gegen Kritik bzw. Widerlegung immunisiert, keine wissenschaftliche Theorie. Zu solchen pseudowissenschaftlichen Theorien zählt er u.a. den Marxismus und die Psychoanalyse.71 Wissenschaftliche Theorien (z.B. philosophische, mathematische, mythologische, religiöse oder metaphysische Theorien) zeichnen sich dagegen, so Popper, durch eine kritische, nichtdogmatische Haltung aus.72 Nach Ansicht der Konstruktivisten müssen auch unsere Wirklichkeitsmodelle falsifizierbar sein: Es seien nur ‚Theorien über die Welt‘, nur heuristische Konstrukte, die als unbrauchbar verworfen und ersetzt werden können müssen.73 Entsprechend versteht sich der Konstruktivismus auch selbst nur als eine viable, falsifizierbare „Auffassung des Wissens oder Wissenstheorie“ unter anderen.74 Der Konstruktivismus gesteht anderen Theorien und Epistemologien also durchaus eine Existenzberechtigung zu. Le Moigne beispielsweise kritisiert nicht das realistische Paradigma an sich, sondern seinen Alleingültigkeitsanspruch: Der Realismus sei nur eine mögliche Theorie der Welt, weder die einzige und schon gar nicht die einzig richtige.75 Der Konstruktivismus steht damit nicht nur für eine Pluralisierung des Wirklichkeitskonzepts, sondern auch für eine Pluralisierung epistemologischer Modelle. Zu beachten ist schließlich, dass Viabilität auch einen intersubjektiven Aspekt hat. Denn es genügt nicht, dass eine Konstruktion für den Konstrukteur allein viabel ist, sie muss auch intersubjektiv bestätigt werden, d.h. mit den Konstruktionen anderer Subjekte in Einklang zu bringen sein. Der intersubjektive Abgleich von Konstruktionen erfolgt durch Kommunikation (im weitesten Sinne). Gleichwohl 68 Vgl. Simon 2006: 71. 69 Vgl. ebd. 71 und Glasersfeld 1996: 313. 70 „[T]he criterion of the scientific status of a theory is its falsifiability, or refutability, or testability“ (Popper 1963: 37; Herv. aufgehoben). 71 Vgl. ebd. 37f. und passim. 72 Vgl. ebd. 50–52. 73 Vgl. Gumin/Mohler 1985a: VIII. 74 Glasersfeld 1996: 23. 75 Vgl. Le Moigne 2001a: 203.

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kann Subjekt A nie wissen, was Subjekt B ‚wirklich‘ konstruiert hat, denn jedes Subjekt ist aus der Sicht eines anderen auch ‚nur‘ ein Konstrukt. Verständigung erfolgt nach von Glasersfeld daher so, dass das eine Subjekt dem anderen die eigenen Erfahrungen ‚unterschiebt‘, also davon ausgeht, dass der andere über die gleichen Erfahrungen (Fähigkeiten, Methoden, Intentionen usw.) verfügt wie es selbst, sofern nichts gegen diese Annahme spricht.76 Die Notwendigkeit intersubjektiver Bestätigung zeigt nochmals, dass die Wirklichkeitskonstruktion nichts Beliebiges ist. Es stehe außer Frage, so von Glasersfeld, „daß ich die anderen brauche, um meine Wirklichkeit zu stabilisieren; daß ich also keineswegs frei bin, genausowenig frei in dem Sinne, daß ich mir konstruieren kann, was ich will“.77 Wissen ist insofern immer auch ein soziales Konstrukt.78 2.4.3 Die wechselseitige Konstitution von Subjekt und Objekt Auch das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist von den Konstruktivisten neu gedacht worden: als eines der wechselseitigen Konstitution. Hintergrund ist die Vorstellung, dass im Akt der Erkenntnis nicht nur das Subjekt das Objekt formt, sondern umgekehrt das Objekt auf das Subjekt zurückwirkt, insofern das Subjekt bei der Konstitution des Objekts seine Schemata anpassen muss und damit seine eigene Struktur verändert. Das Subjekt, so Piaget, konstruiert seine Welt, indem es sich selbst konstruiert: „[L]’intelligence […] organise le monde en s’organisant elle-même“.79 Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt löst sich damit auf: [L]e sujet n’est plus face à l’objet, – et sur un autre plan –, à le regarder tel qu’il est ou à travers des lunettes structurantes: il plonge dans l’objet par son organisme, nécessaire à l’action, et réagit sur l’objet en l’enrichissant des apports de l’action; […]. En bref, il n’y a plus en droit de frontière entre le sujet et l’objet.80

Le Moigne hat diese Idee der wechselseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt an einem Gedicht von Antonio Machado illustriert, in dem es heißt, dass der Weg erst durch die Schritte des Wanderers entsteht.81 Denn nicht nur bringen die Schritte des Wanderers den Weg erst hervor, sondern das Gehen des Weges verändert auch den Wanderer (bzw. seine Erfahrung). Hinzuzufügen wäre, dass die subjektive Erfahrung des Weges nichts darüber aussagt, wie der Weg ‚eigentlich‘ beschaffen ist, dass jedoch die Spuren durchaus in gewisser Weise Auskunft über den geben, der ihn betreten hat (z.B. hinsichtlich Größe und Form der Schuhe). 76 Den Begriff des ‚Unterschiebens‘ übernimmt von Glasersfeld (1987: 416) von Kant. 77 Ebd. 413. 78 Hier trifft sich der Konstruktivismus mit konventionalistischen Ansätzen, die Wahrheit als eine Frage der Konvention betrachten. Vgl. dazu Fischer 1995a: 30f. 79 Piaget 1973: 311. Vgl. dazu auch Le Moigne 1999: 70f. und 74. 80 Piaget 1967: 1244. 81 „Caminante, son tus huellas/ el camino, y nada más;/ caminante, no hay camino,/ se hace camino al andar“ (Strophe XXIX der „Proverbios y cantares“ aus Campos de Castilla [1907– 1917], in: Machado 1989: 575; zitiert bei Le Moigne 1999: 120).

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Allgemein gesprochen: Die Art und Weise, wie ein Objekt von einem Subjekt konzipiert ist, sagt nichts über die ‚objektive‘ Struktur des Objekts, aber sehr wohl etwas (wenn auch nicht alles) über Perspektive und Disposition des Subjekts aus. 2.4.4 Ordnung und Unordnung Eine wichtige Rolle spielen im Konstruktivismus die Kategorien Ordnung und Unordnung. Aus der Konstruktivität der Wirklichkeit wird zum einen abgeleitet, dass jede Ordnung menschengemacht ist, es also nicht eine richtige, ‚natürliche‘ Ordnung, sondern verschiedene mögliche Ordnungen der Welt gibt. Auch das, was wir ‚Natur‘ nennen, erscheint so als Konstrukt. Zum anderen gelten Ordnung und Unordnung als Beobachterkategorien: Die Kriterien dafür, was als Ordnung oder Unordnung gilt, werden stets durch ein beobachtendes Subjekt gesetzt.82 Die Arbitrarität unserer (normativen) Ordnungen zeigt sich am Beispiel des Kartenspiels. Nach dem Mischen der Karten ist keine Reihenfolge wahrscheinlicher als eine andere. Selbst wenn sich eine nach Farben und von As bis König ‚geordnete‘ Folge ergäbe, so scheint es uns nur so, als sei diese Folge ‚unwahrscheinlicher‘ als eine andere – eben weil ausgerechnet sie es ist, die unserer willkürlichen Norm von Ordnung entspricht.83 Ganz wesentlich hängt unsere Ordnung der Welt von unserer Sprache und unseren Begriffen ab. Die begriffliche Gliederung der Welt aber ist, wie die Sprachwissenschaft seit langem lehrt, vollkommen arbiträr. Schon die verschiedenen Sprachen gliedern die Welt unterschiedlich. In Anlehnung an die Chaos- bzw. Komplexitätstheorie wird die Kategorie der Unordnung durch die Konstruktivisten aufgewertet.84 Unordnung wird nicht mehr als bloße Abwesenheit, sondern Voraussetzung für Ordnung gesehen. Neue Ordnungen konstituieren sich, so auch Edgar Morin in seinem Dialogue de l’ordre et du désordre (1980), erst im dialektischen Zusammenspiel von Ordnung und Unordnung.85 Wie die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung nahelegen, scheinen 82 Gemeint ist hier kein individuelles, sondern epistemisches Subjekt (also ein theoretisches Konstrukt). 83 Vgl. Watzlawick 1978: 67f. 84 Weil die Chaostheorie nicht nur eine Theorie der Unordnung, sondern auch vom Entstehen von Ordnung ist, wird sie auch Komplexitätstheorie genannt (vgl. Simon 2006: 27). Zu den Pionieren der Chaosforschung gehören Ilya Prigogine und Isabelle Stengers, die nachgewiesen haben, dass sich auch in chaotischen Systemen Strukturen von Ordnung bilden können (vgl. Prigogine/Stengers 1979). Die Chaostheorie hat insbesondere in den achtziger Jahren auch außerhalb der Wissenschaften große Aufmerksamkeit erfahren und ist (meist in popularisierter Form) in diverse Felder der (Massen-)Kultur, Philosophie, Kunst und Literatur eingegangen. Genannt seien hier nur James Gleicks Bestseller Chaos (1987), N. Katherine Hayles’ literatur- und kulturwissenschaftliche Studie Chaos Bound (1990), Deleuzes und Guattaris Qu’est-ce que la philosophie? (1991) und Thomas Pynchons Roman Gravity’s Rainbow (1973). Zur Bedeutung der Chaos- bzw. Komplexitätstheorie für den Konstruktivismus vgl. Simon 2006: 27–31. 85 „[S]i l’ordre se développe en même temps que les organisations, celles-ci (noyaux, atomes, molécules, soleils, organisations vivantes) se constituent avec la coopération du désordre

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auch selbstorganisierte, komplexe Systeme wie das menschliche Gehirn ihre „Innovationsfähigkeit, Kreativität und Adaptationsfähigkeit gerade daher [zu] beziehen, dass sie ‚am Rande des Chaos‘ operieren.“86 Unsicherheit und Ambiguität wirken, so Morin, geradezu stimulierend auf die Intelligenz.87 2.4.5 Kontinuität, Kausalität, Raum und Zeit Auch die traditionellen Konzepte von Zeit, Raum, Kausalität und Kontinuität werden vom Konstruktivismus infrage gestellt. Die Einsicht, dass diese ‚Grundpfeiler‘ der Wirklichkeit nur kognitive Konstrukte sind, bildet sogar den Ausgangspunkt von Piagets erkenntnistheoretischen Überlegungen. Denn schon 1937 stellte er fest, dass sich beim Kind die Begriffe Kontinuität (bzw. Objektpermanenz), Raum, Zeit und Kausalität erst ganz allmählich ausbilden. Erst nach und nach, im Lauf der kognitiven Entwicklung, formen diese Konstrukte das, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen: ein vom Subjekt unabhängiges, stabiles, raum-zeitlich und kausal geordnetes Universum. Zentral ist dabei Piagets Erkenntnis, dass sich diese Grundbegriffe der Welterfassung in wechselseitiger Abhängigkeit ausbilden: La constitution de l’objet est donc inséparable de celle de l’espace, du temps et de la causalité […]. [I]nversement, ce n’est qu’en parvenant à la croyance en la permanence de l’objet que l’enfant parvient à ordonner l’espace, le temps et la causalité […].88

Das Gesamtsystem ‚Wirklichkeit‘ steht und fällt also mit jedem einzelnen dieser Konzepte. Sobald eines defizitär ist, sind davon auch die anderen betroffen. Ist beispielsweise das Zeitempfinden beeinträchtigt, lassen sich keine stabilen Kausalrelationen mehr etablieren, da diese untrennbar mit der Idee einer Abfolge verbunden sind. Und umgekehrt verliert die Zeit ihre Gerichtetheit, wenn sich Objekte nicht mehr zu kausalen, irreversiblen Reihen verbinden lassen. Die Zeitvorstellung nimmt ebenfalls Schaden, wenn die Objekte keine Permanenz mehr aufweisen, also nicht mehr ‚als dieselben‘ wiedererkannt werden. Schon ein defizitäres Element hebt also das ganze System aus den Angeln: Das Weltbild wird instabil. Im Rahmen der folgenden Darstellung der jeweiligen konstruktivistischen Konzeption von Kontinuität, Kausalität, Raum und Zeit wird es auch zwei Exkurse zu Teilaspekten von Kausalität geben, die bei der späteren Beschäftigung mit Robbe-Grillet von besonderer Bedeutung sein werden.

(agitation, rencontres aléatoires)“ (Morin 1990: 84f.; Herv. C. S.). Der Ursprung von sowohl Ordnung als auch Unordnung („source indistincte génératrice d’ordre et de désordre“ (ebd. 91, Anm. 1) ist für Morin das ‚Chaos‘, das daher nicht mit Unordnung zu verwechseln sei. 86 Simon 2006: 30. 87 „[C]’est l’incertitude et l’ambiguïté, non la certitude et l’univocité, qui stimulent le développement de l’intelligence“ (Morin 1990: 99). 88 Piaget 1973: 82.

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2.4.5.1 Kontinuität Kontinuität, ebenso wie Diskontinuität oder Veränderung, ist aus konstruktivistischer Sicht „niemals […] eine Gegebenheit der objektiven Wirklichkeit“, sondern ein kognitives Konstrukt.89 Kontinuität entsteht ‚im Auge‘ des Betrachters, wenn dieser Beziehungen zwischen Objekten herstellt. Diese Objekte müssen ihrerseits allerdings erst als ‚permanente‘, d.h. mit einer gewissen raumzeitlichen Dauer versehene Objekte konstruiert werden. Erst wenn ein Objekt als ein und dasselbe wiedererkannt wird, können sich an ihm Erfahrungen wie Kontinuität und Wandel manifestieren.90 Das Subjekt muss also Objekte identifizieren bzw. differenzieren und in zeitliche und kausale Abfolgen bringen. Dazu bedarf es der Vorstellung eines zeitlichen Vor- und Nacheinander und damit der Erinnerung.91 Objektpermanenz setzt die Feststellung individueller Identität voraus: Ein Gegenstand muss als ein und derselbe wiedererkannt werden. Davon zu unterscheiden ist die Äquivalenz, eine andere Form der ‚Gleichheit‘, bei der es um Ähnlichkeit zwischen zwei distinkten Objekten geht.92 Dass es nicht nur subjekt-, sondern auch kontextabhängig ist, ob etwas als identisch oder äquivalent (ähnlich) wahrgenommen wird, demonstriert von Glasersfeld am Beispiel einer Pflaume: Wenn ich Ihnen […] eine kleine grüne Pflaume und hernach eine größere violette Pflaume zeigte, dann würden Sie kaum von Veränderung sprechen. Hinge die grüne Pflaume aber an einem Baum und Sie sähen ein paar Wochen später, daß dieselbe Pflaume nun violett ist, dann würden Sie schon sagen, daß sich die Farbe verändert hat oder daß die Pflaume reif geworden ist. Mit anderen Worten, der Begriff des Wandels verlangt die Wahrnehmung einer Differenz an einem Objekt, das an zwei Augenblicken innerhalb des Erfahrungsstromes als dasselbe Objekt betrachtet wird.93

Das Beispiel zeigt, wie sehr die Erfahrung von Kontinuität oder Wandel auf der Fähigkeit des Erinnerns beruht. Nach von Glasersfeld ist die Erinnerung denn auch der „verläßlichste Nachweis individueller Identität“.94 2.4.5.2 Kausalität Auch Kausalität ist für die Konstruktivisten nur ein kognitives Erklärungsschema, das dem Subjekt zur Strukturierung von Erfahrung und zur Stabilisierung seines Weltbildes dient.95 Wenn sich Phänomene auf Ursachen zurückführen lassen, suggeriert dies eine Regelmäßigkeit der Welt, die genau genommen eine Regelmäßigkeit der selbst konstruierten Schemata ist. Ausdrücklich wenden sich die 89 90 91 92 93 94 95

Glasersfeld 1990: 32f. So von Glasersfeld (1996: 106–112 und 138–149) in Übereinstimmung mit Piaget. Vgl. Glasersfeld 1987: 434. Vgl. hierzu Glasersfeld 1996: 110f. Ebd. 139f. Ebd. 146. Kausalität gehört, so etwa von Glasersfeld, zu jener „Ordnung, die die Vernunft der Erfahrung aufzwängt, um sie verständlich zu machen“ (ebd. 83).

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Konstruktivisten gegen eine traditionelle Auffassung von Kausalität als einem Naturgesetz, wonach die Ursachen den Dingen inhärent sind.96 Hieraus erklärt sich das antideterministische Weltmodell des Konstruktivismus: Wenn die Ursachen nicht in den Dingen selbst wirken, dann kann, so die Idee, der Lauf der Welt keiner inneren Logik folgen, kann nicht determiniert sein. Ebenso wenig sei das Subjekt determiniert, denn es stehe ihm (im Rahmen der Viabilität) frei, seinem Wissen und Tun selbst Sinn und Zweck zuzuschreiben.97 Im Konstruktivismus wird Kausalität, wie letztlich das gesamte menschliche Wissen, Denken und Tun, handlungsschematisch erklärt.98 In seinen empirischen Studien hat Piaget festgestellt, dass die Idee der Kausalität beim Kind erst nach und nach aus dem Gefühl heraus entsteht, dass das eigene Handeln etwas bewirkt. Anfänglich verspürt das Kind nach dem Ausführen einer Handlung nur ein diffuses Effizienzgefühl („sentiment d’efficience ou d’efficace“); einen Begriff von Kausalität hat es noch nicht.99 Erst allmählich entwickelt sich die Vorstellung, dass die Dinge Ursachen haben oder Wirkungen hervorrufen, und dass dafür ggf. bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen. Daneben entsteht ein Bewusstsein dafür, dass Wirkungen auch intentional herbeigeführt werden können.100 Offensichtlich, so die Konstruktivisten, kann die Verknüpfung von Erfahrungen zu Handlungsschemata also nicht nur wirkursächlich, sondern auch final, konditional oder intentional erfolgen. Es sei daher nicht zu rechtfertigen, dass Kausalität im neuzeitlichen Denken fast nur noch wirkursächlich definiert werde.101 Der wie immer an die positivistisch-realistischen Epistemologien gerichtete Vorwurf lautet, die ‚lineare Kausalität‘ zum einzigen, ‚natürlichen‘ Erklärungsprinzip zu machen, obwohl sie zur Beschreibung von Erfahrungswissen ungeeignet sei.102 Kognitives Wissen lasse sich, anders als etwa mathematisches Wissen, besser final erklären, da Handlungsschemata immer „zielorientiert“ seien: Alle Kognition sei 96 Le Moigne (1999: 29) wendet sich in diesem Kontext gegen das ‚Prinzip des bestimmenden Grundes‘, das Leibniz (1986: 272) so formuliert: „[L]e principe […] de la raison déterminante: c’est que jamais rien n’arrive sans qu’il y ait une cause ou du moins une raison déterminante, c’est-à-dire quelque chose qui puisse servir à rendre raison a priori pourquoi cela est existant plutôt que non existant, et pourquoi cela est ainsi plutôt que de toute autre façon“. 97 Vgl. Le Moigne 1999: 74 und 76. 98 „[T]oute connaissance est liée à une action et […] connaître un objet ou un événement, c’est les utiliser en les assimilant à des schèmes d’action“ (Piaget 1970: 14f.). Vgl. ähnlich auch Rusch 1987a: 328 und Glasersfeld 1996: 129. 99 Piaget 1973: 199. 100 Vgl. Rusch 1987a: 325 und 332. 101 Wie Le Moigne (1999: 75) betont, werde die aristotelische Unterscheidung von causa efficiens (Wirkursache), causa finalis (Zweck- oder Finalursache), causa materialis (Materialursache) und causa formalis (Formursache) in der Neuzeit praktisch aufgegeben. 102 Vgl. ebd. 29. – Le Moigne (2001: 16) verweist auf die folgende Aussage Jacques Monods, um zu zeigen, dass die Wissenschaft noch 1970 Finalerklärungen ausdrücklich ablehnt: „La pierre angulaire de la méthode scientifique est le postulat de l’objectivité de la Nature. C’està-dire le refus systématique de considérer comme pouvant conduire à une connaissance ‚vraie‘ toute interprétation des phénomènes donnée en termes de causes finales, c’est-à-dire de ‚projet‘“ (Monod 1970: 32).

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unbewusst auf das Ziel der Assimilation neuer Erfahrungen gerichtet und insofern finalisiert.103 Weil Wissen im Kreislauf von Assimilation und Akkomodation zirkulär organisiert ist, sprechen die Konstruktivisten auch von zirkulärer Kausalität. Es geht ihnen also, kurz gesagt, um die Relativierung der wirkursächlichen bzw. linearen Kausalität und eine Aufwertung der finalen bzw. zirkulären Kausalität. Als Konstrukte sehen sie aber alle Kausalrelationen gleichermaßen. Ähnliches gilt für die deduktive (bzw. syllogistische) Logik. Auch sie ist aus konstruktivistischer Sicht nur in bestimmten, aber keineswegs allen Bereichen des menschlichen Lebens relevant. Deduktiv gehe nur das mathematische und logische Denken vor, die Kognition dagegen gehorche induktiven Prinzipien.104 Als Problem gilt den Konstruktivisten zudem, dass die klassische binäre Logik nur Entweder-oder-Lösungen kenne. Damit stoße sie, etwa bei sog. paradoxen Sätzen, an ihre Grenzen. So könne der Aussage „Alle Kreter lügen, sagte der Kreter“ in der zweiwertigen Logik kein eindeutiger Wahrheitswert zugewiesen werden, da nach ihren Grundsätzen ein Satz immer entweder wahr oder falsch sein müsse, eine dritte Möglichkeit gebe es nicht (tertium non datur). Und doch, so die Konstruktivisten, konstituiere der Satz genau dieses vermeintlich ‚unmögliche Dritte‘: Der Kreter lüge, wenn er die Wahrheit sage, und sage die Wahrheit, wenn er lüge.105 Anhand solcher paradoxer Aussagen versuchen die Konstruktivisten zu belegen, dass bei induktiven Verfahrensweisen eine dritte Möglichkeit, ein Sowohlals-auch existiere: tertium datur. Die Paradoxie des Kreter-Beispiels und ähnlicher Sätze beruht nämlich auf der rekursiven Struktur des Satzes, die, ähnlich wie bei den kognitiven Rückkopplungsschleifen, dazu führt, dass sich das Ergebnis in Abhängigkeit von dem jeweiligen ‚Input‘ ändert: Der Satz ist sowohl wahr als auch falsch. Letztlich geht es den Konstruktivisten bei diesem Beispiel darum zu zeigen, dass die binäre Logik zur Erklärung rekursiver Strukturen – und damit der Kognition – untauglich ist. 2.4.5.3 Exkurs I: Projektivität und Intentionalität Werfen wir nun einen kurzen Blick auf Le Moignes constructivisme projectif106 und die darin verwendeten Begriffe der Projektivität und Intentionalität, die im Hinblick auf Robbe-Grillet besonders interessant sind. Le Moigne definiert kognitive Akte als final, spricht alternativ aber auch von projektiven, intentionalen oder teleologischen Akten.107 Den Begriff ‚intentional‘ verwendet er dabei im phänomenologischen Sinn (nicht in der alltagssprachlichen Bedeutung von ‚absichts103 Glasersfeld 1996: 129. Vgl. auch Le Moigne (1999: 75): „[L]e comportement cognitif du sujet connaissant s’interprète plus volontiers en termes de ‚causes finales‘ qu’en termes de ‚causes efficientes‘“. 104 Vgl. Glasersfeld 1996: 123. 105 Vgl. Foerster 1985: 36. Zu weiteren Beispielen, etwa Eigenwertsätzen, vgl. ebd. 36f. 106 Zu dieser Bezeichnung vgl. Le Moigne 2001a: 205, Anm. 14 107 Zur „projectivité“ vgl. Le Moigne 1999: 57; zur „hypothèse téléologique“ und der „intentionnalité ou la finalité d[u] sujet connaissant“ vgl. ebd. 74.

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voll‘): Es geht um die ‚Gerichtetheit‘ des Bewusstseins ‚auf etwas‘.108 Vergleichbares impliziert auch der Begriff des Projekts bzw. der Projektivität (projectivité).109 Schon die Etymologie des Wortes zeigt: Das Projekt, die Projektion ist ein Entwurf, ein Hinausschleudern, ein Weg- und Entwerfen (lat. proicere, frz. projeter: nach vorn, vorwärts werfen), also eine Bewegung vom Subjekt auf ein Außen hin. Der Projektbegriff ist bei Le Moigne mit der Idee der Konstruktivität des ‚intendierten‘ Objekts verbunden. Vorgeprägt ist diese Verbindung bei Bachelard: „[L]a science moderne se fonde sur le projet. Dans la pensée scientifique, la méditation de l’objet par le sujet prend toujours la forme du projet“.110 Le Moigne generalisiert diese Idee Bachelards dann dadurch, dass er sie vom wissenschaftlichen Objekt auf das Objekt im Allgemeinen überträgt: „[T]out phénomène modélisable est perçu action téléologique (ou projective)“.111 Jedes Objekt ist demnach die Projektion eines Subjekts – wobei der Projekt(ions)begriff zum einen den Modellcharakter des Objekts, zum anderen den aktiven Part des Subjekts an der Objektkonstitution betont. Das ‚intendierte‘, vermeintlich nur vorgefundene Objekt entsteht erst im und durch den Akt der Projektion, ist also nie ein Abbild der Welt ‚an sich‘. 2.4.5.4 Exkurs II: Selbsterfüllende Prophezeiungen und Ödipuseffekt Zur Erklärung von finaler bzw. zirkulärer Kausalität greifen die Konstruktivisten gerne auf das Beispiel der selbsterfüllenden Prophezeiungen (engl. self-fulfilling prophecy) zurück, weil diese, wie paradoxe Sätze, eine rekursive Struktur aufweisen. Da das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung auch in Robbe-Grillets Roman Les Gommes eine wichtige Rolle spielt, soll sie hier etwas genauer betrachtet werden. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist laut Paul Watzlawick eine Annahme oder Voraussage, die rein aus der Tatsache heraus, daß sie gemacht wurde, das angenommene, erwartete oder vorhergesagte Ereignis zur Wirklichkeit werden läßt und so ihre eigene ‚Richtigkeit‘ bestätigt.112

Charakteristisch ist für selbsterfüllende Prophezeiungen also zweierlei: a) dass eine Annahme über die Zukunft das Handeln der Gegenwart beeinflusst und b) dass dieses Handeln dazu führt, dass das Vorausgesagte am Ende tatsächlich eintritt und die Vorhersage im Nachhinein bestätigt. Dabei wird von den Akteuren oft übersehen, dass der Effekt aus anderen als den vermuteten Gründen eintritt, oder genauer: dass er erst dadurch zustande kommt, dass die Prophezeiung von den Akteuren ernst genommen wurde. Als Beispiel nennt Watzlawick die unbe108 Zur Unterscheidung von intentionalen und intendierten Handlungen in der Phänomenologie vgl. Graumann 1995: 171. 109 Zum constructivisme projectif bzw. Ideal der projectivité vgl. Le Moigne 2001: 15f. und 139. 110 Bachelard 1968: 11. Vgl. dazu auch Le Moigne 2001a: 205. 111 Le Moigne 2001: 138. 112 Watzlawick 1990a: 91.

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gründete Vorhersage eines Versorgungsengpasses bei Lebensmitteln: Diese Vorhersage kann in der Bevölkerung Hamsterkäufe auslösen, die dann ihrerseits tatsächlich eine Versorgungsnot verursachen. Das Befürchtete tritt in diesem Fall also gerade deswegen ein, weil es vermieden werden soll.113 Ein anderes Beispiel zeigt, dass die Vorhersage keineswegs explizit sein muss, sondern schon die feste Überzeugung, etwas sei der Fall, genügt, um einen zirkulären Prozess in Gang zu setzen. Bei einem Paar gibt es Streit. Die Frau wirft dem Mann vor, er ziehe sich zurück, während der Mann glaubt, dies nur zu tun, weil die Frau ihn permanent kritisiert. Es kommt zu einem Zirkel. Je mehr der Mann sich zurückzieht, desto mehr kritisiert die Frau ihn, desto mehr zieht er sich zurück, desto mehr kritisiert sie ihn usw.114 Beiderseits sorgen selbsterfüllende Prophezeiungen dafür, dass sich der Konflikt verselbständigt und von den möglicherweise tiefer liegenden Ursachen der Unzufriedenheit löst: „Die beiden Verhaltensweisen, die subjektiv als Reaktion auf das Verhalten des Partners gesehen werden, lösen eben dieses Verhalten des anderen aus und rechtfertigen ‚daher‘ das eigene Verhalten.“115 Wie einflussreich ein solcher ‚Tatsachen‘-Glauben ist, zeigt sich im Übrigen auch beim Placebo-Effekt (der messbaren Wirkung von pharmakologisch unwirksamen Medikamenten) oder bei Autosuggestionstechniken.116 Ebenso wichtig wie die Vorhersage selbst ist also der Glaube an ihre Richtigkeit, das ‚Für-wahr-nehmen‘, das ‚So-tun-als-sei-es-schon-passiert‘. Nur „wenn sie als eine in der Zukunft sozusagen bereits eingetretene Tatsache gesehen wird, kann sie konkret auf die Gegenwart einwirken und sich damit selbst erfüllen“.117 Angenommen, es würde – unbegründet – eine Lebensmittelknappheit vorausgesagt, aber niemand glaubte daran, so könnte sich die Prophezeiung nicht erfüllen – jedenfalls nicht, wenn die Vorhersage tatsächlich unbegründet war, also keine exogenen Faktoren (z.B. Missernten) zu einer tatsächlichen Verknappung führen. Damit eine Prophezeiung selbsterfüllend ist, muss sie die Voraussetzungen für ihre Realisierung also erst selbst schaffen. Dies unterscheidet sie von gewöhnlichem zielorientierten Verhalten, das ebenfalls „der Zukunft Rechnung zu tragen“ versucht, deswegen aber noch „keinerlei Einfluß auf den Lauf der Dinge“ haben muss.118 Als Beispiel nennt Watzlawick hier die Reaktion auf die ersten Anzeichen einer Erkältung. Selbst wenn man sich bemühen kann, den Krankheitsverlauf zu mildern, hat man die Krankheit doch nicht selbst in Gang gesetzt; die Symptome und damit die Krankheit waren schon da, bevor man darauf reagierte. „Eine aus einer selbsterfüllenden Prophezeiung resultierende Handlung dagegen schafft erst die Voraussetzungen für das Eintreten des erwarteten Ereignisses und erzeugt in diesem Sinne recht eigentlich eine Wirklichkeit, die sich ohne sie nicht ergeben hätte.“119 Watzlawick illustriert dies am Beispiel von Ödipus, der „im Bestreben, 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. ebd. 92. Vgl. ebd. 93–95. Vgl. ebd. 94f. Zu diesen und weiteren Beispielen vgl. ebd. (passim). Vgl. ebd. 95. Ebd. 92. Ebd.

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das Unheil abzuwenden, es rückbezüglich verwirklich[t]“.120 Ödipus verlässt seine Heimatstadt Korinth aufgrund des Orakelspruchs, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Der Gang ins thebanische Exil, den er allein aus Angst davor unternimmt, die Prophezeiung könne sich erfüllen, schafft aber erst die Voraussetzungen dafür, dass Ödipus – unwissentlich – seinen (ihm unbekannten leiblichen) Vater Laios auf dem Weg erschlägt und, nachdem er Theben von der Sphinx befreit hat, seine (ihm ebenfalls unbekannte leibliche) Mutter Iokaste heiratet. Bezeichnenderweise hat Popper schon 1957 vom Ödipuseffekt gesprochen, als es darum ging, unerwünschte Rückkopplungseffekte in der Wissenschaft, genauer: die verzerrende Einflussnahme einer Theorie auf das Untersuchungsergebnis, zu beschreiben.121 Poppers Kritik gilt in diesem Zusammenhang insbesondere der Psychoanalyse, wo, wie Freud selbst eingeräumt habe, mitunter Träume dem Patienten erst durch die Therapie suggeriert würden.122 Auch Watzlawick verweist darauf, dass im psychiatrischen Bereich der Glaube an eine Krankheit diese erst hervorbringen könne.123 Dabei spiele die Realität stiftende Funktion der Sprache eine wichtige Rolle: „[E]in wesentlicher Teil der selbsterfüllenden Wirkung psychiatrischer Diagnosen [beruht] auf unserer felsenfesten Überzeugung […], daß alles, was einen Namen hat, deswegen auch wirklich existieren muß“.124 Es ist freilich eine naive Auffassung von Sprache (und nicht die Sprache selbst), die derlei Tatsachen schafft. Ausdrücklich betont Watzlawick, dass selbsterfüllende Prophezeiungen sich gerade nicht zwangsläufig erfüllen, dass der Zirkel also durchbrochen werden könne. Eine Prophezeiung sei eben nur eine Prophezeiung; „die Möglichkeit des Zuwiderhandelns [ist] immer gegeben“.125 2.4.5.5 Raum Auch der Raum wird im Konstruktivismus nicht als Eigenschaft der ontischen Welt, sondern als Konstrukt qualifiziert. Schon 1937 konstatiert Piaget: „[L]a réalité de l’espace est dans sa construction, et non dans le caractère étendu ou inétendu des sensations envisagées comme telles“.126 Der Raum ist demnach jenes virtuelle Außen, in das die Objekte projiziert werden, um ihre Kontinuität zu sichern.127 Piaget beschreibt, wie sich der Raumbegriff beim Kind allmählich aus der zunehmenden Koordination von Wahrnehmungen und Bewegungen bildet.128 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Watzlawick 1990: 65. Vgl. Popper 1963: 38, Anm. 3. Vgl. ebd. Vgl. Watzlawick 1990a: 100f. Ebd. 101. Ebd. 108. Vgl. Piaget 1973: 181. Vgl. Glasersfeld 1996: 111. Vgl. hierzu und zum Folgenden Piaget 1973: 185f.

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Zu Beginn existiert für das Kind weder eine äußere noch eine innere Welt, sondern nur eine einzige Welt voller Bilder, die affektiv, kinästhetisch, sensomotorisch und physikalisch belegt sind. Es gibt weder Substanzen noch individualisierte Objekte noch Veränderungen, nur globale Ereignisse, die an die Bewegungen des eigenen Körpers gebunden sind. Diese Situation kehrt sich mit der Entwicklung des Raumbegriffes nach und nach um. Die Bilder beginnen, sich zu einer einheitlichen Umwelt zu vereinigen, lösen sich von der Aktivität des Kindes und ordnen sich in Beziehung zueinander. Schrittweise wird so eine vom Subjekt unabhängige Welt aufgebaut. In dem Maße wie sich das räumliche Feld strukturiert, werden die Elemente des Raumes ‚konsolidiert‘ und als subjektunabhängig wahrgenommen: Die räumliche Ausdehnung erscheint schließlich als Eigenschaft der Objekte selbst.129 Dabei wird der Raum durch seine Bestückung mit Objekten selbst objektiviert, d.h. mit einer scheinbar unabhängigen Existenz ausgestattet, die es dem Subjekt erlaubt, sich selbst von einem Außen zu unterscheiden und sich am Ende selbst – einem Objekt unter Objekten gleich – in diesen Raum ‚hineinzustellen‘, d.h. sich selbst zu objektivieren.130 Der Raum dient also zugleich der Objektivierung des Ich. Eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des Raumes kommt laut Piaget der körperlichen Bewegung zu: Das Kind erschafft den Raum sozusagen durch Greifen und Sehen. Dies korrespondiert mit Henri Poincarés Erkenntnis, dass das Subjekt seine Vorstellung von Raum und Dimension immer nur unter den Voraussetzungen seiner je spezifischen sensomotorischen Disposition erlangt.131 2.4.5.6 Zeit Ebenso wenig wie der Raum ist die Zeit nach konstruktivistischer Auffassung eine ontologische Eigenschaft der Welt, sondern ein kognitives Konstrukt. Interessanterweise grenzen sich die Konstruktivisten dabei auch von den zeitgenössischen Naturwissenschaften ab. Sie betonen, dass die Idee einer absoluten Zeit zwar seit Einstein aufgegeben sei (Zeit werde immer nur relativ zu einem Beobachter gefasst), aber dennoch Zeit auch in neueren kosmologischen Ansätzen noch immer ontologisch konzipiert werde: als „ein eigener Gegenstand […], des129 „[L]’étendue devient la propriété des objets eux-mêmes et de leurs relations mutuelles“ (Piaget 1973: 186). 130 Piaget spricht von der „élaboration d’un univers au sein duquel se situe en fin de compte le sujet lui-même“ (ebd.). 131 Nach Poincaré ist es dem Menschen grundsätzlich möglich, sich einen nichteuklidischen oder vierdimensionalen Raum vorzustellen, jedoch sei diese Vorstellung notwendig davon geprägt, was die Ausstattung der Sinnesorgane und Erfahrung ermögliche: „Il n’y a rien là qu’on ne puisse se représenter et pourtant ces sensations sont précisément celles qu’éprouverait un être muni d’une rétine à deux dimensions et qui pourrait se déplacer dans l’espace à quatre dimensions. C’est dans ce sens qu’il est permis de dire qu’on pourrait se représenter la quatrième dimension“ (Poincaré 1895: 645; Herv. C. S.). Zur Relevanz dieser Überlegungen für den Konstruktivismus vgl. Foerster 1987: 140.

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sen Eigenschaften der empirischen Forschung zugänglich sind“.132 Bestritten wird im Konstruktivismus außerdem, dass der Zeitbegriff dem Menschen angeboren sei oder es eine Art „Zeitsinn“ gebe.133 Der Begriff der Zeit baue sich, ebenso wie jener der Kontinuität, der Kausalität und des Raumes, erst aufgrund der Assimilation von Erfahrung auf. Der konstruktivistische Zeitbegriff ist an die Erfahrung von Veränderung gekoppelt. Die Idee von Dauer oder zeitlichem Ablauf kommt demnach erst zustande, wenn verschiedene Erfahrungen in Bezug gesetzt werden. Erst wenn ich „in der Lage bin, eine Sequenz zu konstruieren,“ so von Glasersfeld, „dann habe ich auch die Möglichkeit, nicht mehr nur Einheiten, sondern Folgen von Einheiten oder Sequenzen aufeinander zu beziehen. Wenn ich das mache, gewinne ich den Begriff der Zeit“.134 Koordiniert werden also nicht „Zeitdauern“, sondern Aktivitäten.135 Folglich beruht das Messen der Uhrzeit nicht darauf, dass die Zeit ‚abliefe‘, sondern dass zwei Ereignis- oder Erfahrungsfolgen in Bezug gesetzt werden: Wir messen die Dauer eines Vorgangs an einem anderen Vorgang, dem Taktschlag der Uhr.136 Diese handlungslogische Zeitkonzeption erklärt auch das bekannte Phänomen des subjektiv variierenden Zeitempfindens: Beim Warten auf den Bus können einige Minuten zäh und unendlich lang erscheinen, während eine Woche Urlaub häufig wie im Flug vergeht. Der Grund für das variierende Zeitempfinden liegt in der Unterschiedlichkeit der Aktivitäten, an denen die Dauer des Vorgangs gemessen wird: Je nach Aktivität erhält „jede[r] Handlungszusammenhang seine eigene Zeit“.137 Dass wir Zeit dennoch als objektive Struktur der Welt empfinden, liegt laut Piaget daran, dass sie (ebenso wie Raum, Kontinuität und Kausalität) im Bewusstsein des Kindes zunehmend ‚objektiviert‘ wird, also ihren Konstruktcharakter verliert.138 Auch diese Objektivitätsillusion erfüllt eine stabilisierende Funktion: Sie sichert die Kontinuität der Objekte, genauso wie umgekehrt die Konstruktion permanenter Objekte zur Errichtung eines zeitlichen Kontinuums dient. Die Zeit erscheint uns aber für gewöhnlich nicht nur als Kontinuum, sondern auch gerichtet bzw. linear zu verlaufen: Die Gerichtetheit bzw. Linearität der Zeit ergibt sich ihrerseits dadurch, dass Objekte und Ereignisse durch Kausalverknüpfungen in eine bestimmte, „irreversible Reihenfolge“ gebracht werden.139 Linearität und Messbarkeit der Zeit wiederum sind zentral für die Konstitution einer Chronologie sowie für die Konzepte ‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ (die sozusa-

132 133 134 135 136

Janich 2004: 829. Rusch 1987a: 375. Glasersfeld 1987: 434. Rusch 1987a: 378. Dies stellt schon Wittgenstein (1984: 80f.) im Tractatus logico-philosophicus (6.3611) fest. Vgl. dazu auch Glasersfeld 1996: 149. 137 Rusch 1987a: 378. 138 „À son point d’arrivée, le temps est promu au rang de structure objective de l’univers comme tel“ (Piaget 1973: 281). 139 Rusch 1987a: 378; Herv. aufgehoben.

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gen zur Etikettierung von Erfahrungen als ‚vergangen‘, ‚gegenwärtig‘ oder ‚zukünftig‘ dienen).140 2.4.6 Wahrnehmung, Erinnerung, Vorstellung und Traum Das kognitive System ist nach konstruktivistischer Auffassung in der Lage, zwischen aktueller Sinneswahrnehmung, Erinnerung von Vergangenem und bloßer Imagination oder auch Träumen zu unterscheiden, auch wenn die Kognitionen selbst im Bewusstsein präsentisch ablaufen.141 Dabei sind nach von Glasersfeld Wahrnehmungen (perceptions) jene Erfahrungen, die auf der Basis sensorischer Signale der Umwelt zustande kommen; weil in diesem Zuge aber nur bestimmte Umweltsignale vom kognitiven System ausgewählt und ‚verwertet‘ würden, bedeute Wahrnehmung immer schon Selektion.142 Wahrgenommen wird demnach nur, was (im weitesten Sinne) verhaltensrelevant ist.143 Wahrnehmungsbilder werden, wie von Glasersfeld erläutert, stets von den sensorischen Einzelheiten her aufgebaut, so z.B. die Wahrnehmung eines Hauses: „Es gibt Farbunterschiede vor dem Hintergrund, man macht bestimmte Wahrnehmungsbewegungen und bringt Gestalten und Farben so zusammen, daß daraus ein Haus wird.“144 Traumbilder hingegen würden genau umgekehrt konstruiert: ausgehend vom abstrakten Begriff, der dann mit den für die Traumhandlung notwendigen Details gefüllt werde; alles andere bleibe offen.145 Der Traum scheint, wie die Sprache, aufgrund von Begriffen zu operieren und zunächst eine Globalvorstellung entstehen zu lassen, 140 Vgl. ebd. 380. 141 Rusch gibt dazu an, dass „ko-präsente Bewußtseinsinhalte“ durchaus „differenziert erleb[t]“ würden, je „nach dem Modus ihrer Bewußtheit, nach ihrer Intensität, nach ihrer Verrechenbarkeit auf sensorische Stimulationen, nach ihrer Verrechenbarkeit auf sinnessystemische cortikale Aktivitäten usf.“ (ebd. 382f.). Eine genauere Erklärung bleibt er allerdings schuldig. Für unseren Kontext genügt es jedoch völlig zu wissen, dass die Konstruktivisten davon ausgehen, das kognitive System könne trotz seiner informationellen Geschlossenheit zwischen Entstehungskontexten und Realitätsstufen (Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination) differenzieren. 142 Vgl. Glasersfeld 1989: 437. Daneben, so von Glasersfeld (1985: 11f.), spielen auch motorische Signale des eigenen Körpers, der Aufmerksamkeitsfokus, die internen Bewertungen des kognitiven Systems sowie erinnerte Erfahrungen eine Rolle, die die Wahrnehmungen nach Bedarf ergänzen. Dieser ‚Bedarf‘ werde pragmatisch durch den jeweiligen Handlungskontext bestimmt, und dieser „verlang[e] nur, daß das, was wir wahrnehmen, uns zu erfolgreichem Handeln befähigt“. Vgl. auch Pasemann 1996: 82–84. 143 Vgl. Pasemann 1996: 83. – Vom sog. Relevanzkriterium spricht schon die Gestaltpsychologie, auf die sich der Konstruktivismus beruft, vgl. Roth 1995: 57f. Zum Rekurs des Konstruktivismus auf die Gestaltpsychologie bzw. punktuelle Gemeinsamkeiten vgl. auch Schmidt 1987a: 15, Ortner 2007: 122 und 124, Anm. 114 sowie Krohn/Küppers/Paslack 1987: 448. 144 Glasersfeld 1987: 419. 145 Vgl. ebd. 418f. – Von Glasersfeld räumt in diesem Kontext ein, dass er die Frage, warum die Konstruktion im Fall der Wahrnehmung so, im Fall des Traumes anders verläuft, nicht beantworten kann. Er stellt nur fest, dass es so ist und beruft sich dabei auf die Studien Silvio Ceccatos aus den 1960er Jahren.

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die dann trotz sukzessiver Präzisierung immer Leerstellen behält.146 Anzunehmen ist, dass dies nicht nur für Träume, sondern auch für Vorstellungsbilder gilt, die bei vollem Bewusstsein entstehen, dass also auch bei ihnen der Bildaufbau vom Begriff her erfolgt und gewisse Leerstellen bleiben. Erinnerungen unterscheiden sich nach konstruktivistischer Auffassung von Wahrnehmungen dadurch, dass „ein gewisser Anteil sensorischer Komponenten“ bei der Konstruktion fehlt.147 Von Glasersfeld sieht Erinnerungen als eine „Wiedergabe vergangener Erfahrungen“ („[a] kind of re-play of past experiences“); hierauf ist zurückzukommen.148 Im Unterschied zu Erinnerungen können sich Vorstellungen (representations) auch auf unbekannte, noch nicht gemachte Erfahrungen beziehen und dann ggf. als bloße Möglichkeit in die Zukunft projiziert werden.149 Gleichwohl wird ein Zusammenhang von Vorstellungen und Erinnerungen gesehen, denn erstere, so von Glasersfeld, werden aufgrund der letzteren gebildet: Vorstellungen sind demnach „neue Konstruktion[en] (aus erinnerten Elementen)“.150 Zu den Vorstellungen dürften auch die sog. Fiktionen zu zählen sein, also erfundene, irreale bzw. unmögliche Gegenstände und Ereignisse. Fiktionen sind so gesehen stets eine Mischung aus alt und neu, eine Neubildung aus bereits vorhandenen Erfahrungen.151 Die Konstruktivisten heben nun insbesondere darauf ab, dass Erinnerung weniger Rekonstruktion als Neukonstruktion bedeutet, also niemals eine identische Wiederholung oder Reproduktion der Vergangenheit ist. Das kognitive System, so die Argumentation, sei unfähig, stationäre Systemzustände einzunehmen, daher befänden sich die konstruierten Schemata permanent im Wandel, Erfahrungen würden permanent konstruiert und dekonstruiert.152 Entsprechend seien auch Erinnerungen keine statischen Elemente, die im Gehirn gespeichert und unverändert wieder hervorgeholt würden, sondern ‚neuronale Signalfolgen‘, die bei jedem ‚Wieder-Aufrufen‘ neu konstituiert werden müssten.153 Sie würden „erst im aktu146 „Im Traum kann es passieren, daß man ein Haus träumt, aber absolut nicht in der Lage ist, Farbe und Merkmale wie Balkons oder Türen, Lokalität oder Baumaterialien angeben zu können. Man entwickelt nur einen Totalbegriff des Hauses, und dann fügt der Traum hinein, was immer man für die Traumhandlung braucht: vielleicht einen roten Vorhang, einen Sessel oder einen leeren Raum. Das heißt, man kommt vom Begriff her und fügt dann das an Einzelheiten ein, was der Traum will“ (ebd. 419). 147 Rusch 1987a: 348. 148 Glasersfeld 1989: 437. 149 Vgl. ebd. Von Glasersfeld (1996: 160) räumt ein, dass er über das genaue Funktionieren von Erinnerung oder Vorstellungskraft nichts sagen kann, da es noch kein überzeugendes Modell des menschlichen Gedächtnisses und Bewusstseins gebe. 150 Ebd., Anm. 5. 151 Damit ist noch nichts über fiktionale Texte gesagt, die von den hier gemeinten Fiktionen (im Sinne des Fiktiven, Erfundenen) grundsätzlich zu unterscheiden sind; vgl. dazu Kap. 2.4.8.2 Fakten und Fiktionen aus konstruktivistischer Sicht. 152 Vgl. Pasemann 1996: 81. 153 Vgl. ebd. – Vor diesem Hintergrund erscheint die Metapher des ‚Speichers‘, die von Glasersfeld (1996: 111) für das Gedächtnis verwendet, problematisch, denn sie suggeriert, dass Erinnern ein Wiederhervorholen statischer Elemente sei.

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ellen Bewusstsein erzeugt“, und zwar „mittels derjenigen Wahrnehmungsschemata und über denjenigen kognitiven Strukturen“, die bereits vorhanden seien.154 Daher könnten in die Erinnerung immer auch neue Erfahrungen (z.B. Wahrnehmungen) einfließen und die Konstruktion der Vergangenheit durch Gegenwärtiges verzerren. Erinnerungen müssen also, wie von Glasersfeld resümiert, „nicht […] richtig sein in bezug auf das, was ich damals erlebt habe. Das Erinnerte ist so, wie ich es heute sehe.“155 Dass auch die Sprache Einfluss auf die Konstitution von Erinnerungen hat (vor allem dann, wenn Erfahrungen nur unvollständig erinnert werden), hebt Rusch hervor: Weil die Verbalisation stets eine – zumindest vorläufige – Festlegung auf ein bestimmtes […] syntaktisches Muster, auf bestimmte lexikalische Elemente, idiomatische Formen usw. bedeutet, und weil sich mit jeder spezifischen Auswahl […] bestimmte assoziative Verbindungen eröffnen, während bestimmte andere […] blockiert werden, prägt und beeinflußt die Verbalisation den Prozeß des Erinnerns bereits mit […].156

Vergleichbar sei auch der Einfluss narrativer Strukturen bei der Konstitution von Vergangenheit und Erinnerung. Die Vergangenheit werde, so Rusch, genau dann als kohärent empfunden, wenn die dazugehörige Erzählung kohärent sei.157 Die Erzählung zwinge dem Konstrukt ‚Vergangenheit‘ ihre eigene Ordnung auf. Aus einzelnen Episoden werde so ein ‚einheitliches und kontinuierliches Geschehen‘, eine zeiträumliche Einheit (ggf. unterteilt in verschiedene Phasen). Dabei seien nicht zuletzt sprachliche Konnektoren dafür verantwortlich, dass die Vergangenheit wie ein ‚komplexes, kausal und zeitlich vernetztes Wirkungsgefüge‘ erscheine, denn sie stifteten kausale und temporale Bezüge zwischen den Elementen. Kontinuitätsstiftend wirkten darüber hinaus die Pronominalisierung (Pronomina suggerieren eine gleichbleibende Identität von Figuren oder Objekten) sowie die in der Erzählung auftauchenden Objekte, die nicht nur als Anlass für Erinnerung, sondern auch als Belege für deren Wahrheit fungieren könnten (weil sie „als Resultate oder Konsequenzen eigener Handlungen gegenwärtig sind oder verfügbar gemacht werden können“).158 Bezeichnenderweise, so Rusch, komme es bei Alltagserzählungen immer wieder vor, dass der Erzähler beim erneuten Erzählen die Ereignisse anders erinnere bzw. schildere.159 Für den Erzähler selbst sei dies solange unproblematisch, wie er sich der Variation seiner Erinnerungen nicht bewusst werde; ein Zuhörer indes bekäme Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Erzählers und dem Wahrheitsgehalt der Geschichte.

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Rusch 1987a: 349. Glasersfeld 1987: 421. Rusch 1987a: 365. Vgl. ebd. 399. – Rusch bezieht sich vor allem auf mündliche Erzählungen; schriftsprachliche Erzählungen sind zwar mitgemeint, auf ihre Spezifika geht er jedoch nicht näher ein. 158 Ebd. 397f. Zur Pronominalisierung vgl. ebd. 396f. 159 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd. 398.

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2.4.7 Das Selbstbewusstsein und die Konstruktion des Ich Alle konstruktivistischen Bewusstseinsmodelle gehen von einem ‚dynamischprozessualen‘ Bewusstsein aus, einem Bewusstsein also, das weder statisch ist noch einen lokalisierbaren Sitz im Gehirn hat. Das Bewusstsein ist demzufolge keine dingliche Instanz, sondern ein komplexer neuronaler „Zustand“, der unter Beteiligung verschiedener Hirnarsenale entsteht.160 Bewusstsein wird im Konstruktivismus „immer gesehen als Bewußtsein-vonetwas“.161 Und dieses setzt nach Piaget ein Selbstbewusstsein voraus – genau wie umgekehrt das Selbstbewusstsein eine Vorstellung von der Welt (als dem ‚Anderen‘, dem ‚Nicht-Ich‘) voraussetzt, von der es sich abgrenzen kann. Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bedingen sich also wechselseitig: L’intelligence (et donc l’action de connaître) ne débute ainsi ni par la connaissance du moi, ni par celle des choses comme telles, mais par celle de leur interaction; c’est en s’orientant simultanément vers les deux pôles de cette interaction qu’elle organise le monde en s’organisant elle-même.162

Die Objektivierung der Wirklichkeit (Objekte, Zeit und Raum) geht dabei mit der Selbstobjektivierung Hand in Hand. Erst in dem Maße, wie das Subjekt sich als ein ‚Ding unter Dingen‘ entwirft, kann es von ‚sich selbst‘ reden.163 Auch das Ich (oder Selbst) ist so gesehen also nur ein kognitives Konstrukt. Ebenso wie die Wirklichkeit nur ein Modell der realen Welt ist, ist das Ich nur ein Bild, das sich das Subjekt von sich selbst macht. Offen bleibt bei beiden, inwiefern sie mit dem, ‚was wirklich ist‘, übereinstimmen. Der Konstruktivismus richtet sich vor diesem Hintergrund insbesondere gegen die Annahme, das Ich sei das Subjekt unserer Erfahrung, also jene Instanz, die die Erfahrungen macht. Vielmehr sieht er das Ich ebenso wie „das Gehirn, welches wahrgenommen wird, [als] ein kognitives Konstrukt des wahrnehmenden, d.h. konstruierenden Gehirns“ und qua Konstrukt als bloßes Objekt der Erfahrung, das „als solches selbst nicht mehr wahrnehmen“ bzw. erfahren kann: Dem Ich werden demnach die Erfahrungen vom konstruierenden Subjekt nur zugeschrieben.164 Das konstruierende Subjekt 160 Schmidt 1987a: 20. Vgl. auch Rusch 1987a: 91. Mit ‚Zustand‘ ist hier nichts Statisches gemeint: Alle sog. Bewusstseinszustände seien als flüchtig und dynamisch zu begreifen (vgl. Pasemann 1996: 81). Unbeantwortet bleibt dabei freilich, wie überhaupt aus neuronalen Signalfolgen ‚mentale Bilder‘ bzw. Sinneseindrücke entstehen; dies räumt auch Rusch (1987a: 93) ein. Vgl. dazu von Glasersfelds (1996: 160) Feststellung, man sei „nicht einmal zu ersten Ansätzen eines plausiblen funktionalen Modells des menschlichen Gedächtnisses vorgedrungen, geschweige denn zu einem Modell des menschlichen Bewußtseins“. 161 Schmidt 1987a: 20. 162 Piaget 1973: 311. 163 Vgl. ebd. 7 sowie Kap. 2.4.5.5 Raum. 164 Roth 1987: 239. – Genau genommen, so von Glasersfeld, konstruiere das Subjekt dazu ein doppeltes Ich: ein erfahrendes und ein wahrgenommenes. Das erfahrende Ich erscheine als der aktive Part, als der Ort aller Erfahrung, der das andere, passive Ich wahrnehme. Tatsächlich aber seien beide Ichs nur Objekte von Erfahrung, die ihnen das konstruierende Subjekt zuschreibe (vgl. Glasersfeld 1989: 445 und Glasersfeld 1996: 202). Wozu es der Illusion des

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selbst hingegen sei „ungreifbar“, unerkennbar: jene „mysteriöse Entität, die diese Erfahrungen mach[e]“, selbst aber nie erfahren werden könne.165 Wichtig ist zudem, dass die Erfahrungen, die dem Ich zugeschrieben werden, nur die „bewußtseinsfähigen Kognitionen“ bzw. Erfahrungen sind.166 Das heißt folglich, dass keineswegs alle Erfahrungen zu Bewusstsein kommen, sondern viele unbewusst bleiben. Entsprechend insistieren die Konstruktivisten darauf, dass bewusstes (ebenso wie rationales) Wissen nur einen Teil unserer Erfahrungen ausmache.167 Das Bewusstseinsmodell des Konstruktivismus hat weitreichende Folgen für das Konzept der Personenidentität. Die traditionelle Auffassung, jedes Subjekt sei mit einer stabilen Identität ausgestattet und sich selbst völlig transparent, ist aus konstruktivistischer Sicht nicht zu halten. Für die Identität einer Person gilt, was schon für die permanenten Objekte festzustellen war: Ihre individuelle Identität ist subjektiv konstruiert. Das Subjekt erschafft sich selbst als ein vermeintlich mit sich selbst identisches Individuum – verkörpert in der Idee des Ich, das trotz aller Veränderungen ‚seinem Wesen nach‘ als stabil erfahren wird. Weil die IchIdentität als kognitives Konstrukt permanent neu entworfen wird und damit gewissermaßen in jedem Moment eine andere ist, betrachten die Konstruktivisten die Identität eines Subjekts als multipel oder plural.168 Da die Identität einer Person jedoch immer auch von den Einschätzungen und Kategorisierungen anderer Konstrukteure abhängt, ist sie zugleich auch ein soziales Konstrukt und kann jederzeit zum Gegenstand sozialer Auseinandersetzung werden.169 2.4.8 Zur Konstruktivität von Sprache, Texten und Fiktionen Im Hinblick auf unsere noch ausstehenden Literaturanalysen ist bemerkenswert, dass Kunstwerke und Artefakte, und damit Konstrukte in einem engeren Sinne, im Konstruktivismus eine nur nebensächliche Rolle spielen. Vor allem ihrem spezifischen Konstruktcharakter, der sich ganz offensichtlich von dem der kognitiven Wirklichkeitskonstruktion unterscheidet, wird kaum Beachtung geschenkt. Bevor ich darauf näher eingehe, sind einige Bemerkungen zu dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis von Artefakt und Kunstwerk angebracht. Unter dem Oberbegriff ‚Artefakt‘ seien mit Carl Friedrich Graumann alle jene Konstrukte gefasst, die „durch das (absichtsvolle) Planen und Ausarbeiten eines Entwurfs und die dadurch vorgeschriebenen Operationen“ zustandekommen: Bauwerke und Maschinen ebenso wie „plan- oder kunstvoll zusammengesetzte mathematische, logische, konzeptuelle oder sprachliche Gebilde“, darunter auch

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Ich als Subjekt (und nicht Objekt) der Erfahrung bedarf, erklärt Rusch (1987a: 131) mit der besseren „Koordination bzw. Organisation von Erfahrungen“. Glasersfeld 1996: 200 und 202. Rusch 1987a: 131. Zur „Eingrenzung des Geltungsbereich[s] der Vernunft“ vgl. Glasersfeld 1996: 57. Vgl. Keucheyan 2007: 168. Ebd. 168f.

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Literatur und Kunstwerke jeder Art.170 Das ‚absichtsvolle Tun‘ scheint dabei das zentrale Moment zu sein, das Artefakte von anderen Konstrukten unterscheidet.171 Während die Konstrukte der Kognition und basalen Wirklichkeitskonstruktion unbewusst entstehen, sind Artefakte bewusste, gezielt erstellte Konstrukte, sozusagen Konstrukte zweiter Stufe. Es ist mithin zu differenzieren zwischen absichtsvoll und nicht absichtsvoll erstellten Konstrukten bzw. zwischen zwei Arten von Konstruktivität (eine Unterscheidung, die von den Konstruktivisten meist nicht gemacht wird):172 der grundsätzlichen, unhintergehbaren, unbewussten Konstruktivität aller Kognition und Wirklichkeitserfahrung einerseits und der bewussten Konstruktivität von Artefakten andererseits, bei der die Nichtnatürlichkeit und Gemachtheit außer Frage steht. Sprache und Kunstwerke zählen damit zu den Artefakten, denn sie sind, wie schon Umberto Eco bemerkt, das Ergebnis einer bewussten Konstruktion („effetto di costruzione consapevole“): eine künstliche, vom Menschen gemachte Organisation von Reizen, die sich grundlegend von einer Organisation von natürlichen Reizen, etwa dem Photonenbündel, das uns als Lichtreiz trifft, unterscheidet.173 Während nun mathematische Artefakte von den Konstruktivisten durchaus auf ihre epistemologischen Implikationen befragt werden, bleiben Kunstwerke, wie bereits erwähnt, weitgehend unberücksichtigt.174 Von Glasersfeld grenzt die Literatur mit dem Argument, sie gehöre dem mystischen Wissen an, vom rationalen, wissenschaftlichen Diskurs des Konstruktivismus ab.175 Wolfram Köck versucht dagegen, Kunst nicht einfach nur als ‚das Andere‘ auszugrenzen, sondern konstruktivistisch zu definieren. Unter Rekurs auf Maturanas Idee der Interaktion fasst er Kunst „als subjektabhängige Produktion innovativer Interaktionsmöglichkeiten.“176 Köcks Definition ist allerdings nicht unproblematisch, denn sie erklärt jede neuartige Verhaltensweise zwischen Subjekten (u.a. neue Kommunikationstechnologien) zu Kunst und überdehnt den Kunstbegriff damit zu stark. Fraglich ist darüber hinaus, an welchen Kriterien sich ‚Innovation‘ bemisst. Insgesamt scheint diese am Innovationsbegriff orientierte Definition zu sehr dem Originalitätsideal der (post)romantischen Ästhetik verpflichtet und vernachlässigt, dass Kunst auch im Rahmen einer Nachahmungsästhetik entstehen kann, die sich bekanntlich zu anderen Idealen bekennt. Das ‚Desinteresse‘ des Konstruktivismus 170 Graumann 1995: 171. 171 Graumann hält dagegen den Aspekt des Herstellens für entscheidend: Verhaltensweisen, die des Herstellungscharakters entbehrten, seien keine Konstruktionen (vgl. ebd.). Der Begriff des ‚Herstellens‘ bleibt bei ihm freilich insofern vage, als er ihn sowohl auf die Herstellung materieller Gegenstände als auch abstrakter Denk-‚Gebilde‘ bezieht. 172 Dies beanstandet auch Schmidt (1995: 240) und grenzt selbst die konstruktivistische Begriffsverwendung von der „umgangssprachlichen“ ab. 173 Vgl. Eco 1971: 63 und 71. 174 Zur Epistemologie der Mathematik vgl. Piaget 1967: 554–596, zur Konstruktivität von Zahlen vgl. Piaget/Szeminska 1941 und Glasersfeld 1996: 277–282. 175 Vgl. ebd. 56f. und 78. Gleichwohl hat von Glasersfeld den Roman The Magus auf konstruktivistische Thesen untersucht; vgl. Kap. 3.1 Konstruktivismus und Literatur. 176 Köck 1987: 364.

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an Kunstwerken fällt insbesondere im Fall der konstruktivistischen Literaturwissenschaft ins Auge, die, wie bereits erwähnt, ausdrücklich nicht mehr textorientiert, sondern empirisch-sozialwissenschaftlich arbeitet und Literaturanalysen ganz bewusst meidet.177 Erklären lässt sich diese ‚Missachtung‘ der künstlerischen Artefakte wohl damit, dass die Konstruktivität der Wirklichkeit für die Konstruktivisten ein ungleich größeres ‚Aufklärungspotential‘ bietet als die der Kunst, bei der der Konstruktcharakter freilich auf der Hand liegt. Gleichwohl bleibt die Frage, ob die Besonderheiten kognitiver Konstrukte nicht auch (oder gerade) im Vergleich mit Kunstwerken qua Konstrukten zweiter Stufe besonders gut sichtbar werden – darum wird es letztlich auch bei den Robbe-Grillet-Analysen gehen. Es folgt nun ein Blick auf die konstruktivistische Definition von Sprache, Bedeutung und Kommunikation sowie – was im Hinblick auf Robbe-Grillet zentral ist – von Fakten und Fiktionen (einschließlich einiger Vorschläge zur begrifflichen Differenzierung). 2.4.8.1 Sprache, Bedeutung, Kommunikation Dass selbst dem ‚(schriftsprachlichen) Text‘ qua Konstrukt im Konstruktivismus wenig Beachtung geschenkt wird, ist umso erstaunlicher, als es an Reflexionen über Sprache, Kommunikation und Bedeutungskonstitution nicht mangelt.178 Die Konstruktivisten sind sich nämlich darüber bewusst, dass man zur Erklärung von intersubjektiv gültigem Wissen geradezu notwendig eine Theorie der Kommunikation und Sprache braucht. Gemeinsam ist allen konstruktivistischen Sprach- und Kommunikationstheorien die Ablehnung mimetischer und substantialistischer Auffassungen von Sprache und Information. Aus biologischer Sicht gebe es, so Maturana und Varela, in der Kommunikation keine „übertragene Information“, kein „Etwas, das kommuniziert wird“.179 Sprachliche Bedeutungen seien keine feststehenden ‚objektiven‘ Entitäten, sondern subjektive Konstruktionen (so von Glasersfeld), entsprechend könnten Sprachzeichen keine festen oder stabilen Bedeutungen haben (so Köck).180 In diesem Punkt differieren die konstruktivistischen Positionen kaum von zentralen Annahmen der Sprachwissenschaft und Semiotik, die seit dem linguistic turn immer wieder auf die problematische Relation von Zeichen und Welt, auf die Arbitrarität, Nichtnatürlichkeit und Nichtabbildhaftigkeit von Sprache und Zeichen hingewiesen haben.

177 Vgl. dazu Kap. 1.2 Untersuchungsgegenstand und Vorgehen. 178 Eine Ausnahme bildet hier Siegfried J. Schmidt, der in den 1970er Jahren, seiner ‚vor-konstruktivistischen‘ Zeit, zahlreiche Schriften zu Literatur und Fiktionalität veröffentlicht hat. Nach seiner Hinwendung zum Konstruktivismus, d.h. seit den achtziger Jahren, geht er auf Literatur jedoch nur noch am Rande ein (vgl. Schmidt 1989: 329, Anm. 3). 179 Maturana/Varela 1987: 212. 180 Vgl. Glasersfeld (1989: 444): „[M]eanings do not travel through space and must under all circumstances be constructed in the heads of the language users“, sowie Köck 1987: 355.

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Jenseits dieser antimimetischen Grundhaltung zeigen sich die konstruktivistischen Sprach- und Kommunikationstheorien recht heterogen. Umstritten ist nicht nur die genaue Definition von Sprache und Kommunikation, sondern auch die Frage, inwiefern Denken und Wahrnehmung sprachabhängig sind. Manche Konstruktivisten vertreten eine sehr weite Auffassung von Sprache und Kommunikation, bei der Kommunikation mit dem Begriff des (intersubjektiven) Verhaltens zusammenfällt. So ist beispielsweise für Watzlawick „alles Verhalten Kommunikation“: Da man sich „nicht nicht verhalten“ könne, sei es unmöglich, nicht zu kommunizieren.181 Kommunikation ist hier nicht mehr an Zeichen geknüpft, sondern, wie Maturana und Varela festhalten, nur noch an die Bedingung, „daß sie im Bereich sozialen Verhaltens auftritt“.182 Für Maturana und Varela ist daher jede Interaktion zwischen Organismen schon Kommunikation.183 Und sie gehen noch einen Schritt weiter, denn sie beschränken Sprache nicht auf menschliches Verhalten, sondern fassen etwa auch den „Duettgesang der Vögel“ als „sprachliche Interaktion“ auf.184 Dieser stark geweitete Sprach- und Kommunikationsbegriff ist allerdings schon innerhalb des Konstruktivismus selbst umstritten. So kritisiert Köck (zu Recht) die Abkoppelung vom Zeichenbegriff: Kommunikation sei auf ‚semiotische‘ Interaktionen zu beschränken, zur „Bezeichnung einer Klasse spezifischer intentionaler Interaktionen zwischen Lebewesen […], die vermittelt, über Medien, also mit Hilfe von Zeichen ablaufen“.185 Einig sind sich Köck und Maturana gleichwohl darin, dass Wahrnehmungsund Denkprozesse sprachunabhängig sind.186 So hält Köck es für ein überholtes „Dogma der Tradition, daß ‚Bewußtsein‘ und Sprache eins seien, daß bewußtes Denken und Handeln nur über Sprache möglich seien“, denn die Autopoiese, die Selbsthervorbringung und -erhaltung eines kognitiven Systems, verlaufe „völlig unabhängig von sprachlichen Zeichen“.187 Ganz anderer Auffassung ist von Glasersfeld, der an der Sprachabhängigheit des Denkens festhält und sich ausdrück181 Watzlawick/Beavin/Jackson 1969: 23 und 50f. 182 Maturana/Varela 1987: 211. 183 Kommunikation sei „das gegenseitige Auslösen von koordinierten Verhaltensweisen unter den Mitgliedern einer sozialen Einheit“ (ebd. 210). 184 Ebd. 224. 185 Köck 1987: 359. Zu Köcks Kritik an Watzlawick vgl. ebd. 353. 186 Vgl. ebd. 366 und Maturana 1982a: 55. Zur Kritik an dieser These vgl. Busse 1995. 187 Köck 1987: 366. – Köcks These scheint zumindest inkonsistent: Einerseits reduziert er Bedeutung, Denken und Wahrnehmung auf autopoietische Funktionen, andererseits spricht er jedoch Sprache und Kommunikation jede autopoietische Relevanz ab (Kommunikation sei „ein sekundäres Phänomen und keineswegs eine elementare Überlebensvoraussetzung“, ebd. 362). Einwenden könnte man zudem, dass Wahrnehmung und Denken schon deswegen nicht auf autopoietische Funktionen beschränkt sein können, weil, wie Roth (1987a: 266ff.) betont, das Gehirn insgesamt von basalen autopoietischen Aufgaben befreit ist (es arbeite autoreferentiell, aber nicht autopoietisch). Fraglich scheint zudem die These der Sprachunabhängigkeit von Denken und Kognition: Wenn Kommunikation, wie Köck (1987: 368) sagt, „ein Prozeß der Veränderung der Struktur der beteiligten Systeme“ ist, der durch Zeichen „provoziert, induziert und gesteuert“ wird, warum sollten ausgerechnet Wahrnehmung oder Denken von diesen zeichengesteuerten Strukturveränderungen ausgenommen sein?

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lich von der „Mode“ distanziert, „Sprache als ein soziales Phänomen zu betrachten, welches nichts anderes sein soll als eine besondere Art der Interaktion.“188 Diese ‚traditionelle‘ Ansicht teilt, wie noch zu sehen sein wird, auch RobbeGrillet. 2.4.8.2 Fakten und Fiktionen aus konstruktivistischer Sicht Bevor es um die konstruktivistische Definition von Fakten und Fiktionen geht, sind erneut einige Begrifflichkeiten zu klären. Entsprechend der heute verbreiteten doppelten Verwendung des Fiktionsbegriffs werde ich im Folgenden unterscheiden zwischen 1.) Fiktion als Bezeichnung für erfundene, irreale Gegenstände (im ontologischen Sinne) (im Folgenden Fiktion1) und 2.) Fiktion als Terminus für eine bestimmte Art (meist literarischer) Texte (im Folgenden Fiktion2).189 Fiktion1 ist dann das Substantiv zu ‚fiktiv‘ (,nichtwirklich, inexistent‘) und der Oppositionsbegriff zu ‚Fakt‘. So ist z.B. das Fabelwesen Pegasus erfunden, fiktiv, also eine Fiktion1. Fiktion2 hingegen ist das Substantiv zu ‚fiktional‘ und dient zur Qualifizierung einer Struktur bzw. einer bestimmten Art von Artefakt, z.B. eines sprachlichen, insbesondere literarischen Textes. Zu den Fiktionen2 gehören beispielsweise Romane, Werbespots oder Beschreibungen fiktiver juristischer Fälle. Der Oppositionsbegriff zu fiktional ist faktual: Dieser findet Anwendung auf Artefakte oder Texte, die auf Fakten basieren. So ergeben sich folgende Gegenüberstellungen: a) ontologisch: Fakt vs. Fiktion1, Faktizität vs. Fiktivität, Faktisches vs. Fiktives, faktisch vs. fiktiv; b) in Bezug auf Texte/Artefakte: faktualer Text vs. Fiktion2/fiktionaler Text, Faktualität vs. Fiktionalität, Faktuales vs. Fiktionales, faktual vs. fiktional. Hinzuzufügen ist, dass diese Differenzierungen von den Konstruktivisten selbst nicht gemacht werden. Daher kommt es in ihren Schriften mitunter zu begrifflichen Unschärfen, z.B. wenn Fiktion synonym zu Konstrukt gebraucht wird und Fakten als ‚bloße Fiktionen‘ bezeichnet werden. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Fiktionen im Vergleich zu Fakten im Konstruktivismus eine nur untergeordnete Rolle spielen. Wieder geht es den Konstruktivisten primär darum, die Konstruktivität des vermeintlich Natürlichen (in diesem Fall der Fakten) aufzudecken und nicht die der offensichtlichen Konstrukte (in diesem Fall der Fiktionen). Um zu zeigen, dass auch Fakten (bzw. Tatsachen) nur konstruiert sind, verweisen die Konstruktivisten auch auf die Etymologie: Ein Faktum, von lat. facere (machen), ist demnach etwas Gemachtes und damit keine objektive, unveränderliche Entität.190 In ihrer Konstruktivität unterscheiden sich Fakten also nicht von Fiktionen1. Der Unterschied besteht darin, 188 Glasersfeld 1996: 217. 189 Zur zweifachen Verwendung des modernen Fiktionsbegriffs sowie meiner Definition von Fiktionalität und fiktionalen Texten vgl. Schaefer 2008. Zu den Ursprüngen des Fiktionsbegriffs in der griechischen und lateinischen Antike und seiner Bedeutung im Sinne von ‚Hervorbringung‘ vgl. Stierle 2001. 190 Letztlich, so von Glasersfeld (1989: 447), sind Fakten Konstrukte, die auf ‚Regularitäten in der Erfahrung des Subjekts‘ beruhen.

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dass für die Konstruktion von Fakten mehr oder weniger restriktive Bedingungen gelten, für Fiktionen1 hingegen nicht: Als historische oder wissenschaftliche Tatsache kann nur gelten, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als historisch oder wissenschaftlich akzeptiert ist und dem jeweiligen Weltmodell entspricht. Über die ‚Faktizität‘ eines Phänomens muss also in einer Gesellschaft Konsens bestehen. Fakten sind damit von sozialen Konventionen abhängig.191 Siegfried J. Schmidt spricht daher auch von der ‚Faktenkonvention‘.192 Fakten sind so gesehen also auch nur Konstrukte. Aber sie sind deswegen noch lange keine bloßen Erfindungen bzw. Fiktionen1, wie in Poststrukturalismus, Postmoderne und Konstruktivismus mitunter behauptet wird. So konstatiert etwa Heinz von Foerster, Newton habe die Gravitation nicht „entdeckt“, sondern „erfunden“.193 Schmidt hält dem zu Recht entgegen, dass wissenschaftliche Erkenntnis, wenngleich sie nicht länger an Objektivität und Wahrheit gemessen werde, keineswegs der Beliebigkeit anheim gestellt werden dürfe, sondern sich an den bewährten Kriterien der logischen Konsistenz der Argumentation, der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit der Theorie sowie der empirischen Überprüfbarkeit messen lassen müsse.194 Was den Fiktionsbegriff angeht, wird er im Konstruktivismus, wenn überhaupt, nur im Sinne von Fiktion1 (Fiktives, Irreales) verwendet – als Synonym für ‚(kognitives) Konstrukt‘. So heißt es bei Schmidt: „Im Alltag gehen wir mit unseren kognitiven Welten um, als wären sie real, und bemerken diese Als-Ob-Fiktionen nicht einmal.“195 Und Roth meint: „Unser Ich […] ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum eines Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können.“196 Diese Gleichsetzung von Fiktion 191 Vgl. Glasersfeld 1987: 405 und 415–417, Glasersfeld 1989: 443 und Schmidt 1989: 321f. – Hinzuzufügen ist, dass die konsensuelle Etablierung von Fakten nach heutigem Standard zudem des Belegs bedarf, für historische Fakten z.B. durch (zeitgenössische) Dokumente, Fotografie, Berichte von Augenzeugen oder anderen Autoritäten. Es handelt sich dabei um den Versuch, nachträglich eine Art ‚virtuelle Zeugenschaft‘ zu errichten (vgl. Smith 1992: 427 sowie ferner Doležel 1999: 257). In den empirischen Wissenschaften gilt ein Versuchsergebnis erst als Faktum, wenn es möglichst subjektunabhängig zustande kommt, sich in einer repräsentativen Anzahl gleicher Versuche reproduzieren lässt und intersubjektiv kommunizierbar ist. Zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung des Ideals des austauschbaren Beobachters, der Reproduktion gleicher Versuchsbedingungen und der Kommunizierbarkeit des Ergebnisses vgl. Daston 2001: 142f. 192 Vgl. Schmidt 1989: 329, Anm. 3. 193 Foerster 1987: 144, der hier Gregory Bateson zitiert. – Zur Kritik an der poststrukturalistischen und postmodernen Identifizierung von Fakt und Fiktion vgl. Doležel 1999: 248–253, Kablitz 2003: 251–256 sowie Schaefer 2008: 301 und 311, Anm. 62. 194 Vgl. Schmidt 1994: 134f. – So plausibel das Kriterium empirischer Überprüfbarkeit auf den ersten Blick erscheint, so problematisch ist es vor dem Hintergrund konstruktivistischer Grundannahmen, die eine ‚empirische Überprüfung‘ von Fakten ja gerade infrage stellt: Eine ‚empirische Überprüfung‘ kann – in der Logik des Konstruktivismus – nur auf intersubjektiver Bestätigung und Viabilität beruhen. 195 Schmidt 1987a: 75. 196 Roth 1987: 253. Der Zusatz ‚poetisch‘ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Roth den Fiktionsbegriff im Sinne von Fiktion1 (nicht im Sinne der literarischen Fiktion) verwendet.

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und Konstrukt ist insofern problematisch, als damit Konstrukte auf Fiktionen1 reduziert und Fakten ausgeblendet werden (die doch gerade als Konstrukte ausgewiesen werden sollen). Zu diesem irreführenden Gebrauch von Fiktion kommt es deshalb, weil der Konstruktivismus die Frage nach dem Unterschied von Fakten und Fiktionen1 (sowie generell zwischen verschiedenen Arten von Konstrukten) weitgehend vernachlässigt. Eine Ausnahme bildet von Glasersfeld, der klarstellt, dass „auch der Konstruktivist […] zwischen dem ‚Illusorischen‘ und dem ‚Wirklichen‘ unterscheiden können“ wolle, und der, unter Rekurs auf Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911), verschiedene Arten von Konstrukten differenziert:197 Alles, was man konstruiert, ist ‚als ob‘. D.h., man konstruiert es als versuchsweise Annahme. Das heißt aber nicht, daß ein ‚Als ob‘ ebenso gut ist wie ein anderes ‚Als ob‘. Man unternimmt die Konstruktion ja aus bestimmten Gründen; und im Rahmen der jeweiligen Gründe funktionieren mehrere Konstruktionen selten gleich gut. Die Kriterien zu [sic] unterschiedlichen Bewertung zweier ‚Als ob‘ lassen sich nur aus der Praxis ableiten.198

Damit ist klar gesagt, dass nicht alles, was Konstrukt (bei Vaihinger: ,Als ob‘) ist, zugleich auch Fiktion1 ist. Abermals in Anlehnung an Vaihinger definiert von Glasersfeld dann Fiktionen1 als eine bestimmte Art theoretischer Hilfsannahmen, die „nützlich bei der Organisation von Erfahrungen“ sind und zur Lösung alltagspraktischer Entscheidungen dienen, aber mitnichten beanspruchen, die Erfahrungswirklichkeit zu beschreiben.199 Eine Fiktion1 sei „etwas, wo du dir von Anfang an im klaren bist, daß du in der Erfahrung nie sagen wirst können: Das ist so oder nicht so.“200 Dies unterscheide Fiktionen1 von Hypothesen: Von der Hypothese werde erwartet, dass sie sich irgendwann durch die Erfahrung als richtig bestätigen lasse; für die Fiktion1 hingegen werde eine solche Beweisführung erst gar nicht angetreten.201 Von Glasersfeld kommt damit das Verdienst zu, zwischen Konstrukt und Fiktion differenziert zu haben.202 Ausgeblendet bleiben jedoch auch bei ihm – wie im

197 Glasersfeld 1987: 415. Vgl. auch ebd. 404. – Schon bei Vaihinger werden „[g]anz klar […] nicht sämtliche Begriffe als Fiktionen kategorisiert, sondern es geht um die Beschreibung einer bestimmten Gruppe von Begriffen, denen eine spezifische Funktionalität zukommt“ (Traninger 2008: 47). 198 Glasersfeld 1987: 411. – Dass alles Konstruierte nur „als ob“ ist, trifft allerdings nicht auf alle Konstrukte zu. Alltagsfabrikate oder Maschinen mögen konstruiert sein, konstituieren aber kein Als-ob. Auch zielen sie nicht auf Erkenntnis, sondern praktischen Nutzen. 199 Glasersfeld 1996: 324. Schon Vaihinger betrachtet Fiktionen als „Begriffe, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, ‚welche in der Wirklichkeit keinen Vertreter finden‘“ (Traninger 2008: 46 unter Verwendung eines Vaihinger-Zitats). Auch Watzlawick (1985: 75f.) benutzt den Fiktionsbegriff in diesem Vaihinger’schen Sinne. 200 Glasersfeld 1996: 324. 201 Vgl. ebd. 324, der dabei erneut auf Vaihinger rekurriert. 202 Gewisse Inkonsistenzen zeigen sich allerdings in von Glasersfelds Beispielen, in denen er dann doch Fakt und Fiktion1 vermischt. Er bezeichnet z.B. die ‚objektive Wirklichkeit‘ als eine „brauchbare Fiktion“ und Kausalität als „eine jener heuristischen Fiktionen, die die Vernunft braucht, um ein rationales Bild von sich selbst als Wissensquelle hervorbringen zu kön-

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Konstruktivismus generell – Fiktionen2 und mithin auch fiktionale Texte. Selbst die konstruktivistische Literaturwissenschaft interessiert sich aufgrund ihrer sozialwissenschaftlichen Ausrichtung kaum für die literarische Fiktion. Über die spezifische Konstruktivität fiktionaler Texte wird bei den Konstruktivisten allenfalls am Rande reflektiert. Paradigmatisch ist hierfür Siegfried J. Schmidts Aufsatz „On the Construction of Fiction and the Invention of Facts“, der, anders als man vermuten könnte, Fiktionen gar nicht verhandelt (der Begriff ‚Fiktion‘ kommt, außer im Titel, nicht vor).203 Thematisiert werden stattdessen der Konstruktcharakter von Fakten und seine methodologischen Konsequenzen für die empirische Literaturwissenschaft. Über Literatur selbst spricht Schmidt nur, wenn er feststellt, dass ihre Bestimmung von Konventionen abhänge: darunter insbesondere die ‚Polyvalenzkonvention‘, derzufolge die literarische Sprache mehrdeutig sein darf, sowie die ‚ästhetische Konvention‘, die u.a. die ‚Faktenkonvention‘ aussetze und Kriterien wie ‚wahr/falsch‘, ‚nützlich/unnütz‘ sowie den Referenzrahmen des etablierten Wirklichkeitsmodells ihrer Geltung beraube. 204 Schmidts ‚ästhetische Konvention‘ umschreibt damit das, was gemeinhin als Fiktionalität bezeichnet wird (ohne jedoch diesen Begriff zu benutzen). Zumindest aber lässt sich die Differenz zwischen fiktionalen und faktualen Texten aus Schmidts ‚Faktenkonvention‘ herleiten.205 Wenn sich faktuale Texte am jeweils gültigen Weltmodell orientieren müssen und ein historischer oder wissenschaftlicher Text mithin nicht alles behaupten kann, sondern nur das, was allgemein als faktisch (historisch bzw. wissenschaftlich) akzeptiert bzw. akzeptabel ist, dann folgt daraus, dass fiktionale Texte genau dieser Einschränkung nicht unterliegen. Sie können auch auf andere Referenzrahmen bzw. Weltmodelle referieren, sind also frei, auch Nichtfaktisches zu behaupten.206 Hierin besteht die ‚Freiheit‘ der Fiktion.207 Kennzeichen der Fiktion2 ist also nicht das (mögliche, aber nicht notwendige) fiktive Substrat, sondern ein sprachlicher Modus, der über mehr Freiheiten als der faktuale Text verfügt und insbesondere nicht an das Faktizitätsgebot gebunden ist. Die Fiktion2 kann Fiktives und Faktisches mischen, aber

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206 207

nen“ (ebd. 323 und 83) – also jene Konstrukte, die nach seiner eigenen Differenzierung als Fakten oder Hypothesen bezeichnet werden müssten. Vgl. Schmidt 1989. Vgl. ebd. 329 und ebd. Anm. 3. „Fact convention. It is common knowledge in our society that communicative objects, especially texts, should permit reference to the world model accepted in that society, such that people can decide if assertions conveyed by the text are true and what their practical relevance is“ (ebd.). Zur Restriktivität des Faktualen und der Aufhebung von Restriktionen in der Fiktion vgl. Kablitz 2003: 262, Doležel 1999: 256ff. und Gabriel 2004: 648. Die Konstruktivisten haben auch für die Freiheit bei der Konstruktion eine kognitionswissenschaftliche Erklärung: Es müsse Spielräume (bzw. Autonomie gegenüber der Umwelt) geben, damit das kognitive System Modelle erstellen kann, an denen zukünftiges Handeln geplant und probeweise durchgespielt werden kann, um das Überleben des Organismus zu sichern (vgl. Pasemann 1996: 85 sowie Roth 1987a: 270). Offen bleibt dabei allerdings, warum und unter welchen Bedingungen eine solch zweckgerichtete Exploration von Handlungsalternativen auch in zweckfreie Kunst oder Spiel umschlagen kann.

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selbst wenn sie ausschließlich über Faktisches spricht, bleibt die Referenz auf die Wirklichkeit suspendiert. Die Fiktion2 kann also Faktisches zur Sprache bringen, beschränkt ist sie hierauf nicht. Ergänzt seien nun noch einige eigene Überlegungen zum spezifischen Konstruktcharakter literarischer Fiktionen2 – Überlegungen, die sich in der konstruktivistischen Theoriebildung so nicht finden, jedoch mit ihr kompatibel sind. Eine Besonderheit fiktionaler literarischer Texte scheint mir darin zu bestehen, dass sie Konstrukte in gleich mehrfacher Hinsicht sind: 1.) Zunächst sind sie – wie alle Texte – Artefakte, d.h. aus Sprache und Buchstaben zusammengesetzte, vom Menschen intentional gefertigte Werke, und damit bereits Konstrukte zweiter Stufe bzw. bewusste Konstrukte. 2.) Die Artifizialität eines Textes potenziert sich sodann, wenn es sich außerdem um einen literarischen Text handelt, denn dieser ist ein künstlerisches Artefakt, das zum Zwecke der Darbietung erstellt worden ist.208 Durch ihren Darbietungscharakter geben sich Kunstwerke stärker als Konstrukt zu erkennen, als es Gebrauchsgegenstände, d.h. nichtkünstlerische Artefakte, tun.209 3.) Qua Fiktion2 sind fiktionale literarische Texte zudem Konstrukte, die in einer ganz spezifischen Relation zur Wirklichkeit stehen – sie erheben nicht den Anspruch, die Wirklichkeit darzustellen, sondern konstruieren eigene Welten bzw. Weltmodelle –, was mehr oder weniger deutlich durch konventionalisierte Fiktionssignale markiert ist.210 Dass sich der fiktionale Text selbst als ein Als-ob zu erkennen gibt, ist ein Hinweis auf den Konstruktcharakter der von ihm beschriebenen Welt. Sofern er sich wirklichkeitsillusionistischer Techniken bedient, um sich selbst als faktualen Text auszuweisen, konstituiert er damit ein weiteres Als-ob: Er tut dann nicht nur so, als würde er die Wirklichkeit beschreiben, sondern gibt zugleich vor, einer anderen, faktualen Gattung zuzugehören (so z.B. ein Roman, der sich als historiographischer Text ausgibt). Abschließend bleibt anzumerken, dass im Konstruktivismus oftmals das vernachlässigt wird, was man die Realität der Konstruktion nennen könnte: Die Konstruktionen sind als Konstrukte real. Sie mögen flüchtig sein, wie im Fall kognitiver Prozesse, haben aber als kognitive Prozesse durchaus Realität und zudem ganz reale Auswirkungen auf das menschliche Denken und Handeln. Dies gilt auch für Fiktionen1+2, die, einmal gedacht, einmal konstruiert oder als Text niedergeschrie208 Zum Darbietungscharakter von Kunstwerken vgl. Seel 2000: 176. 209 Im Fall von Ready mades wird dieser Darbietungscharakter zum entscheidenden Kriterium für Kunst. Erst die Darbietung, die Ausstellung in einem neuen, entpragmatisierenden Kontext, macht aus Gebrauchsgegenständen Kunstwerke (vgl. etwa Duchamps Fountain oder André Bretons Gedicht „PSTT“, das aus einem Telefonbuchauszug besteht). 210 Auch illusionistische Texte, die bekanntlich ihren Fiktionscharakter verschleiern (z.B. der realistische Roman), enthalten Fiktionssignale, die die erzählte Geschichte als Als-ob ausweisen, z.B. das passé simple und der allwissende Erzähler. Schon Barthes (1953: 59) betont: „L’écriture réaliste est loin d’être neutre, elle est au contraire chargée de signes les plus spectaculaires de la fabrication.“ Das im mündlichen Sprachgebrauch fast verschwundene passé simple setzt demnach „un continu crédible mais dont l’illusion est affichée“ (ebd. 50). Die Allwissenheit gibt dem Erzähler „eine Verfügungsgewalt über ‚seine Welt‘ […], die dem normalen [sc. alltagssprachlichen] Erzähler nie eignet“ (Hempfer 1990: 127).

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ben, Spuren hinterlassen – sowohl im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis. Einen besonderen Status haben in diesem Kontext Kunstwerke bzw. Fiktionen2, die, sobald sie kanonisiert sind, nicht selten über Generationen hinweg rezipiert werden. 2.5 KONSTRUKTIVISMUS UND POSTMODERNE Ein kurzer, keineswegs auf Vollständigkeit angelegter Blick soll nun das Verhältnis von Konstruktivismus und Postmoderne ein wenig erhellen. Insgesamt ist die Postmoderne freilich ein zu wenig klar umrissener Begriff und versammelt unter ihrem Dach allzu heterogene Strömungen, als dass man sie uneingeschränkt mit den (ebenfalls vielfältigen) konstruktivistischen Epistemologien in Zusammenhang bringen könnte. Eine gewisse Nähe scheinen die bisher dargestellten Formen des Konstruktivismus jedoch zum Postmodernekonzept Wolfgang Welschs aufzuweisen, das, ausgehend von epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Prämissen, die Idee der Pluralität ins Zentrum stellt. Nach Welsch ist Postmodernes überall dort zu sehen, „wo eine grundsätzliche Pluralität von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk“.211 Welsch hebt hervor, dass es in der Postmoderne vor allem um eine veränderte Grundhaltung gegenüber bereits bekannten Phänomenen geht.212 Pluralität sei bereits in der Moderne Thema gewesen, werde aber erst in der Postmoderne radikalisiert und völlig neu, nämlich positiv bewertet. Während die Moderne den Verlust des Ganzen und der Einheit noch schmerzlich bedauert habe, sehe die Postmoderne die Pluralisierung nicht mehr als „Auflösungsvorgang“, sondern als „Glücksgestalt“: Die programmatische Pluralität schütze das Partikulare und damit die individuelle Freiheit.213 Radikal sei die postmoderne Pluralität, weil sie nicht mehr nur „ein Binnenphänomen innerhalb eines Gesamthorizonts darstell[e], sondern noch jeden solchen Horizont bzw. Rahmen oder Boden tangier[e]“, also „eine Unterschiedlichkeit der Rahmenvorstellungen“ impliziere.214 Für den Bezug zum Konstruktivismus ist nun besonders bemerkenswert, dass die Postmoderne ihr Pluralitätstheorem erkenntnistheoretisch rechtfertigt. Ausgangspunkt ist nämlich, so Welsch, die Schlüsselerfahrung, „daß ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und daß diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger ‚Licht‘ besitzt als die erstere – nur ein anderes. Licht, so erfährt man dabei, ist immer Eigenlicht“.215 Es geht also um die Einsicht, dass jedwede Erkenntnis an einen subjektiven Beobachterstandpunkt gebunden ist. Der postmoderne Abschied von der Ganzheit 211 212 213 214 215

Welsch 1993: 16f. Vgl. Welsch 1998: 94. Welsch 1993: 5, 94 und 181. ebd. 4. ebd. 5.

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und die Hinwendung zur Vielheit basieren also auf der epistemologischen Einsicht in die Relativität allen Wissens. Oder wie Welsch formuliert: „Es gibt keinen Zugriff aufs Ganze, alle Erkenntnis ist limitativ.“216 Welsch sieht die Postmoderne zwar primär im Ästhetischen verankert (er spricht von der „Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst“),217 hebt aber auch die Konvergenz postmoderner Konzepte mit jüngeren Ideen der Wissenschaft hervor: neben Pluralität auch Diskontinuität, Antagonismus und Partikularität.218 Dass die Postmoderne nicht nur in den Künsten, sondern vor allem auch in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts (Einstein, Heisenberg, Gödel) verwurzelt ist, hat bereits François Lyotard festgehalten und sein bahnbrechendes Buch La Condition postmoderne (1979) mit „rapport sur le savoir“ untertitelt.219 Sieht man sich nun an, wie die Konstruktivisten die Postmoderne (und ihr eigenes Verhältnis zu ihr) bewerten, so trifft man auf höchst divergente Einschätzungen, denen nur eines gemeinsam zu sein scheint: Sie möchten keinesfalls mit einer negativen Vorstellung von Postmoderne assoziiert werden. Während Le Moigne die konstruktivistischen Epistemologien ausdrücklich von den ‚postmodernen Ideologien‘ distanziert,220 wertet Rusch den Konstruktivismus als eine „postmoderne[] Philosophie[]“ von vielen, grenzt ihn aber von anderen, „insbesondere jenen dekonstruktionistischer Provenienz“ ab: Von dekonstruktivistischen Theorien unterscheide sich der (Radikale) Konstruktivismus durch sein Festhalten am Sozialen, an Kommunikation, Verstehen und Handlungszielen.221 Differenzierter äußert sich Siegfried J. Schmidt, der zwar 1987 noch meint, Poststrukturalismus und Postmoderne seien aufgrund ihrer Irrationalität „keine Verwandten“ des Konstruktivismus, einige Jahre später aber doch Gemeinsamkeiten mit jenem „‚achtenswerten‘ postmodernen Pluralismus, wie ihn W. Welsch im Anschluß an F. Lyotard vertritt“, erkennt.222 Konstruktivismus und Postmoderne seien beide „legitime Kinder der Kunst, Philosophie und Wissenschaft“ des 20. Jahrhunderts und zudem geeint in der „Einsicht in die unaufhebbare Pluralität von Wirklichkeiten“ und in der „Verteidigung der Pluralität“ als Ermöglichungsgrundlage von Freiheit.223 Beide träten ein für: Differenz statt Identität als Ausgangspunkt von Wissen, Vernunfttypen und Welterzeugungsstrategien, Ablehnung aller Meistererzählungen (einschließlich der eigenen), Wissenschafts-

216 ebd. 77. 217 So der Titel eines Aufsatzes von 1990 (vgl. Welsch 1998: 79–113). 218 Vgl. Welsch 1993: 188. – Welsch (ebd. 185–189) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf ähnliche Autoritäten wie schon Lyotard (1979: 97): Einsteins Relativitätstheorie, Heisenbergs Unschärferelation, Gödels Unvollständigkeitssatz, die Theorie der Fraktale, die Katastrophentheorie, die Theorie dissipativer Strukturen und die Chaosforschung. 219 Lyotards Thema sind die „transformations qui ont affecté les règles des jeux de la science, de la littérature et des arts à partir de la fin du XIXe siècle“ (ebd. 7). 220 Man solle, so Le Moigne (2001a: 199), das ‚konstruktivistische Baby nicht mit dem Bade der postmodernistischen Ideologien ausschütten‘. 221 Rusch 1999: 8. 222 Schmidt 1987a: 74 und Schmidt 1994: 133. 223 Ebd. 122, 134 und 137f.

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und Rationalitätskritik, Zweifel am Fortschritt, an Objektivität und Wahrheit, Verteidigung von Minoritäten und Randgruppen, Leitfunktion des Ästhetischen und vieles mehr.224

Dem dürfte im Wesentlichen zuzustimmen sein, problematisch erscheint nur die angebliche ‚Leitfunktion des Ästhetischen‘, die für den Konstruktivismus so nicht zu belegen ist.225 Worauf Schmidt hier möglicherweise hinaus will, ist die kulturelle Prägung von Wissen und Erkenntnis (wobei er freilich vernachlässigt, dass ‚ästhetisch‘ und ‚kulturell‘ keine Synonyme sind). Einen zentralen Unterschied sieht er schließlich zwischen dem postmodernen Postulat vom ‚Verschwinden des Subjekts‘ einerseits und dem konstruktivistischen „Festhalten am Subjekt als empirische[m] Ort gesellschaftlicher Sinnproduktion“ andererseits.226 Fassen wir zusammen: Einiges spricht dafür, den Konstruktivismus im Epochenkontext der Postmoderne anzusiedeln.227 Konstruktivismus und Postmoderne sind einander verbunden in ihrer Kritik am dogmatischen Wahrheitsanspruch und ihrem Plädoyer für Pluralität und Offenheit. Beide lehnen Einheitstheorien und monistische Wirklichkeitsmodelle, die mit Ausschließlichkeitsanspruch auftreten, ab und ersetzen sie durch pluralistische Konzepte. Und zumindest der Konstruktivismus Piaget’scher Prägung und die Postmoderne sensu Welsch sind sich einig in der Abgrenzung von Beliebigkeit und Willkür. Außerdem argumentieren einige Forscher, dass die Konstruktivität die zentrale epistemologische Prämisse der Postmoderne sei. N. Katherine Hayles beispielsweise hält die Entdeckung der Konstruktivität für den entscheidenden Schritt von der modernen zur postmodernen Episteme („cultural matrix“): „[W]hat we have always thought of as the essential, unvarying components of human experience are not natural facts of life, but social constructs“.228 So gesehen „treffen sich“ Konstruktivismus und Postmoderne tatsächlich, wie Angela Fitz formuliert, „in einem neuen Paradigma der Konstruktion von Welt“.229 224 Ebd. 122. 225 Voreilig identifiziert Schmidt hier Welschs These der „ästhetischen Verfassung unserer Wirklichkeit“ mit der konstruktivistischen These der „Konstruktion von Wirklichkeit(en)“ (ebd. 123): ‚Ästhetisch‘ und ‚konstruiert‘ sind nicht bedeutungsgleich. 226 Ebd. 130f. – Eine weitere, „grundsätzliche Differenz“ sieht Schmidt (ebd. 122) darin, dass die Postmoderne ein ‚geschichtsphilosophisch und ethisch orientierter Diskurs‘ sei, der (zumindest in einigen Fällen) einen ‚erkenntnistheoretischen Konstruktivismus‘ vertrete, wohingegen der Radikale Konstruktivismus ‚kognitionstheoretisch orientiert‘ sei und einen ‚erkenntnistheoretischen Relativismus‘ vertrete. Eine genauere Erklärung, worin der Unterschied zwischen ‚erkenntnistheoretischem Konstruktivismus‘ und ‚erkenntnistheoretischem Relativismus‘ besteht, gibt er allerdings nicht. 227 Zu diesem Ergebnis kommt nach ausführlicher Diskussion auch Fitz (1998: 306–356, insb. 324f.). 228 Hayles 1990: 265. – Die ‚kulturelle Matrix‘ („cultural matrix“) wird dabei von Hayles als epistemologische Ebene definiert (ebd. 3f.): Sie sei der „epistemic ground on which it [sc. science] – and much else in contemporary culture – rests“ (ebd. 16) und damit verantwortlich dafür, dass in verschiedenen Wissensbereichen unabhängig voneinander sehr ähnliche Phänomene aufträten; z.B. seien Parallelen zwischen Chaostheorie und Postmoderne nur zu erklären unter der Annahme, „that both are part of a common episteme“ (ebd. 176). 229 Fitz 1999: 356.

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2.6 KONSTRUKTIVISMUS IN ÄSTHETIK UND KUNSTTHEORIE: ECOS ‚OFFENES KUNSTWERK‘ Am Schluss dieses Kapitels soll mit Umberto Eco ein Theoretiker im Mittelpunkt stehen, der für unsere Fragestellung in doppelter Hinsicht zentral ist. Eco hat mit Opera aperta (1962) nicht nur einen Meilenstein der Kunst- und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts vorgelegt und mit seinen Überlegungen zum ‚offenen Kunstwerk‘ auf Robbe-Grillet besonders prägend gewirkt, sondern er gehört auch zu den ersten Kritikern, bei denen sich konstruktivistische Ansätze in Ästhetik und Kunsttheorie zeigen. Ausgangspunkt ist für Eco (wie für Robbe-Grillet) die Idee, dass das 20. Jahrhundert von einem epistemologischen Bruch geprägt sei, der zu einer neuen Weltsicht geführt habe: einer „nuova visione del mondo“, die die Welt nicht mehr als geordneten Kosmos, sondern als ‚ungeordnet‘ und ‚unbestimmt‘ betrachte.230 Von dieser neuen Weltsicht sieht Eco nicht zuletzt das zeitgenössische, sog. ‚offene Kunstwerk‘ geprägt. Dass sich Eco in Opera aperta darüber hinaus nicht nur als Vordenker der Postmoderne, sondern auch als Konstruktivist avant la lettre zeigt, lässt sich zum einen daran ablesen, dass er diverse Konzepte und Theorien zitiert, auf die sich auch die Konstruktivisten nur wenige Jahre später stützen.231 Zum anderen beruft er sich im Rahmen seines Modells ästhetischer Kommunikation, das auf den seinerzeit neuesten Erkenntnissen der Informations- und Kommunikationstheorie basiert, unmittelbar auf Piagets Entdeckung der ‚fundamentalen Offenheit jedes Wahrnehmungs- und Verständnisprozesses‘ („[la] fondamentale ‚apertura‘ di ogni processo di percezione e intelligenza“).232 Wahrnehmung und Erkenntnis konstituieren, so formuliert er im Anschluss an Piaget, ‚eine konstruktive Aktivität des Subjekts‘ („una attività costruttiva da parte del soggetto“) und mithin ‚einen für viele mögliche Ausgänge offenen Prozess‘ („un processo aperto a molti esiti possibili“), der alleine durch ‚perzeptive Konstanten‘ („costanze percettive“) beschränkt sei.233 Diese Offenheit kognitiver Vorgänge bildet die Basis für Ecos Konzeption des ‚offenen Kunstwerks‘.234

230 Eco 1971: 48. 231 Zu nennen sind hier die Abkehr von linearer Kausalität, Eindeutigkeit und zweiwertiger Logik inkl. des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten, sodann die Einstein’sche Physik und die Entdeckung von Diskontinuität, Unbestimmtheit und Komplementarität in der Quantenphysik sowie die Phänomenologie (vgl. Eco 1962: 45f., 48 und 137). 232 Eco 1971: 124. – Zwar findet Piaget in der Originalausgabe von Opera aperta noch keine Erwähnung, wohl aber ab der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1967. 233 Ebd. 129. 234 Möglicherweise rekurriert Eco mit dem Begriff des ‚offenen Kunstwerks‘ implizit auch auf Poppers ‚offene Gesellschaft‘. Popper definiert diese in The Open Society and Its Enemies (1945) als eine plurale Gesellschaft, in der es, anders als in geschlossenen Gesellschaften, eine Dynamik konfligierender Interessen und antagonistischer Tendenzen gebe (vgl. Popper 1962, Bd. I: 174). Ein Rekurs auf Popper ist nicht zuletzt deswegen insofern plausibel, als Eco (1971: 142f.) das ‚offene Kunstwerk‘ explizit mit einem Gesellschaftswandel verbindet und als Ziel eine neue, offene Kunst in einer neuen, pluralen Gesellschaft propagiert.

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Eco unterscheidet bei Kunstwerken mehrere Arten bzw. Grade von Offenheit. Eine grundsätzliche Offenheit sieht er bei jedem Kunstwerk gegeben; sie gestatte es, ein Werk immer wieder neu und anders zu rezipieren.235 Davon unterscheidet er die stärkere Offenheit der sog. ‚offenen Kunstwerke‘, wie sie die Kunst der modernen Avantgarden hervorgebracht habe.236 Offenheit wird hier zum eigentlichen Gegenstand des Werks; dieses ist bewusst vieldeutig konstruiert und muss zwingend in seiner strukturellen Ambiguität rezipiert werden. Innerhalb der Kategorie der ‚offenen Kunstwerke‘ differenziert Eco dann nochmals zwischen (a) Kunstwerken mit offener Sinnstruktur, die physisch abgeschlossen, aber offen für ständiges Neuknüpfen innerer Beziehungen sind (z.B. Joyce’ Finnegans Wake), und (b) Kunstwerken in Bewegung („oper[e] in movimento“), d.h. ‚unfertige‘ Werke, die den Rezipienten oder Ausführenden auffordern, es aktiv mitzugestalten und die damit über den höchsten Grad an Offenheit verfügen.237 Zu den opere in movimento zählt er nicht nur die zeitgenössische Musik eines Stockhausen oder Pousseur, sondern auch Mallarmés Livre: Konzipiert als ‚bewegliches Bauwerk‘ („monumento mobile“) haben die Seiten keine feste Anordnung und können nach Permutationsgesetzen immer wieder neu und anders kombiniert werden.238 Später gibt sich Eco dann noch deutlicher als Konstruktivist zu erkennen. Im ersten Kapitel von Kant e l’ornitorinco (1997) exponiert er beispielsweise ein konstruktivistisch fundiertes Erkenntnismodell.239 Ganz im Sinne der konstruktivistischen Viabilität sieht er vielfältige Perspektiven auf die Welt gegeben, beschränkt allein durch die ‚Resistenzen des Seins‘ („resistenze dell’essere“).240 Die Wirklichkeit lege unserem Erkennen nur in dem Sinne Schranken auf, als sie uns zwinge, falsche Interpretationen zu verwerfen.241 Auch der Sprache gesteht er einen welt- bzw. seinskonstitutiven Part zu: „[L]’essere è qualcosa che si dice“.242 Doch sei auch sie nicht vollkommen frei, sondern müsse sich an die Schranken der Wirklichkeit halten.243 Frei sei allein die Sprache der Dichtung und des My-

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239 240 241 242 243

Vgl. ebd. 52. Zu dieser grundsätzlichen Offenheit vgl. auch ebd. 57–85. Vgl. ebd. 52. Ebd. Zu Finnegans Wake vgl. ebd. 35f. Vgl. ebd. 23–27, 39–42 und 50f., zu Mallarmé insb. 40. – Eco ist sich bewusst, dass es einen Unterschied zwischen Kunstwerken gibt, die einer Aufführung durch einen Interpreten bedürfen (vor allem Musik), und solchen, die keiner Aufführung bedürfen (z.B. Literatur). Bei literarischen Kunstwerken setzt er daher den Leseakt und damit den Rezeptionsprozess selbst analog zur Aufführung (vgl. ebd. 25, Anm. 1). Noch 1997 zeigen sich übrigens klare Reminiszenzen an das Offene Kunstwerk; vgl. etwa „l’opera mantiene aperta l’apertura del Mondo“ (Eco 1997: 23). Ebd. 37. „[L]a realtà impone restrizioni alla nostra conoscenza solo nel senso che rifiuta interpretazioni false“ (ebd. 40). Das von Eco in diesem Zusammenhang verwendete Bild des Waldweges mit Hindernissen erinnert sehr an von Glasersfelds Waldläufer-Metapher. Ebd. 12. Vgl. ebd. 40.

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thos: „Certo che, di fronte a queste resistenze, il linguaggio dei Poeti sembra porsi in una zona franca.“244 Ecos Überlegungen zum ‚offenen Kunstwerk‘ haben Robbe-Grillet stark beeinflusst.245 Dies erklärt sich zum einen damit, dass Eco die Bereiche Kunst, Wissenschaft, Epistemologie und Gesellschaft geschickt miteinander verknüpft, zum anderen damit, dass er eine ‚moderne‘ von einer ‚traditionellen‘ Kunst abgrenzt – an beidem ist Robbe-Grillet gelegen. Darüber hinaus mag es keine geringe Rolle gespielt haben, dass Eco selbst Robbe-Grillets Romane schon 1962 als ‚offene Kunstwerke‘ bezeichnet hat.246 Ecos Einflüsse zeigen sich an diversen Stellen. So überträgt Robbe-Grillet beispielsweise Ecos Joyce-Interpretation auf sein eigenes Werk. Die spezifische ‚Dialektik‘, ‚konstante Polarität‘ und ‚unauflösbare Spannung‘, die Eco bei Joyce diagnostiziert hatte,247 sieht Robbe-Grillet bei sich selbst gegeben: Er bezeichnet sich als „écrivain non réconcilié“ und seine Literatur als eine „littérature conflictuelle“, „de tensions non résolues“, die beständig zwischen den „pôle[s] du conflit narratif“ oszilliere.248

244 Ebd. 42. – Hier finden wir die Kriterien für unsere Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Sprechen wieder. 245 Vgl. dazu Robbe-Grillet selbst in: A. Robbe-Grillet, Le Voyageur. Textes, causeries et entretiens (1947–2001), hg. v. Olivier Corpet u. Emmanuelle Lambert, Paris: Seuil (coll. „Points“; éd. de poche), 2001, S. 533; im Folgenden kurz Voyageur, wobei das Jahr des jeweils zitierten Artikels in eckigen Klammern hinter der Sigle angegeben wird. 246 Vgl. Eco 1971: 275–277. Es handelt sich um Ecos Zeitschriftenartikel „Del modo di formare come impegno sulla realtà“, erstmals erschienen in Il menabò di letteratura 5 (1962), wieder abgedruckt in der Neuauflage von Opera aperta (1967). 247 Vgl. dazu die (wahrscheinlich von Robbe-Grillet rezipierte) französische Übersetzung von Opera aperta: „[C]hez Joyce, le choix définitif n’a jamais été accompli, […] sa dialectique offre, bien plutôt qu’une médiation, le développement d’une polarité constante, d’une tension jamais résolue“ (Eco 1965: 175). Zum italienischen Original vgl. Eco 1962: 222. 248 Voyageur [1972]: 109, 117 und 122.

3 ZUM FORSCHUNGSSTAND Robbe-Grillets Werk ist bisher nicht systematisch auf konstruktivistische Aspekte untersucht worden. Dies ist insofern nicht überraschend, als es insgesamt nur wenige Untersuchungen zur Verbindung von Konstruktivismus und Literatur gibt.1 Zudem erfüllen die Beiträge nicht in jedem Fall die Erwartungen, die ihre Titel mitunter wecken. So geht es in Gerhard Buttersʼ Artikel „Roman und Konstruktion – Zur Poetik des Nouveau Roman“ (1977) zwar um den Konstruktcharakter von Robbe-Grillets Romanen, nicht jedoch um epistemologische oder gar konstruktivistische Fragen.2 Auch Natalie Großʼ Verwendung des Begriffs Autopoiesis im Titel ihres Buches suggeriert einen Rekurs auf den Konstruktivismus; die Prägung des Autopoiesis-Begriffs durch Maturana wird von ihr jedoch nicht einmal erwähnt.3 Eine Ausnahme bildet Manfred Schmeling, der den bislang wohl deutlichsten Bezug zwischen Robbe-Grillet und dem Konstruktivismus hergestellt hat. Unter dem Titel „Narrativer Konstruktivismus in den Labyrinthen der Postmoderne“ analysiert er Erzählformen verschiedener Autoren, die ein „pluralistische[s] Sinn- bzw. Wahrheitskonzept“ vermitteln und zu denen er neben Intertextualität, Spiel etc. auch den sog. ‚labyrinthischen Diskursʻ zählt.4 Robbe-Grillets Erzähllabyrinthe seien exemplarisch für die bewusste Verlängerung des „konstruktivistische[n] Potential[s] des Labyrinth-Musters […] in die romaneske Form hinein“: Labyrinthisches werde bei Robbe-Grillet nicht nur thematisiert, sondern auch strukturell realisiert.5 Dabei sei das Labyrinthische besonders geeignet für die „Auseinandersetzung der Autoren mit kognitiven Prozessen (Stichwort: Sinnkrise)“ und diene „als Vehikel von sprach- oder gar erkenntniskritischen Modellen“.6 Worin genau das Konstruktivistische dieser Modelle besteht, lässt Schmeling allerdings offen. Vor dem Hintergrund dieses Befundes gilt es im Folgenden auch einen Blick auf solche Studien zu werfen, die sich ganz allgemein den epistemologischen Aspekten des Robbe-Grillet’schen Werks oder, aufgrund der Verflechtung von Epistemologie und Wissenschaftstheorie, seinen Wissenschaftsbezügen widmen. Abschließend werden einige Forschungspositionen zur Zuordnung des RobbeGrillet’schen Werks zu Moderne und Postmoderne vorgestellt. Zunächst betrachten wir aber Studien zu ‚Konstruktivismus und Literaturʻ.

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Vgl. dazu den folgenden Abschnitt (3.1). – Mit Studien zu Konstruktivismus und Literatur sind nach wie vor nicht die Beiträge zur Empirischen Literaturwissenschaft gemeint, sondern jene, denen es um die literarische ‚Umsetzungʻ konstruktivistischer Ideen geht. Vgl. Butters 1977: 82f. Vgl. Groß 2008. Schmeling 2007: 265. Ebd. 253. Ebd. 265.

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3 Forschungsstand

3.1 KONSTRUKTIVISMUS UND LITERATUR Sofern sich die literaturwissenschaftliche Forschung überhaupt mit der literarischen Umsetzung konstruktivistischer Ideen befasst, wendet sie sich der Gattung Roman zu.7 Die Zahl einschlägiger Arbeiten bleibt jedoch auch hier höchst überschaubar.8 Zu den ersten gehört Rolf Breuers Artikel zur Selbstreferentialität bei Beckett aus dem Jahr 1981. Mehrere ‚konstruktivistischeʻ Interpretationen gibt es zudem zu John Fowlesʼ The Magus (1965/77): von Ernst von Glasersfeld, Barbara Rommerskirchen und Ansgar Nünning.9 Angela Fitz hingegen untersucht den deutschsprachigen Gegenwartsroman auf konstruktivistische Elemente.10 Als einheitlicher Bezugsrahmen dient diesen Studien der Radikale Konstruktivismus.11 Aus Breuers Sicht wird der konstruktivistische Begriff der Rückbezüglichkeit in der sog. selbstreferentiellen Literatur veranschaulicht. Selbstreferentiell ist für ihn eine „Literatur, die die Tatsache ihrer Konstruiertheit ausspricht“, d.h. den Text als sprachliches Konstrukt oder als Fiktion ausweist.12 Am Beispiel von Becketts Romantrilogie (Molloy, Malone meurt und L’Innommable, 1951–53) zeigt er, wie eine zirkuläre Romanstruktur, die Hervorhebung des Erzählprozesses, die Inszenierung einer Schreibsituation oder die Auflösung der Figurenidentitäten hierzu beitragen können.13 Neben dem textuellen Konstruktcharakter kann, wie Nünning anmerkt, auch „die Konstrukthaftigkeit von Wirklichkeit, von Vergangenheit und von Identität sowie die Subjektabhängigkeit von Wahrnehmung, Wissen und Bedeutung“ fokussiert werden.14 Nünning kommt dabei das Verdienst zu, ein erstes „Raster von Analysekategorien bzw. ‚Bausteinenʻ einer konstruktivistischen Erzähltheorie“ entworfen zu haben.15 Grundsätzlich unterscheidet er dabei zwischen der expliziten Thematisierung konstruktivistischer Aspekte durch Figuren oder Erzählinstanz (Nünning nennt dies „Selbstreflexivität“) und der impliziten Erwähnung durch die „Struktur der erzählerischen Vermittlung bzw. die Perspektivenstruktur des narra7

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Hier ist nochmals zu betonen, dass, wenn hier und im Folgenden von ‚konstruktivistischen Erzählverfahren, Techniken etc.ʻ die Rede ist, damit ausschließlich Verfahren gemeint sind, die konstruktivistische Konzepte und Modelle mit literarischen Mitteln zur Anschauung bringen. Nicht gemeint ist, dass es sich bei den Verfahren um konstruktivistische handelt. Dies bestätigen Nünning 1989: 3 und Fitz 1998: 22f. Für Glasersfeld (1979: 444) ist The Magus „one of a small number of literary works into which I can read, without apparent effort on my part, a view of the world and a constructivist theory of knowledge“. Rommerskirchen (1999: 109) spricht von „a constructivist novel“. Nünning (1989) erläutert anhand von Fowesʼ Romanen seine ‚Bausteineʻ einer konstruktivistischen Erzähltheorie. Fitz (1998) analysiert folgende Romane: Ulrich Woelks Freigang, Sten Nadolnys Selim oder Die Gabe der Rede und Christoph Ransmayrs Die letzte Welt. Zwar beschränkt sich Rommerskirchen (1999: 21–36) nicht explizit auf den Radikalen Konstruktivismus, stützt sich aber de facto fast ausschließlich auf dessen Vertreter. Breuer 1981: 139. Vgl. ebd. 145. Nünning 1989: 3. Ebd.

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tiven Textes“ („Perspektivierung“), bei der davon ausgegangen wird, dass eine pluralisierte Perspektivenstruktur die Vermittlung einer ‚eindeutigenʻ Wahrheit verhindern kann.16 Bei der ‚Selbstreflexivitätʻ komme es darauf an, welche konstruktivistischen Konzepte wie häufig, wie explizit und von welchem Sprecher thematisiert würden.17 Bei der Perspektivierung sei entscheidend, wie viele Perspektiven (und damit: konkurrierende Wirklichkeitsmodelle) präsentiert würden, in welchem Maße sie sich wechselseitig modifizierten bzw. relativierten, ob die Figuren selbst bemüht seien, Divergenzen ihrer Weltmodellierung zu beseitigen, und ob eine Integrationsinstanz „zwischen inkompatiblen Modellen ausgleicht und vermittelt.“18 Vor allem aber hänge es von der Gestaltung der erzählerischen Vermittlung ab, ob „in einem Roman eine realistische oder konstruktivistische Konzeption von Wirklichkeit“ zum Ausdruck komme.19 Nünning lässt nun allerdings die (von Breuer so prominent gesetzte) textuelle Konstrukthaftigkeit in seiner systematischen Aufstellung völlig unbeachtet.20 In diese Lücke springt Rommerskirchen und ergänzt Nünnings Kriterienkatalog, auf den sie sich explizit bezieht, um selbstreferentielle Verfahren.21 Ähnliche Verfahren nennt Fitz und fügt außerdem hinzu: das „Spiel mit mehreren Textebenen“, „Verfahren der Selbstreflexion“, „Aspekte[] der Handlung wie Werdegang der Erzähler bzw. der zentralen Figuren“ sowie intertextuelle Verfahren.22 Nünnings Kriterienkatalog bietet also, sofern man ihn um selbstreferentielle, metafiktionale und intertextuelle Aspekte ergänzt, eine gute Orientierung für die Untersuchung literarischer Texte auf konstruktivistische Elemente. Es ist allerdings Vorsicht geboten: Ein nicht unerhebliches Problem fast aller genannten Studien ist die mitunter vorschnelle Qualifizierung von mehr oder minder ‚gewöhnlichenʻ narrativen Verfahren als ‚konstruktivistischʻ. Besonders auffällig ist dies im Fall der Erzählperspektive. Sämtliche Formen der Perspektivierung (abgesehen von der Null-Fokalisierung, d.h. dem allwissenden Erzähler) werden hier als konstruktivistisch gewertet.23 Um einer solchen Übergeneralisierung entgegenzuwirken, wäre zu unterscheiden zwischen Textelementen, die sich theoretisch als Konstrukte betrachten lassen, und solchen, die ein konkreter Text tatsächlich als Konstrukte ausweist. Es macht, anders gesagt, einen Unterschied, ob ich Texte oder Textelemente als Konstrukte erkennen kann (z.B. weil ich konstruktivistisch ge16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd. 4. Vgl. ebd. 7f. Ebd. 7 und 10–13. Ebd. 7. Ebd. 3f. Vgl. das Kapitel „The Magus as Construction“ (Rommerskirchen 1999: 85–108). Fitz 1998: 21. Zu den intertextuellen Verfahren vgl. ebd. 336ff. Das gesamte Spektrum vom Ich-Erzähler bis zum personalen Erzähler mit auktorialen Zügen, von der Monoperspektive bis zur Perspektivenvielfalt wird also bedacht. Vgl. z.B. Nünning (1989: 10): „Durch die Beschränkung der Fokalisierung auf eine Perspektive – sei es auf einen Ich-Erzähler wie in The Magus oder auf ein personales Orientierungszentrum wie in Mantissa – wird bereits die Subjektabhängigkeit von Kognition betont“; oder Fitz (1998: 319f.): „Durch eine solche personale Erzählweise relativiert sich der ‚objektiveʻ Charakter der Figuren- und Erzähleraussagen“.

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schult bin), oder ob ein Text mich sozusagen dazu zwingt, ihn bzw. das von ihm Vermittelte als Konstrukt wahrzunehmen. Breuer ist also zuzustimmen, wenn er darauf insistiert, dass die Konstruktivität vom Text selbst aufgedeckt werden muss. Mithin wäre zwischen zwei Arten von Konstruktivität zu unterscheiden: a) einer grundsätzlichen, medial bedingten Konstruktivität, die sich prinzipiell an jedem Text feststellen lässt, weil alle Texte sprachliche Konstrukte sind;24 und b) einer vom Text selbst reflektierten Konstruktivität, bei der konstruktivistische Modelle oder die eigene Konstruktivität vom Text in Szene gesetzt werden. Entsprechend bedarf es einer weiterreichenden Begründung bzw. zusätzlicher Kriterien, um beispielsweise eine personale Erzählsituation als ‚konstruktivistischʻ einzustufen. Zum Verhältnis von konstruktivistischem und postmodernem Erzählen äußern sich die genannten Studien höchst divergent. Hier zeigt sich eine ähnliche Meinungsvielfalt, die schon festzustellen war, als es um die Relation von Konstruktivismus und Postmoderne ging. Während Fitz ausdrücklich versucht, ‚konstruktivistischeʻ Erzählverfahren als postmoderne auszuweisen,25 zielt Nünning auf das genaue Gegenteil: Selbstreferentielle und intertextuelle Verfahren sind für ihn zwar „typische Kennzeichen postmodernen Erzählens“,26 aber gerade keine konstruktivistischen.27 Konstruktivistisches Erzählen sei eine „Erweiterung und Transformation der Moderne“ und stehe im Kontrast zur „postmodernen Liquidation der Moderne“.28 Dagegen stellt Rommerskirchen zumindest implizit eine Nähe von Konstruktivismus und Postmoderne her, indem sie Fowlesʼ The Magus (aufgrund seiner metafiktionalen Strategien und seiner Infragestellung einer kohärenten Realität) als postmodern wertet. Dass Fowles zur Vermittlung konstruktivistischer Konzepte offenbar vor allem realistische Darstellungmodi („realistic

24 Kein Text kann seine Textualität verhehlen, höchstens illusionistisch verschleiern. Seit Roman Jakobson ist zudem bekannt, dass vor allem literarische Texte ganz grundsätzlich die Aufmerksamkeit auf ihre sprachliche Verfasstheit und damit auf ihren Konstruktcharakter lenken – gerade darin besteht ihre Poetizität bzw. Literarizität. 25 In der Literatur der Postmoderne manifestieren sich nach Fitz (1998: 344f.) konstruktivistische Elemente u.a. in der Reflexion auf die Standortgebundenheit und Subjektivität der erzählten Geschichte sowie auf Gegenwart, Vergangenheit etc. als Konstrukte. Dazu kommt eine Reflexion des Textes auf seine eigene Textualität, u.a. durch die Aufdeckung der eigenen Fiktionalität mittels metafiktionaler Verfahren. 26 Derartige ‚postmoderneʻ Verfahren stellt Nünning (1989: 4) zwar durchaus an Fowlesʼ Werk fest („der Wechsel von Fiktionsebenen, die Zirkularität der Struktur, die Selbstthematisierung von Literaturproduktion oder der hohe Grad an intertextuellen Bezügen“), identifiziert sie aber bewusst nicht als ‚konstruktivistischeʻ Verfahren. 27 Vgl. ebd. 4. 28 Vgl. ebd. 5. Fraglich wirkt nicht nur Nünnings allzu strikte Opposition von Konstruktivismus und Postmoderne, sondern auch die These der „postmodernen Liquidation der Moderne“. Wiederholt ist nämlich auf die Kontinuität von Moderne und Postmoderne hingewiesen worden; vgl. Welsch (1993: 6), der die Postmoderne explizit nicht als Anti-Moderne, sondern als Transformationsform der Moderne begreift. Vgl. auch Renner 1994: 172f.

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means of representation“) einsetzt, stellt für Rommerskirchen ebenso wenig ein Problem dar wie für Nünning.29 Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass konstruktivistische Ideen auch mit traditionellen Mitteln dargestellt werden können (etwa durch explizite Thematisierung in Erzähler- oder Figurenrede).30 Dennoch bleibt die Frage, ob der literarische Text nicht eine größere Wirkung entfaltet, wenn er die Konzepte über Strukturanalogien veranschaulicht. Martin Esslin hat dies den „Unterschied zwischen der philosophischen und der dichterischen Betrachtungsweise, […] zwischen Erkenntnis und Erlebnis“ genannt und an der Differenz von Existentialistischem und Absurdem Theater erläutert: Während Sartre und Camus „ihr Gefühl der Irrationalität menschlicher Existenz in die Form glasklarer, logisch aufgebauter Argumentation“ fassten, verzichte das Absurde Theater darauf, „über die Absurdität der menschlichen Existenz zu diskutieren“: Es strebe „nach völliger Übereinstimmung des Ausgesagten mit der Form der Aussage“ und „stell[e] [d]ie [Absurdität] einfach dar als konkrete Gegebenheit – das heißt: in greifbaren szenischen Bildern“.31 Vor diesem Hintergrund ist Fitz zuzustimmen, die meint, dass die desillusionistischen Erzählweisen der Postmoderne dem konstruktivistischen Anliegen besonders zuträglich sind. Umgekehrt fragt sich, ob die „kausale und psychologische Erzählordnung“ des 19. Jahrhunderts, an der Fowles’ Romane, wie Nünning selbst sagt, festhalten, konstruktivistische Ideen, wenn schon nicht konterkariert, so doch zumindest nicht bekräftigt.32 3.2 ROBBE-GRILLET UND DIE ERKENNTNISTHEORIE Zwar zeigt sich vor allem in jüngeren Beiträgen ein zunehmendes Interesse an den epistemologischen Fundamenten des Robbe-Grillet’schen Werks, eine umfassende Untersuchung steht allerdings noch aus.33 Aus der älteren Forschung ist Renato Barilli zu nennen, der schon 1971 die Transformation des Nouveau Roman zum Nouveau Nouveau Roman mit einer epistemologischen Wende in Verbindung gebracht hat. In den fünfziger Jahren habe der Nouveau Roman noch ein primär epistemologisches Interesse verfolgt. Er habe, indem er die Frage nach dem Verhältnis des Subjekts zur Welt (i.e. das Referenzproblem) auf radikale Weise gestellt habe, den ‚epistemologischen Romanʻ der klassischen Avantgarde (u.a. Joyce, Proust, Pirandello) zum Höhepunkt geführt und damit dazu beigetragen, den ‚bürgerlichenʻ Positivismus, Determi29 Rommerskirchen 1999: 113f. Schon Glasersfeld (1979: 444 und 447) hat auf den Widerspruch von „realistic key“ und konstruktivistischen Elementen hingewiesen. 30 Vgl. dazu Nünning 1989: 8 und Glasersfeld 1979: 447. 31 Esslin 1964: 17f. Diese performative Kraft schreibt Esslin auch dem Nouveau Roman zu (vgl. ebd. 19). 32 Nünning 1989: 4. 33 Vgl. etwa den Abschnitt „Horizons épistémocritiques“ in den Akten des Kolloquiums von Ottawa 2009 (Allemand/Milat 2010).

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nismus und Naturalismus zu überwinden und eine neue Epistemologie zu etablieren.34 Dieser Höhepunkt stellt für Barilli aber zugleich das Ende des epistemologischen Romans dar. Mit der Abkehr von der Referentialität in den sechziger Jahren sei das epistemologische Interesse des Nouveau Roman in den Hintergrund getreten.35 Diese These ist nun insofern nicht überzeugend, als auch die Abkehr von der Referentialität als eine epistemologische Positionierung interpretierbar ist. Dies zeigt sich am Beispiel des Konstruktivismus: Gerade die radikale Absage an die Referentialität konstituiert hier ja den epistemologischen Neuerungsanspruch. Gegen Barilli möchte ich daher die These vertreten, dass – zumindest im Fall Robbe-Grillets – erst der Nouveau Nouveau Roman die neue Epistemologie endgültig durchgesetzt hat. Im Nouveau Nouveau Roman würde demnach die erkenntnistheoretische Grundfrage nach dem Verhältnis von Subjekt und Welt gerade nicht aufgegeben, sondern nur anders und radikaler gestellt.36 In der neueren Forschung wird Robbe-Grillets Schaffen dann häufiger explizit mit der Epistemologie in Verbindung gebracht. Bezugnahmen auf bestimmte Theorien erfolgen dabei jedoch nicht (auf die Ausnahme phänomenologischer Positionen ist gleich zurückzukommen). Mitunter fällt das Stichwort Erkenntnistheorie aber auch nur am Rande, wie etwa bei Francine Dugast-Portes, die dem Werk zwar eine nicht nur ästhetische, sondern auch epistemologische Kontinuität attestiert (die sie u.a. auf Robbe-Grillets formation scientifique und den Einfluss wissenschaftlicher Theorien zurückführt), aber nicht genauer darauf eingeht.37 Mitunter erweisen sich Titel auch als irreführend, beispielsweise im Fall des Buches La Quête épistémologique du Nouveau Roman, les objets von Jalila Hadjji, das sich, anders als zu vermuten, weniger mit epistemologischen als mit soziologischen Fragen beschäftigt. Hadjji sieht den Nouveau Roman (im Anschluss an die marxistisch fundierten Thesen des Soziologen Lucien Goldmann) als Ausdruck einer ‚verdinglichtenʻ Gesellschaft, in der ein neuer Status materieller Dinge eine Entindividualisierung mit sich gebracht habe.38 Die fiktiven Romanuni34 Vgl. Barilli 1972: 109–114. – Gerade die Thematisierung des Referenzproblems qualifiziere den frühen Nouveau Roman noch als „roman référentiel“ (ebd. 111). 35 Im frühen Nouveau Roman überwiege noch das epistemologische Interesse über die reinen Sprachspiele („l’intérêt épistémologique […] prévaut sur le ‚domaine roussellien‘“ (ebd. 114). In der mittleren Phase kehre sich die Relation dann um (ebd. 115). – Barilli (1976: 394f.) sieht eine Abkehr von der Referentialität ausdrücklich auch bei Robbe-Grillet gegeben. Dass dies so nicht stimmt, versuche ich in Kap. 5 anhand von Projet pour une révolution à New York zu zeigen. Auch Barilli (1972: 108) räumt im Übrigen ein, dass die epistemologische Frage im Nouveau Nouveau Roman nicht vollkommen verloren gehe, da das Ricardou’sche Ideal einer vollständigen Autoproduktion des Textes faktisch unerreicht und somit ein Rest von „référence“ bzw. „représentation“ stets erhalten bleibe. 36 Dass sich das Problem in Robbe-Grillets Frühwerk anders stellt, sei damit nicht bestritten. 37 Vgl. Dugast-Portes 2007: 34 und 36. 38 Vgl. Hadjji 2009: 119f. Zum Rekurs auf Goldmann vgl. beispielsweise: „L’évolution de la société contemporaine qui amène des écrivains très différents à la même impasse, comme le souligne Lucien Goldmann, est très significative. Pour Mahfouz ainsi que pour Robbe-Grillet, le cinéma, comme le roman, est la meilleure forme pour exprimer le vécu de l’homme moderne“ (ebd. 106).

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versen sind für sie eine realistische Darstellung der zeitgenössischen „réalité sociale“ (wobei sie unter ‚realistischʻ ausdrücklich eine Analogiestruktur versteht, die zwischen erzählter Welt und jener „réalité sociale“, in der das Werk geschrieben wurde, besteht).39 Sofern Hadjji überhaupt epistemologische Fragen tangiert, kommt sie zu Ergebnissen, die den übrigen Forschungsmeinungen teilweise diametral entgegen stehen, so etwa, wenn sie meint, Alltagsgegenstände fungierten im Nouveau Roman als Zugang zur Wahrheit.40 Dagegen sind sich andere Studien weitgehend darin einig, dass Robbe-Grillet gerade im Gegenteil den Zugang zu einer Wahrheit grundsätzlich problematisiert. So stellt beispielsweise Thi Tu Huy Nguyen fest, dass sich die für Robbe-Grillet einzig denkbare Form von Wahrheit in einer spezifischen ‚Nicht-Wahrheitʻ („nonvérité“) bzw. ‚Nicht-Authentizitätʻ („non-authenticité“) manifestiert, bringt dies allerdings nicht mit einer (konkreten) Erkenntnistheorie in Zusammenhang.41 Letzteres gilt auch für Hanna Meretoja, die bei Robbe-Grillet überaus treffend eine „epistemology of uncertainty“ konstatiert und darauf hinweist, dass der Autor in seinen Texten die Grenzen menschlichen Wissens dadurch markiere, dass er den Figuren eine Welt gegenüberstelle, die ‚einfach nur daʻ sei und sich gegen menschliche Bedeutungszuweisung sträube.42 Meretoja spricht in diesem Kontext zwar auch von Bedeutungskonstruktion, stellt aber keine Verbindung zum Konstruktivismus her.43 Grundsätzlich geht es Meretoja auch weniger um die epistemologischen Aspekte (die sie verblüffenderweise für bereits ausreichend thematisiert hält) als um die ontologischen und ethischen Fundamente von Robbe-Grillets Ästhetik.44 Der Vergleich von Robbe-Grillet und Gaston Bachelard führt Roch C. Smith zu dem Ergebnis, dass sie in der Abwendung von den positivistischen Idealen des 19. Jahrhunderts übereinstimmen.45 Außerdem sieht er bei beiden eine Entwicklung von einem anfänglich dominierenden ‚Objektivitätsmodellʻ (bei Bachelard in seinen Schriften zur imagination poétique) hin zu einem Paradigma der Unsicherheit: Die Robbe-Grillet-Romane stellten ab Maison eine Literatur der Unbestimmtheit, Unsicherheit und Offenheit dar (durch „narration incertaine“, „narrateurs multiples et sans assises“, „glissements narratifs“) und formten ein Echo des Bachelard’schen esprit scientifique und Heisenberg’schen Unbestimmtheitsprinzips.46 Auf Heisenberg rekurrieren auch eine Reihe von Studien, die sich den Robbe-Grillet’schen Wissenschaftsbezügen widmen. Bevor ich mich 39 Ebd. 125. 40 „On a donc recours à un monde où les détails et les indices représentent le seul moyen pour accéder à la vérité. Cette dernière se dissimule derrière les objets les plus quotidiens“ (ebd. 33). 41 Nguyen 2010: 342 und 352. 42 Vgl. Meretoja 2010a: 331f. 43 „[B]oth his novelsʼ problematic of perception and their textual structure foreground and problematize the human endeavour to construct meaningful order into reality which resists such meaning-giving“ (Meretoja 2010: 153). 44 Vgl. Meretoja 2010a: 331. 45 Vgl. Smith 2010. 46 Ebd. 360 und 364.

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diesen zuwende, werde ich kurz auf die immer wieder diskutierte Beziehung von Robbe-Grillets Ästhetik zur Phänomenologie eingehen. Schon Barilli stellt eine Verbindung des frühen Nouveau Roman zur Phänomenologie her: Die Freude an den Dingen-an-sich, den „choses telles quelles, en leur être-là“ mache den Nouveau Roman der fünfziger Jahre zum „roman phénoménologique“.47 Auch zahlreiche andere Forscher haben Robbe-Grillets Werk mit der Phänomenologie in Verbindung gebracht.48 Durchaus überzeugend ist dabei vor allem für La Jalousie (und andere frühe Romane) argumentiert worden, dass die Perspektivträger nach dem Modell eines ‚phänomenologischen Bewusstseinsʻ modelliert sind.49 Problematisch sind solche Interpretationen allerdings, wenn der Begriff ‚Phänomenologieʻ nicht hinreichend präzisiert wird.50 Bekanntlich werden unter Phänomenologie recht divergente Ansätze subsumiert, die von Husserl und Heidegger über Merleau-Ponty und Sartre bis hin zu ihren Schülern reichen. Zwar geht es allen ‚phänomenologischenʻ Robbe-GrilletInterpretationen darum, wie der Text die Beziehung eines menschlichen Bewusstseins zur Außenwelt modelliert. Je nachdem, welches phänomenologische Konzept dabei zugrunde gelegt wird, fällt das Ergebnis allerdings unterschiedlich aus. Es ist beispielsweise keineswegs gleichgültig, ob man (wie Olga Bernal oder Alwin L. Baum) Robbe-Grillets Erzähltechniken mit Husserls ‚phänomenologischerʻ bzw. ‚eidetischer Reduktionʻ in Verbindung bringt oder (wie Irene Wellershoff) mit der Wahrnehmungstheorie des Husserl-Schülers Alfred Schütz.51 Während nämlich Husserl einen von jeglichen Vorannahmen befreiten Blick auf die Phänomene anstrebt, um so zu einer Wesensschau der Dinge bzw. einer ‚eigentlichenʻ Wahrheit zu gelangen, ist für Schütz eine Wahrheit für den Menschen gar nicht erfassbar.52 Husserls Konzept ist in diesem Punkt mit konstruktivistischen Haltungen inkompatibel. Meretoja hat betont, dass die in Robbe-Grillets Texten modellierten Bewusstseine weit mehr Sartres Bewusstseinskonzept nahe stünden als dem Husserls. Für Sartre wie Robbe-Grillet nämlich sei das Bewusstsein leer, sodass sich das Subjekt erst im Strom subjektiver Prozesse konstituiere, während Husserl es als etwas dem Strom vorausgehend sehe.53 Die zentrale Gemeinsam-

47 Barilli 1972: 107 und 109f. 48 Entsprechende Hinweise finden sich u.a. bei Bernal 1964: 11–14 passim, Carrabino 1974, Baum 1978: 561, Wellershoff 1980: 15f. und passim, Graubner 1994: 42, Gelz 1996: 1939 und 143, Hellerstein 1998: 10–14 und 86 sowie Simon 2001: 660. Vom ‚phänomenologischen Romanʻ sprechen neben Barilli auch Carrabino 1974 und McHale 1992: 209. 49 Vgl. beispielsweise Bernal 1964, Carrabino 1974, Barilli 1998: 41 und 56 sowie Wellershoff 1980: 25. 50 Gelz (1996: 143) spricht davon, „Robbe-Grillet benutz[e] das Vokabular der Phänomenologie“, erklärt aber sein Verständnis von Phänomenologie nur unzureichend. Auch Barilli (1972: 110) lässt offen, worin die von ihm postulierten Parallelen zwischen Robbe-Grillet und Husserl genau bestehen. 51 Vgl. Bernal 1964: 13f., Baum 1978: 561 und Wellershoff 1980: 15. 52 Vgl. Wellershoff 1980: 12. 53 „For Husserl, the subject is not merely ‚the stream of subjective processesʻ but something underlying this stream: it is the owner and source of its intentional acts. It grasps itself not on-

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keit zwischen Robbe-Grillet und (bestimmten Zweigen) der Phänomenologie sieht Meretoja zum einen in der Kritik essentialistischer und substantialistischer Konzepte des Ich sowie präetablierter Bedeutungen, zum anderen in der Idee, dass Welt und Ich im Bewusstseinsakt simultan konstituiert werden.54 Für uns ist entscheidend, dass dies genau die Aspekte sind, die auch der Konstruktivismus mit der Phänomenologie teilt. Nicht weniger wichtig ist Meretojas Feststellung, dass die Phänomenologie, im Unterschied zu Robbe-Grillet, die Suche nach einem sicheren Fundament unseres Wissens nie aufgegeben hat.55 Hier zeigt sich eine Trennlinie, die Robbe-Grillet mehr auf Seiten der Konstruktivisten als auf der der Phänomenologie erscheinen lässt, da der Konstruktivismus radikaler als andere Epistemologien, auf Sicherheit verzichtet und im vollen Bewusstsein um die Unsicherheit der Erkenntnis allein die Praktikabilität und Brauchbarkeit von Wissen als Maßstab anerkennt.56 3.3 ROBBE-GRILLET UND DIE WISSENSCHAFT Schon 1954 hat Roland Barthes in seinem Artikel „Littérature objective“57 einen Bezug von Robbe-Grillets Literatur zur Wissenschaft, genauer: zur sog. Neuen Physik, hergestellt. In Les Gommes, so seine These, werde ein gekrümmter, beweglicher, kurz: ein nichteuklidischer Raum in Szene gesetzt.58 Und wenn er dann zugleich von Robbe-Grillets ‚objektiver Literaturʻ spricht, so bezieht er sich auch damit auf die Wissenschaft: allerdings nicht auf das traditionelle wissenschaftliche Ideal von Objektivität als subjektunabhängiger Neutralität, sondern ganz im Gegenteil auf die unhintergehbare Subjektivität aller menschlichen Weltbetrachtung, wie sie für ihn das Adjektiv ‚objectifʻ, verstanden als Terminus der Optik, impliziert: ‚objectifʻ im Sinne von ‚auf das Objekt gerichtetʻ, „tourné du côté de l’objet qu’on veut voir“.59 Robbe-Grillets typische Objektbeschreibungen sind für Barthes nicht am traditionellen Objektivitätsideal orientiert, sondern an der postEinstein’schen Physik, in der das beobachtende Subjekt stets mit theoretisiert wird. Die klare Abgrenzung von der traditionellen, Newton’schen Physik und die

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ly as ‚flowing lifeʻ but as the self-same, self-identical I“ (Meretoja 2010: 133f.). Meretoja unterscheidet nicht zwischen Subjekt und Ich/Selbst. Vgl. ebd. 128. „[W]hereas phenomenology never gives up the dream of finding a more secure foundation for our knowledge of the world, even if this task is acknowledged to be necessarily infinite, Robbe-Grillet powerfully problematizes – on both epistemological, ontological and ethical grounds – our ability, need and right to impose stable, coherent order onto the flux of reality“ (ebd. 158). Vgl. dazu Kap. 2.4.2 Viabilität statt Objektivität und Wahrheit. Vgl. Barthes 1964: 29–40. „Robbe-Grillet a eu la coquetterie de donner dans les Gommes une scène où sont décrits exemplairement les rapports de l’homme et du nouvel espace. Bona […] décrit le champ spatial qu’il a sous les yeux: […] ce champ bouge devant l’homme immobile, l’espace se ‚déseuclidiseʻ (que l’on me pardonne ce barbarisme nécessaire) sur place“ (ebd. 34). Ebd. 29.

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Zuordnung Robbe-Grillets zur Neuen Physik, die Barthes am Ende seines Artikels explizit macht, ist also in Rechnung zu stellen, wenn Barthes von Robbe-Grillets ‚wissenschaftlicherʻ Literatur spricht: Sa [sc. Robbe-Grillet] destruction de l’espace n’est ni onirique, ni irrationnelle, elle se fonde plutôt sur l’idée d’une nouvelle structure de la matière et du mouvement: son fond analogique n’est ni l’univers freudien, ni l’univers newtonien; il faudrait plutôt penser à un complexe mental issu des sciences et d’arts contemporains tels la nouvelle physique et le cinéma.60

Dass Barthes hier die Künste in einem Atemzug mit den Wissenschaften nennt, ist insofern bezeichnend, als daran klar wird, dass es ihm nicht einfach um Wissenschaftsbezüge, sondern etwas Fundamentaleres geht: um jenen „complexe mental“ der Epoche, den ich als epistemologisches Paradigma bezeichnet habe.61 Auch Olga Bernal interpretiert Les Gommes als „livre scientifique“ und erkennt generell in den Romanen des Robbe-Grillet’schen Frühwerks das Weltbild der Neuen Physik wieder, darunter vor allem Heisenbergs Unschärfeprinzip und die Unhintergehbarkeit des subjektiven Beobachterstandpunkts.62 Sie sieht dabei, und dies ist für den Konstruktivismusbezug wichtig, die Texte nicht nur vom Prinzip der Unsicherheit, sondern auch von der grundsätzlichen Nichterkennbarkeit der Wirklichkeit geprägt:63 Die Realität erscheine bei Robbe-Grillet stets als un(be)greifbar, als nie zu schließende ‚Lückeʻ.64 Im Vergleich zu Barthesʼ und Bernals Thesen bietet die Forschung zur mittleren Schaffensphase nur wenig Neues. Bruce Morrissette macht zwar auf dem Cerisy-Kolloquium von 1972 den Vorschlag, Robbe-Grillets Romanstrukturen in Analogie zu bestimmten physikalischen Modellen zu betrachten: Die typischen Textlücken entsprächen den kosmischen schwarzen Löchern, und die verworrene Ebenenstruktur der Romane evoziere topologische Modelle wie Klein-Würmer.65 Er stützt seine Thesen aber weder mit Textbelegen, noch erklärt er, was RobbeGrillets textuelle „trous“ von denen anderer Schriftsteller, etwa denen Flauberts, unterscheidet bzw. warum sie ausgerechnet mit schwarzen Löchern vergleichbar sein sollten.66 Im Zuge des allgemein wachsenden Interesses am Verhältnis von Literatur und Wissenschaften sind in den 1990er Jahren einige umfangreichere Arbeiten zu Robbe-Grillets Wissenschaftsbezügen entstanden, darunter die von Raylene

60 Ebd. 39. 61 Vgl. Kap. 2.1 Konstruktivismus – Zur Begriffsbestimmung. 62 Vgl. Bernal 1964: 39. Von der ‚Situiertheitʻ des Beobachters schlägt Bernal hier zudem eine Brücke von der Physik zur Phänomenologie. 63 Vgl. ebd. 40 und 131f. 64 „Le roman de Robbe-Grillet […] remplace les rapports de certitude par des rapports de doute. Chacune des images, chacune des formes du roman robbegrilletien est lourde d’incertitude et d’indétermination. Le réel, dans ce roman, n’est jamais saisi; il est toujours en train de subir une mutation; il faut le reconstruire à chaque instant. La réalité, c’est une ouverture perpétuelle, une béance“ (ebd. 40). 65 Morrissette 1972: 125–131. 66 Dies ist schon zeitgenössisch kritisiert worden, vgl. ebd. 148 (Diskussion).

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Ramsay, Sybil Dümchen und Maureen DiLonardo Troiano.67 Es handelt sich um interdisziplinäre Ansätze, die Robbe-Grillets Œuvre in seiner Epoche zu verankern suchen und mit Konzepten wie Moderne, Modernität oder Subversivität in Verbindung bringen. Ramsay macht ihre Analyse der Wissenschaftsbezüge zur Basis für ihre Untersuchung der sadoerotischen Komponente von Robbe-Grillets Werk. Neben der Demontage von Kausalität, Chronologie und Objektidentität, der Einsetzung einer neuen Topologie, der Betonung des subjektiven Beobachterstandpunkts sowie Bezügen zur Chaostheorie sieht sie die Texte vor allem von einem Unbestimmtheitsprinzip geprägt, das dem der Quantenphysik vergleichbar sei: RobbeGrillets Werk erscheine nämlich stets in widersprüchlichen und komplementären Perspektiven zugleich, weise eine Struktur ‚multipler Komplementaritätʻ auf.68 Dies gelte auch für die sadoerotischen Elemente der Romane, die sowohl subversiv als auch nichtsubversiv seien.69 Diese Idee des Sowohl-als-auch rückt Ramsays ‚multiple Komplementaritätʻ nicht nur in die Nähe des konstruktivistischen tertium datur, sondern unterscheidet sie auch grundsätzlich von Ecos offenem Kunstwerk: Ramsay hebt gerade nicht auf eine bloße Vielzahl möglicher (und letztlich beliebiger) Lesarten ab, sondern darauf, dass der Text gezielt zwischen verschiedenen, inkompatiblen Lesarten schwankt bzw. alle zugleich umfasst. Zwar verweist Ramsay eingangs auf den Konstruktcharakter literarischer und wissenschaftlicher Weltmodellierung, die Konstruktivität der kognitiven Wirklichkeit spielt für sie jedoch keine Rolle.70 Auch Dümchen sieht bei Robbe-Grillet ein dialektisches Prinzip am Werk: eine Dialektik von Ordnung und Unordnung, die sie unter Rekurs auf den thermodynamischen bzw. system- und informationstheoretischen Begriff der Entropie erklärt. Bei der Einbettung des Œuvres in den Kontext der Epoche beschränkt sie sich allerdings auf den Bereich der Ästhetik (wobei sie zahlreiche interessante Bezüge zu Literatur, Musik, Malerei und Film herausarbeitet). So bleibt dann leider die zentrale Erkenntnis, dass Robbe-Grillet mit der Zerstörung traditioneller Erzählelemente bestehende Ordnungen auflöst und neue schafft (und damit die Artifizialität von Ordnungen aufdeckt), allein auf die ästhetischen Strukturen bezogen. Eine Reflexion über epistemologische Implikationen gibt es nicht.71 Anders liegt der Fall bei Troiano, die sich in ihrem Buch literarischen Bezugnahmen auf die moderne Physik, insbesondere die Relativitätstheorie und Quantenmechanik, sowie die Informationstheorie widmet.72 Sie zeigt sich der episte67 Vgl. Ramsay 1992, Dümchen 1994 und Troiano 1995. 68 Vgl. Ramsay 1992: 38. 69 Vgl. ebd. 1 und 5. – Ähnlich projiziert Ramsay auch die von ihr konstatierten Parallelen des Robbe-Grillet’schen Textes zur Chaostheorie auf den sadoerotischen Aspekt des Werks: Aus den Chaos-Strukturen emergiere ein ‚Ichʻ, das zum Peiniger sowohl des Textes als auch des darin beschriebenen weiblichen Körpers werde (vgl. ebd. 72 und 77f.). 70 Vgl. ebd. 12f. 71 Vgl. Dümchen 1994: 26 und 28. 72 Sie tut dies am Beispiel von Robbe-Grillets Le Voyeur (1955), Claude Simons La Route des Flandres (1960) und Maurice Blanchots Le Très-Haut (1948).

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mologischen Implikationen bewusst: Die Verbindung der Romane mit der neueren Physik sei eine ‚radikal neue Weltsichtʻ, die Zeit, Raum und Realität neu konzipiere und die Vorstellungen von Linearität, Kausalität und Determiniertheit durch Indeterminiertheit, Alogik, Paradox und Chaos ersetze.73 Troianos Terminologie ist deutlich konstruktivistisch geprägt: Sie spricht nicht nur von literarischen und wissenschaftlichen Konstrukten, sondern auch von der Konstruktion der Wirklichkeit in der Wahrnehmung.74 In ihrer Voyeur-Analyse kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Roman die neue Weltsicht bereits voll realisiere (z.B. durch Zeit- und Raumstruktur, die Subjektgebundenheit von Erkenntnis und Wahrnehmung), während Robbe-Grillet auf theoretischer Ebene dahinter noch zurückbleibe.75 Wie für Eco spielt auch für sie die ‚Offenheitʻ der Textstruktur eine zentrale Rolle: Sie ermögliche dem Leser, aus den disparaten Strukturen ein je einzigartiges Wirklichkeitsmodell („unique construct of reality“) zu erstellen.76 Beliebt ist, insbesondere in der jüngeren Forschung, auch der Rekurs auf die Chaos- bzw. Komplexitätstheorie. Als Pionierin der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Chaostheorie gilt N. Katherine Hayles. In ihrem Buch Chaos Bound (1990) hat sie das literarische und literaturwissenschaftliche Interesse an der Chaostheorie auf jene Unschärfe des Begriffs ‚Chaosʻ zurückgeführt, die die Komplexitätstheoretiker selbst wiederholt kritisiert haben.77 Der Erfolg der wissenschaftlichen Metapher ‚Chaosʻ scheint entsprechend darin begründet, dass sie vielfältige Konnotationen aufruft und leicht mit Kunst und Kreativität in Zusammenhang gebracht werden kann.78 Die neue wissenschaftliche Konzeption von Chaos als ‚geordneter Unordnungʻ bzw. ‚komplexer Informationʻ findet laut Hayles nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur Verwendung. Entsprechend werden die Begriffe Chaos, Entropie, Ordnung und Unordnung auch von Ramsay, Troiano und Dümchen im informationstheoretischen Sinne gebraucht: Ramsay wertet die ‚Überraschungenʻ in Robbe-Grillets Textverlauf als informationshaltiges ‚Rauschenʻ.79 Troiano vertritt der Auffassung, der Roman des 20. Jahrhunderts setze Unordnungsstrukturen bewusst dazu ein, um neue literarische Information zu schaffen und die Komplexität des Textes zu erhöhen.80 Und Dümchen klassifiziert die Robbe-Grillet’schen Erzählverfahren nach den Kategorien von ‚Ordnungʻ und ‚Unordnungʻ.81 73 Vgl. Troiano 1995: 2 und 5. 74 Vgl. z.B. „modern literary constructs of time and space“, „corresponding constructs in theoretical physics“ und „a perceived construct of the real“ (ebd. 1f.; Herv. C. S.). 75 Vgl. ebd. 144. 76 Ebd. 176. 77 Vgl. Hayles 1991: 2. 78 Hayles (1990: 19f.) erinnert in diesem Zusammenhang an die mythopoetische Auffassung von Chaos als dem ‚Urzustand der Weltʻ, wie sie schon bei Hesiod und Shakespeare zu finden sei. Zu den Besonderheiten der literarischen Rezeption naturwissenschaftlicher Metaphern vgl. auch Bono 1990. 79 Vgl. Ramsay 1992: 77. 80 Vgl. Troiano 1995: 27f. 81 Vgl. Dümchen 1994: 13 und 21f. sowie passim.

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Die meisten Studien zu Robbe-Grillets Wissenschaftsbezügen gehen von einem geistigen oder kulturellen Hintergrund aus, auf den sich gewisse ‚Ähnlichkeitenʻ zwischen literarischen und wissenschaftlichen Modellen zurückführen lassen: Die Rede ist von einem „common mindset“ (Troiano), einem „general cultural and intellectual climate“ (Ramsay)82 bzw. einem „complexe mental issu des sciences et d’arts contemporains“ (Barthes). Dabei nimmt zwar keine der genannten Arbeiten direkt Bezug auf den Konstruktivismus, dennoch scheinen einige zentrale Thesen konstruktivismuskompatibel. Inwiefern die Forschung den besagten geistig-kulturellen Hintergrund für Robbe-Grillet als einen spezifisch ‚modernenʻ oder ‚postmodernenʻ bestimmt, sei abschließend anhand einiger exemplarischer Positionen verdeutlicht. 3.4 ZUR ZUORDNUNG VON ROBBE-GRILLETS WERK ZU MODERNE ODER POSTMODERNE Die Zuordnung zu Moderne und Postmoderne ist in der Robbe-Grillet-Forschung umstritten. Je nachdem, wie die Epochendefinition ausfällt, kommt es zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Vor dem Hintergrund eines stark überdehnten und entsprechend wenig überzeugenden Postmoderne-Konzepts subsumiert beispielsweise Barilli (1998) Robbe-Grillets gesamtes Werk unter Postmoderne. Diese beginnt für ihn im ausgehenden 18. Jahrhundert: bei Diderot, Sterne und Goethe. Und während er Balzac und Zola als Höhepunkte der Moderne anerkennt, deutet er Proust, Joyce und Kafka, die er vormals selbst als ‚moderne Avantgardenʻ bezeichnet hatte, zu postmodernen Autoren um.83 Gegen eine solche allgemeine ‚Postmodernisierungʻ Robbe-Grillets wendet sich Karl Alfred Blüher. Bis zu den Romanesques gehöre das Werk eindeutig zur Moderne.84 Phänomene wie Antireferentialität, Intertextualität, mise-en-abymeTechnik, Fragmentcharakter, Mehrschichtigkeit und Metafiktionalität seien noch in der ,mittleren‘ Phase keine Kennzeichen der Postmoderne, sondern eine bloße „Weiterentwicklung“ der modernen Ansätze des Frühwerks.85 Erst mit den Romanesques erfolge die Wende zum postmodernen Erzählen, denn erst nun würden die früheren Verfahren nicht mehr weiterentwickelt, sondern infrage gestellt: und zwar a) durch die Aufdeckung der zuvor kaschierten autobiographischen Dimension der Romane, b) durch die Wiedereinsetzung eines Erzählzentrums, das aber aufgrund seiner Unzuverlässigkeit eine Rückkehr zum mimetischen Diskurs verhindere (die Texte bleiben fragmentarisch und paradox), und schließlich c) durch stärkere Intertextualität und Pluralisierung der Diskurse sowie vermehrten Rekurs auf mythische Elemente.86 82 83 84 85 86

Ramsay 1992: 77. Vgl. Barilli 1998: 3–12 und Barilli 1972. Blüher 1992: 10f. Ebd. 13. Vgl. ebd. 13–15.

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Auch Ramsay ist der Ansicht, Robbe-Grillets Abkehr von der Moderne erfolge erst in den Romanesques.87 Sie macht dies an den Wissenschaftsbezügen fest: Obwohl es schon Bewusstseinsvorgänge und die Grenzen menschlicher Kognition, die Dialektik von Erkenntnissubjekt und -objekt auslote, sei das Frühwerk noch einem eher traditionellen, objektzentrierten Wissenschaftlichkeitskonzept verpflichtet.88 Die Romane der ,mittleren‘ Phase ließen den ‚Realismus traditioneller Wissenschaftʻ dann zwar endgültig fraglich werden, da sie den Schreibprozess anstelle des Dargestellten fokussierten,89 doch erst in den Romanesques entstünden Strukturen, die über die Dekonstruktion monolithischer Bedeutung und die Zerstörung binärer Oppositionen hinausgingen: Erstmals werde eine neue Ordnung im Sinne der Chaostheorie geschaffen.90 Solchen Positionen, die mehr oder weniger radikale Brüche in Robbe-Grillets Werk postulieren, stehen jene gegenüber, die eher eine kontinuierliche Transformation von der Moderne zur Postmoderne diagnostizieren. So erkennt zwar auch Edmund Smyth Phasen in Robbe-Grillets Werk,91 hält eine strikte Trennung zwischen moderner und postmoderner Phase jedoch für unmöglich: Schon in RobbeGrillets Frühwerk seien in Ansätzen die radikalen Verfahren der späteren Texte enthalten (u.a. Autoreflexivität, Serialität, Sprachspiel, glissement-Technik), schon hier würden die typischen Kriterien der Moderne wie Subjektivität und Innerlichkeit infrage gestellt.92 Entsprechend weise bereits der frühe Nouveau Roman auf die Postmoderne voraus. Dass umgekehrt aber auch die späteren Romane noch Elemente der früheren enthielten, darauf hat Barilli schon 1972 aufmerksam gemacht: Auch im Nouveau Nouveau Roman, stellte er fest, seien immerhin noch Reste von Referentialität zu finden.93 Mehr oder weniger einig scheint man sich in der Forschung also letztlich nur darüber zu sein, dass Robbe-Grillets Werk insgesamt ein Schwellenwerk am Übergang von Moderne zu Postmoderne ist.

87 Vgl. Ramsay 1992: 54. Ramsay spricht zwar nicht von Postmoderne, meint mit modernité aber explizit eine ‚Nach-Moderneʻ: „Modernité, like the ‚postmodern condition‘, is for me what derives from and comes after modernism and structuralism“ (ebd. 43). 88 Vgl. ebd. 44 und 57. 89 Vgl. ebd. 44. 90 Vgl. ebd. 62f. 91 Bis einschließlich La Jalousie, so Smyth (1991: 61f. und 65f.), seien die Romane noch modern, weil referentiell-plausibilisierend, im Sinne eines ‚psychologischen Realismusʻ, lesbar; ab Dans le labyrinthe fehle den Texten jedoch das dazu nötige Bewusstseinszentrum. Die Nouveau Nouveau Roman-Texte seien postmodern, denn sie referierten nicht mehr auf eine externe oder subjektive Wirklichkeit, sondern zeigten sich nur mehr als „verbally constructed artefacts“ (ebd. 66). Zur Postmoderne zählt er auch die Romanesques: aufgrund ihrer Dekonstruktion der Figur des Autors und ihrer die Gattungsgrenzen sprengenden, intertextuellen und pluralistischen Strukturen (vgl. ebd. 71–73). 92 Vgl. ebd. 68–70. 93 Vgl. Barilli 1972: 108.

4 ROBBE-GRILLETS THEORIE DES ERZÄHLENS 4.1 ZUR KONSTRUKTIVISMUS-REZEPTION BEI ROBBE-GRILLET Fragt man zunächst danach, ob Alain Robbe-Grillet überhaupt mit konstruktivistischer Theoriebildung in Kontakt gekommen ist oder sie sogar aktiv rezipiert hat, so stellt man fest, dass er in seinen poetologischen Stellungnahmen zwar immer wieder Begriffe wie construire, construction etc. gebraucht, sich aber nie ausdrücklich auf den Konstruktivismus oder seine Vertreter beruft. Dies schließt aber weder aus, dass er konstruktivistisches Gedankengut rezipiert hat, noch, dass seine Ästhetik konstruktivistisch fundiert ist.1 Entsprechend ist das Ziel dieses Kapitels zu zeigen, dass sich in Robbe-Grillets Poetik zahlreiche konstruktivistische Positionen nachweisen lassen, auch wenn sie nicht unter diesem Etikett verhandelt werden. Zunächst lässt sich ein starkes epistemologisches Interesse bei Robbe-Grillet feststellen. Stets geht es ihm um die Relation von Mensch und Welt („la situation de l’homme et de l’univers avec lequel il est aux prises“), genauer, die Intelligibilität der Welt für den Menschen.2 Er fragt nach den spezifischen Möglichkeiten des Menschen, um die Wirklichkeit zu erfassen, seien es Kognition, Sprache, Traum und Erinnerung, seien es Medien und Künste. Mit großem Interesse verfolgt Robbe-Grillet daher, wie die Wissenschaften und Künste die epistemologische conditio humana bestimmen. Er beschäftigt sich mit Modellen der Physik, Philosophie, Linguistik, Semiotik und Psychoanalyse ebenso wie mit Zugängen der Literatur, Bildenden Kunst, Musik sowie Literatur- und Kulturtheorie. Aus seiner Vorliebe für wissenschaftliche und nicht zuletzt naturwissenschaftliche Theorien hat Robbe-Grillet dabei nie einen Hehl gemacht und in diesem Zusammenhang wiederholt auf seine naturwissenschaftliche Ausbildung am Pariser Institut national agronomique hingewiesen.3 Wie noch zu sehen sein wird, hat bei der Entwicklung von Robbe-Grillets konstruktivistischem Denken neben dem Weltbild der post-Einstein’schen Physik auch der sog. kritische Diskurs eine wichtige Rolle gespielt. Insbesondere Roland Barthes und die poststrukturalistischen Theorien Tel Quels haben ihren Anteil daran, dass Robbe-Grillet das Problem sprachlicher Referentialität und damit das 1

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Möglichkeit zum Kontakt mit konstruktivistischen Ideen gab es beispielsweise auf dem Cerisy-Kolloquium „La Créativité artistique et scientifique“ (1970), für das Robbe-Grillets Teilnahme dokumentiert ist (vgl. Bertrand 1972). Bezug nehmend auf Piaget und Brouwer skizzierte Jacques Bertrand dort in seinem Eröffnungsvortrag „Découverte, Invention, Construction – Remarques épistémologiques“ den kreativen Schaffensakt als Konstruktionsakt (vgl. Bertrand 1972a). PNR [1957]: 37. Zur Vorliebe für wissenschaftliche Theorien vgl. Voyageur [1984]: 480 und Voyageur [1985]: 501, zur Ausbildung Voyageur [1968]: 377 und Voyageur [1978]: 168.

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Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit ins Zentrum gerückt hat. Und selbst wenn Robbe-Grillet die semiotischen und medialen Spezifika anderer Künste (Malerei, Fotografie, Musik oder Film) erörtert, geht es oftmals um deren Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Ausbildung und Entwicklung konstruktivistischer Positionen in RobbeGrillets Poetik werde ich anhand der drei großen Werkphasen nachzeichnen. Ich folge dabei Robbe-Grillets eigener und auch in der Forschung verbreiteten Phaseneinteilung, die hier kurz skizziert sei. Robbe-Grillet setzt eine erste Zäsur für das Jahr 1960 an. Bis La Jalousie (1957), hält er fest, stehe sein Werk noch in der Tradition der modernen Avantgarden und sei somit der ersten Jahrhunderthälfte zuzurechnen; die nach 1960 entstandenen (Nouveau Nouveau Roman-)Texte hingegen gehörten aufgrund ihrer Abkehr von der Referentialität der ‚postrevolutionären‘ Zeit an; Dans le labyrinthe (1959) sei das ‚Scharnierwerk‘.4 Mit der Hinwendung zum Autobiographischen beginnt dann jene dritte Phase, die vor allem von der Romanesques-Trilogie geprägt ist.5 Offen bleibt, inwiefern auch La Reprise (2001) noch dieser dritten Phase zuzurechnen ist; Robbe-Grillet äußert sich dazu nicht. In der Forschung wird häufig die Ambivalenz dieses letzten Romans betont, der zwar etwas Neues darstelle, aber nicht unabhängig vom vorangegangenen Werk betrachtet werden könne: Er sei sowohl konsequente Fortsetzung als auch Demontage bzw. Überschreitung des bisherigen Werks.6 Da dieses Verfahren der transformierenden Wiederaufnahme (reprise) aber praktisch alle Erzähltexte Robbe-Grillets charakterisiert,7 bleibt die Frage, was das ganz spezifisch Neue an La Reprise ist. Überzeugend hat in diesem Zusammenhang Ulrike Schneider argumentiert, dass La Reprise erstmals die Frage nach der Präsenz des Autors (qui écrit?) explizit im Rahmen einer Romanfiktion stelle und damit über die Romanesques hinausgehe, da letztere den Status des Autors im Rahmen des faktualen autobiographischen Schreibens, nicht aber einer fiktionalen Gattung wie dem Roman verhandelten.8

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Vgl. Robbe-Grillets Äußerungen in der Diskussion zu Barilli 1972: 124f. Als Beginn seines ‚autobiographischen Projekts‘ bezeichnet Robbe-Grillet den Roman Souvenirs du triangle d’or (1978); vgl. A. Robbe-Grillet, Les Derniers jours de Corinthe, Paris: Minuit, 1994, S. 190; im Folgenden kurz DJC mit Seitenangabe. – Eine hiervon abweichende Einteilung nimmt Rybalka (1986: 34–37) vor, der Robbe-Grillets Werk schon in den achtziger Jahren in fünf Phasen einteilt: Dans le labyrinthe bildet für ihn zusammen mit den Filmen L’Année dernière à Marienbad und L’Immortelle eine eigene Phase, die Nouveau Nouveau Roman-Phase zerfällt in eine strukturalistische (1965–1970, Maison, Projet) und eine intertextuell-intermediale Phase (nach 1971, u.a. Topologie), und zur ‚autobiographischenʻ Phase gehört für ihn auch der Roman Djinn. Vgl. etwa Calle-Gruber (2001: 608), die in La Reprise erstmals eine Dekonstruktion des Nouveau Roman erkennt, sowie Brochier (2001: 25), der in dem Roman sowohl eine Wiederaufnahme als auch eine Überschreitung („dépassement“) sieht. Vgl. dazu Kap. 6.6.3 Reprise. Vgl. Schneider 2005: 150f.

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4.2 DIE FRÜHPHASE: DIE WIRKLICHKEIT ALS KONSTRUKT Zu den bis heute am stärksten rezipierten Schriften Robbe-Grillets und des Nouveau Roman insgesamt gehört jene Auswahl früher Essays aus den Jahren 1953– 63, die unter dem Titel Pour un nouveau roman (1963) erneut publiziert wurden.9 Robbe-Grillet selbst hat sie rückblickend als „petits articles de combat“ bezeichnet und ihren polemischen Ton damit gerechtfertigt, dass sie derart provozierend hätten sein müssen, um überhaupt Gehör zu finden.10 In der Tat sorgte etwa der Artikel „Sur quelques notions périmées“ (1957) für einige Unruhe im literarischen Feld der Zeit. Anhand einiger, aus seiner Sicht veralteter Begriffe – Figur, Geschichte, Engagement, Form und Inhalt – rechnet Robbe-Grillet darin mit zwei zeitgenössisch gängigen Literaturkonzeptionen ab: zum einen mit dem Realismus nach dem Vorbild Balzacs, zum anderen mit dem Sozialistischen Realismus sowie der engagierten Literatur eines Sartre und Camus. Insbesondere die ‚Abschaffungʻ des klassischen Helden und der traditionellen Geschichte brachten Robbe-Grillet den Vorwurf ein, für eine sachlich-objektive, entmenschlichte Literatur einzutreten, die, so einige Kritiker, die Bezeichnung Literatur kaum noch verdiene.11 Angesichts der zahlreichen Objektbeschreibungen der Romane und Robbe-Grillets Aussage, Les Gommes sei ein ‚wissenschaftlicher Romanʻ, entspann sich in der Folge eine bis in die neunziger Jahre andauernde Debatte um die Frage, ob Robbe-Grillets Literatur ‚objektivʻ oder ‚subjektivʻ bzw. Robbe-Grillet selbst ein „chosiste“ oder „humaniste“ sei.12 Angeheizt wurde diese Debatte nicht zuletzt dadurch, dass Robbe-Grillet das Etikett der ‚objektiven Literaturʻ, das Roland Barthes mit seinem Essay „Littérature objective“ (1954) ins Spiel gebracht hatte, anfangs bereitwillig für sich reklamierte. Erst als er sich zunehmend dem Vorwurf einer ‚entmenschlichtenʻ Literatur ausgesetzt 9

Robbe-Grillet hat zwischen 1951 und 1963 weit mehr Essays publiziert, als dann in Pour un nouveau roman aufgenommen wurden. Der erste Essay ist Jean Cau gewidmet (vgl. RobbeGrillet 1951). 10 Voyageur [1989]: 268. Vgl. Voyageur [1985]: 514. 11 Vgl. etwa Émile Henriots Kommentar zur Verleihung des Prix des critiques für Le Voyeur, wonach Robbe-Grillet entweder vor Gericht oder in die Psychiatrie gehöre: „[A]u lieu d’un prix littéraire cela relève de la 9e chambre ou de Sainte-Anne, car la littérature n’a plus rien de commun avec ces tristes aberrations“ (Henriot 2002). Vgl. ähnlich auch Pierre de Boisdeffre (1967: 150f.): „Brûlez vos livres, Robbe-Grillet! Délivrez-nous de cette moisissure qui […] s’étend sur nos Lettres. […] Épargnez votre temps et le nôtre. Étudiez le système métrique, puisque c’est là votre passion! […] Taisez-vous!“ Selbst Bernard Dort (1957: 1999), der Les Gommes und Le Voyeur noch positiv besprochen hat, hält La Jalousie für ein formalistisches „romanesque aliéné“. Zu ähnlichen Stellungnahmen unter amerikanischen Kritikern vgl. Morrissette 1971: 39, Anm. 2. 12 Zu dieser Debatte vgl. exemplarisch Stoltzfus 1962, Poole 1971, Koppe 1977, Rupolo 1978, Kreiter 1980 und Milman 1991. Zu den Begriffen Robbe-Grillet chosiste und Robbe-Grillet humaniste vgl. Barthes 1964. Der vielleicht bekannteste Vertreter von Robbe-Grillets vermeintlichem ‚Humanismusʻ ist Bruce Morrissette (vgl. zusammenfassend Morrissette 1971). Schon Genette (1962: 39) hat Morrissettes weitgehend plausibilisierende Lektüren scharf kritisiert: „‚Reconstruireʻ un roman de Robbe-Grillet, c’est l’effacer“. Später hat Morrissette (1972) seine Sicht teilweise korrigiert.

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sah, vollzog er eine (vermeintlich) radikale Kehrtwende und proklamierte eine „subjectivité totale“ seiner Texte.13 Im Folgenden werde ich argumentieren, dass es die konstruktivistische Kernthese der Unerkennbarkeit der ontischen Wirklichkeit ist, die das erkenntnistheoretische Fundament von Robbe-Grillets Projekt der Erneuerung des Romans bildet. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Frage nach Subjektivität oder Objektivität weitgehend auflöst, wenn man von einer konstruktivistischen Redefinition von Objektivität sowie einer konstruktivistischen Subjekt-Objekt-Relation ausgeht. 4.2.1

Der ‚Neue Romanʻ und die Unerkennbarkeit der Welt

Die Welt, stellt Robbe-Grillet schon in den fünfziger Jahren fest, ist dem Menschen von Grund auf fremd: Sie sei nicht erkennbar, wie sie ‚objektivʻ sei, da es Objektivität im herkömmlichen Sinne eines ‚völlig unpersönlichen Blicks‘ nicht gebe.14 Diese Absage an den traditionellen Objektivitätsbegriff korrespondiert mit der fundamentalen Einsicht der modernen Physik, dass im Experiment der Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete unhintergehbar und die Erkenntnis einer ‚objektiven Wahrheitʻ unmöglich ist. Betrachtet man vor diesem Hintergrund Robbe-Grillets Behauptung, Les Gommes sei ein ‚wissenschaftlicher Romanʻ, ein „roman descriptif et scientifique“, dann ist damit gerade kein Anspruch, sondern ein Verzicht auf objektive Wahrheit verbunden, da sich die Wissenschaft ja genau von diesem Wahrheitsbegriff verabschiedet hat.15 Eine neutrale, unpersönliche Sicht auf die Welt, so meint Robbe-Grillet ausdrücklich, sei dem Menschen prinzipiell unmöglich; stets blicke er durch kulturelle Raster.16 Alle menschliche Wirklichkeitserfahrung ist demnach subjektiv geprägt und die Welt ‚an sich‘ folglich gar nicht erkennbar: „Je pense que le monde, en effet, est irrécupérable“.17 Und der Welt eignet auch kein Sinn; Sinn wird immer erst vom Menschen induziert – darauf zielt Robbe-Grillets berühmtes Diktum vom être-là: „Or le monde n’est ni signifiant ni absurde. Il est, tout simplement.“18 Am Maßstab des neuen wissenschaftlichen und epistemologischen Weltbildes, das die Welt ‚an sichʻ für nicht intelligibel hält, misst Robbe-Grillet dann auch die Literatur. Die Aufgabe einer zeitgemäßen Literatur sieht er darin,

13 PNR [1961]: 117; Herv. aufgehoben. 14 „L’objectivité au sens courant du terme – impersonnalité totale du regard – est trop évidemment une chimère“ (PNR [1956]: 18). 15 So Robbe-Grillet im Interview mit Jacques Brenner in der Zeitschrift Arts vom 20.–26. März 1953 (vgl. Brenner 2005: 49). 16 „Déjà l’observateur le moins conditionné ne parvient pas à voir le monde qui l’entoure avec des yeux libres. […] À chaque instant, des franges de culture (psychologie, morale, métaphysique, etc.) viennent s’ajouter aux choses, leur donnant un aspect moins étranger, plus compréhensible, plus rassurant“ (PNR [1956]: 17f.). 17 Voyageur [1959]: 333. 18 PNR [1956]: 18.

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Mensch und Welt in ihrem être-là, ihrem bloßen sinnfreien Dasein, zu zeigen19 und zu demonstrieren, dass die Welt dem Menschen nie in ihrem ‚eigentlichen‘ Sein (einem „sens caché“), sondern ausschließlich als sinnliches Phänomen zugänglich ist.20 Robbe-Grillet leugnet dabei keineswegs die Existenz, sondern nur die Intelligibilität der Welt, denn, wie das folgende Zitat zeigt, unterscheidet er schon 1953 zwischen der ontischen Welt („monde réel“) und der kognitiven Erfahrungswirklichkeit, die der Mensch in Wahrnehmung, Traum und Erinnerung ‚permanent erfindet‘: C’est alors […] que l’invention du monde peut prendre tout son sens – invention permanente, qui […] appartient aux artistes mais aussi à tous les hommes. Dans le rêve, dans le souvenir, comme dans le regard, notre imagination est la force organisatrice de notre vie, de notre monde. Chaque homme, à son tour, doit réinventer les choses autour de lui. Ce sont les vraies choses, nettes, dures et brillantes, du monde réel. Elles ne renvoient à aucun autre monde. Elles ne sont le signe de rien d’autre que d’elles-mêmes. Et le seul contact que l’homme puisse entretenir avec elles, c’est de les imaginer.21

In deutlicher Übereinstimmung mit den Konstruktivisten beschreibt Robbe-Grillet hier die Erfahrungswirklichkeit als einzige dem Menschen zugängliche Wirklichkeit, von der unklar bleibt, inwiefern sie mit der ‚realen‘ (d.h. ontischen) Welt übereinstimmt, die zugleich aber den einzig möglichen Kontakt zur Welt darstellt. Mit dem Argument, dass diese ‚reale‘ Welt unfassbar ist, wendet sich RobbeGrillet sodann gegen jene Literaturkonzeptionen, die vorgeben, einen ‚verborgenen Sinnʻ bzw. ein Wesen der Dinge aufzudecken. Nicht nur den Balzac’schen Realismus, auch die littérature engagée sieht er diesen Mythen der Tiefe („vieux mythes de la profondeur“) verhaftet.22 Bei Balzac herrsche eine „constante identité entre [l]es objets et leur propriétaire“, bei der die Dinge die Eigenschaften der Menschen spiegelten.23 Diese Anthropomorphisierung der Dinge ist für RobbeGrillet das Resultat einer veralteten anthropozentrischen Weltsicht.24 Den gleichen Vorwurf erhebt er gegen Sartre und Camus, die zwar die Sinnlosigkeit der Welt konstatierten, mit dem Absurden aber eine ‚tiefere Bedeutungʻ durch die Hintertür wieder hereinholten, denn der Absurdität der Welt werde die Schuld am menschlichen Unglück zugeschoben und so eine tragische Verbundenheit von 19 „La littérature expose simplement la situation de l’homme et de l’univers avec lequel il est aux prises. […] [L]’homme et les choses […] pourraient être seulement ce qu’ils sont“ (PNR [1957]: 37). – Der Terminus être-là geht bei Robbe-Grillet auf den Heidegger’schen DaseinsBegriff zurück. Im Jahr 1953 hatte Robbe-Grillet diese Begrifflichkeit zur Charakterisierung von Becketts En attendant Godot verwendet (vgl. PNR [1953/57]: 95). Roland Barthes war es dann, der sie erstmals auf Robbe-Grillets eigenes Werk gemünzt hatte: „[L]es objets de Robbe-Grillet, eux aussi, sont faits pour être là“ (Barthes 1964: 31). 20 „Le monde ne trouverait plus sa justification dans un sens caché, quel qu’il soit, son existence ne résiderait plus que dans sa présence concrète, solide, matérielle; au-delà de ce que nous voyons (de ce que nous percevons par nos sens) il n’y aurait désormais plus rien“ (PNR [1957]: 37). 21 PNR [1953]: 94. 22 PNR [1958]: 45. 23 PNR [1961]: 119. 24 Vgl. PNR [1957]: 28.

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Mensch und Welt präsupponiert.25 „L’absurde“, so Robbe-Grillet, „est donc bien une forme d’humanisme tragique“.26 Im Unterschied dazu solle der ‚neue Romanʻ der Sinnfreiheit der Welt Rechnung tragen und jede Komplizenschaft von Mensch und Welt verweigern: „refus de toute complicité“, „refus enfin de tout ordre préétabli“.27 Erzähltechnisch setzt Robbe-Grillet dabei auf eine Form der Beschreibung, die sich auf das Registrieren („[e]nregistrer“) des äußeren, vorwiegend visuellen Erscheinungsbilds der Dinge beschränkt und so das Wahrgenommene von präetabliertem Sinn ‚reinigtʻ.28 Das bloße Vermessen von Distanzen und Oberflächen verhindere die Komplizenschaft von Mensch und Welt und suggeriere auch keine Innerlichkeit der Objekte.29 Nichts verdeutlicht für Robbe-Grillet besser die Distanz von Mensch und Objektwelt als der Sehsinn.30 Der Blick verbleibe nämlich auf der Oberfläche der Dinge, dringe nicht ins Innere ein: [L]’œil de cet homme se pose sur les choses avec une insistance sans mollesse: il les voit, mais il refuse de se les approprier […]. Il peut, d’aventure, en faire le support de ses passions, comme de son regard. Mais son regard se contente d’en prendre les mesures; et sa passion, de même, se pose à leur surface, sans vouloir les pénétrer puisqu’il n’y a rien à l’intérieur […].31

Robbe-Grillet spricht daher auch von der reinigenden Kraft des Blicks, dem „pouvoir laveur du regard“.32 Nicht zuletzt wegen dieser offensiven Privilegierung des Blicks durch Robbe-Grillet ist der (gesamte) frühe Nouveau Roman als école du regard bezeichnet worden. Nun will Robbe-Grillet aber nicht nur die Sinnfreiheit der Dinge vorführen, sondern zugleich zeigen, dass diese Dinge permanent Gegenstand von Sinnzuweisung und zumindest temporär zum Träger („support“) menschlicher Leidenschaften werden: [S]’il arrive encore aux choses de servir un instant de support aux passions humaines, ce ne sera que temporairement, et elles n’accepteront la tyrannie des significations qu’en apparence – comme par dérision – pour mieux montrer à quel point elles restent étrangères à l’homme.33

Dass sich, wie hier erwähnt, die Objekte gegen die menschliche Vereinnahmung sträuben, also nicht mehr als eine Projektionsfläche darstellen, ist ein Bild für die Unzugänglichkeit der ontischen Welt. Reduziert auf einen optischen Widerstand 25 Vgl. PNR [1958], insb. 56–61. 26 Ebd. 58. – Robbe-Grillets Bild von Balzac und den Existentialisten ist freilich polemisch überzeichnet. Gezielt baut er sich Feindbilder auf, von denen er sich umso leichter abgrenzen kann. Später hat er eingeräumt, dass sein Antagonist allein der ‚Schul-Balzac‘ gewesen sei, „le Balzac du Père Goriot, d’Eugénie Grandet“ (Voyageur [1988]: 555), und dass Sartre und Camus durchaus auch Vorbilder für ihn gewesen seien (vgl. Voyageur [1985]: 239–249 und Voyageur [1986]: 251–262, insb. 252). 27 PNR [1958]: 65. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd. 58f. und 65. 31 Ebd. 48. 32 Ebd. 66. 33 PNR [1956]: 20.

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(„résistance optique“) wird das Objekt zum Indiz einer epistemologischen Schranke.34 Es markiert jene resistenze del essere (Eco), an denen – auch aus konstruktivistischer Sicht – jede menschliche Erkenntnis scheitert.35 Vor dem Hintergrund, dass Robbe-Grillet zum einen das traditionelle Objektivitätsverständnis verabschiedet und zum anderen im Roman den subjektiven Blick auf das (resistente) Objekt in Szene setzen möchte, erscheint der von Barthes eingebrachte Begriff der „littérature objective“ in einem neuen Licht. Dies setzt allerdings voraus, dass man, mit Barthes, ‚objektivʻ nicht mehr traditionell, sondern im Sinne der Optik versteht: als „tourné du côté de l’objet qu’on veut voir“.36 Barthesʼ Rede von der „nature objective de la description“ darf also nicht im Sinne eines traditionellen Objektivitätsverständnisses missverstanden werden. 37 Objektive Literatur ist nicht mit neutraler, unpersönlicher, unparteiischer Literatur gleichzusetzen, sondern dient dazu, Objekte in ihrer Phänomenalität zu betrachten. Objektiv sind Robbe-Grillets Romane also insofern, als in ihnen der Blick auf Objekte gerichtet wird. Robbe-Grillet betont, dass es sich dabei stets um einen menschlichen – und damit einen prägenden, gestaltenden, (de)formierenden – Blick handelt: Même si l’on y trouve beaucoup d’objets, et décrits avec minutie, il y a toujours et d’abord le regard qui les voit, la pensée qui les revoit, la passion qui les déforme. Les objets de nos romans n’ont jamais de présence en dehors des perceptions humaines, réelles ou imaginaires […].38

Entsprechend, so Robbe-Grillet, könne keine Rede davon sein, dass der Mensch aus seinen Romanen vertrieben worden sei; im Gegenteil, er sei geradezu omnipräsent.39 So erklärt sich denn auch seine Reklamation einer „subjectivité totale“ für seine Romane. Kommen wir nun nochmals zurück auf die Frage nach Subjektivität oder Objektivität der Romane, so zeigt sich, dass wir es bei Robbe-Grillet offensichtlich mit einer quasi-konstruktivistischen Neufassung der Subjekt-Objekt-Relation zu tun haben, denn Subjekt und Objekt werden in ihrer wechselseitigen Bedingtheit 34 Barthes 1964: 30. 35 Vgl. Kap. 2.4.2 Viabilität statt Objektivität und Wahrheit sowie 2.6. Konstruktivismus in Ästhetik und Kunsttheorie: Ecos ‚offenes Kunstwerk‘. 36 Barthes 1964: 29. – Barthes setzt folgenden Lexikoneintrag als Motto seines Artikels: „OBJECTIF, IVE (adj.): Terme d’optique. Verre objectif, le verre d’une lunette destiné à être tourné du côté de l’objet qu’on veut voir (Littré)“ (ebd. 29; Herv. aufgehoben). Robbe-Grillet selbst hat diesen Objektivitätsbegriff 1961 aufgegriffen (vgl. PNR [1961]: 117 sowie unten Kap. 4.2.3 Die Realismusillusion der frühen Jahre). Bernard Dort (1958: 103) hat vorgeschlagen, der Eindeutigkeit halber von objectal (anstelle von objectif) zu sprechen; ein Vorschlag, der in der Forschung vielfach aufgegriffen wurde. 37 Barthes 1964: 64. Dieses Missverständnis hat es laut Robbe-Grillet häufig gegeben (vgl. Voyageur [1985]: 501). 38 PNR [1961]: 116. 39 „L’homme y est présent à chaque page, à chaque ligne, à chaque mot“ (ebd.). Genauso wenig, so Robbe-Grillet, dürfe von der Abschaffung des traditionellen Helden auf die Abwesenheit des Menschen geschlossen werden (vgl. PNR [1957]: 32).

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gedacht: Es gibt kein wahrgenommenes Objekt ohne wahrnehmendes Subjekt, und umgekehrt richtet sich das Bewusstsein des Subjekts stets auf etwas. Die Objektzentriertheit der Beschreibung und ihre unhintergehbare Subjektivität sind also zwei Seiten einer Medaille. Somit ist die Frage nach Subjektivität oder Objektivität für Robbe-Grillet nicht mit einem Entweder-oder, sondern mit einem Sowohlals-auch zu beantworten: Subjektivität und Objektivität schließen sich bei ihm nicht aus, sondern bedingen sich. Zu Recht spricht Barthes in diesem Kontext auch von Robbe-Grillets ‚konstitutiver Ambiguität‘:40 Als chosiste erweist er sich durch die Objektzentriertheit der Beschreibung (nicht durch vermeintliche Sachlichkeit oder Neutralität), als humaniste hingegen durch die Omnipräsenz des menschlichen Blicks (nicht durch psychologische oder ‚tragischeʻ Elemente).41 4.2.2 Robbe-Grillets Realismuskritik als Kritik am epistemologischen Modell des 19. Jahrhunderts Vor dem Hintergrund, dass Robbe-Grillet die Welt für nicht intelligibel hält, gewinnt nun auch seine Kritik am realistischen Roman an Kontur. Diese erweist sich nämlich als nicht nur ästhetisch, sondern auch erkenntnistheoretisch motiviert. Kurz gesagt hält Robbe-Grillet das realistische Romanmodell à la Balzac vor allem auch deswegen für überholt, weil es aus seiner Sicht die Epistemologie des 19. Jahrhunderts repräsentiert.42 Er gesteht dem Balzac’schen Roman zwar zu, in seiner Epoche zeitgemäß gewesen zu sein, weigert sich aber, ihn als nach wie vor gültiges oder gar überzeitliches Modell zu akzeptieren.43 Was Robbe-Grillet dem Balzac’schen Roman (und seinen Epigonen) vor allem vorwirft, ist seine Ausdrucksästhetik: die implizite Annahme, dass der Welt ein Sinn innewohne und dass dieser Sinn sowohl erkennbar als auch vermittelbar sei. Verantwortlich macht Robbe-Grillet dafür das epistemologische Weltbild des 19. Jahrhunderts. Solange man noch keinen Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt gehabt habe, sei das Erzählen unproblematisch gewesen: „Comme l’intelligibilité du monde n’était même pas mise en question, raconter ne posait pas de problème.“44 Paradigmatisch hierfür scheint ihm die traditionelle Gestaltung der histoire: das Erzählen 40 Vgl. Barthes 1964: 203. 41 Der Roman, der diese wechselseitige Konstitution von Subjekt und Objekt am stringentesten veranschaulicht, ist sicherlich La Jalousie, wo die erzählte Welt nur in der Vermittlung durch den Blick eines eifersüchtigen Ehemannes erscheint und der an keiner Stelle erwähnte Ehemann selbst erst und ausschließlich durch die Fokalisierung ‚sichtbar‘ wird. 42 Anders als Balzac sieht Robbe-Grillet Flaubert als Vorbild und Vorläufer, u.a. weil er die Balzac’sche Romankonzeption ins Wanken gebracht habe (vgl. PNR [1957]: 31, PNR [1961]: 115 und Voyageur [1984]: 480). 43 Entsprechend gilt seine Kritik vor allem auch Balzacs Epigonen und späten Apologeten. Dass er weniger etwas gegen Balzac habe, als dagegen, sein Schreiben noch im 20. Jahrhundert zum alleinigen Maßstab zu machen, sagt Robbe-Grillet später explizit (vgl. A. Robbe-Grillet, Préface à une vie d’écrivain, Paris: Seuil/France Culture, 2005, S. 109; im Folgenden kurz Préface). 44 PNR [1957]: 31.

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einer kohärenten, chronologisch-linearen Geschichte unter Einsatz der dritten Person und des passé simple, von Spannungsbögen und einer Kurve der Leidenschaften. Dieses suggeriere nämlich, dass das Universum stabil, kohärent, kontinuierlich, eindeutig und vollständig dechiffrierbar sei.45 Es ist der Verlust dieses stabilen Weltbildes, der für Robbe-Grillet einen neuen Roman erforderlich macht: einen Roman, der den sozialen und epistemologischen Veränderungen literarisch Rechnung trägt.46 Während sich das 19. Jahrhundert – im Glauben an die Entzifferbarkeit der Welt – in Sicherheit wiegte, sei das 20. Jahrhundert „moins sûr de lui-même“, eine Epoche der Unsicherheit.47 Das Verhältnis des Menschen zur Welt, so Robbe-Grillet, habe sich grundlegend gewandelt.48 Verantwortlich macht er dafür nicht nur die veränderten materiellen Lebensbedingungen, sondern auch neue wissenschaftliche Tendenzen: darunter die Abkehr vom Essentialismus, das Aufkommen der Phänomenologie, die Entdeckung des Diskontinuierlichen durch die Physik sowie die Erneuerung der Psychologie – Tendenzen, die sich unter den Abschied vom positivistischen Weltund Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts subsumieren lassen und nicht zuletzt die Basis für das aufkommende konstruktivistische Denken darstellen.49 Passend zum Zeitalter der Unsicherheit, so Robbe-Grillet, solle auch der neue Roman verunsichern – nicht mehr beruhigen, wie es das realistische Erzählen getan habe, indem es suggerierte, dass alles seine (natürliche) Ordnung habe.50 Damit trage es letztlich nur zur Stabilisierung des bestehenden politischen, gesellschaftlichen und moralischen Systems bei.51 Folgt man Barthes’ Ausführungen in Le Degré zéro de l’écriture (1953) – ein Buch, das auf Robbe-Grillet überaus prägend gewirkt hat –, so trägt im traditionellen Erzählen vor allem das passé simple und das auktoriale Erzählen (Barthes spricht vom Erzählen in der dritten Person) zur Beruhigung des Lesers bei.52 Das passé simple fungiere als Tempus der Fakti45 „[T]out visait à imposer l’image d’un univers stable, cohérent, continu, univoque, entièrement déchiffrable“ (PNR [1957]: 31). 46 Auch Smyth (1991: 56) und Ruhe (1994: 364) erkennen die epistemologische Fundierung von Robbe-Grillets Antitraditionalismus. Ruhe geht allerdings praktisch nur auf das neue „Menschenbild“ (d.h. das fragmentierte, pluralisierte Subjekt), nicht auf die Konstruktivität der Wirklichkeit oder des Textes ein. 47 PNR [1956]: 28. – Nicht zufällig nennt Nathalie Sarraute ihre programmatische Essaysammlung zur gleichen Zeit L’Ère du soupçon (1956). 48 Vgl. PNR [1955/63]: 137. 49 „[L]a pensée abandonnait ses fondements essentialistes, la phénoménologie occupait progressivement tout le champ des recherches philosophiques, les sciences physiques découvraient le règne du discontinu, la psychologie elle-même subissait de façon parallèle une transformation aussi totale“ (PNR [1961]: 120). Was Robbe-Grillet mit der ‚Transformation der Psychologieʻ genau meint, bleibt allerdings unklar. 50 Vgl. PNR [1957]: 30. 51 So Robbe-Grillet, wohl in Anlehnung an Ecos Thesen zum Zusammenhang von literarischem Modell und Gesellschaftsordnung (vgl. Voyageur [1972]: 133 und Eco 1971: 138). 52 Es gibt starke Übereinstimmungen zwischen Le Degré zéro de l’écriture und Robbe-Grillets Pour un nouveau roman. Vgl. dazu exemplarisch die These zur verkappten Bürgerlichkeit der Literatur des Sozialistischen Realismus in Barthes 1953: 61f. und PNR [1957]: 38.

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zität und suggeriere (anders als Präsens und passé composé), etwas sei faktisch so gewesen; es impliziere Kausalität und Chronologie und trage damit zur Errichtung eines glaubhaften Kontinuums („continu crédible“), einer stabilen Weltordnung bei.53 Ebenso wie der auktoriale Erzähler setze es eine vorinterpretierte Welt voraus, „un monde construit, élaboré, détaché, réduit à des lignes significatives“.54 Robbe-Grillet versucht nun, die histoire ihres sicheren und ‚natürlichenʻ Charakters zu berauben; abschaffen will er sie gleichwohl nicht.55 Zu diesem Zweck will er das diskreditierte passé simple meiden und die Kohärenz der histoire durch Einbau von Lücken, Uneindeutigkeiten und Widersprüchen – „[u]n trou dans le récit, un épisode mal amené, une rupture d’intérêt, un piétinement“ – zerstören.56 Als Vorbild dient ihm dabei Samuel Beckett: Chez Beckett lui-même, il ne manque pas d’événements, mais qui sont sans cesse en train de se contester, de se mettre en doute, de se détruire, si bien que la même phrase peut contenir une constatation et sa négation immédiate.57

Im Namen der Ungewissheit will Robbe-Grillet darüber hinaus auch die traditionelle Figur abschaffen und durch eine neue ersetzen (der personnage ist die zweite notion périmée).58 Das 20. Jahrhundert sei nämlich auch weniger anthropozentrisch, seit der Mensch erkannt habe, dass ihm die intime Kenntnis der Welt versagt sei und er gerade nicht die Antwort auf alle Fragen darstelle.59 Anders als das anthropozentrische 19. Jahrhundert, die ‚Epoche des (bürgerlichen) Individuumsʻ, will er daher in seinem Roman auf die Individualisierung der Figur verzichten: An die Stelle des round character, also einer komplexen Persönlichkeit mit Eigennamen, Beruf, Familie, Besitz, Vergangenheit und einem bestimmten Charakter, soll im ‚Zeitalter der Matrikelnummerʻ eine weitgehend anonyme, austauschbare Figur nach dem Vorbild von Kafkas K oder Becketts Innommable treten.60 Schließlich bleiben auch die littérature engagée und die Literatur des Sozialistischen Realismus von Robbe-Grillets Vorwurf nicht verschont, eine vorinterpretierte Welt zu präsentieren. Unter dem Stichwort engagement (der dritten notion périmée) argumentiert er, dass auch die engagierte Literatur nur dazu diene, einen vorher festgelegten Sinn (bzw. Weltsicht) zu vermitteln; sie werde damit für außerliterarische Zwecke missbraucht. Ein solches didaktisches Erzählen sei nicht mehr zeitgemäß („la littérature didactique […] ne convainc plus personne“).61 Denn seit man wisse, dass aller Sinn nur provisorisch sei, könne auch die Kunst

53 Barthes 1953: 32. 54 Ebd. 30 und 32. 55 „[C]e n’est pas l’anecdote qui fait défaut, c’est seulement son caractère de certitude, sa tranquillité, son innocence“ (PNR [1957]: 32). 56 Ebd. 29. 57 Ebd. 32. 58 Zu den vier ‚überkommenen Begriffenʻ vgl. ebd. 26–44. 59 Vgl. ebd. 28 und PNR [1958]: 52f. 60 Vgl. PNR [1957]: 28. – Der Begriff round character wurde 1927 von E. M. Forster in Aspects of the Novel geprägt. 61 Ebd. 33.

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nicht mehr vorgeben, den Sinn der Welt zu vermitteln.62 Robbe-Grillet plädiert daher vehement für die Zweckfreiheit von Kunst: „[L]’artiste […] ne peut créer que pour rien“.63 Engagiert dürfe der Künstler nur im Bereich der Kunst sein, in der Entwicklung neuer künstlerischer Formen. Robbe-Grillets Ablehnung einer Literatur des ‚Ausdrucksʻ (bzw. der Vermittlung vorgefertigter Ideen) basiert nicht zuletzt auf der Einsicht, dass in der Kunst die Form nie einfach Inhalte ‚transportiertʻ, sondern deren Bedeutung mit hervorbringt, dass also Form und Inhalt nicht zu trennen sind und die literarische Form selbst bedeutungskonstitutiv ist.64 Insgesamt ist der Angriff auf die traditionellen Vorstellungen von histoire, personnage, engagement und forme et contenu nichts anderes als eine Auflehnung gegen jede Art von wirklichkeitsillusionistischem Erzählen, ein Erzählen, das vorgibt, die Wirklichkeit, wie sie ‚wirklichʻ ist, darstellen und eine ‚wahreʻ Geschichte erzählen zu können. Der allwissende Balzac’sche Erzähler wird auch deswegen zur Zielscheibe der Kritik, weil er eben diesen Wahrheitsanspruch erhebt, der Robbe-Grillet so verhasst ist und den die berühmte Leserapostrophe des Père Goriot (1834/35) aufs Schönste illustriert: Ah! sachez-le, ce drame n’est ni une fiction, ni un roman. All is true, il est si véritable, que chacun peut en reconnaître les éléments chez soi.65

Ausdrücklich wendet sich Robbe-Grillet gegen den Mimesispakt, jene „convention tacite“ zwischen Autor und Leser, bei der, so Robbe-Grillet, beide so tun, als sei der Text gar keine Fiktion, sondern die wirklichkeitsgetreue Darstellung einer tatsächlich geschehenen Geschichte.66 Um die mimetische Illusion zu vermeiden, will Robbe-Grillet zum einen auf die Situierung des Geschehens in einem realen bzw. historischen Kontext verzichten.67 Zum anderen will er das illusionistische détail qui fait vrai, jenes scheinbar überflüssige Detail, das vorspiegelt, es werde im Roman nur eine „tranche de vie“, ein Ausschnitt aus einem unerschöpflichen Wirklichkeitskontinuum, dargestellt, durch ein illusionsbrechendes „détail qui fait

62 „Les significations du monde, autour de nous, ne sont plus que partielles, provisoires, contradictoires même, et toujours contestées. Comment l’œuvre d’art pourrait-elle prétendre illustrer une signification connue d’avance, quelle qu’elle soit? […] La réalité a-t-elle un sens? L’artiste contemporain ne peut répondre à cette question: il n’en sait rien“ (PNR [1961]: 120). 63 PNR [1957]: 35. 64 Dies erläutert Robbe-Grillet im Abschnitt zur vierten notion périmée, der Dichotomie von forme und contenu (vgl. ebd. 40). 65 Balzac 1976: 50. 66 Vgl. PNR [1957]: 29f. 67 Eine solche Situierung ist für den realistischen Roman typisch. Präzise raumzeitliche Angaben mit realer Entsprechung suggerieren eine Fortsetzung der Realität „über die Fiktionsschwelle hinweg“ (Warning 1999a: 77). Im Père Goriot gilt dies z.B. für die „rue NeuveSainte-Geneviève, entre le quartier latin et le faubourg Saint-Marceau“ im Paris des Jahres 1819 (Balzac 1976: 49).

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faux“ ersetzen.68 Dieses soll das Erzählen als Kunst, ‚freie Erfindung‘, mit anderen Worten: als Fiktion, markieren: Ce qui fait la force du romancier, c’est justement qu’il invente, qu’il invente en toute liberté, sans modèle. Le récit moderne a ceci de remarquable: il affirme de propos délibéré ce caractère, à tel point même que l’invention, l’imagination, deviennent à la limite le sujet du livre.69

Dass Robbe-Grillet das Erfinden und Imaginieren (invention, imagination) zum eigentlichen Thema des modernen Romans erklärt, geht freilich über eine bloße Kritik am wirklichkeitsillusionistischen Erzählen hinaus. Die autoreflexive Offenlegung des eigenen Fiktionscharakters gerät Robbe-Grillet also zum Zeichen der Freiheit. Den Verlust von Gewissheiten und die Einsicht in die Unerkennbarkeit der Welt hält Robbe-Grillet – ebenso wie Eco, die Konstruktivisten und Postmodernisten – keineswegs für beklagenswert, sondern sieht sie positiv, als Grundlage für die individuelle, schöpferische Freiheit.70 Das Konzept der Wahrheit ist aus seiner Sicht zu sehr mit Festlegung, Vereindeutigung, Konservierung und Exklusion verbunden; das der Freiheit hingegen sei integrativ und offen für Neues. Klar verortet er sich daher auf Seiten der Freiheit; er will ‚Welten‘ erfinden, und zwar, wie oben zitiert, „en toute liberté“.71 Festhalten lässt sich, dass sich Robbe-Grillet und Konstruktivismus in der vehementen Ablehnung des Realismus des 19. Jahrhunderts treffen – obwohl es dabei um zwei unterschiedliche Realismen geht: den literarisch-künstlerischen Realismus bei Robbe-Grillet, den epistemologischen Positivismus-Realismus bei den Konstruktivisten. Wie ich zu zeigen versucht habe, hat dies jedoch mehr miteinander zu tun, als auf den ersten Blick ersichtlich, da Robbe-Grillets Kritik am literarischen Realismus wesentlich einer Kritik am epistemologischen Realismus entspringt. Diese ‚Rückführung‘ auf epistemologische Motive bedeutet freilich nicht, dass es für Robbe-Grillet nicht auch genuin ästhetische, literarische Motive gäbe, einen neuen Roman zu entwerfen. Er selbst hat sich immer wieder in der literarischen Tradition verortet und sich insbesondere als Nachfolger Flauberts und Kafkas, aber auch Sternes und Diderots bezeichnet.72 Eine innerliterarische Betrachtung lässt für Robbe-Grillets antirealistisches Projekt im Übrigen nicht nur Vor68 PNR [1957]: 30 und PNR [1955/63]: 140. – Das détail qui fait vrai heißt bei Roman Jakobson (1973: 37) „trait inessentiel“, bei Barthes (1984: 167) „détail ‚superflu‘“. Zum Aufbau der Illusion eines Wirklichkeitskontinuums durch das überschüssige Detail im realistischen Roman sowie die desillusionierende Wirkung des hypertrophen Einsatzes von Details im Nouveau Roman vgl. Kablitz 1982: 80–84. 69 PNR [1957]: 30; Herv. C. S. 70 Zum Zusammenhang von Pluralität und Freiheit in Konstruktivismus und Postmoderne vgl. Kap. 2.5 (Konstruktivismus und Postmoderne) sowie Eco 1971: 48. 71 Vgl. dazu ebenfalls Voyageur [1986]: 259 und 262. 72 Vgl. beispielsweise Préface 10, 26–29, 63–65 und 69, Voyageur [1978]: 161–163 sowie A. Robbe-Grillet, Le Miroir qui revient, Paris: Minuit, 1984, S. 208–213 (im Folgenden zitiert mit der Sigle M und Seitenangabe). – Zur These, dass der ‚frühe‘ Robbe-Grillet als ‚Epigone‘ Flauberts zu sehen sei, da er mit seinem „nouveau réalisme“ dessen Überbietungsversuch gegenüber Balzac erneuere, vgl. Küpper 1987: 170–187.

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läufer im Bereich des Romans, sondern auch der Lyrik erkennen – ein Aspekt, der in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Neben Paul Valéry, den RobbeGrillet selbst als „un des pères officiels du Nouveau Roman“ bezeichnet hat,73 ist hier Baudelaire zu erwähnen, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine epistemologisch fundierte Kritik am künstlerischen Realismus vorgelegt und zugleich die Imagination als ,Konstruktionsinstrument‘ alternativer ‚Welten‘ aufgewertet hat. Im Kapitel „Le gouvernement de l’imagination“ des Salon de 1859 definiert er den wahren Künstler als den, der die Welt mithilfe der „imagination créatrice“ (von engl. „constructive imagination“) völlig neu erschaffe.74 Diesen artiste imaginatif grenzt er vom sog. ‚realistischen‘ bzw. ‚positivistischen‘ Künstler ab, der vorgibt, die Dinge darzustellen „telles qu’elles sont, ou bien qu’elles seraient, en supposant que je [sc. l’artiste] n’existe pas“, der – „[l]’univers sans l’homme“ – die unhintergehbare Subjektivität der Beobachtung ignoriert.75 Der Unterschied zwischen Robbe-Grillet und Baudelaire zeigt sich in ihrer Relation zum außerästhetischen Diskurs ihrer Epoche: Während Robbe-Grillet seine Literatur an den nichtliterarischen Diskurs (der Epistemologie, Philosophie und Wissenschaft) anzubinden und in das gesamtgesellschaftliche System seiner Zeit zu integrieren versucht, zielt Baudelaire auf das genaue Gegenteil: Er sieht Kunst und Literatur explizit als Gegenmodell zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zum dominanten Wissenschaftsparadigma seiner Zeit, als etwas, das mithilfe der Imagination ein Reich des ‚Wahren‘ und ‚Möglichen‘ fernab alles Gewöhnlichen erschafft.76 Und während Robbe-Grillet die Imagination als Grundlage aller Kognition betrachtet, überhöht Baudelaire sie zu einer spezifisch ästhetischen, gerade nichtwissenschaftlichen, nichtanalytischen Fakultät, die nicht nur Schönheit, sondern auch Wahrheit hervorbringe – eine Vorstellung, die Robbe-Grillet denkbar fernliegt.77 Dieses Beispiel zeigt, dass sich epistemologische und innerliterarische Betrachtung nicht nur nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen können. Dabei schärft die epistemologische Betrachtung den Blick für die Interdependenzen zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Diskursen einer Epoche und hilft so, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen literarischen Ästhetiken genauer zu konturieren. 4.2.3 Die Realismusillusion der frühen Jahre Bei genauerem Hinsehen erweist sich Robbe-Grillets frühe Theorie nun allerdings als ambivalenter, als meine bisherige Darstellung suggerieren mag. Es lässt sich 73 Préface 175. Zum Verhältnis von Robbe-Grillet und Valéry vgl. auch Schaefer 2012. 74 Baudelaire 1976: 624. – Als Vorbild nennt er jene Maler „qui obéissent à l’imagination [et] cherchent dans leur dictionnaire [sc. la nature] les éléments qui s’accordent à leur conception; encore, en les ajustant, avec un certain art, leur donnent-ils une physionomie toute nouvelle“ (ebd. 625; Herv. C. S.). 75 Ebd. 627. 76 Vgl. ebd. 621. 77 „L’imagination est la reine du vrai, et le possible est une des provinces du vrai“ (ebd.).

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nämlich zeigen, dass Robbe-Grillet sich, trotz seiner harschen Kritik am illusionistischen Erzählen, zu Beginn seiner Karriere noch nicht vollständig von einer gewissen Wirklichkeitsillusion befreit hatte. Dies liegt aber, wie ich bereits gezeigt habe, nicht an einem vermeintlichen Widerspruch von Objektivität und Subjektivität, sondern an einer mimetisch fundierten Sprachauffassung, die davon ausgeht, dass die Welt ‚an sich‘ in ihrer Unerkennbarkeit sprachlich darstellbar sei. Ab 1963 und verstärkt in den siebziger Jahren hat Robbe-Grillet diese anfängliche „illusion réaliste“ selbst eingeräumt und zugegeben, dass er sich vom „vieux dogme de la ‚représentation‘“ nicht sofort habe lösen können.78 „[J]e faisais semblant de croire, dans les années 50, que moi-même je ne faisais que représenter une réalité du monde“.79 Während er anderen das Recht auf Darstellung der Welt abgesprochen habe, habe er für sich selbst reklamiert, die Welt in ihrem reinen être-là, ihrer nackten, unbegreiflichen Präsenz zeigen zu können.80 4.2.3.1 Die réalité brute Von dieser Idee, die Welt in ihrem sinnfreien Sosein zeigen zu können, zeugt u.a. der Essay „Du réalisme à la réalité“ (1955/63), in dem der Begriff „réalité“ den Anspruch markiert, die Wirklichkeit nun endlich ‚richtig‘ zu zeigen. Der „nouveau réalisme“, den Robbe-Grillet damit ausdrücklich begründen will, ist also zunächst nur hinsichtlich der Definition des darzustellenden Gegenstands, der Wirklichkeit, neu.81 Fest hält Robbe-Grillet nämlich an der Idee der Darstellbarkeit der Wirklichkeit in ihrem sinnfreien Sosein. Treffend hat schon Edmund J. Smyth bemerkt, dass der frühe Nouveau Roman zwar nicht mehr die Welt, aber doch ihre Unerkennbarkeit zu spiegeln versucht habe („[to] mirror the unintelligibility of the world“).82 Damit erneuert Robbe-Grillet nur den alten – realistischen – Anspruch auf eine noch adäquatere Wirklichkeitsdarstellung durch bloße Änderung der Darstellungsmodi. „La découverte de la réalité“, schreibt er ausdrücklich, „ne continuera d’aller de l’avant que si l’on abandonne les formes usées.“83 Zu widersprechen ist daher Marjorie Hellerstein, die meint, Robbe-Grillet wolle mit seinem ‚neuen Realismus‘ auf die Differenz von Text und Welt („real world“) hinweisen.84 Denn dass auch die Nichterkennbarkeit der Welt textuell nicht darstellbar ist, war Robbe-Grillet zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht bewusst. Es ging ihm nicht um die Differenz von Roman und Realität, sondern um zwei 78 PNR [1955/63]: 138 (Herv. aufgehoben) und Voyageur [1972]: 116. 79 Voyageur [1956/78]: 53. 80 Im Rückblick erkennt er die Inkonsistenz: „Ou bien j’admets que le roman ‚représente‘ le monde […]. Ou bien je lui refuse cette fonction de représentation […] et on voit mal, alors, au nom de quelle innocence je pourrais prétendre, de mon côté, rendre compte de cette ‚dureté‘ ou ‚présence‘ du monde“ (ebd. 52f.). 81 PNR [1955/63]: 13; Herv. C. S. 82 Smyth 1991: 56. 83 PNR [1955/63]: 136. 84 Hellerstein 1998: 12 und 24.

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Arten von Realitätsdarstellung: die des realistischen Romans im Unterschied zu der des Nouveau Roman – daher auch das Motto „Du réalisme à la réalité“. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass diese Realismusillusion wesentlich in einem Verkennen der medialen Spezifika von Sprache bzw. ihrer problematischen Referentialität begründet ist.85 Robbe-Grillet orientiert seine Objektbeschreibungen nämlich an Kino und Fotografie und überträgt deren Medienspezifika unhinterfragt auf die Literatur.86 Dem kinematografischen bzw. fotografischen Bild schreibt er ein Desillusionierungspotential zu, das seines Erachtens daraus resultiert, dass diese Medien Fragmente der ‚nackten Realität‘ („réalité brute“) präsentieren. Der Anblick dieser Fragmente löse im Betrachter Befremden aus und veranlasse ihn dazu, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich ihrer Fremdheit und Unerkennbarkeit bewusst zu werden: L’aspect un peu inhabituel de ce monde reproduit [sc. du cinéma et de la photographie] nous révèle […] le caractère inhabituel du monde qui nous entoure: inhabituel, lui aussi, dans la mesure où il refuse de se plier à nos habitudes d’appréhension et à notre ordre.87

Einen vergleichbaren Verfremdungseffekt erhofft er sich von seinen literarischen Objektbeschreibungen. Auch sie sollen dem Leser Bruchstücke der réalité brute vorführen und die Konventionalität seiner Wahrnehmungsraster bewusst machen. Robbe-Grillet orientiert seine Romanästhetik also am Ideal des registrierenden Kamerablicks – dies erklärt, weshalb er auch für die Literatur stets auf der Visualität insistiert und den Blick als Verfremdungsmittel propagiert.88 Was er dabei verkennt, ist die Tatsache, dass sprachlich Verfasstes nicht im gleichen Maße der réalité brute Rechnung tragen kann, wie dies ein technisches Aufzeichnungsgerät vermag. Wie Barthes in La Chambre claire feststellt, trägt die Fotografie im Unterschied zu Sprache und Malerei stets die ‚Spur des Realen‘, das Noema „Ça-a-été“.89 Sie behaupte, so Barthes, die (gewesene) Existenz des abgelichteten Objekts nicht nur, sondern bestätige sie.90 Während die Fotografie und das Filmbild qua Lichtspur tatsächlich ‚Fetzen‘ der Realität sind, impliziert die Sprache stets einen kognitiven Filter, eine menschliche (und deformierende) Perspektive. Daher ist Barthes’ Vergleich von Robbe-Grillets Beschreibungstechnik mit einem optischen Glas, durch das man das Objekt betrachtet („tourné du côté de l’objet qu’on veut voir“), ungleich treffender als ein Vergleich mit Film oder 85 Schon 1962 kritisiert Eco Robbe-Grillets ‚neuen Realismusʻ: Die angestrebte ‚interesselose Sicht der Dinge‘ („una disimpegnata visione delle cose, una accettazione di esse per quel che sono fuori di noi e senza di noi“) sei unmöglich (Eco 1971: 274). Damit bleibe Robbe-Grillets Theorie hinter dem Romanwerk zurück, da dieses bereits zeige, dass die Dinge nicht unabhängig vom menschlichen Bewusstsein zu denken seien (Eco spricht vom menschlichen „modo di ‚intenzionareʻ le cose“, ebd. 275). 86 Zur „filmische[n] Poetik“ des frühen Robbe-Grillet vgl. auch Mecke 2011. 87 PNR [1956]: 19f. 88 Zum Zusammenhang von Kino und Beschreibungstechnik sowie der Herausbildung einer Ästhetik des ‚neuen Blicks‘ bei Robbe-Grillet und Alain Resnais vgl. Winter 2007. 89 Barthes 1980: 120. 90 „[L]’essence de la Photographie est de ratifier ce qu’elle représente. […] Cette certitude, aucun écrit ne peut me la donner“ (ebd. 133f.).

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Fotografie. Hinter dem optischen Glas steht nämlich ein Mensch; es liefert keine autonome technische Reproduktion, bannt keine Lichtspur auf Zelluloid. Es ist das Verkennen dieser sprachlichen Spezifizität, die Robbe-Grillet zu der vorschnellen Analogisierung von Sprache und Fotografie bzw. Film sowie der Annahme verleitet, auch der Roman könnte Fragmente der réalité brute, frei von vorgefertigtem Sinn, zeigen (nach dem Motto: „La littérature expose simplement la situation de l’homme et de l’univers“ und „l’homme et les choses […] pourraient être seulement ce qu’ils sont“).91 Hier wird Robbe-Grillets Realismusillusion überaus deutlich. Seine ‚registrierende‘ Objektbeschreibung ist nichts anderes als ein illusionistisches Verfahren zur Darstellung einer réalité brute. Dass seine Auffassung von Sprache, anders als sein Wirklichkeitsverständnis, noch nicht konstruktivistisch fundiert ist, ist insofern entscheidend, als es zeigt, dass seine revolutionäre Ästhetik offenbar nicht, wie mitunter angenommen, in einer Sprachkritik, sondern in einer neuen Wirklichkeitssicht, einer neuen Epistemologie wurzelt.92 Anders gesagt: Robbe-Grillets epistemologischer Skeptizismus entwickelte sich nicht aus der Einsicht in die Problematik sprachlicher Referenz, sondern ging dieser voraus. 4.2.3.2 Die mentalistische Wende: eine neue Realismusillusion? Um das Jahr 1960 zeichnet sich in Robbe-Grillets Theoriediskurs eine Wende ab. Er löst sich zunehmend von der Idee, seine Romane könnten die Außenwelt in ihrem ‚nackten Dasein‘ zeigen und wendet sich stattdessen der Darstellung subjektiv-imaginärer Vorstellungswelten zu. Anstelle der réalité brute will RobbeGrillet in seinen Romanen nun ‚Wahrgenommenes‘ und ‚Erfundenes‘ modellieren und so zeigen, dass der fiktionale Text kein Abbild der äußeren Wirklichkeit ist. In dem 1963 überarbeiteten Essay Du réalisme à la réalité heißt es: [U]ne nouvelle sorte de narrateur y est né: ce n’est plus seulement un homme qui décrit les choses qu’il voit, mais en même temps celui qui invente les choses autour de lui et qui voit les choses qu’il invente.93

91 PNR [1957]: 37. 92 Auch Meretoja (2010a: 332) sieht in der Unsicherheit aller Erkenntnis einen entscheidenden Grund („a crucial reason“) für Robbe-Grillets antirealistische Ästhetik. Ebenso meint Blanckeman (2010: 155), Robbe-Grillets Motivation sei eine (von Nietzsche und den modernen Wissenschaften geprägte) „approche relativiste de l’être au monde“. Anderer Auffassung sind Gronemann (2002: 85), die Robbe-Grillets Antirealismus aus einer „Kritik am sprachlichen Repräsentationsmodell“ und der Auseinandersetzung mit Balzacs Romanmodell herleitet, und Valette (2010a: 397, Anm. 17), der meint, der Nouveau Roman entdecke zuerst den Roman als wirklichkeitskonstituierende, nichtabbildende Sprache und gelange erst später zu einer „nouvelle perception de la réalité“ und „mise en cause [du] réel lui-même“. 93 PNR [1955/63]: 140; Herv. C. S.

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Gemäß seiner Überzeugung, dass der Mensch seine Wirklichkeit permanent in Traum, Erinnerung und Blick ‚erfindet‘, zählen zu diesen ‚Erfindungen‘ sowohl Sinneswahrnehmungen als auch Fiktives, Erinnertes und Geträumtes.94 Fraglich bleibt gleichwohl, ob mit dieser Hinwendung zur Darstellung mentaler Innenwelten auch die Einsicht in die problematische Relation von Text und Welt verbunden ist, oder ob die ‚mentalistische Wende‘ nicht nur eine neuerliche Realismusillusion darstellt, einen ‚psychologischen‘ oder ‚mentalen Realismus‘, wie manche Kritiker behaupten.95 Zu klären gilt es, ob Robbe-Grillet abermals davon ausgeht, dass Sprache etwas Außersprachliches darzustellen vermag. Dazu ist genauer anzusehen, was Robbe-Grillet auf welche Weise darzustellen gedenkt. Zunächst zum ‚Was‘, den Gegenständen der Darstellung. Bezeichnenderweise konzipiert Robbe-Grillet die genannten kognitiven Phänomene (Wahrgenommenes, Fiktives, Erinnertes und Geträumtes) in zentralen Punkten konstruktivistisch. Wenn er beispielsweise den präsentischen Modus von Kognitionen aller Art hervorhebt, entspricht dies der konstruktivistischen Idee, dass neuronale Signalfolgen stets im Hier und Jetzt konstruiert werden und auch Erinnerungen nichts Statisches sind, sondern immer wieder neu konstruiert werden. Dabei steht – auch dies ist ein konstruktivistischer Gedanke – die Erinnerung stets unter dem Einfluss aktueller Erfahrung und wird dadurch modifiziert: [U]ne imagination, si elle est assez vive, est toujours au présent. Les souvenirs que l’on „revoit“, les régions lointaines, les rencontres à venir, ou même les épisodes passés que chacun arrange dans sa tête en en modifiant le cours tout à loisir, il y a là comme un film intérieur qui se déroule continuellement en nous-mêmes, dès que nous cessons de prêter attention à ce qui se passe autour de nous. Mais, à d’autres moments, nous enregistrons au contraire, par tous nos sens, ce monde extérieur qui se trouve bel et bien sous nos yeux.96

Nicht zufällig vergleicht Robbe-Grillet hier kognitive Prozesse mit einem ‚inneren Film‘, denn er hält Filme und geistige Prozesse für strukturverwandt.97 Metaphorisch spricht er daher auch vom ‚Bewusstseinsfilm‘, vom „film total de notre esprit“.98 Überzeugt, dass das Medium Film zur Darstellung kognitiver Prozesse besonders geeignet sei, beginnt Robbe-Grillet Anfang der sechziger Jahre eine zweite Karriere: zunächst als Drehbuchautor für Alain Resnais’ L’Année dernière à Marienbad (1961), dann, ab 1963, auch als Regisseur. Bis zu seinem Tod 2008 wird er insgesamt zehn eigene Filmprojekte realisieren. Auch in dieser ‚mentalistischen‘ Phase macht Robbe-Grillet den Film zum Vorbild für seinen Nouveau Roman – nun jedoch nicht mehr wegen seiner vermeintlichen Objektivität, sondern seiner Nähe zur (subjektiven) Imagination: „Ce n’est pas l’objectivité de la caméra qui les [sc. les nouveaux romanciers] pas94 Vgl. dazu nochmals das Zitat zur alltäglichen „invention du monde“ (PNR [1953]: 94). 95 Rybalka (1986: 34) spricht vom „mental realism“, Smyth (1991: 61) vom „psychological realism“. 96 Voyageur [1961]: 69. Robbe-Grillet verwendet hier „imagination“ als Oberbegriff für alle Vorstellungen, die keine Sinneswahrnehmungen sind, d.h. ohne Sinnesreiz zustande kommen. 97 Vgl. ebd. 68 sowie PNR [1963]: 128 und 130. 98 Voyageur [1961]: 69.

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sionne, mais ses possibilités dans le domaine du subjectif, de l’imaginaire.“99 Hinter dieser Analogisierung von Film und geistig-kognitiven Prozessen steht eine konstruktivistische Konzeption von Kognition, die davon ausgeht, dass alle neuronalen Prozesse – gleich ob Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Zukunftsvisionen oder Imaginationen – auf einer basalen Ebene gleichwertig sind. RobbeGrillet erläutert dies erneut mit einem Filmvergleich: So wie die Filmbilder „avec la même qualité d’image“ auf der Leinwand erschienen, stünden die Kognitionen auf der Ebene des ‚Bewusstseinsfilms‘ gleichberechtigt nebeneinander: Ainsi le film total de notre esprit admet à la fois tour à tour et au même titre les fragments réels proposés à l’instant par la vue et l’ouïe, et des fragments passés, ou lointains, ou futurs, ou totalement fantasmagoriques.100

Eine Ähnlichkeit von Kognition und Film sieht er auch im dynamischen Ablauf – und nicht nur dort: Die Bewegung, wie sie die Film- und Bewusstseinsbilder prägt, kennzeichnet aus seiner Sicht auch den literarischen Text. Die Bewegung der Beschreibung („le mouvement même de la description“) ist ihm sogar wichtiger als der beschriebene Gegenstand.101 Hintergrund ist, dass sich für RobbeGrillet im mouvement du texte das mouvement de l’esprit des schreibenden Subjekts manifestiert: [L]a phrase ne représente rien d’autre qu’elle-même, c’est-à-dire que l’esprit qui l’a conçue; et si elle fait semblant de parler du monde extérieur, c’est seulement un alibi qu’elle se donne, car elle ne peut parler que d’elle-même, de sa structure, de son mouvement propre, de sa propre tension, qui sont tension, structure et mouvement de l’esprit.102

Über das tertium comparationis der Bewegung wird die „[é]criture mouvante“ im Übrigen zu einer Metapher des Lebendigen: Der Text erscheint Robbe-Grillet als ein lebendiges, organisches System.103 Betrachtet man nun Robbe-Grillets Konzeption von Zeit und Raum, so zeigt sich auch diese konstruktivistisch fundiert. In Marienbad, so Robbe-Grillet, habe er eine ‚mentale Zeit‘ und einen ‚mentalen Raum‘ konstruieren wollen, die bewusst nicht den traditionellen Kategorien von Kausalität und Chronologie gehorchten.104 Die subjektiv erlebte mentale Zeit – mit all ihren Sprüngen, Löchern, 99 PNR [1963]: 128. 100 Voyageur [1961]: 69. 101 „Tout l’intérêt des pages descriptives […] n’est donc plus dans la chose décrite, mais dans le mouvement même de la description“ (PNR [1963]: 127f.). 102 Voyageur [1967]: 91. Vgl. ähnlich auch: „[L]a description moderne sait qu’elle ne décrit rien que soi-même, c’est-à-dire l’univers mental du parleur“ (Voyageur [1968]: 392). 103 Voyageur [1972]: 122. Vgl. dazu auch Kap. 7.8.1 Die Narration als ‚Versuchslabor‘ oder: L’écriture de l’imaginaire. – Schon Eco definiert literarische Strukturen als ‚organisches Ganzes‘ („un tout organique“) und sieht in den opere in movimento wie Mallarmés Livre ein ‚Lebendigwerden‘ mittels Bewegung: „Le volume, malgré l’impression fixe, devient, par ce jeu, mobile – de mort il devient vie“ (Eco 1965: 307f.; Herv. C. S.). 104 „Enfin j’y retrouvais la tentative de construire un espace et un temps purement mentaux – ceux du rêve peut-être, ou de la mémoire, ceux de toute vie affective – sans trop s’occuper des enchaînements traditionnels de causalité, ni d’une chronologie rigoureuse de l’anecdote“ (Voyageur [1961]: 64).

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Wiederholungen – ist für ihn, wie für die Konstruktivisten, die ungleich wichtigere.105 Angesichts eines subjektiven Zeiterlebens büßt die Uhrzeit ihre universelle Gültigkeit ein und wird als Konstrukt transparent. Durch ihre Abweichung von Chronologie und Kausalität wirkt die mentale Zeit zudem verunsichernd („moins rassurante“) und passt damit perfekt in Robbe-Grillets Poetik der Verunsicherung.106 Entsprechend verlangt er, dass sich Roman und Film der Konstruktion einer solchen ‚mentalen Zeit‘ widmen, der „construction d’instants, d’intervalles et de successions qui n’ont plus rien à voir avec ceux des horloges ou du calendrier.“107 Nebenbei wird hier deutlich, was Robbe-Grillet unter der ‚Bewegung‘ des Textes versteht: eine lückenhafte, widersprüchliche und inkohärente Struktur voller unwichtiger Details, Sprünge und Brüche, wie sie nach seiner Vorstellung auch die ‚Bewegung des Geistes‘ prägt: „Notre esprit […] saute des passages, il enregistre avec précision des éléments ‚sans importance‘, il se répète, il revient en arrière“.108 Genauso solle auch die Romanbeschreibung sein: „[E]lle se contredit, se répète, se reprend, bifurque, etc.“109 Nachdem wir bisher gesehen haben, dass Robbe-Grillet seine Gegenstände weitgehend nichtrealistisch konzipiert, stellt sich nun die Frage nach dem ‚Wie‘ der Darstellung: Überwindet er nun auch hier den Realismus und erkennt, dass der Text (qua Konstrukt) der réalité brute unmöglich Rechnung tragen kann? Die Antwort fällt nicht leicht. Zunächst ist zu vermerken, dass Robbe-Grillet selbst rückblickend einräumt, mit der Proklamation eines ‚subjektiven Realismus‘ zu Beginn der sechziger Jahre einer neuerlichen Realismusillusion anheimgefallen zu sein. Er kritisiert dabei sowohl sein Festhalten am Realismusbegriff als auch seine Behauptung zu wissen, wie mentale Prozesse ‚wirklich‘ ablaufen.110 Problematisch scheint auch, wenn er dem Kunstwerk eine illusionistische Ähnlichkeit mit inneren Prozessen zuschreibt; etwa wenn es heißt, der Zuschauer müsse den Film L’Année dernière à Marienbad nur auf seine Sinne wirken lassen und schon erscheine ihm die Geschichte als „la plus réaliste, la plus vraie, celle qui correspond le mieux à sa vie affective quotidienne“.111 Hier scheint Robbe-Grillet in der Tat davon auszugehen, kognitive Prozesse in seinen Werken zeigen zu können, wie

105 „[C]e temps mental est bien celui qui nous intéresse, avec ses étrangetés, ses trous, ses obsessions, ses régions obscures, puisqu’il est celui de nos passions, celui de notre vie“ (ebd.). Zur konstruktivistischen Konzeption von Zeit vgl. Kap. 2.4.5.6 Zeit. 106 Voyageur [1961]: 64. 107 PNR [1963]: 130. 108 Voyageur [1961]: 64. 109 PNR [1963]: 127. 110 „Quand on me disait: ,votre réalisme n’est pas objectif‘, au lieu de répondre: ,c’est la notion de réalisme qui a fait faillite‘, je répondais: ,non, mais c’est un réalisme subjectif, c’est comme cela qu’est le monde à l’intérieur de nos têtes‘“ (Robbe-Grillet in Barilli 1972: 122f.). Das Festhalten am Realismusbegriff manifestiert sich u.a. in Formulierungen wie „auteur réaliste“, „nouveau réalisme“ oder „écriture réaliste d’un genre inconnu“ (PNR [1955/63]: 13 und 141). Zur Behauptung, zu wissen, wie unser Geist tatsächlich funktioniere, vgl. auch: „Notre esprit, en réalité, va plus vite“ (Voyageur [1961]: 64; Herv. C. S.). 111 Ebd. 70.

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sie ‚wirklich‘ sind. Wenn dies der Fall wäre, verträte er nach wie vor eine illusionistische Ästhetik. Gegen diese Annahme spricht eine Reihe von Aussagen, in denen sich RobbeGrillet des Konstruktcharakters des künstlerischen Artefakts bewusst zeigt. So spricht er beispielsweise ausdrücklich davon, er habe in Marienbad eine mentale Zeit und einen mentalen Raum konstruieren („construire“) wollen; ebenso ist die Rede von der Konstruktion einer Zeitstruktur in Roman und Film („construction d’instants, d’intervalles et de successions“).112 Und generell betont er, seine Tätigkeit als Schriftsteller sei eine konstruierende: „Je ne transcris pas, je construis.“113 Damit markiert er das Kunstwerk klar als Konstrukt, ein Konstrukt, das zudem seine eigene, fiktionale Welt hervorbringt und keinen Anspruch auf Realitätsdarstellung erhebt: „[L]’œuvre n’est pas un témoignage sur une réalité extérieure, mais elle est à elle-même sa propre réalité.“114 Von seinem Anspruch, im Roman die réalité brute zeigen zu können, hat sich Robbe-Grillet, wie es hier scheint, gelöst, denn er betont nun den schöpferischen Charakter der fiktionalen Sprache: „Elle prétendait reproduire une réalité préexistante; elle affirme à présent sa fonction créatrice“.115 Bleibt zu klären, weshalb Robbe-Grillet dennoch am Realismusbegriff festhält. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Robbe-Grillet den Realismusbegriff einer Redefinition unterzogen hat, die diesen mit der Idee der Konstruktivität des Kunstwerks kompatibel macht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang seine Aussage, ihm schienen die imaginierten Möwen in seinem Kopf realer („plus réelles“) als die wirklichen Möwen, gerade weil sie imaginiert seien.116 Zwanzig Jahre später wird er die Feststellung nochmals radikalisieren: „[J]e ne suis pas loin de penser que le plus réel est précisément ce que j’ai construit de toute pièce“ (M 172). Verständlich wird diese paradox anmutende Aussage, wenn man in Betracht zieht, dass auch Vorstellungen – qua geistiger Aktivität – eine Realität haben und dass sie, insofern sie unabhängig von äußeren Reizen zustande kommen (z.B. Erinnerung und freie Imagination), dem denkenden Subjekt gewissermaßen ‚näher‘ sind als ein Referent der Außenwelt. Zentral ist in diesem Zusammenhang, wie sehr Robbe-Grillet auf Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit der Vorstellungen insistiert. Anschauliche Bilder sind es, die er im Roman evozieren will: Eine Vorstellung sei nur dann ‚präsent‘, wenn sie ‚ausreichend lebendig‘ („assez vive“) erscheine.117 Aufgerufen ist damit die antike Tradition der ekphrasis, also jene Beschreibungstechnik, die das beschriebene Objekt mit besonderer Anschaulichkeit (enargeia) vor dem inneren Auge entstehen lässt. Um diesen 112 113 114 115 116

Ebd. 64 und PNR [1963]: 130. PNR [1955/63]: 139; Herv. C. S. PNR [1963]: 132. Ebd. 127. „Les seules mouettes qui m’importaient, à ce moment-là, étaient celles qui se trouvaient dans ma tête. Probablement venaient-elles aussi, d’une façon ou d’une autre, du monde extérieur, et peut-être de Bretagne; mais elles s’étaient transformées, devenant en même temps comme plus réelles, parce qu’elles étaient maintenant imaginaires“ (PNR [1955/63]: 139). 117 Voyageur [1961]: 69.

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enargeia-Effekt scheint es Robbe-Grillet zu gehen, denn, so heißt es später in den Romanesques, er beschreibe niemals etwas, ohne es quasi materiell vor dem inneren Auge zu sehen („sans le voir dans mes yeux de façon quasiment matérielle“).118 Kurzum, Robbe-Grillet füllt den Realismusbegriff neu: Die geistige Welt der Vorstellungen und Kognitionen bildet für ihn die ‚eigentliche‘ Realität – was mit der konstruktivistischen These korrespondiert, dass die kognitive Erfahrungswirklichkeit die einzige dem Menschen zugängliche Welt ist. Wenn Robbe-Grillet mithin sagt, ein „auteur réaliste“ sei ein „créateur d’un monde matériel, à la présence visionnaire“, so ist dies so zu verstehen, dass ein Autor dann ein Realist ist, wenn er mit seinem Text eine Vorstellungswelt hervorbringt, die sich durch die besondere Anschaulichkeit (‚visionäre Präsenz‘) ihrer Bilder auszeichnet.119 Zugleich will Robbe-Grillet diese evozierte Welt aber als nur flüchtig und temporär ausweisen, und zwar indem er das gerade erschaffene Bild sogleich wieder zerstört: „[L]’image est mise en doute à mesure qu’elle se construit“.120 Als Mittel dient ihm dazu die literarische Beschreibung, die das zuvor Gesagte durch Wiederholungen, Widersprüche und Varianten infrage stellt. Die écriture romanesque ist demnach nicht nur „invention constante“, sondern immer auch „perpétuelle remise en question“: ein Akt von „création“ und „gommage“ zugleich.121 Robbe-Grillets erklärtes Ziel ist dabei, die Dinge unverständlich zu machen („à les rendre incompréhensibles“);122 dies zeigt nochmals, dass es ihm darum geht, die Unverständlichkeit der Welt zur Schau zu stellen. Die kreativdestruktive Beschreibung, die nichts greifbarer, sondern nur noch fragiler und flüchtiger macht, wird damit erneut zum Signal epistemologischer Unsicherheit. Sie korrespondiert nicht zuletzt mit der konstruktivistischen Idee, dass sich Ordnungen permanent neu bilden und auflösen. Zumindest implizit gewinnt zudem die Idee der Autonomie des Kunstwerks (i.e. seine Unabhängigkeit vom Künstler) an Kontur, wenn Robbe-Grillet nun versucht, auch den Konstruktionen des Rezipienten Rechnung zu tragen. Die einzig wichtige ‚Figur‘ in La Jalousie oder Marienbad, so sagt er, sei der Leser bzw. der Zuschauer: „[C]’est dans sa tête que se déroule toute l’histoire, qui est exactement imaginée par lui“.123 Aus dieser Idee, dass der Leser stets seinen eigenen Konstruktionsprozess unternimmt, ergibt sich implizit, dass Robbe-Grillet den Text als ein Konstrukt zweiter Stufe erkennt, als vom Autor materiell autonomes Konstrukt, das die Vorstellungen des Autors nicht spiegelt, sondern nur ihre Spur bildet. 118 A. Robbe-Grillet, Angélique ou l’enchantement, Paris 1987, S. 10; im Folgenden zitiert mit der Sigle A und Seitenangabe. – Dass es sich hierbei nur um Vorstellungsbilder, nie um reale Bilder handelt, hat Robbe-Grillet an anderer Stelle klargestellt (vgl. Voyageur [1967]: 87). 119 PNR [1955/63]: 141. – ,Materiell‘ zielt hier nicht auf die Materialität des Textes qua Zeichenbzw. Buchstabenfolge, sondern auf die Materialität der textuell evozierten Vorstellungen bzw. kognitiven Prozesse. 120 PNR [1963]: 127. 121 PNR [1955/63]: 138 und PNR [1963]: 127. 122 Ebd. 123 Ebd. 132.

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Eindeutig lässt sich eine ‚mentalistische‘ Realismusillusion bei Robbe-Grillet also sicher nicht diagnostizieren. Einiges spricht dafür, dass er ein zunehmend konstruktivistisches Sprach- und Textverständnis ausbildet, dem zufolge ein literarischer Text weder das Abbild einer Außenwelt noch einer mentalen Innenwelt ist. Explizit anerkennen wird Robbe-Grillet die Selbstreferenzialität der Sprache und Artifizialität des Textes aber erst einige Jahre später, wenn er auch den Realismusbegriff gänzlich verabschiedet haben wird. Zunehmend wird er auch die Freiheit des Lesers betonen, auf Basis des Textes eigenständige Konstrukte zu bilden.124 Und ausdrücklich wird er sich gegen die Bezeichnung seines Werks als Traum-Mimesis („oneiric mimesis“) verwahren: Sein Werk sei, sagt er, keine Abbildung, sondern nur eine ‚Annäherung‘ an mentale Vorgänge.125 4.3 DIE ‚MITTLERE‘ PHASE: DER TEXT ALS KONSTRUKT 4.3.1 Die Selbstreferentialität der literarischen Sprache In dem Maße wie in Robbe-Grillets Theorie gegen Ende der sechziger Jahre die Idee an Boden gewinnt, die Romansprache sei selbstreferentiell, rückt auch der Text als sprachkünstlerisches Konstrukt ins Bewusstsein. Mit der Feststellung, das moderne Sprachkunstwerk schaffe immer nur sein eigenes, flüchtiges Referenzuniversum, überwindet Robbe-Grillet die letzten Reste der Realismusillusion: „[L]’œuvre moderne constitue elle-même, produit et détruit à chaque instant son propre univers de référence“.126 Als selbstreferentiell gilt ihm allerdings nur die literarisch-fiktionale Sprache, keineswegs Sprache im Allgemeinen. Den wissenschaftlichen Diskurs betrachtet er nach wie vor als referentiellen Diskurs, obwohl er das wissenschaftliche Objekt (mittlerweile) als konstruiert anerkennt.127 Der Unterschied liegt für ihn darin, dass der wissenschaftliche Diskurs über präetablierte, dem Sprechen bzw. Schreiben vorgängige Konstrukte spricht, die Literatur hingegen ihren Redegegenstand durch das Sprechen bzw. Schreiben erst konsti124 Vgl. Voyageur [1985]: 501. 125 „My work is an approximation of what takes place in one’s mind during the dream, the dream in the general sense, and of what the imaginary can be“ (Robbe-Grillet 1996: 262). 126 Voyageur [1974]: 418. 127 Schon in Pour un nouveau roman hatte Robbe-Grillet den fiktionalen Romandiskurs vom referentiellen (faktualen) Diskurs der Historiographie und Wissenschaft unterschieden: „L’écriture romanesque ne vise pas à informer, comme le fait la chronique, le témoignage, ou la relation scientifique, elle constitue la réalité“ (PNR [1955/63]: 138). Zur Anerkennung der Konstruktivität des wissenschaftlichen Gegenstands vgl. Robbe-Grillets Rede an die Naturwissenschaftler: „[À] ce niveau, votre travail est le même que le nôtre. Vous inventez en somme un monde qui n’existe pas; à partir du réel dont vous n’avez qu’une apparence, vous inventez un monde“ (Robbe-Grillet in Ollier 1972: 178). Er fügt hinzu, dass wissenschaftliche Entdeckungen weniger über die Welt als über den Geist des Wissenschaftlers aussagen (vgl. ebd.). Dieser Auffassung war Robbe-Grillet nicht immer. Noch 1967 meinte er, die Wissenschaft könne die Welt erkennen, wie sie ‚wirklich‘ sei: „Il y a un monde réel, mais seule la science peut le connaître“ (Robbe-Grillet in Ricardou 1967: 261).

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tuiert. „[Q]uand vous écrivez“, resümiert er an die Naturwissenschaftler gewandt, „vous exprimez, quand nous [sc. die Literaten] écrivons, nous n’exprimons pas“.128 Robbe-Grillet unterscheidet also zwei Arten von Konstrukten, auf die sich ein Text beziehen kann: solchen, die ihrer sprachlichen Beschreibung vorausgehen (in der possible worlds theory: historical counterparts); und solchen, die der Text zuallererst schafft und auch wieder zerstört, die also außerhalb dieses spezifischen ‚Referenzuniversums‘ weder Funktion noch Bedeutung haben (fictional counterparts). Hier zeichnet sich bereits ein Verständnis dafür ab, dass sprachliche Referenten stets Konstrukte sind, zugleich aber zwischen verschiedenen Arten von Konstrukten differenziert werden muss. Damit erweist sich Robbe-Grillet als seiner Zeit und insbesondere einigen Poststrukturalisten voraus, denn er problematisiert schon den Status von Fakten, vermeidet dabei aber die vorschnelle Gleichsetzung von Fakten und Fiktionen.129 4.3.2 Die thèmes générateurs und das Bekenntnis zur Artifizialität des Schreibens Vor diesem Hintergrund, der Selbstreferentialität der Romansprache, bekennt sich Robbe-Grillet nun offen zur Artifizialität des Schreibens.130 Und er fordert, dass sich die Romane selbst als schriftstellerische Artefakte zu erkennen geben sollen, anstatt vorzugeben, Ausdruck einer ‚natürlichen‘ oder ‚wahren‘ Ordnung zu sein. Alle Versuche, Ordnungen für ‚wahr‘ auszugeben, seien gescheitert.131 Es gebe nur menschengemachte, arbiträre Ordnungen.132 Schon diese Wahrheitskritik zeigt, dass es Robbe-Grillet, anders als die Forschung teilweise vermutet, auch in der ,mittleren‘ Phase noch um epistemologische Probleme geht.133 Die erzählerischen Mittel, mit denen sich die Romane selbst als Artefakte ausweisen sollen, benennt Robbe-Grillet im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von La Maison de rendez-vous.134 Er setzt zum einen auf Bewährtes: Durch inkonsistente, akausale und zirkuläre Geschichten soll die übliche Zeitstruktur der histoire zerstört und jede Möglichkeit der Chronologisierung verhindert wer-

128 Robbe-Grillet in Ollier 1972: 176. Vgl. ähnlich Voyageur [2000]: 314 und 317. 129 Zur poststrukturalistischen Gleichsetzung von Fakt und Fiktion vgl. Kap. 2.4.8.2 Fakten und Fiktionen aus konstruktivistischer Sicht. 130 „Aujourd’hui nous [sc. die Nouveaux Romanciers] sommes décidés à assumer pleinement l’artificialité de notre travail“ (Voyageur [1972]: 133). 131 Er spricht von „la faillite de tout ordre présenté comme vrai“ (ebd. 135). 132 „[I]l n’y a pas d’ordre naturel, ni moral ni politique ni narratif, il n’existe que des ordres humains créés par l’homme, avec tout ce que cela suppose de provisoire et d’arbitraire“ (ebd. 133f.). 133 Vgl. dazu die Thesen Barillis, die in Kap. 3.2 (Robbe-Grillet und die Erkenntnistheorie) vorgestellt wurden, sowie McHale 1987: 10. 134 Im Jahr 2001 hat Robbe-Grillet eingeräumt, der Verfasser dieses 1972 unter dem Pseudonym Franklin J. Matthews erschienenen Vorworts zu sein (vgl. Corpet 2001: 16 und Voyageur [1972]: 109, Anm. am Seitenende).

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den.135 Darüber hinaus will er nun aber jede Idee von Zeitlichkeit unterdrücken („la suppression de toute idée de temporalité“), wobei, wie bei der Dekonstruktion des Raumes, gewissen unveränderlichen Gegenständen („le caractère inaltérable des choses“) eine zentrale Rolle zukommt.136 Weil an ihnen keine Zeichen der Zeit zu erkennen sind, lassen sie sich nicht in Kausalketten einbinden und verhindern so den Aufbau eines stabilen raumzeitlichen Gefüges. Zu diesen „objets indestructibles, à l’abri de l’espace et du temps“ gehört beispielsweise das in Maison immer wieder auf dem Boden zerbrechende Glas.137 Zur Dekonstruktion des Raumes sollen auch ‚eingefrorene‘ Bewegungen beitragen; Robbe-Grillet vergleicht sie mit dem Zenon’schen Pfeil, spricht von den „innombrables mouvements des héros qui se trouvent à tout moment arrêtés en pleine course, telle la flèche de Zénon“.138 Gegen Mitte der siebziger Jahre beginnt er, seine literarischen Texte mit topologischen Räumen zu vergleichen.139 Mit Topologie d’une cité fantôme (1976) benennt er sogar einen Roman nach dieser vergleichsweise jungen mathematischen Disziplin, die die Qualitäten des Raumes untersucht. Topologische Räume sind mathematische Objekte, die Robbe-Grillet offenbar deswegen reizen, weil sie die Grenzen der geometrischen Vorstellungskraft sprengen und damit indirekt zeigen, dass auch der euklidische Raum keineswegs naturgegeben, sondern ein Konstrukt unserer Alltagsvorstellung ist. Bei der von Robbe-Grillet wiederholt zitierten Klein’schen Flasche handelt es sich beispielsweise um eine Fläche (genauer: eine ‚zweidimensionale Mannigfaltigkeit‘), die, ähnlich wie das Möbiusband, ‚nicht orientierbar‘ ist, bei der sich Innen und Außen also nicht kohärent definieren lassen und die im dreidimensionalen Raum nicht (bzw. nur unter Maßgabe der Selbstdurchdringung) darstellbar ist.140 Robbe-Grillet beschreibt die topologischen Räume etwas verkürzt als paradoxe Objekte („objets paradoxaux“), als Räume, bei denen Innen außen und Außen innen sei, bzw. Flächen, bei denen eine Seite auf der anderen sei („where one side is on the other“).141 Ähnliche Strukturen, so Robbe-Grillet, fänden sich in seinen Romanen.142 Zu den neuen Verfahren gehört es auch, dass Robbe-Grillet nun bestimmte, traditionell illusionsstiftende Elemente nicht mehr, wie in seinen früheren Romanen, vermeiden, sondern im Gegenteil hypertroph einsetzen will, um sie dadurch in ihrer Artifizialität zu entlarven. Hintergrund ist, dass seiner Meinung nach die frühen Texte zu oft illusionistischen Lektüren anheimgefallen seien, weil die Lücken und Leerstellen, anders als beabsichtigt, von entsprechend ‚konditionierten‘ Lesern mit vereindeutigendem Sinn gefüllt worden seien: Die Leere habe den 135 136 137 138 139 140 141

Vgl. ebd. 124. Ebd. 122 und 124. Ebd. 124. Ebd. 121. Vgl. Robbe-Grillet 1976: 37. Vgl. beispielsweise ebd., Voyageur [1991]: 275 und Robbe-Grillet 1996: 257. Voyageur [1991]: 275 und Robbe-Grillet 1976: 37. – ‚Paradox‘ wirken diese Objekte freilich nur aus Sicht unserer alltäglichen geometrischen Vorstellung, nicht aus topologischer Sicht. 142 Vgl. ebd.

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Sinn geradezu angezogen.143 Um dies zu verhindern, will er nun in den neuen Romanen ‚tragische‘ Motive, Adjektive und Metaphern derart häufen, dass jede Illusion gesprengt wird und Eifersucht, Verbrechen und Tod als kulturelle Mythen transparent werden:144 „[L]a solution […] consiste à mettre en évidence leur dimension mythologique, c’est-à-dire à dénoncer leur caractère culturel“.145 Nach Vorbild der Pop art greift Robbe-Grillet dazu vornehmlich auf Artefakte, „produits manufacturés“ und Darstellungen der Populärkultur, zurück, wie man sie in Groschen- oder Kriminalromanen, Comics, Abenteuerfilmen, Modezeitschriften, Schaufensterauslagen oder Werbeprospekten findet.146 Wichtig ist ihm, dass es sich um „matériel sans ‚âme‘“ handelt: austauschbare Bilder „peints à plat“.147 Um die Artifizialität des Textes hervorzuheben, setzt Robbe-Grillet zusätzlich auf den Einbau von Figuren und Elementen, die der Leser schon aus seinen früheren Romanen kennt.148 Die zentrale erzähltechnische Neuerung der ,mittleren‘ Phase stellen aber die so genannten thèmes générateurs dar. Diese bilden nach Robbe-Grillet das erste Vertextungsverfahren überhaupt, das sich selbst als artifiziell ausweist: „[P]our la première fois, un mode de production s’annonce lui-même comme non naturel“.149 Das Besondere ist, dass dadurch nicht nur der fertige Text, sondern auch sein Herstellungsprozess als nicht-natürlich transparent werden soll. Der Prozess des Schreibens wird also nicht mehr, wie seit der romantischen Genieästhetik üblich, als passiver Inspirationsakt, sondern als (bewusste) Konstruktionsleistung des Subjekts ausgewiesen. Im Mittelpunkt steht damit, ganz nach Jean Ricardou, nicht mehr das Erzählen eines Abenteuers (le récit d’une aventure), sondern das Abenteuer des Erzählens (l’aventure d’un récit).150 Mit anderen Worten: Der Erzähl- oder Schreibprozess wird zum eigentlichen Gegenstand des Romans. Robbe-Grillets Konzept der thèmes générateurs ist an die Generatorentheorie Ricardous angelehnt, modifiziert diese jedoch an entscheidenden Stellen. Als Generatoren bezeichnet Ricardou Textelemente („bases“), mit denen im Textverlauf bestimmte ‚Operationen‘ („operations“) durchgeführt werden, woraus dann neue Textelemente entstehen, die ihrerseits wieder zur Basis neuer Operationen werden können.151 Der Text, so die Idee, liefert mit den Generatoren selbst die Grundlage dafür, woraus er in der Folge entsteht, bringt sich nach und nach selbst hervor. 143 Vgl. Voyageur [1972]: 111. 144 Vgl. ebd. 125f. Zur Vermeidung von Adjektiven und Metaphern in der Frühphase vgl. PNR [1958], insb. 48–50. 145 Voyageur [1972]: 112. 146 Ebd. 113. 147 Ebd. 112f.; Herv. aufgehoben. 148 Vgl. ebd. 113. 149 Ebd. 133. 150 Ricardou 1971a: 143; zuvor unter der Begrifflichkeit l’écriture d’une aventure bzw. l’aventure d’une écriture in Ricardou 1967a: 111. – Als Kritiker und Schriftsteller hat Jean Ricardou seit Ende der sechziger Jahre als Bindeglied zwischen der Gruppe Tel Quel (um Philippe Sollers, Julia Kristeva, Jacques Derrida u.a.) und dem Nouveau Roman fungiert und in dieser Funktion entscheidend zur Konstitution des Nouveau Nouveau Roman beigetragen. 151 Ricardou 1971a: 144f.

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Ricardou spricht diesbezüglich von der autogénération oder productivité des Textes.152 Das Generatorenverfahren ist für Robbe-Grillet deswegen interessant, weil seine rein ‚textuelle Logik‘ den Roman vom Anspruch auf Weltdarstellung befreit. Durch die Operationen mit den Generatoren entstehen Serien von Textelementen, die nicht aufgrund der üblichen erzähl- und handlungslogischen Kriterien, sondern aufgrund von sprachlich-semiotischen Kriterien miteinander verbunden sind. Ein Text, der seine eigenen Konstituenten hervorbringt, schafft sein Referenzuniversum selbst. An die Stelle der üblichen kausal- und handlungslogischen tritt eine serielle Textorganisation, die den Roman schon auf den ersten Blick artifiziell erscheinen lässt, da Serialität nicht zu den Kriterien der primären Wirklichkeitskonstitution gehört.153 Das allmähliche ‚Werden‘ des Textes impliziert zudem die Idee der Prozesshaftigkeit: Die Entstehung des Textes vollzieht sich vermeintlich vor den Augen des Lesers. Die Modifikationen, die Robbe-Grillet an der Ricardou’schen Generatorentheorie vornimmt, resultieren aus seiner Kritik an zwei zentralen Aporien der Tel Quel’schen Texttheorie: der Idee einer autor- und subjektlosen Literatur und der Reduktion von Sprache auf den signifiant. Ricardou fasst die autogénération des Textes nämlich radikal: Er geht davon aus, dass sich der Text tatsächlich losgelöst von jedem verantwortlichen Tun eines Subjekts selbst produziert.154 Für das, was im Text geschieht, zeichnet, so die Idee, kein Autor verantwortlich, sondern die Sprache selbst. Hinter dieser Idee steht der von Barthes proklamierte ‚Tod des Autors‘, bei dem an die Stelle des Autors ein unpersönlicher scripteur tritt, ein letztlich willen- und einflussloses Instrument zur Niederschrift des sich selbst generierenden Textes.155 Außerdem operieren die Generatoren bei Ricardou ausschließlich auf Signifikantenebene. Neue Textelemente können demnach ausschließlich von Eigenschaften des signifiant aus gebildet werden, also aus Phonemen, Graphemen, der Anzahl der Buchstaben u.Ä.; dagegen spielen Signifikate keine Rolle. Das Wort „rouge“ generiert beispielsweise „rogue“, „orgue“, „goure“ etc.156 Hintergrund ist, dass die Tel Quel’sche Texttheorie nicht nur den Referenten, sondern auch die sprachliche Bedeutung (signifié) negiert.157 Dies mündet in einer Idee von Literatur, die diese auf die bloße „Thematisierung von Vertex-

152 Zu Ricardous Generatorentheorie vgl. grundlegend Ricardou 1971a und Ricardou 1972. 153 Serialität wird bei Robbe-Grillet zu einem Sinnbild für die Erneuerung des Romans: Vor dem Hintergrund, dass Eco die Ablösung der tonalen durch die serielle Musik als Wende vom klassischen zum ‚offenen‘ Kunstwerk beschreibt (vgl. Eco 1971: 251–258), versucht RobbeGrillet den traditionellen durch einen ‚seriellen Romanʻ zu ersetzen. Vgl. Voyageur [1978]: 152–163. 154 Zur autogénération vgl. Ricardou 1971a: 145. 155 Vgl. Barthes 1994. Barthes selbst hat allerdings schon 1971 die Rede vom Tod des Autors relativiert und einen „retour amical de l’auteur“ verkündet (Barthes 1971: 13). 156 Zu diesem Beispiel vgl. Voyageur [1972]: 131. 157 Vgl. dazu kritisch Hempfer 1976: 32f.

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tungsverfahren“, auf Buchstabenpermutationen, Laut- und Zahlenspiele reduziert.158 Die damit einhergehenden Probleme hat Robbe-Grillet von Anfang an gesehen und zu meiden versucht.159 Die Vernachlässigung der Bedeutungsebene kritisiert er mit dem Argument, dass Sinn zuallererst konstituiert werden müsse, bevor man ihn dekonstruieren könne. Nur wenn die Bedeutungsebene berücksichtigt werde und der Text eine ,Verankerung in der Wirklichkeit‘ („enracinement dans la cité“) habe, könne der Sinn infrage gestellt und der Leser verunsichert werden – und Verunsicherung ist das, was Robbe-Grillet von der Literatur erwartet.160 Er kritisiert, dass Ricardous „littérature du signifiant“, die dem Signifikat jede strukturellen Funktion raube, in ein harmloses, bewusst bedeutungsloses Spiel der Signifikanten münde, das dem Text den Anschein einer „innocence retrouvée“ verleihe.161 Um diese Bedeutungslosigkeit zu vermeiden, will Robbe-Grillet die Generatoren ausdrücklich auf signifié-Ebene operieren lassen und sie zu thematischen Generatoren machen. Der Begriff „rouge“ beispielsweise soll als Farbe Rot weitere Konzepte wie Blut, Feuer und Revolution aufrufen.162 Zudem betont er, dass die so generierten Konzeptserien keineswegs ‚von selbst‘ entstehen, sondern auf der bewussten Entscheidung, der Wahl („choix“) eines verantwortlichen Subjekts, des Autors, basieren.163 Der Autor ist für Robbe-Grillet also mitnichten tot. Lapidar stellt er fest: „[D]errière un livre, il y a un écrivain“.164 An der Idee des autogenerierten Textes kritisiert Robbe-Grillet nicht zuletzt, dass dem Text auf diese Weise allzu leicht wieder ein sens caché untergeschoben werde könne, und zwar in Form des Unbewussten des Schriftstellers, das als „inconscient (non contrôlé)“ den Text strukturiere.165 Die Gefahr sei groß, dass der Roman dann einer psychologisierenden Deutung anheimfalle, bei der der Autor wieder ganz traditionell zur vollständigen Erklärung des Textes diene. Der zweifelhaften Autogeneration des Textes setzt Robbe-Grillet daher das Schreiben als bewusste Konstruktionsleistung des Subjekts entgegen – und beharrt auf seiner

158 Ebd. 70. Wie diese Literaturkonzeption in der Praxis aussieht, zeigen exemplarisch Ricardous Romaninterpretationen, beispielsweise La bataille de la phrase und Nouveau Roman, Tel Quel (in: Ricardou 1971: 118–158 und 234–265). 159 Einige Jahre später hat Robbe-Grillet frei heraus bekannt, Ricardou sei „un esprit intéressant, mais il a dit à Cerisy […] des stupidités“ (Voyageur [1985]: 501). Zu den Aporien der Tel Quel’schen Text- und Literaturtheorie vgl. ausführlich Hempfer 1976. 160 Voyageur [1972]: 132. – Vgl. auch: „En effet c’est par leur sens (dénotation et connotation) que les mots se trouvent en situation dans une société donnée, c’est par leur sens qu’ils procèdent à l’élaboration, à la consolidation respectueuse ou au contraire à la mise en question des codes et des mythes, alors que les lettres ou sonorités qui constituent ces mots restent pratiquement innocentes et désarmées“ (ebd.). 161 Ebd. 128 und 132. 162 Vgl. ebd. 134. 163 „[L]es thèmes générateurs […] comment les choisir?“ (Voyageur [1970]: 105; Herv. C. S.); „Sur le choix des générateurs“ (Voyageur [1972]: 131; Herv. C. S.). 164 Voyageur [1984]: 492. 165 Voyageur [1972]: 131.

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schriftstellerischen „volonté d’intervention“.166 Er gibt an, sich mehr für den „travail conscient“ als für das Unbewusste zu interessieren, „cet inconscient qui travaillerait à mon insu“.167 Bei aller Selbstbezüglichkeit des fiktionalen Textes legt Robbe-Grillet also Wert darauf, dass dieser – qua Produkt eines bewusst konstruierenden Subjekts – in der außerliterarischen Realität verankert ist. Dies bedeutet jedoch kein Zurückfallen in ein traditionelles Verständnis vom Autor, wie es die traditionelle Literaturwissenschaft mit ihrer Suche nach l’homme et l’œuvre vertreten hat. Ebenso wie Barthes und Tel Quel geht es Robbe-Grillet darum, die traditionelle Rolle des Autors für die Text(be)deutung zu relativieren: So wenig wie der Text die Außenwelt abbildet, so wenig ist er Ausdruck der Person des Autors – auch wenn er das Ergebnis seiner Entscheidungen ist. Die Rolle des Autors relativiert sich bei Robbe-Grillet schließlich auch durch die Rolle, die er dem Leser bei der Sinnkonstitution einräumt. Nicht der Autor bestimmt seiner Ansicht nach über die vermeintlich ‚richtige‘ Bedeutung des Textes, sondern Bedeutung formt sich in jedem Rezeptionsprozess neu. Eine ‚Wahrheit‘ des Textes gibt es für ihn demnach nicht: „[L]’auteur n’est pas plus qu’un autre le détenteur de la vérité de son œuvre“.168 Schon Barthes hatte den Tod des Autors mit einer „naissance du lecteur“ verknüpft.169 Aber anders als Barthes reduziert Robbe-Grillet den Leser nicht auf einen ‚unpersönlichen Ort‘, in dem sich die multiplen écritures des Textes sammeln, sondern sieht ihn – analog zum Autor – als ein aktiv und bewusst handelndes Subjekt, das beim Lesen Sinn in den Text hineinprojiziert. Diesen Projektionsakt des Lesers benennt Robbe-Grillet ausdrücklich, wenn er äußert, er wolle literarische Formen konstruieren, „qui constitueraient [s]on portrait mais où d’autres pourraient projeter leurs propres visages“.170 Der Text ist bei Robbe-Grillet also Gegenstand eines doppelten Konstruktionsprozesses: zunächst durch den Autor, dann durch den Leser. 4.3.3 Die littérature conflictuelle 4.3.3.1 Der Konflikt auf der Metaebene und das Vorführen von Sinnkonstitutionsprozessen Eco hat das ‚offene Kunstwerk‘ der Moderne als ein Kunstwerk ‚in Bewegung‘ charakterisiert, in dem eine unlösbare Spannung dafür sorgt, dass der Sinn des Werks offen bleibt.171 Daran orientiert sich Robbe-Grillet bei seinem Entwurf einer littérature conflictuelle. Ausdrücklich geht es dabei darum, dem Text einen 166 167 168 169 170 171

Ebd. 133. Ebd. 132. Voyageur [1984]: 492. Barthes 1994: 495. Voyageur [1985]: 501. Vgl. Kap. 2.6 Konstruktivismus in Ästhetik und Kunsttheorie: Ecos ‚offenes Kunstwerk‘.

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unlösbaren Konflikt einzuschreiben („d’inscrire dans l’écriture elle-même un conflit sans solution“) und eine „littérature de tensions non résolues“ zu schaffen.172 Dieser Konflikt ist auf einer Metaebene angesiedelt; er überschreitet die thematischen Konflikte, löst sie aber nicht auf.173 Auf dieser Metaebene soll der Leser erkennen, dass sich die Konzepte wechselseitig relativieren und dadurch weder zugunsten des einen noch des anderen Konfliktpols entschieden werden kann.174 Auf der Metaebene kommt also – ganz konstruktivistisch – ein Drittes, ein Sowohl-als-auch, in den Blick.175 Später wird Robbe-Grillet dieses Verfahren auch „déconstruction“ nennen.176 Die Konflikthaftigkeit ist Robbe-Grillet wichtiger als die Themen selbst. Auf letztere, sagt er, komme es kaum an; es gebe höchstens „sujets privilégiés“ für die Inszenierung von Konflikten.177 Ebenso wenig wie um bestimmte Themen gehe es ihm um einen bestimmten Sinn. Er wolle keinen Sinn ausdrücken, sondern die Bewegung des Sinns vorführen.178 Im Unterschied zu Tel Quel verweigert Robbe-Grillet Sinnbildung also nicht generell, sondern nur die Festlegung auf einen bestimmten Sinn. Es gebe, betont er, immer Ansätze und Möglichkeiten von Sinn („des possibilités de sens“); es dürfe sich nur keiner als der ‚richtige‘ oder ‚wahre‘ durchsetzen.179 Entsprechend dem konstruktivistischen und postmodernistischen Credo darf Sinn bei Robbe-Grillet daher nur plural auftreten, als „pluralité de sens“; ansonsten werde er totalitär: „Le sens, s’il est unique, est toujours totalitaire.“180 Bei der Pluralisierung helfe die konfliktuelle Form, „des formes en lutte contre des sens qui essaient de s’installer“.181 So werde der Text zu einem „appel au sens, toujours déçu“.182

172 Voyageur [1972]: 117f. 173 Robbe-Grillet spricht daher auch von einer Aufhebung des Konflikts im Hegel’schen Sinne, von ‚Überschreitung‘ (dépassement) anstatt ‚Auflösung‘ (vgl. Voyageur [1956/78]: 53 und Voyageur [1994]: 292). 174 „[L]’observateur doit s’apercevoir qu’il est passé à un niveau supérieur où tous les éléments exposés, objectifs, subjectifs ou réflexifs, ne sont plus que des thèmes nourrissant l’ensemble du tissage“ (Voyageur [1988]: 544). 175 Auch Barthes propagiert eine neuartige Dialektik, bei der die Aufhebung bzw. Überschreitung zu etwas Drittem führt, „qui n’est pas de synthèse, mais de déport“ (Barthes 1975: 73). 176 Voyageur [1988]: 544. Robbe-Grillet sieht den Begriff ‚Dekonstruktion‘ durchaus kritisch (vgl. ebd.). 177 Voyageur [1978]: 456. Angesichts von Robbe-Grillets thematischen Präferenzen (insb. aus dem Bereich der Sadoerotik) kann man freilich in Zweifel ziehen, inwiefern die Themen tatsächlich nebensächlich sind. 178 „Je ne suis pas du tout obsédé par l’expression d’un sens, mais par les mouvements du sens“ (ebd. 444). 179 Ebd. 444f. 180 Voyageur [1974]: 422 und 445. 181 Voyageur [1978]: 445. 182 Voyageur [2000]: 317. – Die Idee des sens déçu könnte auf Barthes zurückgehen, der schon 1962 feststellt: „Robbe-Grillet semble alors manier un certain contenu parce qu’il n’y a pas de littérature sans signe et de signe sans signifié; mais tout son art consiste précisément à décevoir le sens dans le temps même qu’il l’ouvre“ (Barthes 1964: 201).

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Worum es bei der littérature conflictuelle also geht, ist das Vorführen von Sinnkonstitutions- und Sinndestruktionsprozessen. Sinn und Bedeutung sollen als flüchtige und prekäre Konstrukte transparent werden. Wie so vieles andere in Robbe-Grillets Ästhetik, steht die programmatische Unlösbarkeit des Konflikts ebenso wie die Nichtfixierbarkeit eines eindeutigen Sinns für die Unmöglichkeit von Wahrheit und die epistemologische Unsicherheit. 4.3.3.2 Der Referenzkonflikt und die Präsenz des Autors im Text Das Referenzproblem fiktionaler Texte hat für Robbe-Grillet auch in der ‚mittleren‘ Phase noch höchste Priorität.183 Bemerkenswert ist dabei, dass er die Idee der représentation (bzw. expression) keineswegs völlig preisgeben will, sondern in eine übergeordnete Konfliktstruktur einzubinden versucht: als einen Pol im unlösbaren Konflikt zwischen Referentialität und Selbstreferentialität. Nicht die Lösung, sondern die permanente Umkreisung des „problème insoluble de la représentation – ou de l’expression“ steht dabei für ihn im Zentrum.184 Seine Romane will er gezielt zwischen Areferentialität und Referentialität oszillieren lassen, „entre une structure sans référent et de constantes références à une expression et à une représentation possibles“.185 Damit wird die These von der reinen Selbstreferentialität der literarischen Sprache freilich relativiert, was allerdings nicht bedeutet, dass Robbe-Grillet die Romane wieder zu ‚Spiegeln der Weltʻ erklären würde. Er sieht die Texte nach wie vor als Artefakte und damit als different von der außertextuellen Wirklichkeit – aber nicht weil er die Referenz komplett leugnen würde, sondern weil er die Spannung zwischen Welt- und Selbstbezügen für unlösbar hält. Von dem Referenzproblem berührt wird auch die Frage nach der ‚Präsenzʻ des Autors im Text. Einerseits trennt Robbe-Grillet streng zwischen Autor- und Erzählstimme, also zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem.186 Andererseits macht er Zweifel an der völligen Ausblendung des Autors geltend, wie sie in radikaler Form von Tel Quel und gemäßigt vom Mainstream der Erzählforschung bis heute vertreten wird.187 So fordert er schon 1975 in Cerisy seine Mitstreiter auf, sich von der ‚amüsantenʻ, aber letztlich ‚illusionärenʻ Idee vom ‚Tod des Autorsʻ zu verabschieden.188 Für Robbe-Grillet steht fest: Auch wenn 183 184 185 186

Er spricht von der „question primordiale de la référence au monde“ (Voyageur [1972]: 129f.). Voyageur [1956/78]: 53. Voyageur [1974]: 419. Vgl. dazu Robbe-Grillets Diskussionsbeitrag in Cerisy: „J’ai refusé, tout à l’heure, l’assimilation des narrateurs successifs avec l’auteur […] parce que le problème est bien plus complexe“ (Robbe-Grillet 1972: 169). 187 In Teilen der literaturwissenschaftlichen Forschung zeichnet sich in den letzten Jahren eine Rehabilitierung des Autors und seiner Rolle für die Textbedeutung ab. In Deutschland steht dafür paradigmatisch der Band Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Jannidis u.a. 1999). Vgl. auch Kablitz 2008: 28–42. 188 Vgl. Robbe-Grillet in Ricardou 1976: Bd. II, 313f.

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der fiktionale Text weder ein Spiegel der Außenwelt noch der Person oder des Lebens des Autors ist, hat er doch stets einen Bezug zur Welt, denn er selbst resultiert aus dem poietischen Akt eines vollkommen realen Subjekts. Der Text ist, betont er, immer auch die parole de l’écrivain, also das (geschriebene) Wort des Schriftstellers, und verweist als solches auf die außertextuelle Wirklichkeit.189 So ist es zu verstehen, dass Robbe-Grillet sagt, die von ihm geschaffenen literarischen Formen ‚konstituierten sein Portraitʻ, oder zu bedenken gibt, dass seine Romane durchaus von einer ‚Tiefeʻ zeugten: „[I]l y a bien une profondeur, et c’est celle de Robbe-Grillet“.190 Diese Ambivalenz des Textes zwischen Erzählstimme und parole des Autors, zwischen Selbstreferentialität und Referentialität hängt freilich damit zusammen, dass sich im fiktionalen Erzähltext zwei Kommunikationssysteme überlagern, dass er, wie Genette sagt, zwei Produktionsinstanzen hat, eine fiktive und eine reale: „[U]n récit de fiction est fictivement produit par son narrateur, et effectivement par son auteur (réel)“.191 Gleichwohl scheint es problematisch, wenn Robbe-Grillet die Erzählstimme eines Romans unmittelbar mit der Stimme des Autors identifiziert oder die schiere Häufung sadoerotischer Motive als Hinweis darauf deutet, dass der Autor (in diesem Fall: er selbst) entsprechende Neigungen habe.192 Er vernachlässigt dabei zum einen, dass es konventionell einer textuellen Markierung bedarf, die den Leser veranlasst, eine Aussage dem Autor zuzuschreiben, zum anderen, dass der fiktionale Status offenlässt, ob sich der reale Autor tatsächlich mit der Aussage identifiziert. Er setzt zudem stillschweigend voraus, dass der Leser über das entsprechende Weltwissen verfügt, um die genannten Textelemente als indexikalisch, d.h. als Verweis auf den Autor, zu erkennen.193 Der Leser muss also die spezifischen Vorlieben des realen Autors kennen, ansonsten bleibt ein Satz wie „La chair des femmes a toujours occupé, sans doute, une grande place dans mes rêves“ schlicht eine Erzähleraussage – selbst wenn es der Autor war, der sie faktisch produziert hat.194 Ähnlich ist im Hinblick auf die sadoerotischen Motive einzuwenden, dass, auch wenn ihr gehäuftes Auftreten auf eine gezielte Setzung durch den Autor hinweist, dem Text selbst nicht zu entnehmen ist, inwiefern der Autor diesem Thema persönlich zugeneigt ist. Auch dies lässt sich erst sagen, wenn aus anderen Quellen (etwa Interviews) hervorgeht, dass die sadoerotischen Motive mit den persönlichen Phantasmen Robbe-Grillets übereinstimmen.195 Doch selbst wenn der Leser über das entsprechende außertextuelle Wissen oder explizite Hin189 190 191 192

Vgl. Voyageur [1972]: 127. Ebd. 120. Genette 1983: 96. Zur Identifizierung der Erzählstimme von Maison mit der Stimme des Autors vgl. die folgende Aussage Robbe-Grillets: „Nous aurons successivement identifié dans cette voix: celle de l’auteur lui-même, celle du gros homme au teint rouge, celle de Ralph Johnson […]“ (Voyageur [1972]: 126f.). Zu den sadoerotischen Motiven vgl. ebd. 119f. 193 Zur Indexikalität literarischer Texte vgl. Häsner 2008. 194 A. Robbe-Grillet, La Maison de rendez-vous, Paris 1965, S. 11; im Folgenden zitiert als Maison mit Seitenangabe. 195 Zu entsprechenden Aussagen Robbe-Grillets in einem Interview vgl. Voyageur [1970]: 397.

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weise auf den Autor verfügt, bleibt die Referentialisierung des fiktionalen Textes prekär – eben weil dieser zugleich immer auch eine selbstreferentielle Lesart schafft. Im Ergebnis ist bemerkenswert, wie differenziert Robbe-Grillet die Rolle des Autors bereits in den siebziger Jahren betrachtet – jenseits des traditionellen Autorzentrismus, aber ebenso jenseits des zeitgenössisch propagierten ‚toten Autorsʻ. Gerade die Distanzierung vom ‚Tod des Autors‘ wird in der Robbe-GrilletForschung meist zu wenig gesehen. 4.4 DIE SPÄTPHASE: DAS ICH ALS KONSTRUKT 4.4.1 Literatur als philosophisches und wissenschaftliches Projekt In den achtziger Jahren weist Robbe-Grillet vermehrt auf den philosophischen Anspruch seiner Literatur hin: „Or, je suis de plus en plus persuadé que la philosophie et la littérature ont les mêmes objectifs, continuent les mêmes recherches mais par d’autres moyens“.196 Das hier erwähnte gemeinsame Ziel von Philosophie und Literatur ist die Suche nach Erkenntnis, denn Robbe-Grillet gibt an, sich dem Schreiben nicht deswegen zu widmen, weil er die Welt verstehe, sondern weil er sie nicht verstehe.197 Worum es ihm offensichtlich geht, ist das epistemologische Potential der Literatur. Bezeichnenderweise interessiert ihn aber weniger das Ergebnis der Erkenntnissuche als die Suche selbst. Den Roman beschreibt er als eine Suche ohne Ziel, „une recherche qui ne sait même pas ce qu’elle cherche“.198 Und dabei bestehe nicht einmal die Hoffnung, dass man am Ende irgendetwas besser verstehe als zuvor.199 Explizit ordnet Robbe-Grillet der Literatur die Rolle der Fragenstellerin zu – eine Rolle, die traditionell der Philosophie vorbehalten ist: „L’art pose des questions, il ne donne pas de réponses. C’est un appel à des réponses nouvelles qui sans cesse se contredisent.“200 Als zentrale Frage seiner literarischen recherche gilt ihm dabei die nach dem Ich bzw. nach dem eigenen Tun: „la question ‚qu’est-ce que c’est moiʻ ou ‚qu’est-ce que je fais là?ʻ“201 Erstmals macht Robbe-Grillet damit das Ich zum Gegenstand seiner literarischen Untersuchung („investigation“) und stellt seine Poetik ins Zeichen eines autobiographischen Projekts.202 Die Frage qu’est-ce que je fais là? weist dabei auf den Suchprozess zurück und wird zur Metareflexion auf die eigene Erkenntnissuche sowie auf die Konstitutionsbedingungen von Wissen und Erkenntnis im Allgemeinen. Die Erkenntnissuche zu erforschen, heißt für Robbe-Grillet, die Tätig196 Voyageur [1989]: 268. 197 „[J]’appartiens, sans doute, à ce type d’écrivain qui écrit, non pas parce qu’il comprend le monde, mais, au contraire, parce qu’il ne le comprend pas“ (ebd. 267). 198 Voyageur [1964]: 85. 199 Vgl. Voyageur [1994]: 295. 200 Voyageur [1984]: 492. 201 Voyageur [1989]: 267. 202 Voyageur [1994]: 295.

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keit des menschlichen Geistes zu untersuchen, und zwar im und durch das Erzählen: „What interests me in the narrative is precisely to explore the operations of the human spirit“.203 Er gibt an, die ‚problematische Übung der Literaturʻ („l’exercice problématique de la littérature“) der ‚konzeptuellen Übung der Philosophieʻ („l’exercice conceptuel de la philosophie“) vorzuziehen.204 Der Grund liegt offenbar darin, dass die Philosophie die Probleme (i.e. die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis) mithilfe präetablierter Konzepte („concepts déjà existants“) benennt, während die Literatur sie anschaulich vorzuführen vermag.205 Nun heißt aber recherche freilich nicht nur ‚Sucheʻ, sondern auch ‚Forschungʻ oder ‚Untersuchungʻ. Und so erweist sich Robbe-Grillets Projekt nicht nur als philosophisches, sondern auch als wissenschaftliches Unterfangen. Ausdrücklich verweist er in diesem Zusammenhang auf seine Ausbildung und ehemalige Tätigkeit als Naturwissenschaftler. Und in der Wissenschaft, betont er, seien Wahrheit und Verifizierbarkeit schon längst keine Kriterien mehr, sondern durch Effektivität (bzw. Viabilität) und Widerlegbarkeit (bzw. Falsifizierbarkeit) ersetzt worden.206 Auch die Literatur will Robbe-Grillet nun am Kriterium der Falsifizierbarkeit messen. Hintergrund ist seine nach wie vor vehemente Kritik am Wahrheitsbegriff: Le mot ‚véritéʻ est un mot dont j’évite l’usage parce que c’est un concept qui sert surtout à l’oppression. […] [I]l y a de multiples vérités, donc pas de vérité du tout. Il y a des petites vérités, avec un petit v, et qui sont fragiles, mouvantes et vite détruites. Il n’y a pas la Vérité avec un grand v, Veritas!207

Die Literatur soll sich an der Wissenschaft ein Beispiel nehmen. Anstatt sich als ‚letzte Bastion der Wahrheitʻ, als „dernier bastion de la vérité, de l’irréfutable“ zu gerieren, solle sie einen Raum der Freiheit bieten, „le domaine où notre liberté se développe de la façon la plus aventureuse.“208 Robbe-Grillet unterscheidet dabei die freie literarisch-fiktionale Konstruktion von der (gewöhnlichen) Wirklichkeitskonstruktion, deren Nichtbeliebigkeit er, ebenso wie die Konstruktivisten, sehr genau sieht. Außerhalb der Literatur gelte: „[O]n ne peut pas dire n’importe quoi“.209 Hintergrund ist hier die (an Lacan angelehnte) Unterscheidung zwischen dem unerreichbaren Realen (le réel) und der konstruierten Wirklichkeit (la réalité).210 Das Reale, d.h. die ontische Welt, bildet ein permanentes ‚Hindernisʻ, das alle Wirklichkeitskonstruktion ex negativo strukturiert: „Le réel, c’est ce contre quoi je bute.“211 An der Grenze zum Realen 203 Robbe-Grillet 1996: 248f. 204 Voyageur [1989]: 267. 205 Ebd. 268. – Vgl. auch: „La fiction romanesque, c’est déjà comme le devenir-monde de la philosophie“ (Voyageur [1981]: 189). 206 Vgl. Voyageur [1988]: 559. Ähnlich auch Voyageur [1994]: 296, Anm. 12 und Préface 44. 207 Préface 15. 208 Voyageur [1988]: 559. 209 Préface 15. 210 Vgl. Robbe-Grillet 1996: 262. 211 Voyageur [1985]: 518. – Das Originalzitat Lacans lautet: „Il n’y a pas d’autre définition possible du réel que: c’est l’impossible; quand quelque chose se trouve caractérisé de l’im-

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komme der menschliche Sinn ins Wanken: „[L]e réel commence juste au moment où le sens vacille“ (M 212).212 Und es ist dieser Moment des Wankens, der Robbe-Grillet interessiert: der Moment, wo sich Lücken im Erklärungssystem auftun, ‚etwas anderesʻ sichtbar und der Sinn als Konstrukt transparent wird.213 Das durch die Lücken aufscheinende ‚Andereʻ ist nach Deleuze und Guattari jenes grundlegende Chaos, das die Menschen unermüdlich mit dem ‚Schutzschirmʻ der Ordnung zudecken, um es zu vergessen.214 In Anbetracht dessen, fügen sie hinzu, sei es die Aufgabe der Künstler, Wissenschaftler und Philosophen, das Chaos wieder bewusst zu machen: durch das Aufreißen der bestehenden Ordnungen und gezielte Schaffung von Lücken und Löchern.215 Kunst, Philosophie und Wissenschaft erhalten hier eine zentrale epistemologische Funktion: Sie sollen Sinn- und Ordnungsstrukturen als Konstrukte ins Bewusstsein rufen. Aus dem gleichen Grund sind auch für Robbe-Grillet Risse, Lücken und Löcher positiv besetzt. Leerstellen bilden für ihn nicht nur die Grundbedingung des Lebens, sondern zugleich die Ermöglichungsgrundlage menschlicher Freiheit. Wie sich ein Ring erst durch sein „vide central“, also die Abwesenheit des Materials, als Ring konstituiere, sei der fundamentale Mangel („manque“) im Zentrum des Menschen die Bedingung dafür, dass er sich und sein Leben als ‚Projektʻ frei entwerfen könne: [L]e manque fondamental qui troue le centre de l’homme apparaît comme le lieu originel de son projet d’existence, c’est-à-dire de sa liberté. (A 22)

Damit sind wir beim Kern von Robbe-Grillets Poetik der Spätphase angelangt, der Konzeption des Subjekts. 4.4.2 Das fragmentierte Subjekt und die Konstruktion des Ich Dass Robbe-Grillet den Mangel als Ermöglichungsgrundlage für den Selbstentwurf und die Freiheit des Subjekts denkt, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Schon die Rede vom „projet d’existence“ (A 22) zeigt, dass Robbe-Grillet das Subjekt und sein Tun konstruktivistisch fasst: Der Mensch konstruiert sich und sein Leben selbst. Damit erteilt Robbe-Grillet jeder essentialistisch-substantialistischen sowie deterministischen Subjektkonzeption eine Absage, für die das Subjekt etwas Statisches und ein für allemal Gegebenes (bzw. Determiniertes) ist. Stattdessen kann und muss sich nach seiner Auffassung das Subjekt in jedem Moment selbst entwerfen. Die Freiheiten und Spielräume, die es dabei hat, resul-

212 213 214 215

possible, c’est là seulement le réel; quand on se cogne, le réel, c’est l’impossible à pénétrer“ (Lacan 1975: 55f.). Vgl. hierzu den Hinweis bei Devésa 2010: 318, Anm. 80. – Zur konstruktivistischen Auffassung des Realen als Hindernis vgl. Kap. 2.4.2 Viabilität statt Objektivität und Wahrheit. Vgl. auch Robbe-Grillet 1992: 54. Vgl. Voyageur [1981]: 476. Vgl. Deleuze/Guattari 1991: 189f. Vgl. ebd. 190–196.

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tieren für ihn aus besagtem Mangel, der nicht moralischer, sondern epistemologischer Art ist: jener unüberwindbare Mangel an Erkenntnis, mit dem das Subjekt nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst gegenübersteht. Zur Rechtfertigung der These, dass nicht nur die Welt- sondern auch die Selbsterkenntnis lückenhaft und mithin widerlegbar (réfutable) ist, beruft sich Robbe-Grillet u.a. auf die Psychoanalyse: La réfutabilité, qui a donc remplacé la vérifiabilité, est une notion qui est profondément ancrée dans le rapport à soi que nous avons, à l’heure actuelle. Et bien entendu, dans la descendance, non pas du freudisme orthodoxe, mais en tout cas de la psychanalyse, où nous savons aussi que c’est parce qu’il y a des trous, des contradictions, des manques en nous, que nous vivons.216

Robbe-Grillet denkt hier wohl an das Lacan’sche ‚Spiegelstadiumʻ, demzufolge das (kindliche) Subjekt immer nur Fragmente seiner selbst kennt und diese erst mithilfe des Spiegelbildes zu einem imaginären Ganzen, dem Ich (moi), zusammensetzt.217 Für Lacan ist das Ich/moi daher niemals identisch mit dem ‚wahren ich‘/je bzw. Subjekt („[L]e vrai je n’est pas moi“), sondern immer nur dessen Erfahrungsobjekt („un objet particulier à l’intérieur de l’expérience du sujet“) – mit anderen Worten: Das Ich/moi ist nur ein Konstrukt des Subjekts/je.218 Daher meint auch Robbe-Grillet: „[O]n ne coïncide jamais vraiment avec soi-même.“219 An dieser Schnittstelle der Dissoziation von je (ich, Subjekt) und moi (Ich, Objekt) trifft sich Robbe-Grillet nicht nur mit Lacan, sondern auch mit den Konstruktivisten, die im Ich ebenfalls nur das Objekt bzw. Konstrukt des seinerseits unfassbaren Subjekts sehen. Zudem kreuzt Robbe-Grillet den Weg von Barthes und seiner Idee des sujet dispersé. Anders als das traditionelle sujet divisé ist für Barthes das sujet dispersé nicht mehr widersprüchlich, sondern zerstreut: zerstreut in einer dynamischen Bewegung ohne ‚eigentlichenʻ Kern und Sinn, einem „éparpillement dans le jeté duquel il ne reste plus ni noyau principal ni structure de sens: je ne suis pas contradictoire, je suis dispersé“.220 Auch Barthes ist hier, wie die gesamte poststrukturalistische Texttheorie, von Lacan beeinflusst, genauer, von Lacans Idee des sujet décentré, eines Subjekts, das, eingebunden in die Symbolwelt der Sprache, keine ‚eigentlicheʻ Bedeutung mehr kennt. „[C]’est en tant qu’il est engagé dans un jeu de symboles, dans un monde symbolique, que l’homme est un sujet décentré“, hält Lacan 1954 im Rahmen seines Seminars fest.221 So entsteht bei Lacan die für den Poststrukturalismus zentrale Idee eines Subjekts, das ebenso wie die sprachliche Bedeutung in einem unabschließbaren Semioseprozess stets ‚aufgeschobenʻ ist, zersplittert und dezentriert in einer Plura-

216 Voyageur [1994]: 296, Anm. 12. 217 Vgl. Lacan 1971. – Zu Robbe-Grillets Rekurs auf das Spiegelstadium vgl. Voyageur [1984]: 497. 218 Lacan 1978: 60. 219 Voyageur [1988]: 546. 220 Barthes 1975: 146. 221 Lacan 1978: 63.

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lität von Signifikanten.222 Und ganz ähnlich beschreibt sich Robbe-Grillet als zerrissen und fragmentiert, bestehend aus mobilen, bedeutungslosen Teilen, die zu keiner stabilen oder kohärenten Form mehr finden: [J]’ai l’impression trop forte d’être constitué de morceaux, d’éléments. Des éléments qui bougent, parce qu’il y a des manques. […] Je suis donc fait de morceaux qui ne peuvent pas trouver un assemblage cohérent, définitif, paraissant stable. Ces morceaux sont mobiles et incertains; de plus, quand ils apparaissent avec une certaine netteté, ils sont insignifiants.223

Anders als Barthes sieht Robbe-Grillet das dezentrierte Subjekt aber durchaus noch mit Widersprüchen gefüllt. Dispersion und Widersprüchlichkeit schließen sich bei ihm nicht aus. Die Selbsterkenntnis wird laut Robbe-Grillet auch dadurch behindert, dass das Ich nur den bewussten Teil des Subjekts darstellt, während das Unbewusste der Erkenntnis prinzipiell verschlossen und allenfalls spekulativ zugänglich ist. Im Unterschied zu Lacan, der das Unbewusste für sprachlich strukturiert und mithin dekodierbar hält, ist Robbe-Grillet der Meinung, dass das Unbewusste sprachlich unzugänglich ist:224 [L]a conscience est structurée comme notre langage (et pour cause!), mais ni le monde ni l’inconscient; avec des mots et des phrases, je ne peux représenter ni ce que j’ai devant les yeux, ni ce qui se cache dans ma tête, ou dans mon sexe. (M 17f.)

Nebenbei bemerkt: Die hier postulierte Strukturanalogie von Sprache und Bewusstsein bildet die Grundlage für Robbe-Grillets Idee vom Text als ‚Spur des tätigen Geistesʻ. Und sie ermöglicht ihm zudem, das Schreiben als bewusstes Tun zu qualifizieren und mit diesem Argument all jene psychoanalytischen Literaturinterpretationen abzulehnen, die meinen, vom Text auf das Unbewusste des Autors rückschließen zu können (darauf ist zurückzukommen). Wenn Robbe-Grillet also meint, die Selbsterkenntnis müsse auch deswegen unvollständig bleiben, weil das Unbewusste nicht fassbar sei, so stimmt er darin mit der konstruktivistischen Konzeption des Ich überein, die ebenfalls davon ausgeht, dass das Subjekt sich selbst nicht zu erkennen vermag, weil viele Erfahrungen erst gar nicht zu Bewusstsein kommen bzw. rational nicht zu begreifen sind.225 Als weiteren Grund für die Lückenhaftigkeit der Selbsterkenntnis führt Robbe-Grillet die Konstruktivität der Erinnerung ins Feld. Den eigenen Erinnerungen sei nicht zu trauen: Sie seien unzuverlässig und das menschliche Gedächtnis löchrig („[L]a mémoire est trouée“).226 In jede vermeintlich authentische Erinnerung könne sich unbemerkt Imaginäres eingeschlichen haben, denn, wie Barthes sagt, „l’imaginaire vient à pas de loup“.227 222 223 224 225 226 227

Zu Lacans Bedeutung für die poststrukturalistische Texttheorie vgl. Gronemann 2002: 31. Voyageur [1994]: 296. Vgl. dazu Lacan (1973: 23): „[L]’inconscient est structuré comme un langage“. Vgl. Kap. 2.4.7 Das Selbstbewusstsein und die Konstruktion des Ich. Voyageur [1981]: 476. Zur Unzuverlässigkeit der Erinnerung vgl. Voyageur [1991]: 283. Barthes 1975: 109.

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Nicht zuletzt erkennt Robbe-Grillet, übereinstimmend mit Piaget, dass sich Ich-Konstruktion und Wirklichkeitskonstruktion wechselseitig bedingen und das Subjekt sich nur in Abgrenzung zur Welt entwerfen, also als Ich objektivieren kann. Robbe-Grillet beschreibt diesen Selbstentwurf als Konstitution eines „êtredans-le-monde“ (bzw. eines ‚Dings unter anderen Dingenʻ, wie es bei Piaget heißt), als eine Projektionsleistung des Subjekts, die ihren Ausgang im Nichts nimmt.228 Wie bei Piaget erscheint dabei der Akt des Selbstentwurfs als Prozess mit zwei Seiten, als ein quasi-paradoxes Hervorgehen aus einer Welt und gleichzeitiges Hervorbringen eben dieser Welt: „[C]e monde trop plein que je crée moimême par mon intentionnalité, en me projetant sans cesse hors de moi, me chasse hors de moi.“229 Nicht zuletzt definiert Robbe-Grillet die Selbstprojektion hier über das phänomenologische Konzept der Intentionalität, genauer das Husserl’sche Intentionalitätskonzept, wie Sartre es in „Une idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: l’intentionnalité“ (1939) beschrieben hat (womit sich Robbe-Grillet, wie er selbst sagt, auf einen von transzendentalen Aspekten ‚gereinigtenʻ Husserl bezieht).230 Er räumt in diesem Zusammenhang aber ein, dass es ein rein intentionales, vollkommen leeres Bewusstsein im Grunde gar nicht geben kann, weil jedes Subjekt immer schon in einem realen, historischen Kontext situiert ist.231 Insgesamt, so lässt sich festhalten, stimmt Robbe-Grillets Konzeption des Subjekts und seiner Selbstkonstitution als Ich in mehreren zentralen Punkten mit der konstruktivistischen Auffassung überein: Das Ich erscheint (ebenso wie die Wirklichkeit) als Konstrukt und Projektion des Subjekts, wobei vor allem die Unzugänglichkeit des Unbewussten und die Konstruktivität der Erinnerung verhindern, dass das Subjekt sich selbst erkennt. 4.4.3 Die écriture du fragment Vor dem Hintergrund der Mangelhaftigkeit des Subjekts (bzw. seiner Welt- und Selbsterkenntnis) erhebt Robbe-Grillet die strukturelle Lücke zum poetologischen Programm: „[L]e manque est pour moi de plus en plus le centre narratif de toute œuvre“.232 Wie schon Doris Grüter bemerkt, begründet Robbe-Grillet die Leerstellen in seinen Texten nicht nur „ontologisch mit den Bedingungen menschlichen Bewußtseins schlechthin“, sondern wendet die Lückenhaftigkeit auch als 228 „Seul en définitive un noyau de néant détermine son [sc. de l’homme] épaisseur concrète, et c’est l’absence d’être en son sein qui le projette hors de soi comme être-dans-le-monde, comme conscience du monde, comme conscience de soi, comme devenir“ (A 22). 229 Voyageur [1985]: 246. 230 Vgl. Voyageur [1989]: 264 und 266 sowie Sartre 1947. 231 „En fait, personne ne peut être entièrement une conscience husserlienne; car même si je dis qu’à l’intérieur de moi il n’y a rien […], en fait il y a en moi tout le monde qui m’a précédé: les civilisations occidentales, l’histoire judéo-chrétienne, l’histoire grecque, les civilisations celtiques et que sais-je encore“ (Voyageur [1985]: 243). 232 Préface 54.

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„Garantin menschlicher Freiheit ins Positive“.233 Zu Recht weist Hanna Meretoja in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Robbe-Grillets ontologische Aussagen dabei in einen gewissen Widerspruch zu seinen epistemologischen Positionen geraten: Einerseits insistiere er ja stets auf der fundamentalen Unsicherheit unseres Wissens, darauf, dass wir nicht wissen können, wie die Welt ‚wirklich‘ beschaffen ist, behaupte aber andererseits, „that reality in fact is a fragmentary, chaotic, and dynamic flux that resists human meanings.“234 Diese Inkohärenz ist sicher nicht zu leugnen. Welchen Platz aber nimmt, davon einmal abgesehen, die Lücke nun genau in Robbe-Grillets Poetik ein? Grundsätzlich gilt ihm die Lücke als zentraler „organisateur structurel dans la littérature moderne“.235 Der gesamte kreative Schreibakt nehme seinen Ausgang im Nichts, sei ein „[c]onstruire sur le vide“.236 Als Ziel seines Schreibens sieht Robbe-Grillet aber nicht die Konstruktion eines vide ‚an sich‘, da dieses immer (allzu eindeutigen) Sinn anziehe; vielmehr geht es ihm darum, eine Struktur zu schaffen, die von einer Lücke oder Leere durchdrungen sei.237 Die Lücke bzw. Leerstelle ist demnach nicht das, worum es Robbe-Grillet eigentlich geht, sondern das unfassbare, unvermeidbare Andere, das die Konstruktion ex negativo prägt und durchdringt. Anders gesagt, Robbe-Grillet will konstruieren angesichts und trotz der Leere – ohne sie zu leugnen, aber auch ohne sie zu idolisieren. Die Lückenhaftigkeit verbindet sich schließlich bei ihm mit der unlösbaren Konflikthaftigkeit und mündet in ein ‚fragmentarisches Schreibenʻ: die écriture du fragment. Von dieser unterscheidet Robbe-Grillet streng eine zweite Art literarischer Fragmentarizität, das bloße fragment de l’écriture, bei dem es sich nur um ein unfertiges Teilstück handele, während die écriture du fragment strukturell offen und grundsätzlich unabschließbar sei.238 Ebenfalls nicht zu verwechseln sei die écriture du fragment mit der schlichten Montage verschiedenartiger Bruchstücke, denn dadurch alleine werde die Vervollständigung zu einem sinnhaften Ganzen noch nicht verhindert: Beispielhaft zeige sich dies an den Collagen Max Ernsts, wo sich etwa aus einem Menschenkörper, einem Vogelkopf und Frosch-

233 Grüter 1994: 277. 234 Meretoja 2010a: 333. – Zu solchen ontologischen Aussagen vgl. beispielsweise: „le réel est discontinu“ (M 208); „nous savons aussi que c’est parce qu’il y a des trous, des contradictions, des manques en nous, que nous vivons“ (Voyageur [1994]: 296, Anm. 12); „je le sais d’instinct: la conscience est structurée comme notre langage (et pour cause!), mais ni le monde ni l’inconscient“ (M 17). 235 Préface 47. 236 Préface 55. 237 Vgl. Robbe-Grillet 1981: 293. 238 Vgl. ebd. 291ff. – Robbe-Grillet verweist im Zusammenhang mit den fragments de l’écriture darauf, dass die Kunst zu allen Zeiten Fragmente, Ausschnitte bzw. Teile eines Ganzen präsentiert hat (z.B. die Portraitmalerei); dies sei nicht spezifisch modern, da es – pars pro toto – dabei stets um das Ganze gehe (ebd. 292f.). Zu Beginn dieses ins Englische übertragenen Interviews gibt es einen Übersetzungsfehler: fragment de l’écriture wird zunächst mit „fragmented writing“ (anstatt „fragment of writing“) und écriture du fragment mit „writing a fragment“ (anstatt „fragmented writing“) übersetzt (ebd. 291).

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händen eine neue, sinnhafte Einheit erstellen lasse.239 Auf ‚moderneʻ Weise fragmentarisch ist für Robbe-Grillet ein Werk letztlich erst dann, wenn sich die Fragmente untereinander widersprechen und sich kein kohärentes Ganzes mehr bilden lässt. Als in dieser Hinsicht vorbildlich gilt ihm die Kunst eines Jasper Johns oder Robert Rauschenberg.240 In seiner écriture du fragment setzt er auf den Einbau von Aporien, Brüchen, unlösbaren Widersprüchen und inkompatiblen Varianten, auf serielle Strukturen und das passé composé als Tempus der Unabgeschlossenheit – also durchaus bewährte Verfahren seiner Poetik.241 Auch wenn diese nun unter einem neuen Leitbegriff der Fragmentarizität, als „mark[s] of fragmentation“, erscheinen, so zeugen sie doch von einer Kontinuität des Robbe-Grillet’schen Denkens.242 4.4.4 Die Unmöglichkeit der traditionellen Autobiographie Bei seinem Versuch, das sujet dispersé und die Konstruktivität des Ich zu inszenieren, stößt Robbe-Grillet an die Grenzen der traditionellen Autobiographie, wie Philippe Lejeune sie in Le Pacte autobiographique (1975) beschrieben hat. Lejeunes Buch gilt als Standardwerk zur Autobiographie und dient, obgleich in vielem überholt, noch heute als Referenz. Laut Lejeune verbürgt der für die Autobiographie gattungskonstitutive ‚autobiographische Paktʻ die Wahrheit des Gesagten: Aufgrund dieses Paktes könne der Leser davon ausgehen, dass es sich bei dem betreffenden Text um die referentielle Darstellung der Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung des realen Autors handele.243 Der ‚referentielle Paktʻ verpflichte den Autor, die Wahrheit zu sagen, soweit sie ihm zugänglich sei; er leiste sozusagen einen Wahrheitseid: „Je jure de dire la vérité, toute la vérité, rien que la vérité“.244 Entsprechend ziele die Autobiographie, so Lejeune, eben nicht auf bloße Wahrscheinlichkeit (vraisemblance), sondern auf Ähnlichkeit (ressemblance) mit dem Wahren (le vrai); es gehe um ein Abbild des Wirklichen (image du réel), nicht eine bloße Wirklichkeitsillusion (effet de réel) – ein Merkmal, das die Autobiographie mit historiographischen und wissenschaftlichen Texten teile:245 239 Vgl. ebd. 296. 240 Vgl. ebd. 294. – Robbe-Grillet verweist hier u.a. auf Johns ‚Zusammenschnitteʻ von Körperteilen auf der Rückseite einer Leinwand sowie Rauschenbergs wahllos zusammengefügte Ausschnitte aus Zeitschriften (vgl. ebd. 296). 241 Vgl. ebd. 293–297. Inwiefern diese Poetik des Fragments einer am Film orientierten „Poetik der Montage“ ähnelt, zeigt anschaulich Patricia Oster (2011: 87). 242 Robbe-Grillet 1981: 292. 243 Vgl. dazu Lejeunes Definition der Autobiographie als „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité“ (Lejeune 1975: 14). 244 Ebd. 36. 245 Inwieweit schon für die traditionelle Autobiographie das Merkmal der absoluten Wahrheitsund Faktentreue nur bedingt Gültigkeit hat, habe ich am Beispiel von Rousseaus Confessions zu zeigen versucht (vgl. Schaefer 2008).

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4 Robbe-Grillets Theorie des Erzählens Par opposition à toutes les formes de fiction, la biographie et l’autobiographie sont des textes référentiels: exactement comme le discours scientifique ou historique, ils prétendent apporter une information sur une „réalité“ extérieure au texte, et donc se soumettre à une épreuve de vérification. Leur but n’est pas la simple vraisemblance mais la ressemblance au vrai. Non „l’effet de réel“, mais l’image du réel.246

Entsprechend sucht die konventionelle Autobiographie alles zu vermeiden, was den Anschein von Fiktionalität erwecken könnte, und beteuert ihre Faktualität, indem sie das Gesagte beständig als wahr und authentisch ausweist. Als entscheidendes textuelles Kriterium zur Etablierung des autobiographischen Pakts nennt Lejeune die Namensidentität (Homonymie) von Autor, Erzähler und Protagonist, die „identité de l’auteur (dont le nom renvoie à une personne réelle) et du narrateur“ bei gleichzeitiger „identité du narrateur et du personnage principal“.247 Die Homonymie reiche aus, um Fiktionalität auszuschließen.248 Hier bürgt also letztlich der Autor mit seinem Namen für die Wahrheit des Gesagten. Weil Robbe-Grillet von einer solchen Wahrheit freilich nichts wissen will, wendet er sich explizit gegen Lejeune. Als völlig inakzeptabel kritisiert er den Anspruch auf authentische Darstellung des eigenen Lebens unter Vorspiegelung der Tatsache, dass man den Sinn seines Lebens verstanden habe: [J]e ne peux absolument pas signer le pacte autobiographique de Lejeune, parce que deux éléments de ce pacte me paraissent absolument impossibles. Le premier concerne l’exigence de signification […]; en somme, on ne peut commencer son autobiographie que si l’on a compris le sens de son existence. Or, il me semble que c’est tout le contraire. […] Le deuxième élément important du pacte, selon Lejeune, est l’effort d’authenticité (il ne va pas jusqu’à dire de „vérité“, car on peut se tromper; mais il faut se tromper honnêtement).249

Aus der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und der prinzipiellen Unzugänglichkeit des Unbewussten zieht Robbe-Grillet den Schluss, dass es „dans la relation autobiographique à soi-même quelque chose d’impossible“ gebe, „qui nécessite d’être truqué“.250 So problematisch die Relation des Subjekts zu sich selbst, so ‚problematischʻ solle auch der autobiographische Text sein. Anders gesagt erlaubt für Robbe-Grillet die Konzeption des sujet dispersé keine eindeutige, kohärente Darstellung. Unmöglich muss ihm da die konventionelle Autobiographie erscheinen, für die das Ich identisch mit dem Subjekt und die vollständige Selbsterkenntnis möglich ist, jene Konzeption also, für die das autobiographische Erzählen deswegen unproblematisch ist, weil sie das Erkenntnisvermögen des Subjekts nicht hinterfragt.

246 Lejeune 1975: 36. 247 Ebd. 14. 248 „Nom du personnage = nom de l’auteur. Ce seul fait exclut la possibilité de la fiction. Même si le récit est, historiquement, complètement faux, il sera de l’ordre du mensonge (qui est une catégorie ‚autobiographiqueʻ) et non de la fiction“ (ebd. 30). – Das Homonymie-Kriterium kann heute, wie die Praxis des Romans zeigt, als überholt gelten. 249 Voyageur [1994]: 295. Vgl. ebenfalls Voyageur [1988]: 542f. 250 Voyageur [1991]: 283.

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Da Robbe-Grillet seine eigene Konzeption einer Nouvelle Autobiographie im Rahmen der Romanesques-Trilogie erläutert, wird sie, um Doppelungen zu vermeiden, unten in Kapitel 7 (Les Romanesques) mitbehandelt.

4.5 ZUSAMMENFASSUNG Es ging in diesem Kapitel darum zu zeigen, dass Robbe-Grillets explizite Poetik durchgängig und von Beginn an epistemologisch fundiert ist und sich in wechselnder Schwerpunktsetzung mit der Konstruktion von Wirklichkeit, Texten und dem Ich befasst. Dabei war eine Entwicklung festzustellen, die ihren Ausgang nahm von einem neuen naturwissenschaftlich-physikalisch geprägten Weltbild und der damit verbundenen Einsicht in den Konstruktcharakter aller Wirklichkeitswahrnehmung. Mit diesem neuen Weltbild begründete der ‚früheʻ RobbeGrillet seine Kritik an einem nicht mehr zeitgemäßen Romanmodell. Weil sich Robbe-Grillet erst allmählich von einigen Irrtümern bezüglich der sprachlichen Möglichkeiten zur Repräsentation von Welt befreit hat, scheint mir die These, dass seine Realismuskritik ursächlich aus einer Sprachkritik hervorging, nicht haltbar. Offensichtlich hat sich seine sprachkritische Haltung nämlich erst allmählich und in Ergänzung zu einer schon zuvor ausgebildeten konstruktivistischen Wirklichkeitsauffassung entwickelt. Robbe-Grillets Sprach- und Textauffassung ist also in der Frühphase noch nicht als konstruktivistisch zu werten. In einer durchaus ambivalenten ‚mentalistischenʻ Übergangsphase in den sechziger Jahren überwindet Robbe-Grillet sukzessive seinen Sprachrealismus. In dem Maße wie sich seine antiillusionistische Sprach- und Textauffassung festigt, vollzieht er die Wende zu einer Konstruktästhetik. Vollends zur Entfaltung kommen wird diese allerdings erst um etwa 1970, dem Höhepunkt der ‚mittleren‘ Phase, wenn er die Idee, eine adäquate textuelle Darstellung außerliterarischer Objekte (ob Welt oder mentale Prozesse) sei möglich, gänzlich verabschiedet haben wird. Schon zu diesem Zeitpunkt sieht Robbe-Grillet das Problem sprachlicher Referenz differenzierter als gemeinhin angenommen. Keineswegs nämlich bedeutet für ihn die vielzitierte Selbstreferentialität der Sprache die völlige Abkoppelung des literarisch-fiktionalen Textes von der Welt. Er stellt klar, dass Sprache immer referiert, aber nie auf die Welt ‚an sichʻ, sondern stets auf Konstrukte. Er sieht darüber hinaus bereits, dass diese Konstrukte (bzw. ‚Referenten‘), in Abhängigkeit von Konventionen, in Fakten und Fiktionen zu scheiden sind, dass also die Trennlinie bei den sprachlichen Bezugsobjekten nicht zwischen Konstrukten und ‚wirklichen Referentenʻ, sondern zwischen zwei Arten von Konstrukten verläuft. Entgegen einer These der Forschung hat sich Robbe-Grillet also in der ‚mittleren‘ Phase keineswegs von epistemologischen Fragen abgewandt, sondern die schon zuvor thematisierte Frage der Relation von Mensch und Welt konsequent weitergedacht und um die Problematisierung des Verhältnisses von Text und Welt erweitert.

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Auf Ebene der Erzählverfahren besteht die zentrale Neuerung dieser ‚mittleren‘ Phase in der Forderung, dass die Romane von nun an ihre Artifizialität und ihren Konstruktcharakter selbst bloßlegen (mithilfe von unauflösbarer Widersprüchlichkeit, von thèmes générateurs etc.). Des Weiteren macht Robbe-Grillet schon zu dieser Zeit darauf aufmerksam, dass auch das fiktionale Wortkunstwerk qua Artefakt immer in einem realen historischen Kontext verankert ist und einen Weltbezug hat, weil es aus einem poietischen Akt resultiert. Vor diesem Hintergrund distanziert er sich schon früh vom ‚Tod des Autorsʻ und insistiert darauf, dass der Text die Spur eines konzipierenden Subjekts ist, an dem sich indirekt die Tätigkeit des menschlichen Geistes nachvollziehen lässt. Die Fokussierung mentaler und kognitiver Prozesse kann im Übrigen als weitere Kontinuität in RobbeGrillets Denken gewertet werden und rückt ihn abermals in die Nähe des kognitionstheoretisch fundierten Konstruktivismus. Das Festhalten am Autor als konstruierendem Subjekt gehört, vor allem im Vergleich zum zeitgenössischen poststrukturalistischen Umfeld, zu den bemerkenswertesten Aspekten des ‚mittlerenʻ Robbe-Grillet – zumal es ihn nicht davon abgehalten hat, das traditionelle Autorkonzept kritisch zu hinterfragen und konstruktivistisch neu zu denken. Die dritte Phase, die – wie dann im Rahmen der Romanesques-Analyse zu sehen sein wird – ganz im Zeichen einer Nouvelle Autobiographie steht, ist in zweierlei Hinsicht von Kontinuität geprägt. Zum einen will Robbe-Grillet auf sein bewährtes Arsenal an Erzählverfahren zurückgreifen, die er nun unter dem Begriff écriture du fragment subsumiert. Zum anderen wendet er sich der Entlarvung eines weiteren Konstrukts zu, dem Ich – und zwar sowohl dem Ich als Konstrukt erster Stufe, also dem basalen Selbstkonzept des Subjekts, als auch dem Ich als Konstrukt zweiter Stufe, d.h. dem Ich des autobiographischen Textes. Mit dieser Ausweisung des Ich als Konstrukt konstituiert diese Phase alles andere als einen Bruch mit Robbe-Grillets vorherigem Denken – und zwar unter konstruktivistischen Gesichtspunkten ebenso wie in Bezug auf das Referenzproblem, das er nach wie vor als ‚ungelöstʻ zu inszenieren gedenkt. Eine Konstante von Robbe-Grillets Poetik ist im Übrigen sein wiederholtes Anknüpfen an Ecos Opera aperta und die Idee, dass im zeitgemäßen Kunstwerk der Sinn uneindeutig und ‚offenʻ bleiben muss, wenn das Kunstwerk strukturhomolog zum ungreifbaren, sinnfreien Realen sein soll. Kontinuität stiftet zudem Robbe-Grillets beständige Suche nach Freiheit, die ihm die traditionelle Wahrheitssuche ersetzt. Bezeichnenderweise ist Freiheit für Robbe-Grillet unmittelbar an die epistemologische conditio humana geknüpft. Die Möglichkeit zur Freiheit resultiert für ihn erst aus der Beschränktheit menschlicher Erkenntnis: Eben weil wir nichts sicher wissen können, haben wir Spielräume bei der Konstruktion der Wirklichkeit (und unseres Selbst). Unsere Konstrukte müssen nicht wahr oder richtig, sondern nur viabel sein. Spinoza zitierend sagt Robbe-Grillet, der allwissende Gott sei ‚der Fiktion völlig unfähigʻ, der menschliche Geist ihrer hingegen umso fähiger, je weniger er die Welt verstehe („L’esprit humain est d’autant plus capable de fiction qu’il perçoit plus de choses et qu’il les comprend moins“).251 251 Préface 105f.

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Mit dieser Positivierung der Unwissenheit situiert sich Robbe-Grillet nicht nur im Zentrum der Postmoderne, sondern macht zugleich die Fiktion zu einer anthropologischen Konstante und das fiktionale Genre des Romans zu einem Raum, in dem das Problem der Freiheit neu gedacht bzw. inszeniert werden kann: „Le Nouveau Roman […] part de l’idée que c’est au sein du roman que le problème de la liberté va pouvoir sinon être pensé, du moins être mis en scène.“252 Entsprechend bildet für ihn die Literatur den Ort der Freiheit und des Spiels par excellence. Hier kann er seine eigenen Regeln aufstellen und eine Welt und sich selbst frei erfinden, der Imagination freien Lauf lassen. Er spricht von der Literatur als: ce jeu, qui constitue le seul exercice possible de notre liberté. […] Le monde dont je rêve n’est pas celui d’un „ordre établi“, quel qu’il soit, mais un monde où l’on pourra jouer, où l’on aura le droit de jouer.253

Vor dem Hintergrund dieses emphatischen Freiheitsbegriffs wird nochmals klar, dass es Robbe-Grillet um mehr als eine bloß ästhetische Erneuerung des Romans geht. Zwar beansprucht er nicht (wie die Surrealisten) die Welt, sehr wohl aber die Wahrnehmung der Welt zu verändern (und eben nicht nur, wie Hellerstein meint, die Wahrnehmung von Kunst).254 Damit verfolgt Robbe-Grillet genau jenes Ziel, das Deleuze und Guattari den Künstlern, Wissenschaftlern und Philosophen zur Aufgabe gegeben haben: das Aufreißen der gängigen Ordnungen, ihre Aufdeckung als arbiträre Konstrukte und das Wiedersichtbarmachen des ursprünglichen Chaos bzw. unerkennbaren Realen. Weit entfernt von einer l’art pour l’art-Ästhetik oder einer rein selbstreferentiellen Literatur à la Tel Quel, hat Robbe-Grillet durchaus ein gesellschaftliches Anliegen. Literatur als Ort der Freiheit soll nicht zuletzt der Gesellschaft als Vorbild gereichen und sie indirekt verändern, indem sie daran erinnert, was es heißt, frei von Zwängen und Dogmen zu sein.255 Ich habe bis hierher die Entwicklung der Robbe-Grillet’schen Theorie chronologisch, Phase für Phase, nachzuvollziehen versucht. Dem kann in den folgenden Textanalysen nicht im gleichen Umfang entsprochen werden, denn dazu bedürfte es einer Analyse von sehr viel mehr als den hier ausgewählten Texten. Angesichts eines Gesamtwerks, das sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt, muss ich mich hier auf paradigmatische Texte beschränken. Vermissen wird man vielleicht vor allem zwei oder drei zentrale, zu Recht berühmte Texte der Frühphase: Le Voyeur, La Jalousie und Dans le labyrinthe, anhand derer man sehr gut die Entwicklung hin zur Poetik des film intérieur und die zunehmende Fokussierung des Schreibprozesses qua Imaginationsprozess demonstrieren könnte. Bis auf einige Randbemerkungen kann leider auch auf La Reprise, den ‚krönendenʻ Abschluss des 252 Voyageur [1986]: 255. 253 Voyageur [1970]: 401. 254 Vgl. dazu Hellerstein (1998: 103): „He is not dedicated to changing man’s perception of the world, but of art“. 255 Auch hierin knüpft Robbe-Grillet an Eco (1971: 142f.) an. – Valette (2010a: 399) nennt dies die politische Dimension von Robbe-Grillets „conquête de liberté“ und „refus de l’autorité“.

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4 Robbe-Grillets Theorie des Erzählens

Gesamtwerks, nicht weiter eingegangen werden, obgleich dies im Hinblick auf die Weiterentwicklung der autofiktionalen Strategien der Romanesques überaus spannend wäre.

5 LES GOMMES (1953) 5.1 ZUM INHALT Les Gommes erzählt die Geschichte des jungen Agenten Wallas, der im Auftrag seines Geheimdienstes in eine kleine, ihm kaum vertraute Stadt mit flämischem Flair kommt, um dort seinen ersten Fall zu lösen: den Mord an dem Wirtschaftsprofessor Daniel Dupont. Am Morgen des 27. Oktober beginnt die Erzählung im Café des Alliés, in dem Wallas Quartier bezogen hat; vierundzwanzig Stunden später, also am Morgen des 28. Oktober, endet sie an derselben Stelle. Bei dem Mord an Dupont handelt es sich um den neunten Anschlag einer Serie politischer Morde, die jeden Abend pünktlich um 19.30 Uhr ein neues prominentes Opfer fordern. Verantwortlich für die Anschläge zeichnet eine kriminelle Organisation, an deren Spitze Jean Bonaventure, genannt Bona, steht. Bona ist es, der den Plan für das Dupont-Attentat ausgearbeitet und den Killer Garinati mit der Durchführung beauftragt hat. Was weder Wallas noch der leitende Kommissar Laurent von der örtlichen Polizei wissen, ist, dass Dupont gar nicht tot ist: Garinati war zwar wie geplant in das Arbeitszimmer der Dupont’schen Villa eingedrungen, um den Professor dort nach dem Abendessen zu erschießen. Da Garinati aber das Licht nicht mehr rechtzeitig hatte löschen können, hatte Dupont ihn vorzeitig erblickt und sofort die Flucht ergriffen. Dupont gelang es so, mit einem leichten Streifschuss am Arm zu entkommen. Um sich jeder weiteren Gefahr zu entziehen, hatte er sich anschließend in die Privatklinik des mit ihm bekannten Dr. Juard einliefern und von diesem am nächsten Morgen gegenüber Polizei, Presse und seiner Ex-Frau für tot erklären lassen. An diesem Morgen des 27.10. plant Dupont nun in der Klinik sein weiteres Vorgehen. Er will die Stadt verlassen und untertauchen. Unterstützung erhält er dabei von einem mächtigen Verbündeten, dem Innenminister (mit dem er noch in der Nacht von der Klinik aus telefoniert hatte), der ihm am Abend einen Dienstwagen in die Klinik schicken will, um ihn aus der Stadt zu bringen. Der Innenminister ist es auch, der dafür sorgt, dass die Öffentlichkeit weiterhin glaubt, Dupont sei tot. Als oberster Dienstherr des Geheimdienstes lässt er einen nichtsahnenden Spezialagenten (Wallas) in die Stadt schicken, um Duponts Tod aufzuklären; bei der örtlichen Polizei lässt er die Information streuen, der Leichnam Duponts sei bereits in die Hauptstadt überführt worden. Dupont indes benötigt vor seinem endgültigen Untertauchen noch einige wichtige Dokumente aus seinem Arbeitszimmer, dem Tatort. Er beauftragt seinen Freund, den Händler Marchat, die Unterlagen heimlich für ihn aus der Villa zu holen. Marchat allerdings verlässt im Laufe des Tages unverrichteter Dinge die Stadt, aus Angst, selbst einem Anschlag zum Opfer zu fallen. Dupont sieht sich daher gezwungen, die Dokumente selbst zu holen, und will am Abend nochmals in die Villa zurückkehren.

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Garinati seinerseits tritt am Morgen nach dem gescheiterten Attentat zur obligatorischen Berichterstattung bei seinem Chef an. Zu seiner Überraschung wird sein Versagen jedoch nicht bestraft, denn Bona ist der festen Überzeugung, Dupont sei tatsächlich tot. Er weiß zwar schon, dass Garinatis Schuss danebenging und will den unzuverlässigen Killer beim nächsten Attentat durch einen anderen ersetzen. Es sei aber ja, so Bona, noch einmal alles gut gegangen, die Zeitungen hätten bestätigt, dass Dupont in der Klinik an den Folgen seiner Verletzung gestorben sei. Zum Beweis überreicht Bona dem verwirrten Garinati einen Zeitungsbericht und gibt ihm den neuen Auftrag, den Spezialagenten Wallas zu beschatten. Noch immer an Duponts Tod zweifelnd, macht sich Garinati auf den Weg. Er erwägt, eventuell am Abend an den Tatort zurückzukehren, um Dupont endgültig kaltzustellen. Unterdessen streift er grübelnd durch die Stadt, auf der Suche nach dem dort umherirrenden Wallas. Wallas war am Vorabend, also noch am Abend des Attentats auf Dupont, mit dem Zug aus der Hauptstadt angereist. Unweit des Tatorts hatte er sich in dem schäbigen Café des Alliés in der Rue des Arpenteurs einquartiert, einer Seitenstraße des die Innenstadt umschließenden Boulevard Circulaire. Am Morgen (des 27.10.) bricht er von dort zum Erstaunen des Wirts bereits um sechs Uhr früh auf und beginnt seine Spurensuche. Diese führt ihn während des ganzen Tages auf zahlreichen Wegen und Irrwegen, meist zu Fuß, durch die kreisförmig angelegte Stadt. Wiederholt fragt Wallas in verschiedenen Geschäften nach einer bestimmten Sorte Radiergummi, die aber nirgendwo erhältlich ist. Dabei führt ihn sein Weg auch in eine Papierwarenhandlung, deren attraktive Besitzerin sich unvermutet als Duponts Ex-Frau, Evelyne Dupont, entpuppt. Zunächst aber sucht Wallas am frühen Morgen seinen Ansprechpartner bei der örtlichen Polizei auf. Kommissar Laurent jedoch zeigt sich anfangs wenig gewillt, an den Ermittlungen mitzuwirken, da man ihm Duponts Leichnam von höchster Stelle, dem Ministerium, entzogen hat. Ohnehin vermutet er, es handele sich lediglich um Suizid. Entgegen seiner Absicht beginnt er sich aber doch mit dem Fall zu beschäftigen, nachdem ihn sowohl Marchat als auch Dr. Juard unaufgefordert im Kommissariat besucht und höchst zweifelhafte Aussagen gemacht haben. Schließlich verhört Laurent gemeinsam mit Wallas drei Postangestellte als Zeugen. Während Laurent dann, allein im Kommissariat, seine Hypothesen vom Tathergang durchspielt, scheint sich Wallas bei seinen Ermittlungen mehr und mehr selbst in das Geschehen zu verstricken. Wiederholt macht er sich verdächtig, als er ungeschickte Ausreden erfindet, um seine Identität als Agent zu verheimlichen. Nach Verlust seines Zugfahrscheins fehlt ihm sogar ein Alibi für die Tatzeit. Insbesondere sieht er dem unauffindbaren Verdächtigen André VS so ähnlich, dass er von einer Postangestellten mit diesem verwechselt wird und irrtümlich in den Besitz eines an André VS adressierten Briefes gelangt. Nur der Leser ahnt, dass es sich dabei um Bonas Instruktionen für den neuen Killer handelt. Am Ende begibt sich Wallas – durch den Brief an den Tatort gelockt – in Duponts Arbeitszimmer, weil er hofft, dort den zurückkehrenden Mörder abpassen zu können. An dessen Stelle aber erscheint Dupont und richtet im Glauben, der Fremde hinter dem Schreibtisch sei der Mörder, seinen Revolver auf Wallas. Da

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Wallas seinerseits annimmt, Dupont sei der Mörder, zielt er auf den Angreifer und erschießt Dupont, dessen Abzug klemmt, in Notwehr – genau vierundzwanzig Stunden nach Garinatis Fehlschuss. Dass Wallas auf diese Weise unbeabsichtigt einen Menschen tötet, kann auch Laurent nicht mehr verhindern. Zwar war er kurz zuvor doch noch auf des Rätsels Lösung gekommen (,Dupont ist gar nicht totʻ), hatte dann aber vergeblich versucht, Wallas telefonisch zu benachrichtigen. Am nächsten Morgen sitzt Wallas in seinem Hotelzimmer, bereit zur Rückreise in die Hauptstadt. Er selbst hat die Rückversetzung in seine alte Abteilung beantragt. Die näheren Umstände von Duponts Tod interessieren seinen Vorgesetzten Fabius gar nicht. Er ist ebenso wie Laurent bereits vollauf damit beschäftigt, das nächste Attentat zu verhindern. Denn bereits am Vorabend war ein weiterer Mann, der Holzexporteur Albert Dupont, Opfer des zehnten Anschlags von Bonas Bande geworden. Aus dieser höchst vereinfachten inhaltlichen Zusammenfassung mag der Eindruck entstehen, dass es sich bei Les Gommes um einen Kriminalroman handelt – wenngleich einen Kriminalroman, der in zentralen Punkten vom traditionellen Gattungsschema abweicht. Zu den offensichtlichsten Abweichungen gehört die Tatsache, dass es den aufzuklärenden Mord zunächst gar nicht gibt und erst der Ermittler selbst am Ende das Verbrechen begeht, dass also die Geschichte der Ermittlung mit der Geschichte des Verbrechens zusammenfällt.1 Außerdem fehlt der gattungstypische Spannungsbogen, denn der Leser kennt von Beginn an sowohl den (gescheiterten) Täter als auch den Tathergang. Das gewöhnliche Kriminalroman-Rätsel (Wer ist der Mörder?) ist hier also keines. Weil darüber hinaus viele der üblichen Fragen (Welches sind die Tatmotive? Wer konspiriert mit wem, gegen wen? etc.) unbeantwortet bleiben, wird die für den Kriminalroman typische ‚geschlossene Formʻ aufgehoben.2 Es wäre jedoch irreführend, Les Gommes auf eine bloße, die Gattungsgrenzen sprengende Variante des Kriminalromans zu reduzieren, nicht zuletzt, weil der Roman ganz wesentlich durch einen weiteren intertextuellen Bezug, den auf Sophoklesʼ König Ödipus und die klassische Tragödie, geprägt ist. Die Transgression des Kriminalromans wird sich letztlich mehr als eine Art Nebenprodukt3 von Robbe-Grillets groß angelegtem Projekt der Erneuerung des Romans unter den Vorzeichen einer gewandelten Wirklichkeitssicht erweisen.

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Nach Todorov (1971: 57) sind Kriminalromane (vom Typ roman à énigme) üblicherweise von einer Disjunktion der histoire du crime und der histoire de l’enquête geprägt. Vgl. Smyth 2000: 67 und 70. So sieht es zumindest teilweise auch die neuere Robbe-Grillet-Forschung, vgl. Kemp 2006: 71 und Smyth 2000: 67. Anders dagegen Sirvent (2010: 43), der Les Gommes primär als Subversion des Kriminalromans, als „anti-roman policier“ deutet, wenngleich auch er am Ende feststellt, dass es eigentlich um die Position des Menschen in der Welt geht (ebd. 50).

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5.2 DER ROMAN ALS RÉÉCRITURE VON KÖNIG ÖDIPUS Der in der Forschung viel diskutierte Bezug von Les Gommes auf Sophoklesʼ König Ödipus manifestiert sich in verschiedenen Details: z.B. im Sophokles-Zitat des Epigraphs; in den bestickten Vorhängen mit dem Motiv ‚Hirten mit Findelkindʻ (G 50); in der Statue des „char grec“ eines Bildhauers namens Daulis (G 62 u. 85); in den Zeitungsmeldungen über eine „route de Delf“ und eine „voyante“ (G 64); in der Schaufensterauslage mit den ‚Ruinen von Thebenʻ (G 132); in dem Betrunkenen, der Rätsel nach Art der Sphinx stellt (G 234); in den Figuren auf dem Kaminsims (Apollo, Python sowie ein Blinder, der von einem Kind geführt wird) (G 217) oder in Wallasʼ geschwollenen Füßen (G 259).4 Zudem sind regelmäßig Anspielungen auf Theater und Tragödie eingestreut. Dazu zählen die mehr oder weniger versteckten Prophezeiungen des ‚tragischenʻ Endes, die formale Gliederung in fünf große Kapitel (,Akteʻ) mit jeweils fünf bis sieben Unterkapiteln (,Szenenʻ), wie es der klassischen Tragödienform des französischen 17. Jahrhunderts entspricht, sowie Prolog und Epilog, wie sie in der antiken griechischen Tragödie zu finden sind. Auch die gut vierundzwanzig Stunden, die die Handlung umfasst, lassen sich als Anspielung auf das aristotelische Kriterium lesen, demzufolge eine Tragödie einen Sonnenumlauf möglichst nicht oder nur unwesentlich überschreiten sollte.5 Auffällig ist auch die Verwendung eines spezifischen Vokabulars rund um Begriffe wie „drame“ (G 206), „tragique erreur“ (G 153) und „catastrophe“ (G 211). Allein auf der ersten Seite des Romans fallen die Schlüsselbegriffe „malheureusement“, „erreur“, „personnage“, „scène“, „décor“ und „la lumière s’allume“ (G 11). Außerdem wird das Geschehen wiederholt als eine im Vollzug befindliche Theateraufführung dargestellt: „[L]’acteur brusquement s’arrête“ (G 23); „C’est ici […] que se joue le drame“ (G 206). Diese Aufführungsillusion basiert nicht zuletzt auf der narration simultanée, dem präsentischen Erzählen. Zudem verfügt der Roman mit seiner Vielzahl von Figurenperspektiven über eine geradezu ‚dramatischeʻ Perspektivierung. Darauf ist zurückzukommen. Gleichwohl ist Les Gommes nicht einfach als ein „Nouvel Œdipe“ (Rainoird) oder eine „version moderne de la tragédie d’Œdipe“ (Morrissette) zu bezeichnen.6 Robbe-Grillets Entwurf eines neuen Romans vollzieht sich nämlich nicht nur unter Rekurs auf die klassische Tragödie, sondern vor allem in Abgrenzung zu ihr. Völlig untragisch ist bereits die Kriminalhandlung, wie B. G. Garnham zu Recht 4

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Im Ödipus-Mythos wird der ausgesetzte Säugling Ödipus von Hirten gerettet; in einem (griechischen) Wagen ist Ödipusʼ Vater Laios unterwegs, als Ödipus ihn an einer Straßenkreuzung erschlägt; in Delphi befindet sich das Orakel, das Ödipus prophezeit, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten; die wörtliche Übersetzung von griech. Oidipous lautet ‚Schwellfußʻ (vgl. Grant/Hazel 2003: 306f.). Der Python war der Wächter des Orakels von Delphi, bevor Apollo ihn erschlug (vgl. ebd. 360). Der Blinde, der von einem Kind geführt wird, ist Teiresias, der Seher von Theben (vgl. Sophokles 1989: 15). – Zu den ÖdipusAnspielungen in Les Gommes vgl. schon Morrissette (1960). Vgl. Kap. 5 der Poetik (Aristoteles 2002: 17). Rainoird 2005: 83 und Morrissette 1971: 53.

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bemerkt.7 Insbesondere aber bleibt die ‚Tragödieʻ des Agenten Wallas dadurch defizitär, dass sie ihrer schicksalhaften Determination beraubt ist. Die Katastrophe ist eben nicht unausweichlich, Wallas ist, anders als Ödipus, nicht von vornherein schuldig und sein Schicksal nicht besiegelt. Seine Zukunft besteht nicht in seiner ihn einholenden Vergangenheit, denn das Verbrechen steht nicht am Anfang, sondern erst am Ende der Geschichte.8 Robbe-Grillet selbst bezeichnet Wallas daher als „anti-Œdipe“, nicht als ‚neuen‘ Ödipus.9 Noch präziser scheint Ricardous Begriff des „Œdipe inverse“, mit dem er darauf abhebt, dass Wallas keine gegebene Wahrheit enthüllt, sondern die Fakten erst schafft: [L]’activité d’Œdipe est une opération aléthéique: elle dévoile ce qui a eu lieu; l’activité de Wallas une opération productrice: elle engendre ce qui n’était pas. Avec Œdipe, l’on passe d’une erreur (Œdipe est innocent) à une vérité (il est coupable); avec Wallas, d’une fiction (Dupont fait semblant d’avoir été tué) à une réalité (Dupont a été réellement tué).10

Genau darauf, dass Wallas die Realität (gegen seinen Willen) erst schafft, spielt auch das dem Roman vorangestellte Sophokles-Zitat an. Dabei ist bemerkenswert, dass es sich um Robbe-Grillets eigene, bewusst unorthodoxe Übersetzung des griechischen Originals handelt, in der er abweichend von der üblichen Übertragung „le temps, qui voit tout, a trouvé la solution malgré toi“ wie folgt übersetzt: „le temps, qui veille à tout, a donné la solution malgré toi“.11 Nicht nur übernimmt die Zeit damit einen aktiven Part bei der Entwicklung der Ereignisse, sondern die ‚Lösungʻ ist nichts Vorgängiges mehr, das zu ‚findenʻ oder zu enthüllen wäre, sondern etwas, das erst im Textverlauf entsteht bzw. geschaffen wird.12 Die einleitende citation truquée13 zeigt damit zweierlei: zum einen, dass Robbe-Grillet seinen Roman nicht im Geist von Sophokles oder der klassischen Tragödie, sondern als etwas Neues, Eigenständiges verstanden wissen will: „Les Gommes est un ro7

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Garnham (1982: 21f.) hat überzeugend dargelegt, wie sich die Relikte des Ödipus-Mythos und die der Detektivgeschichte geradezu wechselseitig aufheben. Auch Astier (1978: 81f.) bestätigt, dass Robbe-Grillet die Tragödie des Tragischen beraubt; es fehle „le pire“, und sogar der Tod sei nur noch der Tod. So sehen es auch Bernal 1964: 52 und Astier 1978: 81. Nicht zustimmen kann ich Page Dubois, die meint, Robbe-Grillet schreibe den Ödipus-Mythos nur scheinbar neu und lasse in Wirklichkeit die schicksalhafte Determination triumphieren: „In a seemingly random and aleatory dispersal of the elements of the Oedipus myth, Robbe-Grillet scatters the legacy of Western civilization and simultaneously retains it, allowing this story of fatality and destiny to come to its inevitable conclusion“ (Dubois 2005: 106; Herv. C. S.). Voyageur [1994]: 291. Von Wallas als Anti-Ödipus hat erstmals Bernal (1964: 52) gesprochen. Auch Astier (1978) hebt die Differenzen zwischen Les Gommes und der sophokleischen Tragödie hervor. Ricardou 1973: 33. Bereits Bernal (1964: 53) meint, Les Gommes erzähle den Ödipusmythos „dans un sens inverse“. So Robbe-Grillet in Voyageur [1994]: 289. Bernal (1964: 77) gibt als reguläre Übersetzung (ohne Quelle) an: „Le Temps, qui voit tout, a découvert malgré toi ce mystère“. Vgl. dazu Robbe-Grillet: „[L]’activité de l’écriture allait donner un sens, et non pas découvrir un sens préalable (alors que dans le cas d’Œdipe roi de Sophocle, le sens existe avant, puisque Œdipe a tué son père et découvre qu’il est criminel)“ (Voyageur [1994]: 289). Vgl. ebd.: „une citation de Sophocle, une citation qui est truquée“.

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man de protestation contre la tragédie et non une imitation“, stellt schon Bernal fest.14 Zum anderen deutet sich bereits hier an, dass sich der neue Roman der Konstruktion anstatt der Aufdeckung von Wirklichkeit verpflichtet sieht.15 Was den Sophokles-Bezug angeht, so hat Robbe-Grillet später erklärt, Sophokles sei für ihn kein Vorbild gewesen, dem er habe nacheifern wollen, sondern der Vater, den er habe töten und überwinden müssen; und dieser Akt der Überwindung, ja Destruktion habe eben die Form eines „hommage“ angenommen.16 Im Roman selbst gibt es eine mise en abyme dieser hommage-destruction: im Schaufenster der Papeterie, wo eine Schaufensterpuppe als Maler verkleidet vor einer Staffelei steht.17 Auf der Staffelei befindet sich eine Zeichnung, die eine antike Ruinenlandschaft zeigt: „les ruines de Thèbes“, wie die Ladenbesitzerin verrät (G 132). Hinter der Staffelei befindet sich, als vermeintliche Vorlage, eine riesige Fotografie. Diese zeigt aber gerade keine Ruinenlandschaft, sondern die Villa Dupont und ist damit „la négation du dessin censé le reproduire“ (G 131). Genau wie die Zeichnung zu ihrer fotografischen Vorlage, verhält sich Les Gommes zu König Ödipus: Der Roman negiert das sophokleische Vorbild, auf das er gleichwohl ständig verweist.18 Weil das Ödipus-Schema so oft evoziert, aber nie endgültig bestätigt wird, könnte man bei Les Gommes auch von einem ‚potentiellen Ödipusʻ sprechen. Offen bleibt beispielsweise, ob Dupont Wallasʼ Vater ist (was er sein müsste, um den ödipalen Tatbestand des Vatermords zu erfüllen). Ebenso wenig eindeutig ist Wallasʼ Beziehung zur Papierwarenhändlerin Evelyne Dupont. Sie könnte seine Mutter (oder Stiefmutter) sein, sicher ist dies aber nicht. Und das Inzestmotiv schrumpft hier auf die vage Andeutung zusammen, dass Wallas Duponts Ex-Frau attraktiv findet („la trop charnelle épouse“, G 187). Relativiert werden die Ödipus-Motive auch durch ‚neutraleʻ Elemente: Neben der Rue de Corinthe gibt es auch eine Rue de Brabant, Rue de Berlin, Rue de Copenhague etc.; neben den Figuren von Apollo, Python und dem Blinden stehen ein Aschenbecher, eine Tabakdose und ein Kerzenleuchter; der Betrunkene hat nicht nur Sphinx- und Ödipus-, sondern auch andere Rätsel im Repertoire.19 Außerdem sind Wallasʼ Füße vom Laufen geschwollen, nicht etwa, weil sie ihm, wie Ödipus, als Kind durchstochen worden wären. Ambivalent bleiben auch Ödipus-Reminiszenzen, die, wie das Hirtenmotiv auf den Vorhängen oder die Statue des char grec, als Kunstwerke daherkommen, denn Motive dieser Art sind als fester Bestandteil abendländischer 14 Bernal 1964: 60. – Astier (1978: 79f.) spricht von Robbe-Grillets „refus […] de la tragédie“ und „désengagement […] à l’égard de la tragédie“; Les Gommes sei ein „œuvre de rupture“. 15 Auf die Doppelfunktion des Zitats weist auch Valette (2010: 83) hin. 16 Voyageur [1994]: 292. 17 Das Verfahren der mise en abyme ist für Robbe-Grillets Werk insgesamt charakteristisch: Eine begrenzte Textstelle spiegelt dabei Elemente des Romans oder den Roman im Ganzen wider (dies kann die histoire- ebenso wie die discours-Ebene betreffen). Zur mise en abyme vgl. grundlegend Dällenbach 1977. 18 Zu weiteren Details und Funktionen der Schaufenster-mise en abyme vgl. Kap. 5.4.3.2 Balzac-Pastiches und antirealistische Romanästhetik. 19 Vgl. dazu schon Bernal 1964: 61f.

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Kunst tatsächlich hin und wieder zu sehen; stutzig macht höchstens ihre Häufung. Es bleibt sogar unklar, ob es nicht solche Kulturprodukte sind, die Wallas gewisse Erinnerungen nur suggerieren. Er selbst stellt fest, dass die Erinnerung, in der er sich auf einem antiken Forum als Redner agieren sieht, eine falsche Erinnerung sein muss, da sie keiner realen Erfahrung entspricht („Il n’a jamais rien vu de semblable“, G 238). Möglicherweise ist sie ihm von der zuvor betrachteten Schaufensterdekoration ‚Die Ruinen von Thebenʻ inspiriert worden. Aufmerksam macht dies auf den Konstruktcharakter der Erinnerung, darauf, dass sich neuere mit älteren Erfahrungen mischen und diese ‚Erfahrungenʻ nicht einmal authentisch sein müssen. Dies gilt auch für Wallasʼ Erinnerung an die Suche nach seinem Vater, die er glaubt, als Kind mit seiner Mutter unternommen zu haben. Er selbst fragt sich, ob sie nicht nur auf einer Erzählung oder einem Traum basiert: [E]st-ce que ce sont là de vrais souvenirs? On a pu lui raconter souvent cette journée: „Tu te rappelles, quand nous sommes allés…“ Non. Le bout de canal, il l’a vu lui-même, et les maisons […], et le pont […] et la carcasse abandonnée du vieux bateau... Mais il est possible que cela se soit passé un autre jour, dans un autre endroit – ou bien encore dans un rêve. (G 136f.)

Festhalten lässt sich, dass die durchweg ambivalent gestalteten Ödipus-Bezüge Sinn- und Deutungsmöglichkeiten eröffnen, sich aber auf keine ‚richtigeʻ Bedeutung festlegen lassen. Sie bilden, mit Robbe-Grillet gesprochen, einen „appel au sens, toujours déçu“20 und stellen daher, wie Olga Bernal richtig bemerkt, für den Leser regelrechte Fallen dar.21 Im Roman selbst wird vor diesen Fallen gewarnt. Wallas gibt nämlich gegenüber der Verkäuferin vor, sich bei der von ihm gesuchten Radiergummimarke nur an die beiden mittleren Buchstaben – „di“ – zu erinnern (G 132). Wer nun glaubt, daraus wie Bruce Morrissette schlussfolgern zu können, dass dieser Name Œdipe lauten muss,22 geht direkt in die Falle. Der Text selbst warnt ausdrücklich vor der Vervollständigung des Namens. Denn schon auf der histoire-Ebene ist der Radiergummi ein fiktives Objekt mit einem nicht minder fiktiven Namen, den man, wie es heißt, aus gutem Grund nicht vervollständigen könne: „un objet fictif, attribué à une marque mythique dont on était bien empêché d’achever le nom – et pour cause!“ (G 133). Diese mise en abyme macht deutlich, dass die Ödipus-Referenzen in ihrer Ambivalenz anerkannt werden müssen und nur potentielle Verweise sind. Dass es Robbe-Grillet nicht um die Nachahmung, sondern die Subversion der Tragödie geht, bestätigt auch der Essay Nature, humanisme, tragédie (1958). Denn darin stellt er die Tragödie als Inbegriff eines humanistischen, anthropozentrischen Weltbildes an den Pranger. Seine Humanismuskritik gipfelt dabei in der Weigerung, auf die Frage der Sphinx die eine, ewig richtige Antwort – ‚der Menschʻ – zu geben:

20 Voyageur [2000]: 317. 21 Bernal 1964: 62. 22 „[O]n peut déduire en effet que la marque imprimée sur le cube de caoutchouc ne peut être qu’Œdipe“ (Morrissette 1971: 64).

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5 Les Gommes [L]e Sphinx est devant moi, il m’interroge, je n’ai même pas à essayer de comprendre les termes de l’énigme qu’il me propose, il n’y a qu’une réponse possible, une seule réponse à tout: l’homme. Eh bien, non. Il y a des questions, et des réponses.23

Für die Interpretation von Les Gommes ist entscheidend, dass sich Robbe-Grillet damit nicht nur von der antiken Tragödie, sondern auch von ihren modernen Adaptionen abgrenzt. Er zitiert in dieser Sphinx-Passage nämlich, ohne dies explizit zu markieren, André Gides Ödipus-Version von 1930. Darin erklärt der Gide’sche Ödipus seinen Kindern, „que le seul mot de passe, pour n’être pas dévoré par le sphinx, c’est: l’Homme“; und er betont, er habe dieses Passwort schon bereitgehalten, bevor er das Rätsel auch nur gehört habe, denn wie auch immer die Frage der Sphinx laute, es gebe nur die eine richtige Antwort.24 Gide konzipiert seinen Ödipus ganz bewusst als Nouvel Œdipe bzw. „Œdipe moderne“,25 und verwendet dazu das überlieferte Figurenarsenal einschließlich des Chors. Ganz klassisch ist sein Ödipus ein Schuldiger, der die Wahrheit über seine Vergangenheit erst allmählich erfährt. ‚Modernʻ aber ist er, weil sein Glück auf einem Nichtwissenwollen basiert. Er ist glücklich, weil er sich in Sicherheit wiegt und meint, die Antwort auf alle Fragen zu kennen. Er gesteht, dass seine Unwissenheit nicht gottgegeben, sondern selbst gewählt ist.26 Es ist diese Pietätlosigkeit, für die Ödipus bei Gide büßen soll: „Son bonheur tranquille est impie“, wirft Teiresias ihm vor.27 Offensichtlich hat Gide, anders als Robbe-Grillet, kein Problem damit, den Menschen im Zentrum der Welt zu belassen, im Gegenteil. Sein Ödipus wird am Ende nicht als Verlierer dastehen, sondern erhobenen Hauptes seinen Weg ins Exil antreten und seinen ‚Humanismusʻ noch bekräftigen: „Quels qu’ils soient, ce sont des hommes. Au prix de ma souffrance, il m’est doux de leur apporter du bonheur“.28 Nicht umsonst setzt Gide als Motto folgendes Zitat aus Sophoklesʼ Antigone, in dem der Mensch als Krone der Schöpfung erscheint: „Beaucoup de choses sont admirables; mais rien n’est plus admirable que l’homme.“29 Es ist genau dieses, aus seiner Sicht überholte anthropozentrische Welt- und Menschenbild, das Robbe-Grillet ablehnt. Damit ist also auch Gides Œdipe als Intertext von Les Gommes in Betracht zu ziehen. Und der Roman selbst weist dezent darauf hin. Wenn man nämlich, wie Kommissar Laurent nahe legt, Wallasʼ Namen mit dem seines Doppelgängers André VS kreuzt, ergibt sich ‚André Wallasʻ, was im Kontext mit Gide ‚André 23 PNR [1958]: 52f. 24 „Et bien qu’à chacun de nous, mes enfants, ce sphinx particulier pose une question différente, persuadez-vous, qu’à chacune de ses questions la réponse reste pareille; oui, qu’il n’y a qu’une seule et même réponse à de si diverses questions; et que cette réponse unique, c’est: l’Homme“ (Gide 2007: 194f.). – Mit dem Argument, er sei noch zu sehr dem Mythos der Tiefe verhaftet, grenzt sich Robbe-Grillet explizit von Gide ab (vgl. PNR [1956]: 22). 25 Gide 2007: 15. Nouvel Œdipe lautete der provisorische Titel des Stücks. 26 Vgl. ebd. 218. 27 Ebd. 162. Im Zentrum von Gides Stück steht der Konflikt zwischen dem heidnischen Ödipus und dem christlichen Priester Teiresias. 28 Ebd. 234. 29 Ebd. 138.

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Walterʻ evoziert, also Gides Alter ego aus den Cahiers d’André Walter (1891).30 Auch lässt Wallas die sphinx-artigen Rätsel des Betrunkenen unbeantwortet. Anstatt, ohne nachzudenken, ‚der Menschʻ zu antworten, reflektiert Wallas tatsächlich über die Fragen. Anders als Gides Ödipus geht er nicht davon aus, dass es nur eine einzige Antwort auf sämtliche Fragen gibt; aber die Antwort kennt er freilich auch nicht. Als Zeichen für die Begrenztheit menschlichen Wissens bleiben die Rätsel hier als solche bestehen. Die Doppelstruktur von Hommage und Destruktion erweist sich bei näherer Betrachtung als prägend für den Roman insgesamt. Stets wird ein altes, aus Robbe-Grillets Sicht überkommenes Konzept aufgegriffen, um es im Kontrast mit einem neuen zu relativieren oder zu dekonstruieren. Dies gilt, wie nun zu sehen sein wird, für das Modell der Wirklichkeit (einschließlich der Kategorien von Zeit, Raum, Kontinuität und Kausalität) ebenso wie für literarische Modelle. 5.3 DIE WIRKLICHKEIT ALS KONSTRUKT 5.3.1 Der Riss in der ‚idealen Ordnungʻ der Wirklichkeit Auf die herausragende Rolle, die die Zeit in Les Gommes spielt, macht nicht nur das Sophokles-Zitat, sondern auch das Romanincipit aufmerksam. Dieses zeigt den noch im Halbschlaf befindlichen Wirt beim Aufräumen des Café des Alliés. Seine routinierten Bewegungen werden vom Takt der Sekunden dirigiert. Alles scheint in perfekter Ordnung: De très anciennes lois règlent le détail de ses gestes, sauvés pour une fois du flottement des intentions humaines; chaque seconde marque un pur mouvement: un pas de côté, la chaise à trente centimètres, trois coups de torchon, demi-tour à droite, deux pas en avant, chaque seconde marque, parfaite, égale, sans bavure. Trente et un. Trente-deux. Trente-trois. Trentequatre. Trente-cinq. Trente-six. Trente-sept. Chaque seconde à sa place exacte. (G 11)

Die Zeit wird hier ganz traditionell als lineare Zeit oder Uhrzeit konzipiert, also das, was Robbe-Grillet in Pour un nouveau roman den „[temps] des horloges ou du calendrier“ nennt:31 eine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Entität („il ne sait même pas ce qu’il fait“, G 11), die qua Naturgesetz („[d]e très anciennes lois“) immer schon da ist und die menschlichen Handlungen strukturiert. Gleich darauf jedoch kündigt der auktoriale Erzähler an, die Zeit werde ihre Hegemonie einbüßen, die Ereignisse selbst würden die Oberhand gewinnen und zu Abweichungen in der „ordonnance idéale“, dem ‚idealen Gesetzʻ bzw. der ‚idealen Ordnungʻ, führen: 30 Diese Anspielung auf Gides André Walter wird knapp 50 Jahre später in Robbe-Grillets La Reprise (2001) nochmals aufgenommen, wo der Geheimagent Wallon einen Doppelgänger bzw. Zwilling namens Walther hat. 31 PNR [1963]: 130. Alter (1966: 12) spricht vom „temps neutre“, Bernal (1964: 44) vom „temps nécessaire, ou neutre“, Morrissette (1971: 42 und 51) vom „temps sidéral“ und „temps linéaire“.

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5 Les Gommes Bientôt malheureusement le temps ne sera plus le maître. Enveloppés de leur cerne d’erreur et de doute, les événements de cette journée, si minimes qu’ils puissent être, vont dans quelques instants commencer leur besogne, entamer progressivement l’ordonnance idéale, introduire çà et là, sournoisement, une inversion, un décalage, une confusion, une courbure, pour accomplir peu à peu leur œuvre: un jour, au début de l’hiver, sans plan, sans direction, incompréhensible et monstrueux. (G 11)

Anschaulich wird dieser Machtverlust der Uhrzeit dann u.a. dadurch, dass Wallasʼ Armbanduhr stehen bleibt, und zwar genau während jener vierundzwanzig Stunden, die zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss liegen. Zentral ist nun aber die Frage, ob die Uhrzeit, ebenso wie die ‚ideale Ordnungʻ, der sie angehört, tatsächlich auf solch natürliche Weise gegeben ist, wie es zunächst den Anschein haben mag und wie beispielsweise Jean Alter behauptet. Für Alter ist die ordonnance idéale der „ordre naturel et préétabli“, die ‚eigentlicheʻ Ordnung der Welt, die sowohl harmonisch als auch in ihrem Lauf determiniert ist.32 Gestört werde sie, so Alter, nur vorübergehend durch das Einwirken des Menschen, der mit seinem freien Willen aus der deterministischen Weltordnung herausfalle. Gleichwohl, so Alter weiter, müsse sich der Mensch, wie Les Gommes zeige, am Ende doch dem Schicksal fügen bzw. dieser allgemeinen Ordnung unterwerfen. Entgegen dieser These möchte ich argumentieren, dass die ordonnance idéale in Les Gommes ganz im Gegenteil als nichtnatürliche Ordnung und damit als Konstrukt ausgewiesen wird, nämlich als das – veraltete – Weltmodell der klassischen, Newton’schen Physik. Schon der Begriff ‚idealʻ weist darauf hin, dass die ordonnance idéale nichts Natürliches, sondern ein ‚Idealʻ ist und einer menschlichen ‚Ideeʻ entspringt. Doch Robbe-Grillet ist bemüht, diese ideale Ordnung auch anderweitig als artifiziell zu markieren: über das Motiv des décalage, jener Abweichung bzw. Lücke, von der im Roman die verschiedensten Objekte heimgesucht werden. Anders als Bruce Bassoff, der in diesen Rissen („flaws“) die Vorboten eines aufziehenden Unheils sieht („[they] forbode a greater evil“), interpretiere ich sie als Zeichen der Unsicherheit, die in die gewohnte Ordnung einbricht und diese ins Wanken bringt, ohne dass dies mit Tragik oder Unheil verbunden wäre.33 Die vielfach inszenierte Brüchigkeit ist die des klassisch-physikalischen Weltbildes der Newton’schen Physik: Mit der Entdeckung des Diskontinuierlichen hat die moderne Physik sozusagen einen Bruch in diesem alten Weltbild hinterlassen. Alle Objekte, die in Les Gommes von einem décalage geprägt sind, haben nämlich zwei Dinge gemeinsam: Sie sind, ob ihrer Perfektion, Repräsentanten der ‚idealen Ordnungʻ, und sie erscheinen keineswegs als ‚natürlicheʻ Gegenstände, sondern als Artefakte, Konstruktionen oder gar Maschinen. Sie weisen die ‚ideale Ordnungʻ pars pro toto als artifiziell aus. Dazu zwei Beispiele. Im Fall der Klappbrücke, an der Wallas immer wieder stehen bleibt, liegt die Artifizialität auf der Hand. Sie ist eine mechanische Konstruktion, deren reibungs32 Vgl. hierzu und zum Folgenden Alter 1966: 12. 33 Bassoff 1979: 450. Auch Bernal (1964: 121f.) ist der Ansicht, dass die Risse und Lücken, die „fêlures“ und „fissures“, keine „symbole[s] de passion tragique“ (ebd. 128) darstellen, sondern Punkte, an denen das Nichts durchscheint.

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los funktionierender Mechanismus wiederholt beschrieben wird: „[L]’énorme machinerie du pont-bascule ronronne régulièrement“ (G 220).34 Gestört wird diese perfekte Regelmäßigkeit und Ordnung erst, als sich, aufgrund einer ‚gewissen Elastizität der Masseʻ, der Brückenbelag stärker absenkt als vorgesehen und eine Lücke, einen „léger décalage“, in der ‚Kontinuitätʻ der Fahrbahn hinterlässt: [P]ar suite d’une certaine élasticité de la masse, la descente du tablier n’avait pas pris fin avec l’arrêt du mécanisme; elle s’était poursuivie pendant quelques secondes, sur un centimètre peut-être, créant un léger décalage dans la continuité de la chaussée […]. (G 158)

Dieses Bild einer regelmäßig funktionierenden Maschinerie, in der unvermittelt eine Abweichung, eine Diskontinuität auftritt, ist bezeichnend. Es deutet auf das Weltmodell der klassischen mechanischen Physik, das in dem Moment aus den Angeln gehoben wird, als die moderne Physik das Diskontinuierliche und die ‚Elastizität der Masseʻ entdeckt. Das Doppelmotiv von perfektem Artefakt und störender Abweichung findet sich nun an sämtlichen Stellen wieder, an denen Risse, Lücken, Abweichungen, also décalages auftreten. Ausnahmslos alle décalage-Objekte kommen als Artefakte daher – sogar die vermeintlich ‚natürlichenʻ Objekte. Das eindrücklichste Beispiel liefert hier das Tomatenviertel auf Wallasʼ Mittagsteller, bei dem der décalage von einem Stückchen Haut herrührt, das sich ‚unmerklichʻ vom Fruchtfleisch gelöst hat. Dieses Tomatenstück wird zum Artefakt stilisiert. Beschrieben als ‚makellosʻ, ‚maschinell geschnittenʻ, ‚perfekt symmetrischʻ, ‚homogenʻ, ‚gleichmäßig dickʻ und ‚von schönem Chemie-Rotʻ gerät das Naturprodukt Tomate hier zum Kunstprodukt: Un quartier de tomate en vérité sans défaut, découpé à la machine dans un fruit d’une symétrie parfaite. La chair périphérique, compacte et homogène, d’un beau rouge de chimie, est régulièrement épaisse entre une bande de peau luisante et la loge où sont rangés le pépins, jaunes, bien calibrés […]. (G 161)

Es ist nun gerade diese ‚Artifizialisierung des Natürlichenʻ, die besonders eindringlich auf die Artifizialität auch der sog. ‚natürlichenʻ oder ‚idealenʻ Ordnungen hinweist. ‚Ideale Ordnungʻ und Naturgesetz sind so gesehen nur noch jene Ordnungen, die im Zeitalter der Mechanik für natürliche gehalten wurden. Die ‚neueʻ Ordnung, die auf der ersten Seite von Les Gommes in die ‚ideale Ordnungʻ einbricht, entspricht hingegen kaum zufällig dem Weltbild der modernen Physik. Sie ist durchsetzt von Umkehrungen, Krümmungen, Abweichungen und Verwirrungen („çà et là […] une inversion, un décalage, une confusion, une courbure“) und erweist sich als ‚plan- und richtungslosʻ, ‚unverständlich und monströsʻ („sans plan, sans direction, incompréhensible et monstrueux“, G 11). Die These, dass in Les Gommes der Zusammenprall zweier physikalischer Paradigmen (Klassische Mechanik vs. Relativitätstheorie) inszeniert wird, erhärtet sich schließlich auch dadurch, dass sich Laurents Wiedergänger in La Reprise, der Kommissar Hendrik Lorentz, ausdrücklich unter Verweis auf den gleichnamigen niederländischen Mathematiker und Physiker (Hendrik Antoon Lorentz, 1853– 34 Vgl. ähnlich auch G 53 und 57.

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1928) als dem Erfinder der Ortszeit und Vordenker der Relativitätstheorie, vorstellt: „Mon nom est Lorentz, comme l’inventeur providentiel du ‚temps localʻ et des équations à l’origine de la théorie relativiste“.35 Dies lässt rückblickend auch Kommissar Laurent aus Les Gommes in neuem Licht erscheinen: Er löst den Fall Dupont vom Schreibtisch aus, durch bloßes Nachdenken und wiederholtes Durchspielen von Theorien und Hypothesen – also vielleicht ein wenig so, wie ein theoretischer Physiker ein physikalisches Problem mithilfe mathematischer Formeln löst.36 5.3.2 Determinismus und Freiheit An einer weiteren décalage-Szene, Garinatis Aufstieg durch das Treppenhaus von Duponts Villa, lässt sich nun zeigen, wie mit dem alten physikalischen Weltbild auch dessen (und letztlich jeglicher) Determinismus infrage gestellt wird. Wie im Fall der Tomate liegt auch hier die Artifizialität des Objekts zunächst keineswegs auf der Hand. Der Parcours wird dann jedoch ebenfalls überdeutlich zum Artefakt stilisiert. Er wird beschrieben als ‚perfekt eingestellte Maschinerieʻ, die exakt nach Plan funktioniert: Le parcours immuable se poursuit. À mouvements comptés. La machinerie, parfaitement réglée, ne peut réserver la moindre surprise. […] Celui qui s’avance ainsi, dans le secret, pour exécuter l’ordre, ne connaît ni la peur ni le doute. […] La ligne droite est le plus court chemin d’un point à un autre. (G 23)

Deutlich wird hier auf die Determination des Geschehens abgehoben. Der Parcours ist „immuable“ und Schritt für Schritt ‚berechnetʻ. Er hält nicht die geringste Überraschung bereit, und so wiegt sich der Voranschreitende in Sicherheit, ist frei von Angst und Zweifeln. Es gibt keine Unsicherheit in dieser Welt, in der die euklidische Geometrie noch unhinterfragt gilt („la ligne droite est […]“ etc.). Zum Artefakt wird die Szene aber nicht nur durch die Maschinenmetapher, sondern auch dadurch, dass sie im Gewand einer Theateraufführung daherkommt, in der der Schauspieler („l’acteur“) Garinati nur seine auswendig gelernte Rolle spielt („Il le sait par cœur, ce rôle“, G 23) und nichts weiter tun muss, als Satz für Satz Bonas Libretto („livret“, G 24) zu folgen: „Il ne s’agit que de suivre le texte, en récitant phrase après phrase, et la parole s’accomplira et Lazare sortira de sa tombe“ (G 23). Die Erwähnung von Lazarus und der biblischen ‚Erfüllung des Wor35 A. Robbe-Grillet, La Reprise, Paris: Minuit, 2001, S. 215; im Folgenden kurz Reprise mit Seitenangabe. 36 Nicht auszuschließen ist, dass bestimmte Elemente des Romans auf Lorentz’sche Theoreme anspielen (etwa das Konzept der ‚Ortszeitʻ, die Lorentz’sche Äthertheorie und das ‚Theorem der korrespondierenden Zuständeʻ). Zu denken wäre eventuell an Bezüge zwischen dem durch die Stadt gehenden Wallas, seiner stehengebliebenen Uhr und der ‚Zeit, die über alles wachtʻ einerseits und den Beobachtern der Lorentz’schen und Poincaré’schen Theorien, die sich durch den Äther bewegend die Uhrzeit bestimmen. Es bedürfte allerdings fundierter Kenntnisse der besagten Theorien, um dies überzeugend zu argumentieren.

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tesʻ ist dabei als Seitenhieb auf christlich inspirierte Überlegungen zu einer Prädestinationslehre (als Variante des Determinismus) zu verstehen; sie wird in der Folge gleich mit demontiert. Und nicht nur Garinatis Umsetzung des Plans ist Artefakt und Inszenierung, sondern der Plan selbst erscheint qua Theaterlibretto (bzw. Wort Gottes) als ein sprachliches Konstrukt. Es ist die vielfältig betonte Artifizialität der Szene, die, wie schon Ann Jefferson bemerkt hat, den vermeintlichen Determinismus des Geschehens unterminiert. Das scheinbar Unausweichliche ist bloß ein Kunstwerk, eine Inszenierung, eine Maschinerie und folgt einem letztlich literarischen Plan – womit sich das Ganze ins Selbstreferentielle wendet: „[T]he idea of inevitability [...] is made artificial as the text turns it into a product of a well-performed play. It is not what the gods, or in this instance, Bona, decree, but what literature writes.“37 Oder, wie es in Les Gommes heißt: „il ne faut que suivre le texte“ – in diesem Fall: dem Text des Romans. Auch in dieser Szene aber zerrüttet wieder ein décalage die allzu perfekte Regelmäßigkeit der Ordnung. Der sich in Sicherheit wiegende Akteur Garinati hält unvermittelt inne, unterbricht seinen Parcours für einen Augenblick: Soudain […] l’acteur brusquement s’arrête, au milieu d’une phrase… Il le sait par cœur, ce rôle qu’il tient chaque soir; mais aujourd’hui il refuse d’aller plus loin. […] Il faudrait faire quelque chose maintenant, prononcer des paroles quelconques, des mots qui n’appartiendraient pas au livret… Mais, comme chaque soir, la phrase commencée s’achève, dans la forme prescrite, le bras retombe, la jambe termine son geste. (G 23f.)

Das Innehalten, die unvorhergesehene Abweichung vom Plan, ist von Jean Alter zu Recht als potentieller Akt der Freiheit gedeutet worden, der die Ordnung zumindest temporär infrage stellt.38 Denkt man dies weiter und liest die Textstelle vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Philosophie des Existentialismus, so scheint in Garinatis Zögern zudem ein Moment der Bewusstwerdung auf: jener Augenblick, in dem sich der Mensch über seine Handlungsfreiheit, seinen freien Willen klar werden kann, wie Camus ihn anhand seines ‚glücklichenʻ, weil selbstbestimmten Sisyphos beschrieben hat.39 Der von den Göttern zum sinnlosen Rollen des Steins verdammte Sisyphos wird sich laut Camus in einem ‚tragischen Momentʻ der Absurdität seines Tuns bewusst. Von dieser Tragik jedoch befreit er sich, indem er selbst sein Tun als sinnvoll definiert. Weil er den Stein nunmehr aus eigenem, freiem Willen rollt, entmachtet er die Götter, schafft ein Universum „désormais sans maître“.40 Schon diese Formulierung ruft die Eingangssituation von Les Gommes auf, wo das Romanuniversum ebenfalls seinen maître verliert, vielleicht keinen Gott, aber zumindest die Zeit als eine ebenfalls mächtige Herrscherin über alle Dinge. Für Les Gommes ist bedeutsam, dass Camus nicht nur Sisyphos, sondern auch Ödipus Willensfreiheit zuschreibt: Ödipus, meint er, habe 37 Jefferson 1980: 29. 38 Alter (1966: 11) spricht von „une liberté qui s’insurge instinctivement contre l’ordre et, temporairement au moins, arrive à le déranger“. 39 Camusʼ viel zitierte Formel lautet: „Il faut imaginer Sisyphe heureux“ (Camus 1998: 168). 40 Ebd.

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mit seinem Urteil, alles sei gut, das Schicksal zu einer Sache des Menschen bzw. seiner Entscheidungsfreiheit gemacht.41 Garinati seinerseits scheint zumindest kurz zu ahnen, dass er die Möglichkeit hätte anders weiterzumachen, als Bonas Plan es ihm vorschreibt. Er hat seinen Text nicht vergessen, sondern weigert sich („refuse“) weiterzumachen. Dass er schließlich dennoch fortfährt wie geplant, könnte im Prinzip heißen, dass er wie Sisyphos mit veränderter Einstellung weitermacht und sich zufrieden seinem Schicksal fügt. Genau dies gelingt Garinati jedoch nicht: Seine im Laufe des Romans stetig zunehmende mentale Verwirrung zeigt, dass er ohne Bewusstseinswandel in die vorgeschriebene Ordnung zurückkehrt und seine Willensfreiheit gerade nicht nutzt. Für den Leser jedoch wird deutlich, dass Garinati, wenn er gewollt hätte, aus der vorgeschriebenen Ordnung hätte ausbrechen können. Die vermeintlich determinierte Ordnung wird zusätzlich infrage gestellt durch die Dekonstruktion der in der Treppenszene evozierten Tarotsymbole. In dem ‚romantischenʻ Gemälde über der Treppe lässt sich beispielsweise das Tarotmotiv „Der Turm“ bzw. „La Maison Dieu“ erkennen:42 „[U]n éclair illumine les ruines d’une tour; à son pied on distingue deux hommes couchés, endormis malgré le vacarme; ou bien foudroyés? Peut-être tombés du haut de la tour“ (G 24). Dieses Bild steht im Tarot für ein „projet brutalement arrêté“, einen „coup de théâtre“ bzw. „choc inattendu“, der den Menschen emotional aus dem Gleichgewicht bringt.43 Es spiegelt damit die Situation des plötzlich innehaltenden Garinati, für den schon der bloße Anblick des Bildes einen Schock bedeutet, weil es in Bonas Plan nicht vorkam: „Bona n’a pas mentionné ce tableau“ (G 24). Das Bild sorgt also für jene Überraschung bzw. Abweichung, die es laut Bonas Plan bzw. in einer Welt, „[qui] ne peut réserver la moindre surprise“, eigentlich gar nicht geben dürfte. Es widerlegt damit auf seine Weise den Determinismus – und zwar ausgerechnet mittels des Tarot, das traditionell ja der Vorhersage der Zukunft dient, also in einer Art performativem Widerspruch.44 Die Abweichung, der décalage, ist also ein Zeichen der Freiheit. Für RobbeGrillets Poetik ist diese Idee der Freiheit zentral und zwar, wie Les Gommes beweist, von Beginn seines Schaffens an; später wird er sein literarisches Werk so41 „,Je juge que tout est bienʻ, dit Œdipe et cette parole est sacrée. […] Elle fait du destin une affaire d’homme, qui doit être réglée entre les hommes. Toute la joie silencieuse de Sisyphe est là. Son destin lui appartient“ (ebd. 167). 42 Vgl. Morrissette 1971: 59. Die Szene enthält, wie Morrissette gezeigt hat, weitere Tarotmotive: Die 21 Treppenstufen stehen für die 21 Tarotkarten, die unterste weiße Steinstufe mit dem Narrenkopf-Knauf auf dem Geländerpfosten für die Karte Null, die den „Narren“ als einen „personnage en marche“ zeigt (ebd.). 43 Morrissette ebd. 60. 44 Moderne Auffassungen des Tarot gehen dagegen nicht mehr zwingend davon aus, dass man mit den Karten ein determiniertes Schicksal abrufe. Tarot, so ist in einer neueren TarotEinführung zu lesen, sei „nicht mit Wahrsagerei oder Orakeln zu verwechseln“; die Karten böten nur eine Projektionsfläche für die Selbstreflexion des Individuums: Die systematisch mehrdeutig konzipierten Karten verlangten stets nach Deutung durch den Fragenden, der damit sein Schicksal selbst bestimme (vgl. Bergh o.J.: 10f.). – Zu einer weiterführenden Analyse der Tarotsymbolik in Les Gommes vgl. Streiff-Moretti 1991.

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gar explizit als „œuvre de liberté“ bezeichnen.45 Dass es dabei Sartres Reflexion über die menschliche Freiheit war, die für ihn prägend war, hat Robbe-Grillet ebenfalls erst viele Jahre später eingeräumt.46 Dieses Bekenntnis mag auf den ersten Blick erstaunen, hatte Robbe-Grillet Sartre doch in Pour un nouveau roman für seine littérature engagée, seine Thesenromane und die „tragification systématique de l’univers“ vehement kritisiert.47 Wie sich später zeigt, differenziert Robbe-Grillet jedoch zwischen jenem Sartre, der den Menschen ‚zur Freiheit verdammtʻ sieht, und jenem Sartre, der diese These literarisch umzusetzen versucht und dabei an einer „parole de vérité“ festhält.48 Es ist letzterer, den Robbe-Grillet kritisiert.49 Um zu verstehen, weshalb Robbe-Grillet Sartres Idee der Freiheit schätzt, muss man sich nur vor Augen führen, dass diese auf einem antiessentialistischen Menschenbild beruht. Es gebe keine feststehende, universelle menschliche Natur, stellt Sartre in L’Existentialisme est un humanisme (1946) fest. Die zentrale Prämisse des Existentialismus sei, dass die Existenz des Menschen seiner Essenz vorausgehe. Das menschliche Wesen sei also nicht determiniert, sondern müsse vom Menschen selbst bestimmt werden. Die Essenz ist für Sartre also ein Konstrukt, und daraus resultiert für ihn sowohl Freiheit als auch Verantwortung. Sartre sieht den Menschen nicht nur als frei, sondern regelrecht zur Freiheit gezwungen („[L]’homme est condamné à être libre“); und weil er frei sei, sei er für sein Handeln verantwortlich.50 Diese Argumentation wird von Robbe-Grillet in „Nature, humanisme, tragédie“ aufgegriffen: „Refuser notre prétendue ‚natureʻ […], ce n’est pas […] nier l’homme […]. Ce n’est, en fin de compte, que conduire dans ses conséquences logiques la revendication de ma liberté.“51 Was Robbe-Grillet Sartre vorwirft, ist eine gewisse Inkonsequenz. Seiner Ansicht nach macht der Antiessentialismus sowohl eine radikalere Abkehr vom Wahrheitsbegriff als auch eine Erneuerung der literarischen Formsprache erforderlich, die der Idee der menschlichen Freiheit auch künstlerisch Rechnung trägt. Zwar habe Sartre ‚die Unmöglichkeit der wahren Repräsentation der realen Weltʻ ebenso wie das Problem der Zeit im Roman theoretisch sehr gut erfasst, jedoch blieben sowohl seine theoretischen wie litera45 46 47 48

Voyageur [1986]: 259. Vgl. ebd. 252ff. PNR 67. Vgl. dazu auch PNR [1957]: 33–39 und PNR [1958]: 58–61. „La problématique de tous les héros sartriens, c’est la recherche de leur propre liberté […], mais au sein d’une parole qui reste une parole de vérité“ (Voyageur [1986]: 253). – Zur unterschiedlichen Bestimmung der Relation von Freiheit und Wahrheit bei Sartre und RobbeGrillet vgl. genauer Nguyen 2010. 49 Zu Robbe-Grillets ambivalentem Verhältnis zu Sartre vgl. Voyageur [1986]: 251–262 sowie Milat 2002. 50 Bei Sartre (1996: 39f.) heißt es: „Si, en effet, l’existence précède l’essence, on ne pourra jamais expliquer par référence à une nature humaine donnée et figée; autrement dit, il n’y a pas de déterminisme, l’homme est libre, l’homme est liberté. […] [L]’homme est condamné à être libre. Condamné, parce qu’il ne s’est pas créé lui-même, et par ailleurs cependant libre, parce qu’une fois jeté dans le monde, il est responsable de tout ce qu’il fait.“ 51 PNR [1958]: 52.

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rischen Schriften der ‚Wahrheitʻ verhaftet: Ständig werde das Wort „vrai“ völlig unironisch verwendet, und in Les Chemins de la liberté (1945–49) käme gar das ‚Wahrheitstempusʻ passé simple zum Einsatz.52 Dagegen sieht Robbe-Grillet den Roman als ‚Bühneʻ, auf der das Problem der Freiheit ‚inszeniertʻ werden kann: „[C]’est au sein du roman que le problème de la liberté va pouvoir sinon être pensé, du moins être mis en scène.“53 Genauer noch geht es ihm dabei um die aufkeimende Freiheit, „la liberté à l’état naissant“.54 Und genau diese ‚Geburt der Freiheitʻ wird dem Leser in der Szene des innehaltenden Garinati vorgeführt. Sartres These, dass Entscheidungsfreiheit zugleich Verantwortung fordert, illustriert Robbe-Grillet in Les Gommes mit einer Reminiszenz an einen weiteren existentialistischen Text, Camusʼ L’Étranger (1942). Robbe-Grillet lobt diesen Roman als vorbildlich (u.a. aufgrund der Kombination von passé composé und Ich-Erzählsituation),55 doch er kritisiert ihn auch: In der Schlüsselszene, in der Meursault am Strand den Araber tötet, werde die Schuld für das Verbrechen auf die Objektwelt abgewälzt, indem suggeriert werde, die blendende Sonne habe Meursault zu diesem acte gratuit verleitet: „Le monde est accusé de complicité d’assassinat“.56 Unzufrieden mit dieser Komplizenschaft von Mensch und Welt unternimmt Robbe-Grillet mit Garinatis bzw. Wallasʼ Schuss auf Dupont eine réécriture dieser Szene. Garinati gibt dem Licht die Schuld dafür, dass sein Schuss Dupont verfehlt hat („cette lumière qui est cause de tout“, G 105). Diese Schuldzuweisung wird aber schon dadurch ad absurdum geführt, dass es sich hier um elektrisches Licht handelt, das im Unterschied zur Sonne sehr wohl durch den Menschen steuerbar ist. Garinati hätte nur rechtzeitig die Lampe ausschalten müssen, um dann im Schutz der Dunkelheit auf Dupont zielen zu können. Dem künstlichen Licht kann also unmöglich eine Mitschuld am Gelingen oder Scheitern der Tat gegeben werden. Entsprechend deutlich fällt Bonas Urteil aus. Für ihn ist Garinatis Schuld erwiesen: „Vous n’aviez pas éteint? demande Bona. […] Garinati est encore plus coupable qu’il ne le pensait“ (G 102). Auch in der Szene, in der Wallas auf Dupont schießt, ist die Anspielung auf Camus zu erkennen. Wallas, der zunächst im Schutz der Dunkelheit im Zimmer verharrt, ist nämlich plötzlich geblendet („ébloui par la lumière“), als Dupont beim Eintreten das Licht einschaltet; Wallas sieht nur den auf ihn gerichteten Revolver und drückt ab (G 252). Bei Camus sind Meursaults Augen im entscheidenden Moment, als der Araber sein Messer zieht und Meursault schießt, ebenfalls „aveuglés“, allerdings von Sonne und Schweiß.57 Anders als Meursault und Garinati gibt Wallas nun dem Licht keine Schuld an seinem Handeln (obwohl er nicht 52 Vgl. Voyageur [1986]: 253 und 255f., insb.: „Sartre ne s’est jamais détaché de l’idée de la vérité du monde, même s’il a posé un certain nombre de points qui nous semblaient très importants (comme l’impossibilité de la représentation vraie du monde réel), même s’il a vu tout cela d’une façon très claire“ (ebd. 256). 53 Ebd. 255. 54 Ebd. 55 Vgl. PNR [1957]: 41. 56 PNR [1958]: 58. 57 Camus 1970: 87.

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einmal Einfluss darauf hatte, da Dupont es eingeschaltet hatte). Im Gegenteil, er bekommt im Nachhinein sogar Zweifel, ob er wirklich in Notwehr geschossen hat: „Légitime défense. Il a vu l’homme tirer sur lui. […] Pourtant il faut admettre qu’il [Wallas] a tiré le premier. […] Son adversaire n’a pas eu le temps de tirer“ (G 253). Wallas erscheint damit als homme responsable, der sich über sein Verhalten Rechenschaft zu geben versucht. Vor dem Hintergrund, dass nicht nur Camus, sondern auch Sartre die Tragödienhelden als freie Menschen und die Fatalität der Tragödie als ‚Kehrseite der Freiheitʻ sieht, lässt sich Les Gommes also durchaus als literarische Inszenierung des existentialistischen Freiheitskonzepts lesen.58 Nicht zuletzt erklärt dies, warum Robbe-Grillet Sartre, bei aller Kritik, als einen seiner „ancêtres immédiats dans la littérature française“ bezeichnet.59 5.3.3 Zeit, Raum, Kontinuität, Kausalität Ebenso wie die ordonnance idéale werden auch die ihr zugehörigen Vorstellungen von Zeit, Raum, Kontinuität und Kausalität dekonstruiert. Dies geschieht dadurch, dass sie mit alternativen Konzepten kontrastiert werden. So wird der linearen Zeit bzw. Uhrzeit, wie die Kritik sogleich bemerkt hat, eine zirkuläre Zeit entgegengesetzt.60 Er habe damit demonstrieren wollen, so Robbe-Grillet später ausdrücklich, dass die Zeit auch anders als linear konzipiert werden kann, „[qu’il] était possible d’imaginer d’autres schémas […] du fonctionnement du temps“ – mit anderen Worten, dass die Zeit ein Konstrukt und keine beobachterunabhängige Entität ist.61 Robbe-Grillet selbst sieht im Übrigen in Les Gommes eher eine zyklische denn zirkuläre Zeit am Werk:62 Sie bilde keinen Kreis, sondern Schleifen, die, wie bei einer Epizykloide, zum Ausgangspunkt zurückführen: „[L]e temps aurait été non pas un cercle, […] mais plutôt une épicycloïde normale, le temps faisant des boucles en revenant, ensuite, à son point de départ“.63 Eine Epizykloide ist eine geometrische Figur, die dadurch entsteht, dass ein Kreis außen auf einem anderen Kreis abrollt; ein Punkt auf dem Kreisumfang des abrollenden Kreises beschreibt dabei die ‚Schleifenʻ der Epizykloide, die am Ende wie ein Kranz von Blütenblättern aussehen. In Les Gommes ist es Garinatis Schuss auf 58 Vgl. dazu Sartre (1998: 19): „La grande tragédie, celle d’Eschyle et de Sophocle, celle de Corneille, a pour ressort principal la liberté humaine. Œdipe est libre, libres Antigone et Prométhée. La fatalité que l’on croit constater dans les drames antiques n’est que l’envers de la liberté“. 59 Voyageur [1986]: 255. – Passend dazu fungiert auch Sartres La Nausée als Intertext von Les Gommes. Vgl. Karátson 1984: 99f. sowie Kap. 5.4.3 Intertextuelle Bezüge und Steigerung der Artifizialität. 60 Barthes (1964: 38) spricht von einem „temps circulaire“, Morrissette (1971: 37) von einer „trajectoire circulaire“, Bernal (1964: 50) von einem „temps qui tourne en rond“. 61 Voyageur [1994]: 290. 62 Er spricht von einer „image cyclique [du temps]“ (ebd.). 63 Ebd.

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Dupont, der den Ausgangspunkt bildet, zu dem die Schleifen wieder zurückführen. Von einigen Details abgesehen, reproduziert er sich exakt vierundzwanzig Stunden später im finalen Showdown zwischen Wallas und Dupont; mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass Wallas das Licht gelöscht hat und sein Schuss für Dupont tödlich endet. Die Zeitschleife, die (scheinbar) dort endet, wo alles begann, besteht also aus jenen „vingt-quatre heures ‚en tropʻ“, die die Kugel braucht, um den Raum zu durchqueren, „le temps que la balle a mis pour parcourir trois ou quatre mètres“ (wie Robbe-Grillet im Klappentext der Originalausgabe vermerkt).64 Wichtig ist, dass die Romanhandlung daneben weiterhin auch chronologisch, also linear lesbar bleibt. Die lineare Zeit wird durch die zyklische nur relativiert, nicht etwa ersetzt, wie manche Kritiker vermuten.65 An die Chronologie der Geschichte erinnert nicht nur die regelmäßige Nennung der Uhrzeit, sondern auch die Tatsache, dass es ja zwei verschiedene Kugeln sind, die auf Dupont abgefeuert werden (und eben nicht eine einzige, die vierundzwanzig Stunden zur Durchquerung des Raumes gebraucht hätte). Hier wird nochmals deutlich, warum RobbeGrillet die Zeit als Epizykloide, nicht als Kreis, beschreibt. Die Epizykloide trägt der Doppelstruktur von linearer Zeit und Zeitschleife insofern besser Rechnung, als ihre ‚Schleifenʻ auf dem Rand eines Kreises aufruhen und damit das Vorhan-

64 Hier zitiert nach Morrissette 1971: 41. – Mit der zirkulären bzw. zyklischen Zeit korrespondiert im Übrigen jene zirkuläre Zahlenordnung, die Robbe-Grillet dem Roman ursprünglich als mathematische contrainte zugrunde hatte legen wollen (ein Vorhaben, von dem er jedoch im Lauf des Schreibens abgerückt ist): Die einzelnen Sequenzen des Romans sollten durchnummeriert und in eine neue Reihenfolge, die ‚Ordnung des Ouroboros‘, gebracht werden (vgl. Voyageur [1994]: 288). Als Ouroboros wird in der altägyptischen und gnostischen Symbolik jene kreisförmige Schlange bezeichnet, die sich in den eigenen Schwanz beißt und die, je nach Tradition, für das Universum, die Unendlichkeit, die Zeit, den endlosen Zyklus der Wandlung, die Einheit der Gegensätze u.Ä. steht (vgl. Morrissette 1971: 38; zu Details vgl. Deonna 1952). Die ‚Ordnung des Ouroborosʻ ist demnach, so Robbe-Grillet, eine Zahlenordnung der altägyptischen Mathematik, die auf den 108 Ringen der kreisförmigen Schlange die natürlichen Zahlen von 1 bis 128 so anordnet, dass jede Zahl die Summe der beiden vorherigen bildet (wobei vom Ergebnis 108 subtrahiert wird, sobald es 108 überschreitet); nach 108maliger Durchführung dieser Operation, liegen dann alle 108 Zahlen genau einmal vor (vgl. Voyageur [1994]: 287f.). Ebenso wenig wie Roger-Michel Allemand (2004: 288, Anm. 4) habe ich Belege für diese Zahlenordnung des Ouroboros finden können. Unabhängig davon, woher er dieses Beispiel nimmt, geht es Robbe-Grillet damit offensichtlich darum zu zeigen, dass auch die sog. ‚natürlichenʻ Ordnungen nicht naturgegeben, sondern Konstrukte sind – und dass dies auch für Zahlen und mathematische Ordnungen gilt. 65 So meint etwa Morrissette (1971: 51), Robbe-Grillet wolle „évincer le temps linéaire […] et de le remplacer par […] ‚le temps humainʻ.“ Und auch Milat (2001: 135) übersieht, dass die lineare Zeit bestehen bleibt und hält die Geschichte daher irrtümlich für unendlich wiederholbar: „Tous les éléments sont en place pour que le cycle se poursuive, indéfiniment.“ Bernal (1964: 43f.) hingegen erkennt, dass zwei dialektische Zeitkonzeptionen (temps neutre und temps ‚en tropʻ) parallel bestehen.

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densein eines Kreises immer schon voraussetzen. Die Epizykloide vereint also zwei Strukturen in einer: Kreis und Schleifen.66 Eine Rekonzeptualisierung erfährt in Les Gommes auch der Raum. Zunächst wird als Folie das traditionelle, euklidische Raumkonzept aufgerufen, etwa mit dem Satz „La ligne droite est le plus court chemin d’un point à un autre“ (G 23). Dieses wird an anderen Stellen jedoch infrage gestellt, beispielsweise wenn Antoine, ein Stammgast des Café des Alliés, darauf insistiert, „qu’une ligne puisse être à la fois oblique et droite“ (G 232), was als Anspielung auf die im Zuge der Relativitätstheorie erkannte gekrümmte Raumzeit gelesen werden kann. Wie schon Barthes 1954 bemerkt hat, wird die Auflösung des euklidischen Raumes an einer Stelle des Romans in einer Art Schauspiel in Szene gesetzt.67 Während Bona reglos im Zimmer sitzt und durch das Fenster den Himmel betrachtet, nimmt der Raum „dimensions inhabituelles“ (G 101) an, das Relief verliert seine ‚Natürlichkeitʻ oder gar seine ‚Realitätʻ; der Raum wirkt nicht mehr geometrisch: Certains contours s’accusent, d’autres s’estompent; çà et là des espaces se creusent, des masses insoupçonnées surgissent; l’ensemble s’organise en une série de plans découpés, où le relief, soudain mis en lumière, semble du même coup perdre son naturel – et peut-être sa réalité – comme si cette netteté trop grande n’était possible qu’en peinture. Les distances en sont tellement affectées qu’elles en deviennent à peu près méconnaissables, sans que l’on puisse dire exactement dans quel sens elles se sont transformées: étirées, ou bien réduites – ou les deux à la fois – à moins qu’elles n’aient acquis une qualité nouvelle ne relevant plus de la géométrie… (G 101)

Was hier seine Natürlichkeit verliert, ist letztlich nichts anderes als das traditionelle Konzept des euklidischen Raumes, der hier, ebenso wie der neue nichteuklidische Raum, als reines Produkt menschlicher Wahrnehmung erscheint. Die gesamte Transformation des Raumes vollzieht sich nämlich in Bonas Blick. Die Beschreibung ist durchweg perspektiviert und wird sowohl am Anfang wie am Ende von der Feststellung gerahmt, dass Bona schaut: „Il attend, immobile […]. Il regarde“ (G 101); „Bona regarde. D’un œil tranquille, il contemple son œuvre“ (G 102). Was Bona am Himmel sieht, ist sein Werk – ein Hinweis darauf, dass der Raum erst im Auge des Betrachters konstruiert wird und keine Eigenschaft der Welt ‚an sichʻ ist.68 Abermals inszeniert Robbe-Grillet das, was er als nichtnatürlich ausweisen möchte, als Artefakt, vergleicht den Raum mit der Malerei („comme […] en peinture“) und inszeniert ihn als Theater- oder Kinospektakel, das sich vor dem reglos auf dem Zuschauerstuhl sitzenden Bona entfaltet.69 Ganz nebenbei wird die Idee der Landschaft (und implizit die der Natur) ihrer Natür-

66 Über eine gewisse Diskrepanz kann diese Metapher nicht hinwegtäuschen: Die Zirkularität des Kreises in der Epizykloide korrespondiert nicht mit der Linearität der Uhrzeit. Die Grenzen der Analogiebildung sind Robbe-Grillet offenbar bewusst. Er spricht nur davon, dass die Zeit in Les Gommes fast („plutôt“) die Form einer Epizykloide habe (Voyageur [1994]: 290). 67 Vgl. Barthes 1964: 34. 68 Der Begriff „œuvre“ ist hier freilich doppeldeutig und lässt sich auch auf die Attentatserie beziehen, die ebenfalls Bonas Werk ist. 69 Den Bezug zu moderner Malerei und Kino hat erstmals Barthes hergestellt (vgl. ebd.).

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lichkeit beraubt, denn auch der „paysage“ (G 101) wird hier als Schauspiel in Szene gesetzt. Dekonstruiert wird in Les Gommes schließlich auch das Konzept der Kontinuität. Sowohl zeitliche als auch räumliche Kontinuität erscheinen nur mehr als subjektive Konstrukte. Dies wird besonders deutlich an Wallasʼ Gang durch die Stadt. Während es am Romananfang so aussah, als würde eine unabhängige Entität namens Zeit die Bewegungen der Menschen strukturieren, resultiert der Eindruck von Kontinuität hier genau umgekehrt aus der subjektiven Wahrnehmung und Bewegung: Il [sc. Wallas] regarde, il écoute, il sent; ce contact en renouvellement perpétuel lui procure une douce impression de continuité: il marche et il enroule au fur et à mesure la ligne ininterrompue de son propre passage, non pas une succession d’images déraisonnables et sans rapport entre elles, mais un ruban uni où chaque élément se place aussitôt dans la trame […]; ils viennent tous se ranger […] à la vitesse régulière de son pas. (G 52)

Bezeichnend ist in diesem Kontext Wallas’ Feststellung, dass die Bewegung seinem Körper und nicht der ‚Kulisseʻ angehöre: „Car […] c’est à son propre corps qu’appartient ce mouvement, non à la toile de fond que déplacerait un machiniste“ (G 52). Interpretiert man die ‚Kulisseʻ als Metapher der Welt, so ist dies ein Hinweis darauf, dass Kontinuität keine Eigenschaft der Welt ist, sondern ein menschliches Konstrukt, das laut Piaget erst aus der Koordination von Wahrnehmung und Bewegung resultiert. Dass die Kulisse nicht von einem Bühnenarbeiter („machiniste“) geschoben wird, erscheint zusätzlich als Absage an ein göttliches, den Weltenlauf lenkendes Prinzip.70 Dass Wallas den Eindruck der Kontinuität als ‚süßʻ empfindet, ist insofern nicht erstaunlich, als Kontinuität dem Subjekt stets Sicherheit und Stabilität vermittelt. Daher rührt die neue Selbstsicherheit, die Wallas aus dem Gehen bezieht: „Autrefois il lui est arrivé trop souvent de se laisser prendre aux cercles du doute et de l’impuissance, maintenant il marche; il a retrouvé là sa durée“ (G 52). Diese Sicherheit ist allerdings trügerisch, denn Wallas läuft, wie sich wenig später herausstellt, geradewegs in die Irre. Obwohl er immer geradeaus gegangen war, findet er sich plötzlich und völlig orientierungslos auf jenem Boulevard Circulaire wieder, von dem er zuvor abgebogen war (G 54). Die „ligne ininterrompue“, die Wallas „tout droit“ (G 54) verfolgt hat, erweist sich also als ‚gekrümmtʻ und bestätigt damit Antoines These „qu’une ligne puisse être à la fois oblique et droite“ (G 232). Die Doppelheit aus Linearität und Zirkularität findet sich auch in der Kausalstruktur wieder. Einerseits entwickelt sich die Geschichte linear, denn am Ende ist die Faktenlage eine andere als zu Beginn: Dupont ist tot und Wallas hat ihn getötet. Andererseits hat die Geschichte die Form einer selbsterfüllenden Prophezeiung, also eine zirkuläre bzw. finale Kausalstruktur: Wallas schafft die Tatsache,

70 Darüber hinaus spielen Kulisse („toile de fond“) und Kulissenschieber („machiniste“) natürlich auf Theater und Tragödie an.

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die er für gegeben hält, erst selbst.71 Er glaubt an eine Tatsache, die keine ist (Duponts Tod), und handelt so, dass sie sich am Ende unbeabsichtigt doch noch realisiert. Damit illustriert Wallas im Grunde besser als Ödipus, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung bzw. der ‚Ödipuseffektʻ (Popper) funktioniert. Denn Wallasʼ Zukunft ist, anders als die des Ödipus, nicht vom Schicksal determiniert. Was Ödipus prophezeit wird, ist von vornherein wahr und unausweichlich; die ‚Prophezeiungʻ, in die Wallas verstrickt wird, hingegen ist nur eine selbsterfüllende und damit prinzipiell vermeidbar. Wallas tötet Dupont folglich nicht, weil es schicksalhaft vorherbestimmt wäre, allerdings auch nicht zufällig („par accident“), wie Bernal meint, sondern aufgrund eines Irrglaubens: der Annahme, Dupont sei tot.72 Denn weder befindet sich Wallas zufällig am Tatort, noch zielt er zufällig auf den eintretenden Mann. Er ahnt bloß nicht, dass es Dupont sein könnte, der das Zimmer betritt und die Waffe auf ihn richtet. Wie es für selbsterfüllende Prophezeiungen typisch ist, erweckt das Romanende den Anschein, alles habe zwangsläufig so kommen müssen. Dieser Anschein entsteht aber erst nachträglich dadurch, dass sich die Prophezeiung selbst erfüllt und somit ihre eigene Richtigkeit bestätigt. Die zahlreichen in den Text eingeflochtenen Vorausdeutungen und Prophezeiungen erweisen sich erst im Nachhinein als ‚richtigʻ und erscheinen wie Hinweise auf ‚das Unabwendbareʻ.73 Diese nachträgliche Bestätigung verschleiert, dass es vielleicht anders hätte kommen können, wenn die Figuren von ihrer (histoire-internen) Handlungsfreiheit Gebrauch gemacht hätten, anstatt sich freiwillig in ihr (histoire-intern) vermeidbares Schicksal zu fügen. Der Roman enthält noch weitere Beispiele für selbsterfüllende Prophezeiungen. Dupont etwa wird ausgerechnet dann erschossen, als er mit einem erneuten Attentat rechnet. Gerade weil er das Zimmer vorsichtshalber mit vorgehaltenem Revolver betritt, provoziert er Wallasʼ Schuss. Als Resultat einer selbsterfüllenden Prophezeiung erscheint ebenfalls der Tod des millionenschweren Holzexporteurs Albert Dupont, der zunächst irrtümlich von den Zeitungen verkündet worden war, weil man ihn, Albert, mit Daniel Dupont verwechselt hatte (G 16f.). Am Ende wird Albert Dupont tatsächlich das nächste Opfer von Bonas Bande (G 258f. u. 261). Gerade dieses Beispiel – die Falschmeldung der Zeitung – erinnert daran, dass Prophezeiungen immer nur Worte sind. Nicht umsonst ist also die Rede von der „parole [qui] s’accomplira“ (G 23).

71 Zur Struktur selbsterfüllender Prophezeiungen vgl. Kap. 2.4.5.4 Exkurs II: Selbsterfüllende Prophezeiungen und Ödipuseffekt. 72 Bernal 1964: 68. – Sirvent (2010: 44f.) hält Wallas aufgrund seines Irrtums für unschuldig; und in dieser Unschuld liege, betont er, ein ‚aspect anti-œdipienʻ. 73 Vgl. beispielsweise: „Un autre à sa place […] viendrait, lucide et libre, accomplir son œuvre d’inéluctable justice. […] Wallas. ‚Agent spécialʻ…“ (G 41); „L’acte manqué revient de luimême à son point de départ pour la seconde échéance… Un tour de cadran et le condamné recommence son geste théâtral, désignant à nouveau sa poitrine: ‚Visez le cœur, soldats!ʻ Et de nouveau…“ (G 103). Wie eine Prophezeiung wirkt auch Laurents Bemerkung, Wallas käme als Duponts Mörder durchaus in Betracht (G 168).

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Diese Erkenntnis lässt sich auch auf den Roman selbst wenden, der ebenfalls nur aus Worten besteht. Dabei ist es freilich der Leser, der diese Worte interpretieren und der Tatsache Rechnung tragen muss, dass es sich um einen Roman handelt. Wallasʼ Schuss auf Dupont ist, wie schon Bernal bemerkt, kein „actedestin“, sondern ein „acte littéraire“.74 Wallas tut als être de papier genau das, was der Text ihm ‚vorschreibtʻ. So gesehen sind es die Worte des Romantextes, die das Verbrechen hervorbringen, und sie sind genau auf diesen Effekt hin gesetzt. Entsprechend ist auch der Roman keineswegs ein Produkt des Zufalls, eines accident oder einer contingence, wie Bernal meint, sondern einer Konstruktion – und will als solches auch gesehen werden.75 Auf die Offenlegung des textuellen Konstruktcharakters ist zurückzukommen (vgl. Kap. 5.4). 5.3.4 Die Absage an die Wahrheit Ganz im Sinne des Kriminalromans spielt die Suche nach der Wahrheit in Les Gommes eine zentrale Rolle. Allerdings werden die traditionellen Auffassungen von Wahrheit und objektiver Erkenntnis dabei infrage gestellt. Dies zeigt sich schon auf histoire-Ebene, wo der Chef des präsidialen Geheimdienstes nicht nur an der Richtigkeit der Theorie seines Gehilfen zweifelt – dieser hatte behauptet, die Wahrheit gefunden zu haben –, sondern mit dem Wahrheitsbegriff generell ein Problem zu haben scheint: „[L]e chef ne paraît pas convaincu. Il grogne entre ses dents, d’un air de méfiance et de doute: ‚… la vérité… la vérité… la vérité…ʻ“ (G 207). Kommissar Laurent seinerseits versucht Wallas zu erklären, dass man niemals etwas ‚beweisenʻ kann: „[O]n ne prouvera jamais quoi que ce soit“ (G 168). Aufgerufen wird damit die zentrale wissenschaftstheoretische Erkenntnis des 20. Jahrhunderts (und konstruktivistische Kernthese), dass Theorien und Erkenntnisse niemals wahr oder verifizierbar, sondern höchstens brauchbar und viabel sind, weil der subjektive Beobachterstandpunkt unhintergehbar ist und das Subjekt das Objekt stets mitprägt bzw. konstruiert. Dieser unhintergehbaren Subjektivität sowie Modellierung des Objekts durch den Beobachter versucht Robbe-Grillet auf discours-Ebene durch eine spezifische Erzählsituation, Perspektivierung und Tempusverwendung Rechnung zu tragen.76 Zunächst wird die übergeordnete, allwissende Perspektive des Erzählers eingeschränkt, und zwar indem ihr eine Vielzahl unterschiedlicher Figurenperspektiven gegenübergestellt werden, die vom Erzähler nicht mehr hierarchisiert oder bewertet werden und die schon rein quantitativ dominieren. Jede einzelne der auftretenden Figuren, und sei ihre Rolle noch so marginal, wird zum Perspektivträger. Es gibt also in Les Gommes ebenso viele points de vue wie es Figuren gibt, und keine Figur kann jemals vollständig die Perspektive einer anderen nachvollziehen. Wie Jean Mauduit schon 1953 bemerkt, trägt der Roman damit der Tatsache Rech74 Bernal 1964: 55; Herv. aufgehoben. 75 Vgl. ebd. 94. 76 So sieht es auch Bernal (ebd. 39).

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nung, dass jedes Bewusstsein seine ureigene vision du monde entwickelt, die ihrerseits „incommunicable“ ist.77 Angelehnt scheint diese Perspektivenvielfalt an die Perspektivenstruktur des Dramas, wo jede Figur, wenn sie spricht, unausweichlich ‚für sich sprichtʻ und dem Zuschauer so ihre ganz spezifische Sicht der Dinge vermittelt. In Les Gommes divergieren die Figurenperspektiven untereinander ganz beträchtlich und veranschaulichen damit, dass jedes Subjekt seine eigene Wirklichkeit konstruiert, dass es nur Wirklichkeiten und nicht die Wirklichkeit gibt. Wichtig ist, dass keine dieser Perspektiven als ‚richtigerʻ als eine andere identifiziert werden kann. Alle erweisen sich als eingeschränkt und lückenhaft. Keine Figur kennt die ‚wahre Geschichteʻ. Schon auf dieser Ebene wird also die Begrenztheit menschlicher Wirklichkeitssicht illustriert bzw. vorgeführt, dass es dem einzelnen Subjekt unmöglich ist, die Welt zu erkennen ‚wie sie wirklich istʻ. Zugleich wird ersichtlich, dass die individuellen Wirklichkeitskonstrukte der Figuren keineswegs notwendig mit der Realität übereinstimmen müssen, um für die Figur gleichwohl zu funktionieren, also viabel zu sein. Solange dem Subjekt sein Konstrukt plausibel und kohärent erscheint, solange es sich also nicht gezwungen sieht, seine bisherige Sicht der Dinge zu revidieren, kann es an die Richtigkeit seiner Konstruktion glauben. Eine Anpassung der Wirklichkeitssicht (bei Piaget: die Akkomodation der Schemata)78 wird erst dann nötig, wenn Erfahrungen hinzukommen, die nicht mehr ‚passenʻ. Zunächst wird das Subjekt aber versuchen, eine Akkomodation zu vermeiden und stattdessen sein bisheriges Weltbild zu stabilisieren, indem es neue Erfahrungen unter die alten Schemata subsumiert. Wie stark dieser Drang nach Stabilisierung ist, wie sehr also die vorhandenen Schemata jede weitere Konstruktion lenken, zeigt sich im Roman am Beispiel von Madame Jean, jener Dame, bei der sich Wallas frühmorgens nach dem Weg zur Post erkundigt. Als Madame Jean in ihrer Funktion als ehemalige Postangestellte als Zeugin zum Verhör geladen wird, ist sie keineswegs erstaunt, Wallas auf dem Kommissariat wiederzutreffen. Er war ihr schon morgens aufgrund seiner widersprüchlichen Aussagen verdächtig vorgekommen. Auf die Idee, dass Wallas ihr nicht als Verdächtiger, sondern als Polizist gegenüber sitzt, kommt sie selbst dann nicht, als Wallas beginnt, gemeinsam mit Laurent, die Zeugen zu befragen. Aus ihrer Sicht wird Wallas durch dieses anmaßende Verhalten nur noch verdächtiger: „[C’]est un malin. Il a même réussi à mettre le commissaire dans sa poche: pour un peu il aurait dirigé l’interrogatoire! […] Madame Jean songe à cette étrange conjoncture où le coupable prend lui-même la direction de l’enquête“ (G 208). Madame Jean integriert hier also das, was eigentlich Zweifel an ihrer Vermutung nähren müsste, in ihr altes Raster. Und sie tut dies wohlgemerkt mit Erfolg, denn ihre individuelle Wirklichkeitskonstruktion gewinnt an Kohärenz – obgleich die Differenz zur Realität größer wird. Die kriminologische Wahrheitssuche transformiert sich endgültig in ein epistemologisches Problem, wenn genau diese fiktionsinterne Realität auch für den 77 Mauduit 2005: 58. 78 Vgl. Kap. 2.3 Die konstruktivistische Kognitionstheorie.

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Leser nicht mehr mit letzter Sicherheit zu ermitteln ist. Dies hat u.a. damit zu tun, dass die erzählte ‚Realitätʻ nicht mehr direkt durch den Erzähler vermittelt wird, sondern vom Leser aus den zahlreichen unsicheren Versionen der Figuren rekonstruiert werden muss – passend zu Robbe-Grillets Überzeugung: „La réalité ne peut pas apparaître dans une histoire unique, mais dans une juxtaposition d’histoires incertaines.“79 Dies geht nicht, ohne den auktorialen Erzähler in seinen Kompetenzen zu beschneiden. Dazu setzt Robbe-Grillet zunächst einen allwissenden Erzähler als Folie ein, die er dann umso wirkungsvoller verwerfen kann.80 Dabei ist es freilich kein Zufall, dass der auktoriale Erzähler in Les Gommes mitunter ausgerechnet an einen antiken Chor (v.a. wenn er Prophezeiungen macht) oder an einen Balzac’schen Erzähler (z.B. bei der Beschreibung der Stadt, G 18f.) erinnert, verkörpern diese doch den Wahrheitsanspruch jener literarischen Modelle, die Robbe-Grillet aus epistemologischen Gründen ablehnt. Entsprechend verliert der Erzähler in Les Gommes dann seine stabilisierende Funktion als Vermittler einer Wahrheit. Da er die Figurenaussagen weder wertet noch hierarchisiert, sondern im Wesentlichen szenisch präsentiert, ist er dem Leser bei der (Re-)Konstruktion der Geschichte keine große Hilfe, zumal sein Wissenshorizont den der Figuren kaum noch übersteigt. Dies zeigt exemplarisch jene Stelle des Epilogs, wo Garinati, vor Wallasʼ Hotelzimmer stehend, beschließt, die Beschattung des Agenten fortzusetzen. Unmerklich schwenkt dabei die Perspektive von Garinati zu dem im Zimmer sitzenden Wallas: „Aujourd’hui: suivre Wallas comme une ombre. Ça n’est pas bien difficile. Et ça ne sera pas bien long: Wallas quittera la ville par le premier train. Il est assis sur le bord de son lit“ (G 258f.). Anders als die Konjunktion ‚etʻ suggeriert, gibt der Satz „Et ça ne sera pas bien long“ nicht mehr Garinatis Sicht wieder, denn dieser kann von Wallasʼ Abreiseplan noch gar nichts wissen. Es ist mithin der Erzähler, der hier sein Überblickswissen zur Schau stellt und demonstriert, dass er – darin ganz traditionell – sowohl Garinatis als auch Wallasʼ Sicht kennt und den Blick über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg verlagern kann (hier durch die geschlossene Zimmertür hindurch). Allerdings bleibt die Kompetenz des Erzählers auf diesen Überblick über die aktuelle Szenerie reduziert, denn das dargelegte Wissen übersteigt die Summe dessen, was Garinati und Wallas wissen, nicht. Der Erzähler bleibt, wie Garnham bemerkt, ein „observer of the present scene; he gives possibilities, not facts“.81 Dass der Erzähler nicht mehr die stets verlässliche, richtungsweisende Instanz ist, die er einst im traditionellen Roman war, zeigt sich auch an der lapidaren Feststellung: „C’est tout ce qui reste de Garinati vers cinq heures du soir“ (G 221), die im Anschluss an eine Reihe wirrer, intern fokalisierter Sequenzen folgt, die 79 So Robbe-Grillet über Les Gommes im Interview mit J. Brenner (vgl. Brenner 2005: 49). 80 Wenn Morrissette (1971: 73) die ‚Vermischungʻ von Perspektivenvielfalt und allwissendem Erzähler als ‚Fehlerʻ kritisiert (die Reste des auktorialen Erzählers, so sein Argument, gefährdeten die ‚konzeptionelle Einheitʻ des Romans), so übersieht er, dass die Kontrastierung von neuen und alten Verfahren gerade Robbe-Grillets Strategie ist, um die notions périmées zu verabschieden. So sieht es auch Bernal 1964: 46f. 81 Garnham 1982: 36.

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dadurch nachträglich als Garinatis Bewusstseinsvorgänge ausgewiesen werden. Der Satz wirkt einerseits völlig wertneutral und dient scheinbar nur dazu, den Bewusstseinsträger zu markieren und die aktuelle Uhrzeit zu nennen. Andererseits aber scheint er von einer dezenten, nahezu Flaubert’schen Ironie durchdrungen, sodass gerade das Lakonische der Aussage als Ausdruck eines mitleidigen Blicks auf Garinati aufgefasst werden könnte, der offenbar außerstande ist, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine solche Hommage an Flaubert liegt freilich auch deswegen nahe, weil Robbe-Grillet den Erfinder des ‚zurücktretendenʻ Erzählers immer schon als großes Vorbild sah.82 Letztlich aber wird man konstatieren müssen, dass der Kommentar unentschieden zwischen Neutralität und Ironie oszilliert, sodass nicht mehr gesagt werden kann, was ‚eigentlichʻ gemeint ist und beide Möglichkeiten in Betracht kommen. Wie auch die anfängliche Aussage „le temps ne sera plus le maître“ zeigt, sind die Erzählerkommentare oft alles andere als erhellend, sondern bedürfen selbst erst einer Interpretation, wirken also eher änigmatisch. Angesichts der Demontage des traditionellen Erzählers ließe sich die Bemerkung über Garinatis desaströsen Zustand, leicht modifiziert, am Ende auf den Erzähler selbst rückbeziehen: „C’est tout ce qui reste du narrateur omniscient vers le milieu du XXe siècle.“ Um den Wahrheitsanspruch des Erzählten zu unterminieren, macht sich Robbe-Grillet nicht zuletzt das präsentische Erzählen zunutze, bei dem, anders als bei dem klassischen Erzähltempus des passé simple, nicht von einem bereits bekannten Ende her, sondern auf ein noch offenes – und damit vermeidbares – Ende hin erzählt wird. Außerdem, und dies ist vielleicht noch entscheidender, trägt das Präsens dazu bei, dass Erzähler- und Figurenrede mitunter nicht klar zu unterscheiden sind. Insbesondere bei potentiellen Fällen von style indirect libre oder innerem Monolog lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob es sich um die neutrale (d.h. mehr oder weniger glaubwürdige) Außensicht des Erzählers oder eine subjektive (und damit unzuverlässige) Figurenperspektive handelt.83 Dem Leser bleibt dann nichts anderes übrig, als sich eine viable Version der Geschichte zu erstellen – eine Aufgabe, die, wie noch zu sehen sein wird, durch diverse Unbestimmtheitsstellen erschwert wird. 5.3.5 Objektbeschreibung und Objektivität Eng mit dem Thema Wahrheit verwoben ist das der Objektivität. Im Kriminalroman sind es bestimmte Objekte (Tatwaffe, Spuren am Tatort, Leichnam, Aussehen des Täters etc.), die als Indizien dazu dienen, um herauszufinden, was ‚wirklichʻ geschehen ist. Genau diese Funktion des klassischen Indizes wird in Les 82 Vgl. Préface 26–29. In der Nachfolge des Flaubert’schen livre sur rien positioniert sich Robbe-Grillet schon in Pour un nouveau roman. Dort ist die Rede von „le véritable écrivain n’a rien à dire“, „l’œuvre doit [être] nécessaire pour rien“ (PNR [1957]: 42f.) und von einer „description qui ne part de rien“ (PNR [1963]: 127). 83 Beispiele hierzu folgen.

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Gommes dadurch ad absurdum geführt, dass sich manche Indizien verdoppeln oder gar verdreifachen. Anstatt den (ohnehin bekannten) Tathergang oder die Motive zu erhellen oder zu bestätigen, wecken die mysteriösen Objekte im Gegenteil Zweifel an der Richtigkeit des Erzählten. So sind beispielsweise sowohl Garinatis, Wallasʼ als auch Duponts Revolver vom gleichen Kaliber, und in allen dreien fehlt eine Kugel, wobei bis zuletzt offen bleibt, warum die Kugeln in Wallasʼ und Duponts Waffe fehlen (Wallas bleibt die Antwort schuldig, als Laurent ihn darauf anspricht, G 77). Ebenso verwirrend wirken die Verdopplungen auf der Ebene der Identitäten: Wallas und André VS sehen sich zum Verwechseln ähnlich; Wallas wird durch den Schuss auf Dupont zum Doppelgänger des Killers Garinati; Albert Dupont wird zum Double Daniel Duponts, das in exakt derselben Minute stirbt.84 Ein genauerer Blick lohnt nicht nur auf die Indizien, sondern auch auf die Objekte im Allgemeinen. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Detailgenauigkeit der Objektbeschreibungen eine antirealistische, antiillusionistische Stoßrichtung hat. Es handelt sich keineswegs um eine „abondance de ‚petits faits vraisʻ“, wie Luc Estang schon 1953 notiert,85 sondern um eine surabondance de détails superflus, die jeden Illusionismus ins Gegenteil kippen lässt. Es fehlt diesen überflüssigen Details eine erkennbar handlungsrelevante Funktion. Ein Beispiel bietet das Tomatenviertel. Es hat mit dem Mordfall nichts zu tun, weder fungiert es als Indiz, noch bringt es Wallas auf die richtige Spur. Ebenso wenig spiegelt es den Charakter oder die Befindlichkeit des betrachtenden Subjekts. Unter konventionellen Gesichtspunkten ist die Beschreibung also sinnlos und macht die Tomate zu einem jener details qui font faux, die Robbe-Grillet in Pour un nouveau roman so nachdrücklich fordert.86 Desillusionierend wirkt insbesondere, dass, wie Manuel Rainoird ebenfalls schon 1953 bemerkt, die ‚wissenschaftliche Beschreibungʻ der Dinge, das ‚Inventar des Konkretenʻ („description scientifique, inventaire strict du concret“) mitnichten zu größerer Anschaulichkeit führt, sondern zu einer „image extrêmement indécise et flottante“.87 Dies liegt zum einen an der schieren Detailfülle, zum anderen daran, dass die Beschreibungen unentschieden oder gar in sich widersprüchlich sind – wie im Fall der Tomate: [I]l [sc. Wallas] commence à couper son repas en petits cubes. Un quartier de tomate en vérité sans défaut, découpé à la machine dans un fruit d’une symétrie parfaite. La chair périphérique, compacte et homogène, d’un beau rouge de chimie, est régulièrement épaisse entre une bande de peau luisante et la loge où sont rangés les pépins, jaunes, bien calibrés, maintenus en place par une mince couche de gelée verdâtre le long d’un renflement du cœur. Celui-ci, d’un rose atténué légèrement granuleux, débute, du côté de la

84 Boyer (1986: 67) hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei weniger um klassische Doppelgänger (frz. double) als um doublures im Sinne von Doppelbesetzungen in Theater und Film handelt, denn verdoppelt werde nur die Rolle, also die Funktion der Figur, nicht etwa ihre Persönlichkeit (auch darin steckt eine Absage an den round character). 85 Estang 2005: 94. 86 Vgl. Kap. 4.2.2 Robbe-Grillets Realismuskritik als Kritik am epistemologischen Modell des 19. Jahrhunderts. 87 Rainoird 2005: 82.

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dépression inférieure, par un faisceau de veines blanches, dont l’une se prolonge jusque vers les pépins – d’une façon peut-être un peu incertaine. Tout en haut, un accident à peine visible s’est produit: un coin de pelure, décollé de la chair sur un millimètre ou deux, se soulève imperceptiblement. (G 161)

Unentschieden zeigt sich die Beschreibung schon hinsichtlich ihrer Perspektivierung, denn es lässt sich nicht eindeutig sagen, ob es sich um eine Nullfokalisierung oder eine interne Fokalisierung (d.h. Wallasʼ Sicht) handelt. Zunächst scheint es, als werde die Tomate neutral, aus ‚Sichtʻ des Erzählers geschildert: Es wird kein Wahrnehmungsprozess erwähnt, der auf eine Einschränkung des Blickwinkels, also eine Perspektivierung hindeuten würde.88 Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass es sich um Wallasʼ subjektiven Blick auf die Tomate handelt. Und zwar dann, wenn es sich um jene ‚strikteʻ Anwendung der focalisation interne handelt, bei der nach Gérard Genette ausschließlich das beschrieben wird, was die Figur wahrnimmt, und die daher oberflächlich von der focalisation zéro nicht zu unterscheiden ist.89 Für die zweite Option spricht die Ellipse im ersten Satz der Beschreibung („Un quartier de tomate…“ etc.). Das fehlende Verb wäre dann ein Marker für die Wiedergabe von Figurenrede (monologue intérieur) und somit für eine focalisation interne. In die gleiche Richtung weist die vorangestellte Bemerkung, Wallas beginne sein Essen in kleine Würfel zu schneiden. Sie impliziert, dass er seinen Blick auf den Teller und damit auf die Tomate gerichtet hat, womit der für die focalisation interne notwendige Wahrnehmungsprozess zumindest implizit gegeben wäre. Andererseits folgt auf diese einleitende Bemerkung ein ambivalentes blanc typographique, das sich in beide Richtungen (Beibehaltung der Nullfokalisierung oder Wechsel von der Null- zur internen Fokalisierung) deuten lässt.90 Es ist nicht zuletzt diese unterdeterminierte Fokalisierung, die dafür verantwortlich ist, dass es zur Debatte über die ‚Subjektivitätʻ bzw. ‚Objektivitätʻ in Robbe-Grillets Werk kommen konnte. In seinen späteren Werken hat RobbeGrillet solche perspektivischen Gratwanderungen geradezu zum Progamm erhoben. Das wohl prominenteste Beispiel dürfte der Roman La Jalousie (1957) sein, den Genette als einzige durchgängige Realisation einer focalisation interne stricte anführt.91 Bezeichnenderweise ist die Beschreibung der Tomate aber nicht nur unter-, sondern zugleich überdeterminiert, denn wo sie Wahrnehmungsvorgänge themati88 Wie Kablitz (1988: 245) gezeigt hat, muss, um von einer focalisation sprechen zu können, innerhalb der histoire ein Wahrnehmungsprozess identifizierbar sein. 89 Vgl. dazu Genette (1972: 209): „[L]a focalisation est parfaite dans [un énoncé] qui se contente de décrire ce que voit son héros“. Genettes Beispiel für eine solche focalisation interne „au sens strict“ ist die Stelle in Stendhals Chartreuse de Parme, wo Fabrice del Dongo einen Leichnam findet: „Une balle, entrée à côté du nez, était sortie par la tempe opposée, et défigurait ce cadavre d’une façon hideuse; il était resté avec un œil ouvert“ (ebd.). 90 Law (1988: 350) spricht daher von einem Gleiten („sliding“) zwischen neutral-objektivem und subjektivem Diskurs in Les Gommes. Vgl. dazu auch Kimolatisʼ (2010: 68) Analyse einer weiteren Stelle, an der ebenfalls unklar bleibt, ob der Erzähler oder die Figur der Perspektivträger ist. 91 Vgl. Genette 1972: 209f.

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siert, tut sie es in widersprüchlicher Weise. Während die Formulierung „à peine visible“ im letzen Satz den ‚Unfallʻ als sichtbar ausweist (und Wallas erneut als Wahrnehmungsträger in Betracht kommen lässt), schließt das Wort „imperceptiblement“, sofern es nicht figurativ gemeint ist, genau dies aus: Über ‚Nichtwahrnehmbaresʻ kann nur der allwissende Erzähler Auskunft geben. Die Widersprüchlichkeit dieser Aussage hindert den Leser daran, sich eine kohärente Vorstellung vom Beschreibungsgegenstand zu machen. Das Bild der Tomate bleibt, genau wie die „veine blanche“ in ihrem Innern, „un peu incertaine“. Wir haben es hier bereits mit jener Technik der description créatrice-destructrice zu tun, die RobbeGrillet in seiner Theorie erst zehn Jahre später formulieren wird: eine Beschreibung, die das Objekt, das sie erst konstituiert, selbst wieder zerstört.92 Das Beispiel zeigt, was Robbe-Grillet meint, wenn er sagt, die Technik von création und gommage diene dazu, die Dinge ‚unverständlich zu machenʻ („les rendre incompréhensibles“).93 Sinnfällig wird die Tomatenbeschreibung am Ende aber doch erst, wenn man sie als intern fokalisiert auffasst. Dann nämlich zeigt sich, wie sich subjectivité totale und chosisme, subjektiver Blick und Objektfokussierung zusammenfügen. ‚Objektivʻ ist die Beschreibung dann nur noch im Sinne der Optik. Es ist dann Wallasʼ subjektiver Blick, der – „tourné de l’objet que l’on veut voir“ – die Tomate erfasst.94 Die außerordentliche Sachlichkeit der Beschreibung resultiert dann daraus, dass mit Wallas kein beliebiger Mensch auf die Tomate blickt, sondern ein homme nouveau, jener neue Typ Mensch, der nach Robbe-Grillets damaliger Theorie die unüberbrückbare Distanz zwischen sich und der Objektwelt, d.h. die Unerkennbarkeit der ontischen Wirklichkeit, akzeptiert. Dieser homme nouveau betrachtet die Dinge nur noch von außen, anstatt ihr ‚inneres Wesenʻ ergründen zu wollen: „[L]’œil de cet homme se pose sur les choses avec une insistance sans mollesse: il les voit, mais il refuse de se les approprier […] puisqu’il n’y a rien à l’intérieur.“95 Les Gommes bleibt also keineswegs hinter dem damaligen Stand der 96 Robbe-Grillet’schen Theorie zurück. Die Tomate ihrerseits ist ein Objekt ‚ohne Inneresʻ, ein sinnresistentes „objet têtu“ (Barthes), an dem sich die von Robbe-Grillet propagierte neuartige Relation von Mensch und Objektwelt ablesen lässt.97 Sie bildet als bloße résistance optique ein Gegenmodell zu den Objekten eines Francis Ponge, gegen den Robbe-Grillet im Übrigen auch in Nature, humanisme, tragédie heftig polemisiert.98 Ja, sie scheint Ponge-Gedichte wie L’huître oder L’orange geradezu zu parodieren. Aufgerufen wird Ponge zunächst durch das für ihn typische Farbadjektiv „verdâtre“

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Vgl. PNR [1963]: 127. Ebd. Barthes 1964: 29. Vgl. Kap. 4.2.1 Der ‚Neue Romanʻ und die Unerkennbarkeit der Welt. PNR [1958]: 48. Darauf hat bereits Minogue (1967: 430) hingewiesen. Barthes 1964: 31. Zur résistance optique vgl. ebd. 30.

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(G 161).99 Dann zeigen sich jedoch die Unterschiede: Während Ponges Auster nur auf den ersten Blick „opiniâtrement clos“ ist und im Innern eine ganze Welt birgt („à l’intérieur l’on trouve tout un monde“), bleibt Robbe-Grillets Tomate ohne Inneres.100 Und während Ponges Orange, deren „épiderme extrêmement mince“ und „parfaite forme du fruit“ in Robbe-Grillets Tomate eine Reprise feiert, ganz klar anthropomorphisiert wird – sie wird, aufgeschnitten, zum ‚Opferʻ („sacrifice“) und verhält sich angesichts ihres ‚Henkersʻ („bourreau“) gar „trop passive“ –, ist die Tomate ein ‚phänomenologisches Objektʻ.101 Sie ist einfach ‚daʻ, wird in ihrer visuellen Qualität erfasst; der betrachtende homme nouveau projiziert nichts in sie hinein. Genau dies wiederum unterscheidet die Beschreibung der Tomate von Objektbeschreibungen der späteren Robbe-Grillet-Romane. Der Blick des homme nouveau ist hier zwar ein (potentiell) subjektiver, aber noch kein deformierender. Noch prallen die Bedeutungen an dieser Tomate ab, noch wird sie nicht zu einer gigantischen Projektionsfläche des Subjekts, wo sich Sinnmöglichkeiten und Phantasmen bündeln. Schon in Le Voyeur gestaltet sich dies anders: Mathias erblickt dort in den verschiedenartigsten Dingen (den Ringen an der Kaimauer, den Möwenaugen, der Holzmaserung etc.) immer dasselbe Zeichen, eine liegende Acht, deren Form vage mit einer eventuellen Fesselung des verunglückten Mädchens assoziiert wird; Mathiasʼ Blick ist nur oberflächlich neutral. In Les Gommes ist der Blick auf das Tomatenviertel insofern neutral, als er von der Suche nach Innerlichkeit befreit ist. Auch darin entspricht der Roman dem Stand der damaligen Robbe-Grillet’schen Theorie, in der er noch glaubte, die Welt von Sinn gereinigt, in ihrer réalité brute, zeigen zu können. Wie die anderen décalage-Objekte stiftet die Tomate zudem eine neue Analogie bzw. Metapher, die auf die Brüchigkeit des alten Weltbildes und die Artifizialität des Natürlichen zielt. Es ist diese Metaphoriziät, die die Tomate, bei aller Zurückweisung traditioneller Objektfunktionalisierung, doch wieder zu einem genuin literarischen, ja poetischen Objekt macht.102 Eine ähnliche Funktion haben die von Wallas gekauften Radiergummis: Auch sie sind resistente Objekte, die neuartige Analogien jenseits konventioneller Metaphorik stiften. Es ist kein Zufall, dass es den von Wallas gesuchten idealen Radiergummi – „une gomme douce, légère, friable […] dont la cassure est brillante et lisse, comme une coquille de nacre“ (G 132) (was wieder an Ponges Auster erinnert) – gar nicht gibt, denn die taktile103 Vertrautheit von Mensch und Objekt, die sich Wallas von dem Radiergummi erhofft, ist aus Robbe-Grillets Sicht eine Chimäre.

99 Allein L’huître enthält drei Farbadjektive, die auf -âtre enden: „blanchâtre“, „verdâtre“ und „noirâtre“ (Ponge 1967: 43). 100 Ebd. 101 Ebd. 41f. 102 Wie schon Minogue (1967: 431) zeigt, ist es ein Irrtum zu denken, dass es in Les Gommes kaum Metaphern gebe; im Gegenteil, der Roman sei „full of metaphors“. 103 „[L]e toucher constitue […] une sensation beaucoup plus intime que le regard“ (PNR [1958]: 58f.).

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Im Unterschied zu realen Objekten, die als fremd und unergründlich akzeptiert werden müssen, können literarische Gegenstände gezielt mit Bedeutungen aufgeladen werden. Auch dies demonstrieren die Radiergummis, die, konventionell von jeglicher Symbolik frei, bei Robbe-Grillet Teil eines neuen Bezugssystems werden: des erotischen Diskurses. Die Radiergummis tauchen im Text nämlich immer dann auf, wenn Wallas etwas vor sich selbst oder anderen zu verbergen scheint, sei dies im Zusammenhang mit einem unterdrückten désir érotique (G 65f., 132f. u. 177), mit der fehlenden Revolverkugel oder mit seinem Vornamen (G 77 u. 168).104 Die Brücke zum erotischen Diskurs schlägt auch der Begriff gomme selbst, mit dem auch eine zerebrale Spätform der Syphilis bezeichnet wird. Die Neurologie spricht von „gommes syphilitiques cérébrales“.105 RobbeGrillet beschreibt sie als eine Art Denkblockade, als „gommes qui se forment dans le cerveau et qui embrument le jugement“.106 Diese Begriffsbedeutung wirft nun ein völlig neues Licht auf Wallasʼ seltsamen Kopfschmerz: Der „vide dans la tête“ (G 85) und „ce malaise cotonneux qui l’empêche de réfléchir“ (G 163) erscheinen als Symptome einer gomme cérébrale. Der Romantitel Les Gommes wird damit freilich als mehrdeutig erkennbar. 5.3.6 Punktuelle Unbestimmtheit und Offenheit Zurückzukommen ist nun auf die schon mehrfach angesprochene Offenheit und Unbestimmtheit des Textes. Es geht dabei um Erzählstrukturen, die die Textbedeutung punktuell uneindeutig und oszillierend werden lassen und dem Leser seine eigenen Sinnbildungsmechnismen vor Augen führen.107 Dies ist Teil von Robbe-Grillets Programm, mit seinen Romanen dem Zeitalter epistemologischer Unsicherheit Rechnung zu tragen und den Leser in seinen Sicherheiten zu erschüttern. Eine punktuelle Unbestimmtheit prägt Les Gommes auf verschiedenen Ebenen, wobei die Kohärenz der histoire unterschiedlich stark (im Unterschied zu späteren Romanen aber nie fundamental) in Mitleidenschaft gezogen wird. 5.3.6.1 Glissements zwischen den Realitätsebenen Zum einen gerät an manchen Stellen die Grenze zwischen verschiedenen Realitätsebenen (z.B. zwischen Traum und Wirklichkeit) ins Wanken, beispielsweise, wenn Wallas im Café einschläft und die Erinnerung an seinen Dienstantritt beim Geheimdienst unmerklich in einen grotesken Traum übergeht (G 163–165). Sein 104 Zum Zusammenhang von Radiergummis und désir vgl. Morrissette 1971: 65 und Karátson 1984: 95–97. Für Minogue (1967: 436) signalisieren die Radiergummis den Versuch, die Wahrheit zu kaschieren. 105 Vgl. Goulon u.a. 1986. 106 Voyageur [1978]: 442. 107 Zur Vorführung von Sinnbildungsprozessen vgl. schon Minogue 1975: 38.

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neuer Chef, Fabius, misst als erstes Wallasʼ Stirnfläche aus, angeblich um damit seine Eignung als Agent festzustellen. Obwohl Wallas fast ein Quadratzentimeter an den erforderlichen fünfzig fehlt, lässt Fabius ihn unter Vorbehalt zum Dienst zu und drückt ihm johlend den Stempel „bon pour le service“ (G 165) auf die Stirn.108 Dem Text lässt sich nicht entnehmen, wo genau die Erinnerung endet und wo der Traum beginnt. Der Anfang des Traums ist nämlich schlicht nicht markiert. Erst wenn es heißt „Wallas se réveille en sursaut. Son front vient de heurter le bord de la table“ (G 165), wird klar, dass das Vorangegangene ein Traum gewesen sein muss. Der vermeintliche Stempelabdruck auf der Stirn erklärt sich damit, dass Wallasʼ Kopf im Schlaf auf der Tischkante aufgeschlagen ist. Weil aber der Übergang zwischen Traum und Erinnerung gleitend ist, bleibt offen, ob Wallas die Kopfvermessung ebenfalls nur geträumt hat oder ob sie Teil der ‚echtenʻ Erinnerung ist. Dieses Gleiten (glissement)109 zwischen den Realitätsebenen wird nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass für Gegenwart, Erinnerung, Traum etc. immer dasselbe Tempus, das Präsens, benutzt wird und damit die Tempusmarkierung als konventionelles Unterscheidungsmerkmal wegfällt.110 Insgesamt muss allerdings festgestellt werden, dass derartige glissements in Les Gommes punktuell bleiben. Die Rückkehr auf die Ebene der ‚faktischen Realitätʻ der Diegese ist immer gewährleistet, weil das jeweilige Ende des Traums, der Imagination, Erinnerung etc. stets klar markiert ist.111 Dies ändert sich in den späteren Robbe-Grillet-Romanen, wo nicht nur die glissement-Technik verstärkt zum Einsatz kommt, sondern die Kohärenz der histoire deutlich stärker beeinträchtigt wird, weil beim Wechsel der Realitätsebene nun umgekehrt zwar der Anfang, aber nicht mehr das Ende markiert ist.112

108 Das Ausmessen der Stirn ironisiert erneut die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Ins Lächerliche gezogen wird hier die zur damaligen Zeit in höchster Blüte befindliche Physiognomik, die von äußeren Körperformen auf den Charakter schließen zu können glaubte und sich in der Literatur u.a. in Balzacs Figurenzeichnung wiederfindet. – Die Stirn mit ihrer Abweichung von der Norm ist darüber hinaus ein weiteres décalage-Objekt. Fabius rundet die gemessenen 49,02 cm2 auf 49 cm2 ab, sodass für Wallas zwei Quadratmillimeter ungenutzer décalage zur freien Verfügung stehen: „Deux millimètres carrés de rêve“ (G 260) als Spielraum für Irrtum, Fehler und Traum. 109 Robbe-Grillet selbst verwendet glissement als terminus technicus (vgl. Voyageur [1974]: 422). 110 Dass dem Leser die Zuordnung der Zeitebenen durch das uniforme Präsens erschwert wird, hebt auch Law (1988: 351) hervor. Dick (1979: 428) hat seinerseits auf die Ähnlichkeit des Robbe-Grillet’schen und des filmischen Präsens aufmerksam gemacht. 111 Vgl. dazu auch die folgenden Sätze, die ebenfalls solche Endmarkierungen darstellen: „Le patron s’est retourné, tiré du cauchemar par son propre cri“ (G 16), „Ici Laurent s’arrête“ (G 143), „C’est tout ce qui reste de Garinati vers cinq heures du soir“ (G 221). 112 Dazu nur ein Beispiel: Schon in Robbe-Grillets folgendem Roman, Le Voyeur, geht die Binnenerzählung des Protagonisten Mathias fließend in die Rahmenerzählung über, ohne dass ihr Ende markiert würde. Das Ergebnis ist, dass es keine gesicherte Rückkehr zur stabilen (fiktionsinternen) Realität gibt (vgl. A. Robbe-Grillet, Le Voyeur, Paris: Minuit, 1955, S. 149; im Folgenden zitiert mit der Sigle V und Seitenangabe).

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5.3.6.2 Unzureichende oder widersprüchliche Information Unbestimmtheit entsteht in Les Gommes des Weiteren dadurch, dass konventionelle Erwartungen hinsichtlich des Informationsgehalts nicht erfüllt werden. Robbe-Grillets Figuren sind keine ‚runden Charaktereʻ, d.h. Herkunft, Vorgeschichte, Charakter und Motive der Figuren werden nicht mehr vom Erzähler exponiert, sondern müssen vom Leser Stück für Stück aus den Aussagen und dem Handeln der Figuren ermittelt werden. Doch diese Ermittlung gestaltet sich schwierig, da der Leser häufig nur unzureichend oder gar widersprüchlich informiert wird. So bleiben Wallasʼ Vorname, Herkunft, Alter und Familienverhältnisse ebenso im Unklaren wie die Frage, ob er tatsächlich gewisse ödipale Neigungen hegt. Im Dunkeln bleiben auch die tieferen Motive von Bonas Gruppe sowie die geheimen Aktivitäten, in die Dupont und der Innenminister verstrickt sind. Der Leser kann hier nur Vermutungen anstellen. Dies betrifft insbesondere auch die für das Ödipus-Motiv zentrale Frage, ob Wallas Duponts Sohn ist. Gestützt wird die These durch den Polizeibericht des übereifrigen Inspektors, der davon ausgeht, Dupont habe einen unehelichen Sohn und dieser sei der Täter (G 201). Kommissar Laurent hingegen hält schon die Existenz dieses Sohnes für zweifelhaft, und auch der Wirt, auf dessen Aussage sich der Polizeibericht stützt, bestätigt diese Existenz auf Nachfrage nicht (G 245f.). Wallas selbst glaubt sich daran zu erinnern, dass es sein Vater war, den er einst als Kind mit seiner Mutter in der Stadt gesucht hatte, stellt die Authentizität dieser Erinnerung jedoch selbst infrage.113 Die subjektiven Einschätzungen der Figuren heben sich also gegenseitig auf. Wallasʼ Verhältnis zu Dupont bleibt eine Leerstelle, die nicht eindeutig gefüllt werden kann. Klar ist hingegen, dass diese Anspielungen gezielt gesetzt sind. Sie sollen ganz bestimmte Interpretationen evozieren, die dann jedoch unbestätigt bleiben oder wieder infrage gestellt werden. An diesen Stellen, an denen immer nur potentieller Sinn entsteht, der sich, kaum gebildet, wieder auflöst, nähert sich der Roman dem offenen Kunstwerk im Sinne Ecos. Er verfügt damit nicht nur über jene grundsätzliche semantische Offenheit, die jedem literarischen Text eignet, sondern weist – zumindest punktuell – strukturelle Leerstellen auf und ist an diesen im modernen Sinne ‚offenʻ. 5.3.6.3 Wiederholungen und Varianten Irritierend ist es für den Leser zudem, wenn dasselbe Ereignis mehrfach erzählt wird, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich würde. Im Dialog zwischen Bona und Garinati lässt sich beispielsweise ab einem bestimmten Punkt keine Chronologie mehr ausmachen, weil sich diverse Gesprächsfragmente in Varianten wiederholen (G 103–105). Wenn sich Sätze wie „N’en parlons plus, puisque tout s’est arrangé“ (G 102 u. 104) oder „Vous l’avez laissé s’échapper. Et vous n’avez pas retrouvé sa trace?“ (G 104 u. 105) wörtlich wiederholen, dann mag sich dies im äußersten 113 Vgl. Kap. 5.2 Der Roman als réécriture von König Ödipus.

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Fall noch damit erklären lassen, dass Bona auf diesen Punkten besonders insistiert. Dies gilt aber nicht mehr für die Stelle, wo Bona Garinati den Zeitungsbericht zum Lesen gibt, denn diesen entscheidenden Moment kann es in der histoire nur einmal geben – er wird jedoch zweimal erzählt. Zunächst heißt es: „Vous ne lisez pas les journaux?“ demande Bona. Il se penche pour chercher quelque chose dans sa serviette. Garinati prend la feuille pliée qu’on lui tend et lit un entrefilet au hasard: „Un cambrioleur audacieux s’est introduit hier à la nuit tombée,…“ Il lit lentement, avec attention; quand il arrive à la fin, il reprend le début pour être sûr de ne rien perdre: „Un cambrioleur audacieux…“ Il lève les yeux sur Bona, qui regarde ailleurs, par-dessus sa tête, sans sourire. (G 103)

Zwei Seiten weiter wiederholt sich die Szene in gekürzter Form: Bona paraît surpris. Il cesse de scruter l’horizon, pour dévisager son interlocuteur. Puis il se penche vers sa serviette, „Vous ne lisez pas les journaux?“ Garinati tend la main sans comprendre. (G 105)

Zu vermuten wäre, dass dasselbe Geschehen einfach zweimal aus unterschiedlicher Figurenperspektive dargestellt wird, einmal aus Bonas, einmal aus Garinatis Sicht (nach Genette wäre dies eine focalisation interne multiple).114 Diese These geht deswegen nicht auf, weil beide Versionen Garinatis Perspektive wiedergeben. Die erste Version zitiert wörtlich, was Garinati lautlos liest (es handelt sich also um seine Wahrnehmung); in der zweiten Version ist durch das Verb paraître Garinatis Außensicht auf Bona markiert, denn nur für Garinati kann Bona überrascht scheinen (für den allwissenden Erzähler müsste er überrascht sein).115 Das Gespräch im Ganzen gibt dagegen keineswegs durchgängig Garinatis Perspektive wieder, sondern weist eine ständig wechselnde Fokalisierung auf.116 Mehr noch, die Fokalisierung ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Der elliptische Satz „Comme on lance un os à un chien“ im folgenden Zitat lässt beispielsweise offen, ob es sich um einen Erzählerkommentar, einen selbstzufriedenen Gedanken Bonas oder eine verbitterte Feststellung Garinatis handelt: Après une pause, Bona ajoute moins sèchement: „C’est quand même toi qui l’as tué.“ Comme on lance un os à un chien. Garinati essaye d’obtenir des explications; il n’est pas convaincu […]. (G 104)

114 Vgl. Genette 1972: 206f. In Les Gommes gibt es mehrere solcher focalisations internes multiples: So wird das Warten in der Bahnhofshalle zunächst aus Dr. Juards, dann aus Wallasʼ Perspektive wiedergegeben (G 208–215 und 228f.); und der finale Showdown wird einmal aus Duponts, einmal aus Wallasʼ Sicht geschildert (G 248–252). 115 Begriffe wie sembler und paraître zeigen einen Wahrnehmungsprozess und damit eine focalisation an. Vgl. dazu auch Genettes Beispiel: „[L]e tintement contre la glace sembla donner à Bond une brusque inspiration“ (Genette 1972: 210). 116 Vgl. dazu exemplarisch folgende Stellen: a) Bonas Perspektive: „Bona ne dit rien. Garinati est encore plus coupable qu’il ne le pensait“ (G 102); b) Garinatis Perspektive: „Il s’arrête, quêtant un encouragement sur le visage fermé de son chef. Pourquoi celui-ci a-t-il abandonné tout à coup le tutoiement dont il usait depuis plusieurs jours?“ (G 103); c) Bonas Perspektive: „Allons, cet homme est fou“ (G 104).

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Die unklare Chronologie und uneindeutige Perspektivierung, die Wiederholungen und Varianten führen an solchen Stellen dazu, dass der Leser Sicherheit und Orientierung verliert. Trotz seiner privilegierten Position, die ihm einen Überblick über sämtliche Figurenperspektiven verleiht, bleiben auch für ihn aufgrund der Uneindeutigkeit des Textes manche Dinge unklar.117 Dies zwingt den Leser, sich Rechenschaft über seine eigene Konstruktionstätigkeit zu geben. Denn jedes Mal, wenn er an eine uneindeutige Stelle gelangt, muss er entscheiden, wie er damit umgeht, sprich: welche Textbedeutung er konstruiert, ob und wie er die Leerstellen füllt bzw. Inkohärenzen auflöst. Vorgeführt wird damit, wie der Leser die Realität der erzählten Welt ausgehend von einer Folge sprachlicher Zeichen selbst (mit)konstruiert. Wie schnell sich Sinn bilden, aber auch wieder auflösen kann, veranschaulicht jene mise en abyme, in der Garinati beim Blick von der Brücke in das im Kanal schwimmende Treibgut nacheinander ein Gesicht, ein Fabelwesen und eine Landkarte von Amerika hineinliest (damit erweist sich Garinati abermals als das Gegenteil eines homme nouveau): Les miettes éparses, les deux bouchons, le petit morceau de bois noirci: on dirait à présent comme une figure humaine […] Ou bien c’est un animal fabuleux […]. Les bouchons et le morceau de bois sont toujours à la même place, mais le visage qu’ils formaient tout à l’heure a disparu complètement. Le monstre vorace aussi. Il ne reste plus, à la surface du canal, qu’une carte vague de l’Amérique; et encore, avec de la bonne volonté. (G 37)

Die Metamorphose ist dabei nicht in den Objekten selbst, sondern im auf sie gerichteten menschlichen Blick begründet (vgl. „on dirait“, „ou bien“, „avec de la bonne volonté“). Zugleich belegt dieses Beispiel, dass der Mensch dazu neigt, selbst kontingente Objektkonstellationen zu lesen, als seien es intentional gesetzte Zeichen und Artefakte. Dass die erzählte Welt (zumindest punktuell) auch für den Leser nicht eindeutig erkennbar ist, zeigt, dass es in Les Gommes um die prinzipielle Unerkennbarkeit der Welt geht. Erst damit kann von einer ‚konstruktivistischen Perspektivierungʻ des Romans gesprochen werden: Die plurale Fokalisierung allein genügt dazu nicht (wie das Beispiel des Briefromans zeigt); und erst recht nicht, wie in der Forschung zu lesen, jede Perspektivierung jenseits der Nullfokalisierung.118 Trotz der genannten Inkohärenzen ist der Verunsicherungseffekt für den Leser in Les Gommes deutlich schwächer ausgeprägt als in späteren Robbe-GrilletRomanen. Dies liegt daran, dass die Unbestimmtheitsstellen nur punktuell auftreten und daher die Kohärenz der histoire noch nicht als Ganzes infrage stellen. Eine Hierarchisierung der Diskurse und Zuordnung der Zeitebenen ist noch möglich, ohne in Aporien zu führen. Die Leerstellen hinterlassen eher offene Fragen (Warum fehlt in Wallasʼ Revolver eine Kugel? Wie ist Wallasʼ Verhältnis zu seinen Eltern? etc.) als Widersprüche oder Inkompatibilitäten. Selbst im Dialog zwi117 Ähnliches stellt Meretoja (2010a: 333) für Dans le labyrinthe fest: Der Leser, „not even knowing what kind of reality he or she is dealing with“, kann vom Erzähler keine Hilfe erwarten und bleibt verunsichert zurück. 118 Vgl. Kap. 3.1 Konstruktivismus und Literatur.

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schen Bona und Garinati bleibt das Ergebnis trotz der seltsamen Wiederholungen dasselbe: Bona ist von Duponts Tod überzeugt, Garinati aufgrund des Zeitungsartikels verwirrt; Bona entzieht Garinati den nächsten Auftragsmord und setzt ihn fortan nur mehr für die Beschattung des Agenten Wallas ein. Und klar ist auch, dass Dupont am Ende durch Wallasʼ Kugel stirbt. In Robbe-Grillets späteren Romanen hingegen werden gerade solche zentralen handlungsrelevanten Fakten in ihrer Faktizität in Zweifel gezogen. Der ‚Todʻ Edouard Mannerets beispielsweise wird in La Maison de rendez-vous (1965) so oft und in immer neuen Varianten erzählt, dass am Ende unklar ist, ob er überhaupt stattgefunden hat. Die Diskontinuität des Textes ist in Les Gommes also insgesamt nicht so radikal, wie beispielsweise Graham Law und B. G. Garnham meinen.119 5.4 DER TEXT ALS KONSTRUKT Der Roman macht auch vielfältige Weise auf seine eigene Textualität bzw. seinen textuellen Konstruktcharakter aufmerksam. Dass dieser Aspekt hier gesondert von dem der ‚Wirklichkeit als Konstruktʻ behandelt wird, bedeutet nicht, dass beides strikt voneinander zu trennen wäre. Im Gegenteil, die Frage nach der Erkennbarkeit der erzählten Wirklichkeit ist, anders als Robbe-Grillet in seiner frühen Theorie suggeriert, untrennbar mit der der Konstruktivität des Textes verknüpft. Denn die erzählte Welt existiert ja erst und ausschließlich durch bzw. in ihrer textuellen Vermittlung. 5.4.1 Intratextuelle Rekurrenzen oder ‚Dramatische Ironie‘ Es gibt in Les Gommes eine Passage, die schon einen Vorgeschmack auf die gesteigerte Radikalität der späteren Romane liefert, das Gespräch der Eisenbahnarbeiter, in dem eine Häufung intratextueller Rekurrenzen auftritt, die histoireintern kaum mehr zu plausibilisieren ist und die den Text als Konstrukt (eines Autors) transparent werden lässt. Während seines Mittagessens im Schnellrestaurant wird Wallas zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen drei Eisenbahnarbeitern (G 161–163). Das Seltsame an dieser Unterhaltung ist, dass sie fast ausschließlich aus Repliken anderer Figuren besteht – Repliken, die die Bahnarbeiter unmöglich kennen können, die aber der Leser als intratextuelle Zitate erkennt. Das Gespräch der Arbeiter beginnt wie folgt: – Quelle heure avez-vous dit qu’il était? – Il devait être aux environs de huit heures, huit heures et demie. – Et il n’y avait personne à cette heure-là? C’est impossible, voyons! Il m’a dit lui-même… – Il a dit ce qu’il a voulu. (G 162)

119 Vgl. Law 1988: 351 und Garnham 1982: 35.

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Zitiert wird mit diesen Sätzen ein Verhör, das Kommissar Laurent zuvor mit dem Händler Marchat geführt hat. Hier zwei Auszüge aus dem Verhör: – Non, Monsieur le Commissaire, il n’y avait personne à cette heure-là. – Tiens? Quelle heure était-il donc? […] – Il devait être aux environs de huit heures, huit heures et demie […]. (G 151) – C’est impossible, voyons! […] – Il m’a dit lui-même… – Il a dit ce qu’il a voulu. (G 154f.)120

Vollends unplausibel wird das Ganze, wenn die Eisenbahner Gespräche zitieren, die erst in der Zukunft stattfinden: – Et la lettre, qu’est-ce que vous en faites? – À mon avis, cette lettre ne prouve rien du tout. – Alors on ne prouvera jamais quoi que ce soit. (G 163)

Diese Sätze nehmen Teile jenes Vier-Augen-Gesprächs vorweg, das Laurent und Wallas erst einige Zeit später im Polizeikommissariat führen werden: – À mon avis, cette lettre ne prouve rien du tout. […] – Alors on ne prouvera jamais quoi que ce soit. (G 168)

Unweigerlich stellt sich daher die Frage, die auch Wallas an anderer Stelle des Romans aufwirft: „D’où sortent donc ces phrases?“ (G 261). Auf diese Weise kommt fast zwangsläufig die textuelle Vermitteltheit in den Blick. Denn zumindest in dieser Häufung können die Rekurrenzen in einem Text (qua bewusst gefertigem Artefakt) kein Zufall sein. Offensichtlich demonstriert hier ein Autor seine Verfügungsgewalt über die von ihm geschaffene Welt. Indem er den Figuren Worte in den Mund legt, die dem Leser als intratextuelle Zitate erscheinen müssen, zeigt er, dass er es ist, der die Fäden in der Hand hält und das Ganze gezielt konstruiert. Erinnert wird damit letztlich daran, dass hinter jedem Text ein Autor als konstruierendes Subjekt steht. Die nur für den Leser erkennbaren intratextuellen Zitate erinnern – kaum zufällig – an die so genannte ‚tragischeʻ bzw. ‚dramatische Ironieʻ im Drama, die ebenfalls auf einer diskrepanten Informiertheit von Figur(en) und Rezipient basiert.121 Dramatische Ironie tritt nach Manfred Pfister „immer dann auf, wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält“.122 Pfister zeigt dies am Beispiel von Macbeth, dessen Eingangsworte „So foul and fair a day I have not seen“ den Zauberspruch der Hexen „Fair is foul, and foul is fair“ zitieren, ohne dass 120 Ebenso findet sich der Ausruf „Ah? Comment le savez-vous?“ (G 162) bereits im Gespräch zwischen Laurent und Marchat (G 154). Und die Frage „Vous ne lisez pas les journaux?“ (G 162) nimmt wörtlich das Gespräch zwischen Bona und Garinati (G 103) bzw. das zwischen Wallas und einer Zeugin (G 111) auf. 121 Pfister 2001a: 88. 122 Ebd.

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Macbeth sich dessen bewusst werden könnte; allein der Zuschauer ist dazu in der Lage.123 Wallas, der sich während des Gesprächs der Eisenbahner ja selbst in der Position des Rezipienten befindet, wird denn auch nicht umsonst beim Zuhören übel. Dies lässt sich als ironischer Kommentar auf die ‚Unverdaulichkeitʻ der gesamten Passage für den Leser verstehen. 5.4.2 Der Konstruktcharakter sprachlicher Bedeutung Die Textualität des Romans kommt ebenfalls in den Blick, wenn auf den Konstruktcharakter von Sprache aufmerksam gemacht wird. Dies geschieht in Les Gommes beispielsweise dann, wenn die Figuren bei der Deutung sprachlicher Artefakte scheitern.124 Bezeichnenderweise erweisen sich dabei schon Gebrauchstexte und Alltagskommunikation als nicht entschlüsselbar. So bleibt u.a. das politische Plakat an der Schulmauer für den Passanten unverständlich. Symptomatisch ist jener zweideutige Satz des Plakattextes „[qui] semble un instant cacher beaucoup de choses, ou rien du tout“ (G 53). Ganz ähnlich ergeht es Wallas mit dem „Avis“ in der Post (G 159) und Dr. Juard mit der orakelhaften Lautsprecherdurchsage im Bahnhof „où le message primitif se perd – transformé en un gigantesque oracle, magnifique, indéchiffrable et terrifiant“ (G 208). Wie Wallas beim Streit der Café-Besucher über die Bedeutung des Begriffs oblique anmerkt, können aber nicht nur Texte und Sätze, sondern bereits einzelne Wörter „plusieurs sens“ haben (G 233).125 Schon diese Beispiele zeigen, dass es ein Dekodieren im Sinne der klassischen Informationstheorie in Bezug auf die menschliche Kommunikation nicht geben kann. Information, Sinn und Bedeutung sind keine materiellen Einheiten, die nur über das Medium transportiert würden, sondern müssen, wie die Konstruktivisten betonen, stets aufs Neue konstruiert werden.126 Besonders offensichtlich wird das Problem sprachlicher Bedeutung, wenn die Figuren versuchen, lückenhafte Texte zu vervollständigen, ihnen dies aber misslingt. Angesichts eines unleserlich geschriebenen Wortes in einem abgefangenen Brief können Laurent und Wallas nur feststellen, dass es sowohl „ellipse“ als auch „éclipse“, „aligne“, „échope“ und „idem“ heißen könnte – „ou encore beaucoup d’autres choses“ (G 170). An anderer Stelle, wo Wallas die Lücke füllt, geht er prompt in die Irre. Die letzten, von Dupont in seinen Unterlagen notierten Worte lauten: „ne peuvent pas empêcher…“, was von Wallas spontan mit „‚la mortʻ évidemment“ ergänzt wird (G 95). Damit tut er zum einen dem Text Unrecht, indem er ihn direkt auf das Leben (bzw. den vermeintlichen Tod) des Autors bezieht. Vorgeführt wird hier sozusagen die biographistische Falle der Textinterpretation. 123 Vgl. ebd. 89. 124 Aber auch bei Bildern zeigt sich das Problem. Das Gemälde mit dem Tarot-Motiv in Duponts Treppenhaus vermögen beispielsweise weder Garinati noch Wallas zu deuten. 125 Wie die ‚Überfunktionalisierungʻ („surfonctionnalisation“) eines einzigen Wortes zur Sinnpluralisierung („accumulation de plusieurs sens“) führen kann, demonstriert auch Kimolatis (2010: 66) an einem Beispielsatz. 126 Vgl. Kap. 2.4.8.1 Sprache, Bedeutung, Kommunikation.

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Zum anderen irrt Wallas freilich mit seiner Unterstellung, dass Dupont seinen Tod bereits erahnte – zumal er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht tot ist. Wieder zeigt sich, dass sich nachträglich alles beweisen lässt: „[O]n peut toujours prouver tout ce qu’on veut“, wie Laurent sagt (G 168). Und ebenso lassen sich, wenn man nur will, alle Lücken füllen. Nur bewiesen ist damit letztlich nichts: „[O]n ne prouvera jamais quoi que ce soit“ (G 168).127 Damit sollte der Leser davor gewarnt sein, die Lücken und Unbestimmtheitsstellen von Les Gommes einfach füllen zu wollen. Beispielsweise ist nicht davon auszugehen, dass die von Wallas gesuchte Radiergummimarke tatsächlich Œdipe heißt.128 Der Text selbst warnt ja ausdrücklich vor der Vervollständigung des lückenhaften Namens.129 Die Fragmentarizität des Wortes („di“) ist ausdrücklich eine „ruse“, mit der Wallas die Verkäuferin täuscht: „[E]n ne donnant que la syllabe centrale de ce nom il interdisait à sa victime [sc. die Verkäuferin] de mettre en doute l’existence de la firme“ (G 133). Wie alle erwähnten lückenhaften, mehrdeutigen oder unverständlichen Sprachkonstruktionen fungiert auch diese Radiergummimarke als mise en abyme der Romanstruktur.130 Der Leser sollte also die punktuelle Fragmentarizität und Offenheit des Textes anerkennen und die entsprechenden Anspielungen auf einen ganz bestimmten Sinn als gezielt gestellte Fallen bzw. ruses erkennen. 5.4.3 Intertextuelle Bezüge und Steigerung der Artifizialität Les Gommes enthält weit mehr intertextuelle Bezüge, als bisher erwähnt. Neben den Rekursen auf Sophokles, Gide, Camus und Ponge gibt es z.B. mit der Rue des Arpenteurs eine Anspielung auf den Landvermesser („arpenteur“) K aus Kafkas Schloß (1926).131 Duponts Haushälterin, Madame Smite, erinnert mit ihren wirren Reden und ihrer deklamierenden Stimme an Madame Smith aus Ionescos La Cantatrice chauve (1950), und nicht umsonst wähnt sich Wallas in ihrer Anwesenheit im Theater (G 91). Der Name Garinati wirkt wie eine Parodie von Moriarty, dem Erzfeind Sherlock Holmesʼ. Der Name Wallas hingegen evoziert den Kriminalautor Edgar Wallace, dessen Kriminalroman The India-Rubber Men (1929) eine weitere potentielle Referenz für die titelgebenden Radiergummis darstellt.132 127 Vgl. dazu Laurents Dialog mit Wallas: „,À mon avis, cette lettre ne prouve rien du tout.ʻ […] ‚Alors on ne prouvera jamais quoi que ce soit.ʻ ‚Maisʻ, fait observer le commissaire, ‚c’est précisément ce que je viens de vous dire.ʻ Comme pour consoler Wallas, il ajoute: ‚Mettons, pour présenter les choses différemment: avec cette lettre, on peut prouver tout ce qu’on veut – on peut toujours prouver tout ce qu’on veut – par exemple, que vous êtes l’assassin‘“ (G 168). 128 Morrissette 1971: 65. 129 Vgl. Kap. 5.2 Der Roman als réécriture von König Ödipus. 130 Houppermans (2010: 94) bekräftigt diese These: „[C]e qui est effacé sur la gomme même pourrait être lu comme mise en abyme du processus de gommage“. 131 Zum intertextuellen Bezug auf Kafka vgl. Karátson 1984: 99f. 132 Vgl. Wallace 1929. – Die Forschungsliteratur hat weitere Intertexte zu Les Gommes herausgearbeitet: Karátson (1984: 99f.) nennt u.a. Kafkas Prozess, Sartres La Nausée (vgl. den

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Zum einen dürfte es Robbe-Grillet mit diesen intertextuellen Bezugnahmen darum gehen, sich in der literarhistorischen Tradition zu positionieren. Manche der zitierten Autoren gelten ihm als Vorbilder (z.B. Kafka), manche dienen ihm zur Abgrenzung oder Überwindung (Sophokles, Gide, Camus, Ponge).133 Gemeinsam haben sie, dass sie als intertextuelle Bezüge dazu beitragen, die Artifizialität des Textes punktuell zu steigern und so den Roman insgesamt als ‚Puzzleʻ oder ‚Mosaikʻ aus älteren Fragmenten und damit als Artefakt transparent zu machen. Intertextuelle (ebenso wie intermediale) Bezüge sind Stellen der Verdichtung, an denen sich die Artifizialität dadurch potenziert, dass ein Artefakt (bzw. Medium) auf ein anderes Bezug nimmt. Der Verweis auf andere Kunstwerke lässt den Roman sozusagen noch konstruierter, noch künstlicher wirken. Zudem lenkt der Verweis den Blick auf das äußere Kommunikationssystem, denn ohne ein hinter dem Text stehendes konstruierendes Subjekt, das die Hypotexte in irgendeiner Form kennt, ist kein intertextueller Bezug denkbar. Die Steigerung der Artifizialität ist bei Robbe-Grillet aber nun kein Selbstzweck. Der Roman soll künstlich und artifiziell erscheinen, um zu zeigen, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt ist (so Robbe-Grillets Programm der fünfziger Jahre). Dabei ist Robbe-Grillet in seiner Romanpraxis der eigenen Theorie einen entscheidenden Schritt voraus. Denn die Artifizialisierung der Romanwirklichkeit durch intertextuelle Bezüge lässt unweigerlich ihre Textualiät in den Blick kommen. Anders gesagt kann der Roman nicht die Wirklichkeit als Konstrukt ausweisen, ohne zugleich seinen eigenen Konstruktcharakter bloßzulegen. Während Robbe-Grillet in seiner zeitgenössischen Theorie noch davon ausgeht, dass der Text der réalité brute Rechnung tragen könne, inszeniert Les Gommes bereits an zahlreichen Stellen den Konstruktcharakter von Sprache und zeigt damit, dass sprachliche Bedeutung die Welt nicht erfassen kann, wie sie ‚wirklichʻ ist. 5.4.3.1 Dramen- und Theaterverweise: Der Roman als Inszenierung Besondere Beachtung verdienen nochmals die Verweise auf Theater und Drama, denn sie konstituieren nicht nur intermediale, sondern auch intertextuelle Bezugnahmen:134 sowohl auf Dramatiker wie Gide und Beckett, als auch auf Balzac, der sich für seinen Romanzyklus ja ebenfalls der Dramenmetapher bedient. Balzac will seine Romane ausdrücklich als ‚Dramenʻ verstanden wissen und nennt seinen Romanzyklus entsprechend nicht nur in Anspielung auf Dante La Comédie hu„crétin d’Antoine“; den Wirt aus La Nausée, der in den Schlaf und das Unbewusste abdriftet, sobald sein Café leer und er alleine ist; die Tomate als Replik auf die Beschreibung des œuf à la russe durch Roquentin) und Camusʼ L’Étranger (Wallas als Meursault). Brock (1983) sieht Les Gommes als eine réécriture von Graham Greenes This Gun for Hire. Dass auch Joyce’ Ulysses Modell gestanden haben könnte, hat Morrissette (1971: 54) angemerkt, und RobbeGrillet hat es bestätigt (vgl. Voyageur [1994]: 290f.). 133 Robbe-Grillet hat sich selbst als „descendant de Kafka“ bezeichnet (Voyageur [1998]: 567). Zu seiner Interpretation von Das Schloß vgl. auch Préface 63–66. 134 Ich gehe bei meiner Definition von Intertextualität von einem engen Textbegriff aus.

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maine.135 Gleich zu Beginn des Père Goriot verkündet der allwissende Erzähler: „[C]e drame n’est ni une fiction, ni un roman. All is true, il est si véritable, que chacun peut en reconnaître les éléments chez soi“.136 Jedoch, so stellt er klar, ist ‚dramatischʻ dabei nicht wörtlich zu verstehen, sondern als etwas, das zu Tränen rührt: „[N]on que cette histoire soit dramatique dans le sens vrai du mot; mais, l’œuvre accomplie, peut-être aura-t-on versé quelques larmes intra muros et extra.“137 Natürlich ist es bezeichnend, dass Balzacs Roman kein „roman“ und sein drame keine „fiction“ sein will, sondern eine wahre Geschichte („All is true“). Der Dramenbegriff wird hier also ganz unmittelbar für den Wirklichkeitsillusionismus in Dienst genommen. Er wird sozusagen zum Substitut für den Wahrheitsbegriff selbst: Wo immer bei Balzac ‚drameʻ steht, klingt fortan ‚véritableʻ mit. Robbe-Grillet hingegen zielt mit seinen Dramenverweisen auf das genaue Gegenteil: auf Desillusionierung. Er betont gerade den fiktionalen Status des Romans, zeigt, dass es sich eben nicht um eine wahre, sondern eine erfundene Geschichte handelt. Dies gelingt ihm dadurch, dass er bei seinen Dramenverweisen auf dem theatralen Inszenierungs- und Aufführungscharakter insistiert. Entsprechend werden in Les Gommes stets die materiellen und medialen Aspekte der Theateraufführung hervorgehoben, z.B. mit Begriffen wie Schauspieler („acteur“), Figur („personnage“), Textbuch („livret“), Bühne („scène“), Bühnenbild („décor“), Leinwand („toile de fond“) und Bühnenarbeiter („machiniste“). Oder es wird, wie durch die Kursivierung im folgenden Satz, der Aufführungsaspekt betont: „C’est ici […] que se joue le drame“ (G 206). Es geht darum, auch den vorliegenden Roman als bloße Inszenierung, als Artefakt, als Text auszuweisen. In Les Gommes prallen nicht einfach zwei literarische Gattungen, Roman und Tragödie, aufeinander, sondern es handelt sich um einen Roman, der sich als Theaterstück, als Tragödie verkleidet. Dieser Akt der ‚Verkleidungʻ wird dem Leser im Incipit sogar direkt vor Augen gestellt: Eingeführt wird der Wirt als erstes als Romanfigur, die dann aber, sobald das Licht angeht, als Schauspieler in der Rolle des Wirts auf der ‚Bühneʻ steht: „Quand tout est prêt, la lumière s’allume… Un gros homme est là debout, le patron“ (G 11). Der patron spielt sich in diesem ‚Stück‘ also sozusagen selbst.138 Im Theater – genauer: im modernen Theater – findet Robbe-Grillet auch hinsichtlich der Selbstausweisung der Fiktion als Fiktion ein Vorbild. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Gide für ein nichtillusionistisches Theater plädiert.139 Und seinen Ödipus lässt er gleich mit dem ersten Satz die theatrale Illusion brechen: „Me voici tout présent, complet en cet instant de la durée éternelle; 135 136 137 138

Dieser Balzac-Bezug ist in der Forschungsliteratur bisher nicht beachtet worden. Balzac 1976: 50. Ebd. 49. Das ‚Stückʻ ist fiktionsintern freilich keine Theateraufführung, sondern wird durch die erzählerische Vermittlung nur als solche metaphorisiert. 139 Gide schreibt bereits 1904, der Theaterkünstler solle „nous donner son œuvre pour une œuvre, son drame pour un drame, simplement – et non courir après une illusion de réalité qui, lors même qu’elle serait obtenue, ne servirait qu’à faire avec la réalité pléonasme“ (Gide 1963: 147). Vgl. dazu auch Genova 1995: 117.

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pareil à quelqu’un qui s’avancerait sur le devant d’un théâtre et qui dirait: Je suis Œdipe.“140 Als Robbe-Grillet in den fünfziger Jahren die Revolution des Romans unternimmt, so tut er es aus der Überzeugung heraus, dass der Roman zu dieser Zeit die rückständigste aller literarischen Gattungen ist. Dem Theater hingegen sei die Wende zum Zeitgemäßen bereits gelungen.141 Zeitgemäß, das heißt für RobbeGrillet, die ‚reine Präsenzʻ zu inszenieren, das être-là von Mensch und Welt. Auch deswegen liegt der Rekurs auf Gides Ödipus nahe, stellt dieser sich doch als „tout présent“ vor. Robbe-Grillets großes Vorbild aber ist Samuel Beckett, denn ihm gelinge es, die reine „présence sur la scène“ zu zeigen.142 So etwa in En attendant Godot (1952), wo die Protagonisten Didi und Gogo, wie Robbe-Grillet formuliert, ‚nichts tunʻ, außer ‚daʻ zu sein. Es sind zwei Wesen qui ne font rien, qui ne disent à peu près rien, qui n’ont d’autre qualité que d’être présents. […] [I]ls refusent […] toute autre signification que la plus banale, la plus immédiate: ce sont des hommes. Et leur situation se résume en ce simple constat au-delà duquel il ne paraît pas possible de progresser: ils sont là, ils sont sur la scène.143

Nach diesem Muster setzt Robbe-Grillet seine Figuren in Les Gommes in Szene. Der Wirt ist als erstes ebenfalls nur da, „là debout“. Und genauso gestaltet sich der jeweils erste Auftritt von Garinati, Wallas und Bona. Alle drei stehen oder sitzen da, und alle warten (so wie Didi und Gogo auf Godot warten): Garinati ist „un type debout qui attend“ (G 14); Wallas „s’adosse au garde-fou, à l’entrée du pont. […] il reste là, accroché à sa rampe de fer“ (G 45); Bona „est assis sur une chaise de jardin, au milieu d’une pièce vide. […] Il attend, immobile“ (G 100f.). Damit prallen in Les Gommes nicht nur zwei Gattungen (Roman und Tragödie), sondern auch zwei Dramenmodelle aufeinander: klassische Tragödie versus modernes bzw. Absurdes Theater. Dabei trägt auch der Bezug auf das moderne Theater dazu bei, das oberflächliche Erscheinungsbild als Tragödie zu unterminieren. Die Dramen- und Theaterverweise in Les Gommes sind also keineswegs zu vernachlässigen, sondern essentiell für Robbe-Grillets Programm der scharfen Kontrastierung einer traditionellen und einer modernen Literatur.144 5.4.3.2 Balzac-Pastiches und antirealistische Romanästhetik Nach dem gleichen Muster der Kontrastierung werden in Les Gommes auch zwei Romanästhetiken gegenübergestellt: realistischer Roman à la Balzac versus Nouveau Roman. Dazu werden zunächst einige Balzac-Pastiches als Folie eingezogen: 140 Gide 2007: 138. 141 Vgl. PNR [1953/57]: 98f. 142 So Robbe-Grillets gleichnamiger Essay: „Samuel Beckett ou la présence sur la scène“ (PNR [1953/57]: 95–107). 143 Ebd. 97f. 144 Zu kurz greifen daher Forschungspositionen, die meinen, in Les Gommes werde mehr auf den Ödipus-Mythos als auf Sophoklesʼ Tragödie Bezug genommen, und die in diesem Zuge die Dramen-, Theater- und Tragödienverweise ausblenden (so etwa Valette 2010: 88).

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etwa die einleitende Beschreibung des Café des Alliés, der Rue des Arpenteurs, des Stadtviertels, der Stadt und der Mentalität ihrer Bewohner (G 18f.).145 Und als Wallas sich an anderer Stelle ein heruntergekommenes Interieur mit vergilbten Wandbehängen und alten Fotografien vorstellt, zieht dies folgenden Kommentar im style balzacien nach sich: [C]hacun connaît ces tableaux de maîtres qui éclatent d’un seul coup avec un bruit sinistre, ces portraits d’ancêtres qui se mettent brusquement à loucher, créant au sein d’une famille cette impression de trouble dont les conséquences fatales sont l’insatisfaction, la mauvaise humeur, les disputes, la maladie, la mort… (G 109)

An Balzac erinnert diese Passage nicht zuletzt aufgrund des typisierenden Deiktikums in „chacun connaît ces tableaux de maîtres qui […]“. Wie Rainer Warning gezeigt hat, pflegt der Balzac’sche Erzähler mit solchen typisierenden Deiktika ein Rezeptwissen, eine communis opinio abzurufen, die der Kontingenzbewältigung dient.146 Robbe-Grillet geht es freilich darum, genau diese Kontingenzbewältigung als bloßes Sicherheitsdenken zu denunzieren. Deswegen kaschiert seine Balzac-Hommage auch kaum, dass es sich bei ihr im Grunde um eine Abrechnung handelt: Balzac selbst zählt zu jenen ‚alten Meisternʻ, die hier aufs Korn genommen werden und deren Anblick beim heutigen Betrachter Übelkeit auslöst. Das Schielen der alten Meister wird man dabei als Spitze gegen die nach RobbeGrillets Meinung verzerrte Weltsicht der ancêtres verstehen dürfen. Auch das schon erwähnte Schaufenster der Papeterie veranschaulicht RobbeGrillets Realismuskritik, denn es bildet nicht nur eine mise en abyme des Umgangs mit Sophoklesʼ Prätext, sondern auch mit den ‚Meisternʻ des Realismus. Schon der Name „Papeterie Victor Hugo“, der mit dem „style ultra-moderne“ des Ladens kontrastiert, verweist darauf, dass das 19. Jahrhundert als Folie mitzudenken ist (G 130). Genau wie die Zeichnung im Schaufenster wirkt auch Les Gommes zunächst wie eine „copie de maître“, die in vermeintlich ‚realistischerʻ Manier, mit großer „finesse“ und „avec un rare souci de détail“, gearbeitet ist (G 131). In beiden Fällen erweist sich dieser Realismus als trügerisch: Sowohl Zeichnung als auch Roman basieren auf Vorlagen, die erstens ihre genaue „négation“ (G 131) darstellen und zweitens selbst bloß Artefakte (eine Fotografie bzw. ein Theaterstück), also nicht die Wirklichkeit, sind. Robbe-Grillets Distanzierung vom Balzac’schen Roman zeigt sich auch am Gebrauch historischer Eigennamen, die, wie Warning festgestellt hat, bei Balzac dazu beitragen, die Fortsetzung der Wirklichkeit im Roman „über die Fiktionsschwelle hinweg“ zu suggerieren.147 Von Robbe-Grillet werden diese traditionellen Authentizitätsmarker in ihr Gegenteil verkehrt und desillusionierend gebraucht. Der Gangsterboss Bona heißt mit vollem Namen Jean Bonaventure und trägt damit den französierten Namen des Heiligen und Kirchenlehrers Giovanni 145 Vgl. dazu eine typisch Balzac’sche Beschreibung wie die der Maison Vauquer, ihrer Bewohner und ihres quartier parisien in Le Père Goriot (Balzac 1976: 50ff.). 146 Vgl. Warning 1980: 40 und 42. Warnings Beispiel für ein typisisierendes Deiktikum lautet: „un de ces gens qui…“ (ebd. 40). 147 Warning 1999a: 77.

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Fidanza, genannt Bonaventura (1221–74).148 Diese Namensgebung kann als satirische Spitze gegen die Verbrechen der katholischen Kirche unter dem Banner der Inquisition gelesen werden. Vor allem aber relativiert sie die klare Unterscheidung von Gut und Böse, wie sie traditionell im Kriminalroman üblich ist.149 Nicht nur der Spitzname Bona (,der Guteʻ), sondern auch Jean Bonaventure ist ein sprechender Name (und damit ein weiterer Dramenverweis): dire la bonne aventure heißt wörtlich ‚die Zukunft vorhersagenʻ, und Bona erhält nicht zufällig eine Orakelfunktion und wird so zu einem weiteren Ödipus-Verweis.150 Zudem birgt der Name Bonaventure einen metanarrativen clin d’œil. Er erinnert daran, dass dem Leser hier eine ‚hübsche Geschichteʻ, eine bonne aventure, erzählt wird. Der (historische) Name Jean Bonaventure bündelt mithin eine ganze Reihe von Verweisen, die gerade in dieser Fülle desillusionierend wirken. Derartige Bündelungen von (Artefakt-)Verweisen werden sich, wie spätere Romane zeigen, als typisch für Robbe-Grillets Ästhetik erweisen. Man findet sie insbesondere in den Ödipus-, aber auch den Tarot-Motiven. Sie alle erscheinen bereits in der histoire in künstlerisch ‚verarbeiteterʻ Form, d.h. als Artefakte: Das Hirtenmotiv ist eine Vorhangstickerei, der char grec eine Bronzestatue; Apollo und Teiresias sind Statuetten und die Tarotmotive ein Gemälde bzw. Geländerknauf. Sie sind nicht nur Zitat, sondern Zitat eines Zitats. Es sind nicht zuletzt diese potenzierten Artefaktverweise, die die Ödipusbezüge so künstlich wirken lassen, also für den Roman eine nochmalige Steigerung der Artifizialität bewirken.151 Hier deutet sich ein geradezu postmodernes Verweissystem an, das die Idee des Ursprünglichen, Eigentlichen und Wesentlichen ad absurdum führt, weil immer schon alles Zitat ist. Das Verweisnetzwerk erinnert daran, wie sehr die moderne Kultur und Lebenswelt von alten wie modernen Mythen, von Traditionen und Konventionen durchdrungen ist. Allerdings lösen sich die Grenzen des Einzeltexts in Les Gommes nicht völlig im Netz der Intertextualität auf, vielmehr ist das Alte noch als Palimpsest, oder, wie Robbe-Grillet sagt, als ‚Ruineʻ zu erkennen.152 Robbe-Grillets Umgang mit der Tradition erweist sich als postmodern avant la lettre. Frei, spielerisch und mit einer gewissen Respektlosigkeit gegen148 Bonaventura wählte diesen Namen angeblich aufgrund von Franz von Assisis Ausruf „O buona ventura!“, mit dem dieser seiner Freude über Giovannis Genesung von schwerer Krankheit Ausdruck verliehen haben soll. Vgl. das Lemma „Bonaventura“ in Stadler/Heim 1975, Bd. I: 496–498. 149 Auch andere Stellen des Romans unterminieren die Grenze zwischen Bösen und Guten. Symptomatisch ist hierfür der Zustand der Polizei, wie ihn Kommissar Laurent beschreibt: „Chez nous, entre le policier intègre et le criminel, on rencontre tous les intermédiaires. C’est sur eux que repose notre système“ (G 72). 150 In dieser Orakelfunktion prophezeit Bona: „Ce soir […] un crime identique viendra donner l’écho à ce scandale“ (G 102). Diesen Ödipus-Verweis hat Robbe-Grillet später weiter ausgeführt: Bona trage Züge Apolls, der in König Ödipus das Gute verkörpere (vgl. Dällenbach 1976: 133 und 167). Damit wird zugleich Bonas Etikett ‚des Gutenʻ bekräftigt. 151 Im Vergleich zu späteren Robbe-Grillet-Romanen ist der Gebrauch derartiger Zitate in Les Gommes allerdings noch nicht inflationär. Dass die Ödipus-Anspielungen artifiziell wirken, hat schon Astier (1978: 87) angemerkt. 152 Zu Robbe-Grillets Idee vom ‚Schreiben auf Ruinenʻ vgl. Préface 39–46.

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über Autoritäten nimmt er Versatzstücke des Überlieferten, modifiziert oder transformiert sie für seine Zwecke und integriert sie zu etwas Neuem. Er demonstriert damit, dass der Mensch frei ist, mit den Konstrukten der Vergangenheit zu verfahren, wie es ihm richtig erscheint, sie zu hinterfragen, zu verändern oder zu verwerfen. Olga Bernal bemerkt zu Recht, dass Les Gommes den traditionellen Roman und die Tragödie als „construction-explication de l’univers“ denunziert. Irreführend ist jedoch, dass sie Robbe-Grillets ‚neuen Romanʻ im Gegenzug als „accident“ bezeichnet, denn dies suggeriert, dass er ein Produkt des Zufalls sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wie jeder Roman ist auch der ‚neue Romanʻ ein Konstrukt. Der Unterschied zum traditionellen Roman ist bloß, dass er sich als konstruiert zu erkennen gibt. Insofern formuliert Ann Jefferson für Les Gommes zu Recht: „Artifice is everywhere and we see that everything is construction.“153 Hinzuzufügen ist, dass die ausgesprochene Artifizialität, mit der Les Gommes auf den Plan tritt, keine bloße Rückprojektion aus heutiger Sicht darstellt, sondern bereits der zeitgenössischen Leserschaft aufgefallen ist, denn wiederholt wird der Roman in frühen Rezensionen als „machine“ und Robbe-Grillet als ihr „constructeur“ bezeichnet.154 5.4.4 Vorführen des kreativen Schaffensprozesses Der Text selbst führt schließlich in einer mise en abyme den Schaffensprozess vor, in dem ein (literarisches) Kunstwerk entsteht.155 An der Stelle, um die es geht, reiht die Hand eines anonymen Arrangeurs (später als Garinati identifizierbar) diverse Objekte (Tabakdose, Aschenbecher, Kerzenständer, Apollo- und Teiresias-Figuren) vor einem Spiegel auf („aligne“), ändert dann aber die Reihenfolge des „ouvrage“ so lange, bis der Arrangeur zufrieden ist (G 217). Gezeigt wird dabei der kreative Prozess also nicht als unbewusst ablaufender Inspirationsakt, sondern als durchdachtes Komponieren, handwerkliche Tätigkeit bzw. ‚perfektes Arrangierenʻ. Übertragen auf den Text des Romans, erscheint auch dieser als Arrangement aus Mythendarstellungen, ‚harmlosenʻ Alltagsgegenständen, Doppelungen und Spiegelungen. Die anonyme Hand mutiert hier zur Hand des Schriftstellers, der als unsichtbare Größe hinter dem Text ‚die Feder führtʻ und Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort aneinander reiht (aligner im wörtlichen Sinne). So erinnert Les Gommes nochmals daran, dass hinter jedem Text, hinter jedem fiction making ein konstruierendes Subjekt steht. 153 Jefferson 1980: 30; Herv. C. S. 154 Peuchmaurd (2005: 65) spricht von Les Gommes als „admirable machine montée par Alain Robbe-Grillet, constructeur minutieux“. Der anonyme Rezensent des Observateur vom 28.5.1953 sieht Robbe-Grillet „construire sa machine, une belle ingéniosité“ (Lambert 2005: 74). Guette (alias Maurice Nadeau) meint: „la Machine est belle. Elle tourne presque sans grincer“ (Guette 2005: 75). Lesort (2005: 85) sieht eine „admirable mécanique“ am Werk. 155 „Les Gommes is clearly a work which examines the process of writing a novel“, notiert auch Garnham (1982: 31).

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Nun bleibt zu diskutieren, ob dieses konstruierende Subjekt, wie manche Interpreten meinen, in Les Gommes in der Figur des Wirts inszeniert wird.156 Die Geschichte des Agenten Wallas wäre dann nur ein Produkt der Phantasie des Wirts. Zunächst lässt sich feststellen, dass dem Wirt in der Tat eine Sonderrolle unter den Figuren zukommt. Als einziger tritt er bereits vor Beginn der ‚Theatervorstellungʻ auf, ist also auch Teil des ‚theatralen Rahmensʻ: Er richtet zunächst wie ein Bühnenarbeiter das Café als ‚Szeneʻ her und schlüpft dann, wie ein Schauspieler, in die Rolle des patron. In der Mitte des Romans (Kapitel II,5) gibt es dann eine Art Theaterpause, in der der Wirt wie ein Theaterbesucher das zuvor ‚Geseheneʻ (bzw. Erzählte) Revue passieren lässt:157 Er vergegenwärtigt sich die zentrale Figurenkonstellation und schwelgt erneut in Erinnerungen (G 126f.). Schließlich endet der Roman, wie er begonnen hatte, mit dem Wirt „immobile à son poste“, „le regard vide“, umringt vom Reigen seiner Gespenster: „Autour de lui les spectres familiers dansent la valse“ (G 264). Der Wirt scheint also eine Art Mittlerfunktion zwischen Rahmen- und Binnengeschichte einzunehmen. Er ist ein Wandler zwischen den Welten und kommt insofern tatsächlich als Erfinder oder Organisator der Binnengeschichte in Betracht. Dafür spricht auch, dass das ganze ‚Schauspielʻ mit den alptraumhaften Erinnerungen des Wirts eröffnet wird, mit seinen Gespenstern der Vergangenheit, die ihn im Morgengrauen beim Aufräumen des Cafés heimsuchen (G 15f.) – ganz so, als seien diese die Keimzelle, aus der die Geschichte nach und nach erwächst.158 Gegen diese These spricht allerdings, dass das Ende der gespenstischen Visionen klar markiert ist, z.B. wenn der Wirt aus seinem Alptraum gerissen wird: „Le patron s’est retourné, tiré du cauchemar par son propre cri“ (G 16). Was darauf folgt, ist also (im Rahmen der Diegese) reales, kein geträumtes Geschehen. Ähnlich ambivalent gestaltet sich der entracte, wo die Formulierung offenlässt, ob es sich bei den Romanfiguren (der Betrunkene, Bona und Garinati) nicht bloß um weitere Gespenster und Phantasmen des Wirts handelt: De nouveau tout est calme… Jusqu’à ce que, soudain, une nouvelle forme émerge et vienne coller contre la vitre son visage de rêve… Pauline, la douce Pauline… qui, à peine entrevu, disparaît à son tour pour laisser la place à d’autres spectres et fantasmes. L’ivrogne compose une devinette. Un homme aux lèvres minces, au pardessus étroitement boutonné jusqu’au col, attend sur sa chaise au milieu d’une pièce nue. […] Il s’apprête à recevoir une visite […]. Garinati […] n’a même pas été capable d’éteindre la lumière. (G 126f.; Herv. C. S.) 156 Vgl. Deneau (1981: 7): „le patron – the arranger of the tale, the impresario, the inventor“. 157 Eingeläutet wird dieser entracte am Ende von Kapitel II,4 durch die Bemerkung „La scène sera terminée“ (G 126), sein Ende wird durch Wallasʼ Rückkehr auf die Bühne signalisiert, die den Wirt aus den Gedanken reißt: „D’ailleurs Wallas a déjà quitté le petit café pour rentrer en scène…“ (G 127). – Deneau (1981: 8) insistiert zwar, man müsse diesem Intermezzo in der Mitte des Romans Beachtung schenken, beschränkt sich dann jedoch auf die Feststellung, Paulines Erwähnung bringe die Erzählung momentan durcheinander („disorders the central narrative“). 158 Deneau (1981: 7) beschreibt dies so, dass der Wirt in seinem ‚Aquariumʻ auftaucht („le patron émerge“, G 12) und zufällig umherschwimmende Brocken herausfischt, die sich dann zu einem Text fügen: „Immediately theses ‚snatchesʻ or thoughts begin to be recorded and to form the tentative beginnings of a text.“

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Gegen die These, dass der Wirt die Figuren bloß erfindet, spricht allerdings, dass er sich anschließend fragt, ob er Wallas über Garinatis morgendlichen Besuch im Café informieren soll: „[L]e patron se demande s’il doit mettre Wallas au courant de cette visite“ (G 127). Fiktive Figuren lassen sich nicht ‚in Kenntnis setzenʻ – es sei denn, man versteht darunter, dass der Wirt, als Hervorbringer der Geschichte, den Informationsstand seiner Figuren reguliert. Damit würde erneut an das gestaltende Subjekt hinter der Geschichte erinnert. Nicht zuletzt würde dies RobbeGrillets theoretische Position illustrieren, derzufolge der Mensch die Welt um sich herum in Traum, Erinnerung und Imagination permanent ‚erfindetʻ, also konstruiert. Der Wirt würde dann die sich anschließende Agentengeschichte (G 18ff.) nur imaginieren – ausgehend von ein paar Fakten (ein fremder Gast hat Quartier bezogen; ein Mann erkundigt sich nach ihm; die Nachricht vom gewaltsamen Tod Duponts trifft ein; der Betrunkene stellt Rätsel etc.) und einigen Erinnerungsfetzen (etwa an den Tod Paulines). Ob der Wirt tatsächlich der Hervorbringer der Geschichte ist, bleibt, wie manches andere in Les Gommes auch, offen. Mag die These auch in gewisser Hinsicht plausibel sein – endgültig bestätigen lässt sie sich nicht. 5.5 DIE KONSTRUKTION DES ICH IM SPIEGEL Die ‚Gespensterʻ des Wirts sind unter einem weiteren Aspekt interessant. An der Szene, in der der Wirt, noch im Halbschlaf, sein Gesicht im Spiegel betrachtet und sich selbst wiederzuerkennen versucht („le patron, cherchant à se reconnaître“, G 11), lässt sich bereits in Ansätzen eine konstruktivistische Neukonzeption des Ich ablesen. Die Szene ruft zunächst Lacans Idee vom „Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ auf.159 Wie bei Lacan erscheint das Ich hier als ein Anderer, als fragmentiertes Konstrukt des Subjekts, das keine einheitliche oder stabile Identität aufweist, sondern diese erst erschaffen muss. Was dem Wirt aus dem Spiegel entgegenblickt, sind eine Reihe von ‚Schattenʻ seiner selbst („la kyrielle indéfinie des ombres“, G 12), eine Vielzahl teilweise ineinander gespiegelter Spiegelbilder. Das ‚kranke Bildʻ des Wirts zeigt sich als erstes in dem über der Bar hängenden Spiegel: „Au-dessus du bar, la longue glace où flotte une image malade, le patron, verdâtre et les traits brouillés, hépatique et gras dans son aquarium“ (G 11f.). Dann reflektiert sich dieses Spiegelbild in der Fensterscheibe („derrière la vitre, le patron encore qui se dissout lentement dans le petit jour de la rue“, G 12). Und diese Reflexion spiegelt sich wiederum im Spiegel über der Bar: Dans le miroir tremblote, déjà presque entièrement décomposé, le reflet de ce fantôme; et audelà, de plus en plus hésitante, la kyrielle indéfinie des ombres: le patron, le patron, le patron… Le Patron, nébuleuse triste, noyé dans son halo. (G 12)

Schon dieses pluralisierte Spiegelbild und die verschwommenen Züge sind bezeichnend, veranschaulichen sie doch die Fragmentierung und Dekomposition des 159 So die dt. Übersetzung von „Le stade du miroir comme formation de la fonction du Je“.

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modernen Subjekts als sujet dispersé. Sehr deutlich wird die Konstruktion des Ich als einem Anderen, wenn sich das Spiegelbild des Wirts allmählich, über diverse Grimassen, zum Bild Paulines transformiert: La douce Pauline, morte d’étrange façon, il y a bien longtemps. Étrange? Le patron se penche vers la glace. Que voyez-vous donc là d’étrange? Une contraction malveillante déforme progressivement son visage. La mort n’est-elle pas toujours étrange? La grimace s’accentue, se fige en un masque de gargouille, qui reste un moment se contempler. Ensuite un œil se ferme, la bouche se tord, un côté de la face se crispe, un monstre encore plus ignoble apparaît pour se dissoudre lui-même aussitôt, laissant la place à une image tranquille et presque souriante. Les yeux de Pauline. (G 15f.)

Außer seinem eigenen Bild erblickt der Wirt im Spiegel also auch die Schatten der Vergangenheit, zu denen Pauline offenbar gehört. Diese vertrauten Gespenster („spectres familiers“), die alptraumhaft („cauchemar“) aus dem Unbewussten aufsteigen, sind der Abfall von fünfzig Jahren schlecht verdauter Existenz („le rebut de cinquante années d’existence mal digérée“, G 16). Sie erinnern den Wirt an die dunklen Flecken seiner Vergangenheit („taches […] noires“, G 15), von denen suggeriert wird, dass sie mit dem seltsamen Tod der ‚süßen Paulineʻ zusammenhängen könnten. Jedenfalls muss der Wirt diese nächtlichen Gespenster erst verscheuchen, bevor er seine stabile Tages-Identität wiedererlangen kann, muss sein Ich erst aus dem Schattenreich des Unbewussten herauslösen.160 Das Ich erscheint hier als ein Produkt des Bewusstseins, welches erst unter Ausschluss bzw. Zurückdrängung des Unbewussten zustande kommt. Die Identitätsstiftung verläuft dabei nicht zuletzt über den Eigennamen (bzw. hier über die Berufsbezeichnung). Mit seiner Hilfe versichert der Wirt sich, auch anderen gegenüber, seiner Identität. Das anfänglich noch diffuse „le patron, le patron, le patron…“ (G 12) wird später zu einem affirmativen „Le patron, c’est moi“ (G 245 u. 263). Am Ende des Romans verläuft der Prozess dann umgekehrt, die Identität löst sich wieder auf: „Le patron, c’est moi. Le patron c’est moi. Le patron c’est moi le patron… le patron… le patron…“ (G 263). Dies kann man als Zeichen dafür lesen, dass Identität nichts Statisches ist, sondern etwas, das permanent neu gebildet werden muss und sich jederzeit wieder auflösen kann. Instabil zeigt sich auch die Identität von Wallas, die sich zeitweise der von Garinati bzw. André VS annähert; am Ende jedoch gewinnt sie ihre ursprüngliche Stabilität zurück. Noch einmal ist auf die Rolle des Unbewussten in der Spiegelbild-Szene zurückzukommen. Laut Lacan manifestieren sich im Spiegelbild psychische Realitäten.161 Entsprechend gestaltet sich die Verdrängung der „spectres […] tenaces“ (G 15) für den Wirt schwierig. Er versucht sie zu verjagen, stößt jedoch auf Schritt und Tritt wieder auf sie: „Il veut les chasser d’un geste, mais en vain; à chaque pas il s’y bute“ (G 15). In dieser Formulierung deutet sich bereits Robbe160 Friede (2003: 186f.) hat das Spiegel-Aquarium des Wirts auch als Reich des Unbewussten interpretiert; Hintergrund sei das symbolistische Bild des Seelen-Aquariums (markiert durch das Signalwort „glauque“). 161 Lacan (1971: 92) spricht vom „rôle de l’appareil du miroir dans les apparitions du double où se manifestent des réalités psychiques“.

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Grillets spätere Lacan-Interpretation an, in der er das Reale als das definiert, wogegen man ‚stoßeʻ (buter).162 Das Unbewusste ist für Robbe-Grillet – wie die ontische Wirklichkeit – das Unfassbare, Ungreifbare, das gleichwohl omnipräsent ist und alles strukturiert. Mit anderen Worten, dargestellt wird nicht das Unbewusste an sich, sondern nur das, was (daraus) an die Oberfläche, d.h. zu Bewusstsein kommt. Passend dazu ist die Rede davon, dass zwischen den Strömungen des Bewusstseins nur ‚unbestimmte Massen‘ vorbeiziehen, nicht greifbar und möglicherweise nur ‚Löcherʻ: „Entre deux eaux des masses incertaines passent, hors d’atteinte; ou bien ce sont des trous tout simplement“ (G 12). Das Unbewusste erscheint also als Leerstelle im Bewusstsein, eine Leerstelle freilich, die als solche zu Projektionen des Bewusstseins geradezu einlädt. Abschließend sei noch kurz die Psychoanalyse erwähnt, auf die in der Szene mit der ‚schlecht verdautenʻ Vergangenheit angespielt wird. Sie wird bei genauerem Hinsehen als Deutungsraster dekonstruiert, erscheint als eine Art Maschinerie zur Produktion omnipräsenter ‚moderner Mythenʻ (im Sinne Barthesʼ).163 Diese Dekonstruktion erfolgt abermals durch unbestätigte Suggestionen. So wird beispielsweise nicht gesagt, woher die ‚schwarzen Fleckenʻ der Vergangenheit des patron rühren. Dass sie mit dem Tod der süßen Pauline zu tun haben, wird nur suggeriert, nicht aber bestätigt. Ähnlich vage wird evoziert, dass die Praktiken des Dr. Juard und die Absichten seiner Patienten unmoralisch sein könnten (G 85 u. 92). Suggeriert wird zudem eine Irritation auf Seiten Wallasʼ, wenn er attraktiven Frauen begegnet (G 65f. u. 187). Es ist aber nun gerade das Unbestätigte an all diesen Anspielungen, das den Leser darauf aufmerksam macht, dass schon einige gezielte Schlagwörter genügen, um psychoanalytische Erklärungsmuster aufzurufen. Diese durchdringen als ‚moderne Mythenʻ sowohl die Wissenschaft als auch die Populärkultur des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund relativiert sich denn auch Robbe-Grillets Aussage, es sei ihm in Les Gommes nicht um den psychoanalytischen Ödipus-Komplex, sondern ausschließlich um den antiken ÖdipusMythos gegangen. Wie neuere soziologische und kulturwissenschaftliche Studien belegen, war es schon in den fünfziger Jahren nahezu unmöglich, mit der Erwähnung des mythologischen Ödipus nicht zugleich auch Freuds gleichnamigen Komplex aufzurufen.164 Der ‚therapeutische Diskursʻ hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt nach Ende des zweiten Weltkriegs Eingang in die unterschiedlichsten Lebensbereiche westlicher Staaten gefunden, von der Wirtschafts- und Unternehmenskultur bis hin zur Populärkultur.165 162 Vgl. Kap. 4.4.1 Literatur als philosophisches und wissenschaftliches Projekt. 163 Vgl. Barthes 1957. 164 Rudel (2005: 71) spricht schon 1953 von „Wallas, élève de M. Freud“. Später vertritt u.a. Karátson (1984: 95–97) die Auffassung, dass Freuds Ödipus-Komplex in Les Gommes (zumindest auch) evoziert werde. Morrissette (1971: 54) meint zu Recht, dass, obgleich der Komplex selbst fehle, der Roman doch immerhin auf Unbewusstes und Bewusstes anspiele („si le complexe fait défaut, l’œuvre […] fai[t] appel aux forces psychologiques inconscientes aussi bien que conscientes“). 165 Zur raschen Ausbreitung des ‚therapeutischen Diskursesʻ vgl. Illouz 2007: 14–68 sowie Illouz 2009: 45–104.

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5.6 ZUSAMMENFASSUNG (LES GOMMES) Wie die Textanalyse gezeigt hat, ist Robbe-Grillets Debütroman weder als traditioneller (Kriminal-)Roman zu werten, noch handelt es sich um einen Text, der radikal mit der gesamten erzählerischen Tradition bricht. Der Roman verortet sich selbst sehr präzise im literarhistorischen Kontext, indem er sich von bestimmten literarischen Vorbildern abgrenzt (Tragödie, Balzac’scher Roman), anderen hingegen (Absurdes Theater, Flaubert u.a.) annähert. Die Abgrenzung und Überwindung bestimmter Traditionen erfolgt dabei durch die – letztlich auf allen Ebenen zu beobachtende – Doppelstrategie von hommage und destruction, bei der die zu überwindenden Elemente als Folie in den Roman integriert und dann, im Kontrast mit alternativen Konzepten, dekonstruiert werden. Entsprechend geht es, wenn Les Gommes Sophoklesʼ König Ödipus evoziert, keineswegs um die schlichte ‚Aktualisierung des antiken Prätextesʻ,166 sondern um die Subversion der Tragödie als Inbegriff eines deterministisch-fatalistischen sowie anthropozentrischen Weltbildes. In dem Maße wie sich dieses Weltbild in Les Gommes als veraltet und brüchig erweist und durch ein neues, antideterministisches abgelöst wird (wobei sich die göttliche in eine selbsterfüllende Prophezeiung transformiert), wird die Tragödienform als rein äußerlich ersichtlich und erweist sich als von einem Absurden Theaterstück unterminiert: Der Roman inszeniert eine Tragödie, die keine mehr ist, ein Stück, in dem die Figuren nur noch ‚daʻ sind und unter den Prämissen Einstein’scher Physik und existentialistischer Freiheit ihre höchst individuellen Wirklichkeiten konstruieren. Besonders aufschlussreich ist die in der Forschung bislang unbeachtet gebliebene réécriture von Camusʼ L’Étranger. Sie zeigt, dass es Robbe-Grillet in Les Gommes gezielt um die Korrektur eines noch im 20. Jahrhundert wirkmächtigen Fatalismus-Determinismus-Glaubens und insofern um ein philosophisches Problem geht: Anders als Meursault kann Garinati die Schuld für sein Fehlhandeln nicht mehr auf die Objektwelt abwälzen. Auch der Balzac’sche Roman und der Kriminalroman dienen als Folien: Bei ihnen sind es die These der Entzifferbarkeit der Welt und der Anspruch auf Enthüllung der Wahrheit, an denen sich RobbeGrillet reibt und die er in Les Gommes in ihr Gegenteil, die Verweigerung von Wahrheit und eindeutigem Sinn, verkehrt. Dass es Robbe-Grillet in Les Gommes zentral um eine epistemologische Kritik geht, zeigt sich ebenfalls daran, dass das Weltbild der Newton’schen Physik (u.a. bei Garinatis Weg durch Duponts Haus) wiederholt dekonstruiert wird, indem die traditionellen Vorstellungen von Zeit, Raum und Kausalität mit den neuen Konzepten der Einstein’schen Physik kontrastiert werden. Bezeichnenderweise wird dabei nicht nur die alte, ‚ideale Ordnungʻ als menschliches Konstrukt entlarvt, sondern auch das neue Einstein’sche Weltbild als bloßes Modell (also nicht etwa als ‚wahresʻ Bild) der Welt kenntlich gemacht. Dass es in Les Gommes gene166 So meint noch Burrichter (2003a: 186) in Bezug auf Les Gommes, es sei „der moderne Roman, der dem antiken Prätext eine neue Aktualität verleiht: Er zeigt, daß das hellenistische Panorama – die antike Tragödie – auch in der Gegenwart von Bedeutung ist.“

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rell um die Konstruktivität von Wirklichkeit und die unhintergehbare Subjektivität aller Wirklichkeitskonstruktion geht, zeigt sich schließlich daran, dass alle Figuren im Roman ihre je eigene Wirklichkeit konstruieren, ohne dass eine davon als ‚richtigeʻ bestätigt würde. Die Nichterkennbarkeit der Welt, wie sie ‚wirklichʻ ist, wird zudem in Wallasʼ nicht-anthropomorphisierendem Blick auf die Dinge in Szene gesetzt. Gerade im Kontrast mit Garinati als typischem Vertreter des alten Weltbildes verkörpert Wallas den von Robbe-Grillet propagierten homme nouveau, der erstmals bereit ist, die epistemologische Kluft zwischen Mensch und Objektwelt als gegeben hinzunehmen. Dies alles schlägt sich auch auf der Ebene der Erzählverfahren nieder, wo ebenfalls die Doppelstrategie von hommage-destruction zum Einsatz kommt: Der zunächst deutlich präsente, wertende und kommentierende auktoriale Erzähler wird zunehmend von einer multiplen Figurenperspektive überlagert und verliert seine traditionelle Funktion als Wahrheitsgarant. Desorientiert wird der Leser vor allem, wenn verschiedene Realitätsebenen wie Traum, Wahrnehmung und Erinnerung – durch das für alle Ebenen einheitlich verwendete Präsens sowie die Nichtmarkierung von Ebenenwechseln – punktuell ununterscheidbar werden. Das über weite Strecken präsentische Erzählen trägt ebenso wie die multiple, quasidramatische Perspektivierung sowie die szenisch-präsentierenden Erzählmodi (innerer Monolog, erlebte Rede) dazu bei, dass sich Les Gommes in einer Tendenz des modernen Romans zum ‚szenischen Erzählenʻ verorten lässt – eine Tradition, die mit einer zurückgenommenen, d.h. wenig modellierten Vermittlungsinstanz operiert und über Faulkner und Joyce bis zu Flaubert zurückreicht. Die Dramenmetapher hat in Les Gommes eine mehrfache Funktion: Über die Evokation der antiken Tragödie als Prätext hinaus nutzt sie die Illusion des ‚szenischen Erzählensʻ zur Inszenierung eines ‚reinen être-làʻ nach Beckett’schem Vorbild, deckt diese Illusion jedoch zugleich auch als solche auf, indem sie Materialität, Prozessualität und Inszenierungscharakter des ‚Dramasʻ, kurz: die Artifizialität des Erzählten betont. Insofern der Roman also neben der Wirklichkeit auch den Text in seiner Artifizialität bloßstellt, geht er deutlich über die Robbe-Grillet’sche Theorie der damaligen Zeit hinaus. Denn während Robbe-Grillet zu dieser Zeit und letztlich bis in die sechziger Jahre hinein noch glaubte, mit einem nouveau réalisme der réalité brute sprachlich bzw. textuell Rechnung tragen zu können, zeugt Les Gommes bereits von einer grundlegenen Sprachskepsis und demonstriert auf vielfache Weise, dass Sprache die Welt gerade nicht zu zeigen vermag, wie sie wirklich ist. Die Artifizialität des Textes tritt u.a. dort zutage, wo es zu einer Kumulation von Artefaktverweisen, zu nichtplausibilisierbaren Wiederholungen, Varianten und intratextuellen Zitaten kommt oder wo sich strukturelle Leerstellen oder widersprüchliche Objektbeschreibungen zeigen, die eine eindeutige Konzeptualisierung der beschriebenen Gegenstände verhindern. In dem Maße, wie die erzählte Welt auch für den Leser nicht mehr vollkommen transparent ist, nähert sich der Roman bereits dem offenen Kunstwerk im Sinne Ecos an. Allerdings ist die Kohärenz der histoire in Les Gommes noch nicht annähernd so stark beeinträchtigt, wie dies in späteren Robbe-Grillet-Romanen der Fall sein wird. Der Roman zeigt sich sozu-

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sagen auf noch sehr moderate Weise offen. Denn wenn auch einige Punkte und Fragen ungelöst bleiben, so lässt sich im Ganzen doch eine kohärente Geschichte ermitteln. Eher am Rande verhandelt wird in Les Gommes die Konstruktivität des Ich, spielt aber durchaus schon eine Rolle (was sich auch daran zeigt, dass die hier verwendeten Motive später von den Romanesques aufgegriffen werden). Zum einen wird die für die Stabilisierung subjektiver Identität essentielle Erinnerungsfähigkeit problematisiert: Wallasʼ Kindheitserinnerungen sind, wie er selbst vermutet, von Imaginärem durchsetzt und insofern unzuverlässig. Zentral ist aber vor allem jene Szene, in der der Wirt beim Blick in den Spiegel sein eigenes fragmentiertes Gesicht, die aus dem Unbewussten aufgestiegenen Gespenster der Vergangenheit und schließlich sogar sich selbst als Anderen erblickt.

6 PROJET POUR UNE RÉVOLUTION À NEW YORK (1970) In Projet pour une révolution à New York, seinem zweiten Roman der Nouveau Nouveau Roman-Phase, verfolgt Robbe-Grillet sein Projekt der Denaturalisierung und Dekonstruktion von Text und Wirklichkeit weiter. In Überwindung der anfänglichen Realismusillusion wird nun der Text als sprachliches Artefakt vorgeführt, das seinen eigenen, sprachlich-textuellen Gesetzen gehorcht, die mit Wirklichkeitsdarstellung nichts mehr zu tun haben. Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass, wie Joachim Küpper schon für Maison notiert, nicht mehr nur die histoire, sondern auch der discours von einer „disjunktiven Textbewegung“ erfasst und dekonstruiert wird. Dabei ist es vor allem die Dekonstruktion der Vermittlungsinstanz, die eine „verläßliche […] ontologische Einordnung des Erzählten“ verhindert und zu einer „Art Chaos von Geschehenselementen [führt], die sich zu keiner reproduzierbaren Geschichte und auch nicht zu einem Geschehen integrieren“.1 Projet pour une révolution à New York lässt sich daher noch weniger resümieren als die Romane des ‚frühen‘ Robbe-Grillet. Es gibt nicht einmal mehr verschiedene Varianten einer Geschichte, sondern nur noch eine Aneinanderreihung seriell organisierter Sequenzen, die bestimmte Elemente beständig wiederholen, überlagern und variieren. Thematisch greift diese ‚wuchernde‘ Collage von Erzählfragmenten primär auf Mytheme der zeitgenössischen Populärkultur und Trivialliteratur zurück, vor allem aus den Bereichen sex and crime, Sadoerotik, Spionage- und Agententhriller, Verschwörung und Revolution. Darüber hinaus wird insbesondere der Mythos New York als Inbegriff der Großstadt des 20. Jahrhunderts evoziert, als Ort einer bestimmten städtischen Infrastruktur (mit Hochhäusern, Subway und dem Central Park), aber eben auch der Kriminalität, Sexualität und Unsicherheit.2 Um zumindest einen, wenngleich höchst verkürzten Eindruck zu geben, was auf der histoire-Ebene ausgerufen wird, seien beispielhaft einige Sequenzen erwähnt – wobei gleich dazu gesagt werden muss, dass es unmöglich ist, auch nur einzelne Erzählsegmente kohärent zu resümieren, da angesichts der Tatsache, dass die Figurenidentitäten ebenso instabil sind wie der Realitätsstatus des Erzählten generell unklar bleibt, kaum noch etwas mit Sicherheit gesagt werden kann. So könnte eine der ersten Sequenzen von einem Mädchen namens Laura handeln, das von einem Mann (ihrem Bruder, Onkel oder Vater?) in einem Apartment versteckt (und beschützt oder gefangen?) gehalten und (von ihm oder einem Einbrecher?) vergewaltigt wird. In einer anderen Sequenz scheint der (ein) Ich-Erzähler in einem geheimen Raum in den Schächten des Subway an einer Versammlung von Verschwörern teilzunehmen, die möglicherweise eine Revolution planen. Regelmäßig evoziert werden auch Fluchtszenen, z.B. läuft immer 1 2

Küpper 1987: 184f. Vgl. dazu Nelting 1996.

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wieder jemand (ein Einbrecher, Verschwörer, Vergewaltiger?) über die Feuertreppe eines (brennenden?) Hauses. Mehrere Szenen handeln davon, wie die als Kindermädchen bzw. Spitzel engagierte Prostituierte Joan Robeson Opfer eines sadistischen Folterers wird. Zwischen diversen Szenen gibt es immer wieder Dialoge, in denen ein Ich-Erzähler einem anonymen Gesprächspartner (seinem Auftraggeber?) Bericht erstattet (oder von dem er verhört wird?). All dies lässt sich jedoch, wie erwähnt, nicht mit Sicherheit sagen. Betrachtet man den Roman nun unter konstruktivistischen Gesichtspunkten, so zeigt sich, dass in Projet (im Unterschied zu Les Gommes) erst gar nicht mehr versucht wird, die außertextuelle Wirklichkeit als kognitives Konstrukt zu zeigen. Es geht stattdessen praktisch ausschließlich um den Text als Konstrukt, genauer: um die Selbstausweisung des Romans als Text, Fiktion und sprachliches Artefakt. Dieses Konstrukt wird allerdings als etwas vorgeführt, das zugleich in der Wirklichkeit verankert ist. Auf verschiedene Weisen wird daran erinnert, dass der Text von einem bewusst konstruierenden Subjekt hervorgebracht wurde und es keinen Text ohne Autor gibt (auch wenn auf die reale Person des Autors vom Roman aus keine Rückschlüsse möglich sind, sodass sich jede referentiell-biographistische Interpretation verbietet). Auf die Bühne des Erzählens kommt in Projet das Erzählen selbst, und zwar als aktiver, bewusster Konstruktionsakt. 6.1 DIE ARTIFIZIALISIERUNG DER ROMANWIRKLICHKEIT Die Selbstausweisung des Romans als Artefakt erfolgt in Projet zunächst durch eine Denaturalisierung der Romanwirklichkeit. Zum einen ist die Darstellung der Stadt New York nicht authentisch. Sie weicht in diversen Details von dem realen Vorbild ab. Nicht nur die Türschlösser, auch die Treppenhausbeleuchtung und die Subway ähneln eher französischen Gegebenheiten. Wie John Sturrock feststellt, erinnert diese „wilful misrepresentation of New York“ daran, „that such attributable topography […] is itself a construct“.3 Darüber hinaus wirkt die Romanwelt auch in ihren einzelnen Bestandteilen durch und durch artifiziell.4 Darin zeigt sich eine Parallele zu den Bildern der Pop art, die ebenfalls Artefakte als Gegenstände wählen.5 Vom künstlichen Licht über Bilder, Texte, Tonbänder und Werbeplakate bis zu den Bauwerken – alles in dieser Welt ist künstlich, unecht oder simuliert.6 Selbst Materialien wie Holz und Stein entpuppen sich als bloße Imitate oder Trompe-l’Œils. So ist beispielsweise die Holzmaserung der Haustür „peinte en faux-semblant“ (P 8) und damit ebenso unecht wie die „grille de fonte […] imitant le fer forgé“ (P 7) des Türfensterchens und die „marches de fausse pierre“ der 3 4 5 6

Sturrock 1971: 9. Zu diesen gezielten Abweichungen vgl. auch Spencer 1976: 76 und O’Donnell 1975: 187. Zu dieser Artifizialität vgl. schon Zeltner 1974: 64. Vgl. Voyageur [1972]: 112f. sowie Garstin 1987. Die frühen Robbe-Grillet-Romane setzen dagegen anonyme, aber ‚natürlicheʻ Schauplätze (mit Pflanzen, Tieren, bestimmten Wetterverhältnissen) in Szene.

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Treppe (P 12). Bezeichnenderweise simulieren diese Objekte eine Natürlichkeit, die es in der Romanwirklichkeit insgesamt bereits gar nicht mehr gibt. Jenseits der Artefakte und Imitate gibt es keine andere, ‚natürlicheʻ Wirklichkeit, sondern die Artefakte sind die Wirklichkeit. David Nelting hat in Bezug auf Projet daher von einer Welt der Simulakren bzw. der reinen Simulation im Baudrillard’schen Sinne gesprochen.7 Wo alles nur Simulation ist und Artefakte nur auf andere Artefakte verweisen, löst sich freilich die Unterscheidung von Realität und Artefakt, von Original und Abbild auf; der Begriff der ‚Referenzʻ verliert seine Funktion. Von dieser Artifizialisierung sind nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Menschen der Romanwirklichkeit betroffen. Identitäten lösen sich (u.a. durch variierende Namensgebung) auf, die Figuren werden entindividualisiert und wirken genauso ‚falschʻ wie die Gegenstände.8 Die Jugendlichen in der Ladengalerie etwa hinterlassen eine „impression de faux“, die Erwachsenen sehen wie Wachsfiguren aus (P 31), die zwei Gendarmen „ressemblent […] – par leurs vêtements, corpulences et postures identiques – à un unique individu doublé de son reflet dans un miroir“ (P 121). Auch individuelle Kennzeichen tragen nicht zur verlässlichen Identifikation bei, denn die Figuren bedienen sich ständig täuschend echt aussehender Masken, mit denen potentiell jede Figur in die Rolle jeder anderen schlüpfen kann (P 52–55). So entpuppt sich gegen Ende des Romans der Schlosser völlig überraschend als der ‚echteʻ Ben Saïd (P 198), und unter der Maske von ‚M dem Vampirʻ kommt auf geradezu paradoxe Weise der ‚Erzähler selbstʻ zum Vorschein (P 213f.). Auch bei den Figuren lassen sich also Original und Imitat nicht mehr unterscheiden. Dies zeigt besonders deutlich die Differenzierung in einen ‚echtenʻ und einen ‚falschen Ben Saïdʻ (P 125). Diese wird nämlich dadurch unterminiert, dass auch die ‚Echtheitʻ des „vrai Ben Saïd“ infrage gestellt wird: Ben Saïd, heißt es an einer Stelle, sei nur von Laura, nach einer Nebenfigur aus ihrem Kriminalroman, auf diesen Namen getauft worden (P 121). Wenn demnach auch der echte Ben Saïd gar nicht ‚echtʻ ist, dann ist der ‚echteʻ genauso falsch wie der ‚falscheʻ (und umgekehrt). Die Begriffe ‚echtʻ, ‚wahrʻ und ‚falschʻ verlieren ihre Distinktivität und das Konzept der Originalität seine Bedeutung. Sogar die Grenze zwischen Mensch und Objekt kommt ins Wanken, denn auch die Natürlichkeit des menschlichen Körpers ist nur noch simuliert (durch Masken, künstliche Körperteile und Puppen).9 In der finalen Folterszene beispielsweise werden Frau und Puppe ununterscheidbar. Das Folterobjekt wird immer abwechselnd als junge Frau (fille bzw. jeune femme) und Schaufensterpuppe (mannequin) beschrieben, sodass nicht mehr gesagt werden kann, um was es sich

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Vgl. Nelting 1996: 61. Das Simulakrum als ‚Kompositionsprinzipʻ hat zuvor bereits Ricardou (1971: 214) erkannt. Zu den variierenden Namen vgl. etwa JR (P 56), Joan Robeson (P 72), Joan Robertson (P 188), Jean Robertson (P 210); Sara (P 190), Sarah Goldstücker (P 191), Sarah (P 208) sowie diverse Mädchen namens Laura (13, 57 und passim). Vgl. dazu bereits Nelting 1996: 98–100 und 127.

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‚eigentlichʻ handelt (P 176–181).10 Genau diese Auflösung jeder Eigentlichkeit ist freilich das Ziel von Robbe-Grillets altem Programm der Abschaffung des traditionellen personnage. Stärker noch als in seinen frühen Romanen jedoch wirken die Figuren von Projet austauschbar und werden als bloße Wortgebilde, als êtres de papier transparent. Ihre Austauschbarkeit hängt dabei zentral mit ihrer Sprachlichkeit zusammen. Als repräsentatives Zeichensystem kann die Sprache immer nur selektive Merkmale eines Objekts benennen; und das sprachliche Zeichen steht in keiner Ähnlichkeitsrelation zum beschriebenen Objekt. Genau dies macht sich Robbe-Grillet zunutze, um völlig unterschiedliche Objekte wie Menschen und Puppen oder Menschen und Bilder ineinander zu überführen: Seine Beschreibungen verschleiern die Realitätskluft – Jean Ricardou spricht vom „hiatus masqué“ –, indem sie nur die Ähnlichkeiten nennen, die Unterschiede dagegen ausblenden.11 Letztlich können Mensch und Artefakt im Text gerade deswegen ineinander überführt werden, weil sie beide weder aus Fleisch und Blut noch aus Farbe, sondern aus Buchstaben bestehen. Ein Beispiel für eine solche Überführung liefert jene Textstelle, die anfänglich eine bewegte Szene zwischen Laura und ihrem potentiellen Vergewaltiger beschreibt („Laura […] se retourne et aperçoit […] l’homme penché au-dessus d’elle“, P 27), dann in die Beschreibung der statischen „posture des deux personnages“ (P 28) mündet und diese ‚Poseʻ dann überraschend als Abbildung auf einem Theaterplakat ausweist (P 28f.). Die Überführung der belebten Szene in das statische Bild verläuft dabei gleitend. Die Beschreibung lässt zunächst die Bewegung der Figuren in einer posture erstarren und ermöglicht so ihre anschließende Ausweisung als Bild. Es handelt sich um das gleiche glissement-Verfahren, das in Les Gommes die Grenze von Erinnerung und Traum verschwimmen ließ, als Wallas auf dem Café-Tisch einschlief. Auch hier lässt sich nicht sagen, wo die Beschreibung der Menschen endet und die des Plakates beginnt. Dies liegt nicht zuletzt an der durchgängigen Verwendung des bestimmten Artikels, der suggeriert, dass es sich stets um dieselben Figuren handeln müsse. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf diese Weise auf die sprachliche Verfasstheit gelenkt. Mindestens ebenso desillusionierend wirkt die ‚Belebung‘ von Artefakten, so beispielsweise wenn die künstlichen Hände und Masken im Maskenladen zu bluten beginnen (P 54). Mehr noch als das Erstarren des Lebendigen erscheint diese Animation des Unbelebten als ‚Kunstgriffʻ im Wortsinn. Und als solcher deckt sie die Fiktionalität des Textes auf, denn außer der Imagination vermag nur die Fiktion Unbelebtes lebendig werden zu lassen. Nur sie konstituiert zuallererst die Gegenstände, über die sie spricht.

10 Wie Nelting erläutert, wird nicht nur der Körper der Frau durch die Puppe simuliert, sondern auch die Puppe durch die reale Frau: Diese „Simulation einer Simulation“, so Nelting, sei nach Baudrillard „plus faux que le faux“ (ebd. 99f.). 11 Ricardou 1971: 216. Ricardou beschreibt detailliert, wie die Frau in der Holzmaserung in eine Frau aus Fleisch und Blut überführt wird (vgl. ebd.).

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In der Summe führen sowohl die Auflösung von Figurenidentitäten als auch die der Grenze zwischen Mensch und Ding zu einem Orientierungs- und Sicherheitsverlust beim Leser, zu einer „érosion de [...] la certitude textuelle“.12 6.2 METAFIKTIONALITÄT UND WAHRHEITSKRITIK Seine Artifizialität kehrt der Roman auch mithilfe metanarrativer Aussagen hervor. Regelmäßig eingestreute Formeln wie „dont j’ai déjà parlé“ (P 20) und „[j]’ai déjà raconté comment […]“ (P 186) erinnern den Leser daran, dass er es ‚nurʻ mit einer erzählten Geschichte zu tun hat.13 Zusammen mit diversen metafiktionalen Elementen tragen solche Bemerkungen dazu bei, die Erzählung als Fiktion auszuweisen und jede Wirklichkeitsillusion zu zerstören.14 Ganz nach Robbe-Grillets Motto der littérature conflictuelle wird diese Fiktion aber nun zugleich als faktuale inszeniert: als ein ‚Berichtʻ (rapport).15 Eingebaut sind in den Roman immer wieder Dialogpassagen in direkter Rede, in denen der Ich-Erzähler einem anonymen Gesprächspartner (im Folgenden interrogateur) Bericht erstattet und auf kritische Fragen antwortet. Die Rede ist von „le rapport que je viens de faire“ (P 47) und „[j]e fais mon rapport“ (P 189). Bei diesem rapport scheint es sich auf den ersten Blick um jene Geschichte zu handeln, die uns als Lesern in Romanform vorliegt: Die Dialoge scheinen den Rahmen zu bilden, in dem der Ich-Erzähler seinen Bericht ablegt bzw. seine Geschichte erzählt. Darauf ist zurückzukommen. Zunächst ist festzustellen, dass unklar bleibt, wer die Dialogpartner eigentlich sind und zu welchem Zweck ‚verhörtʻ bzw. ‚Bericht erstattetʻ wird. Es könnte sich um ein Gespräch zwischen einem Revolutionär und dem Chef der Bande handeln, klar ist dies aber nicht. Nicht nur, dass mitunter die Grenze zu anderen (fiktionsinternen) Verhörsituationen verschwimmt,16 teilweise ähneln die Dialoge sogar einem Interview, in dem ein Schriftsteller von einem kritischen Leser zu seinem neuesten Werk befragt wird. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn 12 Spencer 1976: 76. 13 Vgl. ähnlich auch: „selon le déroulement déjà rapporté“ (P 122), „déjà mentionné précédemment“, „J’ai déjà rapporté l’histoire […] de“ (P 131), „dont il a été question“ (P 138), „selon ce qui a déjà été rapporté“, „J’ai raconté aussi comment […]“ (P 169), „dont je vais parler maintenant“ (P 187), „selon ce qui a été rapporté en plusieurs occasions“ (P 190) und „J’ai en tout cas déjà raconté – on s’en souvient – comment […]“ (P 209). 14 Metanarrativität kann, muss aber nicht desillusionierend wirken (vgl. Nünning 2001: 32f.). 15 Freilich handelt es sich dabei nur um simulierte Faktualität, denn dieser Bericht erfolgt ja innerhalb des größeren Rahmens eines ‚Romansʻ. 16 Zu weiteren Gesprächs- bzw. Verhörsituationen im Roman vgl. P 18f., 46–48, 76–78, 83f. und 131–133. Daneben gibt es auch Dialoge, die nicht zwischen dem männlichen Erzähler und dem interrogateur verlaufen, sondern zwischen JR und Laura (P 70–72), JR und ihrem Folterer (P 98–110), Dr. Morgan und Laura (P 150–159). Mitten im Dialog zwischen Laura und Dr. Morgan erfolgt ein vorübergehender Wechsel zum „Sie“ (vous), obwohl der Arzt das Mädchen zuvor geduzt hat (P 157); die darauf folgenden Sätze könnten damit auch dem männlichen Ich-Erzähler und dem interrogateur zugeordnet werden (zumindest bis es wieder eindeutig heißt „dit le docteur“).

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der interrogateur Sprache und Stil kommentiert: „Vous avez employé deux ou trois fois le mot ‚repriseʻ dans votre narration. Quel rôle joue-t-il au juste?“ (P 157), oder: „Vous employez à plusieurs reprises, dans votre narration, des expressions comme […]“ (P 188f.). Dies muss freilich desillusionierend wirken, sieht der Leser hier doch seine eigene Rolle gespiegelt. Vor allem aber gehört das Autoreninterview ebenso wie der Bericht zu den faktualen Textsorten und gerät damit in Kontrast zu den Fiktionssignalen des Textes. Im Roman selbst wird ausdrücklich daran erinnert, dass der Bericht ein faktuales Genre ist, das konventionell mit einem Wahrheitsdiskurs assoziiert wird: „Il y aura le rapport. Tu oublies que tout y est consigné avec exactitude et qu’on ne transige pas avec la vérité,“ sagt Dr. Morgan zu Laura (P 153). Ebenso weist der interrogateur mit seinem Einwand, die Figur des maniaque sexuel sei vom Erzähler nur erfunden, darauf hin, dass Fiktives in einem Bericht nichts zu suchen hat: „[…] le maniaque sexuel dont visiblement vous inventez à l’instant l’existence…“ (P 131). Dass und wie der Erzähler seine Geschichte mit Fiktivem füllt, zeigt er nicht zuletzt selbst mit seiner Bemerkung über die Katze, die allein aus einer sprachlichen Wendung ‚geborenʻ wurde und daher eine rein textuelle Existenz genießt (P 208).17 In den kritischen Bemerkungen des interrogateur spiegelt sich noch das am traditionellen Roman geschulte Rezeptionsverhalten eines Lesers, der mit einem Roman wie Projet letztlich überfordert ist. Einwände wie „Vous n’avez pas achevé l’histoire de l’incendie“ (P 47) oder „Il y a […] une contradiction dans votre récit“ (P 190) wirken geradezu bizarr vor dem Hintergrund, dass der Erzähler keine einzige der ‚Geschichtenʻ zu Ende erzählt und dass es nicht nur einen, sondern zahllose Widersprüche in seinem Bericht gibt. Der interrogateur übersieht dabei, dass die Widersprüchlichkeit nicht irrtümlich oder punktuell ist, sondern ein Strukturprinzip bildet. Seine Fragen nach Geschehensabläufen und Ursachen zeugen von einem Verlangen nach Chronologie und Kausallogik, die es unmöglich geben kann (vgl. „Et ensuite?“, P 18; „Pour quelle raison?“, „Pourquoi avez-vous […]?“, P 46). Einem faktualen Genre wie dem Bericht mögen derartige Fragen angemessen sein, nicht aber einem ‚neuen Romanʻ, der sich bewusst von Konventionen wie Nichtwidersprüchlichkeit und kausallogischer Kohärenz verabschiedet hat. Der Erzähler lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass die Widersprüche und Ungereimtheiten gewollt sind: „Je fais mon rapport, un point c’est tout. Le texte est correct, et rien n’est laissé au hasard, il faut le prendre tel qu’il est“ (P 189). Den Text so nehmen, wie er ist – das bedeutet, seine Fiktionalität anzuerkennen. Wie sinnlos es ist, Fiktionen am Kriterium der Wahrheit zu messen, illustriert u.a. eine der Episoden, in der die schöne Joan gefoltert wird. Nach Aussage des Henkers dient die Folter ausdrücklich der Wahrheitsfindung: „[V]otre supplice commencera, pour voir si vous avez dit la vérité ou non“ (P 98f.). Seltsamerweise verlangt er dann jedoch, dass Joan beim Erzählen ihrer Geschichte Fakten erfindet: „[A]rrangez-vous pour inventer des faits précis et significatifs“ (P 105). Parodiert wird hier offensichtlich der Wahrheitsanspruch des Balzac’schen Romans, 17 Auf diese Textstelle komme ich später ausführlich zu sprechen.

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der – „all is true“ – vorgibt, die wahre Geschichte des menschlichen Herzens schreiben zu können. Doch darüber hinaus ist es der Begriff der Wahrheit selbst, der in der Folterszene in die Kritik gerät. Wahrheit ist für den Henker nämlich eine rein statistische Größe, die sich mithilfe eines Computers aus der Gesamtheit aller Aussagen Joans errechnen lässt. Dieses völlig absurde Wahrheitskonzept dient dem Henker augenscheinlich nur als Vorwand „de faire durer le supplice très longtemps“ (P 102).18 Es ist keinesfalls ernst zu nehmen. Es geht hier nicht darum, den Wahrheitsbegriff neu zu definieren, sondern zu zeigen, dass Wahrheit ein völlig leeres Konzept ist, das sich beliebig füllen und zu egoistischen Zwecken missbrauchen lässt.19 Dies entspricht Robbe-Grillets These, der Rekurs auf die Wahrheit diene immer nur der ‚Bürokratie und Unterdrückungʻ (M 11). 6.3 DIE DYNAMISIERUNG DES ERZÄHLENS Betrachtet man nochmals den rapport, wird ein Konflikt von Schriftlichkeit und Mündlichkeit erkennbar. Einerseits erscheint er als mündlicher Bericht für ein anwesendes Gegenüber. Davon zeugt u.a. die Aussage des Ich-Erzählers, der interrogateur notiere sich, was er ihm gerade berichtet hat: „Il achève de noter ce qui l’intéresse dans le rapport que je viens de faire“ (P 47). Andererseits wird der rapport ausgerechnet innerhalb des Gesprächs zwischen Erzähler und interrogateur als ‚Textʻ bezeichnet („Le texte est correct“, P 189). Und damit ist eindeutig ein schriftlicher Text gemeint: „Qui sont les infirmières blondes, mentionnées […] dans le corps du texte? […] Pourquoi avoir écrit, à leur sujet, ‚fausses infirmièresʻ?“ (P 205; Herv. C. S.). Darüber hinaus wird die Grenze zwischen mündlichem und schriftlichem Bericht auch dadurch verwischt, dass sich Gespräch und Erzählung teilweise ‚überlagernʻ. Der Dialog erscheint dann als Teil der Erzählung und die Erzählung als Teil des Dialogs. Exemplarisch zeigt sich dies an der Stelle, wo die erste Dialogpassage einsetzt. Sie bricht nämlich ganz unvermittelt in die bisherige Erzählung ein, in der der Erzähler gerade dabei war, Lauras Vergewaltigung zu schildern, und zwar mit der Frage „Et ensuite?“ von Seiten des interrogateur. Die Geschich-

18 Vgl. die pseudo-logische Argumentation des Folterers: „Supposons que vous affirmiez d’abord une chose, puis son contraire; l’ensemble des deux réponses comporte alors, à coup sûr, l’expression de la vérité dans la moitié des cas. À partir de cette certitude, tout le reste n’est plus qu’une question de calculs mathématiques, exécutés par le cerveau électronique auquel on soumettra votre déposition. C’est même pour cette raison, afin de ne pas fausser les résultats du calcul, qu’il importe de faire durer le supplice très longtemps: ainsi chaque affirmation finit par être accompagnée de son contraire“ (P 102). 19 Dies belegen weitere Textstellen: Der sadistische Psychotherapeut Dr. Morgan verabreicht der gefesselten Sara gegen ihren Willen ein ‚Wahrheitsserum‘, angeblich um ihre ‚verdrängte Vergangenheitʻ aufzudecken (P 91f.); und die ‚Revolutionäreʻ tragen Mützen mit der Aufschrift „La Vérité, ma seule passion“ (P 101), beabsichtigen aber offenbar die Errichtung eines brutalen Willkürregimes (P 202).

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te der Vergewaltigung endet aber damit keineswegs, sondern wird in der Replik des Erzählers fortgesetzt: La jeune femme sent […] le contact des étoffes rudes […]. Son cœur bat si fort […]. Elle a renoncé à la lutte. « Et ensuite? — Ensuite, elle s’est calmée peu à peu. […] (P 18)

Rückblickend erscheint damit die gesamte vorangegangene Erzählung als Teil einer mündlichen Berichterstattung. Dies wäre unproblematisch, würde nicht am Ende der direkten Rede (markiert durch die Anführungszeichen) das mündliche Gespräch seinerseits als Teil der berichtenden Erzählung ausgewiesen.20 Der Erzähler resümiert nämlich den Fortgang der Unterredung in indirekter Rede: — Non, dis-je, elle ne semble pas anormalement nerveuse… […]. Mais elle tiendra le coup. C’est aussi une période assez dure que nous traversons » Je lui raconte alors l’histoire du type en ciré noir qui monte la garde devant ma porte. Il me demande si j’ai la certitude […]. Je lui réponds que non […]. Il me demande encore, après un silence, s’il y a quelqu’un d’autre à surveiller dans les parages. Je réponds que je n’en sais rien […]. (P 19f.)

Das Gespräch scheint nun selbst in jene Erzählung eingebettet zu sein, die es zuvor noch zu umfassen schien. Die Grenze zwischen Dialogpassagen und berichtenden Passagen wird auf diese Weise fließend. Insgesamt scheinen die Oralitätsmarker jedoch zu überwiegen. Dabei geht es aber letztlich weniger um eine ‚Oralisierungʻ, die ohnehin nur fingiert, also eine Oralitätsfiktion sein kann, als um die Dynamisierung des Textes.21 Ziel dieser Dynamisierung ist es, den im Vollzug befindlichen Erzählprozess bzw. das Entstehen der Erzählung in seiner Prozessualität, Dynamik, Flüchtigkeit, Spontaneität und Offenheit für Änderungen vorzuführen (unabhängig von mündlicher oder schriftlicher Verfasstheit). Die Oralitätsfiktion eignet sich nun deswegen so gut dazu, weil das mündliche Erzählen bereits aus medialen Gründen über die genannten Kennzeichen verfügt; für das schriftliche Erzählen gilt dies höchstens im Stadium der Konzeption, d.h. vor der schriftlichen Fixierung. Den Hintergrund für diese Dynamisierung des schriftlichen Textes bildet abermals die Poetik des offenen Kunstwerks, denn dieser geht es zentral um die Nichtfixierung, Dynamisierung und Offenhaltung von Sinn. Deswegen wird in Projet auf verschiedene Weise ein sich im hic et nunc vollziehender Erzählprozess simuliert, eine Erzählung, die scheinbar erst vor den Augen bzw. Ohren des Lesers entsteht und daher nicht Ausdruck eines präetablierten Sinns sein kann, sondern flüchtige Sinnansätze erst in ihrem Verlauf hervorbringt. 20 Narratologisch ließe sich dies so zusammenfassen: Der Modus des berichtenden Erzählens (telling) wird durch den des szenischen Erzählens (showing) abgelöst, aber zugleich innerhalb des Dialogs weitergeführt, der seinerseits wieder berichtet wird. 21 Dass es nicht um eine vollständige Mündlichkeitsillusion geht, zeigt sich u.a. daran, dass es auch gezielte Literalitätsmarker gibt, d.h. Effekte, die nur in der Schriftlichkeit sichtbar werden (z.B. die Namensvariation von Sara bzw. Sarah). Es geht Robbe-Grillet also keineswegs um einen schlichten medialen Illusionismus.

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Die Techniken der Simulation sind im Einzelnen: die schon erwähnte Gesprächsfiktion (die Dialogpassagen), in der sich die berichtende Erzählung scheinbar in actu vollzieht; das präsentische Erzählen, das innerhalb der berichtenden Passagen den Eindruck erweckt, der Erzähler spreche (und handele) im Hier und Jetzt des Lesers; das passé composé als das typische Erzähltempus des mündlichen Erzählens (im Unterschied zum passé simple der Schriftsprache) (z.B. P 20f.); Apostrophen an den scheinbar anwesenden Gesprächspartner, die innerhalb der berichtenden Passagen als Oralitätsmarker fungieren („Vous m’avez demandé […]“, P 207); die zahlreichen déjà-dit-Formeln, die ebenfalls typisch sind für das mündliche Erzählen;22 die mit „coupure“ und „reprise“ markierten Abbrüche oder Wiederaufnahmen von Erzählsträngen, die zeigen sollen, dass der Textverlauf nicht determiniert ist, sondern spontan geändert werden kann, z.B. in Reaktion auf die Zwischenfragen des Zuhörers, wie der Erzähler selbst erläutert (P 191). Letzteres soll den Eindruck erwecken, der vorliegende Text entstehe im Dialog mit dem Rezipienten – was freilich ebenfalls nur eine Fiktion sein kann. Dass es nicht um die Oralisierung, sondern die Dynamisierung des Textes geht, zeigt insbesondere jene Stelle, wo der gesamte vorliegende Romantext als ein im Schreibprozess befindlicher ausgewiesen wird. Ben Saïd wird, in der Subway sitzend, Zeuge von Lauras Entführung durch Dr. Morgan und M le Vampire. Noch an Ort und Stelle schreibt er seine Beobachtungen in ein Notizbuch – und zwar in Form einer Erzählung: „Ben Saïd […] est en train de relater la scène avec un soin laborieux sur le carnet“ (P 147). Das, was Ben Saïd ‚gerade dabei ist zu erzählenʻ, wird vom Erzähler paraphrasiert und geht fließend in den Text von Projet über: Ben Saïd […] poursuit sa rédaction. Il en est au moment où Laura, toujours fermement tenue par les deux colosses qui lui tordent un peu les bras en arrière afin de lui enlever toute envie de rébellion, se trouve poussée de force, devant eux, dans ce couloir […] qui donne accès, après un long passage totalement obscur et plusieurs fois coudé, à une salle cubique, pauvrement éclairée par une ampoule nue qui pend au bout de son fil. […] Dès leur arrivée, M a fermé l’entrée sur le couloir […], tandis que Morgan s’assoit à la table […]. (P 148; Herv. C. S.)

Die Paraphrase des im Entstehen befindlichen Textes von Ben Saïd konstituiert also den Text von Projet. Dieser wird damit seinerseits als ein im Entstehen befindlicher ausgewiesen. Zugleich wird diese Simultaneitätsrelation als Illusion transparent. Ben Saïd selbst hatte zuvor darüber nachgedacht, dass es unmöglich ist, Ereignisse simultan zu ihrem Geschehen niederzuschreiben.23 Genau dies gilt auch für den vorliegenden Roman (i.e. Projet): Auch dieser kann keinen Text zitieren, der gerade erst im Entstehen begriffen ist. Möglich ist das nur in der Fiktion. Als Fiktion wird daher wohl auch nicht zufällig Ben Saïds vermeintlich faktuale Beschreibung der Entführungsszene ausgewiesen, denn Ben Saïd berichtet 22 Wo ein Zurückblättern nicht möglich ist, helfen sie, das Gesagte im Gedächtnis zu halten. 23 „En moins de temps qu’il ne faut pour l’écrire (pense Ben Saïd qui, sans quitter sa place, s’est retourné à moitié pour assister à la scène) la fillette se voit entraînée jusqu’au milieu du wagon“ (P 146).

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darin von Ereignissen, deren Zeuge er gar nicht geworden sein kann, da er nach wie vor in der Subway sitzt. Entsprechend kann er nicht wissen, was Laura zur selben Zeit in dem Gang und dem kubischen Zimmer zustößt. Er muss es also erfinden. Mit dem Einsatz von Dialogizität, Oralitätsfiktion und ‚szenisch-dramatischenʻ Modi des Erzählens (direkte Rede, präsentisches Erzählen, hic-et-nuncDeixis) schreibt sich Robbe-Grillet in doppelter Weise in den literarhistorischen Kontext seiner Zeit ein. Zum einen kann die Dynamisierung und Betonung des Prozesshaften als generelles Kennzeichen für den Roman des 20. Jahrhunderts gelten. Zunehmend löst nämlich das zeigende, ‚szenischʻ darstellende Erzählen das vorwiegend berichtende Erzählen ab; showing statt telling lautet das Motto der erzählerischen Avantgarden. Bei Robbe-Grillet lässt sich diese Tendenz zum ‚szenischen Erzählen‘ auch epistemologisch deuten, denn das berichtende Erzählen hat durch seine größere Vermitteltheit (i.e. die spürbare Präsenz der Vermittlungsinstanz) eine Affinität zur Interpretation; das showing hingegen scheint die Dinge in ihrer Phänomenalität – gleichsam auf der ‚Bühne des Erzählensʻ – auszubreiten. Zum anderen situiert sich Robbe-Grillet mit der Prozessualisierung und Dynamisierung in einer spezifisch poststrukturalistischen Tendenz zur ‚Performativisierung‘ des Erzählens.24 Bei dieser geht es darum, den Erzähl- bzw. Schreibakt selbst als einen im Entstehen befindlichen auszuweisen, der von einer festen, präetablierten Bedeutung weder ausgeht noch zu ihr hinführt. Dieses ‚performative Erzählen‘ existiert in einer illusionistischen und einer nichtillusionistischen Variante. Paradigmatisch für erstere ist Philippe Sollersʼ Drame (1965), ein Roman, der durchgängig so tut, als werde der Text just in dem Moment, in dem der Leser ihn liest, geschrieben. Der Schreibakt wird hier als ein „performativer Prozess“, als ein ‚Schauspielʻ inszeniert, bei dem der Leser dem Autor beim Schreiben vermeintlich über die Schulter sieht:25 „Exactement comme un drame se joue, on peut imaginer qu’un roman s’écrit sous les yeux du lecteur“.26 Die Dramen- und Theatermetaphorik wird im Textverlauf immer wieder zur Stilisierung eines (vermeintlich) im Ablauf befindlichen Schreibakts herangezogen.27 Und mehr noch, wie Klaus W. Hempfer gezeigt hat, bildet „das ‚Dramaʻ seiner Vertextung“ die „eigentliche ‚Handlungʻ des Romans“.28 Sollers folgt damit dem Tel Quel’schen Ideal, wonach das Abenteuer des Erzählens nur mehr in

24 Dies gilt zumindest, wenn man Dialogizität, Oralitätsfiktion und ‚szenisch-dramatischeʻ Modi des Erzählens als Merkmale textueller Performativität betrachtet. – Zu potentiellen Kriterien ‚textueller Performativitätʻ vgl. Pfister 2001; allgemein zu Möglichkeiten und Problemen der Qualifizierung von Texten als performativ vgl. Häsner/Hufnagel/Maassen/Traninger 2011. 25 Hempfer 1976: 78. – Zu einer detaillierten Analyse von Drame und seiner Performativitätsillusion vgl. ebd. 71–94, insb. 78 und 86–88. 26 So der Text auf dem Einband von Drame, hier zit. nach Hempfer (ebd. 88, Anm. 415). 27 Gleich im ersten Satz heißt es: „le jeu commence“ (Sollers 1965: 11). Später ist u.a. die Rede vom „théâtre [qui] se crée“ und „spectacle [qui] n’a pas lieu ‚à l’intérieurʻ“ (ebd. 134). Vgl. dazu bereits Hempfer 1976: 84. 28 Ebd. 85.

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der Inszenierung (dramatisation) der eigenen Vertextungsmechanismen besteht.29 Robbe-Grillet selbst hat nun schon lange vor Sollers eine dramatisation des Schreibakts modelliert. In „Scène“ (1955), einem Prosatext aus der Sammlung Instantanés, wird der Schreibakt als Theateraufführung beschrieben, genauer: als Theaterprobe, in der ein Schauspieler auf der Bühne als Schreibender auftritt. Dies ist freilich eine völlig andere Art der dramatisation des Schreibens als bei Sollers, denn sie lässt gerade nicht die Illusion entstehen, man sähe dem vorliegenden Text beim Entstehen zu, sondern weist im Gegenteil die Simultaneität von Schreib- und Rezeptionsakt schon durch die fiktionsinterne theatrale Rahmung als nur inszenierte aus.30 Eine ebenfalls desillusionierende Variante des ‚performativen Erzählensʻ findet sich in Italo Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979), der die Illusion einer Simultaneität von Erzähl- und Leseakt zunächst aufbaut, dann aber wieder zerstört.31 Der Roman eröffnet mit einer (scheinbaren) Ansprache an den realen Leser: „Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino“.32 Der Erzähler scheint also just in dem Moment mit dem Erzählen zu beginnen, in dem der Leser seine Lektüre beginnt. Zunehmend jedoch wird klar, dass der hier mit „tu“ angesprochene Leser nicht der reale Leser, sondern eine fiktive Leserfigur ist: der sog. Lettore, dessen Erlebnisse nicht mit denen des realen Lesers übereinstimmen. Die Diskrepanz zwischen der durchgängig verwendeten zweiten Person Singular, durch die sich der reale Leser implizit ständig angesprochen fühlt, und der Unmöglichkeit, sich mit der Figur des Lettore zu identifizieren, weist den Leser darauf hin, dass er es gerade nicht mit einem „testo nell’atto dello scriversi“ zu tun hat, auch wenn der Roman ständig mit dieser Idee spielt.33 Ähnliches lässt sich für Projet feststellen. Wie die Szene mit dem in der Subway schreibenden Ben Saïd belegt, spielt auch Robbe-Grillet mit der Simultaneitätsillusion, macht sie aber zugleich als Illusion transparent – und grenzt sich so von der Tel Quel’schen dramatisation des Schreibens ab. Auch der von Sollers in diesem Kontext eingesetzten Dramen- und

29 „[L]es aventures d’un récit ne sont rien d’autre que la dramatisation de son propre fonctionnement“ (Ricardou 1967a: 181). 30 Vgl. A. Robbe-Grillet, „Scène“, in: ders., Instantanés, Paris: Minuit, 1962, S. 51–60. – Zu „Scène“ vgl. auch Loret 2010. 31 Dass Calvino derartige Tel Quel-Strategien einerseits anwendet, andererseits aber auch schon wieder dekonstruiert, hat die Forschung überzeugend dargelegt. Vgl. insb. Kablitz 1992, ferner Regn 1983 sowie Helmich 1983: 239ff. 32 Calvino 1979: 3. 33 Calvino 1980: 219. – Das Spiel um Identität bzw. Differenz von Lettore che legge und Lettore che è letto wird im Roman selbst thematisiert (vgl. Calvino 1979: 142). Zur Ambivalenz von „vermeintliche[m] Identifikationsangebot und seiner ‚realenʻ Uneinlösbarkeit“ vgl. Kablitz 1992: 80f., hier: Anm. 14. Zum „Verwirrspiel mit der referentiellen Polysemie des tu“ vgl. Helmich 1983: 230 sowie ferner Regn 1983: 166. – Vom Spiel mit der Idee eines im Entstehen befindlichen Textes zeugt auch der letzte Satz des Romans, wo der Lettore sagt: „Sto per finire Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino“ (Calvino 1979: 263).

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Theatermetaphorik gibt Robbe-Grillet in Projet eine andere Wendung. Dazu im Folgenden mehr.34 6.4 THEATRALITÄT: INSZENIERUNG, PLAN UND ABWEICHUNG Das Theatrale ist in Projet zunächst motivisch präsent. Dies belegen die zahlreichen Bezugnahmen auf Schau- und Rollenspiele. Zahlreiche Handlungen in Projet wirken schlicht ‚gestelltʻ, ‚theatralischʻ oder ‚inszeniertʻ. Damit tragen sie zur allgemeinen Derealisierung der Romanwelt bei. Exemplarisch genannt sei die Szene, in der vier maskierte Männer ein junges Paar auf der nächtlichen Straße überfallen und den jungen Mann erschießen. Auffällig ist das bei der Beschreibung der Szene verwendete Theatervokabular. Das Paar ist gekleidet, ‚als käme es aus dem Theaterʻ (P 163); die Verfolger tragen alle „[le] même costume“ (P 164); die Straßenkreuzung erscheint als ‚Bühneʻ („scène“), an deren Ecken vier Laternen als Scheinwerfer fungieren; W und Ben Saïd stellen das ‚Publikumʻ („public“) (P 162); das Mädchen stößt einen Schrei aus „qui résonne comme dans l’espace clos d’un théâtre“ (P 164) und verharrt schließlich in einer „posture un peu mélodramatique“ (P 165).35 Inszeniert und theatralisch wirkt zudem alles, was sexuell konnotiert ist; und dies dürfte kein Zufall sein, wird damit doch ein Bereich des vermeintlich ‚besonders Natürlichenʻ denaturalisiert und in seiner sozio-kulturellen Dimension gekennzeichnet. Sowohl Lauras als auch Joans Vergewaltigungen folgen einer spezifischen Dramaturgie und erinnern teilweise an sadoerotische Rollenspiele.36 Joans Folterung wird explizit als ‚theatrales Spielʻ bezeichnet, als ‚Aufführungʻ eines ‚Stücksʻ mit mehreren Akten.37 Der „premier acte“, die Vergewaltigung, spielt in Joans Wohnung, Akt II und III hingegen im „espace scénique“ eines Brachlands, das bezeichnenderweise hinter einer kulissenhaften Trompe-l’ŒilFassade liegt und Folterinstrumente wie Requisiten bereithält (P 174 u. 177f.). 34 Punktuelle Anknüpfungen an Drame zeigt Projet auch an anderen Stellen: z.B. mit dem je/ilWechsel oder dem poststrukturalistischen Intertextualitätskonzept, wonach jede Geschichte immer nur Teil einer großen Geschichte („d’une seule immense histoire“, Sollers 1965: 72) ist. Auch hier modifiziert Robbe-Grillet aber nach seinen Bedürfnissen (vgl. Kap. 6.8.1 Die Dezentrierung der Erzählinstanz und Kap. 6.6.3 Reprise). Die folgenreichste Modifikation von Tel Quel-Konzepten dürfte allerdings die Transformation der Ricardou’schen Generatoren zu thèmes générateurs sein (vgl. Kap. 4.3.2 Die thèmes générateurs und das Bekenntnis zur Artifizialität des Schreibens sowie Kap. 6.6.2 Generation). 35 Weitere Beispiele für Inszenierungen sind der ideologische Vortrag bei dem Treffen der Revolutionäre (P 37f.), das afrikanische Stammesritual (P 39f.) und der Überfall der Jugendlichen in der Subway (P 108–110). 36 Vgl. P 17–19, 170f. und 96–106. Das sadoerotische Rollenspiel wird u.a. durch bestimmte Utensilien evoziert: „masque en cuir“ (P 11), „cordelettes“ (P 10), „fouet“ (P 110), „chaînes“ (P 177), „cage de fer“ (P 149) und diverse Folter- und Fesselungspraktiken (P 8–11 und 192– 197). Zum theatralen Charakter der Vergewaltigungen vgl. Deneau 1979: 43. 37 „[L]e jeu en question pourrait avoir […] le caractère théâtral, et la pièce serait alors […] l’ensemble de la représentation“ (P 176).

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Wie schon in Les Gommes fungiert darüber hinaus aber auch eine bestimmte Art von Theater als Gegenmodell: das Lehr- oder Thesenstück bzw. jedwede didaktische Aufführung präetablierter Thesen. Der ideologische Vortrag bei der Versammlung der Revolutionäre verkörpert dieses Antimodell auf geradezu idealtypische Weise. Es handelt sich um une sorte d’exposé idéologique présenté sous la forme habituelle, dont l’efficacité didactique sur les militants de toutes origines a été reconnue: un dialogue préfabriqué entre trois personnages chargés tour à tour des questions ou des réponses et qui échangent leur rôle par une permutation circulaire à chaque articulation du texte, c’est-à-dire toutes les minutes environ. Les phrases sont courtes et simples – sujet, verbe, complément – avec de constantes répétitions et antithèses, mais le vocabulaire comporte un assez grand nombre de mots savants appartenant à des domaines variés, philosophie, grammaire ou géologie, qui reviennent avec insistance. Le ton des parleurs reste toujours uni et neutre, même dans la plus grande violence du propos; les voix sont courtoises, presque souriantes en dépit de la froideur et de la netteté de leur élocution. Ils connaissent tous les trois par cœur jusqu’à la moindre virgule, et l’ensemble du scénario se déroule comme une mécanique, sans une hésitation, sans un faux pas de la mémoire ou de la langue, dans une absolue perfection. (P 37f.; Herv. C. S.)

Vor dem Hintergrund, dass dieses exposé idéologique genau jene Eigenschaften vereint, gegen die sich Robbe-Grillet schon seit Beginn seines Schaffens gewehrt hat – ideologisches, vorgefertigtes Gedankengut, konventionelle Form, didaktischer Anspruch –, ist kaum nachvollziehbar, warum der Vortrag in der Forschung als mise en abyme des Romans interpretiert worden ist.38 Er ist das genaue Gegenteil: Als „dialogue préfabriqué“ steht er in Kontrast zu dem spontanen dialogischen Erzählen, als das Projet erscheinen möchte. Die ‚konventionelle Formʻ passt nicht zu Robbe-Grillets Programm der formalen Erneuerung. Die ‚mechanische Aufführungʻ präetablierter Thesen, die der Belehrung des Publikums dient, steht Robbe-Grillets Idee von Offenheit und der aktiven Beteiligung des Rezipienten an der Sinnkonstitution diametral entgegen. Im Übrigen straft die völlige Apathie des Publikums die angebliche ‚didaktische Effizienzʻ des Vortrags Lügen. Reglos wie Strohpuppen verharren die Zuschauer auf ihren Stühlen: „Les spectateurs […] sont aussi immobiles dans leur attention religieuse que des mannequins de son“ (P 40). Dass der Satz auch eine Spitze gegen die ‚religiöse Andachtʻ enthält, zeigt, dass es nicht um Kritik an einer bestimmten Ideologie, sondern an weltanschaulicher Indoktrination im Allgemeinen geht, sei sie nun politischer, religiöser oder sonstiger Natur. Die Tatsache, dass der Vortrag von den drei Schauspielern („acteurs“ bzw. „comédiens“, P 40 u. 38) völlig ‚mechanisch abgespultʻ wird, lenkt den Blick darauf, dass es Robbe-Grillet nach wie vor um die Verabschiedung des ‚mechani-

38 Vgl. Dällenbach 1977: 190. – Es gibt nur wenige Übereinstimmungen zwischen dem Exposé und Projet: Neben der „permutation circulaire“ der Sprecherrollen sind dies die gewalttätigen Inhalte. Dagegen kann schon die Neutralität des Tons bezweifelt werden. Außerdem sind die Sätze des Romans weder ‚kurz und simpelʻ noch nach dem Schema Subjekt-Verb-Objekt gebildet, noch werden ständig ‚gelehrte Worteʻ aus Philosophie, Grammatik und Geologie wiederholt.

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schen Weltbildesʻ geht.39 Dies zeigt sich insbesondere in der als jeu théâtral inszenierten Folter Joans. Diese erweist sich nämlich als réécriture von Garinatis fehlgeschlagenem Mordversuch in Les Gommes.40 Ebenso wie Garinati folgt der Henker, der hier als Ich-Erzähler auftritt, dem ‚Text des Urteilsʻ akribisch wie einem ‚Librettoʻ (P 177). Er wird nicht müde zu betonen, dass er sich exakt an die Vorschriften hält.41 Die zunächst perfekte, mechanische Ausführung des Folterablaufs scheitert aber dann auch hier aufgrund eines Fehlers. Im dritten Akt kommt es zu einer unvorhergesehenen Abweichung vom Plan, die (wie in Les Gommes) zeigt, dass der Lauf der Dinge weder determiniert noch kalkulierbar ist. Dem Henker unterläuft ein ‚schwerer Irrtumʻ bei der Berechnung des Weges, eine „grave erreur d’appréciation“ (P 182). Anstatt sich seinem Ziel, den Folterinstrumenten, zu nähern, entfernt er sich von ihm: [I]l me faut maintenant aller quérir les tenailles, ce qui pose un problème de parcours plus délicat que ceux dont j’ai eu jusqu’ici à résoudre l’équation. […] Pour choisir le meilleur itinéraire, j’effectue du regard différents calculs, mais je me trompe à plusieurs reprises car la lumière n’est pas partout suffisante pour que le comptage des pavés soit commode, là en particulier où les herbes sont les plus hautes. Enfin, je me décide pour une ligne géométrique qui me paraît intéressante… Je m’aperçois, hélas, en cours de route que j’ai dû commettre une grave erreur d’appréciation; […]. Au bout de quelques cases, […] je constate avec inquiétude que je suis de plus en plus éloigné de mon but […]. (P 182f.; Herv. C. S.)

Weil die „faute“ (P 183) im Unterschied zur „erreur“, dem bloßen Irrtum, auch ein moralisches Fehlhandeln impliziert, wird der ‚Fehlerʻ erneut zur Anspielung auf die klassische Tragödie, bei der die tragische Entwicklung ja durch eine moralische Verfehlung des Helden ausgelöst wird. Der entscheidende Unterschied zur Tragödie ist aber auch hier wieder, dass der Fehler nicht schicksalhaft determiniert ist, sondern auf menschliches Versagen zurückgeht. Es handelt sich um einen Berechnungs- bzw. Schätzungsfehler („résoudre l’équation“, „différents calculs“, „erreur d’appréciation“). Diesen hat der Henker selbst zu verantworten, auch wenn er ihn – wie schon Garinati und Meursault – den ungünstigen Lichtverhältnissen zuzuschreiben versucht. Denn nach mehreren Fehlkalkulationen entscheidet er sich bewusst für eine bestimmte Strecke („je me décide pour une ligne géométrique“). Dass es dann ausgerechnet diese geometrische Linie ist, die ihn in die Irre führt, ist bezeichnend, denn wieder ist es damit das an der visuellen Wahrnehmung orientierte,42 klassische geometrische bzw. euklidische Raumkonzept, das sich als trügerisch erweist. Schon Garinatis Fehler bestand darin, darauf zu vertrauen, dass ‚die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punktenʻ

39 Zur alternativen Interpretation des Mechanischen im Sinne einer flüssigen ‚Lesbarkeitʻ des Textes vgl. Ricardou 1971: 213. 40 Der Bezug auf Les Gommes ist mehrfach markiert. Schon die Trompe-l’Œil-Fassade ruft als „très bonne reproduction photographique en couleurs“ (P 174) die Fotografie der Villa Dupont auf, die im Schaufenster der Papierwarenhandlung hängt. Weitere Belege folgen. 41 Vgl. etwa: „comme il est prévu dans le texte du jugement“, „selon ce qui a été prescrit“ (P 181), „conformément au déroulement légal enregistré dans la description“ (P 182). 42 Vgl. dazu: „j’effectue du regard différents calculs“ (Herv. C. S.).

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bildet (G 23). Ebenso ergeht es hier nun dem Henker, der die Diagonale für den effizientesten Weg hält (P 182). Der Folterakt erweist sich damit, wie Garinatis Parcours durch die Villa Dupont, als epistemologisch fundierte Tragödienparodie: Auch hier stehen das plötzliche Erkennen des Irrtums und das Abweichen vom Weg bildlich dafür, wie die Erkenntnisse der Neuen Physik einen Anhänger der Newton’schen Physik ‚aus der Bahn werfenʻ können. Die herausragende Bedeutung der Folterszene zeigt sich auch an ihrer Mehrfachkodierung, die durch die Kumulation von Artefaktbezügen zustande kommt. Sie lassen den Roman nicht nur artifiziell erscheinen, sondern eröffnen zugleich die Möglichkeit, den Sinn der Episode zu ‚pluralisierenʻ. Die Szene ist nämlich nicht nur als jeu théâtral, sondern auch als Schachspiel organisiert. Der gesamte terrain vague gleicht einem Schachbrett, er ist eingeteilt in Felder („cases“, P 182), auf denen Schrottgegenstände „comme les pièces d’un jeu d’échec“ (P 175) verteilt sind. Entsprechend berechnet der Henker seine Wegstrecke wie einen Schachzug: Je dois donc combiner un fragment de parcours droit avec un fragment oblique (en diagonale), ce dernier devant représenter la plus grande partie du trajet, afin que l’ensemble me conduise à traverser le plus petit nombre de cases possible. (P 182)43

Mit dem Schachspiel wird zunächst auf die Zweckfreiheit des Romans angespielt, denn Karten- und Brettspiele bilden für Robbe-Grillet den Inbegriff der Sinn- und Zweckfreiheit.44 Es obliegt dem Spieler, dem Spiel einen Sinn zuzuweisen. David Nelting hat daran erinnert, dass sich menschliche Handlungsspielräume durch die freiwillige Anerkennung von (Spiel-)Regeln jedoch zugleich wieder reduzieren und die Freiheit letztlich wieder einschränken: „[D]as Spiel legt dem Subjekt eine – nach dem einmal vollzogenen Eintritt – unausweichliche Ordnung auf“.45 In der Tat fühlt sich auch der Henker an die Regeln seines Folter-Spiels gebunden und verordnet sich selbst zur Strafe für seinen Fehler, eine Runde auszusetzen und bis Tausend zu zählen: „[J]e dois donc séjourner en ce point le temps de compter jusqu’à mille, pour ne pas avoir à régler le prix de la pénalisation correspondant à une telle faute“ (P 183). Das Schachspiel lenkt zudem den Blick auf einen weiteren Artefaktbezug: Lewis Carrolls Through the Looking-Glass, and What Alice Found There (1871), wo die Welt hinter dem Spiegel von Schachfiguren bevölkert ist. In die Spiegelwelt gelangt Alice, indem sie auf den Kaminsims klettert – „though she hardly knew how she had got there“ – und dann durch den Spiegel tritt.46 Genauso wundert sich der Henker-Erzähler in Projet nach seinem Betreten des terrain vague, wie er wohl über die erhöhte Türschwelle gekommen sein mag: „[J]e n’ai pas le souvenir d’avoir eu à enjamber un seuil d’une telle hauteur…“ (P 175). Der Hen43 Die Kombination von parcours droit und oblique erinnert abermals an Les Gommes, wo Wallas auf diese Weise vom Weg abkommt. 44 Vgl. Voyageur [1970]: 106. 45 Nelting 1996: 87f. 46 Carroll 1971: 184.

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ker übernimmt anschließend die Rolle, die bei Carroll der ‚böseʻ Schwarze Ritter inne hat. Er bewegt sich über das Feld wie ein Springer (engl. knight) und bedroht die gefesselte Joan, ebenso wie der Schwarze Ritter die von ihm gefangen genommene Alice bedroht.47 Bei Carroll ist es schließlich der ständig vom Pferd fallende Weiße Ritter in der alten Blechrüstung, der Alice vor dem Schwarzen Ritter rettet.48 Diese Rolle wird in Projet von der Karrosserie des weißen Buick übernommen, die dem Henker am Ende den Weg versperrt (P 183). Dass die verschiedenen Artefaktbezüge regelrecht in Konkurrenz zueinander treten, zeigt die Bemerkung des Erzählers, es gebe auf dem terrain vague „ni console ni bougeoir de cuivre ni grande glace“ (P 175). Darin kann man nämlich sowohl eine Anspielung auf Through the Looking-Glass sehen, wo es hinter dem Spiegel ein spiegelverkehrtes Zimmer mit Kamin und Spiegel gibt, als auch auf Les Gommes, wo ein ‚kupferner Kerzenleuchterʻ auf dem Kaminsims steht (G 217). Es ist nicht zuletzt dieser ambivalente intertextuelle Bezug, der eine eindeutige Sinnzuweisung verhindert. 6.5 PROJEKTIVITÄT 6.5.1 Das ‚Schauspielʻ des Erzählens Die Theater- und Rollenspielmetaphorik dient nun aber in Projet vor allem auch dazu, den Leser ‚hinter die Kulissenʻ des künstlerischen Schaffens zu führen.49 Auf der ‚Bühne des Erzählensʻ steht dabei das Erzählen selbst. Es geht um die aventure du récit (Ricardou) und zwar im Sinne eines bewussten Imaginationsprozesses, der Bilder und Szenen in einer Art film intérieur vor das innere Auge des imaginierenden Subjekts stellt.50 Schon die ersten Zeilen von Projet evozieren eine Rollenspielszene, die ebenso als erzählte wie imaginierte Szene erscheint: La première scène se déroule très vite. On sent qu’elle a déjà été répétée plusieurs fois: chacun connaît son rôle par cœur. Les mots, les gestes se succèdent à présent d’une manière souple, continue, s’enchaînent sans à-coup les uns aux autres, comme les éléments nécessaires d’une machinerie bien huilée. (P 7)

Man erfährt in diesen ersten Zeilen bezeichnenderweise nichts darüber, was in dieser ‚ersten Szeneʻ gespielt wird. Thematisiert wird nur die spezifische Form, 47 Zur Springer-Bewegung des Henkers vgl.: „Je dois donc combiner un fragment de parcours droit avec un fragment oblique (en diagonale) […]“ etc. (P 182). Zu Alices Bedrohung durch den Schwarzen Ritter vgl. Carroll 1971: 294. 48 Vgl. ebd. 49 So sieht es auch Clayton (1977: 112f.): „In Robbe-Grillet […] the core metaphor is THEATRE. […] Robbe-Grillet wants to let us behind the scenes. We are introduced to the mystery of the human creation of reality; we take part in that creation. We see a scene repeated, erased, rewritten“. 50 Zum film intérieur vgl. Kap. 4.2.3.2 Die mentalistische Wende: eine neue Realismusillusion? – Auch Stoltzfus (1985: 135) sieht die Theatermetaphorik in Robbe-Grillets Romanen als Bild für ein „fantastic spectacle of the imagination“.

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Medialität und Vermitteltheit der Darstellung mit Worten wie „scène“, „mots“, „gestes“, „vite“, „rôle“, „par cœur“, „se succéder“ und „souple, continue“. Damit wertet der Romanauftakt die Vermittlungsebene (d.h. wie die Szene abläuft) gegenüber der Ebene der Geschichte (d.h. was in der Szene dargestellt wird) programmatisch auf. Darüber hinaus macht der altermediale Bezug auf das dramatische Genre ex negativo darauf aufmerksam, dass wir es hier mit einem (narrativen) Text zu tun haben.51 Denn die Abstraktion vom Inhalt ist in dieser Art nur möglich, weil das Rollenspiel eben nicht zu sehen, sondern sprachlich vermittelt ist. Was die ‚Worte und Gestenʻ konkret sagen oder zeigen, bleibt offen. Ebenso offen bleibt, wer hier spricht bzw. sieht: „on sent“ kann sich auf einen oder mehrere, homodiegetische ebenso wie heterodiegetische, Beobachter beziehen; zudem wird der Leser implizit in die Beobachtung miteinbezogen und gleichsam zum Co-Voyeur. Klar ist nur, dass es einen Beobachter und Vermittler gibt. Rückwirkend wird diese première scène dann auch als imaginierte Szene interpretierbar: wenn nämlich ein imaginierender Ich-Erzähler auftaucht, dem die Szene zugeschrieben werden kann. Auf die Frage, um welche Szene es sich eigentlich handelt („Mais quelle scène?“), taucht dieser Ich-Erzähler erstmals auf und schildert, wie er vor seiner Haustür steht und in die Holzmaserung menschliche Figuren hineinliest, d.h. imaginiert: Puis il y a un blanc, un espace vide, un temps mort de longueur indéterminée pendant lequel il ne se passe rien, pas même l’attente de ce qui viendrait ensuite. Et brusquement l’action reprend, sans prévenir, et c’est de nouveau la même scène qui se déroule, une fois de plus… Mais quelle scène? Je suis en train de refermer la porte derrière moi, lourde porte de bois plein percée d’une petite fenêtre […]. La surface du bois, tout autour, est recouverte d’un vernis brunâtre où des petites lignes plus claires, qui sont l’image peinte en faux-semblant de veines théoriques appartenant à une autre essence, jugée plus décorative, constituent des réseaux parallèles ou à peine divergents de courbes sinueuses coutournant des nodosités plus sombres, aux formes rondes ou ovales et quelquefois même triangulaires, ensemble de signes changeants dans lesquels j’ai depuis longtemps repéré des figures humaines: une jeune femme allongée sur le côté gauche et se présentant de face, nue de toute évidence […]. (P 7f.; Herv. C. S.)

Diese zunächst statische Imagination wandelt sich allmählich zu einer belebten sadoerotischen Szene (P 7–11): „un homme […] entre dans le champ“, „[l]e docteur se penche en avant, met un genou en terre et commence à délier les cordelettes“ (P 9f.; Herv. C. S.). Die Szene endet schließlich mit einer fast wörtlichen Wiederaufnahme der première scène vom Anfang und macht nochmals klar, dass es sich um eine Imagination des Ich-Erzählers handelt. Beim Verlöschen des Lichts hinter dem Türfensterchen löst sich nämlich die imaginäre Szene in Wohlgefallen auf: Toute la scène alors se déroule très vite, toujours identique à elle-même. On sent qu’elle a déjà été répétée plusieurs fois: chacun connaît son rôle par cœur. Les gestes se succèdent d’une manière souple, continue, s’enchaînent sans à-coup les uns aux autres, comme les éléments 51 Der Ausweis als fiktionaler Text erfolgt also gerade nicht metanarrativ, wie Silverman/Torode (1980: 277) meinen („the fiction as narration re-asserts itself“, Herv. C. S.), sondern altermedial.

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6 Projet pour une révolution à New York nécessaires d’une machinerie bien huilée, quand tout à coup la lumière s’éteint. Il ne reste plus, devant moi, qu’une vitre poussiéreuse où se distinguent à peine quelques reflets de mon propre visage […]. (P 11; Herv. C. S.)

Damit wird nun rückwirkend auch die première scène als imaginiert ausgewiesen.52 Weil sie sich aber zugleich als sprachliches bzw. erzähltes Konstrukt zu erkennen gibt, fallen Erzählen und freies Imaginieren hier zusammen: Erzählen wird als ein Imaginationsprozess zur Schau gestellt, der quasi aus dem Nichts heraus eine fiktive Welt bzw. Szene erschafft. Inwiefern diese Art des Imaginierens die Grundlage des Erzählens bildet, wird auch dadurch illustriert, dass sich im Roman Imaginäres andauernd ‚verselbständigtʻ: Was zunächst als Imagination, Spekulation oder Hypothese und damit als irreal eingeführt wurde, kann (fiktionsintern) unvermittelt Realitätsstatus erhalten. Dazu ein Beispiel: Die rein hypothetische Vorstellung Lauras, ein Einbrecher könnte über eine Feuertreppe in die Wohnung eindringen, führt dazu, dass das Haus, von dem es explizit heißt, es habe keine Feuertreppe, in späteren Szenen dann doch über eine verfügt (P 14f., 48 u. 121). Die von Laura nur imaginierte Treppe hat also (fiktionsintern) Realität angenommen und wird zum Ausgangspunkt für das weitere Erzählen. Gerade weil die derart ‚selbst erzeugten Faktenʻ zur Basis für weitere Konstruktionen werden, scheint die gesamte Romanwirklichkeit ‚aus sich selbst herausʻ zu entstehen: Sie erscheint als Welt ohne reales Fundament, die sich selbstreferentiell immer nur auf das bezieht, was sie selbst zuvor erschaffen hat. Dieser aus dem ‚Nichtsʻ des Imaginären entstehende Text ist Robbe-Grillets Variante von Flauberts livre sur rien.53 In ihm löst sich die Grenze von Imagination und Realität auf. Die Frage, was fiktionsintern ‚realʻ ist, ist, wie John Clayton feststellt, sinnlos. Was bleibt, ist allein das Anwachsen der Fiktion: „What is real is the ongoing act of fictionalizing.“54 Wie in Les Gommes spielt auch hier das Präsens eine zentrale Rolle bei der Nivellierung der Differenz zwischen ‚tatsächlichem Geschehenʻ und ‚Imaginationʻ. Dies zeigt das Beispiel des vergessenen Schlüssels. Der Ich-Erzähler berichtet von seiner ständigen, stets unbegründeten Sorge, er habe seinen Schlüssel im Haus vergessen, wobei ihm das imaginäre Bild des auf der Marmorkonsole liegenden Schlüssels so klar vor Augen steht, als ob es real wäre: „C’est faux, comme toujours, mais l’image est toujours aussi forte et précise de la petite clef d’acier poli, demeurée sur le marbre de la console, dans le coin droit, près du bougeoir en cuivre“ (P 12). Es folgt eine detaillierte Beschreibung dieses imaginären Bildes, und zwar im präsentisch-affirmativen Modus, der es auf sprachlicher Ebene vom (fiktionsintern) Realen ununterscheidbar macht: 52 Dies gilt zumindest, wenn man die Beschreibung der ‚zweitenʻ Szene als Antwort auf die Frage „Mais quelle scène?“ versteht und diese wiederum auf die première scène bezieht. 53 Diesen Vergleich zieht auch Nowak (1982: 347), allerdings mit völlig anderer Gewichtung: Er sieht das livre sur rien als Inbegriff des „konsequenzlosen Formspiels“. 54 So Clayton (1977: 108) in Bezug auf Maison. – Sinnlos ist Deneaus (1979: 44) Versuch, zwischen verschiedenen Realitätsebenen zu trennen; er unterscheidet eine „comparatively ‚realʻ Laura“ von den „grotesque fantasies“ des Erzählers.

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Sur le marbre, noir et terne, la petite clef se dessine en lignes claires avec la netteté d’un schéma de leçons de choses. Son anneau, plat, parfaitement circulaire, est situé à quelques centimètres seulement de la base hexagonale du bougeoir, etc. (P 12f.)

Dies ist die Basis für die anschließende, widersprüchliche Erzählung, in der der Schlüssel sowohl drinnen auf der Marmorkonsole liegt, als auch vom Erzähler nach draußen mitgenommen wird – und somit nicht mehr festzustellen ist, was von beidem nun real und was imaginiert ist: Ma main se détache de la petite clef, que je venais juste de déposer sur le marbre lorsque j’ai levé les yeux vers la glace. Le souvenir du contact avec le métal déjà refroidi (que ma paume auparavant avait un instant réchauffé) demeure encore sur la peau sensible du bout des doigts, tandis que j’achève de me retourner vers la rue, commençant aussitôt à descendre les trois marches de fausse pierre qui mènent du seuil au trottoir. Je vérifie d’un geste habituel, inutile, insistant, inévitable, que la petite clef d’acier poli se trouve bien sur moi, à la place coutumière où je viens de la glisser. (P 13f.; Herv. C. S.)

Selbst die vermeintliche ‚Urszeneʻ des vor der Haustür stehenden, tagträumenden Ich-Erzählers wird schließlich in ihrem Realitätsstatus zweifelhaft.55 Schien es zunächst so, als sei sie das reale Fundament, in das die Imaginationen des Ich eingebettet sind, wird sie am Ende selbst dekonstruiert. Auf der letzten Seite des Romans wird die Szene nämlich wörtlich wieder aufgegriffen. Diese vermeintliche Rückkehr zur ‚Realitätʻ wird dann jedoch jäh mit „coupure“ sowie Zitaten anderer Textstellen unterbrochen. Dieser Einschnitt zeigt, dass die Szene selbst nur Teil eines umfassenderen Konstrukts, des Textes von Projet, ist: […] et je suis en train de refermer la porte derrière moi, lourde porte de bois plein percé d’une petite fenêtre rectangulaire, étroite, tout en hauteur, dont la vitre est protégée par un… Coupure. C’est à ce moment-là que j’ai entendu de nouveau les petits coups frappés d’une main discrète, tout en haut du grand escalier de l’immense bâtisse vide, sur une conduite du chauffage central. Laura, tout de suite, a dressé la tête, l’oreille tendue, l’œil fixe, les lèvres serrées, comme il a déjà été dit. (P 214)

6.5.2 Der Text als projet Dass der Text als Konstrukt erscheint, in dem sich Imaginationen ‚real setzenʻ lassen, wirft nun auch ein neues Licht auf den Romantitel. Der Begriff projet lässt sich im Sinne des constructivisme projectif56 als Projekt(ion) auffassen: als (be55 Zu dem gleichen Ergebnis kommt Ricardou (1971: 218), allerdings mit einem anderen Argument: Er sieht eine (vermeintliche) Unstimmigkeit darin, dass die Szene am Ende nicht mehr anhand der Holzmaserung imaginiert, sondern als durch das Fensterchen gesehen erscheine. So eindeutig ist dies im Text aber keineswegs. Ricardous Argument des verlöschenden Lichts reicht nicht aus, um zu folgern, dass die Szene durch das Fenster gesehen wird, denn schon zu Beginn heißt es, dass das Licht im Innern nicht ausreiche, um etwas zu erkennen (P 7f.). Möglich wäre also, dass das verlöschende Licht die Imagination nur deswegen auflöst, weil es den Aufmerksamkeitsfokus des Betrachters insgesamt verschiebt. Der Text lässt dies offen. Die Stelle ist also nicht so eindeutig aporetisch, wie Ricardou behauptet. 56 Vgl. Kap. 2.4.5.3 Exkurs I: Projektivität und Intentionalität.

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wussten) mentalen Entwurf eines Subjekts. In diesem Sinne verwendet ihn auch der Ich-Erzähler im Roman selbst, wenn er beim Blick in das Schaufenster des Maskenladens feststellt: „[L]a vitrine […] permet tous les projets, tous les rêves“ (P 62). ‚Projektʻ wird hier also mit Tagtraum, bewusster Imagination, imaginativem Entwurf gleichgesetzt.57 Zudem wird der Imaginationsprozess wieder unmittelbar mit dem Erzählen verknüpft. Die projets und rêves des Ich-Erzählers nehmen nämlich explizit die Form von Erzählungen an. Die Ausstellungsobjekte im Fenster, heißt es, seien „posées, de manière à former des éléments d’anecdote“ (P 54). Durch das titelgebende projet kommt der Text des Romans nun selbst als ein solches ‚Projektʻ in den Blick – als mentaler Entwurf eines Subjekts, in dem sich Imagination und Narration verbinden. Das Projekt wäre demnach nicht nur auf histoire-Ebene (d.h. in der angestrebten Revolution), sondern auch auf discours-Ebene zu suchen. Erinnert wird in der Schaufensterepisode nicht zuletzt daran, dass hinter jeder Projektion bzw. Konstruktion ein konstruierendes Subjekt steht, dass die Projektion ein bewusster Akt ist (der Betrachter befindet sich im Wachzustand) und dass auch der Rezipient (nicht nur der Autor) zum Konstrukteur wird.58 So wie der Betrachter vor dem Schaufenster die ‚Elementeʻ zu ‚Anekdotenʻ verknüpft, ist der Roman immer auch das ‚Projektʻ des Lesers. Der Text als materielle Zeichenfolge bildet dabei nur den Ausgangspunkt und die Projektionsfläche für die subjektive Rezeption. (Diese Unterscheidung von Projektion und ihrem materiellen ‚Anlassʻ erinnert im Übrigen daran, dass der Text höchstens das Modell eines film intérieur, niemals ein solcher selbst sein kann.) Schließlich lässt sich das „projet pour“ des Romantitels auch als eine Art Gattungsbezeichnung lesen, die ähnlich wie ‚Manifestʻ oder ‚Plädoyerʻ einen programmatischen Text anzeigt. Und in der Tat entwirft Projet freilich auch das Programm einer literarischen Revolution. Der Roman ist Programm und Umsetzung der damals neuen Poetik des ‚offenen Kunstwerksʻ – ein „projet d’une œuvre ouverte“.59 Vor diesem Hintergrund liest sich die Aussage des Erzählers, auf den Ruinen des alten New York sollten Neubauten errichtet werden, poetologisch. Es gebe, heißt es, ein „projet de construire bientôt à la place quelque chose de plus haut et de plus moderne“ (P 207). Bildlich gesehen zielt das ‚Bauprojektʻ auf die Schaffung ‚modernererʻ Kunstwerke, gebaut auf den Ruinen der klassischen Kunst. Hinter dieser Ruinenmetapher steht noch immer das Programm von Les Gommes: die Doppelstrategie von gleichzeitiger hommage und destruction in Bezug auf die traditionelle Kunst. Nun bleibt zu klären, worin die literarische ‚Revolutionʻ im Fall von Projet genau besteht. 57 Auch Sturrock (1971: 11) liest projet im Sinne eines ‚imaginativen Entwurfsʻ; er spricht von „the release, i.e. the projet, of the imagination“. 58 Die Bewusstheit der Projektionen wird auch symbolisch unterfüttert. Sie laufen, wie der Wachtraum des Erzählers vor der Holztür, bei hellem Licht ab: Die Imagination verschwindet beim Verlöschen des Lichts. 59 Eco 1965: 9. – Eco hat Poetiken in diesem Kontext explizit als ‚Projekteʻ (projets), als ‚Projektionenʻ des Künstlers definiert (vgl. ebd. 11). Auch Stoltzfus (1985: 129f.) liest Projet als ‚offenes Kunstwerkʻ im Sinne Ecos.

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6.6 DIE REVOLUTION DES ERZÄHLENS 6.6.1 Revolution Die literarische Revolution von Projet erweist sich als Neuauflage jener Revolution, die Robbe-Grillet bereits in den fünfziger Jahren eingeleitet hatte. Mit dem Unterschied, dass sie nun auch die Erneuerung des Nouveau Roman selbst mit einschließt. Nicht nur ein neuer Roman, sondern auch ein neuer Nouveau Roman soll also entstehen. Dabei geht es nach wie vor um die antiillusionistische Ausrichtung des Romans, jedoch versucht Robbe-Grillet den Roman nun mithilfe neuer Erzählstrategien noch effektiver gegen illusionistische Vereinnahmung zu schützen.60 Erneuern will er den Nouveau Roman aber auch um der Erneuerung selbst willen – wohl wissend, dass Konventionsbrüche mit der Zeit selbst konventionell werden und ihre subversive Kraft einbüßen.61 Um der drohenden Stagnation vorzubeugen, versucht Robbe-Grillet die Literatur in ständiger Erneuerung, in einer „révolution permanente“ zu halten.62 Permanente Revolution, dies ist in Bezug auf Projet pour une révolution à New York wörtlich zu verstehen, genauer gesagt, im Sinne jener mathematischen Bedeutung von ‚Revolutionʻ, an die schon Claude Simon im Motto seines Romans Le Palace (1962) erinnert: „Révolution: Mouvement d’un mobile qui, parcourant une courbe fermée, repasse successivement par les mêmes points. Dictionnaire Larousse.“63 Wie Simon später ausführt, kann diese Drehbewegung auch die Form einer sich empor windenden Spirale haben, die mit einem leichten ‚Abstandʻ stets dieselben ‚Generatorenʻ passiert („spirale, courbe qui s’élève en s’enroulant autour d’un cylindre et repasse chaque fois sur les mêmes génératrices avec, toutefois, un léger décalage“).64 In Projet verbinden sich nun beide Bedeutungen von Revolution miteinander. Die literarische Revolution besteht nämlich genau darin, eine Dreh- bzw. Spiralbewegung zum strukturbildenden Element zu machen und den Text mit leichten Abweichungen (d.h. Varianten), zu den immer gleichen Punkten bzw. Generatoren zurückzuführen. Verankert ist die Spiralbewegung dabei sowohl begrifflich als auch konzeptuell im déroulement der Szenen, das den Roman von der ersten Zeile an prägt. Déroulement lautet die französische Übersetzung von spätlat. revolutio, wovon sich révolution herleitet.65 Und weil das lateinische Verb revolvere nicht nur ‚zurückrollen, zurückwälzenʻ, sondern auch ‚wiederholenʻ und ‚im

60 Vgl. dazu Kap. 4.3.2 Die thèmes générateurs und das Bekenntnis zur Artifizialität des Schreibens. 61 Vgl. Voyageur [1981]: 469. 62 Ebd. 63 Simon 1962: o.S; Herv. aufgehoben. 64 Simon 2004: 238. 65 Vgl. „révolu,ue“: lat. revolutus, Partizip Perfekt von revolvere, frz. „rouler, dérouler“ (Petit Robert 2007: 2245).

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Kreislauf wiederkehrenʻ bedeuten kann,66 macht das déroulement der Szenen in Projet seiner Etymologie alle Ehre, denn der gesamte Romananfang besteht ja explizit aus der Wiederholung der immer gleichen Szene: La première scène se déroule très vite. […] Puis il y a un blanc […]. Et brusquement l’action reprend, sans prévenir, et c’est de nouveau la même scène qui se déroule, une fois de plus… (P 7) Toute la scène alors se déroule très vite, toujours identique à elle-même. (P 11)

Auch in Bezug auf das Erzählen wird in Projet von déroulement gesprochen: „[L]e récit […] poursuit son déroulement“ (P 96). Ein déroulement ist das Erzählen in Projet damit in doppeltem Sinne: als ein (linearer) ‚Ablaufʻ, der seinerseits intern vom spiralförmigen Muster der ‚zyklischen Wiederkehrʻ geprägt ist.67 Als mise en abyme dieser ‚Erzählspiralenʻ erscheinen die „spirales entremêlées“ in der „grille de fonte“ des Türfensters (P 7).68 6.6.2 Generation Mit dem spiralförmigen Text, der mit Abweichungen zu den immer gleichen Elementen zurückkehrt, ist freilich das Generatorenverfahren aufgerufen, jenes neue Erzähl- und Textproduktionsverfahren, das laut Robbe-Grillet seine eigene Artifizialität offenlegt. Die Funktionsweise dieses Verfahrens wird im Roman mehrfach vorgeführt. Zum einen zeigt das exposé idéologique, wie ein Element zum thematischen Generator (thème générateur) wird, hier die Farbe Rot.69 Das Thema des Vortrags lautet „la couleur rouge“, und in seinem Verlauf werden drei „actions libératrices majeures se rapportant au rouge“ präsentiert: „le viol, l’incendie, le meurtre“ (P 38). Die Farbe Rot ruft – offenbar mittels Assoziation – gewisse ‚zeitgenössische Mythenʻ auf.70 Dass die Assoziation auf subjektiver Willkür beruht, wird vom Erzähler direkt angesprochen: „Le raisonnement qui assimile le viol à la couleur rouge, dans le cas où la victime a déjà perdu sa virginité, est de caractère purement subjectif“ (P 38f.). Was im nichtkünstlerischen Diskurs verpönt ist, ist in der Kunst legitim: Im Freiraum der Fiktion sind subjektivwillkürliche Setzungen Teil jenes kreativen Spiels, in dem es stets darum geht, neue, originelle Strukturen zu schaffen. In der subjektiven Wahl der Generatoren kommt also der Spielcharakter der Generatorentheorie zum Tragen.71 66 Vgl. „revolvo“, in: Georges 2004, Bd. 2, Sp. 2382. – Dass révolution auch Kreis(lauf) bedeuten kann, hat schon Ricardou (1971: 228) bemerkt. 67 Im Übrigen ließe sich révolution im Romantitel durch déroulement (lat. revolutio) ersetzen, dann wäre Projet pour une révolution ein Rollenspiel- und Erzählprojekt. 68 Dies gilt zumindest, wenn man mit Sturrock (1971: 10f.) fonte im typographischen Sinne, als Schriftzeichen, versteht und das Fenstergitter entsprechend als Buchstabenraster auffasst. 69 Unter diesem Gesichtspunkt fungiert der ideologische Vortrag tatsächlich als mise en abyme. 70 Zu den mit der Farbe Rot verknüpften zeitgenössischen Mythen vgl. Voyageur [1972]: 134. 71 Dass es die Kunst ist, die hier die Spielregeln diktiert, lässt sich auch daran erkennen, dass im exposé idéologique nicht politische, sondern ästhetische Argumente ausschlaggebend sind:

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Diese mise en abyme ist allerdings insofern irreführend, als es keineswegs klar ist, dass Rot tatsächlich ein zentraler Generator von Projet ist.72 Anders als Weiß und Schwarz, die schon auf der ersten Seite genannt werden, taucht Rot erst relativ spät im Roman auf, in „sang bien rouge“ (P 28), und scheint damit selbst eher von dem Konzept ‚Blut‘ generiert worden zu sein (und nicht umgekehrt). Genauso gut könnte man das déroulement der Szenen oder die imaginären Figuren in der Holzmaserung als Generatoren bezeichnen. Im Ergebnis heißt dies, dass so etwas wie ein ‚eigentlicherʻ oder ursprünglicher Generator gar nicht ermittelbar ist (auch hier gibt es also wieder keinen Ursprung, kein Original).73 Fragt man nun, auf welche Weise sich das Generatorenverfahren selbst als artifiziell ausweist, so wird man auf die bereits beschriebene (fiktionsinterne) ‚Realsetzungʻ des Imaginären und Fiktiven zurückkommen müssen. Die Besonderheit des Generatorenverfahrens besteht darin, dass es das einmal Gesagte in seiner Materialität als Zeichen ernst, d.h. für real nimmt.74 So wird nach und nach aus dem bereits Gesagten eine Romanwirklichkeit aufgebaut – das Gesagte generiert neue Worte, die wiederum neue Worte generieren. Dies illustriert die folgende mise en abyme. Zunächst heißt es beiläufig, Sarah erzähle ihre Geschichte „comme elle aurait fait devant un sourd ou devant un chat“ (P 207). Diese Worte werden auf der folgenden Seite vom Erzähler überraschend wieder aufgegriffen: Et voilà qu’il vient d’apparaître un „chat“ au détour d’une phrase, à propos de Sarah la métisse: un sourd et un chat. Le sourd, j’en suis sûr, c’est le trompettiste du „Vieux Joë“. Mais le chat n’a encore joué aucun rôle ici, à ma connaissance; il ne peut donc s’agir que d’une erreur… (P 208)

Die Präzisierung „au détour d’une phrase“ macht es explizit: sourd und chat sind rein hypothetische Gebilde, Wörter ‚in einer Satzwendungʻ, denen auch in der erzählten Welt kein Realitätsstatus zukommt. Gleichwohl bemüht sich der Erzähler, ihr Auftauchen zu plausibilisieren und schreibt ihnen so eine (fiktionsinterne) Realität zu.75 Vorgeführt wird hier zugleich, dass das Geschichtenerzählen ein bewusster Prozess ist, der dem erzählenden Subjekt Reflexion und Entscheidungen abverlangt.

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Wenn die Farbe Rot als Lösung für den Antagonismus von ‚Schwarz und Weißʻ propagiert wird, ist wohlgemerkt nicht von Menschen (les Noirs et les Blancs), sondern von Farben (le noir et le blanc) die Rede: „‚la couleur rouge‘, envisagée comme solution radicale à l’irréductible antagonisme entre le noir et le blanc“ (P 38). Das Gleiche gilt für die prière d’insérer, in der ebenfalls die Farbe Rot als Lektüreschlüssel genannt wird. Entsprechend problematisch ist es, die weiblichen Geschlechtsorgane als „the real ‚generatorsʻ of Projet“ (Suleiman 1977: 61) oder die Frau als „thème générateur principal“ (Deutsch 1983: 12) festzulegen. Morrissette (1971: 288) nennt das Verfahren daher auch „création par nomination“. Auf die Pseudologik, mit der die neuen Elemente plausibilisiert werden, ist zurückzukommen.

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6.6.3 Reprise Dies wirft nun ein neues Licht auf das déroulement der Szenen am Romananfang. Wenn sich die Romanwirklichkeit nach und nach aus dem aufbaut, was zuvor im Text gesagt wurde, so sind die première scène und die anschließende sadoerotische Szene nicht mehr zwingend identisch, sondern bilden bereits zwei unterschiedliche ‚Windungenʻ der Textspirale. Die première scène bringt so gesehen die Frage „Mais quelle scène?“ erst hervor, und diese generiert ihrerseits den vor der Tür stehenden Ich-Erzähler – nicht umgekehrt. Der Hinweis, die Szene sei „toujours identique à elle-même“, ist dann insofern irreführend, als bereits die Wiederholung die perfekte Identität aufbricht. Zwar ist jede Windung der Spirale wie die andere, aber zugleich doch nicht dieselbe; dazwischen liegt stets ein décalage, „un blanc, un espace vide, un temps mort“ (P 7). Im Unterschied zu Les Gommes ist der décalage hier nicht nur ein metaphorischer Bruch, sondern ein Strukturprinzip des Erzählens und als solches konstitutiv für die Bildung neuer Varianten. Der blanc, die Lücke und Abweichung, steht also nicht nur für den Bruch und die Diskontinuität (wie Ricardou meint), sondern auch für die Alterität in der Identität, wie sie die Spiralbewegung versinnbildlicht.76 Das Gleiche immer wieder neu und anders erzählen – dies ist eine Idee, die Robbe-Grillets gesamtes Werk prägt. Dahinter steht die poststrukturalistische Idee, dass es keinen Ursprung gibt, sondern alles immer schon einmal (in anderer Form) da war; dass alle Texte immer schon Zitat früherer Texte sind und es kein originäres Schreiben geben kann.77 „Les anciens mots toujours déjà prononcés se répètent, racontant toujours la même vieille histoire de siècle en siècle, reprise une fois de plus, et toujours nouvelle...“, heißt es dazu programmatisch in La Reprise, jenem Roman, in dem Robbe-Grillet sein Gesamtwerk ‚wieder aufnimmtʻ.78 Den Begriff der reprise verwendet Robbe-Grillet dabei im Sinne Kierkegaards. Danach impliziert die reprise im Unterschied zur bloßen répétition (Wiederholung) immer schon eine Weiterentwicklung und Transformation – kurz: Variation und Alterität.79 In Projet wird daher an den entscheidenden Stellen nie das Verb répéter, sondern reprendre verwendet: „Et brusquement l’action reprend, sans prévenir, et c’est de nouveau la même scène qui se déroule, une fois de plus…“ (P 7); „Sur la bande magnétique, la scène reprend son déroulement“ (P 203). Und auch die vom Erzähler teilweise explizit als ‚Reprisenʻ bezeichneten Wiederaufnahmen sind 76 Vgl. Ricardou 1971: 212f. 77 Vgl. dazu insbesondere das Intertextualitätskonzept in der Formulierung Julia Kristevas: „Le texte […] est une permutation de textes, une intertextualité: dans l’espace d’un texte plusieurs énoncés, pris à d’autres textes, se croisent et se neutralisent“ (Kristeva 1969: 113). 78 Reprise 227. Schon Un Régicide (1949/1978) beginnt mit dem Wiederaufnahme-Motiv: „Une fois de plus, c’est, au bord de la mer, [...]“ (S. 11); ähnlich La Reprise: „Ici, donc, je reprends, et je résume“ (Reprise 9). 79 Vgl. Voyageur [2001]: 599. – Houppermans (2010a: 323) hat darauf hingewiesen, dass reprise im Theatervokabular die Wiederaufnahme eines Stückes meint, und dass auch diese nie eine identische Wiederholung darstellt.

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keine identischen Wiederholungen, sondern Varianten.80 Die zunächst wörtliche Wiederholung der Anfangssequenz („Et brusquement l’action reprend, sans prévenir […]“, etc.) wird am Romanende dadurch variiert, dass der Erzähler dieses Mal beim Schließen der Tür einen leblosen Mädchenkörper trägt (P 214).81 Durch die ständige Überformung des Alten wird das Erzählen in Projet zu einem „constant ‚writing overʻ“ (Bouraoui) bzw., wie Robbe-Grillet selbst sagt, zu einem Wechselspiel von création und destruction.82 Die Revolution des Erzählens hat bei Robbe-Grillet also die Form einer Reprise und ist als solche immer ein Sowohl-als-auch von Kontinuität und Bruch.83 Auch die interne Entwicklung des Robbe-Grillet’schen Werks folgt dieser Struktur. Projet nimmt frühere Romane wieder auf und schreibt sie neu (s. etwa Garinatis Parcours aus Les Gommes).84 Der Nouveau Nouveau Roman ist eine Reprise des Nouveau Roman, dessen Würdigung und gleichzeitige Zerstörung.85 6.6.4 Serialität und Offenheit Die Variation des immer Gleichen verleiht dem Text eine serielle Grundstruktur. Diese trägt zentral dazu bei, dass Projet zu einem ‚offenen Kunstwerkʻ wird. Offen ist der Roman zum einen auf histoire-Ebene, weil sich angesichts der Hypertrophie und Inkompatibilität der Varianten keine kohärente Geschichte entwickeln kann. Es erweist sich als überaus schwierig, ja unmöglich, eine eindeutige Textbedeutung festzulegen. Darüber hinaus scheint die Erzählung auch an ihrem Ende offen: nicht nur, weil es keine Geschichte gibt, die, mit Aristoteles gesprochen, über Anfang, Mitte und Ende verfügte, sondern auch, weil die Möglichkeiten der Variation am Ende des Romans keineswegs erschöpft sind. Das Generatorenverfahren erlaubt potentiell unendliche Variantenbildung, denn das Materialreservoir ist, anders als in der seriellen Musik, nicht von vornherein begrenzt. Jederzeit kann ein beliebiges neues Element generiert und in die Geschichte eingearbeitet werden. Dies zeigt der Roman anhand des unvermittelt eingeführten „sourd“. Somit scheint der Roman nicht nur keinen Ursprung, sondern auch kein Ende zu haben. Er wirkt unabschließbar, zu allen Seiten offen. In diesem Zusammenhang hat Alfonso de Toro die These vertreten, in RobbeGrillets ‚serieller Literaturʻ werde, wie in der seriell-aleatorischen Musik, der Einfluss des Produzenten an der Sinnkonstitution gemindert und der des Rezipienten

80 Vgl. P 138, 143f. und 205. Zur Definition der „reprise“ als ‚Wiederaufnahmeʻ durch den Erzähler vgl. P 157. 81 Vgl. dazu bereits Ricardou 1971: 213. 82 Bouraoui 1984: 99. 83 Wenn Nowak (1982: 336) meint, es gebe aufgrund der Kreisstruktur „keinen Entwicklungsfortschritt irgendwelcher Art“, übersieht er also genau diese transformierende Kraft der Reprisen. 84 Zu weiteren Selbstzitaten vgl. Kap. 6.8.2 Die Illusion vom ‚Tod des Autors‘. 85 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt Smyth 1991.

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gestärkt.86 Hintergrund ist, dass in der seriell-aleatorischen Musik der Komponist zwar die „einzelnen Elemente“ und die „Zahl von Reihen“ festlegt, dann aber der Interpret entscheidet, ob er sich für die „Verfolgung einer bestimmten Reihe entscheide[t] oder mehrere gleichzeitig berücksichtig[t]“ und welche Reihen dies sind.87 Der Vergleich scheint nun insofern problematisch, als der Leser eines Robbe-Grillet-Romans das jeweils nächste Element einer Serie eben nicht in vergleichbarer Weise frei wählen kann wie der Interpret seriell-aleatorischer Musik: Die Reihenfolge der Elemente ist im Roman durch den Autor festgelegt. Nach Eco handelt es sich bei einem Roman wie Projet um ein ‚Kunstwerk mit offener Sinnstrukturʻ, und nicht um ein in seiner materiellen Anordnung unfertiges ‚Kunstwerk in Bewegungʻ, das den Rezipienten oder Ausführenden auffordert, das Werk fertig zu stellen.88 Was die semantische Offenheit angeht, so ist bemerkenswert, dass der ‚serielle Romanʻ, wie auch de Toro erkennt, in gewisser Hinsicht sogar weniger offen ist als ein traditioneller Roman, „da die Ebene der Geschichte gegenüber der des Diskurses sehr schwach – wenn überhaupt – besetzt“ ist und es somit kaum Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich Handlung, Figurencharakterisierung und -psychologie gibt.89 Ähnlich stellt Clayton fest, dass Projet eine ‚starrereʻ Ordnung hat („more insistent“) als traditionelle Romane und dadurch die Spielräume des Lesers begrenzt sind: „We are locked inside a carefully organized aesthetic construction.“90 Der Robbe-Grillet’sche Nouveau Nouveau Roman ist somit offener und geschlossener zugleich. 6.7 ZEIT, KAUSALITÄT, RAUM Dass sich der serielle Roman traditioneller Sinn- und Bedeutungsweisung so stark widersetzt bzw. entzieht, liegt daran, dass der Text einer assoziativen, sprachlichtextuellen Logik folgt, die sich über grundlegende Kriterien kausaler, zeitlicher und räumlicher Kohärenz hinwegsetzt oder ihnen bewusst zuwiderläuft. 6.7.1 Zeit- und Kausalstruktur Die zahlreichen, teils widersprüchlichen Varianten führen dazu, dass sich in Projet nicht einmal mehr in Ansätzen eine kohärente histoire mit klarer Kausalfolge 86 Vgl. Toro 1987: 33f. und 59ff. De Toro sieht größere Parallelen von Robbe-Grillets ‚serieller Literaturʻ zur seriell-aleatorischen Musik Pierre Boulez’ als zu der (von Robbe-Grillet zitierten) atonalen Musik Arnold Schönbergs (vgl. ebd. 59–62 und Toro 1999: 1434, Anm. 13). Den Vergleich mit der seriellen Musik hat bereits Zeltner (1974: 62) gezogen. 87 Toro 1987: 34. 88 Vgl. Eco 1971 sowie Kap. 2.6 Konstruktivismus in Ästhetik und Kunsttheorie: Ecos ‚offenes Kunstwerk‘. 89 Toro 1987: 34. 90 Clayton 1977: 117f.

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und Chronologie der Ereignisse ermitteln lässt. Darin unterscheidet sich der Roman grundlegend von Les Gommes und anderen frühen Robbe-Grillet-Romanen, wo es immer noch zumindest eine überschaubare Zahl unterschiedlicher Geschichten gab (z.B. in Le Voyeur, La Jalousie, Dans le labyrinthe). Zum einen gibt es die objets und personnages inaltérables, die entgegen jeder Wahrscheinlichkeit immer wieder unversehrt auftauchen und jede Kausallogik sprengen. So nimmt beispielsweise Joans gefolterter Körper niemals dauerhaft Schaden. Joan bildet den Inbegriff des von Robbe-Grillet zitierten ewig ‚jungen-und-schönenʻ Cover-girl und schlägt, nachdem sie bei lebendigem Leibe verbrannt worden ist, einfach wieder die Augen auf, ‚bereitʻ für den nächsten Folterakt (P 179).91 Inwiefern darüber hinaus ganze Szenen inkompatible Varianten ausbilden und in kausale wie zeitliche Paradoxien führen, lässt sich am Beispiel der Tonbandaufnahme zeigen, die JR hört, als sie Laura im Apartment am Central Park besucht. Auf diesem Tonband vereinen sich frühere Szenen zu einer neuen Vergewaltigungsszene, wobei sich die verschiedenen Szenen in kein logisches Verhältnis bringen lassen. Zu hören sind u.a. „des pas d’homme […], des pas précipités qui gravissent un escalier aux résonances métalliques“, „un grand bruit de carreau cassé“, „[d]es morceaux de verre [qui] ont tinté en retombant sur le dallage“, „une crémone qui grince“, „un cri de jeune femme vite étouffé dans des froissements d’étoffe et une voix de gorge qui murmure: ‚Tais-toi, idiote, ou je te fais malʻ“ (P 64f.). Es handelt sich hierbei um eine Zusammenstellung von Elementen aus vorangegangenen Szenen mit (zumindest anfänglich) unterschiedlichem Realitätsstatus: darunter a) Lauras Imagination eines über die Feuerleiter kommenden Einbrechers, b) Lauras Vergewaltigung durch ihren ‚Bruderʻ sowie c) die Feststellung des Ich-Erzählers, der quietschende Türknauf müsse geölt werden.92 Die Tonbandaufnahme erweist sich damit als Fiktion, denn unmöglich kann sie etwas aufgezeichnet haben, was nur in Lauras Vorstellung existierte. Die ganze Episode mündet schließlich in eine zeitliche Paradoxie. Nachdem JR die Wohnung verlassen hat, wendet Laura das Band und hört sich die andere Seite an. Darauf berichtet ein Ich-Erzähler von seinem Treffen mit JR (alias Joan): Puis elle [sc. Laura] […] retourne les bobines magnétiques […] pour écouter tranquillement l’autre piste: „ ...tueuse chevelure rousse qui offre sa splendeur juste en face de moi. L’idée me traverse, aussitôt, qu’il s’agit d’un piège: le sourire trop savamment sensuel et complice de cette jeune femme tombée du ciel, sur une simple petite annonce, et qui ne m’a encore livré d’elle que son prénom: Joan, la robe trop courte […].“ (P 66f.)

91 Zu Robbe-Grillets Ideal des Cover-girl vgl. Voyageur [1972]: 122f. 92 Vgl. zu a): „Un cambrioleur agile, ou un assassin, pourrait […] gravir ensuite sans aucune peine les marches métalliques jusqu’à la porte-fenêtre d’un étage quelconque et pénétrer dans la chambre de son choix en cassant seulement une vitre“ (P 14f.), „[l]e bruit du carreau brisé dont les éclats tintent en retombant sur le dallage“ (P 15). Zu b): „[L]’agresseur froisse sans ménagement la chemisette pour la relever“ (P 17), „Et c’est une voix de gorge, menaçante, qui murmure tout près de son oreille: ‚Tais-toi, idiote, ou je te fais malʻ“ (P 18). Zu c): „[L]a crémone a besoin d’être huilée“ (P 43).

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Das Problem ist nun, dass dieser Bericht von JRs zweitem Besuch im Apartment erzählt, dem Treffen mit Lauras ‚Onkelʻ: „[l]a deuxième rencontre, avec l’oncle lui-même, comme il vient d’être rapporté“ (P 69). Paradoxerweise wird damit auf dem Tonband ein Ereignis dargestellt, das noch gar nicht stattgefunden hat, schließlich hat JR ihren ersten Besuch gerade erst beendet. Irritierend ist zudem, dass der ‚Onkelʻ seinen Bericht im Präsens ablegt. Die damit suggerierte Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Erzählvorgang wird auf diese Weise als simuliert transparent. Denn es ist völlig unplausibel, dass der ‚Onkelʻ das Tonband aufgenommen hat, während er JR gegenüberstand; immerhin gibt er in seiner Erzählung seine Zweifel an ihrer Person preis. Kurz, man erzählt nicht, während man etwas erlebt, und schon gar nicht etwas, was in der Situation kontraproduktiv oder gar gefährlich wäre. Ebenso wenig zeichnet man seine Erzählung in aller Ausführlichkeit im Moment des Erlebens auf, weder auf Tonband noch, wie Ben Saïd, in ein Notizbuch (P 146–148).93 Das präsentische Erzählen wirkt hier also desillusionierend. Es wird als Möglichkeit des fiktionalen schriftlichen Erzählens transparent. Was die Kausalstruktur angeht, so zeigt sich Projet, anders als Les Gommes, nicht durch eine alternative Kausalität strukturiert. Eine zirkuläre Kausalstruktur lässt sich ebenso wenig ausmachen wie eine lineare.94 Die Reihenfolge der Episoden folgt keiner bestimmten Ordnung, sondern einer assoziativen bzw. sprachlichtextuellen Logik. Gemessen an traditionellen Erzählstandards und alltagslogischen Kriterien wirkt der Roman daher völlig ungeordnet: „sans queue ni tête“, wie Lucien Dällenbach sagt.95 Am ehesten lässt sich die entstehende Struktur wohl als rhizomatisch beschreiben. Bei Deleuze und Guattari bezeichnet der aus der Botanik stammende Begriff des Rhizoms (eigentlich: Wurzelwerk) eine Struktur, die an jedem beliebigen Punkt Verzweigungen ausprägen kann, die sich wiederum untereinander verknüpfen können, aber nicht zwangsläufig müssen; die einzelnen Teile (bzw. ‚Dimensionenʻ) des Rhizoms stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander.96 Das Rhizom ist ein „système acentré, non hiérarchique et non signifiant“.97 Anders als die statische Figur des Labyrinths, zeichnet sich das Rhizom außerdem durch potentiell endloses Wachstum aus. Jederzeit und an jedem beliebigen Punkt können neue Verknüpfungen und Knotenpunkte entstehen. Genau dies gilt auch für Projet, wo an allen möglichen Punkten Episoden zu ‚wuchernʻ beginnen:98 etwa, wenn der Gehörlose als Trompeter des „Vieux Joë“ identifiziert (P 208) oder die Geschichte der „jeune mariée“, deren Mann auf der Straße erschossen wurde, weiter fortgesetzt wird (P 207). Der Roman scheint in einem „fortwährenden ‚devenirʻ“ begriffen, was abermals den Erzählakt in seiner Pro93 Vgl. Kap. 6.3 Die Dynamisierung des Erzählens. 94 Das „dispositif circulaire général“ (Ricardou 1971: 228) ist nur auf die Struktur zu beziehen; inhaltlich schließt sich der Kreis nur vermeintlich. Der Schluss ist keine exakte Wiederholung, sondern eine Variante des Anfangs; vgl. Kap. 6.6.3 Reprise. 95 Dällenbach 1977: 192. 96 Vgl. dazu und zum Folgenden: Deleuze/Guattari 1980: 31f. 97 Ebd. 32. 98 Vgl. dazu bereits Nelting 1996: 80.

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zessualität hervorhebt.99 Die nichtlineare Rhizomstruktur ersetzt also die traditionelle, lineare Kausalstruktur, gerät aber zugleich in Kontrast zur Linearität des Erzählakts bzw. zum linearen Wachstum der Zeichenfolge. Das Gleiche gilt für die zeitliche Nichtlinearität der histoire: Sie findet ebenfalls einen Kontrapunkt in der Linearität des Erzählvorgangs.100 Man wird darüber hinaus festhalten können, dass in dem Maße, wie die erzählte Zeit (i.e. die Zeit der histoire) in ihrer Kohärenz destruiert wird, die Erzählzeit (i.e. die Zeit, die der Erzählakt in Anspruch nimmt) eine Aufwertung erfährt. Dies entspricht der generellen Verlagerung des Blicks vom Dargestellten zum Erzähl- und Vermittlungsakt, von der Ebene der Geschichte zu der der Narration. 6.7.2 Raum Auch die Raumstruktur erweist sich in ihrer Stabilität und Kohärenz beeinträchtigt. Einerseits wird zwar durch die regelmäßige Erwähnung bestimmter Orte (das Haus des Erzählers, die Subway, das Apartment in der Park Avenue, das Lokal „Vieux Joë“ etc.) eine Kontinuität und Stabilität des Raumes suggeriert. Andererseits wird diese jedoch gezielt infrage gestellt, u.a. von der seriellen Logik des Generatorenverfahrens, das sich über die üblichen Kohärenzkriterien hinwegsetzt. So kommt es vor, dass sich der Erzähler an zwei Orten zugleich befindet. Er läuft durch den ratternden Subway-Wagen und zur selben Zeit – „pendant ce temps“ – die Feuertreppe eines Hauses hinab: Et moi, pendant ce temps, dans le vacarme, qui s’amplifie de plus en plus, de toute la carcasse métallique [sc. des Subway-Wagens] en train de vibrer sous mes pas précipités, je continue toujours à descendre l’interminable et vertigineux escalier de fer. (P 112)

Die Laufbewegung dient hier als Vergleichspunkt für die zwei übereinander geblendeten Situationen. Genauer, die „pas précipités“ fungieren als thematischer Generator, der ungeachtet des abrupten, unplausiblen Ortswechsels das bereits bekannte Motiv des Laufs über die Feuertreppe evoziert und hier zur Produktion und Verbindung von zwei neuen Laufszenen nutzt.101 Ein weiteres Beispiel liefert die Szene, in der der Schlosser bei seiner Rückkehr zum terrain vague anstelle des Trompe-l’Œil-Hauses überraschend ein echtes Haus vorfindet und dieses auch betritt (P 187). Dies ist deswegen so erstaunlich, weil der Schlosser sein Fahrrad und seine Werkzeugkiste absichtlich vor der Trompe-l’Œil-Fassade stehen gelassen hatte, um später wieder dorthin zurückzu99 Ebd. 81 (unter Rekurs auf Deleuze und Guattari). 100 Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in den déjà-dit-Formeln, die die Linearität des Erzählvorgangs einerseits zwar betonen, sie andererseits jedoch unterminieren, indem sie mitunter auf ein déjà-dit verweisen, das gar keines ist, so z.B. der Hinweis des interrogateur, der Erzähler habe das Wort „coupure“ verwendet (P 191), obwohl dies erst einige Seiten später geschehen wird (P 203–208 und 214). 101 Zum Lauf über die Feuertreppe vgl. beispielsweise: „[J]e commence à dévaler les degrés de fer. […] Je saute les marches“ (P 42).

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finden (P 186f.). Genauer besehen ist die Verwandlung des Trompe-l’Œil-Hauses in ein echtes Haus aber dann gar keine. Stattdessen werden bloß erneut zwei sehr ähnliche Szenen miteinander ‚verschnittenʻ. Durch das Schlüsselloch der Trompel’Œil-Fassade hatte der Schlosser zuvor JRs Folter beobachtet (P 184); wenn er nun das echte Haus betritt, passiert dies nicht nach seiner Rückkehr, sondern es ist die Fortsetzung einer anderen, bereits zuvor geschilderten Voyeur-Szene, in der er ebenfalls durch ein Schlüsselloch eine sadoerotische Szene erspäht hatte (P 113f.). Den Vergleichspunkt bildet dieses Mal also der voyeuristische Blick durch das Schlüsselloch. Dieser generiert eine ganze Reihe verschiedener Voyeur-Szenen. Festhalten lässt sich also, dass das Generatorenprinzip neuartige Analogien schafft, bei denen die Ähnlichkeitsrelation nicht mehr zwischen erzählter Welt und Außenwelt, sondern zwischen den Textelementen besteht. Man wird hierin Roman Jakobsons Poetizitätskriterium wiedererkennen können: das Ähnlichkeitsprinzip wird von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse projiziert. Bereits Rainer Warning hat diese „Umpolung von der Kontiguität zur Similiarität, von einer dominant syntagmatischen zu einer dominant paradigmatischen Vertextung“ als konstitutiv für den seriellen Nouveau Roman ausgemacht.102 Für die Raumstruktur von Projet heißt dies, dass die neuen textinternen Ähnlichkeitsrelationen keine Rücksicht mehr auf realistisch-illusionistische Raumdarstellung nehmen. Der klassische geometrische Raum wird hier also dadurch dekonstruiert, dass er als textueller Raum ausgewiesen wird. Bezeichnend sind darüber hinaus jene Episoden, in denen die Figuren bizarre Raumerfahrungen machen, z.B. wenn sich der Henker von seinem Ziel immer mehr entfernt (P 182), oder wenn dem Erzähler, der die Feuertreppe hinabeilt, die unten stehende Menschenmenge immer kleiner vorkommt, bis sie praktisch ganz verschwindet: „[I]l me semble que la foule, à mes pieds, est de plus en plus lointaine; […] il n’en reste bientôt qu’une tache un peu plus noire“ (P 42). Erneut spielt das Moment der Bewegung eine zentrale Rolle. Die Unregelmäßigkeiten in der Raumwahrnehmung treten nämlich vorzugsweise dann auf, wenn sich die Figuren in Bewegung befinden. Es scheint, als würde sich der Raum unter dem Einfluss der Bewegung verändern – entsprechend der Erkenntnis der modernen Physik, dass Position und Bewegung des Subjekts die Krümmung des Raumes beeinflussen und die raumzeitliche Struktur verändern. Dies macht sich insbesondere bei Lauras Gang durch den Korridor bemerkbar, wo die Länge des Flurs ebenso variabel ist wie die Zahl der Türen. Nachdem Laura auf der rechten Seite zwölf, auf der linken dreizehn Türen gezählt hat, die Türen aber symmetrisch angeordnet sind, schlussfolgert sie, dass sich die Zahl der Türen während des Zählens erhöht haben muss: „[C]’est donc que le nombre de paires a augmenté d’une unité entre le premier comptage et le second“ (P 123). Ein weiterer Zählvorgang, bei dem Laura abermals den Gang abschreitet und nun immer abwechselnd eine Tür rechts, eine links zählt, führt bloß zu neuen Ungereimtheiten. Der Flur endet jetzt nicht mehr bei der sechsundzwanzigsten Tür,

102 Warning 1999a: 83.

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sondern hat seine Länge offenbar verdoppelt: Es folgen nun noch einmal mindestens ebenso viele Türen (P 123). Man wird diese ‚Irrwegeʻ der Figuren auch als Bild für den Parcours des Lesers durch den Roman lesen können. So wie dem Henker auf dem Schachfeld, dem Erzähler auf der Treppe und Laura im Korridor ergeht es auch dem Leser beim ‚Durchlaufenʻ der Absätze des Romans: Je mehr er sich bemüht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen (d.h. eine feste Bedeutung zu ermitteln), desto weiter rückt dieses in die Ferne, desto undeterminierbarer wird es. Vor dem Hintergrund, dass der Raum in Projet nie stabil ist und von den Figuren immer nur unter dem Eindruck von Bewegung wahrgenommen wird, könnte man von einer Dynamisierung des Raumes sprechen. Anders als im traditionellen Roman bilden Zeit und Raum in Projet kein stabiles Koordinatensystem mehr, in dem sich die Figuren bewegen, sondern sie sind selbst mobil, transformieren sich unter der Bewegung, Wahrnehmung und Erfahrung der Subjekte. 6.7.3 Exkurs: Topologie Nun bleibt zu klären, inwiefern die Raumstruktur von Projet tatsächlich mit topologischen Räumen oder Figuren vergleichbar ist, wie Bruce Morrissette und Robbe-Grillet behauptet haben. Morrissette hat 1971 in Cerisy postuliert, in Projet vollziehe sich die Inversion des Raumes durch ein Schlüsselloch hindurch. Hintergrund ist dabei ein Zeitschriftenartikel, der John Lillys (bereits metaphorische) Beschreibung einer ‚topologischen Transformationʻ zitiert.103 Robbe-Grillet hat diese Metapher in der Folge aufgegriffen und topologische Figuren als Räume bzw. Flächen definiert, bei denen Innen außen und Außen innen ist.104 Für Projet hat er in diesem Kontext eine Inversion des Raumes konstatiert, bei der sich das Innere des Hauses durch das Schlüsselloch nach außen zu stülpen scheine.105 Das Problem besteht nun darin, dass es in Projet keine Stellen gibt, auf die diese me-

103 „Que le champ romanesque du Projet passe et repasse plusieurs fois, en s’incurvant ou en s’inversant, par le trou de serrure de la porte principale de la maison du narrateur, tout le monde s’en souvient“ (Morrissette 1972: 128). Das Zitat Lillys, auf das Morrissette hierbei rekurriert, lautet: „En employant l’idée provisoire que la serrure représente un trou dans la porte à travers duquel on peut exercer un effort de transformation topologique, on peut changer la forme de la chambre en une autre forme que celle d’une boîte fermée. En effet on peut retourner la chambre en la retirant sens dessus dessous par le trou de la serrure: le contenu de la chambre étant maintenant dehors et la chambre elle-même comme un ballon dégonflé de l’autre côté du contenu…“ (John C. Lilly, Programming and Metaprogramming in the Human Biocomputer: Theory and Experiments, New York 1967/68, S. 42f.; hier zit. in Morrissettes eigener Übersetzung nach Morrissette 1972: 128). Morrissette entnimmt das (bereits dekontextualisierte!) Zitat von Ryan 1971: 1f. 104 Vgl. Kap. 4.3.2 Die thèmes générateurs und das Bekenntnis zur Artifizialität des Schreibens. 105 „At times one has the impression that the whole house empties itself and that it passes entirely through the keyhole, that the whole inside of the house becomes the outside, that is, the whole city, etc.“ (Robbe-Grillet 1976: 37).

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taphorische Beschreibung zuträfe.106 In Robbe-Grillets späteren Erzähltexten – zeitlich nach Morrissettes Thesen entstanden und mit teils explizitem Bezug auf die Topologie – mag dies anders sein.107 In Projet scheint sich nirgendwo ein Raum durch ein Schlüsselloch zu stülpen oder sich das Innere nach außen zu wenden. Im Zusammenhang mit Schlüssellöchern, Tür- und Fensteröffnungen geht es vielmehr um die darauf- oder hindurchfallenden Blicke sowie das, was durch sie gesehen wird.108 Ausgelotet werden Perspektiven und Sichtachsen, die den Zwischenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Offenheit und Geschlossenheit durchmessen.109 Schon angemessener scheint dagegen Morrissettes Vergleich der Verflechtungen von Erzählebenen mit den sog. Klein’schen Flaschen.110 Bei diesen topologischen Figuren handelt es sich um nichtorientierbare Flächen, bei denen sich Innen und Außen nicht kohärent definieren lassen und die im dreidimensionalen Raum nur unter Maßgabe der Selbstdurchdringung darstellbar sind.111 Diese beiden Eigenschaften treffen auch auf Projet zu, genauer: auf die wechselseitige Durchdringung verschiedener Erzählebenen. Wie Morrissette zu Recht bemerkt, bietet der Roman ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten, Rahmen- und Binnenerzählung miteinander zu verflechten und neuartige „rapports entre contenu et contenant, entre dedans et dehors“ zu schaffen, bei denen die klare Zuordnung von Außen und Innen nicht mehr möglich ist (weswegen auch die Begriffe Binnen- und Rahmenerzählung nur noch bedingt, d.h. begrenzt auf einzelne Abschnitte, anwendbar sind).112

106 Insofern ist es nicht erstaunlich, dass weder Morrissette noch Robbe-Grillet konkrete Textstellen nennen. 107 In Topologie d’une cité fantôme ‚projiziertʻ sich das Innere der „cellule génératrice“ durch eine Fensteröffnung in das Außen der Ruinenstadt (A. Robbe-Grillet, Topologie d’une cité fantôme, Paris: Minuit, 1976, S. 17–38). In Souvenirs du triangle d’or findet sich der aus seiner Gefängniszelle geflohene Ich-Erzähler mit einem Schlag erneut in der Zelle wieder (vgl. ders., Souvenirs du triangle d’or, Paris: Seuil [coll. „Points“], 1985, S. 141f. und 148f.; im Folgenden kurz STO mit Seitenangabe). Dieses Motiv wird in Miroir (1984) explizit als „cruelle inversion topologique de l’espace“ bezeichnet und das ‚Ichʻ ebenfalls in eine „cellule de prison“ versetzt (M 171). 108 Vgl. dazu beispielsweise den Blick des Erzählers auf das reflektierende Türfenster (P 11) oder in das Schaufenster (P 52); Lauras Blick durch das zerbrochene Fenster auf die Straße (P 23–25); den Blick des Schlossers durch die Bibliothekstür (P 187) oder durch das Schlüsselloch, der seinerseits von Laura bzw. dem Erzähler beobachtet wird (P 113f. bzw. 184f.). 109 Zur Dialektik der halb offenen, halb geschlossenen Tür vgl. Ricardou 1971: 214 und Sturrock 1971: 10. 110 Morrissette (1972: 130) spricht genau genommen von Klein’schen ‚Würmernʻ bzw. ‚Schlangenʻ („vers ou serpents de Klein“). Übereinstimmend sieht Dällenbach (1977: 193) strukturelle Ähnlichkeiten von Projet mit jenen „‚serpentsʻ de Klein, qui s’avalent et se recrachent la queue de toutes les façons“. 111 Vgl. dazu die Abbildungen in Morrissette 1972: 131. 112 Ebd. 130. – Morrissette lässt offen, welche Textstrukturen er konkret meint, wenn er von „la partie contenante (où le récit existe à deux niveaux, doublé dans une duplication intérieure)“ oder „la partie contenue (où le récit existe seulement à l’intérieur d’une duplication)“ spricht

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Paradigmatisch ist hier das bereits erwähnte Tonband, das jene Geschichte antizipiert, in der es selbst vorkommt. Ein weiteres Beispiel bildet der Kriminalroman, der jene Geschichte ‚wörtlichʻ („de façon textuelle“) zitiert, die ihn selbst erst konstituiert. Dem Ich-Erzähler kommt bei der Lektüre des Romans eine Passage im Wortlaut bekannt vor: [J]e tombe à nouveau sur le passage où le narrateur, déguisé en policier, fait irruption chez la jeune femme rousse qui se fait appeler Joan. […] [J]e reconnais ce fragment d’une façon textuelle (et non pas seulement anecdotique […]). (P 93)

Es handelt sich nun allerdings bei der wiedererkannten Passage, in der der ‚falsche Polizistʻ bei Joan auftaucht, um eine zuvor in der Rahmenhandlung beschriebene Szene.113 Der Ich-Erzähler wird damit zum Leser seiner eigenen, ihn selbst als Figur und Erzähler konstituierenden Geschichte, und der von ihm gelesene Kriminalroman verschmilzt mit dem Text von Projet.114 Diese metaleptischen Rahmendurchbrechungen vervielfachen sich im Laufe des Romans so sehr, dass die Erzählebenen schließlich untrennbar ineinander verschachtelt sind. Um dies zu veranschaulichen, kann man probeweise einen – letztlich vergeblichen – Hierarchisierungsversuch unternehmen:115 Der Ich-Erzähler liest einen von Laura geliehenen Kriminalroman (= extradiegetische Ebene). In der Kriminalhandlung wird Joan von einem falschen Polizisten gefoltert (= intradiegetische Ebene), wobei sie eine Geschichte erfindet, die von Ben Saïd, Laura, M und W handelt (= metadiegetische Ebene). Weitere Folterakte Joans finden dann aber offenbar außerhalb des Krimis, d.h. auf der extradiegetischen Ebene statt, wobei der Ich-Erzähler als Henker der von Ben Saïd redigierten Anweisungen fungiert. Als M wird am Ende „le narrateur“ selbst entlarvt. Bereits dadurch, dass sich alle Figuren auf allen Erzählebenen wiederfinden und sich die Ebenen wechselseitig als Fiktion ausweisen, ist eine klare Zuordnung von extra-, intraund metadiegetischer Ebene unmöglich. Alle diese Ebenen gehen letztlich in der einen Textoberfläche auf. Angesichts dessen wäre nun zu fragen, ob es nicht ausreichte, hier von ‚Metalepsenʻ zu sprechen und auf den methodologisch nicht unproblematischen Vergleich mit topologischen Figuren zu verzichten. Die Metalepse hat den Vorteil, dass sie ein speziell für narrative Texte konzipierter Begriff ist. Dagegen bedürfen

(ebd.). Auch bleibt unklar, was es heißt, dass eine Erzählung ‚nur innerhalb einer Verdopplung existiertʻ. 113 „[E]lle [sc. Joan] aperçoit alors un policier en uniforme (il s’agit d’un déguisement de panoplie et d’un masque […]) qui […] s’avance vers elle“ (P 82). Übereinstimmend zeigen sich auch die Details von Joans Kleidung: „des chaussures en cuir vert, des bas noirs à jarretières de dentelle rose et […] la petite croix d’or“ (P 93); vgl. dazu P 78f. 114 Dies zeigt sich auch, wenn der Ich-Erzähler den Kriminalroman resümiert und zitiert (P 93 und 96–112). 115 Die folgende Darstellung ist schematisch und simplifizierend. Schon die Etikettierung der Kriminalroman-Lektüre als ‚extradiegetischʻ ist mit Blick auf den gesamten Roman nicht haltbar und dient hier nur heuristischen Zwecken.

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mathematische Objekte erst der Metaphorisierung und bergen mithin die Gefahr, Ähnlichkeiten zu suggerieren, die es womöglich gar nicht gibt.116 6.8 WER SPRICHT? – ERZÄHLER, AUTOR, REFERENZPROBLEM 6.8.1 Die Dezentrierung der Erzählinstanz Neu ist im Vergleich zu den Robbe-Grillet-Romanen der Frühphase, dass sich in Projet die Inkohärenzen der Raum-, Zeit- und Kausalstruktur nicht mehr dadurch plausibilisieren lassen, dass man sie als verzerrte Wahrnehmung oder Phantasterei einer Figur qualifiziert. Im Roman fehlt es nämlich an einem einheitlichen Bewusstseinsträger, der als Bezugspunkt für die Gesamtheit der (inkohärenten) Aussagen dienen könnte. Es gibt nicht einmal mehr ein ‚abwesendes Bewusstseinʻ wie in La Jalousie, wo der Blick eines eifersüchtigen Ehemannes zwar die gesamte Romanwelt strukturiert, ohne dass die Figur im Text erwähnt würde. Zwar taucht ständig ein Ich-Erzähler auf, jedoch mangelt es diesem an Konsistenz: Es mangelt ihm an einer stabilen Identität. Dies ist abermals eine Folge des Generatorenverfahrens, das sich auch über die Kohärenzbedingungen der Figurengestaltung, d.h. Kontinuität und Identität, hinwegsetzt. Auch hier folgt der Text also einer sprachlich-textuellen Logik, die weder mit den alltäglichen Regeln kognitiver Wirklichkeitskonstitution noch mit traditionellen Erzählregeln korrespondiert. Das Resultat ist ein ‚unzuverlässiger Erzählerʻ – und dieser ist eben nicht nur im Hinblick auf das, was er erzählt, sondern auch hinsichtlich seiner Identität unzuverlässig. Wohlgemerkt, es ist nicht so, dass sich einfach verschiedene, aber in sich kohärente Figuren als Erzähler abwechseln würden. Vielmehr hat sich die Identität der als Erzähler infrage kommenden Subjekte selbst aufgelöst, sodass die Frage ‚Wer spricht?ʻ (und mit ihr ‚Wer sieht?ʻ) nicht mehr eindeutig beantwortet werden kann. Robbe-Grillet selbst nennt dies das „éclatement du sujet“, die Forschung spricht auch von einer ‚dezentrierten Erzählinstanzʻ.117 Im Einzelnen gestaltet sich dies so, dass zwar regelmäßig ein Ich-Erzähler auftritt, jedoch unklar ist, wer sich jeweils dahinter verbirgt. Es kann der anonyme Ich-Erzähler des Romananfangs sein, aber letztlich auch jede andere im Roman erwähnte Figur. Mitunter wechselt die Erzählstimme ihre Referenz auch unterschwellig. In diesem Zusammenhang kommen zwei Verfahren zum Einsatz, deren ambiguisierende Wirkung in beiden Fällen auf der offenen Referenz der Personalpronomina beruht: a) der unvermittelte Wechsel von der Ich- zur Er-Erzählung (und umgekehrt), während die Handlung scheinbar bruchlos fortschreitet; b) fast unmerkliche Erzählerwechsel, bei denen zwar das Personalpronomen dasselbe bleibt, dieses aber unterschwellig den Bezug wechselt, die Erzählgewalt also in

116 Aus diesem Grund üben Ricardou (in: Morrissette 1972: 135f.) und Bloch-Michel (1973: 167f.) grundsätzlich Kritik an Morrissettes Wissenschaftsanalogien. 117 Voyageur [1988]: 557, Blüher 1992a: 95 und Barilli 1976: 396.

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einem glissement auf eine andere Figur übergeht. Dies sei nun an einigen Beispielen illustriert. Zu Beginn des Romans erfolgt inmitten des Berichts von Lauras Vergewaltigung ein Wechsel von ich zu er und zurück zu ich. Dieser Pronomenwechsel führt dazu, dass die Identität des Täters im Dunkeln bleibt. Das „je“ suggeriert, es handele sich um Lauras vermeintlichen Bruder, das „il“ hingegen, es sei ein unbekannter Aggressor. Der ‚Bruderʻ und Ich-Erzähler betritt seine Wohnung und öffnet die Tür zu Lauras Zimmer: „Lorsque j’ouvre la porte de la chambre, je découvre Laura dans cette posture d’attente anxieuse“ (P 15). Der Mann, der anschließend das Zimmer betritt und Laura vergewaltigt, wird dann jedoch ganz unvermittelt nicht mehr als „je“, sondern als „il“, „l’agresseur“ und „l’homme“ bezeichnet (P 17f.).118 Es folgt eine detaillierte Schilderung der Vergewaltigung in der dritten Person. Diese wird, wie bereits erwähnt, nach dem Zwischenruf des interrogateur („Et ensuite?“) in der Replik des Dialogpartners weitererzählt, also erneut in der ersten Person, von Lauras ‚Bruderʻ, geschildert: „Ensuite elle s’est calmée peu à peu. […] Quand elle a semblé morte, j’ai relâché mon étreinte“ (P 18f.). Dabei wird so getan, als hätte es den Er-Ich-Wechsel, der konventionell einen Bezugs- bzw. Figurenwechsel anzeigt, gar nicht gegeben, der Bericht der Vergewaltigung geht scheinbar bruchlos weiter. Die pronominale Differenzierungsfunktion wird hier – im Grunde regelwidrig – einfach überspielt.119 Er und ich scheinen sich auf dieselbe Person zu beziehen. Man könnte nun versucht sein, diesen Ich-Er-Wechsel zu plausibilisieren und als eine Form der figuralen Selbstdistanzierung zu deuten, genauer: als Hinweis auf ein latentes Schuldbewusstsein des Täters, der sich durch die Erzählung in der dritten Person von seiner Tat zu distanzieren sucht. Unterstützung fände man dabei bei Franz Stanzel, der den Wechsel von der Ich- zur Er-Erzählung als ein im modernen Roman durchaus übliches Verfahren charakterisiert, das mit der Psychologie der Bewusstseinsspaltung (z.B. in der Schizophrenie) zusammenzubringen und als Ausdruck einer wachsenden Identitätsproblematik zu werten sei.120 Des Weiteren lässt sich in Robbe-Grillets Gesamtwerk eine Tendenz feststellen, das eher unkonventionelle Verfahren, Figuren über sich selbst wie über Dritte sprechen zu lassen, zu konventionalisieren. Man könnte sogar von einer Art ‚Markenzeichenʻ Robbe-Grillets sprechen.121 Schon in Le Voyeur wird zumindest mit der Idee gespielt, dass sich hinter dem scheinbar neutralen Erzähler der Protagonist selbst verbergen könnte, der durch das Erzählen in der dritten Person seine Schuld zu kaschieren versuchte (eine, wie Robbe-Grillet selbst sagt, simplifizie118 Genau genommen handelt es sich also nicht nur um einen Wechsel des Personalpronomens, wie es ihn beispielsweise auch in der erlebten Rede gibt, sondern um einen Wechsel der Erzählsituation, denn es werden auch substantivische Bezeichnungen (l’agresseur, l’homme) verwendet, die ein Ich-Erzähler konventionell nicht gebraucht, um über sich selbst zu sprechen. 119 Darauf hat schon Lotringer (1976: 232) hingewiesen. 120 Vgl. Stanzel 2001: 143. 121 Zur Konventionalisierung derartiger Transgressionen bei Robbe-Grillet vgl. Suleiman 1981/82: 25.

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rende Deutung).122 In Projet selbst wird das Verfahren in einer mise en abyme schon deutlicher erkennbar: Laura resümiert für JR die Geschichte eines Mädchens, die sie auf dem Tonband gehört haben will (P 65f.). Einige Indizien sprechen dafür, dass Laura hier eigentlich ihre eigene Geschichte erzählt (zumal sie eine chronische Lügnerin sein soll). Am Ende bleibt aber offen, ob es sich bei dem Mädchen, über das sie spricht, um das Mädchen der Tonband-Geschichte oder um sie selbst handelt. In den Romanesques wird das Verfahren dann ganz explizit als solches benannt. Corinthe, heißt es dort, verfasse seine Memoiren „à la troisième personne“ und gewinne dadurch den Eindruck, sie handelten gar nicht von ihm, sondern von einem anderen (DJC 55). In Projet ist der Fall aber nun keineswegs so eindeutig wie bei Corinthe. Vielmehr gilt für den Roman insgesamt, was für die soeben zitierte mise en abyme festgestellt werden musste. Wie für Lauras Geschichte bleibt offen, ob je und il dieselbe Figur meinen, weil der Text völlig widersprüchliche Signale setzt: Die Kontinuität der Handlung spricht dafür, die Brüche in der Erzählhaltung dagegen. Gegen die psychologische Erklärung der ‚Selbstdistanzierungʻ spricht zudem, dass der Ich-Erzähler die Fortsetzung der Vergewaltigung völlig ‚distanzlosʻ in der Ich-, also der Täterperspektive schildert, von einem eventuellen Schuldgefühl also nicht das Geringste zu spüren ist. Die psychologische Erklärung ist darüber hinaus auch für andere Ich-Er-Wechsel nicht überzeugend (vgl. dazu etwa die Mutation des Ich-Erzählers zu il bzw. „le passant“ am Subway-Eingang, P 23). Die pronominalen Verwirrungen gehen aber noch weiter, denn es lässt sich nicht einmal mehr sagen, ob das erste je (der ‚Bruderʻ) mit dem späteren je (des Dialogs) identisch ist. Die Pronomina könnten nämlich unterschwellig die Referenz gewechselt haben und die Erzählstimme in eine andere Figur und/oder Situation übergegangen sein. Ein solches glissement der Erzählstimme gibt es beispielsweise in der Episode, die von JRs Besuch im Apartment am Central Park erzählt. Das erzählende ‚ichʻ bezieht sich plötzlich nicht mehr auf den männlichen Ich-Erzähler, sondern auf JR. Zunächst heißt es noch aus dem Mund des männlichen Ich: „Nous avons donc envoyé JR […] à l’adresse indiquée, dans Park Avenue“ (P 57). Dabei bezeichnet nous jene ‚Organisationʻ, für die der Ich-Erzähler und JR arbeiten. Nach einem Dialog (in direkter Rede) zwischen JR und Laura weisen dann die weiblichen Flexionsformen darauf hin, dass mit je nun JR und mit nous JR und Laura gemeint sind: „Puis nous nous sommes tues, toutes les deux, pendant un temps qui m’a paru assez long. Laura buvait sa limonade amère“ (P 58; Herv. C. S.). JR avanciert damit zur neuen Ich-Erzählerin. Wenig später kommt es allerdings zu einer geradezu paradoxen Rückverwandlung in den männlichen Erzähler. JR tritt – als je – ans Fenster und blickt hinaus, spricht dann aber über JR wie über eine Dritte: En quelques pas songeurs, j’arrive [sc. JR] cependant à la vaste baie, dont je soulève l’épais voilage de tulle. Je constate alors avec étonnement que la pièce où nous étions donne sur Cen-

122 Vgl. Voyageur [1985]: 521.

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tral Park, ce qui me paraît tout à fait impossible, étant donné la position de l’immeuble où JR vient de pénétrer quelques instants plus tôt. (P 60)

Wieder gibt der Text widersprüchliche Signale bzw. setzt sich über sämtliche Kohärenzkriterien hinsichtlich Raum, Zeit und Identitäten hinweg: Wenn es JR ist, die aus dem Fenster sieht, wie kann sie dann über sich selbst als JR sprechen? Wenn es der männliche Ich-Erzähler ist, wie konnte er plötzlich in das Apartment gelangen und JRs Position am Fenster einnehmen? Das Personalpronomen je hat hier vorübergehend eine doppelte oder, genauer, eine oszillierende Referenz – eine solche Ambivalenz ist derart freilich nur in der Sprache konstruierbar. Folgende Stelle zeigt, dass diese glissements der Erzählstimme wie ein ‚Kampf um die Erzählgewaltʻ inszeniert sind.123 Bei JRs drittem Besuch im Apartment am Central Park identifiziert Laura – von der Wohnung aus und während JR neben ihr steht – drei unten im Park befindliche Personen als Joan Robeson (alias JR), Ben Saïd und „le narrateur“ (P 72). Nicht allein, dass sich JR hier an zwei Orten zugleich befindet, begibt sich Laura, indem sie über ‚den Erzählerʻ spricht, auf eine Metaebene und schwingt sich somit metaleptisch zu einer übergeordneten Erzählinstanz auf. Das Ganze gipfelt schließlich in einer ‚Rückeroberungʻ der Erzählgewalt durch den sog. „narrateur“: Als Laura die so bezeichnete Figur erwähnt, präsentiert diese sich unvermittelt als ‚ichʻ und reißt durch diesen Trick die Erzählgewalt (wieder) an sich: „[L]e narrateur – disons ‚jeʻ, ça sera plus simple – cherche longuement, un peu à l’écart“ (P 73). Ausschlaggebend für das glissement scheint die bloße Erwähnung des Begriffs „le narrateur“ zu sein. Das gleiche Verfahren kommt auch am Romanende zum Einsatz. Dort will der IchErzähler seine Geschichte nach einer Unterbrechung eilig fortsetzen und zu Ende bringen: [J]e n’ai plus une minute à perdre. Il faut que je retourne auprès de cette adolescente fragile qui se morfond toujours dans sa cage, car M le vampire et le docteur Morgan regagnent à ce moment la petite salle blanche pour continuer l’interrogatoire […]. (P 213)

So weit, so unproblematisch. Dann jedoch nimmt M seine Maske ab, zum Vorschein kommt „le narrateur“. Und kaum ist dieses Wort gefallen, schlüpft die Erzählstimme, über alle Grenzen von Zeit, Raum und Identitäten hinweg, in die Figur und Situation dieses narrateur – und macht das erzählende mit einem Schlag zum erlebenden Ich: M décolle un instant son masque, d’un geste machinal, pour tenter d’effacer avec le plat de sa main les plis de son vrai visage, par-dessous; et Morgan, qui lève alors les yeux des paperasses accumulées sur la table, reconnaît avec stupéfaction les traits du narrateur. Sans hésiter, me voyant découvert... Coupure. (P 213f.; Herv. C. S.)

Es sollte deutlich geworden sein, dass angesichts dieser hochgradig instabilen Erzähleridentität nicht mehr, wie bisher, von ‚dem Ich-Erzählerʻ gesprochen werden kann. Zumindest dann nicht, wenn damit eine über den ganzen Roman hinweg stabile Figurenidentität assoziiert wird. Auch wenn der bestimmte Artikel 123 Robbe-Grillet spricht von einem ‚Kampfʻ, „dont l’enjeu est la conquête, toujours remise en question, de la place du narrateur“ (Voyageur [1972]: 126).

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(„le narrateur“) es immer wieder nahelegt, genau diese Identität hat die Erzählinstanz nicht.124 Offensichtlich ist, wie Gerda Zeltner bemerkt, „das Ich […] zum variablen Zeichen geworden, jede Figur kann es verwenden und momentweise zum Mitschöpfer der Geschichte werden“.125 Robbe-Grillet selbst spricht von einer „voix narratrice mobile“, einer mobilen Erzählstimme.126 Der Begriff ‚Ich-Erzählerʻ lässt sich in Bezug auf Projet also nur noch funktional verwenden. Er bezeichnet keine einheitliche Figur mehr, sondern eine Textfunktion. Die Erzählinstanz wird dadurch gewissermaßen entsubjektiviert bzw. entpersonalisiert. Das Ich ist hier offensichtlich, mit Barthes gesprochen, nur ein grammatisches Subjekt: „[J]e n’est autre que celui qui dit je: le langage connaît un ‚sujetʻ, non une ‚personneʻ“.127 Gleichwohl geriert sich dieses Konstrukt ‚Erzählinstanzʻ ständig als ein persönliches Subjekt, als ein handelndes und ins Geschehen involviertes Individuum. In genau diesem Kontrast von Offenlegung als Textkonstrukt einerseits und figürlicher Gestaltung andererseits besteht nun der Clou des Romans: Nur weil sich die Erzählinstanz immer auch als individuelles Subjekt inszeniert, kann die Dekonstruktion des Erzählers zugleich zu einer Dekonstruktion des Subjekts werden. Die Dezentrierung der Erzählinstanz impliziert also gerade keine Aufhebung der Perspektivierung (bzw. Rückkehr zur Nullfokalisierung), sondern bindet das Gesagte ständig an ein Äußerungssubjekt, das je, zurück. Wer im Einzelnen auch immer hinter dem Ich stecken mag, inszeniert wird stets seine subjektiv eingeschränkte Perspektive. Problematisch scheint es daher, von einem ‚völligen Verschwinden des Subjektsʻ oder einem ‚subjektlosen Erzählenʻ zu sprechen.128 Vielmehr muss die de124 Problematisch ist insofern die Annahme, es gäbe den einen Erzähler, der dann, in einem weiteren Schritt, in die Rolle ‚seiner Figurenʻ schlüpfte. Diese These vertreten u.a. KryssingBerg (1980: 9 und 13), die explizit nur „un seul narrateur“ anerkennt, „[qui] se glisse dans tous les personnages“, Assali (1980: 191): „[D]ans Projet, le narrateur devient ses personnages au fur et à mesure que les séquences prolifèrent“, sowie Morrissette (1971: 290): „Chaque personnage peut devenir un double du narrateur: c’est lui, au centre de sa création, qui engendre, ordonne et domine tout le roman.“ Zwar meint auch Ricardou (1971: 229), der Erzähler ‚tendiere dazu, von einem Moment auf den anderen zu jeder einzelnen der Figuren zu werdenʻ, setzt aber „le narrateur“ in Anführungszeichen und deutet damit zumindest an, dass es sich nur um eine Textfunktion handelt. 125 Zeltner 1974: 63. 126 Robbe-Grillet 1972: 165. – Ausdrücklich gegen die Annahme einer mobilen Erzählstimme wendet sich Kryssing-Berg (1980: 8), die nur einen einzigen Erzähler, „le ‚jeʻ d’un narrateur protéiforme“ sieht: „D’après mon analyse, l’instance narrative ne change pas de voix malgré les apparences du signifiant. Tous les personnages ayant accès au discours sont des métamorphoses du ‚jeʻ“. Dabei übersieht sie allerdings, dass genau diese ‚Metamorphosenʻ nur von der Erzählstimme, mithin einem Textkonstrukt vollzogen werden: Hier wechselt keine Person die Gestalt, sondern der Text sein grammatisches Subjekt. 127 Barthes 1994: 493. – Zu ähnlichen Einschätzungen vgl. Küpper (1987: 184), für den die „Einheit der Erzählinstanz […] ein purer ‚nomʻ“ ist; Roudiez (1991: 156), der den Erzähler auf „a purely grammatical function“ reduziert sieht; oder Silverman/Torode (1980: 282), denen zufolge die Erzählstimme als bloßes „textual device“ transparent wird. Vgl. ebenfalls Barilli 1976: 395. 128 Barilli spricht von der „disparition définitive du sujet“ (ebd.).

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zentrierte Erzählinstanz im Licht des poststrukturalistischen sujet décentré (Lacan) bzw. sujet dispersé (Barthes) betrachtet werden.129 Schon die Figuren, deren Identität sich in vielfältigen Namensvariationen auflöst, erscheinen als Inkarnationen dieses in der ‚unendlichen Signifikantenkette verlorenen Subjektsʻ; vgl. beispielsweise: JR (P 56) alias Joan Robeson (P 72) alias Joan Robertson (P 188) alias Jean Robertson (P 210); Sara „la belle métisse“ (P 91f. u. 190) alias Sarah Goldstücker (P 191) alias „Sarah la métisse“ (P 208). Bis hierher wirkt Projet wie eine mehr oder weniger plakative Realisierung jener Barthes’schen Konzeption aus La mort de l’auteur, der zufolge sich im vieldimensionalen Raum des Textes alle Ursprünge und Identitäten, auch die des Sinns und des Subjekts, auflösen. Was bleibt, ist demnach ein Gewebe aus kulturellen Zitaten, in dem sich verschiedene Stimmen (bzw. écritures) vereinen und bekämpfen: [L]’écriture est destruction de toute voix, de toute origine […], c’est ce neutre, ce composite, cet oblique où fuit notre sujet, le noir-et-blanc où vient se perdre toute identité […].130 [U]n texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique […], mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture.131

Eins jedoch trennt Robbe-Grillet und Barthes (und Tel Quel): jener scripteur, der nach Barthes in der modernen Literatur an die Stelle des ‚totenʻ Autors tritt und nicht mehr als Individuum hinter dem Text existiert, sondern nur noch ein willenloses Instrument zur Niederschrift des sich selbst generierenden Textes ist: „[L]e scripteur moderne […] n’est d’aucune façon pourvu d’un être qui précéderait ou excéderait son écriture, il n’est en rien le sujet dont son livre serait le prédicat“.132 Von dieser Idee eines subjektlosen Erzählens distanziert sich Robbe-Grillet nicht nur in seiner Theorie, sondern, wie sich an Projet zeigt, auch in seiner Praxis des Schreibens. 6.8.2 Die Illusion vom ‚Tod des Autors‘ Bei aller Kritik an der traditionellen autor- und biographiezentrierten Romanrezeption hält Robbe-Grillet an der Instanz des Autors als einem bewusst konstruierenden Subjekt fest. Der Autor zeichnet für seinen Text verantwortlich und ist damit weit mehr als der scripteur, dessen Verfügungsmacht sich laut Barthes darauf beschränkt, die verschiedenen écritures in einem Text zu ‚mischenʻ.133 Schon Mitte der siebziger Jahre stuft Robbe-Grillet die Idee vom ‚Tod des Autorsʻ als illusorisch ein, räumt zugleich jedoch ein, dass sie für sein Schreiben zu einem 129 130 131 132 133

Vgl. Kap. 4.4.2 Das fragmentierte Subjekt und die Konstruktion des Ich. Barthes 1994: 491. Ebd. 493f. Ebd. 493. „[S]on seul pouvoir est de mêler les écritures“ (ebd. 494).

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bestimmten Zeitpunkt durchaus interessant und produktiv gewesen sei.134 Dies lässt sich so interpretieren, dass Robbe-Grillet um das Jahr 1970 schlicht noch Bedarf gesehen hatte, dem Leser die autorzentrierte Rezeption auszutreiben. Insofern markiert das Theorem vom ‚toten Autorʻ literarhistorisch einen wichtigen Punkt – nur fällt die Zäsur bei Robbe-Grillet eben nicht so radikal aus wie bei Tel Quel. Robbe-Grillet dekonstruiert die traditionelle Erzählinstanz, nicht jedoch den Autor als Textproduzenten – und zwar, um sich nicht selbst die eigene gestalterische Freiheit, seine „volonté d’intervention“, aberkennen zu müssen.135 In Projet wird also mit der Idee des subjektlosen Erzählens höchstens gespielt: Der figürliche Erzähler wird als bloße Textfunktion ausgewiesen und dadurch ‚entsubjektiviertʻ. So entsteht zumindest bis zu einem gewissen Grad die Illusion, der Text erzähle sich selbst.136 Dazu passt, dass der Roman (anders als noch Maison oder Dans le labyrinthe) nicht unmittelbar mit dem Auftritt eines erzählenden Ich beginnt, sondern dieses Ich von der Frage „Mais quelle scène?“ förmlich erst hervorgerufen wird.137 Im Laufe des Romans mehren sich dann jedoch die Hinweise darauf, dass sich der Text gerade nicht selbst erzählt, sondern das Produkt eines bewusst und willentlich agierenden Subjekts ist, das dem Text vorausgeht.138 Dies zeigen zum einen diverse mises en abyme; darunter jene, in der der Ich-Erzähler im Zuge seiner Krimilektüre über den unterschiedlichen Wissensstand von Figuren, Leser, Erzähler und Autor reflektiert: [J]e me suis aperçu, dans mon rapide parcours du roman, que, des trois éléments du secret gardé par l’héroïne, l’un était connu par le lecteur, le second par le narrateur lui-même, et le troisième par l’auteur du livre uniquement. (P 92)

Hier geht es nicht darum, den Autor als notion périmée zu verabschieden, sondern in seiner Differenz (seinem Wissensüberschuss) zum Erzähler zu markieren. Erinnert wird auf diese Weise daran, dass zwischen Autor und Erzähler unterschieden werden muss und die Aussagen des Erzählers nicht einfach dem Autor zuge134 Robbe-Grillet äußert 1975 auf dem Colloque de Cerisy: „Pour moi, l’évacuation de l’auteur a été un moment extrêmement intéressant de la pensée critique et qui a été à l’origine d’un travail tout à fait producteur. Je me demande simplement si le moment n’est pas venu de réintroduire l’auteur dans le texte“ (Ricardou 1976: Bd. II, 313). Vgl. auch: „[L]a disparition de l’auteur avait seulement quelque chose de plaisant, mais d’illusoire“ (ebd. 314). 135 Voyageur [1972]: 133. 136 Insofern ist Nelting (1996: 102) zuzustimmen, dass die „Auflösung des Erzählers“ den „‚Tod des Autorsʻ konnotiert“. Daraus zu schlussfolgern, dass Projet ein „sich selbst generierende[r] Text“ sei, scheint mir hingegen ein Irrtum (ebd. 112). 137 Vgl. im Kontrast dazu den Beginn von Maison: „La chair des femmes a toujours occupé, sans doute, une grande place dans mes rêves“ (Maison 11), sowie Dans le labyrinthe (Paris: Minuit, 1959, S. 9): „Je suis seul ici, maintenant, bien à l’abri“. 138 So sieht es auch ein Großteil der Forschung, allerdings ohne es auf das Theorem des ‚toten Autorsʻ zu beziehen. Vgl. z.B. Deneau (1979: 39): „[T]he randomness of the text and the subject matter are controlled by a clever artist, the inventor of the inventive narrator“; oder Ramsay (1992: 95), die vom „choice of an individually situated ‚constructorʻ selecting his material“ spricht.

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schrieben werden können. Gerichtet ist dies gegen biographistische Rezeptionsweisen. Andere Stellen heben hervor, dass Texte bewusst gestaltete Konstrukte sind, etwa wenn der Erzähler – in seiner fiktionsinternen Rolle als Textproduzent des rapport – anmerkt, in seinem Bericht sei nichts dem Zufall überlassen: „Je fais mon rapport, un point c’est tout. Le texte est correct, et rien n’est laissé au hasard, il faut le prendre tel qu’il est“ (P 189).139 Auch die Reflexion des Erzählers über das Auftauchen von Katze und Gehörlosem demonstriert, dass das Generatorenverfahren kein selbsttätiger Mechanismus ist, sondern dem Willen (bzw. der Willkür) eines Subjekts unterliegt. Nach einigem Nachdenken entscheidet sich der Erzähler nämlich, die Katze, anders als den Gehörlosen, vom weiteren Verlauf seiner Geschichte auszuschließen: „[L]e chat n’a encore joué aucun rôle ici, à ma connaissance; il ne peut donc s’agir que d’une erreur…“ (P 208). Es wird also keineswegs jedes Textelement automatisch auch zum Generator, sondern es ist der Erzähler, der hier – als fiktive Produktionsinstanz in Stellvertretung des Autors als realer Produktionsinstanz – darüber entscheidet, was in seiner Erzählung eine Rolle spielt und was nicht. Die Willkür manifestiert sich auch in der wenig plausiblen Identifikation des Gehörlosen als Trompeter des „Vieux Joë“. Auch das Argument, die Katze sei noch nicht erwähnt worden, kann nicht überzeugen, denn dies gilt ja auch für den sourd. Die Selektion der Generatoren wird damit als willkürlicher, aber nichtsdestoweniger reflektierter „choix“ offengelegt.140 Wenn es auch in diesen Beispielen um die Verfügungsmacht des Erzählers über seinen rapport geht, so spiegelt sich darin doch die volonté d’intervention des Autors in Bezug auf seinen Roman.141 Über diese mises en abyme hinaus verweist der Text von Projet aber auch strukturell auf eine dem Erzähler übergeordnete (Autor-)Instanz. Zu nennen ist als erstes das ständige Aufrufen des déjà dit, denn dieses verweist auf den Text als eine Einheit, die über die dezentrierte Erzählstimme hinausgeht. Für diese Einheit ist ein einheitliches Äußerungssubjekt anzusetzen, das es auf der Ebene der Erzählinstanz jedoch nicht gibt. Wenn es nicht die Erzählinstanz ist, so muss es jemand anderes sein, der den Überblick über die Gesamtheit aller Textaussagen hat und Rückverweise auf das bereits Gesagte machen bzw. dem jeweiligen Erzähler in den Mund legen kann. In den Blick kommt hier der Autor mit seinem auktorialen Wissensüberschuss, auf den ja bereits mit „connu […] par l’auteur du livre uniquement“ (P 92) angespielt wurde. Ähnlich funktionieren die Selbstzitate aus Robbe-Grillets früheren Werken.142 Sie verweisen – nun über die Grenze des Ein139 Zum Ausweis des Romans als ein bewusstes projet eines Subjekts vgl. Kap. 6.5.2 Der Text als projet. 140 Voyageur [1972]: 133. 141 Ausdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass es hier nicht um eine Gleichsetzung von Erzähler und Autor geht, sondern nur um eine mise en abyme, in der der Erzähler insofern die Rolle eines Autors einnimmt, als er – fiktionsintern – ebenfalls als Textproduzent auftritt, nämlich als Verfasser des rapport. 142 Dazu gehören das Spiegel-Aquarium (P 13, 115) und Dr. Juard (P 207) aus Les Gommes; Johnson (P 55) und der „vieux roi Boris“ (P 209) aus Maison bzw. Un Régicide; die „corde-

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zeltextes hinaus – ebenfalls auf den realen Autor, nämlich als Konstrukteur ein und desselben Romanuniversums. Die Hypertrophie der déjà dit-Formeln und Selbstzitate macht klar, dass sie nicht dem Zufall geschuldet sind. Sie weisen den Roman damit abermals als bewusstes Konstrukt eines Autorsubjekts aus, in dem „rien n’est laissé au hasard“. Darüber hinaus kann man, mit etwas Phantasie, auch in der „robe“, die auf Joans Bügelbrett verbrennt (P 97), eine Anspielung auf das externe Kommunikationssystem sehen: Diese robe grillée wäre eine (versteckte) Signatur des realen Autors, die dem Leser zeigte, wer hinter dem Text steht.143 Zentral ist, dass diese Verweise auf den Autor nur impliziter Natur sind. Sie verweisen auf eine übergeordnete Instanz nur mangels eines innerfiktionalen Bezugszentrums. Der Autor Alain Robbe-Grillet tritt also weder als „another character“ (Pugh) auf, noch ist die ‚Stimme des Autors selbst‘ im Text zu hören (wie Robbe-Grillet in Bezug auf Maison behauptet).144 Die besagten Verweise sind Verweise auf die Autorinstanz, zeugen von deren Existenz und bewusstem Tun, qualifizieren diese Existenz aber in keiner Weise. Sie sagen also nichts über die Person oder Persönlichkeit des Autors aus. Entsprechend kritisch zu werten sind Robbe-Grillets Äußerungen über die in Projet omnipräsente imagerie sadique. Er argumentiert, bereits die übergroße Menge sadoerotischer Szenen im Roman sei ein Indiz dafür, dass der Autor diesem Thema nicht gleichgültig gegenüber stehe. Hinter den Bildern verberge sich sehr wohl eine ‚Tiefe‘, und zwar die des Autors: L’insistance cependant de ces images acquiert très vite un caractère obsédant, inquiétant même à la longue; et l’on se prend bientôt à douter du parfait détachement de l’écrivain vis-àvis de fantasmes aussi répétitifs, aussi spécialisés, aussi cohérents. Après Projet pour une révolution, où les scènes sado-érotiques tournent au vrai délire, il faut se rendre à l’évidence: derrière cette imagerie sans personnalité […], il y a bien une profondeur, et c’est celle de Robbe-Grillet.145

Es soll hier gar nicht bezweifelt werden, dass die sadoerotischen Elemente RobbeGrillets persönlichen Neigungen entsprechen; er selbst hat sich in Interviews wiederholt dazu bekannt.146 Fraglich ist nur, dass sich dieser Umstand, wie hier behauptet, am Text von Projet selbst ablesen lässt – dies wäre doch gerade jene biographistische Lektüre, die Robbe-Grillet unterbinden will. Das gehäufte Auftreten

143 144

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lettes“ (P 10) sowie die „bicyclette“ des „voyeur“ (P 185f.) aus Le Voyeur; Fran[c]k (P 44) aus La Jalousie und „Dehors il pleut“ (P 34) aus Dans le labyrinthe. Zu weiteren Beispielen vgl. Morrissette 1971: 286f. Zur Deutung der „robe“ als robe grillée und Anspielung auf den Namen des Autors vgl. bereits Sturrock 1971. Für Pugh (1974: 123) belegen die metanarrativen Kommentare „the presence of another character, […] the novelist himself. Every so often he muses about what is happening, or about what he ought to be doing.“ – Zu Robbe-Grillets Aussage über die Stimme des Autors in Maison vgl.: „[Q]ui raconte [dans Maison]? Nous aurons successivement identifié dans cette voix: celle de l’auteur lui-même, celle du gros homme au teint rouge, celle de Ralph Johnson […], etc.“ (Voyageur [1972]: 126). Ebd. 119f. Vgl. etwa Voyageur [1970]: 397.

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der sadoerotischen Motive belegt zunächst einmal nur, dass diese nicht zufällig, sondern bewusst gesetzt sind. Es sagt aber noch nichts über eine Wertung oder persönliche Neigung des Autors. Um die imagerie sadique indexikalisch, d.h. hier als Vorliebe des Autors, interpretieren zu können, bedarf es eines zusätzlichen, extratextuellen Wissens. Insofern erweist sich der Hinweis auf die profondeur als Falle für den Leser. Hinsichtlich der Präsenz des Autors im Text verfolgt Robbe-Grillet also erneut eine Doppelstrategie: Die traditionell autorzentrierte, referentielle Lektüre soll unterbunden, zugleich aber die Bindung an ein Autorsubjekt indiziert werden. Selbst wenn der reale Autor nicht unmittelbar im Text sichtbar wird, ist er doch als Entscheidungsträger hinter dem Text anzusetzen – und zwar als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der den Text formt und prägt und, anders als Barthesʼ scripteur, durchaus über „passions, humeurs, sentiments, impressions“ verfügt, auf dessen Person jedoch, ausgehend vom Roman allein, keine Rückschlüsse möglich sind.147 6.8.3 Das unlösbare Referenzproblem Die problematische Präsenz des Autors im fiktionalen Text bildet nur einen, wenngleich zentralen Teil jenes übergreifenden „problème insoluble de la représentation“, das Robbe-Grillet im Zentrum seines Werks ansiedelt.148 Die ‚Lösungʻ besteht für Robbe-Grillet offenbar in der Inszenierung der Unlösbarkeit des Referenzproblems. Er versucht den fiktionalen Text als sowohl von der Wirklichkeit losgelöst als auch an sie gekoppelt vorzuführen. Einerseits soll der Roman den Anspruch auf Wirklichkeitsdarstellung ablegen und sich als bloßes Artefakt zu erkennen geben. Andererseits soll er sich gerade aufgrund des Artefaktstatus als in der Wirklichkeit verankert zeigen, genauer: sich als Produkt eines menschlichen Subjekts ausweisen und seine Herkunft aus der Gedanken- und Imaginationswelt eines realen Autors verdeutlichen. Der Realitätsbezug eines Textes wird also nicht mehr in einem Abbildverhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit gesucht, sondern im Prozess des Erzählens, Imaginierens und Schreibens als einem Teil menschlicher Lebenspraxis. Abschließend sei ausnahmsweise ein Beispiel aus La Maison de rendez-vous zitiert. Denn dort wird das Sowohl-als-auch zwischen Referentialität und Areferentialität in den beiden widersprüchlichen Vorbemerkungen besonders anschaulich. In der ersten Vorbemerkung warnt ‚der Autorʻ davor, den Roman als Dokument, also als faktualen Text zu lesen. Der Roman erhebe keinen Anspruch auf Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit. Es handelt sich also um eine Warnung vor dem realistischen Fehlschluss:

147 Barthes 1994: 494. 148 Voyageur [1956/78]: 53.

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6 Projet pour une révolution à New York L’auteur tient à préciser que ce roman ne peut, en aucune manière, être considéré comme un document sur la vie dans le territoire anglais de Hong-Kong. Toute ressemblance, de décor ou de situations, avec celui-ci ne serait que l’effet du hasard, objectif ou non. (Maison, o.S.)

Beim Umblättern auf die nächste Seite wird der Leser dann allerdings mit einer zweiten Vorbemerkung des Autors konfrontiert, die auf den ersten Blick in offenem Widerspruch zur ersten zu stehen scheint. Hier nämlich insistiert ‚der Autorʻ auf der ‚Übereinstimmung der beschriebenen Orte mit der Realitätʻ: Si quelque lecteur, habitué des escales d’Extrême-Orient, venait à penser que les lieux décrits ici ne sont pas conformes à la réalité, l’auteur, qui y a lui-même passé la plus grande partie de sa vie, lui conseillerait d’y revenir voir et de regarder mieux: les choses changent vite sous ces climats. (Maison, o.S.)

Es handelt sich bei den beiden Vorbemerkungen um die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille. Während die erste Bemerkung darauf aufmerksam macht, dass eine Romanfiktion keine realistische Darstellung der Wirklichkeit ist, erinnert die zweite daran, dass der Text als sprachliches Konstrukt einem subjektiven Bewusstsein entspringt. Man wird dazu zunächst fragen müssen, worin die ‚Konformität der beschriebenen Orte mit der Wirklichkeitʻ bestehen könnte, wenn man zugleich die Warnung vor dem realistischen Fehlschluss ernst zu nehmen versucht. Stutzig macht die Behauptung des ‚Autorsʻ, er habe an den ‚beschriebenen Ortenʻ den ‚größten Teil seines Lebensʻ verbracht. Geht man von Robbe-Grillets Biographie aus, können damit nicht Orte in Fernost gemeint sein. So kommt in den Blick, dass mit den „lieux décrits“ keine realen, sondern imaginäre Orte gemeint sein müssen. Dies würde auch erklären, warum es heißt, die Dinge änderten sich dort rasch. Denn nichts wandelt sich schneller als flüchtige Konstrukte im Kopf. Die Empfehlung an den ungläubigen Leser, ‚an diese Orte zurückzukehren und genauer hinzuschauenʻ, hieße dann nichts anderes als den Roman erneut zu lesen und das Beschriebene als textgewordene Phantasien des Autors zu erkennen. Insofern dreht es sich auch in den Romanen der ‚mittleren‘ Phase, die von der Forschung teilweise unter ein völlig selbstreferentielles Schreiben subsumiert werden,149 noch um die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug fiktionaler Texte – wenngleich auf gänzlich neue Art und Weise. Man wird allerdings feststellen müssen, dass das angestrebte Oszillieren zwischen Areferentialität und Referentialität in Projet nicht so zu spüren ist, wie Robbe-Grillet es offenbar gerne hätte. Dies liegt nun freilich daran, dass der Roman keinerlei Signale für eine referentielle Lektüre enthält (anders als Maison, wo der ‚Autorʻ in den Vorworten erwähnt wird, und anders als in den Romanesques, wo zumindest teilweise ein autobiographischer Pakt angeboten wird).

149 Blüher (1992a: 98) spricht von der „totale[n] sprachautonome[n] Autoreferentialität des Nouveau Nouveau Roman“. Vgl. ähnlich Barilli 1972: 12ff. und Warning 1999a: 87, Anm. 12.

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6.8.4 Sadoerotik: Katharsis des ‚gesellschaftlichen Unbewussten‘? Abschließend einige wenige Bemerkungen zu den – in der Forschung vieldiskutierten – images sadiques. Es ist wenig dagegen einzuwenden, wenn RobbeGrillet angibt, es handele sich bei den sadoerotischen Bildern um seine eigenen Phantasmen, die aber generell in der Gesellschaft weit verbreitet seien.150 Problematisch wird es hingegen, wenn er versucht, ihre Darstellung damit zu rechtfertigen, sie seien Teil des kollektiven Unbewussten, des „inconscient collectif de la société“, von dem er sich und seine Leser mithilfe seiner Romane befreien könne.151 Problematisch ist daran zum einen der Anspruch, er könne wissen, worin das gesellschaftliche Unbewusste besteht bzw. was, wie Robbe-Grillet selbst formuliert, ‚in den Köpfen der Menschenʻ steckt. Dies zeigt sich bereits am Beispiel der New York-Darstellung in Projet, von der Robbe-Grillet behauptet hatte, es handele sich dabei um den ‚modernen Mythosʻ New York, wie er als „objet mental“ in den Köpfen der Menschen existiere: „c’est vrai dans la tête des gens“.152 Wie Spencer treffend bemerkt, ist das New York von Projet aber vielmehr eine „ville imaginaire au second degré“, d.h. es entspricht weniger einem vermeintlichen allgemeinen New York-Bild, als (wenn überhaupt) dem, was Robbe-Grillet dafür hält.153 Das Gleiche gilt für die vermeintlichen Phantasmen der Gesellschaft. Fraglich ist zudem der von Robbe-Grillet unterstellte kathartische Effekt seiner Texte auf den Leser: „La lecture est une ‚catharsisʻ, le spectacle une purgation“.154 Mit dem gleichen Argument rechtfertigt Dr. Morgan in Projet die von ihm produzierte sadoerotische Fernsehserie „qui essaie d’opérer une catharsis générale des désirs inavoués de la société contemporaine“ (P 154).155 Mit der plakativen Darstellung der ‚Angstbilderʻ, so Robbe-Grillet, wolle er sich selbst und die Gesellschaft davon befreien. Ansonsten drohten sie die Menschen im Geheimen zu überfallen: „[C]es images de peur et de violence […] menacent sans cela de nous envahir à notre insu“.156 Damit ist aber freilich noch nicht gesagt, warum die Bewusstwerdung nicht auf andere, kritischere Weise erfolgen kann, als dies in Projet geschieht. Der Katharsis-Anspruch ist von der Forschung lebhaft diskutiert und sehr unterschiedlich bewertet worden.157 Häufig ist zu lesen, die ironische Brechung und die übertriebene, derealisierende Darstellung verhindere, dass der Leser die sadoerotischen Bilder ernst nehme.158 Gleichwohl können sich viele Kommentatoren 150 151 152 153 154 155

Vgl. Voyageur [1970]: 397 und Voyageur [1972]: 119f. Voyageur [1970]: 106. Voyageur [1970]: 398. Spencer 1976: 76. Voyageur [1970]: 400. Vgl. ebenfalls den Vergleich der Jungfrauenpfählung mit dem antiken Theater und dessen kathartischem Effekt; die Rede ist von einer „mise en scène d’une mythologie aussi meurtrière que cathartique“ (P 39). 156 Voyageur [1970]: 399. 157 Einen kathartischen Effekt anerkennt z.B. Stoltzfus 1985: 129f. und Stoltzfus 2004: 75. 158 Vgl. Sturrock 1971: 12, Spencer 1976: 77–79 und Deneau 1979: 49–51.

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des Eindrucks nicht erwehren, dass trotz der Brechungen die Stereotypen doch eher (affirmativ) reproduziert als dekonstruiert werden.159 Man mag den Grund darin sehen, dass, wie Susan Sontag argumentiert, Pornographie auch in der Parodie stets Pornographie bleibe.160 Darüber hinaus fällt auf, dass es in Projet, ähnlich wie bei de Sade, kein ‚Außerhalbʻ des sadistischen Systems gibt. Es gibt nur eine „Gemeinschaft von Sadisten und Opfern“, in der alle Figuren, sogar die Kinder, in das lustvoll-gewalttätige Spiel einzuwilligen scheinen.161 Es fehlt sozusagen der Kontrapunkt zu den sadoerotischen Inszenierungen. Als einziger Kritiker tritt punktuell der interrogateur auf; seine Einwände werden vom Erzähler jedoch abgetan (P 188f.). Ein Außerhalb gibt es aber auch deswegen nicht, weil die sadoerotischen Motive figuren- und erzählerübergreifend auftreten und nicht mehr mit einer bestimmten Erzähler- oder Figurenperspektive zu verrechnen sind. Ebenso wie die déjà-dit-Formeln verweisen sie dadurch auf eine übergeordnete Autorinstanz zurück, die als realer Urheber des Textes für die Auswahl der darin dargestellten Inhalte – und seien es die vermeintlichen Phantasmen der Gesellschaft – verantwortlich ist. Insofern diese Auswahl eine bewusste ist (was Robbe-Grillet ja immer wieder betont), ist sie weniger repräsentativ für das, was ‚in den Köpfen der Menschenʻ, als was in Robbe-Grillets Kopf vor sich geht. So gesehen handelt 159 Eine klare Reproduktion und Fortschreibung der Stereotypen konstatieren beispielsweise Smyth (2000: 70): „Robbe-Grillet tends to reproduce stereotypes, even if he is able to claim that it is for a wider purpose. […] [H]e is perpetuating these representations“, Suleiman (1977: 57): „Far from deconstructing male fantasies of omnipotence and total control over passive female bodies, Projet repeats them with astonishing fidelity“ sowie Phillips (1990: 183): „Projet perpetuates the pornographic premise of woman’s body as object to be hurt.“ Nelting (1996: 63f.) seinerseits bezweifelt, dass ein Roman wie Projet von Affekten reinigen könne: Die „Katharsis von Projet [sei] eine Karikatur“, eine bloße Simulation, die als solche „ihrer klassischen Funktion nicht mehr nachkommen k[önne]“: Der Roman bewirke keine Katharsis von Affekten, sondern „von ‚ungesundenʻ zirkulierenden Zeichen“. Einige Forscher sehen gerade in der ironisch-parodistischen Brechung das Problem: Für Spencer (1976: 81f.) etwa führt diese keineswegs zur Zerstörung der Stereotypen, sondern konstituiert selbst neue Stereotypen („le discours ironique ou parodique n’étant finalement qu’une nouvelle stéréotypie“); die vermeintliche Reinigung des Lesers von seinen Phantasmen bleibe daher reichlich ambivalent („assez ambigüe“). Clayton (1977: 113) sieht sogar mehr eine Gefangennahme als eine Befreiung des Lesers („Robbe-Grillet is more jailor than liberator“): Gerade die Desillusionierungsstrategien ermöglichten die distanzierende Betrachtung und den ungehemmten Genuss der sadoerotischen Szenen (ebd. 115). Für Newton (2005: 140) ist das Resultat denn auch nicht eine bloße Perpetuierung, sondern sogar eine Verstärkung der stereotyp vermittelten Misogynie: „Far from ‚making strangeʻ, Robbe-Grillet is re-enforcing misogyny rather than dislodging or disempowering it.“ Weniger eindeutig positionieren sich Deutsch (1983: 48 und 61), die Robbe-Grillet aber immerhin „eine riskante Gratwanderung zwischen Entlarvung und Reproduktion“, zwischen Einlösung des kathartischen Anspruchs und Fortschreibung von Klischees bescheinigt, sowie Wolf (2010: 370), die ihrerseits Zweifel am parodistischen Charakter der sadoerotischen Darstellungen hegt. 160 Sontag 1968: 53. 161 Nelting 1996: 117. – Vgl. z.B. Lauras Genuss an der Vergewaltigung (P 206), ihre erotischen Posen vor der versteckten Kamera (P 155) oder das sadistische Blindekuhspiel der Schulmädchen (P 119). Auch Suleiman (1977: 57) bestätigt: „[T]he victims in Projet are described as if they experienced pleasure in the course of their torture“. Vgl. auch Deneau 1979: 43.

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es sich also weniger um die Mythen der Gesellschaft als um Robbe-Grillets Privatmythos.162 6.9 ZUSAMMENFASSUNG (PROJET POUR UNE RÉVOLUTION À NEW YORK) Projet pour une révolution à New York zeigt eindrücklich, wie Robbe-Grillet mit den Romanen der Nouveau Nouveau Roman-Phase die Denaturalisierung und Dekonstruktion von Text und Wirklichkeit auf die Spitze treibt. Beides, Text und Romanwelt, wirkt derart künstlich und artifiziell, dass jede Wirklichkeitsillusion von vornherein unterbunden wird. Ganz offensichtlich wird, dass der Roman der außertextuellen Wirklichkeit weder Rechnung tragen kann noch soll. Zu den Techniken der Artifizialisierung zählen die nichtessentialistische Figurengestaltung, die Künstlichkeit der Romanwirklichkeit, metafiktionale Kommentare, die Dynamisierung und Theatralisierung des Erzählens, intertextuelle Bezüge, die Kumulation von Artefaktbezügen, eine serielle Struktur mit inkompatiblen Varianten etc. Anders als Les Gommes, wo die Tradition noch hauptsächlich im Kontrastverfahren, d.h. mit der Doppelstrategie von hommage-destruction, dekonstruiert wurde, arbeitet sich Projet nicht mehr primär an traditionellen Folien ab. Zwar gibt es noch Relikte des Kontrastverfahrens – als in den Roman eingeschriebene Negativvorbilder fungieren beispielsweise das exposé idéologique oder das Wahrheitskonzept der Revolutionäre. Im Ganzen betrachtet jedoch schreibt Projet diese Folien nicht mehr explizit ein. Stattdessen wird das Erzählen hier als ein ‚Konstruieren aus dem Nichtsʻ inszeniert, das seinen Ausgang von einer ‚reinenʻ Struktur nimmt: von jenem abstrakten déroulement der Szenen, das die Form gegenüber dem Inhalt prioritär setzt. Die Spiralbewegung (révolution) dieses Konstruktionsprozesses steht dabei nicht zuletzt für das neuartige Generatorenverfahren, das immer neue ‚Erzählspiralenʻ hervorbringt und mit dem Robbe-Grillet die ‚Revolution des Erzählensʻ gegen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre neu aufzulegen gedenkt. Diese literarische Revolution zielt nicht zuletzt auf die Erneuerung des (frühen) Nouveau Roman selbst, gestaltet sich aber ebensowenig wie dieser als radikaler Bruch mit dem Früheren, sondern als dessen Weiterentwicklung. Der Nouveau Nouveau Roman ist zumindest in Teilen eine Reprise, eine transformierende Wiederaufnahme, des Robbe-Grillet’schen Frühwerks. In Projet beispielsweise bildet der Weg des Henkers über den terrain vague eine réécriture von Garinatis gescheitertem Mordversuch: Erneut wird damit das Weltmodell der mechanischen Physik (mit linearer Zeit, Kausalität und euklidischem Raum) dekonstruiert und ein antideterministisches, freies Welt- und Menschenbild inszeniert. Die These der Konstruktivität der Wirklichkeit wird in Projet insofern also bekräftigt. Die Neuerungen zeigen sich dann insbesondere, wo es um die Konstruktivität des Textes geht. Anders als Les Gommes weist sich der Roman nicht mehr als 162 Von einer „mythologie personnelle“ spricht in diesem Kontext auch Ramsay (2010: 304).

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fertiges, sondern als gerade im Entstehen begriffenes Textkonstrukt aus. Der Akzent verschiebt sich also auf den Konstruktionsprozess. Es kommt zu einer ‚Dynamisierungʻ des Erzählens, zu der zahlreiche narrative Techniken – darunter Dialogisierung, Erzeugung einer Oralitätsfiktion, präsentisches Erzählen und das Generatorenverfahren – beitragen. Insbesondere das Generatorenverfahren führt dem Leser vor Augen, dass die fiktionale Sprache ihr Referenzuniversum erst durch den Akt des Erzählens schafft: Mit der sukzessiven Realsetzung des (fiktionsintern) Imaginierten wird der Eindruck erweckt, die erzählte Welt würde sich nach und nach ‚aus dem Nichtsʻ, aus der reinen Imagination heraus entwickeln – dies ist Robbe-Grillets Variante von Flauberts livre sur rien. Das Generatorenverfahren ist es auch, das dem Roman eine serielle Grundstruktur verleiht, die ihrerseits sämtlichen Kriterien kognitiver Wirklichkeitskonstruktion diametral entgegensteht und damit ihren Teil zur Entreferentialisierung des Erzählten beiträgt. Im Generatorenverfahren werden die gleichen Elemente (Generatoren) in sog. Reprisen immer wieder neu variiert und kombiniert, sodass zahlreiche inkompatible Varianten entstehen. Diese zerstören die histoire auf so fundamentale Weise, dass sich der Blick geradezu zwangsläufig auf die Metaebene und die sprachlichtextuelle Verfasstheit des Romans verlagert. Die Serialität, die in Les Gommes nur punktuell vorkam, wird in Projet durch Anwendung des Generatorenverfahrens zum dominanten Strukturprinzip und macht den Roman zum ‚offenen Kunstwerkʻ (sensu Eco). Weil das Arsenal der zu kombinierenden Elemente nicht von vornherein beschränkt ist, sondern jederzeit neue Elemente hinzukommen können, lässt sich die Variantenbildung potentiell unendlich fortsetzen: So ist der Roman nicht nur strukturell offen und unabgeschlossen, sondern unabschließbar und entspricht damit Robbe-Grillets Kriterien einer écriture du fragment. Dekonstruiert wird in diesem Roman aber nicht nur die histoire, sondern auch die Vermittlungsebene. Dies geschieht im Wesentlichen durch die Dekonstruktion des Erzählers: Glissements in der Erzählstimme lassen diese als bloße Textfunktion transparent werden. Obgleich jede Möglichkeit zur Referentialisierung von Beginn an unterbunden wird und es im Wesentlichen um die Selbstausweisung des Romans als Text, Fiktion und sprachliches Artefakt geht, zeigt sich Projet nicht vollständig von der außertextuellen Wirklichkeit abgekoppelt. Zwar verliert der Nouveau Nouveau Roman, wie Rainer Warning bemerkt hat, jene spezifische Doppelbödigkeit der frühen Robbe-Grillet-Romane, die selbstreferentiell, aber daneben „immer auch referentiell lesbar“ sind.163 Jedoch ist ein Roman wie Projet deswegen noch nicht zwangsläufig „einsinniger“, wie Warning meint, denn er erweist sich auf andere Weise in der Wirklichkeit verankert: nicht aufgrund einer vorgeblichen Ähnlichkeitsrelation des Dargestellten mit der Außenwelt, sondern aufgrund seiner Herkunft aus dem Bewusstsein eines konstruierenden Subjekts.164 Illustriert wird dies im Wesentlichen dadurch, dass der Text als projet, als Projekt(ion) eines bei vol-

163 Warning 1999a: 87. 164 Ebd., Anm. 12.

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lem Bewusstsein konstruierenden – d.h. imaginierenden, sprechenden bzw. schreibenden – Subjekts ausgewiesen wird. Entsprechend versteht sich das Generatorenverfahren bei Robbe-Grillet auch nicht als selbsttätiger Automatismus (wie bei Ricardou), sondern als an eine Instanz gebunden, die die Elemente des Textes gezielt und nach subjektivwillkürlichen Kriterien selektiert (vgl. das Beispiel von chat und sourd). Auf den Autor als hinter dem Text stehendes reales Subjekt und seine volonté d’intervention verweisen in Projet zudem die erzählerübergreifenden déjà dit-Formeln und die intertextuellen Bezüge auf Robbe-Grillets frühere Werke. Letztlich erscheint Projet als ein frühes Demento des zeitgenössisch propagierten ‚Tods des Autorsʻ. Nicht ein etwaiges Verschwinden, sondern die Dezentrierung des Subjekts wird in der fragmentierten Erzählinstanz anschaulich. Zugleich wird der Erzählprozess mit einer expliziten Rollenspielmetaphorik belegt: Das déroulement der imaginierten Szenen erscheint als film intérieur, der subjektive Konstruktions- bzw. Imaginationsprozess als eine Inszenierung im Wortsinne. Auf die Bühne des Erzählens kommt in Projet also das Erzählen selbst. Und mehr noch als das ‚Abenteuerʻ des Erzählens (l’aventure d’un récit) wird hier das ‚Schauspielʻ des Erzählens in Szene gesetzt. Projet demonstriert damit, dass die Konstruktivität des fiktionalen Textes zwei Seiten hat: eine referentielle und eine selbstreferentielle. Aufgrund ihres Konstruktcharakters ist die Fiktion autonom von der Wirklichkeit (nämlich von der Verpflichtung zur Wirklichkeitsdarstellung entbunden) und zugleich doch in ihr verankert (als Produkt eines realen Subjekts). Insofern trägt der Roman der von Robbe-Grillet proklamierten ‚Unlösbarkeit des Referenzproblemsʻ Rechnung. Anders als Robbe-Grillet zeitgenössisch behauptet, sind allerdings allein auf Basis des Textes keine direkten Rückschlüsse auf Leben und Persönlichkeit des Autors möglich: Aus der Häufung der sadoerotischen Motive in Projet lässt sich eben noch keine persönliche Neigung des Autors für dieses Sujet ableiten; dazu bedarf es entweder zusätzlicher Informationen (in diesem Fall Robbe-Grillets ‚Bekenntnisʻ in einem Interview) oder aber einer klaren Indexikalisierung des Romans, d.h. eines referentiell lesbaren Verweises auf die außertextuelle Wirklichkeit bzw. die Person Robbe-Grillet (genau diese Referentialisierbarkeit wird in Projet aber ja gerade verweigert). Entsprechend ist das Oszillieren des Textes zwischen Areferentialität und Selbstreferentialität in Projet weniger deutlich zu spüren, als Robbe-Grillet dies in seiner Theorie wünscht.

7 LES ROMANESQUES (1984–1994) 7.1 DAS PROJET AUTOBIOGRAPHIQUE – EINE ÜBERRASCHENDE WENDE? Wie viele seiner Nouveau Roman-Kollegen der ersten Stunde – darunter Nathalie Sarraute, Claude Simon und Marguerite Duras – wendet sich Robbe-Grillet zu Beginn der achtziger Jahre dem autobiographischen Schreiben zu. Im Jahr 1984 erscheint mit Le Miroir qui revient der erste Band der so genannten Romanesques, 1988 folgt Angélique ou l’enchantement, 1994 Les Derniers jours de Corinthe.1 Die über 700 Seiten lange Trilogie lässt sich, wie fast alle Robbe-Grillet-Texte, kaum resümieren. Die nur lose aneinandergefügten, sich wechselseitig unterbrechenden und reflektierenden Passagen mäandern stetig zwischen autobiographischer Anekdote, poetologischer Reflexion und fiktionaler Erzählung. Dass sich nun ausgerechnet Robbe-Grillet, der ‚Papst des Nouveau Romanʻ, einem autobiographischen Projekt widmete, sorgte in der zeitgenössischen Kritik für einigen Wirbel. Man sah sich zu fragen veranlasst, ob man es mit einer (neuerlichen) Kehrtwende in Robbe-Grillets Poetik zu tun habe. Viele Kritiker zeigten sich beim Erscheinen von Miroir überrascht, manche empört, einige auch erleichtert, dass Robbe-Grillet, der zuvor stets für die Selbstreferentialität der Literatur eingetreten war, nun ein „projet de raconter [s]a vie“ (M 18) präsentierte.2 Schon wurden Stimmen laut, die dies als Rückkehr zum traditionellen Erzählen feierten: darunter, um nur zwei der prominentesten Vertreter zu nennen, Philippe Lejeune, der eine Rückkehr zum ‚referentiellen Paktʻ diagnostizierte, und Pierre de Boisdeffre, der Miroir als „parfait récit classique“, als ‚Dementiʻ des Nouveau Roman und längst überfällige ‚Wendeʻ nach ‚zwanzig Jahren der Irrungen und Dummheitenʻ bejubelte.3 Bezeichnenderweise sehen aber auch diverse, dem Nouveau Roman gegenüber aufgeschlossene Kritiker in den Romanesques eine Abkehr von den Positionen des Nouveau Roman bzw. Nouveau Nouveau Roman. So meint etwa Mireille Calle-Gruber, in Miroir dominiere ganz eindeutig die „illusion autobiographique“ und man habe es zweifellos mit einem ‚neuen Kursʻ des Nouveau Roman zu tun.4 Doris Grüter sieht ihrerseits zwar „keineswegs eine eindeutige Rückkehr zum traditionellen Erzählen“, durchaus jedoch eine „Relativierung der früheren selbst1 2 3 4

Im Folgenden im Text zitiert mit M für Le Miroir qui revient, A für Angélique ou l’enchantement und DJC für Les Derniers jours de Corinthe. Vgl. dazu paradigmatisch Montalbetti (1985: 88): „Robbe-Grillet écrivant son autobiographie, c’est un peu une provocation. Que le champion du Nouveau Roman se mette à cultiver l’ego et à s’intéresser à l’intériorité, c’est une révolution.“ Vgl. Lejeune 1991: 66f. und Boisdeffre 1985: 426 und 432. Vgl. Calle-Gruber 1989: 187 und 190.

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referentiellen Ästhetik“.5 Und auch Karl Alfred Blüher meint, in den Romanesques würden „die zuvor verwendeten Erzählstrukturen nicht mehr fortentwickelt, sondern vielmehr ihrerseits in Frage gestellt“.6 Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Weder kehren die Romanesques zum traditionellen illusionistischen Erzählen zurück noch dementieren sie die Errungenschaften des Nouveau Roman. Vielmehr stellen sie eine konsequente Weiterentwicklung der bisherigen Robbe-Grillet’schen Poetik dar.7 Das epistemologische Fundament beispielsweise verändert sich keineswegs.8 Das schon den Romanen zugrunde liegende konstruktivistische Gedankengut findet in den Romanesques bloß einen neuen ‚Anwendungsbereichʻ: die Selbstkonzeption des (schreibenden) Subjekts. Nachdem Robbe-Grillet in den Romanen die Wirklichkeit und den fiktionalen Text in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit und Wahrheitsfähigkeit hinterfragt bzw. als Konstrukte entlarvt hat, unternimmt er das Gleiche nun mit dem Ich und der faktualen Gattung der Autobiographie. Die neue, in den Romanesques aufgeworfene Frage ‚Was kann der Erzähltext über mich, das schreibende Subjekt, sagen?ʻ ist nur eine Variante der alten Frage nach der Darstellbarkeit der Welt im Text, also des Referenzproblems. „[L]es mêmes questions se posent toujours“ (M 7), meint denn auch Robbe-Grillet zu Beginn von Miroir. Allerdings, so fährt er fort, sei nun der Moment gekommen, neue Wege einzuschlagen, „de s’avancer sur d’autres pistes“ (M 12). Kurz, er will das Referenzproblem neu aufrollen. Notwendig erscheint ihm dies, weil er den Nouveau Roman in der Sackgasse der Selbstreferentialität angelangt sieht. Insofern ist es durchaus richtig zu sagen, dass Robbe-Grillet eine ‚Relativierung der selbstreferentiellen Ästhetikʻ (Grüter) anstrebt. Allerdings geht es ihm dabei keineswegs um die Infragestellung seiner eigenen Erzählverfahren, wie etwa Blüher meint, sondern um eine Kritik an jenem Zweig des so genannten Nouveau Nouveau Roman, der in den siebziger Jahren unter dem Einfluss Tel Quels und unter Federführung Jean Ricardous seine Konzeption einer rein selbstreferentiellen Literatur doktrinär durchzusetzen versuchte. Dass es dieser doktrinäre Zweig ist, gegen den sich Robbe-Grillet wendet, zeigt sich u.a. im folgenden Zitat: Maintenant que le Nouveau Roman définit de façon positive ses valeurs, édicte ses lois, ramène sur le droit chemin ses mauvais élèves, enrôle ses francs-tireurs sous l’uniforme, excommunie ses libres penseurs, il devient urgent de tout remettre en cause, et […] de s’interroger à nouveau sur le rôle ambigu que jouent, dans le récit moderne, la représentation du monde et l’expression d’une personne […]. (M 12)

Robbe-Grillet wirft die Frage nach dem Text als ‚Ausdruck einer Personʻ hier freilich nicht zum ersten Mal auf; offenbar wird sie für ihn angesichts der Radikalisierung des Nouveau Roman nur auf neue Weise virulent. Schließlich hatte er, bei aller Sympathie für selbstreferentielle Verfahren, schon zu Beginn der siebzi5 6 7 8

Vgl. Grüter 1994: 69 und 318. Vgl. Blüher 1992: 13. So sehen es auch Gronemann 2002: 14, Toro 1999: 1419f. u. 1426 sowie Mancas 2010: 102. Vgl. dazu auch Dugast-Portes 2007: 34ff.

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ger Jahre deutliche Kritik an der Idee vom ‚Tod des Autorsʻ bzw. ‚subjektlos generierten Textʻ geäußert und sich in diesem Zuge von einer rein selbstreferentiellen Literatur distanziert.9 Das übermäßige Erstaunen mancher Kritiker über die autobiographische ‚Wendeʻ beruht damit letztlich auf einer Fehleinschätzung des Robbe-Grillet der siebziger Jahre: Nur wer diesen in die Schublade eines völlig autor- und subjektlosen Schreibens gesteckt hatte, konnte nun von seiner Hinwendung zum Subjekt überrascht sein. Hinzu kommt, dass die Romanesques keineswegs so reaktionär sind, wie mitunter behauptet. Schon zu Beginn von Miroir macht Robbe-Grillet klar, dass ihm jede Rückkehr zum ‚naivenʻ, wirklichkeitsillusionistischen Erzählen und zur Ausdrucksästhetik fernliegt. Die Rolle von représentation und expression im literarischen Text bezeichnet er nicht umsonst als „ambigu“ (M 12). Und explizit will er sämtliche ‚Referentenʻ seiner Texte – die der Romane ebenso wie die der Romanesques – als bloße textuelle Operatoren verstanden wissen, als „simples opérateurs de texte“ (M 19), also reine Textprodukte, die als solche keinesfalls mit lebensweltlichen Dingen und Begebenheiten zu verwechseln sind.10 Und zu diesen Textoperatoren zählt er ausdrücklich auch das autobiographische Ich: J’aurai en somme seulement, depuis Le miroir qui revient, compliqué un peu plus la donne et proposé comme nouveaux opérateurs de nouvelles cartes truquées, en introduisant cette fois parmi les effets de personnages qui avaient nom Boris, Edouard Manneret, Mathias ou Joan Robeson, un autre effet de personnage qui s’appelle moi […]. (A 69)

Deutlich hebt Robbe-Grillet hier die Kontinuität seines Werks hervor, wenn er angibt, er habe das Spiel durch die Einführung einer Figur namens ‚Ichʻ („moi“) nur ‚verkompliziertʻ. Offensichtlich betrachtet er selbst sein autobiographisches Projekt nicht als Negation, sondern als Weiterführung seiner früheren Arbeiten. Doch worin besteht, bei aller Kontinuität, dann das Neue der Romanesques? Zunächst einmal handelt es sich nicht mehr um Romane. Erstmals betritt RobbeGrillet hier das Terrain einer faktualen Literaturgattung, das der Autobiographie. Dies ist, gerade im Hinblick auf die Referenzproblematik, entscheidend, denn in faktualen Texten stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Text und Welt gänzlich anders als in fiktionalen. Der faktuale Text ist nach konventioneller Auffassung einem referentiellen Diskurs und damit den Kriterien von Wahrheit und Authentizität verpflichtet. Und dies gilt auch, wenn nicht besonders, für die moderne französische Autobiographie, die spätestens seit Rousseaus Confessions vom Autor ein ehrliches Bekenntnis, die Offenbarung seines ‚wahren Gesichtsʻ, fordert. Genau dies will Robbe-Grillet aber nun nicht: Die Abgrenzung von diesem, im Folgenden als ‚traditionellʻ oder ‚klassischʻ bezeichneten Autobiographie-Konzept wird von ihm in den poetologischen Passagen der Romanesques auch explizit verhandelt. Schon oberflächlich hebt sich die Trilogie von ‚klassischen‘ Autobiographien, aber auch Romanen ab, und zwar durch ihre spezifische Mischung von autobio9 Vgl. dazu Kap. 4.3.3.2 Der Referenzkonflikt und die Präsenz des Autors im Text. 10 Von „produit[s] du texte“ spricht Robbe-Grillet in: Voyageur [1991]: 277.

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graphischem, theoretisch-poetologischem und fiktionalem Diskurs. Die Übergänge zwischen den jeweiligen Passagen gestalten sich dabei, in typographischer wie semantischer Hinsicht, fließend. In den autobiographischen Passagen erzählt Robbe-Grillet – scheinbar klassisch (daher der Jubel de Boisdeffres!) – von seiner bretonischen Kindheit, seiner Familie, den politisch rechtsgerichteten Überzeugungen seiner Eltern, vom Service de travail obligatoire bei M.A.N. in Nürnberg, vom allgemeinen ideologischen Zusammenbruch nach Kriegsende und Bekanntwerden der Nazi-Gräuel sowie von seinem daraus resultierenden persönlichen Vertrauensverlust in bürgerliche Werte wie Wahrheit, Moral und Tugend, schließlich von seinem Leben als Schriftsteller, seiner Lehrtätigkeit an US-amerikanischen Universitäten sowie der Geschichte des Nouveau Roman als einer Gruppe von mehr oder weniger gleichgesinnten Schriftstellern. Wichtiges Thema ist zudem, insbesondere im zweiten Band, das Bekenntnis zu seiner „différence sexuelle“, seiner Schwäche für sadoerotische Inszenierungen und junge Mädchen – „seules des mises en scène (ou des imaginations) ‚perversesʻ excitent mon désir, ce qui va d’autant moins sans problèmes que je suis attiré surtout par les très jeunes filles“ (M 44) –, die er anhand von diversen Anekdoten, etwa über seine sadoerotischen Kindheitsphantasien, illustriert (z.B. A 53f.). Die theoretischpoetologischen Passagen sind im klassisch essayistischen Stil verfasst, vergleichbar mit dem der Essays aus Pour un nouveau roman. In ihnen reflektiert RobbeGrillet über sein Schreiben, seine Romane, sein ‚autobiographisches Projektʻ sowie über Literatur, Kunst und Ästhetik im Allgemeinen. Die fiktionalen Passagen dagegen handeln vor allem vom Leben eines gewissen Grafen Henri de Corinthe. Als fiktional erscheinen sie nicht zuletzt aufgrund ihrer teilweise phantastischen Inhalte: Corinthe reitet auf seinem Pferd stets völlig lautlos (M 22f.), leidet an den Folgen eines Vampirbisses (M 218), und ab dem zweiten Band wimmelt es in seinen Abenteuern nur so von Hexen, Feen und Zauberei. Auf den ersten Blick ergibt sich der Eindruck, dass, während in Miroir noch die autobiographischen Passagen überwiegen, die fiktionalen Passagen ab Angélique zunehmend an Raum gewinnen und in den Derniers jours schließlich vollends dominieren. Wie noch zu sehen sein wird, sind die drei Diskurse jedoch keineswegs so klar zu trennen, wie es zunächst scheinen mag. Ambivalent gestaltet sich diesbezüglich schon der Auftakt der Trilogie. Zunächst wird dem Leser ein autobiographischer Pakt angeboten. In den ersten Sätzen von Miroir stellt sich der Erzähler als Autor von Topologie d’une cité fantôme (sowie als Autor des ‚vorliegenden Buchesʻ) und damit klar als Alain RobbeGrillet vor: Si j’ai bonne mémoire, j’ai commencé l’écriture du présent livre vers la fin de l’année 76, ou bien au début de 77, c’est-à-dire quelques mois après la publication de Topologie d’une cité fantôme. Nous voici maintenant à l’automne 83, et le travail n’a guère avancé (une quarantaine de pages manuscrites), abandonné sans cesse […]. (M 7)

Als zentrales Anliegen seines autobiographischen Projekts gibt er dann jedoch bezeichnenderweise nicht an, seine eigene Identität, sondern die Corinthes klären zu wollen: „Qui était Henri de Corinthe?“ (M 7). Und später heißt es noch deutli-

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cher: „C’est de Corinthe qu’il devrait s’agir (non de moi)“ (A 24). An anderer Stelle hingegen stellt Robbe-Grillet sehr wohl die Suche nach seiner eigenen Identität ins Zentrum. Sein gesamtes Werk, hält er dort fest, kreise um die beiden Fragen „qu’est-ce que c’est, moi? Et qu’est-ce que je fais là?“ (A 69). Hier zeichnen sich nicht nur erste, möglicherweise bewusst gesetzte Widersprüche, sondern auch Verquickungen der autobiographischen, fiktionalen und poetologischen Passagen ab, auf die zurückzukommen sein wird. 7.2 DIE DOPPELTE ABGRENZUNG VON RADIKALER AREFERENTIALITÄT UND AUTOBIOGRAPHISCHEM WAHRHEITSANSPRUCH Die beiden Stoßrichtungen der Romanesques sind also klar definiert. Zum einen wendet sich Robbe-Grillet gegen den radikalen Zweig des Nouveau Nouveau Roman (vertreten durch Ricardou), der die Referenzfunktion der Sprache ebenso wie den Einfluss des Autors auf den Text leugnet, zum anderen gegen die traditionelle Autobiographie (in der Konzeption Philippe Lejeunes) und ihren Authentizitätsanspruch.11 Wie manifestiert sich diese doppelte Abgrenzung nun in den Romanesques? Das ursprüngliche, Miroir zugrunde liegende Fragment von 1976/77, das im Text vollständig reproduziert wird (M 10–56), beginnt mit folgender Provokation: „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi. Comme c’était de l’intérieur, on ne s’en est guère aperçu“ (M 10).12 Dieses Incipit „provocateur“ (M 7) ist gerichtet an die Adresse Ricardous und anderer Vertreter des Theorems vom ‚toten Autorʻ bzw. einer völlig selbst- oder areferentiellen Literatur ohne Realitätsbezug.13 Als Beweis dafür, dass er schon in seinen Romanen ‚nur über sichʻ gesprochen habe, enthüllt Robbe-Grillet in der Folge exemplarisch eine Reihe von Referenten dieser 11 Zum traditionellen Autobiographie-Konzept Lejeunes und Robbe-Grillets Ablehnung desselben vgl. Kap. 4.4.4 Die Unmöglichkeit der traditionellen Autobiographie. 12 Zum Fragment gebliebenen Ursprungsmanuskript erläutert Robbe-Grillet zu Beginn der Trilogie, dass er das Schreiben 1976/77 begonnen, nach rund 40 Seiten abgebrochen und erst im Herbst 1983 erneut (und anders) aufgenommen habe (M 7). 13 Anzumerken ist, dass Robbe-Grillet sich bereits 1983, also bei Wiederaufnahme des Fragments, gezwungen sieht, das ‚provokante Incipitʻ zu relativieren, und zwar, weil der Trend zur radikalen Selbstreferentialität zwischenzeitlich von der sog. Rückkehr des Erzählens (bzw. Rückkehr des Autobiographischen) abgelöst worden ist. „Les éclairages se sont modifiés“, merkt er dazu an, „les perspectives ont pu se défaire, s’inverser dans certains cas“ (M 7). – Zur ‚Rückkehr des Erzählensʻ und dazu, dass sie, zumindest aus heutiger Sicht, keineswegs als Rückfall ins ‚naiveʻ, illusionistische Erzählen betrachtet werden kann, vgl. zusammenfassend Asholt 1994: 18f. Das ‚neue Erzählenʻ der achtziger Jahre unterscheidet sich vom Nouveau Roman u.a. dadurch, dass es, obwohl ebenfalls nichtillusionistisch, nicht mehr zwangsläufig die Kohärenz der histoire zerstört, sondern versucht, „im Bewusstsein um den Inszenierungs- und Konstruktcharakter jeglicher Darstellung von ‚Weltʻ dennoch wieder Geschichten zu erzählen“ (Rajewsky 2008: 328). Zur ‚autobiographischen Rückkehrʻ vgl. Baumann 2008.

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Texte: Die in Projet beschriebene Haustür, bekennt er, sei ‚in Wirklichkeitʻ die Tür seines Geburtshauses in Brest (M 33); die Soldaten auf dem Motorrad aus Dans le labyrinthe seien die in der Bretagne eintreffenden deutschen Besatzer (M 35); die Landschaften von Un Régicide und Le Voyeur seien die Inseln seiner bretonischen Heimat; Wallas aus Les Gommes trage seine eigenen (d.h. RobbeGrillets) Gesichtszüge; in dem Haus von La Jalousie habe er während seines Aufenthaltes in Fort-de-France selbst gewohnt; seine Hong-Kong-Reise habe er in Maison verarbeitet (A 68) etc. Ein ironischer Seitenhieb auf Ricardou zeigt nochmals deutlich, wer der Adressat dieser Enthüllungen ist: „Cette porte d’entrée […] se trouve actuellement […] au début de Projet pour une révolution… Pardonnezmoi, Jean Ricardou“ (M 33).14 Robbe-Grillet schreibt hier also ausgerechnet seinen Fiktionen ein autobiographisches Substrat zu und scheint damit seine Aussage zu bestätigen, dass er zu Gattungen bzw. Gattungsverträgen eine ‚perverse Beziehungʻ unterhalte.15 Zugleich macht er aber darauf aufmerksam, dass all diese enthüllten autobiographisch-referentiellen Elemente nichts weiter sind als Textprodukte, fictional counterparts der realen Gegenstände und gerade keine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe derselben.16 Zwei Dinge stehen seiner Ansicht nach einer solchen Wirklichkeitstreue prinzipiell im Wege: die Konstruktivität der Erinnerung und die unüberwindbare Kluft zwischen sprachlichem Zeichen und Welt – und dies nicht nur in klar fiktionalen Genres wie dem Roman, sondern auch in autobiographischen Texten. Hier wird die zweite Stoßrichtung der Romanesques erkennbar: die gegen die traditionelle Autobiographie gerichtete. Auf sie sei nun näher eingegangen. Was die Erinnerung angeht, so ist es vor allem die aus ihrem Konstruktcharakter resultierende Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit, aufgrund derer sich Robbe-Grillet vom traditionellen Autobiographie-Konzept eines Philippe Lejeune distanziert. Erinnerung als permanente Neukonstruktion, so sein Argument, entziehe sich jeder Festlegung auf eine bestimmte Bedeutung – eine Bedeutung, die Lejeune gleichwohl für unabdingbar halte: Il en irait donc pour les événements de notre passé comme pour ceux du présent: les arrêter n’est pas possible. Instants fragiles, aussi soudainement apparus que vite effacés, nous ne pouvons ni les tenir immobiles, ni en fixer la trace de façon définitive, ni les réunir en une durée continue au sein d’organisations causales à sens unique et sans faille. Ainsi ne saurais-je partager l’avis de Philippe Lejeune concernant la mise en texte des souvenirs. „L’exigence de signification est le principe positif et premier, dit-il, de la quête autobiographique.“ Non, non! Certainement pas! (A 67)

Dass er der Erinnerung misstraut, illustriert Robbe-Grillet in Miroir u.a. am Beispiel jener alten Kommode seines Großvaters, die einst in seinem Geburtshaus in 14 Hintergrund dieser Anspielung ist Ricardous (1971: 214) Interpretation von Projet. 15 Vgl. Robbe-Grillet 1983: 19. 16 Laut Mancas (2010: 100) haben die vermeintlichen ‚Referentenʻ (Tür, Haus etc.) in den Romanen zudem gerade keine referentielle, sondern nur eine strukturelle Funktion: Das Textverständnis sei nicht abhängig von ihrem Bezug auf die außertextuelle Wirklichkeit.

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Brest stand. Zunächst beschreibt er das Möbelstück aus der Erinnerung als eine „commode-secrétaire“ mit neun Schubladen. Ein leiser Zweifel bringt ihn dann dazu, die Authentizität dieser Erinnerung zu überprüfen. Er schaut sich die Kommode, die mittlerweise in Le Mesnil, seinem Landsitz in der Normandie, steht, noch einmal genau an und muss feststellen, dass sie nicht neun, sondern nur fünf Schubladen hat (M 30). Einen Monat später dann, in New York, bemerkt er, dass sich die Kommode in seiner Erinnerung ‚verdoppeltʻ hat. Zwei unterschiedliche Kommoden befinden sich nun in seinem Gedächtnis: jene aus Brest und jene aus Le Mesnil (M 31). Mit dieser Episode illustriert Robbe-Grillet nicht nur die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, sondern auch, dass jeder Erinnerungsakt ein neues, autonomes Konstrukt hervorbringt und folglich die autobiographischreferentiellen Elemente seiner Texte keineswegs mit ihren realen Vorbildern übereinstimmen müssen. Auch an anderen Stellen denunziert Robbe-Grillet die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses. ‚Lügnerisch und fleißigʻ („mensongère et travailleuse“) sei es, arbeite insgeheim ständig die Erinnerungen um und jubele ihm gar frei Erfundenes oder Erzählungen zweiter Hand als ‚seine Erlebnisseʻ unter (M 8). Die Überzeugung, dass sich klammheimlich das Imaginäre in die Erinnerung einschleicht, teilt Robbe-Grillet nicht nur mit Roland Barthes („l’imaginaire vient à pas de loup“),17 sondern auch mit den Konstruktivisten, die davon ausgehen, dass Erinnerung weniger Rekonstruktion als Neukonstruktion bedeutet und daher jederzeit neue Erfahrungen und Konstruktionen in sie einfließen. Erinnerungen, so von Glasersfeld, müssen aufgrund ihrer Konstruktivität ‚nicht richtig seinʻ in Bezug auf das, was man tatsächlich erlebt hat: „Das Erinnerte ist so, wie ich es heute sehe.“18 Genau dies ist der Grund, aus dem Robbe-Grillet so überaus vorsichtig mit seinen Äußerungen über die Vergangenheit ist. Er könne, meint er, nicht sagen, wie er die Dinge früher gesehen habe, sondern nur, wie er heute denke, sie früher gesehen zu haben (M 47). Entsprechend stellt er das ganze autobiographische Projekt unter das Vorzeichen des Zweifels und eröffnet die Trilogie mit den Worten: „Si j’ai bonne mémoire […]“ (M 7). Doch nicht nur die Erinnerung, auch die Sprache bereitet aus Robbe-Grillets Sicht Probleme. Selbst das, was man unmittelbar vor Augen habe, meint er, lasse sich niemals so beschreiben, wie es ‚wirklichʻ sei; dazu sei das Medium Sprache strukturell nicht in der Lage. Mithilfe der Sprache könne man ausschließlich Bewusstseinsinhalte angemessen wiedergeben, nicht aber die Außenwelt oder das Unbewusste: [J]e le sais d’instinct: la conscience est structurée comme notre langage (et pour cause!), mais ni le monde ni l’inconscient; avec des mots et des phrases, je ne peux représenter ni ce que j’ai devant les yeux, ni ce qui se cache dans ma tête, ou dans mon sexe. (M 17f.)19

17 Barthes 1975: 109. 18 Glasersfeld 1987: 421. 19 Vgl. ebenfalls: „Le langage ‚articuléʻ, j’insiste à nouveau là-dessus, est structuré comme notre conscience claire […]. Il se trouve ainsi […] incapable de rendre compte, à la fois d’un

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Dieses Postulat einer Strukturanalogie von Sprache und Bewusstsein ist, wie noch zu sehen sein wird, fundamental für Robbe-Grillets Poetik einer écriture de l’imaginaire (A 126), denn es impliziert, dass alles, was zu Bewusstsein kommt (also nicht nur sprachliche, sondern auch bildhafte Vorstellungen!), adäquat in Worte gefasst werden kann. Zunächst jedoch weist das Zitat darauf hin, welches weitere Problem Robbe-Grillet für den autobiographischen Wahrheitsanspruch sieht: die Unzugänglichkeit des Unbewussten für Sprache und Bewusstsein. Wohlgemerkt, Robbe-Grillet leugnet nicht die Existenz, sondern nur die epistemologische Zugänglichkeit des Unbewussten.20 Doch schon dies hat einschneidende Konsequenzen für das autobiographische Projekt: Denn wenn sich das Unbewusste der subjektiven Selbsterkundung entzieht, muss die Selbsterkenntnis schon deswegen lückenhaft bleiben. Das Problem der Selbsterkenntnis ist dabei freilich nur ein Aspekt von Robbe-Grillets allgemeiner Wahrheits- und Erkenntniskritik, die er in den Romanesques noch einmal nachdrücklich bekräftigt: „Je ne crois pas à la Vérité. Elle ne sert qu’à la bureaucratie, c’est-à-dire à l’oppression“ (M 11). Im Kontext der Wahrheitskritik situiert sich dann auch jener längere Abschnitt, in dem Robbe-Grillet seine Poetik der Lücke (bzw. der écriture du fragment) darlegt.21 Darin wird das Aufkommen des modernen Romans unmittelbar an die Entdeckung der ‚Diskontinuität (bzw. Lückenhaftigkeit) des Realenʻ gebunden: „L’avènement du roman moderne est précisément lié à cette découverte: le réel est discontinu“ (M 208). Als Garanten dienen Robbe-Grillet die Naturwissenschaften und die Wissenschaftstheorie: Ihrem Beispiel folgend solle die Literatur aufhören, sich als ‚letzte Bastion der Wahrheit und des Unwiderlegbarenʻ zu gerieren und stattdessen der prinzipiellen Lückenhaftigkeit menschlicher Erkenntnis Rechnung tragen.22 Sie solle – mit Lacan – akzeptieren, dass das Reale erst dort beginne, wo der (menschliche) Sinn aufhöre, „que le réel commence juste au moment où le sens vacille“ (M 212). Die Arbeit des modernen Schriftstellers müsse „sur la trame trouée du réel“ verlaufen; sowohl Schreiben als auch Lesen bedeute, ‚von Lücke zu Lücke zu gehenʻ (M 213). Ausdrücklich verlangt RobbeGrillet dabei, dass sich die Rätselhaftigkeit der Wirklichkeits- und Selbsterfahrung in der Textstruktur spiegele. Der Text soll demnach ebenso lücken- und rätselhaft erscheinen wie Welt und Ich: Du moment que je poursuis une énigme, qui m’apparaît déjà comme un manque dans ma propre continuité signifiante, comment serait-il envisageable d’en faire un récit plein, sans faille? (M 40f.)

monde extérieur qui précisément n’est pas nous, et des spectres qui s’agitent à l’intérieur de notre corps“ (M 41). 20 Diese Präzisierung ist etwa gegen Migeot (2010: 283f.) vorzubringen. 21 Vgl. Kap. 4.4.3 Die écriture du fragment. 22 Vgl. Voyageur [1988]: 559 sowie: „[L’]idée fondamentale d’Einstein, popularisée il y a quelques années par Karl Popper: le critère de scientificité pour juger une théorie […] est […] que dans un cas au moins on puisse démontrer qu’elle est fausse“ (M 214).

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Die Lücken und Ambiguitäten der Robbe-Grillet’schen Texte fungieren also als Metaphern für die Beschränktheit menschlichen Wissens (M 213f.). Für das autobiographische Projekt bedeutet dies: Anstatt vermeintliche Wahrheiten über sich und sein Leben zu verbreiten oder ein paar hübsche Erinnerungen ‚für bare Münzeʻ auszugeben (M 18), startet Robbe-Grillet sein Vorhaben als eine Art Forschungsunternehmen, als Suche mit offenem Ergebnis. Offenbar will er erst sehen, ob er schreibend etwas über sich herausfinden kann, und wenn ja, was. Ihn interessiert, wie sein Gedächtnis bzw. Bewusstsein arbeitet, wer dieses ‚Ichʻ ist, das in der Autobiographie das Wort ergreift, und was dieses mit ihm, Alain Robbe-Grillet, zu tun hat. Bewusst will er dabei nicht mit Antworten aufwarten, sondern eine Annäherung an die beiden aus seiner Sicht ‚unmöglichenʻ Fragen („questions impossibles“) versuchen: „[Q]u’est-ce que c’est, moi? Et qu’est-ce que je fais là?“ (A 69). Auch mit der Gattungsbezeichnung „Romanesques“ ist Robbe-Grillet bemüht, seiner Skepsis gegenüber der menschlichen Selbsterkenntnis und dem traditionellen autobiographischen Wahrheitsanspruch Ausdruck zu verleihen.23 Mit dem Neologismus „Romanesques“ habe er bewusst eine Bezeichnung gewählt, die die Texte vom Roman abgrenze, sie jedoch zugleich als Fiktionen ausweise.24 In der Trilogie selbst spricht er u.a. von „fiction“, „ma modeste autobiographie“, „errements autofictionnels“, „Nouvelle Autobiographie“ und „mon entreprise autohétéro-biographique“ (M 13, 47, DJC 177, 17 u. 190).25 Am präzisesten erscheint gleichwohl die Umschreibung als „autobiographie […] consciente de son inconscience“, denn sie trägt (evt. in Anlehnung an Edgar Morins Forderung nach einer „connaissance qui devrait connaître son ignorance“) der Beschränktheit menschlicher Selbsterkenntnis am deutlichsten Rechnung:26 une „autobiographie consciente“, c’est-à-dire consciente de sa propre impossibilité constitutive, des fictions qui nécessairement la traversent, des manques et apories qui la minent, des passages réflexifs qui en cassent le mouvement anecdotique, et peut-être en un mot: consciente de son inconscience. (DJC 17)

Eine solche ‚bewusste Autobiographieʻ, die ihre grundlegende epistemologische Schranke im Text selbst markiert, versucht nicht mehr, das autobiographisch Konstituierte für wahr auszugeben. Die Bezeichnung der Romanesques als „fiction“ 23 Zwar trägt keiner der drei Bände eine Gattungsbezeichnung als Titelzusatz. Band II und III jedoch werden auf dem hinteren Umschlag als „second volume des Romanesques“ bzw. dritter Teil der „trilogie ‚romanesqueʻ“ gekennzeichnet. An anderer Stelle hat Robbe-Grillet erklärt, schon für den ersten Band den Titelzusatz Romanesques I vorgeschlagen zu haben, was seinerzeit aber vom Verlag abgelehnt worden sei (vgl. Voyageur [1988]: 541). 24 Vgl. ebd. 542. Möglicherweise wählt Robbe-Grillet den Begriff auch in Anlehnung an Roland Barthes par Roland Barthes, wo Barthes mit „romanesque“ auf die fiktionale Dimension seines Buches abhebt (vgl. dazu Mancas 2010: 106). 25 Die in der Forschung häufig verwendete Bezeichnung Nouvelle Autobiographie hat den Vorteil, dass sie die Verbindung zum Nouveau Roman klar markiert; sie wird allerdings auch für die autobiographischen Werke anderer Nouveau Roman-Autoren verwendet und ist somit weniger ‚Robbe-Grillet-spezifischʻ als Romanesques. 26 Morin 1990: 99.

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(M 13 u. 19) ist demnach als Befreiung vom Maßstab der Wahrheit (bzw. der Lüge) zu werten. In die gleiche Richtung zielt die Transformation biographischer Elemente in Textoperatoren, mit denen Robbe-Grillet frei zu agieren, sprich zu konstruieren, gedenkt („opérateurs […] sur lesquels et grâce auxquels je pourrai cette fois agir“, M 18). Erklärtes Ziel dieser Transformation ist es, die vermeintliche autobiographische Wahrheit in einer „incessante remise en cause“ immer sogleich wieder infrage zu stellen (M 18). Angesichts dessen wird man freilich fragen müssen, wie glaubhaft die erwähnten autobiographischen Enthüllungen eigentlich sind: Wie real sind die vermeintlich realen Referenten? Und was sagen sie über Robbe-Grillet und sein Leben aus? Darauf ist zurückzukommen. 7.3 DIE AUTOFIKTION ALS SELBSTSCHÖPFUNG DES SUJET DISPERSÉ Aufschlussreich ist es, Robbe-Grillets Programm der autobiographie consciente in einem größeren literarhistorischen Kontext zu betrachten. Im Frankreich der siebziger Jahre bilden sich nämlich neue Modelle autobiographischen Schreibens heraus, von denen insbesondere zwei für Robbe-Grillet als Referenz dienen: zum einen Serge Doubrovskys Konzept der Autofiktion (autofiction), auf das in den Romanesques mit der Bezeichnung „errements autofictionnels“ auch direkt angespielt wird (DJC 177), zum anderen Barthesʼ 1975 erschienener autobiographischer Essay Roland Barthes par Roland Barthes, der als „essai [qui] s’avoue presque un roman“ gewisse konzeptionelle Übereinstimmungen mit der Autofiktion aufweist.27 Sowohl bei Doubrovsky als auch bei Barthes zeigen sich deutliche Anklänge an konstruktivistisches Gedankengut. Dies soll in der folgenden Skizze einiger charakteristischer Merkmale der Autofiktion deutlich werden. Vorab sei bemerkt, dass der Begriff autofiction 1977 von Doubrovsky in Bezug auf seinen Roman Fils geprägt wurde und anschließend rasch Eingang in den Sprachgebrauch von Forschung, Kritik und Schriftstellern gefunden hat. Heute wird er höchst unterschiedlich und für verschiedenste Formen autobiographischen Schreibens (praktisch aller Epochen!) gebraucht.28 Von Doubrovskys ursprünglichem Konzept weichen diese Verwendungsweisen häufig und zum Teil ganz bewusst ab.29 Im Folgenden beschränke ich mich daher auf die Doubrovsky’sche Variante der Autofiktion als dem für Robbe-Grillet einschlägigen Referenzmodell. Der entscheidende Unterschied der Autofiktion zur traditionellen Autobiographie besteht darin, dass sie die Konstruktivität des Ich und des geschilderten Lebens nicht mehr verschleiert, sondern offenlegt und den Prozess der Selbstkon27 Barthes 1975: 124. 28 Oft wird die Autofiktion vage als „mise en fiction de la vie personnelle“ (Montremy 2002: 62 und Régnier 2002: 65) oder „[r]écit mêlant la fiction et la réalité autobiographique“ (Petit Robert 2007: 183) definiert. Zur mangelnden Distinktivität solcher Definitionen vgl. Schaefer 2008: 300, Anm. 7. 29 So z.B. Genette 1999: 32.

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struktion im Akt des Schreibens zu ihrem eigentlichen Gegenstand macht. Ebenso wie Barthes und Robbe-Grillet geht nämlich Doubrovsky von der Idee aus, dass jede Selbsterkenntnis Selbstkonstruktion, jede Selbsterforschung Selbstschöpfung ist. Aus diesem Grund transformiert er die Selbstbiographie in eine Selbstfiktion: „L’autofiction, c’est la fiction que j’ai décidé, en tant qu’écrivain, de me donner à moi-même et par moi-même“ – wobei er „fiction“ ausdrücklich im Sinne von Form, Gestalt, Konstruktion (von lat. fingere, ‚Form gebenʻ) versteht: „Telle est bien la ‚constructionʻ analytique: fingere, ‚donner formeʻ, fiction, que le sujet s’incorpore“.30 Im Klappentext von Fils (1977) definiert Doubrovsky die autofiction als eine ‚Fiktion strikt realer Ereignisse und Faktenʻ, die er sowohl von der Autobiographie als auch vom Roman abgrenzt: Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels; si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau.31

Für Doubrovsky ist der autofiktionale Text ein Oszillationsphänomen, ein zwischen Autobiographie und Roman (,im engeren Sinneʻ) schwankender Text, der keinen ‚eigentlichenʻ Diskurs fixiert: Ni autobiographie ni roman, donc, au sens strict, il [sc. le texte autofictionnel] fonctionne dans l’entre-deux, en un renvoi incessant, en un lieu impossible et insaisissable ailleurs que dans l’opération du texte.32

In der Praxis läuft dies auf eine widersprüchliche Streuung von Fiktions- und Faktualitätssignalen hinaus, wie Doubrovskys nachträgliche Erläuterungen zu Fils zeigen: Der Protagonist und Erzähler von Fils trage seinen Namen, und alle Fakten und Ereignisse, Orte und Daten der histoire stimmten mit denen seines Lebens überein; der Anteil an „invention dite romanesque“ reduziere sich auf die Erfindung jenes ‚Pseudo-Tagesʻ, der dem Ganzen einen Rahmen gebe; er, Doubrovsky, könne entsprechend die „véracité du registre référentiel“ garantieren.33 Gleichwohl sei Fils eine Fiktion, und dies bedeute nichts anderes, als dass es sich um eine Geschichte handele, die – gleichgültig, wie viele Referenzen sie enthalte und wie exakt auch immer sie sei – niemals in der Realität stattgefunden habe und deren einzig realer Ort der des Diskurses sei, in dem sie sich entfalte.34 Deswegen trägt Fils die Gattungsbezeichnung „roman“ (wobei Doubrovsky „roman“ in einem weiten Sinne, als ‚fiktionaler Erzähltextʻ, versteht).35 Der Hauptunterschied der Autofiktion zur klassischen Autobiographie besteht mithin darin, dass sie ihre fiktionalen Anteile nicht verschleiert, sondern hervorkehrt. Und im Unterschied 30 31 32 33 34 35

Doubrovsky 1988: 77. Doubrovsky 1977: Umschlag. Doubrovsky 1988: 70. Vgl. ebd. 68f. Vgl. ebd. 73. Vgl. dazu Doubrovskys bereits zitierte Abgrenzung der Autofiktion vom Roman „au sens strict“ (ebd. 70).

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zum Roman (im ‚engeren Sinneʻ) bietet sie dem Leser zugleich einen offen autobiographischen Pakt an (u.a. durch Namensidentität von Ich-Erzähler und Autor sowie andere Referenzialisierungsmöglichkeiten).36 Worauf es also bei der Autofiktion ankommt, ist die Offenlegung ihrer Ambiguität, ihr ausgestelltes Oszillieren zwischen Roman und Autobiographie – erkennbar an der widersprüchlichen Streuung von Fiktions- und Faktualitätssignalen.37 Ein weiteres zentrales Merkmal der Doubrovsky’schen Autofiktion ist die Inszenierung der auktorialen Selbstkonstruktion. Aus Doubrovskys Sicht gibt sich der Autor, wie schon erwähnt, erst durch die Selbstbeschreibung eine Form und Gestalt („L’autofiction, c’est la fiction que j’ai décidé […] de me donner à moimême“, s.o.). Im Schreiben formt, fingiert er sich, betreibt auto-fiction. Die Autofiktion will das Ich also nicht mehr als etwas dem Text Vorgängiges zeigen, sondern als Konstrukt, das erst im Schreiben entsteht. Das Gleiche gilt für den Sinn des Lebens, der für Doubrovsky (wie für Robbe-Grillet) erst im Text konstruiert wird: „Le sens d’une vie n’existe nulle part, n’existe pas. Il n’est pas à découvrir, mais à inventer, non de toutes pièces, mais de toutes traces: il est à construire.“38 Dieser Sinn existiert weder vor noch außerhalb des Textes: „Pour l’autobiographe, comme pour n’importe quel écrivain, rien, pas même sa propre vie, n’existe avant son texte; mais la vie de son texte, c’est sa vie dans son texte“.39 In den Blick kommt damit der textuelle Konstruktionsprozess, der zugleich ein Sinnstiftungsprozess ist. Hinter diesem neuen Blick auf das autobiographische Schreiben steht bei Doubrovsky ebenso wie bei Barthes und Robbe-Grillet eine gewandelte Subjektkonzeption: die des postmodernen sujet dispersé.40 Die Zerstreuung („dispersion“) des Subjekts,41 die im Übrigen von allen drei Autoren mit dem unzuverlässigen, fragmentarischen Charakter der Erinnerung korreliert wird, wird bei Doubrovsky zum Differenzkriterium von Autofiktion und Autobiographie: À l’inverse de l’autobiographie, explicative et unifiante, qui veut ressaisir et dérouler les fils d’un destin, l’autofiction ne perçoit pas la vie comme un tout. Elle n’a affaire qu’à des frag-

36 Im Unterschied dazu hüllt der ‚autobiographische Romanʻ sein autobiographisches Substrat vollständig in den Deckmantel der Fiktion, bietet also keinen offenen, sondern einen verdeckten autobiographischen Pakt an. Vgl. dazu auch Doubrovsky (ebd. 74). Zu weiteren Differenzen, etwa auch von Autofiktion und Schlüsselroman, vgl. Schaefer 2008: 308. 37 Eben weil der autofiktionale Text „mehrdeutige Signale hinsichtlich [seiner] Textsortenbestimmung“ sendet, wertet Gronemann (2002: 11) ihn als typologisches „Zwitterwesen“. 38 Doubrovsky 1988: 77. – Doubrovsky zeigt hier ein Bewusstsein für die Differenz von Fakt und Fiktion, das Barthes und anderen Poststrukturalisten wenige Jahre zuvor noch fehlt. Das Ich werde auf der Basis von Fakten (Spuren) konstruiert, nicht als frei erfunden: construire, so Doubrovsky hier ausdrücklich, bedeute inventer de toutes traces, nicht inventer de toutes pièces. Er verwendet den Begriff „fiction“, bezogen auf das Ich, also im Sinne von Konstruktion, nicht von freier Erfindung. 39 Doubrovsky 1979: 105. 40 Vgl. dazu Kap. 4.4.2 Das fragmentierte Subjekt und die Konstruktion des Ich. 41 Doubrovsky 1999: Umschlag. Vgl. auch Doubrovskys Debüt: La Dispersion (1969).

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ments disjoints, des morceaux d’existence brisés, un sujet morcelé qui ne coïncide pas avec lui-même.42

Dass das Subjekt, wie es hier heißt, nie mit dem Selbst zusammenfällt, liegt auch für Doubrovsky daran, dass das Unbewusste die Selbsterkenntnis behindert. Im Unterschied zu Robbe-Grillet allerdings meint er, das Subjekt könne diese Hürde mithilfe eines Anderen, eines Psychoanalytikers, überwinden: Dieser vermöge zu entdecken, was dem Subjekt selbst verborgen bleibe.43 Wenn nun schon das Ich ein unvollständiges und teilweise imaginäres Konstrukt ist, so muss dies umso mehr für das erzählende, das textuelle Ich des autobiographischen Textes gelten. Barthes hat dies in Roland Barthes par Roland Barthes wie folgt formuliert: Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman – ou plutôt par plusieurs. Car l’imaginaire, matière fatale du roman et labyrinthe des redans dans lesquels se fourvoie celui qui parle de lui-même, l’imaginaire est pris en charge par plusieurs masques (personae), échelonnés selon la profondeur de la scène (et cependant personne derrière). […] La substance de ce livre, finalement, est donc totalement romanesque. L’intrusion, dans le discours de l’essai, d’une troisième personne qui ne renvoie cependant à aucune créature fictive, marque la nécessité de remodeler les genres: que l’essai s’avoue presque un roman: un roman sans noms propres.44

Derjenige, der über sich selbst schreibt, schafft also nur eine Figur (bzw. diverse Masken) von sich: einen textuellen counterpart des realen Autors, der seinerseits als „personne derrière“, d.h. hinter dem Konstrukt, unsichtbar bleibt. Um das textuelle Autorkonstrukt vom realen Autor zu unterscheiden, werde ich es im Folgenden als ‚Autor-Erzählerʻ oder ‚autobiographischen Erzählerʻ bezeichnen. Ein drittes Kennzeichen der Autofiktion ist ihr Insistieren auf dem Prozesscharakter der Konstruktion. Gezeigt werden soll, wie sich Text und Ich wechselseitig konstituieren. Dahinter steht die konstruktivistische Idee der wechselseitigen Prägung von Subjekt und Objekt. Das Subjekt verändert sich im und durch den Akt des Schreibens; es formt sich selbst, indem es den Text schreibt. Das Geschriebene wirkt also auf das Subjekt und sein Leben zurück und erschafft damit die Realität. Anders als die traditionelle Autobiographie will die Autofiktion aber nicht nur sagen, sondern auch zeigen, dass sich das Ich erst im Verlauf des Textes formt, will das self-fashioning performativ vorführen, und zwar, indem sie das Schreiben als einen offenen, im Verlauf befindlichen Prozess inszeniert. Präsentiert wird zu diesem Zweck eine Serie von hic et nunc-Momenten des Schreibens, die offenlassen, was im weiteren Verlauf des Schreibens passieren, welches (vorgeblich) reale Ereignis im Leben des Autors den weiteren Textverlauf prägen wird. Diese (wohlgemerkt inszenierte) Wechselwirkung von Text und Leben lässt sich am Beispiel von Doubrovskys Le Livre brisé (1989) illustrieren. Das Buch, in dem der autobiographische Erzähler namens Doubrovsky aus seinem Leben erzählt, geriert sich zugleich als eine Reflexion seiner eigenen, fortschreitenden Ge42 Doubrovsky 1999: Umschlag. 43 Vgl. Doubrovsky 1988: 72. 44 Barthes 1975: 123f.

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nese. Sukzessive, so scheint es, entsteht das Buch unter Mitarbeit von Doubrovskys Frau Ilse, die immer wieder bereits geschriebene Passagen liest und kritisiert: Dabei führt Ilses zum Teil harsche Kritik am Buch zu sich zuspitzenden ehelichen Auseinandersetzungen, die ihrerseits vom autobiographischen Erzähler Doubrovsky mit vertextet werden. Es sieht also so aus, als liefere Doubrovkys Leben ‚Nahrungʻ für das Buch, während umgekehrt sein Schreiben auf sein reales Eheleben zurückwirke, das seinerseits die weitere Gestaltung des Textes beeinflusse, etc. In diesem Szenario ‚brichtʻ Ilses plötzlicher Tod unvermittelt in den Text ‚einʻ und ändert dessen Verlauf: Wie das Leben des Erzählers bricht auch das Buch entzwei, wird zum livre brisé. So wirkt das Leben (scheinbar) auf das Buch ein. Und umgekehrt muss sich der Autor-Erzähler fragen, inwiefern sein Schreiben für Ilses Tod (mit)verantwortlich ist: „[M]on encre l’a empoisonnée […] elle en est morte“.45 Bereits in dieser Kurzdarstellung der (Doubrovsky’schen) Autofiktion sind Ähnlichkeiten zu Robbe-Grillets Konzept der autobiographie consciente sichtbar geworden. Die nachfolgenden Kapitel werden diesen Eindruck untermauern und zeigen, dass die Romanesques mit gutem Grund als autofiktionale Texte bezeichnet werden können. Vom Oszillieren zwischen Roman und Autobiographie über die Selbstfiktion des sujet dispersé bis hin zur Prozessualität der textuellen Selbstschöpfung lassen sich in ihnen alle genannten Merkmale der Autofiktion nachweisen.46 45 Doubrovsky 1989: 391. 46 Es gibt freilich Differenzen zwischen Doubrovskys und Robbe-Grillets Konzept (vgl. dazu auch Kamkhagi 2004: 274–276 und Toro 1999). Neben den schon erwähnten Divergenzen in Bezug auf die Psychoanalyse (s. dazu auch Kap. 7.7 Kritik der Psychoanalyse) ist insbesondere die unterschiedliche Motivation zum Schreiben bemerkenswert. Toro (ebd. 1422) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Doubrovsky an eine „Wahrheit in der Schrift“ glaubt, während Robbe-Grillet der Schrift zutiefst misstraut. In der Tat gibt Doubrovsky an, dass das Geschriebene zwar nicht die ‚ganze Wahrheitʻ, aber doch ‚wahrʻ sei: „Je ne pourrai pas dire toute la vérité. Mais tout ce que je dirai sera vrai“ (Doubrovsky 1989: 52). Entsprechend arbeitet er sich an dem Versuch ab, wenn schon nicht die, so doch immerhin seine Wahrheit in der Schrift zu erfassen: „Ressaisir enfin ma VRAIE vie. Au lieu de m’halluciner en personnage, ressusciter ma VRAIE personne. Ce qui en subsiste. Fragments, débris, détritus, peu importe: au moins, ce seront de VRAIS restes. Même si l’on n’arrive jamais à faire la synthèse, on peut faire la somme de ses actes“ (ebd. 254f.). Während Doubrovsky im Laufe des Schreibens die Unmöglichkeit dieses Unterfangens erkennt, kalkuliert Robbe-Grillet sie von Beginn an mit ein. Ja, er beginnt das Schreiben erst unter der Prämisse, dass es keine Wahrheit gibt. Es ist gerade dieser defizitäre Charakter, der das ‚Schreibenʻ für Robbe-Grillet zum Ermöglichungsraum seiner Freiheit und Selbstgestaltung macht (vgl. dazu Kap. 7.8.3 Die Freiheit der Konstruktion: Das tableau symboliste). Für Doubrovsky hingegen wirkt das Schreiben keineswegs befreiend: „Écrire ne m’a jamais délivré. […] Les mots ne sont pas des actes“ (ebd. 20; vgl. dazu auch Toro 1999: 1435f.). Was die Umsetzung in die erzählerische Praxis angeht, wird man de Toro (ebd. 1408) zustimmen können, dass Robbe-Grillets Romanesques auf radikalere Weise mit der traditionellen Autobiographie brechen, als dies Doubrovskys Texte tun. – Differenzen zeigen sich auch zu Roland Barthes par Roland Barthes. Robbe-Grillet (1981: 291) selbst kritisiert, Barthesʼ Textfragmente seien noch traditionelle fragments de l’écriture, keine moderne écriture du fragment, da sie keine inkonsistenten

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7.4 DAS ICH ALS KONSTRUKT Zunächst sei erläutert, wie Robbe-Grillet das Ich als Konstrukt, als fictio des Subjekts ausweist. Gleich zu Beginn von Miroir hält er fest, eine Person bestehe immer aus „un corps, une projection intentionnelle et un inconscient“ (M 12). Mit „projection intentionnelle“ ist dabei das Ich gemeint: jenes Bild, das das Subjekt – ganz im Sinne von Le Moignes phänomenologisch inspiriertem Projektiven Konstruktivismus – von sich selbst entwirft (,projiziertʻ). Dahinter steht bei RobbeGrillet wie den Konstruktivisten die Überzeugung, dass das Ich nie mit dem Subjekt identisch ist, sondern nur jenes Konstrukt darstellt, dem es seine Erfahrungen zuschreibt.47 Mit Lacan gesprochen: „[L]e vrai je n’est pas moi“, weil das Ich (moi) immer nur das Erfahrungsobjekt des Subjekts (je) ist, „un objet particulier à l’intérieur de l’expérience du sujet“.48 Das Ich erscheint also, frei nach Rimbaud, stets als ‚ein Andererʻ. Dies ist der Grund, aus dem Robbe-Grillet die Romanesques auch als „entreprise auto-hétéro-biographique“ bezeichnet (DJC 190; Herv. C. S.) und angibt, die Identität Corinthes anstelle seiner eigenen klären zu wollen (A 24). Die Inszenierung des Ich als eines Anderen bzw. seine Ausweisung als Konstrukt nimmt in der Trilogie einen breiten Raum ein. Besonders eindrücklich manifestiert sie sich im Motiv des Spiegels und in einer widersprüchlichen Kommunikationssituation. 7.4.1 Der Fremde im Spiegel Das Spiegelmotiv findet sich schon im Titel des ersten Romanesques-Bandes: Le Miroir qui revient. Dieser Titel verweist zum einen auf jene zentrale Episode, in der Corinthe einen Spiegel aus dem Meer zieht. Zum anderen lässt er sich poetologisch-programmatisch deuten: als Anspielung auf die Spiegelmetapher aus Stendhals Le Rouge et le noir (1830), in der – zumindest aus Sicht einer wirkungsmächtigen Rezeptionstradition – der Roman als Spiegel der Welt fungiert: „[U]n roman est un miroir qui se promène sur une grande route“.49 Robbe-Grillet Bruchstücke, sondern ‚in sich geschlossene Ganzheitenʻ bildeten. Zum Unterschied von fragments de l’écriture und écriture du fragment vgl. Kap. 4.4.3 Die écriture du fragment. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die ‚Fragmenteʻ der Romanesques nicht, wie bei Barthes, alphabetisch geordnet sind. Wie Barthes selbst bemerkt, produziert die alphabetische Ordnung ungewollte ‚Sinneffekteʻ, die ihn dazu zwingen, die alphabetische Ordnung gelegentlich zu durchbrechen (vgl. den Abschnitt „L’ordre dont je ne me souviens plus“ in Barthes 1975: 151). Auf eine solche Hilfskonstruktion kann Robbe-Grillet verzichten, denn er schafft eine völlig eigene Ordnung, deren Arbitrarität von Anfang an außer Frage steht. 47 Vgl. Kap. 2.4.7 Das Selbstbewusstsein und die Konstruktion des Ich und Kap. 4.4.2 Das fragmentierte Subjekt und die Konstruktion des Ich. 48 Vgl. Lacan 1978: 60. 49 Stendhal 1973: 342. – Entgegen dieser Rezeptionstradition hat Warning (1999) gezeigt, dass die Spiegelmetapher bei Stendhal selbst bereits fiktionsintern ironisiert ist. So gesehen rekur-

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greift diesen Topos des ‚realistischen Spiegelsʻ auf, transformiert ihn allerdings entscheidend. Sein ‚wiederkehrender Spiegelʻ ist keineswegs als Zeichen der Rückkehr zum realistischen Erzählen zu verstehen, wie mitunter behauptet.50 Denn die Romanesques sind gerade keine klassische Autobiographie, in der der Schriftsteller sein ‚wahres Gesichtʻ zu enthüllen vorgibt. Darauf weisen nicht zuletzt die im Text vorkommenden Spiegel hin. Sie zeigen dem hineinblickenden Subjekt nämlich kein ungebrochenes, sondern ein fragmentiertes, fremdes Bild seiner selbst. Der Blick in den Spiegel bedeutet nicht Erkennen, sondern Verkennen. So sieht der Ich-Erzähler Robbe-Grillet beim Blick in die verspiegelte Schranktür zunächst einen Fremden („[…] l’armoire à glace où se reflète mon image, si peu distincte dans la pénombre qu’il m’a semblé d’abord découvrir à l’autre bout de la pièce un étranger“, A 13). Und auch Corinthe erblickt „son image incongrue dans la glace rectangulaire de l’armoire“ (A 34). Der Robbe-Grillet’sche Spiegel entpuppt sich mithin als „miroir qui disperse“, als „système de diffraction“, das das Subjekt mit der Erkenntnis konfrontiert, dass es das ‚wahre Ichʻ und eine feste Identität nicht gibt.51 Genauso funktioniert der autofiktionale Text: Wie beim Blick in den Spiegel, löst sich die sicher geglaubte Identität des Autors im Laufe des Schreibens auf (DJC 208). Der Text zeigt sich ebenso fragmentiert wie das Ich; der ‚realistische Spiegelʻ ist zerbrochen, die Abbildillusion dahin: „C’est maintenant le miroir brisé qui revient le long de sa route“ (DJC 218). Dass Robbe-Grillet mit dem zerstreuenden Spiegel zugleich auf das Lacan’sche Spiegelstadium anspielt, zeigt vielleicht am deutlichsten die titelgebende Episode vom „miroir qui revient“ (M 99), die sich an zentraler Stelle des ersten Bandes über mehrere Seiten erstreckt (M 89–94). Ihr Inhalt lässt sich wie folgt resümieren: Bei einem Ritt entlang der bretonischen Küste sieht Corinthe einen großen Spiegel im Wasser treiben. Während sein treues Pferd den Anblick des Spiegels scheut, seinen Herrn abwirft und die Flucht ergreift, zieht Corinthe den Spiegel an Land. Er erblickt darin jedoch nicht sein eigenes Gesicht, sondern das seiner verstorbenen Verlobten Marie-Ange (M 94). Wie schon der Wirt aus Les Gommes, der im Spiegel das Gesicht der verstorbenen Pauline sah, sieht Corinthe sich als einen Anderen.52 Offenbar lässt das Spiegelbild hier, ganz nach Lacan, ‚psychische Realitäten manifest werdenʻ.53 Aufschlussreich ist auch die

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riert Robbe-Grillet nicht auf die Stendhal’sche Spiegelmetapher selbst, sondern nur auf eine bestimmte Interpretation derselben. Vgl. dazu die bereits referierten Einschätzungen Lejeunes und de Boisdeffres in Kap. 7.1 Das projet autobiographique – eine überraschende Wende? Voyageur [1984]: 497. – Der Vergleich von fiktionalen Texten mit „miroirs déformants pour la dislocation de l’unique“ findet sich bei Ricardou (1971: 262) vorgeprägt. Zum Ricardou’schen Spiegel vgl. auch Groß 2008: 41. Eine Variante des Anderen-im-Spiegel ist das Doppelgängermotiv, das sich u.a. in den Zwillingsschwestern Angélica und Marie-Ange von Salomon findet, aber auch in den verschwimmenden Identitäten von Robbe-Grillets Vater und Corinthe, Robbe-Grillet und Corinthe, Corinthe und Frédéric de Boncourt sowie Corinthe und Henri Robin. Vgl. Lacan 1971: 92.

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Fortsetzung der Geschichte, in der sich die Bewohner des nahegelegenen Dorfes ihren eigenen Reim auf das Geschehene machen. Das Pferd, vermuten sie, habe in dem kuriosen Spiegel erstmals sein eigenes Bild und damit seinen Tod erblickt; dies scheint ihnen umso beunruhigender, als sie glauben, dass Pferde ihr Spiegelbild grundsätzlich nicht erkennen können (M 101f.). Auch darin werden Lacan’sche Theoreme erkennbar. Wie schon Brigitte Burrichter bemerkt hat, spielt das Pferd hier die Rolle des ins Spiegelstadium eintretenden Kindes, das erstmals sein Selbst erkennt und sich dabei seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wird.54 Die Lacan’sche Idee, dass jede Selbsterkenntnis notwendig in die Einsicht in die eigene Sterblichkeit mündet, greift Robbe-Grillet an anderer Stelle erneut auf. Das Bild desjenigen, „qui se retourne sur lui-même pour dévisager son propre moi, c’est-à-dire sa propre mort“ (DJC 192), wendet er dabei auf seine autobiographische Tätigkeit. Als Autobiograph zerstöre er die Vergangenheit, indem er sie beschreibe: „[J]e ruine ce que je rapporte“ (DJC 190). Dahinter steht die konstruktivistische Idee, dass man die Vergangenheit, indem man sie betrachtet, neu erschafft und jede Neukonstruktion das Frühere ‚überschreibtʻ. Die Romanesques weisen sich daher nicht nur als Werk der Konstruktion, sondern auch der Destruktion aus, als Konfrontation des Autors mit seinem eigenen Tod. Nicht umsonst steht denn auch der dritte Band ganz im Zeichen der ‚letzten Tage von Corintheʻ. Um abschließend noch einmal auf das Spiegelmotiv zurückzukommen, ist mit Michel Foucault daran zu erinnern, dass der Blick in den Spiegel neben einer irrealisierenden zugleich immer auch eine realisierende Erfahrung beinhaltet. Der Spiegel, so Foucault, ist einerseits ein Nicht-Ort, eine Utopie, „un lieu sans lieu“, weil das Subjekt dort, wo es sich sieht und wo sich der Spiegel befindet, abwesend ist.55 Andererseits aber bestätigt der Spiegel die Realität des Subjekts an seinem realen Ort jenseits des Spiegels: weil das Spiegelbild auf den realen Ort des Subjekts zurückverweist.56 Eine derartige Mischerfahrung („expérience mixte, mitoyenne“)57 bietet auch die Autofiktion: Der Autor ist im Text abwesend; dennoch verweist der Text auf ihn (als Produzenten) zurück und bestätigt damit seine reale Existenz.58 7.4.2 Die ambige Kommunikationssituation: ‚Ich bin es und ich bin es nicht‘ Die Konstruktivität des Ich setzen die Romanesques auch mithilfe einer widersprüchlichen Kommunikationssituation in Szene, in der der Erzähler sowohl mit dem realen Autor identisch als auch von ihm verschieden zu sein scheint. Dieser 54 Vgl. Burrichter 2005: 169. – Zur Verbindung von Selbsterkenntnis und Tod vgl. Lacan (1971: 97), der von der „limite extatique du ‚Tu es celaʻ, où se révèle à lui [sc. le sujet] le chiffre de sa destinée mortelle“, spricht. 55 Vgl. Foucault 1994: 756. 56 Vgl. ebd. Foucault spricht hier vom Spiegel als Heterotopie. 57 Ebd. 58 Zu weiteren Varianten des Spiegelmotivs in den Romanesques vgl. Burrichter 2005.

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Widerspruch bildet den Kern einer komplexen, mehrfach gebrochenen und ambiguisierten Beziehung zwischen Autor, Erzählinstanz und Protagonist, die sich mit Genettes Formel für die Autofiktion recht treffend umschreiben lässt: „C’est moi et ce n’est pas moi“.59 Der Erzähler weist sich dabei als Autor aus und zeigt zugleich, dass er eben doch nicht der reale Autor ist, sondern nur dessen erzählender counterpart, der Autor-Erzähler.60 Gezielt verweigert Robbe-Grillet damit die Einlösung des von Lejeune postulierten zentralen Gattungsmerkmals der Autobiographie: die Identifizierung von Erzähler und Hauptfigur mit dem realen Autor.61 Während also die traditionelle Autobiographie die Identität der textinternen und -externen Instanzen proklamiert und der Roman streng zwischen ihnen zu unterscheiden gebietet, suggerieren die autofiktionalen Romanesques beides zugleich: einerseits, Erzähler und Protagonist seien mit dem realen Autor zu identifizieren, andererseits, sie seien es nicht.62 Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass Robbe-Grillet die Gleichsetzung der Instanzen nur als Folie einzieht, um sie zu dekonstruieren: Ihm geht es um die Nichtidentität von Autor und autobiographischem Erzähler, darum, dass letzterer nur ein Konstrukt des ersteren ist. Zugleich versucht er allerdings zu zeigen, dass es ebenso falsch wäre, zu glauben, die beiden Instanzen hätten gar nichts miteinander zu tun: Hinter dem Erzähler steht, wie hinter jedem Textkonstrukt, immer der reale Autor. In der literarischen Praxis läuft dies auf ein Verwechslungsspiel zwischen Robbe-Grillet und Henri de Corinthe hinaus. Corinthe erscheint dabei als Grenzgänger zwischen Fakt und Fiktion. Zu Beginn wird er als historische Person eingeführt, als alter Freund von Robbe-Grillets Vater, und damit als Teil des autobiographischen Diskurses (M 8 u. 22). In der Folge nimmt er jedoch zunehmend fiktive Züge an. Als Fiktionssignale fungieren dabei u.a. die phantastischmagischen Elemente in seinen Abenteuern (Corinthe stirbt an einem Vampirbiss), der intertextuelle Bezug auf den fiktiven Lord Corynth aus Robbe-Grillets Roman Souvenirs du triangle d’or, der Corinthe als Robbe-Grillets Geschöpf kennzeichnet (A 60), sowie die widersprüchlichen Geburtsdaten: Zunächst heißt es, Corinthe sei ‚weit nach 1894ʻ geboren (M 71), dann wird 1889 als Geburtsjahr genannt (DJC 86). Entscheidend ist, dass sich die (allem Anschein nach) fiktive Figur Corinthe am Ende doch noch als autobiographisch fundiert erweist – wenngleich völlig 59 Genette 1991: 87. 60 In La Reprise wird diese ambiguisierte Erzählsituation als ‚elegante Lösungʻ des unlösbaren Referenzproblems gepriesen: „Il y aurait en fait quelqu’un, à la fois le même et l’autre, […] la présence narratrice et le voyageur…, solution élégante au problème jamais résolu: qui parle ici, maintenant?“ (Reprise 226f.). 61 Vgl. Lejeune 1975: 14: „identité de l’auteur (dont le nom renvoie à une personne réelle) et du narrateur“ bei gleichzeitiger „identité du narrateur et du personnage principal“. 62 Zunutze macht sich Robbe-Grillet dabei die Doppelung der narrativen Kommunikationsinstanz: die Tatsache, dass bei fiktionalen Erzähltexten heute konventionell Autor und Erzähler unterschieden werden bzw. man davon ausgeht, dass „un récit de fiction est fictivement produit par son narrateur, et effectivement par son auteur (réel)“ (Genette 1983: 96).

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anders, als eingangs behauptet. Corinthe mutiert nämlich im Laufe der Trilogie mehr und mehr zu Robbe-Grillets Alter ego, wird zur textuellen Inkarnation von Robbe-Grillets Ich. In dieser Rolle des Anderen teilt Corinthe nicht nur RobbeGrillets sadoerotische Neigungen, sondern schreibt auch Memoiren, die den Romanesques auf verblüffende Weise ähneln: Sie sind ein „mélange […] d’autobiographie et de théorie ‚révolutionnaireʻ, auquel s’ajoutait […] une part indéterminée de politique-fiction, pour ne pas dire de roman“ (A 25). Die Verschmelzung von Corinthe und dem Autor-Erzähler Robbe-Grillet schreitet in dem Maße voran, wie sich die Grenzen der von ihnen redigierten Texte auflösen. Es kommt zur sukzessiven Überlagerung der beiden ‚Autobiographienʻ. Diese beginnt damit, dass sich die Passagen, in denen die beiden Autoren beim Schreiben an ihren Manuskripten gezeigt werden, mit Zitaten aus diesen Manuskripten abwechseln. Ist anfänglich noch klar, wer was schreibt, so werden in der Folge die Bezüge zunehmend ambivalent. Am Ende bleibt offen, ob mit dem „scripteur assis à sa table de travail“ (A 81) oder dem „dernier écrivain, qui poursuit“ (A 85) nun Robbe-Grillet oder Corinthe gemeint ist. Auch inhaltlich und stilistisch ähneln sich die redigierten Texte so sehr, dass ein längeres Zitat aus Corinthes Manuskript mithilfe der typischen glissement-Technik fließend in die Betrachtungen Robbe-Grillets überführt werden kann (DJC 58–63). Die Überlagerung wird nicht zuletzt dadurch möglich, dass Corinthe über sich selbst in der dritten Person schreibt; auch er widmet sich also einem ‚auto-hetero-biographischenʻ Projekt. Das autobiographische Erzählen in der dritten Person ist freilich ein weiteres Bild für das Ich als Anderen: Corinthe selbst hat den Eindruck, seine Memoiren handelten gar nicht von ihm, sondern von einem anderen (DJC 55). Und in eben dieser selbstdistanzierenden Funktion macht auch Robbe-Grillet von dem Verfahren Gebrauch: On lui avait souvent raconté cette histoire, dans son enfance. Elle remonterait aujourd’hui à plus de soixante années. Une lame sourde était ainsi venue le prendre […]. Quel âge pouvaisje avoir? Peut-être trois ou quatre ans? (DJC 9; Herv. C. S.)63

Den Hintergrund erläutert er an anderer Stelle: Immer, wenn er über seine Kindheit spreche, habe er das Gefühl, von einem anderen zu erzählen (A 28). Die Verschmelzung von Autor-Erzähler und Figur gipfelt schließlich in einem metaleptischen Rollentausch, in dessen Zuge Corinthe Robbe-Grillet die Erzählautorität streitig macht. An einer Stelle seiner Memoiren äußert sich Corinthe ganz unvermittelt über Robbe-Grillet und die Romanesques. Er schwingt sich damit zum übergeordneten Erzähler auf und degradiert Robbe-Grillet zu einer Figur seiner eigenen Geschichte: „Alain Robbe-Grillet raconte dans ses mémoires qu’il y avait encore au château d’Eu, lorsqu’il a connu Nathalie Sarraute, une splendide vaisselle dorée“ (DJC 87). Zwar hatte Robbe-Grillet in der Tat vier Seiten zuvor von seiner Begegnung mit Sarraute auf besagtem Schloss berichtet (DJC 83), je63 Das Verfahren des Ich-Er-Wechsels lässt sich bei Robbe-Grillet seit Le Voyeur nachweisen, auf dessen Incipit hier nicht zufällig angespielt wird (vgl. „On lui avait souvent raconté cette histoire“, V 9). Zum Einsatz des Ich-Er-Wechsels in Projet vgl. Kap. 6.8.1 Die Dezentrierung der Erzählinstanz.

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doch zitiert Corinthe damit etwas, das er nicht wissen kann, ‚lebtʻ und ‚schreibtʻ er doch angeblich Jahrzehnte bevor Robbe-Grillet die Romanesques verfasst.64 Gezielt wird damit die Hierarchie von faktischem Schöpfer und fiktiver Schöpfung, von Autor und Figur durchbrochen (zumindest wird so getan, als sei dies möglich). Corinthe stellt infrage, ob er tatsächlich eine von Robbe-Grillet hervorgebrachte Figur ist. Mehr noch, er modifiziert Robbe-Grillets Bericht, indem er eine ‚vergoldete Schüsselʻ hinzuerfindet, die Robbe-Grillet gar nicht erwähnt hatte – und fiktionalisiert somit das Leben seines Schöpfers. Corinthes ‚Ermächtigungʻ ist freilich nur eine inszenierte. Gerade die Metalepse zeigt, wer eigentlich hinter Corinthe (und dem gesamten Text) steht: der reale Autor, der als Textproduzent allein über die Macht verfügt, eine Aussage, die er soeben erst niedergeschrieben hat, nur wenige Seiten später einer Figur in den Mund zu legen. Die Erzählautorität des realen Autors ist also letztlich nirgendwo uneingeschränkter zu spüren, als in einer solchen Ebenendurchbrechung. Die metaleptische Machtdemonstration des Autors widerlegt damit einmal mehr die These des subjektlos autogenerierten Textes: Der reale Autor, dies wird klar, steht hinter allen seinen Schöpfungen und Figuren – er ist die unsichtbare „personne derrière“ (Barthes), die eigentliche Macht hinter dem Text.65 Betrachtet man vor diesem Hintergrund nochmals Robbe-Grillets Aussage, er habe immer nur über sich selbst gesprochen, erscheint diese schon weniger skandalös. Daraus ist aber keineswegs abzuleiten, Robbe-Grillet wolle seine Texte biographis(tis)ch gedeutet wissen. Im Gegenteil, es geht ihm darum, den Unterschied zwischen dem realem Autor und dem (Autor-)Erzähler zu verdeutlichen. Auch dies demonstriert die Metalepse. Denn nur der Erzähler kann von Corinthe metaleptisch verdrängt und zur Figur degradiert werden, der reale Autor hingegen nie (auch wenn mit dieser Idee gespielt wird). Klar gestellt wird abermals, dass es auch im autobiographischen Schreiben immer nur eine Erzählinstanz, ein textueller counterpart ist, der stellvertretend für den realen Autor spricht – aber ebenso, dass diese Instanz eine vom realen Autor eingesetzte ist. So gesehen schreiben die Romanesques Robbe-Grillets Poetik der Lücke fort: Die Abwesenheit des realen Autors im Text ist jenes zentrale trou, welches zugleich den gesamten Text beherrscht und strukturiert.

64 Ähnlich paradox ist es, wenn Corinthe sich als Leser der Romanesques darstellt: „Comme il a été indiqué dans un volume précédent, je suis né le 21 novembre 1889“ (DJC 86). 65 Zu widersprechen ist damit Waters (2002: 100) und Voisset-Veysseyre (2011: 160), die in den Romanesques eine praktische Umsetzung des Theorems vom ‚Tod des Autorsʻ sehen.

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7.5 DIE DISKREDITIERUNG DES AUTOBIOGRAPHISCHEN WAHRHEITSANSPRUCHS 7.5.1 Ambivalente Signale Ganz im Sinne der Autofiktion senden die Romanesques widersprüchliche Signale hinsichtlich der Fiktivität bzw. Faktizität des Erzählten. In diesem Zuge kommt es zur Vermischung der drei oberflächlich different erscheinenden Diskurse: des autobiographischen, theoretisch-poetologischen und fiktionalen Diskurses. Fiktionale und faktuale Diskurse werden dabei so verquickt, dass im Einzelnen nicht mehr entschieden werden kann, welche Passagen als faktual und welche als fiktional zu gelten haben. Der Text als Ganzes wird dadurch als inauthentisch (in Bezug auf eine autobiographische Wahrheit) markiert. Voraussetzung ist allerdings, dass der Leser die mitunter recht versteckten Fiktionssignale in den faktualen Passagen überhaupt bemerkt. Der Text enthält nämlich, wie so oft bei RobbeGrillet, jede Menge Fallen für den naiven Leser. Man wird in diesem Zusammenhang interessanterweise feststellen können, dass Robbe-Grillet die Grenze zwischen fiktionalem und faktualem Text implizit gerade durch ihre Überschreitung bestätigt: Allzu gezielt wird die Grenze verschleiert, allzu bewusst scheinen die Fiktions- und Faktualitätssignale gesetzt. Offenbar sieht Robbe-Grillet die konventionelle Grenze sehr viel deutlicher, als er zuzugeben bereit ist.66 An zwei Beispielen sei demonstriert, wie Fiktionssignale die Glaubwürdigkeit autobiographischer Passagen unterminieren. Da ist zunächst die Episode am Ende von Miroir, in der Robbe-Grillet von der Teezeremonie im Kreis seiner Familie berichtet. Als die Mutter den verspätet eintreffenden Vater darauf hinweist, dass der Tee bereits beendet sei, wird sie von der Großmutter zurechtgewiesen: „Imbécile, va! Le thé, ça n’est jamais fini“ (M 227). Die Authentizität dieser Begebenheit wird in dem Moment fraglich, in dem man in der Aussage der Großmutter ein Zitat aus Alice im Wunderland erkennt. Dort ist es der verrückte Hutmacher, der Alice darüber aufklärt, dass die Teegesellschaft niemals endet: „[I]t’s always tea-time“.67 Solche intertextuellen Bezüge auf fiktionale Werke gibt es in den Romanesques häufig, sie bilden eine recht einfache Form der Fiktionalisierung. Schwieriger wird es, wenn sich Verweise auf historische Personen oder Ereignisse als ambivalent erweisen. Dies ist beispielsweise in jenem Abschnitt der Fall, in der Robbe-Grillet von einem Überraschungsbesuch bei seinem Onkel Maurice und dessen Frau Louise in Ornans berichtet. Am Ende der Episode heißt es anlässlich des Todes von Onkel und Tante: „Ils sont morts tous les deux peu de temps après. Papa est allé à l’enterrement (à Ornans, ô Courbet!)“ (M 107). Die Parenthese am Ende des Satzes wirkt zunächst wie eine beiläufige Hommage an 66 So gibt er beispielsweise an, er sehe „très peu de différences entre [s]on travail de romancier et celui-ci, plus récent, d’autobiographe“ (A 68). 67 Carroll 1971: 99.

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Gustave Courbet und sein Gemälde „L’enterrement à Ornans“ (1849–50). Bei genauerer Betrachtung jedoch sorgt sie für Irritation, lässt sie doch rückblickend einige Elemente der Episode in neuem Licht erscheinen und wird so zum potentiellen Fiktionssignal. Plötzlich scheint es kein Zufall mehr, dass sich Onkel Maurice in seiner Freizeit der Ölmalerei widmet und dabei stets die heimatliche Landschaft malt (M 106), denn schon für Courbet war die örtliche Umgebung von Ornans ein wichtiges Motiv. Nachdenklich macht zudem, dass Maurice seine Landschaftsbilder nach Postkartenmotiven malt und die verschneiten Tannen seiner Bilder wie Gräten saurer Heringe aussehen (M 106): Die Natur wird hier nicht ‚nach der Naturʻ, sondern aufgrund von Artefakten gemalt, und das vermeintlich Realistische sieht am Ende der Realität gar nicht ähnlich. Dies lässt sich zum einen als Anspielung auf die Konventionalität des Realismus lesen, dem üblicherweise ja auch Courbet zugerechnet wird. Zum anderen steckt darin ein Hinweis auf die Nichtauthentizität der autobiographischen Episode: Deren Realismus entpuppt sich nämlich bei genauer Betrachtung als ebenso trügerisch wie der von Maurices Bildern. Die Figur des Onkels verliert in dem Maße an Glaubwürdigkeit, wie er Courbet’sche Züge annimmt. Sofern es den Onkel überhaupt gab, bleibt fragwürdig, ob er tatsächlich so war, wie Robbe-Grillet ihn hier schildert. Am Ende bleibt, kurz gesagt, offen, was hier genau Fakt und was Fiktion ist, und so wird die gesamte Episode in ihrer Authentizität zweifelhaft.68 Schon diese beiden Beispiele lassen es schwerfallen, Mireille Calle-Gruber zuzustimmen, die meint, in Miroir überwiege noch ganz eindeutig die „illusion autobiographique“.69 Denn offensichtlich enthält der Text selbst in den oberflächlich authentischen Passagen illusionsbrechende Signale. 7.5.2 Die ‚wahre Angélique‘ Meist übersehen wird in der Forschung, dass von solchen Unterminierungen der Authentizität auch die ‚enthülltenʻ Referenten der Romane betroffen sind. Exemplarisch zeigt dies die autobiographische Episode rund um die Spielkameradin Angélique (A 237–246), die Robbe-Grillet als reale Vorlage für die Figur der Jacqueline aus Le Voyeur präsentiert und die zudem für so manche andere Mädchenfigur seines Werks Pate gestanden zu haben scheint. Die zentrale Enthüllung besteht darin, dass Angéliques Tod als authentisches Ereignis aus Robbe-Grillets Kindheit und, mehr noch, als Schlüsselerlebnis präsentiert wird, welches das Werk des späteren Schriftstellers offenbar zutiefst geprägt hat. Entsprechend dieser zentralen Rolle für das Gesamtwerk fungiert Angélique denn auch als Titelheldin des zwei68 Rebollar (2010: 172) spricht von unzählbaren „pseudo-véritèmes“; auch die realistischen Episoden seien „truffés de demi-vérités qui pourraient tout aussi bien être des mensonges, des arrangements, des mystifications“. Ähnlich kommt Mancas (2010: 123) zu dem Ergebnis, dass Robbe-Grillet in den Romanesques immer wieder Unwahrheiten erzählt, der Leser aber keineswegs sicher wissen könne, wann und wo er dies tut; entsprechend hinterlasse der Text eine genuine Verunsicherung. 69 Vgl. Calle-Gruber 1989: 190.

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ten Romanesques-Bandes. Genauer betrachtet ergeben sich jedoch auch hier wieder einige Überraschungen. Zunächst ist festzustellen, dass es in den Romanesques verschiedene Gestalten namens Angélique bzw. Angélica gibt, deren Zahl sich noch durch ihre zahlreichen Doubles (Marie-Ange, Carmina, Manrica, Marianic, Mina u.a.) erhöht. Alle diese Mädchenfiguren sind unübersehbar fiktiv, und dies nicht nur wegen ihrer zum Teil magischen Fähigkeiten. Sie sind serielle Abziehbilder des immer gleichen Robbe-Grillet-typischen Stereotyps der fille-toujours-jeune-et-belle und deklinieren diverse Weiblichkeitsmythen durch (Kindfrau, Hexe, Amazone etc.).70 Selbst die Buchstaben ihrer Namen spielen, anagrammatisch, das Immergleiche durch. Als Fiktionssignal fungiert zudem die intertextuelle Unterfütterung dieser Figuren durch Verweise auf andere, ebenfalls fiktive Angelica-Figuren: die Angelica aus Ariosts Orlando furioso und die Angélica aus Robbe-Grillets Roman Souvenirs du triangle d’or (1978).71 Von diesen Angelica-Figuren ist letztere, Angélica von Salomon, insofern die zentrale, als sie gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Marie-Ange als Protagonistin der fiktionalen Passagen in den Romanesques auftritt. Die Romanesques greifen damit das schon in Souvenirs du triangle d’or geschilderte Schicksal der Schwestern wieder auf und erzählen es weiter. Ebenso wie Robbe-Grillet in Corinthe, so findet Angélica ihr Double in ihrer Schwester Marie-Ange. Beide Mädchen verkörpern das Ideal der schönen Kindfrau (A 61) und waren vor ihrem frühen Tod die jugendliche Geliebte des alternden Corinthe: Marie-Ange, seine Verlobte, ertrank sehr jung im Meer vor der Küste Uruguays; ihr Leichnam blieb verschollen (STO 224f., M 94). Ebenfalls unauffindbar blieb Angélica, die nach dem Tod ihrer Schwester deren Platz an der Seite Corinthes einnahm, bevor sie ihn verließ und im Zweiten Weltkrieg spurlos verschwand (A 216f. u. 223f.). Im Reigen dieser fiktiven Mädchengestalten bildet die erwähnte Spielkameradin namens Angélique eine Ausnahme. Sie allein scheint wirklich existiert zu haben und wird von Robbe-Grillet entsprechend als „[l]a vraie Angélique“ (A 253) präsentiert.72 Sie scheint die reale Vorlage für alle anderen, fiktiven AngelicaFiguren gewesen zu sein. Entsprechend ähneln sich die Schicksale. Sowohl die Spielkameradin Angélique als auch die Zwillingsschwestern Angélica und MarieAnge sind jung gestorben (bzw. verschollen) und werden von Robbe-Grillet bzw. 70 Zu den ‚Metamorphosen von Weiblichkeitʻ in den Romanesques vgl. auch Allemand 1993. 71 Ariosts Orlando furioso wird in den Romanesques sowohl durch eine Beschreibung von Ingresʼ Bild Roger délivrant Angélique (A 193f.) als auch durch die Apostrophe zu Beginn von Miroir evoziert: „Angélica… Angélica… Pourquoi m’as-tu quitté, petite flamme? Qui me consolera de ton rire léger?“ (M 23). Diese Klage, die das Ariost’sche Motiv der verlorenen Geliebten aufgreift, bildet zugleich eine Wiederaufnahme von Souvenirs du triangle d’or (vgl. STO 224–226). 72 Eine weitere Ausnahme bildet die Angélique-Statue im Park von Robbe-Grillets Landhaus (DJC 21), die ebenfalls als real dargestellt wird. Zweifelhaft wird dies allerdings dadurch, dass Robbe-Grillet angibt, sie sei ihm von einem Sklavenhändler geliefert worden (A 123). Wie im Fall von Onkel Maurice stellt dieses Fiktionssignal, wenn nicht die Existenz der Statue, so zumindest die Authentizität ihrer Beschreibung infrage.

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Corinthe in den Romanesques schmerzlich vermisst: Corinthe wird sein Leben lang vom „spectre de Marie-Ange“ verfolgt (DJC 229), und Robbe-Grillet kann sich nicht vom Bild Angélicas befreien; ständig blickt ihn das Gesicht des Mädchens aus seiner Umgebung an (A 8). In diesem Motiv der hantise schwingt aber keineswegs nur Sehnsucht, sondern auch ein Schuldgefühl mit. Denn ebenso wie angedeutet wird, dass Corinthe an Marie-Anges Tod nicht unschuldig ist, suggeriert Robbe-Grillet, dass der tödliche Unfall seiner Spielkameradin möglicherweise gar kein Unfall war: „Elle est morte très jeune, elle aussi, sur une falaise du pays de Léon, dans ce qu’il a bien fallu, faute de preuve, considérer comme un accident“ (A 69; Herv. C. S.). Das – wohlgemerkt nur angedeutete – Schuldgefühl ist, wie noch zu sehen sein wird, von einigen Interpreten allzu ernst genommen worden. Zunächst jedoch scheint alles daran stimmig: Es passt zur Idee des Schlüsselerlebnisses. Der Inhalt der Angélique-Episode lässt sich wie folgt resümieren: Die zwölfjährige Angélique, eine Ferienbekanntschaft des jungen Robbe-Grillet, ist eine regelrechte Inkarnation der Schamlosigkeit („impudeur“, A 241). Sie überredet den gleichaltrigen Alain zu sexuellen Handlungen, um ihn schließlich unter dem Vorwand, er habe sie entehrt, zu verfluchen: „[J]e t’ai jeté un sort. Maintenant, tu es impuissant pour toujours“ (A 245). Am nächsten Tag ist Angélique verschwunden; ihr Leichnam wird kurze Zeit später am Fuß einer Klippe im Meer gefunden. Erneut suggeriert Robbe-Grillet, dass sie möglicherweise keines natürlichen Todes gestorben ist und er selbst mehr darüber weiß, als er sagt: L’adolescente était nue. On a pensé que les vagues l’avaient déshabillée. Personne n’a remarqué le paletot de lainage noir qui pendait au-dessus du précipice, bien plus haut que les plus hautes mers. Le médecin a reconnu que sa virginité demeurait intacte […]. Mais il a relevé des marques légères autour des poignets et des chevilles […]. J’ai dit que je ne l’avais pas vue depuis plusieurs jours et que je ne savais rien. Personne n’a insisté. (A 245f.)

Dass die Episode von vornherein auch unter dem Vorzeichen eines literarischen Bekenntnisses steht, macht Robbe-Grillet in der Einleitung zur Episode deutlich. Angélique sei das reale Vorbild für die Figur der Jacqueline (bzw. Violette) aus seinem Roman Le Voyeur73 gewesen: [J]e me rappelle avoir raconté à Jérôme […] que la fillette du Voyeur avait existé bel et bien, comme d’ailleurs tout ce qui se trouve dans mes livres, qu’elle ne s’appelait ni Violette ni Jacqueline, mais Angélique, et que je dirais peut-être un jour sa vraie histoire. Le ferai-je? (A 237)

In der Tat gibt es zwischen Angélique und Jacqueline eine Reihe von Parallelen. Beide werden als frühreif beschrieben (A 243, V 85) und kommen an einer Klippe ums Leben (A 245, V 175) – und zwar beide möglicherweise nicht aufgrund eines Unfalls, sondern eines Verbrechens. Auch andere einschlägige Details aus Le Voyeur finden sich in der Angélique-Episode wieder: die „cordelettes“, die zum Fesseln des Mädchens gedient haben könnten (A 242f., V 245), der „paletot de lainage“ am Felsen (A 245, V 205) und die Anspielung auf den „voyageur“, den 73 Im Folgenden zitiert mit der Sigle V und Seitenangabe im Text.

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fliegenden Händler und potentiellen Gewalttäter Mathias (V 9 passim) in „Ça pouvait aussi bien être […] le crime d’un maniaque: voyageur de passage ou forain“ (A 246). Wie in Le Voyeur bleibt der Unfall bzw. das Verbrechen selbst in Angélique ausgespart. Gleiches gilt für die Schuldfrage, die in beiden Fällen offenbleibt, obwohl jeweils ein Schuldbewusstsein evoziert wird: bei Mathias durch seine Fixierung auf bestimmte Gegenstände, die als Folterinstrumente gedient haben könnten, seinen panikartigen Fluchtversuch und die Manipulation seines Alibis; bei Robbe-Grillet durch seinen Hinweis auf den ‚Mangel an Beweisenʻ, der zur Qualifikation als ‚Unfallʻ führte (A 69), die nur zögerliche Preisgabe der Geschichte („Le ferai-je?“, A 237), das Bekenntnis zu seinen sadistischen Neigungen und die eventuelle Schuld seines Alter egos Corinthe am Tod MarieAnges.74 Alles scheint also darauf hinzudeuten, dass es sich bei der AngéliqueEpisode um das besagte Schlüsselerlebnis handelt, das der Autor später in Le Voyeur und anderen literarischen Texten verarbeitet hat. Einige Details zeigen jedoch, dass es sich bei dieser vermeintlichen Offenbarung um eine Inszenierung, eine Fiktion handelt. Stutzig machen sollte schon die Bezeichnung „vraie Angélique“ (A 253), da Robbe-Grillet sich ansonsten ja stets vom Wahrheitsbegriff distanziert. Sodann ist es die Tatsache, dass die ‚echteʻ Angélique ihre Ferien in einer „belle construction d’allure Renaissance datant du XIXe siècle“ (A 237) verbracht haben soll: Diese Formulierung wird zum Fiktionssignal, sobald man die Parallele zu dem „anachronisme“ von Renaissancerüstung und Ulanenuniform in Robbe-Grillets symbolistischem Gemälde erkennt (A 109) – einem Gemälde, das ebenfalls als real ausgegeben wird, sich dann jedoch als fiktiv erweist.75 Vor allem aber ist es der Name des Mädchens, Angélique Arno, der die Authentizität der Figur fraglich werden lässt. Ersetzt man nämlich Arno durch das homophone Arnauld, so erhält man den Namen der Äbtissin Angélique Arnauld (1591–1661), die nicht nur gerade elfjährig zur Vorsteherin von Port Royal wurde, sondern – wen würde dies noch erstaunen? – ursprünglich Jacqueline Marie hieß, bevor sie im Kloster den Namen Angélique annahm.76 Der Name Angélique Arno verweist zudem auf Marie-Angèle Arnoux, die Protagonistin aus Flauberts Éducation sentimentale, die nicht nur dem Bild der unerreichbaren Geliebten entspricht, sondern aus deren Namen sich auch ‚Angélique Arnoʻ ebenso wie ‚Marie-Angeʻ ableiten lassen. Kurz, ob eine Spielkameradin namens Angélique Arno tatsächlich existiert und das besagte Schicksal erlitten hat, erscheint mehr als fragwürdig. Trotz der Fiktionssignale und dem ausdrücklichen Hinweis des Autor-Erzählers, dass der Text voller Fallen stecke, scheinen diese Fallen für so manchen Le74 Vgl. dazu Corinthes ohnmächtiges Entsetzen beim Anblick Marie-Anges im Spiegel und der blutbefleckten Unterwäsche, den vorwurfsvollen Blick seines Pferdes (M 94 und 101), MarieAnges „traits […] chargés de reproche“ (M 102) sowie Minas Aufforderung an Corinthe, sich hinsichtlich Marie-Anges Unfall und „bien d’autres crimes“ zu rechtfertigen (DJC 216). Vgl. dazu bereits Burrichter 2005: 175–178. 75 Zur Fiktivität des symbolistischen Gemäldes vgl. Kap. 7.8.3 Die Freiheit der Konstruktion: Das tableau symboliste. 76 Vgl. Petit Robert des Noms Propres 2005: 125.

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ser und Kritiker zugeschnappt zu sein.77 Der Schriftsteller und ausgewiesene Robbe-Grillet-Kenner Benoît Peeters will beispielsweise in einem Interview wissen, ob die Angélique-Episode denn nun wahr sei oder nicht – und dies unmittelbar im Anschluss an Robbe-Grillets Affirmation „Je n’ai pas connu d’Angélique“. Robbe-Grillet gibt daraufhin lachend zurück: „Vous voulez vraiment savoir si c’est vrai ou non?“, ringt sich aber zu dem Hinweis durch, es gebe doch gewisse Signale im Text, die stutzig machen müssten.78 Ähnlich ergeht es Philippe Lejeune, der zwar gewisse Zweifel an der Authentizität des Berichteten hegt, allerdings nur hinsichtlich einiger pikanter Details wie Robbe-Grillets möglicher Impotenz oder seiner eventuellen Mitschuld an Angéliques Tod. Insgesamt hält er daran fest, es handele sich um eine „confidence tout à fait autobiographique“.79 Auf die Idee, dass die Figur Angélique fiktiv und die gesamte Episode als fiktional einzustufen ist, scheint er gar nicht erst zu kommen.80 Noch einen Schritt weiter in der biographistischen (Fehl-)Interpretation geht Mounir Laouyen. Er hält die Angélique-Episode nicht nur für wahr („scène finale proprement référentielle“, „histoire proprement factuelle“), sondern auch für den Keim („élément gérminal“) und sinnstiftenden Ursprung („source de signification“) von Robbe-Grillets Gesamtwerk.81 Dass das nur suggerierte Schuldmotiv eine Falle für den psychologisierenden Leser darstellt, bemerkt er nicht: „[L]a culpabilité d’Alain RobbeGrillet“, meint er, verleihe der Episode du miroir qui revient eine „authentification rétroactive“.82 Ebenso ergeht es Nathalie Groß, die Robbe-Grillets Gesamtwerk als Aufarbeitung seiner Kindheit deutet: „In der Kindheit des Autors liegen zwei Erlebnisse, die bei der Darstellung der Frauenfiguren und ihres Kontextes eine wesentliche Rolle spielen“; eines davon sei der Tod Angéliques.83 Die Pauline-Episode in Les Gommes sei der „erste zaghafte Aufarbeitungsversuch Robbe77 ‚Robbe-Grillet‘ sagt explizit: „le texte doit […] être piégé“ und „je fais tout pour l’égarer [le lecteur], et pour ensuite le confondre“ (M 40). – Weitere Fiktionssignale für die Episode hat Ernstpeter Ruhe (1992: 36) in Begriffen wie „rêves“, „belle construction“ und „imaginations enfantines“ (A 237) ausgemacht. 78 Vgl. Robbe-Grillet 2001a: Track 26 [DVD mit Interviews]. 79 Lejeune 1991: 67. 80 So wundert er sich, warum Robbe-Grillet seinen Fragen in Bezug auf das ‚tatsächlich Gescheheneʻ ausweicht: „La fin d’Angélique ou l’Enchantement amène le lecteur à se demander si l’enchantement jeté par Angélique sur Robbe-Grillet (,Tu es impuissant pour toujoursʻ) a été suivi d’effet, ou si Robbe-Grillet est pour quelque chose dans la mort ‚accidentelleʻ(?) de cette jeune fille. Quand on lui pose ces questions en réunion publique, il sait fort bien continuer le jeu, en répondant à côté…“ (ebd.). Dem realistisch-autobiographischen Fehlschluss erliegt auch Luca Berta, der die Angélique-Episode ebenfalls für authentisch hält (vgl. Berta 2004: 88–90). 81 Laouyen 2002: 344f. Auch Corbineau-Hoffmann (2008: 46) sieht das „jugendliche Schlüsselerlebnis“ als den „erste[n] Grund“ für die sadoerotischen Darstellungen in Robbe-Grillets Werk (und die sexuelle Initialisierung als Initialisierung des Schreibens) – obwohl sie an anderer Stelle konstatiert, dass die „Grenzen zwischen Facta und Ficta“ in den Romanesques verschwimmen (ebd. 51). 82 Laouyen 2002: 346. 83 Groß 2008: 289.

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Grillets“; mit Le Voyeur unternehme er dann einen „[w]eitgreifenderen“.84 Nicht einmal vor der psychologisierenden Deutung der Person Robbe-Grillet und seines Ehelebens scheut Groß zurück, meint sie doch aus der Angélique-Episode ableiten zu können, der „Autor selbst empfinde[] eine Bedrohung, die von Frauen ausgeht, mindestens aber Unterlegenheit Frauen gegenüber, was sich auch in der Beziehung zu seiner Frau Catherine zeig[e].“85 Anstatt zu einem derartig naiven Biographismus zurückzukehren, wird man vielmehr die umgekehrte Richtung einschlagen und die hochgradige Fiktionalisierung der Robbe-Grillet’schen Texte konstatieren müssen. Das vermeintliche Bekenntnis über die „vraie Angélique“ sagt nichts über die reale Person Alain Robbe-Grillet aus, und auch nichts darüber, was in Robbe-Grillets Leben tatsächlich geschehen ist. Es sagt etwas darüber, wie Robbe-Grillets Texte funktionieren.86 Der Leser ist also gut beraten, den scheinbar authentischen Informationen der Romanesques zu misstrauen.87 Dies gilt, wie nun zu sehen sein wird, sogar für den Bereich des Theoriediskurses. 7.6 DIE DEKONSTRUKTION DES THEORETISCH-POETOLOGISCHEN DISKURSES 7.6.1 Der Theoriediskurs der Romanesques Angesichts der Tatsache, dass Robbe-Grillet den Wahrheitsanspruch des autobiographischen Diskurses auf umfassende Weise diskreditiert, muss man fragen, wie es diesbezüglich um den zweiten faktualen Diskurs der Romanesques, den theoretisch-poetologischen, bestellt ist. Bisher haben wir die entsprechenden Passagen, wie die meisten Kritiker, als nichtfiktionale, glaubwürdige Aussagen des realen Autors interpretiert. Tatsächlich spricht einiges dafür, sie so zu behandeln wie Robbe-Grillets sonstige essayistische Schriften oder Interviews, also als faktuale Paratexte. Zum einen erklärt Robbe-Grillet selbst den theoretischen Diskurs der Romanesques für nichtfiktional: Es handele sich, sagt er in Bezug auf eine voran-

84 Ebd. 291. 85 Ebd. 290f. 86 Nicht zuletzt liefert die Angélique-Episode einen Fingerzeig darauf, dass schon Le Voyeur mit Intertexten operiert. Rückwirkend wird die Figur Jacqueline als réécriture der Ariost’schen Angelica bzw. der mythologischen Andromeda transparent, die beide dem Meeresgott geopfert und dem Seeungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden sollen, bevor sie von ihrem (auf dem Hippogryphen bzw. Pegasus heraneilenden) Retter befreit werden (vgl. Ariosto 1976, VIII. Gesang, Strophe 51–66, insb. 56f.; zum Verweis der Angélique-Episode auf den Andromeda-Mythos vgl. Ramsay 1992: 61f.). Einen Hinweis darauf, dass Jacquelines Tod einer Legende nachgebildet ist, gibt es mit der „ancienne légende du pays“ (V 221) im Übrigen schon in Le Voyeur selbst. 87 So sieht es auch Mancas (2010: 105): „[L]e lecteur est invité à se méfier de ce que l’information de première main pourrait offrir comme garantie de vérité et d’authenticité“.

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gegangene poetologische Äußerung, um kein ‚kreatives Werkʻ, sondern um die möglichst klare Exposition vorgefertigter Gedanken und Inhalte: En rédigeant les lignes en question, je ne fais pas œuvre créatrice. Pour reprendre les termes proposés naguère par Roland Barthes, je n’y suis pas „écrivain“, mais un modeste „écrivant“: j’ai quelque chose à dire et le contenu de mon message préexiste dans ma pensée, avant que je ne la formule; il s’agit simplement, patiemment, de l’exposer avec le plus de clarté possible […]. (A 183)

Für die Glaubwürdigkeit des theoretisch-poetologischen Diskurses der Romanesques spricht zum anderen, dass diverse Passagen Wiederaufnahmen, ja zum Teil wörtliche Zitate von bereits anderweitig veröffentlichten Essays und Interviews sind: so etwa die Abschnitte über Barthes, Sade und Camus.88 Ebenso wie die Erstveröffentlichungen sind auch diese Wiederaufnahmen als nichtfiktional zu werten. Sie werden in ihrer Authentizität sogar noch dadurch gesteigert, dass Robbe-Grillet sie als historische Dokumente behandelt und ihre Genese bzw. ihren Entstehungskontext erläutert. Den Abschnitt über Barthes beispielsweise kennzeichnet er als Reproduktion eines Artikels, den er im Jahr 1981 anlässlich von Barthesʼ Todestag für den Nouvel Observateur geschrieben hatte; und er fügt hinzu, dass eine darin enthaltene politische Anspielung ihren Witz zwischenzeitlich zwar verloren habe, er sie aber dennoch reproduziere (M 65). Diese Historisierung, Kontextualisierung und Aktualisierung steigert, wie gesagt, die Authentizität. Andererseits aber macht Robbe-Grillet damit deutlich, dass seine écrits théoriques – wie der theoretische Diskurs im Allgemeinen – keine überzeitliche Gültigkeit haben und daher stets im Kontext ihrer Entstehung zu betrachten sind. Der theoretisch-poetologische Diskurs der Romanesques weist sich also selbst als historisch wandelbar aus und zeigt damit, dass er schon deswegen nicht als allzeit gültige Analyseschablone für die literarischen Werke dienen kann.89 Analoges gilt für die Romanesques als Ganzes. Auch sie historisieren sich selbst, indem sie mit einer kritischen Bilanz ihrer eigenen Genese eröffnen und ein teilweise explizit bereits überholtes Incipit90 präsentieren (M 7). Im engeren Sinne ‚problematischʻ wird der poetologisch-theoretische Diskurs der Romanesques dann allerdings erst durch die (unvermeidlichen) Überlappungen mit dem unterminierten autobiographischen Diskurs.91 Dessen Unglaubwür88 Die Passage über Barthes (M 64–70) nimmt mit leichten Veränderungen den Artikel „Le parti de Roland Barthes“ wieder auf (erstmals erschienen in Le Nouvel Observateur n° 855 [30 mars – 5 avril 1981], Wiederabdruck in Voyageur [1981]: 187–190). Die Abschnitte über den Marquis de Sade (A 212–215) reproduziert zumindest in Teilen den Essay „Sade et le joli“ (vgl. Robbe-Grillet 1977), jener über Camus (M 164–172) einen 1982 in Cerisy gehaltenen Vortrag (vgl. Robbe-Grillet 1985). 89 Hintergrund ist Robbe-Grillets (durchaus begründete) Sorge, seine theoretischen Aussagen könnten wichtiger genommen werden als seine Literatur und ihm, wie im Fall der ‚objektiven Literaturʻ, dauerhaft als Etikett anhaften. 90 Vgl. dazu oben Anm. 13 in diesem Kapitel. 91 Unvermeidlich sind die Überlappungen von autobiographischem und poetologischem Diskurs, weil es sich um eine Schriftstellerautobiographie handelt: Der Autor, der sein eigenes Werk kommentiert, spricht automatisch auch über sich bzw. sein Tun.

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digkeit überträgt sich nämlich auf bestimmte poetologische Stellen. Um ein Beispiel zu nennen: Die Fragwürdigkeit der Angélique-Episode strahlt auch auf die entsprechende poetologische Stelle aus, in der Angélique als Vorlage der fillette du Voyeur präsentiert wird. Es handelt sich um die zentrale poetologische Stelle des zweiten Bandes, an der Robbe-Grillet das autobiographische Substrat seiner Romane ‚enthülltʻ: N’avais-je pas déjà introduit dans mes romans, dès le début, le décor vrai de mon enfance […], la mesure réelle de mon propre visage […], telle maison que j’avais en fait habitée […], et encore mes fantasmes sado-érotiques personnels […], et jusqu’aux petites filles que j’avais aimées, comme la Violette du Voyeur, qui s’appelait Angélique et dont je reparlerai plus loin, si j’y pense... Elle est morte très jeune, elle aussi, sur une falaise du pays de Léon, dans ce qu’il a bien fallu, faute de preuve, considérer comme un accident. (A 68f.)

Zwar enthält diese Stelle selbst kein Fiktionssignal, wird aber durch die Zweifelhaftigkeit der autobiographischen Episode indirekt mit diskreditiert. Zumindest die Aussage über Angélique verliert ihre Glaubwürdigkeit, kann also nicht mehr für wahr genommen werden. Dass er seine theoretischen Äußerungen generell nicht als wahre (im Sinne von richtigen) Aussagen verstanden wissen will, betont Robbe-Grillet ausdrücklich.92 Er stellt sich dabei in die Tradition der Wissenschaftstheorie, die (wissenschaftliche) Theorien grundsätzlich nicht für wahr oder verifizierbar hält, sondern als bloße Modelle und Hilfskonstruktionen betrachtet: „[M]es écrits ‚théoriquesʻ […] n’avaient aucunement pour moi valeur de vérité, encore moins de dogme, mais plutôt de lance et d’armure, ou d’aventureux échafaudage, destiné un jour ou l’autre à disparaître“ (A 166).93 Bezeichnenderweise formuliert Robbe-Grillet seine Theoriekritik nun allerdings innerhalb des Theoriediskurses selbst. Sie erhält dadurch eine geradezu paradoxale Form: ‚Theorien sind niemals wahr, besagt die Theorieʻ.94 Wie beim Kreter-Paradoxon („Alle Kreter lügen, sagte der Kreter“) liegt dies an der Rückbezüglichkeit der Aussage. Für die Konstruktivisten besteht, wie bereits gesehen, die Faszination rückbezüglicher Aussagen darin, dass sie weder als wahr noch als falsch qualifiziert werden können und damit zeigen, dass es jenseits von wahr und falsch noch ein Drittes, ein Sowohl-als-auch, gibt.95 Dieses Sowohl-als-auch ist auch für Robbe-Grillet das Zentrale: Den Blick darauf zu lenken, heißt für ihn,

92 Robbe-Grillet arbeitet hier mit einem schwachen Wahrheitsbegriff, bei dem Wahrheit im Sinne von ‚Richtigkeitʻ zu verstehen ist. Es geht ihm vor allem darum, dass seine poetologischen Aussagen nicht die ‚richtigeʻ Auslegung seiner eigenen literarischen Texte liefern. 93 Indem Robbe-Grillet das Wort „théoriques“ in Anführungszeichen setzt, zeigt er, dass er sich der Differenz von poetologischen Aussagen und (natur-)wissenschaftlichen Theorien bewusst ist. Wenn er dennoch an den wissenschaftlichen Theoriebegriff anknüpft, hebt er offensichtlich darauf ab, dass, wenn selbst wissenschaftliche Theorien keinen Wahrheitsanspruch erheben können, dies umso weniger für poetologische Aussagen gilt. 94 Zur Paradoxalität solcher theoriekritischer Aussagen vgl. schon Bernard 1997: 198–200. 95 Zum Kreter-Beispiel im Konstruktivismus vgl. Kap. 2.4.5.2 Kausalität.

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das Objekt, hier: den Theoriediskurs, zu dekonstruieren.96 Wenn nun aber der Theoriediskurs hier als weder wahr noch falsch erscheint, so nähert er sich dem fiktionalen Diskurs an. Denn der Bereich jenseits von Wahrheit und Lüge gilt klassischerweise als der der Fiktion. Die (punktuelle) Annäherung des theoretisch-poetologischen Diskurses an die Fiktion lässt sich auch an jener bereits zitierten Stelle ablesen, in der es darum geht, dass der Autor im autobiographischen Text immer nur als eine Figur unter anderen auftritt, also nur ein Konstrukt des Subjekts ist. Die Passage sei daher nochmals, und dieses Mal in Gänze, zitiert: J’aurai en somme seulement, depuis Le miroir qui revient, compliqué un peu plus la donne et proposé comme nouveaux opérateurs de nouvelles cartes truquées, en introduisant cette fois parmi les effets de personnages qui avaient nom Boris, Edouard Manneret, Mathias ou Joan Robeson, un autre effet de personnage qui s’appelle moi, Jean Robin. (A 69)

Das hier sprechende Ich, das sich zu Beginn des Zitats als Autor von Miroir und damit als Alain Robbe-Grillet ausweist, trennt klar zwischen sich als konstruierendem Subjekt (je) und seinem textuell konstruierten Ich (moi). Es folgt damit Lacans Diktum „le vrai je n’est pas moi“. Zusätzlich markiert es den Unterschied dadurch, dass es dem moi den Namen eines Anderen, Jean Robin, gibt. Bis hierher handelt es sich (nur) um einen weiteren Hinweis darauf, dass das autobiographische Ich ein Anderer ist. Die Besonderheit der Passage liegt aber nun darin, dass sie die Diskrepanz von je und moi nicht nur benennt, sondern auch vorführt. Sie verfügt nämlich über eine ganz spezifische Selbstreflexivität und Performativität,97 die daraus resultiert, dass nicht nur das moi, sondern bereits das sprechende je bei genauerem Hinsehen ein ‚Andererʻ ist: nämlich jener autobiographische Erzähler (bzw. Autor-Erzähler), der nicht identisch ist mit dem realen Autor, sondern seinerseits nur ein von diesem konstruiertes moi. Selbstreflexiv ist die Passage nun deswegen, weil sie genau diese doppelte Diskrepanz – zwischen realem Autor und Autor-Erzähler einerseits und Autor-Erzähler und Figur andererseits – klar markiert: durch den Namen Jean Robin. Denn Robbe-Grillet hatte sich ja seit Miroir keineswegs als ‚moi, Jean Robinʻ, sondern als ‚moi, Henri de Corintheʻ ausgegeben. Jean Robin ist eine fiktive Figur aus Le Voyeur, also ein Geschöpf des dortigen Erzählers (nicht des Autors). Anders gesagt: Das je, das sich in der oben zitierten Passage ein ‚moi, Jean Robinʻ zuweist, ist mitnichten der reale Autor, sondern die Erzählinstanz, die sich als Autor ausgibt. Damit aber wird der faktuale – vermeintlich authentische – poetologische Diskurs an dieser Stelle doppelbödig, ja ambig. Wo er oberflächlich das eine Alsob aufdeckt, schafft er unter der Hand ein zweites (d.h. das je tut so, als sei es der reale Robbe-Grillet, ist aber seinerseits nur dessen moi). Der ‚falscheʻ Name Jean Robin fungiert dabei als eine Art Ironiesignal: Mit ihm unterminiert der theoretisch-poetologische Diskurs seine eigene Authentizität und erweist sich als ebenso 96 Vgl. dazu Kap. 4.3.3.1 Der Konflikt auf der Metaebene und das Vorführen von Sinnkonstitutionsprozessen. 97 Performativ meint hier, dass der Text ‚tut‘, was er sagt. Zur nicht unproblematischen Applikation des Performativitätsbegriffs auf Erzähltexte vgl. Hempfer 1999.

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wenig wahr wie der fiktionale Diskurs.98 Andererseits aber ‚tutʻ der theoretische Diskurs an dieser Stelle genau das, was er sagt, d.h. er spricht nicht nur über die Inszenierung des Ich als Anderen, sondern vollzieht sie zugleich und gewinnt aus dieser performativen Selbstbestätigung doch wieder eine ‚Richtigkeitʻ. Der theoretisch-poetologische Diskurs spricht hier also weder wahr noch falsch, sondern entzieht sich den Kategorien von Wahrheit und Lüge – und nähert sich so dem fiktionalen Diskurs an. Ebenso wenig wie die fiktionalen und autobiographischen Passagen ist also der Theoriediskurs der Romanesques ‚für bare Münze zu nehmenʻ. Für den Interpreten der Romanesques führt dies freilich in ein Dilemma, denn die im Theoriediskurs enthaltenen poetologischen Aussagen erweisen sich ja durchaus als relevant für die Interpretation. Für Robbe-Grillet jedenfalls bedeutet das Kratzen an der Glaubwürdigkeit eine klare Aufwertung des theoretisch-poetologischen Diskurses: Sie allein hilft aus seiner Sicht, den groben Vereinfachungen der eigenen Theorie, dem „simplisme vertueux, angélique, de nos discours théorisants des années 55 à 75“ (A 167), zu entkommen. Bleibt festzuhalten, dass die Annäherung des Theoriediskurses an die Fiktion einmal mehr erklärt, warum RobbeGrillet die Romanesques als „fiction“ bezeichnet. Und schließlich zeigt sie auch, dass die Trilogie nicht nur die Grenze zwischen Autobiographie und Roman, sondern auch zwischen Literatur und Nichtliteratur sprengt. 7.6.2 Fiktionale Wucherungen in den Paratexten Was die Auflösung der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität angeht, so ist eine weitere Stufe der Radikalisierung erreicht, wenn Robbe-Grillet die Fiktion auch über die Grenze des Haupttextes hinaus ‚wuchernʻ und auf Paratexte übergreifen lässt, die typischerweise als faktual eingestuft werden. Ein erster Schritt führt dabei an den peritextuellen Rand des Haupttextes: zum Inhaltsverzeichnis. Dieses für gewöhnlich der Orientierung des Lesers dienende Instrument wird in den Romanesques sowohl literarisiert als auch fiktionalisiert. Nicht nur die Ausführlichkeit und der subjektive Stil dieser ‚Mini-Resümeesʻ (auch hier tritt ein erzählendes Ich in Erscheinung) ist ungewöhnlich. Vor allem sind sie mehr als ein Hilfsinstrument. Sie erweisen sich nämlich als relativ autonome Texte, die zuweilen mehr sagen, als im Haupttext steht, bzw. die diesen deuten, ergänzen oder ambiguisieren. Ein Eintrag des Inhaltsverzeichnisses lautet beispielsweise: „Une curieuse lettre d’Angélica (confusion du narrateur avec Marie-Ange?)“ (A 250). In der entsprechenden Passage des Haupttextes schreibt Angélica tatsächlich einen Brief (A 61). Allerdings deutet sich dort in keiner Weise eine Verwechslung mit Marie98 Auch Karstens (1993: 136) erkennt (auf anderem Wege), dass der Theoriediskurs der Romanesques in seiner Glaubwürdigkeit dadurch unterminiert wird, dass das „moi-théoricien“ mit dem unglaubwürdigen „moi-narrateur“ zusammenfällt. Eine Unterminierung sieht auch Bernard 1997.

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Ange an. Das Inhaltsverzeichnis liefert hier also eine klare Zusatzinformation, die bei näherer Betrachtung freilich einigermaßen nachdenklich macht. Verwendet wird hier nämlich der Begriff narrateur (anstatt auteur). Dies weist nicht nur einmal mehr auf die Differenz von Autor und Erzähler hin, sondern wirft zugleich die Frage auf, welche der beiden Instanzen eigentlich im Inhaltsverzeichnis das Wort ergreift: Wer ist es, der sich hier kritisch über den Erzähler und seine angebliche „confusion“ äußert? Geht man, ganz konventionell, von der Faktualität des Inhaltsverzeichnisses aus, müsste es der Autor (bzw. sein textueller Stellvertreter) sein. Genau diese Faktualität des Inhaltsverzeichnisses wird jedoch fraglich, wenn es zu Diskrepanzen mit dem Haupttext kommt. So wird z.B. das affirmative Bekenntnis des Inhaltsverzeichnisses „La vraie Angélique s’appelait Arno“ (A 253) in dem Moment unglaubwürdig, in dem man die Angélique-Episode als zweifelhaft durchschaut. Die Inauthentizität des Haupttextes strahlt in diesem Fall also auf das Inhaltsverzeichnis aus.99 Doch Robbe-Grillet geht noch einen Schritt weiter und lässt die Fiktion auch in solche Paratexte hineinwuchern, die nicht mehr zwischen den Buchdeckeln der Romanesques angesiedelt sind (sog. Epitexte). In manchen Interviews etwa behauptet er, Henri de Corinthe habe tatsächlich existiert. Er könne dies anhand von Fotografien beweisen: „Il a existé, j’ai des photos.“100 Und als weiteren Beleg erzählt er folgende Geschichte: Je ne l’avais jamais vu, étant enfant; après, je crois l’avoir rencontré une seule fois, lors du scandale à l’Opéra que je raconte dans Angélique; et il jouait un rôle d’autant plus considérable chez nous qu’il était rarement là. Quand il était à la maison, je n’avais pas le droit d’entrer dans la pièce où il se trouvait. L’apercevoir par l’entrebâillement de la porte était impossible; quand j’entendais des voix, dans la pièce, j’en entendais bien deux, mais c’était deux fois la même voix. Il avait la même voix que mon père. Je pense que j’étais très inquiet de savoir s’il n’avait pas aussi exactement la même figure, la même stature, la même moustache, s’ils ne faisaient pas, en réalité, un seul personnage.101

Die Beweisfunktion dieser Geschichte ist freilich höchst fragwürdig, denn anstatt Corinthes Existenz zu belegen, stellt sie sie infrage: nicht nur durch die explizite Frage, ob der Vater und Corinthe nicht im Grunde ein und dieselbe Person seien, sondern auch durch die Behauptung, Corinthe beim Skandal in der Oper und damit in einer – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – fiktiven Situation getroffen zu haben. In der (im zweiten Romanesques-Band geschilderten) Opernszene nämlich setzt Corinthe die ohnmächtige, halb entblößte Angélica den vo99 Ein weiteres Beispiel ist dieser Eintrag im Inhaltsverzeichnis: „La petite fleur de l’Odenwald sur mon tableau symboliste“ (A 251). Die Blume auf dem Odenwald-Foto (A 117) und die Blume auf dem symbolistischen Gemälde (A 127), die erst im Inhaltsverzeichnis miteinander identifiziert werden, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als fiktiv (vgl. Kap. 7.8.4 Die Signatur des abwesenden Autors). – Weitergeführt und auf die Spitze getrieben wird die Fiktionalisierung von Peritexten in La Reprise. Dort werden die Fußnoten von einem zweiten, fiktiven Ich-Erzähler infiltriert, der gegen Ende sogar (als Figur) metaleptisch in den Haupttext eindringt. 100 Robbe-Grillet 1988: 94. Vgl. ähnlich auch Voyageur [1985]: 517. 101 Robbe-Grillet 1988: 94.

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yeuristischen Blicken des vorrangig aus Nazi-Offizieren bestehenden Opernpublikums aus (A 219–223). Damit verfährt Robbe-Grillet in diesem Interview letztlich nach dem gleichen ambiguisierenden Verfahren wie in den Romanesques: Er behauptet die Faktizität des Erzählten und setzt zugleich gezielt Fiktionssignale.102 Mit derartigen fiktionalen Wucherungen betreibt Robbe-Grillet sozusagen Autofiktion über die Grenzen des ‚eigentlichenʻ Textes hinaus.103 Passend zur autofiktionalen Idee, dass sich Text und Leben wechselseitig hervorbringen, scheint der fiktive Corinthe hier lebendig geworden und in die außertextuelle Wirklichkeit zu drängen (zumindest wird mit dieser Idee gespielt). Hinter diesem ‚Eindringenʻ der Fiktion in die Lebenswelt steht bei Robbe-Grillet die Überzeugung, es gebe so etwas wie eine „incarnation“ bzw. „présence réelle“ des Geschriebenen: „Dès lors que le texte s’est condensé, la réalité est créée […]. [La preuve, c’est] que c’est écrit comme ça“.104 Für Robbe-Grillets Poetik ist dies entscheidend: Das Geschriebene schafft die Wirklichkeit, der Text ruft die fiktive Figur Corinthe ‚ins Lebenʻ. In den Romanesques veranschaulicht Robbe-Grillet diese Idee, indem er Corinthe selbst zum Zeugen einer ‚Inkarnation des Geschriebenenʻ werden lässt: an der Stelle, wo Corinthe seinem selbsterfundenen Doppelgänger begegnet. Dabei geschieht Folgendes: Kurz nachdem sich Corinthe unter dem Decknamen Henri Robin in einem Hotel einquartiert hat, bemerkt er, dass sich im Gästeregister nach ihm noch eine weitere Person unter diesem Namen eingetragen hat (DJC 79). Dies ist umso beunruhigender, als er bereits zuvor im Café einen Doppelgänger auf seinem Stammplatz sitzen gesehen hat: „L’homme qui est assis dans mon fauteuil me ressemble comme un sosie“ (DJC 77). Den unschlagbaren Beweis für dessen Existenz liefert schließlich eine Fotografie, die sowohl Corinthe als auch den Doppelgänger im Café zeigt (DJC 28f. u. 90). Corinthes falsche Signatur im Ho102 Einiges deutet darauf hin, dass auch die TV-Sendung „Portrait d’un nouveau voyeur“ (1993) derart von fiktionalen Elementen infiltriert ist: Dort baut Robbe-Grillet die in Angélique nur angedeutete Geschichte, dass sein Lektorenzimmer bei den Éditions de Minuit einst das ‚Zimmer des Voyeursʻ eines Bordells gewesen sei, weiter aus (vgl. A 161 und Winter 2011: 77). Er beruft sich dabei zwar auf die Zeugenschaft von Roger Martin du Gard, jedoch fällt auf, wie sich Robbe-Grillets Anekdote von 1983 bis 1993 verändert: Heißt es in Angélique noch lapidar, das Bordell werde in Martin du Gards Memoiren erwähnt, so behauptet RobbeGrillet in der Fernsehsendung, Martin du Gard sei als Nachbar regelmäßig im Verlag vorbeigekommen und habe persönlich vom Bordellbetrieb berichtet, u.a. dass die „chambre du voyeur“ mit einem einseitig transparenten Spiegel ausgestattet gewesen sei – ein Spiegel, den Robbe-Grillet sogar in den Verlagsräumen gefunden zu haben behauptet (vgl. ebd.). 103 Alternativ könnte man mit Groß (2008) davon sprechen, Robbe-Grillet betreibe ‚Autopoiesis‘, Selbstschöpfung. Allerdings wäre dann Groß’ Begriffsverwendung dahingehend zu präzisieren und korrigieren, dass zum einen die konstruktivistische Herkunft des AutopoiesisBegriffs deutlich wird (vgl. Kap. 2.2 Zur Entstehung des konstruktivistischen Paradigmas) und zum anderen, dass das vermeintlich autobiographische Substrat keineswegs auf wahre Begebenheiten des Robbe-Grillet’schen Lebens verweisen muss. Robbe-Grillets Autopoiesis muss vielmehr, um eine Formulierung von Voisset-Veysseyre (2011: 154) aufzugreifen, als eine „narration fictionnelle et non véridique de soi: auto-mytho-graphie“ verstanden werden. 104 Voyageur [1985]: 519.

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telregister hat den Mann namens ‚Henri Robinʻ offensichtlich erst ins Leben gerufen. 7.7 KRITIK DER PSYCHOANALYSE Wie bereits angedeutet, basiert Doubrovskys autofiction zentral auf dem Wissen der Psychoanalyse, ja, sie versucht selbst Psychoanalyse zu sein, indem sie dem autobiographischen Ich die Rolle des Psychoanalytikers gibt. Doubrovsky vereint damit autobiographische und psychoanalytische Bekenntnispflicht – und unterscheidet sich damit nur wenig von den meisten Autobiographien des 20. Jahrhunderts, in denen das (seit Rousseau geradezu verpflichtende) autobiographische Bekenntnis fast unumgänglich psychoanalytisch geprägt ist. Seit nämlich das vulgarisierte psychoanalytische Wissen in die Alltags- und Populärkultur eingedrungen ist und andere Muster der Selbsterforschung und des Bekenntnisses abgelöst hat, gibt es kaum mehr eine schriftstellerische Selbstreflexion, die nicht (mehr oder weniger bewusst) auf psychoanalytische Deutungsmuster rekurrierte, und sei es in modifizierter Form, wie etwa bei Sartre, der sich spöttelnd einen „Œdipeʻ fort incomplet“ attestiert.105 Robbe-Grillet indes lehnt beide Bekenntnispflichten ab, die autobiographische ebenso wie die psychoanalytische; und zwar aus dem bekannten epistemologischen Grund: weil aus seiner Sicht dem Menschen die Einsicht in sein ‚wahres Wesenʻ bzw. in sein Unbewusstes verwehrt ist. Robbe-Grillets Vorbehalte gegen die orthodoxe Psychoanalyse sind entsprechend als Teil seiner allgemeinen Wahrheitskritik aufzufassen. Unter Rekurs auf Popper spricht er dem Freudianismus, wegen seines Dogmatismus sowie umfassenden, nichtfalsifizierbaren Erklärungsanspruchs, die Wissenschaftlichkeit ab (M 214).106 Und an Lacans Spiegelstadium interessieren ihn weniger die genuin psychoanalytischen Aspekte als die damit verbundene poststrukturalistische Subjektkonzeption und ihre epistemologischen Konsequenzen. Mit dem Argument, dass auch die Psychoanalyse das prinzipiell unzugängliche Unbewusste nicht zu Tage fördern könne, entzieht Robbe-Grillet nun freilich jeder psychoanalytischen Literaturwissenschaft den Boden: Ein Text kann, davon ist er überzeugt, als sprachliches Konstrukt immer nur Aufschluss geben über das konstruierende Bewusstsein, nicht aber über das Unbewusste des Autors. ‚Unbewusstes Schreibenʻ ist für ihn nichts als Hochstapelei. Die surrealistische écriture automatique, sagt er, sei ein bloßer Witz.107 Entsprechend sind es die Anhänger der psychoanalytischen Literaturinterpretation, die in den Romanesques zur pri105 Sartre 1964: 24. 106 Vgl. auch Préface 45. 107 Vgl. Préface 128. – Dass Robbe-Grillet den Surrealismus gleichwohl zu seinen Vorbildern zählt (vgl. Voyageur [1986]: 255), erklärt sich aus der gemeinsamen antirealistischen Stoßrichtung, die in beiden Fällen mit einer Aufwertung der imagination einhergeht. Zur Rolle der imagination im Surrealismus vgl. Breton 1985: 14, 16f. und 20f. Auf weitere Gemeinsamkeiten mit dem Surrealismus hat Roloff (2011) hingewiesen.

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mären Zielscheibe der Kritik werden. Robbe-Grillet attackiert also weniger die professionellen Psychoanalytiker als jene Amateuranalytiker („psychanalyste[s] amateur[s]“, M 15) unter seinen Lesern, die sowohl seinen Texten als auch seiner Person mit psychoanalytischen Deutungsmustern ‚zu Leibeʻ rücken und vorgeben, eine tiefere Wahrheit bzw. das Unbewusste des Autors enthüllen zu können. Gegen derartige Vereinnahmungen versucht Robbe-Grillet sich und seine Texte zu schützen, indem er den Amateuranalytikern regelmäßig ‚gefundenes Fressenʻ vorwirft. Schon eingangs warnt er allerdings deutlich davor, dass es sich dabei um Fallen handelt: N’importe quel psychanalyste amateur aura reconnu, non sans plaisir, dans cette opposition facile du Jura et de l’Atlantique – doux vallon au creux garni de mousse, versus trou sans fond où guette la pieuvre – les deux images traditionnelles et antagonistes du sexe féminin. Je ne voudrais pas qu’il s’imagine l’avoir découvert à mon insu. (M 15)

Der letzte Satz ist entscheidend: Der Leser solle sich nicht einbilden, RobbeGrillets Unbewusstes aufzudecken, wenn er Meer und Gebirge als Symbole der weiblichen Geschlechtsorgane entlarve. Indem er selbst auf diese Symbole hinweist, zeigt Robbe-Grillet, dass sie gerade nichts Unbewusstes, sondern von ihm bewusst gesetzte Stereotypen sind: eben jene textuellen Operatoren, mit denen er zu spielen gedenkt (M 18f.).108 Zumindest anfänglich fügt Robbe-Grillet an den betreffenden Stellen sogar Hinweise ein, die vor der Analytiker-Falle („piège à psy.“, M 34) warnen. So merkt er beispielsweise nach Preisgabe seiner angeblichen ‚mädchenhaften Verweichlichungʻ und seiner Scheu, ‚den Säbel zu ziehenʻ, an: „Attention, double piège à psycho-machine!“ (M 32). Der Spott auf die selbsternannten Analytiker gipfelt aber schließlich im ‚Bekenntnisʻ zu einem Freud’schen Komplex: Méticuleux, sadique, économe par surcroît, je reconnais ici devant le bon docteur Freud avoir depuis mon plus jeune âge cumulé ces trois attributs, dont il a justement formé l’un de ses complexes favoris. Et, pour ses descendants actuels ou futurs, je signale en outre, à toutes fins utiles, que j’ai tété le sein maternel jusqu’à plus de deux ans et qu’ainsi, sachant déjà marcher et parler presque couramment, j’ai pu réclamer en termes clairs cette exclusive nourriture par une phrase restée légendaire à la maison: „Pas lait tasse, lait à maman.“ (M 181)

Auch hier legt sich Robbe-Grillet nur scheinbar ‚auf die Couchʻ. Neben einigen ironischen Spitzen (z.B. „le bon docteur Freud“) fällt auf, dass sich Robbe-Grillet zu einem Freud’schen Komplex bekennt, den es so gar nicht gibt.109 Er attribuiert sich nämlich gleich mehrere Auffälligkeiten aller drei Stufen der frühkindlichen Entwicklung. Da sind zunächst Pedanterie, Sadismus und Sparsamkeit, die nach Freud aus unbewältigten Konflikten der zweiten, sog. ‚sadistisch-analen Phaseʻ

108 Den Begriff des ‚textuellen Operatorsʻ illustriert er dann auch nicht zufällig am Beispiel zweier beliebter psychoanalytischer Kategorien: ‚Meerʻ und ‚Angstʻ (M 18f.). 109 Ebenfalls ironisch scheint die Preisgabe „à toutes fins utiles“, noch als Zweijähriger gestillt worden zu sein, demonstriert Robbe-Grillet damit doch, dass er selbst gerade keinen Erkenntnisgewinn darin sieht. Weiterhin auffällig ist die Formulierung, Freud habe den besagten Komplex ‚geformtʻ, denn damit wird der Komplex zum Konstrukt herabgestuft.

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resultieren.110 Robbe-Grillet aber schreibt sie hier ‚einem Lieblingskomplexʻ Freuds zu, mit dem nur der Ödipus-Komplex gemeint sein kann, dieser ist jedoch der dritten, ‚phallischen Phaseʻ zuzuordnen.111 Nicht genug damit, bekennt sich Robbe-Grillet zugleich zu einer Fixierung auf die Mutterbrust, die ihrerseits der ersten, ‚oralen Phaseʻ zugerechnet wird. Indem er sich hier also all diese Symptome gleichzeitig zuschreibt, bekennt er sich in Wirklichkeit zu keinem. Anders gesagt, er liefert den Amateuranalytikern so viel ‚gefundenes Fressen‘, dass sich daraus keine kohärenten Schlüsse mehr ziehen lassen. Daneben gibt es aber auch Textstellen, in denen Robbe-Grillet seine falschen Fährten weniger offensichtlich als Fallen markiert. Dies gilt z.B. für das vage angedeutete potentielle Schuldgefühl im Zusammenhang mit der AngéliqueEpisode. Erst in dem Maße, wie die Episode als Fiktion durchschaubar wird, löst sich das Motiv für jedwedes Schuldgefühl in Wohlgefallen auf – und das ganze Angélique-Szenario entlarvt sich selbst als weitere ‚Psycho-Falleʻ. Aller Warnrufe zum Trotz gehen auch bei diesem Thema wieder diverse Kritiker in die Falle. So meint Ben Stoltzfus nicht nur, Robbe-Grillet ziele auf die Aufdeckung des Unbewussten und illustriere Lacans These von dessen sprachlicher Struktur,112 sondern er praktiziert genau jene Art der psychoanalytischen Literaturinterpretation, gegen die sich Robbe-Grillet so vehement wehrt. In einem seiner Artikel kommt Stoltzfus beispielsweise zu dem Ergebnis, dass RobbeGrillets Lust am Schreiben bzw. an der Sprache stellvertretend für den Wunsch nach einer inzestuösen „jouissance“ an der Mutter stehe.113 Bemerkenswert ist jedoch vor allem der Fall Jean Bellemin-Noëls, dem Robbe-Grillets Ablehnung der Psychoanalyse zwar nicht entgeht, der sich davon aber gerade erst zu einer psychoanalytischen Deutung herausgefordert fühlt. Er interpretiert Robbe-Grillets Ablehnung als Symptom eines heimlichen Wunsches, eben doch einer Analyse unterzogen zu werden. Bellemin-Noël tut damit genau das, was Robbe-Grillet (in der Nachfolge Poppers) der Psychoanalyse vorwirft. Er immunisiert sich gegen jede Kritik und hat für alles, sogar für die Ablehnung der Analyse, eine psychoanalytische Erklärung: [P]roclamer que les analystes n’ont rien à dire qui vaille sur ses œuvres, c’est mettre l’idée en vedette et souhaiter de se voir appliquer le traitement même que l’on dit refuser. […] En récusant par avance notre droit à trouver nous-mêmes dans ses textes du sens inconscient, l’auteur des Romanesques nous contraint à nous demander ce que cela cache.114

110 Zu den drei Entwicklungsphasen nach Freud vgl. Laplanche/Pontalis 1968: 457–462. 111 Vgl. ebd. 79–84. Der zweite zentrale Komplex neben dem Ödipus-Komplex ist bei Freud der sog. Kastrationskomplex, der ebenfalls der ‚phallischen Entwicklungsstufeʻ zugeordnet wird. Vgl. ebd. 74–78 und 459. 112 Vgl.: „Both of these writers [sc. Barthes and Robbe-Grillet] use tropological discourses to unveil the unconscious. The ‚fragmentsʻ of Barthes’s text and the ‚analogonsʻ of RobbeGrillet’s thus illustrate Lacan’s contention that the unconscious is structured like a language“ (Stoltzfus 2004: 63). 113 Vgl. Stoltzfus 1989. Vgl. ähnlich auch Stoltzfus 1992 und Stoltzfus 2004. 114 Bellemin-Noël 2001: 619.

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Bellemin-Noël ist hier entgegenzuhalten, dass Robbe-Grillet dem Leser keineswegs, wie hier suggeriert, das Recht abspricht, seine je eigene Lektüre vorzunehmen. Er leugnet nur, dass dies Rückschlüsse auf das Unbewusste des Autors zulässt: Die Interpretation des Lesers gibt, so Robbe-Grillet, mehr Aufschluss über den Leser als über den Autor.115 Genau dies bestätigt Bellemin-Noëls ‚Diagnoseʻ, denn diese sagt weit mehr über ihn und seine psychoanalytische Methode als über Robbe-Grillet und die Romanesques: „Théoriser l’art du roman comme transparence et moquer à chaque instant la psychanalyse, cela relève d’une seule et même attitude à laquelle ne convient qu’une étiquette, celle de parricide.“116 Nicht nur die stereotype Diagnose ‚Vatermordʻ ist bezeichnend, auch die Tatsache, dass sie als ‚einzig möglicheʻ ausgegeben wird. Letztlich belegt Bellemin-Noël damit nur, dass Robbe-Grillets Skepsis gegenüber dogmatischen Vertretern der Psychoanalyse berechtigt ist. Es bleibt allerdings die Frage, wie es vor diesem Hintergrund zu verstehen ist, dass Robbe-Grillet angibt, Ziel seines Schreibens sei die Austreibung seiner sexuellen Phantasmen: „[J]’écris pour détruire, en les décrivant avec précision, des monstres nocturnes qui menacent d’envahir ma vie éveillée“ (M 17). Auf den ersten Blick scheint er hier psychoanalytisch zu argumentieren: Es geht ihm darum, die ‚Monsterʻ bzw. sexuellen Phantasmen durch ihre Bewusstmachung zu zerstören. Ganz ähnlich klingt es, wenn er das Schreiben als Mittel gegen die existentielle menschliche Angst vor dem Nichts propagiert: Seule l’œuvre d’art, le texte directement produit par l’angoisse, pourraient ainsi, paradoxalement, échapper pour les siècles des siècles au vide qui les a, eux aussi, mis au monde. Tandis qu’à chaque instant s’effondre devant moi l’univers quotidien, l’écriture de l’imaginaire construit à partir du néant lui-même (pris comme structure) un anti-monde, sur lequel l’angoisse fondamentale ne pourra plus jamais avoir de prise, car c’est cette angoisse précisément – et non pas les mots ou la syntaxe, contrairement à ce que croit le sens commun – qui constituera le matériau dont il est bâti. (A 126)

Die Argumentation ist jedoch nur auf den ersten Blick psychoanalytisch. Bezeichnenderweise spricht Robbe-Grillet hier nämlich nicht von unbewussten, sondern von ‚nächtlichenʻ Monstern, und mit der ‚écriture de l’imaginaireʻ ist gerade keine ‚écriture de l’inconscientʻ gemeint. Es geht, kurz gesagt, nicht um die Bewusstmachung von Unbewusstem (wie in der Psychoanalyse), sondern um eine Form der Katharsis, um die Reinigung von – durchaus bewussten – Affekten (z.B. sexuellen Wünschen oder existentiellen Ängsten) durch ihr ersatzweises Ausleben im fiktionalen Text.117 Als irreale Gegenwelt („anti-monde“) wird die Fiktion dabei zum geradezu idealen Reinigungsinstrument, bietet sie doch die Möglichkeit zum ungestraften Ausleben gesellschaftlich tabuisierter Affekte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind die Abenteuer Corinthes zu interpretieren: Als rein

115 Vgl. Robbe-Grillets Bewertung von Barthesʼ Voyeur-Interpretation (Voyageur [1985]: 500f.). 116 Bellemin-Noël 2001: 623. 117 Zum Katharsis-Anspruch in Bezug auf Projet vgl. Kap. 6.8.4 Sadoerotik: Katharsis des ‚gesellschaftlichen Unbewussten‘?

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textuelles Alter ego kann Corinthe ungestraft sadoerotische Verbrechen begehen, sich seiner Todesangst hingeben, etc. Bemerkenswert ist freilich, dass in diesem Fall gerade nicht die besagte incarnation, sondern die Irrealität der Konstrukte beschworen wird. Dass RobbeGrillet mit „incarnation“ bzw. „présence réelle“ allerdings auch gar keine Realisierung im engeren Sinne meint, sondern die ‚quasi-materielle Präsenzʻ imaginärer Bilder vor dem inneren Auge, wird im Folgenden zu sehen sein.118 7.8 DER TEXT ALS KONSTRUKT 7.8.1 Die Narration als ‚Versuchslaborʻ oder: L’écriture de l’imaginaire Eigenen Angaben zufolge beschreibt Robbe-Grillet in seinen Texten nichts anderes als mentale Bilder, oder, wie er selbst es ausdrückt, nur das, was er anschaulich, ‚quasi materiellʻ vor seinem inneren Auge sieht: „[J]e n’écris jamais rien sans le voir dans mes yeux de façon quasiment matérielle“ (A 10). Er beginne erst gar nicht mit dem Schreiben, bevor sich nicht ‚Bilder, Sätze, Geräusche und Visionen mit ziemlicher Schärfeʻ in seinem Kopf geformt hätten (A 39f.). Deswegen bezeichnet er sein Schreiben auch als écriture de l’imaginaire. Wie aber ist es zu erkären, dass ihm diese inneren Bilder ‚realerʻ vorkommen als die Außenwelt: „[J]e ne suis pas loin de penser que le plus réel est précisément ce que j’ai construit de toute pièce“ (M 172)? Das rein Imaginäre und frei Erfundene, so die Antwort, sind reine Produkte des Geistes, des esprit absolu, und als solche im Bewusstsein ganz unmittelbar, ohne Einfluss der Sinnesorgane, gegeben: J’ai toujours été […] incapable de décrire ce que j’ai sous les yeux […], sans doute parce qu’il y manquerait la dimension imaginaire: celle de l’esprit absolu. Et je ne suis pas loin, en outre, de penser qu’il y a plus de réalité dans la violence d’une image fixée par la mémoire, ou dans les traces que laisse un cauchemar nocturne, ou dans le surgissement à l’état de veille d’une vive et précise vision intérieure […] que dans la plupart des choses de la vie quotidienne […]. (A 125)

Die hier beschriebene présence réelle des Imaginierten im Kopf erklärt nun auch, warum Robbe-Grillet die reale Existenz seiner Romanfiguren behaupten kann – real sind sie als Konstrukte in seinem Kopf: „J’ai connu ces gens et ces lieux. Je peux témoigner de leur existence réelle, puisque c’est moi qui les ai créés.“119 Und sie erklärt, weshalb Robbe-Grillet meint, das Fingierte sage mehr über eine Person aus als jedes noch so ehrliche Geständnis: „[L]e biais de la fiction est, en fin de compte, beaucoup plus personnel que la prétendue sincérité de l’aveu“ (M 17). Auch deswegen wird seine Autobiographie zur Fiktion. Und die erwähnte Rückwirkung des Fingierten auf die Wirklichkeit resultiert dann schlicht daher, 118 Voyageur [1985]: 519. 119 Voyageur [2001]: 600. Dass sich Robbe-Grillet für den „caractère réel et vrai de l’imagination“ interessiert, sieht auch Nguyen (2010: 352).

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dass es, einmal konstruiert, ‚Spurenʻ im Gedächtnis hinterlässt, dass, mit Piaget gesagt, die einmal konstruierten Schemata jede weitere Konstruktion beeinflussen. So kommt es, dass sich Robbe-Grillet in seiner realen Existenz von ‚anderen, ebenso realen Existenzenʻ durchdrungen sieht, zu denen auch fiktive Gestalten gehören: Je me sens traversé sans cesse, dans mon existence réelle, par d’autres existences, tout aussi réelles sans doute: des femmes que j’ai connues, mes parents, des personnages historiques […], et encore les héros de roman, ou de théâtre, […] dont les instants éclatés […] soudain se mêlent aux miens. (A 69f.)

Zurück zur These, der Text bestehe ausschließlich aus der Beschreibung mentaler Vorstellungen. Sie bildet gemeinsam mit dem Postulat der sprachlichen Struktur des Bewusstseins den Hintergrund für die – schon bei Paul Valéry anzutreffende – Idee, der Geist könne sich im Akt des Schaffens, also während der poiesis, selbst bei der Arbeit zuschauen. Nach Robbe-Grillets Auffassung kann, wie gesagt, die Sprache weder der Welt noch dem Unbewussten, sehr wohl aber den Operationen des Bewusstseins Rechnung tragen (M 17f.). Alles, was zu Bewusstsein kommt, ist damit sprachlich fassbar, und zwar auch die bildhaften Vorstellungen. Auf diese Weise wird der Text zur ‚Spur des tätigen Geistesʻ: Indem er, so die Idee, stets das jeweils im Bewusstsein Präsente nachzeichnet, legt er sukzessive Zeugnis ab von den Operationen des Bewusstseins – und wird so zum Medium geistiger Selbstreflexion. Die Narration wird so zu einer Art ‚Versuchslaborʻ, in dem sich der Geist bei der Arbeit zuschauen lässt. „What interests me in the narrative, is precisely to explore the operations of the human spirit“, sagt Robbe-Grillet explizit.120 Erneut zeigt sich, dass Robbe-Grillet das Schreiben als quasi-wissenschaftliches Unternehmen auffasst. Ausdrücklich charakterisiert er auch seine Selbstsuche als eine Forschertätigkeit, die unter Maßgabe moderner Wissenschaftlichkeitskriterien erfolgen soll:121 Je ne suis pas homme de vérité, ai-je dit, mais non plus de mensonge, ce qui reviendrait au même. Je suis une sorte d’explorateur, résolu, mal armé, imprudent, qui ne croit pas à l’existence antérieure ni durable du pays où il trace, jour après jour, un chemin possible. (M 13)

Er beschreibt sich hier als explorateur, als Forscher und Entdecker, für den der Wahrheitsbegriff als Kriterium gültiger Erkenntnis ausgedient hat und der sich der Konstruktivität, Vergänglichkeit und Viabilität aller Erkenntnis bewusst ist: Das Untersuchungsobjekt ist für ihn weder ‚vorgängigʻ noch ‚von Dauerʻ, sondern wird von der Untersuchung allererst konstituiert; und das Vorgehen des Forschers bildet nur einen von vielen ‚möglichenʻ, viablen Wegen. Dazu passt, dass Robbe120 Robbe-Grillet 1996: 249. 121 Thiher (2005: 218 und 249) bestätigt, dass Robbe-Grillet zu jenen (post)modernen Schriftstellern gehöre, die sich selbst als „experimentalists in a quest for knowledge“ und ihr Werk als ‚Denkexperimenteʻ betrachteten. Seine literarischen Verfahren knüpften direkt an wissenschaftliche Modelle an. Wie sich dieses Anknüpfen konkret gestaltet, sagt Thiher allerdings nicht.

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Grillet seine Ablehnung des Wahrheitsanspruchs auch in den Romanesques mit Verweis auf die moderne Wissenschaftstheorie rechtfertigt und die Literatur an wissenschaftlichen Kriterien wie Falsifizierbarkeit, Ergebnisoffenheit etc. zu messen versucht (M 214).122 Wie sich in der Formulierung „trace […] un chemin possible“ andeutet, ist der Autobiograph bei Robbe-Grillet weniger Spurenleser als Spurenleger. Er ist autobiographisch tätig im Wortsinne, entdeckt nicht die Spuren seines Lebens, sondern bringt sie ‚graphischʻ, als Zeichenfolge, erst hervor. Unter diesen Vorzeichen erscheint das Gedächtnis als ein Labyrinth, das erst unter den Schritten dessen entsteht, der suchend darin umherirrt. Zum autobiographe-explorateur wird auch Corinthe, wenn er kurz vor seinem Tod von Robbe-Grillet in die ‚rastlose Erforschungʻ eines sich rhizomatisch erweiternden Felslabyrinths geschickt wird: Depuis qu’il [sc. Corinthe] a découvert une issue praticable sinon commode vers les souterrains aux ramifications insoupçonnées, dont le réseau paraît s’accroître d’heure en heure comme un rhizome qui serait toujours vivant, il explore désormais sans repos, ne distinguant même plus le jour de la nuit, à l’insuffisante lueur d’une torche électrique dont les piles donnent des signes intermittents de défaillance, ce déroutant, cet instable (dirait-on) labyrinthe […]. (DJC 209)

Dies ist zum einen eine Allegorie für die Suche des dezentrierten Subjekts der Postmoderne nach sich selbst, für die endlose Durchwanderung seines Bewusstseins, die anstatt zu einer stabilen Identität nur zu einer „perte progressive d’identité“ (DJC 208) führt und die auf die beiden ‚unmöglichenʻ Fragen ‚Wer bin ich?ʻ und ‚Was mache ich da?ʻ keine abschließenden Antworten findet.123 Zum anderen ist Corinthes Irrweg durch das Labyrinth eine Allegorie des autofiktionalen Schreibens, ein Bild für Robbe-Grillets „errements autofictionnels“ (DJC 177), mit denen der Autor von Zeile zu Zeile zieht. Denn auch für den Autobiographen führt die Ergründung der eigenen Identität nur zu wachsender Unordnung, mündet in ein Textlabyrinth, das sich mit jedem Satz rhizomatisch vergrößert und in dem sich der Autobiograph, je mehr er sucht, desto mehr verliert: „Où en suis-je, d’ailleurs, exactement? Toutes ces choses, perdues dans le dédale obscur de la mémoire, ne montrent-elles pas une tendance alarmante à la perte progressive d’identité?“ (DJC 208). Passend dazu, dass Robbe-Grillet seine Selbsterforschung unter ein wissenschaftliches Licht stellt, verweist die Felslabyrinth-Szene auf ein physikalisches Experiment, den sog. Maxwell’schen Dämon. Es ist nämlich kein Zufall, dass Corinthe bei seiner Suche eine Taschenlampe bei sich trägt. Diese Lampe verweist auf Léon Brillouins Variante des Maxwell’schen Dämons, in der der sog. Dämon mit einer Taschenlampe ausgestattet ist, mit der er – wie Corinthe in seinem Bewusstseinslabyrinth – permanent Unordnung schafft. Zum Hintergrund: Der Maxwell’sche Dämon gilt als klassisches physikalisches Gedankenexperiment, mit dem James Clerk Maxwell 1871 nachzuweisen 122 Vgl. dazu Kap. 7.2 Die doppelte Abgrenzung von radikaler Areferentialität und autobiographischem Wahrheitsanspruch. 123 Dies passt zu Ecos (1986: 65) Diktum, dass der ‚Raum der Mutmaßungʻ rhizomförmig ist.

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versuchte, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nur eingeschränkt, nämlich nur für physikalische Makrosysteme gilt. Er imaginierte dazu ein mit extrem geschärften Sinnen ausgestattetes Wesen, einen ‚Dämonʻ, der im Unterschied zum Menschen in der Lage sei, die in einem geschlossenen Behälter zirkulierenden Gasmoleküle einzeln zu erkennen. Der Behälter wird von einer Wand in zwei Kammern geteilt; in der Wand befindet sich eine Klappe. Durch bloßes Öffnen und Schließen der Klappe sortiert der Dämon nun die Moleküle nach ihrer Geschwindigkeit. Er lotst die schnellen Moleküle in die eine, die langsamen in die andere Kammer und hebt damit das ursprüngliche thermische Gleichgewicht auf. In der einen Kammer wird es wärmer, in der anderen kälter. Es entsteht – ohne Aufwendung von Arbeit, so die These – ein dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widersprechendes Temperaturgefälle.124 Entscheidend für die genannte Robbe-Grillet-Stelle ist nun, wie gesagt, nicht Maxwells Gedankenexperiment selbst, sondern dessen Widerlegung durch Brillouin (1949). Brillouin geht davon aus, der Dämon müsse die Moleküle, um sie tatsächlich ‚sehenʻ zu können, mit Licht anstrahlen. Dazu benötige er eine Taschenlampe. Da diese jedoch, so Brillouin, eine Strahlenquelle im Ungleichgewicht darstelle, schaffe der Dämon im System letztlich mehr Unordnung (bzw. „negative entropy“), als er durch das Sortieren der Moleküle beseitigen könne: „The demon simply does not see the particles, unless we equip him with a torchlight, and a torchlight is obviously a source of radiation not at equilibrium. It pours negative entropy into the system“.125 Die Folge ist, dass es nie zu der von Maxwell postulierten Ordnung der Moleküle kommt. Anstelle von Ordnung bringt der Dämon immer nur neue Unordnung hervor, wirkt also der Entropie (d.h. der zunehmenden Gleichverteilung der Teilchen) entgegen, womit der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik seine allgemeine Gültigkeit behält. So wie Brillouins Dämon produziert nun auch Corinthe stets neue Unordnung. Dies ist jedoch aus Robbe-Grillets Sicht nichts Negatives, im Gegenteil: Unordnung, ständige Veränderung und Instabilität sind für ihn ein Zeichen von Lebendigkeit.126 Das thermodynamische bzw. informationswissenschaftliche Konzept der Entropie wird bei Robbe-Grillet zur Metapher für die Lebendigkeit des Bewusstseins: Wenn nämlich, wie er an anderer Stelle erläutert, in einem geschlos124 Vgl. Maxwell (1877: 328f.): „[T]he second law of thermodynamics […] is undoubtedly true as long as we can deal with bodies only in mass, and have no power of perceiving or handling the separate molecules of which they are made up. But if we conceive of a being whose faculties are so sharpened that he can follow every molecule in its course, such a being, whose attributes are as essentially finite as our own, would be able to do what is at present impossible to us. […] [A] being, who can see the individual molecules, […] will thus, without expenditure of work, raise the temperature of B and lower that of A, in contradiction to the second law of thermodynamics.“ 125 Brillouin 1949: 565f., Anm. 11. 126 „[J]’ai l’impression trop forte d’être constitué de morceaux, d’éléments. Des éléments qui bougent, parce qu’il y a des manques“ (Voyageur [1994]: 296); „[C]’est parce qu’il y a des trous, des contradictions, des manques en nous, que nous vivons. De là vient notre énergie“ (ebd., Anm. 12).

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senen thermodynamischen bzw. informationellen System Entropie, also Gleichverteilung der Moleküle bzw. eine feste Ordnung, herrscht, kommt das System zum Stillstand; es stirbt den ‚Tod durch Entropieʻ.127 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die schwache Batterie von Corinthes Taschenlampe an Bedeutung: Wenn die Batterie erst leer und die Lampe erloschen sein wird, wenn also keine Strahlung mehr negative Entropie (d.h. Unordnung) ins System bringt, wenn entsprechend auch Corinthes ‚Batterieʻ leer und seine Lebensgeister geschwunden sein werden, dann wird auch sein Bewusstsein zum Stillstand kommen und den ‚Entropietodʻ sterben. Anders als das verlöschende Bewusstsein jedoch überdauert das Textlabyrinth seinen Schöpfer, bildet jene Spur materieller Zeichen, die die autobiographische Selbsterforschung hinterlässt. Was am Ende bleibt, sind also die Romanesques: schriftstellerisches ‚Laboratoriumʻ zunächst und schließlich materielles Dokument von Robbe-Grillets Selbstschöpfung. 7.8.2 Die Dynamisierung des Schreibens und das hic et nunc der Selbstfiktion Zunächst aber geht es Robbe-Grillet darum, dieses Dokument seiner Selbstschöpfung als ein im Entstehen befindliches zu kennenzeichnen. Den Wissenschaftlichkeitskriterien folgend inszeniert er den Text als Selbstexperiment mit offenem Ausgang, als Projekt „peut-être sans fin“ (DJC 17): ohne ‚Ende, Abschlussʻ, aber auch ohne vorab bestimmtes ‚Zielʻ. Dass die Unvollendetheit kein Zufall, sondern gewollt ist, macht der paradoxe Schlusssatz der Trilogie deutlich: „Selon ce qui a été prescrit, je signe ici mon mémoire inachevé“ (DJC 229). Was ‚nach Vorschriftʻ unvollendet bleibt, ist nicht einfach unfertig, sondern strukturell unvollständig. In dem Maße, in dem der Blick des ‚Autobiographenʻ Robbe-Grillet nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, verlagert sich das Interesse auf den Schreib- und Konstruktionsakt. Das schon aus Projet bekannte Verfahren der ‚Dynamisierung des Erzählensʻ dient im Rahmen der Autofiktion dazu, neben der Text- auch die Selbstkonstruktion in ihrem Verlauf vorzuführen. Zwischen Text- und Selbstkonstruktion wird dabei eine Wechselbeziehung postuliert: Die Formung des Ich erfolgt, so die Idee, erst im und durch das Schreiben des Textes.128 Wenn dann die Prozessualität des Schreibens betont wird, wird damit zugleich die Wandlung und Instabilität des Ich vorgeführt. Kurz, der Text soll in actu zeigen, wie sich der Autor ‚auto-fingiertʻ, sich schreibend selbst erschafft. Das Motto der RobbeGrillet’schen Autofiktion wäre demnach: ‚Ich schreibe mich – hier und jetzt – als einen Anderenʻ.

127 Vgl. Voyageur [1978]: 159–163. 128 Dies sieht auch Roger-Michel Allemand so: Robbe-Grillets ‚Autobiographie‘ sei zu verstehen als „écriture de sa vie dans l’actualité même du travail (du tourment) de l’écrivain qui s’invente, c’est-à-dire qui se crée et se découvre“ (Allemand 1997: 22).

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Immer wieder wird daher in den Romanesques die Prozessualität bzw. Simultaneität von Imaginieren, Schreiben und Selbstkonstruktion betont. Regelmäßig wird auf die jeweilige Schreibsituation verwiesen, wird gezeigt, dass sich das ‚Hier und Jetztʻ des Autobiographen ständig verändert: Einmal sieht man RobbeGrillet in der Normandie, einmal in New York, ein anderes Mal in Edmonton/USA am Schreibtisch sitzen. Doch auch das Pronomen ‚ichʻ wechselt permanent seinen Bezug: Das Ich ist zu verschiedenen Zeitpunkten der Redaktion ein anderes.129 Die Gleichförmigkeit des Pronomens (,ichʻ) und des Eigennamens (,Alain Robbe-Grilletʻ) mögen es verdecken, doch das schreibende Subjekt ist, ebenso wie sein Ich, permanentem Wandel unterworfen. Die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Sprecher-Ichs reflektiert Robbe-Grillet anhand des veralteten Incipits von Miroir. Das Ich des Jahres 1983 merkt an, dass es den Worten des Ich von 1976/77 fremd geworden ist: „Maintenant que j’ai repris la présente relation, en ce mois d’octobre 1983 […], je relis avec une stupeur nouvelle ces lignes concernant ma vie familiale vers 1930“ (M 56). Entscheidend ist nun, dass auch der Wandel der mentalen Schreibsituation dokumentiert wird. Dazu wird die Illusion erzeugt, der Text gebe genau das wieder, was dem Autor gerade durch den Kopf geht. Dazu werden gewisse Beschreibungen oder Erzählungen als innere Bilder ausgewiesen, die sich – vorgeblich – gerade in diesem Augenblick im Bewusstsein des Schreibenden formen bzw. auflösen. Eine in Auflösung begriffene Erinnerung wird beispielsweise so dargestellt: Tout en bas, […] mon père marche de long en large, tandis que le souvenir d’Henri de Corinthe peu à peu s’estompe. Ils ne disent rien, ni l’un ni l’autre, absorbés chacun dans ses pensées, solitaires… L’image affaiblie persiste encore quelques instants, de plus en plus difficilement discernable… Puis plus rien. (M 24; Herv. C. S.)130

Dass es darum geht, die Illusion zu erzeugen, der Text gebe genau das wieder, was dem Autor im Moment der Niederschrift des Textes durch den Kopf geht, zeigt auch folgende Aussage: „Une seule hypothèse acceptable vient à l’esprit de Corinthe, et au mien du même coup“ (A 114). Die hier postulierte Gleichzeitigkeit von Corinthes und Robbe-Grillets Gedankenblitzen erinnert daran, dass das Erzählte dem Text nicht vorausgeht, sondern in genau dem Moment zu ‚existierenʻ beginnt, in dem es dem Autor in den Sinn kommt und er es in Worte fasst. Robbe-Grillet geht aber noch weiter und bezieht auch den Leser in die Simultaneitätsillusion mit ein, indem er eine Gleichzeitigkeit von Produktions- und Rezeptionsakt postuliert. Im dritten Band bezeichnet er die Romanesques als „le présent mémoire […] dont je suis en train d’écrire le troisième volume que vous lisez en ce moment même“ (DJC 17, Herv. C. S.). Hier soll der Eindruck entstehen, der 129 Bereits Vogel (2000: 21) hat angemerkt, dass die Romanesques nicht nur die Diskrepanz zwischen je und moi (zwischen Subjekt und Ich) aufzeigen, sondern auch die zwischen den verschiedenen textuellen Ichs (moi). 130 Explizit erläutert Robbe-Grillet das Verfahren am Beispiel jener abrupt abbrechenden Szene, in der Corinthe und Manrica von einem Wolfsrudel gejagt werden (A 119–122): „[P]our quelle raison mon récit, deux pages plus haut, s’est-il brusquement interrompu? Je crois tout simplement que la vision venait de disparaître“ (A 124).

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Autor würde sich vor den Augen des Lesers autofingieren. Dass dies eine Illusion ist, dass das hic et nunc des Autors (zumindest beim geschriebenen Text) nie identisch ist mit dem des Lesers, wird an dieser Stelle aber zugleich transparent. Gerade das Insistieren auf der vermeintlichen Simultaneität führt ihre faktische Unmöglichkeit vor Augen: Denn offensichtlich ist der reale Autor ja gerade nicht präsent, während wir den Text lesen.131 Auf die Paradoxalität der behaupteten Simultaneitätsrelation weist RobbeGrillet sogar selbst hin (und steigert sie zugleich, indem er ein weiteres Produktions- und Rezeptionsgeschehen simultan setzt: die Essays, die seine amerikanischen Studenten über die Romanesques schreiben):132 [C]e n’est pas le moins paradoxal que les „papiers“ de mes brillants élèves portent justement sur le présent mémoire sans fond ni origine, peut-être sans fin, dont je suis en train d’écrire le troisième volume que vous lisez en ce moment même […]. (DJC 17)

Der einzige Ort, an dem sich diese paradoxe Gleichzeitigkeit realisiert, an dem Produktion und Rezeption zusammentreffen, ist der Text selbst. Dieser tritt damit als irrealer und realer Raum zugleich in Erscheinung: irreal, weil in ihm das Unmögliche möglich ist; real, weil der Leser ihn erst dann lesen kann, wenn er gedruckte Materialität erlangt. Erst aufgrund seiner Materialität kann der Text zur Projektionsfläche des Lesers werden. Und Robbe-Grillet ist sich darüber bewusst, dass die Projektion des Lesers eine völlig andere sein kann (und muss) als seine eigene. Der Text soll daher aus seiner Sicht etwas sein, „où d’autres pourraient projeter leurs propres visages“.133 Der Text soll, anders gesagt, dem Leser Freiräume zum Imaginieren lassen. Wie Robbe-Grillet diese Freiräume jedoch zugleich wieder einschränkt, wird im folgenden Abschnitt zu sehen sein. Zunächst und vor allem ist der Text nämlich der Ort seiner eigenen, auktorialen Freiheit. 7.8.3 Die Freiheit der Konstruktion: Das tableau symboliste Für Robbe-Grillet bietet das Schreiben deswegen einen Raum der Freiheit, weil es ihm erlaubt, ‚aus dem Nichts herausʻ („à partir du néant lui-même“) eine imaginäre Gegenwelt, einen „anti-monde“, zu entwerfen (A 126). Dahinter steht abermals Sartres Idee von Freiheit, wonach Freiheit aus einer positiv gewendeten Negativität, dem Zwang zur Konstruktion von Sinn, resultiert: Die Abwesenheit von Sinn ermöglicht dem Menschen erst, den Sinn selbst zu schaffen. Damit verbindet sich die phänomenologische Idee des leeren Bewusstseins, dessen innere Leere den subjektiven Weltentwurf erst ermöglicht. Die Idee, dass der Zwang zur ständigen Konstruktion eigentlich eine Chance birgt und Freiheit bedeutet, überträgt RobbeGrillet dann auf das künstlerische Schaffen. Auch und insbesondere das Kunstwerk bietet demnach Raum für menschliche Gestaltungsfreiheit: 131 Zudem wird erneut klar, dass der, der en ce moment même zu uns spricht, ein anderer als der reale Autor sein muss: sein textueller Stellvertreter, der autobiographische Erzähler. 132 Zur doppelten Paradoxalität dieser Stelle vgl. bereits Bernard 1997: 199. 133 Voyageur [1985]: 501.

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Je le sais bien, c’est seulement parce qu’il y a du néant dans ma conscience […] que peut se dévoiler un monde devant moi, un monde que mon être vidé de soi projette et réalise. […] Seule l’œuvre d’art, le texte directement produit par l’angoisse, pourraient ainsi, paradoxalement, échapper pour les siècles des siècles au vide qui les a, eux aussi, mis au monde. (A 125f.)

Im nächsten Schritt wird dann auch der Selbstentwurf zu einem Akt der Freiheit, und die Destruktivität des autobiographischen Projekts („je ruine ce que je rapporte“, DJC 190) wendet sich ins Positive. „Nous écrivons désormais, joyeux, sur des ruines“, proklamiert Robbe-Grillet (DJC 17). Es gelte, im ständigen Bewusstsein um die Instabilität und Vergänglichkeit aller Konstruktion, auf den Trümmern des Alten etwas Neues zu errichten (ebd.).134 Wie komplex dieses ‚Schreiben auf Ruinenʻ ist, lässt sich am Beispiel des tableau symboliste nachvollziehen, von dem Robbe-Grillet angibt, es hänge in seinem Arbeitszimmer, wo er es vom Schreibtisch aus sehen könne. Er habe es vor vielen Jahren auf einem Pariser Flohmarkt gekauft; datiert sei es ‚Sankt Petersburg 1886ʻ, die Signatur des Malers sei allerdings unlesbar (A 105f.). Es folgt eine mehrseitige Beschreibung des Motivs (A 106–109): Ein schwarzer Lanzenreiter („uhlan“) reitet auf einem reich geschmückten weißen Schlachtross durch eine Bergkulisse; von seiner Lanze tropft Blut. Blutbefleckt ist auch das Stück feiner Stoff, das er in seinem eisernen Handschuh hält. An das Pferd ist ein sehr junges, blondes, in weiß-transparenten Stoff gehülltes Mädchen mit einem (Hunde-)Halsband angekettet, die Hände auf dem Rücken gefesselt. In einiger Entfernung liegt am Wegrand, auf einen Arm gestützt, ein Ritter in einer weißen Renaissance-Rüstung, den anderen Arm streckt er dem davonziehenden Paar hinterher; sein verzerrter Mund scheint einen Wutschrei oder Fluch auszustoßen; ein Helm mit weißem Federbusch liegt neben ihm; Pferd, Schwert und Lanze fehlen hingegen. Dieses angeblich reale Gemälde entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fiktiv. Es ist konstruiert aus den ‚Ruinenʻ anderer Texte. Im Ritter mit der blutenden Lanze ist Parzival (in der Wagner’schen Interpretation als Schwarzer Ritter) zu erkennen.135 Der am Boden liegende weiße Ritter verweist auf eine neuerliche réécriture der Szene aus Through the Looking-Glass, in der der Weiße Ritter den Schwarzen Ritter bei Alices Gefangennahme stört.136 Ein Fiktionssignal bildet auch die kleine weiße Blume am Bildrand, denn sie ziert nicht nur das Gemälde, sondern auch jene Fotografie, die Robbe-Grillets Mutter angeblich 1914 im Odenwald aufgenommen hat (A 117 u. 127). Das doppelte Auftauchen der Blume scheint ebenso wenig dem Zufall geschuldet wie ihre Verwandschaft mit einer

134 Zu Robbe-Grillets ‚Schreiben auf Ruinenʻ vgl. u.a. die Beiträge von Faerber, Dugast-Portes und Poirier in Band 6 der Reihe Le „Nouveau Roman“ en questions (Faerber 2008). 135 Bei Wagner tritt Parzival nicht mehr als Chrétiens Roter Ritter („chevalier vermeil“) auf, sondern „ganz in schwarzer Waffenrüstung: mit geschlossenem Helme und gesenktem Speer“ (Chrétien de Troyes 1991: 146, V. 2596; Wagner 2005: 18f. und 68). 136 Zur vormaligen réécriture dieser Szene in Projet vgl. Kap. 6.4 Theatralität: Inszenierung, Plan und Abweichung.

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anderen weißen Blume namens Angelica (dt. Engelwurz).137 Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Blume um ein Robbe-Grillet’sches Phantasieprodukt.138 Auffällig ist, wie sehr Robbe-Grillet die Rätselhaftigkeit des Bildmotivs betont. Obgleich ihm die Intertexte offensichtlich bekannt sind, beteuert er, auch der Händler habe nicht sagen können, worum es sich bei der ‚rätselhaften Szeneʻ („scène énigmatique“) handele: „légende, allégorie, épisode emprunté à la littérature ou à l’histoire?“ (A 109).139 Den Ahnungslosen spielt er auch angesichts der blutenden Lanze, bei der es sich, für jeden Eingeweihten ersichtlich, um die Lanze des Grals handelt: „Curieusement, on a même l’impression de voir sourdre le liquide vermeil à la pointe aiguë de l’acier“ (A 107).140 Auch in der Folge insistiert er darauf, dass unklar sei, woher das Blut komme. Im gleichen Zuge verleiht er dem Motiv eine erotische Konnotation. Im Kontext der Erwähnung des Halsbands und des blutigen Stofffetzens, der wie ein Stück „lingerie (féminine?)“ (A 107) wirkt, wird die religiöse Bedeutungsebene der Gralsgeschichte zugunsten eines sadoerotischen Hintergrunds verdrängt: S’il s’agit là des cruels témoignages d’une blessure toute récente, on ne comprend pas qui serait la victime, car tous les personnages présents, y compris le cheval, paraissent intacts; du moins, ni leurs corps ni leurs costumes ne laissent-ils deviner la moindre trace d’hémorragie. (A 108)

Dass es dabei bewusst bei einer bloßen Evokation einer (nur potentiellen) Gewaltphantasie bleiben soll, wird klar, wenn man in Rechnung stellt, auf welche Weise Robbe-Grillet hier das Mittel der Bildbeschreibung einsetzt. Immerhin ist es bezeichnend, dass er überhaupt zu diesem Mittel greift und dabei die Unschärfen des Medienwechsels in Kauf nimmt, denn angesichts der Tatsache, dass es sich um ein erfundenes Motiv handelt, wäre er ja frei gewesen, es als Erzählung zu inszenieren. Es muss also einen Grund haben, dass er es als Gemälde präsentiert. Dieser Grund dürfte darin bestehen, dass es ihm gerade um die Unschärfen des Medienwechsels geht. Gezielt nimmt er mit seiner Beschreibung strukturelle Leerstellen des Bildmediums auf: die Tatsache, dass ein Bild immer nur einen singulären, den sog. prägnanten Moment eines Geschehensverlaufs bannt, während das Vorher und Nachher nur angedeutet werden kann.141 Angesichts eines Bildes, von dem er nicht einmal Maler oder Titel kennt, kann Robbe-Grillet vorgeben, mit der Deutung überfordert zu sein, und sich darauf beschränken, Vermutungen zu äußern: „cela fait penser à quelque pièce de lingerie (féminine?)“, „S’il s’agit là des cruels témoignages […], on ne comprend pas […]“ (A 107f.; Herv. C. S.). Vor 137 Im Text wird die Blume der Klasse der Dicotyledonen zugeordnet (A 117), zu der auch die Engelwurz (Angelica) zählt. 138 Dass es sich um eine fiktive Pflanze handelt, wird später noch deutlicher werden, vgl. dazu Kap. 7.8.4 Die Signatur des abwesenden Autors. 139 Dass Robbe-Grillet die Vorlagen kennt, zeigt sich, wenn er sie an anderen Stellen explizit nennt: vgl. zu Parsifal A 8; zu Wagner M 141, 217f., A 19–23, DJC 144; zu Carroll M 19. 140 Vgl. dazu schon Chrétien de Troyes (1991: 178): „Le lance blanche et le fer blanc,/ S’issoit une goute de sanc/ Del fer de la lance en somet,/ Et jusqu’a la main au vallet/ Coloit celle goute vermeille“ (VV. 3197–3201). 141 Vgl. dazu Lessings Definition des prägnanten Moments in Lessing 1987: 115.

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dem Hintergrund, dass Robbe-Grillet das Motiv selbst erfunden hat, ist diese Unwissenheit freilich völlig unplausibel. Anders gesagt, Robbe-Grillet hätte keinen Grund über das Motiv zu rätseln, würde es ihm nicht genau um diese Rätselhaftigkeit gehen: um eine ‚Offenhaltung des Sinnsʻ nach Art des ‚offenen Kunstwerksʻ. Allerdings sind seine Spekulationen freilich höchst suggestiv. Offenbar geht es darum, ein bestimmtes sadoerotisches Motiv nur zu evozieren, nicht zu benennen. Die Szene wird bei Robbe-Grillet zum ‚Bildʻ, weil der im Bild gebannte Moment nicht nur prägnant, sondern, wie schon Lessing sagt, auch ‚fruchtbarʻ sein, d.h. „der Einbildungskraft freies Spiel“ lassen soll.142 Kurz, der Betrachter soll Deutungsspielräume haben. Allerdings – und dies ist bezeichnend – geht es dabei nicht um die Deutungsspielräume des Lesers, sondern um die des Autors. Denn es ist ja Robbe-Grillet selbst, der hier als Bildbetrachter auftritt und sich den Spekulationen über das Motiv hingibt. Damit wird auch deutlich, dass es mindestens so sehr um das Bildmotiv selbst wie um den Betrachtungs- bzw. Imaginationsprozess geht, den es auslöst. RobbeGrillet fingiert also ein Gemälde, damit er sich als spekulierenden Betrachter und die beschriebene Szene als unbestätigte Gewaltphantasie darstellen kann. Dieser Ausweis als bloße Phantasie ist Robbe-Grillet äußerst wichtig: Das Phantasma muss aus seiner Sicht irreal bleiben; ansonsten verlöre es seine ‚absolute Schönheitʻ: „[D]ans sa monstrueuse et fragile grandeur, le fantasme ne se réalise pas. Sa beauté absolue, sa liberté, sont incompatibles avec les misérables imperfections contingentes“ (A 194). Die Irrealität ist für Robbe-Grillet also der Garant der freien Gestaltung. Das Gleiche gilt für die Fiktion, in der ebenfalls den Vorstellungen freier Lauf gelassen werden kann. Das Kunstwerk wird hier zum Ersatz der reinen Imagination: „Seul, parfois, le simulacre (dans l’œuvre d’art ou dans le jeu expert) parvient à en [sc. la beauté et la liberté du fantasme] donner quelque approximation fugace“ (A 194f.). Das Beispiel des symbolistischen Gemäldes macht nochmals klar, dass es für Robbe-Grillets Art des autobiographischen Schreibens nicht auf die äußeren, biographischen Fakten ankommt, sondern auf die écriture de l’imaginaire, die seines Erachtens deswegen mehr über seine Person aussagt, weil er die Inhalte selbst fingiert hat. Die Bildbeschreibung des fiktiven Gemäldes zeigt Robbe-Grillet sozusagen von seiner ‚persönlichstenʻ Seite. Abschließend fragt sich, inwiefern diese écriture de l’imaginaire nun Raum für die ‚Projektionenʻ des Lesers lässt? Einerseits wird derart offensichtlich auf Lücken und Unklarheiten hingewiesen, dass der Leser geradezu dazu gezwungen ist, sich Gedanken über die potentielle Füllung der Leerstellen zu machen. Andererseits lassen die Lücken, Anspielungen und Vagheiten aber weniger Deutungsspielräume, als zunächst zu vermuten. Denn was evoziert wird, wird allen Unsicherheitsklauseln zum Trotz, auf recht eindeutige Weise evoziert. Der Leser wird durch die Beschreibung geradezu gedrängt, das im Text nur Angedeutete im Geiste durchzuspielen und damit gedanklich zu realisieren. Zum Einsatz kommen dabei gezielt gesetzte Leerstellen, die, wie Robbe-Grillet selbst (am Beispiel seiner 142 Ebd. 23.

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frühen Romane) erläutert hat, besonders suggestiv wirken und einen bestimmten Sinn geradezu anziehen. Im Fall des symbolistischen Bildes sind dies die „cruels témoignages d’une blessure toute récente“ bzw. „trace[s] d’hémorragie“, die zwar für das Motiv geleugnet werden, deren bloße Nennung jedoch ausreicht, um im Leser eine Vorstellung zu evozieren.143 Robbe-Grillet operiert also, wie auch Scarlett Winter betont, mit bewussten Unschärfen, um im Leser ein „erotische[s] Kopfkino“ in Gang zu setzen.144 Kurz, die Bildbeschreibung hält den Sinn ebenso sehr offen, wie sie die Rezeption lenkt. Die Projektion des Lesers ist mithin nur so frei, wie es der Text erlaubt (konstruktivistisch betrachtet zeigt sich hier der Einfluss des Objekts an der Konstruktion!). Denn anders als Robbe-Grillet in der oben geschilderten Szene hat der Leser es nicht mit einem fiktiven, sondern einem realen Kunstwerk zu tun, mit dessen gegebenen Strukturen er umgehen muss. 7.8.4 Die Signatur des abwesenden Autors Abschließend sei noch einmal jene weiße Blume erwähnt, die sowohl das symbolistische Gemälde als auch die Odenwald-Fotografie schmückt. Sie kündet nämlich auf symbolische Weise davon, dass der (abwesende) Autor – in Form seiner Fiktionen – eine Signatur im Text hinterlässt bzw. dass der Text seine Handschrift trägt. Dazu muss man zunächst erkennen, dass die Blume mit den maiglöckchenartigen Blüten eine Erfindung Robbe-Grillets ist. Bereits in der Beschreibung des tableau symboliste hatte er offen darüber spekuliert, es könnte sich bei der ihm unbekannten Art um eine „espèce imaginaire“ (A 127) handeln. Wenig später allerdings bestimmt er sie dann sehr genau: als wilde Gloxinie, „gloxinie sauvage (probablement gloxinia marginalis, R.)“ (A 146). Schon Sjef Houppermans hat darauf hingewiesen, dass es eine solche Gloxinie nicht gibt und dass die Initiale in der Klammer auf ihren ‚Erfinderʻ RobbeGrillet verweist.145 Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass, wie Houppermans weiter ausführt, die Gloxinie zur Familie der „personnées“, der „fleurs à masque“ gehört.146 Hier zeigt sich nämlich ganz unerwartet eine Verbindung zur Autobiographie. Denn laut Barthes kann sich der moderne Autobiograph qua sujet dispersé in seinem Text grundsätzlich nur in Form verschiedener ‚Maskenʻ, „personae“, zeigen, mit „cependant personne derrière“.147 Damit wird die weiße Blu143 Dass gerade die Negation eines Konzepts dieses in der Vorstellung wachruft, hat der kognitive Linguist George Lakoff an einem einfachen Beispiel illustriert. Die Aufforderung „Denke nicht an einen Elefanten“ aktiviert bei der angesprochenen Person unvermeidlich den entsprechenden frame zu ‚Elefantʻ (vgl. Lakoff 2004: 3). 144 Winter 2011: 80. 145 Vgl. Houppermans 1993: 34. 146 Vgl. ebd. Genau genommen zählt die Gloxinie zur Familie der Gesneriaceae, die zusammen mit weiteren Familien von Linné als personnées bzw. personata bezeichnet wurden. Vgl. Littré 2007, Bd. 14: 560 (Lemma „Personnée“). 147 Vgl. Barthes 1975: 123.

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me zur Chiffre des Autors Robbe-Grillet. Und wenn dieser seine Gloxinie dann mit dem Zusatz marginalis zu einer ‚marginalenʻ Blume macht, so ist dies ganz wörtlich zu verstehen: Die Pflanze taucht stets in der linken unteren Ecke, also am Rand der Bilder auf – dort, wo sich potentiell die Signatur des Künstlers befindet. Stellt man zusätzlich in Rechnung, dass der Eigenname Robbe-Grillet auf eine andere weiße Blume – le grillet, eine Art weiße Narzisse – verweist, so wird die Blume endgültig zur Signatur des Autors.148 Mit der ‚Maskenblumeʻ kennzeichnet Robbe-Grillet die Fotografie und das Gemälde also als seine Kreationen. Darüber hinaus hinterlässt er mit ihr eine Spur im Text, die sowohl seine persönliche Handschrift trägt, zugleich aber etwas anderes als die namentliche Signatur ist: Die symbolische Blume fungiert hier sozusagen als ‚das Andereʻ des Eigennamens und zeugt so einmal mehr von der allzeit präsenten Abwesenheit des realen Autors im Text: „Je suis […] un écrivain absent“ (DJC 192). 7.9 ZUSAMMENFASSUNG (LES ROMANESQUES) Festhalten lässt sich, dass das autobiographische Projekt der Romanesques weder eine Rückkehr zum naiven Erzählen noch einen Bruch mit der Nouveau (Nouveau) Roman-Ästhetik bildet, sondern eine erneute Weiterentwicklung der RobbeGrillet’schen Poetik darstellt. Nach Text und Wirklichkeit wird nun auch das Ich als Konstrukt entlarvt. Mit der Hinwendung zum Autobiographischen rollt RobbeGrillet das Referenzproblem nochmals neu auf: Wie schon in der ‚mittlerenʻ Phase, nur auf andere Weise, versucht er klarzumachen, dass der Text als bloßes Konstrukt weder die Welt noch den Autor zeigen kann, wie sie ‚wirklichʻ sind, dass er aber gerade aufgrund seiner Konstrukthaftigkeit in der Welt verankert ist: Jeder Text ist das Konstrukt eines realen Subjekts, des Autors, und sagt als solches immer auch etwas über den Autor aus, denn er zeugt von dessen Konstruktionstätigkeit. Mit diesem Argument des textuellen Konstruktcharakters wendet sich Robbe-Grillet in den Romanesques erneut gegen zwei Richtungen: gegen das wirklichkeitsillusionistische Erzählen einerseits und das vermeintlich subjektlose Erzählen (eines Jean Ricardou) sowie das Theorem vom ‚Tod des Autorsʻ andererseits. Mit der antiillusionistischen Stoßrichtung zielt Robbe-Grillet nun vor allem auf die traditionelle Autobiographie (im Sinne Philippe Lejeunes) und ihren Wahrheits- bzw. Authentizitätsanspruch. Nachdem er in den vorangegangenen Phasen die fiktionale Gattung Roman entillusioniert hat, unternimmt RobbeGrillet nun also die Dekonstruktion der faktualen Gattung Autobiographie: Auf verschiedenste Weise zeigt er, dass es unmöglich ist, das Leben und die Persönlichkeit des Autors so darzustellen, wie sie ‚wirklichʻ waren bzw. sind – und dies nicht nur wegen der Konstruktivität des Textes, sondern auch wegen der des Ich. 148 Vgl. Littré 2007, Bd. 9: 372 (Lemma „Grillet“). Auch auf diese Konnotation hat schon Houppermans (1993: 35) hingewiesen.

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Die menschliche Selbsterkenntnis, so Robbe-Grillets Überzeugung, ist zwangsläufig lückenhaft: zum einen weil der Erinnerung nicht zu trauen ist, die immer mehr Neu- denn Rekonstruktion des Vergangenen ist; zum anderen weil das Unbewusste für jede Erkenntnis unzugänglich ist. Das Ich ist daher nie identisch mit dem Subjekt, sondern nur dessen Konstrukt, das Bild, das sich das Subjekt von sich selbst macht. Die prinzipielle Unzugänglichkeit des Unbewussten bildet zudem das Argument, mit dem Robbe-Grillet gegen die Psychoanalyse bzw. psychoanalytische Literaturwissenschaft zu Felde zieht. Mit zahlreichen Anspielungen und eingebauten Fallen für ‚Amateuranalytikerʻ versucht er die Romanesques gegen psychologisierende Deutungen zu schützen. Um der grundlegenden Lückenhaftigkeit der Selbsterkenntnis Rechnung zu tragen, konzipiert Robbe-Grillet mit den Romanesques eine autobiographie consciente de son inconscience, eine Autobiographie, die sich ihrer Defizite bewusst zeigt und sich als lückenhaft, widersprüchlich und durchdrungen von Fiktionen ausweist. Weil Selbsterkenntnis immer Selbstschöpfung bedeutet und das Ich immer nur ein Konstrukt, eine fictio (im Sinne von Formung, Schöpfung), ist, macht Robbe-Grillet die Autobiographie zur Autofiktion. Die Nichtidentität von Subjekt (je) und Ich (moi) wird dabei prominent in Szene gesetzt: Die Idee vom Ich als ‚dem Anderenʻ des Subjekts tritt sowohl im Motiv des miroir qui disperse als auch in der widersprüchlichen Kommunikationssituation zutage, die den autobiographischen Erzähler als textuellen counterpart des realen Autors ausweist. Eine zentrale Rolle im Spiel mit der Alterität des Ich kommt dem fiktiven Henri de Corinthe zu, der im Lauf des Textes mehr und mehr zu Robbe-Grillets Alter ego mutiert. Die Metalepse, in der Corinthe Robbe-Grillet die Erzählautorität streitig macht, illustriert dann erneut, dass auch im autobiographischen Text nie der reale Autor selbst, sondern nur sein textueller Stellvertreter, der autobiographische Erzähler, spricht (denn nur dieser kann von Corinthe metaleptisch verdrängt werden). Indem Robbe-Grillet seine schriftstellerische Selbstkonstruktion als einen in actu ablaufenden Prozess inszeniert, wird das Ich als flüchtiges, ständig im Wandel begriffenes Konstrukt ersichtlich. Wie schon in Projet pour une révolution à New York wird also auch in den Romanesques die Prozessualität des Erzählens bzw. Schreibens betont und der Blick vom fertigen Gegenstand auf den Entstehensprozess verlagert. Erzeugt wird die Illusion eines Erzählens im hic et nunc, die zeigen soll, wie sich das Ich im und durch das Schreiben formt bzw. transformiert. Dahinter steht die konstruktivistische Idee, dass sich Subjekt und Objekt der Konstruktion wechselseitig prägen. So wie Projet vorführt, dass der Roman die erzählte Welt erst konstituiert, demonstrieren also die Romanesques, dass die Autobiographie ihren Gegenstand, das autobiographische Ich, erst im und durch das Erzählen hervorbringt. Immer wieder wird der Authentizitätsanspruch des autobiographischen Diskurses unterminiert – und zwar durch die Vermischung der drei oberflächlich different erscheinenden Diskurse: des autobiographischen, fiktionalen und theoretisch-poetologischen Diskurses. Gezielt gesetzte und oftmals gut kaschierte Fiktionssignale lassen die autobiographischen Anekdoten fragwürdig erscheinen. Weil

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am Ende nicht mehr gesagt werden kann, was von dem Erzählten den historischen Tatsachen entspricht und was nicht, ist die Authentizität des autobiographischen Diskurses insgesamt beschädigt. Robbe-Grillets vermeintliche Enthüllungen erweisen sich damit regelmäßig als Fallen für den naiven, auf der Suche nach autobiographischer Wahrheit befindlichen Leser. Darüber hinaus wird, was in der Forschung bisher praktisch unbeachtet geblieben ist, auch der theoretisch-poetologische Diskurs in seiner Glaubwürdigkeit infrage gestellt oder zumindest ambivalent. Dies geschieht durch punktuelle Annäherungen an den fiktionalen Diskurs sowie das Ausstrahlen des diskreditierten autobiographischen Diskurses auf die poetologischen Passagen. Die Fiktion wuchert sozusagen in den theoretisch-poetologischen Diskurs hinein. Sie überschreitet dabei schließlich sogar die Einzeltextgrenze und infiltriert faktuale Paratexte, wenn Robbe-Grillet in Interviews die ‚reale Existenzʻ des fiktiven Henri de Corinthe bestätigt. Hintergrund ist dabei Robbe-Grillets (konstruktivistische) Überzeugung, dass Textgebilde und Imaginationen qua Konstrukt, d.h. im Kopf des Konstrukteurs, durchaus real sind. Er spricht dabei auch von der présence réelle des Imaginierten vor seinem inneren Auge. Diese quasi-materielle Präsenz der Imaginationen vor dem inneren Auge bildet – zusammen mit dem Postulat einer Strukturanalogie von Sprache und Bewusstsein – die Grundlage für Robbe-Grillets écriture de l’imaginaire: für ein Schreiben, das von den sukzessiven Operationen und Konstruktionen des auktorialen Bewusstseins Zeugnis ablegen und zur ‚Spur des tätigen Geistesʻ werden soll. Die Idee des Textes als Dokument seiner (Selbst-)Konstruktion ist für Robbe-Grillet deswegen so wichtig, weil er seine textuelle Selbsterforschung als quasi-wissenschaftliches Projekt betrachtet, als Suche mit offenem Ergebnis. Die Autofiktion bildet für ihn eine Art ‚Versuchslaborʻ, in dem er die allmähliche Konstitution seines Ich nachvollziehen kann. Wie schon seine Romane sind auch die Romanesques für Robbe-Grillet ein Ort der Freiheit, an dem er nach Belieben konstruieren kann. Der Theorie zufolge sollen zwar auch die Leser ‚ihre Gesichterʻ in die Texte hineinprojizieren können – die Konstruktionstätigkeit des Rezipienten ist also mitgedacht –, jedoch zeigt die Praxis, dass sie dabei deutlich weniger frei sind als der Autor. Viele der textuellen Lücken sind keineswegs so offen, wie es zunächst scheinen mag, sondern nutzen im Gegenteil die suggestive Kraft des Ungesagten, um recht unzweideutige sadoerotische Bilder zu evozieren. Während sich die Romanesques also ausgerechnet bei der Vermittlung von (autobiographischen und theoretischen) ‚Faktenʻ offen und mehrdeutig zeigen, sind sie an den vermeintlich zweideutigen Stellen, an denen Robbe-Grillet selbst nur vage Vermutungen äußert, deutlich suggestiver und eindeutiger, als es oberflächlich den Anschein hat.

8 SCHLUSS In den vorangegangenen Analysen konnte zum einen gezeigt werden, dass epistemologische Prämissen ein starkes movens von Robbe-Grillets Theorie und Praxis des Erzählens sind, zum anderen, dass diese Prämissen im Wesentlichen mit konstruktivistischen Positionen übereinstimmen. Mit dem ungefähr zeitgleich emergierenden neuen epistemologischen Paradigma des Konstruktivismus teilt Robbe-Grillet insbesondere die antirealistische und antiillusionistische Grundhaltung. Feststellen ließ sich, dass dieser Antirealismus bei Robbe-Grillet von Anfang an vorhanden ist, sich jedoch insofern steigert, als er sukzessive neue Gegenstandsbereiche erfasst (Wirklichkeit, Text, Ich). Von Beginn an ist Robbe-Grillets Erzählen von der konstruktivistischen Kernthese geprägt, dass die ‚Wirklichkeitʻ ein kognitives Konstrukt des Subjekts ist, weswegen der Mensch die Welt nie objektiv erfassen kann und es so etwas wie die Wahrheit schlicht nicht gibt. Die Kritik am Wahrheitsbegriff ist bei Robbe-Grillet ein durchweg zentraler Punkt. Dabei beruft er sich, wie die Konstruktivisten, auf Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften und der Wissenschaftstheorie (Einstein, Popper), insbesondere die Beobachterabhängigkeit und Lückenhaftigkeit menschlicher Erkenntnis, die Falsifizierbarkeit von Theorien und Modellen sowie generell die Unsicherheit allen Wissens. Davon ausgehend erklärt er das 20. Jahrhundert zum ‚Zeitalter der Unsicherheitʻ und fordert von der Literatur, sie solle – nach dem Vorbild der Wissenschaften – endlich aufhören, sich als ‚letzte Bastion der Wahrheitʻ zu gerieren. Seine Konzeption einer ‚Literatur der Unsicherheitʻ mündet schließlich in ein lückenhaftes, widersprüchliches Erzählen, das sich den gängigen Kriterien kohärenter Wirklichkeitskonstruktion widersetzt und damit versucht, der prinzipiellen Lückenhaftigkeit menschlicher Erkenntnis Rechnung zu tragen. Die textuellen Lücken sind also eine Metapher für die Lücken der Erkenntnis. Schon der Debütroman, Les Gommes, setzt auf bemerkenswerte Weise die epistemologische Unsicherheit und Nichterkennbarkeit der Welt, wie sie ‚wirklichʻ ist, ins Bild – und zwar sowohl für die Figuren, die alle nur ihre je eigene Wirklichkeit konstruieren, als auch für den Leser, der aufgrund diverser Leerstellen zumindest punktuell nicht mehr sagen kann, was in der erzählten Welt ‚wirklichʻ der Fall ist. Schon in diesem Roman zeigt sich, wie in allen späteren, dass dem Leser mit den textuellen Leerstellen immer auch seine eigene Konstruktionstätigkeit und Suche nach kohärentem Sinn vor Augen geführt wird, die Tatsache also, dass er versucht, die Lücken so zu füllen, dass ein möglichst eindeutiger Sinn entsteht – was vor allem in den späteren Romanen durch widersprüchliche Varianten verhindert wird. Anhand der epistemologischen Implikationen lässt sich sehr gut die interne Entwicklung von Robbe-Grillets Erzählwerk nachvollziehen, auch in ihrem Verhältnis zum jeweiligen Stand der Theorie. Die allgemein übliche Phaseneinteilung

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in Frühwerk, Nouveau Nouveau Roman-Phase und ‚autobiographischeʻ Phase konnte insofern bestätigt werden, als es in jeder Phase eine andere Kategorie ist, deren Dekonstruktion im Mittelpunkt steht: Zuerst geht es primär darum, die (kognitive) Wirklichkeit, dann den Text und schließlich das Ich als Konstrukt aufzudecken. Hierbei zeigen sich allerdings gewisse Differenzen bzw. zeitliche Verschiebungen zwischen Theorie und Praxis. Während Robbe-Grillet in seiner frühen Theorie noch einem nouveau réalisme verpflichtet ist, mit dem er glaubt, der réalité brute Rechnung tragen zu können, demonstriert schon der erste Roman, Les Gommes, die Unmöglichkeit dieses Unterfangens dadurch, dass er den Konstruktcharakter von Text und Sprache thematisiert. Zentral ist darüber hinaus, dass sich Robbe-Grillet in der mittleren bzw. sog. Nouveau Nouveau Roman-Phase keineswegs (wie die Forschung gelegentlich vermutet) von epistemologischen Fragen abwendet, auch wenn er den Fokus nun auf den Konstruktcharakter des Textes legt: Unter epistemologischen Gesichtspunkten bildet die hochgradige Artifizialisierung von Text und Romanwirklichkeit gerade keinen Bruch, sondern die konsequente Fortsetzung des in Les Gommes initiierten Programms der Desillusionierung. Ein Roman wie Projet pour une révolution à New York etwa macht die sukzessive Realsetzung von Imaginiertem als Grundprinzip fiktionaler Weltschöpfung transparent. Er führt vor, wie der Text sein eigenes Referenzuniversum ‚aus dem Nichtsʻ heraus schafft – und problematisiert damit die erkenntnistheoretisch relevante Kluft von (fiktionalem) Text und Welt. Geradezu folgerichtig erscheint, so gesehen, auch die in den Romanesques erfolgende Hinwendung zum Autobiographischen. Denn sie bedeutet, anders als die Forschung mitunter meint, weder eine Kehrtwende hin zum naiven, wirklichkeitsillusionistischen Erzählen noch ein Dementi früherer Positionen, sondern die Ausweitung konstruktivistischen Gedankenguts auf neues Terrain: Nach der Wirklichkeit und dem fiktionalen Text (Roman) werden nun das Ich und der faktuale Text (Autobiographie) dekonstruiert. Hintergrund ist hier die Annahme, dass die menschliche Selbsterkenntnis nicht weniger problematisch und lückenhaft ist als die Erkenntnis im Allgemeinen (aufgrund der Konstruktivität der Erinnerung sowie der prinzipiellen Unzugänglichkeit des Unbewussten für Sprache und Bewusstsein). Die Übereinstimmungen mit konstruktivistischen Positionen zeigen sich insbesondere dann, wenn es um die Hinterfragung bzw. die Erkenn- und Darstellbarkeit vermeintlich natürlicher Gegebenheiten wie Wahrheit, Objektivität, Wirklichkeit, Zeit, Raum, Kausalität, Ich-Identität oder Erinnerung geht. Ähnlich wie der Konstruktivismus findet auch Robbe-Grillet dabei seinen zentralen Antagonisten im (erkenntnistheoretischen) Weltmodell des 19. Jahrhunderts. Es ist in der auf innerliterarische Entwicklungen fokussierten Forschung meist nicht gesehen worden, wie eng Robbe-Grillets Kritik am literarischen Realismus mit einer Kritik am epistemologischen Realismus verknüpft ist, wie sehr er sein Projekt der Desillusionierung und Denaturalisierung des Erzählens von Beginn an mit der epistemologischen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem Paradigmenwechsel vom ‚sicherenʻ Newton’schen zum ‚unsicherenʻ Einstein’schen Weltbild verknüpft. Schon Les Gommes inszeniert die direkte Konfrontation der beiden konkurrierenden Weltmodelle, wenn in die mit den Insignien der Newton’schen Phy-

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sik versehene ‚ideale Ordnungʻ plötzlich die Unsicherheit und Unberechenbarkeit hereinbricht und das stabile, lineare, deterministische Zeit-Raum-KausalitätsGefüge mit Abweichungen, Irrtümern sowie raumzeitlichen Krümmungen erschüttert. Wie die réécriture entsprechender Szenen in Projet belegt, ist diese Gegenüberstellung auch noch in späteren Romanen zu finden. Die Romanesques ihrerseits konfrontieren zwei Subjektmodelle miteinander. Sie zeichnen, dieses Mal unter Rekurs auf Lacan, die Ablösung des ehemals stabilen durch ein instabiles, fragmentiertes Selbstbild nach. Den Paradigmenwechsel von Sicherheit zu Unsicherheit gibt es ebenfalls hinsichtlich der Modellierung von Text, genauer: des Verhältnisses von Text und Welt. Noch bevor sich Robbe-Grillet in seiner Theorie des problème insoluble de la représentation bewusst zeigt, setzt Les Gommes bereits den Konstruktcharakter von Sprache und Text in Szene und problematisiert auf diese Weise die sprachliche Referenzfunktion. Dies gilt, wie zu sehen war, in verstärktem Maße für die Romane der ,mittleren‘ Phase; zugleich jedoch war zu sehen, dass sie noch immer mit dem Bezug des Textes zur Welt befasst sind und sich nicht so radikal areferentiell bzw. von Welt und Subjekt abgekoppelt zeigen, wie in der Forschung mitunter behauptet. Letzteres ist insbesondere auf Robbe-Grillets frühe Distanzierung von Theoremen wie dem ‚Tod des Autorsʻ und dem sich ‚autogenerierenden Textʻ zurückzuführen. In den Romanesques stellt sich die Referenzproblematik dann insofern noch einmal neu, als mit dem autobiographischen und poetologischen Diskurs erstmals zwei konventionell als referentiell eingestufte Diskurse verhandelt und von Robbe-Grillet schließlich in ihrer Authentizität und Wahrheitsfähigkeit infrage gestellt werden. Der erkenntnistheoretische Aspekt kann darüber hinaus dabei behilflich sein, Robbe-Grillets Verhältnis zur literarischen Tradition zu präzisieren. Wie unsere Analysen gezeigt haben, selektiert Robbe-Grillet seine literarischen Vorbilder und Gegner nicht zuletzt nach epistemologischen Kriterien. Hinter der Kritik an einem bestimmten literarischen Modell steht, anders gesagt, häufig die Kritik an einer gewissen erkenntnistheoretischen Position. So gründet Robbe-Grillets Ablehnung einer kohärenten Geschichte sowie des allwissenden Erzählers in der Ablehnung des positivistischen Weltbildes des 19. Jahrhunderts und dessen Annahme einer vollständig intelligiblen, geordneten Welt. An der Tragödie stören ihn sowohl ihr Fatalismus (als eine Variante des Determinismus) als auch ihr Anthropozentrismus, die für Robbe-Grillet mit dem Weltmodell des 20. Jahrhunderts beide nicht verrechenbar sind. Umgekehrt macht die epistemologische Fundierung noch einmal klar, dass und warum Robbe-Grillets ‚Neuer Romanʻ keinen radikalen Bruch mit der gesamten erzählerischen Tradition anstrebt, sondern durchaus auch positive Vorbilder kennt: Wenn Robbe-Grillet Flaubert für die Zurücknahme des allwissenden Erzählers und Beckett für das Vorführen des sinnfreien être-là von Mensch und Welt schätzt, dann weil dies für Robbe-Grillet Kennzeichen der epistemologischen condition humaine sind. Antitraditionalistisch ist Robbe-Grillets Nouveau Roman also genau genommen nur in Bezug auf eine ganz bestimmte Tradition. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung lässt sich nicht nur im Bereich der epistemologischen Fundierung, sondern auch in dem der Erzähltechniken feststel-

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len. Schon in Les Gommes sind viele der Strategien zu finden, die man rückblickend als typisch für Robbe-Grillets Werk werten muss und die in der mittleren und autofiktionalen Phase geradezu ‚normalʻ werden: z.B. strukturelle Leerstellen, widersprüchliche Varianten, intertextuelle Bezüge, glissements zwischen Realitätsebenen sowie das gezielt undifferenziert verwendete Präsens. In Les Gommes treten diese Techniken nur sehr punktuell auf; deswegen bleibt die Kohärenz der histoire hier noch intakt. Insbesondere erfolgt nach glissements stets eine Rückführung der Erzählung auf die sichere Rahmenebene (d.h. das Ende von Träumen, Imaginationen, Erinnerungen etc. wird klar markiert), sodass das jeweils Nachfolgende als fiktionsintern real identifiziert werden kann. In späteren Romanen – genau genommen schon ab Le Voyeur – fehlen solche sicheren Rückführungen zunehmend. Anstelle des Endes wird dann häufig nur noch der Beginn des glissement markiert, sodass der gesamte Rest der histoire in seinem Realitätsstatus zweifelhaft wird (während dies in Les Gommes nur auf bestimmte Details zutrifft). In Les Gommes also geht es noch nicht um die Destruktion der traditionellen, kausallogisch geschlossenen histoire, sondern darum, sie im Kontrast mit alternativen (finalen, zirkulären) Erzählschemata als konventionell, als nur eine von vielen möglichen Organisationsformen zu entlarven. Dagegen arbeiten die späteren Romane der ,mittleren‘ Phase tatsächlich an der Zerstörung der Geschichte. Die beiden zentralen erzähltechnischen Neuerungen, die dabei zum Einsatz kommen, sind das Generatorenverfahren und die Dezentrierung der Erzählinstanz. Das Generatorenverfahren verleiht dem Text eine serielle Struktur, bestehend aus einer Vielzahl unvereinbarer Varianten, die jeder Kohärenzbildung auf der Ebene der histoire und mithin jeder Wirklichkeitsillusion entgegensteht. Die dezentrierte Erzählinstanz führt darüber hinaus zur Dekonstruktion der Vermittlungsebene: Weil der Ich-Erzähler immer wieder unvermittelt die Identität wechselt und die Erzählstimme entgegen jeder Plausibilität von einer Figur in die nächste gleitet, können die inkompatiblen Varianten keinem einheitlichen Bewusstsein mehr zugeschrieben werden – das erzählende Ich wird als reine Textfunktion transparent. Diese Entwicklung der Erzählinstanz zeichnet sich im Grunde seit Dans le labyrinthe (1959) ab, wo es erstmals zu einem metaleptischen glissement der Erzählstimme (vom Erzähler zum Soldaten zum Arzt) kommt. Die radikale Zersplitterung allerdings, wie man sie in Projet (oder auch in La Maison de rendez-vous) findet, ist neu. Die zunehmende Fragmentierung von histoire und Vermittlungsinstanz macht die Robbe-Grillet’schen Romane semantisch immer offener, zu immer radikaleren Ausprägungen eines ‚offenen Kunstwerksʻ (sensu Eco). Die Romane der ,mittleren‘ Phase zeigen umgekehrt aber auch, wie gerade der pluralisierte Sinn die Spielräume der Interpretation auch wieder einschränkt, da traditionelle Deutungsmöglichkeiten (wie Figurenpsychologie, Handlungslogik etc.) keinen Ansatzpunkt mehr haben. Freilich geht es Robbe-Grillet genau darum, solche traditionellen Interpretationen zu verhindern, weil sie aus seiner Sicht zu sehr von präetablierten Mustern ausgehen und Dinge für natürlich halten, die es nicht sind. In Projet kommt es daher zur Ersetzung des traditionellen récit d’une aventure durch eine aventure du récit (wie Ricardou formuliert): Ziel ist nicht mehr, ein

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‚Abenteuer zu erzählenʻ, sondern ‚das Abenteuer des Erzählensʻ vorzuführen. Diese metanarrative Grundstruktur macht den Robbe-Grillet-Roman der siebziger Jahre zu einem hochgradig autoreflexiven Unterfangen. Dabei ist das ‚Vorführenʻ des Erzählens ganz wörtlich zu verstehen. RobbeGrillet inszeniert in Projet ein ‚Schauspiel des Erzählensʻ, führt den Leser hinter die metaphorischen Kulissen der Imagination. Dem Leser soll klar werden, wie Erzählen funktioniert, dass es sich weder um einen ‚natürlichenʻ noch einen mechanisch-selbsttätigen Prozess handelt, sondern um den bewussten Imaginationsbzw. Konstruktionsakt eines Subjekts. Dazu wird in Projet zum einen die Prozessualität des Erzählvorgangs betont, zum anderen die schon aus Les Gommes bekannte Theatermetapher refunktionalisiert. Zur Fokussierung der Prozessualität dient u.a. das präsentische Erzählen und eine Oralitätsfiktion, die Inszenierung einer mündlichen Dialogsituation, bei der die Erzählung scheinbar ‚hier und jetztʻ im Gespräch mit den Dialogpartnern zu entstehen scheint. Aber auch das Generatorenverfahren hebt die Prozessualität des narrativen Konstruktionsakts hervor. Zusammen mit dem Ausweis des Erzählakts als Imaginationsprozess führt es vor, wie beim Erzählen – gleich ob mündlich oder schriftlich – eine Welt ‚aus dem Nichtsʻ heraus konstituiert wird, wie der Roman das, worüber er spricht, erst schafft (Aspekt der création). Zugleich kommt es durch die serielle Variation und transformierende Wiederaufnahme zum ständigen Überschreiben des bereits Gesagten (Aspekt der destruction). Man kann darin eine Variante jener réécritures sehen, mit denen schon Les Gommes literarische Traditionen wie Tragödie, realistischen Roman oder Kriminalroman aufgriff, um sie zu verabschieden. Anstelle einer vorgängigen Tradition ist es in Projet nun das Selbstkonstituierte, das durch Wiederaufnahme und Variation überschrieben und dadurch als flüchtig markiert wird. Dieses in Projet als reprise bezeichnete Verfahren der ‚transformierenden Wiederaufnahmeʻ ist charakteristisch für Robbe-Grillets Gesamtwerk, von Les Gommes bis zum letzten Roman mit dem bezeichnenden Titel La Reprise. Die Refunktionalisierung der Theatermetapher ist ebenfalls im Kontext der Engführung von Erzähl- und Imaginationsprozess zu sehen. Während die Metapher in Les Gommes u.a. dazu dient, die Erzählung als fertiges Artefakt auszuweisen, wird sie in Projet eingesetzt, um die Entstehung des Artefakts vorzuführen. Evoziert wird ein metaphorischer film intérieur, ein Bewusstseinsfilm, bei dem das erzählende Subjekt zum Beobachter einer vor seinem inneren Auge ablaufenden Bild- oder Szenenfolge wird. Der Text selbst erscheint dabei als Materialisierung der ‚Projektionʻ (projet) dieses film intérieur. Damit wird in Projet die Rollenspielmetapher also auf das Erzählen (qua Imaginieren) selbst angewendet. Die Theatermetapher dient der textuellen Inszenierung eines ‚Schauspiels des Erzählensʻ, das zugleich ein Schauspiel des Imaginierens ist. In diesem Zusammenhang erhält der titelgebende Begriff ‚Revolutionʻ eine zusätzliche Bedeutung, besteht doch die literarische Revolution in Projet nicht zuletzt darin, den Erzähl- und Imaginationsprozess als permanente revolutio (frz. déroulement) – im mathematischen Sinne von ‚Spiralbewegungʻ – zu gestalten, bei der die mithilfe des Generatorenverfahrens erzeugten Erzählspiralen als Szenenfolge (déroulement de scènes) vor dem Leser ‚abrollenʻ. Das Schauspiel des Erzählens, das in Projet als ein

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Schauspiel des (freien) Imaginierens erscheint, wird in den Romanesques um das Schauspiel des (imaginierenden) Erinnerns erweitert, sodass sich schließlich das Gesamtbild eines ‚Schauspiels des Denkensʻ formt. Mit dieser Metapher schreibt sich Robbe-Grillet in eine allgemeine Tendenz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, Erinnerung und Denken nicht mehr statisch-essentialistisch, sondern mit „den dynamischen [Begriffen] ludisch-theatraler Performativität“ zu fassen – eine Tendenz, an der auch konstruktivistische Auffassungen maßgeblich beteiligt sind.1 Man kann diese ‚Dynamisierungʻ bzw. ‚Performativisierungʻ des Erzählens als den erzähltechnisch entscheidenden Schritt von der frühen zur ,mittleren‘ Phase betrachten. Denn mit ihr wird erstmals nicht nur das Produkt, sondern das Erzählen selbst, also die Genese des Produkts, als artifiziell markiert. Eine Tendenz zur Dynamisierung lässt sich zwar schon für Romane wie La Jalousie und Dans le labyrinthe feststellen, dort allerdings ist sie noch mehr mit einem Imaginationsals mit einem Erzählprozess assoziiert. In Projet dagegen erfolgt erstmals ganz klar die Verbindung mit dem Erzählprozess, erinnert doch der Ich-Erzähler ständig metanarrativ daran, dass er dabei ist, einen Bericht (rapport, texte) abzulegen. Es geht also darum, den vorliegenden Text als im Entstehen begriffen erscheinen zu lassen (was freilich eine Illusion ist) und damit vorzuführen, wie der fiktionale Text sein (flüchtiges) Referenzuniversum selbst erst erschafft und mithin von jedem Anspruch auf Wirklichkeitsdarstellung befreit ist. Ähnlich dient die Dynamisierung in den Romanesques dazu, die allmähliche Verfertigung des Ich zu veranschaulichen. Dabei geht es im Rahmen des autobiographischen Projekts nicht nur um die Konstruktion des kognitiven, sondern auch des textuellen Ich, genauer: um ihre Korrelation. Vorgeführt werden soll, wie sich der Autor schreibend selbst erschafft, sich im Schreiben eine Identität gibt. Zu diesem Zweck wird eine Simultaneität zwischen Schreib- und Rezeptionssituation behauptet, die den Eindruck erwecken soll, der Autor würde sich hier und jetzt, sozusagen vor den Augen des Lesers, autofingieren. Die Instabilität des kognitiven Konstrukts namens Ich veranschaulicht der (materiell stabile) Text durch eine Sukzession immer neuer hic et nunc-Situationen, in denen ein stets neues, verändertes Ich auftaucht. Zugleich machen die Romanesques diese Simultaneitätsillusion als Illusion transparent und zeigen damit, dass kognitives und textuelles Ich nicht identisch sind, sondern der Text nur die materielle Spur des kognitiven Ich bildet. Zentral ist im Rahmen dieser Studie, dass Robbe-Grillet, im Unterschied zu anderen poststrukturalistischen Strömungen wie Tel Quel, explizit an einem wil1

Matussek 2001: 303. – Matussek (2004: 91f.) weist darauf hin, dass die alte Metapher des ‚Gedächtnistheatersʻ seit den 1960er Jahren eine neue Konjunktur erlebt: Nach Frances A. Yatesʼ Wiederentdeckung des frühneuzeitlichen Gedächtnistheaters (in: The Art of Memory, London 1966) breitet sie sich rasch in Kunst und Kultur aus – zeitgleich zu Robbe-Grillets Romanesques entsteht etwa Bill Violas Video-Installation Theatre of Memory (1985) – und dringt schließlich bis in Computer- und Technikgeschichte sowie in die Kognitionswissenschaften vor. So spricht z.B. der Kognitionspsychologe Bernard Baars (1997) vom „theater of consciousness“ (dt. ‚Schauspiel des Denkensʻ). Zu älteren Formen des ‚Gedächtnistheatersʻ vgl. Schramm 1995.

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lentlich agierenden Subjekt ‚hinterʻ dem Text bzw. der Konstruktion festhält. In Robbe-Grillets ‚Schauspiel des Erzählensʻ sind die Erzähl- und Imaginationsprozesse stets an ein bewusst konstruierendes Subjekt rückgebunden. Darin besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit mit dem Konstruktivismus, dem es ebenfalls nicht um die ‚Abschaffung des Subjektsʻ geht. In Projet ist es der Text, in den Romanesques das Ich, der bzw. das als ‚intentionaler mentaler Entwurfʻ, als projection intentionnelle eines Subjekts gekennzeichnet wird – wobei gerade der phänomenologische Intentionalitätsbegriff die Nähe zu Le Moignes ‚projektivem Konstruktivismusʻ aufzeigt. Es ist entscheidend, dass Robbe-Grillet sein Festhalten am Subjekt und seine damit einhergehende Distanznahme von Tel Quel im Roman selbst markiert. Er transformiert die Ricardou’schen Generatoren in thematische Generatoren und zeigt sie in Projet gezielt in ihrer Anwendung durch ein Subjekt: Wenn er die Erzählinstanz am Beispiel von chat und sourd anhand völlig willkürlicher Kriterien Textelemente selektieren lässt, zeigt dies, dass das Generatorenverfahren gerade kein selbsttätiger Mechanismus ist. Während Ricardou mit dem Generatorenverfahren den Text vom Subjekt zu befreien versucht, nutzt Robbe-Grillet es also genau umgekehrt, um die Bindung des Textes an ein bewusst konstruierendes Subjekt zu demonstrieren. Dieses ‚Bekenntnis zum Autorʻ darf gleichwohl nicht zum Anlass werden, in biographistische Interpretationen zurückzufallen. Wie verfehlt dies wäre, zeigen insbesondere die Romanesques mit ihrer Dekonstruktion des autobiographischen Wahrheitsanspruchs. Auch sie weisen den Text als abhängig vom realen Autor als Produzenten aus, machen aber zugleich klar, dass der Text keine Wahrheit über die reale Person des Autors preisgibt, sondern nur die Fragmente von dessen unzuverlässiger – und bei Robbe-Grillet gezielt doppelbödiger, irreführender – Selbstkonstruktion. Die Romanesques zeigen das Ich als Konstrukt, als fictio (Schöpfung) des subjektiven Bewusstseins, die nie mit dem Subjekt identisch ist. Deswegen wird bei Robbe-Grillet die Autobiographie zur Autofiktion, in der das Ich als ‚Andererʻ erscheint.2 In diesem Zuge wandelt sich in der mit Le Miroir qui 2

Wie zentral für Robbe-Grillet dieses Thema der spezifischen ‚Präsenzʻ des Autors im Text ist, bestätigt ein Ausblick auf La Reprise, wo – erstmals in einem als Roman deklarierten Text Robbe-Grillets – eine Autorfigur auftaucht. Völlig unvermittelt (über ein glissement mitten im Satz) sieht sich der Leser in der Mitte des Textes plötzlich mit dem am Schreibtisch sitzenden ‚Autor Robbe-Grilletʻ konfrontiert, der offensichtlich gerade eine Pause beim Schreiben der vorliegenden Erzählung einlegt, um seine reale Schreibsituation zu reflektieren, die er mit den Worten beendet, er wende sich nun wieder dem Manuskript zu (i.e. der vorliegende Roman), an dem er ‚gerade im Momentʻ schreibe und in dem er einmal mehr ‚unter fremdem Namenʻ in einer fremden Stadt (Berlin), d.h. in der Rolle seiner Figuren, unterwegs sei: „Voilà que je me remets à ce manuscrit […] me retrouvant donc à Berlin […], portant une fois de plus un autre nom, d’autres noms“ (Reprise 82). Dieser Hinweis auf den Autor ‚in der Maske (in persona) seiner Figurenʻ zielt abermals darauf ab, dass der reale Autor hinter allem im Text Gesagten steht, dass er sich in die Fiktion, die er selbst geschaffen hat, zwangsläufig persönlich ‚einbringtʻ. Das entscheidend Neue ist hierbei, dass mit dieser (freilich fiktiven) Schreibsituation erstmals jene Indexikalisierung (d.h. jener Bezug auf den realen Autor) vorliegt, die in Projet und anderen Romanen noch fehlt, die gleichwohl nötig ist, um dem Leser jenes Oszillieren des Textes zwischen Referentialität und Areferentialität anzuzeigen, das

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revient zurückkehrenden Spiegelmetapher der ‚realistische Spiegelʻ zum postmodernen miroir qui disperse: Der Text liefert kein vermeintlich objektives Bild der Welt oder des Subjekts mehr, sondern dokumentiert als ‚zerstreuender Spiegelʻ nur mehr die Fragmentierung des postmodernen, mit sich selbst nicht mehr identischen Subjekts, des sujet dispersé. Der Text wird zum Foucault’schen Spiegel, zu einem Ort, an dem das Subjekt abwesend ist, der aber zugleich die reale Existenz des Subjekts bezeugt. Entsprechend dekonstruieren die Romanesques die Authentizität des autobiographischen Selbstbildes, weisen es aber zugleich als ‚authentischesʻ Konstrukt des Autors und damit als Beleg seiner realen Existenz, seiner Konstruktionstätigkeit aus. Die Diskreditierung des autobiographischen Diskurses als Wahrheitsdiskurs erfolgt durch die gezielte Durchsetzung der oberflächlich glaubwürdigen autobiographischen Episoden mit Fiktionssignalen. Am Beispiel der Angélique-Episode war zu sehen, dass die vermeintlich authentischen Fakten teilweise gut versteckte Fallen für den naiven, nach autobiographischer Wahrheit suchenden Leser darstellen. Weil schon punktuell gesetzte Fiktionssignale genügen, um die Glaubwürdigkeit einer Episode im Ganzen zu unterminieren, lässt sich, anders als viele Kritiker meinen, in den Romanesques gerade nicht klar zwischen authentischen und fiktiven Elementen differenzieren. Zu wenig Beachtung gefunden hat in der vorliegenden Robbe-Grillet-Forschung, dass die Romanesques nicht nur den autobiographischen, sondern auch den theoretisch-poetologischen Diskurs als Wahrheitsdiskurs demontieren (durch Historisierung ebenso wie durch Annäherung an den fiktionalen Diskurs). Dahinter steht erneut die moderne wissenschaftstheoretische Überzeugung, dass Theorien niemals wahr, sondern höchstens brauchbare, viable Modelle sind (worauf auch der Konstruktivismus insistiert). Vor diesem theoriekritischen Hintergrund ist auch Robbe-Grillets (abermals an Popper angelehnte) Kritik am dogmatischen Erklärungsanspruch der orthodoxen Psychoanalyse zu Robbe-Grillet bereits für die ,mittlere‘ Phase reklamiert. Komplementär erweist sich La Reprise auch zu den Romanesques, denn der Roman führt deren Projekt auf anderem Terrain fort: Wo die Trilogie die Autobiographie für das Fiktionale öffnet, lässt La Reprise das Autobiographische in das fiktionale Genre Roman ‚einbrechenʻ. Und dieses Einbrechen geschieht auf nachgerade bildliche Weise: Wie ein Riss in der Leinwand bzw. ein sich öffnender Vorhang gibt der Roman den Blick auf das Reale, auf seine Verankerung in der Realität frei. Und zugleich wird ersichtlich, dass der hier sprechende Autor an seinem Schreibtisch, das vermeintliche Reale nur eine Inszenierung ist, dass hier mitnichten der reale Autor spricht, sondern der Autor-Erzähler: Während letzterer eine Pause vom Schreiben an seinem Manuskript einlegt und diese Pause zum Nachdenken über die Schreibsituation nutzt, ist der reale Autor gezwungen weiterzuschreiben – denn wer, wenn nicht er, sollte es sein, der die Schreibpause des ‚Anderen‘ schriftlich fixiert? Vgl. dazu auch Schneider (2005: 150), die hier treffend vom „Paradox der textuellen Inszenierung einer in das Textuniversum eingreifenden Autorinstanz“ spricht, sowie die Gegenposition bei Burrichter (2003: 221, Anm. 9), die schlicht meint, an der besagten Stelle „spr[e]ch[e] Robbe-Grillet selber“, ohne die damit verbundene Referenzproblematik auch nur zu thematisieren. Burrichter ist darüber hinaus zu widersprechen, dass es sich bei La Reprise um eine ‚Kehrtwendeʻ in Robbe-Grillets Schaffen und Rückkehr zum traditionellen Erzählen handelt, in dem der Leser „die Wahrheit“ erkennen kann (ebd. 221f.). Vgl. zur Kritik an dieser Position schon Schneider 2005: 139f., Anm. 51 und 52.

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sehen. Schon in Les Gommes und Projet wird mit den Stereotypen der Psychoanalyse gespielt, jedoch erreicht das Ausmaß der Polemik in den Romanesques seinen Höhepunkt, was sich mit der im 20. Jahrhundert typischen Koppelung von autobiographischer und psychoanalytischer Bekenntnispflicht erklärt. Robbe-Grillet, der das Unbewusste für prinzipiell unzugänglich hält, versucht seine Autofiktionen vor psychoanalytischen Literaturinterpretationen zu schützen, die davon ausgehen, vom Text auf das Unbewusste des Autors schließen zu können: Er stellt gezielt ‚Fallen für Analytikerʻ (pièges à psy.) auf, d.h. er spielt mit den Deutungsmustern der Psychoanalyse, um sie als stereotyp zu entlarven. Überaus bezeichnend ist, dass die Fiktionalisierung des faktualen Diskurses bei Robbe-Grillet am Ende sogar die Textgrenze der Romanesques überschreitet und in Paratexte wie Interviews vordringt, wo Robbe-Grillet die reale Existenz des fiktiven Henri de Corinthe bestätigt. Erklärbar wird dies damit, dass RobbeGrillet auch dem ‚nurʻ Erfundenen und Imaginären eine gewisse Realität zugesteht, eine Realität qua Konstrukt – er spricht von der incarnation bzw. présence réelle im Bewusstsein des Konstrukteurs. Er weist damit darauf hin, dass auch das Imaginäre im Kopf des Subjekts ganz reale Effekte zeitigt, weil, mit Piaget gesprochen, die einmal konstruierten Schemata jede weitere Konstruktion lenken. Einen Effekt hat der Konstruktionsakt nicht zuletzt auf den Konstrukteur selbst, entsprechend der konstruktivistischen Redefinition der Subjekt-Objekt-Relation als einer der wechselseitigen Formung und Prägung. Robbe-Grillet macht dies deutlich, indem er sich in den Romanesques von der Existenz des fiktiven Corinthe durchdrungen inszeniert. Es kommt also bei Robbe-Grillet, parallel zur durchgängigen Problematisierung des Realen, zu einer klaren Aufwertung des ‚Irrealenʻ, genauer: des Fiktiven und rein Imaginierten. Ja, es kommt zu einer regelrechten Umkehrung der konventionellen Hierarchie von Fakt und Fiktion, wenn Robbe-Grillet angibt, das Selbstfingierte und Erfundene erschiene ihm fast ‚realerʻ als die Wirklichkeit. Verantwortlich dafür ist offensichtlich die quasi-materielle Präsenz, die Anschaulichkeit vor dem inneren Auge sowie die Tatsache, dass das Fingierte nicht durch die trügerische Sinneswahrnehmung vermittelt, sondern als Produkt des reinen Geistes (esprit absolu) im Bewusstsein ganz unmittelbar gegeben ist. Diese ‚innere Präsenzʻ der Imaginationen bildet zusammen mit dem Postulat einer Strukturanalogie von Bewusstsein und Sprache die Grundlage für Robbe-Grillets Idee einer écriture de l’imaginaire, bei der er ausschließlich das zu beschreiben vorgibt, was er quasi-materiell vor seinem inneren Auge sehe. Das ‚Schauspiel des Denkensʻ ist damit letztlich also ein ‚Schauspiel des tätigen Geistesʻ, und dieses soll der geschriebene Text nachzeichnen. Diese Idee vom Text als ‚Spurʻ des tätigen Geistes ist für Robbe-Grillet deswegen so wichtig, weil er das Erzählen im Allgemeinen und seine autofiktionale Selbsterforschung im Besonderen als quasiwissenschaftliches Projekt betreibt. Ausgehend davon, dass das Bewusstsein sprachlich strukturiert ist und mithin alles darin Vorgehende mit Sprache gefasst werden kann, wird das Erzählen für Robbe-Grillet zu einer Art ‚Versuchslaborʻ, in dem sich der Geist selbst bei der Arbeit zusehen kann. Indem der Text, so die Idee, stets das jeweils im Bewusstsein Präsente nachzeichnet, legt er sukzessive

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Zeugnis ab von den Operationen des Bewusstseins und wird so zum Medium geistiger Selbstreflexion (wobei der Text eben nur die materielle Spur dieser Geistestätigkeit bildet und insofern zugleich immer auch von der Abwesenheit des realen Autors im Text zeugt). Wie Paul Valéry, den er nicht umsonst als einen seiner geistigen Vorfahren nennt, vertritt Robbe-Grillet also eine poiesis-orientierte Ästhetik mit einem ähnlich ausgeprägten Interesse am Verlauf kreativer geistiger Prozesse. Das Besondere am Robbe-Grillet’schen Erzählen, auch im Unterschied zu Valérys Monsieur Teste, dürfte darin bestehen, dass er die Erforschung des poietischen Aktes nicht nur abstrakt beschreibt, sondern performativ vorzuführen versucht, indem er den Text – im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel ‚textueller Performativitätʻ – als imaginäres Schauspiel des Erzählens, als flüchtigen Konstruktionsprozess in Szene setzt. Hier wird vielleicht am deutlichsten, worin der spezifische Mehrwert von Robbe-Grillets Erzähltexten im Vergleich zum philosophisch-theoretischen Diskurs (u.a. des Konstruktivismus) besteht: in der ästhetischen Erfahrung bzw. einer ganz spezifischen Anschaulichkeit des Beschriebenen, die eben nicht zuletzt aus der genannten ‚Performativisierungʻ des Erzählens resultiert und die einen ganz eigenen Erkenntnishorizont öffnet, die auch demjenigen das Konstruieren von Wirklichkeit, Text oder Ich verständlich machen kann, der Begriffe wie ‚Konstruktʻ, ‚konstruierenʻ oder ‚Konstruktivismusʻ gar nicht kennt. So wird in Robbe-Grillets Texten an Beispielen vorgeführt, wie Menschen die Wirklichkeit konstruieren, wie sich geistige Gebilde formen, was sie zeigen und wie sie wieder verschwinden. Man könnte entsprechend mit Sigrid Weigel sagen, dass Literatur bei Robbe-Grillet zur (theatralen) Schau, zur theoria im ursprünglichen Sinne wird – und damit zum Erkenntnisinstrument.3 Die Literatur ist dann der Schauplatz, an dem sich Theorie und Poesie vereinen. Und in der Tat ist der Aspekt der Poesie nicht zu vernachlässigen, denn bei aller Erkenntnisorientierung verfolgt Robbe-Grillet mit seinem Erzählen doch immer auch ein genuin literarisches, schöpferisch-poietisches Anliegen, bei dem die literarische Fiktion zu einem Ort der Freiheit wird, an dem der Imagination freier Lauf gelassen werden kann. Dies zeigt sich für den Leser nicht zuletzt an den vielfältig beschriebenen sadoerotischen Phantasmen, bei denen es Robbe-Grillet eben gerade darauf ankommt, dass sie irreal bleiben, nur sprachlich evoziert werden, damit der Vorstellungskraft noch Spielräume bleiben. Robbe-Grillets emphatischer Freiheitsbegriff hat, dies ist in der Forschung zu wenig bemerkt worden, seine Wurzeln in Sartres existentialistischem Freiheitskonzept, das die Abwesenheit von Sinn nicht mehr als Verlust sieht, sondern – ebenso wie die Postmoderne die epistemologische Unsicherheit – positiv wertet: als Freiheit des Menschen, den Sinn selbst zu bestimmen.

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Weigel (2004: 199) gibt zu bedenken, dass das Denken nicht, wie oft angenommen, abstrakt, sondern stark bildlich ist, sodass „Erkenntnis allererst Betrachtung und Anschauung meint, denn theoria bezeichnet ursprünglich denjenigen, der eine Schau sieht. Es geht zurück auf die Tradition sakraler Festgesellschafen, aus denen später das Theater entstanden ist.“

9 LITERATURVERZEICHNIS 9.1 PRIMÄRTEXTE 9.1.1 Erzähltexte ROBBE-GRILLET, Alain, Un Régicide, Paris: Minuit, 1978 (1949). —, Les Gommes, Paris: Minuit, 1953 (Reprint 1973). —, Le Voyeur, Paris: Minuit, 1955. —, La Jalousie, Paris: Minuit, 1957. —, Dans le labyrinthe, Paris: Minuit, 1959. —, Instantanés, Paris: Minuit, 1962. —, La Maison de rendez-vous, Paris: Minuit, 1965. —, Projet pour une révolution à New York, Paris: Minuit, 1970. —, Topologie d’une cité fantôme, Paris: Minuit, 1976. —, Souvenirs du triangle d’or, Paris: Minuit, 1978 (hier zitierte Ausgabe: Seuil, coll. „Points“, 1985). —, Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints, Paris: Minuit, 1981. —, Le Miroir qui revient, Paris: Minuit, 1984. —, Angélique, ou l’enchantement, Paris: Minuit, 1987. —, Les Derniers jours de Corinthe, Paris: Minuit, 1994. —, La Reprise, Paris: Minuit, 2001. —, Un Roman sentimental, Paris: Fayard, 2007.

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ABSTRACT Alain Robbe-Grillet (1922–2008) is considered one of the most important figures of the literary movement of the nouveau roman which arose in France in the 1950s. When Robbe-Grillet argues for a new, antirealistic and antiillusionistic novel, he pleads the new world view and the changed epistemic conditions of the 20th century. The present study takes this as starting point for a closer look at the epistemological foundations of Robbe-Grillet’s theory and practice of writing. The main thesis is that Robbe-Grillet’s work has to be considered in light of a contemporarily emerging epistemological paradigm named constructivism. Looking at three exemplary texts, Les Gommes (1953), Projet pour une révolution à New York (1970) and the Romanesques trilogy (1984–94), I argue that from the beginning Robbe-Grillet’s narratives illustrate the basic assumption of constructivism, i.e., that ‘reality’ is a cognitive construct made by the subject, that therefore no human being can ever perceive the world objectively; ‘truth’ simply does not exist. Moreover, the first published novel, Les Gommes, already shows some awareness of the constructive character of text and language – an awareness that RobbeGrillet’s theoretical statements of that period lack. In these early times of his creative work, Robbe-Grillet thought that, by inventing a réalisme nouveau, he could finally show the world as it ‘really’ is, that is to say, in its simple, meaningless ‘being there’ (être-là). It is only in the 1960s that Robbe-Grillet completely surmounts his early realistic fallacy and begins to center on the constructive character of the text. The novels of the so-called nouveau nouveau roman period, such as Projet pour une révolution à New York, still deal with the non-intelligibility of the world ‘as such’. Above all, however, the structural blank spaces, contradictions, and the serial organisation of the text reveal the novel as an artifact and as narrative fiction that creates its own world ‘out of nothing’. Significantly, it is this artificiality of the text that also serves Robbe-Grillet as an argument against popular contemporary theorems such as the ‘death of the author’ (Barthes) or the ‘autogenerated text’ (Ricardou). As Projet pour une révolution à New York demonstrates, each narrative is also always the product of a consciously constructing subject, the author – although it is impossible to consider the text a ‘true picture’ of the author’s real person. The text’s ambiguous relationship to the world – as a fiction, it is freed from the representation of reality; as a construction, a product of the subject’s mind, it is anchored in reality – is also relevant in the third, the autofictional period, when the Romanesques start exploring the relationship between text and author. With his trilogy oscillating between fictionality and factuality, Robbe-Grillet distances himself from the authenticity claiming traditional autobiography and, at the same time, from the idea of an autogenerated, subjectless text. Focus is now placed on the construction of the ‘I’, or, to be more precise, on the process of its construc-

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Abstract

tion: Robbe-Grillet turns autobiography into ‘autofiction’ and thus demonstrates how the author ‘forms himself’ (lat. auto-fingere) during the process of writing, how he creates his ‘I’ by writing. It becomes more and more evident that Robbe-Grillet's writing strives itself to be a ‘writing of the imaginary’ (écriture de l'imaginaire) which does not pretend to show the world as it ‘really’ is, but only how the human spirit sees or imagines it. By first positing a structural analogy between language and mind, RobbeGrillet then takes the narrative text as a ‘trace’ of the acting mind, as a kind of ‘laboratory’ in which he can explore the operations of the human spirit. Certainly, Robbe-Grillet’s goal is not only this kind of quasi-scientific exploration; he also has a genuinely literary concern: to sample – within the limits of fiction – the freedom of authorial imagination.

SIGLENVERZEICHNIS A DJC G M Maison P PNR Préface Reprise STO V Voyageur

Angélique ou l’enchantement, 1987 Les Derniers jours de Corinthe, 1994 Les Gommes, 1953 Le Miroir qui revient, 1984 La Maison de rendez-vous, 1965 Projet pour une révolution à New York, 1970 Pour un nouveau roman, 1963 Préface à une vie d’écrivain, 2005 La Reprise, 2001 Souvenirs du triangle d’or, 1978 Le Voyeur, 1955 Le Voyageur. Textes, causeries et entretiens (1947–2001), 2001

ZEITSCHRIF T FÜR FRANZÖSISCHE SPRACHE U N D L I TE R A T U R



B E I H E F TE

Neue Folge Nach Peter Blumenthal und Klaus W. Hempfer herausgegeben von Guido Mensching und Ulrike Schneider. Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0811

25. Stefan Hartung Parnasse und Moderne Théodore de Banvilles Odes Funambulesques (1857) 1997. IX, 285 S., kt. ISBN 978-3-515-07129-1 26. Ulrike Schneider Der poetische Aphorismus bei Edmond Jabès, Henri Michaux und René Char Zu Grundfragen einer Poetik 1998. 368 S., kt. ISBN 978-3-515-07332-5 27. Klaus W. Hempfer (Hg.) Jenseits der Mimesis Parnassische transposition d’art und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts 2000. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-07678-4 28. Franz Penzenstadler Romantische Lyrik und klassiszistische Tradition Ode und Elegie in der französischen Romantik 2000. II, 353 S., kt. ISBN 978-3-515-07315-8 29. Klaus Dirscherl (Hg.) Deutschland und Frankreich im Dialog 2001. 97 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07738-5 30. Lene Schøsler (Hg.) La valence, perspectives romanes et diachroniques Actes du colloque international tenu à l’Institut d’Etudes Romanes à Copenhague, du 19 au 20 mars 1999 2001. 131 S., kt. ISBN 978-3-515-07825-2 31. Anne Hofmann Parnassische Theoriebildung und romantische Tradition Mimesis im Fokus der ästhetischen

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Was veranlasst Alain Robbe-Grillet zu Beginn der 1950er Jahre dazu, einen ‚neuen Roman‘ zu entwerfen? Nicht zuletzt eine neue, im Entstehen begriffene Epistemologie, die sich aus heutiger Sicht als eine konstruktivistische erweist. Mit dem Konstruktivismus teilt Robbe-Grillet eine dezidiert antirealistische Weltsicht, die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit nur ein kognitives Konstrukt ist und der Mensch die Welt nie erkennen kann, wie sie ‚eigentlich‘ ist. Schon in seinem Debütroman

Les Gommes (1953) setzt Robbe-Grillet den Konstruktcharakter der Wirklichkeit eindrücklich in Szene. In den 60er/70er Jahren fokussiert er dann vor allem die Konstruktivität des Textes, ab den 80er Jahren zusätzlich die des Ich. Der vorliegende Band untersucht erstmals systematisch die Bezüge von Robbe-Grillets narrativer Ästhetik zur konstruktivistischen Erkenntnistheorie und zeigt ihre Bedeutung für das Gesamtwerk auf.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10278-0