Konservative Politiker in Deutschland: Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten [1 ed.] 9783428481934, 9783428081936


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Konservative Politiker in Deutschland: Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten [1 ed.]
 9783428481934, 9783428081936

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Konservative Politiker in Deutschland

Konservative Politiker in Deutschland Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Konservative Politiker in Deutschland : eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten / hrsg. von Hans-Christof Kraus. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 ISBN 3-428-08193-5 NE: Kraus, Hans-Christof [Hrsg.]

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08193-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort des Herausgebers Gegen einen Sammelband wie den vorliegenden sind eine Reihe von Einwänden denkbar - Einwände, denen sich der Herausgeber und die Autoren dieses Bandes allerdings mit gutem Gewissen stellen können. Nur drei von mehreren möglichen seien herausgegriffen und kurz beleuchtet. Der erste Einwand könnte sich gegen die Methode der Darstellung, die Form der Kurzbiographie, richten: Ist es im Zeitalter der theoretisch hochreflektierten Sozial- und Strukturgeschichte nicht furchtbar altmodisch, in der traditionellen narrativen Form einfache Lebensgeschichten nachzuerzählen? Und erscheint es nicht außerordentlich naiv, in einer Gegenwart, in der eine starke Strömung des zeitgenössischen Denkens die Annahme eines einheitlichen menschlichen "Subjekts" längst dekonstruiert und als - allen Brüchen harmonisierend ausweichende - Illusion entlarvt hat, das Leben und die Laufbahn einzelner Persönlichkeiten in scheinbarer sinnhafter Ganzheit darstellen zu wollen? Hierauf kann man vom Standpunkt des Historikers mehr als eine Antwort geben: Zuerst einmal ist zu fragen, ob die Rede vom scheinbaren Niedergang des Individuums, des Subjekts, nicht selbst so etwas wie eine Illusion ist, die sich nicht zuletzt aus einem unergründlichen Ressentiment gegen vergangene - und durchaus bewährte - Denktraditionen speist. Und dann wird man einwenden dürfen - und die Quellen, mit denen es der Historiker stets aufs Neue zu tun hat, geben ihm das Recht dazu -, daß man es bei der Rekonstruktion vergangener geschichtlicher Wirklichkeit - trotz aller Dynamik der großen politischen, sozialen und geistigen Entwicklungen - doch immer wieder mit einzelnen Menschen zu tun hat - Menschen, die Geschichte machten oder über deren Köpfe hinweg Geschichte gemacht wurde, Menschen, die als Subjekt oder Objekt historischer Prozesse handelten und litten. Dieser Befund ist unhintergehbar und dürfte auch in Zukunft eine Konstante historischer Forschung darstellen. Ein zweiter Einwand könnte sich gegen den Gegenstand des Bandes richten: Warum sich ausgerechnet mit konservativen Politikern beschäftigen, deren Denken und Tun von einem gegenwartsbezogenen, auf "Relevanz" bedachten wissenschaftlichen Diskurs leicht als obsolet angesehen werden mag. Gehören diese Personen nicht zu den Verlierern der Geschichte, nicht zu den Repräsentanten jener unseligen "Kontinuität der Eliten", die vom alten Preußen bis zum nationalsozialistischen Regime die Moderni-

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sierung Deutschlands blockierten und damit in letzter Konsequenz für die Katastrophe von 1945 verantwortlich sind? Auch darauf läßt sich manches antworten: Erst einmal sind auch die scheinbaren und wirklichen - "Verlierer" ein Teil der Geschichte, deren umfassende Erforschung es verlangt, nicht nur die "Sieger" und nicht nur die Hauptschauplätze und großen Linien in den Blick zu nehmen, sondern sich auch den Vergessenen, den Seiten- und Einbahnstraßen sowie den Linien, die ins Abseits führten, zu widmen. Der anspruchsvolle Historiker wird sich immer durch die Tugend des audiatur et altera pars auszuzeichnen haben - selbst wenn diese altera pars sich aus heutiger Sicht durch eine Fremdartigkeit auszeichnen mag, die nur schwer zu verstehen ist. Und was die wirklichen oder vermeintlichen negativen Kontinuitäten der deutschen Geschichte angeht, so darf mindestens angemerkt werden, daß die Diskussion hierüber als noch nicht abgeschlossen zu gelten hat. So unleugbar es ist, daß die Machtergreifung Hitlers auch durch das Versagen maßgeblicher konservativer deutscher Eliten in den Jahren 1932/33 ermöglicht worden ist, so ist damit doch noch keineswegs die gesamte Tradition des deutschen Konservatismus automatisch diskreditiert. Gerade um falsche Kontinuitätskonstruktionen als solche zu entlarven und um zutreffende Kontinuitätslinien deutlich zu machen, ist auf diesem Gebiet sorgfältige, unvoreingenommene Forschungsarbeit notwendiger denn je. Und ein kleiner Beitrag hierzu sollen auch die Aufsätze dieses Bandes sein. Der dritte Einwand, der sich gegen dieses Unternehmen und seine Ausführung richten könnte, ist allerdings nicht ohne weiteres abzuweisen: der Vorwurf einer - die Auswahl der behandelten Persönlichkeiten betreffend - norddeutsch-preußisch-protestantischen Schlagseite. Eine solche gibt es leider in der Tat, und der Herausgeber kann nur versichern, daß er versucht hat, dieser thematischen Einseitigkeit zu entgehen und den nicht-preußischen, insbesondere auch den west- und süddeutschen, katholisch geprägten Konservatismus mit einzubeziehen. Daß dies leider nicht gelungen ist, hängt nicht etwa mit den - zeitweilig sehr auf Preußen zentrierten Forschungsinteressen des Herausgebers zusammen, sondern mit der einfachen Tatsache, daß für die Darstellung süd- und westdeutscher Konservativer kaum ein Mitarbeiter zu gewinnen war, und daß die wenigen, die einen Beitrag liefern wollten, den Herausgeber schließlich im Stich gelassen haben. So muß der vorliegende Sammelband mit der Tatsache leben, daß er mit seinem Inhalt nicht das gesamte deutsche Spektrum, sondern nur einen Teil - der freilich der wichtigere gewesen ist - abdeckt. Das vom Herausgeber und den Autoren verfolgte Ziel ist eher bescheiden als ambitioniert: Es sollen Grundinformationen über das Denken und Handeln einer Reihe konservativer Politiker vermittelt werden, die heute

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(mit wenigen Ausnahmen) weitgehend in Vergessenheit geraten sind, in ihrer Zeit jedoch eine nicht unbedeutende, zuweilen sogar herausragende Rolle gespielt haben, - Grundinformationen, die in dieser Form anderswo nicht zu finden sind. Zwar existieren über einige der dargestellten Persönlichkeiten umfangreiche Lebensdarstellungen - nur dürften diese, zumal wenn sie älteren Datums sind, nicht immer und überall sogleich verfügbar sein, und zum anderen soll gerade die Kürze der sich auf das Wesentliche konzentrierenden Darstellung dem Leser eine Einführung in das Thema vermitteln, die das richtige Gleichgewicht zwischen den oft zu knappen biographischen Lexikonartikeln und der umfassenden Biographie zu halten bestrebt ist. Alle Einzelbeiträge wurden - auch wenn es sich noch um junge, bisher nicht bekannte Autoren handelt - von ausgewiesenen Sachkennern verfaßt, die teilweise sogar auf ungedrucktes Quellenmaterial zurückgreifen konnten und daher zu einzelnen Aspekten der Forschung wirklich N eues sagen können. Daß dabei die Temperamente und die Ausrichtung der Verfasser zuweilen differieren, ist eigentlich kaum erwähnenswert, sondern versteht sich im Grunde von selbst. Unübersehbare Sympathie findet sich hier manchmal ebenso wie klare und unzweideutige Kritik, und das ist gut so, weil es dem Gegenstand entspricht. Denn wenn man es unternimmt, eineinhalb Jahrhunderte konservativer Politik anhand einiger ihrer führenden Repräsentanten nachzuzeichnen, dann wird man auf naive Wirklichkeitsblindheit oder schlichte Borniertheit ebenso stoßen wie auf ehrliches Bemühen um die Rettung von Traditionen und die Sicherung von Kontinuitäten, nicht zuletzt aber auch auf einen häufig erstaunlich klaren Blick auf die Defizite der modernen Welt: Oftmals waren es die Konservativen, von denen ein erster Anstoß zur Auseinandersetzung mit den Problemen des Nationalismus, der Grenzen des Liberalismus, des zentralistischen Bürokratismus, der Sozialen Frage, der gesellschaftlichen Atomisierung, schließlich auch des modernen Totalitarismus ausgegangen ist. So hat Ernst Ludwig von Gerlach (1795-1877) als Gründer der konservativen Partei, als führender Parlamentarier und Publizist der Ära zwischen Vormärz und Reichsgründung, ausgehend von der Erinnerung an die alte Reichstradition und von einer tiefen Gläubigkeit, das - wie er es sah Verhängnis einer entchristlichten Moderne und des hieraus resultierenden Nationalismus aufzuhalten versucht. Joseph Maria von Radowitz (17971853) war als Freund, Berater und zeitweiliger Minister Friedrich Wilhelms IV. von Preußen bestrebt, sich der Herausforderung durch die Soziale Frage einerseits, den nationalstaatlichen Einheitsbestrebungen in Deutschland andererseits von einer entschieden konservativen Position aus zu stellen, während Friedrich Julius Stahl (1802-1861) - nicht nur der "politische

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Professor der Konservativen", sondern auch einer der bedeutendsten Staatsrechtler seiner Zeit - nach Kompromißformeln zwischen den Ansprüchen des modemen Konstitutionalismus und der christlich-konservativen Tradition gesucht hat - zeitweilig nicht ohne große Resonanz. Typische Kompromißpolitiker waren in ihrer Zeit auch die beiden preußischen Ministerpräsidenten Adolf Heinrich Graf von Arnim-Boitzenburg (1803-1868), der im März 1848 für kurze Zeit als Regierungschef amtierte und in der späteren Reaktionszeit der 1850er Jahre noch eine bedeutende Rolle als gemäßigt konservativer Parlamentarier spielte, und Otto von Manteuffel (1805 -1882), der in eben diesen Jahren als Ministerpräsident und Außenminister amtierte, zwischen einem schwierigen König und dessen noch schwierigeren "Beratern" geschickt politisch agierend, und der schließlich einer ganzen politischen Ära seinen Namen geben sollte. Zwei Altersgenossen und Weggefährten Bismarcks, die sich später von ihrem einstigen Freund weit entfernten, waren Hans Hugo von KleistRetzow (1814-1892), der als einer der letzten preußischen "Junker von Schrot und Kom", die sich jahrzehntelang politisch betätigten - erst im Abgeordneten, dann lange Jahre im Herrenhaus - in die Geschichte eingegangen ist, - und Hermann Wagener (1815-1889), in dem man einen Bahnbrecher des deutschen Sozialkonservatismus und einen der wichtigsten Anreger für Bismarcks großes Werk der deutschen Sozialversicherungsgesetze in den 1880er Jahren zu sehen hat. In der Zeit des Kaiserreichs wirkten zwei höchst unterschiedliche konservative Politiker: zum einen der langjährige Reichstagsabgeordnete und Fraktionsvorsitzende der Deutschkonservativen Partei, Otto von HelldorffBedra (1833 -1908), in dessen Schicksal sich der Niedergang der traditionellen konservativen Honoratiorenpolitik nur allzu deutlich widerspiegelt, und der bis in die Gegenwart äußerst umstrittene Hofprediger und Abgeordnete Adolf Stoecker (1835-1909), der die Konservativen vergeblich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der immer akuter werdenden Sozialen Frage anzutreiben versuchte und dabei in das Fahrwasser des modemen Antisemitismus geriet. Zwischen Kollaboration, Anpassung und Widerstand entwickelte sich das Spektrum des deutschen Konservatismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts - im vorliegenden Band nachgezeichnet an den Beispielen von earl Friedrich Goerdeler (1884-1945), der - alles andere als ein Demokrat im heutigen Verständnis - vergeblich versuchte, dem Nationalsozialismus eine konservative, vom Vertrauen in die Tradition der preußisch-deutschen Bürokratie getragene Alternative entgegenzustellen, - und des in der christlich-altkonservativen Tradition wurzelnden Junkers Ewald von Kleist-Schmenzin (1890-1945), der bereits vor 1933 als einer der

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unbeugsamsten Gegner des Nationalsozialismus aktiv war und seine konservativen Gesinnungsgenossen vor dem kommenden Verhängnis zu warnen versuchte. Beide haben ihren Widerstand gegen das Regime Hitlers mit dem Leben bezahlt. Die Lebensbilder zweier in diesem Jahrhundert geborener Politiker, die in der Geschichte der frühen Bundesrepublik Deutschland eine unübersehbare Rolle gespielt haben, schließen den Band ab: Hermann Ehlers (19041954), der früh gestorbene zweite Bundestagspräsident, der sich vom "konservativen Revolutionär" zum überzeugten konservativen Demokraten wandelte, nicht ohne deutliche Einwände gegen bestimmte politische und kulturelle Entwicklungen der Nachkriegszeit, und Hans-Joachim von Merkatz (1905 -1982), der als führender Kopf der Deutschen Partei, die man wohl mit Recht als die letzte konservative Partei der deutschen Geschichte ansehen kann, versuchte, noch einzelne Elemente des geistigen Erbes deutscher konservativer Tradition in den fünfziger und frühen sechziger Jahren fruchtbar zu machen - mit nicht unbedingt großem Erfolg, wie man konstatieren muß. Alle der dargestellten Persönlichkeiten zeigen allerdings, unbeschadet deutlicher Unterschiede im einzelnen, daß es - zusammenfassend betrachtet - so etwas wie eine konservative Traditionslinie gibt, die als integraler Bestandteil der Geschichte der politischen Richtungen, Strömungen und Parteien in Deutschland anzusehen ist. Sollte der vorliegende Band dazu beitragen, diese Linie etwas deutlicher und klarer zu zeichnen, dann hat er seinen Zweck erfüllt.

Hans-Christo! Kraus

Inhaltsverzeichnis Hans-Christo! Kraus Ein altkonservativer Frondeur als Parlamentarier und Publizist - Ernst Ludwig von Gerlach (1795 -1877) .......................................................

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David E. Barclay Ein deutscher "Tory democrat"? Joseph Maria von Radowitz (1797 -1853)...

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Johann Baptist Müller Der politische Professor der Konservativen - Friedrich Julius Stahl (18021861) ............................... ... ......................... . .......................

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Wolf Nitschke Konservativer Edelmann und Politiker des Kompromisses - Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg (1803-1868) ... ..... ............ ...... ... ... ....... ... .

89

Günther GTÜnthal Im Schatten Bismarcks - Der preußische Ministerpräsident Otto Freiherr von Manteuffel (1805 -1882) ............................... ... ...... .. .............. 111

Wolf Nitschke Junker, Pietist, Politiker -

Hans Hugo v. Kleist-Retzow (1814-1892)

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Klaus Hornung Preußischer Konservatismus und Soziale Frage - Hermann Wagener (18151889) ... ... .... .................. ... . . ............ .................. .. ..... .... .... .. .... 157

James Retallack Ein glückloser Parteiführer in Bismarcks Diensten - Otto von HelldorffBedra (1833 -1908) .............. ... ....... . ........ . ........................... . ..... 185

Klaus Motschmann Ein aussichtsloser Kampf um die innere Einheit Deutschlands - Adolf Stoecker (1835 -1909).............. . ........................ .. . . ...... ... ............. 205

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Inhaltsverzeichnis

Michael Matthiesen Ein Konservativer auf dem Weg in den Widerstand - earl Friedrich Goerdeler (1884-1945) ............................................................................ 235

Karlheinz Weißmann Ein preußischer Frondeur - Ewald von Kleist-Schmenzin (1890 -1945) .....

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Karl-Eckhard Hahn Politisches Profil eines christlichen Konservativen - Hermann Ehlers (19041954) .. ... ........................................... ....... ..... .. . ....... .............. 291

Heinz-Siegjried Strelow Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik - Hans-Joachim von Merkatz (1905 -1982) ................................................................. 315

Ein altkonservativer Frondeur als Parlamentarier und Publizist Ernst Ludwig von Gerlach (1795-1877) Von Hans-Christo! Kraus Fragt man nach den - sowohl bei ihren Zeitgenossen wie bei den rückblickenden Historikern - am meisten umstrittenen Politikern des 19. Jahrhunderts, dann wird man in der Regel sehr bald auf den maßgeblichen Vertreter des preußischen Altkonservatismus stoßen - Ernst Ludwig von Gerlach 1. Sein berühmtester, später abtrünnig gewordener Zögling, Otto von Bismarck, bezeichnete ihn in seinen Memoiren als "theoretische[n) Fanatiker in Politik und Religion" 2. Und ein anderer Zeitgenosse mit außerordentlichem Einfluß auf die historisch-politische Urteilsbildung der Zeit, Heinrich von Treitschke, stellte fest, Gerlachs politische Talente hätten sich in Schulmeisterei und Tadelsucht erschöpft3. Diese Linie der Beurteilung zieht sich bis in die Gegenwart; noch vor wenigen Jahren bezeichnete der marxistische Bismarck-Biograph Ernst Engelberg den frür Siehe über ihn jetzt die ausführliche Darstellung und Analyse von Leben und Werk: Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen. Göttingen 1994. Aus der älteren Literatur sind noch erwähnenswert: Eugen Jedele, Die kirchenpolitischen Anschauungen des Ernst Ludwig von Gerlach, phi!. Diss. Tübingen 1910; Herman von Petersdorff, Die Gebrüder Gerlach, in: Hans von Arnim / Georg von Below (Hrsg.), Deutscher Aufstieg. Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien, Berlin / Leipzig / Wien / Bern 1925, 83 -104; Hans Herzfeld, Ernst Ludwig von Gerlach, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. V. Magdeburg 1930, 275-298; Alfred von Martin, Autorität und Freiheit in der Gedankenwelt Ludwig von Gerlachs. Ein Beitrag zur Geschichte der religiös-kirchlichen und politischen Ansichten des Altkonservatismus, in: Archiv für Kulturgeschichte 20 (1930), 155 -182; Werner Grundmann, Die Rechtsanschauung von Ernst Ludwig von Gerlach, jur. Diss. (masch.) Tübingen 1953; Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 5. Auf!. Berlin 1981, 1- 87; Manfred Paul Fleischer, Deus Praesens in Jure: The Politics of Ludwig von Gerlach, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), 1-23; Hans-Christof Kraus, Das preußische Königtum und Friedrich Wilhelm IV. aus der Sicht Ernst Ludwig von Gerlachs, in: Otto Büsch (Hrsg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Berlin 1987,48-93. 2 Otto von Bismarck, Gesammelte Werke, Friedrichsruher Ausgabe. Berlin 1924 ff., Bd. XV: Erinnerung und Gedanke, 429. 3 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1927, Bd. V, 25.

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hen politischen Förderer seines Helden als "Don Quichotte oder protestantischen Chomeini" 4. Aber es gibt auch die andere Seite: Bedeutender als ein Ausspruch Hermann Wageners, der Gerlach aus der Rückschau als den "Cato der konservativen Partei" 5 rühmte, ist das Zeugnis eines Mannes, der Gerlachs Ansichten nicht selten sehr kritisch gegenüberstand - Constantin Frantz: "Der Präsident Gerlach" , schreibt er in seinem letzten Buch, "war, was Goethe eine ,Natur' nennt, denn er lebte und webte in seinen Ideen, die ihm zu Fleisch und Blut geworden. Es lag etwas Schwungvolles in ihm, wie andrerseits zugleich etwas Humoristisches, dabei war er von liebenswürdigen Manieren und von stattlicher Erscheinung. Vor allem aber hochachtbar wegen der Reinheit seiner Ansichten und wegen seiner Überzeugungstreue" 6. Unter den deutschen Historikern war es zuerst Friedrich Meinecke, der Gerlach 1904 in deutlicher Distanz zu Treitschke als "nicht nur eine der gescheitesten, sondern auch eine der charaktervollsten Persönlichkeiten aus dem kleinen, aber historisch so wichtigen Kreise der Freunde und Gesinnungsgenossen Friedrich Wilhelms IV." 7 bezeichnete. Und HansJoachim Schoeps schließlich, der sich um die Sicherung und Auswertung des Gerlach-Nachlasses und um die Erforschung des preußischen Konservatismus bleibende Verdienste erworben hat, zollte Gerlach "Verehrung und Bewunderung [als] einem Mann .. ., der die Sache des Reiches Gottes noch über Preußens Größe stellte und der das Zeugen für die Wahrheit als seine politische Aufgabe ansah, auch wenn es ihm nur Schmähung, Verachtung und völlige Vereinsamung unter seinen Zeitgenossen eingebracht hat" 8. Als Sproß einer typischen Familie des preußischen Beamtenadels wurde Ernst Ludwig von Gerlach am 7. März 1795 in Berlin geboren; zu seinen Altersgenossen zählen Leopold Ranke, Thomas Carlyle und der spätere König Friedrich Wilhelm IV. - Der Vater, Leopold von Gerlach d. Ä., war das Musterbild eines treuen, sich ganz dem Dienst für das Gemeinwesen hingebenden preußischen Staatsbeamten; er hatte eine bemerkenswert 4 Ernst Engelberg, Kapitalistische Ökonomie und konservative Politik, in: derselbe, Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Wolfgang Küttler / Gustav Seeber. Vaduz 1980, 272. 5 (Hermann Wagener), Aus den Aufzeichnungen eines alten preußischen Staatsmannes, in: Deutsche Revue 13/2 (1888), 322. 6 Constantin Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland. Chemnitz 1882 -1883, Bd. III, 37 f. 7 Friedrich Meinecke, Rezension von: Ernst Ludwig von Gerlach. Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken, hrsg. von Jakob von Gerlach (1903), in: Historische Zeitschrift 93 (1904), 488 f. 8 Hans-Joachim Schoeps, Einleitung, in: derselbe, "Bereit für Deutschland" . Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 bis 1939. Berlin 1970, 33 f.

Ernst Ludwig von Gerlach (1795 -1877)

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schnelle Karriere hinter sich, als er schon in jungen Jahren als Präsident der kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer einen der höchsten Ränge innerhalb der preußischen Bürokratie einnahm 9. Gerlachs Mutter Agnes entstammte der bekannten Dessauer Beamten- und Gelehrtenfamilie von Raumer; sie war eine hochintelligente und gebildete Frau, die auf ihre fünf Kinder - die Tochter Sophie und die Söhne Wilhelm, Leopold d. J., Ernst Ludwig und Otto - einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt haL Das in wohlgeordneten Bahnen sich bewegende, glückliche Leben der wohlhabenden, wenn auch nicht reichen Familie endete abrupt mit der Niederlage Preußens von 1806 gegen Frankreich. Bereits 1807 starb, gerade zwanzigjährig, die Tochter Sophie, die - verheiratet mit einem Offizier, dem später berühmt gewordenen General von Grolman - die Sorgen und Nöte des Krieges nicht verkraften konnte. Der Vater entzog sich den jetzt an ihn gestellten neuen Anforderungen jedoch nicht: Obwohl er als einer der schärfsten Kritiker der Reformen Hardenbergs galt (der ihm gleichwohl vergeblich - das Finanzministerium angeboten hatte!), wurde er 1809 zum ersten Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Doch tief deprimiert und desillusioniert durch die politische Lage seines Landes - er sah viele "Jahrzehnte der Knechtschaft" für Preußen voraus - verstarb auch er vor der Zeit im Frühjahr 1813. Agnes von Gerlach hat diese Schicksalsschläge niemals überwinden können; ihr Gemüt blieb verdüstert, und ihrer Verachtung für den in ihren Augen "feigen" und "ehrlosen" König Friedrich Wilhelm IH. vermochte sie keine Zügel anzulegen 10 • Der junge Ernst Ludwig strebte während der traurigen Besatzungs- und Kriegsjahre schnell aus dem Elternhaus heraus; wie seine beiden älteren Brüder widmete er sich ganz seiner Schwärmerei für romantische Kunst und Literatur, für die der Vater (der die Romantiker für "wahnsinnig" hielt) keinerlei Verständnis aufbrachte. Daneben war er ein überaus eifriger Schüler, der sich vor allem der Ausbildung seiner großen Sprachbegabung widmete. Als begeisterter Humanist las er zeitlebens die von ihm geliebten griechischen und lateinischen Autoren im Urtext, außerdem beherrschte er Englisch, Französisch und - in der Lektüre - Spanisch, Italienisch, Niederländisch und Hebräisch. Obwohl ihn seine Lehrer drängten, die klassische Philologie zu seinem Lebensberuf zu machen, beugte er sich doch dem Wunsch seines Vaters und begann 1810 an der soeben neu gegründeten Universität seiner Vaterstadt Berlin das Studium der Rechtswissenschaft. Hier übte sogleich der bedeu9 Siehe über ihn die Biographie eines direkten Nachkommen: Jürgen von Gerlach, Leopold von Gerlach 1757 -1813. Leben und Gestalt des ersten Oberbürgenneisters von Berlin und vonnaligen kunnärkischen Kammerpräsidenten. Berlin 1987. 10 Vgl. hierzu ebenda, 61 ff. und Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 45 ff.

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tendste deutsche Jurist seiner Zeit, Friedrich Carl von Savigny, den größten Einfluß auf den jungen Studenten aus; recht bald schon wurde aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis eine persönliche Freundschaft, die - trotz mancher Spannungen - lebenslang erhalten blieb und sich noch auf Savignys Kinder erstrecken sollte. Daneben studierte Gerlach in Göttingen, wo ihn der Jurist Gustav Hugo prägte, und in Heidelberg, wo er sich lieber den Freuden des Studentenlebens und dem Studium der spanischen Literatur als den rechtswissenschaftlichen Kollegien widmete 11. Aus seiner romantischen Idylle riß ihn der Kriegsausbruch von 1813 heraus: Begeistert eilte er zu den Fahnen und machte den gesamten Krieg - auch den zweiten Feldzug von 1815 - als Soldat, bald im Offiziersrang, mit; einmal wurde er verwundet. Auch erhielt er das begehrte Eiserne Kreuz, das er zeitlebens mit großem Stolz getragen hat. Nach der Rückkehr aus Frankreich - er war Augenzeuge der Schlacht von Waterloo gewesenbeendete er sein Studium und trat 1815 in den preußischen Justizdienst ein. Als Ausgleich zu dem trockenen Berufsalltag widmete er seine Freizeit einem Kreis von romantisch-konservativ gesinnten Freunden, in dessen Mittelpunkt Clemens Brentano stand. Der Poet trug seine Dichtungen vor, man sang und tafelte gemeinsam, feierte den 300. Todestag des verehrten Shakespeare, - man ließ darüber hinaus aber die Politik keineswegs aus dem Blick. Zudem war Gerlach eine zeitlang Anhänger Jahns und der Turnbewegung. Großen Anklang fand überdies die seit 1817 in sechs Bänden erscheinende "Restauration der Staatswissenschaft" des Schweizers Carl Ludwig von Haller, - ein Werk, das zur "politische[n] Bibel" 12 der Gerlachs und ihres Kreises wurde. Nach 1819 brach der Freundeskreis auseinander 13. Brentano verließ Berlin, die anderen traten endgültig ins Berufsleben ein. Für die Brüder Gerlach - insbesondere für Ernst Ludwig - war noch etwas anderes wichtig geworden: Unter dem prägenden Einfluß ihres Freundes Adolf Ferdinand von Thadden hatten sie eine religiöse "Erweckung" erfahren und sich daraufhin der neupietistischen Erweckungsbewegung angeschlossen. Ernst Ludwig von Gerlach nahm die hier gültigen strengen Lebensregeln außerordentlich ernst. Einige Jahre lang - er war inzwischen als Landgerichtsrat nach Naumburg versetzt worden - zog er sich völlig aus dem politischen Leben zurück und widmete seine freie Zeit fast ausschließlich den Konventikeln frommer pietistischer Kreise, in denen er (nicht ohne von seinen Vorgesetzten deswegen gerügt zu werden) verkehrte. Ertappte er sich Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1),43-61. So treffend Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte. Berlin 1915, 505. 13 Vgl. hierzu und zum folgenden: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 74 ff. 11

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Ernst Ludwig von Gerlach (1795 -1877)

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einmal bei einem Gespräch über politische Gegenstände -etwa mit seinem Amtskollegen Albert von Haza (dem Stiefsohn Adam Müllers) -, dann wurde dies als "sündliche Handlung" sofort im Tagebuch vermerkt. Doch auch diese Lebensphase sollte bald enden - mit der traurigsten Erfahrung seines Lebens. Ende 1825 hatte er sich mit Auguste von Oertzen, einer im Geiste des strengsten Pietismus aufgewachsenen jungen Adligen aus Mecklenburg, verheiratet. Doch kurz nach der Ankunft in Naumburg erkrankte die junge Frau schwer und starb nach nur viermonatiger Ehe im April 1826. Um der Einsamkeit zu entfliehen, ließ sich Gerlach zurück nach Berlin versetzen. Hier ergriff ihn sehr schnell wieder die Leidenschaft für die Politik. 1827 gründete er zusammen mit dem Theologiedozenten Hengstenberg die "Evangelische Kirchenzeitung" l4, die schon bald zum "führenden Organ des norddeutschen Konservativismus" 15 wurde. Gerlach, seit 1829 am Oberlandesgericht in Halle tätig, führte in diesem Blatt 1830 eine scharfe Attacke gegen die führenden, liberal-rationalistisch gesinnten Theologen der dortigen Universität, Wegscheider und Gesenius; mit Zitaten aus Kollegnachschriften versuchte er sie des "Unglaubens" zu überführen. Der darauf folgende Skandal bewegte ganz Deutschland (ein Verzeichnis aller bis 1832 erschienenen Streitschriften und Broschüren füllt mehr als 40 Druckseiten). Allerdings endete die Angelegenheit unentschieden: Weder wurden die beiden angegriffenen Professoren ihres Amtes enthoben, noch erhielt Gerlach eine Verwarnung. Doch sein Name war nun bekannt, und er hatte sich in ganz Deutschland erbitterte Feinde gemacht - bis hinein in die höchsten Spitzen der preußischen Bürokratie 16. Unter dem Eindruck der Julirevolution in Frankreich schlossen sich die Brüder Gerlach und einige Adlige aus dem Kreis um den preußischen Kronprinzen mit den streng konservativen Katholiken Joseph Maria von Radowitz und earl Ernst Jarcke zur Herausgabe einer interkonfessionellkonservativen Zeitschrift zusammen, die ab Ende 1831 unter dem Namen

14 Vgl. hierzu Johannes Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Gütersloh 18761892, Bd. II, 61-104; Anneliese Kriege, Geschichte der Evangelischen Kirchenzeitung unter der Redaktion Ernst Wilhelm Hengstenbergs. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, theol. Diss. (masch.) Bonn 1958, 35-55 u. passim; Hans Wulfmeyer, Ernst Wilhelm Hengstenberg als Konfessionalist, phil. Diss. Erlangen 1970, 46 ff.; Robert M. Bigler, The Politics of German Protestantism. The Rise of the Protestant Church Elite in Prussia 1815 -1949. Berkeley / Los Angeles / London 1972, 88 ff., 94 ff. 15 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 -1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, 319. 16 Vgl. hierzu neben Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 140-151 auch Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg (wie Anm. 14) II, 177 -283,415-422, sowie Kriege, Geschichte der Evangelischen Kirchenzeitung (wie Anm. 14), 128 -162.

2 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Hans-Christof Kraus

"Berliner politisches Wochenblatt" erschien 17 . Hier hatten sich die altständische Ideale verfechtenden Schüler Hallers mit katholischen Traditionalisten zur gemeinsamen Abwehr der revolutionären Gefahr, aber auch zu einer Antwort auf den zeitgenössischen Liberalismus zusammengefunden, dessen Herausforderung sie auf der intellektuellen Ebene begegnen wollten. Von der preußischen Zensur - der eine Opposition von rechts besonders verdächtig war - streng kontrolliert, entwickelte sich das Blatt dennoch zu einem einflußreichen Organ des Altkonservatismus, dessen Einfluß weit über Preußen hinausreichte. Doch bereits 1837 brach die Redaktion unter dem Eindruck zweier Ereignisse auseinander: Die Gerlachs mochten nicht akzeptieren, daß die Zeitung den Verfassungsbruch des Königs Ernst August von Hannover (samt Absetzung der "Göttinger Sieben") verteidigte, und die Katholiken ergriffen Partei für die wegen des Mischehenstreits von der preußischen Regierung inhaftierten Erzbischöfe von Köln und Posen. Die Phase eines gemeinsamen interkonfessionellen Konservatismus war damit - für immer, wie sich zeigen sollte - beendet. In diesen Jahren hatten sich auch die Grundzüge des politischen Denkens von Ernst Ludwig von Gerlach endgültig gefestigt. Die stärksten Eindrücke hatte er neben dem Denken Hallers von der politischen Romantik, der Erweckungsbewegung und der historischen Rechtsauffassung seiner Universitätslehrer Gustav Hugo und Friedrich earl von Savigny erhalten. Daneben wurde er durch die Lektüre der Werke Edmund Burkes, Justus Mösers und eines heute weitgehend vergessenen französischen Restaurationspublizisten namens Joseph Fievee geprägt und beeindruckt1 8 . Seine Gedankenwelt läßt sich als Teil und Resultat einer Tradition begreifen, die man als alteuropäische Ordnungslehre bezeichnen kann 19. Es ist die auf antike Wurzeln zurückgehende Grundüberzeugung von der Existenz eines in sich sinnvoll strukturierten Kosmos, einer göttlichen Ordnung, in der jeder Mensch und jedes Ding den ihm entsprechenden und gemäßen Platz einnimmt. Bestandteil dieser so aufgefaßten "Welt" ist ebenso eine einheitliche Wertordnung - also die untrennbare Einheit von Recht und Moral, auch von politischem und ethischem Handeln - und eine Rangordnung des menschlichen Daseins. Nur vor Gott sind alle Menschen

17 Vgl. hierzu und zum folgenden: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 152 ff.; Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Werke, Bd. V. München 1969, 205 ff.; grundlegend zur Geschichte des BpW ist Wallgang Scheel, Das "Berliner Politische Wochenblatt" und die politische und soziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeitkritik in Deutschland. Göttingen / Berlin / Frankfurt a. M. 1964. 18 Hierzu siehe ausführlich Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 107135. 19 Vgl. hierzu und zum folgenden ebenda, S. 185 ff.

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gleich, in der Welt dagegen nehmen sie den von Gott für sie bestimmten Platz ein - sei es oben, sei es unten oder auf irgendeiner anderen Rangstufe. Gottes persönliche Herrschaft über die Welt erscheint im Rahmen dieser Lehre als eine unbezweifelbare Tatsache, deshalb ist das Königtum, als unmittelbares Abbild dieser Herrschaft, die gewissermaßen " natürlichste " Herrschaftsform. In einer Polemik gegen die Französische Revolution und die Ideen von 1789 hat Gerlach einmal ausgeführt: "C'est un crime de regner, sagte der Pariser Blutmensch st. Just, es ist ein Verbrechen, König zu sein. Wer weiß, was Königtum ist, der kann das Königtum ebensowenig hassen als Sonne, Mond und Sterne, oder als Brod und Wein, oder als die Menschheit als solche. Das Bild Gottes im Menschen vollendet sich im Königtum, zunächst im zeitlichen vergänglichen Königtum und vollends in dem Königtum des Sohnes Gottes .... So ist also das Königtum die Krone der Menschheit"20. In diesen Worten klingt schon an, daß Gerlach ein Politischer Theologe im eigentlichen Sinne dieses Begriffs gewesen ist 21 • Mit unbeirrbarer - und zuweilen recht starrsinniger - Konsequenz stellte er dem säkularisierten liberalen und demokratischen Denken seiner Epoche eine konsequent spiritualisiert-christliche Position entgegen, die in ihrer Geschlossenheit derjenigen des Gegners von links nicht nachstand. In bezug auf die große politische Zeitfrage nach der Bedeutung der Nation bedeutete dies, daß Gerlach als politischer Universalist an der universalen Reichsidee unbedingt festhielt und jede Form von Nationalismus, die über einen auch von ihm vertretenen "gesunden Patriotismus" hinausging, konsequent abgelehnt und bekämpft hat. Den Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation konnte er bis 1871 im Grunde nicht akzeptieren: Für ihn war nach 1806 "der Kaiserstuhl vakant" und Preußen blieb "nur ein Reichsstand" 22. Mit allem rhetorischen Feuer, dessen er fähig war, pries er die übernationale Aufgabe der Deutschen: "Die deutsche Nation ... , in deren Schoße tausend Jahre lang die Idee des Reiches gelebt hat, des Reiches, welches, weit hinausgreifend über die engen Schranken der Nationalität, den erhabensten Zielen, welche der Menschheit gesetzt sind, der Realisierung des Reiches Gottes auf Erden, nachstrebte im Wettkampfe mit der Kirche, diese Nation kann nicht bloß national sein in dem Sinne, wie der Franzose oder Engländer es ist. Der Deutsche ist als solcher wesentlich nicht bloß Glied einer Nation 20 (Ernst Ludwig von Gerlach), Christentum und Königtum von Gottes Gnaden, in: Evangelische Kirchenzeitung, Nr. 25, 28. 3. 1863, 301. 21 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 212 ff. 22 Ernst Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken, hrsg. v. Jakob von Gerlach. Schwerin 1903, Bd. I, 311.

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im Gegensatze zu andern Nationen, sondern noch in einem andern Sinne als andre Christen, Weltbürger, Genosse des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist sein Vaterland. Dies ist der die deutsche von allen andern Nationen unterscheidende Charakter, der Charakter, in dem ihr weltgeschichtlicher Beruf enthalten und vorgezeichnet ist" 23. Unter dem maßgeblichen Einfluß einerseits von Burke, andererseits der Historischen Rechtsschule vertrat Gerlach jedoch keineswegs ein statisches, sondern durchaus ein dynamisches Konzept, das die Tatsache geschichtlicher Veränderung berücksichtigte. Man könnte sein Konzept mit dem Schlagwort: Evolution statt Revolution zusammenfassen. England erschien ihm lebenslang als das Musterbild eines sich in vernünftig-evolutionären Bahnen entwickelnden Landes. Unter den Konservativen seiner Zeit war er wohl der größte und unbeirrteste Englandverehrer 24 • Zweimal unternahm er längere Reisen nach England, regelmäßig las er die englische Presse, und er verfügte auch über Kontakte zu den führenden Persönlichkeiten der Hochtorys, etwa dem Oxforder Theologen Pusey oder dem Herausgeber der konservativen "Quarterly Review", John Gibson Lockhart. Die spätere politische Entwicklung Englands bereitete ihm allerdings Sorgen; in der zweiten Wahlreform von 1867 sah er eine katastrophale Maßregel. - Als einer der führenden konservativen Publizisten Europas hielt Gerlach Verbindung zu vielen Gesinnungsgenossen im Ausland: Donoso Cortes lernte er ebenso kennen wie den holländischen Konservativen Groen van Prinsterer oder den von ihm hochgeschätzten Führer der österreichischen Konservativen, Leo Graf von Thun-Hohenstein. Seit den 1830er Jahren zählten Ludwig von Gerlach und sein Bruder Leopold zum engeren Kreis um den preußischen Kronprinzen. Als dieser dann im Sommer 1840 als Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Königsthron bestieg, gehörten auch sie zu den vielen Preußen, die sich durch die "frohen Tage der Erwartung", wie Treitschke sie nannte 25, zu nicht erfüllbaren Hoffnugen hinreißen ließen. Die - wie es schien - planlose, in der Zielsetzung unklare und in der Ausführung unzureichende Politik des neuen Monarchen enttäuschte die Konservativen im Lande nicht weniger als die Liberalen. Friedrich Wilhelm IV. bemühte sich zuerst darum, Gerlach nach Berlin zu holen; viele sahen - bzw. fürchteten - ihn schon als neuen Justiz- oder Kultusminister, doch der König wollte ihm nur die höchst undankbare Aufgabe der Oberaufsicht über das preußische Zensur-

23 (Ernst Ludwig von Gerlach), Zwölf politische Monatsrundschauen vom Juli 1849 bis dahin 1850. Berlin 1850, 41 f. (September 1849). 24 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 245 ff. 25 Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (wie Anm. 3), Bd. V, 3.

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wesen übertragen, was Gerlach - der selbst schon mehrfach Objekt der Zensurwillkür gewesen war - nach einigem Zögern ablehnte 26 • Als Mitglied des Ministeriums für Justizreform, das 1840 sein - und des Königs - alter Lehrer Savigny übernommen hatte, war Gerlach von 184244 an der Ausarbeitung des neuen Ehescheidungsrechts an maßgeblicher Stelle mitbeteiligt, und wenn am Ende auch nur ein kleiner Teil der von ihm geplanten und entworfenen Maßregel, nur eine Reform des Scheidungsverfahrens, übrigblieb, so war dies nicht seine Schuld, sondern lag an dem sprunghaften und planlosen Vorgehen des Königs 27 • Gerlachs eigentliches Anliegen, die - jedenfalls für die Epoche - ungewöhnlich weitgehenden Scheidungsbestimmungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts außer Kraft zu setzen, war mißlungen. Nicht nur diese Erfahrung, auch andere Erlebnisse im Umgang mit dem König und der Regierungsbürokratie veranlaßten ihn 1843 zu dem Tagebuchgeständnis: "Die Hoffnung auf des Königs Regierung und meine tätige Teilnahme daran aufgegeben" 28. Er übernahm 1844 das Amt eines Präsidenten des Oberlandesgerichts in Magdeburg - in dieser Stellung sollte er von nun ab bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1874 verbleiben - und zog sich aus der Berliner Politik vorerst zurück 29. Den Kontakt zum König ließ er dabei freilich keineswegs abreißen; er beriet ihn auch weiterhin - insbesondere in kirchenpolitischen Angelegenheiten. Die nächsten Jahre bis zur Revolution verbrachte Gerlach vor allem mit dem Kampf gegen die "Lichtfreunde" , eine rationalistisch-liberal gesinnte Glaubensbewegung, die in der preußischen Provinz Sachsen ihren Schwerpunkt hatte 30 • Er beschränkte sich keineswegs nur auf den publizistischen Kampf oder auf negative Maßregeln, sondern unternahm auch immer wieder große Anstrengungen zur Sammlung einer konservativen Partei und zur Gründung einer in breiteren Kreisen wirkenden konservativen Zeitung Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 291 ff. Vgl. ebenda, 308-329; Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (wie Anm. 3), Bd. V, S. 245 ff.; Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten. Berlin 1888, Bd. H, 537 ff.; Stephan Buchholz, Preußische Eherechtsreform im Vormärz (1830 -1844). Ein Überblick, in: Vorträge zur Geschichte des Privatrechts in Europa. Frankfurt a. M. 1981, 174 ff.; Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794-1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive. Göttingen 1987, 58 ff. 28 Ungedrucktes Tagebuch Ernst Ludwig von Gerlach, 23. 5. 1843; zitiert nach: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 298. 29 Vgl. ebenda, 347. 30 Vgl. ebenda, 357 ff. sowie Walter Breywisch, Uhlich und die Bewegung der Lichtfreunde, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt 2 (1926),159-221; Jörn Brederlow, "Lichtfreunde" und "Freie Gemeinden". Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49. München / Wien 1976. 26 27

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- doch beides scheiterte an der Schwerfälligkeit der Gesinnungsgenossen und an ihrer Uneinigkeit3 1 . Nicht vergeblich verlief hingegen seine Suche nach jüngeren Talenten: Nicht wenige der späteren führenden Politiker der preußischen Konservativen Partei sind als Rechtsreferendare durch Gerlachs Schule gegangen oder wurden von ihm im weiteren Verwandten- oder Bekanntenkreis "entdeckt" - etwa Hans von Kleist-Retzow, Hermann Wagener, Julius Bindewald, Moritz von Blanckenburg und nicht zuletzt Otto von Bismarck-Schönhausen, ein extravagant-hochfahrender Junker aus der Mark, dessen politische Talente Gerlach gleichwohl sofort erkannte. Sowohl den Beginn seiner Laufbahn als konservativer Parlamentarier und Publizist wie auch seinen späteren Seiteneinstieg in den diplomatischen Dienst hatte Bismarck (was oft nicht einmal sonst gut informierte Biographen wissen) den Brüdern Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach zu verdanken! 32 Gerlach gehörte zu den wenigen, die durch den Ausbruch der Revolution im März 1848 nicht überrascht wurden 33; er empfand sogar eine gewisse Befriedigung darüber und meinte "ein Moment vom Gerichte Gottes" 34 wahrnehmen zu können. Er wich - obwohl persönlich bedroht - nicht aus Magdeburg, während einige der prominenten Berliner Konservativen (darunter die Professoren Stahl und Hengstenberg) gleich nach Ausbruch der Unruhen die Stadt verlassen hatten. Schon am 26. März verfaßte er ein konservatives Gegenmanifest, in dem er alle, "welche deutsches Recht und deutsche Freiheit, welche insbesondere den preußischen Staat .. . gegen revolutionäre Tyrannei zu verteidigen entschlossen sind", aufforderte, "dem Thron und Vaterland zu Hülfe zu kommen" 35. Doch die Resonanz blieb aus. Sogar Bismarck, auf den Gerlach seine meisten Hoffnungen gesetzt hatte, versagte - und leistete vier Monate später in einem kleinlauten Brief an seinen politischen Mentor Abbitte. Doch der rührige Magdeburger Oberlandesgerichtspräsident gab nicht auf. Nach einigen Mißerfolgen erreichte er, daß sein langgehegtes Wunschprojekt, die Gründung einer konservativen Tageszeitung, zustandekam: Ab dem 1. Juli 1848 erschien die "Neue Preußische Zeitung"; sie hatte eigentlich "Das eiserne Kreuz" heißen sollen und trug nun wenigstens das Kreuz im Titel, dazu die Umschrift "Mit Gott für König und Vaterland" 36. Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 370 ff. Vgl. ebenda, 710 . 33 Vgl. ebenda, 395 ff. 34 Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848 -1866. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, hrsg. v. Hellmut Diwald. Göttingen 1970, Bd. I, 83 (Tagebucheintragung Gerlachs vom 18. 3. 1848). 35 Abdruck in: Gerlach, Aufzeichnungen '(wie Anm. 22), Bd. I, 518 f .; vgl. auch Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 399 ff. 31

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Auch am sogenannten "Junkerparlament", einer Versammlung zur Wahrung der Interessen der Grundbesitzer 37 , nahm Gerlach teil - hier allerdings, um den "schmutzigen Eigennutz" einiger seiner Standesgenossen zu geißeln: "Eigentum", so heißt es in der von ihm dort gehaltenen Rede, "ist selbst ein politischer Begriff, ein Amt von Gott gestiftet, um Sein Gesetz und das Reich Seines Gesetzes dem Staat zu erhalten; nur in der Verbindung mit den darauf haftenden Pflichten ist das Eigentum heilig; als bloßes Mittel des Genusses ist es nicht heilig, sondern schmutzig. Gegen Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht ... Ein französischer Schriftsteller hat gesagt: adelig ist wer dem Staate umsonst dient. Bloß konservieren - diese negative Haltung, die Front gegen den Mist, den Rücken gegen den Ansprüche machenden Staat - das ist eine Stellung, die allenfalls dem Bauer verziehen werden kann und jetzt auch ihm nicht mehr. Aufopfern, zu Felde ziehen ... - den Rücken gegen den Mist, die Front gegen den Feind - das ist adelig. Aber dies ist ein Adel, der nicht allein den vielen hier versammelten schönen alten Namen derer angehört, die seit Jahrhunderten auf unsern Schlachtfeldern geblutet haben. Er kann auch von denen erworben werden, die wie ich keinen solchen Namen führen. Ja, er kann von jedem Bürger und Bauern, von jedem Preußen, der sein Vaterland liebt, erworben werden. Diesen Adel kann keine National-Versammlung abschaffen" 38. Doch nicht nur vor, auch hinter den Kulissen blieb Gerlach aktiv 39 . Ganz wesentlich auf seine Einflußnahme ist es zurückzuführen, daß der König 36 Vgl. hierzu neben Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 410 ff. auch Erich Marcks, Bismarck und die deutsche Revolution 1848-1851, hrsg. v. Willy Andreas, Stuttgart / Berlin 1939, 36 ff.; Kurt Danneberg, Die Anfänge der "Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung" unter Hermann Wagener 1848-1852, phil. Diss. (masch.) Berlin 1943, 25 ff.; Wolfgang Saile, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus. Tübingen 1958, 21 ff.; Kurt Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse, Teil 11. Berlin 1966, 130 ff.; Meinolf Rohleder / Burckhard Treude, Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung (1848 -1939),' in: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. München-Pullach 1972, 209 ff. 37 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (Anm. 1), 422 ff.; siehe auch Erich Jordan, Die Entstehung der konservativen Partei und die preußischen Agrarverhältnisse 1848. München / Leipzig 1914, 262 ff.; Jacques Droz, Preoccupations sociales et preoccupations religieuses aux origines du parti conservateur prussien, in: Revue d'Histoire moderne et contemporaine 2 (1955), 291 ff.; Walter Görlitz, Die Junker. Adel und Bauer im deutschen Osten. 3. Aufl. Limburg a. d. L. 1964, 250 ff.; Klaus Klatte, Die Anfänge des Agrarkapitalismus und der preußische Konservatismus, phil. Diss. Hamburg 1974, 247 ff.; Wolfgang Schwentker, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die Konstituierung des Konservatismus als Partei. Düsseldorf 1988, 100 ff., 106 ff. 38 Gerlach, Aufzeichnungen (wie Anm. 22), Bd. II, 541; vgl. auch Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 424 f. 39 Hierzu und zum folgenden siehe Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1),443 ff.

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im November 1848 den General Brandenburg zum Ministerpräsidenten ernannte und die Nationalversammlung aus Berlin fort verlegte. Der Oktroi der preußischen Verfassung am 5. Dezember hingegen, an dem er nicht beteiligt war, überraschte Gerlach. Doch lehnte er die neue Konstitution nach anfänglichen Bedenken keineswegs ab; er lernte schnell, wie gut man gerade unter Berufung auf die Verfassung konservative Politik machen konnte. Dem Versuch des Grafen Joseph Maria von Radowitz allerdings, eine kleindeutsche Einigung (Union) unter preußischer Führung und mit einem einheitlich gewählten Parlament zu bewerkstelligen 40, traten die Brüder Gerlach entschieden entgegen; sie konnten hierin nur eine Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln sehen. Außerdem lehnten sie einen Ausschluß des Habsburgerreichs strikt ab. Ihr deutschlandpolitisches Programm lief darauf hinaus, den Deutschen Bund wiederherzustellen, diesen dann aber mit dem Ziel einer engeren Einheit als vor 1848 weiterzuentwikkeln; Preußen und Österreich sollten sich die Führung des Bundes gleichberechtigt teilen, und die Souveränität der kleinen und mittleren deutschen Mächte sollte beschnitten werden 41 • Seit 1849 vertrat Ernst Ludwig von Gerlach die Konservative Partei im preußischen Landtag: zuerst (bis 1852) in der Ersten Kammer, die später in das Herrenhaus umgewandelt wurde, später (bis 1858) in der Zweiten Kammer, dem späteren Abgeordnetenhaus. Er war in dieser Zeit, obwohl er die Einrichtung eines Parlaments in früheren Jahren strikt abgelehnt hatte, einer der fleißigsten preußischen Parlamentarier, dessen Reden obwohl sie mit der Brillanz eines Friedrich Julius Stahl nicht konkurrieren konnten - große Beachtung fanden. Bedeutenden Anteil hatte er an den Verhandlungen über die Revision der preußischen Verfassung von 1848 42 • Während die Liberalen mit allen Mitteln versuchten, das eingeschränkte ~teuerbewilligungsreclit in ein uneingeschränktes zu verwandeln (wodurch die königliche Gewalt entscheidend geschwächt worden wäre), kämpften die Konservativen unter der Führung Gerlachs und Stahls erfolgreich für 40 Vgl. ebenda, 475 ff., 516 ff. sowie Friedrich Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution. Berlin 1913, 233 ff.; Erich Brandenburg, Die Reichsgründung. 2. Auf!. Leipzig 1922, Bd. I, 302 ff.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.lI, 3. Auf!. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1988, 885 ff.; Anselm Doering-Manteuffel, Der Ordnungszwang des Staatensystems: Zu den Mitteleuropa-Konzepten in der österreichisch-preußischen Rivalität 1849 -1851, in: Adolf M. Birke / Günther Heydemann (Hrsg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus. Göttingen 1989, 131 ff. 41 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 482 f. 42 Vgl. ebenda, 488 ff. sowie Günther GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49 -1857/58. Preußischer Konstitutionalismus, Parlament und Regierung in der Reaktionsära. Düsseldorf 1982,126-174.

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die unveränderte Beibehaltung der entsprechenden Verfassungsartikel, die im späteren Verfassungskonflikt (1862-66) der Regierung Bismarck die Handhabe geben sollten, zeitweilig auch gegen das Parlament zu regieren 43. Ende 1850 spitzte sich die außenpolitische Situation zu; Radowitz war preußischer Außenminister geworden und versuchte, sein kleindeutsches Einigungsmodell auch gegen den ausdrücklichen Willen Österreichs zu realisieren, obwohl absehbar war, daß auch die anderen europäischen Großmächte, allen voran Rußland, ihre Zustimmung verweigern würden. Vergeblich versuchten die Gerlachs, Radowitz zu stürzen; doch erst in der verfahrenen Lage des November 1850 mußte dieser zurücktreten, und der (nach dem Tode des Grafen Brandenburg) designierte Ministerpräsident, Otto von Manteuffel, handelte mit den Österreichern einen für Preußen demütigenden Vertrag, die sogenannte Punktation von Olmütz, aus, die von Gerlach als endgültige Abkehr von der Revolution gefeiert - im wesentlichen eine Rückkehr zum Status quo ante des Deutschen Bundes der Ära vor 1848 vorsah 44 . Die folgenden ersten Jahre der "Reaktionszeit", wie man die nachrevolutionäre Ära bis 1858 genannt hat 45 , schienen einer konservativen Politik zuerst ideale Möglichkeiten zu bieten. Im Februar 1851 begrüßte Gerlach "die aufgehende immer mächtiger strahlende Sonne der Reaktion des Rechts", und er definierte deren politisches Programm als einen "doppelten Kampf": es sei sowohl "der gegen den besiegten aber nicht getöteten Radikalismus und der gegen Bürokratie und den Absolutismus, die, in der tiefsten Wurzel eins mit der Revolution, uns gleichwohl von rechts her bedrohen"46. Aus dieser Perspektive vermochte er sogar einigen Ergebnissen der Revolution positive Aspekte abzugewinnen: "Seit den Märztagen" , schreibt er im Oktober 1851, sei "eine größere Teilnahme der Untertanen an den öffentlichen Angelegenheiten eingetreten, und darin begrüßen wir, die wir Reaktionärs, aber keine Retrograden sind, eine wahre Märzerrungenschaft" 47. 43. Siehe hierzu insbesondere Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der "Lückentheorie" im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), 209234. 44 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 516 ff.; zur Bedeutung von "Olmütz" siehe neben Heinrich Ritter von Srbik, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz. München 1934-42, Bd.lI, 80 ff. auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), Bd. 11, 919 ff. 45 Hierzu siehe neben Srbik, Deutsche Einheit (wie Anm. 44), Bd. 11, 297 - 332 und Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 15),674-683 auch Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt a. M. 1990, 25-88. 46 (Ernst Ludwig von Gerlach), Zwölf politische Monatsrundschauen vom Juli 1850 bis dahin 1851. Berlin 1851, 155, 146: 47 (Ernst Ludwig von Gerlach), Zwölf politische Monatsrundschauen vom Juli 1851 bis dahin 1852. Berlin 1852, 50.

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Gerlach sah für die Konservativen die Chance, mittels des Parlaments einen wirklichen, wenn auch nur begrenzten, Einfluß auf die politische Entscheidungsfindung nehmen zu können, und zwar in einem weit stärkeren Maße, als dies im bürokratischen System des Vormärz möglich gewesen war. Die negativen Erfahrungen, die er in den Jahren 1842 bis 1844 als Mitarbeiter des Savignyschen Ministeriums für Gesetzgebung hatte machen müssen, trugen jetzt ganz wesentlich dazu bei, daß Gerlach seit 1849 dem Parlamentarismus - freilich keineswegs dem "parlamentarischen Prinzip" als Verfassungssystem! - grundsätzlich positiv gegenüberstand. Insofern hat er auch später stets an der Einrichtung einer Volksvertretung festgehalten und das Parlament gegen Kritiker aus den eigenen Reihen verteidigt48. Hinzu kam, daß die Konservativen gegenüber den oppositionellen Liberalen über einen nicht unbedeutenden "Platzvorteil" verfügten: Sie besaßen beste Verbindungen zum königlichen Hof, der auch im nachrevolutionären Preußen das im Kern unangefochtene und letztlich entscheidende Machtzentrum geblieben war. Über seinen Bruder Leopold, der nach 1851 zum Generaladjutanten und engen Berater Friedrich Wilhelms IV. avancierte 49 , gelangte Ernst Ludwig von Gerlach stets an erstklassige Informationen über bevorstehende Maßnahmen der Regierung, während er selbst umgekehrt den Hof vorab über die Vorgänge im Parlament und in den konservativen Fraktionen auf dem laufenden hielt; nicht selten konnten hier gemeinsame Maßnahmen und Aktionen im voraus verabredet und koordiniert werden. Gerade hierin liegt eine Hauptursache für den zeitweiligen großen Einfluß der (im ganzen gesehen relativ kleinen) preußischen Konservativen Partei 50. Nach außen gesehen, hielten sich Erfolg und Mißerfolg die Waage: Zwar gelang es, die vormärzlichen, ständisch zusammengesetzten Provinziallandtage gegen den erbitterten Widerstand der Liberalen wieder einzuführen, dafür spaltete sich allerdings der linke Flügel der Konservativen unter der Führung des Juristen Moritz August von Bethmann Hollweg ab und bildete die oppositionelle "Wochenblattpartei" 51. Zwar gewannen Gerlach und die 48 Vgl. hierzu Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 606 ff. 49 Über ihn existiert noch keine politische Biographie; die bisher beste Arbeit ist:

Stephan Nobbe, Der Einfluß religiöser Überzeugung auf die politische Ideenwelt Leopold von Gerlachs, phil. Diss. Erlangen 1970. - Die Perspektive der ehemaligen DDR-Forschung findet sich bei Konrad Canis, Leopold von Gerlach, in: Karl übermann (Hrsg.), Männer der Revolution von 1848. 2. Aufl. Berlin(-üst) 1988,463481. 50 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 620 ff. 51 Vgl. ebenda, 572 ff., 557 ff.; Joseph Heinrichs, Die Reaktivierung der Kreis- und Provinzialstände. Ein Beitrag zur Geschichte der Reaktion in Preußen, phil. Diss. Bonn 1917; Walter Schmidt, Die Begründung der Partei Bethmann-Hollweg im Gegensatz zu der konservativen Reaktion in Preußen 1848-1851, phil. Diss. Erlangen 1910, 49 ff.; Michael Behnen, Das Preußische Wochenblatt (1851-1861). Natio-

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Konservativen entscheidenden Einfluß auf die Innenpolitik des Ministers Ferdinand von Westphalen und auf die Kirchen- und Bildungspolitik ihres Vetters, des Kultusministers Karl atto von Raumer, doch auf der anderen Seite konnten sie die vom König gewünschte und schließlich auch durchgesetzte Errichtung eines Herrenhauses (das die Erste Kammer, in der es wegen des hohen Wahlzensus' stets sichere konservative Mehrheiten gab, ersetzte) nicht verhindern 52. Außerdem gab es zunehmend Konflikte mit der Regierung Manteuffel, der es nur darauf ankam, eine gefügige Kammer zu haben, die alle Regierungsvorlagen möglichst umgehend und einspruchslos absegnete. Unter dem Eindruck des bonapartistischen Staatsstreichs in Frankreich versuchte die Regierung, sich durch das Mittel massiver Wahlmanipulationen sichere Parlamentsmehrheiten zu verschaffen, was indes nur bedingt gelang. Die kleine Fraktion der äußersten Rechten leistete - seit 1855 von Gerlach geführt - einen zuweilen erbitterten Widerstand gegen von oben gewünschte Maßnahmen und vorgelegte Gesetzentwürfe. Versuche der Regierung, das Parteiorgan, die "Kreuzzeitung" , zu unterdrücken, konnten letztlich nur durch das persönliche Eingreifen des Königs - der allein diese Zeitung regelmäßig zu lesen pflegte! - verhindert werden 53 • Während des Krimkriegs gehörten Gerlach und sein Bruder Leopold zu denen, die mit allem Einfluß, der ihnen und ihrer Partei zur Verfügung stand, einen Kriegseintritt Preußens auf seiten Englands und Frankreichs gegen Rußland zu verhindern versuchten -letztlich mit Erfolg, da auch der König einen Kurs strikter Neutralität verfocht. Von ihren liberalen Gegnern - insbesondere der von Bethmann Hollweg geführten "Wochenblattpartei" - wurden die Konservativen um die Gerlachs und Stahl dafür als "Russenknechte" und "Spreekosaken" verspottet, doch der hierin enthaltene Vorwurf, daß die preußischen Konservativen die Politik Rußlands betrieben, traf schon deshalb nicht zu, weil sie sich ebenfalls gegen einen - von St. Petersburg dringend gewünschten - Kriegseintritt des eigenen Landes auf seiten des Zarenreiches wandten. Ihr Ziel war es - hierin übrigens auch von dem jungen Bismarck, der bereits als Bundestagsgesandter in Frankfurt amtierte, unterstützt - Preußen auf dem Wege unbedingter und strengster Neutralität aus den europäischen Verwicklungen herauszuhalten 54. nalkonservative Publizistik gegen Ständestaat und gegen Polizeistaat. Göttingen 1971 , 62 ff. u . passim. 52 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 577 ff.; Erich Jordan, Friedrich Wilhelm IV. und der preussische Adel bei Umwandlung der ersten Kammer in das Herrenhaus. 1850 bis 1854. Berlin 1909; GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen (wie Anm. 42), 231 ff. 53 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 609 ff. 54 Vgl. ebenda, 631 ff. sowie Heinrich Kunau, Die Stellung der preußischen Konservativen zur äußeren Politik während des Krimkrieges (1853 -1856).

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Auch innenpolitisch konnten die Konservativen unter der Führung Gerlachs und Stahls einige Erfolge verzeichnen. Neben der Wiedereinführung der 1848 abgeschafften Provinzialstände gelang es ihnen, eine ursprünglich geplante grundlegende Neuregelung der ländlichen Gemeindeordnung zu verhindern; allerdings blieben auch Gerlachs Anregungen, nach dem Vorbild des englischen "selfgovernment" eine stärkere Beteiligung des Landadels an der ländlichen Verwaltung einzuführen, ohne Erfolg. Immerhin glückte es, die - 1848 abgeschaffte - gutsherrliche Polizeigewalt wiederherzustellen, doch eine Wiedereinführung der traditionellen preußischen Patrimonialgerichtsbarkeit, auch sie ein Opfer der Revolution, scheiterte nicht nur am Widerstand des Abgeordnetenhauses, sondern vor allem auch an dem Unwillen der Junker, diese - schon in den Zeiten des Vormärz als lästig empfundene - Pflicht erneut zu übernehmen 55. Doch trotz einzelner Erfolge endete die Reaktionszeit kläglich: Den Konservativen war es nicht gelungen, eine feste, an einem einheitlichen Programm festhaltende Partei zu werden; sie verkam zunehmend zu einer reinen Interessengruppe der ostelbischen Großagrarier, die sich wesentlich darauf beschränkten, sich den von der Regierung beabsichtigten Steuererhöhungen zu widersetzen 56. Als sich Gerlach im April 1858 in der Frage der Erhöhung der Zuckerrübensteuer von der Mehrheit seiner Fraktion offen distanzierte, war das Ende seiner Karriere als Parlamentarier gekommen: bei den Ende des Jahres stattfindenden Wahlen wurde er nicht mehr wiedergewählt 57 . Die Ereignisse der Jahre bis 1862: Krankheit und Tod des Königs, des Bruders Leopold und vieler anderer politischer Mitstreiter, darunter Stahl und Savigny, sodann das Anbrechen der liberalen "Neuen Ära" unter dem Regenten und späteren König Wilhelm I., versetzten Gerlach in tiefen Pessimismus. Gab er sich als politischer Publizist nach außen hin auch jetzt noch unverdrossen kämpferisch, so sah er sich selbst doch als politisch gescheitert an und ersehnte nur noch den eigenen Tod: "Blick auf mein verödetes Leben", notierte er Ende der fünfziger Jahre in sein Tagebuch, "die Blüten alle verschwunden, wie viele ohne Frucht! Kein Friedrich Wilhelm IV. mehr, keine Rundschauen, keine Partei, alle Aussichten finster im Staate, noch mehr in der Kirche .... Meine Zeit ist aus und, für mein Leben, auch meine Hoffnungen" 58. Halle a. S. 1914; Kurt Borries, Preußen im Krimkrieg (1853 -1856). Stuttgart 1930; Winfried Baumgart, Zur Außenpolitik Friedrich Wilhelms IV., in: Otto Büsch (Hrsg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit (wie Anm. 1), 150 ff. 55 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (Anm. 1), 645 ff. 56 Vgl. ebenda, 684 ff.; zum Zusammenhang siehe auch GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen (wie Anm. 42), 451 ff. 57 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 682 f., 697. 58 Gerlach, Aufzeichnungen (wie Anm. 22), Bd. II, 223 (30. / 31. 10. 1858); vgl. auch Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 675 ff.

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Er hatte sich gründlich geirrt: Sein zweites politisches Leben, das noch einmal fast zwanzig Jahre dauern sollte, begann erst. Als sich an der Kontroverse um die Reform des preußischen Heeres schließlich der schwere Verfassungskonflikt zwischen König und Abgeordnetenhaus entwickelte 59, schaltete sich Gerlach wiederum aktiv in die preußische Politik ein, wenngleich er jetzt nicht mehr als Parlamentarier, sondern nach außen nur als Publizist agieren konnte, da er nicht mehr ins Abgeordnetenhaus gewählt und vom neuen König Wilhelm I. (mit dem er aus verschiedenen Gründen zerstritten war) - trotz Bismarcks Drängen - auch nicht ins Herrenhaus berufen wurde. Doch griff er nicht nur mit vielgelesenen Pamphleten ("Die Selbständigkeit des preußischen Königtums", "Preußens Kampf gegen die Demokratie", "Preußens Ermannung") in die öffentliche Diskussion ein, sondern wirkte auch im Hintergrund als innen- und verfassungspolitischer Berater des Ministerpräsidenten. Bismarcks Theorie der "Lücke in der Verfassung", mit der er sein Vorgehen im Abgeordnetenhaus rechtfertigte, geht auf Gerlach zurück 60 . Einen Staatsstreich, wie er von Bismarck wohl wenigstens zeitweilig erwogen - und von einigen konservativen Ultras, etwa dem General Edwin von Manteuffel, dem König empfohlen - wurde 61, lehnte Gerlach allerdings strikt ab 62 • Bismarcks Außenpolitik beobachtete Gerlach dagegen mit zunehmendem Unbehagen. Das Festhalten am alten Reichsgedanken, der Ausbau des Bundes gemeinsam mit Österreich, die Freundschaft mit England, das Bündnis mit Rußland und die Frontstellung gegen das immer "revolutionäre" Frankreich, - das waren die Fixpunkte seines statischen außenpolitischen Denkens. Schon den Krieg gegen Dänemark und den Erwerb Schleswig-Holsteins begrüßte er nur mit großer Zurückhaltung. Und 1865 setzte er alle seine außen- und deutschlandpolitischen Hoffnungen auf einen endgültigen Ausgleich zwischen den beiden deutschen Großmächten 63 . Als sich seit Anfang 1866 der preußisch-österreichische Konflikt abzuzeichnen begann, versuchte er Bismarck zu warnen, doch erst als das letztlich von 59 Vgl. hierzu Fritz Löwenthal, Der preußische Verfassungsstreit 1862-1866. München / Leipzig 1914; Kurt Kaminski, Verfassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862 -1866. Königsberg / Berlin 1938; Eugene N. Anderson, The Social and Political Conflict in Prussia 1858-1864. Lincoln / Nebr. 1954; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), Bd. III, 275 - 369. 60 Vgl. hierzu umfassend Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 747 ff., 754 ff., 781 ff. sowie derselbe, Ursprung und Genese der "Lückentheorie" (wie Anm. 43), passim. 61 Vgl. Ludwig Dehio, Die Pläne der Militärpartei und der Konflikt, in: Deutsche Rundschau 213 (1927), 91-100; Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des "Militarismus" in Deutschland, Bd. I: Die altpreußische Tradition (1740-1890).3. Aufl. München 1965,185 ff. 62 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), S. 770-772, gegen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), Bd. III, 348! 63 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 772 ff.

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Gerlach nicht Vorhergesehene geschah: der Bruch des Deutschen Bundes durch Preußen, meldete er sich zu Wort, um mit Bismarck abzurechnen 64 . In seinem "Kreuzzeitungs"-Artikel "Krieg und Bundesreform" formulierte er noch einmal einen leidenschaftlichen Appell für die Aufrechterhaltung des in den Befreiungskriegen begründeten preußisch-österreichischen Dualismus: denn dieser sei "der lebendige Grundcharakter, die reale Verfassung von Deutschland ... Er hat Deutschland fünfzig Jahre Frieden und blühenden Wohlstand und - wie fast nie früher - Freiheit von fremder Einmischung verschafft". Der Deutsche Bund habe zweifellos "große Mängel - aber ich zertrümmere meine Familie oder mein Vaterland nicht deshalb, weil sie Mängel haben". Und er warnte nachdrücklich vor der "Sünde" eines ungerechten Krieges:, ...Hüten wir uns vor. der scheußlichen Irrlehre, als umfaßten Gottes heilige Gebote nicht auch die Gebiete der Politik, der Diplomatie und des Krieges, und als hätten diese Gebiete kein höheres Gesetz als patriotischen Egoismus. Justitia fundamentum regnorum"65. Dieser Artikel, der weit über Deutschland hinaus als politische Sensation empfunden wurde, bedeutete den Bruch Gerlachs nicht nur mit Bismarck, sondern auch mit dem größeren Teil der Konservativen Partei, der sich, vor allem nach dem Sieg von Königgrätz am 3. Juli 1866, von den Erfolgen des Ministerpräsidenten mitreißen ließ. Das ging so weit, daß die konservativen Abgeordneten sogar für die von Bismarck vor dem Abgeordnetenhaus beantragte "Indemnität", also die nachträgliche Bewilligung aller ohne Zustimmung des Parlaments getätigten Ausgaben seit 1862, stimmten. Gerlach war einer der wenigen, die darauf hinwiesen, daß damit die von der Regierung Bismarck bisher vertretene Verfassungsinterpretation praktisch aufgegeben wurde 66. Gerlach ging in die Opposition und veröffentlichte noch im selben Jahr "Die Annexionen und der Norddeutsche Bund", eine Broschüre, die ihm die Türen zu den Hauptvertretern der antipreußischen Opposition in ganz 64 Vgl. ebenda, 794 ff.; zum Zusammenhang siehe u . a. Adam Wandruszka, Schicksalsjahr 1866. Graz / Wien / Köln 1966; Karl Georg Faber, Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), 1-45; Walter Bußmann, Preußen und das Jahr 1866, in: derselbe, Wandel und Kontinuität in Politik und Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Werner pöls. Boppard a. Rh. 1973, 37 - 52; Theodor Schieder, Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte, in: derselbe, Einsichten in die Geschichte. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, 261-282; Hans-Joachim Schoeps, Der Weg ins deutsche Kaiserreich. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980, 88 ff. 65 (Ernst Ludwig von Gerlach), Krieg und Bundesreform, in: Neue Preußische Zeitung, Nr. 105, 8. 5. 1866 (später mehrfach auch separat als Broschüre publiziert); siehe auch Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 803 ff. 66 Vgl. ebenda, 820 ff.

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Deutschland öffnete. Die nächsten Jahre verbrachte er damit, seine Kontakte zu den "Besiegten von 1866" auszubauen. Die Verbindung zur Konservativen Partei Preußens verlor er dabei nicht; seit 1869 kam es zu einer neuen Annäherung an die alten Parteifreunde, die ihm nun - angesichts der von ihnen bekämpften (und von Gerlach seinerzeit vorausgesehenen) "liberalen" Innenpolitik Bismarcks - Abbitte leisten mußten 67. Doch die Opposition der "Besiegten von 1866" scheiterte - einmal abgesehen von den überlegenen politischen Fähigkeiten ihres großen Gegners - vor allem an ihrer inneren Heterogenität: Nord- und süddeutsche Partikularisten, welfentreue Hannoveraner und sächsische Patrioten, bayerische Ultramontane und altkonservative Preußen waren sich nur im Negativen - in ihrer Ablehnung der durch Bismarck seit 1866 geschaffenen inneren Verhältnisse Deutschlands - einig. Eine eigene Zukunftsvision, gar ei~ eigenes tragfähiges Alternativkonzept zur Politik des preußischen Ministerpräsidenten und Kanzlers des Norddeutschen Bundes sollte ihnen jetzt und auch später fehlen. Der Krieg mit Frankreich und die Reichsgrundung 1870/71 lösten in Gerlach zwiespältige Gefühle aus: So sehr er "des Frevlers Napoleon definitiven Fall" begrüßte, blieb er doch über die "Ausstoßung Österreichs aus Deutschland" empört (er pflegte jetzt und später nur vom "RumpfDeutsches-Reich" 68 zu sprechen). Nachdrücklich regte sich in ihm jetzt auch der preußische Patriot, der öffentlich vor einer "Entpreußung" Deutschlands warnte und damit nicht nur im konservativen Lager Widerhall fand. Da der Rückgriff auf die Tradition des Heiligen Reiches seit dem Ende des Deutschen Bundes problematisch geworden war, machte er sich nun zum Anwalt eines "positiven Partikularismus", gegen den "pseudonationalen" Liberalismus, indem er darauf beharrte, "daß der positive Particularismus gründlich national . .. ist und Deutschland einigt auf nationaler Basis, im Gegensatz zum Pseudonationalismus der Nationalliberalen, die Deutschland in ein Germanie une et undivisible a la franc;aise verwandeln wollen" 69. Doch Gerlach konnte sich jetzt nicht mehr dazu entschließen, Hierzu ausführlich ebenda, 810 ff., 832 ff. Aus einer ungedruckten Aufzeichnung, zitiert in: ebenda, 861. 69 Aus einem ungedruckten Brief an seinen Neffen Friedrich von Gerlach, 20. 2. 1871, zitiert in: ebenda, 861. Gerlachs Ausführungen in seiner Broschüre "Das neue Deutsche Reich", Berlin 1871, 50 f. gipfeln denn auch folgerichtig in einem Lob des "Particularismus", der nicht nur "ur- und wesentlich deutsch", sondern auch der "Hauptinhalt der Deutschen Geschichte durch die Jahrhunderte" gewesen sei: "den Particularismus, so weit sein gutes Recht geht in Ehren aufrecht halten ... - das ist des neuen Deutschen Reiches echt deutsche, schöne aber schwere Aufgabe"; insbesondere sei es aber "vorzüglich wichtig, daß der Preußische Particularismus aufrecht erhalten bleibe .. . in seinen Preußischen berechtigten Eigenthümlichkeiten und nicht untergehe in pseudonationalliberalen Brei, sondern vielmehr mit allen tüchtigen Kräften Preußens, materiellen und sittlichen, Deutschland stark mache, aber 67

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die Führung der von Flügelkämpfen zerrissenen und von Wahlniederlagen geschwächten Konservativen Partei erneut zu übernehmen, so sehr einige seiner alten Freunde und Mitstreiter ihn auch dazu drängten. Bereits in den späten sechziger Jahren hatte er sich dem politischen Katholizismus angenähert 70 ; 1871 und 1872 war er Gast der Landtags- und der Reichstagsfraktion des Zentrums gewesen. Nach dem Beginn des Kulturkampfs ließ er sich von den Zentrumswählern im Wahlkreis Mülheim / Ruhr ins Abgeordnetenhaus wählen; allerdings trat er der Fraktion nicht direkt bei, sondern blieb nur ihr Hospitant 71 • Sein Anschluß an das Zentrum, der großes Aufsehen erregte, entsprach der Taktik des Zentrumsführers Ludwig Windthorst, möglichst auch prominente konservative Protestanten an die Partei zu binden, um deren Akzeptanz für evangelische Wähler (insbesondere in der Provinz Hannover) zu erhöhen 72. 1872 meldete sich Gerlach wieder mit einer Broschüre zu Wort. Unter dem Titel "Kaiser und Papst" ergriff er entschieden Partei für die Sache der Katholiken, wenngleich er einen offenen Angriff auf die von ihm abgelehnte Politik der preußischen Regierung vermied. Den Vorwurf der Reichs- und Staatsfeindschaft, den man dem Zentrum gemacht hatte, wies er allerdings deutlich zurück: das Zentrum kämpfe ausschließlich "gegen die liberalen Parteien, . .. deren Haß gegen die katholische Kirche notorisch ist" , und es trete jedem Versuch einer Trennung von Kirche und Staat entgegen. Im Grunde kämpfe der Liberalismus nicht nur gegen die katholische Kirche, sondern auch "gegen jede Aeußerung evangelischen Glaubens und Lebens ... , so oft eine solche in der Evangelischen Kirche hervortritt". Es sei gerade die "offne Feindschaft gegen das Christentum", die "in der Presse und in den Parlamenten .. . in so schamloser Weise sich breit macht in den Reihen derer, .. . auf welche die Regierung sich stützt ... ", - die das Reich und dessen noch frische Fundamente aufs äußerste gefährde, denn nur das allen Konfessionen gemeinsame "Bekenntniß der großen Grundthatsachen und Grundwahrheiten des Christenthums" könne "die festest denkbare Grundlage für das neue Deutsche Reich" darstellen 73. auch wiederum von Deutschland lerne und empfange, - alles nicht nur im Preußischen Interesse sondern auch im Interesse des gesammten Reichs" . 70 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 853 ff. 71 Vgl. ebenda, 874 ff. 72 Vgl. Hans-Georg Aschoff, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation. Das politische Wirken Ludwig Windthorsts. Sögel / Emsland 1988, 68 ff. - Zum Kulturkampf insgesamt siehe auch Georg Franz, Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säkularisation bis zum Abschluß des preußischen Kulturkampfes. München 1954, 185 -280; Erich Schmidt- Volkmar, Der Kulturkampf in Deutschland 1871-1890. Göttingen / Berlin / Frankfurt a . M. 1962; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), Bd. IV, 645-831 ; zur Deutung weiterhin wichtig die wegweisende Abhandlung von Heinrich Bornkamm, Die Staatsidee im Kulturkampf (zuerst 1950), Darmstadt 1969.

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Für Gerlach war der Weg in die Reihen des Zentrums nur konsequent: Sein religiös bestimmtes Weltbild, seine Überzeugung von der nicht nur politischen, sondern auch religiösen Bedeutung der Institutionen eines Gemeinwesens, und nicht zuletzt die von ihm als Bedrohung und Menetekel empfundene, fortschreitende allgemeine Säkularisierung und Entchristlichung mußten ihn schließlich an die Seite derjenigen führen, die sich der antikirchlichen Politik Preußens am entschiedensten widersetzten - und dies waren nun einmal zuerst die Hauptopfer dieser Politik: die Katholiken. Freilich gelang es ihnen nicht, aus Gerlach einen Proselyten zu machen. Er blieb seinem evangelischen Glauben treu und widersetzte sich, obgleich er sich in seinen letzten Lebensjahren dem Katholizismus stark annäherte, allen Versuchen, ihn zu einer Konversion zu veranlassen 74. Dem Kampf gegen Bismarcks Politik ordnete der alte Gerlach alles andere unter; sein ehemaliger politischer Schüler und Freund war für ihn schon seit Ende 1866 nichts anderes mehr als ein "Verbrecher" 75 - was er freilich nicht öffentlich sagte, sondern nur seinem Tagebuch anvertraute. Die, wie er hier ebenfalls formulierte, "schaurige Wüste dieser Bismarckschen Zeit" 76 hat er im wahrsten Sinne des Wortes durchlitten. "Wir gehen ZeITÜttungen entgegen", heißt es 1874 in einem Brief an einen alten Freund, "im Vergleich mit welchen die heutigen uns gering erscheinen werden" 77. Dabei kam es auch zum offenen Zusammenstoß mit Bismarck im Abgeordnetenhaus. Am 17. Dezember 1873 ging es um die Einführung der Zivilehe, die Gerlach sein ganzes Leben lang bekämpft hatte. Nun ergriffen die Liberalen - da Bismarck auf sie im Kampf gegen die katholische Kirche nicht verzichten konnte - ihre Chance, um ihr altes Ziel durchzusetzen, und Bismarck, der selbst lange gegen die Zivilehe gewesen war, fügte sich, wenn auch offensichtlich nur ungern. Gerlach nutzte die für den Kanzler unangenehme Konstellation aus und zitierte ausführlich aus einer Rede Bismarcks, die dieser als junger konservativer Landtagsabgeordneter im November 1849 gegen die Zivilehe gehalten hatte. Der Reichskanzler und Ministerpräsident wiederum versuchte, seinen früheren Gönner und jetzigen Gegner als isolierten Säulenheiligen lächerlich zu machen. Für sich selbst betonte er, daß man von ihm keine "Consistenz des Urtheils in allen schwierigen 73 Alle Zitate aus (Ernst Ludwig von Gerlach), Kaiser und Papst. Berlin 1872, 8, 45,9. 74 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 908 ff. 75 Von der Revolution zum Norddeutschen Bund (wie Anm. 34),483 (Tagebucheintragung vom 28. 8. 1866): "Thadden fragte mich ... , ob ich denn Bismarck für einen Verbrecher hielte. Ich antwortete, ich spräche solche Worte nicht gern aus; ob er Napoleon für einen halte? Er [sagte]: Ja. Ich [erwiderte]: Dann auch Bismarck! ... ". 76 Ungedluckte Tagebucheintragung vom 17. 10. 1873, zitiert in: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 91l. 77 Ungedluckter Brief an Heinrich Eduard Schmieder, 15. 3. 1874, zitiert in: ebenda, 911.

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Fragen, die ein Vierteljahrhundert umfassen", verlangen könne, denn: "Ich treibe keine Fractionspolitik als Minister, sondern ich habe gelernt, meine persönliche U eberzeugung den Bedürfnissen des Staates unterzuordnen" 78. Für die Motive und Notwendigkeiten einer kompromißbereiten, auf Parlamentsmehrheiten angewiesenen Regierungspolitik vermochte Gerlach freilich kein Verständnis aufzubringen - und in der Frage, um die es hier ging, schon gar nicht. Seine letzte politische Broschüre "Die Civilehe und der Reichskanzler", in der er seine Auseinandersetzung mit Bismarck noch einmal ausführlich rekapitulierte und seinen eigenen Standpunkt erneut umfassend darlegte, ließ der Kanzler verbieten; Gerlach wurde von ihm wegen Beleidigung verklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Der alte Mann trat daraufhin von seinem Amt als Magdeburger Oberlandesgerichtspräsident zurück und erhielt die Entlassung vom König bewilligt - ohne ein einziges Wort des Dankes für fast sechzig Jahre treuer, dem preußischen Staat geleisteter Dienste 79 • Trotz zunehmender körperlicher Schwäche kam Gerlach weiterhin seinen Pflichten als Abgeordneter nach, ja er ließ sich Anfang 1877 noch in Osnabrück von einer Koalition aus Katholiken und protestantischen Welfen gegen den erbitterten Widerstand der Nationalliberalen in den Reichstag wählen 80. Sein Mandat konnte er allerdings nicht mehr antreten. Am 16. Februar dieses Jahres wurde er in Berlin von einem Postwagen überfahren und erlag schon zwei Tage später seinen schweren Verletzungen 81. In seinem Testament machte er es seinen beiden Neffen und Erben "noch besonders zur Pflicht, ... der Kirche Gottes als Christen, und als Edelleute dem Vaterlande, besser zu dienen als ich es getan habe" 82. Seine Beerdigung wurde zu einer Demonstration gegen Bismarck und dessen Politik; vom Zentrumsführer Windthorst über den Altkonservativen Kleist-Retzow bis hin zum Generalfeldmarschall Edwin von Manteuffel waren die namhaftesten der Gegner des Kanzlers vertreten. Hingegen fehlte, wie ein junger Zentrums abgeordneter feststellte, "die ganze offizielle Welt, obwohl Gerlach drei preußischen Königen in Ehren gedient hatte" 83 . Den wohl treffendsten Nachruf formulierte einer von Gerlachs katho78 Otto von Bismarck, Die politischen Reden. Historisch-krit,i sche Gesamtausgabe, hrsg. v. Horst Kohl, Stuttgart / Berlin 1892 -1905, Bd. VI, 129. Gerlach druckte seine eigene und Bismarcks Rede noch einmal in seiner letzten politischen Schrift: Die Civilehe und der Reichskanzler. Berlin 1874, ab. 79 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 886 ff. 80 Vgl. ebenda, 913 ff.; Hans Georg Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866 -1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches. Düsseldorf 1987, 53 f., 349. 81 Vgl. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 1), 916 ff. 82 Zitiert in: ebenda, 918.

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lischen Freunden, der am Tag nach der Beerdigung über Gerlach schrieb: "Sein Name wird in der Geschichte des preußischen Staates genannt werden als eines Mannes, der sein Knie nicht vor den Götzen der Zeit gebeugt hat" 84. Man wird Gerlachs Politik - seine Siege, seine Niederlagen, seine Einsichten und seine Irrtümer - nur dann ganz verstehen können, wenn man sich vor Augen hält, daß sein Denken und auch sein politisches Handeln in letzter Konsequenz religiös bestimmt waren. Das bedeutet - und hierin liegt der eigentlich" unpolitische" Kern seiner Politik -, daß es ihm zuerst darauf ankam, richtig, d. h. in Übereinstimmung mit den Geboten Gottes zu handeln und daß der Erfolg dieses Handelns Nebensache war. earl Ludwig von Haller hatte einmal, den zentralen Aspekt dieses Politikverständnisses resümierend, 1849 an Gerlach geschrieben: "Gott fordert von uns nur den Kampf, aber nicht den Sieg" 85, und Gerlach selbst meinte nichts anderes, als er 1851 in einer seiner Rundschauen bemerkte, daß in den konservativen "politischen Bestrebungen ... ein heiliges, ein ewiges Element lebt, ein Element, für welches Sieg oder Niederlage in der Zeit Nebensache ist ... "86. Mit diesen Worten dürfte Ernst Ludwig von Gerlach - und zwar in der knappest möglichen Weise - zugleich die Stärken und die Schwächen seiner Politik ausgedrückt haben.

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Julius Bachem, Erinnerungen eines alten Politikers und Publizisten. Köln 1913,

84 Willy Real (Hrsg.), Karl Friedrich von Savigny 1814-1875. Briefe, Akten, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß eines preußischen Diplomaten der Reichsgrundungszeit. Boppard a. Rh. 1981, Bd. II, 1027 (Eugen Theodor Thissen an Marie von Savigny, 22. 2. 1877). 85 Von der Revolution zum Norddeutschen Bund (wie Anm. 34), Bd. II, 645 (Haller an Gerlach, 28. 11. 1849). 86 (Ernst Ludwig von Gerlach), Zwölf politische Monatsrundschauen vom Juli 1851 bis dahin 1852. Berlin 1852, 86.

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Ein deutscher "Tory democrat"? Joseph Maria von Radowitz (1797-1853) Von David E. Barclay

I. Einführung: Der mißverstandene Außenseiter Joseph Maria von Radowitz ist zugleich eine der bekanntesten und verkanntesten Gestalten der neueren deutschen Geschichte. Als enger Ratgeber Friedrich Wilhelms IV. und Hauptarchitekt der wagemutigen, wenn auch komplizierten und letztendlich gescheiterten preußischen Unionspolitik 1849/50 ist er in die großen Geschichtsbücher des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eingegangen. Sybel und Treitschke haben ihn auf einprägsame, wenn auch unterschiedliche Weise beurteilt; und vor allem Friedrich Meinecke hat ihm in seinem "Radowitz und die deutsche Revolution" (1913) ein bedeutendes literarisches Denkmal gesetzt. 1 Auch andere ältere Historiker - von Herman von Petersdorff und Paul Hassel bis hin zu Sigmund Neumann und Veit Valentin - haben sich intensiv mit Lebenswerk und historischer Bedeutung von Radowitz befaßt. 2 Nach 1945 wurde jedoch relativ wenig über ihn geschrieben, das über das Altbekannte hinausging; 1 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm 1. Vornehmlich nach den preußischen Staatsakten, 4. Aufl. München / Leipzig 1892, Bd. 1, insb. 324-326; Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 5, Bis zur März-Revolution, 7. Aufl. Leipzig 1920, 20-23; Friedrich Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution. Berlin 1913. - Die folgenden Ausführungen sind im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts über "Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie 1840-1861" entstanden. Für finanzielle Unterstützung danke ich der Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn-Bad Godesberg), dem "National Endowrnent for the Humanities" (Washington, D . C.) und dem "Kalamazoo College Faculty Development Program ". 2 Vgl. z. B. Herman 'von Petersdorf!, König Friedrich Wilhelm der Vierte. Stuttgart 1900, 10-12; Paul HasseI, Joseph Maria v. Radowitz, Erster Band, 1797 -1848. Berlin 1905 (der zweite Band wurde von Hassel nie fertiggeste11t; die Studie von Meinecke [wie Anm. 1] gilt als dessen Fortsetzung); Erich Brandenburg, Die Reichsgründung, 2. Aufl. Leipzig 1922, Bd. 1; Sigmund Neumann, Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert. Berlin 1930, 141-146, der Radowitz zu den "Liberal-Konservativen" rechnet; Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848 -1849, 2 Bde. Köln 1977 (Nachdruck der 1. Auflage von 1931/32); Heinrich Ritter von Srbik, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, 4. Aufl. München 1963 (ursprünglich 1935), Bd. 2,17-91, insb. 18-19.

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und zum Teil geben die neueren Standardwerke zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert die manchmal überholten Beschreibungen und Beurteilungen ihrer Vorgänger wieder. 3 Um so erfreulicher ist es deshalb, daß in den letzten Jahren einige Historiker begonnen haben, sich wieder mit Radowitz im Rahmen einer Neubewertung des deutschen Konservatismus im 19. Jahrhundert zu beschäftigen. 4 Denn er war nicht nur ein bedeutender Politiker, sondern auch ein origineller und z. T. vorausschauender konservativer Denker. Wie neuere Forschungen gezeigt haben, waren seine nationalpolitischen Bestrebungen von seinen sozialpolitischen Betrachtungen nicht zu trennen. Radowitz war nicht nur der gescheiterte Prophet eines von Preußen beherrschten Kleindeutschlands; vielmehr versuchte er, wie andere (und wohl erfolgreichere) Zeitgenossen wie Friedrich Julius Stahl, das konservative Gedankengut, und vor allem die Traditionen eines starken Königtums, den Wirklichkeiten eines neuen Zeitalters anzupassen. Schon seit den frühen 1840er Jahren, wenn nicht schon früher, war er überzeugt, daß eine wiedererstarkte Monarchie es nicht mehr versäumen dürfte, der sozialen Frage und der "Idee der Nationalität" - den großen Fragen der Zeit - Rechnung zu tragen. Da es außerdem schwer fällt, ihn nach strengen ideologischen Kriterien einzuordnen, könnte man ihn - vor allem angesichts seines konservativen Reformismus - vielleicht als Vorbild oder Variante einer den deutschen Gegebenheiten angepaßten "Tory democracy" ansehen. Ein Ziel der folgenden Ausführungen ist es also, dieser Möglichkeit nachzugehen, wie auch 3 Vgl. z. B. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, der Radowitz nur selten erwähnt, und Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 -1850, 3. Aufl. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1988, 343, der Radowitz als "nationalkonservativ" einstuft. Vgl. ferner die neueren ausgewogenen Darstellungen von Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 -1866. Berlin 1985, 243 -244,314-317; Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49. Frankfurt am Main 1985, 218-222; James J. Sheehan, German History 1770-1866. Oxford 1989, 673-674, 711-715; Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie. Berlin 1990, 293307. 4 Vgl. z. B. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, 211, 212, 220, 240 - 241, 288, 295 - 296, 303 und passim; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2. Bd., Von der Reformära bis zur industriellen und politischen "Deutschen Doppelrevolution" 1815 -1845/49. München 1987, 454-455; Hermann Beck, Conservatives, Bureaucracy, and the Social Question in Prussia (1815 -1848). Ph. D. Diss. University of California. Los Angeles 1988, 61-87; ders., Conservatives and the Social Question in Nineteenth-Century Prussia, in: Larry Eugene Jones / James Retallack (Hrsg.), Between Reform, Reaction, and Resistance: Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945. Providence / Oxford 1993, 74-81; ders., The Origins of the Authoritarian Welfare State in Prussia: Conservatives, Bureaucracy, and the Social Question (1815 -1871). Ann Arbor / Michigan (erscheint 1994).

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das Ineinandergreifen seiner sozial- und nationalpolitischen Gedankengänge und Zielsetzungen darzustellen. Daß er mit seinen Zielsetzungen nicht gerade erfolgreich war, ist hinlänglich bekannt. Dies hing nicht nur mit seinen eigenen persönlichen und politischen Defiziten zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß Radowitz - der ungarnstämmige, katholische, häufig mißverstandene Außenseiter - in Potsdam und Berlin nie richtig zu Hause und von seinen dortigen Gegnern besonders heftig angefeindet war. Bezeichnend dafür war die ätzende Bemerkung des Karl August Varnhagen von Ense, der Radowitz als herzlos und ehrgeizig beschrieb, "ein Gaukler und Charlatan durch und durch; ein politischer Cagliostro [... ]".5 Auch ehemalige Freunde konnten mit ihrer Kritik erbarmungslos sein. Nach Leopold von Gerlach, der sich in den 1840er Jahren von Radowitz abgewandt hatte, war dieser "unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen, [... ] eitel, feige, von dunkler Herkunft, vielfach kompromittiert, hochfahrend, römisch usw." Anfang 1850 meinte Gerlach ferner: "Man kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie Radowitz unseren bösen Genius nennen." 6 Hinter Gerlachs Kritik steckte wohl eine gewisse Unzufriedenheit mit seiner eigenen Stellung in der preußischen Politik und am Hof Friedrich Wilhelms IV. Dieser schillernde, geistig begabte, rastlose, widerspruchsvolle Herrscher hatte das unersättliche Bedürfnis, sich mit interessanten Gesprächspartnern zu unterhalten und vielen, sich oft widersprechenden Ratgebern zuzuhören. Dabei spielten alte Freunde und Vertraute wie Leopold von Gerlach, die den König seit Jahrzehnten gekannt hatten, eine besonders wichtige Rolle. Aber das Vertrauensverhältnis, das Friedrich Wilhelm IV. mit Joseph Maria von Radowitz verband, war ganz einmalig. Auch mit dem preußischen Diplomaten Christian Carl Josias Bunsen hatte der König ein besonders enges Verhältnis; so mußte Leopold von Gerlach im November 1848 - d. h. nach dem Triumph der von ihm maßgeblich mitgestalteten Kamarilla - konstatieren: "Bunsen und Radowitz sind noch immer seine Ideale, uns hält er im Vergleich mit diesen beiden für Rindviehe. "7 Aber auch Bunsen konnte sich der königlichen Gunst nicht im 5 K. A. Varnhagen von Ense, Tagebücher, hrsg. von Ludmilla Assing, 2. Aufl., Bd. 2. Leipzig 1862, 48 (Eintragung vom 27 . März 1842), und Bd. 6. Leipzig 1862, 337 (Eintragung vom 27. August 1849). 6 Leopold von Gerlach an Ernst Ludwig von Gerlach, 30. September 1850, in: Hellrnut Diwald (Hrsg.), Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848-1866. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde. Göttingen 1970, Bd. 2, 709; Leopold von Gerlach, Tagebuch (21. Januar 1850), Gerlach-Archiv am Institut für politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg (künftig zitiert: GA), Abschriften aus dem Nachlaß Leopold von Gerlachs (künftig zitiert: Abschriften), Bd. 7, 19.

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gleichen Maß wie Radowitz erfreuen. Wie ein badischer Diplomat berichtete, "Der Platz, den Herr von Radowitz im Herzen und Geiste seines Herrn einnimmt, wird immer der erste sein" , eine Bemerkung, die der König selbst bestätigte, als er Radowitz als "mon ami intime de coeur & ame" beschrieb: "Ich bin sein, er ist mein innigster und treuester Freund." 8 Die historische Bedeutung von Radowitz hängt also zum großen Teil mit seiner bemerkenswerten Beziehung zu Friedrich Wilhelm IV. zusammen. Ohne diese Verbindung hätte Radowitz wahrscheinlich im preußischen Staatsdienst nicht sohoch aufsteigen können, und bestimmt hätte er nicht die Möglichkeit gehabt, die preußische Deutschlandpolitik so maßgeblich zu beeinflussen. Ein weiteres Ziel dieser Ausführungen wird es deshalb sein, diese gleichzeitig rätselhafte und historisch bedeutsame Freundschaft näher zu ergründen.

11. Frühes Leben bis 1840 Joseph Maria von Radowitz ist am 6. Februar 1797 in Blankenburg / Harz geboren. Er war anderthalb Jahre jünger als Friedrich Wilhelm IV., und mit Wilhelm 1. - der ihn 34 Jahre überleben sollte - fast gleichaltrig. Väterlicherseits stammte er aus Ungarn, und vielleicht ursprünglich Serbien; die Familie war katholisch. Der Vater, ebenfalls Joseph Maria genannt, wurde noch in Ungarn geboren, zog aber schon als Kind mit den Eltern nach Sachsen. 1796 erwarb er in Blankenburg einen Ratstitel vom Herzog von Braunschweig, und im gleichen Jahr heiratete er Friderike Therese von Könitz, Tochter eines sächsisch-coburgischen Offiziers. Der junge Joseph Maria war ihr einziges Kind. Kurz nach dessen Geburt zog die Familie weiter nach Altenburg, wo der Junge seine Kindheit und Schulzeit verbrachte. Ursprünglich im protestantischen Glauben seiner Mutter erzogen, wurde er mit 13 Jahren katholisch. Nach allen biographischen Darstellungen wuchs er in persönlicher Isolation auf; von Anfang an war er auf sich selbst gestellt. 9 Schon zu dieser Zeit ließen sich gewisse 7

238.

Leopold von Gerlach, Tagebuch (19. November 1848), GA, Abschriften, Bd. 6,

8 Wilhelm Freiherr Rivalier von Meysenbug an Ludwig Freiherrn Rüdt von Collenberg-Bödigheim, 7. September 1852, Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 48/ 2649; Friedrich Wilhelm IV. an Kaiser Nikolaus 1., 23. September 1850, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg (künftig zitiert: GStAPK Merseburg), Hausarchiv (künftig zitiert: HA) Rep. 50 J Nr. 1205, BI. 127; Friedrich Wilhelm IV., Randbemerkung auf Schreiben von Ernst Freiherr Senfft von Pilsach, 14. August 1850, in: Paul Haake, Ernst Freiherr Senfft von Pilsach als Politiker, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 53, 1941, 82. 9 Die wichtigsten biographischen Darstellungen sind: R. von LiliencTon, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 26. Bd. Berlin 1970 (Nachdruck der 1. Auflage von 1888), 141-152; Hassel, Radowitz (wie Anm. 2); Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1);

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Persönlichkeitsmerkmale feststellen, die für sein späteres Leben bezeichnend sein sollten. Wie er später über diese Zeit schrieb: "Der Umstand, daß ich ohne Geschwister und sonstige nahe Verwandte in einer sehr isolierten Existenz meine ersten Jahre verlebt habe, ist wahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf meine ganze Entwicklung geblieben. Ich fing früh an sehr viel zu lesen und mir über das Gelesene Rechenschaft zu geben, eine Gewohnheit, die dazu beigetragen hat, mein Gedächtnis und die Fähigkeit zu schärfen, das Wesentliche bei den Büchern von den Nebensachen zu unterscheiden und ersteres dauernd einzuprägen. Das Lesen, Denken, Lernen wurde für mich zu einer wahren Leidenschaft, gegen welche all~ sonstigen Interessen des kindlichen Lebens zurücktraten." 10 Hinter dem Übertritt des Jungen zum Katholizismus steckte wohl der Gedanke des älteren Radowitz, die Karriere seines Sohns im königlichwestfälischen Militärdienst, der bekanntlich von der französischen Schutzmacht beherrscht war, zu fördern. 11 Schon zwei Jahre zuvor hatte der junge Radowitz seine militärische Erziehung in Mainz aufgenommen, das dann in Charleroi und in der angesehenen polytechnischen Schule zu Paris fortgesetzt wurde. Dort konnte er eine mathematische Gabe entwickeln, die für seine spätere Persönlichkeitsentwicklung bezeichnend war. In seinen Erinnerungen berichtet er über seine körperliche wie auch geistige Frühreife; und in der Tat trat er schon Anfang 1812 als Eleve-Unterleutnant in die westfälische Artillerie- und Ingenieurschule zu Kassel ein. Ende des Jahres ging er als frischgekürter Leutnant der Artillerie in den Krieg, und zwar auf französischer Seite (was in späteren Jahren Hohn und Ärger bei seinen preußischen Gegnern hervorrief). Dabei führte er eine Batterie, wurde Emil Ritter, Radowitz. Ein katholischer Staatsmann in Preußen. Verfassungs- und konfessionsgeschichtliche Studie. Köln 1948; Warren B . Morris, Jr., The Road to Olmütz: The Career of Joseph Maria von Radowitz. New York 1976; Konrad Canis, Joseph Maria von Radowitz. Konterrevolution und preußische Unionspolitik, in: Helmut Bleiber / Walter Schmidt / Rolf Weber (Hrsg.), Männer der Revolution von 1848, Bd. 2. Berlin (Ost) 1987, 449-486 . Leider bieten die Arbeiten von Ritter und Morris nur wenig, das nicht schon bei Meinecke zu finden ist. Der Aufsatz von Canis, der vorwiegend die Unionspolitik behandelt, ist trotz vorprogrammierter ideologischer Einseitigkeit wichtig, weil größtenteils auf archivalischen Forschungen gestützt. 10 Joseph Maria von Radowitz, Zur Geschichte meines Lebens, in: HasseI, Radowitz (wie Anm. 2), 4. Die Lebenserinnerungen von Radowitz, die zwischen 1837 und 1848 geschrieben wurden, bilden den ersten Teil der Arbeit von Hassel. Die wichtigsten Werke von Radowitz sind zu finden in: Joseph Maria von Radowitz, Gesammelte Schriften, 5 Bde. Berlin 1852/53; ders ., Ausgewählte Schriften, hrsg. von Wilhelm Corvinus, 3 Bde. Regensburg 1911; ders., Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Friedrich Meinecke, München 1921; ders., Josef von Radowitz, Nachgelassene Briefe und Aufzeichnungen zur Geschichte der Jahre 1848-1853, hrsg. von Walter Möring. Stuttgart / Berlin 1922. Der schriftliche Nachlaß von Radowitz befindet sich in: GStAPK Merseburg, Rep. 92 Nachlaß Joseph Maria von Radowitz d . Ä. (sein Sohn, auch Joseph Maria genannt, gilt als "der Jüngere"). 11 Canis, Radowitz (wie Anm. 9), 410. Vgl. HasseI, Radowitz (wie Anm. 2), 9-10 .

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verwundet und bekam sogar die französische Legion d'honneur. 12 Nach der "Völkerschlacht" von Leipzig wurde er Kriegsgefangener; Anfang 1814 trat er schließlich in das neugegründete kurhessische Armeekorps ein und nahm an den letzten Kampfhandlungen teil. Mit nur 18 Jahren bekam er dann eine Stelle als Mathematiklehrer an der Kadettenschule in Kassel. Die nächsten 6 Jahre hat Radowitz rückblickend aus "die fruchtbarsten meines Lebens" beschrieben, weil er endlich die Zeit und die Muße hatte, sich einem weitgefächerten Studium zu widmen. Wie viele seiner Altersgenossen war auch er in diesen Jahren sehr stark von der Rückbesinnung auf christliche Glaubensprinzipien eingenommen. Obwohl seine Eltern religiös indifferent gewesen waren, kam der mathematisch und militärwissenschaftlich begabte Mann bald zum Schluß, daß "das Rätsel des Daseins nicht mit Integralrechnungen und Fortifikation gelöst werden könne". Verstärkt wurden diese neuen religiösen Empfindungen durch seine Bekanntschaft mit der einflußreichen und streng gläubigen Familie von Scherzell in Kassel. 13 Durch diese Beziehung, die zu einer wahren Freundschaft gedieh, konnte der junge Mann endlich "aus meiner einsamen Abgeschlossenheit" heraustreten. Dabei lernte er den preußischen Staatsmann und künftigen Außenminister Karl Freiherrn von Canitz und Dallwitz kennen, der später seine Karriere am preußischen Hof fördern sollte. 14 Seinem Wirken im kurhessischen Dienst wurde kein glückliches Ende beschert. 1820 wurde er Erzieher des späteren hessischen Kurprinzen, dessen Vater 1821 selber zum Kurfürsten avancierte. Wegen seines absolutistischen Regierungsstils und seines skandalösen Ehebruchs kam es bald zu großen Auseinandersetzungen in Kurhessen, wobei Radowitz die Kurfürstin (Schwester Friedrich Wilhelms III. von Preußen) und deren Sohn unterstützte. Im Juni 1823 wurde er aus dem Dienst entlassen und gezwungen, das Land selbst zu verlassen. So kam es zu seiner Entscheidung für Preußen, dem er 30 Jahre lang dienen sollte. Nach kurzer Zeit gelang es ihm, auch in seiner neuen Wahlheimat neue Bindungen zu knüpfen und wichtige Wirkungsmöglichkeiten zu bekommen. Durch Vermittlung des preußischen Generals Karl von Müffling wurde er Hauptmann beim Großen Generalstab in Berlin. Anschließend wurde er 1826 Mitglied des Direktoriums der "Allgemeinen Kriegsschule", 1828 Major und 1830 Chef ad interim des Generalstabs der Artillerie, wo er mit dem Prinzen August, Johann Krauseneck und Carl von Clausewitz eng

12 13

Ebd., 147. Ebd., 151-152.

14 Gemot Dallinger, Kar! von Canitz und Dallwitz. Ein preußischer Minister des Vormärz. Darstellung und Quellen. Köln / Berlin 1969, 15. Zwischen Canitz und Radowitz entwickelte sich eine Duzfreundschaft.

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zusammenarbeiten konnte. Außerdem vertrat er nach wie vor die Interessen des von seinem Vater entfremdeten hessischen Kurprinzen. 15 Gleichzeitig eröffneten sich für Radowitz neue gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeiten, u. a. wegen seiner alten Bekanntschaft mit dem Freiherrn von Canitz. So lernte er in den ersten Jahren seines Berliner Aufenthalts mehrere Menschen kennen, mit denen er bald in enge Beziehungen eintrat: die Bernstorffs, die Radziwills und vor allem die Brüder Gerlach Wilhelm, Leopold, Ludwig und Otto. Von Leopold von Gerlach (17901861), seinem späteren Gegner, war er anfänglich besonders angetan, wie er in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1837 berichtet: "Von niemand habe ich mehr An- und Aufregung empfangen als von Leopold Gerlach; sein Scharfsinn, der sich nach allen Seiten hin eigene Bahnen bricht, hat mich unzählig oft zum Widerspruche gereizt, aber auch da, wo ich auf religiösem oder politischem Gebiete anders denke und empfinde, nie ohne Belehrung entlassen. " 16 Mit dem Kreis von ernsten und gleichgesinnten Freunden um die Brüder Gerlach konnte er seine eigenen konservativen Ansichten entwickeln und vertiefen; und dabei machte der scharfdenkende Radowitz einen besonders starken Eindruck, u. a. wegen seines Fremdseins und der damit verbundenen exotischen Athmosphäre, die ihn stets umgab. Wie die Gräfin Elise von Bernstorff in ihren bekannten Erinnerungen berichtet, war diese Gruppe besonders "durch Gelehrsamkeit" ausgezeichnet, "so daß es eine Lust war, ihnen zuzuhören - wenn man gute Nerven hatte, denn sie redeten alle mit Stentorstimme. Sonderbarerweise war Radowitz der einzige Katholik in diesem eng verbundenen Kreise, der sich durch seine Orthodoxie auszeichnete und sich häufig in religiöse Streitfragen vertiefte." 17 Und über die gesellschaftliche Wirkung von Radowitz in diesen Jahren konnte Caroline von Rochow schreiben: "Ein Paar stechende schwarze Augen konstrastierten mit einer blemen Gesichtsfarbe; schöne, feine Züge mit etwas Aufgedunsenem, das an mönchisches Wesen erinnerte; sowohl Haltung wie Ausdruck und Auftreten zeigten ein gewisses verletzendes Selbstbewußtsein, ja Eitelkeit, die allerdings durch bedeutende Gaben gerechtfertigt erschienen." Radowitz sei durch sein "enormes Wis15 Zur militärischen Laufbahn von Radowitz siehe Kurt von PriesdorfJ, Soldatisches Führerturn, Bd. 6, Teil 9: Die preußischen Generale vom Regierungsantritt König Friedrich Wilhelm IV. bis zum Jahre 1858. Hamburg 1938, 222-225. Vgl. ferner Eric Dorn Brose, The Politics of Technological Change in Prussia: Out of the Shadow of Antiquity, 1809 -1848. Princeton 1992, 72, 76, 83, 86, 258. 16 Hassel, Radowitz (wie Anm.2), 23. Vgl. den weniger freundlichen Rückblick von Gerlach in seinem Tagebuch (Frühjahr 1848), GA, Abschriften, Bd. 6,5-7. 17 Gräfin Elise von BernstorfJ, Ein Bild aus der Zeit von 1789 bis 1835. Aus ihren Aufzeichnungen, 2 Bde., 2. Auf!. Berlin 1896, Bd. 2, 41; auch zitiert in Hans-Joachim Schoeps, Ungedrucktes aus den Tagebüchern Ludwig von Gerlachs 1826 -1829, in: ders. (Hrsg.), Neue Quellen zur Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert. Berlin 1968, 128. Vgl. Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 191.

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sen, durch unglaubliches Gedächtnis und großen, ernsten Fleiß" gekennzeichnet, die ihn "zum Meister der Unterhaltung" machten: "Man konnte stets etwas von ihm lernen, wenn man auch durch die etwas annihilierende Weise, mit der er andere behandelte, verletzt wurde." 18 Über seine Kontakte in der hohen Berliner Gesellschaft konnte Radowitz 1826 seine künftige Frau kennenlernen. Marie Gräfin von Voß (1807 -1889), aus dem Haus Groß-Giewitz, gehörte einer angesehenen preußischen Adelsfamilie an. Die beiden heirateten 1828; damit war der katholische Nichtpreuße Radowitz in die Reihen der preußischen Elite aufgestiegen. Die Ehe war überaus glücklich. Das Ehepaar Radowitz hatte 5 Kinder, von denen der jüngste, auch Joseph Maria genannt (1839 -1912), später ein bedeutender preußischer Diplomat wurde. 19 Durch Müfflings Vermittlung hatte Radowitz kurz nach seiner Ankunft in Preußen den Auftrag bekommen, im Frühjahr und im Sommer 1824 den Prinzen Albrecht, jüngsten Sohn Friedrich Wilhelms III., zu begleiten und ihm Vorträge über die Mathematik und die militärischen Wissenschaften zu erteilen. Dabei lernte er den preußischen Kronprinzen, der dem GerlachKreis politisch, kirchlich und etwas später persönlich sehr nahe stand, kennen; es war der Anfang einer langen, intimen und schicksalhaften Freundschaft. 20 Von Radowitz war der Kronprinz sofort sehr angetan; er war überzeugt, wie er 1829 schrieb, "daß es wenig edleren, reineren und klügeren Menschen gibt als ihn." 21 In späteren Jahren, vor allem nach seiner Thronbesteigung 1840, wurde seine Verehrung sogar schwärmerischer. Radowitz sei "göttlich", ein "Wundermann". Bezeichnend für seine Beurteilung war ein Vergleich, den er 1851 zwischen Radowitz und Ernst Ludwig von Gerlach zog: "Beyde bauen auf dem selben Grunde nach denselben Prinzipien, für dieselbe Sache. Es beliebt aber Gerlach nicht höher athmen zu können als auf der Höhe der Righi, während Radowitz sein Lebens Element in der des Montblanc noch findet. Darum beißt ihn Gerlach in den Fuß, denn Niemand soll weiter sehen als er selbst. Jeder soll da ,schwiemlich' werden, wo er es wird. Helas!" 22 18 CaroLine v. Rochow geb. v. d. Marwitz / Marie de La Motte-Fouque, Vom Leben am preußischen Hofe 1815-1852, bearb. v. Luise v. d. Marwitz. Berlin 1908, 196. 19 Priesdorfj, Soldatisches Führerturn (wie Anm. 15), 223. 20 Friedrich Wilhelm beschreibt seine ersten Begegnungen mit Radowitz in einem Schreiben an seinen russischen Schwager, Nikolaus 1., vom 23. September 1850, GStAPK Merseburg, HA Rep.50 J Nr. 1205, BI. 127. VgI. Hassel, Radowitz (wie Anm. 2),21-23. 21 Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.) an Friedrich Wilhelm 111., 4. Juni 1829, GStAPK Merseburg, HA Rep. 50 J Nr. 1006, Bd. III, BI. 8. 22 Friedrich Wilhelm IV., Randbemerkung auf Bericht von Carl Wilhelm Saegert, 10. April 1851, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (künftig zitiert: GStAPK Berlin, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv (künftig zitiert: BPH), Rep. 192 Nachlaß Carl Wilhelm Saegert Nr. 37.

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Die Wurzeln dieser tiefgehenden und bemerkenswerten Freundschaft bleiben immer noch schwer ergründbar. Nach der Entfremdung zwischen Radowitz und dem Gerlach-Kreis kamen die Anhänger des letzteren zum Schluß, daß Radowitz ein Schmeichler gewesen sei, der die weitschweifenden "Phantastereien" des Königs verstärkt habe; nach Otto von Bismarck war Radowitz der geschickte "Garderobier der mittelalterlichen Phantasie des Königs." 23 Radowitz selbst sei "arm an Gedanken", meinte Leopold von Gerlach, während Friedrich Wilhelm mehr Ideen aufwarf, "als er verdauen und vertragen kann." Radowitz könne aber - so Gerlach ferner - den König durch seine Gedächtnisstärke beeindrucken, wie auch mit seinen Fähigkeiten in "Mathematik ·und Logik, zwei Wissenschaften, welche dem König gänzlich fehlen." In den Anschauungen von Radowitz habe Friedrich Wilhelm "das eigene Kind, Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein" in einem neuen Gewande bewundert. 24 Gerlachs Kritik trifft nur zum Teil zu. Wie kein anderer Mensch verstand Radowitz die Vielseitigkeit des komplizierten Projekts Friedrich Wilhelms IV., die preußische Monarchie gleichzeitig auf historischer und neuer Grundlage zu befestigen. In seiner Radowitz-Biographie hat Friedrich Meinecke zutreffend bemerkt, daß Radowitz dem König viel mehr bot als andere Freunde und Ratgeber: "Alles, was im Könige aus dem engeren preußischen Milieu hinausstrebte, fand bei Radowitz Resonanz und Hülfe. Er, der Alles zu wissen und Alles zu können schien, befriedigte gleichzeitig und stärker wie jeder Andere die beiden stärksten Bedürfnisse seines Wesens, das ästhetische und das religiös-politische." 25 Dabei war Radowitz kein naiver Bewunderer seines kronprinzlichen (und später königlichen) Herrn. Er erkannte durchaus die schwachen und problematischen wie auch die positiven und sogar brillanten Seiten Friedrich Wilhelms. 26 Über die Möglichkeiten, seine eigenen Ideen und diejenigen des Königs zu verwirklichen, dachte er jedoch von Anfang an pessimistisch. Was waren die politischen Ideen und die religiösen Ansichten von Radowitz? Erst nach 1815 hatte er begonnen, sich für solche Fragen zu interessieren. 27 Schon in seiner kurhessischen Zeit hatte er angefangen, sich mit 23 Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 15: Erinnerung und Gedanke, hrsg. von Gerhard Ritter / Rudolf Stadelmann. Berlin 1932, 50. 24 Leopold von Gerlach, Tagebuch (11. Dezember 1850), GA, Abschriften, Bd. 7, 243-244. 25 Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 39. 26 Vgl. die Bemerkungen in seinen Erinnerungen, in: Hassel, Radowitz (wie Anm. 2),22-23, mit seinem kurzen Aufsatz vom 27. November 1851, "Meine Politik und der König", in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 390-391. 27 Leopold von Gerlach berichtet: "Ursprünglich war Radowitz bonapartistischer Absolutist, wovon er sich aber schon durch Studium in Cassel emancipirt hatte." Tagebuch (Frühjahr 1848), GA, Abschriften, Bd. 6, 5. Eher war Radowitz politisch indifferent gewesen.

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Hallers "Restauration der Staatswissenschaften" zu beschäftigen, ein Werk, das einen nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübte, auch wenn er mit ihm nicht immer einverstanden war. Hierzu kam die Lektüre wichtiger Schriften von Edmund Burke ("Reflections on the Revolution in France"), Montlosier ("De la Monarchie fran~aise") und Joseph Fievee ("Sur le necessite d'une religion").28 Schließlich fand er im Kreis um die Brüder Gerlach eine ihm sympathische Gruppe, bei der er seine eigenen Ideen weiter entwickeln konnte. In den 1820er und 1830er Jahren vertrat er ständisch-organische, christlich-germanische Auffassungen, die für den sogenannten "Kronprinzenkreis" um die Gerlachs und den Thronfolger mehr oder weniger typisch waren. Vom Geist des antinapoleonischen Befreiungskriegs und der Erweckungsbewegung erfüllt, verabscheuten diese jungen Konservativen die Auswirkungen sowohl des revolutionären Jakobinismus als auch des bürokratischen Despotismus Hardenbergscher Prägung. Stattdessen verteidigten sie das göttliche Recht und die göttliche Ordnung, die sich in der Geschichte offenbare, wie auch die durch Gottes Gnaden eingesetzte Monarchie auf historisch-ständischer - und nicht auf " mechanistischer " , "abstrakter" oder "absolutistischer" - Grundlage. In diesen frühen Jahren waren die Ansichten von Radowitz hauptsächlich durch seinen Katholizismus von denjenigen seiner Freunde zu unterscheiden. Radowitz galt als "Ultra", der u. a. - und zum Verdruß seiner protestantischen Freunde - die englische "glorious revolution" und die Traditionen des englischen Parlamentarismus wie auch alle sonstigen Aspekte des aufsteigenden bürgerlichen Liberalismus heftig kritisierte. 29 Dabei erntete er schon früh das Mißfallen sowohl der bürokratischen Ratgeber Friedrich Wilhelms III. als auch des Rests der alten preußischen Reformer. So wurde er 1836 vom Hausminister Fürst Wittgenstein, mächtigem Intimus Friedrich Wilhelms III. und Metternichs, als "ein unruhiger, ehrgeiziger, intriganter, fanatischer Kopf, ultraaristokratisch " bezeichnet; und der bekannte General Grolman hatte einige Jahre vorher gesagt, "er spräche nicht gern mit Radowitz, um sich nicht mit ihm schlagen zu müssen." 30

28 Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 9.

29 Hans-Christo! Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen. Diss. phil. Göttingen 1991, 96-97 , 101102 (Druckfassung erscheint demnächst in der Reihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Vgl. die nicht untypische Tagebuchbemerkung Ernst Ludwig von Gerlachs über ein Gespräch mit Radowitz Ende Dezember 1828: "Er verteidigte die Tortur. Die Seele habe dadurch von den Banden des Körpers freigemacht werden sollen, indem man diesen ein Gegengewicht gegeben." Zitiert in: Schoeps, Ungedrucktes (wie Anm. 17), 134. 30 Hans-Joachim Schoeps, Metternichs Kampf gegen die Revolution. Weltanschauung in Briefen, in: ders. (Hrsg.), Neue Quellen (wie Anm. 17), 199; ders., Ungedrucktes, in: ebd., 134.

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Schon vor 1830 hatte Radowitz angefangen, sich schriftlich zu betätigen, hauptsächlich zu wissenschaftlichen Themen. Es war vor allem der Schock der Juli-Revolution, die er selber in Brüssel erlebte, der ihn und viele Gleichgesinnte anspornte, sich stärker publizistisch zu engagieren. Wie Radowitz später schrieb: "wir fühlten, daß der Moment gekommen sei, die großen politischen Fehler, welche seit 1815 begangen worden, die gänzliche Ideenlosigkeit der Männer, welche seit fünfzehn Jahren Europas Geschicke geleitet hatten, schwer zu büßen. Ein neuer Abschnitt für die Geschichte des Weltteils war eingetreten und nochmals in Frage gestellt, ob die alten christlich-rechtlichen Elemente des europäischen Staatslebens gänzlich vertilgt werden und einer neuen Gestaltung der Dinge Platz machen sollten." 31 Das Ergebnis war das berühmte "Berliner politische Wochenblatt", mit dem Radowitz von Anfang an aufs engste verbunden war. 1831 gegründet, sollte es "eine politische Zeitung in guter Doktrin" sein, die einen unerbittlichen Kampf gegen alle Erscheinungsformen der "Revolution", vom Jakobinismus und Liberalismus bis hin zum bürokratischen Despotismus, führen sollte. Dem Redaktionskomitee gehörten Radowitz, Carl von Voß-Buch, Karl von Canitz, Wilhelm von Gerlach und Leopold von Gerlach an; der katholische Konvertit und außerordentliche Professor an der Universität Berlin, Carl Ernst Jarcke, war Chefredakteur. 32 Von Anfang an hatte das "Berliner politische Wochenblatt" mit einflußreichen Gegnern, sowohl von konservativ-protestantischer und katholischer als auch von bürokratisch-gouvernementaler Seite zu rechnen. Namhafte Persönlichkeiten wie Ernst Wilhelm Hengstenberg und Joseph Görres betrachteten die Zeitung mit Skepsis und Mißtrauen. 33 Mit ihren antimodemen und antikapitalistischen Affekten und ihrem herausfordernden Stil gelang es der Zeitung trotzdem, Einfluß zu gewinnen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zumal es bekannt war, daß die Redaktion dem KronprinHassei, Radowitz (wie Anm. 2),41-42. Kraus, Gerlach (wie Anm. 29), 97. Zur Gründung und zur Geschichte des "Berliner politischen Wochenblatts" vgl. ferner Hassei, Radowitz (wie Anm. 2), 4344, 220-226; Wollgang Scheel, Das "Berliner Politische Wochenblatt" und die politische und soziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeitkritik in Deutschland. Göttingen 1964; Robert M. Berdahl, The Politics of the Prussian Nobility: The Development of a Conservative Ideology 17701848. Princeton 1988, 258-263; Beck, Conservatives, Bureaucracy, and the Social Question (wie Anm.4), 22-60; ders., Conservatives and the Social Question (wie Anm. 4), 67 -74; und neuerdings Lothar Dittmer, Beamtenkonservativismus und Modernisierung. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Konservativen Partei in Preußen 1810-1848/49. Stuttgart 1992, 131-145, der allerdings irreführend behauptet, das Ziel des Wochenblattkreises habe "in der Wahrung der Interessen der absoluten Monarchie" bestanden (131). Die genaue Rolle von Radowitz bei der Gründung des Blatts bleibt noch ungeklärt. 33 Kraus, Gerlach (wie Anm. 29), 98; Dittmer, Beamtenkonservativismus (wie Anm. 32),139-140. 31

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zen Friedrich Wilhelm persönlich und politisch nahe stand; und als eine der ersten, wirksamen Zeitungen von rechts spielte sie eine besonders bedeutsame historische Rolle. 34 Der inneren Eintracht des Wochenblattkreises war jedoch kein langes Leben beschieden. Spannungen innerhalb der Redaktion gab es relativ früh; Jarcke verabschiedete sich schon 1832, und zwei Jahre später verstarb Wilhelm von Gerlach, der eine besonders wirksame Integrationsfigur gewesen war. Nach dessen Tod verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Radowitz und den Brüdern Leopold und Ludwig von Gerlach. 35 Die überkonfessionelle Einheit der Redaktion wurde ferner durch den bekannten Kölner Mischehenstreit beeinträchtigt; und 1841 stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Radowitz war aber schon längst fort, und vom Mischehenstreit konnte er sich größtenteils fernhalten, auch wenn er darüber tief besorgt war. Wie wir schon gesehen haben, hatte er einflußreiche Gegner am Hof und beim Militär, die ihn aus Berlin entfernen und vom Kronprinzen trennen wollten. 1836 bekam er deshalb eine neue, durchaus verantwortungsvolle Stelle als preußischer Militärbevollmächtigter beim Deutschen Bund in Frankfurt / Main. Hier war sein Wirken beträchtlich. 1839 zum Oberstleutnant befördert, interessierte er sich insbesondere für Ausbau und Verbesserung der Bundesfestungen Rastatt und Ulm; dabei konnte er sich über die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Zustände im "dritten Deutschland" informieren, wie auch über die Mängel, Schwierigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Bundesverfassung. 36 Gerade diese Zeit, von 1836 bis 1846, scheint für Radowitz eine Zeit des Neu- und Umdenkens gewesen zu sein, die ihn von seinen früheren Freunden und Mitkämpfern weiter entfremdete. Ohne seine monarchischen und christlich-germanischen Grundprinzipien aufzugeben, war er bereit, über die soziale und nationale Zukunft Preußens und Deutschlands neu nachzudenken.

111. Ein "soziales Königtum": Radowitz und die Sozialpolitik Nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Juni 1840 blieb Radowitz zunächst auf seinem Posten in Frankfurt. Wegen der damaligen Rheinkrise hielt er sich im Oktober in Berlin auf, und danach besuchte er Wien und andere deutsche Höfe, um die Möglichkeit einer gemeinsamen Militärpolitik und einer durchgehenden Bundesreform zu besprechen. DieKraus, Gerlach (wie Anm. 29), 104. Ebd., 103. Am 28. Januar 1835 rügte Leopold von Gerlach die "wissenschaftliche Eitelkeit" von Radowitz, und am 6. Februar schrieb er weiter: "In welcher toten politischen Abstraktion versinkt der." Leopold von Gerlach an Ludwig von Gerlach, 28 . Januar und 6. Februar 1835, GA, Fasz. es. 36 Hassel, Radowitz (wie Anm. 2),47-56,258-302. 34

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se Reise war die erste von mehreren Sondermissionen, die er in jenen Jahren unternahm, und die ihm Anlaß zu weiteren Überlegungen über die Zukunft Deutschlands und der ständisch-monarchischen Staatsordnung gaben. Dabei gewann er diplomatische Erfahrung, beschäftigte sich weiter mit kirchlichen und konstitutionellen Fragen und überzeugte sich, daß energische Schritte unumgänglich seien, um den bösen und aufsteigenden Geist der Revolution wirkungsvoll zu bekämpfen. Viele Chancen sah er schon vertan. 1842 konnte er eine neue Wirkungsmöglichkeit als preußischer Gesandter in Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau bekommen, mit Beibehaltung seiner früheren Stelle in Frankfurt; bis zur Revolution war er in Karlsruhe wohnhaft. 1845 wurde er zum Generalmajor befördert. 37 Im Laufe dieser Jahre beschäftigte sich Radowitz immer mehr mit den großen Schwierigkeiten, eine wirkungsvolle Monarchie auf ständischer Grundlage zu verfestigen. Es galt, so meinte er, sowohl das Beamten- und Bürokratenregiment als auch den falschen Parlamentarismus und Konstitutionalismus zu bekämpfen. So sympathisierte er mit den ständischen Projekten Friedrich Wilhelms IV., auch wenn er um den Durchsetzungswillen seines königlichen Herrn bangte. Vor allem konnte er sich in diesen Jahren überzeugen, daß die Rettung der preußischen Monarchie nur im Rahmen einer wirkungsvollen Sozialpolitik und einer vorausschauenden Deutschlandpolitik zu erzielen sei. Über die Schwierigkeiten eines derartigen Vorhabens machte er sich keinerlei Illusionen. Denn die Idee einer ständischen Monarchie und der damit verbundenen ständischen Freiheit sei angesichts der Entwicklungen des vorangegangenen Halbjahrhunderts aus dem "öffentlichen Bewußtsein" verschwunden. Deshalb könne man leider nicht mehr "auf frühere Zeiten zurückdrängen".38 Es galt also ferner, gerade im Namen der konservativen und monarchischen Sache die Grundlagen und die Aufgaben des Staats umzubilden und das Volk an die Monarchie'zu binden, aber nicht im parlamentarischen oder repräsentativen Sinne. Schon 1843 befürwortete er eine faktische Aufhebung der preußischen Pressezensur;39 und im gleichen Jahr verfaßte er eine Denkschrift, "Friedrich Wilhelm IV. und seine Aufgabe", in der er meinte, es sei doch möglich, einen erfolgreichen Kampf gegen den Absolutismus und den Parlamentarismus zu führen. 40 Die "große inerte Masse" der Bevölkerung 37 Ebd., 105 -106. 38 Zitiert in: Kondylis, Konservativismus (wie Anm. 4), 240-241. 39 HasseI, Radowitz (wie Anm. 2), 379-382.

40 Joseph Maria von Radowitz, "Friedrich Wilhelm IV. und seine Aufgabe" (Manuskript, Mai 1843), GStAPK Merseburg, Rep.92 Nachlaß Joseph Maria von Radowitz d. Ä., 1. Reihe Nr. 45d, BI. 1-16. VgI. dazu den Kommentar von Walter Früh, Radowitz als Sozialpolitiker. Seine Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Frage. Berlin 1937, 39-43. Die Arbeit von Früh ist immer noch brauchbar, auch wenn sie ideologisch tendenziös und deshalb mit Vorsicht zu benutzen ist.

4 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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- so Radowitz - sei "aus Instinkt eigentlich konservativ", denn sie wolle "weiter nichts als materielle Wohlfahrt und Schutz gegen Willkür". Es sei besonders wichtig, diese Bevölkerungsmasse zu überzeugen, daß ein konstitutionelles System nicht notwendigerweise zu größerem Wohlstand und größerer Rechtssicherheit führe; ebensowenig sei ein konstitutionelles System mit einem Rechtsstaat, worin die historischen Rechte aller anerkannt würden, zu verwechseln. In einem zeitgemäßen Bündnis mit der Bevölkerung wäre es durchaus möglich, die Hauptmerkmale eines patriarchalischständischen Systems aufrechtzuerhalten. Dabei fiele aber dem Staat eine besonders wichtige Aufgabe zu: er müsse den modernen Pauperismus - für Radowitz das große Problem der Zeit - mit sichtbaren und wirkungsvollen Mitteln bekämpfen. 41 Radowitz hegte keine allzu große Hoffnung, daß es Friedrich Wilhelm IV. gelingen würde, ein derartig wagemutiges Vorhaben durchzuführen. Er hörte aber nie auf, hierzu neue Denkschriften zu verfassen und Vorschläge zu unterbreiten. Bezeichnend dafür ist ein wichtiges Schreiben vom 8. Januar 1844 an seinen alten Freund Canitz, in dem er meinte: "Wir haben drei große Parteien in der Gegenwart: die monarchischen Absolutisten, die liberalen Constitutionellen und die radikale Revolutionspartei. Alle drei sind eigentlich nur Modifikationen desselben Grundgedankens: des absoluten Staates. [... ] Jede dieser Parteien besitzt eine effektive Macht. Die monarchischen Absolutisten haben die europäischen Kabinette für sich und in allen Staaten die Mehrzahl der Beamten. Die konstitutionelle Theorie ist das Bekenntnis der immensen Mehrzahl der sogenannten Gebildeten des großen Mittelstandes. Die radikale Partei hat ihre Instinkte in den Proletariern, ihre Organe in den ,Litteraten' der jungen Welt." Ein Herrscher wie Friedrich Wilhelm IV., der den absoluten Staat ablehne, stünde deswegen vor besonders großen Schwierigkeiten, vor allem vor der Gefahr der politischen Isolation. Und die Lösung? "Man muß dem Erbe der Revolution, der modernen abstrakten Staatssouveränität aufrichtig und von Herzen entsagen, dieses Nessushemd abstreifen und in die Stellung der altfürstlichen Herrschaft wieder einlenken." Aber man brauche ein konkretes Programm mit klar umrissenen Zielen: Bildung eines entschlußfreudigen königlichen Conseils (denn Radowitz erkannte durchaus, daß Friedrich Wilhelm IV. kein "politischer Held" war), ständische Reform, administrative Dezentralisation, "Belebung des corporativen Prinzips, Kirche und Schule, Aufrichtung des deutschen Bundes." Ob es Friedrich Wilhelm je gelingen würde, ein solches Programm durchzusetzen, bezweifelte er. 42

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Ebd., 40, 41. Radowitz an Canitz, 8. Januar 1844, in: Dallinger, Canitz (wie Anm. 14), 125-

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Seine "Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche" (1846), die bis 1851 in vier Ausgaben erschienen, waren sicherlich sein erfolgreichstes und bedeutendstes literarisches Werk. 43 Kurz nach dem tragischen Tod seiner Tochter und der raschen Verschlechterung der eigenen Gesundheit geschrieben, stellten die "Gespräche" einen Versuch dar, sich mit den Zeitströmungen des Vormärz gründlich auseinanderzusetzen. 44 Sie nahmen die Form einer Gesprächsreihe unter fünf Bekannten, die ganz verschiedenartige Gesichtspunkte repräsentieren sollten. Zwei Aristokraten, "von Arneburg" und dessen jüngerer Bruder "Detlev", stellen entgegengesetzte Pole dar. Der ältere Ameburg ist ein konservativer Pietist, der sich an den Segen des Königtums durch Gottes Gnaden und an die altständischen Wahrheiten hält. Detlev hat sich in Frankreich, der Heimat der Revolution, aufgehalten, und ist Linkshegelianer und radikaler Demokrat. Sein künftiger Schwiegervater, "Crusius", ist Großindustrieller und stellt den gemäßigt-liberalen Konstitutionalismus dar. Der Ministerialrat "Oeder" symbolisiert die Kräfte des Beamtenturns. Der fünfte Teilnehmer, der Katholik "Waldheim", sollte Radowitz selbst verkörpern, indem er versucht, die Gegensätze der verschiedenen Zeitströmungen zu begreifen und dadurch zu einem besseren Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen des modernen Staats zu gelangen. Die Gespräche sind weitschweifend, zeigen auch die bemerkenswerte Fähigkeit des Verfassers, sich in die Gedankengänge seiner geistigen und politischen Gegner zu versetzen. Allerdings konnte er nur wenig Sympathie für die Bedürfnisse der modemen Industrie aufbringen; zwar müsse der Industrie eine wichtige Rolle im Staat eingeräumt werden, aber Radowitz konnte eine gewisse Abneigung gegen den ungebundenen Materialismus der neuen Geldrnacht und den "Götzendienst mit der Industrie" - wie er ihn in einer früheren Schrift nannte - nicht verhehlen. 45 In den "Gesprächen" zeigt er dagegen ein starkes Gefühl für die Lage der arbeitenden Klassen und ein scharfes Verständnis für die neueren Theorien derjenigen, wie Detlev, die die soziale Frage ins Visier genommen hatten. Vor einem Bündnis mit dem Proletariat, so Radowitz in einer wichtigen Denkschrift an den König vom 28. März 1848, sollte der monarchische Staat nicht zurückschrecken, denn er hatte vom Proletariat wenig zu befürchten: "Jede Regierungsform, die kühn und weise dessen Interessen in die Hand nähme, das Progressiv-Steuersystem, das Gesammtarmenwesen, die Regulierung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit voranstellte, hätte 43 Joseph Maria von Radowitz, Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. Stuttgart 1846. Bd.l der von Corvinus ausgewählten Schriften (wie Anm. 10) enthält den Text der 4. Ausgabe der "Gespräche". 44 Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 120, 416-420; Früh, Radowitz (wie Anm.40), 58-73; Beck, Conservatives, Bureaucracy, and the Social Question (wie Anm. 4),6187; ders., Conservatives and the Social Question (wie Anm. 4),74-81. 45 Früh, Radowitz (wie Anm. 40), 50; Beck, Conservatives and the Social Question (wie Anm. 4), 80.

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den ,gemeinen Mann' für sich, und hiermit eine ungeheuere Macht." 46 Die Linderung der Massennot sei ohnehin eine moralische Verpflichtung; Eigentum ohne soziale Verantwortung sei verwerflich, denn: "Je höher die Schicht, je weiter die Pflicht." Eine der größten Gefahren der Gegenwart sei deshalb die ungezügelte Geldmacht und der Ungeist des gesellschaftlich ungebundenen Materialismus; es gelte, diese durch die Aufrichtung eines sozialen Königtums zu bekämpfen. Nur dadurch könnte sich die monarchische Staatsform im neuen Zeitalter weiter behaupten. Diese Staatsform würde nicht aufhören, patriarchalisch zu sein; das konstitutionell-repräsentative System verwarf Radowitz nach wie vor. Mit altständischen Gesichtspunkten hatten aber seine neueren Ideen immer weniger gemeinsam, da er die Notwendigkeit einer modernen, staatlich betriebenen Sozialpolitik voraussah. Zwar stand dieser Gesichtspunkt im unaufgelösten Widerspruch zu seinen ständischen, antiabsolutistischen, antizentralistischen Gefühlen; er kann jedoch als einer der ersten deutschen Konservativen angesehen werden, der die soziale Frage in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte, und dabei läßt er sich durchaus mit solchen Denkern wie Lorenz von Stein, earl Rodbertus und Herman Wagener vergleichen. 47 Das Überleben der monarchisch-ständischen Staatsform hing nicht zuletzt mit der Bereitschaft des Staats zusammen, sittliche Verantwortung zu übernehmen und in die Tat umzusetzen. Dabei sollte er sich der großen Ideen der Zeit bedienen und ihren eigenen Bedürfnissen anpassen. Zu solchen Ideen gehörte, Radowitz zufolge, nicht nur das kreative Herangehen an die soziale Frage, sondern auch die Versöhnung des Königtums mit der "Idee der Nationalität", der zweiten großen Frage der Zeit.

IV. Radowitz und die "Idee der Nationalität" bis zum Frühjahr 1849 Im Frühjahr 1849 schrieb ein tief verbitterter Leopold von Gerlach, Radowitz kenne "unsre innerlichsten Verhältnisse nicht und hat kein preußisches Herz." 48 Obwohl diese Bemerkung von der Entfremdung zwischen den einstigen Freunden zeugt, enthält sie mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Schon seit mehreren Jahren hatte sich Radowitz in Frankfurt und Karlsruhe mit der Frage der künftigen Verfassung und der effektivsten Zusammensetzung des Deutschen Bunds beschäftigt. Als Nichtpreuße waren seine "deutschen" Gefühle ohnehin stärker ausgeprägt als bei seinen Abgedruckt in: Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 577 - 578. Früh, Radowitz (wie Anm. 40), 50; Beck, Conservatives and the Social Question (wie Anm. 4), 77. 48 Leopold von Gerlach an Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg, 10. / 12. Mai 1849, als Tagebucheintragung (12. Mai 1849), GA, Abschriften, Bd. 6, 362. 46 47

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hochkonservativen Bekannten im .Gerlach- und Kronprinzenkreis; deshalb konnte Friedrich Wilhelm IV., dessen Engagement für das "heilige Feuer" der deutschen Sache bekannt war, gerade in Radowitz einen sympathischen Gesprächspartner finden, auch wenn letzterer das starke nationale Pathos seines königlichen Herrn nie teilte. 49 Als preußischer Militärbevollmächtigter beim Deutschen Bund und preußischer Gesandter in Baden war er in der Lage, die Entwicklung der konstitutionellen und deutschlandpolitischen Diskussion in Südwestdeutschland genau zu verfolgen, und dabei kam er zur Überzeugung, daß Preußen nur als deutsche Macht eine europäische Rolle spielen konnte. Schon 1840 konnte er bemerken, "was in Dresden, in Stuttgart, in Hannover geschieht, dieses hat die entscheidendste Bedeutung für uns; nichts Wesentliches dürfte sich in der inneren und äußeren Stellung dieser Kabinette, nichts in dem leiblichen oder geistigen Zustande der deutschen Staaten ändern, ohne daß unsere Stimme dabei gehört und beachtet worden sei. [... ] Das ganz entschiedene Ziel der preußischen Politik wird daher die Erlangung und Erhaltung einer ganz unzweifelhaften moralischen Autorität in Deutschland sein müssen. " 50 Aus den verschiedenen Briefen und Denkschriften, die Radowitz zwischen 1840 und 1847 zu diesem Thema entwarf, geht ganz eindeutig hervor, daß seine Deutschlandpolitik mit seiner ständischen Politik und seinen sozialpolitischen Reformbestrebungen eng zusammenhing; sie bildete einen wesentlichen - vielleicht sogar den zentralen - Bestandteil eines großangelegten Versuchs, die "Revolution" zu bekämpfen und der monarchischen Staatsform in Preußen neue Kraft zu verleihen. Und dabei, so folgerte Radowitz weiter, stellte Österreich ein besonders großes Hindernis dar. Im Gegensatz zu Preußen konnte Österreich keine moralische Autorität in Deutschland für sich selbst behaupten, unter anderem wegen seiner weiteren europäischen Verwicklungen. Wie er über Österreich und die deutsche Bundespolitik in seinem schon erwähnten Brief an Canitz vom Januar 1844 schrieb: "Es ist eine schwere Schuld, was hier in einem Vierteljahrhundert unterlassen worden, und ich sehe trotz alles Willens und Erkennens des Königs noch keine Luft, so lange wir an die kadavröse Politik Österreichs hierin gebunden sind." 51 In den Monaten zwischen dem Zusammentreffen des 1. Vereinigten Landtags (April 1847) und dem Ausbruch der Märzrevolution beschäftigte sich Radowitz noch intensiver mit der Frage der preußischen Deutschland49 Friedrich Wilhelm IV. an Metternich, 10. Januar 1841, GStAPK Merseburg, HA Rep. 50 J Nr. 939, BI. 32 - 36. Zu den deutschlandpolitischen Ansichten Friedrich Wilhelms IV. siehe jetzt vor allem Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik. Berlin 1990, 108-142. 50 Joseph Maria von Radowitz, Das Verhältnis Preußens zum deutschen Bunde, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Meinecke (wie Anm. 10),1-2. 51 Radowitz an Canitz, 8. Januar 1844, in: Dallinger, Canitz (wie Anm. 14), 128.

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politik und der Neugestaltung des maroden Deutschen Bundes. 52 In einer berühmten Denkschrift vom November 1847, die Radowitz für Friedrich Wilhelm IV. schrieb, bezeichnete er die "Nationalität" als die "gewaltigste Kraft der Gegenwart". Bisher sei diese Kraft "die gefährlichste Waffe in den Händen der Feinde der rechtlichen Ordnung" gewesen. Im Grunde genommen sei diese jedoch eine positive Kraft, und auf jeden Fall nicht mehr zu verleugnen: "Durch alle Gemüter zieht die Sehnsucht nach einem, an innerer Gemeinschaft wachsenden Deutschland, das nach außen mächtig und geehrt, nach innen erhaben und einträchtig sei; es ist dieses noch immer der populärste und gewaltigste Gedanke, der in unserm Volke lebt. [... ] Es ist daher auch der einzige, auf welchem noch eine feste Staats- und Lebensordnung zu errichten ist, das einzige Bett, in welches die verheerenden Strömungen der Parteienkämpfe abgeleitet werden können." Nur im Bündnis mit der Kraft der Nationalität könne Preußen als monarchische Großmacht im europäischen Staatsgefüge weiter bestehen: "Nur in der festesten, innigsten Verbindung mit dem übrigen Deutschland kann es die Ergänzung der Kräfte finden, deren es bedarf. Daß Deutschland mächtig und einträchtig dastehe, dieses ist die Lebensfrage für Preußen, die oberste Bedingung seiner eigenen Existenz." 53 Friedrich Wilhelm IV. empfing diese Empfehlungen mit Wohlwollen, spielte sogar mit dem Gedanken, Radowitz zum Außenminister zu ernennen: eine Möglichkeit, die Radowitz damals ablehnte, angeblich aus konfessionellen Überlegungen. In den letzten Monaten vor dem Ausbruch der Märzrevolution in Berlin beschäftigte er sich mit verschiedenen diplomatischen Aufträgen, vor allem im Zusammenhang 52 Wie er in seinen Lebenserinnerungen berichtet: "Um diese Zeit nun begann der unmittelbare Verkehr mit dem Könige, der seit zwei Jahren zurückgetreten war, und zog mich wiederum in die ganze Tiefe des Strudels hinein, der den Staat wie meine eigene Existenz verschlingen sollte." Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 135. Ludwig von Gerlach suchte Radowitz um diese Zeit (September 1847) auf, und schrieb später: "Man sah, daß sein Konservatismus nicht bombenfest geblieben war gegenüber der anstürmenden Revolution und dem schwachen Widerstande der preußischen Regierung, [... )." Ernst Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795 -1877, hrsg. von Jacob von Gerlach, 2 Bde., Bd. 1: 17951848. Schwerin i. Meckl. 1903,486-487. 53 Joseph Maria von Radowitz, "Denkschrift über die vom Deutschen Bunde zu ergreifenden Maßregeln" (20. November 1847), in: ders., Deutschland und Friedrich Wilhelm IV. (1848), abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Meinecke (wie Anm. 10), 99 -100. Vgl. Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 136 -137, 460-462; Meinecke, Radowitz (wie Anm.1), 50-51. Vgl. die Ausführungen von Radowitz in seinen Memoiren: "Meiner Überzeugung nach blieb nur noch ein Weg übrig, um seine [d. h. Friedrich Wilhelms IV. - der Vf.] Stellung wiederzugewinnen, nachdem auf dem konstitutionellen und kirchlichen Gebiete so unsägliches Verderben angerichtet war. Es war dies das nationale Gebiet; vermochte der König sich dieses Standpunktes zu bemeistern, vermochte er der deutschen Nation zu geben, wonach sie dürstete, so war hierin der Boden gefunden, auf dem neue Schöpfungen entstehen und ihm selbst, dem Schöpfer, wieder die Liebe und Anhänglichkeit seiner Untertanen zugeführt werden konnten." Hassel, Radowitz (wie Anm. 2), 135.

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mit der Sonderbundkrise in der Schweiz. Erst im März 1848, kurz nach der Pariser Revolution, konnte er im Rahmen einer diplomatischen Sendung nach Wien seine bundespolitischen Reformpläne wieder aufgreifen. Es war jedoch zu spät; am 13. März erlebte er die Revolution in der österreichischen Hauptstadt. Dreizehn Tage später befand er sich wieder in Berlin, trat aus den preußischen Diensten und begab sich zum Hause seiner Schwiegermutter in Giewitz / Mecklenburg, wo er sich eine Zeitlang im politischen Abseits aufhielt. 54 Dort schrieb er eine Broschüre "Deutschland und Friedrich Wilhelm IV.", in der er seine deutschlandpolitischen Gedanken zusammenfaßte. 55 Außerdem blieb er in schriftlichem Kontakt mit dem angeschlagenen König, der sich nach den Ereignissen des 18., 19. und 21. März nach Sanssouci zurückgekehrt war. Im April warnte Radowitz den so häufig unberechenbaren Friedrich Wilhelm vor übereilten Entscheidungen und Taten. Wegen der vorübergehenden Übermacht sowohl der liberalkonstitutionellen als auch der radikal-republikanischen Elemente in der Hauptstadt sei es wichtig, daß der König "sich jetzt in eine rein abwartende Stellung" zurückzöge. Er sollte die Wahlen abwarten, und nichts gegen das neu eingeführte konstitutionelle System unternehmen. 56 Deshalb riet er dem König dringend zur Politik des "Effacierens" - d. h., der Ablehnung der eigenen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit und der gleichzeitigen Bereitschaft, seinen amtlichen Ratgebern und dem konstitutionellen Ministerium für alle Fehlentscheidungen verantwortlich zu machen - die für sein Handeln bis zur Bildung der Regierung Brandenburg Anfang November 1848 bezeichnend war. 57 Zu seiner eigenen großen Überraschung wurde Radowitz im Mai 1848 vom Kreis Arnsberg (Westfalen) in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Dabei wollte er sich der Aufgabe widmen, "die Einheit Deutschlands mit dem Fortbestande der rechtlichen Existenz seiner selbständigen Glieder zu vereinigen." 58 Mit seinem tiefgehenden Pessimismus hegte er Radowitz an Friedrich Wilhelm IV., 28. März 1848, in: ebd., 574-575. Joseph Maria von Radowitz, Deutschland und Friedrich Wilhelm IV., in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.3 (wie Anm.10), 267 -351; auch abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Meinecke (wie Anm. 10), 68-119. 56 Radowitz an Friedrich Wilhelm IV., 2. und 13. April 1848, in: Rassel, Radowitz (wie Anm. 2), 581, 584. 57 Vgl. dazu Günther GTÜnthal, Zwischen König, Kabinett und Kamarilla. Der Verfassungsoktroi in Preußen vom 5.12.1848, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 32 (1983), 132; David E. Barclay, Hof und Hofgesellschaft in Preußen in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. (1840 bis 1857). Überlegungen und Fragen, in: Karl Möckl (Hrsg.), Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Boppard am Rhein 1990, 351. 58 Radowitz an Friedrich Wilhelm IV., 17. Mai 1848, in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 45-46; vgl. ferner sein Schreiben an seine Frau vom 25. Mai 1848, in: ebd., 51. Friedrich Wilhelm hatte schwerwiegende Bedenken gegen den Eintritt seines Freundes in das Frankfurter Parlament: 54 55

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keine allzu großen Erwartungen, daß es ihm gelingen werde, dieses Ziel zu erreichen, zumal er in die Paulskirche mit dem Ruf eines katholischen Reaktionärs eintrat. Er schloß sich der rechten Fraktion des "Steinernen Hauses" bzw. "Cafe Milani" an, und in den Monaten seines parlamentarischen Wirkens zeigte er sich durchaus bereit, mit den konstitutionellen Wirklichkeiten des Zeitalters Kompromisse zu schließen. Als Redner und Parlamentarier glänzte er, und bis Anfang 1849 hatte er sich den Standpunkten der gemäßigten, "erbkaiserlichen" Kräfte um Heinrich von Gagern genähert. 59 Nachdem eine großdeutsche Lösung der nationalen Einheitsfrage Ende November durch die Kremsierer Erklärung des Fürsten Felix Schwarzenberg abgelehnt wurde, wandten sich viele Parlamentarier der Idee Gagerns zu, zwischen einer "engeren" und einer "weiteren" Union in Deutschland zu unterscheiden. Preußen würde zwangsläufig die führende Rolle in einer engeren Union der nichtösterreichischen Staaten übernehmen; mit dieser Union bliebe Österreich in einer loseren, weiteren Union staatsrechtlich verbunden. Nach langen Debatten und Verhandlungen verlangte Schwarzenberg im März 1849 den Eintritt der gesamten Habsburger Monarchie in eine neue, großdeutsche Union. Da dieses "Siebzig-MillionenProjekt" kaum zu verwirklichen war, stimmte die Paulskirche am 27. März 1849 für eine kleindeutsch-erbkaiserliche Lösung. Die neue, kleindeutsche Kaiserkrone wurde Friedrich Wilhelm IV. angeboten. Bei diesen Abstimmungen stand Joseph Maria von Radowitz auf der Seite der erbkaiserlichen Mehrheit. Im Laufe der Monate hatte er sich die Idee einer engeren und weiteren Union und einer erbkaiserlichen Lösung allmählich zu eigen gemacht. Schon Anfang Januar 1849 hatte er dem König geschrieben: "Wäre Deutschland wirklich zu einem einigen Reiche zusammenzuschließen, so würde ein Erbkaiser diese welthistorische Gestaltung am würdigsten und gedeihlichsten ins Leben führen." Und wenn Friedrich Wilhelm IV. auf diesen Thron berufen werden sollte, "ich zöge Ihren Wagen mit meinen Schultern von Berlin bis an den alten Bartholomäusdom in Frankfurt!" 60 Zwar hatte er nach wie vor schwerwiegende Bedenken gegen eine Kaiserkrone, die von einem Parlament ausging; aber die Alternativen schienen ihm im März 1849 noch schlimmer zu sein. 61 An eine Rückkehr zum alten Bund sei nicht mehr zu denken, meinte er; und eine Union unter Einschluß eines österreichischen Einheitsstaats sei auch unmöglich. Deshalb bemerkte er Ende März: "Es gibt jetzt keinen anderen Ausgang als ein "Satan und Adramelech haben dort ihr Hauptquartier!" Friedrich Wilhelm IV. an Radowitz, 21. Mai 1848, in: ebd., 46. 59 Zur Tätigkeit von Radowitz in der Nationalversammlung siehe vor allem Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 97 -169. 60 Radowitz an Friedrich Wilhelm IV., 5. Januar 1849, in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 72. 61 Canis, Radowitz (wie Anm. 9), 465.

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engerer Bundesstaat ohne Österreich und ein weiterer Staatenbund mit der gesamten österreichischen Monarchie." 62 Die Möglichkeit, diese Idee in die Wirklichkeit umzusetzen, erhielt Radowitz im April, als Friedrich Wilhelm IV. ihn nach Berlin berief. 63 Er hatte wieder die Möglichkeit, Außenminister zu werden, ein Angebot, das er jedoch erneut von sich wies. Wie er selber weiter berichtete: "Meine Aufgabe ist, zwischen dem Könige und dem Ministerium einen zusammenhängenden Gedanken über die Ziele und Mittel hervorzubringen, die die ungeheure Krisis des Moments erheischt. Die Schwierigkeiten, einen solchen Weg zu finden und so disparate Auffassungen zu einem gemeinsamen Handeln zu vereinigen, sind ganz ungeheuer; ich bin fern davon zu wissen, ob es mir gelinge." 64

V. Die Unionspolitik und die letzten Jahre, 1849 -1853 Radowitz hatte guten Grund, über seine Erfolgschancen pessimistisch zu denken, trotz des fast uneingeschränkten Vertrauens seines königlichen Herrn; denn unter anderem mußte er mit dem stets wachsenden Widerstand seiner ehemaligen Freunde rechnen. Leopold von Gerlach und Ludwig von Gerlach hatte eine Schlüsselrolle in der sogenannten "Kamarilla" gespielt, die u. a. die Bildung der Regierung Brandenburg herbeigeführt hatte; und mit der neugegründeten, hochkonservativen "Kreuzzeitung" waren sie aufs engste verbunden. 65 Kurz nach seiner Ankunft in Berlin traf Radowitz mit Leopold von Gerlach zusammen. Dieser letzte Versöhnungsversuch schlug vollkommen fehl. Radowitz sei jetzt, so Gerlach, "sehr unangenehm, hochmüthig imponirt, boutonnirt." Nach diesem Gespräch entschloß sich Gerlach, alles in seiner Macht zu tun, um Radowitz und die kleindeutsche Unionspolitik zu bekämpfen. Die Zeit sei gekommen, entschieden mit der Paulskirche zu brechen und eine Versöhnungspolitik mit Österreich zu beginnen. Wie die Gerlachs meinten: "Die wahre Einheit von Deutschland hat in der Selbständigkeit und innigen Verbindung von Preußen und 62 Radowitz an Clemens von Diepenbrock, 30. März 1849, in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 76. 63 Summarisch zur Unionspolitik von Radowitz: Warren B. Morris, Jr., The Prussian Plan of Union: Traditional Policy by "Revolutionary" Means, in: The Historian 39 (1977), 515-530. 64 Radowitz an seine Frau, 25. / 26. April 1849, in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 82. Vgl. Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 233-237. 65 Zur Kamarilla siehe David E. Barclay, The Court Camarilla and the Politics of Monarchical Restoration in Prussia, 1848-58, in: Larry Eugene Jones / James Retallack (Hrsg.), Between Reform, Reaction, and Resistance: Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945. Providence / Oxford 1993, 123 -156.

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Österreich ihren festen Grund." 66 Radowitz sei jedoch" wenn nicht von dem Prinzip, doch von der Macht der Revolution so imponiert", daß er dem Könige immer wieder "schlechten Rath" erteilt habe; so habe er "dem Könige stets geraten, die deutsche Sache der preußischen voranzustellen. " 67 Ludwig von Gerlach "stellte unsere Differenz so, daß er, Radowitz, die Nationalität voran und die Revolution dahinter gestellt, wir aber die Revolution voran und dahinter die Nationalität gestellt hätten." 68 Trotz der erbitterten Gegnerschaft der "Gerlachsehen Koterie" (wie Radowitz sie nannte) war seine Lage am Anfang nicht ganz ungünstig, und politisch isoliert war er ganz und gar nicht. Wegen des ungarischen Aufstands war Österreich gezwungen, zunächst eine defensive Deutschlandpolitik zu treiben. Gleichzeitig spielte Preußen eine zentrale Rolle bei der Niederwerfung der Volksaufstände in Sachsen und in Südwestdeutschland; deswegen hatte Friedrich Wilhelm das Bedürfnis, zur gleichen Zeit etwas Positives zu unternehmen, um seine tiefe, wenn auch etwas verschwommene Anhänglichkeit an die deutsche Sache zu bekräftigen. 69 Ferner gelang es Radowitz, allmählich das Vertrauen des Ministerpräsidenten Graf Brandenburg zu gewinnen, der in der Unionspolitik die Möglichkeit eines preußischen Machtgewinns in Deutschland sah; Radowitz sei "ein einsichtsvoller und brauchbarer Ratgeber", konnte Brandenburg im August 1850, kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der unionspolitischen Bestrebungen, noch beteuern. 70 Auch der Thronfolger, der Prinz von Preußen, und seine Frau, Prinzessin Augusta, zählten zu den Anhängern der Ziele der Unionspolitik. 71 Hinzu kam die Unterstützung, die Radowitz von der konservativen "Parteibasis" auf dem Land erhielt. Die 1848er Revolution hatte zur Bildung mehrerer konservativer Vereine geführt, vor allem in den Kernprovinzen der preußischen Monarchie, und in der Regel teilten 66 Ernst Ludwig von Gerlach, November 1848, zitiert in: Kraus, Gerlach (wie Anm. 29), 310. 67 Leopold von Gerlach, Tagebuch (28. April 1849), GA, Abschriften, Bd. 6, 350; Gerlach an Friedrich Wilhelm von Rauch, 29. April 1849, GA, Abschriften, Bd. 19, 14. 68 Leopold von Gerlach, Tagebuch (29. April 1849), GA, Abschriften, Bd. 6, 351. Vgl. Herman von Petersdorf!, Joseph v. Radowitz und Leopold v. Gerlach, in: Deutsche Rundschau 130 (1907), 44-45, 54-55; William James OrT, Jr., The Foundation of the Kreuzzeitung Party in Prussia, 1848 -1850. Ph. D. Diss. University of Wisconsin-Madison 1971, 234-267; Kraus, Gerlach (wie Anm. 29),309-312. 69 Vgl. Alexander Scharf!, König Friedrich Wilhelm IV., Deutschland und Europa im Frühjahr 1849, in: Martin Göhring / Alexander Scharff (Hrsg.), Geschichtliche Kräfte und Entscheidungen. Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstage von Otto Becker. Wiesbaden 1954, 138 -175. 70 Petersdor!f, Radowitz (wie Anm. 68), 48. 71 Vgl. z. B. Petersdor!f, Radowitz (wie Anm. 68), 52-53; Helene-Marie Conradi, Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Gedanken der Königin und Kaiserin Augusta. Diss. phil. Göttingen 1945, 50-55.

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diese Vereine nicht die hochkonservativen Bedenken gegen die deutschlandspolitischen Ansichten von Radowitz. Ähnlich wie Graf Brandenburg sahen sie in einer erfolgreichen Unionspolitik die Möglichkeit eines preußischen Machtzuwachses und einer gleichzeitigen Bekämpfung der Revolution. 72 Nach anfänglichem Zögern war auch mit der vorsichtigen Unterstützung mehrerer gemäßigter, einflußreicher, kleindeutsch-erbkaiserlich gesinnter Liberaler zu rechnen, die im Juni 1849 in Gotha zusammentrafen, um die Grundlinien der vorgesehenen Unionspolitik zu bejahen. 73 In den politischen Auseinandersetzungen des nächsten Jahres galten die sogenannten "Gothaer" in der Regel als Verbündete von Radowitz. 74 Es gelang Radowitz jedoch nicht, diese relativ günstige Ausgangslage rechtzeitig und zielstrebig auszunutzen; und sein politisches Scheitern war, wenn nicht unvermeidlich, doch voraussehbar. Später gab er selbst zu, einen Fehler begangen zu haben, als er im Frühjahr 1849 den Posten des Außenministers ablehnte. Deswegen hing er immer von der Gunst seines unsteten königlichen Herrn ab; und in Friedrich Wilhelm IV. war wenig Verlaß, trotz seiner Herzensergüsse für den "göttlichen" Freund. Die Schwächen und Versäumnisse Friedrich Wilhelms hatte Radowitz sich nicht verhehlt; unter anderem konnte der König nie ein vertrauensvolles Verhältnis zu einem konstitutionellen Ministerium bilden. Wie Radowitz bemerkte: "Und dennoch würde ich als dirigierender Minister zwar besser wie die anderen, aber immer nicht genügend mit ihm auskommen. Zum konstitutionellen Könige fehlt ihm geradezu alles; wenn er seinen persönlichen Willen einer Systemfrage unterordnet, so tut er dies nie im Sinne der konstitutionellen Eintracht mit seinem Ministerium, sondern immer nur aus ärgerlicher Ermüdung, die auch den absolutesten Monarchen dazu bringen kann, andere gewähren zu lassen. [. . .] Wie gesagt, in früheren Zeiten hätte ich sein dirigierender Minister sein können, in konstitutionellen hingegen nicht." 75 So blieb die Lage von Radowitz immer prekär, zumal die deutsche und die europäische Konstellation sich nach dem Herbst 1849 zuungunsten der Unionspolitik entwickelte. An dieser ungünstigen Lage hatte aber auch er selbst schuld. Wer seine Briefe und Aufzeichnungen aus dieser Zeit liest, spürt einen Geist von Resignation, Fatalismus und sogar Defätismus. Obwohl es ungerecht und unhistorisch wäre, Radowitz mit Bismarck zu vergleichen, hatten viele ältere Historiker durchaus recht, als sie Radowitz 72 Walfgang Schwentker, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/ 49. Die Konstituierung des Konservativismus als Partei. Düsseldorf 1988, 326-328. 73 Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 303-311. 74 Gearg Witzmann, Die Gothaer Nachversammlung zum Frankfurter Parlament im Jahre 1849 (Das "Gothaer Parlament"). Eine Studie aus der Vorgeschichte der Reichsgrülldung und der Jugendzeit des deutschen Parlamentarismus. Gotha 1917 . 75 Radowitz, Diarium (8. Mai 1849), in: ders., Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 94.

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wegen seines fehlenden Machtinstinkts und seiner Unfähigkeit zum taktischen und politisch wirkungsvollen Kalkül tadelten. Die Entwicklung der Unionspolitik 1849/50 ist häufig Gegenstand der historischen Darstellung gewesen, und an dieser Stelle kann sie daher summarisch behandelt werden. Im Mai 1849 war Radowitz maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt, die zum Dreikönigsbündnis (Preußen, Hannover, Sachsen) und zur neuen Unionsverfassung führten. Letztere war der Reichsverfassung der Paulskirche in vielerlei Hinsicht ähnlich, jedoch mit stärkeren föderativen und exekutiven Elementen ausgestattet. Die neue Reichsregierung sollte aus einem "Reichsoberhaupt", einem Staats- und Volkshaus und ein "Fürstenkollegium" bestehen. 76 Trotz solcher Zugeständnisse an die Eigenständigkeit der deutschen Einzelstaaten und an das monarchische Prinzip konnte Radowitz das Mißtrauen der süddeutschen Staaten nie überwinden, und im Herbst fielen auch Hannover und Sachsen von der Union wieder ab. So blieb lediglich ein Torso, der aus Preußen und 25 norddeutschen Kleinstaaten bestand. Ende September wurde die politische Wirksamkeit der Union durch ein preußisch-österreichisches Abkommen über die zeitweilige Zentralgewalt in Deutschland - den "Interimsvertrag" - noch weiter beeinträchtigt; denn dies sollte den Weg zum österreichischen Ziel eines wiederbelebten Bundes führen. 77 Die nächste Etappe der Unionspolitik sollte die Wahl und Einberufung eines Reichstags der Unionsstaaten sein. Die Wahlen fanden im Januar 1850 statt, und das neue Parlament traf am 20. März in Erfurt zusammen. Zwischendurch war Radowitz auch in die komplizierte preußische Verfassungsdiskussion verwickelt. 1849 war die Revision der oktroyierten Verfassung vom Dezember 1848 fertiggestellt; übrig blieb nur ihre feierliche Annahme und ein königlicher Verfassungseid. Der starke Widerwille Friedrich Wilhelms gegen einen derartigen Schritt war gut bekannt, und Anfang 1850 hegte er starke Bedenken gegen die revidierte Verfassung. Daraus entstand eine Regierungskrise, die mit der Annahme der Verfassung am 3I. Januar und dem Eid des Königs am 6. Februar endete. Radowitz spielte eine bedeutende Rolle beim Zustandekommen eines politischen Kompromisses, der zur erfolgreichen Beilegung der Krise führte. 78 Der Historiker William Orr meint, mit diesem Kompromiß habe Radowitz seinen größten Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 296-302. Ebd., 313 -359. 78 Graf Brandenburg an Radowitz, 29. Januar 1850, GStAPK Merseburg, Rep. 92 Nachlaß Joseph Maria von Radowitz d. Ältere, 1. Reihe Nr. 66, BI. 35; Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 145-160 (Dokumente vom 22. Januar bis 4. Februar 1850); Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 360-371; Orr, Foundation (wie Anm. 68), 410-415; Günther GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49 -1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, 167 -174. 76 77

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politischen Erfolg erzielt, weil er dadurch den königlichen Verfassungseid ermöglicht hätte. 79 Dabei hatte er aber schon wieder den starken Widerstand der Gerlachs und ihrer Verbündeten um die "Kreuzzeitung" erfahren. 80 Die Gegner aus der konservativen bzw. "Kreuzzeitungspartei" waren in Erfurt anwesend, als das neue Unionsparlament im März eröffnet wurde; zu den Parlamentsmitgliedem gehörten Otto von Bismarck, Ludwig von Gerlach und Friedrich Julius Stahl. Bekanntlich endete das Parlament ohne klares oder eindeutiges Ergebnis, trotz Annahme der Unionsverfassung vom Mai 1849; um in Wirkung zu treten, brauchte sie die Zustimmung der Herrscher der einzelnen Mitgliedsstaaten, wobei nur 12 der 26 Unionsstaaten sich bereit erklärten, der Verfassung zuzustimmen. Anschließend wurde ein merkwürdiger Kompromiß vereinbart, wonach die Verfassung als staatsrechtlich verbindlich galt, ohne jedoch ausgeführt zu werden. 81 So schien die Union eine Mißgeburt gewesen zu sein, ohne praktische oder realisierbare Zukunft, zumal Schwarzenberg in die Offensive getreten war und auf eine Wiederherstellung des alten Bunds drängte. Schon im April hatte Leopold von Gerlach behauptet, Radowitz stehe "unmittelbar vor dem Bankerott!" 82 Und in der Tat wuchsen der Einfluß und die Anzahl seiner Gegner kontinuierlich. Im April 1850 wurde Leopold von Gerlach vortragender Generaladjutant beim König, eine Stelle, die seinen täglichen Zugang zum Monarchen garantierte. Gleichzeitig verschlechterten sich die preußischösterreichischen Beziehungen, da Schwarzenberg den "engeren Rat" des Deutschen Bundes, und damit die politischen Strukturen der Restaurations- und Vormärzzeit, wieder ins Leben rufen wollte. Der Schwager Friedrich Wilhelms IV., der russische Kaiser Nikolaus I., hatte starke Bedenken gegen die Unionspolitik, und in der bevorstehenden Krise neigte er sich Österreich zu. Angesichts der drohenden Krise ließ auch die Unter79 "Radowitz had indeed executed the most brilliant coup of his political career, the effects of which were ultimately longer lasting than his dubious Union policies." Orr, Foundation (wie Anm. 68), 412-413. 80 Kraus, Gerlach (wie Anm. 29), 330-331. In einem heftigen Gespräch zwischen dem König und Leopold von Gerlach am 28. Januar meinte letzterer: ,,[ . .. ] ich mußte von neuem aussprechen: ,Radowitz hat Euer Majestät vom März 1848 bis jetzt immer schlechten Rat erteilt' , worauf der König auffuhr und sagte, er müsse es sich verbitten, daß man von einem ,großen Mann' wie Radowitz sage, er habe ihm stets schlechten Rat erteilt." Leopold von Gerlach, Tagebuch (28. Januar 1850), GA, Abschriften, Bd. 7,29-30. 81 Zum Erfurter Parlament siehe jetzt vor allem Man/red Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 -1850. Düsseldorf 1977, 767 -776. Vgl. Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 385-410. 82 Petersdorf!, Radowitz (wie Anm. 68), 52. Über die Union meinte Gerlach im Mai: "Hier ist das Embryo größer als das Kind, das endlich zur Welt kommt!" Ebd.

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stützung des Grafen Brandenburg nach; und zu den besonders starken Feinden der Radowitzschen Politik gehörte jetzt der Innenminister Otto von Manteuffel. 83 Im Juni drohte Manteuffel mit seinem Rücktritt, falls Radowitz in der Nähe des Königs bliebe; und am 19. August kam es im königlichen Conseil zu einer heftigen Debatte zwischen den beiden Männern. Manteuffel meinte, es sei an der Zeit, mit der Union und der Unionsverfassung endgültig zu brechen. Dagegen meinte Radowitz, die einzige Alternative zu seiner Politik sei "der revolutionäre Einheitsstaat oder die alte Form des Staatenbundes", welcher seit 1815 seine fehlende Tragfähigkeit immer wieder bewiesen hätte. 84 Diesen Standpunkt wollten seine Gegner nicht teilen; und obwohl Friedrich Wilhelm noch nicht bereit war, sich von seinem Freund zu trennen, war es Radowitz bereits klar, daß das Unionsprojekt zum Tode verurteilt war. 85 Im Herbst 1850 kam es zu einer gefährlichen Krise, die Preußen an den Rand eines Kriegs führte und Radowitz zeitweilig wieder in den Mittelpunkt der preußischen Politik stellte. Die Krise ging von der alten Heimat Radowitz' in Hessen-Kassel aus, wo der unbeliebte Kurfürst einen Staatsstreich durchgeführt hatte und danach um ein Einschreiten des wiederhergestellten Bundes bat, um den Widerstand im eigenen Land zu besiegen. Am 21. September stimmte der Bund - im Zeichen des zunehmenden Einflusses von Schwarzenberg - diesem Gesuch zu. Fünf Tage später wurde Radowitz mit der Unterstützung des Prinzen von Preußen zum preußischen Außenminister ernannt. 86 Somit wollte die preußische Regierung ihre Entschlossenheit bekräftigen, das "jeu infame" des "detestable Grand-vizir" Österreichs in Frankfurt und Hessen nicht mehr hinzunehmen. 87 Und in diesen Wochen schien der Einfluß der Gerlachs und der "Kreuzzeitung" zusammengeschrumpft zu sein. Leopold von Gerlach erwog ganz ernsthaft seinen Rücktritt aus dem königlichen Dienst; und Krieg schien unausweichlich. 88 83 Otto von Manteuffel an Leopold von Gerlach, 16. April 1850, GA, Abschriften, Bd.20, 48-49. Vg1. seine Rede gegen Radowitz in einer Sitzung des königlichen Conseil am 14. April 1850: GStAPK Merseburg, Rep. 90 aB III 2 c Nr. 3 Bd. 1, BI. 6772. 84 GStAPK Merseburg, Rep. 90a B III 2c Nr. 3 Bd. 1, BI. 175-176v • Vg1. Manteuffels Promemoria vom 18. August 1850, GA, Abschriften, Bd. 20,143-147. 85 Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 445-452. 86 Joseph Maria von Radowitz, "Die Krise in meiner dienstlichen Lage", 15. September 1850, und "Mein Eintritt in das Ministerium", 27. September 1850, in: ders., Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10),303-305, 318319. Vg1. Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1),453-464; Orr, Foundation (wie Anm. 68), 475 -476. 87 Friedrich Wilhelm IV. an Nikolaus 1., 20. September 1850, GStAPK, HA Rep. 50 J Nr. 1205, BI. 123. 88 Vg1. z. B. die Rücktrittsgesuche, die Gerlach am 1. Oktober und 6. November entwarf, wie auch die Schreiben seines Bruders Ludwig vom 3. und 13. Oktober

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Doch hierzu kam es bekanntlich nicht. Im Amt blieb Radowitz nur einige Wochen, die ein Nachspiel zu seiner früheren Laufbahn bildeten. Er war entschlossen, seine Deutschlandpolitik bis zur letzten Konsequenz durchzuführen, auch wenn sie doch zu einer militärischen Konfrontation führen sollte. Der russische Kaiser, verärgert über die Ernennung von Radowitz, blieb jedoch auf der österreichischen Seite; und am 26. Oktober befahl der Bundestag in Frankfurt eine "Bundesexekution " in Kurhessen. Radowitz wollte fest bleiben und machte sich mit dem Gedanken einer preußischen Mobilmachung vertraut. Dabei konnte er immer noch auf den Rückhalt des Prinzen von Preußen zählen; ansonsten aber blieb er politisch isoliert, und der ihm Ende September zukommende Macht- und Einflußzuwachs erwies sich schnell als vollkommen illusorisch. Auch Graf Brandenburg, der die Radowitzsche Politik bislang mit einem gewissen Wohlwollen betrachtet hatte, schrak vom neuen Konfrontationskurs ab, insbesondere nachdem er Ende Oktober eine Gesandtschaft nach Warschau schickte, um mit Nikolaus und Schwarzenberg zu verhandeln. Diese Maßnahme hatte ihn davon überzeugt, daß eine ehrenhafte Kompromißlösung mit Österreich erreichbar wäre. 89 Der baldige Rücktritt des neuen Außenministers zeichnete sich ab. Anläßlich einer Sitzung des Staatsministeriums am 1. November stimmten Brandenburg, Manteuffel und der Kriegsminister August von Stockhausen gegen Radowitz, der über die Ergebnisse der Warschauer Verhandlungen äußerst skeptisch dachte. 90 Am darauffolgenden Tag kam es dann zur entscheidenden Sitzung des königlichen Conseil im Schloß Bellevue; die Bundesexekution in Hessen-Kassel hatte schon begonnen. 91 Die überwiegende Mehrheit der Minister, an erster Stelle Brandenburg und Manteuffel, lehnte eine preußische Mobilmachung ab und befürwortete stattdessen ein Einlenken mit Österreich auf der Grundlage der Warschauer Verhandlungen. Nur der König und sein Bruder, der Prinz von Preußen, standen auf der Seite des Außenministers, der am gleichen Abend seinen Rücktritt einreichte. Friedrich Wilhelm hatte keine andere Wahl, als dieses Gesuch anzunehmen und mit der Radowitzschen Politik zu brechen; er klagte mit bitteren Tränen über "die unpreußische, mutlose Gesinnung seiner Minister, keinesfalls wollten sie eine Mobilmachung der Armee, sie wollten uns 1850, in: GA, Abschriften, Bd. 20,167-168,184-185,187-189,196-198. Vg1. ferner

Orr, Foundation (wie Anm. 68), 477-486; Kraus, Gerlach (wie Anm. 29),341-344. 89 Heinrich von Sybel, Graf Brandenburg in Warschau (1850), in: Historische

Zeitschrift 58, Neue Folge 22 (1887), 245-278. 90 Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 339342. 91 Joseph Maria von Radowitz, "Die Katastrophe", in: ders., Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 344; Protokoll der Conseilsitzung vom l. November 1850, GStAPK Merseburg, Rep. 90a B III 2c Nr. 3 Bd. 1, BI. 209-214 v •

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wehrlos den Österreichern überliefern. Manteuffel sei besonders feige gewesen." Auch der Prinz von Preußen war "weinend und zornig", wie Leopold von Gerlach berichtete; er "schimpfte auf die Minister und ihre Feigheit", aber es nutzte alles nichts. 92 Radowitz wurde in einer Sondermission nach London geschickt, um ihn so schnell wie möglich aus der Hauptstadt wegzuschaffen. Kurz danach starb Graf Brandenburg, und an seine Stelle trat Otto von Manteuffel als neuer Ministerpräsident. Nach einigen gefährlichen Wochen kam es dann Ende November 1850 zum berühmten Olmützer Treffen zwischen Manteuffel und Schwarzenberg, das den Weg zur Beilegung der Krise ebnete. Die Unionspolitik war endgültig gescheitert. Die Trennung von seinem Freund konnte Friedrich Wilhelm IV. schwer verkraften. Er war, wie er sagte, "von Schwermuth überwunden und zertreten". Er verabschiedete sich von Radowitz mit überschwenglichen Lobeshymnen: "So strahlend ehrenhaft ist, seit Erfindung der Spezies, noch kein Minister ausgeschieden als Sie! und so jammervoll hat nie ein König dabey gestanden als ich! Ich habe bitterlich geweint." In einem weiteren Schreiben behauptete der Monarch: "Ich danke Ihnen aus meinem tiefsten Herzen für Ihre Amtsführung. Sie war die meisterhafte und geistreiche Ausführung meiner Gedanken und meines Willens. Und beyde kräftigten und hoben sich an Ihrem Willen und Ihren Gedanken, denn wir hatten dieselben." 93 Über seinen Verlust war Friedrich Wilhelm in den letzten Monaten des Jahres 1850 nicht mehr zu trösten. Er war "in einem fürchterlichen Zustand, gebrochen bis in die Seele hinein", berichtete der österreichische Gesandte. 94 Immer wieder brach er in große Gefühlswallungen gegen die Minister und sonstige Ratgeber aus, die seiner Meinung nach den Sturz des "göttlichen" Staatsmanns angeblich herbeigeführt hätten. Die seelischen Wunden, die er dabei erlitten hatte, schlossen sich jahrelang nicht. So bemerkte er 1854, daß er die "Kreuzzeitung" als "meinen Feind" betrachtete, vor allem wegen des Widerstands der Zeitung "gegen meine Politik unter dem theuren, unvergeßlichen, seligen Radowitz." 95 Kein Wun92 Protokoll der Conseilsitzung vom 2. November 1850, GStAPK Merseburg, Rep.90a B III 2c Nr.3 Bd.1, BI. 219-224; Rücktrittsgesuch von Radowitz, 2. November 1850, in: ders., Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 345-346; Leopold von Gerlach, Tagebucheintragung (2. November 1850), GA, Abschriften, Bd. 7, 209, 210 . VgI. ferner Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1),484500. 93 Friedrich Wilhelm IV. an Radowitz, 2. November 1850, in: Radowitz, Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 346; Friedrich Wilhelm IV. an Radowitz, 5. November 1850, GStAPK Berlin, BPH Rep. 50 Nr. 9l. 94 Anton Graf Prokesch von Osten an Schwarzenberg, 10. November 1850, in: Anton Graf Prokesch von Osten (Hrsg.), Aus den Briefen des Grafen Prokesch von Osten k.u.k. österr. Botschafters und Feldzeugmeisters (1849 -1855). Wien 1896, 180. 95 Friedrich Wilhelm IV. an Christian Carl Josias Bunsen, 10. Januar 1854, GStAPK Merseburg, HA Rep. 50 J Nr. 244a, BI. 188.

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der also, daß der siegreiche, aber nachdenkliche Leopold von Gerlach Mitte Dezember 1850 bemerken mußte: "So sind immer noch die Ruinen und Trümmer von Radowitz uns im Wege, besonders im Herzen des Königs [ .•• ]" 96

"Uns gehört die Zukunft", hatte Radowitz angeblich nach seinem Abschied gesagt. 97 Die eigene Niederlage war jedoch unverkennbar und unwiderruflich. Dies erkannte auch Radowitz, der von vornherein überzeugt war, daß "mein Bleiben im Ministerium nur ein ganz vorübergehendes sein könne und werde." 98 Sein Scheitern sei, so fuhr er fort, durch drei Faktoren ermöglicht: den "Charakter des Königs", die Zusammensetzung des Staatsministeriums und die "reaktionäre Partei im Lande" . 99 Die ganze Lage sei ungünstig gewesen, und deshalb wollte er von der öffentlichen Bühne abtreten. Im Januar 1851 schrieb er dem König, daß er immer auf drei Kraftquellen habe rechnen können: "das Wohl Preußens, die deutsche Sache und Ihre Empfindung. Die erstere dieser Bedingungen hat mich stets von den Gothaern geschieden, die zweite von der Kreuzzeitungspartei, die dritte leider oft genug von manchen Ihrer Diener." So sei sein heißester Wunsch der "Rückzug in die Vergessenheit" .100 Mit seiner Familie zog er nach Erfurt, wo er sich wieder schriftstellerisch betätigte. 1851 brachte er die "Neuen Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche" heraus, eine Fortsetzung seiner Betrachtungen aus dem Jahr 1846; 101 danach folgte 1852/53 die Veröffentlichung seiner gesammelten Schriften. 1852 versuchte Friedrich Wilhelm IV. ihn wieder zu reaktivieren, und zwar als Generalinspekteur des militärischen Bildungswesens in Preußen, was ihn nach Berlin zurückbrachte. Seine Ernennung war umstritten, wie vorauszusehen; sie wurde von der Königin, der Kreuzzeitungspartei und dem Ministerpräsidenten atto von Manteuffel, der sogar mit seinem Rücktritt drohte, heftig kritisiert. 102 Politisch tätig wurde Radowitz jedoch nicht 96

247 .

Leopold von Gerlach, Tagebuch (15 . Dezember 1850), GA, Abschriften, Bd. 7,

97 Leopold von Gerlach an Ludwig von Gerlach, 7. November 1850, in: Diwald (Hrsg.), Von der Revolution, Bd. 2 (wie Anm. 6), 718 . 98 Radowitz, "Final Reflexionen", in: ders., Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Möring (wie Anm. 10), 352 . 99 Radowitz, "Rückblick" (4. November 1850), in: ebd., 348. 100 Radowitz an Friedrich Wilhelm IV. , 16. Januar 1851, in ebd. , 380-381. 101 Joseph Maria von Radowitz, Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. Erfurt / Leipzig 1851, teilweise abgedruckt in: Radowitz, Ausgewählte Schriften und Reden, hrsg. von Meinecke (wie Anm. 10), 157 -193 . Vgl. Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1) 524-526. 102 Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 541- 542. Dieser Zwischenfall endete mit einer bekannten Kabinettsordre, die 1890 eine Rolle in den Ereignissen spielen sollte, die zum Rücktritt Bismarcks führten. Vgl. Otto von Manteuffel, Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Freiherrn v. Manteuffel. Hrsg. von Heinrich von Poschinger, Bd. 2. Berlin 1901, 242-251.

5 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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mehr. Seit Jahren war seine Gesundheit angeschlagen; ab Mitte 1853 verschlechterte sie sich zusehends, und am 25. Dezember starb er im Alter von 56 Jahren. In seinem Tagebuch bemerkte Leopold von Gerlach, daß der Tod seines einstigen Freundes ihn mit "Wehmut" erfüllt hätte. 103 Friedrich Wilhelm IV. nahm an der Berliner Trauerfeier für Radowitz teil; da war er, wie ein Beobachter bemerkte, "Allen ersichtlich, auf das Tiefste bewegt." 104 VI. Schlußbemerkungen: Ein deutscher "Tory democrat"?

Leopold von Gerlach bemerkte einmal, daß Radowitz den König "in Widerspruch mit sich selbst" gebracht hätte. 105 Hinter dieser Bemerkung steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, wie Radowitz selbst wohl erkennen mußte. Um es vielleicht etwas präziser und richtiger zu formulieren: Radowitz hatte versucht, Friedrich Wilhelm IV. vor den Folgen seiner widersprüchlichen Politik zu retten. Und dabei wurde Radowitz selbst Gefangener der eigenen Widersprüche. Als Befürworter einer vorausschauenden Sozialpolitik, einer machtbewußten und wagemutigen Deutschlandpolitik und eines begrenzten Konstitutionalismus, vertrat er eine konservative Gesinnung, die durchaus modern und reformbereit war. Bis zum Herbst 1850 - als es schon zu spät war - konnte er sich jedoch nicht dazu überwinden, selbst einen geeigneten Regierungsposten zu bekleiden oder eine ministerielle Verantwortung, die den geänderten, nachrevolutionären Bedingungen der Zeit nach 1848 Rechnung getragen hätte, zu übernehmen. Stattdessen blieb er vorwiegend ein altmodischer Hofpolitiker, und somit hingen seine Stelle und seine Machtbasis von der persönlichen Gunst eines labilen Herrschers und den schwer durchschaubaren Konflikten am Hof ab. Mit seinem Fatalismus und Pessimismus war er persönlich und politisch nie in der Lage, als ein Richelieu oder als ein Olivares aufzutreten, geschweige denn als ein Bismarck; und trotz der dunklen Vermutungen seiner Feinde war er ganz bestimmt kein "Cagliostro" und kein "großer Magier" . 106 Taktisch war er weniger flexibel und politisch weniger erfolgreich als einige seiner konservativen Gegner wie etwa Ludwig von Gerlach, Friedrich Julius Stahl oder Hermann Wagener.

Leopold von Gerlach, Tagebuch (3 . Januar 1854), GA, Abschriften, Bd. 11, 1. Freiherr von Malsen an König Max 11., 7. Januar 1854, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA III / 2634. 105 Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 495. 106 Vgl. August von Stockhausen an Leopold von Gerlach, 26 . Oktober 1850, GA, Abschriften, Bd. 20,206. Ein Vergleich Radowitz - Bismarck wäre ohnehin irreführend, da die Ausgangsbedingungen und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Jahre 1848/50 und 1862/71 wesentlich anders waren. 103

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Trotz solcher Einschränkungen kann Joseph Maria von Radowitz als eine der bemerkenswertesten konservativen Persönlichkeiten seines Zeitalters angesehen werden. Leopold von Gerlach behauptete 1851, Radowitz sei liberal geworden; er sei jetzt ein "ordinärer Gothaer" . 107 Diese Bemerkung war sicherlich stark übertrieben. Mit den Auffassungen schon des gemäßigten Liberalismus konnte sich Radowitz kaum anfreunden, wie seine Schriften belegen. Er war jedoch durchaus bereit, seine hochkonservativen Anschauungen und Gesinnungen nachzuprüfen und den geänderten Umständen eines neuen Zeitalters anzupassen; und dabei konnte er mit neuen politischen Kräften zusammenarbeiten, wenn aus einer solchen Zusammenarbeit ein wiedererstarktes monarchisches System hervorgehen konnte. 108 Wenn ihm ein längeres Leben beschert gewesen wäre, und wenn er einen stärkeren politischen Machtinstinkt besessen hätte, wäre er vielleicht eine Art deutscher "Tory democrat" geworden. Mit der weiteren Entwicklung seiner konstitutionell-monarchischen, nationalpolitischen und christlichsozialen Anschauungen wäre er dies vielleicht sogar im viel echteren und wirkungsvolleren Sinne geworden, als die konservativen englischen Politiker wie Benjamin Disraeli, die häufig als "Tory democrats" bezeichnet worden sind, und angeblich ein sozialreformischeres Bündnis zwischen Aristokratie, Landbesitz und industrieller Arbeiterschaft anstrebten. 109 Darüber kann jedoch nur spekuliert werden. Die historische Bedeutung von Radowitz muß im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten verstanden werden; und so kann er in dieser Perspektive als politisch wichtige und geistesgeschichtlich originelle Gestalt angesehen werden.

107 Leopold von Gerlach an Ludwig von Gerlach, 1. Juli 1851, in: Diwald (Hrsg.), Von der Revolution, Bd. 2 (wie Anm. 6), 749. 108 Insoweit hatte Sigmund Neumann recht, Radowitz als "liberal-konservativ" zu bezeichnen: Neumann, Stufen (wie Anm.2), 141. Vgl. die Betrachtungen in Meinecke, Radowitz (wie Anm. 1), 525-536. 109 Die Forschung zur Geschichte des britischen Konservatismus hat gezeigt, daß Disraeli nicht in erster Linie als "Tory democrat" anzusehen ist, trotz seiner Schriften zur sozialen Frage, seiner frühen Hinneigung zur romantisch-aristokratischen "Young England"-Gruppe und seiner Rolle 1867 beim Zustandekommen des zweiten "Reform Bill"; auch die spätere "Tory democracy" eines Lord Randolph Churchill ist sehr problematisch. Vgl. Robert Blake, Disraeli. London 1966, 167 -220, 450-477; ders., The Conservative Party from Peel to Thatcher. London 1985, 55-57, 100, 101, 136, 147 -148; Paul Smith, Disraelian Conservatism and Social Reform. London / Toronto 1967; Mark S. Looker, Young England, in: Sally Mitchell (Hrsg.), Victorian Britain: An Encyc1opedia. New York / London 1988, 883 - 884.

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Der politische Professor der Konservativen Friedrich lulius Stahl (1802-1861) Von Johann Baptist Müller In der "Evangelischen Kirchen-Zeitung" vom 9. Juli 1862 wurde eine Rede abgedruckt, die Ernst Ludwig von Gerlach vor der Berliner Pastoralkonferenz zum Gedenken an den Gelehrten und Politiker Friedrich Julius Stahl gehalten hatte. Dabei wurde es dem auf diese Weise Geehrten keineswegs an der Wiege gesungen, daß er einmal zum intellektuellen und politischen Führer der preußischen Konservativen avancieren sollte. Der im Jahre 1802 1 in Würzburg geborene Jude Friedrich Julius Stahl konnte an seinem Lebensende auf eine Karriere zurückblicken, die heute noch Verwunderung erregt. Wenn es eine primäre Ursache für den erstaunlichen Lebensweg des 1819 zum Protestantismus übergetretenen Bannerträger des preußischen Konservatismus gibt, dann liegt sie in dem Umstand beschlossen, daß er im geistigen und gesellschaftlichen Umbruch des 19. Jahrhunderts den konservativen Preußen Orientierungsmaßstäbe vermittelte, die diese zum ideologischen Kampfe mit ihren weltanschaulichen Gegnern befähigten. Stahl suchte über die Analyse seiner Zeit zu einer Ordnungsvorstellung durchzudringen, die sowohl den Grundsätzen konservativer Gesellschafts- und Politikgestaltung als auch den Maximen der Neuzeit Rechnung trug. In wie starkem Maße das konservative Preußen Stahls Politikprinzipien als authentisches Zeugnis seines eigenen Denkens und Fühlens ansah, davon gibt Gerlach in seiner Rede in beeindruckender Weise Zeugnis. "Er war Führer einer Fraction, der Fraction, die am entschiedensten eintrat für den irdischen und für den himmlischen König und damit auch am entschiedensten für das irdische und für das himmlische Vaterland. Hohe Beamte, Richter, Verwaltungschefs, Barone, Grafen und Excellencen schätzten es sich zur Freude und Ehre, der Fahne zu folgen, auf welcher der Name des Professors stand, des Fremdlings mit dem süddeutschen Dialect, des Mannes von kleiner Statur und schwacher Gesundheit." 2 Dabei 1 Stahl wurde am 16. Januar 1802 in Würzburg als Sohn des jüdischen Bankiers Valentin Jolson geboren. Von 1819 bis 1823 studierte er Rechtswissenschaften in Würzburg, Heidelberg und Erlangen. Die Universität München ernannte ihn 1827 zum Privatdozenten. 1832 ging er als ordentlicher Professor nach Würzburg und 1834 nach Erlangen. 1840 berief ihn Friedrich Wilhelm IV. an die Berliner Universität. Stahl starb am 10. August 1861 in Bad Brückenau. 2 E. L. v. Gerlach, Stahl. Ansprache an die Berliner Pastoralconferenz von 1862, in: Evangelische Kirchen-Zeitung 55, 9. Juli 1862, 652 .

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Johann Baptist Müller

wäre seine Berufung an die Berliner Universität und das damit verbundene Engagement für die konservative Sache ohne die tatkräftige Hilfe von Friedrich Wilhelm IV. kaum möglich gewesen. Der Respekt, den der preußische König dem süddeutschen Staatsrechtler zeugte, gründete nicht zuletzt auch in der Hoffnung, daß Stahl die Sache der Monarchie erfolgreich zu verteidigen imstande sein würde. Allein Stahl schien ihm befähigt zu sein, einen konservativen Ariadnefaden durch das Labyrinth der modemen Weltanschauungen zu ziehen. Gerlach zufolge war es "ein weiser Entschluß unseres verewigten Königs, bald nach Antritt seiner Regierung Stahl nach Berlin zu berufen, ein Entschluß, dessen wichtige und heilsame Folgen damals nur wenige ganz voraussahen." 3 Da Stahl die historisch-politische Entwicklung seiner Zeit im Brennpunkt seiner konservativen Weltanschauung bündelte, verwundert es kaum, wenn seiner Berufung an die Berliner Universität von liberaler Seite aus heftiger Widerstand entgegenschlug. Er mußte notwendigerweise diejenigen enttäuschen, die ihre politischen Intentionen auf die Entkirchlichung der Politik im besonderen und den irreversiblen Fortschritt im allgemeinen gegründet hatten. So schreibt ein anonymer Buchautor: "Sowohl aus der Mitte der Facultät, so wie namentlich auch von Seiten des damaligen Cultusministers v. Altenstein, welcher als orthodoxer Hegelianer den großen Gegner des Hegel'schen Systems, als welcher sich Stahl in seiner Philosophie des Rechts bekundet hatte, nicht hold sein konnte, wurden dieser Berufung indeß anfangs erhebliche Schwierigkeiten entgegengestellt".4 Altensteins Widerstand gegen Stahls Berufung war von seiner ideologischen Warte aus durchaus begründet. Stahl, der die Universität als entscheidendes Forum für die geistigen Kämpfe seiner Zeit begriff, versuchte vehement, Anti-Hegelianern Professorenstellen zu verschaffen. Wilhelm FüßI zufolge gehörte Stahl zu denjenigen Hochschullehrern, die der geistigen Formung der Studenten "ein sehr viel größeres Gewicht beimaß als viele seiner Kollegen". 5 Will man sich der politischen Tätigkeit Stahls in all ihrer Breite versichern, so muß auch ein Blick auf seine publizistische Tätigkeit geworfen werden. Seine Anstrengung, einer zwischen den Extremen der Reaktion und der Revolution schwankenden Welt den Weg zu weisen, ließ Stahl zu einem höchst einflußreichen Mitarbeiter der "Neuen Preußischen Zeitung", der sogenannten "Kreuzzeitung" werden. Die Aufsätze, die er in dieser Publikation veröffentlichte, legten nach FüßI "die Programmatik der preußischen Konservativen nach 1848 fest". 6 Ebd. Ohne Verfasser, Pernice, Savigny, Stahl. Berlin 1862, 75. 5 W. Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802 -1861), Das Monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis. Göttingen 1988, 112. 3

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Die Besinnung darauf, wie der konservativen Gedankenwelt Sukkurs verliehen werden kann, führte Stahl auch zu einer höchst umtriebigen parteipolitischen Aktivität. Sie gewann ihre Antriebe aus der Überlegung heraus, daß den Parteien des Fortschritts eine Organisation entgegengestellt werden müsse, die dem konservativen Politikgedanken verpflichtet ist. Wie dringend ein derartiges Vorhaben war, zeigte nicht zuletzt der Ausbruch der Revolution von 1848. Stahls parteipolitisches Engagement mündete notwendigerweise in eine äußerst erfolgreiche parlamentarische Karriere, die für einen Universitätsprofessor konservativer Provenienz keineswegs selbstverständlich war. Dabei sah Stahl sich immer schon außerstande, die Grenzen zwischen der akademischen und der politischen Tätigkeit genau zu bestimmen. Er fühlte die Verpflichtung, die bei seiner akademischen Tätigkeit gewonnenen politischen Einsichten in der Volksvertretung durchzusetzen. Seine parlamentarische Laufbahn dauerte 14 Jahre. 7 Die dem liberal-konservativen Schema von Tradition und Fortschritt verpflichtete Ordnungsvorstellung Stahl speist sich vor allem aus christlichen Quellen. Dabei ist es sein protestantischer Glaube, der ihm die Synthese von progressiven und beharrenden Ordnungsvorstellungen ermöglicht. Scharf wendet er sich dagegen, der Gegenwart durch atheistisch eingefärbte Politikutopien zu entfliehen. Nur unter christlichem Vorzeichen sei ein politisches Gemeinwesen auf Dauer zu stellen. Ohne sprachliche Ambivalenz und interpretatorische Hintertürchen geht er davon aus, daß dem Staate die "Handhabung der Gebote Gottes" B obliege. Sein letzter Sinn und Zweck sei es, "Erhalter und Rächer der Zehn Gebote" 9 zu sein. Eine allein auf eine weltliche Perspektive eingeschränkte Politiklehre übersehe, daß die Monarchie auf Gedeih und Verderb mit der christlichen Religion verbunden ist. Jeglicher Antimonarchismus beziehe seine intellektuelle Stoß- und Überzeugungskraft aus einer atheistischen Position. "Nimmt in der Nation die Lossagung vom christlichen Glauben zu, die sich jetzt so mächtig zeigt, hören die öffentlichen Institutionen auf, vom Christentum bestimmt zu sein, so ist es nicht mehr möglich, das Ansehen des Königtums zu behaupten". 10 Nicht zuletzt in der Vehemenz, in der in Frankreich die Gottlosigkeit gegen das Ideal des christlichen Staates ausgespielt werde, zeige sich die negative Kehrseite des modemen Denkens. Will man den ganzen Abstand Ebd., 134. Ohne Verfasser, Pernice, Savigny, Stahl (wie Anm. 4), 79. B F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Band 11. Darmstadt 1963, 144. 9 Ebd., 146. 10 F. J. Stahl, Der christliche Staat, Zweite Auflage, Berlin 1858, 10. 6

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ermessen, der den wahren Fortschritt vom falschen unterscheide, genüge ein Blick auf dieses von revolutionären Unruhen erschütterte Land. Diesem politischen Irrweg müsse in Deutschland unter allen Umständen Einhalt geboten werden. "Ist es etwa ein Fortschritt des Menschengeschlechts, daß im vorigen Jahrhundert Materialismus und Atheismus die Französische Nation vollständig durchdrangen, und daß der gegenwärtige Zustand noch zum großen Teil darauf gründet? ... Die staatlichen Verhältnisse sind indifferent gegen die Religion, ja es ist, kann man sagen, der christliche Charakter aus ihm verbannt". 11 Stahls ostentative Zurückweisung aller atheistischen Politikkonzeptionen sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß er auch allen theokratischen Ordnungsentwürfen eine scharfe Absage erteilte. Geradezu thomistisch 12 mutet seine tief eingewurzelte Überzeugung an, daß die Gesetze des Tempels nicht mit denjenigen des Palastes ineins gesetzt werden dürfen. Die Sphäre irdischer Macht konstituiert sich bei aller Abhängigkeit von den göttlichen Geboten durch einen eigenen Seinsmodus. "Im gegebenen Zustande aber wird diese Herrschaft durch menschliche Organe in selbständiger Macht ohne göttlichen Einfluß vertreten, sey dieß ein Fürst, eine Versammlung oder überhaupt die Mehrheit der Menschen". 13 Aus diesem Grunde ist "jede angebliche Theokratie unzulässig" .14 Der staatlichen Machtsphäre gebührt gegenüber der Kirche ein Eigenrecht. "Der Begriff des Staates bezeichnet eben diese rein menschliche Herrschaft im Gegensatze zur Theokratie". 15 Mit Stahls Ablehnung aller theokratischen Ordnungsvorstellungen geht auch seine rigide Absage an alle absolutistischen Staatskonzeptionen einher. In der Schärfe, in der er sich gegen sie wendet, dokumentiert sich auch sein Bestreben, den Rekurs des absolutistischen Herrschers auf das Christentum in Frage zu stellen. "Der Gedanke der Legitimität und der Obrigkeit von Gott ist aber nichts weniger als absolutistisch" .16 Seine Ablehnung aller theokratisch-absolutistischen Ordnungsentwürfe macht Stahl auch zum unerbittlichen Gegner des katholischen Konterrevolutionärs Joseph de Maistre 17 . Der Ausgangspunkt seiner Kritik an dem Ebd., 77. Stahl wurde von Chr. C. J. Bunsen einer allzu großen Sympathie für die Katholische Kirche geziehen. Vgl. dazu seine Abhandlung: Die Zeichen der Zeit. Briefe an Freunde über die Gewissensfreiheit und das Recht der christlichen Gemeinde, Band 1. Leipzig 1855, 139 und passim. 13 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Band (wie Anm. 8), 147. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie. Zweite Auflage. Berlin 1849, 20. 11 12

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Franzosen ist Stahls Überzeugung, daß de Maistres Ordnungsvorstellungen dem Geiste eines wahrhaft zeitadäquaten Konservatismus diametral widersprechen. "Seine politischen Ansichten ... sind in grellem Widerspruch mit den wirklichen Bedingungen des Lebens und den wahren Anforderungen der Gegenwart" .18 Im Gegensatz zur Politiklehre de Maistres stehen Stahl zufolge in derjenigen von Edmund Burke die Legitimität der Tradition und der Imperativ der Moderne keineswegs dichotomisch einander gegenüber. Es sei das Verdienst dieses Engländers, den Gegensatz zwischen Altem und Neuem überwunden und auf diese Weise entscheidend zum Entwurf eines modernen Konservatismus beigetragen zu haben. Der Respekt, den Stahl Burke zeugt, gründet nicht zuletzt in seiner Bewunderung für die antidogmatische Denkweise des britischen Konservativen. "Da ist nichts von Maistre's Überspanntheit". 19 Dabei seien in Burkes der geschichtlichen Entwicklung Tribut zollendem Denkgefüge dankenswerterweise auch genuin anti progressive Momente eingefügt worden. Nie sei es ihm in den Sinn gekommen, die "englische Nation in eine gleichheitliche Demokratie" 20 aufzulösen.

Stahls Bejahung des modernen Konservatismus von Edmund Burke ließ ihn allerdings keineswegs zum Parteigänger derjenigen werden, die Christentum und Liberalismus zu versöhnen trachteten. Sein Plädoyer für einen zeitgemäßen Traditionalismus schützte ihn keineswegs vor Abgrenzungsreflexen gegenüber dem katholischen Liberalismus der französischen Avenir-Gruppe. 21 Die Staatstheoretiker Lacordaire, Lamennais und Montalembert verraten ihm zufolge ein höchst oberflächliches Verständnis von Christentum und Demokratie. Die Leichtfertigkeit, mit der sie zu Werke gingen, finde ihre Entsprechung in einer Politikkonzeption, die sich in höchst bedenklicher Weise dem westlichen Verfassungsdenken annähere. Die Parteigänger des liberalen Katholizismus Frankreichs forderten "politische Freiheit in einer Weise, daß sie vom liberalen Constitutionalismus schwer zu unterscheiden ist". 22 Man preise in diesem Denkzirkel sogar die belgische Verfassung von 1841 und die französische von 1830. Als Protestant müsse er es zutiefst beklagen, daß es "innerhalb des Katholizismus ein System und eine Richtung moderner Freiheit" 23 gebe. Der ansonsten kei17 Vgl. dazu M. Hackenbroch, Zeitliche Herrschaft der göttlichen Vorsehung. Gesellschaft und Recht bei Joseph de Maistre. Bonn 1964. 18 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Band 1. Darmstadt 1963, 551. 19 Ebd., 555. 20 Ebd., 558. 21 Vgl. dazu H. Maier, Katholizismus und Demokratie. Freiburg / Basel/Wien 1983. 22 F. J. Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip. Aalen 1987, 46. 23 Ebd.

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neswegs antikatholisch eingestellte Stahl 24 fordert seine Glaubensgenossen auf, dieser christlichen Interpretation des Freiheitsgedankens energisch zu widerstehen. "Das alles dürfen wir Evangelische nicht nachtun". 25 Die Zurückweisung der Ordnungsgedanken des theokratischen Konterrevolutionärs de Maistre und seine Kritik am katholischen Liberalismus gehen bei Stahl auch mit einer scharfen Ablehnung all derjenigen Autoren einher, die einer altständischen Politik- und Gesellschaftsverfassung das Wort reden. Unter dem einem modernen Konservatismus verpflichteten Blick Stahls wird aus der rückwärtsgewandten Haltung der patrimonialistisch gesinnten Konservativen eine Ordnungskonzeption, der ausgesprochen restaurative Züge eignen. Stahl zufolge können es die "früheren bloß ,Ständischen' ... kaum mehr ablehnen, in das constitutionelle System einzugehen".26 Hinter der rigide ständischen Ordnungsidee verberge sich eine Politikkonzeption, die mit den sozialen Erfordernissen der Gegenwart gänzlich inkommensurabel sei. Aus diesem Grunde fällt auch die Staatslehre Carl Ludwig von Hallers dem Verdikt Stahls anheim. "Der ... Gedanke Hallers von dem privatrechtlichen Charakter der fürstlichen Gewalt ist gänzlich falsch. Er ist eine Verzerrung und Zerreißung des öffentlichen Zustandes, ist eine Entweihung der fürstlichen Gewalt selbst und eine Entwürdigung der Untertanen, die so zu bloßen Mitteln für die Fürsten werden" . 27 Allein eine moderne Auffassung des Ständewesens sei imstande, den Erfordernissen der Gegenwart zu entsprechen. "Die ständische Verfassung nach der konsequenten Theorie der Hallerschen Schule hat deshalb keine praktische Bedeutung in sich, sondern nur in der Abwehr des neueren Ständewesens" . 28 Wie sehr sich Stahl dem Geist der Neuzeit öffnete, wie wenig er von einer romantischen Verklärung der Vergangenheit hielt, geht nicht zuletzt auch aus seiner Kritik an Adam Müllers ständisch geprägter Politiklehre hervor. Dieser sei monomanisch auf die "Vergangenheit des Mittelalters" 29 fixiert. 24 Stahl ist der Katholischen Kirche immer mit Hochachtung begegnet. Er war zutiefst der Auffassung, daß die "beiden Confessionen wirklich eine gegenseitige Ergänzung sind" (Der christliche Staat [wie Anm. 10], 72). In der katholischen Religion seien ohne Zweifel "ächte Züge christlicher Kirche" (ebd.) bewahrt. Für eine gedeihliche Entwicklung des Staates sei es notwendig, die Leitprinzipien beider Konfessionen zu beachten. "Insbesondere für den Staat möchten das katholische Princip der Autorität und geschichtliche Continuität und das protestantische der freien Entwicklung wohl beide ihr Recht behaupten" (ebd.). Dabei schloß Stahl keineswegs aus, daß es eines Tages zur Wiedervereinigung der beiden Konfessionen kommt. Vgl. dazu auch Anm. 12. 25 F. J. Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip (wie Anm. 22), 46. 26 F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (wie Anm. 16), V. 27 F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Berlin 1863, 295. 28 F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip, hrsg. v. M. Krammer. Berlin o. J., 9. 29 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Band I (wie Anm. 18), 569.

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Seine Ordnungsdoktrin entrate jenem Maß an Modernität, ohne die ein vernünftiger Konservatismus nicht auskommen könne. Bei Autoren wie Adam Müller entstehe bestenfalls eine in sich stimmige Staatstheorie, keinesfalls aber die so notwendige Verbindung altbewährter konservativer Prinzipien mit den Anforderungen der Gegenwart. Müllers Ordnungslehre sei wohl "eine tiefbegründete Polemik gegen die neuere Lehre, .. . eine der edelsten Apologien des Mittelalters". 30 Sie gebe allerdings in keiner Weise die intellektuellen Mittel an die Hand, "um jetzt einen Staat einzurichten und zu regieren". 31 Die rigide Zurückweisung aller patrimonialistischen Ordnungsvorstellungen verschwistert sich bei Stahl mit einer herzhaften Bejahung des Freiheitsgedankens. Die Prinzipien von Ordnung und Freiheit stehen bei Stahl keineswegs unvermittelt nebeneinander, sondern stehen im Verhältnis einer verblüffend produktiven Synthese. Stahl, der bis heute für viele progressiv eingestellte Politologe und Historiker als ein krasses Beispiel für einen rückwärtsgewandten Denker, als ein Reaktionär 32 gilt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Anwalt einer Lebensordnung, in der liberale und konservative Momente wirkungsvoll miteinander korrespondieren. Einen entscheidenden Anteil an der Ausgestaltung seiner Freiheitslehre hat sicherlich sein protestantisches Christentum. Es gibt sich bei ihm keineswegs nur als eine Lehre zu erkennen, die in der rigiden Betonung des Ordnungsgedankens aufgeht. Der Reformation komme das kaum hoch genug zu veranschlagende Verdienst zu, der Ausweitung des menschlichen Freiheitsspielraumes das Wort geredet zu haben. "Die Kirchenverbesserung des 16. Jahrhunderts hat diese Freiheit auf religiösem Gebiete gewonnen und damit die neue Weltepoche begründet". 33 Dabei dehnt sich nach Stahl das Prinzip der religiösen Freiheit auch auf den Bereich des Politischen aus. Mit der Reformation sei unzweideutig der "Drang nach politischer Freiheit" erwacht3 4 • Das allgemeinen Priestertum der protestantischen Religion erheische notwendigerweise "ein allgemeines Staatsbürgertum auf dem politischen Gebiete". 35 Zur Signatur des christlichen Einflusses auf die Staatengeschichte gehöre auch, daß dieser eine ungemein egalisierende Wirkung ausgeübt hat. Das Christentum bewegte sich von Anfang an in den Dimensionen einer Weltinterpretation, die grundsätzliche Rangunterschiede zwischen den Angehörigen eines Staates verwarf. Ihm gebühre das unsterbliche Verdienst, den 30 31 32

33 34

35

Ebd. Ebd. W. Füßl, Professor in der Politik (wie Anm. 5), 11l. F . J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (wie Anm. 27), 9. F. J. Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip (wie Anm. 22), 33. Ebd., 32.

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orientalischen Staat mit seiner rigiden Über- und Unterordnung ein für allemal überwunden zu haben. "Durch das Christentum wurde das orientalische Kastenprincip von Grund aus beseitigt" . 36 Die christliche Religion lasse "keine generische und durch Geburt unabänderlich bestimmte Ungleichheit, keine Kluft der Stände mehr zu". 37 Der Geist des Christentums habe auch den Sklavenhandel und die Leibeigenschaft abgeschafft sowie das Justizwesen in einem humanen Sinne beeinflußt. "Christliche Sitte bestimmt unsere Strafrechtspflege, daß Marter und Verstümmelung abgeschafft ist, für den Sträfling während und nach der Strafzeit leiblich und geistlich gesorgt wird". 38 Nicht nur im Christentum, sondern auch in den modernen Emanzipationsbewegungen spürt Stahl Bestimmungsmomente auf, deren legitimer Charakter von ihm durchaus anerkannt wird. Dabei ist seine Einstellung zur Französischen Revolution von einer Haltung bestimmt, die sowohl ihren Licht- als auch ihren Schattenseiten gerecht zu werden bemüht ist. Zu ihren eindeutig negativen Begleiterscheinungen gehöre, die Rechte der Bürger mit Füßen getreten zu haben. Sein Unbehagen entzündet sich vor allem an ihrem repressiven Charakter. "Denn es ist die äußerste Unterdrükkung des Menschen, dem Belieben der jeweiligen Majorität oder siegenden Partei unbedingt unterworfen zu sein, jede Sicherheit und Unantastbarkeit seiner Rechte, ja seiner Existenz selbst zu entbehren". 39 Richte man sein Interesse jedoch über die eindeutig negativ zu Buche schlagenden Aspekte dieser Revolution hinaus, so müsse auch ein konservativ denkender Zeitgenosse zu der Feststellung gelangen, daß ihr auch positiv zu bewertende Bestimmungsmerkmale eignen. Zu ihren Ruhmestaten gehöre, überholte soziale und politische Strukturen aus der Welt geschafft zu haben. Sie habe "mit der Erschütterung der alten Ordnung natürlich auch viel Abgestorbenes und Faules der alten Ordnung beseitigt" .40 Der einem radikal reaktionären Standpunkt verpflichtete Politikanalytiker übersehe geflissentlich, daß Revolutionen neben ihren zweifellos vorhandenen destruktiven Tendenzen auch einen geschichtlichen Wahrheitskern besitzen. "Blos die Revolution niederschlagen, ist schon keine gesunde Reaktion; aber entschieden falsch ist es, Gesundes mit jener zu treffen".41 Stahls Absicht, die historische Legitimität revolutionärer Ereignisse zu entschlüsseln, darf allerdings keineswegs mit einer revolutionsbe36 37

38 39

18.

F. J. Stahl, Der christliche Staat (wie Anrn. 10), 12. Ebd. Ebd., 14. F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (wie Anrn. 16),

40 Ebd., V. 41 F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (wie Anrn. 27), 335.

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geisterten Haltung verwechselt werden. Weit davon entfernt, dem progressiven Schema von Verheißung und Erfüllung anheimzufallen, die konservative Skepsis gegenüber allen Volksaufständen aufzugeben, setzt Stahl diese in ein eher abgeschwächtes historisches Recht. So sehr die Trennungslinien zwischen Revolutionskritik und Revolutionsbejahung bei Stahl zerfließen, von einer prinzipiellen Ablehnung von Volksaufständen kann bei ihm jedoch keine Rede sein. Eine die Zeitbedürfnisse berücksichtigende konservative Theorie könne ihr Gedankengebäude allerdings nur auf dem Boden errichten, den die Französische Revolution geschaffen hat. "Das ist nicht eine Versöhnung der Revolution, sondern eine Versöhnung mit der Zeit, ein Eingehen auf die wirklichen Aufgaben der Gegenwart". 42 Stahl warnt seine konservativen Gesinnungsfreunde auch davor, allzu lautstark das Schreckbild eines illegitimen Liberalismus zu zeichnen. Der Umstand, daß Menschen- und Bürgerrechte auch von den fortschrittlichen politischen Kräften gefordert werden, sei noch kein Grund, dieses Postulat ins illegitime Abseits zu verweisen. Auch der konservativ gesinnte Zeitgenosse habe diese Prinzipien zu akzeptieren. "Die gegründeten Forderungen nach Schutz der individuellen Freiheit, nach verbürgten staatsbürgerlichen Rechten, nach politischen und socialen Vollrechten des höheren Bürgerthums, nach unverbrüchlicher Verfassung und Rechtsordnung abweisen, ihnen entgegenzutreten ... das ist falsche Reaction". 43 Stahl legt allerdings auch allergrößten Wert darauf, seinen Freiheitsbegriff von demjenigen des Liberalismus abzusetzen. Durch das Bild, das er von der menschlichen Freiheit zeichnet, scheint seine Absicht durch, die legitimen Ansprüche des Individuums mit den genauso berechtigten des politischen Gemeinwesens zu verbinden. Dagegen ist ihm der liberale Begriff der Freiheit zu solipsistisch geraten. Sie hypostasiere den einzelnen zur selbstherrlichen sozialen und politischen Figur. "Statt für das Recht der Person eine Stelle innerhalb der öffentlichen Lebensordnung der Nation anzusprechen, vernichtet sie alle öffentliche Lebensordnung der Nation und läßt nichts gelten als das Recht der Person. Statt dem Menschen in den Institutionen Freiheit zu gewähren, will sie ihn frei machen durch den Untergang der Institutionen". 44 Stahls politische Ordnungskonzeption gewinnt eindeutig im Spannungsfeld der Pole Staatsautorität und bürgerliche Freiheit ihre unverwechselbaren Konturen. Sie bezieht ihre Attraktionskraft durch die sinnvolle Verbindung beider Zielvorhaben. "In Wahrheit sind es zwei Pole, um welche sich das Leben jeder Nation bewegt. Der eine ist jene öffentliche Lebensord42

43 44

Ebd., 336. Ebd., 334. Ebd., 104.

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nung, d. i. das gedankenvolle nach seinen inneren Zwecken eingerichtete Gemeinwesen, der andere ist die individuelle Freiheit". 45 Allerdings bestehe immer die Gefahr, sich in der übermäßigen Betonung eines Spannungspoles zu verlieren. Dabei gehöre es zu den bedauernswerten und kaum ausrottbaren Defizienzen der liberalen Bewegung, daß sie zu sehr auf das Freiheitsideal fixiert ist und dem Staate nur noch eine Nachtwächterfunktion zugestehe. "Die liberale Partei gibt den einen jener Pole, den ersten, völlig auf". 46 Mit der Ablehnung des liberalen Freiheitsbegriffes geht auch eine Zurückweisung des westlichen Verfassungsdenkens einher. Diese Haltung gewinnt ihre Beweiskraft aus Stahls Behauptung heraus, dieses sei zu sehr auf einen mechanistischen Ton gestimmt. Sein vom Maschinenzeitalter bestimmtes Denken mache den Staat "zum bloßen Mechanismus, an dem auch das Königtum nur eine ergänzende Schraube ist, und sie vertilgt selbst den Gedanken der Autorität, indem derjenige, der die Autorität ist, nicht herrscht und regiert, und die da herrschen und regieren, keine Autorität sind". 47 Nicht zuletzt hinter dem genuin westlichen Begriff der Volkssouveränität verberge sich eine Politiknotion, die mit dem antimechanistischen deutschen Staatsdenken inkommensurabel sei. Ihre ausgesprochen eindimensionale Sichtweise habe sich so sehr in das Bewußtsein der an der Moderne orientierten Menschen geschoben, daß darüber die Notwendigkeit einer vernünftigen Staatsautorität völlig aus dem Blick geriet. "Es hat aber der Grundsatz der Volkssouveränität auch nothwendig die Wirkung, daß kein öffentlicher Zustand, keine Ordnung mehr Dauer und Bestand hat".48 Dabei entrate die Lehre von der Volkssouveränität auch jeglichen historischen Bezuges. In ihr sei der Geist der Jetztzeit dominant geworden, jeglicher Sinn für die Tradition geschwunden. Wie Edmund Burke, so findet sich auch Stahl mit diesem antihistorischen Denken nicht ab. "Der Wille des früheren Volkes darf ... keine Schranke sein für den Willen des jetzigen Volkes". 49 Wolle man nicht einer einseitigen Konzentration auf die pure Reaktion einerseits und die rigide Modernität andererseits erliegen, so hat man Stahl zufolge auch im Verfassungsleben einer einsichtigen Verbindung von Tradi45 Ebd., 105. 46 Ebd. 47 F. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der deutschen

Nationalversammlung und nach dem Entwurf der königlichen Regierungen. Berlin 1849,9. 48 F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (wie Anm. 16), 17. '49 Ebd.

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tion und Jetztzeit das Wort zu reden. Aus diesem Grunde gehöre es zu den wichtigsten Aufgaben der Deutschen, die westlichen Verfassungsvorstellungen vehement zurückzuweisen. Für ihn ist es "das dringendste Gebot, daß uns das politische System des Westens fernbleibe: die Volkssouveränität, die Teilung der Staatsgewalt, die Republik unter der Form der Monarchie, die Kammerherrschaft und deren Begleiterin, die Kammerbestechung, der Aggregatismus entständeter, bloß numerischer Volksrepräsentation".50 Was sich im westlichen Verfassungsdenken ausdrücke, verweise keineswegs auf eine den Deutschen adäquate Politikverfassung, sondern rücke vielmehr seinen antideutschen Grundcharakter in ein besonderes Licht. Nur ein irregeleiteter Liberalismus könne deshalb meinen, daß Deutschland aus der westlichen Verfassungsdoktrin politische Vorteile ziehen könne. "Sollte dieses System über unser Vaterland hereinbrechen, so wäre das ein Unglück, unendlich schwerer als ein Zustand geringerer Beteiligung der Nation an der Staatslenkung" . 51 Stahls Ablehnung des westlichen Parlamentarismus wird auch von seiner Überzeugung bestimmt, daß dieser christentumsfeindliche Tendenzen aufweist. Setze man das monarchische Prinzip außer Kraft, falle der Staat notwendigerweise der Entchristlichung anheim. Habe der König nur noch als "Willensvollstrecker der Kammermajoritäten" 52 zu fungieren, drohe die Säkularisierung des politischen Gemeinwesens. "Wenn die Kammern allein zu beschließen hätten, so wären wir längst an der völligen Entchristlichung des Staates, ja vielleicht schon an der Verfolgung der wirklichen Christen angelangt".53 Stahl wird man an diesem Argumentationspunkt kaum von dem Vorwurf entlasten können, zu dichotomisch argumentiert zu haben. Ein Blick auf den englischen Politikprozeß zeigt, daß nicht zuletzt auch die Liberalen den Lehren des Christentums zutiefst verpflichtet waren. So bekannte sich Gladstone expressis verbis zur christlichen Lehre. 54 Dabei war es Stahl selber, der darauf hinwies, in wie starkem Maße sich in England die politischen Forderungen der Neuzeit vor dem Richterstuhl überzeitlicher Normen bewährt haben. Gerade England habe von jeher die vom Volke eingeforderten Rechte auf den Hintergrund ewig gültiger Werte projiziert und auf diese Weise zur Stabilität seines politischen Gemeinwesens beigetragen. "Sind aber jene Grundgedanken anerkannt und sind sie lebendig im Bewußtsein des Volkes, dann und nur dann ist eine Steigerung 50

F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip (wie Anm. 28), 5.

52

F . J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung (wie Anm. 47), 7.

51 Ebd., 5 f.

53 F . J. Stahl, Brief vom 5. Dezember 1849 an H. v. Rotenhan, in: E. Salzer, Stahl

und Rotenhan, in: Historische Vierteljahrsschrift 14, 1911, 547. 54 Vgl. dazu J. P. Parry, Democracy and Religion, Gladstone and the Liberal Party. Cambridge 1989, 150 f.

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der Volksrechte und der Macht des Parlamentes in hohem Grade möglich, ohne daß.dadurch die Ordnung bedroht ist, wie das die Erfahrung Englands bestätigt".55 In einem dem ewigen Sittengesetz verpflichteten Staate ist auch die Forderung legitim, daß "der Rechtsstaat ... dem Staatsbürger eine unverletzliche Sphäre gegenüber der Criminal- und Polizeigewalt durch bestimmte Schranken und Formen" 56 sichere. In einem derartigen Gemeinwesen kann auch eine" verfassungsmäßige Festsetzung über die Gewalt des Souveräns und die Rechte der Landesvertretung" 57 den institutionellen Aufbau des Staates bestimmen. Dann ist auch ein "verständiges Maß der Preßfreiheit und des Vereinsrechts" 58 möglich. Die Besinnung darauf, wie ein praktikabler Grundrechtskatalog auszusehen hat, führte Stahl zu der Auffassung, daß dieser "das Maß des Praktischen und Notwendigen" 59 nicht überschreiten sollte. Dabei bargen ihm zufolge die in der Frankfurter und der Unionsverfassung kodifizierten Grundrechte die Gefahr in sich, die Staatssicherheit zu bedrohen. Die Forderung von Grundrechten muß immer mit der Einsicht verbunden sein, daß diese mißbraucht werden können. Das Grundrechtsdenken aus dem antietatistischen Elfenbeinturm der Liberalen schlage diese Gefahr leichtfertig in den Wind. So sei es kaum von der Hand zu weisen, daß "freie Volksversammlungen in Masse" 60 und den "Aufstand unmittelbar verbreitende Vereine" 61 eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen. Stahl trat auch den liberalen Forderungen entgegen, die Rechte des Königtums zugunsten derjenigen der Volksvertretung entscheidend einzuschränken. Obgleich er keineswegs für ein einflußloses Parlament plädierte, wandte er sich heftig gegen den Vorschlag liberaler Politiker, den Art. 108 der oktroyierten Verfassung Preußens vom 5.12.1848 abzuändern. Ihr entscheidender Passus lautete: "Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben" . 62 Die Repräsentanten des preußischen Liberalismus waren der Auffassung, daß dieser Verfassungsartikel das Budgetrecht der Volksvertretung entscheidend einschränke. Wilhelm Füßl zufolge erlaubte er es der Regierung, 55

27 .

F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (wie Anm. 16),

56 F. J . Stahl, Der christliche Staat (wie Anm. 10), 73. 57 Ebd. 58

F. J. Stahl, Die Revolution und die constitutionelle Monarchie (wie Anm. 16),

59

F. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung (wie Anm. 47), 62.

IV.

60 Ebd., 68. 61 Ebd. 62 Zitiert in E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band

1. Stuttgart 1961, 394.

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sich "permanent auf eine finanzielle Basis" 63 zu stützen. Das Parlament hatte nach dem in Rede stehenden Verfassungs artikel in der Tat nur das Recht, neue Steuern zu bewilligen; die alten waren seiner Gestaltungsmacht völlig entzogen. Stahl läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er die alte Fassung dieses Artikels ohne Einschränkung gutheißt. "Da möchte ich doch fürs Erste fragen, ob es Recht ist, die Sicherung des Staatshaushalts dem politischen Parteikampf zum Opfer zu bringen, ob in Zukunft unsere Finanzen, unser Militair, unsere Justiz nicht nach ihren eigenen Erfordernissen und Rücksichten eingerichtet werden sollen, sondern Alles nur nach der Rücksicht auf die Mehrung der Volksgewalt" . 64 Während die Liberalen die Macht der Volksvertretung gegenüber dem Monarchen entscheidend auszuweiten gewillt waren, ging es Stahl darum, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Verfassungsinstitutionen zu bewahren. Ihm war es darum zu tun, die Scheidelinie zwischen Scheinkönigtum und eingeschränkter Monarchie genau zu bestimmen. Das Recht der Kammer, Steuern zu verweigern, wäre seiner Ansicht nach ein erster Schritt auf dem Wege zur Parlamentarisierung des preußischen Staates gewesen. Während Stahls Interpretation des Artikels 108 der Preußischen Verfassung ausgesprochen antifortschrittlichen Geist atmet, ist seine Haltung zur Frage der Ministeranklage auf einen genuin liberalen Ton gestimmt. Sie zeigt augenfällig, daß er keineswegs gewillt war, die rückwärtsführenden Holzwege der altständischen Konservativen zu beschreiten. Wie sehr für ihn die Fluchtmöglichkeiten in die Vergangenheit ein für allemal verbaut waren, demonstriert sein Eintreten für die Verantwortlichkeit der Minister vor dem Parlament. Nach dem Artikel 59 der oktroyierten Verfassung sollte diese ein besonderes Gesetz normieren. In seiner Botschaft vom 7. Januar 1850 versuchte Friedrich Wilhelm IV., diese Verantwortlichkeit in einem für ihn vorteilhaften Sinne zu regeln. Am 10. April 1851 wurde die Gesetzesvorlage vom Parlament verworfen. An dieser Zurückweisung war die Konservative Fraktion maßgeblich beteiligt. Stahls relativ progressive Vorstellungen über die Verantwortlichkeit der Minister wurden im Regierungsentwurf dieses Gesetzes allerdings nicht berücksichtigt. Sie fanden keinerlei Beachtung. Sein Eintreten für eine weitgehende Verantwortlichkeit der Minister unterschied sich allerdings auch von den Verfassungsideen der sogenannten konstitutionellen Partei. Sie schossen ihm zufolge weit über das Ziel hinaus. Letzten Endes führten sie zur "vollständigen Untergebenheit" 65 der Minister gegenüber W. Füßl, Professor in der Politik (wie Anm. 5), 268. F . J. Stahl, Rede über das Steuerverweigerungsrecht in der 55. Sitzung der Ersten Kammer am 16. Oktober 1849, in: F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Band (wie Anm. 8), 711. Vgl. dazu auch G. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Düsseldorf 1982,138-140. 63

64

6 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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dem Parlament. Um eine derartige Palamentssouveränität zu verhindern, plädierte Stahl dafür, daß eine Ministeranklage nach einer Kammervertagung- oder Auflösung erneuert werden müsse. 66 Wilhelm FüßI zufolge verstand Stahl "die Kammerauflösung als Notbremse gegen liberal-konstitutionelle Ansprüche, als Schutzwaffe des Monarchen. Um diese Waffe nicht abzustumpfen, war ihr Einsatz nur dann vertretbar, wenn fundamentale Interessen des Monarchen auf dem Spiel standen" . 67 Wären Stahls Vorstellungen Gesetz geworden, hätte dies zu einer entscheidenden Machtausweitung des Parlaments geführt. Sein Vorschlag, daß eine Anklage bei jeder Verfassungsverletzung möglich war, stärkte FüßI zufolge "das politische Gewicht des Parlamentes". 68 Indem sich Stahl auch an diesem Punkte dem absolutistischen Interpretationsmuster verweigerte, gab er sich als Anwalt einer zugleich konservativen und liberalen Verfassungskonstruktion zu erkennen. Da er dafür plädierte, daß eine Ministeranklage dann für null und nichtig zu erklären ist, wenn nach der Vertagung oder Auflösung der Kammern kein neuer Beschluß über die Fortsetzung der Anklage ins Auge gefaßt wurde, konnten ihm seine konservativen Parteifreunde ohne große Vorbehalte zustimmen. Schließlich gab er mit seiner Auffassung der Regierung die Möglichkeit, die Volksvertretung aufzulösen und auf günstigere Mehrheitsverhältnisse zu spekulieren. 69 Stahls Haltung zeugt von einem Politikverständnis, das sowohl den König als auch die Kammern einem größeren Zusammenhang einzufugen bestrebt ist. Seiner Auffassung zufolge haben sowohl der König als auch die Abgeordneten im Sinne des Bonum commune kooperativ und vertrauensvoll miteinander zusammenzuarbeiten und unüberwindlichen Gegensätzen möglichst aus dem Wege zu gehen. Eine eindeutig an der Machtvollkommenheit des Monarchen orientierte politische Theorie ist für Stahl zum Klischee erstarkt und widerspricht den Anforderungen der Gegenwart. Nicht mehr der König steht im Zentrum seiner politischen Ordnungsvorstellung, sondern das politische Gemeinwesen. Seine Existenz auf Dauer zu stellen, ist die gemeinsame Verantwortung von König und Parlament. Wie immer man das Verfassungsdenken von Stahl bewertet, ob man seine autoritären oder seine liberalen Momente betont, fest steht, daß er seinen konservativen Parteifreunden den Weg in die konstitutionelle Moderne gewiesen hat. Friedrich Meinecke zufolge war Stahls "Verfassungsprogramm insgesamt ein wesentlicher Schritt vorwärts zum modernen Konstitutionalismus".70 F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (wie Anm. 27), 124. W. FüßI, Professor in der Politik (wie Anm. 5), 297. 67 Ebd. 68 Ebd., 295. 69 Ebd. 65

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Dem Stahlschen Verfassungsdenken wird man allerdings kaum gerecht, wenn man sich den Auffassungen seiner liberalen Gegner anheimgibt. Was diesem bedeutenden Staatsrechtslehrer sein unverwechselbares Signum gibt, ist mit den Kategorien einer rigide liberalen Prinzipien verhafteten Denkweise kaum aufzuschlüsseln. Unfähig, den genuin liberalen Kern seines politischen Denkens überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, blieb es nicht zuletzt Johann Caspar Bluntschli vorbehalten, Stahl eine durch und durch reaktionäre Denkweise anzulasten. Für diesen führenden Liberalen hat Stahls "diensteifrige Sophistik, welche den Liebhabereien großer und kleiner Herren moderne Formeln zur Verfügung stellte ... in der Wissenschaft großen Schaden angerichtet". 71 Seine auf einen alttestamentlichtheokratischen Ton gestimmten Schriften seien "für die moderne europäische Welt ... ungenießbar". 72 Nicht minder pejorativ fiel das Urteil von Bluntschlis Gesinnungsfreund Dahlmann aus. Seinem Urteil zufolge dominieren in Stahls Schriften die autoritären Bestimmungsmomente eindeutig über die liberalen. Letzten Endes verschreibe Stahl die "politische Freiheit in homöopathischen Tropfenteilchen".73 Den ob des Vormarsches der liberalen Ordnungsidee verängstigten deutschen Bürgern flöße er die "kleinen concessionierten gelind auflösenden Brustcaramellen seines ,Monarchischen Princips'" 74 ein. Nach einer herzhaft liberalen Medizin habe es den Berliner Staatsrechtier so wenig wie seine Mitbürger gelüstet. Allerdings konzediert Dahlmann freimütig, daß sich Stahl niemals an der "Verketzerung des Repräsentativsystems" 75 beteiligt habe. Auch der Neoliberalismus wird Stahls freiheitlichen Impetus kaum gerecht, interpretiert seine Staatslehre ausgesprochen vorurteilsbehaftet. So ist Alexander Rüstow der Ansicht, daß sich Stahl all diejenigen Argumente zu eigen mache, die sich "für den konservativen Standpunkt und gegen die Linksparteien anführen ließ". 76 Zu den erstaunlichen Eigenheiten der deutschen Stahlinterpretation gehört es auch, daß es seine politischen Todfeinde waren, die den liberalen Kern seiner Staatslehre erkannten. Es war nicht zuletzt Carl Schmitt, der 70 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Sechste Auflage. München / Berlin 1922, 266. 71 J. K. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, sechste Auflage, Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1886. Aalen 1965, 80. 72 Ebd. 73 F. C. Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, erster Band, zweite Auflage. Leipzig 1847, 235. 74 Ebd., 236. 75 Ebd. 76 A. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Dritter Band. Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1957, 206 f.

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die freiheitlichen Bestimmungsmomente in seinem politischen Denken hellsichtig erkannte. Schmitt verbindet seine widerlich antisemitische Stahlexegese mit dem Vorwurf, dieser habe dem Liberalismus Tür und Tor geöffnet. Für Schmitt war Stahl der "Wegbereiter der im Namen des ,Rechtsstaates' vordringenden politischen Kräfte und Mächte der Liberaldemokratie und des unmittelbar nachrückenden Marxismus" . 77 In wie starkem Maße sich Stahl der liberalen Gedankenwelt geöffnet hatte, darauf verweist auch Hans Joachim Schoeps. Ihm zufolge steht es völlig außer Zweifel, "daß Stahl weit weniger doktrinaristisch dachte und weit mehr liberale Elemente in sein System aufgenommen hatte, als Gerlach bereit gewesen wäre". 78 Nicht nur Stahls innenpolitische Ordnungsvorstellung, sondern auch seine außenpolitische ist von einem Denken geprägt, das dezidiert Extreme vermeidet. Sie läßt Wertungsgrundsätze erkennen, die sowohl eine radikal pazifistische als auch eine rigid bellizistische Haltung vermeidet. Die Besinnung darauf, wie ein friedliches Zusammenwirken der Staaten erreicht werden kann, führt Stahl zu der Forderung, daß auch im außenpolitischen Bereich den Gesetzen des Christentums Genüge getan werden müsse. Die Wechselwirkung zwischen seinem christlichen Glaubensbekenntnis und seiner pragmatischen Analyse des Verhältnisses zwischen den einzelnen Staaten entfaltet sich da am beeindruckendsten, wo er für eine kriegsverhindernde Konfliktbewältigung eintritt. "Erst die christliche Erlösung der Menschheit hat die Möglichkeit eines Bandes der inneren Gesinnung unter den Völkern hergestellt. Von da aus ist in der Gemeinschaft der Völker eine Appromaximation zu einem ,Reiche' ... über die einzelnen Staaten, nach Form und Inhalt". 79 Bei aller Bejahung der Friedenspflicht der einzelnen Staaten gibt sich Stahl jedoch nicht als prinzipieller Gegner des Krieges zu erkennen. Weit davon entfernt, ein radikaler Pazifist zu sein, spricht er dem kriegerischen Geschehen keineswegs jegliche Legitimität ab. 80 Seine grundsätzliche Bejahung des Krieges geht allerdings mit der Warnung an die Staatsmänner einher, ihn nicht leichtfertig vom Zaume zu brechen. Diese Mahnung ist nicht zuletzt in seiner Auffassung begründet, daß in der modernen Zeit fast jede kriegerische Auseinandersetzung den Feinden der überkommenen Ordnung zugute komme. Wenn man den revolutionären Kräften der Gegenwart auf diese Weise Vorschub leiste, versündige man sich an der konservativen Ordnungsidee. Von jeder kriegerischen Auseinandersetzung lasse sich 77 78

79 80

C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Hamburg 1933, 30.

H. J. Schoeps, Das andere Preußen. Stuttgart 1952, 95 . F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Band II (wie Anm. 8), 13 f .

Ebd., 14.

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heutzutage behaupten, daß sie "bei längerer Dauer alle revolutionären Elemente von Europa wieder aufwühlen wird". 81 Auch in seiner Bewertung des Nationalismus-Problems bleibt Stahl einer Blickrichtung verpflichtet, die sorgsam alle extremen Positionen meidet. Seine moderierte Einstellung gewinnt ihre Beweiskraft aus der Überlegung heraus, daß sowohl der nationsnegierende Kosmopolitismus als auch die Übersteigerung des Nationalprinzips auf das schärfste zu verurteilen sind. Stahl kann weder derjenigen Denkschule zugeordnet werden, die den Begriff der Nation vergöttlicht, noch ist er denjenigen zuzurechnen, die im nationalen Bekenntnis das politische Grundübel an sich erblicken. Einerseits sind für ihn "Nation und Nationalität ... von Gott gesetzte Existenzen und Ordnungen". 82 Andererseits entzündet sich sein weltanschauliches Unbehagen gegenüber jeglicher Radikalisierung des nationalen Gedankens. Leidenschaftlich wandte er sich gegen das "Höherstellen der Nationalität über den gegebenen Rechts- und Staatenbestand" . 83 Friedrich Meinecke zufolge war Stahl zeit seines Lebens bestrebt gewesen, "das deutschnationale Prinzip in Schranken zu halten". 84 Stahls außenpolitische Ordnungsvorstellungen sind auch von der Forderung geprägt, Preußen dem ihm innerhalb Deutschlands gebührenden Rang einzuräumen. Dieser Staat habe Deutschland von jeher wertvolle Dienste geleistet. Preußischer Geist sei auch in Zukunft vonnöten, um Deutschland gegenüber ideologischen Verirrungen und politischen Extravaganzen zu bewahren. "Es soll nur Preußen das, was es Großes und Ruhmvolles besitzt, erhalten bleiben und soll durch Preußen für ganz Deutschland fruchtbar gemacht werden". 85 Die gesamtdeutsche Ordnungsaufgabe Preußens besteht Stahl zufolge nicht zuletzt darin, dem revolutionären Geist Paroli zu bieten. Allein der preußische Staat sei in der Lage, dem unchristlichrevolutionären Ansturm erfolgreich widerstehen zu können. "Möge Preußen das Banner Deutschlands tragen, für den Schutz und die Vertretung nach außen, für die Erhaltung des Friedens, der Ordnung, der Autorität im Innern".86 Dabei läßt Stahl bei seiner Forderung, Preußen einen bevorzugten Platz innerhalb Deutschlands einzuräumen, die gesamtdeutsche Perspektive keineswegs aus dem Auge. In einem Brief an seinen Jugendfreund Rotenhan bekennt er, daß er keineswegs borussisch-parochial denkt, sondern zutiefst 81 F. J. Stahl, Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge. Nach letztwilliger Bestimmung geordnet und herausgegeben. Berlin 1862, 219. 82 F. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung (wie Anm. 47), 10. 83 F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (wie Anm. 27), 336. 84 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (wie Anm. 70), 268. 85 F . J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung (wie Anm. 47), 92. 86 Ebd., 93.

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einer national-deutschen Sichtweise verpflichtet ist. "Ich erkenne wie Du das deutsche Vaterland für etwas noch Höheres als das Preußenturn und das Baiertum". 87 So gesamtdeutsch Stahls Denkweise ausgerichtet ist, so wenig sieht er sich imstande, Österreich in den deutschen Staatsverband aufzunehmen. Österreich sei ethnisch zu heterogen strukturiert, um Teil einer großdeutschen Einigungslösung zu werden. Es habe als ein "mächtiges europäisches Reich durch seine Verzweigung nach dem Osten und Süden eine hohe politische Aufgabe zu lösen, an der das übrige Deutschland keinen Anteil hat".88 Stahl plädiert also für die kleindeutsche Einigungslösung. Gleichzeitig ist es ihm aber auch darum zu tun, Österreich als deutsche Ordnungsrnacht zu etablieren. "Die beiden Adler müssen ihre schirmenden Fittige über Deutschland ausbreiten wie die beiden Cherubim über der Bundeslade".89 Zu den entscheidenden Determinanten des außenpolitischen Denkens Stahls gehört auch die Gleichgewichtsidee. Nie gestand er einem starken Staat das Recht zu, einen schwächeren unterdrücken zu dürfen. In Übereinstimmung mit Gentz und Metternich sprach er sich dafür aus, die Integrität aller Staaten zu achten. Dabei interpretiert er die Gleichgewichtsidee in einem Sinnhorizonte, der durchaus auch die deutschen Interessen beachtet. Aus diesem Grunde plädiert er für eine deutsch-russische Kooperation, um dem französischen Expansionsbestreben besser widerstehen zu können. "Wir suchen ... die Sicherung Deutschen Wesens durch die Russische Balance gegen Frankreich". 90 Seine ausgesprochen national eingefärbte Definition des europäischen Gleichgewichts weicht notwendigerweise von derjenigen ab, die die Engländer vertreten. Der Inselstaat sei weit weniger vom französischen Expansionismus bedroht als Deutschland. 91 Auch seine Bejahung der Ordnungsidee der "Heiligen Allianz" ist entscheidend aus seinem Gleichgewichtsdenken heraus konzipiert. Das "feste Zusammenstehen der drei Ostrnächte" 92 empfange seinen Sinn nicht zuletzt in deren fester Absicht, dem revolutionären Ansturm des Westens zu widerstehen. Nicht zuletzt Rußland gebe sich als "StützpUnkt für alle geschichtliche Autorität" 93 zu erkennen. Seine Herrschaftsordnung sei dem revolutionären Geist der westlichen Länder an der Wurzel fremd. "Kraft 87 Stahl und Rotenhan, Briefe des ersten an den zweiten (wie Anm. 53), 547. 88 F. J. Stahl, Die deutsche Reichsverfassung (wie Anm. 47), 87. 89 F. J. Stahl, Siebzehn parlamentarische Reden und Vorträge. Nach letztwilliger

Bestimmung geordnet und herausgegeben. Berlin 1862, 156. 90 Ebd., 211. 91 Ebd. 92 Ebd., 210. 93 Ebd., 49.

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seines eigenen patriarchalischen Zustandes, welcher nach einem Naturgesetz der Gegensatz gegen die revolutionäre Zersetzung und gegen die AfterCivilisation" 94 ist, stehe Rußland Preußen und damit auch Deutschland bei seinem Kampf gegen den revolutionären Ansturm bei. Stahls Bejahung der antirevolutionären Rolle Rußlands schließt jedoch keineswegs aus, daß er unermüdlich vor einem politischen Übergewicht Rußlands warnt. Er ist keineswegs gewillt, Deutschland in das außenpolitische Schlepptau Rußlands nehmen zu lassen. "Unsere Russischen Sympathien sind eben so wenig eine Hingebung an Rußlands äußere Politik. Nimmermehr soll Preußen Russischen Interessen dienen; nimmermehr seinen Befehlen folgen" . 95 Allerdings wendet Stahl sich auch heftig gegen alle Versuche der Westmächte, Rußlands militärisches Potential zu schwächen. Vehement lehnte er die westliche Strategie im Krimkrieg ab, sich für die Sache der Hohen Pforte gegen Rußland einzusetzen. Seine Haltung erwächst aus seiner Auffassung heraus, daß dem christlichen Rußland die Unterstützung der christlichen Staaten gebühre. Es sei ihre unabweisbare Pflicht, den christlichen Glaubensbrüdern beizustehen. Stahl findet es als in höchstem Maße anstößig, "einen mahomedanischen Besitzstand über eine christliche Bevölkerung zu garantieren; anstößig, gegen eine christliche Übermacht mahomedanische Bundesgenossen zu werben" . 96 Er wirft den Westmächten vor, ihre Außenpolitik zu sehr an utilitaristischen Maßstäben auszurichten und den weltanschaulichen Gesichtspunkt völlig außer acht zu lassen. Bei ihnen trage die Realpolitik den Sieg über die Grundsatztreue davon. "Ist es nicht ein Ärgerniß, daß christliche Mächte in einem von Christen bewohnten Lande die öffentliche Ordnung als mahomedanische Ordnung also zur Verleugnung der Ehre Christi und seiner Gebote aufrecht erhalten?"97 Im übrigen trage eine derartige Politik zur weiteren Entchristlichung Europas bei. 98 Ehe man allerdings die Haltung Stahls zu den westlichen Ländern als durchgehend feindselig bezeichnet, sollte erkannt sein, daß diese keineswegs feindseligen Geist atmet. Was seine Haltung zu England anlangt, so ist diese durchaus von Sympathie gegenüber dem Inselreich getragen. Nicht zuletzt demjenigen England, das sich im Kampfe gegen den korsischen Eroberer so tapfer geschlagen hat, gilt seine uneingeschränkte Anerkennung. "Nimmermehr vergessen wir das strahlende Verdienst Englands in jenen Jahren des Völkerkampfes. Es war eine große Epoche in der GeEbd. Ebd., 211. 96 Ebd., 212. 97 Ebd., 212 f . 98 Ebd., 211. 94 95

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schichte des großen Albion, als unter Georg III. sich das alte Königtum noch einmal aufrichtete und Pitt und Burke mit klarem Bewußtsein den Kampf ... erhoben gegen das revolutionäre Frankreich". 99 Allerdings fühlt sich Stahl außerstande, sich mit dem modemen England anzufreunden. Er wirft ihm vor, die progressiven Kräfte auf dem Kontinent nachhaltig zu unterstützen. "Ist die Englische Regierung ohne alle Schuld an dem Feuerbrande, der auch die deutschen Staaten einzuäschern drohte, wenn nicht Gottes wunderbare Macht geholfen hätte?" 100 Den Franzosen rät Stahl, sich nicht zu sehr dem revolutionären Geiste anheimzugeben und den traditionellen Werten Reverenz zu erweisen. Dabei weist Stahl nachhaltig darauf hin, daß es neben dem revolutionären Frankreich auch ein konservatives gibt. "Wir haben keine nationale Feindseligkeit gegen das Französische Volk, das ein moralisch und intellektuell hochbegabtes Volk, ein vorzüglicher Träger Europäischer Civilisation ist, das nicht allein seine Voltaires, sondern auch seine Fenelons aufzuweisen hat" .101 Leider sei es die Absicht vieler Franzosen, ihren revolutionären Geist auch in Preußen siegen zu sehen. 102 Stahl, dessen Denken sowohl den als linear gedachten Fortschritt der Geschichte sprengt als auch in gleichem Atemzuge sich weigert, sehnsüchtig auf vergangene Zeiten zurückzublicken, gehört sicherlich zu den beeindruckendsten und bedeutendsten Staatstheoretikern Deutschlands. Dabei ist sein Werk, das sich weder zu einem progressistischen noch zu einem reaktionären Verklärungsgeschäft hergibt, keineswegs frei von Widersprochen. Die vor allem von seinen ideologischen Gegnern aufgedeckten Antinomien seines Denkens sollten allerdings nicht vergessen machen, daß sich bei jedem politischen Denker derartige Aporien finden. Warum soll Stahl dabei eine Ausnahme machen? Stahls Oeuvre bietet bei aller Zeitgebundenheit seines Denkens auch für die Lösung der gegenwärtigen Probleme eine entscheidende Hilfe. Sein Bemühen, das intrikate Verhältnis von Konservatismus und Liberalismus in immer neuen Konstellationen und Anläufen zu reflektieren, kann auch dem zeitgenössischen Politikanalytiker wertvolle Einsichten vermitteln. Die einzelnen Topoi von Stahls Werk runden sich zu einem Gesamtbild, dessen im wahrsten Sinne des Wortes aufklärerische Qualitäten ihren Lehrcharakter bis heute nicht verloren haben. Seine grundlegende Einsicht, daß eine liberale Politikkultur eines konservativen Institutionengefüges bedarf, hat auch in unserer Zeit ihre Gültigkeit keineswegs eingebüßt. Ebd., 209 f. Ebd., 210. 101 Ebd. 102 Ebd.

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Konservativer Edelmann und Politiker des Kompromisses Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenhurg (1803-1868) Von Wolf Nitschke Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg, ein Neffe des Freiherm vom Stein, dürfte dem Historiker vor allem deshalb bekannt sein, weil er am 19. März 1848 zum ersten ,Premierminister' seit Hardenberg ernannt wurde. Ausgehend von der Frage, warum gerade er in dieser ernsten Staatskrise vom König berufen wurde, läßt sich Amims Leben aufschließen: Der Graf war einerseits ein loyaler Monarchist, andererseits aber auch durch seine Kritik an der Politik Friedrich Wilhelms IV. im Führungszirkel so sehr als "liberal" bekannt, daß er in der Krise im März 1848 zur Durchführung maßvoller Reformen geeignet zu sein schien. Vor allem bestach der Graf aber durch sein weltmännisch-gewandtes und taktvolles Auftreten. Die Einkünfte aus seiner "Waldgrafschaft Boitzenburg" erlaubten ihm das Auftreten eines Grandseigneurs l . Arnim wurde lange Zeit von der Forschung kaum beachtet: Lauberts kurzer Aufsatz behandelt die Oberpräsidentschaft Arnims in Posen 2 , Mähl Amims Politik als Ministerpräsident im Rahmen seiner Arbeit über den zweiten Vereinigten Landtag 3 , und Harnisch setzte sich mit Amims Verfassungsvorstellungen auseinander 4. Darüber hinaus finden sich lediglich Hinweie· in breiter angelegten Arbeiten. Hauptstütze der Darstellung waren darum die Quellen, und zwar außer sechs gedruckten Schriften des Boitzenburgers dessen Reden in den Vereinigten Landtagen, in der Paulskirche, der Zweiten Kammer, der Ersten Kammer und im Herrenhaus. Besonders erwähnt werden muß das lange als verschollen gegoltene Erinnerungswerk des Generals Prittwitz 5 . Der Nachlaß des Grafen, der bisher kaum benutzt 1 Vgl. Hermann Gmfv. Arnim: Märkischer Adel. Berlin 21989,73; siehe allgemein auch ADB 1, 558-566; NDB 1, 368. 2 Man/red Laubert, Der Posener Oberpräsident Graf Arnim in seinen gesellschaftlichen Beziehungen zum Polentum, in: Deutsche Blätter in Polen 6 (1929), 297 -309. 3 Hans Mähl, Die Überleitung Preußens in das konstitutionelle System durch den zweiten Vereinigten Landtag, München / Berlin 1909, 25 -122. 4 Harlmut Harnisch, Aus den Papieren des Grafen von Arnim-Boitzenburg. In: ZfG 22 (1974), 539-555. 5 Karl Ludwig von Prittwitz, Berlin 1848. Das Erinnerungswerk des Generalleutnants Karl Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Gerd Heinrich, Berlin 1985.

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wurde und auch für diese Arbeit nicht umfassend herangezogen werden konnte, befindet sich vor allem im Staatsarchiv Potsdam, zu einem kleinen Teil im Geheimen Staatsarchiv Berlin und im Savigny-Archiv auf Hof Trages bei Somborn 6. I.

Adolf Heinrich Graf v. Arnim, der die Bezeichnung des Familienbesitzes, Schloß Boitzenburg in der Uckermark, als Cognomen führte, wurde am 10. April 1803 in Berlin geboren 7. Er studierte in Berlin und Göttingen Jura und Staatswissenschaften, wo er eine Karriere im "zivilen Staatsdienst" einschlug. Nach einem raschen Aufstieg im Allgemeinen Verwaltungsdienst wurde Arnim 1840 Oberpräsident von Posen, wo er eine gemäßigte Politik einleitete 8. Rückblickend urteilte Arnim über seine Tätigkeit mit den bemerkenswert freisinnigen Worten: "Während einer zehnjährigen Verwaltung vier verschiedener Regierungsbezirke bin ich stets ein entschiedener Gegner alles Mißtrauens, aller ängstlichen Beobachtung, aller Zuträgerei, alles Eindringens in Privatverhältnisse gewesen." 9 1842 wurde Graf Arnim zum Innenminister ernanntl°. Seine restriktive Politik im Bereich der Pressezensur 11 , sein Versuch der Einengung der Landratswahlen 12, vor allem aber die Ausweisung Heckers und Itzsteins

6 StA Potsdam, Pr.Br. Rep 37 Herrschaft Boitzenburg. GstA Berlin, Rep 90. Vgl. Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken, Bd. 1, Boppard am Rhein 1971, 11. 7 Zur Einbettung in das Geschlecht derer von Arnim siehe Gotha, Gräfliches Taschenbuch 1909, 35. 8 Siehe dazu Laubert, Oberpräsident (wie Anm. 2); außerdem Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd V: Bis zur Märzrevolution. Neudruck Leipzig 1928, 146, Anm. 2: Denkschrift Arnims über die Verwaltung Posens, am 30. Juni 1841 dem Könige überreicht. 9 Das Administrative Glaubensbekenntnis des königl. preußischen Ministers des Inneren, Grafen von Arnim, Leipzig 1845, 10 f. Diese Schrift enthält als Kern einen allgemeinen Erlaß Arnims, der unautorisiert von einem anonymen Herausgeber veröffentlicht wurde. 10 Arnim war mit 39 Jahren der jüngste preußische Innenminister; vgl. Arnim, Märkischer Adel (wie Anm. 1), 73 . Um so bemerkenswerter ist, daß der Graf schon 1836 Außenminister werden sollte; vgl. Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgrunder, München 1991, 123. 11 Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. München 31981, 424-431. Arnim "hoffte die regionale Presse durch besondere Blätter der Kreisstände ausstechen zu können, während er jede Zeitungsgrundung durch eine Aktiengesellschaft verhinderte." (A. a . 0., S . 430.) 1843 behinderte Graf Arnim zudem die Herausgabe der Deutsch-französischen Jahrbücher. Vgl. Edmund Silberner, Johann Jacoby. Politiker und Mensch, Bonn 1976, 126.

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aus Preußen 1845, die an den Jacoby-Prozeß von 1841 anzuknüpfen schien 13, wurden von der liberalen Opposition mit großer Empörung aufgenommen und ließen den Grafen als Reaktionär erscheinen. Demgegenüber wurden liberalere Maßnahmen Arnims weniger stark beachtet: Vor allem bezüglich der Rheinischen Kommunalordnung setzte er (zusammen mit Ernst v. Bodelschwingh) eine Kompromißlösung durch: Nachdem Vorarbeiten für die Rheinische Gemeindeordnung seit den 20er Jahren erfolglos geblieben waren, wurde mit dem Dreiklassenwahlrecht eine Lösung gefunden, die nicht nur den Rittergutsbesitzern, sondern auch den aufstrebenden rheinischen Industriellen eine führende Rolle sicherte 14. Im Nachhinein erwies sich aber vor allem eine Maßnahme Arnims als verhängnisvoll: 1843 wurde die Übernahm des 1829 in London eingeführten ,Constabler-Systems' "der ehrlichen Kosten wegen" abgelehnt1 5 • Daß die Sicherheitsprobleme im Berliner Raum unter den zuständigen Innenministern Gustav Adolf v. Rochow (1834 -1842), Graf Arnim (1842 -1845) und Ernst v. Bodelschwingh (1845 -1848) mit schwer nachvollziehbarer Großzügigkeit behandelt wurden 16, sollte sich im März 1848 bitter rächen, als es zum Einsatz von Militär als ultima ratio keine Alternative gab, um der Unruhen Herr zu werden 17. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß sich die Innenminister mit einer alles andere als willfähigen Verwaltung auseinanderzusetzen hatten, wie an einem Beispiel verdeutlicht werden kann. Eine Initiative des Grafen Arnim zur Liberalisierung der Verwaltung scheiterte ebenfalls 1843 an den widerstrebenden Verwaltungsspitzen, die von neuen Methoden offenbar nichts wissen wollten: Sein Erlaß vom 3I. Januar 1843 an die Regierungspräsidenten wurde (beabsichtigt oder nicht)

12 Kaselleck, Preußen (wie Anm. 11), 481. Interessant ist, daß nach Arnims Meinung ein Regimentskommandeur stets über einem Landrat stehe (Arnim an Vincke am 29.7.1943, GSTA Rep 77, Tit. 1.222, Nr. 18, Bd I, unpag). 13 Vgl. dazu Silberner, Johann Jacoby (wie Anm. 11), 89 -103. 14 Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23.7.1845, in: Gesetz-Sammlung 1845, 523. Vgl. dazu Arnims Stellungnahme am 12.4.1849 in der 2. Kammer, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Zweite Kammer (künftig zitiert als 2. K, und entsprechend Erste Kammer = 1. K, Abgeordnetenhaus =AH, Herrenhaus = HH), Berlin 1849, 449 f.; siehe dazu Heinz Boberach, Wahlrechtsfragen im Vormärz. Die Wahlrechtsanschauung im Rheinland 1815 -1849 und die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts, Düsseldorf 1959, 102. 15 Heinrich, in: Berlin 1848 (wie Anm. 5), XLIV, FN 51. 16 Vgl. Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1984, 360. 17 Vgl. Julius v. Minutoli, Erinnerungen aus meinem Leben, Bamberg 1850, 12 ff. Allerdings wurde die Frage von Bodelschwingh nicht rechtzeitig aufgenommen, obwohl sich immer deutlicher abzeichnete, daß eine Verstärkung besonders der Berliner Polizei unbedingt notwendig war.

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derart mißverstanden, daß Arnim mit einem Rundschreiben vom 10. April d. J. der Ansicht entgegentreten mußte, es sei durch den Erlaß "eine vermehrte Beaufsichtigung der öffentlichen Zustände im politischen Gebiete angeordnet." 18 Ganz im Gegensatz zum System des "bürokratischen Absolutismus" 19 legte Graf Arnim auf "das gegenseitige Vertrauen zwischen Regierung und Volk" ein derartiges hohes Gewicht, "daß ich in dem Augenblicke, wo ich glauben sollte, daß jenes Vertrauen, in Bezug auf mich, nicht vorhanden sei, Seine Majestät bitten würde, mein Amt in andere Hände zu legen." Trotz dieses Bekenntnisses zum Konstitutionalismus 20 wurde Innenminister Graf Arnim von den Liberalen alles andere als positiv beurteilt. Sie taten ihm insofern kein Unrecht damit, als Arnim keineswegs ein Liberaler war und sein 1845 veröffentlichter Brief deshalb etwas "liberaler" ausgefallen sein mag, weil er nicht an die Öffentlichkeit, sondern an konservative Verwaltungsbeamte gerichtet war, denen es deutlich zu machen galt, daß nun ein anderer Geist herrschen solle als unter König Friedrich Wilhelm III. Graf Arnim hatte über das Projekt der "Vereinigten Ausschüsse" (Oktober 1842) und über den Plan, einen "Vereinigten Landtag" einzuberufen (1844), weniger illusionäre Vorstellungen als Friedrich Wilhelm IV., doch gelang es ihm weder als Innenminister noch als Mitglied der Immediatkommission für die ständischen Angelegenheiten, seine Positionen mit Erfolg zu vertreten 21. Schließlich trat Amim als Innenminister zurück, weil der König uneinsichtig blieb 22. Diese Haltung des Grafen war nicht ungewöhnlich, denn die verfassungspolitischen Halbheiten des Königs wurden sowohl von konservativen als auch von liberalen Kreisen kritisiert. 1847 sollte sich zeigen, daß Arnim mit seinen Vorbehalten recht gehabt hatte. Nachdem Arnim 1846 das Amt des Finanzministers und damit eine Rückkehr in das Staatsministerium abgelehnt hatte 23 , gehörte der Graf im ersten Vereinigten Landtag 24 auf Grund seiner "Waldgrafschaft BoitzenArnim, Glaubensbekenntnis (wie Anm. 9), 7; folgende Zitate ebd, 7 und 1l. Begriff von Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd 11: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 -1850, Stuttgart u. a. 31988, 17. 20 Vgl. die Bemerkung des anonymen Herausgebers in: Arnim, Glaubensbekenntnis (wie Anm. 9), 13. 21 Vgl. Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984, 551-562; siehe auch ebd, 152, Anm. 5; Arnim, Märkischer Adel (wie Anm. 1), 79 f. 22 Die Verheißungen des 22sten März und die Verfassung vom 5ten Dezember. Von Graf Arnim-Boitzenburg, Staatsminister a. D. Geschrieben im Dezember 1848, Berlin 1849, 26. 23 Vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte V (wie Anm. 8),495. 24 Arnim sah dessen Scheitern voraus; vgl. Arnims Brief vom 3.l.1847 an den König, ebd, 599. 18

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burg" zur Herrenkurie, deren 2. Abteilung er leitete 25. Dort vertrat er Positionen, die als gemäßigt konservativ einzuschätzen sind: In der Adreßdebatte am 15. und 16. April stellte er ein Amendement zum linken Entwurf des Landtagsausschusses 26 und forderte dazu auf, man möge "nicht eine Adresse an Se. Majestät den König verabschieden, die den Landtag in zwei Lager spaltet. Seien wir hierin einig, und diese Einigkeit wird länger leben in den Annalen der Geschichte als jenes einzelne Wort." 27 Mit seinem Amendement stand Graf Arnim aber im Gegensatz zum Entwurf der liberalen Opposition 28. Da es ihm nicht gelang, die konservative und die liberale Position einander anzugleichen, wurde sein Antrag mit 290 gegen 303 Stimmen knapp abgelehnt, worauf der Antrag Auerswald mit 484 gegen 107 Stimmen angenommen wurde, weil Arnim seine Anhänger dazu aufforderte, dafür zu stimmen 29.

ß. Seit dem 6. März 1848, als der König die Vereinigten Ausschüsse mit unbefriedigenden Versprechungen verabschiedet hatte, kam es zu einer allmählichen Eskalation der Gewalt in Berlin. Trotz der Zugeständnisse am 17. /18. März, mit denen Pressereiheit und die baldige Einberufung eines zweiten Vereinigten Landtages gewährt wurden 30, stürzte Preußen in den folgenden Tagen in eine existenzielle Krise. Dabei rächte es sich, daß der immer noch ohne ,Premierminister' regierende König in dieser unruhigen Zeit wichtige Schlüsselpositionen umbesetzte 31, vor allem die des Kommandeurs des Gardekorps (12. März), des Gouverneurs von Berlin (2. März) und des Innenministers (18. /19. März). Graf Arnim wurde am Morgen des 19. März, während in Berlin noch gekämpft wurde, zum Ministerpräsidenten ernannt, nachdem er sich die Sache 24 Stunden lang überlegt hatte 32 . Der 25 Eduard Bleich (Hrsg), Der Erste Vereinigte Landtag in Berlin 1847 (künftig zitiert als 1. VL), 4 Bde, Berlin 1847 (Neudruck Vaduz 1977), hier Bd I, 579. 26 1. VL 2, 12 f. 27 Rede am 16.4.1847,1. VL 2, 66; vgl. auch Rede am 15.4., 1. VL 2, 26-31. 28 Helmut Asmus, Die Verfassungsadresse der großbürgerlich-liberalen Opposition im preußischen Vereinigten Landtag von 1847, in: ZfG 22 (1974), 1326-40, hier 1334. 29 1. VL 2, 72. 30 Vgl. Pressegesetzvom 17.3.1848, in: Gesetz-Sammlung 1848, 69. Verordnung vom 18.3.1848 bei Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 -1850, Stuttgart 1961, 365; vgl. dazu Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5), 95. 31 Vgl. ausführlich ebd, 29-108. 32 Vgl. Mähl, Überleitung (wie Anm. 3), 23; Reinhold Koser, Friedrich Wilhelm IV. am Vorabend der Märzrevolution, in: HZ 83 (1899), 43 - 84; Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5), 110 f.; Arnim, Märkischer Adel (wie Anm. 1), 81.

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Boitzenburger trat sein Amt (trotz seiner Bedenken) auf dem Höhepunkt einer Krise an, die an den Grundfesten des preußischen Staates zu rütteln schien. Die Frage, wer letztendlich für den Rückzug der Truppen aus Berlin und für die Kapitulation des Königs vor den Liberalen verantwortlich war, ob der König selbst, General v. Prittwitz oder Graf Arnim den entscheidenden Befehl dazu gab, wurde bereits zwischen 1848 und 1854 zwischen Prittwitz und Arnim sowie 1899 bis 1905 von namhaften Historikern kontrovers diskutiert 33. Letzten Endes verantwortlich war die geradezu gespenstische Führungsschwäche des Königs 34, während dem Grafen Arnim, der gerade erst sein Amt anzutreten im Begriff war, der Rückzug der Truppen, der nur vom König oder einem ihm direkt unterstellten Kommandeur befohlen werden konnte, nicht vorgeworfen werden muß 35. Ob Arnim dem König einen "falschen" Ratschlag gegeben hat, ist weder nachzuweisen noch von großer Bedeutung, denn bei Friedrich Wilhelm IV., der in diesen Stunden zahlreiche "Freunde" in seiner Nähe hatte, ohne daß klar war, auf wen er letzten Endes hörte, lag schließlich und endlich die Entscheidungsgewalt. Die erste Aufgabe des neuen Ministerpräsidenten Arnim war die Beendigung des militärischen Konfliktes in der Hauptstadt 36. Das Ministerium Arnim-Boitzenburg bestand zwar zu einem Gutteil aus gemäßigten Liberalen 37, doch wurde es nicht als Ministerium im Sinne der "neuen Zeit" akzeptiert 38 , weil vor allem Graf Arnim seit 1845 als Reaktionär galt. Schon 33 Dazu zusammenfassend Gerd Heinrich im seiner umfasseden Einleitung zu Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5). Der "Historikerstreit" ab 1899 litt darunter, daß Prittwitz' Erinnerungswerk als unverzichtbare Quelle nicht vorlag. Dise Lücke hat Heinrich 1985 geschlossen. Die Prittwitz-Memoiren sind deshalb besonders hoch einzuschätzen, weil sie nicht für die Öffentlichkeit verlaßt wurden; der General wollte sich lediglich gegenüber einigen Persönlichkeiten rechtfertigen. 34 Vgl. Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold von Gerlachs, Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV. Nach seinen Aufzeichnungen hrsg. von seiner Tochter, 2 Bde, Berlin 1891, hier Bd I, 142. Friedrich Wilhelm IV. versagte im März 1848 ähnlich wie sein Vater 1806 vor der Schlacht gegen Napoleon. 35 Graf Arnim war ab dem 19. März für die Einsätze der Polizei verantwortlich, die aber auf Grund ihrer zahlenmäßigen Schwäche keine Bedeutung hatte. Weitere Kompetenzen des neuen Ministerpräsidenten waren weder genau definiert, weil es vorher 25 Jahre lang kein derartiges Amt gegeben hatte, noch vor dem Ende der Kämpfe wirklich auszuüben. 36 Zu der Notwendigkeit, die Kämpfe zu beenden, siehe Heinrich, Geschichte Preußens (wie Anm. 16), 363. 37 Auerswald und Schwerin gehörten im Vereinigten Landtag zur liberalen Opposition. Deshalb wurde am 29. März 1848 auch nur Ministerpräsident Arnim entlassen; vgl. Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 11. Berlin New York 1992, 245 und 290. 38 Kölnische Zeitung vom 22.3.1848; Adresse des Rheinischen Städtetages in: Joseph Hansen (Hrsg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der poltischen

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auf Grund seiner Zusammensetzung waren starke Spannungen innerhalb des Kabinetts vorauszusehen. Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des Ministeriums bei der Überleitung Preußens in einen konstitutionellen Staat zu sehen. Zu Beginn seiner Amtszeit sorgte der Ministerpräsident dafür, daß der König nicht nach Potsdam floh, sondern in Berlin blieb; er soll dies mit den Worten getan haben: "Ein preußischer König flieht nicht vor seinem Volke." 39 Indem er sich mit dieser Auffassung durchsetzte, verhinderte Arnim die geplante Zernierung Berlins mit dem Ziel der gewaltsamen Erstickung der Unruhen, denn für diese war die Abreise des Königs nach Potsdam wesentliche Voraussetzung. Erstmals am 25., endgültig erst am 27. März ging der König nach Potsdam, als der Gedanke an eine gewaltsame Unterdrückung der Revolution in Berlin längst nicht mehr aktuell war. Zusammen mit dem Polizeipräsidenten Minutoli sorgte Arnim außerdem rasch für die Ausgabe von Waffen aus dem Zeughaus an Angehörige der Berliner Bürgerwehr 40 , um die revolutionären Massen in den Griff zu bekommen 41 . Abgeschlossen wurde diese Maßnahme, durch welche die Polizeikräfte in Berlin ergänzt wurden, was ebenfalls einen Einsatz des Militärs in Berlin weniger wahrscheinlich machte, am 19. April mit der "Verordnung über die Befugnisse der Bürgerwehr" 42. Während noch Bodelschwingh den Aufruf "An meine lieben Berliner" (18. /19. März)43 zu verantworten hat 44, in dem der König den Ausbruch der Kämpfe als ein Mißverständnis bezeichnete, war der Aufruf "An mein Volk und an die deutsche Nation" vom 21. März 1848 45 vor allem auf den liberalen Außenminister Heinrich Alexander v. Arnim-Suckow (gegen das Votum des Ministerpräsidenten Arnim) zurückzuführen 46. Der dadurch Bewegung 1830-1850, Bd 2.1, Bonn 1942, 633 f.; Antwort des Königs in: AdolfWolff: Berliner Revolutionschronik. Darstellung der Berliner Bewegung im Jahre 1848 nach politischen, sozialen und literarischen Beziehungen, Bd I, Berlin 1851, 213. 39 Zitiert nach Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5), 353, Anm. 152; vgl. Ernst Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken, hrsg. von Jakob v. Gerlach, 2 Bde, Schwerin 1903, hier Bd I, 512 f. 40 GStA, MdI, Rep 77, Tit. 440a, Nr. I, Bd I, BI 35a-38. 41 Vgl. Hansen, Rheinische Briefe (wie Anm. 38), 610. 42 Gesetz-Sammlung 1848, 111. 43 Text bei Huber: Dokumente (wie Anm. 30), 365. 44 Ernst Ludwig von Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848 -1866. Aus dem Nachlaß E. L. v. Gerlachs, hrsg. und eingeleitet von Hellmut Diwald, Göttingen 1970, 93; Ders., Aufzeichnungen I (wie Anm. 39), 513; Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 34), 174. 45 Text bei Huber, Dokumente (wie Anm. 30), 365 f. 46 Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen I (wie Anm. 39), 514. Außerdem: Die deutsche Centralgewalt und Preußen. Von Graf Arnim-Boitzenburg, Staatsminister

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unternommene Versuch, den Vereinigten Landtag zum Kern eines deutschen Parlamentes zu machen und somit an die Spitze der deutschen Einheitsbewegung zu treten, um die Stellung in Preußen zu behaupten, scheiterte rasch. Am 21. März nahm auch Graf Arnim am Umritt des Königs durch Berlin in schwarz-rot-goldenen Farben teil 47 und arbeitete an den königlichen "Verheißungen" vom 22. März mit. In dieser Erklärung 48 , die als "Grundlage des neuen Preußen" gelten sollte und "zweifelsohne die folgenreichste Tat des Arnimschen Ministeriums" war 49 , versprach der König, daß der "neuen Vertretung meines Volkes ... Vorschläge über folgende Punkte vorgelegt werden: 1. über Sicherstellung der persönlichen Freiheit; 2. über freies Vereinigungs- und Versammlungsrecht; 3. über eine allgemeine Bürger-Wehrverfassung mit freier Wahl der Führer; 4. über Verantwortlichkeit der Minister; 5. über die Einführung von Schwurgerichten für Strafsachen, namentlich für alle politischen (und) 50 Preßvergehen; 6. über die Unabhängigkeit des Richterstandes; 7. über Aufhebung des eximierten Gerichtsstandes, der Patrimonial-Gerichtsbarkeit und der Dominial-Polizei-Gewalt. Außerdem werde ich (demnächst)51 das stehende Heer auf die neue Verfassung vereidigen lassen." 52 In seiner im Dezember 1848 (nach dem Verfassungsoktroi) verfaßten Rechtfertigungsschrift, die beabsichtigte, "den König nicht in den Punkten gebunden erscheinen zu lassen, wo er frei ist"53, betonte Graf Arnim, seine Aufgabe sei es im März 1848 gewesen, dem unwiderstehlichen Verlangen nach einer konstitutionellen Regierungsform "Befriedigung und Form in der Weise zu geben, daß in ihr die ewigen Grundlagen des Glücks der Völker: die göttliche und menschliche Gerechtigkeit gegen alle, zur Wahrheit werden können." 54 Doch seine Idee, zwei konstituierende Kammern durch auf einem ungleichen Wahlrecht beruhende "Urwahlen" einberufen zu lassen 55, setzte sich im März 1848 ebenso wenig durch wie die romantischen Vorstellungen des a. D. Mit einem Vorwort desselben an seine Wähler zur dt. National-Versammlung. Geschrieben im August 1848, Berlin 1848, 46. Angeblich war Graf Arnim aber verantwortlich für die Formel "Preußen geht in Deutschland auf." vgl. Otto Perthes, Beiträge zur Geschichte der Märztage 1848, in: PrJbb 63 (1889), 527-543, hier 54l. 47 Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen I (wie Anm. 39), 513; Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5), 391 f. 48 Text bei Huber, Dokumente (wie Anm. 30), 366 f. 49 Mähl, Überleitung (wie Anm. 3), 30; Belege ebd, Anm. 2. 50 Huber, Dokumente (wie Anm. 30), 367 . Ihm lag das Original nicht vor. 51 Fehlt in: Über die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung. Von Graf ArnimBoitzenburg. Geschrieben im August 1849, Berlin 1849, 3 und bei Huber: Dokumente (wie Anm. 30), 367. 52 Zitiert nach Verheißungen (wie Anm. 22), 13 f. 53 Ebd, VII. 54 Ebd,22. 55 Ebd, 26; "vorläufiger Entwurf" eines Wahlgesetzes vom 19. März 27 -30.

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Königs: Am 31. März, kurz nach der Entlassung Arnims, fiel die Entscheidung für das Einkammerprinzip 56. Alle Versuche, sich an die Spitze der Revolution zu stellen, scheiterten, denn auch Arnims Vorstellung von einem gemäßigten Konstitutionalismus, einer Reformierung des ständischen Systems nach englischem Vorbild, erwies sich als nicht mehr zeitgemäß 57: Zunächst versuchte das Ministerium Arnim vergeblich, nach Anhörung des Vereinigten Landtages statt einer Verfassungsurkunde nur ein beschränktes Wahlrecht und einige Verfassungsgrundzüge vom König verordnen zu lassen 58. Dann scheiterte die Initiative, mit Hilfe des liberalen Friedrich Christoph Dahlmann eine Kommission zur Erarbeitung der preußischen Verfassung zu bilden 59. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. schon am 22. März die Bildung eines vom Vertrauen des Volkes getragenen Ministeriums versprochen und am 25. März die gegenrevolutionären Pläne vorerst aufgegeben hatte, versuchte der König, durch die Berufung Ludolf Camphausens in das Ministerium Arnim die Regierungskrise zu entschärfen, doch war dieser nicht dazu bereit, in ein Kabinett Arnim einzutreten 60. Auch die Berufung David Hansemanns scheiterte 61 • Die führenden rheinischen Liberalen waren nicht bereit, in ein Kabinett des als "reaktionär" geltenden Grafen Arnim einzutreten, zumal bald klar wurde, daß auf das Kabinett Arnim ein gemäßigt liberales Ministerium würde folgen müssen. Deshalb bot Arnim am 28. März seinen Rücktritt an 62, worauf die Mitglieder des späteren Ministeriums Camphausen, also die meisten Mitglieder des Kabinetts Arnim, noch am selben Abend eine Konferenz abhielten 63. Als es am Morgen des 29. März zum Streit zwischen dem Grafen Arnim und Außenminister ArnimSuckow kam 64, worauf Innenminister Alfred v. Auerswald den Grafen zum 56 Friedrich Frahm, Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der preußischen Verfassung (vom März 1848 bis zum Januar 1850), in: FBPG 41 (1928), 248-301, hier 254 f. 57 Vgl. Erich Jordan, Die Entstehung der konservativen Partei und die preußischen Agrarverhältnisse von 1848, München / Leipzig 1914, 117. 58 Verheißungen (wie Anm. 22), 22, 39 f., 72-77. Arnim wollte unbedingt eine Charte nach französischem oder belgisehern Vorbild verhindern; vgl ebd, 20 f. 59 Vgl. Mähl, Überleitung (wie Anm. 3), 49. 60 Kölnische Zeitung Nr. 84 vom 24.3.1848; Hansen, Rheinische Briefe 2.1 (wie Anm. 38), 630 und 647 ff.; GStA Stm Rep 90a, C.III.3 Nr. 1, Bd 1, Bl 4. 61 Kölnische Zeitung Nr. 89 vom 29.3.; Nr. 91 vom 31. 3.1848. 62 Verheißungen (wie Anm. 22), 37; allerdings war der König noch nicht bereit, Arnim zu entlassen; vgl. Wolff, Revolutionschronik I (wie Anm. 38), 213; Hansen, Rheinische Briefe (wie Anm. 38), 672 f. 63 Verheißungen (wie Anm. 22), 38. 64 Vgl. Jürgen Hofmann: Das Ministerium Camphausen-Hansemann. Zur Politik der preußischen Bourgeoisie in der Revolution 1848/49, Berlin 1981, 68. Daß der Suckower eine treibende Kraft bei dem Kabinettswechsel gewesen sein kann, wird durch die Tatsache gestützt, daß Freiherr Arnim sofort nach dem Kabinettswechsel

7 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Rücktritt aufforderte 65, mußte der König Arnim am 29. März verabschieden und den Liberalen Ludolf Camphausen zum Ministerpräsidenten ernennen. Arnim trat nach eigener Aussage ab, "nachdem der Zusammentritt des Landtages allen Ankämpfen der Revolution gegenüber gesichert, und nachdem ich dessen gewiß war, daß ein Ministerium vor ihn trat, welches ... anerkannte Ehrenmänner und Vaterlandsfreunde in sich vereinigte." 66 Mit seiner Entlassung am 29. März endete die Karriere des Grafen Amim als Minister. Er war allerdings noch mehrfach als Kandidat für einen Ministerposten im Gespräch: Anfang September 1848 war er Anwärter auf das Finanzministerium 67, doch war der Graf nicht bereit, den Kampf gegen die Revolution durchzufechten und lehnte am 10. September endgültig ab 68. Ende November bot Amim sich selbst als Kandidat für ein Ministerium an 69 , im Mai 1849 war er als neuer Ministerpräsident im Gespräch 7o , und auch bei der Neuordnung des Ministeriums 1850 fiel sein Name 7l .

m. Nachdem Graf Arnim bereits im Brandenburgischen Provinziallandtag und im Vereinigten Landtag gesessen hatte, war er nach seiner Entlassung als Ministerpräsident am 29. März den Rest seines Lebens Parlamentarier: In der Paulskirche, dem Erfurter Unionsparlament, der Zweiten Kammer und der Ersten Kammer bzw. dem Herrenhaus. 1848 war der Boitzenburger zunächst Mitglied des zweiten Vereinigten Landtages, wo er die Eröffnungssitzung nutzte, um einen Rechenschaftsbericht seiner Regierung vorzutragen 72. Anschließend war Arnim für wenige seine einzige außenpolitische Initiative in der Polenfrage ergriff; vgl. Hans Henning Hahn: Die polnische Frage in der deutschen Politik, in: Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland 1772 -1871, hrsg. von Klaus Zernack, Berlin 1987, 1-19, hier 10. 65 Vgl. Mähl, Überleitung (wie Anm. 3), 102. 66 Verheißungen (wie Anm. 22), 37. Abschiedsgesuch in: Arnim, Märkischer Adel (wie Anm. 1), 152. 67 Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 34), 189-194; Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen 2 (wie Anm. 39), 2. 68 Arnims Brief an den König vom 09 . 9.1848 bei Karl Haenchen (Hrsg), Revolutionsbriefe 1848. Ungedrucktes aus dem Nachlaß König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, Leipzig 1930, 170 ff. Siehe auch das Handschreiben des Königs, StA Potsdam, Pr.Br. Rep. 37, Herrschaft Boitzenburg, c: Familienarchiv, Nr. 197. 69 Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 34), 25l. 70 Ebd, 405; Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen II (wie Anm. 39), 85. 7l Vgl. Günther GTÜnthal: Parlamentarismus in Preußen 1848/49 -1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, 178, Anm. 15. 72 Vgl. Hofmann, Ministerium (wie Anm. 64), 68.

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Tage Abgeordneter der Paulskirche, um kurz darauf aus Protest sein Mandat niederzulegen. Diese Entscheidung motivierte Arnim in der Schrift "Die deutsche Centralgewalt und Preußen"73. Hier zeigte er sich als strenger Vertreter des Prinzips der Legitimität: Schon dem Vorparlament sprach er jedes Mandat ab. Außerdem lehnte er, "überzeugt von der Notwendigkeit großer Reformen, aber unfähig, den Weg der Revolution zu betreten", zunächst die Annahme eines Mandates für die deutsche Nationalversammlung ab. Er zeigte damit eine für den Konservativismus des 19. Jahrhunderts typische Denkweise: Bejahung notwendiger, evolutionärer Umgestaltung bei gleichzeitiger Ablehnung revolutionärer Umwälzungen. Der Graf ließ sich schließlich nach eigener Aussage zur vorläufigen Annahme des Mandates überreden, um in Frankfurt zu beurteilen, "ob die Versammlung denn wirklich in die Fußstapfen des Vorparlaments und Funfziger Ausschusses treten werde", oder ob die Versammlung sich gemäß der Formel Friedrich Wilhelms IV. vom 3. April darauf beschränken werde, "zwischen den Regierungen und dem Volke das deutsche Verfassungswerk zu Stande zu bringen". Wie der König beharrte also auch der Graf auf der Beachtung des Vereinbarungsprinzips, das zumindest formell in der Preußischen Nationalversammlung auch nicht in Frage gestellt, das jedoch in Frankfurt ignoriert wurde 74. Deshalb legte Arnim bereits Anfang Juni sein Mandat nieder 75 , noch vor den Debatten über die provisorische Zentralgewalt, die in der Wahl Erzherzog Johanns von Österreich ihren Abschluß fanden 76. Statt im Saale der Paulskirche legte Arnim in seiner Schrift vom August 1848 seine Meinung über die Einsetzung eines Reichsverwesers dar. In ihr lehnte er gleich zu Beginn das Prinzip der Volkssouveränität ab und beharrte auf dem Vereinbarungsprinzip77. Als ausgebildeter Jurist konnte er diesen Standpunkt, der die Märzereignisse marginalisierte 78, aus dem deutschen Staatsrecht herleiten, wie es sich auf der Wiener Schlußakte aufbauend entwickelt hatte 79 . Daß diese Argumentation auch der Rechtfertigung des eigenen Standpunktes diente, beweist die Tatsache, daß Graf 73 Centralgewalt (wie Anm. 46), 3 f.; die folgenden Zitate 4-6. 74 Vgl. dazu auch Arnirns Redebeitrag arn 27. Mai in der Debatte über den Antrag

Raveaux über das künftige Verhältnis von Landesverfassungen und Reichsverfassung, in: Reden an die deutsche Nation. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt arn Main, hrsg. von Franz Wigard, Bd I. Neudruck München 1979, 144 ff. 75 Vgl. die Mitteilung des Präsidenten arn 14. Juni; ebd, 305. 76 Ebd, 628-38. Ursache für die Mandatsniederlegung. war also nicht die Wahl des Reichsverwesers, wie Harnisch behauptet; vgl. Harnisch, Aus den Papieren (wie Anrn. 4), 542. 77 Centralgewalt (wie Anm. 46) 11 f.; siehe auch ebd, 43 f. 78 Schon im März hatte Arnirn in der Staatszeitung anonym "den Aufruhr als eine wenig bedeutende, von den Truppen unterdrückte Straßen-Erneute dargestellt." So Ludwig v. Gerlach: Aufzeichnungen I (wie Anm. 39), 515. 79 Centralgewalt (wie Anm. 46), 12-23. Dort auch die folgenden Zitate. 7*

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Arnim nicht von dem deutschen Volke als einziger bestimmender Größe und damit als einzigem legitimen Souverän ausging: "Die aber, - und es gibt solche, - welche etwa kein preußisches Volk mehr, sondern nur noch ein deutsches Volk anerkennen wollen, halte ich keines Wortes der Erwiederung wert." Dabei ging Arnim von einem föderalistischen Aufbau Deutschlands aus, bei dem sowohl die Rechte des Ganzen als auch der Teile zu berücksichtigen waren; folgerichtig sah er ein großes Übel darin, "daß eine Versammlung von 600 Personen, ohne eine zweite Instanz Gesetze für Deutschland beschließen soll. Es zeigt sich auch hier der Unsegen des Einkammersystems. " BO Dies war nicht nur ein allgemeines Bekenntnis zum Föderalismus, sondern auch eine bewußte Ablehnung der Auffassung, "daß Preußen von der Karte verschwinden, und sich in eine oder einige deutsche Provinzen auflösen solle." Statt dessen trat Graf Arnim dafür ein, "fest und frei zu beharren auf Preußens Kraft und Selbstständigkeit, welche die Hand, die die Geschicke der Völker lenkt, ihm erhalten möge in einem einigen Deutschland." Preußen sollte also in Deutschland auf- und nicht untergehen - und vor allem sollte seine Zustimmung dazu eingeholt werden. Die zu berücksichtigende preußische Stimme sprach der Graf aber der in Berlin tagenden Preußischen Nationalversammlung ab, denn diese sei nur zur Vereinbarung der künftigen Verfassung berufen BI; Preußen fehle es noch "an einem gesetzlichen Organ zu einer rechtsverbindlichen Erklärung des preußischen Volkes", weil die Bundesreform in Angriff genommen worden sei, bevor Österreich und Preußen sich konstituiert hätten. Während viele Liberale und Demokraten die deutsche Verfassung vor der preußischen verabschieden wollten, hätte nach Arnims Auffassung also umgekehrt die Konstitutionalisierung Preußens vor der Deutschlands zu erfolgen. Auch dies war eine gemäßigt konservative Annschauung, denn sie beharrte zwar auf den preußischen wie den monarchischen Rechten, lehnte aber auf der anderen Seite eine Konstitutionalisierung Preußens (im Gegensatz etwa zu Ernst Ludwig v. Gerlach) nicht prinzipiell ab B2 . Statt in der Paulskirche trat Arnim im "Junkerparlament" hervor B3 und wurde schließlich sogar in das dreiköpfige Direktorium des "Vereins zu Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes aller Klassen des Volkes" gewählt B4 • Außerdem war er MitEbd, 36; die folgenden Zitate 47 ff. und 23 f. Die Preußische Nationalversammlung war zwar in der Tat zur Vereinbarung der preußischen Verfassung mit der Krone berufen worden, doch nahm sie nach dem Wahlgesetz vom 8. April 1848 (Gesetz-Sammlung 1848, 89 ff.) auch die Rechte des Vereinigten Landtages wahr, konnte also (entgegen Arnims Auffassung) auch über das Verhältnis zu Deutschland mitbestimmen, allerdings nicht ohne Konsens mit der Krone erzielt zu haben. 82 Vgl. dazu Prittwitz, Berlin 1848 (wie Anm. 5), 452, Anm. l. B3 Vgl. auch den Artikel ,Kleist-Retzow' in diesem Band. BO

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glied des fünfköpfigen Vorstandes des "Vereins für König und Vaterland" 85. Dies allein dürfte deutlich machen, daß Graf Arnim ein unbedingt konservativer Politiker war, der allerdings zu mehr Zugeständnissen gegenüber den nationalen und konstitutionellen Forderungen bereit war als mancher seiner Gesinnungsgenossen. Im Dezember 1848 versuchte Arnim, in der schon behandelten Schrift über die "Verheißungen des 22sten März", für die bevorstehende Revision der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 seine Idee eines allgemeinen, ungleichen Wahlrechtes und einer ständischen Gliederung der Zweiten Kammer ins Spiel zu bringen 86: Statt einer gleichen forderte er hier eine "gerechte Verteilung der Mitwirkung bei der Wahl der Volksvertretung unter alle Klassen des Volks" 87. Dabei war für Arnim zwar einerseits der Ausschluß etwa von Tagelöhnern von der Wahl ein Unrecht, andererseits aber die Einführung eines gleichen Wahlrechts "ein noch größeres politisches Unrecht, denn (es) gibt den Anarchisten und Revolutionairs nicht allein die Waffen und Heere zur Revolution gegen die Regierung, sondern schon die Regierung selbst in die Hand." Ein gutes Wahlrecht mußte nach Arnims Auffassung verhindern, daß "durch die Masse der ungebildeten und von Aufwieglern oder Egoisten leicht irre geleiteten Wähler das Resultat der Wahl" gefährdet werde. Auch ohne das Bekenntnis, daß er "in dem konstitutionellen Regimente eine starke Krone, gegenüber den anderen Staatsgewalten für ein allgemeines, in Preußen aber für ein ganz besonderes Bedürfnis" halte, war darum klar, daß Graf Arnim in erster Linie ein Verteidiger der Krone war, was ihn einerseits bisweilen zu einem Kritiker der Hochkonservativen, andererseits aber zu einem Befürworter partieller Reformen zur Stärkung der Krone machte. Darüber hinaus setzte sich Graf Arnim aber auch für "den größeren ländlichen Grundbesitz" ein, dem es eine starke Stellung in der Ersten Kammer zu sichern gelte, denn die Aufgabe der Ersten Kammer sei zuerst, "die korporativen Interessen im Staate zu vertreten, und hierdurch zugleich in ihr das der Korporation eigentümliche konservative Element fest zu gründen. " Ergänzt wurde dieser Vorschlag dadurch, daß die unteren Klassen an den Wahlen zur zweiten Kammer nur durch Vertreter teilnehmen sollten, um ihr Gewicht zu mindern, sie aber nicht ganz von den Wahlen auszuschließen 88. Auf diese Weise sei die Verwirklichung konservativer Politik möglich: "Es 84

133 .

Herman v. PetersdorJf, Kleist-Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart / Berlin 1907,

Adolf WoIJf, Berliner Revolutionschronik, Bd III, Berlin 1854, 212 f. Vgl. dazu auch Arnims Brief an Otto v. Manteuffel, in: Heinrich v . Poschinger, Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Freiherr von Manteuffel, Bd 1. Berlin 1901, 55 f.; siehe auch ebd, 68 f. und 80 . 87 Verheißungen (wie Anm. 22), 20; die folgenden Zitate ebd, 23, 31, 60, 65, 69 . 88 Wahlgesetzentwurf ebd, 77 f. 85

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kann, wie schon oben gesagt, auf diesem Wege endlich das erreicht werden, worauf wir großen Wert legen, daß die organische natürliche Entwicklung der Staats-Einrichtungen an die Stelle des Mechanischen, des Gemachten trete." 89 Doch war Graf Arnim insofern ein gemäßigter Konservativer, als er die Verfassung vom 5. Dezember nicht beseitigt und den Konstitutionalismus als einzig mögliche Staatsform in Preußen erhalten wissen wollte. Diese Haltung war im Dezember 1848 noch nicht für alle der führenden konservativen Persönlichkeiten selbstverständlich. Sie resultierte offenbar aus der Erfahrung des Frühjahrs 1848, daß der entscheidungsschwache König Friedrich Wilhelm IV. zu einer unkonstitutionellen Regierung nicht in der Lage war. Auf der anderen Seite war auch klar, daß der Graf zumeist mit den Altkonservativen gegen die Liberalen und nicht mit diesen gegen jene zusammenzuarbeiten bestrebt war. Ab 1849 war Graf Arnim Abgeordneter in der Zweiten Kammer, wo er zunächst einer der fünfzehn Führer der gesamtrechten Fraktion "Stadt London" war. Gleich zu Beginn der Session schlug Amim in einer Parteiversammlung vor, "eine äußerste Rechte müsse sich absondern, dann wäre jeder Grund zu einer weiteren Trennung abgeschnitten. Er selbst sei bereit, diese Rechte zu bilden, er wolle das Odium auf sich nehmen, sich an die Spitze derselben zu stellen; sehr wohl wisse er, welchen Haß er sich dadurch auflade und daß er bei einem Siege der Roten als erstes Opfer fallen würde. Er wisse auch, daß er nicht so weit gehe, als die Männer der äußersten Rechten, aber er sei bereit, dem Vaterland das Opfer zu bringen." 90 Allerdings spalteten sich dann nicht die äußersten Rechten ab, sondern die gemäßigten Fraktionen Wentzel und Harkort. In der Adreßdebatte am 2. April brachte die Rechte zwei Adreßentwürfe ein: den Antrag Vinke 91 und den der äußersten Rechten 92, für den vor allem Graf Arnim sprach. Er lehnte sowohl den radikalen Partikularismus ab als auch jene Bestrebungen, die auf eine Zerstückelung Preußens zugunsten der deutschen Einheit zielten. Seiner Meinung nach müsse Preußen den Weg zwischen den Prinzipien des Zentralismus und des Partikularismus weiterverfolgen: "Hält es fest an der Liebe zur deutschen Einheit, hält es fest an der Achtung der Unabhängigkeit für sich und Andere, hält es fest an dem Geiste der Gerechtigkeit gegen jedermann, dann wird es auch den neuen, großen Beruf erfüllen können, der ihm nahe getreten ist." 93 In 89

90

Ebd, 81.

Ferdinand Fischer, Geschichte der Preußischen Kammern vom 26. Februar bis

27. April 1849, Berlin 1849, 189. 91 2. K 1849, 344. 92 Ebd. Er war von 18 Abgeordneten unterzeichnet, u. a. auch von Bismarck und Kleist-Retzow. In ihm wurde vor allem auf "Ew. Königl. Majestät Weisheit und Hingebung für die große (nationale, WN) Sache" vertraut (Ebd).

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diesem Sinne möge der König handeln. Schließlich wurde der Antrag der Rechten angenommen und damit die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 als Verfassungsgrundlage akzeptiert 94 • Als Rodbertus seinen Antrag auf Anerkennung der deutschen Reichsverfassung einbrachte, über den am 21. April der Kommissionsbericht vorgetragen wurde 95 , zeigte der Graf erneut, daß er nicht so kompromißlos für die konservative Sache eintrat wie Kleist-Retzow oder Bismarck: Während diese gegen alle Anträge und für den einfachen Übergang zur Tagesordnung votierten 96, beantragte jener eine motivierte Tagesordnung 97. Er betonte, "daß die Verfassung nicht. durch die einseitigen Beschließungen der Frankfurter Nationalversammlung rechtsgültig werden" könne, verwies also erneut auf das Vereinbarungsprinzip. Die preußischen Kammern aber sollten zunächst dafür sorgen, "daß in Preußen Ordnung und Stärke wiedergewonnen werden." Deshalb könne man zur Tagesordnung übergehen. Bei der Schlußabstimmung wurde aber zunächst das Amendement Arnim abgelehnt 98 und schließlich der dritte Absatz des Antrags Rodbertus angenommen, mit dem die Kammer "die von der deutschen Nationalversammlung vollendete Verfassung, so wie nach zweimaliger Lesung beschlossen, als rechtsgültig anerkennt." 99 Daraufhin entschloß sich das Ministerium zur Auflösung der Zweiten Kammer 100 ; allerdings bot erst die Plenardebatte vom 25. und 26. April über den Belagerungszustand vom November 1848 den Anlaß dafür, daß die Zweite Kammer am 27. Mai aufgelöst und die Erste Kammer vertagt wurde. In der folgenden Unterbrechung der Verhandlungen nahm Arnim an den Besprechungen über die Revision des Wahlrechtes teil 101, bei denen man sich gegen eine Einteilung der Wähler in Interessengruppen entschied. Das oktroyierte Dreiklassenwahlrecht vom 30. Mai 1849 entsprach insofern Arnims Vorstellungen, als es einerseits nicht große Gruppen von bisherigen Wählern von der Wahl ausschloß, andererseits aber die Stimmen der "niederen Klassen" abwertete 102. 2. K 1849, 344. Vgl. Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd III: Bismarck und das Reich, Stuttgart u. a. 31988, 39. 95 2. K 1849, 461. 96 Bismarck, in: 2. K 1849, 586 ff. Der Antrag wurde abgelehnt, ebd, 589. Kleist ebd, 593 ff. 97 Amendement Arnim ebd, 589; danach die folgenden Zitate. 98 Ebd,608. 99 Ebd, 611. 100 Poschinger, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 86), 97. 101 Vgl. Grünthai, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 69. Nach Ludwig v. Gerlach fand die Konferenz am 30. April statt; vgl. Politik (wie Anm. 44), 175. 102 Vgl. dazu Verheißungen (wie Anm. 22), 70-79. 93

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Durch die Wahlen vom 17. Juli 1849 erhielt die Zweiten Kammer eine weitaus konservativere Zusammensetzung. Allerdings zeigten bereits die Präsidiumswahlen, bei denen Graf Arnim weder zum Präsidenten noch zum Vizepräsidenten gewählt wurde 103 , daß seine Fraktion ihre Auffassungen nicht ohne weiteres würde durchsetzen können. Unter diesen Voraussetzungen wurde die Revision der Verfassung ab dem 7. August fortgesetzt. Graf Arnim wurde stellvertretender Vorsitzender der Verfassungs-Revisionskommission, in der sechs Mitgliedern seiner Fraktion sechs Abgeordnete der Liberalen gegenüberstanden, während die übrigen neun Mitglieder zur vorerst wenig strukturierten " Mitte " zählten 104. Sicher auch auf Grund seiner Initiativen im Jahre 1848 wurde der Graf in den fünfköpfigen Unterausschuß über Titel V ("Von den Kammern") gewählt, der vor allem eine Umgestaltung der Ersten Kammer vorzuschlagen hatte. Zunächst hatte der Boitzenburger mit seiner Schrift "Über die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung" 105 Anteil daran, daß das Heer gemäß Art. 108 der Revidierten Verfassung auch weiterhin nicht auf die Verfassung vereidigt wurde 106 • Bemerkenswert an dieser Schrift ist, daß Arnim ,seine Märzverheißung', das Heer auf die Verfassung vereidigen zu lassen, als Fehler bezeichnete 107. Darüber hinaus benutzte er die damals üblichen Argumente, daß das Heer nicht beratschlagen dürfe, und daß die Treue gegenüber dem König wichtiger sei. Eines der erklärten Hauptziele der Liberalen war die Streichung des Artikels 108 der Oktroyierten Verfassung, der das Budgetrecht der Zweiten Kammer dadurch einschränkte, daß "die bestehenden Steuern und Abgaben" forterhoben werden konnten, "bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden." 108 Die Beratungen über das Budgetrecht stellten ohne Zweifel den Höhepunkt der gesamten Revisionsverhandlungen dar 109 • Dabei ergriff auch Graf Arnim in der Sitzung am 25. September das Wort und verteidigte den Artikel als wichtiges Vorrecht der Krone 110. Trotzdem wurde schließWahl vom 11.8. 2. K, 1849/50,25 f.; Wahl vom 07.9. ebd, 243 f. Namen bei GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 127, Anm. 11-13. Sie allein verdeutlichen den personellen Wandel von der preußischen Nationalversammlung des Jahres 1848 zur Zweiten Kammer der Session 1849/50: Während der Führer des rechten Zentrums von 1848, Harkort, nun zur Linken zählte, gehörten jetzt der 1848 als Exponent der "Militärpartei" geltende Griesheim und der deutschnationale Abgeordnete Geßler aus Posen zur Mitte. Ursache dafür war, daß die Linke von 1848 die Wahlen im Juli 1849 boykottiert hatte. 105 Vgl. Anm. 51. 106 Vgl. dazu Heinrich, Geschichte Preußens (wie Anm. 16), 377. Darin liegt eine bedeutende Zäsur der preußischen Heeresgeschichte. 107 Vereidigung (wie Anm. 51), 33 f. 108 Oktroyierte Verfassung, Artikel 108, in: Gesetz-Sammlung 1848, 390. 109 Vgl. GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 129. 110 2. K 1849/50, 407 -11. 103

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lich der Antrag, in Artikel 108 die Möglichkeit zu streichen, bestehende Steuern und Abgaben im Konfliktfall fortzuerheben, mit 212 gegen 93 Stimmen bei 7 Enthaltungen angenommen 111. Allerdings scheiterte diese Initiative der Zweiten Kammer am Veto der Ersten Kammer, so daß die Bestimmung unverändert als Artikel 109 in die revidierte Verfassung überging. Sie sollte im Verfassungskonflikt eine entscheidende Rolle spielen. Graf Arnim spielte auch eine wichtige Rolle bei der Bildung des Herrenhauses ll2 : Diese Frage wurde im Januar 1850 aufgegriffen, als Friedrich Wilhelm IV. seinen Eid auf die Verfassung von der Annahme einer Reihe von "Propositionen" abhängig machte. Am Ende des Ringens um diese Propositionen setzte sich statt der entschiedenen Position der Brüder Gerlach der Antrag Arnim durch, durch welchen die endgültige Gestaltung der Ersten Kammer bis zum Ende der Session 1852 verschoben wurde, um genügend Zeit für die Kommunalreform zu gewinnen 113. Für die Altkonservativen um die Gebrüder Gerlach war jedoch insbesondere die interimistische Zusammensetzung der Ersten Kammer inakzeptabel 114 , denn dadurch, daß diese bis 1852 eine reine Wahlkammer blieb, war die potentielle Möglichkeit einer Blockierung der Exekutive durch ein nicht (vollständig) auflösbares Oberhaus vorerst blockiert 115 . Arnim-Boitzenburg fiel bei ihnen zeitweilig in Ungnade. Erneut hatte sich gezeigt, daß der ehemalige Ministerpräsident im entscheidenden Augenblick kompromißbereit war, wenn er dadurch seine Auffassung zumindest teilweise durchsetzen konnte. Diese Haltung brachte ihn immer wieder in Konflikt mit der äußersten Rechten. Spätestens im Frühjahr 1852 stand die Oberhausfrage wieder auf der Tagesordnung. Erneut nahm Graf Arnim frühzeitig eine gemäßigte Position ein 116. Allerdings war er gegen die Verlängerug des Provisoriums und stimmte darum am 26. April gegen die Vorlage der Regierung ll7 , so daß Rechte und Linke eine destruktive Mehrheit bildeten 118. In einer seiner Ebd, 422 . Siehe dazu GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 235-60. 113 Text 2. K 1849/50, 2150. Der Namensaufruf ergab 161 gegen 149 Stimmen bei 15 Enthaltungen (Ebd, 2151). An diesem Kompromiß hatte Radowitz wesentlichen Anteil; vgl. GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 170. Allerdings trat die Erste Kammer nie in der 1850 festgelegten Gestalt zusammen. Statt dessen wurde diese 1853/54 in das Herrenhaus umgewandelt, dem keine gewählten Vertreter mehr angehörten. 114 Vgl. Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 34), 94. 115 Vgl. GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 179. 116 Vgl. Leopold v . Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 34), 718; Poschinger, Denkwürdigkeiten II (wie Anm. 86), 125. 117 2. K 1851/52, 1168 f. 118 Es war aber unzutreffend, "von einer Koalition Arnims und der Linken" zu sprechen (Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten, wie Anm. 34, 756) ; vgl. GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 260. 111

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bedeutendsten parlamentarischen Reden hob Graf Arnim am 6. Mai die Oberhausfrage auf eine prinzipielle Ebene ll9 . Mit der Formel "aut-aut" spitzte er den Konflikt auf die Frage zu, ob im Falle einer Interessenkollision sich der Standpunkt der (konservativen) Kammermajorität oder der der (gleichfalls konservativen) Staatsregierung durchsetzen solle. Anschließend stimmte seine Fraktion, die vor zehn Tagen noch gegen die Regierung votiert hatte, nun fast geschlossen für die Regierungsvorlage 120 und stürzte den preußischen Konservativismus damit in eine Krise l2l , die dadurch beendet wurde, daß Ludwig v. Gerlach sich auf eine juristisch unangreifbare Position zurückzog, die das "entweder - oder" in ein "weder - noch" verwandelte. In der Oberhausfrage sah sich die Regierung durch die Ablehnung ihrer Vorlage zu einem weiteren Wahlrechtsoktroi gezwungen 122. Auf Grund dieses Gesetzes wurde auch Graf Arnim in die Erste Kammer gewählt, der er von nun an angehören sollte. Dort verstärkte er zunächst die Rechte um Stahl und Alvensleben, war jedoch bald Führer einer eigenen Fraktion 123. Nach der Umwandlung der Ersten Kammer in das Herrenhaus im Jahre 1853, bei der Arnim erneut als Kommissionsmitglied 124 seinen Anteil hatte, und deren Zusammensetzung seinen Vorstellungen vom Februar 1852 nahekam, stand Graf Arnim dort als erblichem Mitglied ein Mandat zu, das er bis zu seinem Tode innehatte. Bis 1858 dominierte die Fraktion Arnim das Herrenhaus. IV.

Graf v. Arnim-Boitzenburg war und blieb ein treuer Parteigänger seines Königs, dem er in einer schweren Stunde stets die Hand zu reichen bereit war. In diesem Sinne blieb Arnim "Edelmann". Dies zeigte sich nicht nur 1848, sondern auch im Verfassungskonflikt 1862, als der neue König Wilhelm I. in der Frage der Heeresorganisation mit dem Abgeordnetenhaus in Konflikt geriet. Nachdem er bereits 1851 in der Zweiten Kammer von einer "Lücke" in der Verfassung gesprochen hatte 125 , trat der ehemalige Ministerpräsident 2. K 1851/52, 1280-85. Ebd, 1294 f. 121 Vgl. dazu die Artikel in der NPZ im Mai 1852 von Arnim (Signum -n-) und Krassow (-a-); vgl. dazu Griinthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 272, Anm. 69; siehe auch Ludwig v. Gerlach, Politik (wie Anm. 44), 308. 122 Vgl. Griinthal, Parlamentarismus (wie Anm. 71), 297 ff. 123 Ebd, 342 und 369. 124 1. K 1852/53, Drucksachen Nr. 29. 125 2. K 1850/51,355. Vgl. dazu ausführlich Hans-Christo! Kraus, Ursprung und Genese der "Lückentheorie" im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), 209-234, bes. 228. 119

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1862 als Parteigänger des neuen Ministerpräsidenten Bismarck hervor. Im Konflikt über die Heeresreform hatte die Regierung den Haushaltsentwurf für 1863 am 29. September 1862 zurückgezogen, um zu verhindern, daß das Abgeordnetenhaus die Kosten für die Heeresorganisation strich 126 • Nachdem das Abgeordnetenhaus danach am 3. Oktober im Gesamthaushalt für 1862 die Militärausgaben gestrichen hatte 127 , verwarf das Herrenhaus am 11. Oktober die Vorlage des Abgeordnetenhauses mit 150 gegen 17 Stimmen und verabschiedete mit 114 gegen 44 Stimmen die von der Regierung vorgelegte Fassung 128. Angesichts dieses Konfliktes zwischen den beiden Häusern beschloß die Regierung, unter Verweis auf Artikel 109 der revidierten Verfassung 129 ohne Budget zu regieren. Graf Arnim verteidigte diesen Rechtsbruch des Herrenhauses sowohl in einer Rede im Landtag 130 als auch in einer längeren Schriftl 31 • Auch in der Adreßdebatte am 5. Februar 1863 vertrat Graf Arnim diese Position: Es sei sehr wichtig, "daß das Land, ob früher oder später, erkenne, daß die Regierung durch ihr Verhalten, nach Fortfall des Budgets pro 1862 nicht von der Bahn des Rechts gewichen ist." 132 Ausgehend von der "Lücke" in der Verfassung forderte Arnim, nicht allein den Wortlaut der Verfassungsurkunde zu beachten: "Wir gehen dabei von diesem Standpunkt aus, wo die Verfassungsurkunde vom Jahre 1850 nicht ausreicht, da ergänzen wir dieselbe in dieser Beziehung aus der ganzen Vergangenheit der Geschichte der peußischen Verfassung, die Gottlob älter ist als 1850." Es gehe jedoch nicht in erster Linie um die Heeresorganisation, sondern um die prinzipielle Frage, "ob der Schwerpunkt der Macht im König liegen soll, oder in der Volksvertretung." Arnims schon öfter beschriebener Grundüberzeugung entsprach die Forderung, "daß das feste selbständige Königtum vor allem erhalten werden muß." 133 Nach dieser Rede wurde der Adreßentwurf von 96 anwesenden Herren einstimmig angenommen 134. Auch in den nächsten Jahren stand Graf Arnim-Boitzenburg an der Spitze seiner Fraktion im Herrenhaus an der Seite des Königs und verteidigte die Politik des Ministerums Bismarck gegen die Angriffe des Abgeordnetenhauses. 126 127 128 129

404.

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte III (wie Anm. 94), 306. AH 1862/63, 2055 . HH 1862, 212. Gesetz-Sammlung 1850, 34. Vgl. Heinrich, Geschichte Preußens (wie Anm. 16),

HH 1862,181-187. Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg, Das Recht des Herrenhauses bei der Festsetzung des Staatshaushalts, Berlin 1863. Vgl. dazu: Eine Antwort an Graf Arnim-Boitzenburg, in: Eduard Lasker, Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874, 215-296. 132 HH 1863, 32; dort die folgenden Zitate. 133 Ebd,34 134 Ebd, 37. 130 131

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1863 eskalierte die Schleswig-Holsteinische Frage erneut, als der dänische Thronwechsel zu den seit Jahren umstrittenen Verfassungsfragen auch noch einen Erbfolgekonflikt auslöste 135. Dabei vermischten sich dynastische Motive mit der modernen nationalen Frage. Indem Graf Arnim sich in der Frage der Elbherzogtümer engagierte, zeigte er erneut, daß er für einen ,echten' Konservativen (im Sinne Ernst Ludwig v. Gerlachs) zu sehr der liberalen nationalstaatlichen Gedankenwelt verbunden war. Schon am 19. Dezember 1863 wurde der Antrag Arnim-Boitzenburg / Brüggemann / Kleist-Retzow auf Verabschiedung einer Adresse des Herrenhauses eingebracht i36 • In ihr wurde das Vorgehen der dänischen Regierung als "Nichterfüllung der Voraussetzung, unter welcher Preußen dem Londoner Vertrage beigetreten ist", bezeichnet, weshalb die preußische Regierung "im Vereine mit Österreich, welches nicht hinter Preußen zurückbleiben kann und wird, und mit den übrigen deutschen Staaten" weitere Maßnahmen einzuleiten habe 137. Das Herrenhaus werde die nötigen Mittel bewilligen. Graf Arnim stellte bei der Motivierung ds Adreßentwurfes die Frage, ob "die Landesvertretung mit gutem, patriotischem, Preußischem Gewissen der Regierung, der Preußischen Krone die nötigen Mittel verweigern dürfe". Noch stand die Auseinandersetzung also ganz in den Zeichen des Verfassungskonfliktes: Budgetfragen und nicht nationale Interessen standen im Vordergrund. Deshalb ging der Jurist Arnim auch ausführlich auf die Rechtsfrage ein. Der Rückgriff auf das Londoner Protokoll von 1852, das von den Liberalen in Deutschland abgelehnt worden war, stellte nicht nur einen propagandistischen Effekt dar. Vielmehr ging es den Konservativen darum, daß weiterhin das Recht und nicht reine Machtpolitik der wesentliche Faktor der internationalen Politik blieb. Die Adresse wurde schließlich im Herrenhaus fast einstimmig verabschiedet 138. Wenig später ging Graf Arnim jedoch einen Schritt weiter, denn er war es, der im Mai 1864 eine Petition zugunsten der Annexion der Elbherzogtümer durch Preußen lancierte, die dann in kurzer Zeit von mehr als 70.000 Bürgern unterschrieben wurde 139. Damit setzte Arnim sich erneut in Gegensatz zu Ludwig v. Gerlach 140, der zeitlebens mit der ,nationalen Idee' nichts anzufangen wußte und ganz im traditionellen konservativen Sinne Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte III (wie Anm. 94), 460 - 68. HH 1863/64, 60 f. Graf Arnim brachte "die Adresse" vielleicht nicht ohne Anregung Bismarcks ein; vgl. Gerhard Ritter, Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876. Heidelberg 1913, 96, Anm. 13. 137 Ebd, 65; die folgenden Zitate 66. 138 Ebd, 85. 139 Ritter, Preußische Konservative (wie Anm. 136), 107. Vgl. Lothar GaU, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980, 309. 140 Gerlach, Politik (wie Anm. 44), 455 -458. Vgl. dazu den Artikel ,Kleist-Retzow' in diesem Band. 135 136

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von einem einheitlichen europäischen Interesse im Kampf gegen das "Prinzip der Revolution" ausging. Bismarck nahm in diesem Streit anfänglich eine vermittelnde Rolle ein, die auch im Vertrag von Gastein zum Ausdruck kam. Damit wurde eine Konfrontation zwischen ,Großdeutschen' und ,Kleindeutschen' im konservativen Lager zunächst vermieden, denn Gerlach und den Altkonservativen war es vor allem darum gegangen, einen endgültigen Bruch mit Österreich zu vermeiden. Und dies schien jetzt gewährleistet zu sein. Am 21. Januar 1865 wurde erneut eine Adreßdebatte über die SchleswigHolsteinische Frage geführt, und zwar auf Grund des Antrages ArnimBoitzenburg / Brüggemann / Below 141. Erneut motivierte Graf Arnim den Antrag 142 , der schließlich mit 86 gegen 6 Stimmen angenommen wurde 143. In dieser Session wurde in der Budgetdebatte, in der Graf Arnim sich mehrmals kurz zu Wort meldete 144, noch einmal der Entwurf des Abgeordnetenhauses abgelehnt und der Regierungsentwurf auf Antrag ArnimBoitzenburgs angenommen. Dies waren die letzten bedeutenden Angelegenheiten, in denen sich Graf Arnim engagierte: Seine nachlassende Gesundheit hinderte ihn schon 1866 daran, sein Herrenhausmandat wahrzunehmen 145, und auch 1867 konnte er nicht an den Sitzungen teilnehmen. Der Graf starb am 8. Januar 1868 im Alter von 64 Jahren auf Schloß Boitzenburg, zu einem Zeitpunkt, als Bismarck gerade den norddeutschen Bund gegründet und seine "Einigung von oben" im wesentlichen in die Wege geleitet hatte.

v. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Graf Arnim ein gemäßigter konservativer Politiker mit "realpolitischem" Einschlag war, der deshalb von den Liberalen als Reaktionär und von den Altkonservativen als Liberaler angegriffen wurde. Insofern verwundert es nicht, daß er im Verfassungskonflikt einer der loyalsten Träger der Bismarckschen Politik war. Der Graf war schon als Innenminister ein Realpolitiker gewesen, was ihn in Gegensatz zu Männern wie Ernst Ludwig v. Gerlach oder Hans v. Kleist-Retzow bringen mußte, die ihr politisches Handeln auf festen "Prinzipien" aufbauten. Außerdem war Graf Arnim ein "Edelmann" im wahrsten Sinne des Wortes: Als die Lage 1848 ohne sein Verschulden scheinbar hoffnungslos 141 142 143 144 145

HH 1865, 17. Ebd., 22 f . Ebd, 3l. Ebd, 313 f., 315 f., 325 ff. Der Graf wurde im Register als entschuldigt geführt; vgl. HH 1866, 5.

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verfahren war und der König von revolutionären Massen im Schloß belagert wurde, versuchte er nach Überwindung ernster Bedenken als Ministerpräsident geordnete Zustände zu schaffen, ohne dem Zeitgeist zu viele Zugeständnisse zu machen, obwohl er wußte, daß er hier keine Lorbeeren erringen würde und wie manch anderer das Amt hätte ablehnen können. Schließlich muß betont werden, daß Graf Adolf Heinrich v. AmimBoitzenburg einer der größten Grundbesitzer Preußens war. Seine "Waldgrafschaft Boitzenburg" machte ihn ökonomisch unabhängig und zu einem einflußreichen Mann. Nachdem Graf Amim die günstige Agrarkonjunktur dazu genutzt hatte, um seinen wirtschaftlich außerordentlich gesunden Besitz noch zu vergrößern, umfaßte die Herrschaft Boitzenburg gut 5600 ha landwirtschaftliche Nutzfläche und etwa 9000 ha Wald 146. Allerdings weisen sein Denken und Handeln nicht nur eigennützige Züge auf. Insofern ist er ein Beispiel dafür, daß nicht jeder "Junker", der sich für die Sache der Konservativen engagierte, dabei nur an die Wahrung seines Besitzstandes dachte. Amim jedenfalls fühlte sich viel eher als "Vasall seines Königs" . Aus dieser Grundhaltung heraus setzte er sich für ein ungleiches Wahlrecht und für eine Bewahrung der Grundlagen des Großgrundbesitzes ein, ohne aber die Interessen Preußens und des preußischen Königs aus den Augen zu verlieren, die beide die wesentlichen Bezugspunkte seines Denkens waren, während Deutschland für den Grafen nur da eine Rolle spielte, wo seine Interessen mit den preußischen in Einklang gebracht werden konnten.

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Vgl. Arnim, Märkischer Adel (wie Anm. 1), 87.

Im Schatten Bismarcks Der preußische Ministerpräsident Otto Freiherr von Manteuffel (1805-1882)* Von Günther GTÜnthal Biographien, politische zumal, bedürfen besonderer Rechtfertigung schon längst nicht mehr. Historie erzählt sich anband einer Lebensgeschichte anschaulich auch dann, wenn sich in dieser nicht sogleich auch ein ganzes Jahrhundert widerspiegelt und Männer, wie immer wieder verbürgt, nicht Geschichte, jedenfalls nicht allein Geschichte machen. Biographien der Großen Preußen hatten Tradition, und sie haben sie längst wieder!. Eine spezifische Tradition und ein probates Stück preußischer Geschichte zugleich spiegelt aber auch die Reihe von Namen jener Männer, denen eine Biographie versagt geblieben ist. In diese Reihe gehört Otto Freiherr von Manteuffel, preußischer Minister, Ministerpräsident, Politiker und Staatsmann. Erstaunlich genug, pflegt doch mit dessen Namen eine ganze Ära preußischer Geschichte benannt zu werden, über Otto von Manteuffel, Leiter der preußischen Politik während der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts und somit, getrennt nur durch das kurze Intermezzo des liberalen Experiments zwischen 1858 und 1862, fast unmittelbarer Amtsvorgänger Bismarcks, über Manteuffel gibt es bis heute keine Biographie 2•

* Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf einer akademischen Feierstunde der Universität Karlsruhe (TH) anläßlich des 75. Geburtstags von Walter Bußmann am 14. Januar 1989 gehalten hat. Der Aufsatz ist dem am 20 . April 1993 verstorbenen Lehrer und Freund gewidmet. ! Aus der Fülle möglicher Belege sei stellvertretend verwiesen auf die BismarckHistoriographie (vgl. hierzu Christoph Studt, Bismarck und kein Ende ... Neue Literatur zu Person und Politik Otto von Bismarcks, in: Francia 19, 1992, 151-164 sowie Hellmut Seier, Bismarck und der "Strom der Zeit". Drei neue Biographien [L. Gall, E. Engelberg, O. Pflanze] und ein Tagungsband, in: HZ 256, 1993, 689-709) einerseits, die in schneller Folge vorgelegten Biographien preußischer Könige andererseits: Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie. Berlin 1990; Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte. Göttingen 1992; Malve Gräfin Rothkirch, Der "Romantiker" auf dem Preussenthron. Porträt König Friedrich Wilhelms IV. Düsseldorf 1990; Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron. Berlin 1992; verwiesen sei daneben auch auf die im Stapp-Verlag (Berlin) erscheinende Reihe ,Preußische Köpfe' oder den von der ,Berliner Morgenpost' zum ,Preußenjahr 1981' hrsg. Band: Sie prägten Preußen. Lebensbilder einer großen Geschichte.

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Günther GrünthaI

Über die Gründe, die insoweit für das ausgehende 19. und die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zu benennen wären, braucht man nicht lange zu spekulieren; entsprach doch die Zurückhaltung der Zunft auch politisch den Wertmaßstäben der überwiegend nationalliberal-kleindeutsch geprägten Historiographie der Nach-Reichsgründungszeit nur zu sehr! Nachdem die großen Fragen der Zeit nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüsse, sondern durch ,Eisen und Blut' entschieden worden waren, hatte man, Sinnbild liberaler Selbstkritik und realpolitischer Staatskunst zugleich, den Erfolg zur Kategorie der Geschichte erhoben. Dort wo sich die Historiographie fortan bemühte, im Sinne einer rückwärts gewendeten Prophetie nach den wahrhaft entscheidenden Tatsachen der preußischen Geschichte zu fragen, nach der schrittweisen Erfüllung Preußens deutschem Beruf, da konnten jene vermeintlich unfruchtbaren, ja geschichtslosen 50er Jahre der Vergessenheit anheimgegeben werden. Wenn überhaupt, dann als Kontrastfolie der glanzvollen Reichsgründungszeit stilisiert, war die in Manteuffel personifizierte Ära der Reaktion ein der Erforschung wenig würdiger Gegenstand - wie unwürdig, das ließ sich nicht zuletzt den Urteilen und Verurteilungen entnehmen, die 1882 beim Tode Manteuffels in der Tagespresse als Nekrologe firmierten. "Manteuffel war ein Staatsmann", so hieß es etwa in der linksliberalen ,National-Zeitung'3, "wie er nicht sein sollte". Ihm habe "zum Guten nicht bloß die Kraft [gefehlt], sondern auch der rechte Wille zur Pflichterfüllung. Es war ein Fehler seiner Gesinnung, womit er die Besten seiner Zeitgenossen gegen sich einnahm". Er sei ein "warnendes Beispiel für Mit- und Nachwelt [geworden], wieviel Schaden ein Minister seiner Art in seinem Lande anrichten kann". Das zielte auf den Innenminister Manteuffel, der durch seinen Sieg über die Berliner Konstituante die preußische Monarchie in den Stand gesetzt hatte, auch der Herausforderung durch die Frankfurter Nationalversammlung zu widerstehen; das galt Manteuffel als Außenminister, der mit der in der Konvention von Olmütz liquidierten Unionspolitik auch die letzten Hoffnungen auf eine Lösung der nationalen Frage, die Träume der Gothaer hatte zuschanden werden lassen 4; das meinte schließlich Manteuffel als den auch für die innere Politik des nachmärzlichen Preußen verantwortlich gemachten Regierungschef, für das Regiment bürokratischer Gängelung, 2 Wippermann, in: ADB 20,1884,260-272 sowie das zeitgenössische " Lebensbild " von Georg Hesekiel, Otto Th. v. Manteuffel. Berlin 1851. Nachweise bei Günther GTÜnthal, Otto von Manteuffel, in: NDB 16, 1991, 88-90. Verwiesen sei ferner auf die älteren Monographien zur Ära Manteuffel: Karl Enax, Manteuffel und die Reaktion in Preußen. Dresden 1907; Hans Walter, Die innere Politik des Ministers von Manteuffel und der Ursprung der Reaktion in Preußen. Berlin 1910. 3 Nr. 557 v. 28.11.1882. 4 Vg!. etwa den Nekrolog der Vossischen Zeitung, Nr. 555 v. 27.11.1882.

Otto Freiherr von Manteuffel (1805 -1882)

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politischer Gesinnungsschnüffelei und polizeilicher Demokratenverfolgung, für ein politisches System, das das berüchtigte Dreiklassenwahlrecht hervorgebracht, den verderblichen Einfluß der Kamarilla geduldet, die Verfassung mißachtet und unterminiert hatte. Auch für die Konservativen war Manteuffel "kein wirklich großer Staatsmann", und in den ,Politischen Gesellschaftsblättem' Hermann Wageners wurde lakonisch nur daran erinnert, daß Manteuffel als Bürokrat groß geworden sei 5. Ein unvergängliches Verdienst aber bleibe Manteuffel, so resümierte die ,Kreuzzeitung' 6 den tagespolitischen Streit aus konservativer Sicht, habe er doch 1848 die demokratische Partei besiegt. Durch Manteuffel und sein vielgeschmähtes Regiment allein sei nach der Revolution die Rechtsordnung Staat überhaupt erst wieder aufgerichtet worden. Die Versuche indes, die Konturen Manteuffels zumindest im Halbschatten des Größeren nachzuzeichnen und dem politisch Gescheiterten wenigstens die menschlich gebotene Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, sie erwiesen sich auch dann als vergeblich, als der Nachlaß Manteuffels dem Fleiß des unermüdlichen Editors Heinrich v. Poschinger anheimfiel, die Denkwürdigkeiten und Aufzeichnungen der Gebrüder Gerlach 7, schließlich die ,Erinnerungen und Gedanken' Bismarcks vorlagen 8. In exemplarischer Weise ließe sich dieser hier nur anzudeutende Befund an Friedrich Meineckes 1913 erschienener Radowitz-Biographie verdeutlichen; da die List der Idee ihren Vollstrecker schon gefunden hatte, konzentrierte sich der Blick auf den, der zwar wie Manteuffel auch zu den Gescheiterten zu zählen war, der aber alles, was Bismarck schließlich gelang, zumindest schon versucht hatte. Preußen habe seinen ihm vorgezeichneten Weg nicht gehen können, weil Preußen 1850 keinen wahren Staatsmann gehabt hätte. Die nächste, und das meinte recht eigentlich: die ganze Verantwortung traf Otto v. Manteuffel, der, ein "leidenschaftslose[rl Jochträger", die sogar noch nach Radowitzens Sturz aufsteigende Möglichkeit einer "rein schwarzweißen Kriegs- und Machtpolitik unbenutzt" habe verstreichen lassen 9.

Zit. nach ADB (wie Anm. 2), 271. Nr. 280 v. 29.11.1882. 7 Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Freiherr v. Manteuffel. Hrsg. v. H. v. Poschinger. 3 Bde. Berlin 1901; Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold v. Gerlachs, Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV. Nach seinen Aufzeichnungen hrsg. von seiner Tochter. 2 Bde. Berlin 1891/92; Ernst Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795-1877. Hrsg. v. Jakob v. Gerlach. 2 Bde. Schwerin 1903. 8 Hrsg. v. Horst Kohl, 2 Bde. Stuttgart 1898. 9 Friedrich Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution. Berlin 1913, 520. Das im Text folgende Zitat ebd. 5

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8 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Als ideellen Hintergrund der Manteuffelschen Politik, die Preußen nach Olmütz und an den wiedererrichteten Frankfurter Bundestag führen sollte, hat Meinecke konservative Vorurteile und das Klasseninteresse des preußischen Adels ausmachen zu können geglaubt; so modern dieses Urteil anmutet, es wird der Manteuffelschen Politik, seinem Bemühen um die ReIntegration von Staat und postrevolutionärer Gesellschaft nicht gerecht, einem allerdings vergeblichem Bemühen - hätte es doch sonst, und es sei noch einmal auf die Terminologie Meineckes zurückgegriffen, der "Bismarckschen Hammerschläge" nicht mehr bedurft, um das Schicksal Preußens doch noch zu meistern 10. Somit wäre denn der Reiz, sich der politischen Biographie Otto v. Manteuffels zu nähern, mit der Überzeugung umschrieben, daß auch die Erfolglosigkeit der Erklärung bedarf. Dies setzt jedoch positiv gewendet Antworten zunächst auf die Frage nach dem voraus, was Manteuffels eigenen politischen Zielen gemäß für Erfolg zu gelten gehabt hätte. Diesen Zielen, den Maßstäben und Inhalten seiner im Wortsinn als Reaktion auf die Revolution verstandenen Politik - und für Manteuffel stand diese immer unter dem Primat der Innenpolitik -, dieser Politik soll im Folgenden in der gebotenen Kürze nachgegangen werden. Das, was man als Ziel seiner Politik, was man als politische Konzeption Manteuffels bezeichnen könnte, gipfelte in einem freilich Entwurf gebliebenen System eines korporativen Verfassungsstaats, der durch eine überparteilich-neutral gedachte Regierung bürokratisch verwaltet werden sollte. Manteuffel ist als Bürokrat groß geworden, dies zunächst, ja allein hat ihm den Zugang zur Politik ermöglicht. Diese erste Karriere verlief geradlinig, außergewöhnlich erfolgreich zudem 11. Erziehung und Ausbildung schienen für den 1805 im niederlausitzschen Lübben geborenen Manteuffel vorgegeben: Otto war als ältester von vier Söhnen des Rats bei der Kgl. Sächsischen Oberamtsregierung und späteren Präsidenten der Regierung in Lübben geboren worden, er war Sohn also eines hohen kgl. sächsischen Beamten, Sohn des Freiherrn Otto Gottlob von Manteuffel und seiner Gemahlin, Auguste von Thermo. Die Beamtenlaufbahn wurde zum Ziel erkoren, und der Weg dorthin wurde trotz des frühen Todes des Vaters beschritten und bruchlos fortgesetzt: Der Bruder des Vaters, Oheim Hans, sächsischer, dann preußischer 10 Als nationaler "Wegweiser seines Fürsten" habe Radowitz scheitern müssen, "aber indem er die Fahne über den feindlichen Wall hinüberwarf, wies er dem preußischen Staat das Ziel der Zukunft". Ebd., 547. In Anlehnung an Meinecke, 312, wo von Bismarcks "zermalmendem Hammer" die Rede ist. 11 Das Folgende - soweit nicht anders angegeben - nach der Personalakte Manteuffels: GStA Berlin-Dahlem, Rep. 77 Nr. 1722.

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Beamter auch er, nahm Otto und dessen jüngeren Bruder Karl, den späteren kgl. preußischen Minister für landwirtschaftliche Angelegenheiten 12, in seine Obhut. Dies bot sich an und ließ sich mit der Erziehung des eigenen Sprosses verbinden; dritter ,Teufel' im Bunde, worauf zurückzukommen ist, war der etwas jüngere Edwin v. ManteuffeP3, späterer kgl. preußischer Gardedragoner, Flügeladjutant Friedrich Wilhelms IV., Chef des Militärkabinetts und als solcher der fortschrittlich-liberalen Opposition dereinst "unheilvolle[r] Mann [in] unheilvolle[r] Stellung" 14. Otto wurde, gemeinsam mit seinem Bruder Karl, in die Landesschule zu Schulpforta aufgenommen; 1824 bestand er die Abiturientenprüfung mit "größter Auszeichnung" und wurde "mit Nr. 1" entlassen. Es folgte, nach dem Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei den Kgl. Jägern, das für die preußische Verwaltungslaufbahn klassische Studium der Rechts- und Kameralwissenschaften in Halle a. d. Saale. Auch hier wußte man nur "Zufriedenstellendes" zu berichten, vormärzlich Karriere-Förderndes zumal: Im Zeugnis der Universität wurde nicht nur vermerkt, daß sich besagter Otto von Manteuffel "jederzeit anständig und wohlgesittet betragen" habe, daß nicht nur in "ökonomischer Beziehung" nichts Nachteiliges über ihn vorgekommen, sondern daß er vor allem einer "Teilnahme an verbotenen Verbindungen unter Studierenden ... nicht verdächtig geworden" sei. Ende 1827 wurde die erste Staatsprüfung in Berlin abgelegt, Manteuffel am Berliner Stadtgericht am 5.11.1827 als "Auskultator" eingestellt. Das Reifezeugnis zur zweiten Staatsprüfung, die Zulassung also zur Prüfung zum Referendarius (1829) bescheinigte Manteuffel eine "mit glücklichem Erfolge" in allen Abteilungen der praktischen Justiz absolvierte Ausbildung, die den "ungeteilten Beifall seiner sämtlichen Vorgesetzten" gefunden habe. "Viel Fleiß, Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Gründlichkeit, verbunden mit Talent, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit sind die Eigenschaften, welche ihn vorteilhaft" auszeichneten. Nach der "mit gut" bestandenen Prüfung trat Manteuffel im 6.10.1829 als "Referendarius" in das Berliner Kammergericht ein. Bereits ein halbes Jahr später übernahm Manteuffel eine Refendariatsstelle bei der Regierung zu Frankfurt / Oder, seine "Verhältnisse" machten ihm dies "wünschenswert", so hatte er den Wechsel "von der Justiz zur 12 Karl Otto Freiherr v. Manteuffel (1806-1879), 1851 Regierungspräs. in Frankfurt, 1851-1853 Unterstaatssekretär im Min. d. Innern, 1854 -1858 Minister f. d. landwirtschaftlichen Angelegenheiten, 1852 -1858 Mitgl. der 11. Kammer / Abgeordnetenhaus. 13 Ludwig Dehio, Edwin von Manteuffels politische Ideen, in: HZ 131, 1925,4171; Gordon A. Craig, Portait of a Political General. Edwin von Manteuffel and the Constitutional Conflict in Prussia. In: Political Science Quarterly LXVI, 151, 1-36. 14 Karl Twesten, Was uns noch retten kann. Berlin 1861, 82.

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Administration" begründetl 5 , ermöglichte ihm dies doch größere Nähe zu seinen Gütern im Kreis Luckau. Am 12.5.1830 legte Manteuffel seinen Diensteid als Regierungsreferendar in Frankfurt ab 16. Inzwischen, und noch vor der mit Auszeichnung absolvierten zweiten, der "Großen" Staatsprüfung, hatte sich noch ein zweiter Oheim Manteuffels, der kgl. sächsische Präsident des Geh. Finanzkollegiums Georg August von Manteuffel, um die Erziehung Ottos verdient gemacht. 1830 hatte er mit dem vielversprechenden Neffen eine Bildungsreise nach Frankreich unternommen. Von den Ereignissen des Juli 1830 überrascht, geriet der Aufenthalt zum politischen Lehrstück. Das Erlebnis der Revolution in Paris blieb prägend und sollte, nach 1848 und den Folgen des bonapartistischen Staatsstreiches zumal, zum Angelpunkt einer Politik werden, die den Ausbruch der französischen Staatskrankheit in Preußen zu hindern bemüht war. 1833 wurde Manteuffel zum Landrat in Luckau und wenig später als ritterschaftlicher Abgeordneter seines Kreises in den Provinziallandtag der Mark Brandenburg und des Markgrafentums Niederlausitz gewählt. Seine herausragenden Leistungen in der Kreisverwaltung führten 1841 zu seiner Ernennung zum Oberregierungsrat in der Regierung zu Königsberg. 1843 zum Regierungsvizepräsidenten in Stettin ernanntl 7 , übernahm er nur ein Jahr später die Stelle eines Vortragenden Rats bei dem den Vorsitz im Staatsministerium führenden Prinzen Wilhelm, dem Bruder des Königs. Dadurch kam er in engste Verbindung zu allen Bereichen auch der obersten Staatsverwaltung 18 • Im Frühjahr 1845 schließlich folgte als Direktor zweier Abteilungen der Eintritt ins Ministerium des Innern. Der Beginn der im engeren Sinn politisch zu nennenden Laufbahn Otto v. Manteuffels ist recht genau datierbar; als Mitglied des Vereinigten Landtags trat er 1847 erstmals an die weitere Öffentlichkeit. Es blieb zwar offen, auf welche Weise sein Bekenntnis zugunsten des ständisch zu organisierenden Staates - nur in den und durch die Stände war für Manteuffel 15 28.3.1830: Otto v Manteuffel an den Präsidenten des Kammergerichts (wie Anm. 11, BI. 56). Eine zusätzliche Eingangs-Prüfung brauchte M. nicht abzulegen, da er "über die wichtigsten Zweige der Kameralwissenschaften und die damit in Verbindung stehende Hilfswissenschaft Vorlesungen gehört" hatte. 16 In der zwei Jahre später erfolgten Beurteilung heißt es, M. habe "natürliche Anlagen [ebenso wie] zureichende Kenntnisse und überhaupt erkennen lassen, daß er mit sehr günstigem Ertrag zu einem Staatsdiener sich auszubilden bemüht gewesen". Er wurde dementsprechend für das (gleich zu erwähnende) Landratsamt als qualifiziert erachtet. Wie Anm. 11, BI. 71. 17 Was in praxi dem Rang der Regierungspräsidentschaft entsprach, da in der Provinzhauptstadt der jeweilige Oberpräsident (hier: Wilhelm v. Bonin) als Regierungspräsident firmierte. Wie Anm. 11, BI. 97. 18 VgI. auch Ferdinand Fischer, Preußen am Abschluß der ersten· Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1876, 29 f.

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eine Teilhabe am politischen Leben überhaupt denkbar - mit dem ebenso nachdrücklich vertretenen Plädoyer zugunsten einer ungeschwächten Monarchie in Übereinstimmung zu bringen sein sollte; jedes dieser Voten allein aber hätte schon ausgereicht, um Manteuffel als absoluten Widerpart liberaler Grundsätze zu exponieren 19. Daß Manteuffel gegen das Wahlgesetz für die preußische Nationalversammlung, das demokratische Hexeneinmaleins der Revolution stimmte, bewies zumindest Konsequenz 20. Friedrich Wilhelm IV., so hieß es, habe die klein gewordene Schar derer, die auch im Zweiten Vereinigten Landtag und bis zum Schluß die Sache des Königs vertraten, neben Manteuffel standen Thadden-Trieglaff und Bismarck, sehr wohl im Gedächtnis behalten. Die Revolution kam. Unbehelligt von den Folgen der Märztage blieb Manteuffel im Amt: Kontinuität in der Rolle des unentbehrlichen Fachmanns; bezeichnend für seine Amtsauffassung ist ein Schreiben, mit dem er seinen neuen Chef, v. Auerswald, um Einstellung der Entschädigung für seine Tätigkeit als Vortragender Rat beim Prinzen bat 21 ; es sei ihm ein "drückendes Gefühl", jene Renumeration von 800 Thalem jährlich noch fortzubeziehen, "ohne dafür etwas zu leisten". Manteuffel also blieb und in der Folge erlebte er, subjektiv wie objektiv gedeckt durch die salvatorisehe Klausel vom Rechtsboden, das Kommen und Gehen der liberalen Exzellenzen. Ein Ministerialdirektor plant keine Gegenrevolution; um Manteuffel für jene zu gewinnen, die dieses Geschäft am liebsten schon betrieben hätten, ehe die Revolution überhaupt stattgefunden hatte, bedurfte es der Einsicht, daß die Berliner Straßen demokratie und der Souveränitätsschwindel der Konstituante an Staat und Monarchie Axt anzulegen begännen, der Anspruch auf Vereinbarung der Verfassung zwischen Monarch und Nationalversammlung kein Rechtstitel mehr sein könne. Als der König, unter dem Druck der sich zuspitzenden Situation, von Kamarilla und Kreuzzeitungspartei ebenso bedrängt wie gestützt, sich im Herbst 1848 endgültig genötigt sah, aus den vielen Plänen die eine Tat folgen zu lassen und den Weg zur Bildung eines gegenrevolutionären Kampfministeriums freizugeben, da versagte sich Manteuffel nicht 22 .

19 Aufsehen hatte vor allem Manteuffels Rede am 31. 5.1847 erregt, in der er einen förmlichen Rechtsanspruch auf die Berufung des Landtags verneinte, diese vielmehr als Ausfluß "freier königlicher Machtvollkommenheit" verteidigte. E. Bleich (Hrsg.), Der Erste Vereinigte Landtag in Berlin 1847. Verhandlungen nach den stenographisehen Berichten, Band 3: 19.5. -11. 6.1847, 1153. Reinhold KoseT, Zur Charakteristik des Vereinigten Landtags von 1847, in: Beiträge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Festschrift Gustav Schmoller. Leipzig 1908, 287 -331. 20 Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) I, 3 f. 21 Ebd., 19.

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Die Armee sei das Wichtigste, so hatten die Gerlachs dem König immer wieder beschwörend vorgehalten. Sie war es: General v. Wrangel bewies es im November 1848 mit seinen Truppen in Berlin. Graf Brandenburg hatte als Kommandeur des VI. Korps in Schlesien schon im April 1848 so nachhaltig für Ruhe und Ordnung gesorgt, daß er von der Kamarilla seitdem für höhere Aufgaben verwendbar im Auge behalten worden war. Brandenburg war schließlich bereit, an die Spitze eines Kabinetts zu treten, das der national versammelten Revolution notfalls mit Gewalt entgegentreten, sich solcherart Majoritäten jedenfalls nicht beugen würde. Nun sei es darauf angekommen, so erinnerte Bismarck die Geburtsstunde des "Ministeriums der Tat", dem Grafen Brandenburg geeignete Kollegen zu gewinnen 23. Das war nicht einfach. Die im Herbst 1848 in Hofkreisen verbreitete Anekdote, wonach die Flügeladjutanten Seiner Majestät mit geladenem Revolver an den Straßenecken lauerten und die harmlos Vorübergehenden mit Todesdrohungen zur Annahme eines Ministerpostens zu zwingen suchten, traf durchaus den Kern der Sache 24 • Auf Bismarck allerdings verzichtete der König aus freien Stücken. "Nur zu gebrauchen, wenn das Bayonett schrankenlos waltet", soll Friedrich Wilhelm auf der Liste der Ministerkandidaten neben Bismarcks Namen vermerkt haben. Auf Manteuffel aber war schon Anfang Oktober hingewiesen worden, den Ausschlag gab Brandenburg selbst. "Ich habe die Sache übernommen", bemerkte er zu Bismarck, "habe aber kaum die Zeitungen gelesen, bin mit staatsrechtlichen Fragen unbekannt und kann nichts weiter tun, als meinen Kopf zu Markte tragen. Ich brauche einen Kornak, einen Elefantenführer, einen Mann, dem ich traue und der mir sagt, was ich tun kann. Ich gehe in die Sache wie ein Kind ins Dunkel und weiß Niemanden, als Otto Manteuffel, der die Vorbildung und zugleich mein persönliches Vertrauen besitzt, der aber noch Bedenken hat" 25. Diese Bedenken ließen sich ausräumen: Es bedurfte eines Gesprächs mit Bismarck und der Zusage des Kriegsministers v. Strotha, es sei durch die Postierung einiger der besten Schützen des Garde-Jäger-Bataillons für die persönliche Sicherheit der Minister gesorgt, wenn sie der Nationalversammlung im Schauspielhaus mit der Vertagungsordre den Kampf ansagten. 22 Zur Bildung des sog. ,Kampf-Ministeriums' Brandenburg / Manteuffel vgl. Günther GTÜnthal, Zwischen König, Kabinett und Kamarilla, in: JbGMitteldtld 32 (1983),119-174, hier bes. 121-125. 23 Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanke [=GW 15], 38 f . 24 Erich Jordan, Die Entstehung der konservativen Partei und die preußischen Agrarverhältnisse von 1848. München / Leipzig 1914, 361. 25 So der Bericht Bismarcks (wie Anm. 23, 39) über sein Gespräch mit Brandenburg. Hiernach auch das Folgende.

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Die preußische Politik ist für die Dauer fast genau zweier Jahre, vom November 1848 bis zum Dezember 1850, einer in ihren inneren wie äußeren Ansätzen durchaus schlüssigen Konzeption gefolgt 26: Der Weg, der zu beschreiten zumindest versucht wurde, sollte Preußen aus der Revolution nach vorn, und nicht nach hinten herausführen. Nach vorn, das meinte, mit dem Blick auf die innere Politik, schlagwortartig verkürzt: Es sollte dem Sieg über die Revolution nicht die Konterrevolution, die reine Negation, sondern eine konstruktive, zu Konzessionen an programmatische Forderungen der Liberalen bereite Politik folgen. Im Verfassungsoktroi vom Dezember 1848 fand diese Politik ihren sichtbarsten Ausdruck. Der Oktroi war weniger ein coup de partie, sondern im vollen Wortsinn ein coup d'etat. In und mit diesem restituierte das in Brandenburg und Manteuffel manifest gewordene Bündnis von Armee und Bürokratie nicht nur Autorität und Handlungsfreiheit der Exekutive, sondern ebnete dem liberal-konservativen Komprorniß die Chance eines dritten Weges jenseits der Extreme, die sich noch wenige Wochen zuvor schroff als Alternative (demokratische Revolution oder konterrevolutionär militärische Gewaltherrschaft) gegenüber gestanden hatten. Das Kabinett hat geschlossen, hat als Einheit gehandelt. Dies machte seine Stärke, seine Durchsetzungsfähigkeit aus. Das neue Ministerium hatte (wie Hermann Wagener die Zeit erinnerte, in der Preußen "etwas aus den Fugen geraten" gewesen sei) sein Hauptquartier "in dem genügend geschützten Kriegsministerium aufgeschlagen und sich dort gewissermaßen permanent erklärt". Manteuffel zumal sei der gewesen, dessen es damals bedurfte habe: "Geachtet bei der Bürokratie, von zweifelloser Treue, mit eisernem Fleiß und hervorragender Arbeitskraft, zu jeder Tageszeit zugänglich, sich über Alles, soweit möglich durch eigene Anschauung, informierend, wußte er bald alle Fäden in seiner Hand zu vereinen und nach allen Seiten das Gefühl zu verbreiten, daß in Preußen wieder ernsthaft regiert werde" 27. Aus dieser Zeit besitzen wir eine der wenigen sog. "Porträtskizzen" Manteuffels, die wegen ihrer Anschaulichkeit ein etwas längeres Zitat rechtfertigt. Der Dritte in der Ministerreihe, nach Brandenburg und Ladenberg, sei der Minister des Innern, v. Manteuffel, "nach der allgemeinen Meinung der eigentliche Kern und die Seele dieses Ministeriums [gewesen]. Es ist ohne Zweifel der bedeutendste Kopf unter den Köpfen an dieser Tafel, d. h. nach dem Lineamenten seiner Züge, die sehr scharf und bestimmt ausgeprägt hervortreten. Eine breite Stirn, lichtbraunes volles Haar, 26 Vgl. hierzu ausführlich Günther GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/ 49 -1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära. Düsseldorf 1983, 27 -65 (Kapitel I: Die okroyierte Verfassung). 27 Hermann Wagener, Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis 1866 und von 1873 bis jetzt. 2. Auf!. Berlin 1884, 43 f.

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die Nase römisch gerade und über die sehr kurze Oberlippe ein wenig hinfallend, ein ebenso kurzes breites Kinn, kluge kalte Augen und einen Zug der Strenge um die festgekniffenen Lippen, so sitzt der Minister des Innern gewöhnlich unbeweglich und hört blassen, blutlosen Gesichts die Beschuldigungen an, welche ihm und seinen Kollegen von der Opposition gemacht werden . . . Manteuffel .. . ist klein ... ; die kalte Vornehmheit der adeligen Bureaukratie drückt sich in allen seinen Zügen aus, welche in ihrer herben Schärfe und Festigkeit einen Charakter anzeigen, der nicht leicht zu beugen und zu ändern ist, sondern, seinen aristokratischen und bureaukratischen Grundlagen gemäß, die neue Zeit und ihr Streben nach demokratischer Auflösung aller Besonderheiten als Torheit und Verbrechen betrachtet". Man habe hier einen Minister, der "über Nacht konstitutionell geworden" sei; er sei für eine der Stützen des alten Systems erachtet worden, jetzt sitze derselbe v. Manteuffel an dem konstitutionellen Platze, als der bedeutendste Leiter des Ministeriums der ,rettenden Tat'; sein Name stehe unter der Verfassung vom 5. Dezember. Er sei ohne Zweifel der am meisten beschäftigte Minister. Ein gewaltiges Gewicht ruhe auf seinen Schultern. "Der ganze Haß der Parteien heftet sich vornehmlich an seine Person, ebenso aber auch ... alle Hoffnung ... der alten Streiter für die verunglimpfte schöne Vergangenheit. Es ist in allen Parteikämpfen und in allen Ministerien von jeher so gewesen, daß einer der Minister als die Seele aller Maßregeln gilt, gegen welche sich die Opposition in den Kammern und im Volke mit Zorn und Haß erhebt. Hier hat diese Rolle Manteuffel übernommen, ihn trifft daher, und zwar infolge der Entwicklungen unserer Geschichte, jener Haß in weit stärkerem Maße, als früher Herrn v. Rochow, v. Arnim und Bodelschwingh ... " Da Manteuffel Minister des Innern und damit auch der Polizei sei, wäre es "völlig erklärlich, daß man ihn vornehmlich als den eigentlichen Träger des jetzigen Regierungssystem erachtet, daß alle Vorwürfe der Kammer und der Presse auf ihn fallen, daß die Anklage des Scheinkonstitutionalismus und des Einverständnisses mit der Hofpartei, Kamarilla, Junkertum und Bureaukratie sich auf sein Haupt" ergössen. Manteuffels unbestreitbar großer Anteil an der Politik des Kampfkabinetts ist gerade wegen der Geschlossenheit des Ministeriums im einzelnen nur schwer zu belegen. Immerhin wissen wir, daß er sich zunächst für ein Zurückgehen auf den Vereinigten Landtag ausgesprochen, dann aber mit aller Konsequenz die insbesondere von Brandenburg und Ladenberg als allein möglich bezeichnete Politik verfochten hat. Der Sachkompetenz des Innenministers Manteuffel zumal war es zu verdanken, daß die von Brandenburg geforderte weitgehende Erfüllung der königlichen Märzverheißungen u. a. durch das in der Verfassung verankerte Notverordnungsrecht der Exekutive gleichsam rückversichert werden konnte 28. 28 Grünthal, Zwischen König, Kabinett und Kamarilla (wie Anm. 22), 124 ff. mit Einzelnachweisen.

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Von diesem Rechtstitel, den Manteuffel später in einer für sein politisches Denken typischen Wendung als Mittel zur Behebung innerer Krankheitszustände eines Staates bezeichnet hat, von diesem Rechtstitel ist in der Folge, bis zur definitiven Verabschiedung der Verfassung im Januar 1850, wiederholt Gebrauch gemacht worden. Der Oktroi des wesentlich von Manteuffel geprägten Dreiklassenwahlrechts 29 ist in jener Hinsicht politisch am folgenreichsten gewesen. Der Zugriff dieses nach dem Verfassungsoktroi zweiten sog. staatsrettenden Akts, erwies sich, den Intentionen des federführenden Innenministers zumindest teilweise entgegen, als zu weitgehend. Anstelle der beabsichtigten Reduktion des Stimmengewichts der äußersten Linken nämlich provozierte er den Wahlboykott des demokratisch-linksliberalen Lagers insgesamt und verstärkte damit die nach dem Scheitern der erbkaiserlichen Nationalstaatspläne der Paulskirche ohnehin zu erwartende Verschiebung des politischen Kräftefeldes nach rechts. Auf die Folgen wird noch einmal zurückzukommen sein. Im April 1849 hatte sich Friedrich Wilhelm IV. den Plänen der Erbkaiserlichen versagt, hatte die preußische Regierung, unter gleichzeitiger Auflösung der dissentierenden Kammer in Berlin, die Frankfurter Reichsverfassung abgelehnt. Als jetzt gleichzeitig auch auf dem Gebiet der äußeren, der deutschen Politik, der Versuch unternommen wurde, aus der Revolution nach vorn herauszukommen und der preußische Unionsplan und mit diesem die Absicht Preußens verkündet worden war, die Bestrebungen der kleindeutschen Mehrheit der Paulskirche aufgreifen, diese aber unter der Hegemonie der verbündeten dynastischen Gewalten verwirklichen zu wollen, da ist auch Manteuffel zunächst in den Bannkreis der deutschen Einheitsbewegung gezogen worden. Seinem Bekenntnis aber, "Deutschland habe ein Recht auf Preußen, Preußen eine Pflicht für Deutschland" 30, war ein direkter Bezug zur Union keineswegs zwingend zu entnehmen. Skepsis scheint von Anfang an vorhanden gewesen zu sein, die Sorge vor den potentiellen Folgen einer Frontstellung gegen das mit russischer Hilfe in Ungarn erfolgreiche Österreich begann schnell zu überwiegen. Dazu kam eine persönliche Rivalität gegenüber Radowitz, eine verständliche Animosität gegen das "Querfeldein-Reden" des "Wundermannes"31, der die Phantasien des Königs beflügelte, ohne formell in das Ministerium berufen zu sein und Verantwortung zu tragen - "Kamarilla im Quadrat", wie Leopold v. Gerlach spottete, der es wissen mußte. "Radowitz imponiert allen Ministern, außer Manteuffel", so vermerkte er in seinem Tagebuch. 29 Günther GTÜnthal, Das preußische Dreiklassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahlrechtsoktrois vom Mai 1849, in: HZ 226 (1978),17-66. 30 Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm.7), 191 ff. Vgl. Leopold v. Gerlach (wie Anm. 7), I, 441 u. ff., 450 f. 31 Leopold v. Gerlach (wie Anm. 7), I, 330. Das im Text folgende Zitat ebd., 330.

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Man hat den Widerstand Manteuffels gegen die Radowitzsche Politik als Ausfluß seines preußischen Partikularismus' beschrieben; dies trifft zu, der Partikularismus aber besaß für Manteuffel keinen Selbstzweck, sondern war ihm Voraussetzung für den Kampf gegen die Revolution. Zunächst gelte es, Preußen im Innern zu restabilisieren. Deshalb sei keiner für eine deutsche Politik in Preußen tauglich, der "aus dem berauschenden Frankfurter Becher mitgetrunken" habe 32. Das Deutschland, das Radowitz vorschwebte, fange mit den Gothaern an und ende mit den Roten, mache den Krieg mit den konservativen Großmächten Europas unabweislich. "Es ist ein unheilvoller Widerspruch", so beschwor Manteuffel den König 33 , "wenn man im Innern der Revolution Terrain abgewinnen, in der äußeren Politik aber ihre Kriege führen" wolle. Manteuffel hat entscheidend dazu beigetragen, diesen Krieg zu vermeiden, einen Krieg, in dem Preußen nicht nur Österreich, sondern auch Rußland gegen sich gehabt hätte. Nach der Entlassung von Radowitz' und dem überraschenden Tod des Grafen Brandenburg ist Manteuffel zunächst interimistisch, im Dezember 1850 schließlich definitiv an die Spitze des Ministeriums getreten. Die Unionspolitik wurde aufgegeben, Manteuffel ging nach Olmütz, aber dieser Schritt war für Manteuffel kein Gang nach Canossa; der Spott über die ,bewaffnete Feigheit', die Verachtung der preußischen Liberalen über eine Politik indes, die zum ehrlosen Rückzug der preußischen Armee geführt hatte, war Manteuffel sicher und blieb als Schmach von Olmütz seinem Namen verhaftet. Die Sitzung der Zweiten preußischen Kammer am 3.12.1850 34 ist wegen der bekanntlich folgenlos gebliebenen Forderung des Liberalen Georg v. Vincke: ,Weg mit diesem Ministerium', vor allem aber dank der OlmützRede Bismarcks für denkwürdig erachtet worden. Manteuffel vermochte seiner Rede keine rhetorischen Glanzlichter zu verleihen, das Protokoll vermerkt nur einmal "Bewegung zur Linken". Das betraf die Stelle, an der Manteuffel, zu den Liberalen gewandt, fragte, ob jemand von den Herren zu sagen vermöchte, "wann ein einmal angefangener Krieg endigen, ... wo seine Grenzen" wären, ein Krieg, der "Preußen voraussichtlich das Leben von wenigstens 50 bis 60.000 Menschen" gekostet hätte. Olmütz hatte auch innenpolitisch weitreichende Folgen. Die Regierung wurde neu formiert. Manteuffel hatte das Innenressort nicht nur als Folge seiner äußeren Rangerhöhung zum Ministerpräsidenten aufgeben müssen. Die von der Hofpartei in die Regierung lancierten Minister - hier stand, Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7), 213. Ebd., S. 288. 34 Sten.Ber. der 2. Kammer, 8. Sitz. vom 3.12.1850, 44 f. u. 50 ff. Hiernach die im Text folgenden Zitate. 32

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neben dem Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Karl Otto v. Raumer, der neue Chef des Innenressorts, Ferdinand von Westphalen an erster Stelle -, sie sollten Sorge dafür tragen, daß der Ministerpräsident, als letzter der in der Regierung verbliebene Nothelfer des November 1848, sein Versprechen, daß hinfort entschieden mit der Revolution gebrochen werden solle, auch ebenso entschieden einlösen würde. Mit der Revolution brechen, das hieß: ihr dort entgegentreten, wo sie ihre Spuren am sichtbarsten hinterlassen hatte, in der Verfassung und in den sog. Reorganisationsgesetzen. Das zielte vor allem auf die sog. organischen Gesetze, auf die im März 1850, also unmittelbar nach Inkrafttreten der Verfassung verabschiedeten neuen Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialordnungen zumal 35 • Mit diesen insgesamt drei Reorganisationsgesetzen sollte die zunächst ja nur auf oberster, gesamtstaatlicher Ebene erreichte Überwindung delegierter Standschaftsrepräsentation gleichsam "nach unten" verlängert werden. Das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung war dabei verbunden mit dem genuin staatlichen Interesse an einer umfassenden Vereinheitlichung des vormärzlichen Rechtszustandes. Damit wäre zugleich die tradierte, auf dem sozial wie politisch privilegierten Großgrundbesitz ruhende Verwaltung umfassend umgestaltet worden. Das war die Handschrift Manteuffels, der in der Ersten Kammer davon gesprochen hatte, daß die Staatsregierung "schon viel zu lange der Zersetzung der alten Zustände zugesehen" habe 36 ! Hier in Sonderheit und frühzeitig aber hatte die in der Not geborene Gemeinsamkeit der äußersten Rechten mit Manteuffel brüchig zu werden begonnen. Man lag schließlich nicht mehr wie vor wenigen Monaten noch "auf dem Bauch", und die Herren wußten, wie es Leopold von Gerlach im Rückblick der späten 50er Jahre einmal in einem Brief an Otto von Manteuffel formulierte, warum ihnen Waldeck immer als der "klügste der vaterländischen Revolutionäre" gegolten hatte 37. Von diesem nämlich stammte die 1848 geäußerte Einsicht und der Versuch ihrer praktischen Umsetzung, daß dem Abschluß der Verfassung die Verabschiedung und Durchsetzung von "organischen" Gesetzen vorausgehen müsse, von Gesetzen, die die Organisation eines "wahren" Verfassungsstaates begründen, ja überhaupt erst ermöglichen würden. Die Reaktion begann: Sie begann mit der Sistierung, schließlich mit der Aufhebung der Reorganisationsgesetze, sie endete mit der WiederherstelGTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen (wie Anm. 26),182-185. Sten.Ber. 1. Kammer, 79. Sitz. (3.12.1849), 1717. 37 Leopold v. Gerlach an Manteuffel. Brief vom 5.10.1857, in Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) 111,214. Vgl. auch Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) 11, 533 f. 35

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lung der alten Kreis- und Provinzialstände; damit wurde zugleich die erstrebte Basis für den modernen, konstitutionell-repräsentativen Oberbau, also die Erste und Zweite Kammer eliminiert und der Weg auch zu deren ,Rückwärts-Revision' geebnet: Am Ende dieses Weges stand die Etablierung des Herrenhauses als Anverwandlung liberal-konstitutioneller Errungenschaften zu Nutz und Frommen konservativer Interessenpolitik. Allerdings bleibt festzuhalten, daß trotz der so geradlinig erscheinenden Reaktionspolitik der 50er Jahre nicht nur Zielrichtung, sondern auch die Methoden der konservativen Revolutionsprophylaxe von Anfang an umstritten waren. Und so haben die Auseinandersetzungen innerhalb des ohne den Integrationsfaktor einer starken Opposition sich selbst überlassenen konservativen Lagers einen wesentlichen Teil der Grundproblematik eines knappen Jahrzehnts preußischer Innenpolitik ausgemacht. Dabei ist die Eigenständigkeit der Position Manteuffels von Anfang an erkennbar. Mit seinen einst an der Idylle der landständischen Verfassung des Markgrafentums Niederlausitz geprägten Vorstellungen hatte sie allerdings nichts mehr gemein. Auch Manteuffel hat die Verfassung, an deren Zustandekommen er einen maßgeblichen, ja entscheidenden Anteil hatte, für verbesserungsfähig und für revisionsbedürftig gehalten, aber wiederholt betont, daß eine Regierung, die wisse, was sie wolle, mit dieser Konstitution durchaus regieren könne, ohne mit den wohlverstandenen Interessen der preußischen Monarchie in Konflikt zu geraten. Das entscheidende Interesse der Monarchie an der Verfassung sah er in ihrer Rechtsnatur. Nach der tiefen Erschütterung, die der preußische Staat im Jahre 1848 erlitten habe, sei es durch den Abschluß der Verfassung gelungen, so hieß es in einem Zirkular Manteuffels über die von der Verwaltung zu beobachtenden Grundsätze, den Grund eines geordneten Rechtszustandes zu legen. Dieser "geordnete, gesetzliche Zustand muß überall und um jeden Preis aufrechterhalten werden". Es komme darauf an, die "erhaltenden Elemente" zu kräftigen und den Beweis zu erbringen, "daß die preußische Verwaltung im Stande ist, auch in der neuen Staatsform, ein kräftiges und wohltätiges Regiment zu führen". Die von den Hochkonservativen und der ritterschaftlichen Rechten seit Olmütz forcierte Politik feudalständischer Reaktion, mit der man die Verfassung auf dem Revisionsweg zu "durchlöchern" und den Konstitutionalismus gänzlich zu überwinden hoffte, hat den Widerstand des in Amt und Person durch Manteuffel repräsentierten staatskonservativen, überparteilich-neutralen Gouvernementalismus provoziert. Ende 1853 hat Manteuffel in einer umfänglichen Denkschrift zur Verfassungsfrage seine, wie er schrieb, aus dem "großen Lehrjahr der jüngsten revolutionären Volksbewegung" gewonnenen Einsichten niedergelegt; diese Denkschrift ist in den

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Handakten seines Dienstnachlasses 38 überliefert und allem Anschein nach nicht ,präsentiert' worden. Gleichwohl oder gerade deshalb stellt sie eine besonders aufschlußreiche Quelle für Manteuffels politisches Denken dar. Es waren vor allem zwei Einsichten, die sich Manteuffel durch die revolutionären Ereignisse erschlossen hatten und die seinem Entwurf zur Reintegration von Staat und postrevolutionärer Gesellschaft, seinem "System", zugrundelagen: Die Erkenntnis einer unwiderruflich zum Durchbruch gelangten "Selbständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft" zum einen, die Tatsache zum andern, daß Preußens Zukunft um das Erfordernis "sozialer Reform" erweitert und daß diese Zukunft "ohne allen Zweifel in den Ring eines neuen Verfassungslebens festgebannt" sei. "Wie das letztere am treffendsten einzurichten" sei, darüber könnten die staatsmännischen Ansichten heute mehr oder weniger auseinandergehen, "aber wie es von jetzt an nicht beizubehalten, nicht neu zu schaffen oder neu zu bilden ist", darüber hätten "die gehäuften Mißversuche .. . auf dem konstitutiven Felde" ein endgültiges Urteil gesprochen. Dem "Andringen der sozialen Revolution, die gewaltiger [sei] als die politische" gelte es durch eine "soziale Reformation und die neue Organisation der ständischen Gruppenordnung" zu begegnen. Die geistige Verwandtschaft mit dem Begriff des "sozialen Königtums" und dem "Gesetz der gesellschaftlichen Bewegung" Lorenz v. Steins 39 ist unübersehbar. Auch für Manteuffel galt der Satz, daß "heutzutage nur die soziale Politik allein ... unüberwindlich" mache. "Der Staat wird dazu getrieben werden, der sozialen Aufgabe zu genügen oder sie wird ihn über den Haufen werfen", so hatte Radowitz nur wenige Jahre zuvor den gleichen Gedanken formuliert, was ihm die lobende Feststellung seines Biographen Meinecke eintragen sollte, daß er, Radowitz die politische Brisanz der sozialen Frage sehr viel moderner und realistischer eingeschätzt habe als Bismarck 40 • Der Begriff der "Reform" hat für das politische Denken Manteuffels eine zentrale Bedeutung gehabt. Die Aufgabe des Staates als einer über den Parteien und den Interessen der "gegliederten" Gesellschaft stehenden "Pouvoir neutre" war es, den sozialen Gegensätzen in der Gesellschaft 38 "Votum des Minister-Präsidenten über die Neubildung eines Herrenhauses und die Umgestaltung des Verfassungswerkes überhaupt" vom 8.9.1853, in: GStA Berlin-Dahlem Rep. 90a A VIII 1 c Nr. 1 Bd. II, B11. 119-139 v. Hiernach, soweit nicht anders vermerkt, die im Text folgenden Zitate. 39 Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. 3 Bde. Leipzig 1850. Vgl. Dirk Blasius, Lorenz von Steins Lehre vom Königtum der sozialen Reform und ihre verfassungspolitischen Grundlagen, in: Der Staat 10, 1971, 33-5l. 40 Vgl. J. M. von Radowitz, Neue Gespräche aus der Gegenwart, 2 Bde., Leipzig 1851, 389.

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durch "vorausschauende", rechtzeitig reformierende, immer aber die historische Kontinuität wahrende, behutsame Eingriffe zu steuern. Die zentrale Rolle, die der Staat in Manteuffels System einnahm, war für ihn vor allem historisch begründet: Preußen verdanke seine Größe der herausragenden Persönlichkeit charaktervoller und hochbegabter Regenten, seinem Heer und seiner Verwaltung. Der "ständische und korporative Geist aber [sei] in diesem Lande von der politischen Macht frühzeitig gebrochen, unterdrückt und der Staat durch zwei Jahrhunderte hindurch beharrlich überall der Gesellschaft und dem sozialen Leben übergeordnet worden". Die Rechte einer ständischen Volksvertretung seien "mark- und haltlos" geworden; sie hätten sich bis auf unsere Zeiten nur kümmerlich fortgeschleppt, auf diese Weise aber dazu beigetragen, daß Preußen "zu einem äußersten Punkte der Entscheidung" in der politischen und sozialen Verfassungsangelegenheit hingedrängt worden sei. Der "soziale Vulkan" war für Manteuffel durch eine reaktionäre, gegen den Strom der Entwicklung sich stemmende Politik, wenn überhaupt, dann nur vorübergehend zu schließen; es galt ihn "auszulöschen", um zu verhindern, daß der "Krater der Revolution [schließlich nur noch] mit dem Thron der Cäsaren" überbrückbar wäre. Die' gesellschaftspolitischen Aussagen Manteuffels waren in der Beschreibung der Stände Wilhelm Heinrich Riehl verpflichtet, dessen ,Bürgerliche Gesellschaft' 1851, also zwei Jahre zuvor erschienen war. Deren institutionelle Umsetzung zielte auf eine körperschaftlich zu gliedernde Gesellschaft, auf einen korporativen Verfassungsstaat, der die Mitte zwischen "ständischer [Reaktion] und konstitutioneller [staatsbürgerlich-parlamentarischer] Idee" bildete. Nur einen solchen hielt Manteuffel für regierbar. Neben dem Bauernstand, durch den allein er den Staat zukünftig in der Lage glaubte, den Sozialismus gründlich niederhalten und bekämpfen zu können "wenn wir das Bauernproletariat nicht überwuchern lassen, dann brauchen wir uns vor dem industriellen und am wenigsten von dem intellektuellen nicht sehr zu fürchten", hat Manteuffel in der Aristokratie wie selbstverständlich einen der Grundpfeiler des "Neubaus einer umfassenden sozialpolitischen Ordnung" gesehen, aber und hier lag die aktuelle Brisanz eben nur einen, einen weiteren neben dem Bürgertum. Dieses habe sich nach der längst errungenen wissenschaftlichen und kirchlichen Autonomie "durch die moderne Maschinenerfindung" jetzt auch "das materielle Übergewicht, [und zwar] auf lange Zeit gesichert. Wie die Aristokratie im Mittelalter der Mikrokosmos der Gesellschaft war, so ist es das Bürgertum in der Gegenwart" . Es sei ohne Widerrede schon heute im Besitze der überwiegenden, materiellen und moralischen Macht. Dieses Bürgertum in irgendeiner Weise ausschließen oder in seiner politischen Vertretung verkümmern zu wollen, würde der "unvorsichtigste staatsmännische Fehler sein, ein Fehler, der sich früher oder später ... aufs ärgste rächen müßt'e".

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Das zielte gegen die Pläne feudalständischer Restauration, die unter der handgreiflich-interessenpolitischen Führung des ritterschaftlichen Adels mit der Etablierung des Herrenhauses auf die einseitige Privilegierung des ländlichen Besitz und Geburtsstandes abzielten und darauf hinausliefen, eines der Gesetzgebungsorgane einer gesellschaftlichen Gruppe weitgehend allein zu überantworten. Eine Politik aber, so hatte Manteuffel in seiner hier noch einmal zu zitierenden Denkschrift gewarnt, eine Politik, welche "bloß bei einem Stande die Bedeutung der sozialen Mächte für das Staatsleben praktisch anerkenne, bei anderen aber gar nicht oder nur halbwegs ... , müßte allmählich am subtilen Selbstmord sterben". Entweder müsse jedem echten Stande das Recht der Vertretung gewährt sein oder gar keinem. Zieht man die Summe aus den politischen Anschauungen Manteuffels, so erscheint der Abstand zu den Ansichten, die Bismarck 1857 in seiner grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Leopold v. Gerlach über Möglichkeiten und Grenzen einer konservativen Prinzipienpolitik vertreten hat 41 , viel geringer, als es zunächst den Anschein haben könnte. Das System Manteuffel blieb zwar im Gegensatz zu dem Bismarcks weitgehend und aufgrund der gänzlich anders beschaffenen Ausgangslage wohl auch zwangsläufig als Entwurf stecken und Verdächtigungen um so stärker ausgesetzt, als Manteuffel anders als Bismarck in den 1860er Jahren sich nicht einer akuten Bedrohung von links gegenüber sah, sondern die Verteidigung des für unverzichtbar erachteten Freiraums einer überparteilich ausgerichteten Exekutive sozusagen in verkehrter Front, nämlich gegen eine von rechts drohende Blockierung des konstitutionellen Verfassungssystems, verfocht. Sein Konzept erschien nicht nur nicht zwingend, sondern gefährlich. Aber es war grundsätzlich mit dem für das System Bismarck konstatierten Befund identisch, nach dem der eigentümliche Gleichgewichtszustand, der zwischen monarchischem und popularem Herrschaftsanspruch in Mitteleuropa entstanden war, nicht nur die traditionellen aristokratischen Führungsschichten, sondern vor allem diejenigen begünstigte, die es vom Zentrum, von der staatlichen Exekutive her verstanden, diesen Gleichgewichtszustand stets aufs neue auszutarieren 42 • Preußen war für Manteuffel wie für Bismarck das Schicksal Frankreichs und das meinte in erster Linie die soziale Revolutionierung nur dann zu ersparen, wenn politisch weder "das System des Absolutismus noch das der Volkssouveränität triumphierten" und so wäre hinzuzufügen wenn das System des immer wieder von oben zu stabilisierenden Machtausgleichs nicht durch die Herrschaft einer Partei aus den Angeln gehoben würde. 41 Bismarcks Briefe an General Leopold v. Gerlach, neu hrsg. v. Horst Kohl. Berlin / Stuttgart 1896. Lothar GaU, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt u. a. 1980, 173 ff. 42 Vgl. hierzu Lothar Gall, Bismarck und der Bonapartismus, in: HZ 223, 1976, 618-637, 633.

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Die um Hofpartei und Kreuzzeitung gescharte Rechte hat Manteuffel bekriegt, hat ihn bekämpft, weil und solange er sich der Instrumentalisierung der Verfassung zugunsten einseitiger Klasseninteressen zu widersetzen versucht hat. Dem Vorwurf, er verfolge einen als Staats konservatismus verbrämten prinzipienlosen Absolutismus, fröne einer Vielregiererei, die mitsamt der Bürokratie doch 1848 schon ihr Jena erlebt habe, hielt Manteuffel einmal entgegen, daß man den preußischen Staat schließlich nicht wie ein Rittergut verwalten und das Bauen von Eisenbahnen nicht einstellen könne, um den Herren das Zahlen von Grundsteuern zu ersparen. Man hat Manteuffel des Kokettierens mit dem Bonapartismus verdächtigt, man hat ihm (wie später Bismarck) unterstellt, den französischen Bonapartismus den Bedürfnissen des preußischen Staates dienstbar machen zu wollen 43. Für eine Strategie der Regierung indes, die sich mit dem Mittel einer Kammer-Auflösung und einem als appel au peuple offensiv geführten Wahlkampf dem umklammernden Druck der äußersten Rechten entzogen hätte, fehlten alle praktischen und unter dem Regiment Friedrich Wilhelms IV. auch alle persönlichen Voraussetzungen. Die Tatsache allein aber, daß derartige Pläne in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielten und daß sie mit dem System Manteuffels in Verbindung gebracht wurden, ist von Interesse: Sie sind ein Indiz dafür, daß die Möglichkeit einer Instrumentalisierung plebiszitärer Elemente zugunsten der Exekutive schon während der 50er Jahre klar erkannt worden ist. Die äußerste Rechte hat wiederholt auf eine Entlassung Manteuffels gedrängt, besonders nachdrücklich, als er sich im Bündnis mit der konservativen Wochenblattpartei dem umklammernden Druck der äußersten Rechten definitiv entziehen zu wollen schien. Manteuffel wäre wohl zu stürzen, aber kaum zu ersetzen gewesen, um so weniger, als es mit dem von ihm verfolgten Kurs in der orientalischen Krise gelang, das innenpolitische Patt auch auf außenpolitischem Felde zu wiederholen und Preußen wie sich selbst zwischen den Lagern neutral zu halten. "Was soll werden, wenn Manteuffel geht?", so schrieb Leopold v. Gerlach an Bismarck. Es wäre wohl ein Ministerium zu finden, aber schwerlich eines, so fuhr er fort, "was auch nur vier Wochen mit Seiner Majestät sich hielte". Dem konnte auch Bismarck nicht widersprechen, war doch beiden nur zu deutlich in Erinnerung, warum er, Bismarck selbst, es immer abgelehnt hatte, unter diesem König Minister zu werden. Er habe nie den Mut gehabt, so schrieb Bismarck, die ihm von Friedrich Wilhelm IV., diesem "persönlich so liebenswürdigen Herrn", zuweilen scharf und beinahe zwingend gebotene Gelegenheit zu benutzen und sein Minister zu 43 Crünthal, Parlamentarismus in Preußen (wie Anm. 27), 281 ff. Danach auch das Folgende.

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werden. Um so höher ist einzuschätzen, was er aus eben diesem Grunde Manteuffel zugute hielt: Sei es doch gerade der König selbst gewesen, der die Elemente des Zwiespalts zwischen seinen einzelnen Ministern unterhalten und bewußt gefördert habe; die Friktionen zwischen Manteuffel, Bodelschwingh und Heydt, die in tringularem Kampf miteinander gestanden hätten, seien ihm als politisches Hilfsmittel in kleinen Detail-Gefechten zwischen königlichem und ministeriellem Einfluß sogar willkommen gewesen. Leopold v. Gerlach wußte wie kein zweiter um die Eigenarten und Sonderheiten nicht nur seines königlichen Herrn, sondern auch um die Eigenschaften Manteuffels, "dieses zweifelnden und daher oft desperierenden Staatsmannes". Otto von Manteuffel, der "Oberteufel" , wie er zur Unterscheidung seines Bruders Karl, dem "Unter" oder "Ackerteufel" und Edwin, dem "Flügelteufel ", von Gerlach respektvoll und despektierlich zugleich genannt zu werden pflegte 4 4, aber blieb trotz aller Nähe auch für die Kamarilla ein schwer durchschaubarer, offensichtlich völlig indifferenter, nur seinem Beamteneid verpflichteter Bürokrat, der um den Staat zu ringen vorgab, wenn er Prinzipien ablehnte. In der schwierigen Kunst der Behandlung des Königs stand er Gerlach gerade wegen seiner andersartigen, unpräziösen wie nüchtern undogmatischen Sachlichkeit kaum nach, in der Fähigkeit, aus den sich häufig genug widersprechenden Regieanweisungen vor und hinter den politischen Kulissen in Potsdam und Berlin die Diagonale möglichen HandeIns, Verzögerns oder auch Verhinderns zu ziehen, übertraf ihn keiner. Der König hat Manteuffel ertragen, so wie man um neutral, aber quellennah zugleich zu formulieren, ein notwendiges Übel erträgt; Manteuffel war zeitweilig sein "theuerster Manteuffel", zeitweilig hat er in ihm den peniblen, den trocknen Bürokraten verachtet, den konstitutionellen Minister gefürchtet, des öftern hat er ihn schlicht für "Rindvieh" gehalten. Aber: Mochte für Friedrich Wilhelm die Konsequenz zu den schrecklichsten aller Tugenden gehören, in der Tugend der Dankbarkeit war seine Konsequenz unübertroffen. Die Dankbarkeit, die er seinen Ministern der ,rettenden Tat' gegenüber empfand, den Männern, die "diesen Thron gerettet haben und gegen die meine Dankbarkeit nur mit meinem Leben aufhören wird", so hatte er 1850 beim Verfassungseid verkündet, konzentrierte sich rasch auf 44 Mit Anspielung auf Karl v. M.s Leitung des Ministeriums f . d. landwirtschaftlichen Angelegenheiten (vgl. Anm. 13, im übrigen ein Ausdruck Bismarcks) und auf den Vetter Edwin v. M. als Flügeladjutant des Königs. Vgl. Ernst Ludwig v. Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848-1866. Aus dem Nachlaß von E. L. v. Gerlach hrsg. v. Hellmut Diwald. 2. Teil: Briefe, Denkschriften, Aufzeichungen. Göttingen 1970, 933 (Leop. v. Gerlach an seinen Bruder Ludwig, Brief v. 22.10. 1857); ders., Aufz. (wie Anm. 7), II, 215 .

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Manteuffel. Er war der Novembermann, weil er die Revolution besiegt, er wurde zum doppelten Novembermann, nachdem er den Gang nach Olmütz auf sich genommen und dem König den Krieg, den Bruderkrieg mit Österreich vor allem, erspart hatte 45. Das Wagnis, der offene Konflikt als Mittel der Politik, hat in Manteuffels politischem Glaubensbekenntnis keinen Platz gehabt. Eines der wenigen Zeugnisse, die einen flüchtigen Blick in den menschlich-persönlichen Bereich Manteuffels erlauben, belegt den eher resignativen Grundton seines Charakters. Leopold v. Gerlach gegenüber hat er einmal geäußert, daß man Politik mit Menschen machen müsse, mit Menschen, die man sich nicht aussuchen könne. Möglicherweise verbirgt sich hier ein Schlüssel zum Verständnis der Frage, was einen Mann im Amt gehalten hat, der sich selbst der Vergeblichkeit des eigenen Wollens und Tuns nur zu bewußt gewesen ist: Anders gewendet, in der Biographie des preußischen Staatsministers spiegelt sich ein gut Teil derjenigen seines Königs und Herrn, an dessen Seite er ausharrte: Ohne alle Bedingungen, wie er es 1852 Gerlach gegenüber umschrieb, und in dem Bewußtsein, daß eS "seine Bestimmung [sei], verbraucht zu werden", oder, wie er es deutlicher noch dem badischen Gesandten in Berlin, mit dem Blick auf das hinter ihm bereit stehende Kreuzzeitungsparteiregiment sagte, wenn er bleibe, dann auch immer in dem Bewußtsein, "Schlimmeres verhüten" zu können 46. Auf das Problem der Erfolglosigkeit, der Abwesenheit von Erfolg als Maßstab historischer Wertung ist einleitend mit dem Blick auf die Biographie Otto von Manteuffels verwiesen worden. Von Erfolglosigkeit war auch die Rede, als das Ministerium Manteuffel Ende 1858 entlassen wurde, von Erfolglosigkeit einer Politik, die die Entwicklung Preußens seinem wahren Beruf entgegen künstlich unterbunden habe. Die Spuren der Reaktion der 50er Jahre alsbald wieder beseitigen, Revision der Reaktion also, der Verfassung endlich zur Wahrheit zu verhelfen: Das waren die Schlagworte derer, die die von einer liberalen Parlamentsmajorität getragene neue, liberale Regierung des Prinzregenten Wilhelm mit Emphase begrüßten 47 • Es ist sicher richtig, daß die Periode der ,neuen Ära' in Preußen als mögliche Weichenstellung der jüngeren deutschen Vergangenheit oft nicht ernst genug genommen worden ist. Angesichts der in den Vordergrund des 45 Aus der Fülle möglicher Belege: Ludwig v. Gerlach, Denkschriften, Aufzeichnungen (wie vorige Anm.), 834 f., 842 (Briefe an seinen Bruder Leopold v. 5.1. und 12.7.1853); Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) II, 372; Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) I, 672, 796 f., 803 u. ö. 46 Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7), II, 235 (13.8.1852); Bericht des badischen Gesandten v. 7.2.1852, in: Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe Abt. 48 Nr. 2649. 47 Günther GTÜnthal, Das Ende der Ära Manteuffel, in: JbGMitteldtdl 39, 1990, 179-219, bes. 210 ff.

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Forschungsinteresses gerückten Alternativen von 1848 und der Reichsgrundung von oben seien die knapp vier Jahre liberalen Regiments in Preußen, wie es Th. Nipperdey 48 umschrieben hat, ungerechtfertigterweise zu sehr in den Schatten des Interesses geraten. Man wird zugleich aber davor warnen müssen, die neue Ära als ,Alternative zu Bismarck' zu überschätzen und damit der gleichen Fehleinschätzung zu unterliegen, vor der schon kritische Zeitgenossen, und zwar von Anfang der neuen Ära an, nachdrücklich gewarnt haben. Um nämlich den späteren Sieger, bevor die Liberalen überhaupt die Chance gehabt hatten, sich staatlicher Macht zu erfreuen, schon überall am Werk zu sehen, um wie Johann Jacoby 49 dies beschrieb, den "Absolutismus des alten Fritz hinter der parlamentarischen Kulisse die Flöte blasen" zu hören, dafür ließen sich in der Tat Belege genug anführen. Und betrachtet man die Entwicklung seit 1858 unter diesem gleichsam gegenläufigen Aspekt, so ist es nicht verwunderlich, daß einem immer wieder der Name Manteuffels begegnet. Schon während der Stellvertretungszeit 50 , also seit der Erkrankung Friedrich Wilhelms IV. Ende 1857 bis Oktober 1858, hatte es Manteuffel geschickt verstanden, die Machenschaften der Hofpartei zu konterkarieren und sich Schritt für Schritt in eine wie er es nannte der "Sache" verpflichteten Vertrauensstellung bei Prinz Wilhelm zu manövrieren. Manteuffel sei ein fähiger Mann, so äußerte sich der über die politische Lage in Berlin allgemein glänzend informierte Bernhardi, und ihm, Manteuffel, würde sogar selber wohler sein in der neuen Richtung, als in derjenigen, die er bisher ohne Überzeugung habe verfolgen müssen. Und noch im Oktober 1858 befürchtete Baron Stockmar, dem nachgesagt wurde, das Ministerium der neuen Ära "fix und fertig in der Tasche von England " mitgebracht zu haben, daß der Regent an Manteuffel festzuhalten willens sei. Folgt· man den Beobachtungen des badischen Gesandten in Berlin, so war vier Wochen früher Manteuffel noch als neuer Innenminister vorgesehen, hatte sich der Wandel erst "im Laufe der Verhandlungen zu der definitiven Ausdehnung angewachsen", und dies gegen die "frühere Absicht des Regenten". Nimmt man alles zusammen, so ergibt sich, daß der Prinz auf Manteuffel erst dann verzichten mußte, als sich "verschiedene Mitglieder" des neuen, im Entstehen begriffenen Kabinetts weigerten, in ein Ministerium einzutreten, das mit dem Namen Manteuffels "noch verknüpft" sein würde. Manteuffel hat sich nach seiner Entlassung auf seine Güter zurückgezogen, sein Abgeordnetenmandat - er war im Herbst 1858 mit großer Mehrheit in seinem heimatlichen Wahlkreis Luckau wiedergewählt worden - nur 48 Deutsche Geschichte 1800 -1866. Bürgerwelt und starker Staat. 2. Auf!. München 1984, 697. 49 Johann Jacoby, Briefwechsel. Hrsg. u. erläutert von Edmund Silberner. Bonn 1987, 85 f. (Brief an A. Bernstein [3.2.1859]). 50 Das Folgende nach GTÜnthal, Ära Manteuffel (wie Anm. 47),210, 213 f.

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bis Anfang 1861 wahrgenommen, ohne indes das Wort zu ergreifen 51. Er scheint sich für die Rückkehr in ein Ministeramt bereitgehalten zu haben, sein Name jedenfalls wurde mehrfach genannt, um so nachdrücklicher, je größer die Schwierigkeiten wurden, denen sich das liberale Experiment gegenüber sah. Aber auch dann, als dieses definitiv gescheitert und das Ministerium Bismarck schon im Amt war, Anfang 1863, kursierten an der Berliner Börse wiederholt Gerüchte, es sei Manteuffel mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt52! Bismarck vermochte sich zu behaupten; aber er konnte dies vor allem deshalb, weil er sein Regiment auf jene ,organischen' Gesetze stützen konnte, die bereits Anfang der 50er Jahre dem Konstitutionalismus liberaler Provenienz als Stützen staatlich-gouvernementalen Regiments implementiert worden waren. Das waren: Die Absicherung der Finanzen, der Zustand der Einnahme-Gesetzgebung und der der tatsächlichen Einnahmen einerseits, das war schließlich die Verfügbarkeit über das "Werkzeug" der Exekutive, über die Bürokratie. Bismarck konnte sich dabei dankbar der von Manteuffel inaugurierten Disziplinar-Gesetze für die richterlichen und nicht-richterlichen Beamten aus dem Jahr 1852 erinnern. Zusammengenommen: Es waren dies nicht alle, aber es waren dies wesentliche Voraussetzungen dafür, daß Bismarck der Opposition des Abgeordnetenhauses während der 60er Jahre auf längere Dauer zu widerstehen und den Konflikt schließlich unter entscheidend von ihm bestimmten Bedingungen beizulegen vermochte. Nach 1866 wurde es um den 1866 in das Herrenhaus 53 berufenen Manteuffel still; aus dieser Zeit sind in seinem Nachlaß nur noch einige wenige politische Bekundungen zu verzeichnen. Sie blieben im angedeuteten Sinn erfolglos, und sie mögen marginal erscheinen, aber sie werfen doch noch einmal ein bezeichnendes Licht auf den Mann, dessen Bild so rasch in den Schatten Bismarcks geraten und dort bis heute geblieben ist. Anfang Juni 1866 schrieb Manteuffel eigenhändig aus Crossen an den König und bot, da sich die Verhältnisse sich für Dynastie und Land so ernst gestaltet hätten, seine Dienste an. Er sei bereit, jeden Auftrag auszuführen. Nur eine Ausnahme erlaubte er sich zu machen: Er hege das Vertrauen, daß SM ihn nicht zu Verhandlungen mit Österreich verwenden werde, "wozu ihn der Umstand, daß ich die Olmützer Konvention abgeschlossen habe, unfähig macht" 54. Und kurz vor der Kriegserklärung an Österreich soll der König Manteuffel noch einmal gesprochen haben; den Entschluß zum Krieg habe 51 Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) III, 346.

GTÜnthal, Ära Manteuffel (wie Anm. 47), 218. Auf Präsentation des Verbandes des alten und befestigten Grundbesitzes der Niederlausitz. Manteuffel, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 7) III, 371. 54 Ebd., 368 f. Hiernach auch das im Text Folgende, 375 f., 384. 52

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er erst dann gefaßt, nachdem sein langjähriger Ratgeber die Ansicht ausgesprochen hätte, daß es "nun ... an der Zeit [sei], das Schwert zu ziehen, das zur Zeit von Olmütz wohl besser in der Scheide" geblieben sei. Ende August 1870 äußerte sich Manteuffel Bismarck gegenüber zur Elsaß-Lothringen-Frage. Er plädierte zwar für die Abtretung Elsaß' und Lothringens von Frankreich, befürwortete aber - und hier lag der bemerkenswerte außenpolitische Aspekt - für eine völkerrechtliche Neutralisierung Elsaß-Lothringens, welche wie er schrieb "auch den etwaigen Bedenken der übrigen europäischen Mächte wegen Störung des sogenannten Gleichgewichts entgegenzuhalten wäre". Die Herzogtümer könnten so gut wie das neutrale Belgien Truppen halten und Festungen besetzen und sich, sobald ihre Neutralität nicht respektiert würde, verteidigen würde in solchem Falle doch die deutsche Armee immer hinter ihnen stehen! Man mag sich mit den Argumenten Bismarcks über das " Unpraktische " dieses Vorschlags mokieren. Schwerer indes dürfte dies fallen, wenn man sich die Ausführungen vor Augen hält, mit denen sich Manteuffel im März 1873 im Herrenhaus, in seiner einzigen größeren Rede, gegen die preußischen Kulturkampfgesetze aussprach. In beziehungsreicher Wendung bekannte er sich dazu, mit seiner eigenen Person auch "für das königliche Regiment in Preußen" eingetreten zu sein. Jetzt allerdings mit seinem Votum "entweder das priesterliche Regiment oder das königliche sanktionieren" zu sollen, lehnte er ab. Weder von der katholischen, noch von der evangelischen Kirche gehe eine wirkliche Gefahr aus, und das preußische Königtum hätte ihren Angriff, wenn er denn erfolgte, nicht zu fürchten. "Wenn ich die Zeit richtig auffasse, so kann wohl einmal ein kritischer Moment eintreten, wo die königliche Gewalt in Frage kommt, ... aber dann wird es nicht heißen: Priesterregiment oder Königtum, sondern Proletariat oder Königtum. Diese Gefahr scheint mir bedeutend näher zu stehen". Biographien, so wurde einleitend betont, politische zumal, bedürften besonderer Rechtfertigung schon längst nicht mehr. Otto Freiherr von Manteuffel hätte es verdient, daß die Konturen seines politischen Lebens schärfer (als bislang geschehen) ausgezogen würden, selbst wenn sie auch dann noch im Schatten des Erfolgreicheren verblieben.

Junker, Pietist, Politiker Hans Hugo v. Kleist-Retzow (1814-1892) Von Wolf Nitschke "Wie ein Ordensritter längst verklungener Tage ist Hans v. Kleist-Retzow durch seine Zeit geschritten, schon früh mit der Würde eines Patriarchen umkleidet, unablässig für seinen Gott und seinen König mit scharfem Schwert und wuchtiger Lanze zu streiten bereit, manchen abstoßend durch seine starre Einseitigkeit, die aber, die ihn kannten, entwaffnend durch seine reiche Liebesfülle und seinen goldenen Idealismus." 1 Dieses Fazit zieht Kleists einziger Biograph, Herman v. Petersdorff, dem das Verdienst zuzuschreiben ist, den zeitweise sehr bekannten preußischen Staatsmann Hans v. Kleist-Retzow vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Als er dessen Biographie im Auftrage der Kleistschen Gesamtfamilie schrieb 2 und dessen Briefwechsel mit Bismarck edierte 3 , konnte er noch auf den umfangreichen Nachlaß Kleists zurückgreifen. Da dieser wohl im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde4, besitzen die beiden Publikationen vor allem einen hohen Quellenwert. Zusammen mit den Stenographischen Berichten der Zweiten Kammer und des Herrenhauses sowie des Reichstages bilden sie den Grundstock an Quellen für jede Untersuchung und, abgesehen von einigen Aufsätzen 5, den insgesamt wenig befriedigenden Forschungsstand 6 .

Herman v. Petersdof!, Kleist Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart / Berlin 1907, Ebd, III. 3 Bismarcks Briefwechsel mit Kleist-Retzow, hrsg. von Herman v. Petersdorff, Berlin 1919. 4 Bis 1945 lag der Nachlaß im Kleistschen Gutsarchiv in Hinterpommern. Da er im "Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken" (3 Bände, Boppard am Rhein 1971-1983) nicht aufgeführt ist, muß davon ausgegangen werden, daß der Nachlaß vernichtet wurde. 5 Arnold Oskar Meyer, Hans von Kleist-Retzow, in ders, Deutsche und Engländer. Wesen und Wirken in großer Geschichte, München 1937, 190-209; Wolfgang Schröder, Hans Hugo von Kleist-Retzow. Ein Junker von Schrot und Korn, in: Gestalten der Bismarckzeit, hrsg. von Gustav Seeber, Berlin 1978, 218-242; siehe auch die Artikel in ADB 51, 191-202 und NDB 12, 28 f. 6 Vernachlässigt werden können hier die anläßlich Kleist-Retzows Todes veröffentlichte Broschüre von M. Gensichen, Hans v. Kleist-Retzow. Berlin 1892, und auch Alexander Andrae-Roman, Drei pommersche Junker, in: Aus Höhen und Tiefen. Jahrbuch für das deutsche Haus 5 (1902), 293-351. 1

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I.

Hans Hugo v. Kleist-Retzow wurde am 25.11.1814 geboren. Er war das einzige Kind, das der dritten Ehe seines Vaters Hans Jürgen v. Kleist mit Auguste v. Borcke, verwitwete v. Glasenapp entstammte 7. Dieser erbte 1838 das Retzowsche Gut Moethlow und erhielt daraufhin am 13. Februar 1839 die königliche Erlaubnis, Namen und Wappen der Familie v. Retzow anzunehmen. Seitdem führte diese Linie des Hauses Kleist den Namen Kleist-Retzow 8 • Durch seine Eltern kam Kleist schon in jungen Jahren in Kontakt mit dem Piertismus, der sein ganzes Leben prägen sollte: Der Glauben war für ihn in allen Lebenslagen das Entscheidende; christliche Gebote bildeten stets den Maßstab seines Handelns 9 . 1828 trat Kleist in die sächsische Eliteschule Schulpforta ein, die er 1834 als "primus omnium" 10 verließ, um "jura und cameralia" zu studieren und, "wie er sich ausdrückte, ein würdiger Sproß seiner Familie zu werden." 11 Da es ihn nicht zum Militär hinzog, diente Kleist nur als EinjährigFreiwilliger beim 5. Husarenregiment1 2 und begann 1835 sein Studium. In Berlin und Göttingen hörte er nicht nur juristische, sondern auch historische, literaturgeschichtliche, philosophische und naturwissenschaftliche Vorlesungen. Dabei wurde er zweifellos am stärksten von Leopold Ranke beeinflußt 13. Am 11. 8.1838 bestand Kleist-Retzow sein erstes juristisches Examen und begann seine Tätigkeit im Verwaltungs dienst am Berliner Kriminalgericht. Danach wurde er Referendar am Oberlandesgericht in Frankfurt / Oder, wo er Ernst Ludwig v. Gerlach kennenlernte, der für lange Jahre zu seinem Mentor und Förderer wurde 14. Im September 1844 bestand Kleist sein drittes juristisches Examen. Nachdem er bereits im Mai mit Hilfe Leopold 7 G. H. Kypke, Geschichte des Geschlechts v. Kleist, Bd 11I.3, Berlin 1885, 15085, hier 138 f. 8 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 11. 9 Vgl. Petersdoffs Einleitung in: Briefwechsel (wie Anm. 3), 7. 10 Ebd,35. 11 Ebd,36. 12 Nach mehreren Revuen beim 9. Landwehr-Kavallerieregiment nahm KleistRetzow am 20.9.1858 als Rittmeister endgültig seinen Abschied; vgl. ebd, 40. 13 Vgl. Kleists Rede im Herrenhaus am 22.6.1876. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die allerhöchste Verordnung ... einberufenen beiden Häuser des Landtages (künftig zitiert als HH). Berlin 1876, 111. 14 "Kleist-Retzow hat noch kurz vor seinem Tod 1892 beteuert, daß er kaum einem Menschen so viel verdanke wie Ludwig v. Gerlach", urteilte Diwald, in: Ernst Ludwig von Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848-1866. Aus dem Nachlaß E. L. v. Gerlachs, hrsg. und eingeleitet von Hellrnut Diwald, 2 Bde, Göttingen 1970, hier Bd I, 14.

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v. Gerlachs, Senfft-Pilsachs und Graf Anton Stolbergs zum Kandidaten gewählt worden war, wurde Kleist am 13. September 1844 als Nachfolger seines Vaters zum Landrat von Belgard ernannt1 5 . In diesem Amte, das er bis 1851 bekleidete, fühlte Kleist sich am rechten Platze. An seinen Freund Ernst Ranke, den jüngeren Bruder des Historikers Leopold Ranke, schrieb er 1845: "Das mir von Gott anvertraute Amt . . . ist gar köstlich und schön. Unabhängig nach oben, gegen die Regierung, wie gegen die Kreisinsassen nach unten, bringt es mich allenthalben mit diesen in lebendige Berührung und ruht allein auf meiner Verantwortung. Mehr durch meine Persönlichkeit wie durch die Handhabung der Gesetze kann ich und muß ich in ihm wirken."16 Noch 1844 lernte Kleist auch Otto v. Bismarck kennen, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verbinden sollte, die dadurch befestigt wurde, daß Bismarck die Tochter einer Stiefschwester Hans v. Kleist-Retzows heiratete. ß.

Den Beginn der unruhigen Jahre von 1848 bis 1850, die Kleist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen sollten, die Märzunruhen in Berlin, erlebte Kleist nur aus der Ferne im ländlichen Pommern. Der "neue Geist" äußerte sich zunächst darin, daß gegen Kleist wegen seines Pietismus Stimmung gemacht wurde. Außerdem kam es zu einigen Tumulten, z. B. am 2. April in Polzin: "Einem jüdischen Getreidehändler und dem Wegebaumeister wurden die Fenster eingeworfen. Mir Hurra wurde die Apotheke gestürmt und dort sowie in mehreren Gasthöfen Branntwein erpreßt." 17 Auf dem Belgarder Kreistage vom 19. April kam es dann zu einer Demonstation altpreußischer Gesinnung, die ihre Wirkung nicht verfehlte: Mit der den Ausschlag gebenden Stimme des Landrates wurde eine Adresse verabschiedet, die den nach England geflohenen Prinzen von Preußen zur Rückkehr aufforderte 18. Dadurch trat Kleist in Preußen erstmals hervor 19 . Anschließend engagierte Kleist sich intensiv im "Kreuzzeitungs-Projekt", indem er durch ein gedrucktes Rundschreiben Stimmung für die Zeitungs15

Vgl. dazu ausführlich Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1),70-79.

16 Ebd,84. 17 Bericht Kleists an die Regierung vom 6.6.1848 und Kleists Brief an Ernst Ranke

vom 12.4.1848, zitiert nach Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 105; zu den Unruhen ebd, 102-108. 18 Siehe dazu ausführlich Karl Haenchen, Flucht und Rückkehr des Prinzen von Preußen im Jahre 1848, in: HZ 154 (1936), 32-95; außerdem Ludwig v . Gerlach, Politik I (wie Anm. 14), 126. 19 Vgl. den Artikel der "Reform", in: Adolf Wolff, Berliner Revolutionschronik, Bd III. Berlin 1854, 153.

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gründung zu machen versuchte 20. Nach der Gründung der "Neuen Preußischen Zeitung", die seit dem 4. Juli 1848 täglich erschien, unterstützte er die Zeitung "auch durch Einsendung von Nachrichten, Korrespondenzen, Aufsätzen, ferner durch Aufgabe von Anzeigen ... , nicht zum wenigsten durch Ratschläge, die er Wagener erteilte." 21 Treffend bezeichnete er es als Hauptaufgabe des Blattes, "die zersprengten Konservativen zu sammeln, eine mächtige konservative Partei zu bilden." 22 Außerdem trat Kleist, nachdem er bereits am 2. August in Belgard einen "patriotischen Verein für konstitutionelles Königtum" gegründet hatte 23 , durch seine Tätigkeit im "Junkerparlament" hervor, der am 18. / 19. August in Berlin tagenden Generalversammlung des von Bülow-Cummerow gegründeten "Vereins zum Schutze des Eigentums und zur Förderung des Wohlstandes aller Klassen des Volkes" 24. Da namhaftere konservative Persönlichkeiten sich nicht zur Verfügung stellten, wurde Kleist "mit großer Mehrheit" zum Präsidenten gewählt 25 • Während der lebhaften Debatten hielt dieser sich trotzdem nicht zurück, sondern war einer der Wortführer, da er sich außerordentlich gründlich in die Materie eingearbeitet hatte 26 , und sparte nicht an scharfer Kritik an Ministerium und Nationalversammlung 27. Die Folge war, daß gegen Kleist-Retzow ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, das aber nach dem Sturz des Ministeriums Auerswald-Hansemann vom neuen Innenminister Eichmann nicht weiter verfolgt wurde 28 • Nachdem Kleist im September von Gerlach als Kandidat für das Innenministerium ins Gespräch gebracht worden war 29 , gründete er die Zeitschrift "Der Pommer", die allerdings nur von Ende 1848 bis Anfang 1850 erschien 30. 20 Textauszug des Originals (Belgard, 19.5.1848) bei Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 119. 21 Ebd, 121. 22 Hermann Wagener, Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis 1866 und von 1873 bis jetzt, Bd 1. Berlin 21884, 9. 23 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 128. 24 Siehe dazu Ludwig v. Gerlach, Politik I (wie Anm. 14), 108; Ernst Ludwig v . Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken, hrsg. von Jakob v. Gerlach, 2 Bde, Schwerin 1903, hier Bd I, 540 f. Diwald schreibt Kleist-Retzow sogar das Verdienst zu, die Tagung am 18. / 19. August initiiert zu haben; vgl. Ludwig v . Gerlach, Politik I (wie Anm. 14), 53. 25 Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen I (wie Anm. 24), 541. Kleist "präsidierte vortrefflich" (Ebd). 26 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 131. 27 Siehe u. a. Neue Preußische Zeitung (NPZ) vom 20.8.1848. 28 Ludwig v. Gerlach notierte, daß sich Innenminister Kühlwetter für KleistRetzow ausgesprochen habe; vgl. Politik I (wie Anm. 14), 108. 29 Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen II (wie Anm. 24), 6-8; Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold v. Gerlachs, Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV. Nach seinen Aufzeichnungen hrsg. von seiner Tochter, 2 Bde, Berlin 1891 hier Bd I, 227 -232.

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Am 5. Februar 1849 wurde Kleist in die Zweiten Kammer gewählt. Dort saß er neben Bismarck auf der Seite der äußersten Rechten, spielte in seiner ersten Session aber noch keine herausragende Rolle. In erster Linie fiel Kleist mit Beiträgen zu Geschäftsordnungsdebatten auf. Von den im Register verzeichneten 20 Redebeiträgen Kleists beziehen sich die ersten zehn (und insgesamt fünfzehn) nur auf Fonnalia 31. Da Kleist-Retzow (im Gegensatz zu ettlichen anderen Abgeordneten) noch keine parlamentarischen Erfahrungen im Jahre 1848 in der preußischen Nationalversammlung hatte sammeln können, erscheint er als unbekümmert-forscher Prinzipienreiter 32. Dagegen erwies Kleist-Retzow sich in dieser ersten Session noch als wenig beeindruckender Redner.

In der Debatte über Rodbertus' Antrag auf Anerkennung der deutschen Reichsverfassung trat Kleist-Retzow in seiner einzigen bedeutenden Rede in dieser Session kompromißlos für die konservative Sache ein. Direkt im Anschluß an Rodbertus' Rede forderte er: " Preußen, das stärkste Land Deutschlands, was allein Deutschland aufrecht zu erhalten im Stande ist, und an das sich die Frankfurter Versammlung in ihrer jetzigen Ratlosigkeit gewandt hat, hat die Pflicht, diejenigen Bedingungen zu stellen und die Modifikationen zu fordern, ohne welche das staatliche Bestehen Deutschlands und vor allem das Bestehen der Monarchie unmöglich ist." 33 Diese Forderungen lassen Kleist vordergründig als Befürworter, de facto aber als Gegner der Einheit Deutschlands erkennen 34; diese wollte er, den Souveränitätsanspruch der deutschen Nationalversammlung ignorierend, höchstens durch Vereinbarung zwischen den Einzelstaaten und der Zentralgewalt erreicht wissen. Preußen, so lautete seine unrealistische Maximalforderung, solle seine Zustimmung vor allem davon abhängig machen, ,,1) daß diese Ungerechtigkeit gegen Preußen im Bezug auf die Stimmenzahl in beiden Häusern aufgehoben werde, 2) daß das allgemeine Stimmrecht in dieser Art nicht stattfinde, 3) daß die Residenz nach Berlin verlegt würde, 4) daß das absolute Veto dem Kaiser bleibe, 5) daß jener Paragraph in Bezug auf die Thronfolge eine klarere und deutlichere Bestimmung erhalte." 35 Diese 30 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 144 ff. Es zeigte sich, daß KleistRetzow als Jounalist weniger brillieren konnte denn als Politiker. 31 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent ... einberufenen Kammern. Zweite Kammer (künftig zitiert als 2. K). Berlin 1849. 32 Petersdorffs Urteil, Kleist-Retzow habe neben Bismarck eine führende Rolle in der Zweiten Kammer gespielt, stützt sich offenbar auf Kleists spätere Rolle im Landtag, die bis in die Anfangszeit zurückprojiziert wird; vgl. Petersdorff, KleistRetzow (wie Anm. 1), 152-157. 33 2. K 1849, 594. 34 Vgl. Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988, 188 f.; 201, Anm. 42.

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Haltung war in der Zweiten Kammer nicht konsensfähig: Schließlich wurde der dritte Absatz des Antrags Rodbertus angenommen, mit dem die Kammer "die von der deutschen Nationalversammlung vollendete Verfassung, so wie nach zweimaliger Lesung beschlossen, als rechtsgültig anerkennt. " 36 Auch auf Grund dieses Beschlusses wurde durch die königliche Verordnung vom 27. Mai die Zweite Kammer aufgelöst und die Erste Kammer vertagt 37. Nach seiner Wiederwahl in die Zweiten Kammer nach dem Dreiklassenwahlrecht logierte Kleist erneut mit Bismarck 38 , der ihn offenbar unter seine Fittiche nahm. In der Folgezeit "galten die beiden Stockpreußen Bismarck und Kleist als Inseparables. Stets wurden ihre Namen zusammen genannt. In den Preußenliedern der ,Kreuzzeitung' wurden sie gleichzeitig gefeiert. " 39 Kleist engagierte sich vor allem in der Ablösungsfrage, was nach seinem Auftreten im Junkerparlament nicht verwundert. Nachdem die preußischen Reformen nicht hatten vollendet werden können, war auch die Preußische Nationalversammlung mit ihrem Anspruch, die letzten Feudallasten ablösen zu lassen, letztlich erfolglos geblieben. Darum mußten sich 1849 die Kammern mit dieser Problematik befassen. In den Debatten darüber hielt Kleist-Retzow am 24. November 1849 eine lange Rede 40 , in der er der Regierung vorwarf, wie die gerade erst besiegte "Revolution" die "Ungerechtigkeit" zu einem wichtigen Prinzip der Politik zu machen: "Ich habe die feste Überzeugung, daß manche gerechtfertigte Träne über diesen Gesetzentwurf fallen wird, und diese Tränen werden schwerer wiegen, wie der Beifallsturm, dessen sich etwa diese Gesetzgebung zu erfreuen haben mag. Denn diese Tränen werden gesammelt und gewogen, aber der Beifallsturm verrauscht in dem Winde." Trotz dieses Votums wurde die Ablösefrage vom Landtag endgültig geklärt. Bei der Revision der oktroyierten Verfassung war es häufig "die äußerste Rechte in beiden Kammern, die unter der Ägide der Stahl und Ludwig v. Gerlach einerseits, der v. Arnim-Boytzenburg und v. Kleist-Retzowandererseits die Fäden in der Hand behielt." 41 Diese scheinbar herausragende 35 2. K 1849, 594. Die Annahme dieser Forderungen, vor allem die nach Erhöhung der Zahl der preußischen Abgeordneten hätte das Projekt der deutschen Einheit vorerst endgültig zum Scheitern verurteilen müssen. Vgl. zum Kontrast dazu die Haltung Arnim-Boitzenburgs, in: Artikel "Arnim" in diesem Band. 36 2. K 1849, 611. 37 Königliche Verordnung ebd, 708; Gesetz-Sammlung 1849, 159. 38 Vgl. Bismarcks Brief an Johanna vom 31. 8.1849, in: Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, hrsg. vom Fürsten Herbert Bismarck, Stuttgart 1900, 147. 39 Petersdorff, Briefwechsel (wie Anm. 3), 6; siehe auch Bismarcks Brief an Johanna vom 7.9.1848, in: Bismarcks Briefe (wie Anm. 38), 150. 40 2. K 1849/50, 1355-1359; dort alle folgenden Zitate. 41 Günther GTÜnthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, 111.

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Rolle Kleists wird dadurch relativiert, daß Kleist nicht in die wichtige Verfassungskommission gewählt wurde 42 . In den Parlamentsdebatten über die Kommissionsvorlage trat Kleist vor allem hervor, als es am 10. Oktober um die Revision des Artikels 107 über die Vereidigung der Armee ging. Seiner Meinung nach sei die Treue der Soldaten zum Staate besonders wichtig. Daran dürfe nicht gerüttelt werden: "Dieses unbeirrte, reine Verhältnis der Treue ist, wie die Kommission anerkannt hat, der einzige wahre Schutz und Halt für die Verfassung, für ihre Aufrechterhaltung, für die Ordnung, für die Freiheit, und es könnte durch die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung ein solches Verhältnis, wie die Kommission gleichfalls anerkennt, nur beirrt werden." 43 Hier setzte sich die von Kleist-Retzow vertretene Auffassung durch: Die Armee wurde auch künftig nicht auf die Verfassung vereidigt. Nach dem Ende der Revisionsberatungen stand die Reform der Gemeindeordnung auf der Tagesordnung. Weil 1848 die Bemühungen der Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung im Sande verlaufen waren 4 4, galt auf kommunaler Ebene quasi noch die alte, absolutistische Ordnung. Kleist-Retzow bat in einer längeren Rede am 18. Februar 1850 darum, "daß Sie bei dieser Gelegenheit den in den verschiedenen Provinzen bestehenden Verhältnissen ihre Geltung belassen, und daß sie in diesen Fällen den einzelnen Provinzen ihre individuelle Entwicklung gewähren und nicht frei schematisieren wollen, um die Entwicklung eines gesunden und freien Lebens zu ermöglichen. "45 Diese partikularistische Sichtweise, die auf eine Sicherung der Vormachtstellung des Adels zielte, war nicht mehrheitsfähig. Am 11. März 1850 traten die "Gemeindeordnung für den Preußischen Staat", die "Kreis-, Bezirks- und Provinzialordnung für den preußischen Staat" und das "Gesetz über die Polizei-Verwaltung" in Kraft 46 . Kleist-Retzow war (natürlich) auch an der Vorbereitung einer Umbildung der Ersten Kammer beteiligt 47, bei der Graf Adolf Heinrich v. ArnimBoitzenburg eine wichtige Rolle spielte 4B : Schließlich wurde sein Amende42 Namen der Kommissionsmitglieder 2. K 1849/50, 67. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Kommissionsmitglieder in den nach dem Zufallsprinzip gebildeten Abteilungen gewählt wurden, so daß nicht unbedingt alle Fraktionen angemessen vertreten sein mußten. 43 2. K 1849/50, 619; vgl. dazu den Artikel "Arnim" in diesem Band. 44 Vgl. Kurt Utermann, Der Kampf um die preußische Selbstverwaltung im Jahre 1848, Berlin 1937. 45 2. K 1849/50, 2839; vgl. dazu GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 185; Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 181 f. 46 Ihnen war aber keine lange Dauer zugedacht; sie wurden schon 1853 wieder aufgehoben. 47 Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 29), 448; siehe auch GTÜnthai, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 158; Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 162.

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ment angenommen 49 und damit die endgültige Gestaltung der Ersten Kammer bis zum Ende der Session 1852 verschoben, um genügend Zeit für die Kommunalrefonn zu gewinnen. Petersdorff kam zu der These, "daß die Umsicht, Geschicklichkeit und Energie Kleits die Bildung des preußischen Herrenhauses ennöglicht hat." 50 Seine Haltung in dieser Frage trug ihm das Wohlwollen des Königs ein 51, das sich u. a. darin äußerte, daß Kleist von Friedrich Wilhelm IV. am 18. März 1850 das Außenministerium angeboten wurde 52. Kleist lehnte jedoch "bestimmt ab" 53. Statt dessen ernannte ihn der König zum Mitglied des Erfurter Staatenhauses, das im Frühjahr 1850 zusammentrat, obwohl er wußte, daß Kleist ein Gegner des Radowitzschen Projektes war 54 • Sein Wirken in Erfurt in der Fraktion der Rechten kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Nur eine größere Rede am 17. April muß erwähnt werden, in der Kleist-Retzow (unter dem Einfluß Ludwig v. Gerlachs) zugunsten Österreichs gegen den Verfassungsentwurf Partei ergriff 55 • Zugleich war Kleist-Retzow 1850 Führer einer der beiden rechten Gruppen der Zweiten Kammer, die 64 Mitglieder zählte 56. Das Projekt der Unionspolitik konnte sich nicht durchsetzen: In Olmütz und Dresden wurde endgültig ein Schlußstrich unter die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 gezogen. In dieser unruhigen Zeit war Hans v. Kleist-Retzow vom Landrat in Pommern bis zum einflußreichen konservativen Parlamentarier aufgestiegen, wozu die Bekanntschaft Ludwig v. Gerlachs und die Freundschaft Otto v. Bismarcks wesentlich beitrugen. ßI. In der Session 1850/51 beschäftigte sich Kleist erneut mit der Ablösefrage, und zwar in einer längeren Denkschrift an Innenminister Westphalen am 17. Januar 1851 57 und in einer Rede in der Zweiten Kammer am 8. März: Im Rahmen eines Angriffes auf den § 97 des Ablösungs-Gesetzes vom Siehe den Artikel "Arnim" in diesem Band. 2. K 1849/50, 2150 f. 50 Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 165 f. 51 Ebd, 166. 52 Vgl. Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 29), 448. Siehe auch Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 177. Kurze Zeit war Kleist auch als Innenminister im Gespräch, doch wurde Westphalen ernannt (Ebd). 53 Ebd, 170. 54 Vgl. Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen II (wie Anm. 24),99. 55 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 171. 56 Vgl. Grunthal, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 395. Die andere, "reine" Rechte leiteten Graf Arnim-Boitzenburg und Bodelschwingh; vgl. den Aufsatz "Arnim" in diesem Band. 57 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 178 f. 48 49

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2. März 1850 plädierte er dafür, "daß das Ministerium seinerseits diese Übelstände des Agrar-Gesetzes aufs schärfste im Auge behalte, daß es von den Behörden, die dies Gesetz auszuführen haben, sich Gutachten geben lasse, wie diese bedenklichen Paragraphen desselben aufzufassen, und daß es seinerseits dann mit einer Deklaration hervorträte." 58 Seinem Antrag auf Übergang zur Tagesordnung wurde trotz Widerspruchs seitens des Berichterstatters Hoffmann stattgegeben 59. Die daraufhin ausgearbeitete Deklaration vom 24. Mai 1853, welche die §§ 74 und 97 des Gesetzes von 1850 auslegte 60 , ging auch auf diese Initiative zurück 61 . Damit hatte Kleist seine 1849 vertretene Auffassung zumindest teilweise durchgesetzt.

Kleist-Retzows Ernennung zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz 1851, die auf den maßgeblichen Einfluß der Brüder Gerlach zurückging 62, hinderte ihn zunächst nicht daran, Mitglied der Zweiten Kammer zu bleiben. In dieser engagierte er sich Ui52 erneut in der Oberhausfrage, die spätestens seit dem Frühjahr 1852 auf der Tagesordnung stand 63. Hierbei spielte auch Kleist-Retzow als Mitglid der äußersten Rechten in der Zweiten Kammer eine nicht unwichtige Rolle 64, obwohl hier nun Ludwig v. Gerlach, der 1850 von der Ersten in die Zweite Kammer gewechselt war, die führende Persönlichkeit der äußersten Rechten war. Außerdem stand Kleist in der Presse-Kampagne gegen die Kreuzzeitungspartei an führender Stelle der Opposition gegen die Regierung Manteuffel 65 ; der Leiter der Zentralstelle für Preßangelegenheiten im preußischen Staatsministerium Rhyno Quehl, dessen Protegierung durch den Ministerpräsidenten den Konflikt ausgelöst hatte, schrieb denn auch am 15. August 1852 an Manteuffel, man dürfe nicht zögern, "auch der Schlange der Revolution Gerlach-Kleist den Kopf zu zertreten." 66 Inzwischen war Kleist in der Tat zu einem der führenden Köpfe der preußischen Rechten geworden 67 , was auch die Zahl seiner Redebeiträge 68 und seine nur knapp 2. K 1850/51, 490. Ebd,49l. 60 Gesetz-Sammlung 1853, 240. 61 So Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 180 f. 62 Leopld v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 29), 646. 63 Siehe dazu auch den Artikel "Arnim" in diesem Band. 64 Vgl. Peterdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1),255 ff. Siehe außerdem Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen II (wie Anm. 24), 138 ff. 65 Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 229; Griinthal, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 287, Anm. 122. 66 Vgl. Heinrich v. Poschinger, Unter Friedrlch Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Freiherr von Manteuffel, 3 Bde, Berlin 1901, hier Bd II, 237; siehe auch Griinthal, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 293. 67 Vgl. Poschinger, Denkwürdigkeiten II (wie Anm·. 66), 236. Im neunköpfigen Vorstand der rechten "Fraktion Nöldechen" war Kleist-Retzow "Ludwig v. Gerlachs Mann"; vgl. ausführliche Belege bei GTÜnthal, Parlamentarismus (vrie Anm. 41), 398. 58 59

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gescheiterte Wahl zum Kammerpräsidenten im Januar 1853 69 belegen, ebenso der Plan Ludwig v. Gerlachs, Kleist zum Landwirtschaftsminister ernennen zu lassen 70. Diese Initiative Gerlachs zeigte aber auch die Grenzen seines Einflusses, denn dem Ministerpräsidenten gelang es, seinen Bruder Karl v. Manteuffel, der vorher Unterstaatssekretär im Innenministerium gewesen war, als Landwirtschaftsminister durchzusetzen. Otto v. Manteuffel wollte offenbar keinen weiteren treuen Anhänger Ludwig v. Gerlachs neben dem Kultusminister v. Raumer in sein Kabinett aufnehmen, was sicher zu Spannungen geführt hätte. Es ist anzunehmen, daß er KleistRetzow deshalb nicht ungern im Rheinland "beschäftigte", um einen loyalen Anhänger Gerlachs aus Berlin zu entfernen. In der Tat legte Kleist-Retzow am 18. Oktober 1853 sein Mandat nieder, da ihm die Doppelbelastung als Abgeordneter und Oberpräsident der unruhigen Rheinprovinz zuviel wurde 7l . Trotzdem unterstützte er weiterhin die Rechte im Landtag nach Kräften 72. Außerdem erhielt er von Ludwig v. Gerlach die "Aufgabe", sich um Bismarck zu "kümmern", der inzwischen durch die Ernennung zum Bundestagsgesandten in Frankfurt ebenfalls aus Berlin "wegbefördert" worden war 73. Da Bismarck "zu Ihrem Sprengel gehörte" 74, forderte Ludwig v. Gerlach Kleist-Retzow auf, zu verhindern, daß Bismarck "dem Manteuffelschen geistlosen Absolutismus und der Weltlichkeit" verfalle 75. In seinem neuen Amte mußte sich der pommersche Junker erneut mit der Frage der Kommunalverfassung beschäftigen: Sein Plan war es, statt der Gesetze vom 11. März 1850 auf die rheinische Gemeindeordnung von 1845 zurückzugreifen 76, die nur in einigen Punkten novelliert werden sollte. Mit dieser Auffassung setzte sich Kleist-Retzow durch: Nach der Aufhebung des Gesetzes von 1850 am 24. Mai 1853 wurde am 15. April 1856 eine entsprechende Novelle zu der Gemeindeordnung von 1845 im Abgeordnetenhaus angenommen und bald darauf verkündet. Auch der Prinz von 68 In der Session 1852/53 kam Kleist-Retzow (wie z. B. auch Ludwig v. Gerlach) auf etwa 150 Redebeiträge; nur Vincke hatte mit gut 200 Redebeiträgen öfter das Wort als er. 69 2. K 1852/53, 11l. 70 Brief Ludwigs an Leopold v. Gerlach, in: Ludwig v. Gerlach: Politik II (wie Anm. 14), 789; Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I (wie Anm. 29), 741 ff. 71 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 232 und 238. 72 Siehe dazu (auf ungedruckten Akten fußend) GTÜnthal, Parlamentarismus (wie Anm. 41), 447 ff. 73 Vgl. Bismarcks Brief an Kleist-Retzow vom 12. 12. 1854, in: Bimarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 32. 74 Brief Ludwig v. Gerlachs an Kleist-Retzow vom 13.3.1853., in: Ludwig v. Gerlach, Politik (wie Anm. 14), 28. 75 Brief Ludwig v. Gerlachs an Kleist-Retzow vom 8.7.1853, ebd. 76 Vgl. dazu Petersdor!!, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 245.

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Preußen, der den Oberpräsidenten sonst nicht besonders schätzte, war deshalb mit Kleist-Retzow zufrieden 77. Als Oberpräsident hatte Kleist deshalb einen schweren Stand, weil er von Anfang an als "Prokonsul" des Kreises um den König und das Ministerium galt 78: "Der neue Oberpräsident hatte nahezu alles in der Provinz gegen sich, die Bevölkerung nach ihrem Naturell, ihren Konfessionen, ihrer sozialen Beschaffenheit, die Beamten, die meist liberal waren, und vor allem den Prinzen von Preußen und dessen Gemahlin." 79 Da seine Ernennung zum Landwirtschaftsminister, die ihm einen guten Abgang aus der Provinz ermöglicht hätte, 1853 und 1855 scheiterte, endete Kleists Amtszeit folgerichtig mit der endgültigen Übernahme der Regentschaft: Prinz Wilhelm verabschiedete Kleist am 17. November 1758 zusammen mit den meisten führenden Akteuren der "Reaktionszeit" 80. IV.

Da Kleist nun kein Verwaltungs amt mehr bekleidete, war er "offiziell" nur noch Gutsbesitzer. Allerdings nahm er bis zu seinem Tode den Sitz des Geschlechtes v. Kleist im Herrenhaus ein, der ihm durch den Beschluß des Familienverbandes übertragen worden war 81 . Am 1. Februar 1858 vollzog Prinz Wilhelm die Berufung Kleists ins Herrenhaus 82, in dem er erneut eine der führenden konservativen Persönlichkeiten wurde. Nach kurzer Eingwöhnungszeit hielt Kleist-Retzow seine erste größere Rede im Herrenhaus am 26. April 1860 im Rahmen der Debatten über die Grundsteuerbefreiungen der Ritterschaft 83. In ihr bezeichnete er gleich zu Beginn den Versuch der Grundsteuerreform als eine "revolutionäre Maßregel", welche auf die "Vollendung der darauf gebauten (,) Geist (,) Freiheit und Leben ertötenden Zentralisation und zur Herbeiführung des sie wiederum krönenden Despotismus führe ." 84 In einer weiteren Rede am 4. Mai bezeichnete er es als große Ungerechtigkeit, daß nicht der Besitz insgesamt höher besteuert werden sollte, sondern nur der Grundbesitz 85 • Das entspre77 Vgl. dazu Prinz Wilhelms Brief an Otto v. Manteuffel, in: Poschinger, Denkwürdigkeiten III (wie Anm. 66), 83. 78 Dieses und weitere Zitate bei Petersdor!f, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 194 f. 79 Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 196. 80 Ebd,299. 81 Vgl. ebd, 324. 82 Ebd. 83 HH 1860, 425 - 32. 84 Ebd, 425; Kommata in Klammern vom Verf. 85 HH 1861, 448; die folgenden Zitate 449, 453; siehe auch Kleists Brief an Bismarck vom 10.3. 1861, in: Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 38-41.

10 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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che nicht dem altpreußischen Grundsatz "suum cuique" und auch nicht den "in den einzelnen Provinzen hervorgetretenen Rechtsbindungen. Deshalb sei die Regierungsinitiative der erste Schritt auf einer abschüssigen Bahn. Abschließend betonte Kleist-Retzow, daß er trotz seiner Kritik gegen eine Grundsteuerreform prinzipiell nichts einzuwenden habe, also nicht nur aus Egoismus gegen die Reformbestrebungen opponiere. Er schloß mit den Worten: "Ich wünsche kein ,Nein' aus Egoismus, ich wünche aber auch kein ,Ja' aus Egoismus .... Ich wünsche jedoch recht viele ,Nein' um der Sache und des Gewissens willen, und ich bin gewiß, daß jedes Votum, was aus dieser Quelle hervorgeht, dem Hause, dem Lande und der Krone zum Segen gereichen wird." Trotz dieser Kritik Kleists wurde das Gesetz am 7. Mai mit 110 gegen 81 Stimmen im Herrenhaus angenommen 86 und trat in Kraft. Als sich 1862 der Kampf um die Heeresreform zuspitzte, sahen sich die Altkonservativen um Ludwig v. Gerlach an den Herbst des Jahres 1848 erinnert. Es galt nur noch, einen Nachfolger des Generals Brandenburg zu finden. Kleist-Retzow dachte aber zunächst weniger an Bismarck, obwohl er diesen kannte wie kaum ein anderer, sondern vielmehr an Edwin v. Manteuffel, den Generaladjutanten des Königs und langjährigen Chef des Militärkabinetts 87 . Schließlich wurde aber doch Bismarck trotz ernster Bedenken von Wilhelm 1. berufen. In der Folgezeit stand Kleist-Retzow eng an der Seite seines Freundes, auch deshalb, weil man ihm auf Grund seiner freundschaftlichen Verbundenheit mit Bismarck die Aufgabe zugedacht hatte, das Handeln des neuen Ministerpräsidenten im altkonservativen Sinne zu beeinflussen. "Predigen Sie Bismarck Katechismus", hatte Ludwig v. Gerlach den ehemaligen Oberpräsidenten gebeten 88. Diese Aufgabe nahm Kleist-Retzow sehr ernst; Petersdorff bestätigt, "wie sehr er davon durchdrungen war, daß ihm hier eine Mission gewiesen sei 89. Offenbar bemühte sich Bismarck zunächst darum, bei den Altkonservativen einen guten Eindruck zu machen. Zufrieden schrieb Kleist-Retzow am 22. September an Ludwig v. Gerlach: "Bismarck ist frisch und guten Muts. Ich denke wir tun ihm am Ende doch wohl Unrecht, wenn wir meinen, er zweifle an den Katechismus-Weiheiten. Nach meinem Vermögen will ich ihn daran erinnern." 90 Diese scheinbare Harmonie wurde aber schon bald dadurch getrübt, daß Bismarck sich die Richtlinien seiner Politik (im

HH 1861, 535. Ludwig v. Gerlach, Politik II (wie Anm. 14), 1107 f.; zu Manteuffel vgl. Gordon A. Craig, Portrait eines politischen Generals: Edwin v. Manteuffel und der Verfassungskonflikt in Preußen, in: Ders., Krieg, Politik und Diplomatie, Wien / Hamburg 1968, 121-156. 88 Zitiert nach Petersdorfj, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 339. 89 Ebd. 90 Ludwig v. Gerlach, Politik II (wie Anm. 14), 1117. 86 87

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Gegensatz zu seinen pietistischen Freunden) nicht durch den Katechismus vorschreiben lassen wollte. Zunächst stützte sich Bismarck aber ganz auf das mehrheitlich konservative Herrenhaus, das von den Fraktionen Gerlach / Kleist-Retzow und Arnim-Boitzenburg dominiert wurde 91. Kleist-Retzow hielt zur Verteidigung der Regierung im Verfassungskonflikt am 11. Oktober 1862 eine eindrucksvolle Rede 92 , die von Ludwig v. Gerlach inspiriert war 93 : In ihr stellte er zu Beginn fest, daß es sich beim Streit um das Budget in erster Linie weder um eine "bloß finanzielle Frage" noch um eine "militärische" handle, sondern "im eminentesten Sinne" um eine "politische Frage", nämlich um das Problem, "daß die Demokratie in unserem preußischen Vaterlande wieder die Herrschaft zu erlangen strebt." Wie 1848 gehe es um die prinzipielle Frage, wer den Vorrang im Staate haben solle: entweder "die alles nivellierende, zersetzende, auflösende Demokratie" oder aber "das suum cuique unserer Fürsten, nach welchem sie einen jeden nach seinen Verhältnissen, seinen Bedürfnissen, seiner Individualität gewähren lassen, ihn fördern und damit schützen." Mit dieser Fundamentalkritik schloß der pietistische Junker einen Kompromiß prinzipiell aus. Diese eine Konfrontation geradezu suchende Argumentation setzte Kleist-Retzow mit der These fort, aus dem propagierten Budgetrecht des Abgeordnetenhauses folge, daß die "Macht der Krone" (und die des Herrenhauses) nur noch auf dem Papier bestünden. Darum forderte auch Kleist-Retzow die Verwerfung der Budgetvorlage des Abgeordnetenhauses und die Annahme der Regierungsvorlage, wobei er zur Begründung auf die Arnimsche "Lückentheorie" zurückgriff 94. Kleist schloß mit der Aufforderung: "Gehen wir ohne alle Nebenrücksichten unseren Weg, gerade, frei und treu." Die Adresse wurde mit großer Mehrheit angenommen. Zunächst waren die Altkonservativen mit Bismarck als Ministerpräsident mehr als zufrieden 95. Das Zurückziehen des Etats für 1863, mit dem Bismarck den Verfassungskonflikt einleitete, bezeichnete Kleist-Retzow in einem Brief an Bismarck am 29. November 1862 als "Heldentat" 96. Doch kündigten sich bereits Spannungen an, die nur auf Grund der gemeinsamen Frontstellung gegenüber der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses Siehe auch den Artikel "Arnim" in diesem Band. HH 1862, 200-208; die folgenden Zitate ebd. 93 "Ich habe Ihre Auffassungen und Auslassungen dreist benutzt und sage Ihnen dafür, daß ich es konnte, meinen herzlichen Dank", schrieb Kleist an Gerlach; zitiert nach Petersdor!f, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 346. 94 Vgl. den Aufsatz "Arnim" in diesem Band. 95 Vgl. Ludwig v. Gerlachs Brief an Kleist-Retzow vom 23.4. 1863, in: Petersdor!f, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 347. 96 Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 49-55, hier 49. 91

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nicht zutage traten. Als Bismarck schon 1862 erstmals daran dachte, die Kammern nach dem Konflikt um Indemnität zu bitten, forderte KleistRetzow in dem erwähnten Briefe, er solle "keine formelle Indemnität vom Landtage erbitten: "Ihr vergebt der Regierung ihr gutes Recht und erschwert ihr die Stellung in der Zukunft." 97 Statt dessen möge sich die Regierung auf die Kreistage stützen und das Abgeordnetenhaus durch Streichung der Diäten gefügig machen 98 . Vorerst kam es jedoch nicht zum Bruch zwischen Bismarck und den Altkonservativen. Allerdings war der Ministerpräsident angesichts der Tatsache, daß Kleist-Retzow ihm umfangreiche Personalvorschläge für verschiedene Spitzenpositionen in der Verwaltung machte, sich also als stiller Ratgeber fühlte 99 , etwas ungehalten. Die religiösen Ermahnungen des pommerschen Pietisten motivierten Bismarck gar zu ironisierenden Glossen 100. Das gute Verhältnis der beiden begann sich zu lockern, je deutlicher Bismarck "Realpolitik" betrieb. In der Konfliktzeit versuchte sich Kleist-Retzow auch als Schriftsteller. Seine beiden Schriften "Pastorat und Patronat" 101 und "Der Adel und die Kirche" 102, die beide aus Reden vor evangelischen Geistlichen hervorgingen, enthielten zwar zentrale Ideen des Kleistschen Gedankengutes, zeigten aber vor allem, daß Kleist-Retzow zum Schriftsteller nicht geboren war. Ernst Ranke, der Bruder des Historikers und langjährige Freund, kritisierte diese "Arbeit des Herzens" vor allem in einem Punkte: "Der Versuch einer biblischen Begründung des Patronats scheint mir mißlich. Ich betrachte dasselbe als eine rein historische Erscheinung." 103 Die sanfte Kritik des Freundes weist auf den Kern des Kleistschen Denkens hin: Dieser beurteilte die Gegenwart vor allem in biblischen Kategorien, während historische oder gar politische Argumente nur eine untergeordnete Rolle spielten. Diese Auffassung mußte ihn auch in konservativen Kreisen in eine Außenseiterrole drängen, sobald ein Teil der gemäßigten Konservativen sich mit den gemäßigten Liberalen verband. Auf Grund seiner Weltanschauung mußte Kleist-Retzow jede "Realpolitik", jeden Kompromiß ablehnen, denn ihm ging es weniger um die Durchsetzung bestimmter politischer Ziele als um Ebd, 50; dort die folgenden Zitate. Mit dieser Forderung vertrat Kleist-Retzow auch eigene Interessen, wie er selbst zugab: Da er als Mitglied des Herrenhauses keine Diäten erhalte, falle es ihm schwer, sich die ganze Session über auf eigene Kosten in Berlin aufzuhalten (Ebd, 57 f.). Eine Streichung der Diäten hätte aber die Sessionen verkürzt. 99 Ebd, 51-54. 100 Z. B. schrieb er an den Rand eines Kleistschen Brief vom 16.5.1864 neben ein Bibelzitat die Worte: "oh Hans! immer zornig mit Donnerkeil!" (Ebd, 58) 101 Hans v . Kleist-Retzow, Pastorat und Patronat, zuerst in: Evangelische Kirchenzeitung 1863, Spalte 617 -632 und 641-647, dann als Separatdruck Berlin 1863. 102 H. H . v. Kleist-Retzow, Der Adel und die Kirche. Ein Vortrag. Berlin 1866. 103 Zitiert nach Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 361. 97

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religiös legitimierte Grundsätze. Wie sehr Kleist-Retzows Denken das eines Außenseiters war, beweist die Tatsache, daß auch Ludwig v. Gerlach von seinen Thesen wenig beeindruckt war 104 • Als 1864 der Krieg gegen Dänemark ausbrach, kam es bald zu ersten Spannungen innerhalb der konservativen Partei, die bislang Bismarcks Politik einhellig unterstützt hatte. Als im Mai der im Herrenhaus einflußreiche Graf Arnim-Boitzenburg mit einer Adresse hervortrat, in der die Abtrennung der Elbherzogtümer von Dänemark gefordert wurde 105, trat vor allem Ludwig v. Gerlach gegen Arnim auf, während Kleist-Retzow, der auch den Ausbruch des Krieges begrüßt hatte 106, eher auf der Seite Arnims stand 107. Damit wandte er sich erstmals gegen seinen alten Mentor Gerlach. Bismarck nahm in diesem Streit aus taktischen Gründen vorerst eine vermittelnde Position ein. Zu der von Arnim geforderten Annexion der Herzogtümer durch Preußen 106 bemerkte er am 16. Mai 1864 in einem Brief an Below-Hohendorf, "daß mir die preußische Annexion nicht der oberste und notwendige Zweck ist, wohl aber das angenehmste Resultat, falls es sich aus den Umständen ergäbe, ohne daß wir darüber mit Österreich auseinander kommen." 109 Damit wurde eine Konfrontation zwischen "Großdeutschen" und " Kleindeutschen " im konservativen Lager zunächst vermieden. 1866 kam es dann zum endgültigen Ausbruch der Differenzen innerhalb der konservativen Partei, als Ludwig v. Gerlach in der Kreuzzeitung am 8. Mai seinen Artikel "Krieg und Bundesreform" veröffentlichte, in dem er davor warnte, Österreich aus Deutschland auszuschließen 110. Der damit vollzogene Bruch Gerlachs mit seinem "Zögling" Bismarck stellte KleistRetzow vor die Entscheidung, sich gegen seinen Mentor Gerlach oder gegen seinen Freund Bismarck zu stellen. Schließlich ging er zu beiden auf Vgl. ebd, 362. Vgl. dazu den Artikel "Arnim" in diesem Band. 106 Brief Kleists an Bismarck, in: Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 68 ff.; siehe auch Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 364. 107 Vgl. Kleists Rede in der Adreßdebatte am 21.12 . 1863, in: HH 1863/64, 7983; Kleist beleuchtete in seiner Rede vor allem Rechtsfragen; erst zum Schluß ging er auch auf den Krieg gegen Dänemark 1848 und die Lage in Europa seit dem Krimkrieg ein. Schließlich stimmte er mit der großen Mehrheit für den Adreßentwurf Arnims (Ebd, 85). 108 Vgl. den Artikel "Arnim" in diesem Band. 109 Zitiert nach Hans Rothfels (Hrsg), Bismarck-Briefe, Göttingen 1955, 312 f. Von Horst Kohl (Bismarck-Briefe, Bielefeld / Leipzig 1900, 388) wurde irrtümlich Graf Arnim-Boitzenburg statt Below-Hohendorf als Adressat angegeben und außerdem der oben zitierte letzte Nachsatz weggelassen. Ihm lag allerdings das Original nicht vor; vgl. auch Petersdorffs Anmerkung in: Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 365; außerdem Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 61 f . 110 Abgedruckt in: Bismarckjahrbuch, hrsg. von Horst Kohl, Bd IV, Leipzig 1897, 175-185. 104 105

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Distanz. Weil er sich nicht gegen Bismarcks Annexionspolitik wandte lll , begann Gerlach ihn angesichts seines Zögerns für "prinzipienlos" zu halten 112 • Auf Grund der Indemnitätsvorlage der Regierung ll3 kam es dann auch zu Differenzen zwischen Kleist-Retzow und Bismarck. Am 1. August 1866 verfaßte er eine umfassende Denkschrift an den Ministerpräsidenten, in der er davor warnte, Preußen "in einem unergründlichen Strudel" untergehen zu lassen, denn es sei "ohne den Geist, der es schuf, so gut wie tot - ohne selbständiges Königtum." 114 Vor allem warf er Bismarck vor, grundlos zu kapitulieren: "Jetzt, wo das Ministerium den Kampf mit den Feinden der Monarchie glänzend gewonnen hat, da wird das ganze Resultat dieses Kampfes vernichtet, der Siegespreis dem erstaunten besiegten Feinde in den Schoß geworfen." Bismarck kommentierte Kleist-Retzows Vorhaltungen in einem Brief an seine Frau: "Hans Kleist hat mir einen aufgeregten Brief geschrieben. Die Leutchen haben alle nicht genug zu tun, selbst nichts als ihre eigene Nase und üben ihre Schwimmkunst auf der stürmischen Welle der Phrase. Mit den Feinden wird man fertig, aber die Freunde! Sie tragen alle Scheuklappen und sehn nur Einen Fleck von der Welt." 115 Allein der Ton dieses Privatbriefes macht deutlich, wie sehr sich Bsmarck über die Starrsinnigkeit seines alten Freundes ärgerte. Es kam aber noch nicht zum Bruch zwischen den beiden alten Freunden, weil Kleist-Retzow sich in der Debatte über die Indemnitätsvorlage zurückhaltend äußerte 116 und schließlich für die Vorlage stimmte 117 • Allerdings zog er sich danach resignierend aus der Politik zurück, zumal auch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag nicht in seinem Sinne war 118 . Mit der Regierung glaubte er nicht zusammenarbeiten zu können, gegen diese wollte er nicht opponieren, so daß ihm nur der Rückzug aus der Tagespolitik blieb 119. III Vgl. Adreßdebatte im Herrenhaus am 13. 8. 1866, in: HH 1866/67, 17-20. Schließlich wurde die Adresse beinahe einstimmig angenommen (Ebd, 27). 112 Vgl. Petersdorf/, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 377. 113 Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd Irr: Bismarck und das Reich, Stuttgart u. a. 31988, 348-369. 114 Zitiert nach Petersdorf/, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 381; dort das folgende Zitat. 115 Brief Bismarcks an Johanna vom 3. 8.1866, in: Bismarcks Briefe (wie Anm. 38),

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116 HH 1866/67, 79. Allein die Kürze der Rede ist auffällig, denn gewöhnlich pflegte Kleist sich in wichtigen Fragen umfassend zu äußern. 117 Ebd, 82. 118 Vgl. Kleist-Retzows Rede vom 17. 9.1866, in: HH 1866/67, 99-102 . 119 Daß das Verhältnis zwischen Bismarck und Kleist erkaltet war, wird daran deutlich, daß der "Briefwechsel" (wie Anm. 3) eine Lücke zwischen dem 1. 4.1866 und dem 1. 9.1878 aufweist. Daß Bismarcks letzter persönlicher Brief an Kleist vom

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v. Daß Hans v. Kleist-Retzow (wie die meisten Altkonservativen) 1867 in die Opposition gewechselt war, wird auch daran deutlich, daß er den Krieg von 1870/71 ohne große Begeisterung verfolgte 120. Und als der Beitritt der süddeutschen Staaten nicht zu einer Reform der Bundesverfassung im konservativen Sinne genutzt wurde, besonders zur Bildung eines Oberhauses, zur Abschaffung der Matrikularbeiträge, zur Beseitigung der "bedenklichen, das Militär betreffenden Fassungen" und zur Einführung eines absoluten Veto, bezeichnete er das als ein "wahres Nationalunglück" 121. Seine selbstauferlegte Zurückhaltung gab Kleist-Retzow auf, als Bismarck im Kulturkampf die Stellung nicht nur der katholischen Kirche angriff, denn damit wurde der Kern seines (religiös legitimierten) Weltbildes in Frage gestellt. Für ihn war der Kulturkampf darum keine politische Auseinandersetzung, sondern eine prinzipielle Frage, ob im Staate Kirche und Religion ihre bestimmende Rolle behalten sollten oder nicht. Standen religiöse Fragen auf der Tagesordnung, wurde Kleist aber schnell zum Fanatiker, der blind wurde für den Standpunkt der Gegner und auch für die Erfordernisse der Zeit 122. Darum war es nicht verwunderlich, daß Kleist-Retzow im preußischen Herrenhaus derjenige war, der Bismarck den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte. Vor allem durch diese leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Regierung sowie der Mehrheit aus gemäßigten Konservativen und Nationalliberalen in Abgeordnetenhaus und Reichstag wurde Kleist in ganz Deutschland bekannt 123 • Der tiefgehende Konflikt Bismarcks mit seinem Schwager erfolgte schon in der ersten Auseinandersetzung bei den Debatten über das Schulaufsichtgesetz 124, mit dem eine bedeutende Änderung der Grundstruktur des preußischen Schulwesens erreicht werden sollte. Im Verlauf der Debatten im Herrenhaus, bei denen Kleist-Retzow Berichterstatter war, behauptete dieser am 7. März 1872 im Rahmen einer ausführlichen Rede, "daß durch dieses Gesetz die wesentlichen Prinzipien unseres gegenwärtigen Unter11. 5.1864 datiert (Ebd, 59 f.; die wenigen Zeilen vom 23.3.1865, ebd, können vernachlässigt werden), kann allerdings auch daran liegen, daß Kleist-Retzows Nachlaß "völlig undgeordnet und ganz lückenhaft" war; vgl. Petersdorff, in: Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 8. 120 Dies war für seinen Biographen kaum verständlich; vgl. Petersdorf!, KleistRetzow (wie Anm. 1), 404 f. 121 Kleist-Retzow am 13.11.1870 an Reck; zitiert nach Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 406. 122 Vgl. ebd, 329. 123 Vgl. ebd, 410. 124 Vgl. dazu Huber: Verfassungsgeschichte IV, 701-704. Siehe auch Bismarck, Gedanken und Erinerungen II, 149 f.

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richtswesens geschädigt werden." 125 Mit der Formel "Konfessionslosigkeit ist Religionslosigkeit" warf er der Regierung vor, eine prinzipiell antireligiöse Politik zu betreiben. Für den überzeugten Pietisten Kleist-Retzow war dies einer der schärfsten Vorwürfe, die er erheben konnte. Man treffe nämlich nicht nur die Katholiken, so fuhr er fort, sondern laufe Gefahr, "daß, wenn in dieser Weise das Band zwischen Schule und Kirche gelockert wird, nach einer Reihe von Jahren Entwicklungen eintreten werden, in Folge deren durch die hier geöffneten Tore der Unglaube sich Bahn bricht in unseren Schulen." Trotz dieses Plädoyers 126 wurde das Schulaufsichtsgesetz schließlich mit 126 gegen 76 Stimmen angenommen 127 . Wie sehr Bismarck ungeachtet seines letztendlichen Erfolges über die starrsinnige Haltung seines alten Freundes verärgert war, wird daran deutlich, daß er seine Bedienten anwies, Kleist nicht mehr bei ihm zu melden 128. Die freundschaftliche Verbindung der fünfziger Jahre war zerrissen. In den Debatten im Jahre 1874 über die Einführung der Zivilehe, durch die das gesamte Personenstandswesen neu geordnet und somit eine wesentliche Rechtsvereinheitlichung erreicht werden sollte, gab es häufig polemische Angriffe auf den "Herrn Reichskanzler" bzw. "Herrn v. KleistRetzow" . Gerade die geplante Einführung der Zivilehe, der er sich schon 1860 und 1861 widersetzt hatte 129 , erschien Kleist als die "Vollendung derjenigen Entwicklung, welche mit dem Jahre 48, dem Jahr der preußischen Schande, begonnen hat." 130 Deshalb höre man den "Jubelschrei" der "unkirchlichen Liberalen" und "Klagen aus allen Teilen der Kirche" , also nicht nur der katholischen. Hans v. Kleist-Retzows Opposition gegen den Kulturkampf bleibt unverständlich, wenn nicht berücksichtigt wird, daß er eine generelle Zurückdrängung des Christentums aus dem öffentlichen Leben befürchtete, welche den Protestantismus noch härter treffen könne als den Katholizismus: "Sie wollen den Kampf führen gegen die katholische Kirche, und der Erfolg kann leicht sein, daß die evangelische Kirche sich auflöst in kleinere Abteilungen oder in subjektiven Individualismus." Trotz dieser heftigen Kritik wurde auch das Gesetz über die Einführung der Zivilehe im Herrenhaus mit 89 gegen 51 Stimmen angenommen 131 . Daß Kleist-Retzow, der auch weiterhin unermüdlich gegen die Politik Bismarcks und des liberalen Kultusministers Falk opponierte, zumindest nicht HH 1871 /.72,227-234, hier 229; aus der Rede die folgenden Zitate. Siehe auch Kleist-Retzows Redebeiträge am 8. 3. 1872 ebd, 245 f. und 252 f. 127 Ebd, 255. 128 Vgl. Ludwig v. Gerlach, Aufzeichnungen 11 (wie Anm. 24), 358. 129 Vgl. Kleist-Retzows Rede vom 7.5.1860, in: HH 1860, 594 - 599 . 130 Rede Kleists vom 17. 2.1874, in: HH 1873/74, 121-127 , hier 122 ; ebd die folgenden Zitate; vgl. dazu Kleists tatsächliche Berichtigung ebd, 133 f. 131 Ebd, 230. 125

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gänzlich im Unrecht war, mag ein Blick auf die weitere Entwicklung der protestantischen Kirchen in Deutschland belegen. In den 70er Jahren stand auch die Frage einer Reform der Kreisverfassung in Preußen wieder einmal auf der Tagesordnung. Die Kreisordnungen von 1825-28, die dem Adel "auf dem Lande" eine dominierende Stellung sicherten, waren zu Beginn der Neuen Ära erneut in Frage gestellt worden. Doch weil der Entwurf einer Kreisordnung des Innenministers Schwerin nach Bismarcks Ernennung 1862 nicht weiter verfolgt worden war, galt auf kommunaler Ebene noch die alte Ordnung. Deshalb brachte die Regierung 1871 einen umfassenden Gesetzentwurf ein, der von den Konservativen heftig angegriffen wurde 132. Das Herrenhaus bildete zur Beratung des Regierungsentwurfes eine Kommission, der auch Kleist-Retzow angehörte. Deshalb spielte er erneut eine wichtige Rolle in den Plenardebatten über den Gesetzentwurf 133. In der generellen Aussprache am 23. Oktober 1872 gab Kleist-Retzow offen zu, daß auch er aus eigennützigen Motiven argumentierte: Daß die alte Kreisordnung eine Liberalisierung des Landes verhindere, habe schon der linksliberale Abgeordnete der preußischen Nationalversammlung Waldeck 1848 erkannt. 134 Außerdem habe die alte Ordnung Vorteile für die Polizeiverwaltung, welche "die einfachste, billigste und beste" sei, die man verlangen könne, weil sie mit den "Interessen des Besitzes" durch die Grundsteuer untrennbar verbunden sei. Die Tatsache, daß auf den Kreistagen vor allem die Rittergutsbesitzer vertreten seien, erklärte Kleist mit der Formel: "Der Bauer bleibt ein Bauer." Schließlich gab Kleist-Retzow zu, er lehne den Gesetzentwurf nicht nur "aus den allgemeinen Landesinteressen ", sondern auch "aus den Pflichten der Selbsterhaltung" ab 135. Am Ende der Debatten wurde das Gesetz am 31. Oktober 1872 im Herrenhaus mit 18 gegen 145 Stimmen abgelehnt1 36 • Da es diesmal um ihre materiellen Interessen ging, war die große Mehrheit der Herren (anders als im Kulturkampf) bereit, auf Kleist-Retzows Thesen einzugehen. Weil dadurch aber die Initiative einer Kreisreform erneut am Widerstand der Konservativen zu scheitern drohte, von der Sache her aber dringend notwendig war, machte Bismarck das Herrenhaus dadurch gefügig, daß er durch den König 25 neue "Herren" 132 Vgl. die Artikelserie "Der Entwurf der neuen Kreisordnung und seine Beratung im Herrenhause", in: NPZ vom 21.-25.9. 1872 . 13 3 HH 1872, 390-397; ebd die folgenden Zitate; siehe außerdem ebd, 460 f. und 571 f. 134 Benedikt Waldeck war in der Preußischen Nationalversammlung der Sprecher der Linken in den Verfassungsdebatten und galt in konservativen Kreisen darum als führender Revolutionär. 135 Damit verteidigte Kleist die Existenz des Adels als eine quasi "staatserhaltende Institution", die eben auch dem "allgemeinen Landesinteresse" diene. 136 Ebd, 573.

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ernennen ließ. Nachdem durch diesen "Pairsschub" die Mehrheitsverhältnisse geändert worden waren, wurde die Kreisordnung für die sechs östlichen Provinzen am 9. Dezember 1872 mit 116 gegen 91 Stimmen angenommen 137 • Das politische Denken und Handeln Kleist-Retzows erscheint auf den ersten Blick als ausschließlich reaktionär und weltfremd, indem es weder die unaufhaltsame Säkularisierung des Staates noch das unvermeidbare Auseinanderbrechen der ständischen Ordnung beachtete. In einer Frage war das Denken des Junkers aus Pommern dagegen den Bedürfnissen der Zeit eher gemäß als das vieler Liberaler. Nachdem Kleist-Retzow 1877 in den Reichstag gewählt worden war, griff er schon in seiner ersten Rede am 12. März die soziale Frage auf 13S. Er tat dies aus dem gleichen patriarchalischen Verständnis heraus, das ihn 1849 zur Gründung des "Rettungshauses" im heimatlichen Kieckow bewogen hatte. Diese soziale Fürsorge war die andere Seite des Kleistschen Konservativismus, die ihn von der liberalen Ellbogenmentalität abhob. Allerdings sorgte vor allem der Pietismus dafür, daß es bei Hans v. Kleist-Retzow nicht bei Lippenbekenntnissen blieb 139. Nach Nobilings Attentat auf den Kaiser 1878 stand Kleist zwar auf der Seite Bismarcks, doch gab er in einem Brief an seine Söhne zu bedenken: "Derartige Maßregeln helfen nicht, sie erfordern eine völlig andere Richtung in kirchlicher wie wirtschaftlicher Richtung." 140 Trotz dieser Bedenken vertrat Hans v. Kleist am 17. September 1878 im Reichstag derart die Position der Regierung 141 , daß der Kanzler anschließend vom Regierungstische heruntertrat und sich per Handschlag mit seinem alten Weggefährten aussöhnte 142 . In den folgenden Jahren bis zu seinem Tode 1892 hielt Hans v. KleistRetzow zwar noch manche parlamentarische Rede, doch trat er immer weniger in den Vordergrund. Das lag nicht nur daran, daß seine Kräfte mit zunehmendem Alter allmählich nachließen 143 , sondern auch an der Tatsache, daß die Mitglieder des Herrenhauses nach wie vor keine Diäten 137 Vgl. auch die Debatten, in: HH 1872/73, 64-70; Abstimmung ebd, 71. Kleist stimmte gegen das Gesetz. 13S Petersdorff scheut nicht die Behauptung, Kleist-Retzow sei von Anfang an im Reichstag "als Anwalt der Armen und Bedrückten" aufgetreten; vgl. Petersdorf!, Kleist-Retzow (wie Anm. 1),468 f. 139 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages (künftig zitiert als RT). Berlin 1877, 84-88 und 92 f. Siehe auch Kleists Brief an Bismarck vom 30.1.1881, in: Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 72 f. 140 Brief Kleists an seine Söhne vom 10.6.1878; zitiert nach Petersdorff, KleistRetzow (wie Anm. 1), 471. 141 RT 1878, 70-76. 142 Vgl. Petersdorf!, Kleist-Retzow (wie Anm. 1),473; Bismarcks Briefwechsel (wie Anm 3),70. 143 Vgl. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 508.

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erhielten, was den finanziell nicht gut gestellten Kleist davon abgehalten haben mag, häufiger an den Debatten des Herrenhauses teilzunehmen 144, während er im Reichstag nie eine herausragende Rolle spielte. Vor allem aber sorgte die allmähliche Modernisierung des preußischen Konservativismus dafür, daß der Pietist Kleist-Retzow immer mehr zum Außenseiter auch innerhalb der eigenen Fraktion wurde und darum sowohl im Reichstag als auch im Herrenhaus, wo er jeweils bis zu seinem Tode 1892 Mitglied blieb, in den Hintergrund trat. VI.

Faßt man die politische Karriere des Landrates und Oberpräsidenten, des Parlamentariers und Kirchenpolitikers Hans v. Kleist-Retzow zusammen, so ist dem Fazit Herman v. Petersdorffs zuzustimmen: "Das altpreußische Junkertum hat in der Zeit Bismarcks '" gewiß begabtere Vertreter in seiner Mitte gezählt. Keiner aber hat unter den Rufern dieser Klasse im parlamentarischen Streite eine so weitreichende und andauernde Wirksamkeit entfaltet wie er, und keiner unter ihnen zeigt eine so ausgeprägte, scharf umrissene Charaktergestalt. "145 In der Tat war Kleist schon auf Grund seines pietistischen Denkens ein Mann von festen Prinzipien, die er kompromißlos vertrat. Dabei mußte er sich mehr als in der Kirchenpolitik in der Frage der Kommunalordnung den Vorwurf gefallen lassen, er betreibe reine Interessenpolitik. Seine politischen Anschauungen, besonders seine religiöse Weltsicht, dürften schon zu Lebzeiten auf Unverständnis gestoßen sein. Wenn einzelne seiner Gedanken, besonders Kleists Liberalismuskritik, an Thesen erinnern, welche von der Rechten im 20. Jahrhundert aufgestellt wurden, so darf nicht vergessen werden, daß die Angriffe des altkonservativen Junkers ohne diesen religiösen Hintergrund eine ganz andere Bedeutung bekommen: Hans v. Kleist-Retzow war ein scharfer Gegner des Liberalismus und der Demokratie, doch in einer anderen Zeit und mit anderen politischen Alternativen vor Augen als diejenigen, die im 20. Jahrhundert das Erbe des Konservativismus anzutreten vorgaben. Sein Ideal war und blieb der Ständestaat auf christlicher Grundlage.

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Vgl. Bismarcks Briefwechsel (wie Anm. 3), 75. Petersdorff, Kleist-Retzow (wie Anm. 1), 543.

Preußischer Konservatismus und Soziale Frage Hermann Wagener (1815-1889) Von Klaus Hornung Hermann Wagener gehört zu den nicht wenigen in unserer traditionslosen Gegenwart zu Unrecht weithin vergessenen Gestalten preußisch-deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts. Als politischer Publizist, Parlamentarier und Regierungsberater spielte er in der Zeit von König Friedrich Wilhelm IV. bis in die siebziger Jahre eine bemerkenswerte politische Rolle. Besonders als Berater Bismarcks in dem Jahrzehnt zwischen 1862 und 1873 wurde er zum wohl "bedeutendsten Protagonisten konservativer Sozialpolitik im 19. Jahrhundert" 1. Thomas Nipperdey nennt den Parlamentarier Wagener den "Vater des kleinen, aber nie verschwindenden sozialpolitischen Flügels des deutschen Konservativismus" 2. I. Skizze des Lebensweges

Friedrich Wilhelm Hermann Wagener wurde am 15. März 1815 in Seegelitz, Kreis Neuruppin, als Sohn eines Landpfarrers geboren 3 . Das Elternhaus war geprägt von einem nüchtern-praktischen märkischen Christentum wie vom Geist des patriotischen Aufschwungs von 1813. Im Mai 1835 beginnt Wagener an der Universität Berlin mit dem Studium der Rechte und nimmt hier vor allem Karl Ludwig Hallers Ideen zum Legitimitätsprinzip und Anregungen aus Friedrich Julius Stahls Rechtsphilosophie auf. Schon der Student sucht dabei nach den theologischen Grundlagen und 1 Dirk BlasiuS, Konservative Sozialpolitik und Sozialreform im 19. Jahrhundert, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Rekonstruktion des Konservatismus. Freiburg i. Br. 1972, 483. 2 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, 380. 3 Zur Biographie Wageners sind von ihm selbst vor allem zu nennen: Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 -1866 und von 1873 bis jetzt, Bde. I -II. Berlin 1884; Die Politik Friedrich Wilhelms IV. Berlin 1883; ferner der Artikel von Herman von Petersdorff in der ADB, Bd. 40. Leipzig 1896, 471 ff., sowie biographische Informationen in den Dissertationen von Wolfgang Saile, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus. Tübingen 1958, und Siegfried Christoph, Hermann Wagener als Sozialpolitiker. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Ideen und Intentionen für die große deutsche Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert, phil. Diss. (masch.). Erlangen 1950.

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Wurzeln der politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen. Im Frühjahr 1838 besteht Wagener die 1. juristische Staatsprüfung. In der anschließenden Referendarzeit am Oberlandesgericht Frankfurt an der Oder zieht ihn dessen Vizepräsident Ludwig von Gerlach in seinen Kreis, in dem die Ideen vom "christlichen Staat" diskutiert werden und in dem er auch die aus dem pommerschen Pietismus stammenden Freunde Moritz von Blankenburg und Hans von Kleist-Retzow kennenlernt. Nach der damals üblichen 3. Staatsprüfung holt ihn Ludwig von Gerlach als Assessor an das Oberlandesgericht und Konsistorium nach Magdeburg. In den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen kurz vor dem Revolutionsjahr 1848 vertritt der junge Wagener bereits entschiedene Positionen gegen jede "rationalistische Aufweichung". Gleichzeitig wird er mit der Gedankenwelt der christlichsozialen Bewegung in England aus dem Kreis um Thomas Chalmers, Thomas Carlyle und Edward Irving bekannt. Wagener schließt sich der Bewegung der "Irvingianer" an, die mit ihrem Plädoyer für die Wiedereinführung des urchristlichen Diakonats der Laien von der lutherischen Orthodoxie als Sekte qualifiziert wird. Wir treffen hier erstmals auf Wageners Neigung, auch Positionen einzunehmen, die der Mehrheitsmeinung in seiner Umgebung widersprechen, eine für ihn lebenslang kennzeichnende Grundhaltung. Als Wagener während der Berliner März-Revolution vom "liberalen" preußischen Kultusminister Graf Schwerin-Putzar als Assessor entlassen wird, sieht der Gerlach-Kreis in ihm den richtigen Mann für die Redaktion der gerade in Gründung begriffenen "Neuen Preußischen Zeitung". Ihr vor allem von Wagener geprägter kämpferischer Stil macht die "Kreuzzeitung" , wie sie bald wegen des Eisernen Kreuzes von 1813 in ihrem Kopf genannt wird, in kurzer Zeit zu einem Zentrum des konservativen Kampfes gegen "die Revolution und ihre verderblichen Grundsätze und Konsequenzen", ihren Redakteur zu einem landesweit bekannten und umstrittenen Publizisten. Wagener führt in dieser Zeit einen Zweifrontenkrieg, nicht nur gegen Liberalismus und Demokratie, sondern auch gegen die "wurmstichige" Bürokratie der neoabsolutistischen Regierung Otto von Manteuffels und des Berliner Polizeipräsidenten Hinkeldey. Fortgesetzte Konflikte vor allem mit letzterem führen 1854 zu Wageners Rücktritt als verantwortlichem Kreuzzeitungs-Redakteur. Wagener, der sich beruflich nun als Anwalt beim Obertribunalgericht Berlin mit dem Titel eines "Justizrats" niederließ, begann jetzt eine neue Karriere als Parlamentarier. In der Folgezeit vertrat er mit Unterbrechungen pommersche Wahlkreise im preußischen Abgeordnetenhaus und - seit 1867 - im Norddeutschen und dann im Deutschen Reichstag. In der zweiten Kammer in Preußen wurde er bald zum Sprecher des sozialpolitischen Flügels der konservativen Fraktion, einer Minderheit, die nicht mehr die

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engen Standesinteressen der Fraktionsmehrheit verfocht, die (wie selbst Ludwig von Gerlach bitter spottete) "mit der F'l-ont nach dem Mist und mit dem Rücken zum Staat" stand. Der bürgerliche Konservative aus Überzeugung und nicht aus Herkommen setzte sich hier vor allem durch seine wachsende ökonomische und sozialpolitische Sachkompetenz durch und mit der Überzeugung, daß konservative Gesinnung etwas Höheres und Tieferes sei "als der kleinmütige Wunsch, das, was man hat, möglichst langsam zu verlieren", wie bald ein geflügeltes Wort von ihm berichtet wurde 3a • Verschiedene Auslandsreisen, so nach England und, im Herbst 1851, in das turbulente Paris vor Louis Napoleons Staatsstreich, hatten seinen politischen Horizont bereits über das übliche Maß hinaus geweitet und ihn in der Überzeugung bestärkt, daß mit der Lösung der sozialen Frage epochale Entscheidungen verknüpft waren. 1858 durch die liberal-fortschrittliche Welle in das Abgeordnetenhaus nicht wiedergewählt, wandte sich Wagener erneut der politischen Publizistik zu. Zwischen 1859 und 1867 erschien unter seiner Herausgeberschaft das "Staats- und Gesellschaftslexikon" in 23 starken Bänden. Als Pendant zum Rotteck-Welckerschen Lexikon hat man es die letzte große konservative Leistung auf diesem Gebiet der Publizistik genannt, an dem so bedeutende Autoren wie Bruno Bauer, Fr. Julius Stahl, Heinrich Lee und andere mitwirkten, nicht zuletzt aber der Herausgeber selbst mit Artikeln von "Arbeiterschutz", "Aktie", "Bank", " Kapital " über Chartismus, Möser, Proudhon, " Pauperismus " und " Reaktion " bis "Sozialismus und Kommunismus", die ihn als anerkannten Fachmann zu diesen Themen auswiesen 3b. Mit seiner unermüdlichen Arbeitskraft wirkte er zur gleichen Zeit auch an der 1855 gegründeten und von seinem sozialkonservativen Gesinnungsfreund Rudolf Meyer geleiteten "Berliner Revue" mit, die gleichfalls darauf drang, bisherige christliche Caritas zur Behebung der von der Industriellen Revolution aufgeworfenen Probleme zu konsequenter staatlicher Sozialpolitik fortzuentwickeln. 1861 ging die "Berliner Revue" in Wageners Eigentum über (bis 1873). Im gleichen Jahr kehrte er in das Abgeordnetenhaus zurück, wiederum als Sprecher der "sozialkonservativen" Minderheit in der konservativen Fraktion, die er oft scharf als wenig problembewußt und reaktionär kritisierte. Die Bekanntschaft Wageners mit Otto von Bismarck ging bereits auf die Jahre 1845/46 zurück und war wohl auf dem pommerschen Gut des gemeinsamen Freundes Moritz von Blankenburg zustandegekommen 4 . In 3 a Die Formulierung wird von Rudolf Meyer in seinem (anonymen) Beitrag über Hermann Wagener: Ein Mitarbeiter Bismarcks, in: Deutsche Revue 15/1, 1890, 178, überliefert. 3b Christoph, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 87 ff. 4 Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 18 f.

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den Revolutionsmonaten 1848 bildeten vor allem Bismarck und Wagener in gemeinsamer publizistischer Arbeit an der "Kreuzzeitung" den harten Kern des "politischen Generalstabs der Kamarilla", wie die Gegner sagten. Die vielfache Übereinstimmung beider wurzelte nicht nur in ähnlichem Temperament, sondern auch in einem verwandten Menschenbild, das keine Illusionen hatte über das unvollkommene menschliche Wesen, voller Egoismus und zugleich mangelnder Einsicht. Wagener war in dieser Gemeinsamkeit freilich der Intellektuelle, der sich mehr als der heranwachsende Staatsmann an ideellen und moralischen Prinzipien orientierte, an konservativem Recht, christlichem Glauben, politisch-feudaler Treue. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß vieles, was wir aus der bekannten prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen Bismarck und den Gerlachs kennen 5, auch für Bismarcks Verhältnis zu Wagener gesagt werden kann. Wie diese sah auch Wagener in der Französischen Revolution und ihren Fortwirkungen wie etwa dem Bonapartismus das "böse Prinzip" schlechthin, Häresie und das "Tier" der Apokalypse, während Bismarck hier bekanntlich weit mehr politisch-innerweltlich urteilte und handelte. Sogleich nach der Übernahme der preußischen Ministerpräsidentschaft zog Bismarck Hermann Wagener als bekannten und wirkungsvollen Publizisten und Kenner der Presselandschaft in seine engere Umgebung. Im Oktober 1862 verfaßte Wagener für Bismarck die ersten Denkschriften, in denen er ein konservativ-fortschrittliches, "sozialkonservatives" Programm entwarf, von dem noch ausführlich die Rede sein wird. Aber erst im März 1866 gelang es Bismarck, Wagener als Zweiten Vortragenden Rat im Staatsministerium in eine Beamtenstellung zu bringen - gegen den Widerstand des Königs, der von Wagener seit dessen publizistischen Anfängen in der "Kreuzzeitung" eine negative Meinung hatte, dessen stets freimütig vorgetragene Auffassungen nun einmal nicht in das im Grunde altkonservative Welt- und Staatsbild des Monarchen paßten. Tatsächlich wurde Wagener in der Folgezeit für Bismarck zu einer Art Generalreferent für die Innenpolitik. Als Theoretiker nicht ohne Brillanz, fügte er sich mit seinem "Eigensinn" und seiner "Unerfahrenheit", wie Bismarck bald klagte, nur schwer in den Bürodienst einer politischen Zentralbehörde, auch wenn er für Bismarck vor allem während der Konfliktsjahre unverzichtbar blieb. Erst 1872 gelang Bismarck Wageners Beförderung zum Ersten Vortragenden Rat, erneut gegen den Widerstand des Königs, der Wagener auch nie zum Vortrag empfing. In seiner konservativen Fraktion im Abgeordnetenhaus sah sich Wagener als enger Mitarbeiter Bismarcks mehr und mehr isoliert. Der Gegensatz 5 Hans Rothfels (Hrsg.), Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente, 2. Aufl. Darmstadt 1953, 95 ff.; vgl. dazu Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt a . M. / Berlin / Wien 1980, 173 ff.

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hatte seine Ursachen sowohl in den gesellschaftspolitischen Überzeugungen und Vorschlägen Wageners an die Adresse Bismarcks wie auch in Bismarcks deutscher Politik, die von dem Preußen Wagener im Gegensatz zur Mehrheit in der konservativen Fraktion unterstützt wurde. Hier bestärkte Wagener den Ministerpräsidenten in seiner Absicht, das allgemeine Wahlrecht gegen konservativ-reaktionären Widerstand "in die Pfanne zu hauen"6, auch wenn Wagener es nur als Zwischenstadium zu einem nicht parlamentarischen, sondern korporativen Gesellschafts- und Staatsumbau verstand. Für Wagener wurde die Wahlrechtsfrage auch zu einem Instrument der Förderung der Arbeiterbewegung als Gegengewicht gegen das liberale Bürgertum und seine "Oligarchen des Geldkapitals". Nach Wageners Überzeugung war es "mit der Fortschrittspartei zu Ende", wenn Konservative mit der Lösung der sozialen Frage und der Arbeiterfrage begannen. Während aber Wagener noch darum kämpfte, Bismarck in Preußen wie im neuen Norddeutschen Reichstag eine neue Mehrheitsbasis zu schaffen durch Umwandlung der bisherigen konservativen Partei in eine konservativ-soziale Reformpartei mit einer Massenbasis aus Grundbesitz, Handwerk und Arbeiterschaft, hatte der preußische Ministerpräsident und Norddeutsche Bundeskanzler bereits zu seinem strategischen Bündnis mit dem bürgerlichen Nationalliberalismus angesetzt. Hatte Wagner noch bis zum Ausbruch des preußisch-österreichischen Krieges 1866 gehofft, Bismarck für seine reform- und sozialkonservativen Pläne gewinnen zu können, so fragte er seit 1867, worin sich Bismarcks Kurs überhaupt noch von den Nationalliberalen unterschied, die nun auch durch ihre ministeriellen Positionen im norddeutschen Bundeskanzleramt Wageners Beratungstätigkeit weitgehend zu konterkarieren vermochten 7. Andererseits war aber auch die konservative Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus drauf und dran, Wagener als "verkappten Demokraten" aus ihren Reihen auszuschließen. Wageners politischer Einfluß als Berater Bismarcks hatte so bereits seit 1867 seinen Höhepunkt überschritten, als ihn eine politische Diffamierungskampagne, offensichtlich vor allem aus dem liberalen Lager, beruflich an den Rand des Ruins brachte. Im Januar und Februar 1873 griff der einflußreiche liberale Abgeordnete Eduard Lasker Wagener im Abgeordnetenhaus wegen angeblicher finanzieller Verfehlungen im Zusammenhang mit Finanzspekulationen beim Bau einer Eisenbahnlinie in Pommern an 8. Laskers Attacken richteten sich indirekt auch gegen Bismarck selbst. 6 Gall, Bismarck (wie Anm. 5),379 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 2), 797 ff. 7 Der Amtschef des Norddeutschen Bundeskanzleramtes war der Liberale Max Duncker. 8 Ausführliche Darstellungen von Wageners Sturz bei Saile, Hennann Wagener (wie Anm. 3), 114 ff., und Christoph, Hennann Wagener (wie Anm. 3), 151 ff.

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Einem drohenden Disziplinarverfahren entzog sich Wagener durch die Bitte um Entlassung aus dem preußischen Staatsministerium, die der amtierende preußische Ministerpräsident Generalfeldmarschall Graf Roon mit Verweis und Pensionsanspruch Wageners gewährte. Bismarck half in der Folgezeit im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Honoraren für freie Mitarbeit, so etwa mit der Beauftragung als Berichterstatter für die Jahrestagungen des Vereins für Sozialpolitik, der sogenannten " Kathedersozialisten " . Wageners Wunsch auf Aufnahme in die Konsularlaufbahn vermochte aber auch Bismarck gegen den Widerstand des Monarchen im Staatsministerium und in der Öffentlichkeit nicht mehr zu erfüllen. 1877 / 78 ist der Bruch zwischen dem Reichskanzler und seinem langjährigen Mitarbeiter unheilbar geworden. Mit fortgesetzten Bitten um finanzielle Unterstützung wurde Wagener seinem einstigen Chef offensichtlich lästig. Er erschien ihm als "hochmütig und höchst undankbar". Andeutungen auf der einen und Befürchtungen auf der anderen Seite hinsichtlich möglicher Enthüllungen Wageners aus der langjährigen Zusammenarbeit scheinen eine Rolle gespielt zu haben 9 • Noch einmal schienen sich durch Bismarcks "konservative Wende" ab 1878 für Wageners Ideen neue Chancen zu eröffnen. Wagener gründete eine interkonfessionelle "Sozialkonservative Vereinigung" und trat 1881 auch wieder an Bismarck heran mit dem Angebot der Mitarbeit in den kommenden sozialen Versicherungsgesetzen, ohne damit freilich auf Gegenliebe zu stoßen. Hatte Bismarck schon 1866 Wageners Ideen einer umfassenden Gesellschaftsreform im Zeichen korporativer Strukturen nicht konsequent aufgegriffen und dann seiner nationalliberalen Schwenkung geopfert, so war in den achtziger Jahren die soziale Frage offensichtlich nicht mehr mit korporativ-berufs ständischen Konzepten zu lösen, wie dies Theodor Lohmann als neuer sozialpolitischer Berater des Reichskanzlers bei den Versicherungsgesetzen der achtziger Jahre erkannte. Die Erwägung, ob Wagenersche Gedanken etwa nochmals bei Bismarcks sogenannten Staatsstreichplänen ab 1889 10 hätten zum Zuge kommen können, muß spekulativ bleiben. Wagener hatte die Zeit seines politischen Einflusses überlebt, als er am 22. April 1889, 74jährig, in Berlin-Friedenau starb. Einen menschlich anrührenden Ton finden wir im Beileidsschreiben keines Geringeren als Otto von Bismarcks: "Ich verliere in dem Verstorbenen einen langjährigen Mitarbeiter, der in schweren Zeiten mir mit seinem reichen Wissen und seiner unermüdlichen Tätigkeit tapfer zur Seite gestan9 Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 117 ff., sowie ebd., 156 ff. die Schriftstücke aus dem Bismarck-Hausarchiv / Friedrichsruh (Anlagen). 10 Vgl. GaU, Bismarck (wie Anm. 5), 689 ff., und die Monographie von Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms 11. 1890-1894. Stuttgart 1929; sowie Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 130 f.

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den hat" H. Und in seinem Lebensrückblick hat der weise Menschenkenner Theodor Fontane über Hermann Wagener geurteilt: "Er war wirklich eine superiore Natur und gehört zu den wenigen mir in meinem Leben begegneten Menschen, denen man diese Superiorität abfühlte ... Das bleibt, was er getan, und Anderes, zu dessen Geschehen er die Anregung gegeben hat, und das ist genug" 12.

11. Zur Entwicklung des Sozialkonservativismus in Deutschland Hermann Wageners politisch-gesellschaftliche Überzeugungen stehen in einem ideenpolitischen Gesamtzusammenhang, dessen Kenntnis dem heutigen kollektiven Bewußtsein, besonders in Deutschland, weitgehend entfallen ist. Dabei war die Kritik am Liberalismus mit seiner die gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen auflösenden individualistischen Autonomie und an seinem geheimen Atheismus, der zu Egoismus und neuer Despotie führen mußte 13, durchaus kein "deutscher Sonderweg", wie schon ein Blick auf England von Edmund Burke bis Thomas Carlyle und Kardinal Newman, in Frankreich etwa auf Alexis de Tocqueville, Hippolyte Taine oder Ernest Renan zeigt. Der Schweizer Nationalökonom und Historiker Simonde de Sismondi wurde vom Schüler zum Kritiker Adam Smiths und zum Autor geradezu der Begründungsformel sozialkonservativen Denkens mit den Sätzen: "Nous regardons le gouvernement etre le protecteur du faible contre le fort, le defenseur de celui qui ne peut point se defendre par lui-meme, et le representant de l'interet permanent, mais calme, de tous, contre l'interet temporaire, mais passionne de chacun" 14. Kein Geringerer als Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte schon in seiner Rechtsphilosophie von 1821 die bürgerliche Gesellschaft als das von "Widersprüchen" geprägte "System der Bedürfnisse" beschrieben, im dialektischen Verhältnis zum Staat als der "Wirklichkeit der sittlichen Idee" . Durch die Konzentration "unverhältnismäßiger Reichtümer in wenigen Händen" und die dialektisch damit verbundene "Erzeugung des Pöbels" entstanden in der Gesellschaft "gefährliche Zuckungen", die nur beruhigt werden konnten von der "Regulierung" durch eine "über beiden stehende Instanz", durch den die "Verworrenheit" des gesellschaftlichen Zustandes Saile, Hennann Wagener (wie Anm. 3), 130. Ebd., 132. 13 Zum Gesamtzusammenhang abgewogen Nipperdey, Deutsche Geschichte 18001866 (wie Anm. 2), 242 ff. 14 Jean Charles Leonard Simonde de Sismondi, Nouveaux principes d'economie politique ou de la richesse dans ses rapports avec la population, Bde. 1-11, 2. Aufl. Paris 1827, zitiert bei Blasius, Konservative Sozialpolitik (wie Anm. I), 472 f. 11

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"bewältigenden Staat" 15. Gleichzeitig wurde Victor Aime Huber (18001869) unter dem Eindruck der "Lage der arbeitenden Klassen" im frühindustriellen England und der dortigen christlichen Sozialbewegung zum Anwalt genossenschaftlicher Selbsthilfe der Arbeiter durch Produktions-, Konsum-, Wohnungsbau- und Sparvereine als drittem Weg zwischen "brutalem konservativen Empirismus" und "totem sozialistischen Doktrinarismus". Der "unorganischen" Verwaltungsmaschinerie der liberalen Staatsbürokratie setzte Huber das konservative Programm entgegen: "Freiheit und Ordnung statt Zügellosigkeit und Knechtschaft als Frucht der Majoritätsherrschaft" . Die "mammonistische Selbstsucht" der oberen Klassen mußte der "kommunistischen Prädisposition" der proletarischen Massen Vorschub leisten 16. In England und dann auch bald in Deutschland entfalteten sich gegen die Mißstände des Früh-Industrialismus die Kräfte eines christlichen Tatchristentums, etwa im Umkreis Hinrich Wicherns und seines "Rauhen Hauses" in Hamburg, in den Anstalten "Vater Werners" in Württemberg, bald auch in der Berliner Stadtrnission Adolf Stoeckers 17. Hier herrschte die Überzeugung, daß die Entproletarisierung der Massen ohne die religiöschristlichen Grundlagen auf Sand gebaut sein mußte. Zugleich setzte sich jedoch auch die Überzeugung durch, daß karitativ-patriarchalische und religiös-moralische Anstrengungen allein zur Lösung der sozialen Frage nicht ausreichten und durch aktive staatliche Sozialpolitik ergänzt werden mußten. Schon früh hatte Adam Müller in seinen "Elementen der Staatskunst" (1809) die Idee Edmund Burkes aufgegriffen, daß der Staat mehr sei als "eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät", sondern "die innige Verbindung des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation", die durch den Zerfall des Gemeinwesens "in ein taxenzahlendes Arbeitervolk und in ein anderes müßiges Kapitalistenvolk" (wie Müller 1820, immerhin über zwei Jahrzehnte vor Marx, schrieb) in ihrem innersten Kern bedroht werden mußte l8 . Solche frühen sozial-konservativen Einsichten, die die Spaltung der Gesellschaft in die "feindseligen Massen" von Kapital und Arbeit beklag15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Bernhard Lakebrink. Stuttgart 1970, 327 ff., hier besonders die §§ 182-256. 16 Victor Aime Huber, Über die corporativen Arbeiterassociationen in England. Berlin 1852; sowie die weiteren Vorträge Hubers in diesem Band; vgl. Blasius, Konservative Sozialpolitik (wie Anm. 1), 480 ff., sowie Ingwer Paulsen, Victor Aime Huber als Sozialpolitiker. Leipzig 1931. 17 Vgl. z. B. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 2),244. 18 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst. Berlin 1809. Neuausgabe von Jakob Baxa. Jena 1922; hier zitiert bei Jakob Baxa, Romantik und konservative Politik, in: Kaltenbrunner (Hrsg.), Rekonstruktion des Konservatismus (wie Anm. 1), 454.

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ten, ihren Zerfall in zwei feindliche "Nationen", wie später Benjamin Disraeli sagen wird 19, sollte man nicht einfach als "romantisch" abwerten, sondern auf Grund ihres politisch-gesellschaftlichen Erkenntnisgehalts würdigen. Sie wirkten während der ganzen ersten Jahrhunderthälfte vielfältig weiter, etwa in dem Münchener Kreis um Josef Görres, in dem 1835 Franz von Baaders Schrift erschien "Über das Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in Betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkt des Rechts betrachtet" 20. Baader forderte hier schon sehr konkret eine korporative Selbstorganisation der Arbeiterschaft und sozialpolitische Staatsrnaßnahmen zum "Arbeiterschutz". Die christlichen Antriebe des Sozialkonservativismus waren unverkennbar, sei es im katholischen Süden und Westen bei Görres, Baader und dann bei den Sozialpriestern wie Pater Kolping und dem Mainzer Bischof Ketteler, oder bei den lutherischen und pietistischen Kräften im preußischen Norden und Osten. Im Kreis um König Friedrich Wilhelm IV. gab es etwa für Ludwig von Gerlach keinen Zweifel, daß Eigentum nur in Verbindung mit den mit ihm verbundenen Pflichten heilig genannt werden konnte: "Als bloßes Mittel des Genusses ist Besitz nicht heilig, sondern schmutzig. Gegen ein Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht" 21. 1853 forderte Gerlach von den Konservativen, "eine Partei für das Recht, aber nicht für den Geldbeutel" zu sein 22 • Die frühen sozialen Forderungen der "Kreuzzeitungspartei" wie Verbot der Frauen- und Kinderarbeit, absolute Sonntagsruhe, Begrenzung der Arbeitszeit, Hygiene am Arbeitsplatz, Versicherungsschutz für Krankheit und Alter etc. wurden stets mit christlichen Begründungen vorgetragen. Dem Kreis um Friedrich Wilhelm IV. war auch der preußische Außenminister vom Herbst 1850 Joseph Maria von Radowitz (1797 -1853) zuzurechnen, der früh ausgeprägt staatssozialistische Forderungen erhob: staatliche Fabriken zur Mäßigung der Konkurrenz der privaten Unternehmen, Mitbestimmung und Mitbesitz der Arbeiter an den Fabriken sowie staatlich (aus der progressiven Einkommensteuer) finanzierte Renten und Versicherungen. Radowitz beurteilte die Lage mit derselben Sorge, wie wir sie aus den Revolutionsjahren 1848/49 etwa von Tocqueville kennen: "Das Proletariat steht in riesengroßer Gestalt da und mit ihm öffnet sich die blutende Wunde der Gegenwart: der Pauperismus. Wird kein Mittel gefunden zur gründlichen Heilung der Massenarmut, so entgeht Europa seinem Sklavenkrieg Etwa in dem politischen Roman "Sybil or the two Nations", 1854. Zitiert bei Baxa, Romantik und konservative Politik (wie Anm. 18), 458 ff. 21 So Gerlach schon 1848 auf dem "Junkerparlament", zitiert bei Hans-Joachim Schoeps, Die preußischen Konservativen, in: Kaltenbrunner (Hrsg.), Rekonstruktion des Konservatismus (wie Anm. 1), 187. 22 Ebd. 19

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nicht, so wenig wie Amerika dem seinigen", lesen wir bei Radowitz 1848. Und fünf Jahre später: "Wer wahrhaft restaurieren will, muß die Sümpfe des Proletariats, aus welchen die todbringenden Dünste aufsteigen, austrocknen und urbar machen. Der Staat wird dazu getrieben werden, der sozialen Aufgabe zu genügen - oder sie wird ihn über den Haufen werfen" 23. Während Radowitz die Lösung der sozialen Frage zur erstrangigen politischen Aufgabe der Zeit erklärte, kam Lorenz von Stein (1815 -1890) zum selben Ergebnis aus einer eindringenden sozialwissenschaftlichen Analyse der gesellschaftlich-politischen Triebkräfte der Epoche. Mit Stein beginnt sich das konservative Denken vollends zu lösen aus romantischer "Ideenpolitik" und zu einer Theorie des engen Zusammenhangs des politischen Prozesses mit den sozialen Kräfteverhältnissen fortzuentwickeln. In seiner "Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage" (1850) hat Stein die politisch-soziale Gesamtbewegung der Epoche exemplarisch studiert und den Antagonismus zwischen besitzender und nichtbesitzender Klasse mit derselben Schärfe, wenn auch mit völlig anderen Folgerungen wie der junge Marx beurteilt 24 • Im Pariser Julikönigtum sah er die falsche Lösung der Probleme, hatte hier doch der Sieg der bürgerlichen Klasse über die monarchische Regierung stattgefunden. Diese bourgeoise Klassenherrschaft mußte jedoch der nachstoßenden proletarischen Revolution erliegen. Am liberalen Staats- und Gesellschaftsbild kritisierte Stein die Reduktion des Politischen allein auf das Prinzip der individuellen und materiellen Interessen und "Bedürfnisse", die in einem angeblich freien Marktgeschehen optimal befriedigt werden sollen. In Krisen und unter Belastungen konnte dieses prekäre Gleichgewicht der liberalen Gesellschaft allzu leicht in die Klassendiktatur der einen oder der anderen Seite umschlagen. Ihr genannter Grund-Widerspruch war nach Steins Überzeugung aber auch nicht durch das sozialistisch-kommunistische Rezept der Negation des persönlichen Eigentums und der damit verbundenen Verallgemeinerung der Lohnarbeit (wie Stein mit hegelscher Begrifflichkeit formulierte) aufzulösen. Hier erreichte Steins prognostische Kraft eine erstaunliche Höhe: Der Kommunismus erzeugte notwendigerweise nicht nur Armut, "sondern auch eine wahre Sklaverei, die im absoluten Widerspruch mit der Idee der Gerechtigkeit steht". Die klassenlose Gesellschaft mußte "notwendig eine neue und noch unerträglichere Unfreiheit an die Stelle der gesellschaftlichen Abhängigkeit" in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft setzen, "nur mit dem Unterschiede, daß in 23 Ebd., 187, zitiert nach Radowitz, Gesammelte Schriften, Bd. IV. Berlin 1853, 211,264. 24 Vgl. LOTenz von Stein, Gesellschaft - Staat - Recht, hrsg. u. eingel. v. Ernst Forsthoff. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1972.

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dieser die einzelnen Kapitalien, in jener das Kapital der Gesellschaft die Arbeit despotisch beherrscht" 25. Beide Denkrichtungen und politische Bewegungen, die liberale und die sozialistisch-kommunistische, schienen Stein in die Sackgasse der Unfreiheit zu führen, und dies in einem durchaus dialektischen Verhältnis zueinander. Die Entfesselung des Egoismus, die Ökonomisierung der Arbeit mit ihrer Zerstörung personaler Sozialbeziehungen, Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Desorientierung, die Ausbildung einer neuen Geldaristokratie waren nach Steins Überzeugung, der seinen Tocqueville gelesen hatte, nur Vorstufen des egalitär-sozialistischen Emanzipations-Willens, der zwangsläufig in neuen Despotismus münden mußte. Wer deshalb die soziale Revolution mit ihren vorhersehbaren Folgen verhindern wollte, der mußte sich - so Stein - für die soziale Reform als Antidot entscheiden, für den Staat des sozialen Königtums, des "Königtums der sozialen Reform", das die Bruchlinien des gesellschaftlichen Lebens zu kitten und dessen Kontinuität sicherzustellen vermag. Lorenz von Stein wurde damit auch zum frühen Theoretiker des modernen Staates der Daseinsvorsorge, wovon vor allem das Riesenwerk seiner späteren "Verwaltungslehre" (1864-1884) Kunde gibt. Hermann Wagener hat unmittelbar an Lorenz von Stein anknüpfen können.

III. Hermann Wageners Konzept zur Lösung der sozialen Frage und einer berufsständischen Gesellschafts- und Staatsreform Im Jahr 1878, wohl nicht zufällig im Jahr des "Sozialistengesetzes " , erschien ohne Autorenname die Schrift "Die Lösung der sozialen Frage vom Standpunkte der Wirklichkeit und Praxis - Von einem praktischen Staatsmanne" 26. Sie ist zunächst wegen ihrer Anonymität verschiedenen nationalökonomischen Autoren, wie etwa Albert Schäffle, zugeschrieben worden. Tatsächlich handelte es sich um die umfassendste Darstellung von Hermann Wageners Überlegungen und Begründungen im Hinblick auf eine "friedliche Lösung der sozialen Frage", an der mitzuwirken der im erzwungenen Ruhestand lebende Autor hier ausdrücklich als seine "Lebensaufgabe" bezeichnet. Die Schrift macht deutlich, daß Wageners Wirken als streitbarer politischer Publizist, Parlamentarier und ministerieller Berater auf einem in sich geschlossenen gedanklichen Konzept und klaren politischen Überzeugungen beruhte. Wagener sah die soziale Frage im ersten Jahrzehnt nach 1871 zunächst einmal im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der "inneren Reichsgründung" . Es galt, der großen Bevölkerungsmehrheit "Reichsfreund25 26

Ebd., 96 f. Hermann Wagener, Die Lösung der sozialen Frage. Bielefeld / Leipzig 1878.

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schaft" zu bewahren oder neu zu vermitteln 27. Von einer in schlechten sozialen und ökonomischen Verhältnissen lebenden Bevölkerung konnte man keinen Patriotismus erwarten. Unter dem Eindruck der Krise von 1878 und des Sozialistengesetzes warnte Wagener vor der Illusion, die soziale Frage vor allem durch juristische oder polizeiliche Mittel lösen zu können. Das allgemeine Wahlrecht hatte den Aufstieg der sozialistischen Bewegung begünstigt. Nun zeigte sich, daß sowohl die Konservativen wie die Liberalen keine tragfähigen Lösungsvorstellungen besaßen. Bei den ersteren trat nur eine Minderheit für die dringend notwendige soziale Reformpolitik ein, und die liberalen Parteien verschärften die Lage, indem sie die Wirtschaftsphilosophie des laisser faire in Gesetze gossen. In dieser Lage ging es nicht um einige "systemlose Konzessionen" oder die Erfüllung einiger volkswirtschaftlicher Wünsche der Arbeiterbewegung. Vollends handelte es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht um einen Kampf der Tugend gegen das Laster: "Wir sind allemal Egoisten", mahnte Wagener die besitzenden Klassen, deren Patriotismus ebensowenig als uneigennützig gewertet werden konnte wie bei den Besitzlosen. Wagener war davon überzeugt, daß es mit der sozialen Frage und ihrer Lösung um die "großen religiösen, politischen und sozialen Kardinalfragen" der Epoche ging 28 . Mit Lorenz von Stein und Alexis de Tocqueville stimmte er überein, daß die sozialistische Bewegung nichts anderes war als der "dritte Akt der mit der Französischen Revolution begonnenen Schicksalstragödie" 29, als die "Vollendung" dieses revolutionären Gesamtprozesses. Der Sozialismus, zu dieser Zeit ja noch nicht geschieden in seine reformistische und revolutionäre Komponente, war für Wagener durchaus mehr als nur eine Lohnbewegung. Hier meldete sich ein "neuer Glaube", eine neue antichristliche Weltanschauung zu Wort, die sich als Verwirklichung des Christentums im Diesseits verstand und gerade daraus seine Stoßkraft gewann. Hier offenbarte sich nach Wageners Überzeugung eine "Krisis unseres gesamten bisherigen Kulturlebens" in Kirche, Staat und Gesellschaft. Es handelte sich um die Fortsetzung des Kulturkampfes, nun in der Tiefe der Gesellschaft unter der Zielgestalt der Schaffung eines "neuen Himmels und einer neuen Erde" 30. Wagener konnte auch nicht umhin, in der sozialistischen Bewegung ein "gerechtes Gericht Gottes" über die "moderne Gesellschaft" zu erblicken 31. In der sozialen Frage ging es längst nicht mehr um die sogenannten "gottgewollten Unterschiede", sondern um handgreifliche Ungerechtigkeiten, insbesondere um den Wider27

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

IV f. 85. 3. 15 f. 23 ff.

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spruch (wie Wagener im Anschluß an Lorenz von Stein formulierte) zwischen der rechtlichen Freiheit und Gleichheit und der tatsächlichen Unfreiheit und Ungleichheit der großen Masse des Volkes. Nach Wageners Auffassung waren die geistigen und sittlichen Argumente der bürgerlich-liberalen und vielfach auch der konservativen Abwehr wenig überzeugend. Die These von der "Heiligkeit" des Eigentums konnte da wenig bewirken, wo die Defensive von weitgehend denselben materiellen Gesichtspunkten bestimmt wurde wie die sozialistische Offensive. Mit gleicher Schonungslosigkeit machte er aber auch auf die ganze Zweideutigkeit des revolutionären Gesamtprozesses aufmerksam 32. Er war angetreten mit dem Postulat der Selbstregierung des Volkes und drohte in neuen "schrankenlosen Despotismus" zu führen. Die moderne "Selbstherrlichkeit des Individuums" hatte sich in die Hörigkeit eines neuen Feudalismus der Industrie- und Lohnherren verkehrt. Aus der Forderung nach der Beseitigung der Stände und Klassen drohte sich ein "Krieg aller gegen alle" in blutigen Bürgerkriegen zu entwickeln. An die Stelle von Not, Ausbeutung und Unterdrückung der feudalen Epoche waren neue Formen der Ausbeutung im Lohnverhältnis, in Gestalt von Mietwucher und anderen Formen getreten. Die moderne Bildung und Wissenschaft waren selbst weitgehend Ausdruck der revolutionären Grundstimmung, um als wirksame Heilmittel in Frage zu kommen. Die bürgerlichen Teile der Gesellschaft waren zu einer wirksamen Abwehr der egalitär-sozialistischen Bewegung schon deshalb kaum in der Lage, weil sie "die Religion" mehr oder weniger als Beschwichtigungsmittel für die Unzufriedenen zu funktionalisieren versuchten 33. Andererseits kamen die geistigen Vorkämpfer des Sozialismus, wie Wagener nüchtern erkannte, mehrheitlich ja nicht etwa aus der Arbeiterschaft, sondern aus dem bürgerlichen Literatenturn, ja selbst aus der Aristokratie. Überhaupt gab es ja "Proletariat" in seinem geistigen und kulturellen Verständnis in allen sozialen Schichten, so daß man sich nicht zu wundern brauchte, wenn sich damit die Arena öffnete "für jenes große VölkerFluidum, welches sich überall von dem Bestehenden abzulösen und das Chaos zu bilden beginnt, über welchem der ,moderne Geist' schwebt, um eine ,neue Erde' zu gestalten" 34. Wageners programmatische Schrift von 1878 zeigt, wie sehr die liberale Gesellschaft der Reichsgründungszeit für ihn der geistig-politische Hauptgegner wurde. Ihr Individualismus mit seiner Atomisierung von Staat und Gesellschaft war für Wagener das Grundübel des "modernen Systems" 35, 32 33 34

35

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

30 ff. 70 ff. 37. 53 f.

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der Sozialismus nur seine "Nachfrucht" . Immer wieder stößt unser Autor zu den religiösen und sittlichen Ursachen der Lage vor: Materialismus und Kirchenhaß kennzeichneten ja nicht erst den Sozialismus, sondern schon die liberal-bürgerliche Gesellschaft. Ihr "Wissenschaftsaberglaube" , der die Seele auf Phosphor und Nervensaft reduzierte und in einer billigen Broschürenliteratur Hypothesen zu neuen Dogmen erhob, war bereits von tiefer Irreligiosität geprägt. In dieser Lage waren nach Wageners Urteil auch die Kirchen keine Felsen in der Brandung. Besonders die evangelische Kirche hatte ihre Stellung als Volkskirche längst verloren. Sie war zu einer Theologen-Kirche geworden mit "satter Tugend und halber Dogmatik", wenn nicht gar als bloße "Schutzmannschaft für die Besitzenden" 36. Anstatt aber ihre neue Aufgabe als Missionskirche in einem mehrheitlich heidnischen Umfeld anzunehmen und sich au~ den Kern ihres geistlichen Auftrags zu konzentrieren, ließ sie sich nicht selten zu politischen Stellungnahmen verleiten, für die es den Geistlichen aber an Fachkompetenz fehlte. Im Sinne der lutherischen Lehre von den zwei Reichen konnte es für Wagener nur zu weiterer Verwirrung beitragen, wenn der Staat zu christlicher Bruderliebe aufrief und Pastoren den. Staatssozialismus predigten. Gegenüber einer politisierenden Kirche bestand Wagener jedenfalls darauf, daß Staat und Politik nicht auf der Grundlage christlicher Brüderlichkeit und Liebe gestaltet werden konnten, sondern nur auf der "der Gesetze", haben sie es doch nun einmal mit "sehr ausgeprägten und selbstbewußten Egoisten" zu tun 37. An die Adresse der Sozialisten gewandt, betonte Wagener dann aber ebenso, daß der Versuch, das Christentum auf innerweltliche Brüderlichkeit zu reduzieren und "praktisches Christentum" ohne oder gegen die Kirchen ins Werk setzen zu wollen, wie die sozialistische Agitation nicht selten argumentierte, zum Scheitern verurteilt war. Unsere gesamte Kultur war nun einmal auf der Grundlage des Christentums erwachsen, so daß "es unmöglich ist, dieselbe ohne diese historische und geistige Unterlage zu erhalten. Die Illusion sowohl der Besitzenden als der Nichtbesitzenden, die Wirkung ohne die Ursache konservieren und die Postulate der christlichen Liebe ohne den entsprechenden Hintergrund und ohne den Glauben an den, welcher Selbst die Liebe ist, erfüllen zu können, wird alsbald nach dem ersten Anlaufe als eine Seifenblase zerplatzen" 38.

Auf der Grundlage dieser vielfältigen Überlegungen bestimmte Wagener die Lösung der sozialen Frage als "die geordnete gesetzliche Aufhebung der Hörigkeit und die Emanzipation des dritten Standes, sowie die Wiederbele36 37 38

Ebd., 71 ff. Ebd., 121 ff. Ebd., 12.

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bung des religiösen Gefühls oder mit anderen Worten die Erfüllung der berechtigten sozialen Postulate und die Verneinung der Prinzipien der Revolution" 39. Wageners Sozial-Konservativismus sah sich in der Tradition des Reform-Konservativismus, der bereits den Grundansatz Edmund Burkes bestimmt hatte mit seiner Einsicht in die historisch-politische RealDialektik der Bewahrung durch verbessernde Veränderung - "a disposition to preserve and an ability to improve, taken together" - im Widerstand gegen einen hybriden Revolutionarismus 4o • In Preußen-Deutschland hatte dieser Geist vor allem die Reformer von 1807/13 bestimmt. Ausdrücklich verstand Wagener die Lösung der sozialen Frage als die Fortsetzung der Steinschen Bauernbefreiung und städtischen Selbstverwaltungsreformen, nunmehr als Befreiung des "vierten Standes" aus seiner faktischen ökonomisch-materiellen Hörigkeit. Auch jetzt galt es wieder, aus Besitzlosen Eigentümer und die heranwachsende Industriearbeiterschaft zu gleichberechtigten Mitbürgern zu machen. Der konservative Christ Wagener rief aber auch die Tradition der preußischen Könige auf, "Schirmherr der Schwachen, der König der Bettler, der Retter und Vater der Masse des Volkes" zu sein 41, eines Königtums, das sich nicht einseitig auf die besitzenden Klassen stützen durfte, dessen Autorität vielmehr vor allem auf seine Fähigkeit zum Ausgleich der Gegensätze zwischen den Klassen und Schichten begründet werden sollte. Die soziale Reform mußte in der Kontinuität der konstitutionellen Monarchie und ihrer Fortentwicklung zu einem sozialen Königtum ins Werk gesetzt werden. Mit Lorenz von Stein sah auch Wagener die reale gesellschaftliche Dialektik seiner Zeit sehr nüchtern: Auf der einen Seite eine liberalkapitalistische Gesellschaft, wo die ökonomische Freiheit zum Rauchschleier wurde, hinter dem sich neue Ausbeutung ausbreitete, die Staatsgewalt von einer neuen "Aristokratie der industriellen Gesellschaft" und den "Zwingburgen des .Kapitals" instrumentalisiert wurde. Auf der anderen Seite die sozialistische Antithese, die die Eroberung der Staatsmacht im Namen der Abschaffung des Staates und der klassenlosen Gesellschaft erstrebte und doch nur zu einer neuen freiheitsfeindlichen und despotischen proletarischen Klassenherrschaft führen mußte, zur" Transponierung der liberalen Klassenherrschaft in fortissime", wie Wagener in Aufnahme Lorenz von Steins formulierte 42. Hier konnte nur das konstitutionellsoziale Königtum, "unverworren von allen Sonderinteressen", gewissermaEbd., 84. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz, hrsg. v. Ulrich Frank-Planitz. Zürich 1986, 318. 41 Wagener, Die Lösung der sozialen Frage (wie Anm. 26), 66. 42 Ebd., 100. 39

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Ben die verfassungspolitische "Synthese" aus der Dialektik der gesellschaftlichen Gegensätze bilden.

Wageners Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage und das Konzept des sozialen Königtums fügten sich daher in Überlegungen zu einem grundlegenden Gesellschafts- und Staatsumbau auf korporativ-berufsständischer Grundlage ein. Eine erste Skizze findet sich bereits in einer Denkschrift, die Wagener am 18. Oktober 1862 dem neuen preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck 43 vorlegte. Sie enthielt Vorschläge zum Schutz des Handwerkerstandes und für den Aufbau seiner Selbstverwaltung mit eigenen ständischen Gewerberäten und Gewerbegerichte. Ähnliche Gedanken klingen hier auch schon für die Lösung der "Arbeiterfrage" an: Der Staat sollte nicht nur Minimallöhne für die Fabrikarbeiter festsetzen, sondern sie auch nach Produktionszweigen ständisch organisieren. Wagener nahm hier auch ältere sozialkonservative Vorschläge über die Ermöglichung von Miteigentum bei langjähriger Betriebszugehörigkeit auf. Eine zweite Denkschrift vom 18. April 1863 drang dann in grundsätzliche verfassungspolitische Überlegungen vor 44 . Auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts sprach Wagener sich nun deutlich gegen die parlamentarische Regierungsweise aus. In der aktuellen Krise könne allein das Königtum politische Freiheit und staatliche Selbständigkeit sicherstellen. Eine solche königliche "Notstands-Diktatur" könne sich aber nicht nur auf die Armee, sondern auch auf die überwiegende Mehrheit der ländlichen Bevölkerung, des Handwerkertums und selbst der Arbeiterschaft stützen, einer Bevölkerungsmehrheit von nahezu 75 Prozent, die "aus Bedürfnis und Instinkt" monarchisch sei, während die Monarchie vor allem durch die "Oligarchen des Geldkapitals" und die "katalinarischen Existenzen" aus freisinniger Beamtenschaft, Literatentum und Journalismus bedroht werde, die sich im Parlament mit seiner "Fortschritts"-Mehrheit sammeln. Nach Wageners Überzeugung war dies die Stunde einer grundlegenden Verfassungsreform durch "korporative Gestaltungen" für die genannte Bevölkerungsmehrheit mit dem Ziel einer neuen Volksvertretung auf der Grundlage eines allgemeinen, aber nach Ständen gegliederten Wahlrechts. Die Regierung, so Wagen er, sollte sich an die Spitze der Lösung der sozialen Frage stellen und durch eine Reform von oben die breiten Schichten der Industrie- und Landarbeiter und des Mittelstandes von dem Druck des "finanziellen Feudalismus" befreien. Im Juli 1865 verteidigte Wagener seine Vorstellung von der ständischen Gestaltung der Gesellschaft in einer Auseinandersetzung in der Kreuzzeitung mit seinem alten Mentor Ludwig von Gerlach, der noch immer für 43 44

Bei Saile, Hennann Wagener (wie Anm. 3), 135 ff . (Anlage 2) . Ebd., 138 ff. (Anlage 3).

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eine Wiederherstellung der alten, historisch gewachsenen Stände eintrat 45. Wagener als Wortführer einer jüngeren konservativen Generation betonte demgegenüber, daß von "Ständen" im historischen Sinn überhaupt nicht mehr gesprochen werden konnte: "Die Signatur der Zeit ist eben die Auflösung und Zersetzung aller überkommenen Institutionen und Organismen, darunter auch diejenigen, welche bis dahin den Gewerbebetrieb und die Stellung der darin beschäftigten Arbeiter geordnet und geschützt" hatten. Deshalb galt es gerade, "etwas Entsprechendes neu zu gestalten, an Stelle dessen, was verloren gegangen und nicht mehr zu halten ist, andererseits zeitgemäße Institutionen und Organismen zu begründen und zu gestalten, und damit dem Fortschritte der Zersetzung einen Damm entgegenzustellen". Im Zentrum dieser Bemühungen sah Wagner die Arbeiterfrage und deren Lösung; sie hielt er für "entscheidend für die Zukunft des Staates und das Schicksal der Zivilisation. In und mit dieser Frage wird es nämlich entschieden werden, ob Einsicht und Kraft genug vorhanden sind, die Staaten und Völker von unten herauf neu zusammenzufassen und zu organisieren". Es zeigte Wageners weite Perspektive, wenn er in der Lösung dieser Frage den Schlüssel sah, "ob fortan die eisernen Klammern des Cäsarismus oder ob lebendige Organe und Gelenke die Bindeglieder der Völker sein werden" . Er sah offensichtlich im preußischen Verfassungskonflikt die Chance, die Gesamtentwicklung zu einer individualistisch-atomistischen Gesellschaft noch in die Richtung einer organischen und korporativen Gestaltung umzusteuern. Das soziale Königtum sollte sich nach Wageners Vorstellung von einer cäsaristisch-bonapartistischen Lösung gerade unterscheiden, indem es den Abschluß eines organischen Gesellschafts- und Staatsaufbaus bildete. Die Entwicklung ging bekanntlich andere Wege, nicht zuletzt durch Bismarcks Entscheidung für das Bündnis mit dem Nationalliberalismus seit 1866/67. Das allgemeine Wahlrecht zum Norddeutschen Reichstag, zu dem Wagener Bismarck geraten hatte, stellte die Weichen nicht zu einer korporativ-berufständischen Ordnung, sondern a la longue zum parteienstaatlichen Parlamentarismus. Fortan focht Wagener hinsichtlich seines Staatsund Gesellschaft-Konzepts in der Defensive. In einer Denkschrift vom 10. Juni 1869 kritisierte er Bismarcks Politik, dem er noch immer als Berater diente, ob ihres nationalliberalen Kurses, und er warnte, daß die hier wortführende "Klasse der Handelsleute und Industriellen" wenig geeignet sei, die Regierung auf Dauer zu stützen 46 . Ihr sei "der Staatsbegriff überhaupt abhanden gekommen" und hier figuriere der Staat letztlich "nur auf Handlungs- und Betriebsunkostenkonten ". Noch einmal beklagte er in 45 Abgedruckt bei Rudolf Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes. Bd. 1. Berlin 1882, 373 f . 46 Saile, Hennann Wagener (wie Anm. 3), 144 ff. (Anlage 3).

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einer amtlichen Denkschrift die einseitige Begünstigung der handeltreibenden und industriellen Klassen durch die liberale Wirtschaftspolitik zu Lasten von Grundbesitz und arbeitenden Klassen. Und er empfahl erneut sozialpolitische Maßnahmen wie die Ernennung von Fabrikinspektoren, die Bildung von Gewerkvereinen, eine den breiten Schichten freundlichere Steuer- und Hypothekengesetzgebung sowie die Errichtung von Landwirtschafts- und Gewerbekammern. In seiner Programmschrift von 1878 verzichtete Wagener darauf, auf seine Ideen zu einem korporativen Gesellschafts- und Staatsumbau zurückzukommen. Offensichtlich hatte er selbst den Eindruck, daß die Entwicklung bereits darüber hinweggegangen war. Um so mehr legte er den Akzent nun auf die Stärkung des Mittelstandes und des produktiven Kapitals, um die fortschreitende Polarisierung zwischen dem spekulativen Kapital der Großbourgeoisie und der Masse der Lohnarbeiter zu mindern 47. Eine große sozialkonservative Mittelpartei sollte als Kraft des Ausgleichs entstehen. Während der Sozialismus auf das weitere Schwinden des Mittelstandes und sein Absinken zur "expropriierten Masse" hoffte, ging es Wagener darum, zumindest Teilen der Arbeiterschaft zu Privateigentum zu verhelfen, sie zu "Arbeiter-Bürgern" zu machen. Im Anschluß an Nationalökonomen wie etwa Albert Schäffle und Karl Rodbertus führte Wagener nun neben den politisch-sozialen Argumenten auch ökonomische ins Feld, vor allem die Notwendigkeit der Schaffung von Massenkaufkraft zwecks Stärkung des inneren Marktes und um den gefürchteten Überproduktionskrisen entgegenzuwirken. Erneut bezogen diese Überlegungen auch den Bauernstand ein, dem durch mittelstandsfreundlichere Kredit- und Hypothekengesetze eine größere Sicherheit des Besitzes gegeben werden sollte gegenüber den kapitalistischen Konzentrationsbewegungen, die auch die Landwirtschaft erfaßt hatten. In jedem Falle blieb die Aufgabe, den revolutionären Sozialismus zu überwinden, in dem bislang Nichtbesitzende zu Besitzenden wurden und ein neuer "industrieller Mittelstand" entstand, Vorstellungen, die dann in der Folgezeit gerade auch im konservativen Lager - man denke an die weitere Entwicklung der konservativen Partei unter Adolf Stoecker 48 erneut Auftrieb gewannen. Hand in Hand mit solcher bewußter Gesellschaftspolitik plädierte Wagener für eine Fortsetzung staatlicher Intervention in das Wirtschaftsleben zur Korrektur der "Anarchie der Produktion" und damit zur Überwindung der Existenz-Unsicherheit der arbeitenden Mehrheit der Gesellschaft. Konvergenzen sozialkonservativer und sozialistisch-sozialdemokratischer Ideen in der allgemeinen Richtung auf den 47

48

Wagener, Die Lösung der sozialen Frage (wie Anm. 26), 127 ff., 146 ff. Vgl. die Darstellung Adolf Stoeckers in diesem Band.

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modernen Staat der Daseinsvorsorge zeichneten sich ab. Der Sozialkonservative Lorenz von Stein war damit bereits vorangegangen, und bald sollte auch der Revisionismus Eduard Bernsteins und der Sozialdemokratie folgen. IV. Wageners politisches Wirken

In Hermann Wageners Leben ist zwischen den verschiedenen Weisen seines öffentlichen Wirkens schwer zu unterscheiden. Er war stets zugleich politischer Publizist, Wissenschaftler, Politiker und Parlamentarier, zwischen 1862 und 1873 als Berater Bismarcks zeitweilig auch hoher Ministerialbeamter. Im Vordergrund stand dabei sein Wille, politisch zu wirken im Sinne seiner sozialkonservativen Überzeugungen. Er brauchte beide Lebensformen, die der vita activa und der vita contemplativa, auch wenn der Akzent seines beweglichen Wesens eher auf der ersteren gelegen haben dürfte. Am Beginn seiner sechsjährigen Tätigkeit als verantwortlicher Redakteur der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung) zwischen 1848 und 1854 stand der leidenschaftliche Kampf gegen "die Revolution" in ihren verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft, der politischen Verfassung und nicht zuletzt auch des religiösen und kulturellen Lebens, die Wagener mehr als andere stets als Einheit begriff. Streitbar wie er war, scheute er den Kampf nicht, auch nicht mit seinen konservativen Parteifreunden, bei deren Mehrheit er früh feststellen mußte, daß sie "die Hauptfrage der Zeit, die soziale", diesen dritten Akt der großen "Schicksalstragödie" seit 1789, kaum begriff 49. Nach seinem Ausscheiden aus der Kreuzzeitung 1854 scheint er auf eine unmittelbar politische Tätigkeit geradezu gewartet zu haben. Er trat in das preußische Abgeordnetenhaus ein, als trotz des politischen Sieges der Konservativen 1849/50 sich der Wirtschaftsliberalismus in voller Entfaltung befand, von dem auch die Konservativen zunehmend ergriffen wurden. In diesen Jahren vollzog sich deren Spaltung in eine ideenpolitische, "transpersonalistisch-idealistische" Minderheit und eine "agrarisch-individualistische Interessenpolitik" der Mehrheit 50. Mit seiner ökonomischen und sozialpolitischen Sachkompetenz gelang es dem Bürgerlichen jedoch rasch, zum Sprecher der konservativen Kammerfraktion auf diesen Gebieten zu werden. Er trat, nicht selten im Alleingang, mit sozialpolitischen Anträgen hervor, die schon zum Beispiel das Drittelprinzip der großen Versicherungsgesetze Bismarcks in den achtziger Jahren vorwegnahmen. Sie wurden von der Mehrheit im Abgeordnetenhaus ebenso 49 50

Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 44. Ebd., 45.

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abgelehnt wie Wageners Vorstöße etwa zum Schutz und besseren Kreditversorgung des Handwerkerstandes, mit denen Wageners Mittelstandspolitik begann. Vollends Wageners Anträge auf Wiederaufhebung, zumindest Eingrenzung der Gewerbefreiheit, drangen nicht durch. "Es gelang Wagener weder auf gesetzlichem Wege, den expansiven Wirtschaftsliberalismus aufzuhalten noch seine eigene Fraktion von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. Zins freiheit und Gewerbefreiheit waren nicht mehr aus der Welt zu schaffen" 51. In einem Briefwechsel mit Bismarck im Jahr 1853 verhehlte dieser schon damals nicht seine Skepsis gegenüber dem "idealistischen Schimmer", mit dem Wagener das Handwerk umwob. Auf gleiche Abwehr in der 2. Kammer stieß Wageners Antrag 1857, landwirtschaftliche Kreditanstalten einzurichten und möglichst überhaupt das gesamte Kreditwesen durch den Staat konzessionieren zu lassen. Während Wagener in der praktischen Parlamentsarbeit und ihrer "Interessenpolitik" also immer wieder Zurückweisungen erfuhr, war er mit seiner flüssigen Feder in der Programmarbeit seiner Partei offensichtlich unentbehrlich. 1855 gelang es ihm, eine grundlegende Formulierung Lorenz von Steins in einen Programmentwurf der konservativen Partei einzufügen mit dem Satz: "Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten oder eine Despotie werden oder untergehen in Republik, wenn er nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden" 52. 1855 war die sozialkonservative Zeitschrift "Berliner Revue" gegründet worden. Ihre Gründer und Mitarbeiter vertraten zwar Methoden der empirischen Sozialwissenschaft, denen Wagener mit seinem christlichen Ausgangspunkt eher fernstand. Aber auch dieser Kreis erstrebte einen "organischen" Neubau des Staates und ausgedehnte Selbstverwaltung nach englischem Vorbild in Frontstellung gegen liberalen Zentralismus und neoabsolutistische Staatsbürokratie 53 • Auch hier trat man zum Beispiel für eine tragende Rolle des Handwerks mit eigenen politischen Funktionen wie Innungsgerichten- und Polizei ein. Wageners korporatistische Verfassungsideen sind jedenfalls auch von hier her geprägt worden. Auch die Gruppierung um die "Berliner Revue" wollte jedenfalls dem Staat als Anwalt des Gemeinwohls eine starke Stellung im Wirtschaftsleben erhalten bzw. sie zurückgewinnen. Bald sprach man im liberalen Lager von einem "preußischen sozialen Feudalismus a la Wagener" 54. Ebd., 46 ff. Ebd., 45; es handelt sich um eine wörtliche Übernahme aus Steins Schrift Sozialismus und Kommunismus (1842). 53 Ebd., 48, 51; vgl. Adalbert Hahn, Die Berliner Revue. Ein Beitrag zur Geschichte der konservativen Partei zwischen 1855 und 1875. Berlin 1934. 54 SaUe, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 48, zitiert die Kölnische Zeitung und ähnlich das liberal-konservative Preußische Wochenblatt. 51

52

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Wageners Zusammenarbeit mit der "Berliner Revue" führte zur weiteren Entfremdung von seinen konservativen Parteifreunden, erkannte Wagener doch am Ende der fünfziger Jahre immer deutlicher, daß die soziale Basis der konservativen Partei und Politik mit ihrem bisherigen Schwerpunkt bei dem ostelbischen Grundadel für eine erfolgreiche Politik unter den gewandelten Verhältnissen zu schmal geworden war und verbreitert werden mußte. Mit Wageners Kritik an der reaktionären und schwerfälligen konservativen Fraktion verband sich natürlich zugleich ein Kampf um ihre Führung zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation. Wagener war zwar 1858 im Zuge der liberalen Welle der Neuen Ära nicht mehr ins Abgeordnetenhaus wiedergewählt worden. Den Versuch einer Erneuerung der konservativen Partei ließ er jedoch nicht mehr aus den Augen. Im Zusammenwirken mit dem Kreis um die "Berliner Revue" gründete er als Plattform der neuen konservativen Richtung das Preußische Volksblatt. Dieses und das gleichzeitig begonnene Staats- und Gesellschaftslexikon, das Wagener herausgab, sollten ein "Zentrum gemeinsamer kooperativer Aktion" werden, um "die etwas außer Rand und Band gegangene konservative Partei wieder zu rayieren und einen festen Punkt für den Umschwung unserer innerpolitischen Lage zu gewinnen"55. In heutigen Begriffen würde man sagen: Wagener ging es um die Gewinnung der geistigen und kulturellen Hegemonie für einen sozial ausgerichteten Reform-Konservativismus. Im September 1861 erfolgte die Gründung des "Preußischen Volksvereins" 56. Diese außerparlamentarische Initiative wollte vor allem den handwerklichen und freiberuflichen Mittelstand in den Städten und überhaupt "populäre Kräfte" (Th. Nipperdey) 57 für die konservative Sache und gegen die liberale Gesetzgebung der "Fortschritts"-Mehrheit im Abgeordnetenhaus mobilisieren, jene "aus Bedürfnis und Instinkt" monarchischen Bevölkerungsteile (wie Wagener bald darauf schreiben sollte), die in den Schatten der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geraten waren. Diese Preußischen Volksvereine breiteten sich nicht nur im ostelbischen Preußen, sondern auch in Westfalen und im Rheinland aus. Wagener wurde zeitweilig zu ihrer treibenden und organisierenden Kraft, auch wenn er immer wieder über Mangel an Disziplin und politischer Bildung, über Trägheit und Teilnahmslosigkeit in den eigenen Reihen klagte. Bei der nächsten Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus im April 1862 erlitten die Konservativen indes eine neue schwere Niederlage. Die Zeit seit der 55 Wagener, Erlebtes I (wie Anm. 3), 77; Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 57.

56 Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 58 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 2),733. 57 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 2),733.

12 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Gründung des Volksvereins war zu kurz gewesen, um bereits Wirkung für die konservative Partei zu zeitigen. Nun kam Wageners Absichten allerdings der preußische Verfassungskonflikt zu Hilfe. Er konnte jetzt erneut versuchen, das Gros der Partei von der Richtigkeit des Plans zu überzeugen, einer erneuerten konservativen Partei "populäre Elemente aus der ländlichen Bevölkerung, Handwerkerschaft und städtischem Kleinbürgertum " zuzuführen 58. Dieser Versuch einer erneuerten konservativen Partei mit dem Programm einer Reform der Staatsverfassung in korporatistischer Richtung enthielt auch eine deutliche deutschlandpolitische Komponente 59 • Der Preußische Volksverein verstand sich als eine Art neokonservatives Pendant zum liberalen Deutschen Nationalverein. Man wollte hier die deutsche Einigungspolitik nicht allein den Liberalen überlassen. Gerade weil man den "phantastischen Unverstand der Frankfurter und Gothaer Versuche und deren rechtsverletzende und luftige Projekte" ablehnte, ging es auf konservativer Seite darum, "die bewegenden Elemente und Kräfte der Gegenwart" zu sammeln 60. Mit anderen Worten: Nach Wageners und seiner Freunde Überzeugung ging es für Preußen darum, sich zunächst einmal durch eine soziale Befriedungspolitik wieder innenpolitisch zu festigen, um als Großmacht deutsche Politik treiben zu können. Dem liberalen Programm der "moralischen Eroberungen" sollte ein zugleich konservatives und soziales Programm entgegengestellt werden, das einer ideenlosen Reaktion den Abschied gab. Es konnte nicht wundernehmen, daß Bismarck diese Ideen gern aufnahm, die in manchen Stücken seiner Auffassung von den Notwendigkeiten preußischer Politik bei seinem Amtsantritt als Ministerpräsident entsprachen. In die Jahre des Verfassungskonflikts fällt auch die Episode der Verbindung Bismarcks und Wageners zu Ferdinand Lassalle 61 . Ob Wagener selbst der Vermittler der Verbindung zwischen Bismarck und Lassalle gewesen ist, muß offenbleiben. Wagener hat jedoch in seinen Erinnerungen selbst über Gespräche mit Lassalle berichtet, bei denen sich mancherlei Berührungspunkte in der Beurteilung der "Arbeiterfrage" ergaben. Die Gründung des "Allgemeinen deutschen Arbeitervereins" konnte Wagener nur in seiner Überzeugung bestärken, daß ohne Lösung der sozialen Frage über Europa früher oder später die rote Fahne wehen würde, wie er schon 1850 geschrieben hatte. Natürlich war und blieb Lassalle für Wagener ein Repräsentant der Ideen von 1789, was ihn um so mehr darauf drängen ließ, daß die Konservativen und Bismarck die Lösung der sozialen Frage auf ihr

58

59 60 61

GaU, Bismarck (wie Anm. 5), 81. Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 60 ff. Ebd., 62 f. Ebd., 79 ff.

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Panier schreiben mußten, auch im Bündnis mit der Arbeiterschaft gegen die Fortschrittspartei. Wagener gelang es mit seinen Denkschriften, im Kabinett erste Erörterungen über die Arbeiterfrage und speziell über "Arbeiterversorgungsanstalten" in Gang zu bringen. Zur gleichen Zeit (1863/64) dachte Bismarck auch daran, den schwelenden Konflikt durch ein anderes Wahlrecht zu lösen 62. Auch hier hat Wagener eine initiative Rolle gespielt, war er doch schon seit längerem gegen das bestehende bourgeoise Zensuswahlrecht und für "Standeswahlen mit allgemeinem Stimmrecht" eingetreten. Wagener sah im allgemeinen Stimmrecht ein Instrument oder eine Vorstufe für eine künftige berufsständische Neuordnung, während Bismarck das allgemeine Wahlrecht zu einem wenn auch konstitutionell begrenzten Parlament für eine unaufhaltsame Entwicklung gehalten haben dürfte. Auf jeden Fall war für Bismarck eine Reform des Wahlgesetzes nur auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung wünschenswert, während Wagener auch eine Oktroyierung durch eine königliche "Notstandsdiktatur" nicht gescheut hätte. Im Frühjahr 1866 scheint Wagener der Meinung gewesen zu sein, unmittelbar vor dem Durchbruch zu einer neuen, korporativen Verfassung zu stehen. Lediglich der Krieg mit Österreich habe diesen Durchbruch verhindert und dann zu Bismarcks anschließender Aussöhnung mit den Liberalen geführt. Wagener mag schon vorher manches Mal seinen Einfluß bei Bismarck überschätzt haben. Seit dessen Schwenkung zu den Liberalen hatte dieser Einfluß jedenfalls seinen Höhepunkt überschritten, auch wenn Wagener weiterhin unverdrossen sozialpolitische Vorschläge über Fabrikinspektorate, gewerbliche Schiedsgerichte, die Ausstattung der "Gewerkvereine" mit den Rechten juristischer Personen etc. machte, die jetzt vor allem vom Chef des norddeutschen Bundeskanzleramtes, dem Liberalen Max Duncker, leicht vom Tisch gewischt werden konnten 63 • 1867 gewann Wagener sein Mandat im preußischen Abgeordnetenhaus zurück und zugleich einen Sitz im neuen Norddeutschen Reichstag. Beide behielt er bis 1873, was auch Bismarck begrüßte, wenn auch Konflikte aus der Doppelstellung als hoher Beamter im preußischen Staatsministerium und parlamentarischen Mandaten nicht ausblieben, an denen auch Wagener selbst durch Indiskretionen nicht ganz unschuldig war 64 . Wagener war freilich auch jetzt mehr als nur parlamentarisches Sprachrohr Bismarcks und kam bald auf seine Pläne zur Reform oder Neugrundung der konservativen Partei zurück, die Bismarck von seiner einseitigen Abhängigkeit von den Nationalliberalen lösen und ihm eine konservative Reformpartei als 62 63

64

12*

Ebd., 60 ff., 88 ff. Ebd., 102. Ebd., 105.

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parlamentarische Basis zur Verfügung stellen sollte 65. Da der bürgerlichliberalen Klasse "der Staatsbegriff überhaupt abhanden gekommen" war (wie Wagener es in seiner Denkschrift vom Juni 1869 formulierte) 66, galt es, für den Reform- und Sozialkonservativismus eine zeitgemäße Massenbasis aus Grundbesitz und ländlicher Bevölkerung, handwerklichem Mittelstand und Arbeiterschaft zu gewinnen. In einer Ende 1869 anonym erschienenen Broschüre "Die Zukunftspartei" wies Wagener dieser erneut die zentrale Aufgabe einer Lösung der sozialen Frage zu. Diese Bemühungen dauerten über den Krieg von 1870/71 hinaus fort. Einen von Wagener besorgten Programmentwurf versah Bismarck mit eigenhändigen Verbesserungsvorschlägen. Aber erneut zeigte sich, daß das, was Wagener als Einstieg zu einer grundlegenden Staatsreform auf korporativer Grundlage erstrebte, Bismarck vor allem als taktisches Mittel zur Gewinnung einer liberal-konservativen Regierungsmehrheit betrachtete. Wagener scheiterte aber auch erneut an seinen konservativen Parteifreunden. Als im Mai 1872 schließlich die "Monarchisch-Nationale Partei" gegründet wurde, beteiligte sich Wagener an ihr nicht, nachdem sein Programmentwurf wesentlich verändert und die sozialen Bezüge völlig gestrichen worden waren 67 • Noch im gleichen Jahr zerbrach die konservative Reichstagsfraktion an der Frage einer neuen Kreisordnung in Preußen, die die bisherigen Rechte des Großgrundbesitzes antastete, in einen alt- und einen - bismarckfreundlichen neu-konservativen Teil. Nach empfindlichen Verlusten der Altkonservativen bei den Reichstags- und Abgeordnetenhauswahlen von 1873/74 entstand schließlich 1876 die "Deutsch-Konservative Partei" mit der Mehrheit der konservativen Abgeordneten als "Partei Bismarcks sans phrase", wie man sie bald nannte - freilich unter weitgehender Hinnahme der machtvoll vordringenden liberalen Wirtschaftsverhältnisse und ohne den deutlichen sozialpolitischen Akzent Wageners 68 • Trotz dieser wiederholten politischen Niederlagen hielt Wagener an seinen sozialkonservativen Positionen fest. Im beginnenden Kulturkampf wies er Bismarck darauf hin, daß der Staat nicht gleichzeitig gegen die ultramontane und gegen die sozialistische Partei kämpfen konnte. In einer Denkschrift von Ende Januar 1872 betonte Wagener, daß diese Auseinan65 Ebd., 110; einen Niederschlag finden die Fragen einer "reformerischen Erneuerung" der konservativen Partei und der Konflikt Bismarcks mit den Altkonservativen auch in den "Gedanken und Erinnerungen" (Bd.I1. Stuttgart 1898, 144 ft). 66 Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 138 ff. (Anlage 3). 67 Ebd., 111. 68 Ludwig Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 11. Auf!. München / Wien 1965, 132 ff., und Walter Tormin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, 2. Auf!. Stuttgart 1967, 61 f., sowie Wolfgang Treue, Deutsche Parteiprogramme 1861-1961,3. Auf!. Göttingen / Berlin / Frankfurt a. M. 1961, mit den Programmen der Monarchisch-Nationalen Reichstagspartei 1872 und der Deutsch-Konservativen Partei, ebd., 62 ff.

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dersetzung nur mit einem sozialpolitischen Programm und mit der Unterstützung durch eine breite Basis im Volk geführt werden konnte: Einem "Sozialpapst" mußte ein "Sozialkaiser" gegenübertreten, dann kam es auf einen relativistisch und kommerziell gewordenen Liberalismus nicht mehr an. "Lieber mit Kirche und Arbeiter gegen liberale Aufklärung, als mit Freisinn und Staats autorität gegen Kirche und Arbeiter", faßt Wolfgang Saile Wageners Vorschläge zu diesem Zeitpunkt zusammen 69. Saile weist mir Recht aber auch darauf hin, daß dieser Ratschlag zu einem innenpolitischen renversement des alliances Bismarck als "völlig unrealistisch" erscheinen mußte. Bald darauf bejubelte man auch im Zentrum Wageners Sturz, dem es nicht gelungen war, sich im katholischen Volksteil und bei seinen Wortführern als engagierter Sozialpolitiker und Gegner des Liberalismus bekanntzumachen, sondern eher als harter Kämpfer der - protestantischen - Staatsgewalt. Bei aller Aktivität hat Wagener es offensichtlich auch hier versäumt, vertrauensvolle innenpolitische Bündnispartner zu suchen· und zu finden 70. Nach seinem schmerzlichen Sturz 1873 hat Wagener weder im Umkreis Bismarcks noch im Parlament wieder Fuß fassen können. Abgesehen von einigen Sonderaufträgen des Reichskanzlers wie die Berichterstattung über Jahrestagungen der "Kathedersozialisten" blieb ihm künftig nur noch seine dritte Existenzweise als politischer Publizist. An sich hätte die "konservative Wende" Bismarcks am Ende der siebziger Jahre Wagener noch einmal ein Betätigungsfeld eröffnen können. Doch war zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis beider schon irreparabel geworden. Nach Wageners Überzeugung kam diese Wende überhaupt reichlich spät nach der vorherigen langjährigen Nichtachtung der "idealen Güter des Volkes" und einseitigen Begünstigung seiner materiellen Güter 7l . Anstatt der Sozialdemokratie den Boden zu entziehen, habe man 1878 schließlich mit dem Ausnahmegesetz und Freiheitstiraden reagiert. Die anarchistische Anschlags-Welle dieser Jahre war für Wagener nur das Menetekel dafür, daß man die organische Gliederung des Volkes und seine korporativen Gestaltung durch die Vorherrschaft des Geldkapitals zerstört habe. In seinen Erinnerungen von 1884 sprach sich Wagener gegen die Verlängerung des Sozialistengesetzes aus: Man konnte nicht länger die arbeitende Mehrheit als "Deutsche zweiter Klasse" behandeln 72. Die Entwicklung im Zarenreich war ihm der Beweis dafür, daß Unterdrückung revolutionäre Gewalt nur steigerte. Die Vernachlässigung der sozialen Frage gefährdete nach seiner Überzeugung unsere ganze Zivilisation und die Freiheit im 69

70 7l

72

Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 113. Ebd., 114. Wagener, Erlebtes II (wie Anm. 3), 64 ff. Ebd., 71 ff.

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Inneren wie nach außen. Aber auch die Freiheit der demokratischen Republik wies für Wagener den falschen Weg: In Frankreich herrschte zum Beispiel faktisch die Hochfinanz, in den USA der "Despotismus" des allmächtigen Dollars, der nur durch Bestechung und Revolver gemäßigt wurde. So ist es noch einmal das soziale Königtum, das Wagener empfiehlt, in dem die Regierungen den Schutz und die Führung der Massen als ihre wichtigste Aufgabe übernehmen, eine Aufgabe, die die Zähmung eines "überwuchernden Kapitalismus" und den Schutz der "Mittelstände", der Bauern- und Handwerkerschaft einschloß73.

V. Schlußbetrachtung Man hat gesagt, die Frage nach dem geschichtlichen Ertrag von Hermann Wageners Wirken führe zu der Antwort, daß es sich hier um ein gescheitertes Lebenswerk handele, das wenig Spuren hinterlassen habe 74 . Tatsächlich wurde zu Wageners Lebzeiten wenig von dem verwirklicht, was ihm wichtig war. Es war sein Schicksal, seinen politischen Lebensweg fast völlig an Otto von Bismarck zu binden, für den die "soziale Frage" sicherlich nicht die "Zentralsonne" war wie für Wagener. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß der preußische Ministerpräsident und dann der Reichskanzler immer wieder von Wageners unablässigem Drängen nach Lösungen in der sozialen Frage beeinflußt wurde. In den Jahren des preußischen Verfassungskonflikts waren sich beide, der genuine Politiker und Staatsmann auf der einen Seite und der nach politischer Wirkung drängende PrinzipienDenker andererseits, zweifellos am nächsten gewesen. Doch Bismarck hielt Wageners Konzept eines grundsätzlichen Staatsumbaus auf der Grundlage eines sozialen, freilich auch unzweifelhaft autoritären Reformkönigtums für nicht realisierbar. Wageners Vertreibung aus der amtlichen Stellung durch eine Kampagne vor allem der politischen Gegner im liberalen Lager zog nur den auch äußerlichen Schlußstrich unter Wageners politisches Wirken, das schon seit 1867, seit Bismarcks Rapprochement mit den Liberalen, weitgehend aussichtslos geworden war. Dies enthält gewiß Elemente einer persönlichen Tragik. Die großen Versicherungsgesetze der achtziger Jahre sind ohne seine direkte Mitwirkung entstanden. Die soziale Frage war in den achtziger Jahren in der Tat nicht mehr mit korporativ-berufsständischen Verfassungs-Rezepten zu lösen. Das hatte gerade Bismarck früh erkannt. Und sein neuer sozialpolitischer Ratgeber Theodor Lohmann sah als Verwaltungsfachmann und Angehöriger einer jüngeren Generation ebenfalls klar, daß die von Wagener stets beklagte säkulare Entwicklung 73 Ebd., 83. 74

Saile, Hermann Wagener (wie Anrn. 3), 130.

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zum modemen Individualismus in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht mehr rückgängig zu machen war. Auch Lohmann hielt indessen an dem Ziel einer "sittlich geordneten Gemeinschaft" als Aufgabe aller Sozialreform fest7 5 . Von einem "gescheiterten Lebenswerk" Wageners kann man aber schon deshalb nicht sprechen, weil seine sozialpolitischen Analysen und Postulate vor allem in die Versicherungsgesetze der achtziger Jahre eingeflossen sind. Und unmittelbar nach Wageners Tod und dem bald darauf erfolgten Abgang Bismarcks von der politischen Bühne hat dann auch der neue sozialreformerische Kurs der Reichsführung in den neunziger Jahren viele Anregungen Wageners wieder aufgegriffen und fortgeführt. Vor allem aber bleibt die Klarsicht der Kritik Wageners am "revolutionären Prinzip" und einem schrankenlosen Liberal-Kapitalismus beeindruckend - gerade auch heute, nach über einem Jahrhundert, da die Aporie, die ungewollten Wirkungen und die "Rückseite des Spiegels" der Modeme deutlich hervortreten. Im Hinblick hierauf wird man auch Wagener wie seinen Geistesverwandten und Anregern wie Alexis de Tocqueville und Lorenz von Stein eine prognostische Kraft zuerkennen müssen, die sie für die Betrachtung und Lösung unserer heutigen Probleme so interessant macht. Hier stand er in der Traditionslinie sozialkonservativen Denkens in Deutschland, die noch bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht und zum Beispiel in den Reformplänen des Kreisauer Kreises der deutschen Opposition gegen Hitler noch einmal eine überzeugende, ja glanzvolle Gestalt gewann 76. Auch Bismarck hat sich dem durchdringenden liberalen Zeitgeist seiner Epoche als handelnder Politiker nicht entziehen können. Der Sozialkonservative Hermann Wagener, der nicht zum einflußreichen Politiker wurde, blickte indes über das liberale Zeitalter bereits hinaus, und man hat ihn deshalb nicht zu Unrecht eine schon "post-liberale Figur" genannt, auch als Vordenker des korporativen Staats des 20. Jahrhunderts 77 . All das mag berechtigen, diesen konservativen Politiker des 19. Jahrhunderts unserer Zeit wieder zur Kenntnis zu bringen.

75 Vgl. Hans Rothfels, Theodor Lohmann und die Kampf jahre der staatlichen Sozialpolitik. Berlin 1927, und ders., Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik. Königsberg 1929. 76 Johann Baptist Müller, Der deutsche Sozialkonservativismus, in: Hans-Gerd Schumann (Hrsg.), Konservativismus, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1984, 199-221; Klaus Hornung, Die sozialkonservative Tradition im deutschen Staats- und Gesellschaftsdenken, in: Jörg-Dieter Gauger / Klaus Weigelt (Hrsg.), Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Reform. Bonn 1990, 30-68. 77 Saile, Hermann Wagener (wie Anm. 3), 131 f.

Ein glückloser Parteiführer in Bismarcks Diensten Otto von Helldorff-Bedra (1833-1908) Von James Retallack

I.

Zwischen 1876 und 1892 war Otto von Helldorff-Bedra der führende Politiker der Deutschkonservativen Partei und ein enger politischer Verbündeter des Reichskanzlers Otto von Bismarck. In der Mitte der 1870er Jahre hatte er wesentlichen Anteil an der Herausführung der preußischen Konservativen aus ihrer parlamentarischen Isolierung, indem er die Kritik derjenigen Parteimitglieder, die sich seit 1866 geweigert hatten, dem nationalen und liberalen Kurs Bismarcks zu folgen, zum Verstummen brachte. Ebenso war es wesentlich Helldorffs Verdienst, daß die Partei zu ihrer Gründung im Juli 1876 nicht nur ein gesamtdeutsches Programm, sondern auch eine wenigstens rudimentäre Organisationsstruktur erhielt. Seit dieser Zeit war er - bis Anfang 1892 - bemüht, die Partei von jeder strikt antiliberalen Politik, die das Bündnis mit den Freikonservativen und den Nationalliberalen hätte gefährden können, fernzuhalten. Helldorffs Einfluß erreichte seinen Höhepunkt mit der Gründung des sogenannten "Kartells" im Jahre 1887. Doch zur gleichen Zeit begann seine führende Stellung innerhalb der Partei immer nachhaltiger in Frage gestellt zu werden, und zwar durch die Kreuzzeitungspartei 1 - eine Clique erzkonservativer und antisemitischer Radikaler, die der Auffassung war, daß eine blinde Regierungshörigkeit nicht nur die konservativen Prinzipien unterminiere, sondern auch größere Erfolge der Partei in der Öffentlichkeit verhindere. Der Kreuzzeitungspartei sollte es schließlich gelingen, Helldorff im Frühjahr 1892 aus der Parteiführung herauszudrängen und am Ende desselben Jahres das konservative Parteiprogramm mit deutlich antisemitischen Akzenten zu versehen. Alle späteren Versuche Helldorffs, eine Rehabilitierung innerhalb der Partei zu erreichen, sollten erfolglos bleiben.

1 Vgl. Heinrich Heffter, Die Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks. Leipzig 1927. Diese Gruppe nannte sich nach der führenden konservativen Tageszeitung, der "Neuen Preußische(n) (Kreuz-) Zeitung".

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ß. atto Heinrich von Helldorff-Bedra wurde als Sproß einer alten Meißner Adelsfamilie am 16. April 1833 auf Schloß Bedra (Kreis Querfurt) in der preußischen Provinz Sachsen geboren 2. Er absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie an den Universitäten Bonn, Leipzig, Heidelberg und Berlin, anschließend war er Referendar am Kreisgericht und bei der Verwaltungsbehörde von Merseburg. Nach der Teilnahme am Krieg von 1866, in dem er schwere Verwundungen erlitt, trat Helldorff in die Fußstapfen seines Vaters und amtierte von 1867 bis 1874 als Landrat des Kreises Wetzlar. 1867 heiratete er seine Cousine Klara Stammann (1844-1918); der Ehe entsprang eine Tochter. 1874 trat Helldorff aus dem Staatsdienst aus, um sich ganz der Verwaltung Bedras und dreier weiterer Rittergüter (Leihe, Schalkendorf und Petzkendorf) widmen zu können. Helldorffs parlamentarische Tätigkeit beschränkte sich nur auf den Reichstag, und auch hier mußte er zweimal eine Wahlniederlage hinnehmen. So vertrat er nacheinander drei verschiedene Wahlkreise: Von 1871 bis 1874 saß er für den rheinischen Wahlkreis Wetzlar im Reichstag, von 1877 bis 1881 und 1884 bis 1890 vertrat er den im Regierungsbezirk Merseburg gelegenen Wahlkreis Schweinitz-Wittenberg, und der Gewinn einer Nachwahl am 2. Dezember 1890 trug ihm bis 1893 die Vertretung des Wahlkreises Schlochau-Flatow im Regierungsbezirk Marienwerder ein. Von Mai 1879 bis April 1892 amtierte Helldorff (mit Ausnahme der Jahre 1881 bis 1884) im Reichstag als Fraktionsvorsitzender der Deutschkonservativen Partei. Ebenso stand er an der Spitze der Parteiorganisation, indem er den Vorsitz des Wahlvereins der Deutschen Konservativen seit dessen Gründung im Jahre 1876 innehatte. 1884 wurde Helldorff Mitglied des neubegrülldeten Preußischen Staatsrats, und 1890 wurde er auf Lebenszeit in das Preußische Herrenhaus berufen. Er war ebenfalls ein prominentes Mitglied der Kommission zur Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Helldorff begegnete Bismarck zuerst im Jahre 1867, aber ein engerer persönlicher Kontakt ergab sich erst später, als Helldorff sein erstes Reichstagsmandat errungen hatte und begann, die "Neukonservativen" um sich zu sammeln. Zu den wichtigsten Verbündeten Helldorffs hierbei zählten Moritz von Blanckenburg, Wilhelm von Rauchhaupt und Friedrich Wilhelm von Limburg-Stirum. Ebenso wie Helldorff distanzierten auch sie sich 2 Vgl. Rermann Dietz, "Helldorff-Bedra", in: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog. Hrsg. Anton Bettelheim, Bd. 13. Berlin 1910, 140-141; Friedrich Freiherr Riller von Gaertringen, "v. Helldorff", in: Neue Deutsche Biographie VIII, 474-475; Paul A. Merbach, Otto Heinrich von Helldorf-Bedra, in: Hans von Arnim / Georg von Below (Hrsg.), Deutscher Aufstieg. Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien. Berlin usw. 1925, 243-246.

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ausdrücklich von der sterilen Opposition gegen die Regierung, die sich zu jener Zeit in Ludwig von Gerlachs pro-österreichischer Haltung, in Hans von Kleist-Retzows Verwerfung der preußischen Kreisordnung von 1872 und auch in Philipp von Nathusius-Ludoms religiösen und sozialpolitischen Positionen manifestierte 3 • Bezeichnenderweise hatte Helldorff einen wichtigen Anteil daran, daß Nathusius-Ludom im Mai 1876 als Chefredakteur der Kreuzzeitung gestürzt wurde. Dieser Sturz war eine wesentliche Voraussetzung für die Rückkehr der Konservativen ins Regierungslager, da Nathusius-Ludom noch im Jahr zuvor mit der Publikation der berüchtigten "Ära"-Artikel Bismarck und seine wirtschaftspolitischen Berater als Lakaien jüdischer Interessen angegriffen hatte. Trotzdem hatte Helldorff, obwohl er aus dem Konflikt mit Nathusius-Ludom siegreich hervorgegangen war, weder einen vollständigen noch einen endgültigen Sieg errungen. Schon 1876 wurden Helldorff und die anderen Mitglieder des Exekutivkomittees des neuen Wahlvereins von Kleist-Retzow ausdrücklich vor einem Kurs der bedingungslosen Unterstützung Bismarcks gewarnt: anstatt der Regierung zu folgen, bestehe die Aufgabe der Partei darin, "Stachel im Fleisch" zu sein 4 • Zudem konnte Helldorff die Übernahme der Chefredaktion der Kreuzzeitung durch Wilhelm von Hammerstein-Schwartow im November 1881 nicht verhindern - ein Schritt, der fatale Folgen sowohl für die Partei wie auch für Helldorff selbst haben sollte 5. Die Gründung der Deutschkonservativen Partei im Juli 1876 kann zwar hauptsächlich als das Resultat der Bemühungen Helldorffs angesehen werden, doch wirklich entscheidend - und zwar in zweierlei Hinsicht - war seine Verbindung zu Bismarck 6 . Helldorff hatte erstens begriffen, daß der bevorstehende Bruch Bismarcks mit den Nationalliberalen und sein Wunsch nach einer erneuerten Zusammenarbeit mit den Konservativen sich vor allem im Bereich der "materiellen Fragen" abspielen würde. Denn die Gesetzgebung der vorangegangenen Jahre hatte bereits gezeigt, daß gerade dieser Bereich die alten Prinzipienfragen zu verdrängen begann, an denen nicht nur die "Altkonservativen" , sondern auch manche junge Heißsporne innerhalb der Partei mit Zähigkeit festzuhalten wünschten. Deshalb konnte Helldorff den Weg für die neue Deutschkonservative Partei auch durch die 3 Vgl. hierzu im allgemeinen James Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876 -1918. London / Boston 1988, Kap. II, bes. 14 ff.; vgl. Robert M. Berdahl, Conservative Politics and Aristocratic Landowners in Bismarckian Germany, in: Journal of Modern History 44 (1972), 1-20. 4 Brief Kleists vom 31. Juli 1876; zitiert in: Hermann von Petersdorff, KleistRetzow. Ein Lebensbild. Berlin 1907, 463 f. 5 Über Hammerstein und die Kreuzzeitung vgl. allgemein Hans Leuß, Wilhelm Freiherr von Hammerstein 1881-1895 Chefredakteur der Kreuzzeitung. Berlin 1905. 6 Für das Folgende siehe das "Flugblatt des Wahlvereins der deutschen Conservativen", o. D. (Juli 1876).

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Beteiligung an der Gründung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer im Februar 1876 bahnen helfen. Und für die folgenden fünfzehn Jahre legte er mit der Zustimmung zu den protektionistischen Zolltarifen von 1879 einen Grundstein für das konservative Bündnis mit weiten Kreisen der Schwerindustrie und deren Repräsentanten innerhalb der Nationalliberalen und der Freikonservativen Partei. Zweitens aber war sich Helldorff im klaren darüber, daß nur eine Partei, die bereit war, Bismarck "sans phrase" zu unterstützen, eine wichtige, ja zentrale Rolle im Reichstag würde zurückgewinnen können. Insofern überrascht die Tatsache nicht, daß Helldorff den Entwurf eines neuen konservativen Parteiprogramms schon in den Jahren 1875/76 "Punkt für Punkt" mit Bismarck abgesprochen hatte? Gemäß der Erfahrung, daß eine Hand die andere wäscht, wußte Helldorff recht genau, daß für Bismarck nur eine solche Partei von Interesse war, die über genügend Reichstagsmandate verfügte, um einen wirklichen Einfluß auf die Gesetzgebung nehmen zu können. Solange sich die traditionelle Wählerschaft der Partei aus Bewohnern der ländlichen ostelbischen Gebieten rekrutierte und solange die dortige Verwaltung nur die als "regierungsfreundlich" angesehenen Wahlkandidaten protegierte, war eine enge Anlehnung an Bismarck geradezu die unabdingbare Voraussetzung für konservative Wahlerfolge 8 • Gleichzeitig hatte Helldorff erkannt, daß eine ausschließlich auf Preußen beschränkte konservative Partei ein halbes Jahrzehnt nach der Reichsgründung nicht mehr überlebensfähig sein konnte. Aber seinen Versuchen, die Partei auch außerhalb der alten preußischen Provinzen zu etablieren, war allenfalls ein mittelmäßiger Erfolg beschieden 9. Bevor der Konservatismus eine wirkliche nationale Bewegung im vollen Sinne des Begriffs werden konnte, war die Überwindung politischer, gefühlsmäßiger und alltagspraktischer Grenzen unabdingbar - Grenzen, die, um nur ein Beispiel zu nennen, die unerschütterlichen Partikularisten etwa der konservativen Milieus in Preußen und Sachsen noch unüberbrückbar voneinander trennten 10.

? Vgl. "Aufruf zur Bildung einer deutschen conservativen Partei", in: ebenda, 1-2. 8 Über die "offizielle" Unterstützung konservativer Landtagskandidaten während der 1870er und 1880er Jahre vgl. jetzt die neue Studie von Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867 -1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt. Düsseldorf 1994. 9 Über dieses Problem siehe Hans Booms, Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff. Düsseldorf 1954; nach meiner Auffassung überbewertet Booms die preußische Orientierung der Deutschkonservativen Partei in den späteren Jahren des Kaiserreichs. 10 Helldorffs Einfluß in dieser Hinsicht hat seinen Niederschlag gefunden in den "Mitteilungen des Wahl-Vereins der deutschen Conservativen für seine Mitglieder" (Berlin).

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Viele Einzelheiten von Helldorffs Aktivitäten als Parteiführer in diesen frühen Jahren sind im Dunkeln geblieben. Was seine Begegnungen mit Bismarck in Varzin und Friedrichsruh, auf denen die bei den ihre parlamentarische Strategie verabredeten, oder was Helldorffs Teilnahme an den Abgeordnetendiners anbetrifft - die er oftmals als einziger Konservativer besuchte -, so haben weder Bismarck noch Helldorff mehr als einige, eher verhüllende als aufklärende, Bemerkungen über die Entwicklung ihrer Zusammenarbeit hinterlassen. Nichtsdestoweniger ist es klar, daß die Fortdauer der von den konservativen Zirkeln betriebenen Honoratiorenpolitik dem Kanzler und auch Helldorff einen beträchtlichen Spielraum für ihre politischen Manöver überließ11. Bismarck selbst schrieb einmal, daß der Mangel an Fleiß, durch den sich die Mehrheit der konservativen Mitglieder des Reichstags auszeichnete, Helldorffs Fraktionsführung sehr erleichterte, obwohl, wie er ausdrücklich hinzufügte, auch ein konservativer Fraktionsvorsitzender sich keinesfalls dem Vorwurf aussetzen durfte, einen zu regierungsfreundlichen oder "ministeriellen" Kurs zu verfolgen 12. Die überlieferten Teile von Helldorffs Korrespondenz mit Bismarck dokumentieren, in welch starkem Maße der Parteiführer von seiner engen Beziehung zum Kanzler profitierte. Hierfür bieten Helldorffs Aktivitäten während des Reichstagswahlkampfs von 1881 ein treffliches Beispiel 13. Helldorff sprach die Einzelheiten der konservativen Wahlpropaganda mit Bismarck und seinen Mitarbeitern ab - zuweilen änderte er bei der Vorbereitung von Flugblättern nur einzelne Formulierungen in den Entwürfen, die der Kanzler hierfür gemacht hatte. In seinem Bestreben, das Programm der Konservativen Partei mit der Politik Bismarcks zur Deckung zu bringen, ließ er sich von niemandem übertreffen. So schrieb er einmal an Bismarcks Schwiegersohn Kuno Graf von Rantzau, daß bei der Gestaltung von konservativen Flugblättern vor allem anderen "die durchschlagenden Stellen" der Reden des Kanzlers einzubeziehen seien: "Der übrige Text ist Nebensache ... Immerhin ist die Autorität und Popularität Ihres Herrn Schwiegervaters von großer Bedeutung - u. deshalb kommt es darauf an, gerade seine eigenen Worte an die Masse zu bringen" 14. Helldorff schätzte 11 Als ein Beispiel unter vielen sei hier verwiesen auf Bundesarchiv Potsdam, Reichskanzlei, Nr, 1784, "Reichstagssachen im allgemeinen, Bd. 1,1878-81", über Versuche, die Redefreiheit der Reichstagsabgeordneten zu beschränken. Siehe insbesondere BI. 61- 64, Helldorff an Bismarck, 5. März 1879, Anträge der Konservativen zur Änderung der Gesetzgebung. Das Dokument enthält am oberen Rande den handschriftlichen Vermerk: "Mündlich mit Herrn v. Helldorff besprochen". 12 VgI. Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier. Breslau 1894-96, Bd. II, 154 ff. 13 VgI. den Bericht über die Aktivitäten und die Aufwendungen für den Wahlkampf in den "Mitteilungen des Wahl-Vereins der Deutschen Conservativen" (Dezember 1881), "I1.".

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die intellektuellen Fähigkeiten dieser Masse offenbar nicht besonders hoch ein, denn er schlug vor, konservative Parolen und Pamphlete zur Wahl so knapp und so einfach wie möglich zu fassen: ,,1 ganzer Bogen Lesestoff schreckt ab" 15. Wenn Helldorff zu einem späteren Zeitpunkt des Wahlkampfs einen ausführlichen Bericht für Bismarck verfaßte, dann verfolgte er damit offenbar die Absicht, den Kanzler von möglichen Zweifeln an der Wirksamkeit der von der konservativen Führung entwickelten Aktivitäten abzuhalten 16 . Alle Aspekte der Wahlkampagne - die Auswahl der Kandidaten, die Regelung der Finanzierung, die Herausgabe eines wöchentlichen Informationsblatts (unter dem Titel "Der Patriot") und die Publikation von Aufrufen "in letzter Minute" - erweisen sehr klar die herausragende Stellung Helldorffs innerhalb der Partei (die nur sehr wenigen anderen die Entfaltung eigener politischer Aktivitäten und Ideen gestattete). Helldorff erwähnt nur noch einen weiteren konservativen Abgeordneten und den Sekretär der Partei als Helfer während des Wahlkampfs. Schließlich übernahm Helldorff sogar noch die Aufgabe dieses Abgeordneten - die Beaufsichtigung der Parteipresse. Auf diese Weise sollten nicht nur die 30.000 Reichsmark, die der Kanzler für die Finanzierung des "Patrioten" und anderer konservativer Propaganda zur Verfügung gestellt hatte, sondern auch die Behandlung aller wesentlichen politischen Fragen, wie Helldorff es formulierte, "durch meine Hände" gehen. Dabei maßte sich Helldorff allerdings nicht an, die Leitung aller konservativen Aktivitäten gewissermaßen im Alleingang erfolgreich bewerkstelligen zu können. Er meinte, sich keinen Illusionen über die wahre Popularität der Deutschkonservativen Partei im Lande hinzugeben und über die Schwäche ihrer Presse im Vergleich zu dem "Geschick der jüdischen Preßmache" genau im Bilde zu sein. Und er klagte ebenfalls über seinen außerordentlich mühsamen Kampf gegen die Masse der einfachen Anhänger der Partei, die sich, so seine Worte, als "leider unglaublich faul, indolent u. geizig" erwiesen habe. Wie er eingestehen mußte, stand der Hauptteil der Wahlkampfaktivitäten der Partei immer noch unter der Führung "der localen Kreise, die wir zwar anregen, aber nicht durch eigene Leistung ersetzen können". Im Jahre 1882 versuchte Helldorff den organisatorischen Ausbau der Partei weiter voranzutreiben, und während der 1880er Jahre verstärkte er 14 Helldorff an Rantzau, 29. September 1881, in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Otto von Bismarck (Mikrofilm), Bestand A, Nr. 4. 15 Helldorff an Rantzau, 23. August 1881, ebenda. 16 Memorandum, Helldorff an Herbert von Bismarck, o. D. (September 1881), ebenda.

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seine Bemühungen um eine größere Verbreitung der Parteipresse l7 . Trotzdem standen seine Anstrengungen auf beiden Gebieten in augenfälligem Kontrast zu seinem - vorgeblichen - Interesse, mit den Gepflogenheiten der Honoratiorenpolitik zu brechen. Am Ende der 1880er Jahre reduzierte sich seine Führung der Partei in den Augen vieler ihrer Mitglieder ausschließlich darauf, im Reichstag und über die Hintertreppen der Macht um Einfluß zu buhlen - und zwar bei gänzlicher Vernachlässigung aller Aktivitäten an der Parteibasis. Die Ironie dieser Entwicklung liegt darin, daß Helldorffs Kritiker, die Ultras um Hammerstein im preußischen Abgeordnetenhaus, sich selbst noch in weit geringerem Maße den Notwendigkeiten der parteipolitischen Massenmobilisierung zugewandt hatten als Helldorff, der immerhin in den vorangegangenen Reichstagswahlkämpfen wenigstens den Versuch unternommen hatte, die konservative Agitation den Gegebenheiten des allgemeinen Wahlrechts anzupassen. Die paradoxe Mischung aus Halbherzigkeit und politischem Pessimismus, mit der Helldorff versuchte, die konservative Partei in eine neue politische Ära hinüberzuretten, zeigt sich besonders deutlich in einer seiner Reichstagsreden während der Debatten über das Sozialistengesetz im Jahre 1878: "Meine Herren, ... wenn irgend etwas geeignet ist, die Stimmung im Lande zu verderben, die Autorität zu untergraben, so ist es eine allzu häufige Uebung des allgemeinen Wahlrechts. Sie, meine Herren, kommen jetzt alle frisch aus dem Wahlkampf heraus. Ich frage Sie von allen Seiten: haben Sie an dem Wahltreiben rechte Freude gehabt? Ich muß sagen, meine Herren, dieses Treiben, wo jeder mehr oder weniger gezwungen ist, mit den Vorurtheilen der Masse zu rechnen, auf die Leidenschaften zu spekulieren, dieses Treiben ist ein hochgefährliches, und wir haben äußerste Ursache, zu prüfen, ob Mittel dagegen möglich sind" 18.

17 Siehe die " Mitteilungen " des Wahlvereins, 1882 -1885, passim, vorhanden in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz / Berlin; die "Konservative Korrespondenz" (1887 ff.) und das "Deutsche Tageblatt" (1881-1891) sind vorhanden in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin; einige wenige Exemplare von Helldorffs " Konservative(m) Wochenblatt" (1891) finden sich noch in der Bibliothek des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschlands / Berlin. 18 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Legislaturperiode, l. Session 1878, Bd. 1, 37 - 38 (16. September 1878). Über Helldorffs Rolle bei der Revision des Wortlauts des Sozialistengesetzes vgI. die handschriftlichen Ausschußprotokolle und andere Materialien im Bundesarchiv Potsdam, Ol. 01. Reichstag (1867 -1945), Nr. 2865, "Die Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen, Bd. 1, 1878", BI. 114 ff.

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Während der 1880er Jahre nahm das Gewicht der gegen Helldorff agierenden innerparteilichen Opposition beständig zu. Diese Gegenbewegung, die sowohl die Kreuzzeitungspartei um Hammerstein wie die von dem Hofprediger Adolf Stöcker geführte Christlich-soziale Partei umfaßte, setzte es sich zum Ziel, die politische Konzeption Helldorffs gleich in dreierlei Hinsicht grundlegend zu revidieren: Zuerst versuchte man, auch denjenigen Mitgliedern der Partei, die nicht zum engsten Zirkel um Helldorff zählten, einen stärkeren Einfluß auf die Ausrichtung der Parteilinie zu verschaffen. Im allgemeinen war diesen ersten Anstrengungen vor 1892 kein besonders großer Erfolg beschieden. Nichtsdestoweniger müssen diese Versuche zur Durchsetzung von mehr innerparteilicher Demokratie als Teil eines größeren Versuches angesehen werden, der darauf abzielte, aus der konservativen Partei eine "Volkspartei" zu machen. Ein Kritiker, der Helldorffs fehlenden Kontakt zur Masse der Parteibasis bemängelte, stellte zugleich fest, daß es auch innerhalb der übrigen Parteiführung furchtsame Gestalten gab, die ebenso wie Helldorff eine direkte Konfrontation mit Bismarck um jeden Preis zu vermeiden suchten. Aus diesem Grund bestand, so die konsequente Schlußfolgerung dieses Kritikers, keine Möglichkeit, radikale konservative Positionen auf sozialem und religiösem Gebiet im Reichstag zur Geltung zu bringen 19. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nutzten einige der innerparteilichen Dissidenten eine Versammlung des Konservativen Wahlvereins im Frühjahr 1889, um die Einrichtung eines neuen geschäftsführenden Ausschusses zu fordern, der alle Aktivitäten der Partei koordinieren sollte. Für diese Institution waren zunächst neun Mitglieder vorgesehen, von denen, so Helldorffs Forderung, allein fünf aus der (von ihm selbst geführten) Reichstagsfraktion kommen sollten. Doch es gelang der Gruppe um Hammerstein, einen eigenen Plan durchzusetzen: Errichtet wurde schließlich ein Elfer-Ausschuß, dem vier Reichstagsabgeordnete, je drei Mitglieder der beiden Häuser des preußischen Landtages sowie ein Vertreter des Königreichs Sachsen angehörten. Die weniger regierungsfreundlich gesinnten Landtagsabgeordneten wandten sich entschieden gegen Helldorffs dominierenden Einfluß auf die Gestaltung der Parteipolitik. Dieser Wandel kann ebenfalls als Ausdruck einer stärkeren Lebendigkeit und Unabhängigkeit der Aktivisten an der Parteibasis - und ihrer Unzufriedenheit mit der 19 Bei dem betreffenden Parlamentarier handelt es sich um Dr. Arnold von FregeAbtnaundorf, einen führenden Agrarier im Königreich Sachsen, der zusammen mit Helldorff dem Gesamtausschuß des Wahlvereins angehörte. Korrespondenzen aus den Jahren 1880-82, die diese und ähnliche Gegenstände betreffen, finden sich im Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Karl Reichsfreiherr von Fechenbach-Laudenbach, Nr. 28, 38, 91, 124, 70 und 76.

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Stagnation innerhalb der Partei - interpretiert werden 20. Einer der innerparteilichen Kritiker Helldorffs schrieb im Rückblick über die Zeit vor 1892: "Eine konservative Partei im Sinne einer durch das Land reichenden festen Organisation mit Vereinen und Sekretären gab es überhaupt nicht. Es gab nur einen konservativen Verwaltungsapparat und lose Komitees von konservativen Notabeln, fast auschließlich aus Adeligen bestehend. Der jeweilige Regierungswind bestimmte Kurs und Stärke der Partei. Im Grunde war sie nicht konservativ, sondern gouvernemental" 21. Zweitens versuchte die Kreuzzeitungsgruppe, die Konservative Partei auch für andere soziale Schichten attraktiv zu machen. Hier gaben Hammersteins antisemitische Leitartikel in der Kreuzzeitung und die Propaganda der Christlich-sozialen Partei den Ton an für zahllose kleinere Nachrichtenblätter der Deutschkonservativen Partei, besonders in Hessen und Westfalen, aber auch im Königreich Sachsen und in den südwestdeutschen Ländern 22. Diese Organe und die ihnen verbundenen Aktivisten der Partei waren bestrebt, die agrarischen Interessen, die von Helldorff und anderen Rittergutsbesitzern innerhalb der Parteiführung repräsentiert wurden, in den Hintergrund treten zu lassen. Man versuchte, mit der konservativen Botschaft auch die protestantische Arbeiterschaft und den bedrohten Mittelstand zu erreichen. Dies hatte zur Folge, daß die Kreuzzeitung und die von ihr beeinflußte Parteipresse in sehr viel stärkerem Maße antiliberale, antikapitalistische und antisemitische Positionen vertrat als die offizielle "Conservative Correspondenz" und die beiden anderen unter dem Einfluß Helldorffs verbliebenen Parteiorgane, das "Deutsche Tageblatt" und das "Konservative Wochenblatt". Wie Heinrich Engel - einer der schärfsten innerparteilichen Kritiker Helldorffs und Chefredakteur des konservativen "Pastorenblatts" "Der Reichsbote" - feststellte, hatten neue politische Inhalte und neue Formen der Agitation nur als zwei Seiten der gleichen Medaille zu gelten: Beide waren lebenswichtig, wenn die Partei einerseits ihren alten christlich-konservativen Traditionen treu bleiben, andererseits aber auch "neues Blut" gewinnen wollte 23 • Drittens waren Helldorffs Gegner entschlossen, die evangelische Kirche zu einem entscheidenden Faktor ihrer Politik zu machen. In ihrer Sicht waren die traditionellen christliche Grundlagen des deutschEm Konservatismus durch Helldorffs willfährige Unterwerfung unter Bismarcks Realpolitik untergraben worden 24 • Für sie stellte das Konzept eines wiedererstarkVgl. Retallack, Notables of the Right (wie Anm. 3), Kap. 5-6. Hellmuth von Gerlach, Von rechts nach links. Zürich 1937, 131. 22 Über diese regionalen Parteiorganisationen und ihre Presse vgl. James Retallack, Anti-Semitism, Conservative Propaganda, and Regional Politics in Late Nineteenth-Century Germany, in: German Studies Review 11, H. 3 (1988), 377 -403. 23 Der Reichsbote, 16. November 1888. 20 21

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ten, konservativen Volkskirchenturns die natürliche Ergänzung einer konservativen Volkspartei dar. Deshalb sah sich die Kreuzzeitungspartei paradoxerweise veranlaßt, ein Bündnis mit dem katholischen Zentrum zu suchen, um auf diese Weise die Grenzen zu überwinden, die durch Helldorffs Anschluß der Partei an das Kartell errichtet worden waren. Diese Versuche waren in den Jahren nach 1881 ein deutliches Anzeichen für die Instabilität der innerhalb der Partei eigentlich vereinbarten Abgrenzungen nach außen, und Bismarck hatte mehrfach Gelegenheit, hierüber äußerst verärgert zu sein. Allerdings scheiterte die Kreuzzeitungsgruppe mit ihrem Versuch, das christlich-konservative Politikverständnis in einer wirklich grundlegenden Weise zu erneuern. Aus diesem Grund konnte sich Helldorffs pragmatische Strategie vorerst durchsetzen. Der Konflikt flammte jedoch im Frühjahr 1892 unter den Bedingungen einer völlig veränderten politischen Lage erneut auf - und zwar mit weitreichenden Konsequenzen. Als das von der Regierung eingebrachte und vom Zentrum wie von den Ultras der Kreuzzeitungspartei unterstützte - Volksschulgesetz an der mangelnden Unterstützung durch die Nationalliberalen zu scheitern drohte, riet Helldorff dem Kaiser, die Gesetzesvorlage zurückzuziehen, was der Reichskanzler Caprivi auch umgehend tat. Damit hatte sich Helldorff allerdings endgültig zwischen zwei Stühle gesetzt: denn die Nationalliberalen waren nicht gerade sehr angetan von dieser Intervention, und seinen vielen Gegnern innerhalb der Deutschkonservativen Partei war jetzt endgültig klargeworden, daß Helldorff niemals und unter keinen Umständen vom Regierungskurs abweichen würde. Dieser Erkenntnis sollten recht bald die Ereignisse folgen, die schließlich in Helldorffs Rückzug von der Parteiführung gipfelten. Im Frühjahr 1892 konnten die Unterschiede zwischen den Überzeugungen Helldorffs und denjenigen seiner Opponenten kaum deutlicher sein: Während Helldorff auch weiterhin die konservativen Prinzipien der Notwendigkeit, die Reste des alten Bismarckschen Kartells aufrechtzuerhalten, unterordnete, steuerte die Kreuzzeitungspartei bei jeder Gelegenheit in gefährliches Fahrwasser. Und während die übriggebliebenen traditionellen Honoratiorenpolitiker immer noch Helldorffs Gruppe "hoffähiger" politischer "Insider" stützten, waren seine Kritiker fest davon überzeugt, daß sie nur nach seinem Sturz als Parteiführer die Gelegenheit erhalten würden, ihr Ziel zu realisieren, nämlich die Schaffung einer neuen, kraftvollen konservativen Volkspartei auf breitester Basis.

24 Über diese Traditionen und ihre spätere Bedeutung siehe verschiedene Beiträge in: Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, hrsg. v. Larry Eugene Jones j James Retallack. Oxford - ProvidencejRI 1993.

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IV. Helldorffs Mißerfolg bei seinen Bemühungen, der Partei in den 1880er Jahren eine solide organisatorische Basis zu verschaffen, wurde zeitweilig dadurch ausgeglichen, daß es ihm gelang, die Mehrheit der Konservativen davon zu überzeugen, daß die Partei noch "zu jung" und "zu schwach" sei, um außerhalb der Einbindung in das Kartell überleben zu können. Nichtsdestoweniger führte gerade die Verbindung dieser beiden Faktoren dazu, daß Helldorff nach Bismarcks Sturz und der Wahlniederlage des Kartells seiner politischen Schlüsselstellung, die er auf mehreren Ebenen innegehabt hatte, verlustig ging. Mit anderen Worten: Nachdem Bismarck seinen Posten hatte räumen müssen, verwandelte sich Helldorffs einstige Hauptstärke in seine größte Schwäche. Allerdings muß man zwischen Helldorffs Verhältnis zur jeweiligen Regierung und seiner Stellung innerhalb der eigenen Partei genau unterscheiden. Was das erste betrifft, so ist nicht zu übersehen, daß eine Reihe von taktischen Fehlern Helldorffs in den Jahren 1889 und 1890 zu einer Entfremdung zwischen ihm und Bismarck führten. Der wichtigste dieser Fehler bestand in Helldorffs angeblicher Unfähigkeit, Bismarcks wahre Taktik bei der Erneuerung des Sozialistengesetzes im Winter 1889/90 zu erkennen. Aber auch diese Frage kann nur im Kontext der außerordentlich komplizierten Krisensituation dieser Zeit und des sich gerade jetzt neu formierenden Parteiensystems betrachtet werden 25 • Auf jeden Fall darf nicht vergessen werden, daß Bismarcks Rücktritt und der Zusammenbruch des Kartells im Februar und März 1890 Helldorffs Stellung keineswegs sofort erschütterten. Im Gegenteil, der Kaiser und seine engsten Ratgeber schienen von der fast ungebührlichen Hast, mit der Helldorff sein Treueverhältnis gegenüber Bismarck jetzt auf den neuen Reichskanzler Leo von Caprivi übertrug, durchaus angenehm überrascht zu sein. Was die Frage der inneren Entwicklung der Deutschkonservativen Partei anbetrifft, so erscheint die Zäsur von 1890 in einer durchaus neuen Perspektive, gerade wenn man sich die lange Geschichte der - ständig an Stärke zunehmenden - Opposition gegen Helldorff vergegenwärtigt. Viele Jahre nach seinem Sturz schrieb Helldorff 1905 in einem Brief an Hans Delbrück, es sei der größte Fehler in seinem politischen Leben gewesen, den Aufstieg Hammersteins in den Jahren, als dies noch möglich gewesen 25 Siehe u. a. Woljgang Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878-1890. Düsseldorf 1961, 204-238; John C. G. Röhl, The Disintegration of the Kartell and the Politics of Bismarck's Fall from Power, 1887 - 90, in: Historical Journal 9 (1966), 60-89; Helldorffs Rückblick auf diese Jahre findet sich in seinem Aufsatz: Der Fall des Sozialistengesetzes, in: Deutsche Revue 25, H . 1, 4 (1900),273-284,41-43 .

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sei, also zwischen 1881 und 1884, nicht konsequent verhindert zu haben 26. Weil Helldorff in diesen Jahren kein Reichstagsmandat innegehabt und außerdem an den Folgen eines Sturzes vom Pferde gelitten hatte, war er gezwungen gewesen, den Vorsitz des konservativen Wahlvereins zeitweilig an Hammerstein abzutreten. Während dieser Zeit war es Hammerstein gelungen, seine innerparteiliche Hausmacht auch außerhalb des preußischen Abgeordnetenhauses - wo er bereits als der faktische Führer der Konservativen galt - zu erweitern. So erst wurde Hammerstein in die Lage versetzt, nach und nach Strategien für eine langsame Entmachtung Helldorffs innerhalb der Partei auszuarbeiten. Im Jahre 1891 begannen sich immer deutlicher die Auswirkungen von Bismarcks Sturz auf den Machtkampf innerhalb der konservativen Partei zu zeigen 27 • In diesem Jahr unterstützte Helldorff die von Caprivi geplante Einführung einer neuen Landgemeindeordnung, welche die traditionelle patriarchalische Stellung der ostelbischen Rittergutsbesitzer fühlbar einzuschränken drohte. Kleist-Retzow protestierte gegen Helldorffs Verhalten, der sich wie ein gouvernementales Ein-Mann-Komitee aufführe, um die Reform gegen die Wünsche der Mehrheit unter den Konservativen durchzudrücken, und am Ende des Jahres kündigte auch Rauchhaupt dem Vorsitzenden Helldorff seine bisherige Zusammenarbeit mit ihm auf. Hinzu kam noch, daß sich Helldorff im Dezember 1891 zur Unterstützung der Caprivischen Handelsverträge mit Österreich-Ungarn bereit erklärte, wodurch er viele (wenn auch nicht alle) Agrarier im konservativen Lager vor den Kopf stieß. Als ob dies alles noch nicht gereicht hätte, besiegelte Helldorffs uneingeschränkte Loyalität zum Kartell während der Krise um das Volksschulgesetz im Frühjahr 1892 sein Schicksal. Wie es scheint, war Helldorff der letzte, der erkannte, wie prekär seine Stellung innerhalb der Partei inzwischen geworden war. Doch während Hammerstein bereits vermutete, daß Helldorff endgültig jeden Kontakt zur Mehrheit innerhalb der Deutschkonservativen Partei verloren hätte, warf dieser seinem langjährigen Rivalen den Fehdehandschuh hin. Am 4. April 1892 forderte er in seinem "Konservativen Wochenblatt" eine klare Abgrenzung der sich bekämpfenden Fraktionen innerhalb der Partei. 26 Helldorff an Delbrück, 22. Mai 1905, in: Deutsche Staatsbibliothek Berlin. Nachlaß Hans Delbrück; Briefe, "Helldorff-Bedra", BI. 7-8. Helldorff berichtet in diesem Brief auch von dem Bankrott Schwartows und von Hammersteins Rettung durch die finanzielle Unterstützung eines ungenannten Patrons. 27 Hammersteins Kampf mit Helldorff hat sich anschaulich in den Tagebuchaufzeichnungen Theodor Schiemanns niedergeschlagen, des Verfassers der außenpolitischen Wochenschauen für die Kreuzzeitung; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, Nachlaß Theodor Schiemann, Nr. 155. Am 21. März 1891 notierte Schiemann in sein Tagebuch, daß Helldorff nach dem Zusammenbruch des "Deutschen Tageblatts" wohl endgültig zum Schweigen gebracht worden sei, und er vermutete, daß sich Caprivi jetzt um einen modus vivendi mit Hammerstein bemühen werde.

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Der Entscheidungskampf um die Führung der Deutschkonservativen Partei ließ nun nicht mehr lange auf sich warten. Nachdem Helldorff seinen unbedingtesten Gegner Hammerstein herausgefordert hatte, mußte er sehr bald feststellen, daß es sein eigener hochmütiger Führungsstil war, der jetzt alle seine Gegner einte: die Unterstützer des Volksschulgesetzes, die Kritiker des Kartells, die Anhänger einer programmatischen Parteireform und die radikalen Agrarier. Die konservative Presse wurde im April von feindseligen Resolutionen gegen Helldorff geradezu überflutet, und die Mitglieder der konservativen Fraktion im preußischen Herrenhaus legten Helldorff nahe, aus ihren Reihen auszuscheiden. Am 28. April erhielt Helldorff von der konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses die Aufforderung, seine Mitgliedschaft im Dreier-Ausschuß der Partei niederzulegen, und einen Monat später wurde Otto von Manteuffel-Crossen zu seinem Nachfolger im Elfer-Ausschuß bestimmt. Dennoch bleibt festzuhalten, daß Helldorffs Konzept eines gouvernementalen Konservatismus zu diesem Zeitpunkt noch keinesfalls am Ende seiner Möglichkeiten angelangt war. Denn in diesen Monaten entstand eine sichtbare Gegenströmung des Unwillens über die Brutalität, mit der Helldorff aus der Parteiführung herausgedrängt worden war. Nicht wenige einflußreiche Konservative fürchteten eine neue Parteiführung, die unter Umständen eine entschlossene Opposition gegen den Kaiser betreiben oder sich sogar mit radikalen Antisemiten wie Otto Böckel, Hermann Ahlwardt oder Theodor Fritsch verbünden könnte. Doch die im Sommer 1892 plötzlich aufkommende Woge des Antisemitismus in Deutschland überzeugte auch einige bisher eher schwankende Parteimitglieder, daß sich der radikale Tonfall, den die Kreuzzeitung anschlug, doch auf der Höhe der Zeit befand und daß deren antisemitische Botschaft doch eine etwas positivere Aufmerksamkeit verdiente. Überdies stellten immer mehr lokale konservative Vereine die Forderung nach einer - antisemitische Positionen berücksichtigenden - Revision des Parteiprogramms auf. Schon bald war klar, daß Manteuffel seiner Entschlossenheit, mit Helldorffs Hinterlassenschaft zu brechen, und seinem guten Willen nur durch die Einberufung eines Parteitages Ausdruck geben konnte - den abzuhalten Helldorff niemals für klug oder auch nur für notwendig befunden hatte. Während der zweiten Hälfte des Jahres 1892 versuchte Helldorff mit Nachdruck immer wieder, Manteuffel von diesem gefährlichen Schritt abzuhalten. Dabei betonte er mehr als einmal, daß Demagogen und Radauantisemiten niemals die praktische Parteiarbeit durch erfahrene Parlamentarier (womit er Politiker wie sich selbst meinte) ersetzen könnten. Im Gegenteil: der unter den Aktivisten an der Basis herrschende "Mangel an Disziplin" würde die Partei unweigerlich ins "Chaos" führen; ein groß aufgezogener Parteitag könnte niemals jenem "Expertenwissen" Gehör

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verschaffen, das auf der Erfahrung jahrelanger parlamentarischer Tätigkeit beruhe 28. Am 8. Dezember 1892 schließlich hielten die Konservativen ihren langerwarteten allgemeinen Parteitag in den Räumen der Berliner Tivoli-Brauerei ab 29 • Im Gegensatz zur Auffassung der bisherigen Forschung muß betont werden, daß dieser Kongreß eine deutliche Zäsur in der Geschichte des deutschen Konservatismus darstellt, und zwar nicht nur wegen der hier diskutierten und verabschiedeten antisemitischen Programmelemente, sondern vor allem auch deshalb, weil sich hier in breiter Front der Aufstand gegen Helldorffs zurückhaltenden Politikstil vollzog. Zwei Hauptaspekte der Tagung verdienen hervorgehoben zu werden. Zum einen handelte es sich hierbei um den ersten gut besuchten und auch gut dokumentierten Parteitag in der Geschichte der Deutschkonservativen Partei. Wie Stöcker später notierte: "Es war kein Parteitag im schwarzen Frack und weißen Glacehandschuhen, sondern im Rock. Es war die konservative Partei unter der Geltung des allgemeinen gleichen Wahlrechts" 30 . Im Zusammenhang dieser Feststellung ist auch eine der aufschlußreichsten Äußerungen, die während des Kongresses fielen, zu verstehen. Nachdem er sich selbst als "Mann aus dem Volk" vorgestellt hatte, erklärte der sächsische Kaufmann Eduard Ulrich aus Chemnitz bereits am Beginn der Tagung, daß die Deutschkonservative Partei "ein wenig mehr ,demagogisch'" werden müsse. Allerdings fällt auf, daß die " Demagogie" , in der Ulrich das Mittel zur Rettung der Partei sehen zu können glaubte, mehr mit der Überwindung der mit dem Namen Helldorff assoziierten verstaubten Honoratiorenpolitik zu tun hatte als mit irgendeiner Form des Judenhasses: "Meine Herren, das muß heute unsern verehrten Führern gesagt werden: die konservative Partei will eine Volkspartei sein; sie will deshalb auch nicht, daß mit den Redensarten von ,Demagogie' allzu sehr um sich geworfen wird. Es ist heute bei den führenden Kreisen in der konservativen Partei Sitte, daß alles, was aus dem Herzen kommt, was sich aus dem Herzen in klaren Worten auf die Zunge drängt, alles, was das Volk begeistert, sehr leicht mit der Redensdart ,demagogisch' abgefertigt wird. (Sehr richtig!) - Ich möchte unsere verehrten Abgeordneten bitten, daß sie ein 28 Z. B. im Konservativen Wochenblatt, 18. Juni, 7. November und 5. Dezember 1892. 29 Für das Folgende siehe: Stenographischer Bericht über den Allgemeinen konservativen Parteitag. Abgehalten am 8. Dezember 1892 zu Berlin, hrsg. vom Wahlverein der Deutschen Konservativen. Berlin 1893; vgl. Retallack, Notables of the Right (wie Anm. 3), Kap. 7, und Retallack, Conservatives contra Chancellor: Official Responses to the Spectre of Conservative Demagoguery from Bismarck to Bülow, in: Canadian Journal of History 20 (1985), 203 -236. 30 Aus einer Rede Stöckers, gehalten in Bielefeld am 28. Februar 1893; zitiert in: Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, 2. Auf!. Hamburg 1935, 233 .

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wenig mehr ,demagogisch' - aber nicht etwa im schlechten Sinne, sondern im guten Sinne - werden (Bravo!) - Es ist notwendig, daß sich die Führer unserer Partei angewöhnen, mehr den Volkston zu treffen" 31. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden; daß antisemitische Agitatoren kein leichtes Spiel hatten, sich gegen Helldorffs Bemühungen um eine Distanzierung vom pöbelhaften Radauantisemitismus durchzusetzen. In den Entwurf des Parteiprogramms hatten Manteuffel und die Parteiführung die Klausel eingefügt: "Wir verwerfen die Ausschreitungen des Antisemitismus". In der Beurteilung dieser Formulierung zeigte sich die Partei tief gespalten; erst als aus dem Publikum Drohungen laut wurden, die Tagung zu unterbrechen (wenn nötig sogar mit Gewalt), gestattete Manteuffel eine Aussprache über diese Klausel, die schließlich nach äußerst heftiger Debatte aus dem Entwurf herausvotiert wurde. Nun konnte der Sprecher der Kreuzzeitungsgruppe erklären, die Deutschkonservative Partei habe sich jetzt das Recht erworben, die antisemitische Bewegung so zu führen, daß die Ausschreitungen des Antisemitismus aufhören und daß die "Schwarmgeister [unter den Antisemiten, J. R.] nicht zur Herrschaft kommen" würden 32. Insofern gehörte zu den wichtigsten Merkmalen des Tivoli-Parteitages die Abneigung der Parteiführung, sich mit dem Radauantisemitismus zu identifizieren, - und ebenso ihr entschlossener Versuch, die antisemitische Demagogie einzudämmen. Wie Manteuffel in seiner Eröffnungsrede und auch bei späterer Gelegenheit erklärt hatte, dürfe die jüdische Frage nicht unbeachtet bleiben, andernfalls müßten die Konservativen die wichtigste der brennenden Zeitfragen den radikalen Antisemiten überlassen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, daß Helldorff, der selbst am Parteitag nicht teilnahm, keinerlei Resonanz mit einem Aufruf erzielen konnte, den er und zwanzig weitere Reichstagsabgeordnete an den Tivoli-Parteitag gerichtet hatten 33. In dieser Resolution versuchte Helldorff das neue Programm nur als eine Meinungsäußerung zu gegenwärtigen Interessen und Problemen hinzustellen. Sein klares Ziel bestand in der Beibehaltung des Programms von 1876, an dessen Formulierung er beteiligt gewesen war. Im "Konservativen Wochenblatt" hatte Helldorff hierzu festgestellt: "Zwei Programme, etwa eins für den Sommer und eins für den Winter, können wir doch nicht haben". Doch sein Appell wurde zurückgewiesen. Das neue Programm, das von den Delegierten der Deutschkonservativen Partei am 8. Dezember 1892 angenommen wurde, blieb bis zum Untergang der Partei im Jahre 1918 in Kraft. Stenographischer Bericht (wie Anm. 29), 12. Aus der Rede des Führers der westfälischen Konservativen (und StöckerAnhängers) Dr. August Klasing, in: ebenda, 17. 33 Resolution vom 6. Dezember 1892, abgedruckt in: ebenda, 21. 31

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v. Der Tivoli-Parteitag bedeutete, wie sich zeigen sollte, den Höhepunkt, keineswegs nur die erste Welle der Siege der Kreuzzeitungsgruppe innerhalb der Deutschkonservativen Partei. Denn nachdem es einigen unabhängigen Antisemiten gelungen war, eine Reihe von Schlüsselwahlkreisen der Konservativen bei den Reichstagswahlen im Oktober 1893 zu erobern, kamen nicht wenige Konservative zu der Ansicht, daß Helldorff mit seinen Warnungen vor pöbelhafter Demagogie Recht behalten hatte 34. Zudem trieben in den Jahren 1895 und 1896 ein Finanzskandal sowie die Preisgabe christlich-sozialer Reformideen Hammerstein und Stöcker aus der Partei heraus. Erstaunlicherweise befanden sich auch jetzt noch viele Konservative im Unklaren darüber, ob sie ihre Partei nun als "konservative Hofpartei" oder als "konservative Volkspartei" ansehen sollten 35. Doch es gab immer noch konservative Aktivisten, die an ihrer Kritik am "heimlichen Opportunismus" und an der "verrückten Idee des Kartells", also den beiden Ecksteinen von Helldorffs Erfolg vor 1890, festhielten. Und nach der Gründung des Bundes der Landwirte im Februar 1893 zeigte sich sehr schnell, daß Wahlsiege, parlamentarischer Einfluß und merkbare Erfolge auf dem Gebiet der Propaganda nur unter der Voraussetzung einer entschieden oppositionellen Haltung und Politik der Konservativen möglich waren 36. Helldorff war niemals mehr in der Lage, seine einflußreiche Position, die er in den 1870er und 1880er Jahren innegehabt hatte, zurückzugewinnen obwohl es an Versuchen dazu nicht fehlte. Wie seine Korrespondenz mit Fürst Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, dem Freund und Berater des Kaisers, zeigt, versuchte Helldorff vor und auch nach dem Tivoli-Parteitag, mit Hilfe seiner Verbindungen zum Hof die Opposition innerhalb der Konservativen Partei einzudämmen. Und hierbei konnte er zeitweilig beträchtliche Erfolge erzielen. Philipp Eulenburg beispielsweise war ausgesprochen erleichtert, als Helldorff den Vorsitz der konservativen Reichstagsfraktion im Dezember 1890 erneut übernehmen konnte, nachdem er im Zuge einer Nachwahl wieder ins Parlament gekommen war. So schrieb er an die 34 Helldorff war zu keiner Zeit formal aus der Deutschkonservativen Partei oder aus dem konservativen Wahlverein ausgeschlossen worden; ein Beobachter notierte nach dem Tivoli-Parteitag, daß ein solcher Schritt auch die übrigen zwanzig Mitglieder der konservativen Reichstagsfraktion veranlaßt haben könnte, ebenfalls auszutreten; Bericht vom 10. Dezember 1892, Sächsischer Gesandter Wilhelm Graf von HohenthaI und Bergen, Berlin, an das Sächsische Außenministerium, Dresden, in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Außenministerium (Gesandtschaft Berlin), Nr.3302. 35 Süddeutsche Landpost, o. D.; zitiert in: Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbilder und Zeitgeschichte, 2 Bde. Berlin 1910, Bd. 2, 386. 36 Vgl. Retallack, Notables of the Right (wie Anm. 3), Kap. 8-9.

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"graue Eminenz" im Auswärtigen Amt, Friedrich von Holstein: "Männer wie Helldorff sind jetzt unbezahlbar, und er wird hoffentlich mit Erfolg gegen eine eventuell eintretende Dickköpfigkeit der Konservativen Sturm laufen" 37. Doch es sollte sich schließlich herausstellen, daß die Mittel zur Beeinflussung der königlichen Gunst nicht mehr ausreichten, um Helldorffs Stellung als konservativer Parteiführer zu sichern. In diesem Sinne bemerkte Holstein illusionslos in einem Schreiben an Eulenburg im Mai 1891: "Helldorff wird von den Anhängern von Bismarck und Waldersee ... mit äußerster Erbitterung verfolgt, wegen seiner Beziehungen zum Kaiser. Der Kaiser, wenn er Anhang haben will, muß seine Freunde erheben und seine Gegner zurückschieben. Deshalb rate ich entschieden, Helldorff zum Oberpräsidenten von Sachsen zu machen" 38. Helldorff selbst war bemüht, die Wichtigkeit seiner eigenen Rolle als mäßigende Kraft innerhalb der konservativen Politik bei jeder sich bietenden Gelegenheit herauszustreichen. Aber die Antworten derjenigen, mit denen er während der Parteikrise korrespondierte, zeigen, daß er mit seinen Warnungen vor den weiteren Folgen eines Sieges der Kreuzzeitungsgruppe für die Konservative Partei durchaus den richtigen Ton angeschlagen hatte. Sehr aufschlußreich in diesem Zusammenhang dürfte ein längeres Zitat aus einem Brief Helldorffs an Eulenburg vom Mai 1892 sein, das zeigt, in welch geschickter Weise er eine Mischung aus persönlicher Beleidigung über die Taktik seiner Gegner, aus einer geradezu sykophantischen Bettelei um Unterstützung und aus realistischer Abschätzung der künftigen konservativen Politik einzusetzen verstand, um den Kaiser zu überzeugen, daß ein Wink von ihm "der Regierung festen Kurs zeigen und die konservative Partei wieder in Ordnung bringen" würde: "Jene Gruppe Hammerstein-Stöcker, getrennt in ihren Zielen, geeinigt nur in gleicher Feindschaft gegen die von mir getriebene Politik, nach wie vor gemißbraucht von Bismarck und Genossen für die persönlichen Zwecke - arbeitet nach wie vor in gewohnter Mißachtung des ersten Gebotes der Wahrhaftigkeit. - Die Gruppe der abhängigen Leute, die Beamten etc., die nach dem Winde sehen, halten sich zurück und temporisieren. ... Man verbreitet erlogene Geschichten, daß ich mich der Gunst Sr. Majestät gerühmt, mich als Mentor geriert habe etc. etc. Die Haltung der Masse [der Partei] ist schwankend und ungewiß - man hält es für möglich, daß Seine Majestät mit der Kreuzzeitungsrichtung gehen - oder eine Restauration Bismarcks ins Auge fassen könnte.

37 Philipp Eulenburg an Holstein, 25. Dezember 1890, in: Philipp Eulenburgs Politische Korrespondenz, hrsg. v. John C. G. Röhl, 3 Bde. Boppard a. Rh. 1976-83, Bd.1,617. 38 Brief vom 23. Mai 1891, in: ebenda, Bd. 1, 683.

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Ich bedauere lebhaft, daß diese Frage sich teilweise an meine Person knüpft .... - Aber die Sache - die Entwicklung der konservativen Partei, hat ein großes auf lange maßgebendes Interesse für die Schicksale des Reichs, und für die Monarchie. Die Gestaltung der ganzen Parteiverhältnisse ist von ihr beeinflußt. - Ob die Mittelparteien nach links gravitieren oder eine starke monarchische Rechte verstärken - die Gesundung unserer sozialen Verhältnisse ermöglichen - das entscheidet sich vielleicht durch die Entwicklung der konservativen Verhältnisse in diesem Moment .... Ich bin für meine Person nur ein Instrument, und wünsche nicht mehr zu sein, zur Sammlung der vernünftigen konservativen Elemente - zur Scheidung derselben von dem kopflosen Demagogenturn, welches halb römischen Zielen, halb der Sozialdemokratie dient" 39. Nach dem Tivoli-Parteitag erfuhren Helldorffs Formulierungen in seinen Briefen an Eulenburg eine deutliche Zuspitzung: "Man hat die antisemitische Bewegung wahrhaft genial benutzt", schrieb Helldorff, "und der Schlußeffekt im Parteitag vom 8. Dezember ist die Kapitulation der konservativen Partei, vor dem Mob" 40. Helldorff bemühte sich sogar, Eulenburg eilfertig zu versichern: "Ich bin ebensowenig ein Freund der Juden; wie aussichtlich Sie und alle meine Freunde". Doch stets erneut versuchte er einen direkten Zusammenhang zwischen der gegen ihn selbst gerichteten Hammerstein-Stoecker-Kampagne, dem nicht abzuschätzenden Kurs der Konservativen Partei und der größeren Bedrohung der Ordnung in Deutschland herzustellen: "Wir stehen vor einer erschreckenden Verwilderung der öffentlichen Stimmung.... Jetzt wird von dieser antisemitischen Richtung ein Raubbau getrieben ohne gleichen, die Leidenschaften niedrigster Art entfacht - und alle wahrhaften Fundamente von gesellschaftlicher Ordnung, der Krone, des Reiches auf das schwerste gefährdet.... [S]o dürfen wir nicht erwarten, daß die Massen seiner Zeit vor dem Rittergut und in letzter Instanz vor der Krone Halt machen. - Von Stahl und Stoecker, und über Stoeckers Schatten steigt schon Ahlwardt herauf! - Die Gefahr ist größer, als man glaubt, - und daß diese Bewegung schließlich die sichere Vorfrucht der Sozialdemokratie ist - macht sie zu einer Gefahr, nicht geringer als diese. - ... Zürnen Sie nicht, daß ich so lang bin, aber mir ist das Herz voll".

39 Brief vom 23. Mai 1892, in: ebenda, Bd. 2,876-877. Eine ausführliche Darstellung dieser Zusammenhänge siehe bei Retallack, Conservatives contra Chancellor (wie Anm. 29), passim. 40 Diese und die folgende Passage findet sich in Helldorffs Brief an Eulenburg vom 11. Dezember 1892, in: ebenda, Bd. 2, 988-991. Die in diesem Band nachfolgend abgedruckte Korrespondenz zwischen den führenden Beratern Wilhelms II. zeigt, daß Helldorffs Verteidigung zwar ein positives Echo fand, aber keinerlei praktische Wirkungen mehr hervorrief.

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Im Frühjahr 1894 wurde es Helldorff klar, daß die Chancen für eine Rückgewinnung seiner einstigen Position auf Null gesunken waren. In dieser Zeit schrieb er an Hans Delbrück: "Für mich ist die Frage nur die, ob ich mit einem persönlichen Hervortreten etwas nützen kann .... Hier ist das entscheidende: wirkt ein Wort von mir auf die Konservative Partei? und nach reichlicher Prüfung beantworte ich sie mit Nein! ... Wir sind im Höhepunkt der Erregung, wie des Terrorismus ... , [und] ich bin von einer gewissenlosen und jeder Wahrheitsliebe baaren Presse so diskreditirt daß ich jetzt eher einen gegentheiligen Effekt voraussehe" 41. In seinen späteren Lebensjahren blieb Helldorff nichts anderes mehr übrig als der stille Rückzug auf Schloß Bedra. Er versuchte zwar immer noch, seine Handlungsweise in Briefen an Freunde oder in gelegentlichen Zeitschriftenartikeln zu verteidigen 42. Doch die meisten seiner früheren politischen Verbündeten neigten jetzt dazu, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Denn seit Mitte der 1890er Jahre, im Zeitalter der Massenpolitik, war sein begrenztes und unflexibles Konzept konservativer Politik nicht mehr zeitgemäß. Bis zu seinem Tod am 10. März 1908 konnte er es nicht verwinden, daß er 1892 so rüde aus der Parteiführung herausgedrängt worden war und daß die Deutschkonservative Partei seitdem im oppositionellen Fahrwasser segelte, das er stets zu vermeiden versucht hatte. (Aus dem Englischen übertragen von Hans-Christof Kraus)

41 Helldorff an Delbrück, 31. März 1894, in: Deutsche Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Delbrück, Briefe "Helldorff", BI. 1- 3. 42 Siehe z. B. Otto von Helldorjf-Bedra, Die heutigen Konservativen in England und Deutschland, in: Deutsche Revue 22/ III-IV (1900), 285 -307, 57 -82.

Ein aussichtsloser Kampf um die innere Einheit Deutschlands Adolf Stoecker (1835-1909) Von Klaus Motschmann I. Der verpaßte Kairos von 1871 "Der Hofprediger Stoecker gehörte zu den Menschen, denen gegenüber niemand eine mittlere Stellung einnahm. Haß oder Liebe - ein Drittes gab es nicht. Kein Wunder. Er war ein Kerl. Man konnte ihn in den Himmel erheben oder in die Hölle verdammen - aber gleichgültig ließ er keinen." 1

Mit dieser präzisen Charakteristik hat Hellmuth von Gerlach, der langjährige politische Weggefährte Stoeckers, die Schwierigkeiten benannt, die auch heute noch - und heute besonders - einer um Objektivität bemühten Darstellung des kirchlichen und politischen Wirkens einer der markantesten Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus entgegenstehen. Sie gehen weit über die allgemeinen Probleme der "Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis" im Sinne Max Webers hinaus, weil die inzwischen ohnehin verdächtige Scheidung von "Wissen und Wertung" in diesem Falle offensichtlich ganz besonders schwierig ist. Stoecker selber hat zu dieser Polarisierung in der Auseinandersetzung um seine Wirksamkeit maßgeblich beigetragen, und zwar bewußt. Eine "mittlere Stellung" gab es für ihn nicht, sondern nur das harte, entschiedene "Entweder - Oder", das keine Kompromisse, aber auch keine Mißverständnisse ermöglichte. In diese Entscheidung hat Stoecker nicht nur seine Zeitgenossen gezwungen, und damit Scheidungen herbeigeführt; in diese Entscheidung z,:"ingt uns Stoecker auch heute noch. Dabei sollte allerdings ein wesentlicher Unterschied beachtet werden: So sehr berechtigte Bedenken gegen diesen gesinnungsethisch motivierten Grundsatz als konkrete "Anleitung zum Handeln" in Politik und Gesellschaft akzeptiert werden müssen, so wenig hinsichtlich der wissenschaftlichen Würdigung. Es ist dringend daran zu erinnern, was Max Weber in diesem Zusammenhange bemerkt hat:

1 Hellmuth von Gerlach, Erinnerungen eines ,Junkers', VII. Stoecker, in: Die Weltbühne, 20. Jg., 1924, 693-697.

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"Die ,mittlere Linie' ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit als die extremsten Parteiideale von rechts oder links. Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter aufgehoben als da, wo man unbequeme Tatsachen und die Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will. - Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Erkennen und Beurteilen und die Erfüllung sowohl der wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen, als der praktischen, für die eigenen Ideale einzutreten, ist das, woran wir uns wieder stärker gewöhnen wollen." 2

Stoecker hat sich zur Vermeidung von Mißverständnissen in der politischen Auseinandersetzung, worauf er stets besonderen Wert legte, ausdrücklich als ,,70-er" bezeichnet und damit seinen Gegensatz zu den vielzitierten 48-ern markiert. Er resultierte weniger aus dem Widerspruch gegen die leitenden Ideen der 48-er als aus der schmerzlich empfundenen Tatsache, daß sich die Hoffnungen der Aufbruchzeit von 1813/1817 nicht erfüllt haben. Nicht nur dies! "Eine argwöhnische Politik, eine unfreie Kirche, eine idealistische Philosophie, die in Materialismus umschlug, eine eindringende Naturwissenschaft, die nur zu oft Gott und den Geist leugnete: dies alles, verbunden mit einer unübersehbaren Entwicklung des Verkehrslebens, hat während einer fünfzigjährigen Friedenszeit voll Erfindungen und Entdeckungen in unserem Volke eine Weltanschauung großgezogen, welche die besten Errungenschaften der deutschen Geschichte zu zerstören droht, den evangelischen Glauben und die protestantische Gewissenhaftigkeit. - Schon triumphieren die Gegner des christlichen Geistes und bestellen für die Kirche, die sie totsagen, das Begräbnis; teilnahmslos stehen die Indifferenten am Wege und werden höchstens durch das Wetterleuchten des Sozialismus aus ihrem Geistesschlafe aufgeweckt. Die gläubigen Christen aber, kleine Häuflein gegenüber der Menge des Unglaubens, schauen zum Teil hoffnungslos in das Chaos der deutschen Entwicklung und wagen kaum noch zu hoffen, daß die Stimme: Es werde Licht! das Dunkel wieder durchdringen könnte. Eben dieser Hoffnungslosigkeit möchte ich wehren." 3 Mit diesen Worten hat Stoecker nicht nur Weg und Ziel seiner öffentlichen Wirksamkeit in Kirche und Politik beschrieben, sondern auch den Weg, der ihn zu dieser Erkenntnis aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen, weniger aus der wissenschaftlichen Reflexion, geführt hatte. Stoecker entstammte einem typisch protestantisch-preußischen Milieu, er wurde 1835 als Sohn eines Wachtmeisters in Halberstadt geboren, das ihn nachhaltig prägte, gleichzeitig aber auch für die sozialen und politischen 2 Max Weber, Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber - Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart 21956, 193 f. 3 Adol! Stoecker, Christlich-Sozial - Reden und Aufsätze. Berlin 21890, 135.

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Probleme der entstehenden Massengesellschaft sensibilisierte, mit denen er in seiner ersten Gemeinde in Hamersleben konfrontiert wurde. Der Prozeß der Entkirchlichung und Entfremdung des christlichen Glaubens, den er in dieser sozialen Umbruchsituation erlebte, irritierte ihn weniger als die Indifferenz, ja Hilflosigkeit, mit der die Kirche auf diese große Herausforderung reagierte. Vor dem Hintergrund einer relativ kurzen pfarramtlichen Tätigkeit muß der Enthusiasmus verstanden werden, mit dem Stoecker den gleichzeitigen Prozeß der nationalstaatlichen Einigung begrüßte. Bereits 1866 hatte er geschwärmt: "Die Energie unserer Truppen ist ein wahre Herzstärkung in unserer faulen Zeit." 4 Als dann der Krieg von 1870 ausbrach, konnte er "weinen und wieder jubeln, daß endlich der alte Traum Barbarossas erfüllt" ist. 5 Es entsprach dem Naturell dieses tatendurstigen Mannes, daß es ihn zur unmittelbaren Mitwirkung in das Zentrum des Geschehens drängte. Es genügte ihm nicht, in seiner Heimatgemeinde Kriegsgebetsstunden zu halten und den Fortgang der Ereignisse in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung zu kommentieren. Er bewarb sich deshalb unmittelbar nach Kriegsausbruch auf eine Feldpredigerstelle nach Metz, auf die er im Oktober 1870 nach einigen Einstellungsgesprächen, bei denen seine Artikel in der erwähnten Kirchenzeitung erhebliche Beachtung fanden, und einer Probepredigt aus einem Kreis von 260 (!) Bewerbern berufen wurde. "Das ist ein richtiger Soldatenpastor" war das einhellige Urteil nach seinem ersten Auftreten. Zum Verständnis der Persönlichkeit Stoeckers und seines weiteren Werdeganges sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß er von seiner Gemeinde Hamersleben wegen erheblicher Differenzen mit dem Patron und einem Teil der Gemeinde über die von Stoecker praktizierte Kirchenzucht und seine Methoden der Reaktivierung des erschlafften Gemeindelebens "in offenem Konflikt" 6 Abschied nahm. Es war eine der zahlreichen weiteren bitteren Enttäuschungen, die aus Täuschung bzw. aus optimistischer Überschätzung der Möglichkeiten eines erfolgreichen kirchlichen Wirkens in der zunehmend säkularisierten Massengesellschaft resultierten. Aus jeder Enttäuschung erwuchs jedoch aus einer unerschütterlichen Glaubenszuversicht der Ansporn zu einem neuen Wirken auf einer nächsten, möglichst einflußreicheren Ebene, um die christliche Antwort auf die säkularen Herausforderungen zu finden.

4 Übernommen von Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung. Berlin 1928, 32. 5 Ebd. 6 Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker - Lebensbild und Zeitgeschichte, 2 Bde. Berlin 1910, Bd. 1, 82.

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Klaus Motschmann ß. Enthusiasmus während des Krieges 1870/71

und nach der Reichsgründung

Die Kriegspredigten und Ansprachen Stoeckers, die weite Beachtung fanden und auch vom Kaiser gelesen wurden, waren ganz und gar von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfüllt, die das ganze Volk erfaßt hatte, bis weit hinein in die sozialistischen Parteien. Man lese dazu einmal die Artikelserie über den Verlauf des Krieges in der Pall Mall Gazette von Friedrich Engels im Vergleich zu Stoeckers Artikelserie in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung, die eine erstaunliche Übereinstimmung in der Beurteilung des Krieges erkennen läßt. 7 Dennoch hatte diese Kriegsbegeisterung einen ganz anderen Grund und insofern nichts mit den Klischeevorstellungen eines chauvinistischen Taumels zu tun. Es war Enthusiasmus im ursprünglichen Wortsinne: eine unmittelbare "Gotterfülltheit" bzw. "Gottbegeisterung" aus der Erfahrung des direkten Eingreifens Gottes in den Lauf der Geschichte - nicht allein, um den Deutschen den Weg zur nationalen Einheit zu weisen, sondern den Weg der Umkehr von den eigenmächtig gewählten Zielen säkularer Weltgestaltung. In diesem Sinne verstand Stoecker den Krieg als einen " Kairos " , als das Zeichen und den Zeitpunkt sinnerfüllter, weil von Gott bestimmter Zeit, als "Heimsuchung" und als "Bußruf" zu radikalem Sinneswandel: "Plötzlich erscheint kometengleich der Krieg, wirft all die Einbildungen eines selbstzufriedenen Zeitalters über den Haufen und erinnert wieder an die alte Erkenntnis des Königs David: Gott allein ist mächtig. Es ist demütigend für die christliche Menschheit, daß auch sie, wie die Luft durch ein Gewitter, hin und wieder durch den Krieg gereinigt werden muß. - Wie mit einer inneren Notwendigkeit mahnt die Majestät des Krieges an die Majestät Gottes, mahnen die Entscheidungen des Sieges an den allgewaltigen Richter. Aus dieser Erhebung des Lebens fließt die höhere Sittlichkeit wie die kräftigere Religiosität." 8

Die theologische Problematik dieser Geschichtstheologie und dieser Art von Gotteserfahrung kann im Rahmen dieser Darstellung nur angedeutet, aber nicht behandelt werden. Hier soll der Hinweis genügen, daß Stoecker in dieser Zeit keinesfalls unter dem Eindruck einer allgemeinen Stimmung stand, sondern die sein Leben bestimmende Erfahrung des "Herrn der Geschichte" machte, aus der er die "Anleitungen zum Handeln" in Kirche, Politik und Gesellschaft ableitete. Die heute martialisch anmutenden Bilder dieser Kriegstheologie sollten den Blick nicht dafür verstellen, daß sie eine sehr eindringliche Warnung vor aller menschlichen Hybris, vor einer Entartung berechtigter Sehnsüchte eines Volkes enthielten, auch des aufkom7 Vgl. dazu im einzelnen Friedrich Engels, Über den Krieg, in: Kar! Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW). Berlin (Ost) 1956 ff., Bd. 17, 9 ff. 8 Adol! Stoecker, Der religiöse Geist in Volk und Heer während des französischen Krieges (wie Anm. 3), 141.

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menden Nationalismus, für den Napoleon, der "dämonische Sohn Frankreichs", als abschreckendes Bild herangezogen wurde. Eine Verheißung für die Zukunft Deutschlands konnte für Stoecker allein darin liegen, wenn dieser Bußruf Gottes gehört und verstanden wird, vor allem von den in Kirche und Staat Verantwortlichen. Nur dann werden sich die schrecklichen Opfer des Krieges, denen Stoecker in den Lazaretten und auf den Kriegerfriedhöfen begegnet ist und die er eindringlich geschildert hat, in Segen für das ganze Volk verwandeln, so daß aus dem "Schlachtfeld des Krieges ein Ackerfeld des Reiches Gottes" werden kann. 9 Ins Politische gewendet: Die äußere Einheit des deutschen Kaiserreiches konnte für Stoecker nur dann die Erfüllung der jahrhundertelangen Sehnsucht der Deutschen sein, wenn sie durch die innere Einheit auf der Basis der göttlichen Gebote und Ordnungen vollendet würde. Alles komme darauf an, sich an der "Spur Gottes von 1517 bis 1871" zu orientieren. Tatsächlich schien es so, daß ein religiöses Erwachen durch das ganze Heer und Volk ging. "Ein Korpsgeist der Religiosität durchdrang alle Reihen" 10, stellte Stoecker mit Dankbarkeit fest - und zwar nicht nur bei den Protestanten, sondern auch bei den Katholiken und Juden (woran im Laufe der weiteren Darstellung im Zusammenhang mit Stoeckers Antisemitismus noch zu erinnern ist). Für Stoecker war dieses sichtbare gemeinsame religiöse Empfinden ein Zeichen der Verheißung, daß die Zeit des "glaubenslosen Materialismus" vorüber und die Zeit eines "lebendigen christlichen Glaubens" aus der Rückbesinnung auf die drei großen "Revivals" des deutschen Volkes - Reformation, Pietismus, Freiheitskriege - angebrochen sei; allerdings nicht im Sinne der politischen Romantik, sondern in einer auf die Zukunft gerichteten Auseinandersetzung mit dem Säkularismus des 19. Jahrhunderts, worunter Stoecker alles subsumierte, was nicht christlich bzw. religiös war. Es war seine politische Überzeugung, daß durch die damalige (wie alle) Zeit hindurch nur "ein einziger Konflikt geht: entweder christliche Anschauung oder nicht" und daß die Lösung der politischen und sozialen Nöte ohne die "Wiederbefestigung der christlichen Weltanschauung" nicht geheilt werden können. 11 ill. Erste Enttäuschung: Keine Entfaltung der Ansätze einer religiösen Erneuerung

Stoecker mußte allerdings schon sehr bald erkennen, daß er die Möglichkeiten einer umfassenden religiösen Erneuerung als Voraussetzung der politisch-sozialen Ausgestaltung des neuen deutschen Reiches erheblich Ebd., 135. Ebd., 139. 11 Adol! Stoecker, Reden im Reichstag, hrsg. von Reinhard Mumm. Schwerin 1914, 34. 9

10

14 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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überschätzt hatte. Nach eigenem Urteil wurde er aus der "Triumphstimmung" der äußeren Vollendung der deutschen Einheit durch die "BebelLiebknechtschen Deklamationen" aufgeschreckt. Dazu sollte bedacht werden, daß die ablehnende Haltung Bebeis und Liebknechts tatsächlich bis weit hinein in die sozialistischen Parteien Irritationen ausgelöst hat und von Marx und Engels scharf verurteilt worden ist: "Die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen zu wollen, weil sie ihm nicht gefällt, ist Blödsinn. Aber wir kennen ja unsere Mustersüddeutschen. Mit den Narren ist nichts aufzustellen." 12 Allerdings wurde Stoecker sehr viel stärker als durch die "Bebel-Liebknechtschen Deklamationen" durch die unzureichenden Reaktionen der politisch und kirchlich Verantwortlichen auf diese das junge Reich bedrohenden Herausforderungen beunruhigt. "Es kann doch keine gute Verfassung sein, die solchen Halunken erlaubt, ihren Hochverrat dem jugendschönen Germanien in das Gesicht zu speien." 13 Es gehörte für Stoecker zu den absoluten "Unbegreiflichkeiten", daß sich die sozialistische Bewegung in Deutschland ohne nennenswerten Widerstand zu einer maßgebenden politischen und sozialen Bewegung entwickeln konnte. Im wesentlichen erklärte Stoecker diese Tatsache aus dem Versäumnis der evangelischen Kirche, was aus ihrer besonderen rechtlichen Stellung zu erklären, aber nicht zu rechtfertigen war: "Sie ist des Kampfes gänzlich entwöhnt. Sie hat sich ein scheinbar sehr christliches, in Wirklichkeit aber sehr bequemes System zurechtgemacht, wonach ihre Glieder nur Liebe üben sollen. Daß Christus gegen die Parteien der Pharisäer und Sadducäer einen öffentlichen Kampf führte, der ihn binnen drei Jahren an das Kreuz brachte" 14, das wird vergessen. Dieser notwendige Kampf zur Vollendung der äußeren, staatsrechtlichen Einheit durch die Herstellung der inneren, nationalen Einheit, Stoecker sprach gelegentlich von der "Vollendung des Evangelischen Reiches deutscher Nation", konnte mit Aussicht auf Erfolg nur von einer Kirche geführt werden, die von allen Bindungen an den Staat frei war. Eben in dieser Bindung an den Staat lag ja einer der Gründe des Versagens des deutschen Protestantismus, insbesondere nach der religiösen und nationalen Erwekkung von 1813/1817, daß die von Gott geschenkten Chancen des Neuanfangs nicht erkannt, geschweige denn genutzt worden sind, so daß die Botschaft des lebendigen Evangeliums und der Reformation immer wieder zu "starren Glaubensartikeln und unduldsamen Staatskirchen versteinerte." 15 Die folgerichtige Konsequenz war das Aufkommen und die allmähli12 13

14 15

Friedrich Engels an Kar! Marx am 15.8.1870, in: MEW, Bd. 33, 40 . Übernommen von Walter Frank (wie Anm. 4), ebd. Adolf Stoecker, Unsere Stellung zur Sozialdemokratie (wie Anm. 3), ebd., 202. (Wie Anm. 8), ebd., 134.

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che Vorherrschaft des Säkularismus, wobei Stoecker, wie bereits angedeutet, keine wesentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausprägungen in Liberalismus, Sozialismus, Nationalismus und später dem verweltlichten Judentum machte. Eine wahrhaftige religiöse Erweckung unter den entkirchlichten Volksrnassen konnte es für Stoecker, abgesehen von allen theologischen Gründen, allein schon aus Gründen der inneren Glaubwürdigkeit und der Abwehr berechtigter Kritik der Sozialisten an der politischen Rolle der Kirche nur von einer völlig neu strukturierten evangelischen Nationalkirche ausgehen. In diesem Sinne hätten die evangelischen Landeskirchen im Zuge der politischen Neuordnung nach der Reichsgründung auf ihre Unabhängigkeit vom jeweiligen Landesherren und auf einen organisatorischen Zusammenschluß drängen müssen, um ihrer Verantwortung für das Volk, aber auch für das neue Reich gerecht zu werden. Ein politisch geeintes, kirchlich aber nach wie vor zerklüftetes Deutschland erschien Stoecker "wie ein kräftiger Mann mit gebrochenem Herzen." 16

IV. Kritik an der Verbindung von "Thron und Altar" Damit war nicht nur eine grundsätzliche Kritik an der äußeren und die dadurch bedingte innere Verfassung der Landeskirchen angesagt, sondern gleichermaßen am Staat, der jeden Ansatz einer Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Keim erstickte. Aus dem zur Zeit der Reformation situationsbedingten Notbehelf des "landesherrlichen Kirchenregiments", das dem jeweiligen Landesherren die Funktionen eines Summus episcopus zuwies, hatte sich im Laufe der Konstitutionalisierung der staatlichen Ordnungen ein mehr oder weniger offener Übergang dieser Funktionen von der Person des Landesherren auf die Regierung des Staates vollzogen und damit dem jeweiligen politischen Wechsel unterworfen. Als ein alarmierendes Warnsignal, das die Eigenständigkeit der evangelischen Kirche weiter beeinträchtigen mußte, sah Stoecker die Einführung der sog. Synodalverfassung für die altpreußischen Landeskirchen im Jahre 1873, an deren Zustandekommen der preußische Kultusminister Adalbert Falk beteiligt war. Diese Verfassung räumte den Gemeindevertretungen, den Kreis- und Provinzialsynoden einen größeren Spielraum als bisher im Prozeß der innerkirchlichen Urteils- und Willensbildung ein, allerdings nur in einem sehr festen, vom Staat gesetzten und kontrollierten Rahmen. Einmal abgesehen davon, daß durch das sog. Siebwahlsystem - die Synodalen der jeweils höheren Ebene wurden von den Synodalen der jeweils unteren Ebene gewählt, also nicht direkt von den Kirchengliedern einer 16

14'

(Wie Anm. 4), ebd.

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Landeskirche - opponierende Minderheiten keine Chance hatten und relativeinfach "ausgesiebt" werden konnten, hatte sich das Kultusministerium ein Bestätigungsrecht für alle von den Synoden beschlossenen Gesetze vorbehalten, wie schon zuvor bei allen Ernennungen wichtiger kirchenleitender Ämter und der Theologischen Fakultäten. Die Pfarrer waren zwar formal keine Staatsbeamten, durch die ihnen übertragene Funktion der Schulaufsicht aber faktisch in staatliche Pflicht genommen. Das Verhältnis von "Thron und Altar" wurde auf diese Weise zwar "gelockert", aber in dem Sinne, daß die bisher originären Rechte des Summus episcopus nun ebenfalls staatlicher Kontrolle unterlagen, d. h. daß sich aus der personalen Bindung an den Thron nun eine institutionelle Bindung an die sich jederzeit ändernde "Windrose der parlamentarischen Mehrheit" entwickelte. Die große, von Stoecker für notwendig erachtete Aufgabe einer radikalen Re-christianisierung des deutschen Volkes zur Abkehr von den verderblichen "Mächten des Säkularismus" konnte mit einer derart verfaßten Kirche nicht gelöst werden. Gewiß: es war das erklärte Ziel des Königs und auch der Mehrheit des Parlaments, "dem Volke die Religion zu erhalten" - jedoch in der deutlich erkennbaren Absicht einer theologischen Legitimation der staatlichen und gesellschaftlichen Verfassung. Aber gerade diese enge Bindung der Kirche an den Staat mußte nach Stoecker den Prozeß der Säkularisierung weiter fördern, statt ihn zu stoppen und umzukehren, weil damit die bekannten Vorurteile gegen die Kirche seitens der sozialistischen Parteien eindrucksvoll bestätigt wurden. Stoecker kam es aber darauf an, diese Vorurteile zu entkräften und aus einer wahrhaft neutralen Position jenseits aller politischen und gesellschaftlichen Interessen allein aus der Bindung an das Evangelium das Volk zur Umkehr zu rufen. Hinzu kamen die gesetzlichen und politischen Maßnahmen des Staates, die im Laufe des Kulturkampfes gegen die katholische Kirche zur Eindämmung ihres politischen Einflusses von Bismarck bzw. Falk angeordnet wurden, die weithin auch die evangelische Kirche betrafen, z. B. die Maigesetze von 1873 und die Zivilstandsgesetzgebung von 1875. Aus Gründen der Parität wurde in verschiedenen Bereichen jede Einflußnahme der beiden christlichen Kirchen so weit wie möglich verhindert, wie der spätere Generalsuperintendent der Kurmark, D. Otto Dibelius, in einer Würdigung Stoeckers urteilte: "So war es bei dem modernen Realschulwesen, so war es bei der modernen sozialen Arbeit, bei Krankenhäusern und Kinderschulen. So war es überall. Wahrlich, der Staat war ein schlechter Hüter christlicher Frömmigkeit geworden." 17 Nur ganz wenige Theologen und Kirchenpolitiker, so Dibelius, haben die Konsequenzen dieses "omnipotenten Verhaltens" des Staates den Kirchen gegenüber so klar abgeschätzt und 17

Dtto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche. Berlin 1927, 68.

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vor den Konsequenzen gewarnt wie Stoecker. "Nicht einmal unter seinen engeren Freunden" fand er jedoch Zustimmung zu seinen Plänen einer Neuordnung der evangelischen Kirche, so daß sein Vorstoß mit einer "glatten Niederlage" endete. 18 Erst im Laufe der weiteren Entwicklung haben sich Stoeckers Warnungen bestätigt: einmal durch den rasanten Fortschritt der weiteren Entchristlichung der Gesellschaft, vor allem in Berlin und anderen Großstädten; sodann durch den Zusammenbruch des Kaiserreiches von 1918, in den die evangelische Kirche durch den Fortfall des Summus episcopus tief hineingezogen wurde. "Fällt der Herzog, so fällt auch der Mantel". 19

v.

Optimistische Überschätzung der eigenen Möglichkeiten

Mit dieser "glatten Niederlage" am Beginn seiner politischen Laufbahn waren alle weiteren Niederlagen vorprogrammiert. Dabei ist vor allem an den unüberbrückbaren Gegensatz zu Bismarck zu denken. Er erklärt sich einerseits aus dem bereits angedeuteten grundsätzlichen Widerspruch Stoeckers zu Bismarcks Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat, andererseits aus der optimistischen Überschätzung seiner Möglichkeiten, das Ziel einer Verselbständigung der evangelischen Kirche und der Re-christianisierung des deutschen Volkes auch auf anderem Wege erreichen zu können. Dieser Weg führte Stoecker direkt an den Hof des deutschen Kaisers bzw. des preußischen Königs - und zwar auf die Stelle eines vierten Hofpredigers. So wie es Stoecker im Kampf um die äußere Einheit Deutschlands im Jahre 1870 buchstäblich "an die Front" nach Metz drängte, so im Kampf um die innere Einheit "an die Front" nach Berlin, wobei dieser Begriff ebenfalls fast buchstäblich verstanden werden kann. Stoecker war sich selbstverständlich im klaren darüber, daß die von ihm angestrebte Neuordnung der evangelischen Kirche auf gar keinen Fall gegen, sondern nur im Einvernehmen mit dem König, dem Summus episcopus, hätte verwirklicht werden können. Vom König und maßgebenden konservativen Hofkreisen ist das auch so verstanden worden, wenn auch mit Vorbehalten. In der Verfolgung dieser Absicht bewarb sich Stoecker 1874 um die freiwerdende Stelle des vierten Hofpredigers. Aufgrund seiner vom Kaiser bekannten und geschätzten Wirksamkeit in Metz wurde er auch auf diese Stelle berufen, und damit in das Zentrum der politischen Macht des jungen Kaiserreiches. Bemerkenswerterweise hatte sich der Evangeli18 19

Ebd., 69. Ebd., 67.

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sche Oberkirchenrat in seinem Gutachten der Bewerbung Stoeckers außerordentliche Zurückhaltung auferlegt und dem Kaiser lediglich von der Berufung Stoeckers "nicht abgeraten". Man verkennt die Motive Stoeckers für diese Entscheidung, wenn man sie aus der Bewunderung eines kleinen Dorlpfarrers von kleinbürgerlicher Herkunft für die politischen und gesellschaftlichen Oberschichten erklärt. Auch bei seinem Biograph Walter Frank finden sich Ansätze dieser Deutung, wenngleich er mit Recht auf einen Brief Stoeckers verweist, in dem das wesentliche Motiv schlüssig und überzeugend genannt wird: "Meine kirchliche Stellung ist klar; und ich hoffe, der Herr wird mir beistehen, daß ich von den Weltmächten keinen Finger breit aus dem Wege der Überzeugung gedrängt werde. Was mir am Oberkirchenrat verhängnisvoll erscheint, ist, daß er weder dem Kultusminister, also dem Staat, noch der Masse, also dem politischen Liberalismus gegenüber, die Selbständigkeit der Kirche wahrt. Eben diese Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche, in dem vom Staat gezogenen und von mir mit aller Überzeugung anerkannten Grenzen: das scheint mir die Hauptfrage der Gegenwart. Was ich einmal an Einfluß gewinnen sollte, werde ich dazu brauchen, um der Kirche zur Selbständigkeit zu verhelfen." 20

Es war eine bemerkenswerte Fügung, daß Stoecker sein Amt in Berlin an dem Tage antrat, an dem auch die Zivilstandsgesetzgebung in Kraft trat: am 1. Oktober 1874. Sie trieb die ohnehin im Gang befindliche Entchristlichung des öffentlichen Lebens kräftig voran und wurde von Stoecker demzufolge als eine zusätzliche Herausforderung empfunden. Dies um so mehr, als sie nun auch die breiten Volksmassen unmittelbar erlaßte. Im Jahr 1875 wurden aufgrund der Einführung des Zivilstandes in Berlin von 100 standesamtlich geschlossenen Ehen nur noch 18 -19 kirchlich eingesegnet; von 100 geborenen Kindern wurden nur noch 52 getauft. 21 Als besonders schmerzlich empfand es Stoecker, daß diese Entwicklung nicht nur nicht stillschweigend hingenommen wurde, sondern von sozialdemokratischer, liberaler und jüdischer Seite ausdrücklich bejubelt wurde. Er scheute sich nicht, diese Entwicklung noch schlimmer als zur Zeit der französischen Revolution zu beurteilen: "Niemals, solange es eine Christenheit gibt, war die Verachtung kirchlicher Ordnungen so zahlreich, so schmachvoll, so überwältigend hervorgetreten wie damals in Berlin." 22 Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß immer wieder daran erinnert werden, daß Stoecker für diese Zustände nicht die sozialistische Massenagitation verantwortlich machte, sondern in erster Linie den "Mammonismus" der herrschenden Schichten, insbesondere während der sog. Gründerjahre - und das Schweigen der Kirche! 20 21 22

(Wie Anm. 4), ebd., 36. Dietrich von Oertzen (wie Anm. 6), ebd., 107. Ebd., 108.

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Aus dieser rasch vermittelten Erkenntnis aus den Berliner Verhältnissen erwuchs in Stoecker sehr rasch die Überzeugung, daß er "lieber sterben" wollte als mitanzusehen, "wie in der Hauptstadt des neuen Deutschland ein solcher Geist ohne Widerspruch herrschend bleibt." 23 Ansätze für derartigen Widerspruch gab es in der Inneren bzw. Berliner Stadtrnission, deren Leitung Stoecker 1877 übernahm. Insgesamt mußte er aber enttäuscht feststellen, z. B. nach einem Vortrag vor der Berliner Pastoralkonferenz 1876, daß er in der Pfarrerschaft nur wenig Rückhalt für seine Pläne fand.

VI. Offene Konfrontation durch Gründung einer eigenen Partei Nach Lage der Dinge konnte dieser not-wendige Widerspruch wirksam und vernehmbar deshalb nicht aus und schon gar nicht von der Kirche praktiziert werden, sondern zunächst nur durch eine offene politische Konfrontation. So kam Stoecker auf den seinem Naturell entsprechenden Gedanken, "einen dauernden Angriff gegen den Umsturz zu organisieren" - und zwar durch die Gründung einer eigenen Partei. Sie sollte am 3. Januar 1878 im Berliner Eiskeller, einem bekannten Versammlungslokal der Sozialdemokraten im Berliner Norden, erfolgen. Aufgrund der öffentlichen Ankündigungen und der provozierenden Wahl des Versammlungslokals erschienen über tausend Menschen, allerdings überwiegend Sozialdemokraten, die auch die Versammlungsleitung an sich rissen. Immerhin konnte sich Stoecker in dieser Versammlung in einer improvisierten Rede Gehör und Respekt verschaffen, nachdem sich angekündigte Redner unter dem Eindruck der feindseligen Atmosphäre der Situation nicht gewachsen zeigten und die Versammlung zu platzen drohte. Dies u. a. auch deshalb, weil Stoecker den Berliner Polizeipräsidenten persönlich gebeten hatte, bei den zu erwartenden Tumulten keine Eingriffe der Polizei zu veranlassen. Er wollte im Interesse der Glaubwürdigkeit nicht unter Polizeischutz reden, sondern "schutzlos mitten im feindlichen Lager" stehen. 24 Es war für ihn die "ernsteste Stunde seines Lebens", wie er später selbst bekannte. 25 Er hat sie psychologisch meisterhaft bewältigt und sich damit nicht nur bei den Sozialdemokraten Respekt verschafft - sie hielten den Kampf mit solchem Gegner für eine "Ehre" -, sondern auch als einer der großen Volksredner Berlins in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführt. Seine Volksversammlungen waren in der Regel gut besucht und waren schon bald ein fester Bestandteil der politischen Szene Berlins. 23 24 25

Ebd., 137. Ebd., 143. Ebd., 138.

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Die Eiskellerversammlung sprach sich unter dem Einfluß einer aggressiven Gegenrede des damals bekannten sozialdemokratischen Agitators Most (sie schloß mit einer unmißverständlichen Drohung an die "Pfaffen": "Macht eure Rechnung mit dem Himmel - eure Uhr ist abgelaufen") allerdings gegen die Neugründung einer Partei aus und endete mit Hochrufen auf die Sozialdemokratie und dem Absingen der Arbeitermarseillaise. Stoecker vollzog sie am nächsten Tage in einem kleineren Kreise. Sie erhielt den Namen "Christlich-soziale Arbeiterpartei". Sowohl in der programmatischen Eiskeller-Rede als auch nun im Programm der Christlich-sozialen Arbeiterpartei wurde weniger das Ziel der Herstellung sozialer Gerechtigkeit kritisiert, sondern vor allem der Weg dorthin. Er wurde als "unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch" 26 verworfen, weil er die notwendige Verständigung mit dem Staat und den sog. herrschenden Schichten unmöglich machte und deshalb in der Sackgasse einer Revolution wie der Pariser Kommune enden würde. Die Behauptung mancher Sozialdemokraten, Stoecker betreibe eine Neuauflage des "Staatssozialismus" a la Lassalle, ein wirksames Reizwort in der damaligen Auseinandersetzung und als solches wohl auch weithin gebraucht, traf insofern nicht zu, als Stoecker die Arbeiter nicht in einem vordergründigen Sinne für den "Staat", sondern für den "christlichen Glauben und die Liebe zu König und Vaterland" 27 zurückgewinnen wollte - und in diesem Sinne eben auch für den "Staat". Bismarck hat diesen - zugegebenermaßen: feinen - Unterschied sehr rasch begriffen und entsprechend mißtrauisch auf diese Parteigründung reagiert. Nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes wenige Monate nach der Gründung der Christlich-sozialen Arbeiterpartei dachte er sogar daran, die Bestimmungen auf diese auszudehnen. Die Sozialdemokratie war zu einer derartigen Differenzierung aufgrund ihrer ideologisch verfestigten Vorurteile gegen das kapitalistische Gesellschaftssystem im allgemeinen, gegen Kirche und Theologie im besonderen, nicht mehr in der Lage, Stoeckers radikale Ansätze einer kirchlichen und politischen Neuorientierung zu erfassen, geschweige denn als einen subjektiv beachtenswerten Vorstoß zur Überwindung der politischen, gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlich-sozialen Probleme zu würdigen. Aus Sorge um die ideologische Geschlossenheit und die organisatorische Einheit, die auf dem sog. Vereinigungsparteitag in Gotha im Jahre 1875 durch den Zusammenschluß des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiter26 Artikel 2 des Programms der christlich-sozialen Arbeiterpartei, in: Wolfgang Treue, Deutsche Parteiprogramme seit 1861. Göttingen 1954, 78 . 27 Artikel 1, ebd.

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partei Deutschlands zumindest äußerlich erreicht worden war, wurde jedes Angebot einer Zusammenarbeit in bestimmten Fragen, z. B. Absprachen über das Stimmverhalten bei Stichwahlen, "entschieden" abgelehnt. 28 Der Evangelische Oberkirchenrat formulierte seine Bedenken gegen die politischen Aktivitäten Stoeckers in diesem Zusammenhange sehr viel deutlicher als in der erwähnten Stellungnahme zur Berufung Stoeckers auf die vierte Hofpredigerstelle. In einem Schreiben an Stoecker vom 21. Oktober 1878 heißt es, "daß wir die stattgehabte Teilnahme Ihrerseits an den politischen Parteibewegungen und Wahlagitationen als den ebengedachten Erlassen (zum politischen Verhalten der Geistlichen, d . Vf.) direkt zuwiderlaufend, nicht billigen können, sprechen wir zugleich die Erwartung aus, daß schon diese Eröffnung genügen werde, um Sie für die Zukunft von jedem weiteren derartigen Vorgehen zurückzuhalten." 29 In seiner Antwort an den Ev. Oberkirchenrat zeigte sich Stoecker verwundert darüber, daß der Versuch, durch Volksversammlungen "der Kirche entfremdete Glieder wiederzugewinnen - , unter den Begriff verbotener politischer Tätigkeit" falle. Immerhin habe sogar "Se. Majestät der Kaiser bei dem Beginn der Bewegung allergnädigst geruht, mir in huldvollster Weise Allerhöchst seine Teilnahme auszudrücken." 30 Tatsächlich hatte Wilhelm 1. Stoecker kurze Zeit nach der Eiskellerversammlung auf einer Veranstaltung als "unseren Lanzenbrecher" begrüßt und damit die einsetzende Kritik zunächst einigermaßen in Grenzen gehalten.

VII. Fehleinschätzungen der politischen und gesellschaftlichen Machtkonstellationen Die Sympathien des Kaisers und maßgebender Kreise am Hofe für Stoecker konnten und können noch immer nicht die Tatsache verschleiern, daß Stoecker die Machtkonstellationen in Gesellschaft und Politik des neuen Reiches offensichtlich falsch eingeschätzt hat und deshalb auch in dieser Hinsicht, wie schon zuvor in seinem Einsatz für eine neue Kirchenverfassung, eine "glatte Niederlage" einstecken mußte. Letzte Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen politischen Weges beseitigten die Wahlergebnisse zu den Reichstagswahlen 1878 sowie die Mitgliederentwicklung der Christlich-sozialen Arbeiterpartei. In den ersten 5 Monaten traten ihr trotz der unbestrittenen Popularität Stoeckers nur 1 778 Mitglie28 Vgl. dazu im einzelnen: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, 2 Bde., hrsg. von Dieter Fricke u. a. Leipzig 1968, Bd. 1,247 (Stichwort "Christlichsoziale Partei" sie!). 29 Dietrich von Oertzen (wie Anm. 6), ebd., 184 f. 30 Ebd.,186.

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der bei, und zwar kaum Arbeiter, sondern Arbeitslose, kleine Handwerker, Unbemittelte und sozial Deklassierte. Bei den Reichstagswahlen vom 30. Juli 1878 erzielten die Christlich-Sozialen insgesamt nur 2 310 Stimmen, in Berlin lediglich 1 422. Wenn man auch die relativ kurze Zeit der Wahlvorbereitung, die mangelnde Erfahrung und die Besonderheiten des damaligen Mehrheitswahlsystems berücksichtigt, so sprechen diese Zahlen dennoch eine deutliche Sprache und gestatten das Urteil, daß Stoeckers Anlauf, auf diesem Wege das deutsche Volk und insbesondere die deutschen Arbeiter auf den "Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland" zurückzuholen, als gescheitert angesehen werden muß. Die Christlich-soziale Arbeiterpartei, seit 1881 aufgrund der veränderten Mitgliederstruktur umbenannt in Christlich-soziale Partei, bestand zwar fort, spielte aber im wesentlichen keine eigenständige Rolle. Sie schloß sich als selbständige Gruppe der Deutschkonservativen Partei an, die Stoecker dem in langer christlich-sozialer Tradition stehenden Wahlkreis Arnsberg-Siegen anvertraute. Er vertrat diesen Wahlkreis von 1881-1893 und von 18981908 im Deutschen Reichstag; ab 1898 jedoch wieder als Vertreter der Christlich-Sozialen. Im Jahre 1918 ging die Christlich-soziale Partei in der Deutschnationalen Volkspartei auf. Die deutliche Niederlage in der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und das Desaster der Christlich-sozialen Arbeiterpartei bei den ersten Wahlen nach ihrer Gründung veranlaßten Stoecker jedoch keineswegs zu resignierenden Zweifeln oder gar zur Aufgabe seines Kampfes um die christliche Erneuerung des deutschen Volkes. Im Gegenteil! Es waren für ihn "traurige Zeichen von der Gewalt des Zeitgeistes, daß so schnell die Spuren der Gnade verwischt (wurden) und ein schmerzlicher Beweis von der Oberflächlichkeit des heutigen Sinnes" 31 - und insofern nur eine Bestätigung für die Not-wendigkeit der Fortsetzung dieses Kampfes, allerdings mit dem Hauptstoß gegen einen anderen Gegner. VIß. Verlagerung des Kampfes gegen das "moderne" Judentum Die "Gewalt des Zeitgeistes" erklärte sich für Stoecker vor dem Hintergrund seiner Berliner Erfahrungen im allgemeinen, seiner Erfahrungen mit der Sozialdemokratie im besonderen, mehr und mehr aus dem Einfluß des "modemen" Judentums, wie er zumindest anfangs stets zu betonen pflegte, auf Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, vor allem aber auf die Presse. Damit ist das Kernstück seiner politischen Wirksamkeit seit Ende der siebziger Jahre angesprochen. Im Interesse einer sachlichen Beurteilung 31

Adolf Stoecker (wie Anm. 8), 136.

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muß man freilich hinzufügen: es ist im Laufe der politischen Entwicklung dazu geworden. Bis zu diesem Zeitpunkt finden sich im persönlichen, im kirchlichen und im politischen Werdegang Stoeckers kaum nennenswerte Hinweise für eine antisemitische Einstellung. Er predigte mit Vorliebe über TextsteIlen aus dem Alten Testament, zeigte sich, wie bereits weiter oben erwähnt (vgl. Anm.l0), dankbar für den auch von maßgebenden Juden gezeigten "religiösen Korpsgeist" während des Krieges von 1870/71 und hatte noch 1878 zur Vermeidung von politischen Mißverständnissen in einem Aufruf der Christlich-sozialen Arbeiterpartei erklärt: "Wir achten die Juden als unsere Mitbürger und ehren das Judentum als die unterste Stufe der göttlichen Offenbarung. " 32 Eine derartige Erklärung war deshalb erforderlich, weil sich im Zusammenhang mit der hektischen wirtschaftlichen Entwicklung der sog. Gründerjahre und mehr noch im anschließenden Gründerkrach ab 1875 in allen gesellschaftlichen Bereichen antisemitische Positionen aufbauten bzw. verstärkten. Stoecker ist von dieser Entwicklung offensichtlich unter dem Einfluß der Lektüre von Veröffentlichungen des sog. Niendorf-Kreises erfaßt worden, einer Vereinigung von Wirtschaftlern und Politikern um den Verleger antisemitischer Schriften Niendorf. Im Jahre 1876 verlegte er die Schrift "Die goldene Internationale und die Notwendigkeit einer sozialen Reformpartei" des Juristen C. Wilmann, einem der maßgebenden Vertreter dieses Kreises. Stoecker würdigte diese Schrift nicht nur an hervorragender Stelle in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung; er empfing aus ihr offensichtlich auch die wesentlichen Maßstäbe seiner nun einsetzenden Agitation gegen das "moderne Judenturn", wie sich z. B. an Stoeckers Stellungnahmen nachweisen läßt. 33 Dieser Hinweis ist insofern belangvoll, weil antisemitische Literatur der beiden christlichen Kirchen, z. B. Schriften des älteren Luther, ebenso offensichtlich keine wesentliche Rolle für Stoeckers antisemitische Einstellung gespielt haben. Es ist bereits angedeutet worden, daß Stoecker längere Zeit ausdrücklich auf die Unterscheidung von "orthodoxem" oder "religiösem" und dem sog. "modernen" Judentum wert legte, das vom "Glauben der Väter" ebenso abgefallen war wie weite Teile der christlichen Bevölkerung, dessen Bekenntnis auf dem "leeren Blatt zwischen dem Alten und dem Neuen Testament" steht und das "lieber in der Jerusalemer Straße als in den Straßen Jerusalems wohnt". 34 Insofern war für Stoecker die Auseinandersetzung mit dem - immer wieder: modernen - Judentum keine religiöse und (Wie Anm. 28), ebd., 248. Vgl. dazu im einzelnen Hans Engelmann, Kirche am Abgrund - Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung. Berlin 1983, insbesondere 39 ff. 34 Adolf Stoecker, Unsere Forderungen an das moderne Judentum, 1879, in: Christlich-Sozial (wie Anm. 3), ebd., 363. 32 33

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schon gar nicht eine rassische Frage, sondern ein Aspekt der sozialen Frage und gewissermaßen nur eine konsequente Fortsetzung seines Kampfes gegen den Liberalismus und die Sozialdemokratie. Dabei war er sich der weitreichenden Konsequenzen des rapide um sich greifenden Antisemitismus in Deutschland vollauf bewußt und sah darin die Notwendigkeit einer ernsten politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Sinne einer gemeinsamen Lösung. In einer programmatischen Rede vor der Christlich-sozialen Arbeiterpartei am 19. September 1879, in ihrer Wirkung vergleichbar mit der berühmten Eiskellerrede vom 3. Januar 1878, ließ Stoecker keine Zweifel an seinen (ursprünglichen) Absichten in dieser Auseinandersetzung: "Christen wie Juden muß es eine ernstliche Sorge sein, daß aus der Gegnerschaft kein Haß werde. Denn schon zuckt es hier und da wie das Wetterleuchten eines fernen Gewitters. Aber sehr merkwürdig ist, daß die jüdisch-liberalen Blätter nicht den Mut haben, auf die Klagen und Anklagen ihrer Angreifer zu antworten. - Die Judenfrage suchen sie totzuschweigen und vermeiden es durchaus, ihre Leser von jenen unangenehmen Stimmen irgend etwas hören zu lassen. Sie hüllen sich in den Schein, als verachteten sie ihre Gegner, als hielten sie dieselben keiner Antwort wert. Es wäre richtiger, von den Feinden zu lernen, die eigenen Schäden zu erkennen und gemeinsam an der sozialen Versöhnung zu arbeiten, die uns notwendig ist. In dieser Absicht möchte ich die Judenfrage behandeln in voller christlicher Liebe, aber auch in voller sozialer Wahrheit ... Was soll geschehen? Wir meinen, Juden und Christen müssen daran arbeiten, daß sie in das rechte Verhältnis zueinander kommen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Schon beginnt hier und da Haß gegen die Juden aufzulodern, der dem Evangelium widerstrebt. Fährt das moderne Judentum wie bisher fort, die Kapitalkraft wie die Macht der Presse zum Ruin der Nation zu verwenden, so ist eine Katastrophe unausbleiblich" . 35 (Kursivsetzung vom Vf.) Stoecker war sich der Dringlichkeit einer Lösung dieses politischen, sozialen und schließlich auch religiösen Problems vollauf bewußt. Die Judenpogrome zu dieser Zeit in verschiedenen Orten Deutschlands, aber auch in Rußland, ließen keine Zweifel an den möglichen Konsequenzen einer weiteren Eskalation - zu der er dann durch die Art und Weise seiner Agitation maßgeblich beigetragen hat! Stoecker hatte, wieder einmal in grober Fehleinschätzung der Situation, gehofft, daß die Juden durch eine öffentliche Agitation zu einer Selbstbescheidung veranlaßt werden könnten, wobei nicht immer zu klären ist, wieweit damit auf eine Einschüchterung oder aber auf die Bereitschaft zu einem wirklichen Bewußtseinswandel durch Einsicht abgezielt wurde. So hatte Stoecker seine drei berühmten "Forderungen an das moderne Judentum" gerichtet:

35

Ebd., 359 u. 368.

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Ein klein wenig bescheidener - nämlich in der Beurteilung der christlichen Religion beider Bekenntnisse aus der Einsicht, daß auch das Volk Israel immer wieder vom Glauben der Väter abfiel- wie die Christen - und daß heute "ein furchtbarer Abstand zwischen dem Alten Testament und dem modernen Judentum besteht." 36 Ein klein wenig toleranter - nämlich in der Beachtung der christlich geprägten, traditionellen Lebens- und Gesellschaftsformen des deutschen Volkes und eines einvernehmlichen Miteinanders aus gemeinsamer religiöser Verantwortung und Achtung. Etwas mehr Gleichheit - nämlich in der Beachtung des proportionalen Anteils der Juden bei der Besetzung von wichtigen Ämtern in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Für Stoecker gipfelte die Judenfrage in der Frage, "ob die Juden, welche unter uns leben, lernen werden, sich an der gesamten deutschen Arbeit, auch an der harten und sauren Arbeit des Handwerks, der Fabrik, des Landbaus zu beteiligen. Weiter sollen wir von ihnen nichts verlangen." 37 Aber damit verlangte Stoecker von allen Beteiligten eben doch zu viel, sowohl von den "orthodoxen" als auch von den "modernen" Juden; sowohl von den Christen als auch von den Nicht-Christen in Deutschland. Wie immer man auch die subjektiven Motive Stoeckers beurteilen mag: seine Argumente und seine öffentliche Agitation konnten unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen nur zur Verschärfung der Auseinandersetzung führen und damit die Bemühungen um eine verantwortliche Lösung im Sinne seines Kampfes um die innere Einheit Deutschlands konterkarieren. An eine gemeinsame Lösung der Probleme in dem von Stoecker angesprochenen Sinne war überhaupt nicht zu denken. Es gab nicht einmal Ansätze einer ernsthaften, auf Überwindung der beträchtlichen Gegensätze abzielenden Auseinandersetzung. Jeder Artikel in der Presse und jede Rede Stoeckers rief heftige Gegenreaktionen des sog. modernen Judentums hervor. Stoecker wiederum fühlte sich durch dieses ablehnende Verhalten, insbesondere der sog. jüdischen Presse, in seiner Einstellung immer wieder bestätigt und reagierte seinerseits immer heftiger. Die Unterscheidung von "orthodoxem" und "modernem" Judentum, zu der die emotionalisierten Zuhörer seiner Massenveranstaltungen ohnehin nicht in der Lage waren, wurde immer unschärfer, die Angriffe dementsprechend immer schärfer. Diese Eskalation der immer feindseliger werdenden Auseinandersetzung wurde durch äußere Umstände begünstigt. Zum einen durch den wachsen36 37

Ebd., 362. Ebd., 368.

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den Zulauf zu seinen Massenveranstaltungen, an denen bis zu 3000 Menschen teilnahmen. Franz Mehring, einer der wenigen großen Gegenspieler Stoeckers und aufmerksamer Beobachter seiner Aktionen, hatte nicht ganz unrecht mit der Feststellung, daß Stoecker zu seiner "freudigen Überraschung (feststellte), daß er endlich volle Häuser bekam, und ein solcher Erfolg wirkt bekanntlich auf Demagogen und Komödianten so sinnberauschend wie Menschenblut auf Tiger." 38 Zum andern durch die wohlwollende Zurückhaltung Bismarcks zu Stoeckers "Berliner Bewegung", von der sich Bismarck zunächst eine Stärkung der Konservativen erhoffte, worauf er nach dem Kurswechsel im Jahre 1878 dringend angewiesen war.

IX. Maßstäbe zeitgenössischer Kritik am "modemen Judentum" beachten Zur Beurteilung der antisemitischen Aktion Stoeckers sollte zumindest das bedacht werden, was selbst entschiedene Gegner Stoeckers in ihrer teilweise scharfen Kritik an Stoecker beachtet haben: daß er diese Bewegung nicht in Gang gesetzt hat, sondern sich ihrer nur in demagogischer Absicht bedient hat. "Man würde diesem armseligen Demagogen wahrlich eine zu hohe Ehre antun", wenn man ihn als Urheber dieser Bewegung bezeichnen würde, beurteilte und verurteilte der bereits erwähnte Franz Mehring die Berliner Bewegung. 39 Mehring war davon überzeugt, daß die Judenfrage aufgrund der geschichtlichen Entwicklung der Beziehungen von Christen und Juden gleichsam von selbst entstehen mußte, "ob es einzelne Menschen wollten oder nicht".40 Wenn durch die Gesetzgebung von 1869 die Judenemanzipation in Preußen endgültig vollzogen wurde und damit "die Dämme durchstoßen wurden, die undenkbare Zeit hindurch einen starken und tiefen Strom in ein unnatürlich enges Bett gezwängt haben, so entsteht unfehlbar eine Überschwemmung, und wenn eine begabte, schlaue, zähe Rasse jahrhunderte- und selbst jahrtausendelang unter einem despotischen Drucke geseufzt hat, so wird sie im Augenblicke der Befreiung eine Expansiv- und Explosivkraft entfalten, von welcher man sich nur schwer einen Begriff macht, ehe man ihn mit eigenen Augen gesehen hat. - Der lang ersehnte und endlich erfochtene Sieg berauschte die Juden, und im Rausche ist man alles andere, nur nicht bescheiden und besonnen, überlegt und vorsichtig." 41 38 Franz Mehring, Herr Hofprediger Stoecker der Sozialpolitiker - Eine Streitschrift. Bremen 1882, 68. 39 Ebd., 64. 40 Ebd. 41 Ebd., 65.

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"Rauschzustände" also nicht nur in der Berliner Bewegung, sondern auch im "modemen Judentum", insbesondere in der liberalen Presse. In frappierender Übereinstimmung mit Stoecker beklagt Mehring die "gewissenlose Ausbeutung" jedes Judenkrawalls und das "ewige Schreien nach der Polizei, wenn einmal ein derbes Wort gegen die Juden laut wurde."42 Aus persönlichem Erleben antisemitischer Ausschreitungen in seiner hinterpommersehen Heimat konnte Mehring feststellen, "daß die Nachrichten darüber teils unglaublich übertrieben, teils völlig erlogen waren und daß in mehr als einem Städtchen der Unfug erst dadurch entstand, daß soviel Lärm von der Sache gemacht wurde." 43 Mehr noch als durch diese Fehlleistungen der Tagespublizistik fühlte sich Mehring durch einen grundsätzlichen "jammervollen Gesinnungsterrorismus" auf liberaler Seite herausgefordert, der eine verantwortungsbewußte Auseinandersetzung so gut wie unmöglich machte. "Es ist doch zu lächerlich, wenn über Gott und die Welt, über Staat und Kirche, über alles, was sich zwischen Himmel und Erde bewegt, öffentlich geredet und geschrieben werden soll, nur nicht über die zeitgeschichtlichen Wirkungen der Judenemanzipation oder vielmehr über ihre schlechten Wirkungen." 44 Wer diese schlechten Wirkungen auf das öffentliche Leben bestreitet, und zwar auf alle "politischen, religiösen oder sozialen Anschauungen" ohne Unterschied, der hat, so immer noch Mehring, "das letzte Jahrzehnt entweder nicht in Berlin verlebt oder aber er redet wider die Wahrheit." 45 In diesem Zusammenhange würdigt Mehring Heinrich von Treitschke, der in der "einzig würdigen Weise, mit männlichem Freimut und wissenschaftlichem Ernst" die politische Notwendigkeit erkannte, "den unter der Asche glimmenden Haß öffentlich aufzudecken, ehe es in heimlichem Umsichfressen die edelsten Teile unseres nationalen Organismus zerstörte." 46 Was aber hat Stoecker im wesentlichen anderes festgestellt? Tatsächlich widersprach Mehring Stoecker auch nicht so sehr wegen der "Diagnose", d. h. wegen der unbestreitbaren Probleme mit dem sog. modernen Judentum, sondern wegen seiner "Therapie", d. h. wegen seiner agitatorischen Wirksamkeit vor ohnehin emotionalisierten Menschenrnassen, die auf diese Weise nicht zur Ruhe gebracht, sondern nur noch weiter aufgehetzt wurden, welche persönlich andersgearteten Motive Stoecker auch gehabt haben mag.

42 Ebd., 67. 43 Ebd. 44 Ebd., 66. 45 Ebd. , 65 . 46 Ebd., 66.

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Zur Vermeidung von Fehldeutungen soll wenigstens andeutungsweise darauf hingewiesen werden, daß Mehring keinesfalls eine Außenseiterrolle in der sozialistischen Bewegung zu diesem Problem einnahm, sondern im wesentlichen mit Karl Marx übereinstimmte. Zu erinnern ist an dessen harte Kritik am sog. "weltlichen Judentum" in seinen Schriften zur Judenfrage, die aus naheliegenden politisch-ideologischen Gründen inzwischen mehr und mehr in Vergessenheit geraten. 47 Es gehört jedenfalls zu den Eigentümlichkeiten einer vorherrschenden Tendenz in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945, daß eine derartig aufschlußreiche "coincidentia oppositorum" keine nennenswerte Beachtung findet. 48 Daraus erklären sich nicht nur grobe Verzerrungen im Lebensbild einer großen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, sondern mehr noch Verzerrungen der politischen, gesellschaftlichen und geistigen Zusammenhänge, die zum Verständnis dieser Epoche der deutschen Geschichte belangvoll sind. Dazu gehört eine hinreichende Beachtung der Reaktionen Bismarcks und des Hofes auf die Aktionen Stoeckers. X. Widerspruch und Widerstand gegen Stoeckers "Berliner Bewegung" Es ist bereits angedeutet worden, daß sowohl Bismarck als auch der kaiserliche Hof Stoeckers "Berliner Bewegung" zunächst mit stillschweigendem Wohlwollen beurteilt und keineswegs verurteilt haben. Bismarck sah in der Massenbewegung eine Abstützung seines innenpolitischen Kurswechsels von den Liberalen zu den Konservativen und wünschte seine Wahl "dringend" . 49 Diese Haltung änderte sich geradezu schlagartig, als sich der Bankier des Kaisers, Gerson von Bleichröder, über Stoeckers Agitation beschwerte. Anlaß war eine Antwort auf einen Zwischenruf in einer Massenveranstaltung, in der Stoecker eher scherzhaft äußerte, daß "Herr von Bleichröder mehr Geld als alle evangelischen Geistlichen zusammen" besitze. 50 Bismarck, der mit dieser Beschwerde an den Kaiser befaßt wurde, drängte auf eine Entlassung Stoeckers aus dem Hofpredigeramt. Er erwog sogar die Anwendung des Sozialistengesetzes auf die Christlich-soziale Partei und die Ausweisung Stoeckers aus der Hauptstadt Berlin. Allerdings war sich 47 Vgl. dazu im einzelnen: Karl Marx, Zur Judenfrage, Deutsch-Französische Jahrbücher 1844, in: MEW Bd. 1, 347-377. 48 Sowohl in Engelmanns umfangreicher Darstellung (wie Anm. 33) als auch in der abwägenden Untersuchung von Günter Brakelmann (Hrsg.), Protestantismus und Politik - Werk und Wirkung Adolf Stoeckers. Hamburg 1982, wird dieser Zusammenhang allenfalls kurz angedeutet, aber nicht wesentlich behandelt. 49 Die bürgerlichen Parteien in Deutschland (wie Anm. 28), ebd., 248. 50 Dietrich von Oertzen (wie Anm. 6), 219.

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Bismarck auch bewußt, daß diese Entscheidungen unter den damaligen Umständen kaum durchzuführen gewesen wären und zu erheblichen Irritationen in der Öffentlichkeit geführt hätten. Auch Stoecker wußte dies und reagierte in einem Brief an den Kaiser entsprechend. Er erläuterte und verteidigte seine Einstellung zum "frivolen, gottlosen, wucherischen, betrügerischen Judentum, das in der Tat das Unglück unseres Volkes ist" und daß er es für seine Pflicht halte, "dem Verderben nach meinen schwachen Kräften zu steuern." Er schloß psychologisch geschickt mit der Feststellung: "Sollten Euere Majestät diesen notwendigen Geisterkampf - wirklich mißbilligen, so würde ich an der Rettung meines geliebten Volkes freilich noch immer nicht verzweifeln; aber ich würde mit dem tiefsten Schmerz erfahren, daß ich Kirche und Christentum, Kaiser und Reich gegen ihre Feinde nicht offen verteidigen darf." 51 Von "Staat" und "Regienmg" war in dieser Aufzählung in wohlweislicher Absicht keine Rede! Der Kaiser reagierte denn auch auf diesen Brief mit einer relativ mäßigen, Bismarck enttäuschenden Mahnung, daß Stoecker bei allen Äußerungen innerhalb und außerhalb seines geistlichen Amtes "die Pflege des Friedens unter allen Klassen Meiner Untertanen im Auge behalten" möchte. 52 Damit war nicht nur eine bedrohliche Situation für die "Berliner Bewegung" und eine abermalige politische Niederlage Stoeckers abgewendet. Stoecker fühlte sich sogar in seinem Kampf gegen das "moderne Judentum" bestätigt und wähnte sich im Blick auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen in einer Sicherheit, die tatsächlich nicht mehr bestand. Es bestätigte sich auch in diesem Zusammenhange die verhängnisvolle Neigung zur Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten im Spannungsfeld der politischen Kräfte und Gegenkräfte. Stoecker bemerkte nicht, daß sich der gelegentliche Widerspruch zu einem grundsätzlichen Widerstand gegen ihn verdichtete. Dieser Sachverhalt wurde offenkundig im Verlauf eines Prozesses, den Stoecker im Jahre 1884 gegen einen jüdischen Redakteur der "Freien Zeitung" angestrengt hatte. Dieser Redakteur namens Baecker hatte anläßlieh der Kandidatur Stoeckers zu den Reichstagswahlen 1884, wiederum für die Konservative Partei, einen Artikel unter dem Titel "Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner" verfaßt, in dem er Behauptungen über Stoecker aufstellte, die Stoecker zum Strafantrag herausforderten. Damit hatte Stoecker die Auseinandersetzung bereits verloren, unabhängig von dem gerichtlichen Urteil. Im Unterschied zu ihm ging die Gegenseite vorzüglich präpariert in den Prozeß und verstand es unter geschickter 51 52

Ebd., 220. Ebd., 221.

15 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Ausnutzung aller Rechtsmittel, den Prozeß umzukehren, d. h. aus dem Kläger Stoecker einen Angeklagten zu machen und die zahlreichen Ungeschicklichkeiten und Fehler, die Stoecker in diesem Prozeß unterliefen, publizistisch auszuschlachten - und damit die Macht zu demonstrieren, gegen die Stoecker kämpfte. Vergeblich - im großen wie im kleinen. Der Redakteur erhielt zwar eine geringfügige Strafe von drei Wochen Gefängnis. Stoecker verlor aber die Unterstützung des Kaisers und weiterer Förderer seiner "Berliner Bewegung". Mit dem Baecker-Prozeß wurde die endgültige Niederlage seines politischen Wirkens als Hofprediger eingeleitet. Der Kaiser, Bismarck und der Evangelische Oberkirchenrat waren fest entschlossen, Stoecker zum Rücktritt zu bewegen. Daß es dazu dann doch nicht gekommen ist, ist einer Intervention des Prinzen Wilhelm und seiner Gemahlin Auguste Viktoria zu verdanken. Prinz Wilhelm gab seinem Großvater in einem Brief vom 5. August 1885 zu bedenken, daß Stoecker "die mächtigste Stütze, der tapferste und rücksichtsloseste Kämpfer für die hohenzollernsche Monarchie" sei. Allein in Berlin habe er 60 000 Arbeiter der Sozialdemokratie bzw. dem Fortschritt "entrissen" und sollte allein schon deshalb nicht "Juden, Sozialisten und Fortschrittlern unter die Füße geworfen werden." 53 Tatsächlich hat diese Fürsprache einen Stimmungsumschwung beim Kaiser bewirkt. Ihm kamen Zweifel, ob eine Entlassung Stoeckers "wegen der Rückwirkung auf die obwaltenden politischen und kirchlichen Verhältnisse angemessen" 54 sei und veranlaßte den Oberkirchenrat, die Angelegenheit einer "allseitigen Prüfung" zu unterziehen, was faktisch Einstellung des Verfahrens bedeutete. Der für Stoecker glimpfliche Ausgang dieser Angelegenheit konnte aber niemanden, der mit den Verhältnissen in Politik und Gesellschaft einigermaßen vertraut war, darüber hinwegtäuschen, in welch schwacher Position sich Stoecker inzwischen befand und mit welchen Widerständen er fortan zu rechnen hatte. Sie kamen nicht nur von seinen erklärten Gegnern, sondern in immer stärkerem Maße von bisherigen Sympathisanten, Parteigängern und Freunden. Der Schwung der Berliner Bewegung begann unter dem Einfluß dieser Entwicklung deutlich erkennbar nachzulassen. Stoecker hat es nicht verstanden, sich durch eine bessere Organisation der Berliner Bewegung ein Mindestmaß an' politischer Selbständigkeit zu schaffen bzw. zu behaupten, so daß dem Urteil Bismarcks zuzustimmen ist, daß Stoecker in der Politik keine "glückliche Hand" habe; "die Erfolge, die er erreicht, bleiben momentan, er vermag sie nicht unter Dach zu bringen und zu erhalten; jeder gleich gute Redner, und deren gibt es, entreißt sie ihm." 55 53 54 55

Walter Frank (wie Anm. 4), ebd., 187.

Ebd.

Dtto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, 1898, Neuausgabe 1928, 595.

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Wenn seine Stellung am Hofe und damit auch in der Kirche tatsächlich im wesentlichen von der Gunst des Prinzen abhing, wie hinreichend demonstriert, dann kam es fortan für Stoecker darauf an, diese Gunst zu erhalten. Das bedeutete für eine Persönlichkeit wie Adolf Stoecker keinesfalls bedingungslose Unterwürfigkeit und Liebedienerei, aber doch eine stärkere Beachtung der verschiedenen Faktoren im Prozeß der politischen Urteilsund Willensbildung im allgemeinen, am Hofe im besonderen. Wie der Verlauf des Baeckerprozesses und die sich daran anschließenden Auseinandersetzungen veranschaulicht, hatte Stoecker auch in dieser Hinsicht nicht immer eine "glückliche Hand", was ganz einfach seinem Naturell und seiner Leidenschaft zur offenen, direkten und ehrlichen Auseinandersetzung mit einem klar definierten Gegner zu erklären ist. Im Spannungsfeld der politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Parteien waren jedoch Rücksichtnahmen erforderlich, die Stoecker zunehmend als "Fesseln" empfand, obwohl er auch wußte, daß sie ihn nicht fallen ließen. XI. Veränderung der innenpolitischen Gesamtsituation Der deutliche Abschwung der Berliner Bewegung bzw. der Christlichsozialen Partei erklärt sich jedoch nicht nur aus den zunehmenden persönlichen Schwierigkeiten Stoeckers in seiner Stellung als Hofprediger und ihren Rückwirkungen auf sein politisches Ansehen in der Öffentlichkeit, sondern auch aus einer veränderten innenpolitischen Parteienkonstellation als Folge der sog. Kartellpolitik Bismarcks. Im Blick auf den in absehbarer Zeit bevorstehenden Thronwechsel war Bismarck um eine breite Mehrheit im Reichstag bemüht, die eine Fortsetzung seiner bisherigen Politik garantieren sollte, vor allem in der Militärpolitik und ihrer langfristigen Absicherung im Budget, dem sog. Septenat (d. h. Bewilligung der Heeresstärke für sieben Jahre). Diese Mehrheit erreichte Bismarck durch ein Wahlbündnis von Konservativen, Nationalliberalen und Reichspartei, bei dem eine Wahlkampfspende des Bankiers Bleichröder in Höhe von 10000 Mark eine nicht unerhebliche Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung spielte. 56 Sie soll, sei es direkt, sei es indirekt, dazu beigetragen haben, daß die Konservativen Stoecker und drei andere "extreme" Kandidaten für die anstehenden Reichstagswahlen im Februar 1887 zum Verzicht auf ihre Kandidaturen in Berliner Wahlkreisen gedrängt haben. Stoecker wurde zwar im Wahlkreis Siegen aufgestellt und gewählt. Die Berliner Bewegung hatte durch diese Entscheidung jedoch einen schweren Schlag erlitten, von dem sie sich nicht mehr erholen sollte. Sie erreichte bei den Wahlen in Berlin nur 34000 Stimmen. Auch bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung im selben Jahr erlitt sie eine schwere Niederlage und verlor alle Mandate 56

15*

Walter Frank (wie Anm. 4), ebd., 207.

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bis auf eines, während die Sozialdemokratie zur stärksten Partei in Berlin aufrückte. Damit war der Berliner Bewegung der Todesstoß versetzt; die Positionen der konservativen Gegner Bismarcks erheblich geschwächt, aber nicht hoffnungslos. Aus der veränderten innenpolitischen Gesamtsituation nach den sog. Kartellwahlen vom Februar 1887 entwickelten sich folgerichtig Gegenreaktionen derjenigen konservativen Persönlichkeiten, die im Laufe der Jahre in einen zunehmenden Widerspruch zu Bismarck geraten waren und in der eingeleiteten Kartellpolitik eine ernste Herausforderung zu eigenem Handeln sahen. Es waren vornehmlich Militärs, die sich um den Generalquartiermeister Alfred Graf von Waldersee, den Nachfolger Moltkes, sammelten, aber auch hochrangige Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kirche. Zu letzteren gehört vor allem Stoecker, dem sich Waldersee besonders verbunden fühlte. Ihrer aller Hoffnung richteten sich auf Prinz Wilhelm, von dem sie nicht nur eine deutliche Kursänderung erwarteten, sondern auch eine Berufung Waldersees als Nachfolger Bismarcks. Xß. Neue Hoffnungen für Stoecker

Diese Hoffnungen wurden kräftig gefördert durch eine Versammlung von ca. 40 Persönlichkeiten in Anwesenheit des Prinzen Wilhelm, die im November 1887 im Hause des Grafen Waldersee stattfand. Äußerer Anlaß war der Plan Stoeckers, nach den politischen Enttäuschungen der vergangenen Monate die Arbeit der Stadtmission in Berlin zu aktivieren, auf andere Großstädte auszudehnen und dafür einen Hilfsverein zu gründen. Der Unterstützung des Prinzen und vor allem seiner Gemahlin durfte Stoecker sicher sein. Tatsächlich unterstützte der Prinz das Vorhaben Stoeckers in seiner Ansprache auf dieser Versammlung nachdrücklich und betonte die Notwendigkeit einer Intensivierung des christlich-sozialen Gedankens. Damit hatte Prinz Wilhelm aber ein Zeichen gesetzt, das weit über den engen Rahmen der volksmissionarischen Absicht hinausging. Nicht nur die im Hause Waldersee Versammelten, auch die Presse, vor allem aber Bismarck waren sich sehr schnell der Tragweite dieser Parteinahme des Prinzen für den christlich-sozialen Gedanken Stoeckers - zu diesem Zeitpunkt, in dieser Umgebung - vollauf bewußt. Letzterer befürchtete - nicht ganz zu Unrecht - die Bildung eines "Evangelischen Zentrums". In einem Brief an Bismarck versuchte Prinz Wilhelm sein Verhalten zu rechtfertigen und die entstandenen Befürchtungen über den künftigen Kurs des Monarchen zu zerstreuen. Dabei ließ er einige Unsicherheiten erkennen, die Bismarck in einem langen Antwortschreiben geschickt ausnutzte, um ihn von dem geplanten Vorhaben abzubringen. Er wolle zwar kein "Mißtrauen wecken, wo Vertrauen besteht", tat es dann aber doch durch die

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Feststellung, daß ein Monarch "ohne einiges Mißtrauen erfahrungsmäßig nicht fertig werden (kann), und Ew. stehen dem hohen Berufe zu nahe, um nicht jedes Entgegenkommen darauf zu prüfen, ob es der Sache gilt, um die es sich gerade handelt, oder dem künftigen Monarchen und dessen Gunst. "57 Bismarck beließ es nicht bei diesen deutlichen Andeutungen, sondern wurde sehr konkret in seinen Aussagen zu wichtigen Persönlichkeiten der Waldersee-Versammlung, unter denen er keine einzige fand, der er "die Verantwortung für die Zukunft des Landes isoliert zumuten möchte".58 In diesem Zusammenhange äußerte Bismarck ein hartes Urteil über Stoecker, das überdies ein grundsätzliches Urteil über die christlich-soziale Bewegung einschloß. "Er (Stoecker) hat sich bisher einen Ruf erworben, der die Aufgabe, ihn zu schützen und zu fördern, nicht erleichtert; jede Macht im Staate ist stärker ohne ihn als mit ihm. - Er steht an der Spitze von Elementen, die mit den Traditionen Friedrichs des Großen in schroffem Widerspruch stehen, und auf die eine Regierung des Deutschen Reiches sich nicht würde stützen können. Mir hat er mit seiner Presse und seiner kleinen Zahl von Anhängern das Leben schwer und die große konservative Partei unsicher und zwiespältig gemacht. - Der evangelische Priester ist, sobald er sich stark genug dazu fühlt, zur Theokratie ebenso geneigt wie der katholische, und dabei ist schwerer mit ihm fertig zu werden, weil er keinen Papst über sich hat." 59

Bismarcks Verdikt bewirkte eine augenblickliche Meinungsänderung beim Prinzen, was nicht nur die immer aussichtsloser werdende Stellung Stoeckers am Hofe ankündigte, sondern auch die Möglichkeiten der politischen Einflußnahme auf den designierten Kaiser. In einem Antwortschreiben vom 14.1.1888 betonte Wilhelm zwar aus Gründen der Selbstachtung, daß er sich nicht von einem Werke zurückzuziehen gedenke, von dessen "Wichtigkeit für das allgemeine Wohl" er überzeugt war, erklärte aber gleichzeitig, daß es sich dabei keinesfalls um die "Begünstigung politischer Sonderbestrebungen" handele. Um "irrigen Voraussetzungen den Boden zu entziehen, ... werde ich den Hofprediger Stoecker dahin bestimmen lassen, daß er sich von der offiziellen Leitung der Stadtmission zurückzieht .... Vor einer solchen Manifestation wird, so denk' ich, jede Verdächtigung meiner Absichten und Stellung verstummen müssen - wenn nicht, dann Wehe denen, wenn ich zu befehlen haben werde! "60

57

Otto von Bismarck (wie Anm. 55), ebd., 594.

59

Ebd., 595 f. Ebd., 598.

58 Ebd. 60

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Stoecker war nach Bekanntwerden dieses Briefes zumute, als ob "die deutsche Armee bei Sedan kapituliert hätte", 61 dachte seinerseits jedoch nicht daran, zu kapitulieren. Im Blick auf die von Augenblicksstimmungen beeinflußten Urteile und Entscheidungen des jungen Kaisers hatte er die Hoffnung, daß auch ihm und seinen politischen Freunden gelingen könnte, was Bismarck gelungen war: die Parteinahme für die eigenen politischen Absichten, sofern man nur mit Geduld und Geschick zu Werke gehe. Stoecker hat Strategie und Taktik dieses Vorgehens in einem Brief vom 14.8.1888 an Freiherr von Hammerstein, den Führer der sog. Kreuzzeitungspartei, entwickelt, der als sog. Scheiterhaufenbrief eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat und gelegentlich zu den großen Briefen der Weltgeschichte gerechnet worden ist. 62 In diesem Brief warnte Stoecker vor direkten Angriffen auf den jungen Kaiser und auf die von ihm unterstützte Kartellpolitik Bismarcks, um ihn nicht zu "reizen". Vielmehr sollte man bestimmte Meinungsdifferenzen zwischen dem Kaiser und Bismarck durch entsprechende Artikel in der Kreuzzeitung so geschickt ausnutzen, um den Kaiser von selber zur Einsicht kommen zu lassen, daß er von Bismarck nicht gut beraten sei. "Man muß also rings um das politische Zentrum resp. das Kartell Scheiterhaufen anzünden und sie hell auflodern lassen, den herrschenden Opportunismus in die Flammen werfen und dadurch die Lage beleuchten. Merkt der Kaiser, daß man zwischen ihn und B. Zwietracht säen will, so stößt man ihn zurück. Nährt man in Dingen, wo er instinktiv auf unserer Seite steht, seine Unzufriedenheit, so stärkt man ihn prinzipiell, ohne persönlich zu reizen." 63 Mit diesem Brief griff Stoecker zu einem Stilmittel der politischen Auseinandersetzung, das seiner Wesensart nicht entsprach, das aber unter den gegebenen politischen Umständen das einzige war, um seinem Ziele näher zu kommen. Tatsächlich wurde er dadurch schwer kompromittiert, nachdem dieser Brief in der sozialdemokratischen Presse im Jahre 1895 veröffentlicht wurde (wobei bis heute nicht endgültig geklärt ist, auf welche Weise der Brief in die Hände der SPD gelangt ist). Vorerst schien jedoch die "Scheiterhaufen-Taktik" den gewünschten Erfolg zu zeitigen: im März 1890 wurde Bismarck entlassen. Der ersehnte "Wendepunkt" war erreicht, wie Stoecker in einem Aufsatz unter diesem Titel triumphierend feststellte. 64 Doch Wende wohin? Jedenfalls nicht in die von der Waldersee-Versammlung, von der Kreuzzeitungs-Partei bzw. von der Christlich-sozialen Bewegung gewünschte Richtung! 61 Übernommen von Karl Buchheim, Geschichte der christlichen Parteien in Deutschland. München 1953, 276. 62 So z. B. von Karl Heinrich Peter (Hrsg.), Briefe zur Weltgeschichte. Stuttgart 1961. 63 Ebd., 383. 64 Adolf Stoecker, Wach' auf, evangelisches Volk! Aufsätze. Berlin 1893, 415 ff.

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XIII. Wende ohne Wandel Die Tatsache, daß der Kaiser nicht Waldersee, wie erhofft, sondern Caprivi zum Nachfolger Bismarcks ernannte, war ein sehr früher Hinweis darauf, daß mit einem radikalen Kurswechsel im Sinne eines "inneren Wandels" nicht zu rechnen war und daß demzufolge die Hoffnungen Stoeckers auf eine Korrektur der Versäumnisse einer inneren Neuordnung Deutschlands auf der Grundlage der christlichen Religion nach 1871 sehr schnell schwanden. Inzwischen waren die von Stoecker seit zwanzig Jahren bekämpften politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte so erstarkt, daß ein Kurswechsel im Sinne Stoeckers so gut wie ausgeschlossen war und lediglich erhebliche innenpolitische Auseinandersetzungen ausgelöst hätte, die ja durch die Aufhebung des sog. Sozialistengesetzes gerade abgebaut werden sollten. Indem Stoecker keinerlei Einschränkung seiner Kampfbereitschaft erkennen ließ, war es nur eine Frage der Zeit - oder besser: der passenden Gelegenheit -, wann sich der Kaiser von ihm trennen würde. Im Laufe des Jahres 1890 bot Stoecker sowohl dem Kaiser als auch dem Evangelischen Oberkirchenrat manchen Anlaß zur Kritik. Letzter und entscheidender Anlaß für die Entlassung aus dem Hofpredigeramt war eine Beschwerde des badischen Großherzogs Friedrich Ir. im Oktober 1890, nachdem Stoecker auf dem Parteitag der badischen Konservativen in massiver Weise Kritik am politischen Liberalismus, am Judentum und an der Sozialdemokratie geübt hatte. Sie ging offenbar weit über das Maß hinaus, was im liberalen Großherzogtum geduldet werden konnte. Der Bruch mit dem Kaiser vollzog sich nicht in einem förmlichen Verfahren, sondern durch demonstrative Nichtbeachtung Stoeckers. Wochenlang besuchte der Kaiser nicht die Gottesdienste im Dom, sondern in der Garnisonkirche. Als dann bei der Trauung der Prinzessin Viktoria im Oktober 1890 Stoecker übergangen und die Trauung von Ernst von Dryander vollzogen wurde, wandte sich Stoecker in einem Schreiben an den Kaiser, in dem er die Bereitschaft zum Ausscheiden aus dem Amt erklärte, sofern der in der Öffentlichkeit entstandene Eindruck zutreffend sei, daß das bisherige Vertrauensverhältnis des Kaisers zu seinem Hofprediger nicht mehr bestehe. Dieses Schreiben ist vom Kaiser in einer Stoecker demütigenden Weise innerhalb von wenigen Tagen mit der "Bewilligung der Pensionierung" als Randvermerk beantwortet worden. Entstehende Ähnlichkeiten zur Entlassung Bismarcks sind gewiß kein Zufall. Sie dokumentieren eindrucksvoll den politischen Klimawechsel, den der Thronwechsel nach sich zog. Eigenständige Persönlichkeiten vermochten sich unter den gründlich veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen kaum noch zu behaupten, geschweige denn zu entfalten.

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Stoecker hegte nach seiner Entlassung raus dem Hofpredigeramt als "Hofprediger a. D." - aller Deutschen, wie ihn seine Freunde nannten - die Hoffnung, im bisherigen Sinne wirken zu können. An Tätigkeitsbereichen fehlte es nicht. Stoecker widmete sich verstärkt der Arbeit in der Berliner Stadtrnission, im Evangelisch-sozialen Kongreß, in der Publizistik, vor allem aber in der Konservativen Partei, auf deren Parteitag in der Berliner Tivoli-Brauerei im Jahre 1892 er noch einmal eine maßgebende Rolle spielte. Im Laufe der Zeit wurde es jedoch immer offenkundiger, daß Stoecker auch in diesen gesellschaftlichen und kirchlichen Arbeitsbereichen zunehmend an Einfluß verlor; teils durch direkte höfische Intervention, teils durch einen allgemeinen Meinungswandel. Besonders deutlich wurde dies an der Entwicklung des Evangelischsozialen Kongresses, an dessen Gründung im Jahre 1890 er maßgebend beteiligt war. Er sollte den Gedanken der Christlich-sozialen Bewegung neu beleben, sie auf eine breitere akademische und kirchliche Basis stellen und damit gleichsam eine "Vorfeldorganisation" für die parlamentarische Behandlung sozialer Fragen sein. Im Interesse einer Verbreiterung der Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses hatte Stoecker für eine Berücksichtigung aller kirchlichen und sozialpolitischen Richtungen plädiert, was zur Folge hatte, daß sich die sog. "Jungen" um Harnack und Friedrich Naumann in entscheidenden Fragen durchzusetzen vermochten. Das ursprüngliche Anliegen der Gründer des Evangelisch-sozialen Kongresses sah Stoekker dadurch nicht mehr gewährleistet, so daß er 1895 aus dem Evangelischsozialen Kongreß austrat. Zur gleichen Zeit wurde Stoeckers Stellung in der Konservativen Partei durch den Sturz des Kreuzzeitungsredakteurs und Abgeordneten der Konservativen Wilhelm von Hammerstein schwer erschüttert. Hammerstein war wegen Unterschlagung von Parteigeldern Anfang 1896 zu Zuchthaus verurteilt worden, wobei manche Verdächtigung auch gegen Stoecker ausgesprochen wurde. Obwohl Stoecker in diesem Zusammenhange kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden konnte, drängte die Parteileitung auf Trennung von Stoecker, die er durch seinen Austritt im Februar 1896 dann auch vollzog. Kaiser Wilhelm quittierte diese Entscheidung mit der ebenso vernichtenden wie würdelosen Feststellung: "Stoecker hat geendet, wie Ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Chris~ ist, der ist auch ,sozial', Christlich-sozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend." 65

In einem sehr vordergründigen Sinne hat Wilhelm H. ein zutreffendes Urteil gefällt: Stoecker ist tatsächlich gescheitert. Er ist gescheitert nicht 65

Übernommen von Karl Buchheim (wie Anm. 61), ebd., 282.

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nur an den "Mächten des Säkularismus" , die er wie kein anderer Kirchenmann des deutschen Protestantismus entschieden bekämpft hat, sondern vor allem auch an den Mächten, die er als wesentliche Voraussetzung für die Bewahrung einer christlich normierten und formierten Gesellschaftsordnung erhalten wissen wollte: eine starke Monarchie und eine vom Staat unabhängige Kirche. Insofern war er eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Protestantismus und keineswegs der Repräsentant einer Tradition, die direkt in das Dritte Reich hineinführte. Dafür ist er von der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung und deutsch-christlichen Kirchlichkeit wegen seiner antisemitischen Agitation ebenso in Anspruch genommen worden wie nach 1945, lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen. Es heißt aber sowohl in dem einen wie in dem anderen Falle die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte weit zu überschätzen, wenn man ausgerechnet Stoecker diese "Breitenwirkung und das verhängnisvolle Weiterwirken" 66 bis weit hinein in die Hitlerzeit unterstellt. Immerhin war es gerade seine antisemitische Agitation, die zumindest maßgebenden Anteil an seinem Scheitern hatte. In diesem Sinne zwingt Stoecker erneut zu einer Klärung wichtiger Positionen und Begriffe heraus - und nicht zu einer unkritischen Verklärung!

66 So z. B. das Ergebnis der Dissertation von Hans Engelmann, Kirche am Abgrund - Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung. BerUn 1984, 6.

Ein Konservativer auf dem Weg in den Widerstand earl Friedrich Goerdeler (1884-1945) Von Michael Matthiesen I. Das Urteil der Zeitgenossen Als Gerhard Ritter l seine große Biographie Carl Friedrich Goerdelers vorlegte,2 kam es zu einem bitteren persönlichen und politischen Konflikt mit dem Kieler Politologen Michael Freund. Der Leipziger habe "es nie ertragen, ,nicht dabei zu sein'. Er verlaßt sein ganzes Leben lang Denkschriften, d. h. Rezepte, die er für unfehlbar hält, (die allen nur leider schrecklich trivial sind, die nie den deutschnationalen preußischen Landrat verleugnen ... )". Es sei geradezu bedrückend, unter diesem Aspekt die Biographie gegen den Strich zu lesen, denn "das Klischee Ritters: Altpreußische Geradheit, spartanische Sparsamkeit, unbeugsames Rechtsbewußtsein, Gewissenstreue verbirgt doch keineswegs die Tatsache, daß Goerdeler jedes Organ für die Politik fehlte." Freund erläuterte dies in der Besprechung ,Revolutionär wider Willen'. "Gegen die Revolution von 1918 und die von 1933 stellt er die große trügerische Lösung der ,Fach-Minister' . . . An das Privileg des beamteten Verstandes hat Goerdeler sein Leben lang geglaubt." (107)3 Man habe hier den "Fachmann in seiner zuweilen unerbittlichsten, kältesten und tyrannischsten Gestalt" vor sich. "Die Illusion des 30. Januar 1933 ersteht neu, der Glaube, daß die konservativen, nüchternen und besonnenen Kräfte in der ,nationalen Regierung' die Revolution doch noch beendigen können" (108) ohne mit den Machthabern brechen zu müssen. Empört erwiderte der Freiburger Nationalökonom Constantin von Dietze, diese Analyse "setzt das Andenken Goerdelers herab". (142) Doch der Kieler verlangte eine Bewertung der "Rolle jener Gruppen, für die Goerde1 Er hatte den Politiker im Widerstand kennengelernt und war selbst deshalb inhaftiert worden, vgl. K. Schwabe (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen. Boppard 1984. 2 Gerhard Ritter, earl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. Stuttgart 1954, hier zitiert nach der 3. Auflage 1956. 3 Die Kontroverse ist dokumentiert in: Die Gegenwart 10, 1955, 106-109, 142145,202,262-267 .

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ler weitgehend repräsentativ ist" (144). Auch an seine Kritiker gewandt erklärte er, "sie sühnten . .. durch ihren heroischen Widerstand eigene Schuld, aber die durch den Irrweg der konservativen Gruppen geschaffene Wirklichkeit war dadurch nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und die große historische Sühne, die faktische Beseitigung von Hitlers Herrschaft, wurde eben nicht vollbracht ... " Der Biograph unterstellte seinem früheren Mitarbeiter daraufhin "Parteiressentiment" . 4 Er spüre wohl nicht, "wie überheblich er redet. Dadurch erbittert er." Aber es gebe doch eine historische Verantwortung, wunderte sich Freund, also "ein Versagen gegenüber den großen Aufgaben der Zeit" (22). Goerdeler stehe für jenes "alte Deutschland", 5 dessen personale und geistige Strukturen "fast gegen die Wahrscheinlichkeit" den Umbruch 1918 überstanden hatten und auch jetzt unbeirrt weiter regieren wollten. Als Anwalt der Kollaboration meldete sich daraufhin der CDU-Abgeordnete Franz Böhm zu Wort und bekannte, "ein imposanter Gleichschaltungsvorgang" (263) sei über "die vor 1933 beinahe im Stillstand befindliche Staatsmaschine" hereingebrochen; gegen "eine Revolution von solcher Wucht" war ihnen kein Aufbegehren möglich. Viele - "auch ich" - paßten sich an. Schon wegen der fehlenden Massenbasis zeigte Böhm Verständnis für Goerdelers Überlegung, ob nicht statt der Attentats ein Machtverzicht Hitlers sinnvoller wäre. Man wollte keine "Zukunftsentwicklung . . . präjudizieren" (221),6 sondern sich auf einen Umsturz beschränken, dem die allgemeine Aufklärung erst folgen sollte. "Vielleicht sagte den Aufständischen das totalitäre System als Idee sogar ... zu", denn Böhm erinnerte sich genau an den "etwas verschmitzten Wunsch" des bürgerlichen Untergrunds, zwar Hitler zu stürzen, aber "nicht selbst an dem Entstehen einer neuen Demokratie mitschuldig" zu werden. Die "angelesenen Reflexionsskrupel" seien im Adel viel seltener anzutreffen gewesen als unter Bürokraten, die "ihre . .. Brotgeber mit Hilfe unermüdlich wiederholter Injektionen von Gesittung und fachkundiger Sachgerechtigkeit" zu erziehen suchen. Noch 1939 habe ihm Goerdeler 1939 auf die Frage, wie man trotz ihres Antisemitismus mit den Nazis zusammenarbeiten konnte, geantwortet, "daß es dafür doch gute Gründe gegeben habe" (68),7 denn er sah die Möglichkeit, daß sie sich "unter dem Druck der zu lösenden ... Sachaufgaben zu einer konstruktiven Ritter an v. Dietze 24 . 2. 1955, Nachlaß v. Dietze, 198. Freund an v. Dietze 5.3.1955 (wie Anm. 4). 6 Widerstandsbewegung oder Revolution? Zur Auseinandersetzung um Carl Goerdelers Kampf gegen Hitler, in: Der Monat, Juni 1955, 220-228, zu Ritters enttäuschter Reaktion vgl. Schwabe (wie Anm. 1), 512 f. 7 Begegnungen mit Carl Coerdeler, in: Franz Böhm. Beiträge zu Leben und Werk. MeIle 1980, 65-82. 4

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Politik bereitfanden. Er habe sich dabei von seinen Erfahrungen im November 1918 leiten lassen ... " Freimütig genug wirkt auch Böhms Kommentar, "Goerdelers praktischer und richtiger [!] Gedanke war: ein paar anständige und tüchtige Männer an der Spitze der Verwaltung, und ganz Deutschland sieht anders aus ... " (74). Als sich dann 1956 auch Margret Boveri in ihrem Kompendium zum ,Verrat im 20. Jahrhundert' auf die Goerdeler-Biographie berief, klagte Ritter, daß "ebenso federgewandte wie eilfertige Journalisten" 8 sein Buch "bewußt einseitig und gehässig" interpretierten. Boveri hatte jene "harten Worte vom ,politischen Hochstapler' und vom ,Goerdeler-Mist'" (161)9 zitiert, die zuletzt im Widerstand über den Deutschnationalen gefallen waren, der "sogar in seinem ursprünglichen Arbeitsbereich und als Preiskommissar versagt habe." Bei den Motiven sei fraglich, "ob die Komponente des Ehrgeizes oder des Nationalismus in ihm überwog, ob eine Besserwisserei im großen ihn antrieb oder ob er zu den Menschen gehörte, die keine stille Stunde ertragen können ... " (162) Der Beamte mit der suggestiven "Fähigkeit des Vereinfachens" überschätzte die Bedeutung wirtschaftlicher Probleme für Diktatoren, auf deren Beeinflußbarkeit er vergeblich hoffte. Dabei wirke "der monomane Wortreichtum ... bedrückend" (81),10 auffallend sei die ganz undiplomatische Taktik, "unter Übergehung der Zwischeninstanzen die oberste Stelle ... überzeugen" (83) zu wollen. Jedenfalls werde das Wort ,restaurativ' 11 zu recht auf einen Mann angewandt, "der sich noch im Gefängnis in die sonnige Zeit vor 1914 zurücksehnte" (82). Ritter kannte solche Einwände längst, als er 1947 einen Essay mit der beschwörenden Versicherung einleitete, der ,,20. Juli war kein KappPutsch" (6).12 Statt der Parteiendemokratie, die "niemals ohne Hilfe der Besatzungsmächte irgendwelches öffentliche Ansehen hätte gewinnen können" (8), setzte Goerdeler auf "ein ziemlich kompliziertes, im einzelnen mehrfach umgebildetes System von Vertreterwahlen" (12), ein Präsidialregime oder die Rückkehr zur Monarchie sowie die Selbstverwaltung als verbindliche Vorschule politischer Tätigkeit. Es war oberstes Ziel der Opposition, "einem revolutionären Treiben, das die ganze Welt ins Unglück stürzte, schleunigst ein Ende zu machen." 13

Wie leicht wird Zeitgeschichte zum Ärgernis, Die Welt, 3.11.1956. Neuausgabe Reinbek 1976. 10 Goerdeler und der deutsche Widerstand, in: Außenpolitik 6, 1955,73-85. 11 Schon Hans Rothfels hatte bemerkt, "es ist gewiß nicht zufällig, daß der Ausdruck ,Restauration' so oft in Goerdelers Programmen vorkommt." Die deutsche Opposition gegen Hitler, Krefeld 1951, 133. 12 Goerdelers Verfassungspläne, in: Nordwestdeutsche Hefte 9, 1947,6-14. 13 Ritter (wie Anm. 2), 12. 8

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Die Forschung hat sich seither auf die ,Soziologie' (73) 14 der am Widerstand beteiligten Gruppen konzentriert, und deren nicht repräsentative Zusammensetzung unterstrichen, die sie von der politischen Klasse Weimars wie Bonns unterschied. Das patriarchalische Moment bei Goerdeler (88 f.), der anders als die Kreisauer soziale Experimente ablehnte (109), sei begründet in der unsicheren gesellschaftlichen Lage des Kommunalbeamten, der in der Siedlungsfrage einen agrarischen Mittelstand fördern wollte, als von Krupp und Bosch finanzierter Industriepolitiker aber recht unentschieden blieb (105). Insoweit eher ein klassischer Liberaler, beharrte Goerdeler jedoch auf einem autoritären Verfassungsmodell, in das nur zögernd parlamentarische Kontrollrechte aufgenommen wurden (127 f.), und dessen Ausleseverfahren allein auf beruflichem Verdienst beruhte. Fachlich kompetente Honoratioren sollten genau so durch Absprachen untereinander regieren (137), wie er es als Oberbürgermeister praktiziert hatte. In diesem Spiegelbild einer psychologischen Isolierung (142) war die Parallele zum bekämpften System kaum zuübersehen (159), so daß sich die Parteien im Krieg vorsichtig von Goerdeler zu distanzieren begannen (155). Zwar hatte der Biograph auf eine allmähliche einsetzende soziale Sensibilisierung hingewiesen und sich dabei auf Papiere aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges bezogen, in denen tatsächlich ein Konfrontationskurs gegenüber der SPD und den Gewerkschaften abgelehnt wird, doch dürfen solche aus persönlichen Erfahrungen im Untergrund erklärlichen Konzessionen nicht über die Analogie zu Plänen von 1932 oder 1934 15 hinwegtäuschen. Er hielt an konfliktfernen ideologischen Kategorien wie der ,Volksgemeinschaft' und ,organischen' Verwaltungsprinzipien fest, forderte eine strenge Aufsicht über die Presse und Kirchen, Einschränkungen im Bildungssystem, die politische Instrumentalisierung der Berufsverbände und oberhalb dieser partizipativen Ebene der ,Gaue' eine möglichst autoritäre Staatsführung. Hinzu traten fatale Konzessionen, die Goerdeler dem Antisemitismus machte, als er 1941 eine weltweite Konvention zur Ausbürgerung und Konzentration aller Juden in einem eigenen Staat vorschlug,16 wie auch den Denkschriften des ihm nahestehenden ,Freiburger Kreises' ein Anhang 5: ,Vorschläge für eine Lösung der Judenfrage in Deutschland' 17 beigefügt 14 Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: H. Buchheim / W. Schmitthenner (Hrsg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Köln/Berlin 1966, 73-167 . 15 RitteT (wie Anm. 2), 293. 16 Da sie "einer anderen Rasse" angehörten, sollten alle Juden in ihren bisherigen Heimatländern besonderen Statuten unterliegen, was konkret bedeutete, daß in einer Mischehe der Partner seine Staatsbürgerschaft verloren hätte; vgl. Christo! DippeT, Der deutsche Widerstand und die Juden, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983,349-380, hier 364 ff., der solche Passagen auf Goerdelers "Bündnispolitik mit hochgestellten Nationalsozialisten" zurückführt.

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wurde. Im folgenden werden nicht die Aktivitäten während des Krieges dargestellt, die wachsende Konkurrenz mit den Offizieren und Beamten des Widerstandes, auf deren Machtmittel er angewiesen blieb, sondern die davor liegenden, Persönlichkeit und politische Überzeugungen prägenden Jahre seiner öffentlichen Wirksamkeit bis 1938. 11. Herkunft und Beruf Anhand autobiographischer Aufzeichnungen Goerdelers hat seine Tochter die Welt des Elternhauses und das Selbstbewußtsein der westpreußischen Beamtenfamilie beschrieben. In Schneidemühl geboren, wuchs der Sohn des Richters Julius Goerdeler in Marienwerder mit dem Vorbild einer glücklichen Ehe und des ,Hausvaters' als Mittelpunkt intakter Sozialstrukturen auf. Noch war "die Gesindeordnung ... hart und gestattete körperliche Züchtigung" (15),18 noch war der Markt vor dem Haus der ,Landschaft', als deren Syndikus der Vater amtierte, das natürliche Zentrum eines überschaubaren gesellschaftlichen Kosmos. Im Umgang mit den unteren Schichten fanden Julius und Carl Goerdeler immer den "rechten Ton" (21).19 Der Vater war aber auch politisch tätig und zur Jahrhundertwende als Freikonservativer im preußischen Abgeordnetenhaus gegen eine Modernisierung der ländlichen Infrastruktur hervorgetreten. Genußvoll hat Carl Goerdeler sich an den triumphalen Empfang erinnert, der dem Vater nach der Ablehnung des Kanalprojekts mit Fahnenschmuck, Kapellen, aufmarschierten Schützen- und Turnvereinen bereitet wurde. Er studierte dann 1902 -1905 Jura in Tübingen und Königsberg. Bereits 1903 erfolgte die Verlobung mit seiner Cousine Anneliese Ulrich, so daß er möglichst rasch die Laufbahn als Verwaltungsbeamter eingeschlagen hat. Seine bei Robert v. Hippel in Göttingen angefertigte Dissertation untersuchte das Problem der Gewissenhaftigkeit (statt bloßer Sanktionsandrohungen) als zentrales Kriterium der Strafbarkeit. Unter Berufung auf "das stolze Wort" (16)20 Kants vom ,moralischen Gesetz in uns' wird biologi17 in: Schwabe (wie Anm. 1), 769-774, vgl. die Einleitung 629-634. Autor war C. v. Dietze. Trotz aller christlichen Formeln war hier die Rede von "Maßnahmen, die der Staat ... ergreifen muß, um dem unheilvollen Einfluß einer Rasse auf die Volksgemeinschaft zu wehren" (770), aber man "verzichtet ... auf jegliche Sonderbestimmungen für die Juden ... , weil die Zahl der überlebenden und nach Deutschland zurückkehrenden Juden nicht so groß sein wird, daß sie noch [!] als Gefahr für das deutsche Volkstum angesehen werden können." (773) 18 Marianne Meyer-Krahmer, Carl Goerdeler und sein Weg in den Widerstand. Eine Reise in die Welt meines Vaters. Freiburg 1989. 19 Diese Formulierung findet sich auch in einer Schrift über die Frau, deren Hinweis 1944 zur Verhaftung des Gesuchten führte. Inge Marßolek, Die Denunziantin. Helene Schwärzel 1944-47. Bremen 1993, 16.

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schen Ansätzen wie Genetik und Instinktlehre die Reflexion allgemeingültiger Pflichten des Menschen übergeordnet, "denn die psychologisch zu folgernde Unverantwortlichkeit ist seiner sozialen und sittlichen Natur zuwider und wird es bleiben" (13). Goerdeler beschrieb verinnerlichte Normen als "mit sozialem Empfinden durchtränkte Vernunft" (22), weil sie helfen, die Wirkungen des eigenen Verhaltens zu erkennen. Erziehung und Erfahrung vermitteln erst "die Fähigkeit zum guten Tun" (23). Das abstrakte Gesetz wird von seiner Auslegung getrennt, die man nicht verbindlich regeln könne, sondern der Praxis überlassen möge. Für Goerdeler bildete "das Pflichtbewußtsein den Kern sittlicher und rechtlicher Verschuldung" (120), nicht aber die Tat an sich, eine wie immer determinierte ,Natur' der Persönlichkeit oder gar ihr gesellschaftliches Umfeld. Die Betonung der Rechtsanwendung weist große Ähnlichkeit zu seiner späteren Maxime auf, die Umsetzung politischer Entscheidungen für die Verwaltung als eigentliche ,Zelle' des Staates zu beanspruchen. Dann kommt der Weltkrieg, und der Bürokrat zieht als Artilleriehauptmann ins Feld. Zunächst ist er an der Schlacht bei Tannenberg beteiligt, später im Stabe v. Falkenhayns zuständig für den Aufbau einer Verwaltung im besetzten Weißrußland. Der Heimkehrer stürzt sich in das Abenteuer ostdeutscher Grenzkämpfe. Sein Biograph fand hier bereits "gewisse typische Charakterzüge des späteren Verschwörers",21 insbesondere "jenes fast blinde Vertrauen auf die Macht politischer Ideale und moralischer Grundsätze im öffentlichen Leben, das ihn später zu so mancher Illusion verführen sollte." (28) "Mit prachtvoller Offenheit" (451) habe sich Goerdeler zum Revanchekrieg gegen Polen bekannt; die Mischung aus scheinbar klarer Lageanalyse und hektischer Betriebsamkeit gleiche jenen Appellen, mit denen er später die Generalität der Wehrmacht im Dienste einer überparteilichen ,Volksgemeinschaft' zum Putsch überreden wollte. Ende 1919 wird er zum Zweiten Bürgermeister Königsbergs gewählt und beginnt sofort eine rigorose Sparpolitik. Um den kommunalen Apparat möglichst "schlagkräftig" (1047)22 zu gestalten, legt er Behörden zusammen, privatisiert Dienstleistungen und streicht Stellen, denn 1918 wurden "die Grundsätze der Sachlichkeit ... zugunsten bequemerer Gefühlspolitik" (1050) vergessen. Ungeeignete Anwärter werden "beseitigt" (1051), "Tüchtigkeitsauslese" (1052) und Qualifizierungsverfahren eingeführt. Auf nationaler Ebene war er 1925 bereits stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Städtetages und forderte, daß "der alte Zustand wiederher20 ,Das Bewußtsein der Pflichtwidrigkeit im Schuldinhalte und seine Behandlung in der Literatur und den wichtigsten deutschen Gesetzbüchern des XIX. Jahrhunderts', Leipzig 1908. 21 Ritter (wie Anm. 2), 26. 22 Organisation der Verwaltung der Stadt Königsberg, in: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft 15, 1925, 1046 -1061.

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gestellt" (110)23 werde, also die Inkompatibilität zwischen Gemeinderat und (kommunalem) Parlament. Kompromisse kannte dieser Politiker nicht, der sich ganz auf "die gewaltige sittliche und staatserhaltende Bedeutung des Beamtenverhältnisses" (112) konzentrierte, wo noch der "Grundsatz der bedingungslosen Treue" gelte. "Charakterstarke, gut durchgebildete, aber nicht verknöcherte, selbstbewußte, aber nicht überhebliche, tatkräftige ... Persönlichkeiten ... Das Vertrauen der Bevölkerung wird sich allein der ... erringen, der mit Sachkenntnis und Berufsfreudigkeit Liebe zum Volke, eisernes Gerechtigkeitsgefühl und sittliche Makellosigkeit vereint." (115) Ziel sei, daß ein" Träger des Amtes mit dem Träger der in ihm verkörperten Hoheit vollkommen verschmilzt" (187),24 was er von weiblichen Mitarbeitern nicht erwartet, denn "im Regelfalle ist der Mann der Begründer einer Familie und zu deren Unterhalt verpflichtet" (188), so daß eine berufliche Gleichbehandlung der Frau "nicht ohne Schaden für die natürliche Stellung der beiden Geschlechter im Volkstum und im Staat" bliebe. Offen beklagte der Deutschnationale "Verärgerung und Verbitterung, die durch Staats- und Reichszwang erzeugt ist" (217), also Eingriffe der beiden Berliner Regierungen, als von "kleinlicher Vergleichssucht" veranlaßte Gängelei. Zudem werde das bescheidene Dienstethos von individuellen Interessen, kollegiale Organisationsformen oder materiellen Ansprüchen abgelöst und "die vertikale Bindung ... durch die horizontale durchkreuzt" (1723).25 Je größer nämlich "der Kreis der auf die höheren Schulen gezwungenen [!] jungen Menschen" ist (1725), prognostizierte Goerdeler, "um so märchenhafter werden die der Volkswirtschaft daraus entstehenden Lasten, um so mehr wird die Bildung in Wirklichkeit verflacht"; außerdem verlören Akademiker den Kontakt zu "den betreuten Volksschichten". Dagegen verfügten Absolventen von Volks- und Mittelschulen über "einen in sich harmonisch geschlossenen Bildungsgang" (310),26 während der "ungeheure Andrang" zu den Gymnasien deren Funktion als "geistige Führerauslese ... aufs Schwerste behindert." Immerhin konnte Goerdeler sich auch humorvoll geben. 27 Nationalistische Töne wie das Wort, er habe Ostpreußen "gegen das Slawentum zu 23 Städtische Beamte und Angestellte, in: P. Mitzlaff / E. Stein (Hrsg.), Die Zukunftsaufgaben der deutschen Städte. Berlin 1925, 15-128. 24 ,Besoldung', in: hand wörterbuch der Kommunalwissenschaften. 1. Ergänzungsband. Jena 1927, 186-218. 25 Das Beamten-, Angestellten- und Arbeiterproblem, in: Zeitschrift fürKommunalwirtschaft 18,1928,1723-1730. 26 Ausbildung und Fortbildung der Kommunalbeamten des mittleren Dienstes, in: Der Städtetag 23,1929,305-314. 27 Unterstützung des Reiches und Staates für Ostpreußen, in: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft und Kommunalpolitik 20, 1929, 341-346. "Selbst durch die ältesten Ministerialräte zuckte es wie ein Feuer jugendlicher Begeisterung" (342), 16 Kraus (Hrsg.l, Konservative Politiker

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schützen" (211)28 versucht, treten hinter das verfassungspolitische Ziel einer "vollkommeneren Reichseinheit" zurück, "in der die Länder nicht mehr eine längst verblichene Souveränität beanspruchen" . Bereits im Dezember 1923 hatte er sich an Überlegungen General v. Seeckts beteiligt, doch ist dieses Papier leider nicht erhalten geblieben. 29 Das Engagement setzte sich fort innerhalb des unitarischen ,Bundes zur Neuordnung des Reiches', der die Überwindung des preußischen Dualismus forderte. Goerdeler wünschte zudem eine sachorientierte Entpolitisierung parlamentarischer Gremien, ergänzt durch die konservative Parole ,Mehr Macht dem Reichspräsidenten'.30 Konkret nannte er ein höheres Wahlalter, die Verlagerung der Entscheidungen in kleinere Gremien, das Mehrheitswahlrecht, die Abschaffung des Mißtrauensvotums und die Zusammenlegung ganzer Administrationen. Flankierend müsse eine "Reform der Stadtverordnetentätigkeit" erfolgen,31 damit die Kommunen als "Zellen des Staates" ihre "organischen . .. Aufgaben des Filtrierens, des Ausscheidens und Weiterleitens" erfüllen könnten. Sowohl parlamentarische Konflikte als auch das föderale System beeinträchtigten ihre Funktionsfähigkeit. Er plädierte für eine Suspendierung der preußischen Gewerbesteuer, weil in der Krise die Wirtschaft "größter Schonung bedarf" . 32 Fehlende Einnahmen sollten, zumal ohnehin "der volle Lastenausgleich marschiert", teilweise durch die Reichsumsatzsteuer ersetzt werden. "Die Lasten ruhen auf dem Reich, die Lasten ruhen auf den Gemeinden, die Länder [aber] schwimmen als eine Oase darin" (45).33 Gehe "die Wirtschaftsnot als Krankheit durch den gesamten Volkskörper hindurch" (45), sei es ungerecht, einzelne Branchen zu unterstützen. "Subventionen sind stets ein Anreiz zur korruptiven Handhabung der Geschäfte". Vielmehr benötigten die Gemeinden umgeals man der Stadt einen Flughafen finanzierte. "Töricht, 0 so unendlich töricht" erscheine in Berlin aber der Vorschlag, nun noch "eine kleine nette halbe Million" für die Theater der abgeschnittenen Provinz bereitzustellen. Bei der Vorbereitung von Ausstellungen begegne man zuerst "mitleidigem Lächeln" (Feierliche Eröffnung der ,IPA' am 31. Mai 1930, in: Leipzig. Illustrierte Monatsschrift, 6, 1930, 4) professioneller Kritiker, bevor nach einer "gewissen Begeisterung" (5) dann wieder "die Klugheit eine seuchenartig auftretende Krankheit" werde ... 28 Mitteldeutscher Wirtschaftstag, in: Leipzig 7, 1931, 210 f. 29 vgl. Hans Meier-Welcker, Seeckt. Frankfurt / M. 1967, 429 f. Danach diskutierte man eine Neugliederung des Reiches in Provinzen, um die Position der Preußen dominierenden Linken zu schwächen. 30 Redemanuskript, vgl. Ritter (wie Anm. 2), 454. 31 Die Krisis der Selbstverwaltung, in: Leipziger Neueste Nachrichten 1.1.1931. Sogar DNVP-Stadtverordnete hatten gegen seine Sparpläne gestimmt; vgl. Der Zwang zur Sparsamkeit, ebd. 25 . / 26 . 12.1930. 32 Stellungnahme in: G. Colm / H. Neisser (Hrsg.), Kapitalbildung und Steuersystem. Berlin 1930, 479. 33 Erklärung in Leipzig am 14. 1.1931, in: Deutsche Gemeinde-Zeitung 70 (1931), 44-47 .

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kehrt Spielräume zur Senkung ihrer Unkosten, um "von politischen Tagesmeinungen unabhängig" (473)34 zu werden.

UI. Reichskommissar Brunings (1931/32)

Nachdem er bald darauf überraschend 35 zum Reichspreiskommissar berufen worden war, warnte Goerdeler Arbeitsminister Stegerwald, "steigender Pessimismus" 36 der Basis und "Lethargie" der Politiker förderten die Furcht vor dem "Hereinbruch des Bolschewismus". Daher wünschten "wir Führer an der Kampffront" zu erfahren, ob die Regierung bereit sei, "die Preisbildung vollkommen freizugeben" und Innungen zu verbieten. Außerdem sollte "die Verbindlichkeit der Tarifverträge ... gelockert" und "eine Heraufsetzung der Arbeitszeit" angestrebt werden. Er wisse um die "psychologischen und politischen Bedenken" angesichts solcher Vorschläge und empfehle deshalb, als "Schutzmaßnahme" Gewerkschafter beratend hinzuzuziehen. So könne man "gleichzeitig einen Kristallisationspunkt für eine praktische, vom Staat geförderte Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit bilden", um langfristig "die Arbeiterschaft als positiven Träger des Staatsgedankens an den Staat anzugliedern". Im Verhältnis des Oberbürgermeisters zu dem durch die SPD vorangetriebenen Kleinsiedlungsbau überwog ein sozialdarwinistischer Akzent, denn es gehe weder um konjunkturelle Impulse noch um neue Arbeitsplätze, sondern um "die Selbstauslese kräftiger, zielbewußter und energischer, gewissermaßen mit Kolonisationsgeist ausgestatteter Menschen" (550 f.). 37 Im nicht gern übernommenen Amt blieben Goerdelers Möglichkeiten weit hinter den Erwartungen zurück. Zwischen so vielen Interessengruppen sei gar keine " gerechte " (7)38 Steuerung der Preise möglich, die "nur organisch angebahnt" und auf die" freiwillige Einsicht aller beteiligten Wirtschaftskreise" (8) gegründet werden könne, denn "der richtige Preis bildet sich in einer gesunden Wirtschaft von selbst". 39 Besonderen Ärger bereiteten ihm 34 Die Finanzlage der Städte. Rundfunk-Gespräch zwischen den Oberbürgenneistern Dr. Külz[DDP1-Dresden und Dr. Goerdeler[DNVP1-Leipzig, in: Der Städtetag 25, 1931, 471 ff. 35 Parteichef Hugenberg erzwang deshalb den Austritt aus der in Opposition zu Brüning stehenden DNVP. Goerdeler habe aber "bekannt, daß er nach wie vor mit den politischen und weltanschaulichen Grundsätzen der Partei sich verbunden fühlt", Deutsche Allgemeine Zeitung, 10.12.1931. 36 Denkschrift vom 3.9.1931, BA Koblenz R 43 1/2380. Goerdeler verwies außerdem auf frühere Eingaben seit 1929. 37 Städte und Siedlung, in: Der Städtetag 25,1931,549-553. 38 Preisüberwachung, in: Der Heimatdienst 12, 1932, 7 - 9. 39 Die ersten Aufgaben des Preiskommissars, Deutsche Allgemeine Zeitung, 12.12.1931. 16*

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die Reduzierung des Brotpreises und hartnäckige Proteste der Gastwirte gegen eine Senkung des Bierpreises. 4o Nach sechs Wochen war zwar der Lebenshaltungsindex um 7 % gefallen,41 aber keine Nachfragesteigerung zu erkennen, so daß sich Goerdeler wieder der Arbeitslosigkeit zuwandte. Er dachte an einen Arbeitsdienst für eine halbe Million Erwerbslose mit "Massenverpflegung" und "Einheitskleidung" 42 sowie die Suspendierung bestimmter Leistungen. Im Januar verlangte er eine Bedürftigkeitsprüfung für Unterstützungsempfänger und Neuordnung des ganzen Versicherungssystems, wobei "durch Nichteinbeziehung der Länder ... ein praktisches Stück Reichsreform ... geleistet werden" (1257)43 könne. Der Staat habe sich aus dem unerfreulichen Sozialbereich zurückzuziehen und "den Gewerkschaften die Fürsorge für arbeitslose Angehörige ihrer Branche aufzuerlegen, und zwar als Pflicht." (1259) Das Modell sollte auch für das Gesundheitswesen gelten, weil "die Invalidenversicherung je länger je mehr untragbar wird." (1260) Inzwischen regte sich Widerstand gegen die Absicht, Rabatte, Zugaben und Preisabsprachen des Handwerks durch das "freie Spiel der Kräfte" (2308)44 abzulösen. Auf der Linken hieß es ironisch, ,Dr. Goerdeler resigniert, wir nicht'.45 Er "scheut sich, einen gewaltsamen Eingriff bei einem Produzenten oder Händler vorzunehmen" (122) und lasse Gewinne über 100 % zu. "Mit welcher Energie wurde dagegen die Lohn- und Gehaltssenkung durchgeführt ... "46 Das sei "kurzsichtiger Gruppenegoismus" (121) und ein "Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse" (122), nämlich einer" unsozialen Wirtschaft, für die der Staat nach dem Erlaß der Notverordnungen eine größere Verantwortung trägt als früher." Genau diese Konsequenz aber fürchtete Goerdeler und sah "sein Amt ... in der Hauptsache als beendet" (2316)47 an. Dem Kanzler gegenüber, der ihn als Reichsinnenminister 48 vorgesehen hatte, 40 vgl. den Vermerk vom 5.2.1932, in: Karl Dietrich Erdmann (Hrsg.), Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik (= ARKzI). Die Kabinette Brüning 1 und 11. Boppard 1982, 2261 f. 41 Kabinettssitzung vom 21.1.1932, ARKzI (wie Anm. 40), 2204 . 42 Chefbesprechung vom 25.1.1932, ARKzI (wie Anm. 40), 2223. Ritter erwähnt eine ,Wirtschaftsdenkschrift' von 1929, in der Goerdeler einen mehrjährigen Arbeitsdienst vorschlug mit als ,Lehen' gedachten Siedlerstellen im Osten, "wo die Grenzen gottlob nicht festliegen" , Ritter (wie Anm. 2), 459 . 43 30.1.1932 Denkschrift für Brüning, in: Politik und Wirtschaft in der Krise 1930 -1932 . Düsseldorf 1980, 1255 -1260. 44 Chefbesprechung vom 17. 2. 1932, ARKzI (wie Anm. 40),2304-2308. 45 Leipziger Lehrerzeitung 39, 1932, 121 f. (17. Februar 1932). 46 Tatsächlich betrug die Lohnsenkung 9 -15 % und war "am stärksten für Arbeiterinnen und am geringsten für Facharbeiter" ausgefallen, vgl. Berliner Tageblatt, 1. 3.1932, Abendausgabe. 47 Kabinettssitzung vom 18.2. 1932, ARKzl (wie Anm. 40), 2313 . 48 Aktenvermerk Pünder 15. 2. 1932, ARKzl (wie Anm. 40), 2294.

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verwahrte er sich gegen die "Schroffheit" (2324)49 der "Einwendungen, die vom Reichsarbeitsministerium herkommen" und weitere dirigistische Eingriffe verlangten. "Preisüberwachung ist dasselbe wie künstliche Atmungsversuche beim Menschen". Während des Präsidentschaftswahlkampfs hatte sich Goerdeler geweigert, gegen Hugenberg aufzutreten,50 nun offerierte ihm Brüning das Reichswirtschaftsministerium (568),51 mußte aber erleben, daß Schleicher über ihn "abscheulich redete" (576). Dennoch ließ der Kanzler zur Vorbereitung einer "Einigung zwischen Nazis und Zentrum in Preußen ... einige vernünftige Deutschnationale durch Goerdeler informieren, den ich als preußischen Ministerpräsidenten in Aussicht genommen hätte . .. ", und schlug ihn schließlich sogar "als meinen Nachfolger" (578) vor. Er begründete dies vor Hindenburg damit, daß "Goerdeler einer der Männer war, die trotz energischen Willens eigentlich keine ausgesprochenen Feinde bei irgendeiner Partei hatten. Nachdem ich seinen Wert erkannt hätte, hätte ich ihn schon seit Januar in alle möglichen Regierungsgeschäfte eingeweiht und ihm auch meine innersten Pläne und Absichten in der Außenpolitik, über die ich sonst mit keinem der Kabinettsmitglieder sprach, ... mitgeteilt. Ich wollte jemand haben, der alles kenne und die Zukunftslinien sähe [und] ... mich absolut ersetzen könne." Aber auch der Betroffene selbst, "dem ich ... das Wirtschaftsministerium antrug [!], verhielt sich sehr ablehnend." Obwohl "der Kanzler mit dem Dogmatismus der Denkschriften Goerdelers nichts zu tun hatte", 52 dürfte der persönliche Eindruck auf Hindenburg Anfang April positiv gewesen sein, als er sein ,Regierungsprogramm' 53 vorstellte. Der Reichskommissar nannte drei Fehlentwicklungen: den Trend zur Autarkie, eine in Kartellen "vielfach gefesselte" 54 Binnenwirtschaft sowie "die durch den Krieg in weiteste Volkskreise getragene Organisationslust. " Er wünsche eine "Freiheit wirtschaftlicher Betätigung, die jeden dazu treibt, ... für sich selbst zu sorgen, [und] den Staat zu entlasten." Gewerkschaften oder neu zu bildende "Arbeiter-Berufskammern" sollten 49 24.2.1932 an Brüning, ARKzl (wie Anm. 40), 2322. 50 1. 4.1932 Wilmowsky an Goerdeler, Politik (wie Anm. 43), 1366. 51 Gespräch mit Schleicher am 2.5.1932, Heinrich BTÜning, Memoiren 1918-1934.

Stuttgart 1970. 52 Ritter (wie Anm. 2), 53 f. 53 Gerhard Schulz, Inflationstrauma, Finanzpolitik und Krisenbekämpfung, in: G. D. Feldman (Hrsg.): Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte. 1924-1933. München 1985, 278 f., vgl. Dieter Rebentisch, Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt, in: R. Morsey (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte. Berlin 1977, 146. 54 Denkschrift vom April 1932, BA Koblenz R 43 1/245. Einige Zitate sind abgedruckt in den Anmerkungen zur Denkschrift vom 8.8.1932, ARKzl. Das Kabinett von Papen. Boppard 1989, 357 -374.

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sich Verwaltungsaufgaben statt der Tarifpolitik widmen. Man brauche eine "Arbeitsdienstpflicht als Vorbereitung zum Wehrdienst" und "die stärkste Eliminierung der Frauen aus der Berufstätigkeit" . Wo immer möglich "muß die Verpflichtung gesetzlich festgelegt werden, die Frau durch den Mann zu ersetzen ... Frauen müssen bei Heirat aus öffentlichen Ämtern ausscheiden ... , um . .. die Familienbildung wieder zu ermöglichen." Es folgten verfassungspolitische Grundsätze. "In einem Kopfe muß sich der Ausgleich der verschiedenen Interessen vollziehen", meinte der autoritäre Politiker. Zunächst wären "auf der Grundlage des Art. 48 . .. preußische Ministerien mit Reichsministerien zu verbinden." Landtage treten nur noch einmal im Jahr zusammen, ihre Aufgaben nehmen Hauptausschüsse "in nichtöffentlicher Sitzung" wahr. "Zur Hebung des Ansehens des Parlamentarismus" 55 schlage er ein Wahlalter von 24 und die personelle Trennung von Exekutive und Legislative vor. Letztere bleibe nur in ihrer "ursprünglichsten Funktion erhalten, der Beaufsichtigung" derVerwaltung. Von Gesetzgebung und Willensbildung war keine Rede mehr. Strikt wandte sich der Konservative gegen die Pädagogik der von Demokraten regierten Länder, die das "das Kind als Individuum" betrachte. Vielmehr sei es "zum Glied der Gemeinschaft zu erziehen". Die Schule müsse "eine absolut bewußt nationale" sein, woraus sich die seltsame Schuldzuweisung ergab, der republikanische Versuch, die Volksschule zu entnationalisieren, sei "vollkommen gescheitert", dessen "Produkt ist der Radikalismus, .. . eine gewisse Überheblichkeit, ... der Mangel an Achtung vor der Erfahrung."

IV. Von Bruning zu Papen

Als sich Brünings Ende abzeichnete, wollte der Mittelstand gegen einen Minister Goerdeler "Protest einlegen", 56 denn er sei "stark selbstbewußt und ... noch so gut gemeinten Anregungen nur schwer zugänglich". 57 Vergeblich entwarf er ein großes Beschäftigungsprogramm auf Naturalbasis, 58 und das Protokoll vermerkt gelangweilt, "Oberbürgermeister Goerdeler verbreitete sich eingehend über seine in mehrfachen schriftlichen Eingaben niedergelegten Auffassungen", 59 woraufhin Stegerwald, als dessen 55 Zuvor hatte er von dessen "Wiederherstellung" gesprochen. Nach Michael Krüger-Charle, earl Goerdelers Versuche der Durchsetzung einer alternativen Politik 1933 bis 1937, in: J . Schmädeke / P. Steinbach (Hrsg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München 1986, 383-404, hier 385, sprach er sogar vom "Fluch des Parlamentarismus" , der eine "Diktatur über Jahre hinaus" erforderlich mache. 56 4.5.1932 Drewitz an Bredt, in: Erinnerungen und Dokumente von Johann Victor Bredt. Düsseldorf 1970, 387. 57 20. 5.1932 Wilmowsky an Reusch, Politik (wie Anm. 43),1467. 58 Tagesbericht Luther vom 4.5.1932, Politik (wie Anm. 43), 1434, der als Gleichgesinnte Treviranus, Schlange-Schöningen und Schiele nennt.

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Nachfolger Goerdeler auch gehandelt wurde,60 gereizt von einer "Verletzung des Prinzips der wohlerworbenen Rechte" 61 sprach. Als er in Gegenwart des Kanzlers Gewerkschaftlern seine Pläne erläuterte,62 stieß er auf "sehr erbitterten Widerstand", 63 und Brünings angeschlagene Mannschaft hielt weitere Erörterungen "nicht für tunlich". 64 Inzwischen verdichteten sich Gerüchte über eine Berufung des Kommunalpolitikers, 65 denn Hindenburg wünschte eine Kabinettsumbildung, "und zwar nach rechts. Aber keine Nationalsozialisten. Leute wie Goerdeler und Schleicher sehr genehm ... " . 66 Brünings Angebot, als Außenminister hinter Goerdeler zurückzutreten, wird jedoch mit Gleichgültigkeit quittiert. 67 Sogar Hugenberg zieht ihn wieder in Erwägung,68 Pünder ruft den Leipziger telefonisch herbei, Gespräche mit dem Zentrum in Preußen verlaufen gut, und man fragt schon, "ob er als Reichskanzlerkandidat präsentiert werden dürfe. Er hat nicht nein gesagt. .. " (130),69 vielmehr nur entgegnet, "die Nazis müßten in Preußen praktisch eingeschaltet werden, sonst ginge die Welle weiter." Der entlassene Brüning bittet Goerdeler, sich bereit zu halten; kurz darauf meint der Volkskonservative Treviranus zur neuen Kabinettsliste, "drei Grafen und lauter Adlige seien unmöglich, deshalb solle Goerdeler Kanzler sein." 70 Auch nach der Ernennung Papens ist noch von Verhandlungen wegen des Arbeitsministeriums die Rede, aber der Umworbene sagt ab, obwohl er "von Papen und Hindenburg dringend zum Eintritt aufgefordert" 71 worden war. Er wünschte nämlich, "Verhandlungen mit Hitler aufzunehmen, um die parlamentarische Grundlage der neuen [Reichs-1Regierung zu klären. Man solle der Hitler-Partei zwei bis drei Ministerposten anbieten" (60), was Schleicher ablehnte. Goerdeler aber hat sich "fast bis in die Stunde seines Todes ... mit Gewissensvorwürfen schwer gequält, daß es seine Pflicht gewesen wäre, damals zuzupacken". 59 Ministerbesprechung vom 7.5.1932, ARKzl (wie Anm. 40),2500. 60 vgl. Reinhold Quaatz, Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer

Republik. München 1989, 189. 61 Tagesbericht Luther vom 7.5.1932, Politik (wie Anm. 43),1443. 62 vgl. das Protokoll vom 18.5.1932, ARKzl (wie Anm. 40), 2531. 63 18.4.1933 an Hitler, ARKzl. Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34, Band I. Boppard 1983, 344. 64 Kabinettsprotokoll vom 21. 5.1932, ARKzl (wie Anm. 40), 2554. 65 vgl. Pünders Erklärung vom 18.5.1932, ARKzl (wie Anm. 40), 2534 f. und Hermann Pünder, Politik in der Reichskanzlei. Stuttgart 1961, 123 f. 66 Staatssekretär Meißner am 26.5.1932, in: Pünder (wie Anm. 65), 126. 67 Am 29.5.1932, vgl. BTÜning (wie Anm. 51), 600. 68 Am 28.5.32, vgl. Quaatz (wie Anm. 60),191. 69 Aufzeichnung vom 30.5.1932, Pünder (wie Anm. 65), 129. 70 Aufzeichnung Westarps 1. 6.1932, Politik (wie Anm. 43), 1519. 71 Ritter (wie Anm. 2), 59.

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Auf eine "langfristige Notstandsdiktatur" (67) hinauslaufende Pläne mußten allerdings befremden, und selbst Ritter gesteht, daß Goerdeler hier "mit dem Verfassungsrecht ein gefährliches Spiel" trieb. Während man ihn für "einen Zusammenschluß von Deutschnationalen und Mitte" 72 oder eine Anti-Hugenberg-Fraktion innerhalb der DNVP73 gewinnen wollte, wurde vor allem das industriefreundliche Ziel einer "Zerschlagung des Tarifrechts" 74 scharf kritisiert, "wobei auch Goerdeler mitgespielt hat", während sich "Brüning und Stegerwald verweigert" hätten. "Das sind im wesentlichen die Goerdelerschen Ideen gewesen." Bereits im Juni erhielt Papen erste Vorlagen zur Wirtschafts- und Verwaltungsreform, und obwohl seine Amtszeit zum 1. 7.1932 beendet war, folgte schon bald nach dem berüchtigten ,Preußenschlag' die nächste Ausarbeitung, was beweist, wie schnell er sich der neuen Lage anzupassen verstand. Auch inhaltliche Parallelen zwischen den Plänen von 1932 und jenen von 1944 sind kaum zu übersehen. Goerdeler bezeichnete den Parlamentarismus als "verhängnisvoll" (358),75 doch habe "die Natur ... von selbst" mit dem Präsidialregime eine Lösung gefunden, um den Übergang "zur Monarchie, die nach meiner Ansicht für Deutschland die beste und freieste Verfassung ist, so dauerhaft und autoritativ wie möglich" zu gestalten. Konkret wünsche er eine Zweidrittelmehrheit für Regierungswechsel und als Gegenpol zum Reichstag ein Oberhaus, das durch "Wirtschaftsstände" (359) oder vom Staatsoberhaupt zu berufen sei. Der Staatsgerichtshof möge "für rein politische Akte des Reichspräsidenten und der Reichsregierung ausgeschaltet werden". Preußen sei nun endlich zu mediatisieren, die Personalrekrutierung werde Landräten und Oberbürgermeistern anvertraut, darin liege "die beste Gewähr gegen parteipolitische Schiebungen und Kuhhandel" (363). Die sie wählenden Organe sollten nur noch "zweimal jährlich" (364)zusammentreten, ihre Hauptausschüsse unter Vorsitz der Amtsleiter tagen, "und zwar nicht in öffentlicher Sitzung". Künftig sei eine "kaufmännische Verwaltung" zu fordern, "die auf wirtschaftlichen Erfolg gerichtet ist", defizitäre öffentliche Unternehmen seien 72 7.6 . 1932 Graf Westarp an Rademacher, in: Erich Matthias / Rudolf Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien. Düsseldorf 1960, 633; vgl. den Hinweis von Hans Booms auf die "mit einem kläglichen Fehlschlag" (ebd., 531) endende Berliner Versammlung von DVP, CSVD, VKV, WP und des Landvolks im Juni 1932, die "in Goerdeler den zugkräftigen Führer der neuen Bewegung zu finden hofften". 73 Auch dieses durch Wilmowsky betriebene Projekt scheiterte an Goerdelers Weigerung, Stellung gegen den Parteivorsitzenden zu nehmen, vgl. Larry E.Jones: Sammlung oder Zersplitterung? Die Bestrebungen zur Bildung einer neuen Mittelpartei 1930-33 in: VJhZG 25, 1977, 286. 74 Hermann Dietrich (DStP) am 12.6.1932, in: Politik (wie Anm. 43), 1534. 75 Denkschrift vom 8. 8.1932, ARKzl (wie Anm. 54),357.

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unverzüglich "zu liquidieren" (365). An den Schulen habe "sich grober Unfug ... eingeschlichen zum Zwecke höherer Besoldung" (366). Wo bisher ein einfacher Gesangslehrer reichte, unterrichte nun "ein hochgezüchteter Studienrat". Trocken heißt es, "wer nicht unmittelbar einer akademischen Bildung bedarf, ist [von] ihr auch fernzuhalten und der ... Berufsschule zuzuführen." Wenig pädagogischen Sinn bewies der letzte Satz, "Klassenfrequenzen sind zu erhöhen, mindere Begabungen rechtzeitig auszuschalten ... " Betriebe, die rationalisieren, würde er höher besteuern. "Die Arbeitslosenversicherung wird ganz aufgehoben", Fürsorge nur noch jenen gewährt, die "dafür 1 bis 3 Stunden täglich arbeiten, sonst nicht" (370),zusätzlich müßten "Arbeitszeit und Arbeitslohn um 25 % durch Betriebsvereinbarung verändert werden" (371) können. "Mit lebhafter Verwunderung habe ich gelesen, daß eine wundervolle Autostraße Köln-Bonn hergestellt ist in einem Jahre, das ... die Reichsbahn an den Rand des Zusammenbruchs bringen wird. Solche Maßnahmen sind schlechterdings nur sinnlos" (372). Den patriotischen Höhepunkt bildete aber der Dreischritt: "Reparationsfreiheit, Wehrlreiheit und Befreiung des Ostens" (373 f.). Der Leipziger bot Papen an, NSDAP und Zentrum zur erneuten Vertagung des Reichstags zu bewegen, damit die Regierung "eine faire Chance" 76 erhalte. Er selbst wolle "in gleichem Sinne" mit Hugenberg verhandeln. Noch sein Biograph war "überrascht" 77 vom Bekenntnis zum neuen Kurs, als Goerdeler die "Auflockerung der Tarifverträge" (466)78 und Lohnkürzungen ankündigte. Erneut ist er als Kanzler oder DNVP-Vorsitzender im Gespräch;79 und das preußische Zentrum erwartet schon eine begrenzte Koalition mit der NSDAP unter "GoerdeIer oder Strass er als Kanzler". 80 Doch die Nazis erklären, "eine Wahl Goerdelers zum Ministerpräsidenten käme ... überhaupt nicht in Frage". 81 Als Hindenburg dann aber Schleicher zum Nachfolger Papens ernannte, war die Rolle des konservativen Verwaltungsfachmanns ausgespielt. Immerhin habe man sich "aus dem Sumpf fortschreiten76 Ministerbesprechung vom 31. 8.1932, ARKzI (wie Anm. 54), 481. 77

Ritter (wie Anm. 2), 62.

78 Das Aufbauprogramm der Reichsregierung und die Gemeinden (23.9.1932), in:

Der Städtetag 26, 1932,466-470, vgl. seine Rede vom 2.12.1932 in Berlin, die eine Bedürftigkeitsprüfung und das Prinzip, "alle öffentlichen Etats als eine Einheit zu betrachten", verkündete, in: Der Städtetag 26, 1932, 582. 79 Volkskonservative Stimmen, 8.10.1932, vgl. Morsey / Matthias (wie Anm. 72), 565 f. Quaatz erwähnt ein Gespräch mit Meißner am 15.11.1932 über die unklare Lage in Preußen, und dieser "kam dann mit Goerdeler heraus!" Quaatz (wie Anm. 60), 210. 80 Oberpräsident Gronowski am 19. 11.1932 in Dortmund (Aufzeichnung Graf v. Galen), in: Morsey / Matthias (wie Anm. 72), 331. 81 Grass (Zentrum) am 26.11.1932, in: Morsey / Matthias (wie Anm. 72), 427.

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der Verschuldung herausgearbeitet" 82 und brauche nach Aussetzung der Reparationen nicht mehr "beim Ausland zu betteln".

V. Die Wendung zu Hitler Goerdeler hat auch nach dem Machtwechsel versucht, autoritäre Vorstellungen in die Praxis umzusetzen; sein Name war bis zuletzt für ein konservatives ,Kampfkabinett' gehandelt worden,83 und gewisse konspirative Beziehungen bestanden fort,84 doch nun gelte es, "durchzugreifen mit einer breit zusammengesetzten Regierung". 85 Seine persönliche Beteiligung scheiterte nur daran, daß von ihm "zu große Vollmachten verlangt" 86 wurden. So blieb er in Leipzig ,auf dem Posten' in der Überzeugung, daß die Nazis zur vernünftigen Lösung von Sachfragen auf ihn angewiesen seien. Einige Szenen mögen das Dilemma illustrieren. Während des Vortrags eines Schweizer Bankiers vor sächsischen Industriellen kommt es am 14. März zu Rempeleien, und das Stadtoberhaupt erklärt dem jüdischen Gast, "er selbst stünde allein da. Zu niemandem in der gegenwärtigen Regierung habe er Vertrauen . . . aber er lasse sich nicht entmutigen Deutschland dürfe nicht Verbrechern in die Hände fallen", 87 - als ob dies nicht längst geschehen war! "Einen Tag nach" 88 dem 1. April besucht er demonstrativ jüdische Pelzgroßhändler im Leipziger Brühl, "um damit seinen Abscheu auszudrükken." Das Pendant zu dieser hilflosen Geste der Humanität bildet die machtvolle Symbolik des Staates. Die Zusammenarbeit mit Hitler leitete Goerdeler im Bewußtsein ein, "ich habe gestern die größte Dummheit meines Lebens gemacht: ich habe mich mit dem größten Demagogen der Weltgeschichte verbündet". 89 Er war in der Reichskanzlei vorstellig geworden, damit an den Feiern zum 50. Todestag Richard Wagners in Leipzig 82 Denkschrift ,Zur Lage' (Dezember 1932), Ritter (wie Anm. 2), 63 . 83 Gespräch zwischen Quaatz und Hugenberg am 28. 1.1933, in dem Goerdeler als

Arbeitsminister genannt wird. Quaatz (wie Anm. 60), 228. 84 Nach Brünings Erinnerung begann die Sammlung der Opposition bereits im Mai 1933. "Goerdeier ging von einer Gruppe zur andern, um die Ziele und Form einer neuen Regierung zu besprechen." Heinrich BTÜning, Briefe und Gespräche 1934-1945. Stuttgart 1974, 26). Er selbst hat Deutschland im Mai 1934 verlassen. Ein SPD-Abgeordneter tröstete sich am 10. 6. 1933 mit Goerdelers Äußerung, "es werde bestimmt der Tag kommen, wo man die Sozialdemokratie zur Aufräumung eines Schutthaufens benötige." Morsey / Matthias (wie Anm. 72), 262. 85 29. 1.1933 an den Sohn Ulrich, Meyer-Krahmer (wie Anm. 18),71. 86 "Quaatz am 5. 2.1933, Quaatz (wie Anm. 60);" 231. 87 Felix Somary, Erinnerungen aus meinem Leben. 4. Aufl. Zürich 1959, 231 f . 88 Erinnerungen von Henry Rosedale, Meyer-Krahmer (wie Anm.18), 73, vgl. Ritter (wie Anm. 2), 68. 89 Äußerung gegenüber Hugenberg, Ritter (wie Anm. 2), 64.

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"wenn nicht der Herr Reichskanzler persönlich, so doch zum mindesten der Herr Reichsminister des Inneren .. . teilnehmen möchte" . 90 Tatsächlich sollte Hitler der Einladung folgen und im nächsten Jahr gemeinsam mit Goerdeler den Grundstein des Denkmals legen. 91 Der selbstbewußte Bürgermeister sprach von "tiefsten Geheimnissen der Verwaltung" (120) , 92 in der man sich nur mit "Härte und mit absolut gerechter Sachlichkeit" (121) behaupte. Es sei ein "Grundfehler" gewesen, Probleme kollegial oder gar durch Repräsentativorgane lösen zu wollen. Im Fürsorgewesen habe man "den Gedanken der Subsidiarität verlassen, die eigene Hilfe und die Familienhilfe in den Hintergrund gedrängt und damit die höchsten Energien des einzelnen stark geschwächt." Nicht im Einfluß der Parteien, sondern "in einer sorgfältigen Auswahl der Menschen und letztlich in der beruflichen und charakterlichen Eignung des Leiters der Verwaltung" (114)93 liege die Gewähr innerer Stabilität. Angesichts der "Verarmung des Volkes" (119) wäre jede Übernahme wirtschaftlicher Risiken durch den Staat "opportunistisch und in höchstem Maße gefährlich". Noch 1931 reagierte man mit "einem Lächeln" auf den Vorschlag, die Erfüllung öffentlicher Verpflichtungen von der ökonomischen Lage abhängig zu machen. Frauen "zu allen Berufen in gleicher Weise zuzulassen wie den Mann, halte ich organisch für vollkommen verfehlt" (122) . Krankenhausneubauten sollten "gesetzlich verboten" und tariflich bezahlte Schwestern durch solche ersetzt werden, die "dem Gedanken des Aufgehens im Dienst der Nächstenliebe" verpflichtet seien. Nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes erklärte er Leipziger Stadtverordneten, es bestehe die Chance, das Reich im Innern "einheitlich" zu gestalten, deshalb sei man "verpflichtet . .. , mit unserer ganzen Person hinter die Arbeit der Reichsregierung uns zu stellen, ihr die Arbeit auf jede uns mögliche Weise zu erleichtern" . 94 Im April offerierte er Hitler seine Ideen für die als "Selbstverwaltungsangelegenheit" (343) 95 neu zu organisierende Arbeitslosenfürsorge, wodurch 2. 2. 1933, ARKzI (wie Anm. 63) , 3I. Am 6.3.1934, vgl. die Photos bei Hartmut Zelinsky, Richard Wagner. Ein deutsches Thema. Berlin / Wien 1983, 224, und Alain de Benoist, Der Bildhauer Emil Hipp und sein Werk. Das Richard-Wagner-Denkmal für Leipzig, Tübingen 1990, 8 f., Meyer-Krahmer (wie Anm. 18),87 f ., und Goerdelers Kritik vom 18.3.1936, "ich lege Wert darauf, daß in dem Wagner-Denkmal die ,reine Liebe' anstatt der ,sinnlichen Liebe' zum Ausdruck gebracht wird". Zelinsky, 226 . 92 Das Gutachten des Reichssparkommissars über die Verwaltung der Stadt Stuttgart, in: Reich und Länder 6,1932,120-127. 93 Das Gutachten des Reichssparkommissars über die Verwaltung der Stadt Mannhein [Februar 1933], in: Reich und Länder 7, 1933, 113 -126. 94 Die Gemeinde als Teil des Reichsganzen, Der Gemeindetag 27,1933, 148. 95 Entwurf vom 18.4.1933, ARKzI (wie Anm. 63),343-348. 90 91

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"Unterstützung von Leistung abhängig gemacht" (344) werden sollte. In einer interessanten Begriffskombination versprach Goerdeler, so "zur technisch vollkommensten, finanziell billigsten, sozial gerechtesten Betreuung" zu gelangen. Die Vorlage wurde in Berlin wohlwollend aufgenommen und der Leipziger zu Hitlers Beratungen mit den Kommunalverbänden eingeladen. 96 Der dann " unter Leitung" 97 Goerdelers im Finanzministerium angefertigte Entwurf galt als "geeignete Grundlage für die weitere Arbeit", worauf sich der Oberbürgermeister ermutigt an Hitler wandte, der "die Güte" 98 hatte, ihn um weiteren Rat zu bitten. "Etwas Vollendetes" entstehe nur, wenn man klare Kompetenzen schaffe und alte Strukturen "voll aufzulösen" wage. Goerdeler versicherte, diese "neuen Kräfte sind besten Willens und werden, vor eine große Verantwortung gestellt und von Ihnen, hochverehrter 99 Herr Reichskanzler, auf deren Bedeutung besonders aufmerksam gemacht, sicher nicht versagen." Tatsächlich meinte nun auch Hitler, daß "die Betreuung der Arbeitslosen durch die Gemeinden ... zweckmäßig erscheine." 100 Gleichzeitig prophezeite der Konservative an offiziösem Ort, das Reich könne seine Ziele nur erreichen, "wenn ... die Fronttruppen organisatorisch, technisch und moralisch vollkommen in Ordnung sind" (421).101 Deshalb möge auf die "Fieberkurven" (422) sozialer Konflikte mit größtmöglicher Zurückhaltung und nur dort reagiert werden, wo "die Kräfte unmittelbarer Nächstenliebe . . . nicht mehr ausreichen", statt wie die "schrankenlose parlamentarische Demokratie" alles von oben her zu uniformieren. "Organisches Leben wächst von unten", etwa durch die "nicht unweise" (423) Regelung, beim Wahlrecht dem Haus- und Grundbesitz Vorrang einzuräumen. Beamte und Politiker dürften nicht Mitglieder sie kontrollierender Gremien sein, und "Dauerempfänger von Armenunterstützung können nicht den gleichen Einfluß haben wie diejenigen, die die Mittel aufbringen. Langfristig gehe es um die "Rückführung der Menschen aus Großstadthöhlen in die Natur" (425) . Wichtigstes Mittel sei eine "Gegenschaltung" (424) mit der politischen Führung gemäß der vorwitzigen These "Je stärker die Macht des Staates wird, um so großzügiger, elastischer, unsichtbarer kann er sein Aufsichtsrecht ausüben", daher "oben autoritative, von den [!] Parteien unabhängige Staatsführung, unten Freimachung der zur Mitarbeit drängenden Kräfte des Volkes". Alle politischen ErschütTelegramm 2. 5. 1933 Lammers an Goerdeler, ARKzI (wie Anm. 63), 349. 29. 5. 1933 Göring an Schwerin v. Krosigk, ARKzI (wie Anm. 63), 502. 98 26 . 5. 1933 an Hitler, ARKzI (wie Anm. 63), 50l. 99 Bei Papen hatte er nur die Anrede "sehr geehrter Herr Reichskanzler" (8. 8. 1932) gewählt. 100 Rundschreiben der Reichskanzlei, 28. 6. 1933, ARKzI (wie Anm. 63), 656. 101 Entwicklungstendenzen im deutsche Kommunalrecht, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt 54, 1933, 421-425. 96 97

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terungen aber, warnte Goerdeler den ,Führer', "haben stets ihren Ausgang genommen in ungeordneten öffentlichen Finanzen". "Abredegemäß" (119)102 überreichte er also ein Papier, das vor einer "übersteigerten öffentlichen Arbeitsbeschaffung", dem "Weg vertrauensseligen Pumpes" (124) und der "Ankurbelungsmaschine" überhaupt warnte. Zwar nützten Gewinne der Einzelnen "irgendwie" auch der Gesamtheit, doch habe sich "eine kurzsichtige Profitgier entwickelt, die sofort totgeschlagen werden muß" (126). Nötig seien "eiserne Preisüberwachung" (127), die Beseitigung der "Fesseln sinnloser Tarifverträge" und der "Wahnsinnsvorstellung" des Achtstundentages. Aus "psychologischen" (128) Gründen erwarte er deshalb von der "Erziehungsarbeit der Deutschen Arbeitsfront" 103 eine durchgreifende, dem "einfachen Volksempfinden" entsprechende Mentalitätsänderung vom Anspruchs- zum Leistungsprinzip. Der Unternehmer erhalte wohl "freie Hand" zur Kostenkalkulation, werde aber "gezwungen, den nationalsozialistischen Gedanken zu verwirklichen und seiner Belegschaft vollkommenen Einblick in Zweck, Stand und Möglichkeiten des Unternehmens zu gewähren". Man brauche den freien Wettbewerb, "dazu müssen wir uns endlich einmal bekennen", damit sich niemand mehr "verkriecht ... hinter dem Schutz von ... Kartellen und Syndikaten." (129) Zwar fügte er hinzu, "der Arbeitnehmer muß geschützt werden gegen Ausbeutung", doch als Goerdeler "Sie in so kurzer Zeit noch einmal zu belästigen" 104 wagte, ging es um die Auflösung der noch immer von den Kommunen unabhängigen Arbeitsämter. VI. Die NS-Gemeindeordnung 1935 Goerdeler plädierte für eine "Wiederherstellung der Verantwortung im Sinne des Führerprinzips" .105 Die im Frühjahr unter seiner Mitwirkung durchgeführte Gleichschaltung der kommunalen Spitzenverbände 106 bezeichnete Goerdeler als "ersten Schritt zur Inangriffnahme des großen 102 Denkschrift für Frick, 7.9.1933, BA Potsdam Bd. 9931, BI. 119. Der Minister hatte sich die Anregungen "im wesentlichen zu eigen gemacht", als er Goerdeler zur Mitarbeit an der DGO aufforderte, vgI. Krüger-Charle (wie Anm. 55), 392 und 402, und Timothy Mason hin: Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934, in: Hans Mommsen u. a. (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1974, 33l. 103 Zu Goerdelers volkspädagogischen Versuchen, selbst durch "Morgenkurse mit einer Elite von Arbeitern" und populäre Broschüren wie ,Im Lichte der Preise' oder ,Durch Preise zur Klarheit' zu wirken, vgI. Ritter (wie Anm. 2), 69. 104 17.3.1934 an Hitler, ARKzI (wie Anm. 63),1183. 105 12.10.1933 an Frick, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 388 und 400. Im beigefügten Gutachten charakterisierte Goerdeler die Selbstverwaltung zeitgemäß als "immanente, in unserem Blute liegende Eigenart" deutschen Verfassungsdenkens. 106 vgI. zum Folgenden die Angaben bei Krüger-Charle (wie Anm. 55), 400.

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Reformwerks" 107 im Steuer- und Verfassungsbereich. Überhaupt bietet die Entstehungsgeschichte der Reichs-Gemeindeordnung "des Merkwürdigen genug",108 denn sein Name tauchte sofort auf, 109 als sich das Innenministerium mit der neuen Preußischen Gemeindeverfassung konfrontiert sah, und der Leipziger wandte sich nun direkt an Hitler, um ein "artfremdes System wie das der französischen Präfektur" llO zu verhindern. Man hatte bewußt auf einen Fachmann zurückgegriffen, der nicht in die NSDAP eingetreten war. l l l Anfang 1934 übersandte er eine Vorlage, die das "verständige Zutrauen" 112 der aufsichtführenden Instanzen und auf Gemeindeebene das Gebot der Überparteilichkeit als ,Bewußtsein der unlöslichen Schicksalsgemeinschaft' (§ 46) betonte. Die Parteifunktionäre wünschten ihre Rolle zu stärken, was der Konservative gebilligt hat, ll3 und paßten sich dafür in Sachfragen "stark an Goerdelers Entwurf an." ll4 In der Ministerialkommission konnte sich der Leipziger mit einer nachträglichen Rechtsaufsicht "weitgehend durchsetzen", ll5 doch vor allem die Länderregierungen und der Stuttgarter Kollege Strölin kritisierten seine "zweifellos liberalistischen Gedankengängen" ll6 entstammende Haltung. Obwohl nun die Meinungen" hart aufeinander" 117 prallten, hatte sich Goerdeler als Berater des Regimes profiliert. In seinen damaligen Publikationen sind auch sprachliche Zugeständnisse kaum zu übersehen, wenn von einer zweiten ,Entdek-

107 Durch Staatssekretär Pfundtner (früher DNVP) erbetenes Memorandum für Frick, 9. 12.1933, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 388. 108 Ritter (wie Anm. 2), 44. 109 In Berlin herrschte "völlige Hilflosigkeit". Horst Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung. Stuttgart 1970, 119. Noch am gleichen Tag ist Goerdeler in den Vorstand des ,Deutschen Gemeindetages' bestellt worden, vgl. ARKzI (wie Anm. 63), 139. llO 14. 12.1933 an Hitler, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 389 und 401. III Goerdeler hatte "im Herbst 1933, als ihn Hitler zum Eintritt in die Partei auffordern ließ, dies verweigert" ( Ritter (wie Anm. 2), 65), aber "immerhin Mühe, diese Ablehnung Rudolf Heß einigermaßen plausibel zu machen" (463); zum Verhältnis zur DAF vgl. 5. 1.1934 an den Reichsverband kommunaler Arbeitgeberverbände (Matzerath (wie Anm. 109), 254). Er war aber Mitglied des ,Bundes nationalsozialistischer Juristen' ( Krüger-Charle (wie Anm. 55), 400); vgl. H. Frank (Hrsg.), Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 1, 1933/34, 10 und 253). 112 Entwurf vom 6. 1.1934 (§ 140), Matzerath (wie Anm. 109), 138. 113 Goerdeler erklärte am 14.6.1934, er akzeptiere die "besondere Rolle" eines NS-Gemeinderatsvorstehers, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 390, dort 401 weitere Korrespondenz vom Sommer 1934. Nicht diskutiert wurde natürlich das Recht der Partei, die Bürgermeister einzusetzen. ll4 Matzerath (wie Anm. 109), 139. 115 Peter Löw, Kommunalgesetzgebung im NS-Staat am Beispiel der Deutschen Gemeindeordnung 1935. Baden-Baden 1992, 158, zur Tätigkeit der Kommission vgl. auch ebd., 63 . ll6 Brief vom 18.4. 1934, Löw (wie Anm. 115), 70. 117 vgl. Matzerath (wie Anm. 109), 145.

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kung' Amerikas als Absatzgebiet "der weißen Rasse" (79) 118 die Rede ist oder Frankreich vor "der Gefahr der Rassenvermischung" gewarnt wird. Als vom wachsenden japanischen Einfluß bedrohter "Lebensraum" müsse Europa seine Handelsinteressen rechtzeitig koordinieren, der ,totale Staat' (81) in sich "die kranken, auseinanderstrebenden und am Ganzen zehrenden Kräfte überwinden", denn "darin liegt das Geheimnis der Rasse begründet" (82), daß jedes Volk auf "erbeigentümliche" Art die zu seiner Identität passende Struktur finde. Der Kommune stehe keine politische Kompetenz mehr zu, "wie es der Parteienstaat fälschlich erweise ... geschehen ließ". Goerdeler bekundete die "feste Überzeugung, ... daß in ihr der Führer eine elastische Grundlage seines Wirkens findet" (83). Jeder folge im Gemeinderat allein "der Stimme seines Gewissens", der er deshalb vor der Entscheidung "nach altem germanischen Recht" Ausdruck verleihen müsse. In den Ressorts Sicherheit, Post, Verkehr, Erziehung, Gesundheit und "Rassenhygiene" habe der Staat selbstverständlich "jederzeit befehlend einzugreifen" . Im übrigen beanspruchte Goerdeler aber für die Gemeinde eine "Eigenseele, geboren aus Blut und Boden, aus Natur und Schicksal" (86), der man Gelegenheit geben möge, "durch den großen Magnet gesunden Vertrauens sich einspielen zu lassen auf die Ziele des totalen Staates. "Daher warne er vor "grenzenlosem, häufig absichtlich gesteigertem Mißtrauen" (449) 119 gegenüber den unteren Instanzen. "Ich verschließe mich nicht den großen und packenden Regungen einer Zeit des Auf- und Umbruchs" (451). Gerade deshalb mahnte der Konservative rhetorisch geschickt gleich viermal, "ich sehe die Gefahr", typische "Fehler des parlamentarischen Systems zu wiederholen" (452). Im Kommentar zu einer Analyse, die nach der "nationalsozialistischen Revolution" (179)120 entstanden war, ist dann von einer Balance zwischen "dem alten Ideengut der Selbstverwaltung und dem erneuerten Ideengehalt des Führertums" (180)die Rede. "Mangelnde Gesetze waren es ... nicht, welche die Schäden der Jahre 1919-1930 heraufbeschworen" (181). Dem "charakter- und haltlosen Staat" Weimars, der seine Unsicherheit mit übertriebener Organisation kompensierte, stellte Goerdeler den militärischen Erfolg bei Tannenberg 1914 gegenüber, denn er lehre "am lebendigsten Beispiel, wie Befehl und Selbständigkeit der Unterführer zusammen wirken müssen ... Heraus aus dem erstarrenden Stellungskrieg der Vielge118 Die Gemeinde im nationalsozialistischen Staat, in: Erwachendes Europa 1, 1934, 79 - 86. 119 Einheit der örtlichen Verwaltung tut not!, in: Der Gemeindetag 28,1934, 1. 8. 1934, 449 -452. 120 Das Gutachten des Reichssparkommissars über die Verwaltung der StadtHalle, in: Reich und Länder 8, 1934, 179 -190.

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setzgebung!" Einerseits lehnte der Beamte staatliche Konjunkturprogramme und vor allem den Anstieg der Personalausgaben ab, da es anscheinend "viel bequemer ist, gerade auf diesem Gebiet sich als sozial fortschrittlich zu erweisen, aber andere die Kosten tragen zu lassen. Nein!" (184) Bald darauf aber hieß es in einer Vorlage für Hitler, "wir müssen endlich das deutsche Volk zu seinem endgültigen Befreiungskampf rüsten." 121 Das führte zu dem "etwas phantastisch anmutenden" (73) Plan, mehrere Millionen Menschen durch Nebenerwerbssiedlungen der Arbeitslosenstatistik zu entziehen und zur Selbstversorgung anzuhalten. Außenpolitisch protestierte er gegen den Freundschaftsvertrag mit Polen, denn "das von seiner Ostmark getrennte Deutschland kann überhaupt unter vernünftigen Bedingungen nicht leben; der Korridor ist ein Pfahl im Fleisch seiner Wirtschaft und seiner Ehre." (74) Eine Revision sei allerdings nur möglich, wenn Deutschland dem Westen die Wahrung "gewisser Grundrechte" (75) gegen "nicht richterlich gedeckte Beeinträchtigung" - also keineswegs prinzipiell - zusichere. Sehr vorsichtig ist von einer "Konsolidierung der deutschen Rassepolitik" 122 die Rede, deren Maßnahmen dann im Ausland "als Selbstschutz [!] kaum beanstandet werden", sofern sich "nunmehr alles unter eiserner Disziplin und unter Vermeidung von Ausartungen und Kleinlichkeiten vollzieht." Ob hier wirklich ein "sehr energischer und mutiger Versuch" vorlag, im Nationalsozialismus "ein bürgerliches Reformprogramm" zu verwirklichen, mag offen bleiben, jedenfalls ist Goerdeler kurz darauf von Hitler in "betont liebenswürdiger Form" (76) wieder als Preiskommissar eingesetzt worden, was ein Vertrauensbeweis für die Fähigkeit des Bürokraten war, Konflikte zu versachlichen und so erst die organisatorischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des ,Dritten Reichs' zu schaffen . .

VII. Reichskommissar Ritlers Hitler fiel ,ein Stein vom Herzen', 123 als Goerdeler ihm erklärte, eine so komplizierte Tätigkeit wie die Preis kontrolle sei staatlichen Stellen und nicht jenen der Partei anzuvertrauen. Dieser berief sich nun ausdrücklich auf "das Vertrauen des Führers", 124 lobte die DAF wegen ihrer "disziplinierten Mitwirkung" bei der Lohnpolitik, und verurteilte zu niedrige Kalkulationen, um "auf Kosten dritter (Staat, Gefolgschaft und Geldgeber) mit Preisen zu schleudern", 125 weil man das "liberalistisch nennen könnte". Die 121 Denkschrift für Hitler, Sommer 1934, vgl. Ritter (wie Anm. 2), 72 ff., der das Dokument als regimekritisch interpretiert. 122 Nach Krüger-Charle (wie Anm. 55), 394. 123 Aufzeichnung Goerdelers, nach Ritter (wie Anm. 2), 77 . 124 Berliner Tageblatt Nr. 531, 9. 11.1934, Abendausgabe, 1. 125 in: Der Deutsche. Tageszeitung der DAF, Nr. 273, 23.11.1934, 1 f.

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Redaktion meinte, man habe es hier mit dem "alten nationalsozialistischen Grundsatz des Leistungsprinzips" zu tun, das "bei allen anständigen Volksgenossen freudigen Widerhall finden" werde. Jeder habe Opfer zu bringen, der eine beim Lohn, der andere beim Gewinn. "Unzuverlässige Unternehmer müssen als solche erkannt und entweder geändert oder ausgeschieden werden." 126 Im Zentralorgan der NSDAP erscheint ein Interview mit Goerdeler in dessen Büro, wo seit Wochen "das Kommen und Gehen .. . kein Ende nahm", 127 mit dem Ergebnis, daß "Angstkäufe" und "Hamsterpsychose" gestoppt werden konnten. "Hier wird die Unterredung von einem Ferngespräch unterbrochen. Ein Regierungspräsident ist am Apparat und informiert sich beim Preiskommissar über die Marktversorgung einer ganzen Provinz .. . " Dann bedankt sich Goerdeler für "die Hilfe, die ihm bei seiner Arbeit insbesondere von der Partei zuteil wird", wie er seinerseits "die Gauleiter ... stets persönlich" berate. Es folgte eine lange Liste der NS-Organisationen, deren Vertreter man regelmäßig zu Besprechungen versammele, die, "wie Dr. Goerdeler ausdrücklich betont, besonders fruchtbar waren." Angehörige von Partei, DAF und ,Hago' 128 habe er "als Mitarbeiter" voll integriert, und geflissentlich unterstrich der Kommissar, "daß gerade diese enge Verbindung mit der Partei, die die Brücke zum pulsierenden Leben des Volkes sei, eine der wesentlichsten Förderungen seiner Arbeit darstelle." 129 Bei der Gemeindeverfassung verwahrte sich der Leipziger allerdings gegen "Eingriffsgelüste der Partei" 130 und erinnerte trocken an "jene Phase der Nachkriegszeit", 131 als schon einmal selbsternannte Räte ohne Sachkompetenz seine Tätigkeit behinderten. Sinnvoller wäre es, den örtlichen NS-Vertreter, "man nenne ihn wie man wolle", in den Gemeinderat zu delegieren, wo er "organisch" im Apparat "verankert" wäre. Obwohl sogar abfällige Worte wie ,bürokratischer Zentralismus', ,Schematismus' und ,Verödung' 132 fielen, kam es zu einer weiteren Begegnung mit dem ,Führer', wobei dahingestellt bleiben mag, ob dieser Goerdeler "zu sich befohlen" 133 hat, oder es dem Kommissar "gelang, bis zu Hitler vorzudringen" 134 und Schulthess' Europäischer Geschichtskalender 75, 1934, 269 f. ,Völkischer Beobachter', Ausgabe A, Nr. 340, 5.12.1934, 2. 128 Nationalsozialistische Handwerks-, Handels und Gewerbe-Organisation. 129 Zu weiteren Publikationen vgl. Ritter (wie Anm. 2), 76 f. und 464 f. 130 Brief an Frick, Ende 1934, KTÜger-Charle (wie Anm. 55) 390 und 401. 131 11.1.1935 an Frick, BA R 43 II / 569, zit. von Peter Diehl-Thiele, Partei und Staat im Dritten Reich. München 1969, 148 f. 132 Matzerath (wie Anm. 109), 152. 133 Ritter (wie Anm. 2), 44, nach Aufzeichnungen Goerdelers 1944. 134 Matzerath (wie Anm. 109), 153, ebenso Löw (1992), 90, während KTÜger-Charle (wie Anm.55) diplomatischer formuliert, Goerdeler habe sich "bei Hitler Gehör verschaffen" (390) können; vgl. ebd. 401 die Serie von Briefen an Hitler, Lammers, Frick, Gürtner, Schacht und Reichenau. 126 127

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ihn so zu beeindrucken, daß er versprach, die Partei wolle in den Kommunen zwar die Personalentscheidungen steuern, sachliche Fragen aber nicht mehr beeinflussen. 135 Goerdeler rechtfertigte die Selbständigkeit seines Amtes, denn er habe "den Wahnsinn der . . . falschen Demokratisierung, der das Jahrzehnt von1920 bis 1930 .. . beherrschte", täglich erfahren. An der "Anonymität der Verantwortlichkeit ... litt, krankte und starb das vergangene System" .136 Man benötige deshalb eine echte "Führerrolle" , "wenn jenes innige Einssein von Partei, Gemeinde und Staat erreicht und sichergestellt werden soll, das die Lebensgrundlage des Totalitätsstaats ist." Konkret bedeute dies, jeder Gemeinderat habe "sich zu erheben, wenn er eine vorgeschlagene Regelung des Bürgermeisters für unrichtig hält; und diese seine abweichende Meinung müßte, wenn er bei ihr verbleibt, schriftlich festgehalten bleiben. So, nun weiß der Bürgermeister, wen und welche Meinung er vor sich hat . .. ", und drohend fügte er hinzu, es könne später "verglichen werden, wessen Ansicht sich als die richtige erwiesen hat." Hitler persönlich informierte daraufhin sein Kabinett, daß "Dr. Goerdeler sich sehr energisch gegen eine staatliche Genehmigung[spflicht] ausgesprochen habe, weil auf diese Weise die Initiative der Oberbürgermeister eingeschränkt würde. Der Führer und Reichskanzler betonte, daß dieses Argument auf ihn Eindruck mache". 137 Obwohl sich die Berliner Bürokratie dann letztlich doch gegen Hitlers Zugeständnis durchsetzen konnte, galt Goerdeler die DGO als "das beste seit 1933 verabschiedete Gesetz" . 138 Unverdrossen begann er mit ihrerKommentierung, um den Kompromißcharakter des Erreichten festzuschreiben. "Die richtige Lösung ist eine Kunst" (73),139 sofern sich die Gemeinden nun als "elastische Abfederung" des Staates bewährten. "Es bedarf heute des Geistes eines Friedrich Wilhelm 1.",140 um sie "zum gewissenhaften Treuhänder der Volksgemeinschaft" (988) werden zu lassen. "Wenn die Zellen gesund sind, so ist es das Ganze." Schon im Weimarer "Parteienstaat" (132), dessen Fraktionen sich "in Bewilligungsfreudigkeit" überboten, "begann der Beamte, Hüter des Geldsäckels der Gemeinde zu werden." 135 Nach Löw (wie Anm. 115), 133, sollte der NS-Vertreter "damit einer gewissen staatlichen Kontrolle unterworfen werden", was ganz im traditionellen Konfliktschema Staat-Partei gedacht ist, doch Goerdeler ging es primär um den persönlichen Handlungsspielraum. 136 Leipziger Tageszeitung Nr. 22, 23.1.1935, 1 f. 137 24 . 1.1935, nach Löw (wie Anm. 115), 91. 138 1937 und auch im Rückblick 1944/45, KTÜger-Charle (wie Anm. 55), 391. 139 Die Deutsche Gemeindeordnung, in: Deutsche Verwaltungsblätter 83, 1935, 73-78 .

140 Wirtschaftliche Gedanken zur Deutschen Gemeindeordnung, in: Der deutsche Volkswirt 9, 1934/35, 987 - 990 und 131-134.

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"Man braucht von Blut und Boden nicht nur im deutschen Bauernstand zu sprechen" (27),141 erklärte er auf einer Kundgebung der Partei vor Messepublikum aus Handel und Industrie, denn "auch sie sind begründet im Blut, auch sie unterliegen den Gesetzen des Werdeganges. Es würde ihnen aber niemals zum Heil gereichen, wenn sie sich biologischen Gesetzen widersetzen und frischen Blutzustrom . .. versagen würden." So verstehe er "das mir vom Führer anvertraute Amt" (28) auch nicht als Mittel zu aktiver Preisgestaltung, denn das wäre ein Ausdruck von " Unwissenheit oder Feigheit". Zudem fehle jede internationale Marktordnung, und "ich wage zu bezweifeln, ob sie ... überhaupt ein Segen für den Fortschritt der Völker sein würde" (29). "Niemals darf die große Weisheit verloren gehen, daß der Krieg, sagen wir ... das Ringen um den Erfolg der Vater aller Dinge ist." Allerdings akzeptiere er freiwillige Preisvereinbarungen zur Umlage der Rohstoff- und Produktionskosten, wenn sonst "durch den Preis der fortgeschrittensten Betriebe die ganze übrige Wirtschaftsgruppe ruiniert würde" .142 Zuweilen erscheinen sogar Preisbindungen "zum Teil wenigstens ... gerechtfertigt", 143 sofern sie "der Erhaltung von Arbeitsplätzen und von Betriebskapital" dienen. Vor dem ,Reichshandwerkertag' formulierte Goerdeler die "Erziehung zur richtigen Kalkulation" mit scholastischer Beharrlichkeit: "das Ideal ist und bleibt nicht der Höchst-, Mindestoder Festpreis, sondern der gerechte Preis", 144 der die Unkosten decke.

VIß. Wirtschaftlicher Berater im ,Dritten Reich' Seine Position ermöglichte es ihm 1936, immer selbstbewußter aufzutreten. Als er gegen eine Vereinheitlichung der regional und personell abgestuften Gehälter protestierte und "drohte, diese Frage Hitler vorzutragen", wurde das zwar als ,individualistisch' 145 abgewiesen, ihm aber erlaubt, in Leipzig vorläufig beim bisherigen Verfahren zu bleiben. Die "Kunst der Menschenbehandlung" (13) 145a beginne schon bei der Personalrekrutierung. "Gute Volksschüler und sorgfältig ausgesuchte Versorgungsempfänger" bewährten sich eben besser als jeder Oberschüler, der "abbrechen mußte. Das haftet ihm für sein Leben an" (14), heißt es mit stigmatisierender Kühle. Statt ohne praktische Erfahrungen erteilter Studienberechtigungen "möge das Leben und die auf sich selbstgestellte Leistung über Wert und in: Deutschland in der Weltwirtschaft. Berlin 1935, 27-33. Deutsche Bergwerkszeitung, Nr.61, 13.3.1935, 1. 143 Völkischer Beobachter, Ausgabe A, Nr. 16, 16. 4. 1935, 3. 144 Berliner Börsenzeitung, Nr. 279, 18.6.1935, Morgenausgabe, 4. 145 vgl. Matzerath (wie Anm. 109), 331. 145a Die Gestaltung der Laufbahn der mittleren Verwaltungsbeamten, in: Reich und Länder 9 (1935), 12 -14. 141

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Verwendungsfähigkeit des Menschen entscheiden." Der Leipziger engagierte sich für die Investitionsgüterindustrie als Exportschwerpunkt, weil hier ein Vorsprung vor den "nichtweißen Rassen" (8)145b bestehe. "Das harte Klima ... hat die europäische Rasse widerstandsfähig und schöpferisch im Kampf mit den Naturgewalten gemacht ... Die Verfeinerung der Lebensbedürfnisse anderer Völker nötigt die weiße Rasse zu immer vollkommenerer Ausnutzung der ihr von Gott gegebenen Eigenarten." Der Konservative kannte die besonderen Qualitäten: "Gott schenkte uns die Veranlagung zur Gründlichkeit und zum Organisieren, deswegen wirkt eine hochwertige Maschine auch auf den so ideal veranlagten deutsche Menschen wie eine harmonische Symphonie . .. " Militärische, politische und wirtschaftliche Vorgesetzte bedürften der Ergänzung ihrer Autorität durch Qualifikation. Statt ,Kadaver-Gehorsam' zu erwarten möge man dem Rat "von sachverständigen und erfahrenen Männern" (1795) 145e vertrauen. Was aber bedeutet der ,Führergrundsatz' unter Zivilisten? "Sehr viel! Wirtschaften heißt kämpfen ... In unserer Zeit fortgeschrittenster Spezialisierung und Arbeitsteilung haben wir vielfach den Kampf-Charakter des Lebens vergessen", denn "unser Leben vor dem Kriege verlief für alle Gruppen des Volkes in so sicheren Bahnen ... Das, was an kämpferischem Geist vorhanden war, wurde fehlgeleitet in die Gedankengänge des Klassenkampfes". Dagegen verlangte der Beamte allen Ernstes, wie "unsere Vorfahren vor 3000 Jahren" die Sorge um Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung in den Mittelpunkt des ökonomischen Denkens zu stellen. Beim "Ringen um Lebensraum" handele es sich "in der Wirtschaft wie im Wehrwesen des Volkes um die Betätigung derselben Lebenskräfte" , die "in höchster Steigerung des Willens nur der Krieg, der Vater aller Dinge, hervorbringen kann". "Der deutsche Arbeiter und Angestellte weiß das viel klarer ... als viele Menschen mit höherer Schulbildung" (1796). "Dauernder Ausgleich schläfert den sicher arbeitenden Instinkt des Menschen ein" (1798). Doch "nur am Risiko-Gedanken des Kampfes wächst der Führer und ... der Wille der Geführten, sich zu wehren und zu kämpfen. Dem Kampf gebührt die Regel", doch möge er sich in einem rechtlichen Rahmen bewegen, dessen Wahrung die "Aufgabe des Oberbefehlshabers Staat" sei. Zugleich wuchs aber Goerdelers Skepsis gegenüber der Währungs- und Haushaltspolitik des ,Dritten Reichs', da das Regime seine Infrastrukturund Aufrüstungsprogramme durch ungedeckte Kredite finanzierte. Der Reichskommissar konnte wohl "seine entschieden liberalen Ideen ganz 145b Geleitwort zu: Die Wirtschaft im neuen Deutschland, 9. Folge: Maschinenbau (19.7.1935), in: Der deutsche Volkswirt 9 (1934/35), 7 -9. 145e Der Führergrundsatz in der Wirtschaft, in: Die Bank 28 (11. Halbjahr 1935), 1794-1799.

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unverblümt" (77) 146 vortragen, aber Schachts Operationen nicht verhindern. Im Juni 1935 kam es deshalb sogar zu einer Aussprache 147 der beiden Fachleute mit Hitter. Man wollte den Juristen also keineswegs einfach ziehen lassen, wobei wie im Konflikt mit Popitz um die richtigen Verwaltungsformen eine gewisse Rivalität unter den Experten sichtbar wird. Auch weiterhin hat sich der ,Führer' um Goerdeler bemüht, ohne ihm allerdings die gewünschten Vollmachten einzuräumen. Als Lammers im Herbst 1935 mit Goerdeler über ein ,hohes Reichsamt' verhandelte, entwarf dieser ein Gutachten, das politische Ambitionen erkennen läßt und nicht nur Hitter, sondern auch den Generälen Fritsch und Beck vorgelegt wurde. Dem Biographen Ritter galt es deshalb sogar als "das erste greifbare Dokument einer Zusammenarbeit Goerdelers mit dem späteren Führer der militärischen Opposition!" (79), obwohl inhaltlich" wenig neues gegenüber dem großen Reformprogramm vom August 1934" zu erkennen war. Immerhin wies der Leipziger nun auf "die verhängnisvollen wirtschaftlichen Folgen der neuen Judengesetzgebung" hin, bevor er dann seine Bereitschaft zur Mitarbeit in der Reichspolitik, wenn auch nicht mehr als bloßer Kommissar, sondern auf Ministerebene erklärte. Gleichzeitig 148 hatte er aber Verhandlungen mit Gustav Krupp aufgenommen und bereits Ende 1935 einen Wechsel in den Vorstand des Konzerns erwogen. Als sich der Industrielle daraufhin im März 1936 erneut mit Goerdeler traf, zögerte dieser, auf das wie 1932 durch Krupps Schwager v. Wilmowsky vermittelte lukrative Angebot einzugehen. 149 Überraschend bekannte er sich jetzt nämlich zu staatlichen Kontrollen der Verwaltung, was nur "Männer mit einer überspitzten demokratischen Auffassung" (293) 150 ablehnten, kritisierte sogleich wieder ungedeckte Haushalte als "bequeme Selbstvergottung auf anderer Menschen Kosten",die damit begonnen habe, daß Politiker blindes Vertrauen auf eine künftige wirtschaftliche Konsolidierung verlangten. "Wer damals warnte ... , der mußte zunächst auf überheblichen Spott gefaßt sein. Er galt als kleinmütig, kleinlich, jedenfalls aber als unbequem und politisch verdächtig. Vor allem aber, er war ,veraltet', er hatte noch nicht begriffen ... " Man brauche keine "uns wesensfremden faschistische Strukturen" (296), aber eine intakte Selbstverwaltung. "Sie ist die Befreiung des Staates und seines Führers von den kleinen Angelegenheiten des täglichen Lebens." Ritter, (wie Anm. 2). vgl. A. P. Young, Die X-Dokumente. München / Zürich 1989, 168. 148 Nach Krüger-Charle (wie Anm. 55), 396, "seit Oktober 1935". 149 vgl. Ritter (wie Anm. 2), 157, und zur weiteren Korrespondenz Krüger-Charle (wie Anm. 55), 43 . 150 Die Staatsaufsicht nach der Deutschen Gemeindeordnung, in: Reich und Länder 9, 1935, 293-296. 146

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Charakteristisch war Goerdelers Interesse an Siedlungsprojekten, da er den Schwerpunkt nicht auf die Förderung der Baukonjunktur, sondern den Gedanken der Auslese legte. "Wer in einer wirtschaftlichen Frage sich im unklaren befindet, übertrage den Vorgang in den Lebensraum eines Kolonisten, und er kommt sofort auf die richtigen Lösungen" (127).151 Dahinter stand die kulturkritische Vorstellung, der Persönlichkeit einen Rest Unabhängigkeit von sozialen und politischen Konflikten erhalten zu können. "Es ist geradezu eine großes moralisches und erzieherisches Heilbad" (1263). Das Problem kenne man aus der Vorkriegszeit. "Weitblickende ... sahen schon damals mit Sorge die Folgen dieser Zusammenballung in öden, mehr oder minder lieblos aufgebauten Wohnkasernen, die dem Gemüt des Menschen nichts boten, sein Familienleben allmählich zerstörten und ihn der Natur und damit der Heimat entfremdeten." Goerdeler hatte ein ganz bestimmtes Vorbild im Auge, Friedrich den Großen, der "dem Siedler nur das Land, die Kuh, das Pferd und das Holz im Walde gab, im übrigen sagte: ,Nun hilf dir selbst!' Wer sich durchbiß, saß fest, hatte Wurzeln geschlagen, war ein Mann, mit dem auch der Staat und schließlich das Volk etwas anfangen konnten ... " In der Weimarer Republik sei das anders geworden, denn jeder, "dem eine Siedlung schlüsselfertig übergeben wird, ... fängt bei seinem Einzug ... mit dem Kritisieren und Nörgeln an". Der Bürgermeister verlangte abermals eine nachträgliche Anzeigepflicht statt des Genehmigungsvorbehalts, da er andernfalls "nicht mehr länger Leiter der Stadt Leipzig bleiben wolle", 152 doch erfolgte seine Wiederwahl auf 12 Jahre ohne eine entsprechende Zusage, die erst kurz vor seinem Ausscheiden für Großstädte auf Widerruf erteilt worden ist. 153 Als offizieller Repräsentant gab sich der Kommunalpolitiker ganz patriotisch und begrüßte Standeskollegen mit der These, "das öffentliche Recht in Deutschland enthält keine fremden Bestandteile", 154 vielmehr sei es "im Laufe eines Jahrtausends gewachsen. Es hat nicht nach Vorbildern gesucht, ja es konnte sie kaum gebrauchen", weshalb "selbst ein Napoleon ... kaum eine merkbare Spur hinterlassen" habe. Auf dem VI. Internationalen Gemeindekongreß lehnte Goerdeler als Berichterstatter staatliche Garantien des Lebensstandards und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab. Ganz undiplomatisch bekräftigte er, "wenn das deutsche Volk dazu übergegangen ist, versagte Ehren wiederherzustellen, so mögen in der ersten Aufwallung Mißstimmungen denkbar sein" (463),155 doch werde "die Beseitigung dieses 151 Kleinsiedlungen als politische und wirtschaftliche Notwendigkeit, in: Der deutsche Volkswirt 10, 1936, 1207 -1211 und 1263 ff. 152 12.5.1936 Pfundtner an Frick, Matzerath (wie Anm. 109), 322. 153 5.2.1937 Frick an HeB, Matzerath (wie Anm. 109), 322. 154 Zum deutschen Juristentag in Leipzig (15. -19. Mai 1936), in: Deutsche Verwaltungsblätter 84, 1936, 21. 155 Der deutsche Nationalbericht, in: Der Gemeindetag 30, 1936, 462 ff.

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Krankheitsherdes 156 letzten Endes allen zugute kommen" und "den Willen zur Zusammenarbeit stärken", woraufhin sein britischer Kollege "im wesentlichen den Ausführungen Dr. Goerdelers zustimmte". Als sich währenddessen Krupp bei Hitler erkundigte, hieß es wohlwollend, "der Führer hat nach Rücksprache mit Generaloberst Göring die Absicht ausgesprochen, Herrn Goerdeler doch wieder für staatliche Zwecke einzubauen, so daß es wohl besser ist, wenn Herr Goerdeler sich für diesen Fall frei hält." 157 Seine weitere Karriere ist also durchaus nicht von den Nazis blockiert worden, sondern eher durch das von der Aufrüstung und den äußeren Erfolgen des Regimes profitierende Offizierkorps. Gerade Keitel ließ nämlich verlauten, "es sei eines Dr. Goerdeler nicht würdig, unter den gegenwärtigen Umständen wieder ein Reichsamt zu übernehmen." 158 Außer dem ,großindustriellen Herrenmenschen' 159 waren inzwischen auch schon schwäbische Kreise um Robert Bosch an den Leipziger herangetreten,160 als dieser im August 1936 von Göring um detaillierte Vorschlägezur Rohstoff- und Währungsfrage gebeten wurde. Eben hatte er vorgerechnet, daß das exportorientierte Reich 1914 über mindestens drei Millionen Arbeitsplätze mehr verfügte als 1936, und den ,Sinn und Widersinn der Autarkie' diskutiert. Andererseits verlangte Goerdeler einmal mehr die "Beseitigung der Krankheitsherde" (1802),161 also der politischen Ursachen ökonomischer Krisen. Nur "wenn ein Volk seinen historisch gewordenen Lebensraum ungeteilt und zu eigenem Recht besitzt", könne es sich am friedlichen Austausch mit seinen Nachbarn beteiligen. Das bestellte Gutachten sollte seine letzte Ausarbeitung im Dienst werden; 162 es konfrontierte die Planwirtschaft mit der Alternative einer weltweiten Wirtschaftskooperation, deren Basis aber eine solide Geldpolitik sei. Möglicherweise erhalte man sogar einige Kolonien zurück, während in Europa "gewisse Fragen der deutschen Zukunft nur mit dem Einsatz der Armee gelöst werden können" (82). Die Empfehlung aber, sich vorerst mit einem Rüstungsanteil von zehn Prozent zu begnügen, um den Etat auszugleichen, war ganz und gar nicht im Sinne der NS-Machthaber. Hitler selbst ließ 156 Durch Besetzung des Rheinlands und Wiedereinführung der Wehrpflicht. 157 1. 7.1936 Wiedemann an Krupp, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 403. 158 Ritter (wie Anm. 2), 79 f. 159 Ritter über Krupp, Ritter (wie Anm. 2), 157. 160 Eine förmliche Einladung erging erst später anläßlich der Feier von Schachts 60. Geburtstag am 22.1.1937, Ritter (wie Anm. 2), 80. 161 Deutschland und die Weltwirtschaft, in: Der deutsche Volkswirt 10 (1936), 1801-1805.

162 Ritter (wie Anm. 2), 80 ff. Danach bezeichnete Göring die Vorlage auf der Ministerbesprechung am 2.9.1936 als "vollständig unbrauchbar".

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umgehend eine Erwiderung anfertigen, 163 die nicht nur wie der Deutschnationale Polen, sondern außerdem die Sowjetunion als ideologischen Kriegsgegner avisierte, weshalb alle ökonomischen Bedenken den militärischen Interessen "bedingungslos unterzuordnen" (83) seien. Daraufhin lehnte auch Goebbels die Veröffentlichung einer ,Wirtschaftsfibel' Goerdelers ab . 164

IX. Die Lehre vom Lebenskampf Anläßlich einer Kritik der französischen Volksfrontregierung verlangte Goerdeler erneut eine Reduzierung der Geldmenge, denn populistische Lohnerhöhungen behinderten nur die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. "Ein Staat, der so bequem handelt, daß er überhaupt keinem Bürger mehr Opfer zumutet" (10),165 versage ebenso wie der undisziplinierte Privatmann, denn "die Zukunft ist ungewiß. Jede Generation hat ihre eigenen Lasten, und das Natürliche und Gesunde ist, daß die Eltern den Kindern einen Spargroschen hinterlassen, nicht aber Schulden." (11) Seit dem Weltkrieg sehe man nun Preise als "Gegenstand obrigkeitlicher Betätigung" (1872) 166 an. Bereits zweimal vor die Aufgabe gestellt, überhöhte Produktionskosten zu korrigieren, betrachte er die Dinge nicht mehr theoretisch. Man dürfe weder den Profit statt der schlichten Lebenserhaltung als ,Sinn' der Wirtschaft betrachten noch Preise als Kampfmittel statt als Entgelt angefallener Kosten ansehen, was nur zu immer neuen staatlichen Dirigismen führe. "Die Parteien buhlten um die Gunst der Menge", doch sei dem Problem nicht mit einer "aufgeblasenen Kaufkraft", sondern nur durch die "Läuterung des Wettbewerbs" zu begegnen. Inzwischen war das politische Schicksal des Leipzigers entschieden, als die Nazis während seiner Skandinavienreise das Denkmal MendelssohnBartholdys vor dem Gewandhaus entfernten. Schon im "Spätfrühjahr 1936" 167 hatte der Konflikt eingesetzt, und während der Olympiade "ließ Goerdeler sich zu der Erklärung herbei, man könne . . . irgendwann nach den Sommerferien über eine anständige anderweitige Unterbringung . . . 163 Nach Ritter (wie Anm. 2), 465 f., ist diese "Auseinandersetzung mit der Denkschrift Goerdelers" bereits am 2.9.1936 verlesen worden. 164 Ritter (wie Anm. 2), 69 und 463 . Zuvor hatte der Propagandaminister nur didaktische Vorbehalte wegen der komplizierten Materie geäußert. 165 Zu den Abwertungen der Währungen, in: Der deutsche Volkswirt 11, 1936/ 37, Beilage vom 2.10.1936 , 9-1l. 166 Wirtschaftliche Funktionen der Preise, in: Die Bank 29 , 1936, 1872 -1878. 167 Damals hatte Goerdeler dem Amerikaner Harald Deutsch erklärt, das größte Problem sei ,die Wiederherstelhmg des menschlichen Anstands' , und zur Illustration erläutert, ,die SA setzt mir zu, sie will, daß ich dieses Denkmal entferne. Aber wenn sie es je anfaßt, mache ich Schluß.' , Meyer-Krahmer (wie Anm. 18), 89.

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reden",168 doch die Eigenmächtigkeit seines Mitarbeiters 169 veranlaßte den empörten Juristen, "auf Weihnachten" 170 Urlaub zu nehmen und zum 31. März 1937 "nicht ohne feierlichen Abschied" das Amt aufzugeben. Es war sowieso absehbar, daß er sich "mit seinen liberalistischen Auffassungen" 171 im Gegensatz zum Vierjahresplan befand. 172 Allerdings kündigte die NS-Presse sogar noch den 1936 geplanten Wechsel zu Krupp an, 173 bevor eine Intervention Hitlers dies vereitelt hat. Darauf erschien der Vertraute des Konzernchefs persönlich in Leipzig, um mit feudaler Geste "dem Enttäuschten eine hohe Entschädigungssumme" 174 anzubieten. Das lehnte dieser zwar dankend ab, doch sind dann seine großen Reisen der nächsten Jahre nicht nur von Bosch,175 sondern auch von Krupp bezahlt worden. Anfang 1937 publizierte Goerdeler eine Aufsatzreihe, deren ideologische Passagen eindeutig der nationalen Ertüchtigung dienten. "Der Führer des Reiches" (1007)176 habe versichert, niemand wolle die Wirtschaft dem Staat unterwerfen, und tatsächlich sei in Deutschland "erst durch den vollkommen freien Wettbewerb des 19. Jahrhunderts der Kampfgeist geschaffen worden" . Die "Zerreißung der Nervenstränge und Blutadern" der Weltwirtschaft führte nach dem Weltkrieg zu gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Überkapazitäten. "Es gab zuviel Friseure, es gab zuviel Schneider, es gab zuviel Eisengießereien, es gab zuviel Ziegeleien, es gab zuviel Buchdruckereien". Besonders deutlich war die Abneigung gegenüber den "nicht Tauschgüter Schaffenden", habe man doch auch "zuviel Rechtsanwälte, es gab zuviel Ärzte, es gab zuviel Lehrer und selbstverständlich auch viel zu viel Universitätsprofessoren ... " Der Pessimismus mündete in das schlichte Bild, "wenn auf einer Insel zwei Menschen leben, so können sich nicht beide hinsetzen und Lieder dichten und singen, um sich nachher zu wun168 Peter Hoffmann, Sie erhoben sich, weil sie die Morde nicht dulden wollten, in: FAZ Nr. 162 vom 15.7.1994. 169 Das Parteimitglied hielt Goerdeler auch dessen "zähen Widerstand" ( Ritter (wie Anm. 2), 467) "gegen alle Umbenennungen jüdischer Straßennamen" vor. Der Oberbürgermeister selbst wohnte in der Rathenau-Straße, die nun ,Kapitän-HaunStraße' hieß. 170 Ritter (wie Anm. 2), 86. 171 Von Goerdeler überlieferte Formulierung des Gauleiters Mutschmann, KrügerCharle (wie Anm. 108), 397 und 403. 172 Ritter (Wie Anm. 2), 466. 173 Völkischer Beobachter, 12.1.1937, Krüger-Charle (wie Anm. 55), 404. 174 Ritter (wie Anm. 2), 157. 175 vgl. Ritter (wie Anm. 2), 158. Formal wurde Goerdeler 1937 zum Beauftragten der Bosch-Gruppe in Berlin und im Ausland bestellt. 176 Deutsche Gemeindeordnung als wirtschaftliches Grundgesetz, in: Der deutsche Volkswirt 11, 1936/37, 1007 -1010, 1057 ff., 1113 f., 1163 -1167, 1211 ff., 1262 ff., 1311 ff. Bis zuletzt firmierte Goerdeler als Oberbürgermeister.

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dern, daß sie beide verhungern. Einer von beiden muß die Freundlichkeit haben, den Spaten in die Hand zu nehmen .. . " Es folgte der radikale Satz, "von der Leistung im Kampfe hängt der Erfolg in der Wirtschaft ab. Der Kampf kann bis zu jener höchsten Form des Kräfteeinsatzes gehen, den wir kennen, bis zum Kriege. In ihm kämpfen Menschen miteinander, häufig eben um den Raum des Lebens (der Wirtschaft)." Mit sozialdarwinistischer Verachtung für "Typen, die wir als asozial oder willensschwach bezeichnen und die immer wieder die Hilfe ihrer Mitmenschen in Anspruch nehmen", erinnerte Goerdeler daran, daß es "in früheren Jahrtausenden jedem Einzelnen auferlegt" gewesen sei, "mit Wisent und Auerochs, mit Bär und Wolf um das Leben zu kämpfen" (1009). Zwar seien "Menschen ... ungewöhnlich verschieden voneinander, nicht nur die einzelnen Rassen, sondern auch ... innerhalb dereinzelnen Rassen", doch den "Kampfwillen gilt es immer wieder zu stählen", weil "das Geschick jedes Volk jederzeit in eine Lage werfen kann, in der es diesen Willen in offenem Kampfe betätigen muß." Dieser Konservative sprach weder von individueller Selbstverwirklichung - danach hatte der liberale Aristokrat Wilhelm v. Humboldt die Grenzen des Staates bestimmt - noch von persönlicher Heilsgewißheit wie der protestantische Soziologe Max Weber, sondern von bloßer Lebenserhaltung. Deutschland brauche möglichst viele Selbständige, weil sonst die "Entseelung seiner Menschen, eine Verweichlichung des Kampfgeistes" drohe. Es gelte, "zu den härtesten Bedingungen zu arbeiten (lange Arbeitszeit, geringer Lohn). Vater und Sohn arbeiten zusammen; die Frau führt die Bücher ... " (1057). Ohne Wettbewerb wolle jeder nur versorgt werden, das aber "verleitet ihn zum Lebensgenuß, treibt ihn in die Arme des Materialismus" (1163). Goerdelers archaisches Weltbild zeigte sich auch in der These, "Kriege werden um ethische Begriffe, um der Religion und um der Ehre willen, um Macht und zumeist um den wirtschaftlichen Lebensraum geführt, immer aber, um die Zukunft zu gestalten." Eben dazu verwalte der Staat als "Treuhänder der Volksgemeinschaft" (1167) Steuern und Abgaben seiner Bürger "wie eine Bank fremde Gelder" (1211). Sparsamkeit bleibe "die Grundlage des Fortschritts und der Macht". Dann folgte die polemische Abgrenzung nach Osten. Das ,bolschewistische' Modell müsse "immer auch zum sittlichen Tiefstand führen" (1311), weil es sich auf "das Hirngespinst" gleicher Leistungsfähigkeit stütze und die Anpassung der Tüchtigen an die "Faulen und Unzuverlässigen" bewirke, so daß "der Mensch bis zur Grenze des Tierischen entartet". Der bürgerliche Jurist konnte sich eine gesicherte Zukunft nur mittels Privateigentum, nicht aber in Form neuer Gesellschaftsstrukturen oder veränderter Mentalitäten vorstellen. Jeder Kollektivismus ende in Zwangsmitteln, "ein mißratenes Kind kann vom Einzelnen verstoßen werden, ein Volksgenosse, der vielen mißliebig ist, nicht."

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Wegen dieser stimulierenden Funktion des Politischen forderte Goerdeler "die Totalmobilmachung der gesamten Kräfte eines Volkes. Die Kampfleistungen eines im nationalen Staate geeinten Volkes nach außen sind stets Totalkriege gewesen." (1312) Er verknüpfte damit einen zentralen Begriff der ,Konservativen Revolution' mit jenem der 1935 erschienenen Schrift Ludendorffs über den ,totalen Krieg'. Der Weltkrieg habe "alle Rätsel und Zusammenhänge des Lebens, die bisher Jahrhunderte in der Tiefe ruhten, wieder an die Oberfläche gerissen und unserem Auge sichtbar" gemacht und einen "gewaltigen Anschauungsunterricht" für die Völker "der weißen Rasse " (1313) geboten. Das bedeute, sich immer "der vollkommenen Ungleichheit der Menschen bewußt zu bleiben und die Gemeinschaft nicht in einer falschen Gleichmacherei" (134) 177 zu suchen. Aus dem Leistungsprinzip ergebe sich notwendig die "Verderblichkeit und Vergänglichkeit des Bolschewismus" (1).178 "Das Volk, das ihm verfällt, ist krank". Ein starker Staat bestehe dagegen aus "gestählten Führerpersönlichkeiten" (2), deren Verantwortung "in jedem Zusammenschluß . . . verwässert" werde. Es gehe jedoch nicht um die Freiheit für Spekulationsgewinne, sondern um die Achtung vor erarbeitetem oder angespartem Vermögen; "hiermit verschwinden die öden Schlagworte vom Kapitalismus ... " (4) Politische Hindernisse seien "naturwidrig" und gefährdeten das ökonomische System insgesamt. "Diese Schulden werden ihren Erzeuger nicht verleugnen. Aus rücksichtslosem Kampfgeist geboren, werden sie Kampfgeist erzeugen", drohte Goerdeler. Wohl habe man die Reparationen "im Jahre 1932 erledigt" (10), und es sei immerhin "denkbar", daß "freiwillig zusammenarbeitende Staaten gemeinsame Einrichtungen schüfen zur Sicherung der Währungsgrundlagen, aber nur bei "gleichzeitiger Abwicklung des politischen Schuldenproblems" . Damit war keine ,Europäische Union' gemeint, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, denn für Goerdeler sollte "nun nicht etwa das Ringen der Völker untereinander risikolos gemacht werden". Die großen Entscheidungen ließen sich für ihn "niemals kollektivisieren" .

x. Außenpolitiker Die letzte Phase der öffentlichen Wirksamkeit des Leipzigers stellen seine Auslandsreisen 1937 - 39 dar, als er "überhaupt nur wenige Monate daheim" 179 gewesen ist. Sie begann "mit einem persönlichen Besuch bei 177 ,Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden', in: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 4,1937,133-136. 178 Müssen Schulden zurückgezahlt werden ?, in: Deutsche Rundschau 250, 1937, 1-10. 179 Ritter (wie Anm. 2), 161.

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Göring" (159), um den eingezogenen Paß zu erhalten, wofür sich Goerdeler mit ausführlichen Berichten über seine Beobachtungen in Norwegen, Belgien, England, Frankreich, Italien, den USA, der Schweiz und auf dem Balkan revanchiert hat, bevor er 1939 sogar noch Algerien, Ägypten und den Vorderen Orient kennenlernte. 18o Anlaß waren meistens mit Unterstützung deutscher Behörden organisierte kommunal- oder wirtschaftspolitische Vorträge. Durch Bosch kam der Kontakt zu A. P. Young zustande, einem britischen Industriemanager, der seinerseits Berichte über die Begegnungen mit dem "Unheil verheißenden Sturmvogel" 181 an Politiker wie Vansittart und Eden weiterleitete. Ihr Wert liegt vor allem im Atmosphärischen, wenn etwa Goerdelers Verdacht gegen die mit spirituellen Methoden arbeitende ,Oxford Group' erwähnt wird, die nicht nur für Chamberlains Appeasement verantwortlich sei, sondern auch über Verbindungen bis zu Himmler nach Berlin verfüge. 182 Mehrfach wird Hitler als keineswegs negativ, sondern eher als zwiespältig beurteilt, 183 und aufgeregte Krisenszenarien wechseln sich mit der Kolportage von Gerüchten über die NSFührung ab. Schon bald kam zur moralischen Empörung über die eigene Regierung der Vorwurf an die westliche Seite hinzu, nicht rechtzeitig auf die deutsche Opposition zugegangen zu sein. Doch nach den Akten des Foreign Office ist es Goerdeler selbst "wesentlich mit zuzuschreiben" (361),184 daß die Grenze "zwischen ,Extremisten' und ,Gemäßigten', zwischen Konservativen und braunen Eliten aus der Perspektive des Auslandes immer mehr verwischte". Der Besucher verlangte, "bevor er nach innen aktiv wurde", um sich damit als "attraktive Alternative zu Hitler" präsentieren zu können, englische Garantien zu vier geradezu revisionistischen ,Lebensfragen': völlige Handlungsfreiheit in Mittel- und Osteuropa, insbesondere zur "Liquidierung des Korridors" (362), ein Kolonialgebiet in Afrika, eine zinslose Goldanleihe in Höhe von 400-500 Millionen Pfund, um die eigene Währung zu sanieren, sowie einen Rüstungsstop auf dem status quo, was den deutschen Vorsprung festgeschrieben hätte. Dem Westen bot Goerdeler nur den Rückzug aus dem spanischen Bürgerkrieg und Hilfe zur Wiederherstellung einer Einflußsphäre der ,weißen Rasse' in Ostasien an. Ein neuer Völkerbund sollte von einem Direktorium aus Deutschland, England und Frankreich geführt werden. Insbesondere die "mit geradezu hektischer DringlichKrüger-Charte (wie Anm. 55), 404, und Ritter (wie Anm. 2), 157 -203. Young über Goerdeler, Young (wie Anm. 147), 23 . 182 Young (wie Anm. 147), 20, 48, 65 f. 183 Young (wie Anm. 147), 53, 81, 129, 154. 184 Bernd-Jürgen Wendt: Konservative Honoratioren - Eine Alternative zuHitler? Englandkontakte des deutschen Widerstandes im Jahre 1938, in: Dirk Stegmann u . a. 180

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(Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift für Fritz Fischer). Bonn 1983, 347-367.

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keit" (363) verlangte Zerschlagung Polens mußten die Briten als "gefährliche Destabilisierung" des europäischen Staatensystems ablehnen. Da überall das gleiche "erpresserische Grundmuster" durchschien, war Vansittarts Reaktion durchaus verständlich, der nach diesen Erfahrungen mit dem Stolz deutscher Politiker deren schärfster Kritiker geworden ist. Ende 1938 notierte der Staatssekretär, Goerdeler sei ein Exponent "for German military expansion, and by military expansion I mean the expansionist ideas of the German army as contrasted with those of the Nazi Party. [But] there is really very little difference between them. The same sort of ambitions are sponsored by a different body of men . . . " (364). Hitlers früherer Kommissar sei "quite untrustworthy" (365), und selbst Ritter hat einem Bericht für die Berliner Regierung vom Frühjahr 1938 vorgeworfen, daß Goerdeler damit allen britischen Vermittlungsbemühungen "geradezu in den Rücken fiel",185 als er die Erwartung äußerte, London werde einem logisch begründeten Anschluß des Sudetenlandes zustimmen, denn der Rüstungswettlauf ruiniere die britischen Finanzen und Frankreich würde wegen der CSR nicht mehr das Opfer eines Krieges auf sich nehmen. Damit hatte er sich vielleicht "als deutscher Patriot, aber ganz und gar nicht als Diplomat" (171) verhalten. Nach München war der Leipziger dann im Zwiespalt, ,an sich sehr zufrieden' 186 zu sein, dies aber mit heftigen Vorwürfen gegen Chamberlain ,und seine Adelsclique' zu verbinden, die offenbar nur ihr ,kapitalistisches Parteisystem' schützen wollten. Auch hat der nun im Ausland Lebende "das tiefe Aufatmen" (206) der Deutschen nach der abgewandten Kriegsgefahr unterschätzt und im April 1938 direkt nach dem ,Anschluß' Österreichs behauptet, im Reich steige die Abneigung gegen das Regime. Er engagierte sich zudem in einem gefährlichen Doppelspiel, als er seine Analysen so unterschiedlichen Adressaten wie Krupp, Bosch, Göring 187 und Schacht sowie den Generälen Fritsch, Beck, Halder und Thomas zuleitete und noch im Mai 1938 in der Reichskanzlei erschien, um ein Memorandum zu übergeben. 188 Alle Komplimente für Traditionen und Stil der Gastgeber können die Geringschätzung der Schwerfälligkeit des Empire und dessen "unsicher experimentierender Sozialpolitik" (162) nicht verbergen, dem großzügig der Schutz eines ,anderen Deutschland' angeboten wird. Mit der ausweglosen Lage korrespondieren Stimmungsschwankungen und Illusionen über eine angeblich nur vom festen Auftreten des Auslands 185 Ritter (wie Anm. 2), 172. 186 Brief vom 11.10.1938 aus der Schweiz an einen amerikanischen Freund. 187 Goerdeler hat ihm Mitte 1937 persönlich in Berlin über seine Gespräche mit Vansittart berichtet, vgl. Ritter (wie Anm. 2), 163. 188 Ritter (wie Anm. 2), 160 und 466 f. sowie Young (wie Anm. 147), 285 f. Noch im Januar 1939 legte er dem Finanzministerium eine Denkschrift vor.

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abhängige Wende. Auch die Anstrengungen pausenlosen Reisens, Taktierens und Argumentierens machen sich bemerkbar. Auf einer Reise durch Canada und die USA, die viele Kontakte, unter anderem zum US-Finanzminister Morgenthau, vermittelt und die Ressourcen eines ganzen Kontinents, aber auch den Gleichmut seiner Bewohner für mitteleuropäische Probleme deutlich macht, bricht Goerdeler im Herbst 1937 nach einer Herzattacke zusammen. Während er im Haus des Historikers WheelerBennet gepflegt wird, verrät er dem Freund sein großes Ziel, die "Restauration der Monarchie auf der Grundlage verfassungsmäßiger Freiheit" (168). Unermüdlich beschreibt der Deutsche das Unrechtsregime, doch "die seit 1936 laufende Aufrüstung findet er sachlich gerechtfertigt". In der renommierten ,London School of Economic' kommt es im Frühjahr 1938 sogar zu scharfen Attacken "gegen alle staatliche Wirtschaft, Lohnregulierungen und übertriebene Sozialfürsorge. Der Redner war kühn genug, auch gegen Keynes, den damals populärsten Wirtschaftstheoretiker Englands, recht munter zu polemisieren" (170), was natürlich "mit Enttäuschung, ja Verstimmung" aufgenommen worden ist. Dem ,New Deal' hielt Goerdeler vor, ein mit der Isolierung des Binnenmarktes erkauftes Versprechen "ewiger Totalbeschäftigung" (7) 189 führe zur Inflation und entwerte das Sparkapital. Scharf kritisierte er Mengenreduzierungen zur Preisstabilisierung und die Überdehnung des Staatshaushalts. "Seit 1919 wird ... Selbsttäuschung an Selbsttäuschung gereiht" durch die Überschätzung des Staates, "sei es durch öffentliche Arbeiten, sei es durch garantierte Arbeitszeiten oder Löhne". Dahinter stehe "ein verhängnisvoller MaterialisrIms: die Gegenwart möge das Leben genießen" (9). Seine Reisen erlaubten auch die Pflege alter Beziehungen, etwa zu Heinrich Brüning, der zunächst ausführlich über die Skandale um Blomberg und Fritsch informiert wird, bevor Goerdeler die Erwartung äußert, daß nun endlich "Naziführer der zweiten Linie geneigt seien, sich Göring und der Wehrmacht anzuschließen, und aufgeregt davon sprächen, Hitler fallenzulassen ".190 Sogar Goebbels meint er jetzt zum Lager der Generalität zählen zu können, "genau wie im Juni 1934" (178). Brünings Verwunderung ist groß, denn Frau Goerdeler "konnte sich die Bemerkung nicht versagen, ich hätte ihrem Mann nicht vom Beitritt zu Hitlers Regierung im Januar 1934 abraten sollen." Zur eigentlichen Enttäuschung für den Emigranten, den Goerdeler zuletzt im Mai 1939 gesehen hat, wurde 1941 aber die Entdeckung, selbst nicht mehr ins Vertrauen gezogen worden zu sein. "Als Sie erwähnten, er habe sich jedesmal mit Göring getroffen, war ich im Augenblick so verblüfft ... Er hat mir nie gesagt, daß er überhaupt mit

189 190

Der große Irrtum, in: Deutsche Rundschau 255, April 1938, 3 - 9. 15. / 17. März 1938 in Brüssel, in: BTÜning (wie Anm. 84), 176.

earl Friedrich Goerdeler (1884 -1945)

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Göring in Verbindung stand . . . Hätte ich gewußt, daß G[oerdeler] in ständigem Kontakt zu Göring stand, so hätte ich mich nicht mit ihm getroffen. .. " (349). Tatsächlich hoffte er noch Ende 1939 auf Görings vermeintliche Friedensliebe, den er vor dem italienischen Nationalismus warnte und mit dem positiven bulgarischen Beispiel einer "parlamentarisch gemilderten, aufgeklärten Diktatur, die autoritär ist, ohne tyrannisch zu sein" ,191 bekannt machte. Gleichzeitig rief er die amerikanische Seite zum "Kreuzzug gegen die totalitären Staaten" (217) auf, da sonst auch den angelsächsischen Ländern innere Unruhen drohten und "die Vorherrschaft der weißen Rasse gefährdet" wäre. Seine aufrechterhaltene Beziehung zu Göring führte im Winter 1938/39 dann auch zu der Überlegung, er wolle nun wieder "in das Schiff springen und versuchen, das Steuer zu beeinflussen" (216), also in die Reichspolitik zurückkehren, um dort "nach der Talleyrandschen Methode zu arbeiten". 192 Schon Gerhard Ritter wußte, daß diese "Augenblicksphantasie" ohne jede reale Grundlage war, weil Goerdeler "alle Verschlagenheit fehlte". So offenbarte es nur "die verzweifelte Unrast, mit der er nach irgendeiner Möglichkeit des Einsatzes suchte". In noch viel größerem Maße sollte das für die kommenden Jahre im Untergrund gelten, bis nach endlosen Diskussionen junge Offiziere das Attentat des 20. Juli 1944 gewagt haben. Zu diesem Zeitpunkt befand sich earl Goerdeler bereits auf der Flucht; am 2. Februar 1945 ist er, der bis zuletzt unermüdlich neue Eingaben, Rechenschaftsberichte und Denkschriften formulierte, in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden.

191

192

Ritter (wie Anm. 2), 208 . vgl. das Gespräch vom 15.10. 1938, Young (wie Anm. 147), 129.

Ein preußischer Frondeur Ewald von Kleist-Schmenzin (1890-1945) Von Karlheinz Weißmann In seinem Notizbuch vom 16. Juli 1982 schrieb Johannes Gross: "Die Linken legen heutzutage größten Wert darauf, daß es nicht nur konservativen, rechten Widerstand gegen Ritler gegeben habe. Mit Recht. Es hat linken Widerstand gegen Ritler gegeben, aber vornehmlich als Abwehr der Verfolgung, im Interesse einer Partei und unter dem Gesichtspunkt, daß die falsche Diktatur sich etablieren konnte, die von der Geschichtsphilosophie nicht vorgesehen war. Der moralisch begründete Widerstand gegen Ritler war in der Tat konservativen, aristokratischen Ursprungs: ein Aufstand für Freiheit und Anstand, das Recht des Privaten gegen die Volksgemeinschaft und ihre Brüderlichkeit." 1 Der Text löste bei Erscheinen heftige Reaktionen aus 2 , denn Gross hatte durch seine Formulierung an ein äußerst wirksames Tabu der späten Bundesrepublik gerührt. Mit dem auch politisch motivierten Interesse an der Hervorhebung des "antifaschistischen" Widerstandes der Kommunisten, Radikalsozialisten und Sozialdemokraten, schwand immer mehr das Bewußtsein, daß die Opposition gegen das NS-Regime soweit sie nicht ausschließlich religiös oder ethisch motiviert war - politisch den Charakter einer "deutschen Gegenrevolution" 3 trug. Einig waren sich die konservativen Widerstandsgruppen in der Ablehnung des Nationalsozialismus wie in der Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie nach dem Muster der Weimarer Republik. Ansonsten unterschieden sich die Vorstellungen davon, wie eine " Gegenrevolution " auszusehen habe, gravierend. Wenn dabei der Kreis um Goerdeler am ehesten zu " restaurativen " Lösungen neigte und die "Grafengruppe" der jüngeren Stabsoffiziere um Stauffenberg und Tresckow ein "preußisch-sozialistisches" Modell favorisierte, dann kann man Ewald von Kleist-Schmenzin weder der einen noch der anderen Richtung zuordnen. Er war auch im

1 Johannes Grass, Notizbuch, 38. Fortsetzung, in: Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 124 vom 16. Juli 1982. 2 Vgl. den anonymen Text: Rechts schwenkt, marsch, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 23. Juli 1982. 3 Vgl. Edgar Salin, Die Tragödie der deutschen Gegenrevolution, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 1, 1948, 205 f.

18 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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Rahmen der konservativen Fronde eine Ausnahmeerscheinung4; sein historischer Rang beruht nicht auf seinem Einfluß oder seiner praktischen Wirksamkeit, sondern auf seinem außergewöhnlichen persönlichen Status. I. Die Anfänge Diese Sonderstellung Kleists ist nicht zu verstehen ohne Kenntnis seiner Herkunft und seiner Biographie 5. Ewald von Kleist wurde am 22. März 1890 als Sohn Hermann von Kleists und seiner Frau Lili auf dem väterlichen Gut Groß-Dubberow im Kreis Belgard geboren. Es zeigte sich früh, daß er in besonderem Maße der Sohn seiner Mutter war: von ausgeprägtem Selbständigkeitswillen und wachem geistigem Interesse. Deshalb hätte er seiner Neigung entsprechend nach dem Abitur Geschichte, Literatur und Philosophie studieren wollen, nahm dann aber doch die Familientradition auf und schrieb sich an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig ein. Mit dem Beginn seines Studiums hat Kleist zum ersten Mal das heimatliche Pommern und den preußischen Staat verlassen. Leipzig war als sächsische Großstadt und industrielles Zentrum eine moderne Gegenwelt zum ländlichen Ostelbien. Kleist sah durchaus, daß er hier vor eine Wahl gestellt war und entschied sich ohne Zögern für das Althergebrachte, gegen eine Zivilisationsform, die ihm von Materialismus und Egoismus bestimmt schien. Bereits 1910 kehrte er nach Pommern zurück, beendete sein Studium an der Landesuniversität in Greifswald und trat dann dort (und später im westpreußischen Karthaus) seinen Referendardienst an. Allerdings zeigte sich früh, daß der besondere Eigenwille Kleists ihm die Einordnung in die Verwaltungshierarchie unmöglich machte. Man darf sich bei der Beschreibung seiner Konflikte mit den vorgesetzten Dienststellen an Bismarcks Ausbildungszeit erinnert fühlen und daran, daß die preußischen Junker, bevor sie den Kurfürsten und Königen als Schwertadel dienten, erst gewaltsam zur Räson gebracht werden mußten, weil sie ihr Fehderecht nicht aufgeben wollten. Kleist verließ schließlich den Staatsdienst, um einem drohenden Disziplinarverfahren zu entgehen, und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm ihm die Entscheidung über seinen zukünftigen Lebensweg vorläufig ab. Er meldete sich, obwohl keine soldatische Natur, freiwillig zum Dienst bei den 4 Vgl. Klaus-Jürgen Müller, Die nationalkonservative Opposition 1933 -1939. Von der Kooperation zum Widerstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50 / 86 vom 13. Dezember 1986,19-30, hier 20; Gerhard Schulz, Nationalpatriotismus im Widerstand, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 32, 1984,331-372, hier 338. 5 In der Darstellung der Biographie folgen wir der einzigen zu diesem Thema vorhandenen Arbeit von Bodo Scheurig, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg / Hamburg 1968.

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berittenen Bromberger Grenadieren, nahm am Vormarsch in Frankreich teil, wurde ausgezeichnet und zum Leutnant befördert. Wegen eines rheumatischen Leidens konnte er den Einsatz im Feld allerdings nicht fortsetzen und fand sich als Ordonnanz zu einer Infanterie-Division der 1. Armee abkommandiert. Kleist hat deshalb die Wirklichkeit des technischen Krieges mit seinen Materialschlachten kaum erlebt, und vielleicht erklärt auch das, warum er von der militärischen Niederlage und dem Ende der Monarchie völlig überrascht wurde. Kleist quittierte den Dienst und kehrte noch 1918 nach Pommern zurück, wo er sich der Verwaltung der Güter seiner Großmutter annahm, zu denen außer Schmenzin Hopfenberg, Wilhelmshöhe, Dimkuhlen und Groß-Freienstein gehörten. Der Besitz, der später auf Kleist übergehen sollte, war mit 14000 preußischen Morgen größer als der Durchschnitt, und auch deshalb kam Kleist ein gewisser Vorrang unter seinen Standesgenossen zu; entscheidender war aber seine Durchsetzungsbereitschaft und die Entschlossenheit, die traditionellen Lebensverhältnisse so weit als möglich zu verteidigen. So bekämpfte er entschieden alle Versuche der Landarbeiter sich gewerkschaftlich zu organisieren, gründete stattdessen den Pommerschen Landbund als korporative Organisation, in der er die Arbeitgeber vertrat. Kleist heiratete 1921 Anning von der Osten, die Tochter Oscar von der Ostens, des Führers der neumärkischen Konservativen; aus der Ehe gingen drei Söhne und drei Töchter hervor. Kleist überragte seine Frau kaum, eine schlanke Gestalt mit schmalem Kopf, dunkelblond, die hohe Stirn wirkte besonders auffällig. Kleist verwaltete die Güter mit einigem Geschick, man kultivierte auf Schmenzin den Stil der ländlichen Aristokratie, nicht auftrumpfend, aber gediegen. Dabei war Kleist auf Distanz zu seinQn Untergebenen bedacht, doch in einem patriarchalischen Sinne wohlwollend. Er erkannte auch, daß die "soziale Frage" gelöst werden müßte, aber seine Vorschläge gingen kaum über die Reform der Bismarckschen Sozialgesetzgebung und die in den zwanziger Jahren populären Siedlungs- und Reagrarisierungspläne hinaus; der "vierte Stand" sollte in die Nation eingegliedert werden, aber eben ein "Stand" bleiben.

11. Der politische Weg

. Kleist wurde kein Landwirt aus Passion, dazu waren seine geistigen Interesse zu weitgespannt, und von der Beschränkung auf Beruf und Privatleben hielt ihn auch die öffentliche Lage ab. Mit dem Untergang der Monarchie wurde der homo politicus Kleist geboren. Keine Minute dachte er daran, die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. Er verabscheute die parlamentarische Staatsform, setzte sich für eine Restauration der Hohen18'

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zollern ein und sympathisierte mit der republikfeindlichen Rechten. Männer der Brigade Ehrhardt und der Schwarzen Reichswehr fanden als Landarbeiter getarnt Unterschlupf auf seinen Gütern. Als am 13. März 1920 in Berlin der Kapp-Lüttwitz-Putsch stattfand, riß Kleist in Belgard vorübergehend die vollziehende Gewalt an sich. Die politischen Attentate der Folgezeit lehnte er allerdings ab, vor allem der Mord an Rathenau weckt seinen Abscheu. Das war aber ein ausschließlich moralisches Verdikt, Kleist bekehrte sich keineswegs zur Republik, sondern hielt am Ziel ihrer gewaltsamen Beseitigung fest. Erst mit dem Scheitern des 9. November 1923 begriff er, daß es in der nächsten Zeit keine erfolgreiche Konterrevolution geben konnte; er warf Hitler nicht vor, daß er gegen Berlin losschlagen wollte, sondern daß er es auf so dilettantische Weise getan hatte. Kleists politische Arbeit konzentrierte sich in den nächsten Jahren auf die geistige Vorbereitung des Umbruchs. Er beteiligte sich am Aufbau eines Netzwerks von konservativen Organisationen, zu denen der Herrenclub, die feudale Casino-Gesellschaft, die Fichte-Gesellschaft und der Hochschulring deutscher Art ebenso gehörten wie der Stahlhelm und die Deutschnationale Volkspartei. Kleist fand Kontakt zu Wilhelm Stapel 6 , dem Herausgeber des Deutschen Volkstums, zu Hans Schwarz, der die Zeitschrift Der Nahe Osten betreute, und später auch zu den jungen Nationalisten der Frontgeneration, die sich um Ernst Jünger und Ernst Niekisch sammelten. Alle diese Zirkel, Kreise und Parteien gehörten zum Bereich der intellektuellen Strömung der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die als "Konservative Revolution" bezeichnet wird. Sie beeinflußte so unterschiedliche Gruppierungen wie die Völkischen, die Bündische Jugend und die Landvolkbewegung. Ihr Zentrum bildeten aber die Publizisten und Schriftsteller, die man zu den "Jungkonservativen" und den "Nationalrevolutionären" oder "Nationalbolschewisten " zählte. Allerdings war Kleist keiner dieser Gruppierungen zuzurechnen. Trotz seiner zahlreichen Verbindungen blieb er ein "Einzelgänger"7. Diese Sonderstellung Kleists wird schon an seiner Umdeutung von Schlüsselbegriffen der "Konservativen Revolution" erkennbar: "Der Konservativismus muß eine nationalrevolutionäre Bewegung sein" 8, und: "Die nationale Revolu6 Ein entsprechender Hinweis fehlt bei Scheurig, Kleist-Schenzin (wie Anm. 5); eine solche Verbindung geht aber eindeutig hervor aus dem Brief Stapels an Oswald Spengler vom 21. August 1928, in dem er auf einen Vortrag Kleists bei der 4. Tagung für die deutsche Nationalerziehung hinweist; vgl. Anton M. Koktanek (Hrsg.), Oswald Spengler. Briefe 1913-1936, München 1963, 570. 7 Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland. Ein Handbuch, Darmstadt 1989 3 , 422. 8 Ewald von Kleist-Schmenzin, Grundsätze und Aufgaben konservativer Arbeit. Rede auf der Mitglieder-Versammlung des Hauptvereins der Konservativen am 10. Dezember 1929; zit. nach Scheurig (wie Anm. 5), 245-254, hier 252.

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tion muß eine religiös-konservative sein." 9 Das hatte mit Moeller van den Bruck oder Edgar J. Jung so wenig zu tun wie mit den Ideen Niekischs oder Jüngers. Kleist nahm kaum Anteil an jener Suche nach einer anderen Moderne 10, die die Protagonisten der "Konservativen Revolution" trotz aller Unterschiede verband, er wollte tatsächlich zurück. Er versuchte im eigentlichen Sinne "konservativ" zu bleiben, insofern er verlangte, die altständische Ordnung wiederherzustellen. Für ihn waren die Deutschnationalen ebenso wie Niekischs Widerstands kreise oder die Landvolkbewegung mögliche Katalysatoren, aber eben nur Mittel, um ein Ziel zu erreichen, das den Nostalgikern des wilhelminischen Kaiserreichs ebenso unbekannt war wie den kleinbürgerlichen Antisemiten, den jungkonservativen Vordenkern oder den nationalrevolutionären Heißspornen. Kleist blieb natürlich allein mit seiner Vorstellung; aber das hat ihn nicht gehindert, ein Solitär der Reaktion, der von "jener stillen, aber gefährlichen, unaufhaltsamen, preußischen Entschlossenheit" 11 gesprochen hat, die allerdings revolutionäre Qualitäten besitzt. III. Das Weltbild Kleist ist mit seinen Anschauungen kaum über die Positionen der konservativen Denker des 19. Jahrhunderts hinausgegangen. Er hat sich in einigen dutzend Aufsätzen und zwei Broschüren schriftlich zu Wort gemeldet, aber oft war ihm der Unwille darüber anzumerken, daß er überhaupt ein theoretisches Fundament für die eigene Haltung entwickeln mußte; Kleist erwuchs die Sicherheit seiner Auffassungen aus dem Leben: der Herr auf Schmenzin bedurfte keiner Begründungen, um konservativ zu sein, es war ihm selbstverständlich. Wie Adam Heinrich Müller oder Friedrich Julius Stahl hielt er den Konservativismus für die Weltanschauung des gesunden Menschen, die zwangsläufig aus dem tradierten christlichen Glauben erwuchs: "Konservativismus ist etwas Unbedingtes, das kein Komprorniß zuläßt. Denn er ist eine Weltanschauung, also eine Gesamtschau aller Dinge von einem festen Standpunkte aus. Da er nur religiös zu begründen ist, so ist dieser feste Punkt in Gott und von dort aus ist die Aufgabe des Menschen zu begreifen, nämlich Gottes Willen zu erkennen und zu tun." 12 9 Ewald von Kleist-Schmenzin, Reformation oder Revolution?, Schriftenreihe des Nahen Ostens, H. 4, Berlin 19303 , 36. 10 Zur (notwendigen) Korrektur des Mißverständnisses der Konservativen Revolution als Anti-Modernismus vgl. Louis Dupeux, ,Revolution conservatrice' et modernite, in: ders. (Hrsg.), La ,Revolution Conservatrice' dans l'Allemagne de Weimar, Paris 1992, 17-43. 11 Kleist-Schmenzin, Grundsätze (wie Anm. 8), hier 254. 12 Ewald von Kleist-Schmenzin, Religiös-konservative Revolution, in: Der Nahe Osten, 3, 1930,4-8, hier 4.

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Allerdings ist an dieser Stelle ein gewisser Bruch in Kleists Gedanken festzustellen; denn mit bezug auf die überlieferte christliche Lehre nahm er sich das Recht zu einer subjektiven Auslegung, die - im theologischen Sinn - als "liberal" bezeichnet werden muß. Kleists frühe religiöse Prägung durch die in Pommern verbreitete Gemeinschaft, eine Laienbewegung, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war, hatte ihn zu einem sehr eigenwilligen Verständnis des Glaubens geführt, die weder als orthodox noch als pietistisch bezeichnet werden konnte. So lehnte er mit Adolf von Harnack die Gottessohnschaft Christi im dogmatischen Sinn ab, erachtete Jesus von Nazareth aber als den größten Propheten und Lehrer der Menschheit, ohne daran zu zweifeln, daß sich Gott anderen Völkern auf andere Weise offenbart habe. Diese "natürliche Theologie" führte Kleist einerseits zur Verwerfung der in den zwanziger Jahren so einflußreichen Konzeption Karl Barths und andererseits zur Annäherung an den von Paul Althaus und der Erlanger Schule verfochtenen Theozentrismus. Mit Althaus legte er das Schwergewicht auf die "Schöpfungsordnungen", die von Gott eingerichtet worden seien, um die Welt zu erhalten. Diese politische Theologie war auch der Ursprung für den dezidierten Antiliberalismus Kleists: seiner Auffassung nach mußte eine Lehre, die das Individuum in den Mittelpunkt stellte ebenso zur Auflösung der staatlichen Gemeinschaft wie zur Abwendung von Gott führen; insofern konnte er auch davon sprechen, daß der Liberalismus eine Vorstufe des Bolschewismus sei. Kleist glaubte dagegen, daß die Monarchie analog zu Gottes Herrschaft die einzige dem Menschen gemäße politische Ordnung darstelle. Hierarchisch gegliedert, sollte sie dem einzelnen seine Pflicht zuweisen; noch in der Haft erinnerte sich Kleist an einen Merkvers, den ihm seine Mutter als Kind beigebracht hatte: "Genieße, was dir Gott beschieden, Entbehre gern, was du nicht hast. Ein jeder Stand hat seinen Frieden, Ein jeder Stand hat seine Last." 13 Wie die meisten Royalisten der Weimarer Zeit verfocht auch Kleist einen "anonymen Monarchismus" 14 ohne Prätendenten. Weit davon entfernt, Wilhelm H. oder den Kronprinzen für das Ideal des Herrschers zu halten, sah er auch sonst kaum einen geeigneten Anwärter auf den Thron. Gelegentlich fürchtete Kleist, daß bereits zu Bismarcks Zeit - durch dessen vorübergehendes Bündnis mit den Liberalen - die Weichen in die falsche Richtung gestellt worden seien. Ansonsten erschien ihm allerdings die 13

14

Zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5), 288. Wolfgang Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918 -1920,

Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1962, 116.

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Verfassungsordnung des alten Reiches mit ihrer Beschränkung des Parlamentarismus vorbildlich. In Bismarck sah Kleist vor allem den überragenden Außenpolitiker, der es verstanden hatte, Deutschland einen geachteten Platz unter den europäischen Nationalstaaten zu verschaffen. Er war weit davon entfernt irgendwelchen imperialen Träumen oder gar dem Wunsch nach Expansion in den Osten nachzuhängen. Seine Kritik der "Erfüllungspolitik" begründete er mit der Notwendigkeit, im Volk das Gefühl für die eigene Würde zu erhalten, der Rapallo-Vertrag fand deshalb sein Einverständnis, weil er in der Tradition des preußisch-russischen Ausgleichs stand; Revisionswünsche meldete er nur gelegentlich in bezug auf den polnischen "Korridor" an. Zu Kleists Gedankenwelt gehörte an zentraler Stelle ein angeborener oder wenigstens anerzogener Elitismus. Für ihn war und blieb der grundbesitzende Adel zur Führung des Landes bestimmt. An dieser Auffassung hielt er fest, obwohl ihm die Schwäche und Unzulänglichkeit vieler seiner Standesgenossen deutlich war; immerhin äußerte er manchmal resigniert: "Wir werden eines Tages in Deutschland einem Menschentyp folgen, der große Führerqualitäten besitzt. Alles spricht dafür, daß dieser Mensch nicht dem Adel, schon gar nicht dem Bürgertum, wohl aber dem Proletariat entstammen wird." 15 Diese Formulierung läßt erkennen, daß Kleist am Rande die Aporie seines Denkens durchaus begriff: seine Vorstellungen von einer "konservativen Revolution" ließen sich nur mit Hilfe einer ausreichenden Massenbasis verwirklichen, diese Basis sollte aber die Macht erobern, um sich unmittelbar nach dem Sieg vollständig entmachten zu lassen. Kleist schuf keine neue Organisation, und auch seine Wahl zum Vorsitzenden des Hauptvereins der Konservativen im März 1929 eröffnete ihm kaum Wirkungsmöglichkeiten; ähnliches gilt für seine Mitgliedschaft im Präsidium des Reichsausschusses für das Deutsche Volksbegehren gegen den Young-Plan und die Arbeit in der Christlich-Deutschen Bewegung, mit deren Hilfe ein Abkommen zwischen der evangelischen Kirche und dem sozialdemokratisch regierten Land Preußen verhindert werden sollte. Kleist war zwar schon früh der DNVP beigetreten, kritisierte ihren Kurs aber scharf. Allein das Bündnis von Völkischen, Nationalliberalen und Konservativen, das die Partei ausmachte, mißfiel ihm, und als sich die Deutschnationalen zwischen 1925 und 1927 der Republik annäherten, indem sie sich an verschiedenen Regierungen beteiligten, kannte sein Unmut keine Grenze. Deshalb betrachtete er die Wahl Hugenbergs im Oktober 1928 mit einem gewissen Optimismus. An der Person konnte er zwar kein Gefallen finden, aber der neue autoritäre Stil in der Parteiführung und die Abspaltung der 15

Zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5), 56.

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"Volkskonservativen" begrüßte er. Zu diesem Zeitpunkt wußte Kleist noch nicht, daß Hugenberg sich keineswegs darauf beschränken würde, den von ihm so sehr verachteten "Klub der Harmlosen" 16 - die Moderaten unter den deutschnationalen Abgeordneten - zu beseitigen, daß er vielmehr dazu beitragen würde, einem Mann und einer Bewegung den Weg zur Macht zu bahnen, deren verhängnisvolle Absichten er selbst schon früh erkannt hatte. IV. Der Nationalsozialismus - eine Gefahr Kleist sah den Untergang der Weimarer Republik mit gemischten Empfindungen. Einerseits hatte er die Stunde ungeduldig erwartet, in der sich erweisen würde, daß die Demokratie in Deutschland zum Scheitern verurteilt war, andererseits erkannte er den Abgrund des Bürgerkrieges, an dessen Rand sich die Nation unsicher entlang bewegte. Für die Stützungsversuche Brünings empfand Kleist wenig Sympathie, auch wenn er die persönliche Integrität des Kanzlers achtete; in der Unterschätzung dieses Mannes war Kleist mit den meisten Vertretern der konservativen Rechten einig. Er setzte auf ein autoritäres Kabinett, das allein vom Reichspräsidenten gedeckt das Parlament auflösen würde, ohne Neuwahlen auszuschreiben, um auf diese Weise die Voraussetzung für einen kalten Staatsstreich zu schaffen. Deshalb näherte er sich dem Kreis um Papen, der durch seinen Zugang zu Hindenburg der geeignete Chef einer solchen Regierung zu sein schien. Kleist favorisierte diese Lösung nicht allein, um sein Ziel, die Restauration der Monarchie, sicher zu erreichen, er wollte vor allem eine Regierungsbeteiligung der seit den Septemberwahlen von 1930 stärksten Reichstagsfraktion, der nationalsozialistischen, verhindern. Kleists Ablehnung der NSDAP war nicht von vornherein so klar und eindeutig; vor den großen Erfolgen der Partei schrieb er noch mit vorsichtigem Optimismus: "Ein abschließendes Urteil über die junge nationalsozialistische Bewegung wäre verfrüht. Ihre Bedeutung für die Zukunft hängt wesentlich davon ab, ob sie planmäßiger und realpolitischer als bisher den Kampf gegen dieses System führen kann." 17 Ohne Zweifel war Kleist enttäuscht, daß sich die NSDAP nicht in seine "nationalrevolutionäre" Front einfügen wollte. Vor allem bestimmte ihn aber eine instinktive Aversion gegen die Person Ritlers, den er für einen gefährlichen "Hanswurst" hielt, und dem er vorwarf, daß er die nationale Revolution schon einmal, dadurch, daß er vor der Feldherrenhalle " kniff " , verraten hatte. 16 Vgl. Ewald von Kleist-Schmenzin, Gegen den Klub der Harmlosen, in: Der Nahe Osten, 4,1931,149-151. 17 Kleist-Schmenzin, Reformation (wie Anm. 9), 22.

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Sodann hielt Kleist ihn für einen "geborenen Demokraten" 18. Damit wollte er nicht zum Ausdruck bringen, daß Hitler beabsichtigte, nach dem Machtantritt das parlamentarische System zu erhalten, sondern daß er von den Massen abhängig bleiben würde, die ihn an die Macht gebracht hatten. Kleist nahm damit einen Topos auf, den die frühe konservative Kritik am Nationalsozialismus immer wieder vorgetragen hat; auch für Waldemar Gurian, Edgar Alexander, Friedrich Muckermann, Erich von KuehneltLeddihn und später Hermann Rauschning oder Eric Voegelin erschien der Nationalsozialismus nur als eine Variante unter den zahlreichen Versuchen, die "Ideen von 1789" zu verwirklichen. 19 Allerdings wird man Kleist mit seiner 1932 erschienenen Broschüre Der Nationalsozialismus - eine Gefahr eine gewisse Vorreiterrolle zugestehen müssen. Seine Einwände gegen die NS-Bewegung waren nicht taktischer, sondern grundsätzlicher Art. Um so betroffener sah er, daß "viele sehr wertvolle, vaterländisch gesinnte Elemente, namentlich unter der Jugend und den breiten Volksschichten, die sich mangels Aufklärung kein Urteil über die nationalsozialistische Partei und ihre Ziele bilden können" 20, Hitler folgten. Kleist selbst hatte nicht nur Mein Kampf und Rosenbergs Mythus des xx. Jahrhunderts gelesen, er studierte auch die Parteipresse und die Broschürenliteratur. Er entnahm den Reden und Schriften Hitlers und der Funktionäre, daß man hier einen Umsturz plante, der nicht allein die Republik beseitigen würde, sondern einen Bruch mit allen Traditionen europäischer Staatlichkeit zur Folge haben würde. Die Weltanschauung der NSDAP sei von einer "kaum begreifbaren Unduldsamkeit"21, auf die absolute Vernichtung des Gegners aus. Trotz der Lippenbekenntnisse ihrer Führer, stehe sie keineswegs auf dem Boden des Christentums, sie sei auch nicht für eine Wiederherstellung der Monarchie zu gewinnen, und ihre Ideologie bleibe im Wesen biologischer Materialismus. Es überrascht auf den ersten Blick, welche Wendung Kleist dieser Kritik des Rassegedankens gibt, wenn er fortfährt: hier offenbare sich ein "Grundzug von äußerem Glücksstreben, von liberalem Rationalismus", denn bei aller Betonung der Verschiedenheit der Rassen, würden doch die Angehörigen derselben Rasse als "gleich" betrachtet und so nähere man "sich immer mehr der liberalen Auffassung vom größtmöglichen Wohlergehen der größten Zahl" 22.

18 Alle Äußerungen zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5), 89, 125. 19 Vgl. dazu als grundlegende Untersuchung die Arbeit von Wolfram Ender,

Konservative und rechtsliberale Deuter des Nationalsozialismus 1930-1945. Eine historisch-politische Kritik, Diss. phil., Freiburg / Br. 1982. 20 Ewald von Kleist-Schmenzin, Der Nationalsozialismus - eine Gefahr, Berlin 1930 2 , zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5),255-264, hier 256. 21 Ebd,255. 22 Ebd,260.

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Diese Argumentation, daß der Nationalsozialismus seinem Charaker nach "liberal" sei und der damit verbundene Vorwurf, daß man von Hitler keine wirkungsvolle Anti-Versailles-Politik erwarten dürfe, erinnert an die Thesen der gleichfalls 1932 erschienenen Kampfschrift Hitler - ein deutsches Verhängnis von Ernst Niekisch, mit dem Kleist schon seit längerem in Verbindung stand. Allerdings trennt die beiden bei aller verblüffenden Gemeinsamkeit die Auffassung Kleists, daß Hitler dem Marxismus den Weg bereite und daß die NSDAP im Grunde zur Linken gerechnet werden müsse, denn Niekisch betrachtete Ritler gerade als Büttel der Bourgeoisie und der "reaktionären" Kräfte des politischen Klerikalismus. Kleist schrieb im letzten Abschnitt seines Textes: "Es ist kein konservatives Kampfziel, sich an den Schwanz eines durchgehenden Pferdes zu hängen, um etwas bremsen zu können." 23 Das war mehr als nur ein warnender Hinweis; Kleist hatte von Anfang an die Strategie Hugenbergs bekämpft, der die Bildung der "Harzburger Front" aus dem Stahlhelm, der (bei den letzten Reichstagswahlen sehr geschwächten) DNVP und den Nationalsozialisten seit dem Oktober 1931 zu betreiben versuchte. In seinem Vorschlag zur Reform der DNVP, den er im Frühjahr 1932 der Parteiführung einreichte, forderte er, jede Verbindung zu Hitler abzubrechen, die Deutschnationalen von allen Sympathisanten der NS-Bewegung zu säubern und sie als reine konservative Weltanschauungspartei auf das Bekenntnis zur Monarchie zu verpflichten. Kleist stellte sich wohl vor, daß man so eine gewisse Grundlage für die kommende autoritäre Lösung schaffen würde. Niemals war Kleist dem Zentrum der Macht näher als im Mai 1932. Damals fragte Hindenburg seinen Freund Oscar von der Osten, Kleists Schwiegervater, ob er bereit wäre, ein Präsidialkabinett zu bilden, in dem Kleist wahrscheinlich das Innenministerium übernommen hätte. 24 Der Plan kam nicht zur Ausführung, aber Kleist hoffte, über seine Verbindung zu Papen einen gewissen Einfluß gewinnen zu können. Er begrüßte ausdrücklich dessen Ernennung zum Reichskanzler und den "Preußenschlag" , mit dem die sozialdemokratische Landesregierung Braun-Severing abgesetzt wurde. Zweifel an der Entschlossenheit des neuen Mannes kamen ihm offensichtlich erst, als Papen Neuwahlen ausschreiben ließ und nicht bereit war, unmittelbar mit den Vorbereitungen für die Wiederherstellung der Monarchie zu beginnen. Auch irritierte ihn, wie ungeschickt die Regierung agierte und welche Widerstände das "Kabinett der Barone" in der Bevölkerung weckte. Bereits zu diesem Zeitpunkt dürfte Kleist einige Illusionen über den Charakter Papens verloren haben. Mit steigendem Entsetzen Ebd,263. Vgl. Otto Schmidt-Hannover, Umdenken oder Anarchie. Männer - Schicksale - Lehren, Göttingen 1959, 316. 23

24

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beobachtete er dann das Scheitern Schleichers, dessen Plan einer "Querfront" von den Gewerkschaften bis zum linken Flügel der NSDAP ihm selbstverständlich nicht behagte, und die Entstehung des "Zähmungskonzepts" bei Papen. Nachdem sich Papen am 4. Januar 1933 mit Hitler im Haus des Kölner Bankiers Schröder getroffen hatte, um über eine Regierungsbeteiligung der NSDAP zu verhandeln, erreichte Kleist eine persönliche Audienz bei Hindenburg, um ihm die Zusage abzuringen, daß er keinesfalls den Führer der Nationalsozialisten in das Kabinett berufen werde. Die persönliche Aversion gegenüber Hitler machte es dem Reichspräsidenten leicht, diese Bitte zu erfüllen. Aber Kleist blieb auf der Hut. Zwischen dem 28. und dem 30. Januar verließ er das Haus Papens nicht mehr, um Weiterungen zu verhüten. Noch kurz vor der entscheidenden Besprechung fing er Hugenberg ab, um ihn zu beschwören, daß nach der Bildung einer Koalitionsregierung aus Deutschnationalen und Nationalsozialisten keinesfalls Neuwahlen stattfinden dürften, aber auch das blieb vergeblich. Am 30. Januar übernahm Hitler die Macht, vierzehn Tage später erklärte Kleist seinen Austritt aus der DNVP. Er hatte nie geglaubt, daß sich die Nationalsozialisten "einrahmen" ließen, und er ahnte wohl schon, wie sehr er mit seinen Befürchtungen recht behalten würde. Nur einmal noch flackerte kurz die Hoffnung auf, dem Schicksal den Weg verlegen zu können: Kleist konspirierte vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes mit seinem Freund Otto Schmidt-Hannover, der gleichzeitig zu den Vertrauten Hugenbergs gehörte, um zu erreichen, daß die Deutschnationalen zusammen mit den Abgeordneten des Zentrums dem Gesetz nur dann ihre Zustimmung geben sollten, wenn die Grundlagen des Rechtsstaates (vor allem der Schutz vor willkürlicher Verhaftung) gewährleistet würden, - umsonst.

v. Die Herrschaft der braunen Jakobiner Man hat den Vorkämpfern der "Konservativen Revolution" ganz zu recht die Undeutlichkeit ihrer politischen Zielsetzungen jenseits des negativen Programms vorgeworfen, auf das sie sich allerdings einigen konnten. Sie polemisierten mit den scharfen Waffen des Geistes gegen das Versailler System und die Weimarer Republik, den Liberalismus und den Parlamentarismus, den bürgerlichen wie den marxistischen Materialismus, aber die Vorstellungen von der Ordnung des "werdenden Reiches" (Gerhard Günther) oszillierten zwischen kommissarischer Diktatur und dem imperium teutonicum als Ziel der säkularen Heilsgeschichte. Verglichen mit solchen Schwärmereien waren die Überlegungen Kleists außergewöhnlich nüchtern; nüchtern und wirkungslos.

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Wie die Konservativen des 19. Jahrhunderts lebte auch Kleist immer noch unter dem übermächtigen Schatten der großen Revolution. Er deutete die politische Entwicklung seiner eigenen Zeit mit den Kategorien, die ihm die politische Entwicklung in Frankreich zwischen 1789 und 1799 an die Hand gab. Dann erschien der Wilhelminismus als Ancien Regime und der letzte Kaiser hatte - wenigstens was die Blindheit für gewisse Gefahren betraf einige Ähnlichkeit mit dem unglückseligen Ludwig XVI., die Weimarer Republik war der Herrschaft der Gironde vorbehalten, der wohlmeinenden Liberalen, die immer noch glaubten, daß man den Menschen von seinen traditionellen Bindungen befreien müsse, um ihn glücklich zu machen, und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit würde man schließlich bei den Jakobinern ankommen, die den Terror heraufführten, den Schrecken im Namen der Tugend, den neuen Kult und die Illusion des neuen Zeitalters. Als im März 1933 die Regierung Hitler den "Tag von Potsdam" inszenierte, äußerte Kleist gedankenvoll, das sei das "Pikenfest" der nationalen Revolution, noch verbrüdere man sich, aber bald werde Blut fließen; auch durch die konservative Patina ließ Kleist sich nicht täuschen. In einer letzten Mitteilung an den Hauptverein der Konservativen formulierte er noch einmal sein weltanschauliches Credo. Der "Mangel an Unbedingtheit" auf Seiten der traditionellen Elite erschien hier als die Hauptursache für den Sieg der Nationalsozialisten; wenn überhaupt, dann könne man nur noch in der Bildung einer "konservativen Front" 25 jenseits der parteimäßigen Organisation etwas zum Besseren bewirken. Lieber wäre Kleist jetzt wohl in seine Vendee gegangen; es hätte seinem Temperament entsprochen, an der Spitze der pommerschen Bauern für König und Vaterland zu kämpfen, aber der Nationalsozialismus hatte auch hier an Boden gewonnen. Auf wenige konnte sich Kleist verlassen; als im April und wieder am 1. Mai Nationalsozialisten Schmenzin zu stürmen versuchten, brachte er das Gut zusammen mit Freunden, Verwandten und Bediensteten in Verteidigungszustand. Seine Verhaftung am 21. Juni - ausgerechnet mit der Anklage der Unterstützung der DNVP - konnten sie aber auch nicht verhindern. Immerhin kam er bereits drei Wochen später wieder frei. Unmittelbare Gefahr für Leib und Leben droht ihm ein Jahr später, als er auf den Todeslisten der SS stand, die nicht nur den angeblichen "RöhmPutsch" niederschlug, sondern auch Jagd auf die konservativen Regimegegner machte. Kleist floh damals nach Berlin und versteckte sich bei Ernst Niekisch, dem er selbst ein Jahr zuvor Unterschlupf gewährt hatte. In der revolutionären Anfangszeit des NS-Regimes geriet Kleist immer stärker in die Isolation. Er konnte den allgemeinen Enthusiasmus nicht 25 Ewald von Kleist-Schmenzin, Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht, Mitteilungen des Hauptvereins der Konservativen, Berlin, Mai 1933, zit. nach Scheurig, KleistSchmenzin (wie Anm. 8), 269-274, hier 271, 273.

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teilen und sah hinter allen äußeren Erfolgen die Gefahren, die die Politik Hitlers heraufbeschwor. Einen gewissen Rückhalt gewann er noch unter Gleichgesinnten im Kirchenkampf. Nachdem der zuständige Superintendent 1935 für seine Gemeinde einen Pfarrer der Deutschen Christen eingesetzt hatte, trat er aus der Kirche aus und schloß sich der Bekennenden Kirche an. Als Patronatsherr behielt er einen gewissen Einfluß und konnte auch Maßnahmen, die von der deutschchristlichen Kirchenverwaltung getroffen waren, unterlaufen. 1936 lernte Kleist durch seine Unterstützung der Bekenntnisbewegung Dietrich Bonhoeffer kennen, dessen eigenwillige Theologie ihm zwar in vielem fremd blieb 26 , vor dessen Unbedingtheit er aber Hochachtung hatte, wie sich auch Bonhoeffer beeindrucken ließ von der Konsequenz, mit der Kleist die allgemeine "Verpöbelung"27 anprangerte. Zu Kreisen der Opposition, die in dieser Zeit nur in Ansätzen erkennbar war, hatte Kleist schon frühzeitig Kontakt aufgenommen. Neben Alfred Delp, August Winnig und dem in vielem geistesverwandten Ullrich von Hassell wurde jetzt vor allem die Verbindung zu den führenden Männern der Abwehr, Canaris und Oster, wichtig. Mit ihnen teilte er allerdings die Auffassung, daß die Zeit für einen Umsturzversuch noch nicht reif sei, da sich das Regime auf breite Unterstützung in der Bevölkerung und in den Eliten stützen könne; man spürt die Erbitterung in den Worten, mit denen Kleist die Lage charakterisierte: "In Zukunft wird es heißen: Charakterlos wie ein deutscher Beamter, gottlos wie ein protestantischer Pfaffe, ehrlos wie ein preußischer Offizier." 28 Die drohende Verdüsterung wurde noch dadurch verstärkt, daß am 3. Mai 1937 Kleists Frau starb, die ihm - obwohl von ihrem Wesen ganz unpolitisch - in allen Anfeindungen Halt gegeben hatte. Erst die außenpolitischen Krisen der beiden folgenden Jahre weckten ihn auf aus einem Zustand, der von Schwennut wie wachsender Unduldsamkeit gekennzeichnet war. Hans Schwarz hat auch diese Seite Kleists festgehalten, wenn er nach dem Krieg in einem Brief schrieb: "Es gab natürlich auch komische Junker. Auch dumme. Aber es gab auch die anderen, die still und menschlich überlegen, ohne Arroganz waren. Auf die man das Wort ,Edelmann' anwenden konnte. [... ] Nicht leicht für andere, aber geprägt mit natürlichem Gefühl für Würde. Ewald Kleist war so ein Charakter, obwohl er durch seine Ennordung bei der Niederschlagung des Goerdeler-Putsches höher hinaufrückte, 26 Zur - häufig übersehenen - konservativen Substanz der Theologie Bonhoeffers vgl. neuerdings Klaus-M. Kodalle, Dietrich Bonhoeffer. Zur Kritik seiner Theologie, Gütersloh 1991. 27 Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1989 7, 810.

28 Zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5), 145.

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als er von Natur aus reichte, denn er konnte von echt ,konservativer' Enge sein, aber sein Tod hob das zunächst alles auf, es blieb nur seine Kompromißlosigkeit gegenüber der Gewalt." 29 VI. Der Patriot als Verräter

In ihrer Studie über den Verrat im Xx. Jahrhundert hat Margret Boveri die besondere Situation der deutschen Widerstandskämpfer folgendermaßen charakterisiert: sie boten "ein eindrucksvolles Beispiel für den Unterschied zwischen Verrat des Denkens und der Tat, ja die Möglichkeit des gleichzeitigen Gegeneinanders dieser bei den Haltungen. Denn bei ihnen gab es keine reinliche Scheidung zwischen ,Identifikation' und ,Desidentifikation' ."30 Auch Kleist sah sich gezwungen, aus Liebe zu seinem Vaterland eben dieses Vaterland, das in der Hand Hitlers war, zu verraten. Im Frühjahr 1938, als Deutschland die "Heimkehr" Österreichs feierte für die der Preuße Kleist wenig Sympathie aufbrachte - und sich der Konflikt mit der Tschechoslowakei abzeichnete, nahm Kleist über Canaris Verbindung zum Kopf der militärischen Opposition, Generaloberst Ludwig Beck, auf. Er wurde dann im Auftrag der Opposition nach London gesandt, um die britische Haltung im Falle eines Umsturzes zu sondieren. Kleist führte Gespräche mit Lord Lloyd, dem zweiten Mann der konservativen Partei, Robert Vansittart, dem außenpolitischen Berater der Regierung Chamberlain, und mit Churchill. Er hoffte auf eine Art von konservativer Solidarität der Tories mit der Fronde, aber weder konnte noch wollte man ihm Zusicherungen geben (etwa in bezug auf die Rückgabe des Korridors). Halifax war von den Warnungen Kleists beeindruckt, aber Vansittart zeigte sich befremdet über den von ihm so verstandenen "Landesverrat" 31 und Chamberlain verglich die Opposition gegen Hitler mit den intransigentEm Jakobiten des 17. Jahrhunderts, die mit Hilfe des Auslands gegen Wilhelm III. arbeiteten. Man verdächtigte die Widerstandsgruppen, daß sie nur die Früchte von Hitlers Revisionspolitik ernten wollten, und niemand wagte es, ein klares Ultimatum an die Adresse Hitlers zu formulieren, wie es die Opposition im Reich wünschte. Als infolge der Vermittlung Mussolinis das Münchener Abkommen geschlossen wurde, versank Kleist in Depression. Sehr zu recht hat Dietrich Aigner von der "Tragödie des deutschen Wider29 In einem Brief an die Schriftstellerin Maria Dessauer vom 29. Juni 1960; zit. nach Oswalt von Nostitz (Hrsg.), Ein Preuße im Umbruch der Zeit. Hans Schwarz 1890-1967, Hamburg 1980, 305. 30 Margret Boveri, Der Verrat im xx. Jahrhundert I. Für und gegen die Nation. Das sichtbare Geschehen, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 23, Reinbek bei Hamburg 1956, 14. 31 Vgl. Hans Rothfels, Deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt / Main 1978, 74, 228 zu Anm. 5.

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standes" gesprochen, der in England "eine Solidarität des sittlichen Bewußtseins und zu gleicher Zeit Verständnis für berechtigte nationale Aspirationen suchte, ohne zu erkennen, wie sehr die Fronten verschränkt waren und wie fremd man ihm gegenüberstand." 32 Kurz belebte sich Kleists Hoffnung noch einmal während der Polen-Krise im Sommer 1939. Am 24. August des Jahres reiste er, wieder im Auftrag von Canaris, nach Stockholm zu Gesprächen mit schwedischen Regierungsvertretern, von denen man erwartete, daß sie ihre Kenntnisse direkt nach London weitergeben würden. Dieser Kontakt wurde auch nach Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 aufrechterhalten. In den Besprechungen kamen nicht nur die militärischen Planungen Hitlers zur Sprache, es ging auch um die grundsätzliche Frage, welche Ziele sich die Opposition setzen sollte. Anfang 1940 erklärte Kleist gegenüber einem Beamten des schwedischen Außenministeriums: "Man sei sich [. .. ] völlig darüber klar, daß Deutschland, wenn es nicht einen schnellen Sieg erringen könnte, den Krieg verlieren würde und daß die Friedensbedingungen, die das deutsche Volk nach einem langen und blutigen Kriege und einem vollständigen Zusammenbruch genötigt sein würde anzunehmen, furchtbar sein würden. Es erscheine daher als eine vaterländische Pflicht - nachdem ein entscheidender Sieg sich als unerreichbar erwiesen habe - die Existenz der Nation zu retten und unnötige Opfer zu vermeiden." 33 Kleist mußte rasch begreifen, daß es für einen solchen Versuch, "die Existenz der Nation zu retten und unnötige Opfer zu vermeiden", keine Handlungsgrundlage mehr gab. Von den Widerstandszirkeln, die sich in fruchtlosen Diskussionen ergingen oder utopische Pläne für die Zukunft nach dem Krieg entwarfen, zog er sich zurück. Als er 1943 in Berlin mit den Brüdern Bonhoeffer, Joseph Wirmer und Louis Ferdinand von Preußen zusammentraf, forderte er den Hohenzollern auf, ein Signal für die Revolte zu geben, aber er setzte auch darein kaum noch Hoffnung: Er wußte um die mangelnde Handlungsbereitschaft der Generalität und fürchtete die Unvorsichtigkeit der zivilen Verschwörer. Deshalb hielt er auch zu Goerdeler Distanz, in dessen Umsturzplänen er immerhin als Verbindungsmann für Pommern auftauchte, was ihm schließlich zum Verhängnis werden sollte. Zu dem engeren Kreis der Männer des 20. Juli hatte Kleist keine Verbindung. Nur im Januar 1944 sprach er lange und ernst mit seinem ältesten Sohn, Ewald-Heinrich, den Stauffenberg gefragt hatte, ob er bereit wäre, 32 Dietrich Aigner, Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis Die öffentliche Meinung 1933 -1939 - Tragödie zweier Völker, München / Esslingen 1969, 363. 33 "Widerstand ist vaterländische Pflicht". Aus den Akten des Schwedischen Ministeriums des Äußeren, in: Politische Studien, 10, 1959, 435 -439, hier 438.

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sich bei einer Uniformvorführung zusammen mit Hitler in die Luft zu sprengen. Schweren Herzens riet der Vater zu, aber der Plan kam nicht zur Ausführung. Nach dem gescheiterten Attentat wurden beide inhaftiert, der Sohn mangels Beweisen schließlich freigelassen, der Vater vor den Volksgerichtshof gestellt. Die Anklage lautete auf Landes- und Hochverrat. Den Vorwurf des Landesverrats bestritt Kleist, und erklärte dann dem vorsitzenden Richter Freisler: "Jawohl, ich habe Hochverrat betrieben seit dem 30. Januar 1933, immer und mit allen Mitteln. Ich habe aus meinem Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus nie ein Hehl gemacht. Ich halte diesen Kampf für ein von Gott verordnetes Gebot. Gott allein wird mein Richter sein." 34 Während des laufenden Prozesses wurde Freisler bei einem Bombenangriff auf Berlin getötet. Noch einmal hoffte Kleist zu überleben, wenigstens um seiner zweiten Frau Alice, einer geborenen Kuhlwein von Rathenow, und der jüngeren Kinder willen. Aber das Gericht setzte die Verhandlung am 23. Februar 1945 fort, drei Wochen später erging das - von ihm erwartete - Todesurteil. Kleists letzte Lektüre waren die Bibel, das Gesangbuch und die von Hanns Lilje verfaßten Kreuzwegandachten. Als er am 9. April, einen Monat vor Kriegsende, von den Wachen aus seiner Zelle geholt wurde, sagt er noch zu dem mit ihm inhaftierten Pfarrer Eberhard Bethge: "Wenn sie herauskommen sollten und einmal meine Frau und meine Familie sehen, so sagen Sie ihnen, daß ich in vollem Frieden mit meinem Gott - sagen Sie: in vollem Glauben und Frieden - hinübergehe. Ich weiß, warum und wofür das geschieht." 35 In Plötzensee wurde Ewald von KleistSchmenzin durch das Fallbeil hingerichtet.

VII. Epilog Die Historiker haben lange und scharfsinnig darüber diskutiert, wann Preußen untergegangen ist. Einige sprachen sich für das Jahr 1871 aus, als die alte Militärmonarchie in den neuen Nationalstaat eintrat, andere plädierten für 1918, als die Revolution die Hohenzollernmonarchie beseitigte, wieder andere für 1947, als das Land Preußen, "Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland", durch den Beschluß des Alliierten Kontrollrats aufgelöst wurde. Wie dem auch sei: es dürfte feststehen, daß die historische Substanz Preußens im letzten Kriegsjahr und in den ersten beiden Jahren des Nachkrieges aufgezehrt wurde. Der Vertreibung und dann der Annexion der ostdeutschen Provinzen fiel jene Welt zum Opfer, die das spezifisch Preußische ausgemacht hatte: auch Kleists Frau und die 34 35

Zit. nach Scheurig, Kleist-Schmenzin (wie Anm. 5), 195. Zit. nach ebd. 198 f .

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jüngeren Kinder flohen vor der heranrückenden Roten Annee, sein Bruder Hermann-Conrad wurde von sowjetischen Soldaten getötet, seine Mutter Lili von Kleist ermordeten polnische Marodeure. Aber Preußen war immer mehr als eine Landschaft, mehr als eine Dynastie und mehr als eine Sozialordnung, es gab unbestreibar auch einen preußischen Geist. Der hatte sich mit Männern wie Ewald von KleistSchmenzin im Untergang noch einmal bewährt. In einem Gedicht des von Kleist so geschätzten Dietrich Bonhoeffer heißt es: "Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem Zucht der Sinne und deiner Seele, daß die Begierden und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen. Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist, Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht." 36

36 Dietrich Bonhoeffer, Stationen auf dem Weg zur Freiheit, in: ders.: Ethik, München 1985 11 , 5.

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Politisches Profil eines christlichen Konservativen Hermann Ehlers (1904-1954) Von Karl-Eckhard Hahn

I. Am 29. Oktober 1954 verstarb in Oldenburg unerwartet der gerade fünfzigjährige evangelische CDU-Politiker Hermann Ehlers, seit Oktober 1950 der zweite Präsident des Deutschen Bundestages. In diesem Amt war der bis dahin über kirchliche Kreise hinaus kaum bekannte, über die niedersächsische Landesliste 1949 in den Bundestag gelangte Ehlers in kurzer Zeit zu einer zentralen Gestalt deutscher Nachkriegspolitik aufgestiegen.

Für Adenauer kam es im Herbst 1950 aus innerparteilichen und wahltaktischen Gründen darauf an, den frei gewordenen Stuhl des Bundestagspräsidenten mit einem evangelischen Politiker zu besetzen. l Spürte Ehlers bei dieser ersten Wahl auch noch ein verbreitetes Mißtrauen vieler Fraktionskollegen, so gelang es ihm doch schnell, in der Parteiführung Fuß zu fassen. Als Initiator und erster Vorsitzender des Mitte März 1952 gegründeten "Evangelischen Arbeitskreises" (EAK) in der CDU wurde er zur Integrationsfigur der Protestanten in seiner Partei. Der Bundesparteitag wählte ihn im Oktober 1952 mit gleicher Stimmenzahl wie Adenauer selbst neben Jakob Kaiser zu einem der beiden Stellvertretenden Parteivorsitzenden. Hans Baumgart kommentierte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die CDU habe "neben dem anerkannten alten Fülrrer jetzt auch den anerkannten jungen Mann". Der Journalist führte den Erfolg nicht zuletzt auf die, verglichen mit dem Kanzler, beweglichere deutschlandpolitische Linie Ehlers zurück. 2 Er galt im Kreis der Kanzlerberater als potentieller Nachfolger und vielleicht auch Konkurrent Adenauers. 3 1 Zu den näheren Umständen der Wahl vgl.: Andreas Meier, Hermann Ehlers, Leben in Kirche und Politik, Bonn 1991, 283 f., und: Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 -1952, Stuttgart 1986, 783. 2 Hans Baumgart, Ehlers als Partner Adenauers, in: FAZ 23.10.1952. 3 Tagebuch Herbert Blankenhorn, 19.10.1952, in: Bundesarchiv (künftig: BA) NL 35/14 b. Otto Lenz vertraute seinem Tagebuch an: "Im engeren Kreis waren wir nicht so schrecklich erbaut davon." Otto Lenz, Im Zentrum der Macht: Das Tage-

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Im Herbst 1953 wurde Ehlers vom 2. Deutschen Bundestag mit 466 von

500 abgegebenen Stimmen in seinem Amt bestätigt. Im folgenden Jahr

scheint sich sein Interesse auf eine Kandidatur für das Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten gerichtet zu haben, weil ihm die Möglichkeiten, auf dem Präsidentensessel des Bundestages politisch zu wirken, nicht ausreichten. 4 Theodor Heuss sprach nach Ehlers Tod aus, was viele empfanden: "Hier wurde dem Vaterland eine Kraft geraubt, die berufen war, die sich berufen wußte, mit ein Baumeister der deutschen Zukunft zu werden."5 Vereinzelt wurden in den Nachrufen Ehlers geistigen Antriebsmomente erwähnt: Carlo Schmid, der sozialdemokratische Vizepräsident des Bundestages, würdigte aus der Perspektive des parteipolitischen Gegners den mit der Demokratie versöhnten Konservatismus Ehlers. 6 Heuss erwähnte das "als sittliche Bindung verstandene Preußentum" und wies auf das gerade im Nachkriegsdeutschland schwierige Verhältnis zwischen Tradition und politischem Tagesgeschäft hin: "Er holte sich wohl aus den Vergangenheiten (!) Kräfte der Gesinnung, aber nicht die Maßstäbe der Entscheidungen, die dem Morgen gelten." 7 Ehlers Biographen haben jeweils verschiedene Aspekte herausgearbeitet. B Zunächst ist sein Einsatz für den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg gewürdigt worden. 9 Der Weg des Parlamentspräsidenten ist auch durch einen umfangreichen, von Karl Dietrich Erdmann einfühlsam eingeleiteten Quellenband gut belegt.10 Die theologische und kirchengeschichtliche Bedeutung Ehlers steht im Zentrum der umfangreichen Monographie von Andreas Meier, der über diese Gebuch von Staatssekretär Lenz 1951-1953, bearb. von Klaus Gotto u . a., Düsseldorf 1989, 439. 4 Weert Börner, Hennann Ehlers, Hannover 1963, 167. 5 Nachrufe in: Bulletin des Presse- und Infonnationsamtes der Bundesregierung (künftig: BPA-Bulletin), 3.11.1954, 1849 ff. 6 Ebd., 1852. 7 Ebd., 1850. B Für verschiedene Gesichtspunkte sind nach wie vor die Erinnerungen enger Weggefährten Ehlers wichtig, die bereits 1955 in einem Gedenkband zusammengefaßt worden sind: Friedrich Schramm u. a. (Hrsg.), Hennann Ehlers, Wupperta11955. 9 Weert Börner, Hennann Ehlers und der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Bonn 1967. Vom gleichen Autor stammt eine kleine Biographie (wie Anm. 4). 10 Hermann Ehlers: Präsident des deutschen Bundestages. Ausgewählte Reden, Aufsätze und Briefe 1950 -1954. hrsg. und eingel. für die Hennann-Ehlers-Stiftung von Karl Dietrich Erdmann, Boppard am Rhein 1991. Einzelne Aufsätze, Reden und Zeitungskolumnen sind dokumentiert in: Hermann Ehlers, Um dem Vaterland zu dienen. Reden und Aufsätze, hrsg. von Friedrich Schramm, Köln 1965 und: Ders., Gedanken zur Zeit, hrsg. von Karl-Heinz Meyer, Stuttgart 21956. Die Veröffentlichungen Ehlers hat zusammengestellt: Meier (wie Anm. 1).

Hermann Ehlers (1904-1954)

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sichtspunkte aber weit hinausgreift. 11 Auch als Deutschlandpolitiker hat der Bundestagspräsident zeitgeschichtliches Interesse gefunden. 12 Nur am Rande ist bisher der von Carlo Schmid und Theodor Heuss angedeutete Beitrag Hermann Ehlers für den deutschen Nachriegskonservatismus gewürdigt worden, der mit einem "deutsch-nationalen Typus in der CDU" 13 nur unzureichend umschrieben wird. Der Bundestagspräsident weigerte sich, die Überzeugungen seiner Jugend und jungen Mannesjahre unbesehen gegen die Leitbilder der Sieger von 1945 einzutauschen. Selbstkritisch, aber nicht ohne Liebe zu Volk und Vaterland, klopfte er die eigenen Traditionen auf das ab, was Bestand haben konnte. Kritisch, aber bereit, sich Neuem zu öffnen, ließ er sich auf die zu Partnern werdenden Westmächte ein. Dieses spannungsreiche geistige Ringen zieht sich durch zahlreiche Schriften des CDU-Politikers. Es ist besonders interessant, weil Ehlers ein Gegner der Weimarer Republik gewesen und durch Autoren der "Konservativen Revolution" beeinflußt worden war. 14 Ehlers war gleichwohl nicht Gefangener seiner Vergangenheit, weil er den Abgrund zwischen seinem gelebten Christentum aber auch seinem Patriotismus und der Politik des Dritten Reiches rechtzeitig erkannt und widerstanden hatte.

ß. Der 1904 geborene Ehlers wuchs in Berlin auf, wo sein Vater als Postbeamter tätig war, zeitlebens blieb er aber vor allem der niedersächsischen Heimat seiner Eltern eng verbunden. 15 Darauf wies der Schüler ausdrücklich in einem Lebenslauf hin, den er 1922 für die Zulassung zum Abitur verfaßte. Der knappe Text 16 zeigt, was ihn bewegte: "Wichtig war für mich, Meier (wie Anm. 1). Gerhard Besier, Hermann Ehlers. Ein evangelischer CDU-Politiker zur Frage der deutschen Einheit, in: Kerygma und Dogma 36, 1990,80-109. Vgl. auch: KarlEckhard Hahn, Wiedervereinigungspolitik im Widerstreit. Einwirkungen und Einwirkungsversuche westdeutscher Entscheidungsträger auf die Deutschlandpolitik Adenauers von 1949 bis zur Genfer Viermächtekonferenz 1959, Hamburg 1993. 13 So eine Formulierung von Schwarz, Adenauer (wie Anm. 1), 783 . 14 Die erste gründliche Studie stammt von: Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 -1932. Ein Handbuch. 3., um einen Ergänzungsband erweiterte Auflage, Darmstadt 1989. Vgl. auch: Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 15 Zur Herkunft vgl.: Friedrich Schramm, Heimatboden und Kindheit, in: Schramm, Ehlers (wie Anm. 8), 15 ff. 16 Zitiert nach: Gerhard Mauz, Hermann Ehlers, in: Friedrich Andrae, Sybil Gräfin Schönfeldt (Hrsg.), Deutsche Demokratie von Bebel bis Heuss. Geschichte in Lebensbildern, Frankfurt a. M. / Hamburg 1968, 221. 11

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daß ich seit dem 15. Lebensjahr in der christlichen Jugendbewegung stand. Diese Tatsache hat auf meine Entwicklung großen Einfluß ausgeübt. Für die Wahl meines Berufes war neben dem Gedanken an die Schaffung des nötigen Lebensunterhaltes besonders die Überlegung maßgebend: In welcher Stellung kann ich meinem Vaterland am besten dienen? So habe ich mich für das Studium der Rechte und Staatswissenschaften entschieden und möchte, wenn möglich, später in den Staatsdienst treten." Christentum, Jugendbewegung und Dienst am Vaterland: dieser Gedankenkreis blieb für Ehlers bestimmend. Das christliche Elternhaus ließ den Sekundaner 1919 den Weg in den Steglitzer "Bibelkreis höherer Schüler" (BK) wählen. Bei diesen Kreisen handelte es sich um einen kräftigen Zweig der Jugendbewegung, die in Steglitz 1895 mit dem Wandervogel ihren Ausgangspunkt genommen hatte. Die Bibelkreise waren aus der pietistischen Erweckungsbewegung hervorgegangen und hatten später jugendbewegte Formen übernommen: Wanderfahrt, Lied und Lager. Für Ehlers war, wie er später schrieb, die Jugendbewegung in erster Linie ein Weg, Werte, die Ganzheit des Lebens und seiner Verantwortung in einer Zeit wiederzugewinnen, in der diese Werte sich auflösten. 17 Wie weite Teile der Jugendbewegung wurden in den 20er Jahren auch die BK politischer und die Formen straffer. 18 Für die BK waren Volk und Vaterland der Raum, in dem sich die christliche Frömmigkeit bewähren mußte. Nach Meinung Ehlers war Politik durchaus ein Thema für die Jungen eines evangelischen Bundes, aber dieser Begriff wurde idealisiert und von der vorgefundenen Wirklichkeit säuberlich getrennt: "Wahrhaftig, mit der Politik, die sich in ihren (!) Zeitungen breit macht, in Versammlungen und Redensarten, wollten wir nichts zu tun haben, gar nichts. Aber über dieser Politik stand uns das Vaterland." 19 Zum lebendigen Erbe dieser Jahre zählte der Volksbegriff. Ehlers hatte sich Deutschland erwandert und für den Bund Fahrten in die Siedlungsgebiete deutscher Volksgruppen außerhalb der Reichsgrenzen organisiert. In einem seiner letzten, seit 1946 für das "Oldenburger Sonntagsblatt" regelmäßig verfaßten "Sonntagsspiegel", fragte er mit Ernst Moritz Arndt nach des Deutschen Vaterland und forderte von einer in nationale Daseinsvergessenheit abgleitenden Studentenschaft Respekt und Liebe für Volk und Vaterland. "Eine Zeit, die nach übernationalen Ordnungen sucht, ... , kann nicht der echten Beziehung der Menschen eines Volkes zu ihrer volklichen Gemeinschaft und zu ihrem Staat entraten." 20 Der Reichsgedanken heute, 18.1.1953, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 242. Vgl.: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 2 ff. 19 Zitiert nach: Schramm, Heimatboden (wie Anm. 15). Zu Ehlers Wirken im BK vgl. auch: Friedrich Schönjeld, Im Südwestgau von Berlin, in: Schramm, Ehlers (wie Anm.8). 17

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Obwohl dieser Gedankenkreis durch Ritler auch nach Meinung Ehlers mißbraucht und diskreditiert worden war, verteidigte er nach 1945 zum Beispiel den Kern der "großdeutschen" Idee, alle Deutschen in einem Staat zusammenzufassen. 21 Oder er forderte vor Journalisten dazu auf, "das Wort völkisch wirklich wieder in korrekter und rechter Weise in Besitz (zu) nehmen" . 22 Wiederholt setzte sich der Bundestagspräsident in Wort und Tat für die Belange deutscher Volksgruppen ein. Ein "Sonntagsspiegel" zur Südtirolfrage 23 führte sogar zu diplomatischen Verwicklungen. 24 Gegen Widerstände aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt beharrte er auf die "uns durch die Geschichte und unsere völkische Gemeinschaft zugewachsene Verantwortung für Menschen, die unsere Sprache sprechen, und die den Wunsch haben, ihre deutsche Kultur zu behalten". 25 Von Anfang an war für Ehlers diese starke und emotionale Bindung an sein Volk aber nicht schrankenlos. Obwohl den BKlern "die Synthese zwischen Arbeit am Volk und ihrem Christentum" wenig Schwierigkeiten bereitete 26, gab es für ihn klare Grenzen. Dabei kämpfte er an zwei Fronten: Zum einen gegen Vorwürfe von der politischen Linken, im BK werde "Religion nur als Deckmantel für nationalistische Bearbeitung" gebraucht, zum anderen gegen Tendenzen im Nationalsozialismus, das Volk an die Stelle Gottes zu setzen oder zu vergotten, - allerdings ohne einen erkennbaren Versuch, sich politisch vom Nationalsozialismus fernzuhalten. 27 Erst nach 1945 zog Ehlers die Grenze auch theologisch klarer: Als "ethischtheologischen Rauptbegriff" und als Schöpfungsordnung lehnte er den Terminus Volk ab. 28 In der Auseinandersetzung mit dem geistigen Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus sollte sich dieser Grundwiderspruch nach der Macht20 Was ist des deutschen Vaterland? 24.10.1954, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 371 ff. 21 Reichsgedanke (wie Anm. 17),230 und: Fundamente einer deutschen Staatsidee, 17.7.1953, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 272. 22 Presse und Politik - gemeinsame Verantwortung, 25.10.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 179. 23 Das Südtiroler Beispiel. Volkstum und Glaube, in: Die Rheinpfalz, 10.10.1953. Die Kolumne für das "Oldenburger Sonntagsblatt" wurde vielfach nachgedruckt, so auch in diesem Fall. 24 Der italienische Botschafter Rizzo beschwerte sich am 16.10.1953 bei Adenauer: BA NL Blankenhorn Nr. 25 a, Folio 202 f. 25 Deutsche jenseits der Grenzen, in: Der Pfälzer, 26.3.1954. Vgl. zu dem Vorgang auch die Briefe Nr. 167, 168, 172, 186, 195, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10). 26 So Ehlers im Oktober 1930, zitiert nach: Udo Smidt, Christus muß größer werden, in: Schramm, Ehlers (wie Anm. 8), 43. 27 Allerlei Politiken, in: Von Kampf und Sieg, Nr. 3/4 1931, 7 ff. 28 Zur ethischen Existenz des modernen Politikers, 1.11.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 194. Laut Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 6, soll er vor 1933 das Volk noch als Schöpfungsordnung gesehen haben.

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übernahme Hitlers verfestigen und schließlich auch eine politische Dimension bekommen. Zunächst überwog bei dem Studenten Ehlers aber das Zugehörigkeitsgefühl zu jenen, die das Dritte Reich "in Ehrfurcht vor der deutschen Vergangenheit und mit Verantwortung vor der deutschen Zukunft gestalten" wollten. 29 So faßte er das gemeinsame Fundament der Bundesbrüderlichkeit in der Verbindung auf, der er 1923 beigetreten war: dem Verein deutscher Studenten (VDSt).30 In Verantwortung vor Vergangenheit und Zukunft, aber weit entfernt von der Gegenwart der Weimarer Republik, muß eingedenk des für seine Arbeit im BK formulierten politischen Selbstverständnisses ergänzt werden. Unter den Vereinsfarben schwarz-weiß-rot und mit dem Wahlspruch "Mit Gott für Kaiser und Reich" nahm der 1881 gegründete VDSt die neue parlamentarische Demokratie eher hin, als daß er den Weimarer Staat bejahte oder gar unterstützte. Aus der antisemitischen Bewegung um Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke hervorgegangen, standen die soziale und - in den 20er und 30er Jahren - vor allem die nationale Frage im Zentrum des Bundeslebens. Ehlers beschwor zwar die "staatsaufbauenden und staatsbejahenden Ideale" des Vereins 31, die Weimarer Republik sollte aber kein Nutznießer dieser Tugenden werden. Der inzwischen promovierte Jurist warnte seine Bundesbrüder 1930 sogar davor, die Mitarbeit im Staat könne Kampffronten abbauen (!) und dazu führen, "sich mit all dem abzufinden, was heute noch besteht und Macht ausübt". Es gelte vielmehr herauszustellen, "was am heutigen politischen Leben Deutschlands und seiner Länder nicht unseres Geistes ist, und das ist sehr viel". 32 Politisch betätigte sich Ehlers in jenen Jahren nicht, pflegte aber die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zu wählen. 33 Es überrascht angesichts dieses Umfeldes nicht weiter, daß Ehlers wesentlich von Autoren der Jungkonservativen geformt wurde, vor allem von Arthur Moeller van den Bruck und earl Schmitt. 34 Schmitt, dessen Terminologie und Denken den jungen Juristen stark beeinflußte, gab ihm 1924 in Bonn das Thema seiner Dissertation: Wesen und Wirkungen eines 29 An alle alten Herren und Bundesbrüder, in: Innere Beilage der Akademischen Blätter, Marburg 15. Juli 1925, 27 f. 30 Vgl. zu Ehlers Aktivitäten im VDSt und zu dieser Verbindung selbst: Börner, Aufbau (wie Anm. 9), 16 ff. und: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 8 ff. 31 An alle alten Herren und Bundesbrüder (wie Anm. 29), 28. 32 Der Wahlspruch, Erinnerung oder Losung? Mitteilungen des AH-Bundes des VDSt, Februar 1930, zitiert nach: Börner, Aufbau (wie Anm. 9), 18 f. 33 Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 8 und 225 ff. 34 Zu den Jungkonservativen vgl. : Mohler, Revolution (wie Anm. 14), 138 ff. und die dazugehörigen bibliographischen Angaben 401 ff.

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Reichslandes Preußen. 35 Moeller van den Bruck hat vor allem in seinem Werk "Das dritte Reich" 36 dem in Ehlers jugendwegtem und studentischen Umfeld verbreiteten Unbehagen an der Republik die Begriffe gegeben. Es ist nicht ganz unwichtig anzumerken, daß Ehlers sich gerade dieser Strömung im reichen Angebot der revolutionären Rechten annäherte. Ihr "drittes Reich" sollte auf der Grundlage des mittelalterlichen und des Bismarck-Reiches entstehen. Es blieb Raum für das Christentum. Der Reichsgedanke war übernational, baute auf den Völkern auf und setze den Willen zur rechtlichen Gliederung voraus. Bei aller Gegnerschaft blieb das Verhältnis zur Weimarer Republik "nicht in unversöhnlichem Gegensatz stehen", die Jungkonservativen wurden in das politische Gespräch einbezogen. 37 Gleichwohl: Durch kühle Distanz, eine ablehnende Attitüde gegenüber Weimar trugen sie zum Ende der Republik bei, auch wenn viele Jungkonservative schon vor oder sehr bald nach dem 30. Januar 1933 erkannten, daß Hitlers Drittes Reich nicht das ihre war. 38 Ehlers setzte sich später mit seinem Weg durch die Weimarer Republik äußerst kritisch auseinander. Kerngedanken Schmitts verwarf er nach dem Ende des Dritten Reiches, etwa die Definition des Politischen über das Freund-Feindverhältnis oder seinen Souveränitätsbegriff. 39 Im VDSt kennzeichnete er den Antisemitismus des Vereins als eine schwere Hypothek und beklagte die ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Republik: Eine Chance, die verspielt worden sei, weil der Bund einen "falschen Zusammenstoß zwischen dem nationalen Gedanken und der Demokratie konstruiert" habe. 40 Der Bundestagspräsident scheute sich andererseits nicht, hin und wieder auf Moeller van den Bruck zurückzugreifen. Etwa wenn er vor dem 4. Bundesparteitag der CDU mit einem Satz dieses Autors das "Grundprinzip unsereres politischen Lebens" erklärte: "Wir müssen die Kraft haben, in Gegensätzen zu leben." 41 Jungkonservativem Denken entsprach es auch, wenn der CDU-Politiker vor dem 5. Bundesparteitag der Christlichen 35 Wesen und Wirkungen eines Reichslandes Preußen, Diss. Bonn 1929. Ehlers verbrachte ein "Grenzlandsemester" in der von Frankreich besetzten Stadt: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 8. 36 Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Hamburg, 31931. 37 So die zutreffende Wertung Mohlers, Revolution (wie Anm. 14), 142. 38 Zum Verhältnis der Jungkonservativen und Nationalrevolutionäre zum Nationalsozialismus vgl.: Breuer, Anatomie (wie Anm. 14), 135 ff. 39 Welcher Staat verdient Respekt? 4. 6. 1951, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 74. 40 Fundamente (wie Anm' 21), 269 ff. Vgl. dazu die einfühlsame Interpretation von Erdmann in der Einleitung zu diesem Quellenband, 8 f. 41 Unsere VerantwOI:tung für Deutschland und Europa, 19.4.1953, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 251.

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Demokraten in einer seiner letzten großen Reden sagte, daß es darauf ankomme "Lebensformen zu schaffen, in denen die von innen und außen zerstörten Grundlagen der Ordnung wieder wachsen können". 42

III.

Unmittelbare Reaktionen Ehlers auf die Machtergreifung fehlen. Der parlamentarischen Demokratie trauerte er nicht nach, scheint jedoch anfangs noch gehofft zu haben, daß sich mit Alfred Hugenberg die deutschnationalen Kräfte im Kabinett Hitler durchsetzen würden. 43 Widerspruch gegen die neuen Machthaber zeigte sich aber schon, als Reichsjugendführer Baldur von Schirach versuchte, die christlichen Jugendverbände gleichzuschalten. Der Bund deutscher Bibelkreise und zwei weitere evangelische Jugendverbände verweigerten sich und schlossen sich im August 1933 um die eigens neu gegründete Zeitschrift "Jugendwacht" zusammen, deren Schriftleiter Ehlers wurde. Die Zeitschrift wurde 1938 verboten. Der von Anfang an sichtbare Dissens über den Allmachtsanspruch des Nationalsozialismus wurde hier akut. Die BK ließen sich nicht eingliedern und zogen sich auf die Bibelarbeit zurück, weil sie die Ansicht der HitlerJugend (HJ) zur Arierfrage, zum Christentum und gegenüber Behinderten nicht teilen konnten. Ehlers räumte 1934 ein 44, daß es nicht leicht sei, sich dem Sturm der Revolution zu entziehen, zumal viele BKler mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. 45 Er bestand dennoch auf einer selbständigen Jugendarbeit, damit "im Schwunge einer gewaltigen geistigen Umwälzung" nicht "mit dem Plunder die Werte der Vergangenheit über Bord fliegen". Auch die staatspolitische Arbeit sollte "an die Kräfte des Christentums" gebunden und nicht der HJ überlassen werden. Auf diesen Ton waren auch die Beiträge Ehlers in der "Jugendwacht" gestimmt. Um die Freiheit, das eigene und kirchliche Handeln unter das Wort stellen zu können sowie um den Bewegungsspielraum, den die Kirche für ihre Sendung benötigte, ging es desgleichen in der Bekennenden Kirche, 42 Die geistige Struktur unserer Zeit, 12.5.1954, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 340. Für Moeller van den Bruck hieß konservativ sein, "Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt": Moeller van den Bruck, Reich (wie Anm. 36), 202. 43 Zum Weg Ehlers durch das Dritte Reich vgl. am ausführlichsten: Meier, EWers (wie Anm. 1), 13-37. 44 Verzicht auf die Jugend? Ein ernstes Wort über den Vertragsabschluß hinsichtlich der Eingliederung des Evangelischen Jugendwerkes in die Hitler-Jugend, in: Junge Kirche, 2, 1934, 18 ff. 45 Blick in die Welt, Oktober 1930: "Warum sollen wir es zum Beispiel verschweigen, daß viele BKler sich zum Nationalsozialismus rechnen, wenn es mir auch scheinen will, als ob BKler hier mitmachen, weil es gerade Mode ist." Zitiert nach: Smidt, Christus (wie Anm. 26), 42.

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der sich Ehlers als juristischer Berater zur Verfügung stellte. Ihre Anhänger verstanden sie ganz überwiegend nicht als politische Widerstandsorganisation, sondern sahen in den Deut!;chen Christen ihre Gegner. Wo der Nationalsozialismus gegen grundlegende Normen christlicher Gesittung verstieß, haben sich Repräsentanten der Bekennenden Kirche dennoch zu Wort gemeldet, etwa zur Politik Hitlers gegenüber der Tschechoslowakei im September 1938 oder zur Judenvernichtung. Trotz aller zum Teil weitreichenden Kompromisse, die sie auch eingegangen ist, war der Zusammenschluß eine Widerstandsbewegung wider Willen. 46 Ehlers hielt sich an den abgesteckten Rahmen, der Kirche die Freiheit zu sichern und sie vor dem völkisch eingefärbten Deutschchristentum zu bewahren,47 aber das konsequent. 1937 trug ihm dieser Einsatz 14 Tage Gestapo-Haft ein. Gleichwohl verstand er die Bekennende Kirche auch im Nachhinein nicht als "Widerstandsbewegung neben anderen", hielt ihren Abwehrkampf jedoch für folgerichtig und sachgemäß.48 Von Oktober 1940 an leistete Ehlers schließlich in der Nähe von Hamburg Kriegsdienst bei der Flugabwehr. 1943 wurde er Leutnant. Die Zeugnisse aus den Kriegsjahren dokumentieren die wachsende Verzweiflung über die Schuld, in die Deutschland sich verstrickte. 1941 prangerte er in einer Meditation über den Propheten Amos geschickt, aber deutlich vernehmbar, die Kriegsverbrechen, nationale Überheblichkeit und Selbstsicherheit an. 49 In Ehlers keimten Zweifel auch über den Weg der BK. Er sah wohl manches als überständig an, forderte seine Weggefährten auf zu prüfen, was sie getragen hatte, und rief angesichts der vielfachen individuellen Schuld auch in den eigenen Reihen zur Buße auf. 50 Das hieß allerdings nicht, alles preiszugeben: "Ich war in Berlin und habe Gelegenheit gehabt, über unsere Wege einst und heute und morgen nachzudenken. Im großen und ganzen würden wir sie wohl noch einmal so gehen müssen," 51 schrieb er Ende 1944.

46 Vgl. dazu einführend: Armin Boyens, Widerstand der Evangelischen Kirche im Dritten Reich, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933 -1945. Eine Bilanz, Bonn 1986. 47 Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 20 ff. Vgl. den sehr klaren Aufsatz: Der Weg der Kirche im Staat, in: Junge Kirche, 4, 1936, 152 ff. 48 Die Geschichstsschreibung des Kirchenkampfes, in: Junge Kirche, 10, 1949, 268 ff. Vgl. zu seinem Urteil über die Kirche im Dritten Reich auch: Der Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: EA, 2, 1947, 609 ff. 49 Hermann Ehlers, Horsternst Behrend (Hrsg.), Suchet den Herrn, Gütersloh 1941. 50 Vgl. zur Haltung Ehlers während und vor allem zu Ende des Zweiten Weltkrieges: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 31 ff. 5! Brief an Udo Smidt, Ende 1944. Zitiert nach: Smidt, Christus (wie Anm. 26), 50.

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Hier deutet sich bereits Ehlers Haltung zur Vergangenheitsbewältigung an: Anerkenntnis der Schuld, aber kein radikaler Strich gegenüber einer Geschichte, die nach 1945 vielfach als Unheilslinie von Luther, über Friedrich den Großen und Bismarck bis Hitler oder als riskanter, von der "westlichen" Norm abweichender "Sonderweg" interpretiert wurde. Ehlers stellte sich auf den Boden der "Stuttgarter Schulderklärung" . Dieses Bekenntnis war nicht populär, es wurde dennoch von dem späteren Bundestagspräsidenten energisch verteidigt. Er redete niemals der These von der deutschen Kollektivschuld das Wort, wehrte sich aber ebenso energisch gegen den verbreiteten Versuch, eine "Kollektivunschuld" dagegen zu setzen. 52 Die Schuld anzuerkennen, war eine Forderung an jeden einzelnen, eine Frage der Selbstbesinnung und Einkehr. 53 Entschieden wehrte er sich dagegen, die Vergangenheitsbewältigung als Instrument im politischen Tagesgeschäft zu mißbrauchen. Das galt zunächst auf der nationalen Ebene. In einer Kontroverse mit dem Rektor der Universität Tübingen, Hans Wenke, um die Wiederzulassung für den örtlichen VDSt, wird das klar ausgesprochen: Wenn die Praxis, "die heutige Generation für falsche Erkenntnisse früherer Generationen verantwortlich zu machen und sie zu einer Art Bußerklärung wegen dieser Ereignisse 54 der Vergangenheit zu zwingen, im ganzen deutschen Volke Schule machen sollte, würde ich schwerste Bedenken für die Stabilität des öffentlichen Lebens haben." 55 Unmißverständlich wies Ehlers auch auf politische Motive hinter mancher westalliierten Interpretation deutscher Geschichte hin. 56 Seine Kritik galt wiederholt der Entnazifizierungspolitik der Westalliierten, die für ihn in der praktizierten Form vor allem zu Selbstrechtfertigungen und Denunziation führte, statt die Einsicht zu fördern. 57 Doch wie sollte eine Politik aussehen, die eine Neuauflage der gerade überwundenen oder einer ähnlichen Diktatur ausschloß? Noch 1952 meinte Ehlers, das deutsche Volk sei "innerlich mit der nationalsozialistischen Zeit nicht so fertig geworden ... , wie wir das um unserer eigenen Existenz willen hätten tun sollen." 58 War Skepsis angebracht, weil die Ursachen nicht ausgeräumt waren? Ehlers Version über die Wurzeln der faschistischen und der expandierenden kommunistischen Diktatur legt das nah. Für 52 Vgl. den unter diesem Titel veröffentlichten Aufsatz in: Kirche und Mann, 4, 1951. 53 Vgl. das Rundschreiben an "Brüder und Kameraden" aus dem Bibelkreis vom Febraur 1946, in: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 37. 54 Gemeint sind problematische Ereignisse der Vereinsgeschichte. 55 Ehlers an Wenke, 4.2.1954, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 613. 56 Besonders pointiert in: Reichsgedanke (wie Anm. 17), 227 ff. 57 Vgl. zusammenhängend: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 121-135. 58 Drei Jahre Deutscher Bundestag, 29.6.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 153 f.

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ihn waren die Weichen bereits durch die Französische Revolution und ihr Freiheitsverständnis falsch gestellt worden. Hitlerstaat und Kommunismus erklärte er zu ihren legitimen Kindern. 59 In seiner Kritik an bestimmten Formen des Liberalismus war Ehlers kompromißlos. In einem "Sonntagsblatt" wies er 1953 auf das Grundproblem hin, "daß die gleiche Zeit und die gleiche politische und weltanschauliche Ideologie, die die Sicherung der Bürgerrechte auf ihre Fahnen geschrieben hat, alles getan haben, um unter dem scheinbaren Vorzeichen der geistigen Freiheit die einzige Fundierung dieser Rechte im gottgeschaffenen Wesen des Menschen aus dem Bewußtsein der Menschen und Staaten zu tilgen".60 Ohne die "haltenden Mächte" war der Liberalismus in seinen Augen eine Gefahr. Diese Einwände ließen ihn allerdings nicht die entscheidenden Verdienste der Liberalen im Kampf um gesicherte Freiheitsrechte und beim Aufbau parlamentarisch-demokratischer Verfassungsstrukturen übersehen. 61 Hier hatte er durch die Erfahrung mit dem Dritten Reich alte Positionen gründlich revidiert.

IV. Nach dem Krieg konzentrierte sich Ehlers zunächst auf seine Tätigkeit in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Oldenburg, wo er von 1945 bis 1949 als juristischer Oberkirchenrat tätig war. Als Mitglied im Verfassungsauschuß der EKD wirkte er maßgeblich am Aufbau der gesamtdeutschen Kirche mit. 62 Am 1. August 1946 trat Ehlers der CDU bei. Er sah in ihr vor allem eine neue, vorbildlose Partei "der durch den Nationalsozialismus zusammengeführten Christen, die den als Schöpfungsordnung Gottes begriffenen Staat in der Gemeinsamkeit auch mit Nichtchristen aufbauen wollten". 63 Ehlers hatte bei aller emotionaler Reserve 64 die Notwendigkeit der Parteien eingesehen. Der Schritt wiegt doppelt schwer, wenn man bedenkt, daß viele protestantische Wortführer, mit denen Ehlers durch die Bekennende Kirche verbunden war, ihre hergebrachte Distanz zu den Parteien auch im Nachkriegsdeutschland beibehielten und sich im Laufe 59

Struktur (wie Anm. 42), 341 f .

60 Denkkategorien deutscher Politik, 28.6.1953, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10),

265.

61 Vgl. dazu: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 249 f. 62 Dieser Aspekt wird hier ausgeklammert. Vgl. dazu erschöpfend: Meier, Ehlers

(wie Anm. 1). 63 Ebd., 236. 64 In Frankfurt rief er Politikwissenschaftler dazu auf, gegenüber den Parteien die innere und äußere Freiheit zu bewahren und die Frage der Parteizugehörigkeit nicht mit "tierischem Ernst" zu betrachten: Gegenwartsfragen des Parlaments, 11.11.1951, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 98 .

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der großen Wiederbewaffnungsdebatte der 50er Jahre zu regelrechten Angriffen auf die neue Ordnung verstiegen. 65 Voraussetzung seiner Mitgliedschaft war für Ehlers, daß die CDU kein lediglich um ein evangelisches Anhängsel erweitertes Zentrum war. Die katholische Seite hatte seit den Zeiten des Kulturkampfes eine viel effektivere politische Praxis entwickelt als der durch seine landeskirchlichen Traditionen geprägte Protestantismus. Ehlers setzte nun alles daran, auch Protestanten zum politischen Engagement zu ermuntern. Es ging ihm um eine politische Zusammenarbeit, die Glaubensunterschiede nicht verwischte und sich in einer ausgewogenen Personalpolitik äußerte. 66 In dem letzten Punkt legte er eine ausgesprochene Hartnäckigkeit an den Tag, verhehlte aber auch nicht, daß zuweilen das Desinteresse der Protestanten selbst ihre Position schwächte. 67 Gestärkt werden sollte sie durch den Evangelische Arbeitskreis in der CDU (EAK), den Ehlers Mitte März 1952 ins Leben rief. Er sollte nicht zu einer Partei in der Partei werden, aber die evangelischen Christen "an ihre besondere Verantwortung" in der CDU erinnern. 68 Ehlers warnte vor der unbedachten "Übernahme römischer ethischer Begriffe in den Denkschatz evangelischer politischer Ethik". 69 Einen christlichen Staat gab es für ihn so wenig wie eine christliche Partei oder christliche Politik. Kirche und Staat sah er in der Tradition Luthers als "zwei Funktionen der Weltregierung Gottes" an,70 in denen der Christ sich zu bewähren hatte. Es gab keine verbindliche christliche Weisung in politischen Fragen. Auch der christliche Politiker hatte politisch zu entscheiden, aber aus einem christlichen Gewissen heraus. Ehlers wandte sich gleichwohl strikt dagegen, "die Eigengesetzlichkeit des Staates und der Politik (zu) proklamieren". 71 Als Notordnung blieb der Staat in den Willen und die Ziele Gottes eingeordnet und war keine absolute Größe. 72 Beide waren geschieden, aber nicht getrennt.

Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 233 fund 312 ff. 66 Grundlagen einer politischen Zusammenarbeit der Konfessionen, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 134 ff. 67 Vgl. die Briefe Nr. 25, 28, 32, 109, 147, 162, 198, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10). 68 Interview für den NWDR über die Gründungstagung, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 138. 69 Existenz (wie Anm. 28), 195. 70 Vgl. Ehlers Besprechung zu Walter Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, Berlin 1954, in: Deutsches Monatsblatt, Oktober 1954. Zur Einordnung in das Spektrum politischen Denkens in der EKD vgl. die Ausführungen Erdmanns, Einleitung (wie Anm. 10), 32 f. 71 Die Mitte, in: Zeitwende / Die neue Furche, 25, 1954, 807. 72 Politischer Radikalismus und christlicher Glaube, 17.2.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 128. 65

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Ehlers begann seine parlamentarische Nachkriegskarriere im Ratsausschuß der Stadt Oldenburg. Den Wiederaufbau der staatlichen Ordnung im westlichen Deutschland beobachtete er aus einer gewissen Distanz. Auch wenn er bereit war, sich auf die westlichen Besatzungsmächte und ihre Politik einzulassen, blieben Differenzen. Der "Sendungsglaube" und die von keinem Zweifel getrübte Selbstsicherheit, mit der die Amerikaner ihr religiöse und politische Motive vermengendes Weltbild in Deutschland verbreiteten, mißfiel ihm. Es ging ihm darum, in der Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Demokratie einen eigenen Standort zu suchen. 73 Er bat selbstbewußt um Verständnis, "daß es Deutschland wie jedes andere Land nicht verträgt, daß ihm politische Institutionen übergestülpt werden, die auf anderem Boden gewachsen und aus anderen Verhältnissen geboren sind. Demokratie muß angesichts der Problematik, die der parlamentarische Staat überall aufgibt, aus den besonderen und eigenen Notwendigkeiten und Anlagen jedes Volkes entwickelt werden. Sie darf kein Exportartikel werden." 74 In der Struktur des Staates sollte möglichst viel deutsches Erbe sichtbar werden. Die westliche Wertegemeinschaft konkretisierte sich in einer Vielzahl legitimer nationaler Sonderwege. Kritisch ging Ehlers auch mit der im katholischen Teil der eDU verbreiteten Praxis um, den Begriff des "christlichen Abendlandes" bedenkenlos auf "den Westen" zu übertragen. Er wandte sich dagegen, den machtpolitischen Zusammenschluß des Westens religiös zu überhöhen. 75 Für den Staat des Grundgesetzes setzte Ehlers sich nachhaltig ein, er spürte aber sehr genau das Fragmentarische und Provisorische, eine "Kümmerlichkeit", die keine "Endlösung" sein durfte. Bonn war ihm nicht zuletzt Ansatzpunkt für ein vereintes Deutschland und hatte die tägliche Aufgabe, "sich aus der peinlichen Lage, ein Instrument westlicher Politik zu sein", zu befreien. 76 Gleichwohl sah er, daß dieser Staat ohne ein solides Staatsbewußtsein nicht existenzfähig war. Diese Spannung suchte Ehlers zu überwinden, indem er der Bundesrepublik die deutsche Einheit als Staatszweck setzte. Sie sollte das Magnetfeld sein, "auf das die Kompaßnadeln sich auszurichten haben" und ihre Existenz durch die Aufgabe rechtfertigen, "Vorstufe zum einigen Reich aller Deutschen" zu sein. 77

Fudamente (wie Anm. 21), 274 f. Das ganze Deutschland gehört zum Westen, in: Sonntagsblatt, Staatszeitung und Herold, New York 12.10.1952 75 Vgl.: Weihnachten im "christlichen Abendland", 23 . 12.1951, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 116 ff und: Mißbrauch des Christlichen, 13.4.1952, in: Ebd., 144 H. 76 Niemöller im Kreuzverhör, in: Kirche und Mann, 3, 1950. 77 Rede vor dem Deutsch-baltischen Delegiertentag 1953, in: Baltische Briefe, 6, 1953, 2. 73

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Ehlers näherte sich diesem neu entstehenden Staat also in einer Haltung, die fast der jener "Vernunftrepublikaner" glich, die von seiner Generation in der Weimarer Republik weder akzeptiert noch verstanden worden waren. 78 Diese Haltung befähigte Ehlers, in seiner Rolle als "Missionar" der parlamentarischen Demokratie überzeugend aufzutreten. Er war mit Argumenten gegen den Parlamentarismus und die Parteien aufgewachsen und durch die historische Erfahrung zum Gegenteil bekehrt worden. Der Weg der Demokratie war für ihn nicht unbedingt eine "begeisternde Sache", 79 sondern eine anerkannte Notwendigkeit. Entsprechend nüchtern und betont sachlich warb Ehlers in unzähligen Reden und Aufsätzen für den demokratischen Staat, sein Parlament, die Parteien und die notwendigen Verhaltensweisen. Nach zwei Jahren im Amt des Bundestagspräsidenten hatte er selbst das Gefühl, auf dem beschwerlichen Weg "in erstaunlich starker Weise vorangekommen" zu sein. 80 Die Leistung Ehlers auf diesem Feld, bei der er auch Streit mit Adenauer nicht aus dem Weg ging, wurde überall anerkannt und durch die fast einstimmige Wiederwahl zum Parlamentspräsidenten nach der Bundestagswahl 1953 bestätigt. Er war als "getreuer Eckart" 81 des Parlaments mehr als akzeptiert. Als nachwirkendes und nicht zu vernachlässigendes Hindernis bei seinem Engagement für die parlamentarische Demokratie empfand er allerdings, daß sie zweimal, 1919 und 1945, als Folge von Niederlagen nach Deutschland gekommen war und sich nicht auf eigene starke Traditionen stützen konnte. Ehlers versuchte daher, Brücken in die Vergangenheit zu schlagen und Traditionslinien zu markieren, die sich in den Wiederaufbau des Staates integrieren ließen. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Geschichte Preußens. Er bewahrte sich ein in vielerlei Hinsicht idealisiertes Preußenbild über die Zeiten hinweg. Nach einem Besuch in Potsdam 1944 schrieb er, "daß das, was wir von Preußen zu sagen wußten, etwas war, das mit unserer inneren Haltung eng verbunden war, so fremd uns auch sein mag, was andere Leute (d. h. die Nationalsozialisten, Verf.) daraus gemacht haben". 82 Daß die Alliierten Preußen 1947 ihrerseits per Gesetz liquidierten und es zum Quell des Militarismus und der Reaktion erklärten, löste seinen heftigen Widerstand aus. 83 Unterschiedliche Anlässe nutzte er, um seinen Lesern mehr Börner, Aufbau (wie Anm. 9), 24 f. Delegiertentag (wie Anm. 77), 4. 80 Presse (wie Anm. 22), 179. 81 So eine Formulierung von Carlo Schmid im Nachruf auf Ehlers: BPA-Bulletin, 3.11.1954,1852. 82 Zitiert nach: Smidt, Christus (wie Anm. 26), 50. 83 Reichsgedanke (wie Anm. 17), 234. Ehlers bestritt nicht rundheraus, "daß die politische Entwicklung Brandenburg-Preußens gewissen gefährlichen Tatbeständen Vorschub geleistet hat", er hielt das aber nicht für ein besonderes preußisch78 79

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oder minder abgewogene Lektionen in preußischer und ostdeutscher Geschichte zu erteilen. 84 Das Dritte Reich hatte für ihn "mit Preußen und seinem Soldatenturn nur noch sehr wenig zu tun".85 Preußen zu einem Vorläufer des Nationalsozialismus zu erklären, war aus seiner Sicht schlicht unhistorisch. 86 Das neuzeitliche Deutschland war für Ehlers ganz im Gegenteil im positiven Sinn das Werk Preußens. Sein Gerechtigkeitssinn stieß sich daran, daß diesem preußisch-kleindeutschen Staat einseitig die Schuld am Ersten Weltkrieg - der Urkatastrophe des Jahrhunderts - angelastet wurde. Auch daß die nachfolgende Weimarer Republik nicht zuletzt des Versailler Vertrages wegen unter denkbar schlechten Bedingungen begann, erwähnte er zuweilen. 87 Demonstrativ gedachte er am 18. Januar 1951 zu Beginn der Bundestagssitzung der Reichsgründung vor 80 Jahren und stellte das wieder aktuelle Ziel heraus, "Einheit, Freiheit und Unabhängigkeit des deutschen Volkes" zu erreichen. 88 Die Zukunft Preußens und die Frage, "ob das Reich noch einmal von Preußen her Gestalt gewinnt" war - bei aller Unwahrscheinlichkeit - für ihn offen. Nicht zweifelhaft konnte sein, daß die Bundesrepublik sich "ohne zahlreiche der preußischen Staatstugenden" nicht aufbauen ließ. 89 Ein weiterer Identifikationspunkt, der sich teilweise mit Preußen und den traditionsgebundenen Kräften in Deutschland verbinden lü;ß,90 war der deutsche Widerstand gegen Hitler. Hier ging es um Menschen, die ihre ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus oft in ähnlich schmerzhaften Prozessen erarbeitet hatten wie er selbst, und deren Patriotismus außer Frage stand. Ehlers hat mit schneidend~r Schärfe auf jeden Versuch reagiert, daran etwas abzustreichen. 91 Mit Bitterkeit erwähnte er, daß auch die Alliierten dem deutschen Widerstand keine Chance gegeben hatten. 92 deutsches Spezifikum. Vgl. dazu: Ehlers an Friedrich W. Foerster, 5. 5. 1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 483. 84 Die deutscheste aller Universitäten, in: Kieler Nachrichten, 13.12.1952; Auf dem Feld von Tannenberg, in: Ehlers, Gedanken (wie Anm. 10), 123 ff; Preußen nicht mehr gefragt? In: Ebd., 126 ff. Als etwas kritischeren Beitrag vgl. : Pankow, Pieck und Hegel, Der Philosoph des totalen Staates, in: Generalanzeiger, 14.11.1952. 85 Brief an die Schriftleitung "Der christliche Sonntag", in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 549. 86 Vgl. z. B.: Zwei Särge, in: Evangelisches Sonntagsblatt, 21. 2.1952. 87 Vgl. dazu folgende Beiträge: Traditionslosigkeit oder Geschichtsbewußtsein? In: Deutsches Monatsblatt, März 1954; Der Tag, der eine Epoche beendete; Der Tag des Verhängnisses und: Der Beginn der Katastrophe, in: Ehlers, Gedanken (wie Anm. 10), 107 -123, und: Deutscher Wunsch an die Franzosen, in: BPA-Bulletin, 1. 7.1953. 88 Sten.Ber.Bt., 18.1.1951, 4196. 89 Reichsgedanke (wie Anm. 17), 234. 90 Ebd. und: Verschwörung für Deutschland, in: Ehlers, Gedanken (wie Anm. 10), 134 f . 91 Vgl.: Kollektivunschuld? (wie Anm. 52).

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Die Rückgriffe Ehlers auf die Geschichte und seine Themen fielen auf. Seine Zeitgenossen ordneten ihn als Konservativen ein. Er selbst gebrauchte diesen Begriff nur in seiner eigenen Lesart, denn es ging ihm gerade nicht darum, einen bestehenden Zustand zu bewahren oder einfach an 1932 93 wieder anzuknüpfen. Das Gewachsene alleine war nicht hinreichend, und es konnte nicht darum gehen, einen alten Zustand wieder herbeizuführen. "Der Konservatismus der letzten hundert Jahre muß sich fragen lassen, ob er nicht im Kampf gegen den Liberalismus unversehens auf dessen eigener Grundlage gelandet ist und darum so wenig überzeugende Kraft hat", merkte Ehlers kritisch an und fügte gleich hinzu, daß nicht auf einem "konservativen preußischen Protestantismus" wieder aufgebaut werden könne. 94 Ehlers ging von seinem christlichen Fundament aus. Der Konservative sollte sich nicht nach einem Schema bewähren, sondern im Leben: "Konservativ handeln wäre dann nichts anderes, als von einem festen Fundament des Glaubens aus das für den Menschen und den Staat Notwendige und Mögliche tun in der Achtung des Staates als einer von Gott uns gegebenen Ordnung und in der Verantwortung für den Mitbürger als den Nächsten, den Gott uns gesetzt hat." 95 Konservatismus ohne christliches Fundament war für ihn nicht lebensfähig und nicht überzeugend. Der CDU-Politiker blieb bei derartigen Definitionen allerdings nicht stehen, sondern versuchte seine Vision einer christlichen Gesellschaft zu skizzieren. Nach dem Krieg war die soziale Frage von zentraler Bedeutung. Mit dem preußischen Altkonservativen Ernst Ludwig von Gerlach meint er, "gegen Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht". 96 Es kam darauf an, den durch die moderne Vermassung hervorgebrachten Klassenkampf zu überwinden und eine echte Gemeinschaft neu zu begründen. Dem Markt allein traute Ehlers das nicht zu. Er sah den Staat in der Pflicht, reinen Profiteuren entgegenzutreten und seine Sozialpolitik an den Schwächsten auszurichten. Ganz im Sinne seines Glaubens wandte sich Ehlers gegen einen Eigentumsbegriff, der von der biblischen Bindung absah, und war ein Verfechter des Mitbestimmungsrechts. 97 Letztlich ging es Ehlers um einen tragfähigen Neubau der Gesellschaft. Doch welche Wege gab es aus der in immer neuen Wendungen beschriebeVerschwörung (wie Anm. 90), 136. Der Hinweis, das Rad der Geschichte lasse sich nicht auf 1932 zurückdrehen, findet sich häufiger. Vgl. u. a.: Gegenwartsfragen (wie Anm. 64), 96. 94 Denkkategorien (wie Anm. 60), 267 f. 95 Ebd., 268. 96 Ebd., 267. Aus Gerlachs Rede vor dem Junkerparlament im August 1848. 97 Vgl. zu diesem Komplex: Die Bedeutung des sozialen Friedens für die deutsche Politik, 30.11.1951, in: Ehlers, Reden (Anm. 10), 105 -115. 92

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nen Massengesellschaft? Ehlers Antworten verraten eine gewisse Hilflosigkeit. Er hoffte auf die Familie 98 , die Heimat und den Beruf als erhaltende und haltende Kräfte, ohne zu übersehen, daß diese Pfeiler angeschlagen waren. Gegen die Masse setzte er Menschen, die sich "ihres eigenen Wertes und ihrer eigenen Freiheit gewiß sind", und gelangte dabei wieder zu seiner Kritik am Menschenbild der französischen Revolution, aber kaum darüber hinaus. Ehlers setzte auf die Autorität des Staates sowie die Prinzipien der Demokratie und bewahrte sich die Hoffnung: "Wir sehen die geistigen Strukturen unserer Zeit nicht mit dem Optimismus der Fortschrittsgläubigen, aber wir sehen sie dennoch hoffnungsvoll, weil wir meinen, Anzeichen für eine Heimkehr der auseinandergelaufenen Menschheit zu dem einen Fundament zu erkennen." 99

v. Die konservativen Positionen Ehlers wurden registriert, größere Aufmerksamkeit erregten indes seine deutschlandpolitischen Vorstöße. Als der Bundestagspräsident im Oktober 1952 auch zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde, notierten die Kommentatoren vor allem seine auffallende Beweglichkeit in der Deutschlandfrage, auch wenn sie ihn in den Kernaussagen auf der Linie Adenauers sahen. 100 Das war allerdings nicht von Anfang an so gewesen. Ehlers hatte zu jener Zeit vor allem in der Frage der Wiederbewaffnung, mit der die Westintegration bis zur letzten Konsequenz vorangetrieben wurde, bereits alte Positionen korrigiert. Seine erste Wahl zum Bundestagspräsidenten war im Oktober 1950 auch deshalb knapp ausgegangen, weil er aus der Sicht vieler Fraktionskollegen nicht genügend Distanz zu Gustav Heimann und Martin Niemöller gezeigt hatte, den prominentesten protestantischen Kritikern der Adenauerschen West- und Wiederbewaffnungspolitik. 101 Im Frühjahr und Sommer hatte Ehlers noch mit dem Gedanken an eine "Friedenszone" ohne Rüstung in Deutschland gespielt und Zweifel an der auf Wiederbewaffnung im westlichen Bündnis zielenden Politik Adenauers gezeigt. War die Teilung Deutschlands nicht ein Mittel der Machtpolitik für die beiden Weltmächte? Unter dem Eindruck des Koreakrieges verschob 98 Ehlers hatte ein relativ fest gefügtes traditionelles Familienbild. Er warnte davor, aus der Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Parole zu machen. Dadurch würden Ordnungen aufgelöst, die "göttliche Befehle" in sich schließen: Brief an Dr. Elisabeth Schwarzhaupt, 5.10.1951, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 427. 99 Struktur (wie Anm. 42), 330-348. 100 Baumgart, Ehlers (wie Anm. 2) und: Paul Sethe, Der zweite Mann, in: Allgemeine Zeitung Mainz, 22.10.1952. 101 Erdmann, Einleitung (wie Anm. 10), 14 f.

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sich seine Argumentation ganz allmählich l02 vom "Ob" auf das "Wie" des Wehrbeitrages. Ehlers, der noch im Oktober 1950 "zu dem Kreis um Bundesminister Dr. Dr. Heinemann" gerechnet wurde, 103 wandelte sich zu dessen bekanntestem deutschlandpolitischen Gegenspielern im politisch aktiven deutschen Protestantismus 104 und unterstützte den Kurs der Westintegration sowie den Vertrag über die "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" (EVG).105 An die Möglichkeit, mit der Sowjetunion und den Westmächten eine gesamtdeutsche Neutralität auszuhandeln, glaubte er nicht. 106 In Artikeln und Reden, aber auch in privaten Aufzeichnungen wies Ehlers die Neutralisierungslösung ebenso wie den Gedanken an eine Neuauflage der "RapalloPolitik" immer wieder zurück. Ob diese Analyse situationsbedingt war oder auf Dauer galt, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Ende März 1952 - eben hatte Stalin sein bis heute vieldiskutiertes Neutralitätsangebot an die Westalliierten geschickt - schrieb er, es müsse sich im Laufe der Verhandlungen erweisen, ob sich für Deutschland zwar keine Neutralisierung, aber "eine eigene politische Position zwischen Ost und West, die in gleicher Weise von Ost und West garantiert werden kann", erwirken lasse. Die Aussichten dafür schätzte er allerdings selbst gering ein. 107 Für sein "Ja" zur Westintegration und dem Verteidigungsbeitrag zahlte Ehlers persönlich einen hohen Preis. Es kam zum Bruch mit Heinemann und Niemöller. Ehlers hatte gegenüber beiden Weggefährten aus der Bekennenden Kirche versucht, das Politische nicht auf den persönlichen Umgang durchschlagen zu lassen. Er hatte für beide immer wieder um Verständnis geworben. lOS Aber das existentielle Gewicht der deutschen Frage für alle drei, der hart geführte Wahlkampf 1953 und die theologischen Auffassungsunterschiede zu dem von Heinemann sehr direkt verstan102 Vgl. zu diesem Wandlungsprozeß: Hahn, Wiedervereinigungspolitik (wie Anm.

12), 67 f .

103 Redaktionelle Anmerkung zu: Ehlers, Sicherheit und Frieden, in: Junge Kirche, 15, 1950, 556 . 104 Ehlers stellte sich demonstrativ hinter die Politik Adenauers. Vgl.: Brief an Martin Niemöller, 27 . 10.1950, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 375 f. 105 vgl. vor allem seine beiden Debattenbeiträge im Bundestag zum EVG-Vertrag: Sten.Ber.Bt., 8.2 . 1952, 8213 ff und: Ebd., 5.12 . 1952, 11462. 106 Ehlers setzte sich immer wieder mit dieser Frage auseinander: Kann Bonn mit Moskau sprechen? In: Junge Stimme, 26 . 2.1952. Vgl. auch die Briefe Nr. 16,36,49, 83, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10). Während der Gründungstagung der EAK stellte er die deutsche Frage in den Mittelpunkt und versuchte, gangbare Alternativen zu diskutieren. Vgl.: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 332 f. 107 Ehlers an Schrey, 25.3.1952, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (künftig: ACDP) / NL-Ehlers / 1-369-13/2. lOS Vgl. u. a.: Zu Martin Niemöllers 60. Geburtstag, 12 . 1.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 118 ff.

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denen "Wächteramt der Kirche" gegenüber dem Staat gestatteten es am Ende nicht mehr, die Gegensätze zu überbrücken. lOg Daß Ehlers mit Adenauer in der Grundfrage einer auf den Westen hin orientierten Politik übereinstimmte, bedeutete allerdings nicht bedingungslose Gefolgschaft in den deutschlandpolitischen Detailfragen. Der Bundestagspräsident legte großen Wert darauf, jeder Spur nachzugehen, die Bewegung in der Deutschlandfrage verhieß. Daß die protestantischen Kerngebiete in der DDR lagen, verstärkte sein Interesse an der Wiedervereingung. Der Wille, die Einheit der Kirche nicht zerbrechen zu lassen,11o die Rücksichtnahme auf die Situation der Landeskirchen jenseits des Eisernen Vorhangs und der gesamtdeutsche Gesprächszusammenhang innerhalb der EKD führten bei Ehlers zu einem - vergleichsweise - flexiblen Umgang auch mit den staatlichen Repräsentanten der DDR. Sein Amt gab ihm dazu genügend Spielraum, den er nutzte, zuweilen auch gegen den Willen des Kanzlers. Am 30.11.1950 hatte der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, in einem Brief an den Kanzler vorgeschlagen, einen paritätisch besetzten "Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat" einzurichten. Adenauer ließ sich Zeit und reagierte schließlich nach eineinhalb Monaten mit einer Presseerklärung. l11 Unbeschadet der Frage, ob es sich bei dem Schreiben Grotewohls um Propaganda handelte, empfand Ehlers diese Reaktion als unzulänglich. Als der Präsident der Volkskammer, Johannes Dieckmann 112, ihn am 30.12.1950 schriftlich bat, eine Antwort auf Grotewohls Brief zu erwirken, schrieb er am 24.1.1951 selbst an Dieckmann. ll3 Seine und die Versuche kirchlicher Kreise, auch Adenauer zu einem entsprechenden Schritt zu bewegen, scheiterten allerdings. 114 Die schleppende Behandlung der östlichen Initiative störte ihn. Als die Volkskammer mit einem Appell am 30.1.1951 115 versuchte, an den Grotewohlbrief anzuknüpfen, verlangte Ehlers, die Antwort müsse die BundesrelOg Vgl. dazu: Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 287 ff und 321 f. Ehlers nahm an kirchlichen Veranstaltungen in der DDR teil, so zum Beispiel am Kirchentag 1954 in Leipzig. Vgl.: Ehlers, Mein Eindruck von Leipzig, in: Welt am Sonntag. 18.7. 1954. 111 Grotewohl an Adenauer, 30.11.1950, in: Manfred Overesch, Die Deutschen und die Deutsche Frage 1945-1955, Hannover 1985,142 f . Presseerklärung Adenauers, 15.1.1951, in: Ebd., 148 f. 112 Dieckmann war wie Ehlers im VDSt gewesen: Börner, Ehlers (wie Anm. 4), 148. 113 Dieckmann an Ehlers, 30.12. 1950, in: Ebd., 137 ff. Ehlers an Dieckmann, 24.1.1951, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 386 f. Bemerkenswert ist, daß der Bundestagspräsident von einem sehr knapp und unverbindlich gehaltenen Entwurf - ebd., 385 - abrückte und ausführlich antwortete. 114 Vgl. dazu: Besier, Ehlers (wie Anm. 12), 88 ff. 115 In: Keesings Archiv der Gegenwart (künftig: KAdG) 1951/ 2794-H. 110

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publik "aus der kümmerlichen Defensive" herausbringen, und sie müsse Einheit und Freiheit zu erreichen suchen. Man dürfe die Deutschen im Osten nicht dem Gefühl opfern, "daß wir sie im Westen abgeschrieben hätten." 116 Was er damit meinte, verdeutlichte er im Februar in einem Interview, in dem er rundheraus bezweifelte, "daß auf politischem Gebiet ernsthafte Bemühungen zur Wiedervereinigung Deutschlands unternommen worden sind." Die ganze Frage schien ihm im Bereich der Diskussion, Deklamation und propagandistischen Maßnahmen zu verharren. 117 Im Bundesparteiausschuß der CDU äußerte er Zweifel an der deutschlandpolitischen Zuverlässigkeit der Westalliierten. 118 Das Thema kam ein dreiviertel Jahr später wieder auf die Tagesordnung, als Dieckmann dem Bundestagspräsidenten am 15.9.1951 den Vorschlag unterbreitete, gesamtdeutsche Wahlen vorzubereiten. Damit sollte der bereits Ende 1950 angeregte Konstituierende Rat befaßt werden. Diesmal hatte Grotewohl nicht darauf bestanden, daß er paritätisch besetzt sein müsse. 119 Ehlers wandte sich gegen Adenauers Versuch, den Vorstoß Grotewohls durch eine einfache Regierungserklärung zu erledigen. Er setzte eine Aussprache an, damit der Bundestag einbezogen wurde. 120 Auch wenn dem Osten nicht zu trauen war, verlangte er, "daß wir vor West und Ost des deutschen Volkes dafür sorgen sollten, jetzt sichtbar werden zu lassen, daß eine Einigung, wenn sie scheitert, jedenfalls nicht an uns gescheitert ist." 121 Zu der beweglichen Linie hatte ihm nachhaltig Bischof Otto Dibelius und der Berliner Probst Heinrich Grüber geraten, der zugleich Beauftragter der EKD bei der Regierung der DDR war. 122 Als Konsequenz dieser Initiative entstanden in Bonn und Ost-Berlin Wahlgesetzentwürfe für gesamtdeutsche Wahlen. Ein Gespräch darüber kam nicht zustande, weil sich die Sowjetunion und die Westmächte auf keinen Modus für die Kontrolle solcher Wahlen einigen konnten und vermutlich auch gar nicht einigen wollten. 123 Die Diskussion riß im Frühjahr 1952 ab, als im Westen der EVGund der Deutschlandvertrag abschließend verhandelt wurde und Stalin seine Notenoffensive begann. Ehlers bedauerte die verfahrene Lage, sah die Schuld daran aber wohl überwiegend im Osten. 124 FAZ, 12.2.1951. Interview in der Wochenzeitschrift "hier und heute", 23.2.1951. 118 Besier, Ehlers (wie Anm. 12), 90. 119 Overesch, Deutsche Frage (wie Anm. 111), 158 f. 120 Börner, Aufbau (wie Anm. 9), 97 f. 121 Ehlers an Georg Staege, 21. 9.1951, in: ACDP / 1-369-04/1. 122 Vgl. dazu: Hahn, Wiedervereinigungspolitik (wie Anm. 12), 106 und: Besier, Ehlers (wie Anm. 12), 93. 123 Wollgang Abendroth, Die Diskussion über gesamtdeutsche Wahlen, in: EA 1952, 4781 ff. 116

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Nachdem die Westverträge unterzeichnet waren und der Notenwechsel zwischen den Alliierten im Sande zu verlaufen drohte, unternahm OstBerlin abermals einen Vorstoß. Die Volkskammer beschloß am 5.9.1952, eine Abordnung nach Bonn zu entsenden, um über eine gemeinsame Delegation für etwaige Viermächteverhandlungen zu reden. 125 In der Substanz war das weniger als im Vorjahr. Gleichwohl beantwortete Ehlers am 11. 9.1952 eine Anfrage des Volkskammerpräsidenten Dieckmann, ob er die Emissäre empfangen werde, positiv. 126 Seine kirchlichen Gesprächspartner bestärkten ihn auch diesmal,127 während der Kanzler abermals versuchte, ihn zu bremsen. Er mußte sich aber von Ehlers sagen lassen, es könne sehr viel daran liegen, in der Öffentlichkeit das falsche Bild zu beseitigen, "als ob die CDU und insbesondere Sie, Herr Bundeskanzler, weniger Interesse an den Fragen der deutschen Einheit hätten als die SPD." 128 Die Begegnung selbst verlief ergebnislos, da Ehlers zu inhaltlich verbindlichen Aussagen nicht befugt war 129 und nur als "Briefträger" des ihm für den Bundestag übergebenen Schreibens fungieren konnte. 130 Er rechtfertigte den Empfang damit, daß man mit jenen sprechen müsse, "die rein tatsächlich eine Macht in der Hand haben" 131 und er "sich noch mit ganz anderen Leuten als Nuschke und Matern an einen Tisch setzen" werde. 132 Die verschärften Repressionen in der DDR ab Mitte 1952 und schließlich der 17. Juni 1953 entzogen derartigen Kontakten dann allerdings die weitere Grundlage. 133 Der Bundestagspräsident litt unter der Teilung, aber er gestand sich auch ein, daß die Spielräume schwanden. Den Eindruck, die Einheit könne bald kommen, galt es zu vermeiden. Und wenn Ehlers immer wieder die deutsche Frage thematisierte, so gehörte dazu auch eine gehörige Portion Psychologie. Es ging darum, das Volk für eine möglicherweise unabsehbare Durst124 Die Stellung der Bundesregierung und des Bonner Parlaments zu den Ostproblemen und dem Problem Berlin, 22.11.1952, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10),210 ff. Anders: Besier, Ehlers (wie Anm. 12),95. Besier interpretiert in diesem Zusammenhang einen Brief Ehlers an Grüber vom 23.10.1951 so, als habe Ehlers die Ursachen des Scheiterns im Westen gesehen. Angesichts dieser Rede und der durchgehenden Zweifel Ehlers an der Seriösität östlicher Angebote scheint mir diese Interpretation gewagt zu sein. 125 KAdG 1952/ 3636-C. 126 KAdG 1952/ 3648-A. 127 Besier, Ehlers (wie Anm. 12), 99 f. 128 Ehlers an Adenauer, 16.9.1952, in: ACDP / 1-369-04 / 2. 129 Stenographische Niederschrift der Begegnung in: Die Zeit, 25.9.1994. 130 Text des Briefes und der Vorschläge in: KAdG 1952/ 3659-A. 131 Autorität nur auf Grund freier Wahlen, in: BPA-Bulletin, 23.9.1952. 132 FAZ, 30.9.1952. 133 Besier blendet auch hier den politischen Kontext aus, wenn er meint, Ehlers habe sich lediglich Adenauer angepaßt: Besier, Ehlers (wie Anm. 12), 104 ff.

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strecke auf das gesamtdeutsche Bekenntnis einzuschwören. 134 Für die CDU galt es, den Ruf einer national uninteressierten Partei loszuwerden und die europäische Integrationspolitik gegen die Behauptung der Neutralisten abzusichern, Wiedervereinigung und Westintegration schlössen sich aus. 135 Das entsprach den Intentionen des Kanzlers, der Bundestagspräsident beschritt dabei aber andere Wege. Seine verschiedenen Ziele versuchte Ehlers 1953/54 wiederholt unter dem "Reichsgedanken" zu subsumieren. Auch wenn dabei die Bandbreite dieses Begriffs erheblich überstrapaziert und christliches, preußisch-kleindeutsches, völkisches und europäisches Gedankengut eigenwillig unhistorisch gemischt wurde, entfaltete Ehlers fast eine politische Vision. Hoffte er, daß die Erinnerung an die Reichstradition Deutschland und den Deutschen ein Fundament für die Existenz in der Mitte Europas geben konnte? Am 18. Januar 1953, dem Tag Preußens, befaßte er sich vor dem VDSt in einer großen Rede erstmals ausführlich mit dem "Reichsgedanken heute" .136 Er setzte ihn gegen die nationalsozialistische Interpretation ebenso ab wie gegen die katholisch-abendländische und wies die bei den Alliierten verbreitete Neigung zurück, das Reich zum Synonym für die dunklen Seiten der deutschen Geschichte zu erklären. Ehlers stellte den übernationalen, auf Frieden und Christentum gründenden Charakter des Reichsgedankens heraus und entfaltete ihn politisch in dreifacher Weise. Nachdem die "Verpflichtung, im Reich eine weiterreichende und tiefergehende Verantwortung in Europa und für Europa wahrzunehmen" durch Hitler pervertiert worden war, blieb für Ehlers "der Weg nach Europa die uns heute mögliche und gebotene Form der Verwirklichung des Reichsgedankens. "137 Zweitens gehe es um die "volkhafte Verantwortung", den Auslandsdeutschen im Rahmen ihrer Wohnstaaten die Selbstbestimmung zu sichern, und nicht zuletzt habe sich der Reichsgedanke im Kampf um Freiheit und Einheit Deutschlands zu bewähren. Geschickt verknüpfte er bei anderer Gelegenheit den Einsatz für die deutsche Volksgruppe mit den europäischen Zielen: "Aber gerade diese weiträumige, aus dem Bereich territorialen Denkens herausgehobene Verantwortung ist die rechte Vorbereitung für ein europäisches Denken, das nicht für ein Volk oder eine Gruppe von Völkern Macht- oder GebietszuDie Stellung der Bundesregierung (wie Anm. 124), 220. Vgl. dazu die Ausführungen Ehlers vor dem CDU-Bundesvorstand am 26.1.1953, zu Beginn des Wahljahres. In: Adenauer: "Es muß alles neu gemacht werden". Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950-1953. Bearbeitet von Günter Buchstab, Stuttgart 1986, 320 ff. 136 Reichsgedanke (wie Anm. 17). 137 Ebd., 236. 134 135

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wachs will, sondern für alle, die an der geistigen Gemeinschaft Europas teilhaben wollen, Freiheit und Selbstbestimmung fordert." 138 In diesen Reden zeigt sich deutlich: Die zentrale Kategorie war für Ehlers über die Zeiten hinweg das Volk geblieben und nicht der souveräne Nationalstaat. Das erleichterte ihm nun den Brückenschlag zur europäischen Integration. Er meinte, daß den Deutschen durch ihren "bis zum letzten übersteigerten Nationalismus" dieser Weg weniger Schwierigkeiten bereiten müsse. 139 Für ihn war es ausgeschlossen, den Begriff des Volkes gegen den Europas auszuwechseln, aber es galt den Nationalismus in den Völkern zu bändigen und die geistige, vom Christentum bestimmte Einheit Europas zu betonen. Ostmitteleuropa rechnete er dazu. Und weil Ehlers wußte, daß mancher mit der westlichen Teilintegration ganz zufrieden war, sollte Deutschland "Mahner zur europäischen Gesamtverantwortung sein" .140 Der CDU-Politiker lehnte es ab, Deutschland als politisch und moralisch zweitrangige Macht in dieses Europa einzufügen. Die Geschichte des deutschen Volkes war ihm eher Identifikationsobjekt als Gegenstand kritischer Distanz, auch wenn er sich durch die angenommenen Traditionen politisch nicht beengen ließ und nach zeitgemäßen Ausdrucksformen suchte. Ehlers trat daher in vielen Fragen des nationalen Interesses unbefangen auf und erwarb sich damit viel Sympathie. Vor allem die deutlich anders akzentuierte Deutschlandpolitik stieß in der Öffentlichkeit auf Resonanz. In der bundesdeutschen Politik stellte Ehlers auch durch dieses Profil eine eigene Größe dar. Obwohl sein politisches Vokabular in den 50er Jahren weniger auffällig war, als es uns heute erscheinen mag, traf er schon damals nicht "den Ton der Zeit". 141 Die moralischen, politischen und historischen Leitbilder, denen Hermann Ehlers gefolgt ist, sind weiter verblaßt. Sein christlich geprägter Konservatismus ragt wie ein Fremdkörper in die Gegenwart. Der christliche Glaube hat seine Verbindlichkeit weiter eingebüßt und lebt vielfach nur in einer säkularisierten, von den Wurzeln abgeschnittenen Form fort. Durch die vielfältigen Emanzipationsprozesse sind die von Ehlers beschworenen "haltenden Kräfte" ausgehöhlt worden. Die Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik unvorbereitet getroffen, weil Staat und Gesellschaft aus der Geschichte der eigenen Nation faktisch emigriert waren. Hat Hermann Ehlers den Nachgeborenen also nichts mehr zu sagen? Über gut 20 Jahre hinweg wäre diese Frage wohl fast einstimmig bejaht worden. Doch seit Ende der 80er Jahr sind die Deutschen, ihre Gesellschaft und ihr 138 139 140

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Deutschland in Europa, 9.7.1954, in: Ehlers, Reden (wie Anm. 10), 358. Verantwortung (wie Anm. 41), 257. Vgl.: Deutschland (wie Anm. 138),357. Meier, Ehlers (wie Anm. 1), 417.

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politisches System in eine Krise geraten, die alte Gewißheiten erschüttert und die mit der schweren wirtschaftlichen und geistigen Erblast von 40 Jahren Sozialismus nur wenig zu tun hat. Die Diskussion darüber ist in vollem Gang: "Inzwischen nun wächst ein Bewußtsein, daß in der permissiven Gesellschaft statt fideler Anarchie immer mehr bloß ein verbissener, schamlos verbiesterter Hedonismus herrscht, und drumherum die Orientierungsirre, Verlustängste, Aggressivität, Selbstdestruktion. "142 Die Fragen und Befürchtungen dieses konservativen eDU-Politikers erscheinen vor diesem Hintergrund nicht mehr ganz so fremd.

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Peter von Becker in der "Süddeutschen Zeitung", 17.3.1994

Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik Hans-Joachim von Merkatz (1905-1982) Von Heinz-Siegfried Strelow "Jede Epoche, jede Generation braucht ein neues Verständnis dessen, was konservativ ist, wie konservativ gedacht und gehandelt wird und wo die zeitlichen Aufgaben dieses Denkens und HandeIns liegen." 1 Als HansJoachim von Merkatz diese Worte in der Einleitung zu dem schmalen Band "Die konservative Funktion" im Jahre 1957 formulierte, hatte er den Zenit seiner politischen Bedeutung erreicht. Als Bundesminister gehörte er zu den Mitgestaltern des deutschen Wiederaufbaus. Mehr noch als dies rechtfertigt eine Beschäftigung mit seinem Lebenswerk indes seine Bedeutung als programmatischer Vordenker der "Deutschen Partei" (DP), der stärksten und bedeutendsten konservativen Partei Nachkriegsdeutschlands. Hans-Joachim von Merkatz wurde am 7. Juli 1905 in der pommerschen Kreisstadt Stargard geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Wiesbaden und Jena trat der junge pommersche Adlige zunächst eine landwirtschaftliche Fachausbildung an. Im Jahre 1928 nahm Merkatz ein Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Nationalökonomie in München und Jena auf, das er 1931 abschloß. Seine 1934 vorgelegte Promotionsarbeit verfasste er zu dem Thema "Politische und rechtliche Gestaltung der Ministerverantwortlichkeit".2 In den Jahren bis 1938 erhielt der junge Jurist als Referent im KaiserWilhelm-Institut Berlin für ausländisches und Völkerrecht eine Wirkungsstätte. Anschließend trat er die Stellung eines Generalsekretärs am Iberoamerikanischen Institut an. Hier fand er ein geistiges Klima vor, "dem der Nationalsozialismus nicht zugetan war. Der schwülstige, überhebliche Propagandastil, dem Ekelhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit anhafteten, wurde als widerlich empfunden." 3 Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches lebte Hans-J oachim von Merkatz, der aus Pommern über Schleswig-Holstein nach Niedersachsen geflüchtet war, für einige Zeit auf der HämeIschenburg bei Hameln, wo er sich dem Forstwesen widmete. Hans-Joachim v . Merkatz, Die konservative Funktion. München 1957, 9. Peter Paul Nahm, Kultur und Politik. Im Spannungsfeld der Geschichte. HansJoachim v. Merkatz zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1975, 9. 3 Ebenda, 10 1

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1946 stieß der 41jährige als Rechtsberater zur Niedersächsischen Landespartei. Die NLP, eine Gründung ehemaliger Funktionäre der früheren Deutsch-Hannoverschen Partei, stand in jenen Jahren noch ganz in der Tradition der Welfenbewegung, aus der auch der Bundesvorsitzende Heinrich Hellwege stammte. Ihr politisches Hauptziel war die Schaffung eines eigenständigen Landes Niedersachsen in einem föderalistisch gegliederten deutschen Reichsverband. Verbunden mit dieser deutschlandpolitischen Konzeption waren eine christlich geprägte Familienpolitik und ein starkes Engagement für die Belange der Landwirtschaft und des Mittelstandes. Dieser konservative Wertekanon deckte sich mit den Vorstellungen des jungen Pommern. Merkatz zählte zu dem Mitte 1946 aufgestellten "persönlichen Stab Hellwege" , der auf Schloß Agathenburg vor den Toren Hamburgs residierte und - unabhängig vom Parteidirektorium - zur Wahrnehmung "überregionaler Ziele" gebildet worden war. 4 Diesem Stab um den Parteivorsitzenden gehörten mit Merkatz, Hans Mühlenfeld und HansChristoph Seebohm überwiegend neue Kräfte an, die nicht aus der alten welfischen Bewegung kamen: Dies bedeutete gewiß eine Blutauffrischung der Deutschhannoveraner, deren politisches Augenmerk fast ausschließlich auf die Wiedererlangung eines hannoverschen oder niedersächsischen Staates fixiert war, barg aber auch die Tendenz, daß die Partei allmählich in eine neue, großbürgerlich-nationalkonservative Richtung abzudriften begann. Die ursprünglichen programmatischen Köpfe wie Ludwig Alpers oder Karl Biester gerieten so mehr und mehr in den Hintergrund. Mit dem Einzug der NLP in den ersten gewählten niedersächsischen Landtag im Jahre 1947 wurde Merkatz Sekretär der Fraktion. 1948 bis 1949 diente der Jurist der sich nun in "Deutsche Partei" (DP) umbenannten NLP als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Parteivertreter im Parlamentarischen Rat. Dem ersten Deutschen Bundestag gehörte Hans-Joachim von Merkatz als gewählter Abgeordneter an. Von Anfang an stellvertretender Fraktionsvorsitzender, übernahm er im März 1953 auch den Vorsitz, nachdem dessen bisheriger Inhaber, Hans Mühlenfeld, sein Amt niedergelegt hatte. In den drei Legislaturperioden, in denen die Deutsche Partei im Bundestag vertreten war und sich an der Regierung Adenauer beteiligte, hatte Merkatz darüber hinaus von Anfang an einen Platz am Kabinettstisch: 1949 bis 1952 als Staatssekretär im Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates, von 1955 bis 1962 als Bundesminister dieses Ressorts, seit dem 16. 10. 1956 zugleich auch als Bundesjustizminister und 1960/61 schließlich für kurze Zeit außerdem als Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.

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Claudius Schmidt, Heinrich Hellwege. Ein politisches Lebensbild. Stade 1991,

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In der Hierarchie der Deutschen Partei hatte Hans-Joachim von Merkatz zahlreiche Ämter inne. Dem Direktorium gehörte er seit 1952 an. Seine wohl bedeutendste Stellung erreichte er als stellvertretender Bundesvorsitzender in den Jahren 1955 bis 1957. Dieser Zeitraum markiert auch die Spanne, in der Merkatz den stärksten geistigen Einfluß auf Programmatik und Erscheinungsbild der DP ausübte. Es ist keineswegs vermessen, Hans-Joachim von Merkatz in jenen Jahren - zusammen mit Hans Mühlenfeld - als den "Cheftheoretiker" dieser konservativen Gruppierung zu bezeichnen. Diese Auffassung vertritt auch Rudolf Holzgräber, der Merkatz und Mühlenfeld zu den "maßgebenden Ideologen" der DP rechnet: "Sind auch ihre Bücher nicht als offizielle Parteideklarationen zu werten, so spiegelt sich doch ihr gedanklicher Einfluß deutlich in einem großen Teil programmatischer Äußerungen und in Reden der Führer der DP wieder." 5 Um den Niederschlag der konservativen Positionen Hans-Joachim von Merkatz' in Programmen der DP beurteilen zu können, erscheint eine Skizze seiner in zahlreichen Reden, Aufsätzen und Zeitungsbeiträgen sowie der in diesem Zusammenhang ergiebigsten Buchveröffentlichung, "Die konservative Funktion", niedergelegten Grundauffassungen nötig. Die theoretische Beschäftigung mit dem historischen Phänomen Konservativismus wie auch zeitgemäßer konservativer Politik nimmt für Merkatz von einer grundsätzlichen Haltung zur Welt ihren Ausgang. Es müsse zunächst erkannt werden, daß "ganz bestimmte Grundlinien des politischen Denkens und Handeins sich ... auf zwei prinzipielle Fronten der Teilnahme am großen Spiel der Politik beziehen. Die eine Front bildet seit der französischen Revolution bis heute die konservative Politik, und die andere Front umfasst die ganze Fülle sonstiger Möglichkeiten des politischen Verhaltens, wie es die letzten anderthalb Jahrhunderte hervorgebracht haben." 6 Dies habe durchaus einen gesetzmäßigen Charakter: "Nach geschichtlicher Erfahrung wird jedes Machtgebilde durch eine Gegengruppe in Frage gestellt. Es lebt in ständiger Gefahr, an Faszination und Überzeugungskraft einzubüßen. " 7 Gerade diese stete Pendelbewegung zwischen den politischen Lagern sei aber lebensnotweniger Bestandteil organisch wachsender Kulturen. Und ein organisches Weltverständnis sei der Wesenskern des echten Konservativismus: "Konservatives Denken ist evolutionä-

5 Rudolph Holzgräber, Die DP - Partei eines neuen Konservativismus? In: Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953. Stuttgart u. Düsseldorf 1955, 414l. 6 Hans-Joachim v. Merkatz, Die konservative Funktion (wie Anm. 1), 18 7 Hans-Joachim v. Merkatz, Das Parteiwesen in Deutschland. In: ders.: In der Mitte des Lebens. Politische Lebensfragen unserer Zeit. München, Wien 1963, 50.

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res Denken. Eine gute konservative Politik vermeidet das Entstehen von Situationen, die nur durch eine Revolution gelöst werden können." 8 Die französische Revolution stelle daher insofern einen entscheidenden Fixpunkt dar, weil ihre Träger die angelsächsische Idee der Freiheit und Volkssouveränität übernommen und diese Vorstellungen "in extremster Weise ... säkularisiert" 9 haben. Diese Säkularisierung drücke sich durch den Fortschrittsglauben aus, der letztendlich nichts anderes als eine diesseitige Erlösungs- und Verheißungslehre darstelle, egal ob diese Utopie sich dabei auf linke oder rechte ideologische Leitbilder stützt oder die schrankenlose Freizügigkeit verspreche: "Heute wissen wir, daß die Grundsätze der liberalen "Liberte" und der jakobinischen "Egalite" einander entgegengesetzt sind und einander ausschließen, während die letzthin auf religiöse Wurzeln rückführbare "Fraternite" nur eine unpolitische Begleitmusik im Machtkampf der Ideologien geblieben ist." 10 Allerdings ist die Französische Revolution nur als Glied in einer Kette der Entzauberung der religiösen Schöpfungsordnung, mithin des gesamten abendländischen Weltgefüges, zu sehen, eine Tendenz, welche "die Vernunft mit Theorie und Abstraktion in der Einstellung des Menschen zu Staat und Gesellschaft inthronisiert," 11 unterstreicht Merkatz in "Die konservative Funktion": "Die Vorgeschichte dieser Inthronisierung reicht bis über die Schwelle des Mittelalters zurück. (... ) Scholastik, Renaissance, Humanismus, Aufklärung und Idealismus hießen die einzelnen Stationen dieses bewußtseinsgeschichtlichen Prozesses - Epochen des europäischen Geistes, die dann in das Zeitalter der Technik, der modernen Zivilisation mündeten. (... ) Der Prozeß selber, den die genannten Namen umschreiben, läßt sich als folgender Vorgang im Denken und Fühlen der europäischen Völker skizzieren: Der mittelalterliche Mensch erlebte sich wesentlich eingebettet in eine ganz vom religiösen Glauben bestimmte und gehaltene Welt aus Diesseits und Jenseits, aus Himmel und Hölle. Die vorgefundene Ordnung der Dinge in dieser prinzipiell feststehenden, in sich selbst ruhenden Welt war vom Schöpfer gesetzt und konnte daher auch nicht umgestürzt, sondern höchstens verletzt werden. (... ) Auf solcher allumfassenden GrundeinsteIlung zur sichtbaren und unsichtbaren Welt beruhte das Lebensgefühl des Mittelalters, (... ) seinen Schattenseiten entsprachen ebenso viele Lichtseiten - voran das Empfinden der Geborgenheit in der Welt trotz aller Nöte und das sichere Wissen um den Standort in der Schöpfung trotz aller Angst vor den ungezähmten Mächten der Natur." 12 8 Hans-Joachim v. Merkatz, Ein konservatives Leitbild für unsere Zeit. In ders.: In der Mitte des Lebens (wie Anm. 7), 7. 9 Hans-Joachim v. Merkatz, Das Parteiwesen in Deutschland, 53. 10 Ebenda 11 Hans-Joachim v. Merkatz, Die konservative Funktion (wie Anm. 1), 14.

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Demgegenüber empfand sich der "neue Mensch" der Renaissance und Aufklärung "als selbständig gegenüber Welt und Natur," und begann "hinter den Kulissen des gesellschaftlichen Stufenbaus immer mehr nach Sinn und Nutzen der bestehenden sozialen Ordnung" 13 . zu fragen. Die Konsequenzen dieser Entwicklung zeigten sich in der beherrschenden Unterwerfung der Natur, der willensmäßigen Veränderung der Daseinsbedingungen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Erziehung: Der planende, berechnende, vermessende, zergliedernde, abstrahierende Rationalismus betrat als neue Siegergestalt den Parnaß Europas. Mit fatalen Folgen - wie sie sich im Heraufziehen der modernen Ideologien und dem Entstehen des durchrationalisierten, zentralisierten Maschinenstaates, aber auch der Zügellosigkeit beliebiger Freiheit des Geistes ankündigten. "Menschliche Freiheit kann nur eine definierte Freiheit sein, andernfalls wird sie zur Anarchie und Zerstörung", warnte Merkatz unter Verweis auf Edmund Burke. 14 Konservativismus hat nach dieser Lesart also schon frühzeitig die zentrale Aufgabe, tradierte Freiheiten und gewachsene Eigenarten vor Nivellierungen zu bewahren. Dies erkläre auch, daß der Konservativismus in allen großen europäischen Ländern einen wesentlichen Stützpfeiler im ständischen Denken besitze, da die Stände, Zünfte und Gilden als Garanten eines auf ihrer Freiheit basierenden Gliederungssystems die schärfsten Gegner der "dauernd zunehmenden Ansprüche der Staatsgewalt, wie sie sich zuerst im fürstlichen Absolutismus und dann in der nicht weniger resolut auftretenden Volkssouveränität durchsetzten," 15 waren und sein mußten. Deshalb, so Merkatz, sehe auch der zeitgenössische Konservative "die Aufgabe heutiger Politik völlig unorthodox darin, mit der Demokratie die liberalen Freiheiten zu behaupten und zu festigen, ohne einer utopischen Fortschritts-Seligkeit zu verfallen." 16 Es hieße allerdings diesen DP-Vordenker gründlich mißzuverstehen, wollte man aus solchen Äußerungen eine liberale Haltung herauslesen. Ebenda Ebenda, 16 f. 14 Ebenda. Edmund Burke habe, so v. Merkatz, in "Rousseaus neuerungssüchtiger Moralität" einen "monströsen Betrug" erkannt: "Seiner Meinung nach lauern unter der Haut des modernen Menschen Brutalität und Dämonie, die jederzeit wieder hervorbrechen können, sobald das in Jahrtausenden der Erfahrung herausgebildete System von Sicherungen und Regelungen, das Staat und Gesellschaft darstellen, durch abstrakte Utopien zerstört wird." In diesem Zusammenhang sei auch auf den zweiten maßgeblichen Vordenker der DP, Hans Mühlenfeld, verwiesen. Er erklärte die Fehlentwicklungen der modernen technischen Zivilisation aus dem Zusammenspiel von Trieb und Ratio bei gleichzeitiger Zurückdrängung des Gefühls und der Seele. (Hans Mühlen/eld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit. München 1952). 15 Hans-Joachim v . Merkatz, Die konservative Funktion (wie Anm. 1), 38. 16 Hans-Joachim v. Merkatz, Das Parteiwesen in Deutschland (wie Anm. 7), 61. 12 13

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Beide Lager verband in der praktischen Politik eine gemeinsame Parteinahme für den Mittelstand. Jedoch trennte sie Welten in der Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklungen, die Merkatz mit schonungsloser Schärfe in der Feststellung zusammenfaßt: "Das Hauptmerkmal der modernen Gesellschaft ist ihre Einebnung. (. .. ) Hand in Hand damit geht ein Schwinden der Seßhaftigkeit. Mit dem Verlust der Seßhaftigkeit verblaßt zugleich das Gefühl der Heimatverbundenheit. Ebenso wird die Überschaubarkeit der öffentlichen Angelegenheiten schwieriger und für viele unmöglich." 17 Genau hiergegen aber trete der Konservativismus an. Ausgangspunkt seiner Politik habe dabei die "Bewahrung der Lebensgrundlagen in Natur und Gemeinschaft", ihre Sicherung vor den "Übergriffen der technischen Zivilisation" zu sein. Die natürlichen Faktoren sind dabei Persönlichkeit, Familie und Heimat, die Grundprinzipien, die eine konservative Gesellschaftsordnung tragen, Freiheit und Recht, Tradition und Brauch. Die größte Bedrohung dieser überlieferten festen Strukturen und Werte stelle die Massengesellschaft dar, die einher gehe mit einer zunehmenden Zentralisation in Politik und Wirtschaft. Diese aber führe zur Entmündigung des Individuums, das in der nivellierten Gesellschaft nicht mehr, sondern weniger Rechte besäße: "In der sogenannten Massendemokratie vollzieht sich eine merkwürdige Entpolitisierung der Massen. An die Stelle des durchdachten Urteils tritt die Formung und Normung durch eine technisch und psychologisch durchgebildete Propaganda, die (. . .) zur Bildung einer Meinungsfassade führt. (... ) Was die Person des einzelnen Staatsbürgers betrifft, so offenbart sich seine Krise vor allem als eine religiöse und sittliche Krise. Mit der Lockerung der religiösen Bindungen haben sich auch die menschlichen Bindungen gelockert, und damit sind Ehe und Familie, Gemeinsinn und Arbeitsethos in eine Krise geraten und von Auflösung bedroht (. . .) Die nächste Folge ist eine Erlahmung des Willens zur Verantwortung, die auf das Kollektiv abgeschoben wird." 18 Wohin dieser Verzicht, diese Selbst-Preisgabe führen kann, zeige sich in erschreckender Weise an den Resultaten der kommunistischen und der faschistischen Massengesellschaft. Aber, auch dies erkennt Merkatz mit einem Verweis auf George Orwells Schreckensvision ,,1984", "dabei wird vergessen, daß sich auch aus den westlichen Formen der Demokratie eine andere totalitäre Gesellschaftsordnung entwickeln kann (. .. ) als ein wissenschaftlicher, demokra tischer, entpersönlichender, zusammenarbei tender funktioneller Mechanismus." 19 Dieser Befund führt eindrucksvoll vor Augen, daß sich Merkatz' Warnungen vor der Vermassung keineswegs nur auf 17 18 19

Hans-Joachim v . Merk atz, Ein konservatives Leitbild (wie Anm. 7), 10. Ebenda, 9. Hans-Joachim v. Merkatz, Das Parteiwesen in Deutschland (wie Anm. 7), 54.

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das noch in deutlicher Erinnerung wirkende nationalsozialistische Trauma oder die Konfrontation mit den Diktaturen des Ostblocks beschränkten. Seine Kritik galt von Anfang an auch der Bundesrepublik, soweit sie sich zu einer von Verbänden, Konzernen und Parteibürokratien dominierten Gesellschaftsordnung entwickelte. "Modeme Parteien und Interessenverbände sind grundsätzlich zentral gelenkte Gebilde. (... ) Parteiapparat, Funktionäre, Organisation, Technik und Propaganda beherrschen das Feld und drängen den Staatsbürger von der Mitwirkung am Staatsleben zurück". Diesem Verhalten der großen gesellschaftlichen Organisationen entspreche auch der sich zunehmend in Staat und Verwaltung verkrustende Zentralismus: "Typisch ist auch, daß ein zentralistischer Apparat immer mehr Aufgaben und Kompetenzen an sich zu ziehen trachtet, wodurch er kostspieliger wird. Welche Kosten ferner entstehen durch eine von unten her nicht kontrollierte, anonyme, aufgeblähte Bürokratie sowie durch Leerlauf und Fehlbeurteilungen zentraler Behörden an Stelle der mit den örtlichen Verhältnissen besser vertrauten Lokalinstanzen, mag dahingestellt sein." 20 Staatlicher Zentralismus aber hat seine Grundlage in der Verbindung des aufgeklärten Absolutismus mit der aus der Französischen Revolution geborenen Idee des Nationalstaates. "Mit der Ausbildung der Nationen und der Nationalstaaten war unausbleiblich das Aufleben nationaler Rivalitäten verbunden. Beides ist ein komplexer Vorgang, komplex in weitestem Sinn genommen. Kollektivgefühle, das mehr oder minder deutliche Bewußtsein, einer besonderen Gruppe oder Gemeinschaft anzugehören und sich damit von den "Fremden" abzugrenzen, hat es immer gegeben" , hob Merkatz in einem 1956 erschienenen Aufsatz "Kein Zurück zum Nationalismus" hervor. Sei diese Abgrenzung aber als "Grundkraft der Seele" ein naturgegebener Zug des Menschen, so bestehe in der rational-triebhaft geprägten Neuzeit die verhängnisvolle Gefahr, daß "Nationalität zur moralischen Qualität" zu werden drohe. 21 Dieses Verhängnis habe längst seinen Lauf genommen, da die "stürmische Aufwärtsentwicklung der Technik und des wirtschaftlichen Liberalismus (. . .) den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts einen gewaltigen Kräftezuwachs brachten; auch ihre demokratische Struktur hat wesentlich dazu beigetragen." 22 Heute nun müsse Europa erleben, "daß sein Geschöpf, die nationale Idee, sich gegen den eigenen Schöpfer wendet. Das Streben der einstigen Kolonialvölker nach nationaler Selbständigkeit wird von dieser Idee getragen 20 Hans-Joachim v. Merk atz, Föderalismus ohne Mißdeutung und Mißbrauch. In: ders. In der Mitte des Lebens (wie Anm. 7), 177 ff. 21 Hans-Joachim v. Merkatz: Kein zurück zum Nationalismus. In: ders. In der Mitte des Lebens (wie Anm. 7), 159. 22 Ebenda, 160.

21 Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker

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und hätte ohne den Aufwind nationaler Leidenschaften nicht zu so schnellen Erfolgen geführt, wie dies tatsächlich der Fall ist; zu Erfolgen, die ausschließlich zu Lasten europäischer Staaten gehen. 23 Allerdings könne die Gesundung vor den Folgen des nationalistischen Eifers nur aus Europa kommen. "Wenn es zutrifft, daß übersteigerter Nationalismus ein politisches Gift ist, mit dem Europa fortschreitend zuerst sich selber und danach die übrige Welt infiziert hat, dann müssen sich in unserem Erdteil zunächst die heilenden Gegenkräfte bilden" 24 Diese Gegenkräfte sah Merkatz in der Idee des abendländischen Reichsgedankens, übertragen in die zeitgemäße Gestalt eines europäischen Staatenbundes, in dem sich "das natürliche Verlangen nach Hingabe an eine überindividuelle Sache, eine (... ) geistige Kraft, die wir in unserer Sprache wohl besser Vaterlandsliebe nennen" 25 in nutzbringender Form artikulieren kann. Der Gedanke einer Föderation, die die nationale Identität ihrer Gieder unangetastet lasse, sie gleichzeitig auf höherer Ebene aber zu einer politischen Einheit zusammenfasse, um so ein selbstmörderisches Zerfleischen untereinander zu verhindern, wurde von Hans-Joachim von Merkatz in zahllosen Vorträgen und Aufsätzen beschworen. Als wesentlichster und zukunftsweisender Gedanke ragt dabei vor allem seine Vision des Heimatrechtes als eines universellen Grundrechtes für alle Völker hervor: "Der Konservative gewinnt seine Kraft und seine Anschauung aus der Vergangenheit seines Volkes, dem Streben nach Erhalten der guten und unveräußerlichen Werte, die er auch in anderen Völkern anerkennt. Eine konservative Zielvorstellung ist hier, daß die Völkerrechtsordnung der Zukunft statt auf dem Souveränitätsrecht auf die Menschenrechte begründet wird. Hierbei hat die konkrete Ausgestaltung des Rechtes auf die Heimat als Basis aller Menschenrechte und ihrer Gewährleistung eine zentrale Bedeutung. Auf dieser Grundlage strebt der Konservative eine interdependente, genossenschaftlich geordnete Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Währungspolitik an, vor allem in Europa, und darüber hinaus eine weltweite internationale Politik zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. "26 Untrennbar verbunden mit der Aussage "Kein Zurück zum Nationalismus" war für diesen Konservativen das Bekenntnis zur föderalistischen Staats- und Lebensordnung. "Das Streben nach Vereinheitlichung auf allen Gebieten des staatlichen Lebens lediglich aus einer Zeitströmung heraus ist in Wahrheit kein Fortschritt. Die Uniformierung und Verflachung der dem deutschen Wesen eigenen Mannigfaltigkeit seiner Lebensäußerungen

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Ebenda, 166. Ebenda, 157. Ebenda, 159 f.

Hans-Joachim v. Merkatz, Ein konservatives Leitbild (wie Anm. 7), 21.

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und das Einebnen des Reichtums landsmannschaftlicher Unterschiede würden vielmehr einen Rückschritt bedeuten," schrieb Merkatz 1957 im "Bulletin." 27 Föderalismus müsse von daher Synonym sein für eine bestimmte Lebensordnung, die alle Daseinsbereiche umfasst. Die föderalistische Konzeption begriff Merkatz denn auch als "Funktion im Kampf um die Freiheit, als Mittel gegen die Nivellierung und als Bauprinzip höherer Einheiten, die über den nationalen Einheiten errichtet werden, ohne daß die heimatverbundene Eigenständigkeit dabei vernichtet wird." 28 Im übrigen entspreche gerade eine föderative Gliederung viel eher als ein zentralisierter Nationalstaat der deutschen Geschichte und Kultur: "Deutschland ist, abgesehen von dem kurzen nationalsozialistischen Zwischenspiel, niemals ein Einheitsstaat gewesen. Das ist kein historischer Zufall, sondern ist begründet im Charakter, in der Herkunft und der Zusammensetzung unseres Volkes." 29 Dies sei weder "Spitzweg-Romantik" noch habe es etwas mit Separatismus und Partikularismus zu tun, "denn diese bedeuten Eigenbrötelei, Kirchturmspolitik und Kleinstaaterei sowie Trennung und Auseinanderführung, während es für das föderalistische Prinzip wesentlich ist, daß die kleineren Gemeinschaften sich in ihrem Gesamtinteresse zu einer größeren Einheit zusammenschließen. (... ) Es besteht also eine Wechselwirkung oder bildlich gesagt ein Blutkreislauf zwischen der Gesamtgemeinschaft und ihren Teilen." 30 Aus diesem Grunde wandte sich Merkatz auch gegen funktionalistische Vorstellungen von Föderalismus, die diesen Begriff in seinem organischen Wesen ad absurdum führen würden: "Die Deutsche Partei wünscht keinen etatistischen Föderalismus, der den Zentralismus im Bund verhindert, ihn aber in den Ländern zuläßt," stellte er in einer parteiamtlichen Publikation klar. 31 Vielmehr müsse eine "wohlverstandene föderalistische Staatsauffassung darauf bedacht sein, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Einheit und Autorität auf der einen Seite und Vielfalt und Freiheit auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. Sie wird die naturgegebenen Spannungen im Staats- und Volksleben, besonders wenn es sich wie beim deutschen Volk um ein aus verschiedenen Stämmen und Landschaften zusammengewachsenes Volk handelt, möglichst schöpferisch zu gestalten suchen." 32 Dazu gehöre auch die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzip im WirtschaftsHans-Joachim v. Merkatz, Föderalismus ohne Mißdeutung (wie Anm. 7), 178. Deutsche Stimmen, 3. Jg., Nr. 11 v. 22.3.1953, 2. 29 Hans-Joachim v. Merkatz, Föderalismus ohne Mißdeutung (wie Anm. 7), 169. 30 Ebenda. 31 Hans-Joachim v. Merkatz, Vier Jahre DP-Politik im Bundestag. Bericht der Bundestagsfraktion der Deutschen Partei anläßlich des Hamburger Parteitages im Mai 1953. o. O. 1953, 20. 32 Hans-Joachim v. Merkatz, Föderalismus ohne Mißdeutung (wie Anm. :7), 170. 27

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geschehen, dies allerdings erweitert um das Solidaritätsprinzip als "notwendige und auch ethische Ergänzung. Es bedeutet, daß alle Beteiligten neben ihrer Verantwortung für ihren eigenen Bereich sowohl zur gegenseitigen Rücksichtnahme als auch zur Mitübernahme der Verantwortung für das Ganze und zur Rücksichtnahme auf dieses Ganze, eben zur Solidarität, verpflichtet sind." 33 Das Schwinden der Solidarität in einer immer anonymeren Welt habeauch hier schließt sich ein Kreis - ebenfalls im Zerbrechen der alten Bindungen seine Ursache. "Als Hintergrund all dieser Erscheinungen ist der Prozeß der Verweltlichung zu sehen, der seit dem Ende des Mittelalters im Gange ist. Es handelt sich hier nicht nur um ein Herausdrängen der kirchlichen Gemeinschaft aus Staat und Gesellschaft, sondern überhaupt um ein Lösen des Menschen aus Gottes Ordnung, um ein Lösen der Bindung - religio heißt ja wohl Bindung - an die Seinsgründe des Lebens.( ... ) Diese künstliche Welt ist die Gefahr, die in allem technischen Denken steckt. Sicherlich wird eines Tages die Venus angeflogen werden können, sicherlich wird man das Weltall durchmessen, sicherlich wird man auf künstliche, chemische, biologische, physikalische Weise erstaunliche Erfindungen und Entdeckungen machen, aber damit wächst immer mehr über unserem natürlichen Dasein eine künstliche Welt heran. In der Medizin spricht man dann so schlicht von "Zivilisationsschäden". Aber diese Schäden sind in Wahrheit ja seelische Schäden. Es ist eine tiefe, quälende Orientierungslosigkeit, eine Haltlosigkeit, die aus diesem Zustand der unterbrochenen Bindung hervorgeht." 34 Ausdruck findet diese seelische Krise in der permanenten Überforderung durch eine komplexe Industriegesellschaft: "Das dürfte in der Schizophrenie unseres Daseins begründet sein, nämlich darin, daß unser Leben in zwei desintegrierte, völlig getrennte Bereiche zerfällt: in die privat-menschliche und in die berufliche Welt, zwischen denen wir uns als Pendler bewegen. Der Mensch trägt hier zwei Gesichter, und so begibt es sich offenbar, daß er auch im politischen eine offizielle und eine inoffizielle Meinung hat. Das ist betrüblich und wohl im Kern der Verlust wirklicher Geschlossenheit der Charaktere." 35 In dieser Situation der persönlichen Schwäche dämmert die Gefahr herauf, daß der Mensch in die völlige Abhängigkeit mechanistischer Strukturen gerät - seien es die der in ihrer Komplexität unkontrollierbar und damit totalitär werdenden technischen Zivilisation, seien es jene des zentralistischen Maschinenstaates. Es werde die zentrale Frage der Zukunft, Ebenda, 177. Hans-Joachim v. Merkatz, Die organisierte Gesellschaft. In: ders. In der Mitte des Lebens (wie Anm. 7), 35. 35 Hans-Joachim v. Merkatz, Das Parteiwesen in Deutschland, 64. 33

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prophezeite Merkatz, ob es dem Menschen gelinge, den "Verlockungen des automatischen Fortschritts" zu widerstehen oder zu dessen Sklaven zu werden. 36 Diese Feststellung läßt aufhorchen, berührt sie doch Themen, die in den Zeiten des Wirtschaftsaufbaus und der allgemeinen Fortschrittseuphorie so gar nicht zu einem maßgebenden Politiker passen mochten. Und es ist umso bemerkenswerter, als es ein dezidiert konservativer Autor war, der diese Zeilen zu Papier brachte; ein waches Auge für heraufziehende neue Problemfelder ist bei Merkatz jedenfalls zweifellos vorhanden gewesen. Die Skepsis des DP-Theoretikers gegenüber den Übergriffen der technischen Zivilisation umschloß dabei recht früh auch den Gedanken der Naturbewahrung. Freilich wäre es verfehlt, hierin bereits eine frühe Form politischer Ökologie erkennen zu wollen, doch immerhin zeigte sich hier eine geschärfte Wahrnehmung der Folgen des technischen Fortschritts auch in Bereichen, die zu jener Zeit für die politische Linke quasi nicht existierten. Der Schutz der "Lebensgrundlagen in Natur und Gemeinschaft" wurde bereits 1952 im Parteiprogramm unter Federführung Merkatz' gefordert. In seinem Buch "Politik im Widerstreit" warnte Merkatz 1957 vor der Übervölkerung der Erde und vor der "Schrumpfung der mobilisierbaren Ernährungsbasis in der Welt" als zwei der wichtigsten und drängendsten Zukunftsfragen. Und schließlich erklärte er 1955 in einem Vortrag "Konservative Haltung in der politischen Existenz" vor der Abendländischen Akademie in Eichstätt: "Das Zeitalter der Raubwirtschaft und der Zerstörung und Störung der natürlichen Grundlagen des Daseins muß beendet werden. Die Natur warnt uns. Nicht nur der Mensch schaudert vor einer gequälten Existenz, auch die Natur klagt unter den Wunden, die menschliche Gier und Unwissenheit ihr fortgesetzt zufügen." 37 1947/48 dehnte sich die DP auf die niederdeutschen Lande Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein aus, 1949 bis Anfang 1951 entstanden die Landesverbände NRW, Berlin und Hessen. Durch die einströmenden neuen Kräfte, vornehmlich in der Tradition des deutschnationalen Konservativismus stehend, begann das originäre, welfische Wesen der DP an Konturen zu verlieren. Bereits im Laufe des Jahres 1949 kam es zu ersten Konsultationen zwischen den Vorständen der DP, der Deutschen Reichspartei und der Gruppe um den hessischen Bundestagsabgeordneten Heinrich Leuchtgens. Anfängliche Bedenken seitens der Deutschnationalen gegenüber den "Partikularisten" von der DP schienen bald ausgeräumt. Am 1. Juni 1949, beim dritten Treffen der Vorstände, vermerkte der protokollführende DRPEbenda. Hans-Joachim v. Merkatz, Aufgaben und Möglichkeiten einer konservativen Politik. In: Konservative Haltung in der politischen Existenz. Vorträge und Gespräche der 5. Jahrestagung der abendländischen Akademie in Eichstätt. Eichstätt 1955, 49. 36

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Vorsitzende Adolf von Thadden, daß sich auch Merkatz und Seebohm für die Bildung eines "Rechtsblocks" ausgesprochen hätten: "Je bälder um so besser. Bei der Bildung dieser Partei der Rechten müsse man über Unterschiede und kleine Nuancen hinwegsehen", soll Merkatz laut Thaddens Protokoll ,g esagt haben. 38 Zur Gründung eines solchen Rechtsblocks kam es indes nie; ebensowenig wurden nach diesem Intermezzo je wieder Kontakte zwischen den Bundesführungen der DP und der extremen Rechten geknüpft. Aus späteren Verlautbarungen der führenden DP-Repräsentanten läßt sich zudem schließen, daß sie wohl nie ernsthaft eine derartige "nationale Sammlung" erwogen haben. Die DP zog es 1949 stattdessen vor, den Bundestagswahlkampf in Niedersachsen mit gelbweißem, in den anderen Ländern aber mit schwarz-weiß-rotem Fahnenschmuck zu drapieren. Dies war nicht nur Farbspielerei. Hinter ihr verbarg sich jenes Spannungsverhältnis, daß in den folgenden Jahren die Partei vor ernsthafte Zerreißproben stellen sollte. Hatte bereits der Kasseler Parteitag 1951 durch seine Beschäftigung mit dem Thema Entnazifizierung die Rechtsentwicklung der DP dokumentiert, so kann das Jahr 1952 wahrscheinlich als Höhepunkt des Rechtstrends in der DP angesehen werden. Im Vorfeld des Goslarer Bundesparteitages setzten die Landesverbände Berlin, Hessen, Nordhein-Westfalen und Hamburg einen Antrag auf die Tagesordnung der Direktoriumstagung, in dem gefordert wurde, die Wahlgemeinschaft mit der CDU aufzulösen, "damit die DP endlich das Gesicht der nationalen Oppositionspartei" annehmen könne 39 Hingegen hob Parteichef Hellwege in seiner Grundsatzrede unmißverständlich die bisherige konservative Parteilinie hervor. Aufgabe der DP sei, "gegen die Restbestände einer sterbenden Epoche, gegen Bolschewismus, Sozialismus, Liberalismus, Klerikalismus, Nationalismus und alle anderen Ismen und weltanschaulichen Übersteigerungen in der Politik das Banner der politischen Freiheit und Mäßigung aufzuziehen".40 Deshalb müsse auch an die Stelle der Phrase von der "nationalen Sammlung" das Leitwort "konservative Erneuerung" treten. Hellweges Appell blieb vergebens. In der Wahl zum Bundesvorsitzenden unterlag der Welfenpolitiker mit 145 gegen 146 Stimmen seinem Herausforderer Hans-Christoph Seebohm, Wortführer des national orientierten Strömung. Nur dessen Verzicht auf das Amt angesichts des knappen Wahlausganges vermied eine Spaltung der Partei. 38 Man/red Jenke, Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945. Berlin 1961, 63. 39 Hermann Meyn, Die Deutsche Partei. Entwicklung und Programmatik einer nationalkonservativen Rechtspartei nach 1945. Düsseldorf 1965, 34. 40 (ohne Verf.) Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat. Reden und Schriften. (Festschrift zu seinem 50 . Geburtstag am 18.8. 1958) Braunschweig 1958, 61.

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Heinrich Hellwege nutzte die Wochen nach dem Parteitag, um die Rechtsabweichler botmäßig zu machen und so die ursprüngliche Parteilinie zu retten. Der sich besonders um "nationale Sammlung" bemühende Landesverband Nordrhein-Westfalen, ein permanenter Unruheherd, wurde kurzentschlossen vom Direktorium aufgelöst. Hans-Joachim von Merkatz stand in diesem Richtungsstreit wie wohl auch in dem Konflikt Hellwege Seebohm auf Seiten des alten Parteivorsitzenden. Auf dem Hamburger Parteitag im Jahre 1953 gebrauchte Merkatz in seiner Präsentation des Wahlprogramms "Macht den rechten Flügel stark" fast dieselben Worte wie im Jahr zuvor Hellwege: "Die Deutsche Partei ist eine Partei konservativer Erneuerung und Selbstbereinigung des deutschen Volkes."41 Der Goslarer Parteitag hatte aber nicht nur schicksalshafte Bedeutung für die weitere Personalpolitik der DP. Erstmals wurde mit den "Goslarer Grundsätzen von 1952" auch ein Grundsatzprogramm beschlossen, das an die Stelle der vorher gültigen "formellen" Parteirichtlinien und einzelnen Grundsatzpapiere trat. In diesem Programm, das freilich auch seinen Tribut an neue Wählerschichten wie die Entnazifierungsgeschädigten zollen mußte, findet sich in etlichen Formulierungen die Diktion des prominentesten "DP-Vordenkers" wieder. Dies gilt verstärkt für die Komplexe deutsche / europäische Einigung sowie die Thematik Heimatrecht. So heißt es in den "Goslarer Grundsätzen": "Die Spaltung der Nation muß überwunden werden. Nationalistische Übersteigerung und Rivalität in Europa haben Deutschland, die mitteleuropäische Ordnung und ganz Europa zerstört und den Frieden in der Welt zerrüttet. Nur eine europäische Gemeinschaft vermag neue Ordnung aufzurichten und dauerhaften Frieden zu begründen. Das nationale Ziel deutscher Einheit und das europäische Ziel einer Gemeinschaft der Völker in Frieden und Freiheit stimmen überein. " "Aufgabe der Politik ist die Erhaltung der Lebensgrundlagen in Natur und Gemeinschaft. Die Deutsche Partei verlangt die Pflege und Förderung des Volkstums. Sie fordert eine Erziehung zur Heimat- und Vaterlandsliebe. Nach über hundert Jahren der Entwurzelung muß die Bodenständigkeit des Menschen wiederhergestellt und geschützt werden. Jedermann hat das Recht auf seine Heimat, aus der ihn niemand vertreiben kann. Das Heimatrecht ist die Grundlage aller Menschenrechte. Daher fordert die Deutsche Partei, daß den Vertriebenen aller Völker die freiwillige Rückkehr in ihre angestammten Wohnsitze unter Wahrung ihrer Rechte ermöglicht wird." 42 41 Hans-Joachim v . Merkatz, Vier Jahre DP-Politik (wie Anm. 31), 4.

42 Ossip KarZ Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Band 2: Die Programmatik der deutschen Parteien. Berlin 1963. darin abgedruckt das DP-Programm "Goslarer Grundsätze von 1952, 385.

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Unverkennbar trägt auch eine weitere Forderung dieses DP-Programms die Handschrift Merkatz': Jener Passus, der sich an jene nicht unerhebliche Wählerklientel richtete, die aus monarchistischen Beweggründen für die DP votierte. Dies galt für die - zahlenmäßig bei weitem bedeutenderen "Welfen" ebenso wie für die Verfechter einer Restauration des Kaiserreiches unter den Hohenzollern. Die Begründung des monarchischen Prinzips war dabei durchaus organisch gedacht und innerhalb der föderalen Gliederung des Staatsverbandes sinnvoll begründet: "Oberhalb der politischen Ebene jedoch muß ein letztes Amt, ein Staatsoberhaupt, vorhanden sein, das die Rechte sämtlicher Glieder und Lebensbereiche der Nation wahrt und unabhängig ist VOn politischen Mächten und Parteien. Die Deutsche Partei bejaht dieses aus den geschichtlichen Tiefen des Reiches erwachsene Amt. Die Auseinandersetzung über die Form der Verwirklichung steht jenseits des politischen Tageskampfes. Sie wird in einem geistigen Erneuerungsprozeß dereinst ihre Lösung finden." 43 Nicht nur in den "Goslarer Thesen" ist der Duktus Hans-Joachim VOn Merkatz' wiederzufinden. Auch spätere Programme speisen sich aus der VOn ihm maßgeblich geprägten konservativen Grundtendenz. Passagen zur Thematik des Heimatrechtes, die sich stark an die von ihm in Reden und Aufsätzen immer wieder vorgebrachten Thesen anlehnen, finden sich sowohl in den 1955 in Bielefeld verabschiedeten "Zwanzig Thesen einer freiheitlich konservativen Politik" als auch im Programm zur Bundestagswahl 1957. In allen genannten Papieren sind daneben scharfe Absagen an "das Gleichmachende in der heutigen Massendemokratie" und an die Übersteigerung des Nationalgefühls im Nationalismus oder Chauvinismus niedergelegt, wie sie der Merkatzschen Intention entsprachen. 44

43 Ebenda, 387. In seinem monarchistischen Bekenntnis errang Hans-Joachim von Merkatz einiges Aufsehen, als er anläßlich des Todes des deutschen Kronprinzen Wilhelm vor dem Bundestag bekannte: "Als bei der Beisetzung der Hohenfriedberger Marsch zum letzten Mal aufgeklungen ist, da ist eine Epoche zuende gegangen, auf deren Werte wir stolz sein werden bis an das Ende unserer Tage." (zit. nach Manjred Jenke, Verschwörung von rechts?, 129). 44 Ossip Karl Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung (wie Anm. 42). 388 f. So heißt es im "Arbeitsprogramm für den zweiten Deutschen Bundestag", verabschiedet auf dem DP-Parteitag 1953 in Hamburg: "Das Recht auf die Heimat ist die Grundlage aller Menschenrechte. Das Recht auf die Heimat muß im internationalen und nationalen Recht als die wahre Basis der Völkergemeinschaft und der Demokratie gesichert werden." (388) In den 1955 in Bielefeld beschlossenen "Zwanzig Thesen einer freiheitlich konservativen Politik" wird zum Problem Vermassung festgestellt: "Freiheitlich konservative Politik bekämpft das Gleichmachende in der heutigen Massendemokratie, weil es - gewollt oder ungewollt - ein menschliches Mittelmaß erzeugt, das unduldsam, kaltherzig und stumpf alle schöpferischen Kräfte, ein großzügiges soziales Zusammenleben und die Bildung charakterlicher, gesellschaftlicher und damit auch politischer Eliten bedroht." (393 f.)

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Auch wenn es zunächst verblüffend klingen mag: In diesem Sinne war die Kritik der DP am Nationalismus grundsätzlicher als etwa bei der CDU und der SPD. Das ganze aus dem 19. Jahrhundert entstammende Konzept des starken Einheitsstaates wurde als Irrweg, der zu Machtkonzentration, Kollektivegoismus und Sozialdarwinismus führt, abgelehnt. Merkatz ging dabei sogar soweit, den Nationalliberalismus der geistigen Komplizen- und Vorläuferschaft des Nationalsozialismus zu verdächtigen 45. Konsequente Abkehr von diesem Erbe konnte daher für die DP nicht das besonders von Kurt Schumacher in der SPD und Jakob Kaiser in der CDU verfochtene Wiederanknüpfen an die Gemeinsamkeit des sozialen und nationalen Emanzipationsstrebens bedeuten, sondern nur die Rückbesinnung auf die Werte der Heimatverbundenheit, des vorrevolutionären Patriotismus, des christlichen Reichsgedankens. Heimat sei eine Lebensvoraussetzung, sie sei "dem Menschen ... von Gott geschenkt" 46. Darüber hinaus verkörpere Heimat keinen abstrakten Begriff, sondern ganz real den unerläßlichen Lebensraum des Menschen, in dem er verwurzelt ist und aus dem ihn keine Gewalt vertreiben darf. Deshalb müsse das "Heimatrecht als Urgrund aller Menschenrechte" eine übernationale Verankerung im Völkerrecht finden. 47 An diesem Punkt zeigt sich zugleich die größte Kluft zwischen der DP und den übrigen Parteien in der Frühphase der Bundesrepublik - vom Zentrum und der Bayernpartei abgesehen, die ähnliche föderalistische Vorstellungen hegten: In ihrer Programmatik vermengte sich die altkonservative Vision des Reiches mit modemen Konzepten eines föderalen Europas und einer globalen Rechtsordnung, die auf dem ethnischen Prinzip fußte, ohne dabei nationale Höherwertigkeiten zu propagieren.

In allen Kabinetten, in denen die DP Minister stellte, galt sie als zuverlässigster und gefolgsamster Koalitionspartner der Union. Gerade auch Merkatz haftete das Klischee an, "des Kanzlers bequemstes Kabinettstück"48, zu sein. Gleichwohl setzten die DP-Abgeordneten, und hier vor allem auch der pommersche Adlige, durchaus eigene, unverkennbare Akzente; dies vor allem in Bereichen der Pflege von "Reichstraditionen ", aber auch des mutigen Aufbegehrens gegen Vorstellungen der "re-education" durch die Siegermächte. Kollektivschuld-Thesen lehnten die DP-Politiker als unchristliche, auf Haß und biologistischem Irrationalismus aufgebaute Theorien ab . Diese Haltung provozierte zuweilen harsche Kritik zeitgenössischer 45 Hans- Joachim v. Merkatz, Die aktuelle Bedeutung konservativer Politik. In: Deutschlands Aufgabe. Stimmen evangelischer Politiker. Stuttgart 1953, 165. 46 Jörg Gabbe, Parteien und Nation. Zur Rolle des Nationalbewußtseins für die politischen Orientierungen der Parteien in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Meisenheim am Glan 1976, 45. 47 Hans Mühlenfeld, Politik ohne Wunschbilder, 45 . 48 "Der Spiegel" v. 13.6.1960, 20.

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Politiker 49. Aber gerade in diesen Bereichen leuchtet ein Schimmer von eigenständigem konservativen Profil auf, das sich weder vom nationalsozialistischen Trauma noch von den neuen staatlichen Strukturen in seiner Grundhaltung beschränken lassen wollte. So erklärte Merkatz vor dem Bundestag: "Heute ist es üblich, in jeder konservativen Richtung eine Wiederkehr reaktionärer Grundgedanken zu finden. Es sollte doch nun langsam klargeworden sein, daß zwischen einer Gesinnung des Radikalismus, wie sie vom Nationalsozialismus vertreten worden ist, und der alten konservativen Gesinnung, die in einer politischen Richtung wie der unsrigen zum Ausdrucke kommt, ein Abgrund von Unterschieden besteht. Eine Welt trennt uns!" 50 Wie wenig dieser ostdeutsche Vertriebene bei allem Nationalkonservativismus mit der nationalistischen Rechten gemeinsam hatte, zeigte auch sein Geschichtsbild: "Schon einmal hat eine diffamierende Legende unser politisches Leben vegiftet. Verletzter Nationalstolz wehrte sich dagegen, die tieferen Ursachen des Zusammenbruches von 1918 zuzugeben. So flüchtete er sich in die Behauptung, daß alles Unglück auf einen Dolchstoß der Heimat in den Rücken der Front zurückzuführen sei. .. Auch heute wieder ist so etwas wie eine Legende im Entstehen. Sie kann die gleichen verheerneden Wirkungen haben wie damals. Man wirft der Außenpolitik der Bundesregierung vor, daß sie, einmütig auf den Westen festgelegt, eine Politik der verpaßten Gelegenheiten für die Wiedervereinigung und ein Ausfluß großbügerlicher Restauration sei. Der unerlöste Teil Deutschlands aber werde im Stich gelassen . .. Dabei wird bewußt die entscheidende Tatsache geleugnet, daß Deutschland ohne die Unterstützung des Westens seine staatliche Einheit nur um den Preis der Unterwerfung unter das Diktat der Sowjetunion wiedererlangen könnte." 51 Mit diesen aus dem Jahr 1957 stammenden Worten Merkatz' läßt sich dessen grundsätzliche Haltung in der Deutschland- und Außenpolitik wiedergeben. Die Westbindung stand für ihn nie zur Disposition. In diesem Punkt wußte er sich zumindest mit Hellwege und dem Großteil der Bundestagsfraktion einig. Neutralismus bedeutete für Merkatz Nationalismus. Dieser aber sollte aus den bereits dargelegten föderalistischen Erwägungen durch die Einbindung in einen europäischen Verbund überwunden werden. 49 Zu den schärfsten Kritikern der DP-Politik gehörte der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, der die DP zu Zeiten ihres - nicht von den Konservativen und "Welfen" verschuldeten - Rechtskurses als "das unglückseligste aller politischen Gebilde in Deutschland ... eine verschlechterte Ausgabe einer Kreuzung zwischen HugenbergDeutschnationalen und den schlechtesten Zeiten der NSDAP" bezeichnete. (zit. nach Jörg Gabbe, Parteien und Nation (wie Anm. 46), 297.) 50 Rudolph Holzgräber, Die DP - Partei eines neuen Konservativismus (wie Anm. 5), 444. 51 Hans-Joachim v. Merkatz, Politik im Widerstreit, München 1958, 7.

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Darüber hinaus sah Merkatz in einem neutralen Deutschland auch einen Moment der Schwäche und damit die faktische Preisgabe an den kommunistischen Staatenblock. Einen Verweis auf die funktionierende finnische und österreichische Neutralität konterte der DP-Politiker mit dem Argument, gerade in diesen Fällen dränge "sich der Verdacht auf, daß ihre neutrale Existenz als verlockendes Modell für den Westen gedacht ist. Ein neutrales Deutschland mit seinem ungleich größeren Potential und seiner zentralen Lage wäre ein ungleich lohnenderes Objekt." 52 Bezeichnend hierfür mag auch das Verhalten der DP gegenüber der 1952 kurz vor Unterzeichnung der EVG-Verträge seitens der UdSSR angebotenen "Stalinnote" gewesen sein. "Die politische, wirtschaftliche und militärische Vereinigung Europas unter Beteiligung der Bundesrepublik", so der Wortlaut des DP-Direktoriumsbeschlusses, dürfe durch den "Notenwechsel mit der Sowjetunion über die Wiedervereinigung Deutschlands" nicht verzögert werden. Der Westkurs war allerdings bei Merkatz nur als Mosaik in einem größeren politischen Bild zu verstehen. Und dieses trug recht deutlich die Konturen eines gesamteuropäischen Verteidigungssystems, welches auch zur Überwindung der deutschen und europäischen Teilung führen solle. "Europa als dritte Kraft", so Merkatz auf einem nordrhein-westfälischen Landesparteitag, sei nur dann erreichbar, wenn die Wiedervereinigung im gesamteuropäischen Rahmen verwirklicht werde. Fernziel sei dann unter Umständen ein dritter, der Sowjetunion ebenbürtiger Block: "Der Prozess der Wiedervereingung Deutschlands und der Wiedervereinigung Europas unterliegt den gleichen Entwicklungstendenzen. Eine erneuerte gesamteuropäische Gemeinschaft wäre der stärkste Faktor des Ausgleiches und der Sicherheit zwischen dem Osten und Westen." 53 Deutlicher noch als in Fragen der Westbindung und Europapolitik zeigte sich der Einfluß Merkatz' in der Herangehensweise der DP an die Frage der deutschen Ostgebiete. Hier entwickelte die ohnehin auf föderalistischgroßdeutschen Traditionen wurzelnde Partei eine eigenständige, vom Kurs der anderen Regierungsparteien abweichende Vertriebenenpolitik, deren Kernforderung weniger die unbedingte Zugehörigkeit der Ostgebiete zum deutschen Staatsverband als vielmehr die Rückkehrmöglichkeit für die Vertriebenen bildete. Das Schlüsselwort in diesem Bestreben hieß Heimatrecht. Es war in dieser spezifischen Form wohl eine originäre Schöpfung 52 Ebenda, 36. Die Einmütigkeit des DP-Vorstandes in Fragen des Neutralismus scheint sich indes nicht mit der Linie der gesamten Mitgliedschaft gedeckt zu haben. Hoebink etwa stützt sich in seiner Arbeit auf eine mündliche Mitteilung Merkatz', wonach die DP "in Anhänger eines neutralistisch-nationalistischen und eines westorientierten Kurses" gespalten sei. (vgl. Hein Hoebink, Westdeutsche Wiedervereinigungspolitik 1949-1961. Meisenheim am Glan 1978, S. 231, Anm. 812) 53 Hans-Joachim v. Merkatz, Politik im Widerstreit (wie Anm. 51), 68.

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Hans-Joachim von Merkatz', die auch eine wichtige Stellung in den Programmen der DP einnahm. 54 Nachdem bei der Bundestagswahl 1957 das Auftreten als eigenständige "dritte Kraft" mißlungen war und mit Ausnahme von Niedersachsen und Bremen nirgendwo mehr der Einzug in die Landtage gelang, setzten wieder Grundsatz- und Richtungsdiskussionen ein. Dabei kristallisierten sich vier Richtungen heraus: Während der Parteivorsitzende Heinrich Hellwege einen eigenständigen Kurs der DP als föderalistischer Partei der Mitte verfocht, Generalsekretär Herbert Schneider für eine Profilierung als nationale Rechtspartei auftrat und eine weitere Gruppe zu Fusionsverhandlungen mit FDP und BHE drängte, plädierte Hans-Joachim von Merkatz für einen Zusammenschluß mit der CDU. Er war sich in dieser Forderung der Mehrheit der Bundestagsfraktion gewiß. Hauptakteurin in Sachen Geheimgespräche mit der CDU war die Abgeordnete Margot Kalinke. Es mag bitterer Zynismus sein: Die Todesstunde der DP sollte am 7. Juli 1960, dem 55. Geburtstag von Merkatz, schlagen. Dieses Datum wollte die Gruppe um Margot Kalinke abwarten, da von diesem Tag an Merkatz Anrecht auf eine Ministerpension habe. "Um solche Ansprüche - so hieß die Version - nicht zu gefährden, falls der Kanzler das bei einem DP-Zerfall fällige Rücktrittsersuchen Merkatzens wieder alle Überraschung akzeptieren sollte, sei der Kalinke-Ausbruch bis nach dem 7. Juli verschoben." 55 Da aber Adenauer in der Kabinettssitzung am 24. Juni versicherte, er wünsche die beiden Minister auch ohne ihren bisherigen Fraktionsanhang um sich zu haben, erfolgte der CDU-Übertritt der Abtrünnigen früher: Am 1. Juli 1960 erklärten neun der fünfzehn DP-Abgeordneten, darunter auch Merkatz, ihren Übertritt zur CDU. Adenauer hielt Wort. Merkatz verblieb auch nach dem Bruch mit seiner Stammpartei im Kabinett als Bundesratsminister und übernahm noch zusätzlich das Ministerressort für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Nach der Bundestagswahl 1962 wurde ihm jedoch kein Platz am Kabinettstisch mehr zuteil. In den Jahren danach wirkte Merkatz als deutscher Vertreter beim Exekutivrat der UNESCO und - bis zum Jahr 1972 - als Lehrbeauftragter für staats- und völkerrechtliche Probleme der europäischen Integration an der Universität Bonn, seit 1966 auch mit Professur. In der Parteihierarchie der CDU, die Merkatz noch bis 1969 im Bundestag vertrat, erreichte er indes keine auch nur annähernd vergleichbare Stellung wie inder DP, und 54 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Erklärung v. Merkatz' auf dem niedersächsischen DP-Landesparteitag 1956 in Lüneburg, wo er hervorhob, daß nicht ein "schroffes Nein", sondern diplomatische Beziehungen zum Osten im Interesse der Vertriebenen lägen. (Deutsche Stimmen, Jg. 1956, Nr. 22, 4.) 55 Der Spiegel v. 13.6.1960, 13 f. Zum Übertritt v. M. in die CDU vgl. auch dessen Schrift: Unser Weg in die Union. Hannover 1961.

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auch als Vordenker fand er hier kaum noch Gehör. Effektiver scheint in dieser Zeit sein Engagement in der Paneuropa-Union gewesen zu sein, deren Bundesvorsitz er 1967 übernahm und bis 1979 innehatte. In den 70er Jahren war Merkatz daneben vor allem im Ostdeutschen Kulturrat aktiv. Am 25. Februar 1982 endete das Leben dieses konservativen Mitgestalters der deutschen Nachkriegsgeschichte, endete ein Lebenswerk, über das Merkatz, den bis zu seinem Tod eine langjährige Freundschaft zu Ernst Jünger verband, einst geäußert hatte: "Mir ist bewußt, daß ich ein bescheidener Repräsentant einer ausklingenden Epoche bin. Aber ich glaube an eine Zukunft, die getragen von neuen Generationen - aus den Nebeln der Gegenwart emporsteigt. Ihr kann man nur dienen, wenn man fest auf dem Sinne beharrt." 56 Der Konservativismus Merkatz' trug zweifellos zeitbedingte Züge, was sich insbesondere in seiner antikommunistischen Grundhaltung und außenpolitischen Westorientierung zeigte, ferner in der strikten Ablehnung einer nivellierten, von fernen Machtapparaten dirigierten Massengesellschaft. Daneben sticht aber auch ein starkes Verharren in den anthropologischen Grundbedingungen und dem Bekenntnis zur überlieferten Rechts- und Werteordnung ins Auge. Gerade dieses Festhalten am Tradierten mochte in den politischen Hochzeiten des DP-Politikers besonders antiquiert gewirkt haben. Heute sind es jedoch genau diese Aspekte, die zunehmend ein neues Licht auf die in ihrer Zeit verspotteten "Gärtnerkonservativen" werfen. Jedenfalls ist Merkatz' Feststellung über den Rationalismus angesichts des Scheiterns der Moderne in der Fortschritts-Sackgasse gültiger denn je: "Rationalismus und der Glaube an die Allmacht der Vernunft sind bis in die geschichtliche Gegenwart an der lebendigen Wirklichkeit im Leben der Völker gescheitert. Die scheinbare Stärke des unitarischen Denkens, nämlich seine Rationalität und Vereinfachung, ist in Wahrheit seine Schwäche und kann, wie die Episode des Nationalsozialismus gezeigt hat, der Verderb eines Volkes sein. Man kann einen Staat auch im technischen Zeitalter nicht wie ein Industriewerk durchrationalisieren. " 57 Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte bestätigt Hans-Joachim von Merkatz daher zumindest auch in dem Punkte, den er in "Die konservative Funktion" für die Zukunft vermutet hatte: Daß es zu einer allgemeinen Abwendung von den Ideologien komme, wozu diese durch eine von innen ansetzende Entideologisierung selbst beitragen. Hingegen ist eine andere Prognose des DP-Theoretikers anzuzweifeln, nämlich, daß "mit der Abkehr von den Ideologien als den entscheidenden Wegweisern in die Zukunft von Peter Paul Nahm, Kultur und Politik (wie Anm. 2), 8. Hans-Joachim v. Merkatz, Föderalismus ohne Mißdeutung und Mißbrauch (wie Anm. 7), 177. 56

57

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Staat und Gesellschaft . . . zwangsläufig die Hinwendung zu einem politischen Denken und Handeln verbunden (ist), das gar nicht anders kann, als die Richtung zum konservativen Verhalten einzuschlagen, auch wenn es sich nicht dieses Namens für den unideologischen Weg in die Zukunft bedient. " 58 Das weiterhin zu konstatierende ungehinderte Ausbreiten der Massengesellschaft, die fortgesetzte politische Zentralisation, die immer stärkere Abhängigkeit von neuen Technologien und das Fehlen einer Strategie zur Bewahrung des ökologischen Gleichgewichtes auf Erden lassen erhebliche Zweifel zu, daß in naher Zukunft die Politik wieder "nach der Richtschnur der existentiellen Grundbedingungen verfahren und die dabei auftretenden Fragen jeweils aus der Logik der Situation heraus regeln" werde, "weil das Verhängnis der ideologischen Irrtümer nicht nur erfahren, sondern auch erkannt worden ist." 59 Allerdings geben gerade diese Entwicklungen Merkatz in einer anderen Feststellung recht: "Der tiefste Grund für die Unsicherheit unserer Zeit - dort, wo sie schlichter Gläubigkeit nicht mehr fähig ist - liegt doch wohl darin, daß sie bei aller Sublimierung und Differenzierung des Denkens nicht mehr (oder noch nicht wieder?) die Kraft zur Vereinigung einer überwölbenden Idee aufbrachte. (. .. ) Diese Wandlung der Bewußtseinsstruktur - die Auflösung der Wirklichkeit in ein Netz schwebender Beziehungen, der Verlust an Stabilität und der Zuwachs an Dynamik - spiegelt sich auch im Sozialen und Politischen." 60 Die Tragik ist nur, daß diese konservative Erkenntnis mehr denn je ignoriert wird.

58 59

60

Hans-Joachim v . Merkatz, Die konservative Funktion (wie Anm. 1), 82.

Ebenda, 83 .

Hans-Joachim v. Merkatz, Die Generationen in der Politik. In: ders. In der Mitte

des 20 . Jahrhunderts, 106.

Namenregister Abendroth, Wolfgang 310 Adenauer, Konrad 291, 304, 308, 311 f., 322 Ahlwardt, Hermann 197 Aigner, Dietrich 286 f . Albrecht, Prinz v. Preußen 44 Alexander, Edgar 281 Alpers, Ludwig 316 Altenstein, Karl Fr. v. Stein zu 70 Althaus, Paul 278 Alvensleben, Albrecht v. 106 Anderson, Eugene N. 29 Andreas, Willy 23 Arndt, Ernst Moritz 294 Arnim, Hans v. 13, 186 Arnim-Boitzenburg, Adolf Heinrich 8, 89-100, 120, 140 f., 147, 149 Arnim-Succow, Heinrich Alexander v. 95,97 Aschoff, Hans-Georg 34 Asmus, Helmut 93 Auerswald, Alfred v. 93, 97, 117 f., 138 August, Prinz 42 Augusta, Prinzessin 58 Auguste Victoria, Prinzessin v. Preußen 226 Baader, Franz v . 165 Bachmann, Johannes 17 Barclay, David E., 55, 57 Barth, Karl 278 Bauer, Bruno 159 Baumgart, Hans 291, 307 Baumgart, Winfried 28 Baxa, Jakob 164 f. Bebei, August 210 Beck, Hermann 38, 51 Beck, Ludwig 261, 269, 286 Behnen, Michael 26 Behrend, Horsternst 299 Below, Georg v. 13, 186

Below-Hohendorf, Alexander v. 109,149 Berdahl, Robert M., 147, 187 Bergsträsser, Ludwig 180 Bernhardi, Theodor v. 131 Bernstein, Eduard 175 Bernstorff, Elise v. 43 Besier, Gerhard 293, 309, 311 Bettelheim, Anton 186 Bethge, Eberhard 285, 288 Bethmann HOllweg, Moritz-August, v. 26 f. Biester, Karl 316 Bigler, Robert 17 Bindewald, Julius 22 Birke, Adolf M. 24 Bismarck, Herbert v. HO, 190 Bismarck, Johanna v. 140, 150 Bismarck, Otto v. 8, 13,22,29,30,31-33, 34, 45, 59, 61, 66, 90, 103, 107, 109, 111 ff., 117,122,125,127 f., 13lff.,135, 137, 139 f., 142, 146 fi., 159 fi., 172 f., 175 f., 178-190, 192 f., 198, 201,212 f., 216,222,224 ff., 228 f., 231, 274, 278 f., 300 Blake, Robert 67 Blankenburg, Moritz, v. 22, 158 f., 186, Blasius, Dirk 21, 111, 125, 157, 163 Bleiber, Helmut 41 Bleich, Eduard 93 Bleichröder, Gerson v. 224, 227 Bluntschli, Johann Caspar 83 Bodelschwingh, Ernst v. 91, 95, 120, 129 Böhm, Franz 236 Böckel, Otto 197 Bonhoeffer, Dietrich 285, 287, 289 Bonin, Wilhelm v. 116 Borcke, Auguste v. 136 Börner, Weert 292, 296, 304 Booms, Hans 188, 248 Borries, Kurt 28 Bosch, Robert 263, 265, 268 f.

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Namenregister

Botzenhardt, Manfred 61 Boveri, Margret 237, 286 Boyens, Annin 299 Bracher, Karl Dietrich 299 Brakelmann, Günter 224 Brandenburg, Erich 24, 37 Brandenburg, Graf Friedrich Wilhelm v. 24 f., 52, 58 f., 62 f., 118 ff., 122, 146 Brederlow, Jörn 21 Bredt, Johann Victor, v. 246 Brentano, Clemens 16 Breuer, Stefan 293, 297 Breywisch, Walter 21 Brose, Eric Dorn 43 Brüggemann 108 f. Brüning, Heinrich 243 ff. 250, 270, 280 Buchheim, Karl 230, 232 Buchstab, Günter 312 Bülow, Bernhard v. 198 Bülow-Cummerow, Ernst v. 138 Büsch, Otto 13, 28 Bunsen, Christian Carl Josias 39, 64, 72 Burke, Edmund 18, 20, 46, 73, 88, 163 f., 171,319 Busch, Otto 94 Bußmann, Walter 30, 38, 111 Camphausen, Ludolf 97 f. Canaris, Wilhelm 285 ff. Canis, Konrad 26, 41, 56 Canitz, Karl v. 42 f., 47, 50, 53 Caprivi, Leo v. 194 ff., 231 Carlyle, Thomas 14, 158, 163 Chalmers, Thomas 158 Chamberlain, Joseph 268 f., 286 Churchill, Randolph 67 Churchill, Winston 286 Christoph, Siegfried 157, 159, 161 Clausewitz, Carl v. 42 Colm, G., 242 Conradi, Helene Marie 58 Craig, Gordon A. 115, 146 Dahlmann, Friedrich Christoph 83,97 Dallinger, Gernot 42 Danneberg, Kurt 23 Dehio, Ludwig 29, 115 Delbrück, Hans 196, 203

Delp, Alfred 285 Dessauer, Maria 286 Deutsch, Harald 264 Dibelius, Otto 212, 310 Dieckmann, Johannes 309 f. Diepenbrock, Clemens v. 57 Dietrich, Hermann 248 Dietz, Hermann 186 Dietze, Constantin, v. 235 f., 239 Dipper, Christof 238 Disraeli, Benjamin 67, 165 Dittmer, Lothar 47 Diwald, Hellmut 22,67,95, 129, 136 Döring-Manteuffel, Anselm 24 Donoso Cortes, Juan 20 Drewitz, Hermann 246 Droz, Jacques 23 Dryander, Ernst v. 231 Duncker, Max 161, 179 Dupeux, Louis 277 Ehlers, Hermann 9, 291-314, 299 Eichmann, Friedrich v. 138 Enax, Karl 112 Ender, Wolfram 281 Engel, Heinrich 193 Engelberg, Ernst 13 f., 90 Engelmann, Hans 219, 233 Engels, Friedrich 208, 210 Ernst-August, König v. Hannover 18 Erdmann, Karl Dietrich 244, 292, 297, 307 Eulenburg-Hertefeld, Philipp zu 200 ff. Faber, Karl Georg 30 Falk, Adalbert 152, 211 f. Falkenhayn, Erich 240 Fenelon, Fran~ois de 88 Fievee, Joseph 18, 46 Fischer, Ferdinand 102, 116 Flechtheim, Ossip Karl 327 f. Fleischer, Manfred Paul 13 Foerster, Friedrich W. 305 Fontane, Theodor 163 Forsthoff, Ernst 166 Frahm, Friedrich 97 Frank, Hans 254 Frank, Walter 198, 207, 210, 214, 226 f. Frantz, Constantin 14

Namenregister Franz, Georg 32 Frege-Abtnaundorf, Arnold v. 192 Freisler, Roland 288 Freund, Michael 235 f. Frick, Wilhelm 253 f., 257, 262 Fricke, Dieter 217 Friedrich 11., Großherzog v. Baden 231 Friedrich 11., König v. Preußen 300 Friedrich Wilhelm 1., König v. Preußen 258 Friedrich Wilhelm III., König v. Preußen 15,46,92 Friedrich Wilhelm IV., König v. Preußen 7,14,20,28,37, 39f., 45, 48 f., 50, 53 ff., 58 ff., 70, 81, 89, 92 f., 97, 99, 102, 105, 113, 115, 117f., 121, 128 f., 131, 138 142, 157, 165 Fritsch, Werner v. 261, 269 Fritzsch, Theodor 197 Früh, Walter 49 , 51 f. FüßI, Wilhelm 70, 75, 80ff., 139 Gabbe, Jörg 330 Gagern, Heinrich v. 56 Galen, Graf v. 249 Gall, Lothar 108, 127, 160 ff., 178 Gauger, Jörg-Dieter 183 Gensichen, M., 135 Gentz, Friedrich v. 86 Georg IH., König von Großbritannien 88 Gerlach, Agnes v. 15 Gerlach, Ernst-Ludwig v. 7, 13-35,43 f., 48, 54, 57, 58, 61 f., 66, 69, 95 f. , 98 f., 100,103,106,108 f., 113, 129 f., 136ff., 140, 142f., 146 f., 149, 152, 158 f., 165, 187, 306 Gerlach, Friedrich v. 31 Gerlach, Hellmuth v. 193, 205 Gerlach, Jakob v. 19, 95, 113 Gerlach, Jürgen v. 15 Gerlach, Leopold v. d. Ä. 14 Gerlach, Leopold v. 15, 22, 26 f., 28, 39, 40, 43, 45, 47 f., 52, 57, 61, 62, 64 ff., 94 f., 98, 105,137,121,123,127 ff., 141 Gerlach, Otto v. 15, 43 Gerlach, Sophie v. 15 Gerlach, Wilhelm v. 15, 43 , 47 f. Geßler, August 104 Goebbels, Joseph 264, 270

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Goerdeler, Carl-Friedrich 8, 235-271, 285 Goerdeler, Julius 239 Göhring, Martin 58 Göring, Hermann 263, 268 ff. Görlitz, Walter 23 Goerres, Joseph 47, 165 Goethe, Johann Wolfgang v. 14 Grass, Fritz 249 Griesheim, Karl Gustav v. 104 Groen van Prinsterer, Guillaume 20 Grolmann, Wilhelm v. 15,46 Groß, Johannes 273 Grotewohl, Otto 309 f., Grüber, Heinrich 310 Grünthai, Günther 24, 27f., 55, 60, 81, 98, 103 ff., 112, 118 ff ., 128, 130, 132, 140 ff. Grundmann, Werner 13 Günther, Gerhard 283 Gurian, Waldemar 281 Gürtner, Franz 257 Haake, Paul 40 Hackenbroch, M., 73 Haenchen, Karl 98, 137 Hahn, Adalbert 176 Hahn, Hans Henning 98 Hahn, Karl-Eckhard 293, 308, 310 Halder, Franz 269 Haller, Carl Ludwig v. 16, 18 ,35,74,157 Halifax, Edward Frederick 286 Hammerstein-Schwartow, Wilhelm v. 187, 191, 193, 195 ff., 200 f., 232 Hansemann, David 97, 138 Hansen, Joseph 94 f., 97 Hardenberg, Karl August v. 15, 46, 89 Harkort, Friedrich Wilhelm 102, 104 Harnack, Adolf v. 232, 278 Harnisch, Hartrnut 89, 99 Hartenstein, Wolfgang 278 Hassei, Pau137, 40, 41, 43 , 46 ff., 51 f, 54, 55 Hassell, Ulrich v. 285 Haza, Albert v. 17 Hecker, Friedrich 91 Heffter, Heinrich 185 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 163 f. Heinemann, Gustav 307 f.,

338

Namenregister

Heinrich, Gerd 91 , 94, 104, 107 Heinrichs, Joseph 26 Helldorf-Bedra, Otto v. 8, 185-203 Hellwege, Heinrich 316, 326 f., 332 Hengstenberg, Ernst-Wilhelm 17,22,47 Herzfeld, Hans 13 Hesekiel, Georg 112 HeB, Rudolf 254, 262 Heuss, Theodor 292 f. Heydemann, Günther 24 Heydt, August Frh. v. d. 129 Hiller von Gaertringen, Friedrich 186 Himmler, Heinrich 268 Hindenburg, Paul v. 247, 249, 280 Hinkeldey, Carl Ludwig v. 158 Hintze, Otto 16 Hippel, Robert v. 239 Hitler, Adolf 6, 9, 183, 236f., 247, 250259, 261, 263, 265, 268 ff., 273 f., 276, 280 f., 284 ff. , 295 f., 298 ff., 305, 312 Hoebink, Hein 331 Hoffmann 143 Hoffmann, Peter 265 Hofmann, Jürgen 97 f. Hohenthai und Bergen, Wilhelm v. 200 Holstein, Friedrich v. 201 Holzgräber, Rudolph 317,330 Hornung, Klaus 183 Huber, Ernst Rudolf 24 f., 29, 38, 80, 92, 95 f., 103, 107 f., 150 f. Huber, Victor Aime, 164 Hugo, Gustav 16, 18 Hugenberg, Alfred 243, 245, 247, 249 f., 279 f., 282 f., 298 Humboldt, Wilhelm v. 266 Irving, Edward 158 Itzstein, Johann Adam 91 Jacoby, Johann 131 Jarcke, Carl Ernst 17, 47 f. Jedele, Eugen 13 Jenke, Manfred 326, 328 Johann, Erzherzog v. Österreich 99 Jones, Larry E. 38, 57, 194, 248 Jordan, Erich 23,27,97, 118 Jung, Edgar Julius 277 Jünger, Ernst 276 f., 333

Kaiser, Jakob 291, 329 Kalinke, Margot 332 Kaltenbrunner, Gerd-Klaus 157, 164, 165 Kaminiski, Kurt 29 Kant, Immanuel 239 Ketteler, Wilhelm Emanuel v. 165 Keynes, John Maynard 270 Klasing, August 199 Klatte, Klaus 23 Kleist-Retzow, Hans-Hugo v. 8, 22, 34, 103, 108 f., 135-155, 158, 187, 196 Kleist-Retzow, Hans Jürgen v. 136 Kleist-Schmenzin, Ewald v. 8, 273-289 Kleist, Hermann v. 274 Kleist, Hermann Conrad v. 289 Kleist, Lili v. 274, 289 Kodalle, Klaus-M., 285 Könitz, Friderike Therese v. 40 Kohl, Horst 113, 149 Koktanek, Anton M., 276 Kolping, Adolf 165 Kondylis, Panajotis 38, 49 Koselleck, Reinhart 90 f. Koser, Reinhold 93, 117 Koszyk, Kurt 23 Krassow, Karl Reinhold v. 107 Kraus, Hans-Christof 13-30, 32 ff., 46 ff., 58, 61, 63, 106 Krauseneck, Johann 42 Kriege, Anneliese 17 Kroll, Frank-Lothar 53 Krüger-Charle, Michael 246, 253 f., 256 ff., 261, 263, 265, 268 Krupp, Gustav 261, 263, 265, 269, Kuehnelt-Leddihn, Erich v. 281 Külz, Wilhelm 243 Künneth, Walter 302 Küttler, Wolfgang 14 Kuhlwein von Rathenow, Alice 288 Kunau, Heinrich 27 Kypke, G.H., 136 Lacordaire, Dominique 73 Ladenberg, Adalbert v. 119f. Lakebrink, Bernhard v. 164 Lamennais, Hugues Felicite Robert de 73 Lammers, Hans Heinrich 252, 257 Lasker, Eduard 107, 161

Namenregister Lassalle, Ferdinand 178 Laubert, Manfred 89 Leo, Heinrich 159 Lenz, Otto 291 Leuchtgens, Heinrich 325 Leuß, Hans 187 Liebknecht, Wilhelm 210 Liliencron, R.v. 40 Lilie, Hanns 288 Limburg-Stirum, Friedrich Wilhelm v. 186 Lloyd, Lord 286 Lockhart, John Gibson 20 Löw, Peter 254, 257 f. Löwenthai, Fritz 29 Lohmann, Theodor 162, 182 f. Looker, Mark S., 67 Louis Ferdinand, Prinz v. Preußen 287 Louis Napoleon 159 Ludendorff, Erich 267 Ludwig XVI., 284 Luther, Hans 246, 247 Luther, Martin 219, 300, 302 Mähl, Hans 89, 93, 96 ff. Maier, Hans 73 Maistre, Joseph de 72 f. Malsen, v. 66 Manteuffel, Edwin, v. 29, 34, 115, 128 f., 146 Manteuffel, Georg August v. 116 Manteuffel, Hans v. 114 Manteuffel, Karl v. 115, 129 Manteuffel, Otto v. 8, 25, 27, 62 f., 64 f., 101, 111-133, 143, 158 Manteuffel-Crossen, Otto v. 197, 199 Manteuffel, Otto Gottlob v. 114 Matern, Hermann 311 Marcks, Erich 23 Marßolek, Inge 239 Martin, Alfred v. 13 Marwitz, Luise v. d. 44 Marx, Karl 164, 166, 208, 210, 224 Mason, Timothy 253 Matthias, Erich 248 ff. Matzerat, Horst 254, 257, 259, 262 Mauz, Gerhard 293 Maximilian 11., König v. Bayern 66 Mehring, Franz 222 f.

339

Meier, Andreas 291 f., 296, 298, 300ff., 308 f., 313 Meinecke, Friedrich 14,18,24,37,41,45, 53, 56, 59 ff., 64 ff., 67, 83, 85, 113 f., 125 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 264 Merbach, Paul A., 186 Merkatz, Hans-Joachim, v. 9, 315-334 Metternich, Clemens Wenzel Lothar, Fürst v. 46, 53, 86 Meyer, Amold Oskar 135 Meyer, Rudolf 159, 173 Meyer-Krahmer, Marianne 239, 250 f., 264 Meyer-Welcker, Hans 242 Meyn, Hermann 326 Minutoli, Julius v. 91, 95 Mitchell, Sally 67 Mitzlaff, P ., 241 Möckl, Karl 55 Möring, Walter 41,55,57,59,62 ff. Möser, Justus 18, 159 Moeller van den Bruck, Arthur 277, 296 ff. Mohler, Armin 276 Moltke, Helmuth v. 228 Mommsen, Hans 238, 253 Montalembert, Charles-Forbes de Tyron, Graf v. 73 Morsey, Rudolf 245, 248 ff. Morris, Warren B. 41, 57 Most, Johann 216 de la Motte-Fouque, Marie 44 Muckermann, Friedrich 281 Mühlenfeld, Hans 316 f., 319, 329 Müller, Adam 17, 74f., 164, 277 Müller, Johann Baptist 183 Müller, Klaus-Jürgen 274 Müffling, Karl v. 42, 44 Mumm, Reinhard 208 Mussolini, Benito 286 Mutschmann, Martin 265 Nahm, Peter Paul 315, 333 Napoleon, Kaiser v. Frankreich 209, 262 Nathusius-Ludom, Philipp v. 187 Naumann, Friedrich 232 Neisser, H., 242 Neumann, Sigmund 37,67

340

Namenregister

Newrnann, John Henry 163 Niekisch, Ernst 276 f., 282, 284 Niemöller, Martin 302, 307 f. Niendorf 219 Nikolaus 1., Zar von Rußland 40,61 f., 63 Nipperdey, Thomas 17, 25, 38,131,157, 161, 163 f., 177 Nobbe, Stephan 26 Nobiling, Karl 154 Nostitz, Oswalt v. 286 Nuschke, Otto 311 Obenaus, Herbert 92 Oertzen, Auguste v. 17 Oertzen, Dietrich v. 200, 207, 214, 217, 224 Olivares, Gaspar de Guzman, Graf v. 66 Orr, William James 60, 62 f. von der Osten, Oscar 275, 282 von der Osten, Anning 275 Oster, Hans 285 Overesch, Manfred 309 f. Pack, Wolfgang 195 Papen, Franz v. 245, 247 ff., 252, 280, 282 f. Parry, J. P. 79 Paulsen, Ingwer 164 Perthes, Otto 96 Peter, Karl Heinrich 230 Petersdorff, Herman, v. 13,37, 135, 137, 142, 155, 157, 187 Pöls, Werner 30 Poschinger, Heinrich v. 65,101,103,113, 143, 189 Priesdorff, Kurt v. 43 f., 61 Prittwitz, Karl Ludwig v. 89, 93 f., 96, 100 Prokesch von Osten, Anton Graf 64 Proudhon, Pierre Joseph 159 Pünder, Hermann 244,247 Pusey, Edward 20 Quaatz, Reinhold 247,249 f. Quehl, Rhyno 143 Rademacher, Walther 248 Radowitz, Joseph-Maria, (Sohn des folgenden R.), 44

Radowitz, Joseph-Maria v. 7, 17, 24f., 37-67, 120, 122, 125, 165 f. Radowitz, Joseph-Maria v. d. Ä., 40 Ranke, Ernst 137, 148, Ranke, Leopold 14, 137 Rantzau, Kuno v. 189 f. Rathenau, Walter 276 Raumer, Karl Otto v. 27, 123 Rauchhaupt, Wilhelm v. 186, 196 Rauschning, Hermann 281 Rebentisch, Dieter 245 Reichenau, Walter v. 257 Renan, Ernest 163 Retallack, James 38, 57, 187, 193 f., 198, 200, 202 Reusch, Paul 246 Richelieu, Armand Jean du Plessis 66 Riehl, Wilhelm Heinrich 126 Ritter, Emil 41 Ritter, Gerhard 29, 108, 235, 237, 240, 242, 244 f., 247ff. 253 f., 256f., 261, 263 f., 267 ff., 271 Rivalier von Meysenbug, Wilhelm v. 40 Rizzo 295 Rochow, Caroline v. 43 f. Rochow, Gustav Adolf v. 91, 120 Rodbertus, Karl 52, 103, 139, 174, Roehl, John C. G., 195, 201 Rohleder, Meinolf 23 Roon, Albrecht, Graf v. 162 Rosedale, Henry 250 Rosenberg, Alfred 281 Rotenhan, Hermann v. 85 Rothfels, Hans 149, 160, 183,257,286 Rothkirch, Malve Gräfin 111 Rüdt v. Collenberg-Bödigheim, Ludwig v.40 Rüstow, Alexander 83 Saegert, Carl Wilhelm 44 Saile, Wolfgang 23, 157, 159, 161 ff., 172 f., 175ff., 180ff. Saint-Just, Louis Antoine de 19 Salin, Edgar 273 Savigny, Friedrich Carl v. 16,18, 21, 28 Savigny, Marie v. 35 Schacht, Hjalmar 257, 261 Schäffle, Albert 167, 174 Scharff, Alexander 58

Namenregister Scheel, Wolfgang 18, 47 Scherzell, Familie v. 42 Scheurig, Bodo 274, 278 f., 281, 285, 288 Schieder, Theodor 30 Schiele, Martin 246 Schiemann, Theodor 196 Schirach, Baldur v. 298 Schlange-Schöningen, Hans v. 246 Schleicher, Kurt v. 245, 247, 249, 283 Schmieder, Heinrich Eduard 33 Schmid, Carlo 292 f., 304 Schmidt, Claudius 316 Schmidt, Udo 295, 299 Schmidt, Walter 26, 41 Schmidt-Hannover, Otto 28 f. Schmitt, Carl 83 f., 296 f. Schneider, Herbert 332 Schönfeld, Friedrich 294 Schoeps, Hans-Joachim 13,14,30,43,46, 84, 165 Schramm, Friedrich 292 f. Schrey 308 Schröder, Wolfgang 135 Schröder 283 Schulz, Gerhard 245, 274 Schumacher, Kurt 329 f. Schumann, Hans Gerd 183 Schwabe, Klaus 235, 239 Schwarz, Hans 276, 285 f. Schwarz, Hans Peter 291 Schwärzel, Helene 239 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 56, 62 ff. Schwarzhaupt, Elisabeth 307 Schwentker, Wolfgang 23,59 Schwerin, Maximilian v. 94, 153, 158 Schwerin-Krosigk, Johann Ludwig v. 252 Seeber, Gustav 14, 135 Seebohm, Hans-Christoph 316, 326 f. Seeckt, Hans v. 242 Seier, Hellmut 111 Senfft-Pilsach, Ernst v. 137 Sethe, Paul 307 Shakespeare, William 16 Sheehan, James J. 38 Siemann, Wolfram 25, 38 Silberner, Edmund 90 f., 131 Sismondi, Jean Charles U!onard Simonde de 163

341

Smidt, Udo 298, 304 Smith, Adam 163 Smith, Paul 67 Somary, Felix 250 Spengler, Oswald 276 Srbik, Heinrich v. 25, 37 Staege, Georg 310 Stalin, Josef 308 Stahl, Friedrich Julius 7, 22, 24, 27 ff., 38, 61, 66, 69-88, 106, 140, 157, 159, 202,277 Stammann, Klara 186 Stamm-Kuhlmann, Thomas 111 Stapel, Wilhelm 276 Stauffenberg, Claus Schenk v. 273 Stauffenberg, Ewald-Heinrich v. 287 Stegerwald, Adam 243, 248 Stein, E . 241 Stein, Lorenz v. 52, 125, 166ff., 175f., 183 Stein, Kar! Frh. v. 89 Stockhausen, August v. 66 Stockmar, Ernst v. 131 Stoecker, Adolf 8, 164, 174, 192, 198, 200 ff., 205-233, 296 Stölzel, Adolf 21 Stockhausen, August v. 63 Strasser, Gregor 249 Strölin, Kar! 254 Strotha, v. 118 Studt, Christoph 111 Sybel, Heinrich v. 37, 63 Taine, Hippolyte 163 Thadden, Adolf v. 326 Thadden, Adolf Ferdinand v. 16,33, 117 Thermo, Auguste v. 114 Thissen, Eugen Theodor 35 Thomas, Georg 269 Thun-Hohenstein, Leo v. 20 Tocqueville, Alexis de 163, 165, 167 f., 183 Tormin, Walter 180 Treitschke, Heinrich v. 13 f., 20 f., 37, 90, 92, 223, 296 Tresckow Henning v. 273 Treue, Wolfgang 180, 216 Treude, Burckhard 23 Treviranus, Gottfried Reinhold 246 f. Twesten, Karl115

342

Namenregister

Ulrich, Anneliese 239 Ulrich, Eduard 198 Utermann, Kurt 141 Valentin, Veit 37 Vansittart, Robert 269, 286 Victoria, Prinzessin 231 Vincke, Georg v. 122 Voegelin, Eric 281 Voltaire 88 Voß, Marie Gräfin v. 44 Voß-Buch, Carl v. 47 Wagener, Hermann 8, 14, 22, 52, 66, 113, 119, 138, 157-183 Wagner, Richard 250 Waldeck, Benedikt 123, 153 Waldersee, Alfred v. 228, 231 Walter, Hans 112 Wandruszka, Adam 30 Weber, Max 205 f., 266 Weber, Rolf 41 Wehler, Hans-Ulrich 38 Weigelt, Klaus 183 Wenke, Hans 300 Wentzel, August 102 Westphalen, Ferdinand v. 123, 142

Westarp, Kuno, Graf v. 248 Wiechern, Hinrich 164 Wigard, Franz 99 Wilhelm 1., König von Preußen 29, 106, 116, 130f., 146,217,229 Wilhelm 11., König von Preußen 226, 228, 232, 278 Wilhelm 111., König von Großbritannien 286 Wilman, C., 219 Wilmowsky, Thilo v. 245 f., 248, 261 Windthorst, Ludwig 32 Winnig, August 285 Wippermann, Carl Wilhelm 112 Wirmer, Joseph 287 Wittgenstein, Wilhelm Ludwig Georg Fürst v. 46 Witzmann, Georg 59 Wolff, Adolf 95, 97, 101, 137 WrangeI, Friedrich Heinrich Ernst v. 118 Wulfmeyer, Hans 17 Young, A. P. 261, 268 f., 271 Zechlin, Egmont 162 Zelinsky, Hartmut 251 Zernack, Klaus 98