Koloniale Gewalt literarisch vermessen: Das Schreiben von Boubacar Boris Diop und Mia Couto im Kontext der afrikanischen Gegenwartsliteratur 9783110723274, 9783110723366, 9783110723434, 2021946461

Against the backdrop of the historic experience of colonialism, this study examines how three novels by the contemporary

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German Pages 328 [330] Year 2021

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Koloniale Gewalt literarisch vermessen: Das Schreiben von Boubacar Boris Diop und Mia Couto im Kontext der afrikanischen Gegenwartsliteratur
 9783110723274, 9783110723366, 9783110723434, 2021946461

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Lucia Weiß Koloniale Gewalt literarisch vermessen

Mimesis

| Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 88

Lucia Weiß

Koloniale Gewalt literarisch vermessen

| Das Schreiben von Boubacar Boris Diop und Mia Couto im Kontext afrikanischer Gegenwartsliteraturen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

ISBN 978-3-11-072327-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072336-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072343-4 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2021946461 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie ist die aktualisierte Fassung meiner Doktorarbeit, die 2019 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation im Fach Romanische Literaturwissenschaft angenommen wurde. Zum Entstehen und Gelingen dieser Arbeit haben zahlreiche Menschen beigetragen – in Berlin, Dakar, Maputo und darüber hinaus. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Ganz besonders danken möchte ich Prof. Dr. Susanne Zepp-Zwirner, die als Erstbetreuerin meine Arbeit mit Enthusiasmus, Weitsicht und intellektuellen Hin­ weisen von unschätzbarem Wert begleitet hat – von der ersten Idee bis zur fertigen Publikation. Ihre wissenschaftliche Haltung, ihr Engagement und ihre Neugier waren und sind mir ein Vorbild. Prof. Dr. Joachim Küpper danke ich für seine wertvollen Anregungen und be­ reichernden Perspektiven und für die Bereitschaft, meine Dissertation als Zweit­ gutachter mitzubetreuen. Außerdem gilt mein Dank Prof. Dr. Susanne Gehrmann vom Institut für Asienund Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Sie hat meine Arbeit von Anfang an durch fachspezifische Impulse bereichert und mir durch die Teil­ nahme an ihrem Kolloquium das konstruktive Gespräch mit anderen Nachwuchs­ forscher:innen ermöglicht. Weiterhin danke ich Dr. Catarina von Wedemeyer für ihre freundschaftliche Unterstützung während meiner Dissertationszeit sowie ihre Mitarbeit in der Prü­ fungskommission. Ebenso möchte ich mich ganz herzlich bei Prof. Mariana Simo­ ni für ihre kurzfristige Bereitschaft und Mitwirkung an der Prüfungskommission bedanken. Die vielschichtigen Diskussionspunkte aller Mitglieder sind in diese Publikation eingeflossen. Überdies habe ich vom kontinuierlichen Austausch mit Angehörigen des In­ stituts für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin profitiert, wofür ich sehr dankbar bin. Besonders danken möchte ich Dr. Diana Gomes Ascenso (1984–2020) für ihre vielgestaltigen Anregungen zu portugiesischsprachigen Lite­ raturen und für ihren freundschaftlichen Beistand während meiner Promotions­ zeit. Sie bleibt auf immer unvergessen. Prof. Dr. Uli Reich danke ich ganz herzlich für seine Unterstützung meiner akademischen Vorhaben und bei der Organisation meines ersten Aufenthalts in Dakar. Diese Arbeit ist zu maßgeblichen Teilen im Senegal entstanden: Prof. Dr. Ibrahima Diagne von der Germanistik der Université Cheikh Anta Diop in Dakar gilt mein ausgesprochener Dank. Prof. Diagne hat mir meinen ersten Aufenthalt https://doi.org/10.1515/9783110723366-201

VI | Danksagung

an der UCAD ermöglicht und war im Folgenden stets ein verlässlicher Ansprech­ partner und scharfsinniger Ratgeber für jegliche Belange meine Forschung be­ treffend – und weit darüber hinaus zu einer Vielzahl von historischen, kulturellen und politischen Aspekten. Ich danke Prof. Dr. Mamadou Ba von der Abteilung Lettres Modernes der UCAD für die Einladung als Gastwissenschaftlerin und seine Einführung in das Kollegium. Die Gespräche mit den Angehörigen der Abteilung haben mir vor al­ lem am Anfang meiner Forschung sehr weitergeholfen. Des Weiteren bedanke ich mich bei den Mitarbeiter:innen des Institut Fondamental de l’Afrique Noir in Dakar, die mich bei der Quellensuche kompetent und freundlich unterstützt haben. Entscheidend bereichert worden ist meine Forschung durch einen einmona­ tigen Aufenthalt am Dakar Institute of African Studies. Die Diskussionen im Se­ minar von Dr. Ibra Sene und die vertiefenden Gespräche mit Dr. Sene waren für mich von großem Wert. Außerdem bedanke ich mich bei Dr. Cheikh Thiam sowie bei Dr. Oumar Sarr vom DIAS. Für Anregungen und die unerschütterliche Freundschaft in allen Lebensla­ gen gilt mein Dank Prof. Dr. Mame Thierno Cissé, Familie Ndiaye für die herzliche Aufnahme und teranga, Petra Kilian und allen Freund:innen, die mir Dakar zu ei­ nem Ort des Willkommens haben werden lassen – insbesondere Ibrahima Sene, der mir immer mit Rat und Tat zur Seite steht. In Mosambik habe ich mit Prof. Dr. Nataniel Ngomane von der Universidade Eduardo Mondlane in Maputo des Öfteren über das Schreiben von Mia Couto dis­ kutiert und so für mich ganz neue Einsichten gewonnen – mein herzlicher Dank dafür. Den Autoren Boubacar Boris Diop und Mia Couto bin ich für einsichtsvolle Gespräche in Berlin über das spannungsreiche Verhältnis von Literatur und Ge­ schichte verbunden. Prof. Dr. Alexander Keese möchte ich für die wertvollen Hinweise zu histo­ rischen Kontexten und den freundschaftlichen Austausch über Geschichte und Politik in West- und Südostafrika danken. Dr. Ibou Coulibaly Diop gebührt mein Dank für den Austausch über Kultur und Geschichte des Senegals sowie für seine freundschaftliche Unterstützung. Ich danke Prof. Dr. Ottmar Ette für die Aufnahme dieses Bandes in die Rei­ he Mimesis. Ebenfalls ein großes Dankeschön an Dr. Ulrike Krauß und Gabrielle Cornefert für die stets kompetente und freundliche Unterstützung von verlegeri­ scher Seite. Die Arbeit meiner Dissertation wurde großzügig von der Stiftung der Deut­ schen Wirtschaft sowie der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert, wo­ für ich unendlich dankbar bin. Der Druck dieser Arbeit wird freundlicherweise

Danksagung

| VII

von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften un­ terstützt. An der Fertigstellung des Manuskripts haben zahlreiche Freund:innen mitge­ wirkt, bei denen ich mich bedanken möchte: Juliane Beck, Sophie Bornscheuer, Stephan Drehmann, Annette Kufner, Jens Lehmann, Dr. Farid Namane, Dr. des. Sophie Schwarzmaier und Eva Wiegert. Besonderen Dank auch an Hanna Dede, Anja Klein, Lamine Niang, Steve Olo­ tu, Ilona Schwägerl, Paul Ziesch und an meine Familie für Geduld, Offenheit und Vertrauen. Ich danke aus tiefstem Herzen meiner Mutter, Dr. Angela Weiß, die so vieles erst möglich gemacht hat. Ihr sei diese Arbeit gewidmet.

Berlin/Dakar, im August 2021

Inhalt Danksagung | V Abkürzungsverzeichnis | XI 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4

Einleitung | 1 Zugriff der Studie und Textauswahl | 5 Geschichtliche und biographische Kontexte | 10 Boubacar Boris Diop und der Senegal | 12 Mia Couto und Mosambik | 16 Forschungsstand | 21 Forschungsüberblick zu Boubacar Boris Diops Schreiben | 22 Forschungsüberblick zu Mia Coutos Schreiben | 32 Gliederung der Studie | 42

2

Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre von Boubacar Boris Diop | 45 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman | 47 Lineare Rahmenzeit und Anlage der fantastischen Erzählweise | 61 Geschichte(n) erzählen: Verfahren der Hypostasierung | 73 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit und die Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal | 88 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse | 114 Zwischenfazit | 125

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo von Mia Couto | 129 Der Mensch als Objekt in Kolonialismus, Sozialismus und Kapitalismus | 130 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie | 140 Homem Novo, Macht und Gewalt am nachkolonialen Körper | 157 Biographische Erkundung: Gesellschaftliche Fragmentierungen in der Familie | 171 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 184 Zwischenfazit | 204

X | Inhalt

4

4.6

Den Genozid benennen, Unrecht erzählen: Über Recht im ästhetischen Raum in Murambi von Boubacar Boris Diop | 209 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda | 210 Geschichten Ruandas: Die sprachliche Konstitution von Wirklichkeit vor 1994 | 222 Die Familiengeschichte: Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis | 235 Wie über Genozid sprechen | 250 Fiktionalisierte Zeugenschaft: Eine psychologische Rekonstruktion des Genozids | 268 Zwischenfazit | 282

5

Epilog | 287

6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3

Literaturverzeichnis | 295 Primärliteratur von Boubacar Boris Diop | 295 Romane | 295 Essays | 295 Erzählungen | 296 Interviews und Zeitungsbeiträge | 296 Primärliteratur von Mia Couto | 296 Romane | 296 Erzählungen | 297 Kinder- und Jugendliteratur | 297 Gedichte | 297 Crónicas und Essays | 297 Interviews und Zeitungsbeiträge | 298 Primärliteratur anderer Autor:innen | 298 Sekundärliteratur | 300 Sekundärliteratur zu Boubacar Boris Diop | 300 Sekundärliteratur zu Mia Couto | 302 Sekundärliteratur zu anderen Autor:innen, Geschichte, Literaturtheorie, Philosophie | 305 Zeitungsartikel, Nachschlagewerke, Fotos, Soziale Medien | 315

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

6.4.4

Abkürzungsverzeichnis Häufig verwendete Abkürzungen LC MU UV UCAD UN UNAMIR MRND FPR FRELIMO RENAMO ONUMOZ

Le Cavalier et son ombre Murambi O último voo do flamingo Université Cheikh Anta Diop United Nations United Nations Assistance Mission for Rwanda Mouvement Républicain National pour la Démocratie et le Développement Front Patriotique Rwandais Frente de Libertação de Moçambique Resistência Nacional Moçambicana Operação das Nações Unidas em Moçambique

https://doi.org/10.1515/9783110723366-202

1 Einleitung 1960 wurden die meisten französischen Kolonien unabhängig, erst 15 Jahre spä­ ter, 1975, die portugiesischen. Das Ende der Kolonialherrschaft bedeutete eben­ so das Ende von aufoktroyierter Verwaltung, Zwangsarbeit sowie von physischer und psychischer Tortur durch die Kolonialherren¹ – alles Praktiken, die sich wohl recht unstrittig als Gewalt fassen lassen. Dennoch endete mit dem Zusammen­ bruch der gewaltvollen Kolonialherrschaft nicht die koloniale Gewalt schlecht­ hin: Sie hat sich tief eingeschrieben in das kollektive Erinnern der Gesellschaf­ ten, in das Sprechen und in die Körper der Menschen – und sie schreibt sich fort in nachkolonialer Gewalt², ohne dass die eine in der anderen ganz aufginge. Sehr nachdrücklich verweist darauf das Schreiben zweier der bekanntesten zeitgenös­ sischen Autoren Afrikas: des Senegalesen Boubacar Boris Diop und des Mosam­ bikaners Mia Couto. Die vorliegende Studie deutet drei Romane³ – zwei von Diop und einen von Couto – vor dem Horizont der afrikanisch-europäischen historischen Erfahrung als literarische Vermessung von kolonialer Gewalt. Die ausgewählten Texte behan­ deln Kolonial- und Bürgerkriege, Genozid, Vergewaltigung und Folter. Überdies zeichnen sie sich dadurch aus, dass stets eine Suchbewegung den Plot struktu­

1 Ich verwende die Begriffe «De-/Kolonialisierung» (statt das v. a. in älteren Publikationen übli­ che «Kolonisierung»), «kolonialisieren», «Kolonialisierte» sowie für die Betreiber:innen und An­ hänger:innen des Kolonialismus «Kolonialist:innen» oder das gebräuchliche «Kolonialherren» (und nicht «Kolonisator»), das die männliche Dominanz in den kolonialen Unternehmungen un­ terstreicht. Der Duden grenzt «kolonialisieren» – in koloniale Abhängigkeit bringen – von «kolo­ nisieren» – ein Gebiet zu einer Kolonie machen; es urbar/besiedelbar machen – ab. Vgl. Duden­ redaktion: kolonialisieren/kolonisieren. In: Duden Online. (Sämtliche Online-Nachweise werden im Literaturverzeichnis geführt.) Des Weiteren versuche ich, durchgehend eine gender-integrative Schreibweise zu verwenden, wobei es z. T. bei feststehenden Bezeichnungen vereinzelt Abweichungen geben kann und das sog. generische Maskulinum beibehalten wird. 2 Ich verwende «nachkolonial» zur historischen Einordnung – jenseits der Theorieentwürfe der postcolonial studies. 3 Die Arbeit konzentriert sich auf drei Romane, die jeweils zu den populärsten der beiden Au­ toren gehören: – Boubacar Boris Diop: Le Cavalier et son ombre. Abidjan: Nouvelles Éd. Ivoiriennes 1999 [1997]. Verweise im Fließtext und in den Fußnoten werden durch «LC» und Angabe der Sei­ tenzahl angegeben. – Mia Couto: O último voo do flamingo. Lissabon: Caminho 2015 [2000]. Verweise durch «UV» und Seitenzahl. – Boubacar Boris Diop: Murambi, le livre des ossements. Neuausgabe mit einem Nachwort des Autors. Paris: Zulma 2014 [2011]. Verweise durch «MU» und Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783110723366-001

2 | 1 Einleitung

riert – eine Ermittlung, die mit dem Leben der Protagonist:innen verwoben ist. Diese geht jedoch über den einzelnen Fall hinaus. Jenseits der gut sichtbaren, zu­ meist physischen, Gewalt setzen sich die Romane von Diop und Couto mit den Tiefenwirkungen der kolonialen Gewaltherrschaft auseinander, die bis weit in die Gegenwart hineinragen, so die These. Dabei beschränken sich die Texte nicht et­ wa darauf, afrikanische Realitäten als bloß gewaltvoll darzustellen. Vielmehr zielt die ästhetische Erfahrung auf ein ethisches Moment, indem stets eine Perspektive für die Zukunft gesucht wird: Im Erzählen kann und soll jene Gewalt, die tief ein­ gedrungen ist in die verschiedenen Sphären des Lebens, nicht als solche belassen werden.⁴ Das Verstehen dessen, was passiert ist, soll dazu beitragen, Handlungs­ spielräume erkennbar zu machen. Eine komparatistische Studie zu Diop und Couto, zwei der bekanntesten zeit­ genössischen Autoren Afrikas, liegt bislang nicht vor. Die doppelte Perspektive auf die Romane von Diop und Couto – deren Verhandlung von Gewalt als zentrales Moment sowie die autopoetische Reflexion über das Literarische als privilegier­ ten Modus dafür – hat noch keine umfassende Beachtung erfahren. Die Autoren schreiben in Französisch beziehungsweise Portugiesisch und damit in Sprachen, die auch Teil der europäischen Romania sind⁵; sie werden in diesem Fachgebiet bisher aber kaum wahrgenommen.⁶ Insofern versteht sich die vorliegende Studie

4 Vgl. für eine ebenfalls kritische Perspektive auf den Umgang mit dem Klischee des ‹gewalt­ vollen Afrikas› in den Literaturwissenschaften sowie zum Vorwurf des Eurozentrismus Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe. Boris Diop, ben Jellohn, Khatibi. New York: Fordham University Press 2009, S. 4 sowie S. 195 und insb. Anm. 9. 5 Diops Texte, die in dieser Studie analysiert werden, sind auf Französisch, Mia Coutos auf Por­ tugiesisch geschrieben. Zuweilen ist in der Forschung von Exophonie die Rede. Vgl. exempla­ risch Susan Arndt/Dirk Naguschewski u. a. (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Litera­ tur. Berlin: Kadmos 2007. Vor dem Hintergrund der Kolonialvergangenheit wird immer wieder die Frage an die Autoren gerichtet, warum sie in europäischen Sprachen schrieben. Arndt et al. wei­ sen zurecht darauf hin, dass diese Diskussion auch für die europäischen Literaturen fruchtbar ist, insofern als «es sich auch unter europäischen Verhältnissen keineswegs immer von selbst versteht, wer in welcher Sprache schreibt.» Ebda., S. 11. 6 Texte afrikanischer Autor:innen werden in der Romanistik in Deutschland noch immer ver­ gleichsweise wenig wahrgenommen. Vgl. für jüngste Bewegungen, diesem Mangel entgegenzu­ treten beispielhaft das Themenheft Dirk Naguschewski (Hg.): Afro-Romania. Neue Romania 23 (2000). «Es war an der Zeit», schreibt der Herausgeber schon damals in seiner Einleitung. Vgl. ebda., S. 3. Außerdem beherbergte das Zentrum für Literaturforschung in Berlin von 2002–2005 das Forschungsprojekt «Afrika – Europa. Transporte, Übersetzungen, Migrationen des Literari­ schen» (Leitung: Dirk Naguschewski, Susan Arndt, Robert Stockhammer; Förderung: Volkswa­ gen-Stiftung). Auf dem Romanistentag 2017 in Zürich nahmen zwei von acht Sektionen der Lite­ raturwissenschaft explizit Afrika mit in den Blick («Unerhörte Stimmen aus der Afro-Romania. Genderdiskurse im Kontext von Selbst- und Fremdwahrnehmung ‹nach› der Migration» sowie

1 Einleitung

|

3

auch als Impuls für die Romanische Philologie⁷, deren Kanon immer noch sehr stark von einem nationalliterarischen Begriff geprägt ist.⁸ In der bisherigen Forschung⁹ ist das Schreiben der beiden Autoren, die auch als Journalisten und Essayisten tätig sind, als ästhetisches afro-avantgardisti­ sches Projekt (im Falle Diops¹⁰) respektive als postmoderne Verhandlung von Nationenbildung (im Falle Coutos¹¹) gelesen worden. Dabei dominieren die Zu­

«Transkulturationen des Pikaresken in den romanischsprachigen Literaturen Afrikas und Latein­ amerikas»). 7 Vgl. dazu Susanne Gehrmann: Die frankophonen Literaturen Afrikas zwischen Romanistik und Afrikanistik. Polemik und Plädoyer. Vortrag anlässlich des Romanistentages an der HU Berlin, 28.9.2011, S. 28–40. 8 «Als Geschichte der Transformation von Zugehörigkeiten vermag die europäisch-jüdische Ge­ schichte Analysekategorien zu liefern, die die Erforschung anderer Zugehörigkeiten und ihrer Beziehungen zueinander ermöglichen.» Susanne Zepp: Herkunft und Textkultur. Über jüdische Erfahrungswelten in romanischen Literaturen 1499–1627. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 9 f. Man denke in diesem Zusammenhang auch an jüdische Literaturen, weil sie allzu oft nicht in den Kanon westlicher Philologien integriert werden. Vgl. dazu Susanne Zepp u. a. (Hg.): Disseminating Jewish Literatures. Knowledge, Research, Curricula. Berlin: De Gruyter 2020. Bezüglich der marginalen – selbstverständlich unter unterschiedlichen historischen Vorzeichen gewachsenen – Situation jüdischer und afrikanischer Literaturen im literarischen Kanon gilt es das gemeinsame Moment, nämlich die auf Herder beruhende national orientierte Einteilung der Philologien, zu überwinden. Vgl. Johann Gottfried Herder: Ueber die Neuere Deutsche Literatur. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Herausgegeben. v. Bernhard Suphan, Hildesheim: Olms 1967. Vgl. für eine ähnliche Perspektivierung Susan Arndt, Dirk Naguschewski, Robert Stockhammer: Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache. In: dies. u. a. (Hg.): Exophonie. AndersSprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kadmos 2007, S. 7–27. Für eine kritische Diskussion des Na­ tionalparadigmas in den Literaturwissenschaften vgl. insbesondere die allgemeiner orientierten Beiträge von Jürgen Fohrmann, Sigrid Weigel, Thomas Macho, Aleida Assmann und Jacques Le Rider in: Corina Caduff/Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagina­ tion und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Wilhelm Fink 2004. 9 Während die Forschung über Couto in Portugiesisch, aber auch sehr viel in Englisch gehalten ist, beschränkt sich die Forschung über Diop fast ausschließlich auf französischsprachige Bei­ träge. Eine Ausnahme stellt die bereits zitierte Studie von Nasrin Qader dar. Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe. 10 Es ist über Diops Schreiben meines Wissens bisher überhaupt nur eine einzige Monographie erschienen. Vgl. Jean Sob: L’impératif romanesque de Boubacar Boris Diop. Ivry/Seine: Éditions A3 2007. 11 Vgl. Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist. Truth, Orality, and Gender in the Work of Mia Couto. Lewisburg: Bucknell University Press 2004 und die Aufsätze zu Couto in dem Sammelband von Ana Mafalda Leite/Rita Chaves u. a. (Hg.): Narrating the Postcolonial Nation. Mapping Angola and Mozambique. Oxford u. a.: Peter Lang 2014 sowie den dazugehörigen Interviewband dies. (Hg.): Speaking the Postcolonial Nation. Interviews with Writers from Angola and Mozambique. Oxford u. a.: Peter Lang 2014.

4 | 1 Einleitung

schreibungen an beide Werke als postkolonial¹² beziehungsweise postmodern, wobei die inhaltliche Fassung dieser Begriffe sehr unterschiedlich ausfällt.¹³ Die bisher verfügbaren Studien stellen wichtige Referenzen zu einzelnen Aspekten dar, auf die sich die vorliegende Arbeit an entsprechenden Stellen beruft. Der Zugriff der hier vorliegenden Studie versteht das Schreiben der beiden Autoren als eine Reflexion kolonialer Gewalt, deren Spezifik¹⁴ darin liegt, die Be­ deutung des Phänomens Gewalt in einem umfassenden Sinn zu erkunden und darüber hinaus im poetologischen Kommentar das Erzählen als einen Modus der Kritik zu denken. Jeder der Texte, so die These, fokalisiert eine unterschiedliche Sphäre der Gewalterfahrung. Entsprechend folgen die drei Analysekapitel den er­ kenntnisleitenden Begriffen ‹Zeit› in Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre, ‹Körper› in Mia Coutos Roman O último voo do flamingo und ‹Sprache› in Diops Roman Murambi. Die Einzelanalysen sind historisch rückgebunden, so­ weit die Romane auf die Geschichte¹⁵ verweisen. Die im Detail relevanten Kon­ texte mit Verweisen auf die entsprechende Sekundärliteratur werden zu Beginn der jeweiligen Hauptkapitel eingeführt. Auf diese Weise sollen nicht etwa Refe­ renzen in dokumentarischer Lesart nachgewiesen, sondern vielmehr Bedeutung und Funktion der Geschichtsbezüge im Wortkunstwerk freigelegt werden.

12 Robert Young hat einen historisch orientierten Überblick über die Entwicklung des postko­ lonialen Denkens vorgelegt. Er geht dabei sowohl auf die weltpolitisch relevanten Kontexte ein, die die intellektuellen Entwicklungen rund um den Postkolonialismus grundieren, als auch auf die darauffolgende Geschichte der Disziplinierung dieser Strömungen. Vgl. Robert Young: Post­ colonialism: An Historical Introduction. 15. Jubiläumsausgabe. Chichester: Wiley-Blackwell 2016. Vgl. für eine speziell auf ein deutsches akademisches Publikum abgestimmte Einführung María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript 2005. 13 Diese Begriffsunschärfe, die immer wieder auf Kosten genauerer Analysen der literarischen Texte geht, wird im Rahmen des Forschungsüberblicks noch näher diskutiert. 14 Vor diesem Hintergrund halte ich eine weiter Begriffsdiskussion über etwaige postkoloniale Qualitäten der ausgewählten Texte für nicht ertragreich. Einen ähnliche Haltung verfolgt Nasrin Qader: Im Anschluss an Jean-Luc Nancy geht es ihr um die «singularity in terms of the relation­ ship between time, subject, and speech and outside the logic of particularity. This notion of sin­ gularity requires that we think each text and figure within the text singularly, resisting as much as possible categories of culture as colonial, postcolonial, precolonial, etc.» Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, S. 195; eigene Hervorhebung. 15 Die von mir erarbeitete Studie ist den Einsichten des New Historicism – im Sinne einer Lektüre­ praxis – verpflichtet. Geschichte und Literatur werden als Texte aufgefasst, die wechselseitig und untrennbar miteinander verbundenen sind. Vgl. Catherine Gallagher/Stephen Greenblatt: Prac­ ticing New Historicism. Chicago: University of Chicago Press u. a. 2000 sowie Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000.

1.1 Zugriff der Studie und Textauswahl |

5

Im Folgenden wird zunächst der Titel dieser Studie – Koloniale Gewalt litera­ risch vermessen – als Erkenntnishorizont näher erläutert. Anschließend werden die Autoren vorgestellt sowie die ausgewählten Primärtexte innerhalb des jewei­ ligen Werkzusammenhangs situiert. Sodann wird ein kurzer historischer Über­ blick zur Geschichte Senegals und Mosambiks gegeben. Auf diese Weise sollen das Schreiben von Diop und Couto im Hinblick auf die Geschichte ihrer jeweili­ gen Bezugsregionen verortet und Konvergenzen innerafrikanischer Entwicklun­ gen nach, aber auch auf dem Weg zur Unabhängigkeit, deutlich werden. Zum Abschluss folgt eine Übersicht zum Forschungsstand, zum methodischen Zugriff und zur Gliederung der vorliegenden Arbeit.

1.1 Zugriff der Studie und Textauswahl Ohne über den historischen Einzelfall hinwegzugehen, lässt sich festhalten, dass das System des europäischen Kolonialismus in fundamentaler Weise auf Gewalt beruhte.¹⁶ Die rassistische Weltsicht – umschrieben als mission civilisa­ trice¹⁷ – wird in dieser Arbeit im Anschluss an Gayatri Spivak als epistemische Gewalt verstanden.¹⁸ Sie rechtfertigte im kolonialen Diskurs gewaltsame Eingriffe an den Menschen in den kolonialisierten Gebieten, die dauerhafte Ausbeutung zu stabilisieren vermochten.¹⁹ Die Textanalysen in dieser Studie konzentrieren sich

16 Vgl. etwa Michael Mann: Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus. In: Mihran Da­ bag/Horst Gründer u. a. (Hg.): Kolonialdiskurs und Genozid. München: Fink 2004, S. 111–135. 17 «Gerade in sich als ‹modern› verstehenden Kolonialstaaten (dies galt gegenüber den ‹einge­ borenen› Gesellschaften als erwiesen) hieß Erziehen Zivilisieren und, umgekehrt, legitimierte Zivilisieren strenges Erziehen. Die mission civilisatrice war und ist bisweilen noch heute Recht­ fertigung für gewaltsames Eingreifen in Staaten und Gesellschaften, in ‹Körper› und ‹Geist› der Menschen, die außerhalb der sogenannten ‹zivilisierten› Welt, also speziell der Kultur- und Wer­ tegemeinschaft der ‹nordwestlichen› Hemisphäre, gestellt werden beziehungsweise leben.» Eb­ da., S. 114 f. 18 Vgl. Gayatri Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson (Hg.): Marxism and the Inter­ pretation of Culture. Basingstoke: Macmillan Education 1988, S. 271–313. 19 «Während der gesamten Periode des modernen Kolonialismus, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzte und fast genau zwei Jahrhunderte andauerte, scheint ein extrem hohes Maß von, aber auch eine maßlose Bereitschaft zur Gewalt die Herrschaftspraxis der sich formie­ renden, ausgereiften wie niedergehenden Kolonialregime bestimmt zu haben. Letztlich aber ist die Gewaltbereitschaft vielleicht vor allem auf die Erklärung von Bedrohungen und gefährdeter Sicherheit zurückzuführen. Beamte und Bedienstete seiner Institutionen, Angestellte von Han­ dels- und Wirtschaftsunternehmen sowie Siedler lebten in der Beherrschungskolonie in einer permanenten Belagerungsmentalität, sie waren sich der schwachen Basis ihrer Herrschaft und Anwesenheit in dem entsprechenden Land durchaus bewußt. Institutionell wie personell war

6 | 1 Einleitung

darauf, wie diese Eingriffe auf den Analyseebenen von Zeit, Körper und Sprache nachvollzogen werden können. Im Sinne des Erkenntnisinteresses der vorliegen­ den Arbeit wird der Begriff «Gewalt» in einem weiten Sinne verstanden.²⁰ Dies legen die ausgewählten literarischen Texte selbst nahe, denn sie denken im Mo­ dus des Ästhetischen darüber nach, was koloniale Gewalt auf lange Sicht recht eigentlich bedeutet.²¹ Den Romanen und auch meiner Studie geht es allerdings nicht darum, simplifizierende Kausalitäten zwischen der kolonialen Vergangen­ heit und der nachkolonialen Gegenwart und Zukunft afrikanischer Länder wie dem Senegal, Ruanda und Mosambik vorzuschlagen. Von «kolonialer Gewalt» in senegalesischer und mosambikanischer Literatur zu sprechen, ruft den für die postcolonial studies fundamentalen Text von Frantz Fanon auf: ‹De la violence›, das erste Kapitel seines Buches Les damnés de la terre aus dem Jahr 1961, das stark von Fanons Erfahrung in Algerien geprägt war.²² Fa­ non hat dort Gewalt als antikoloniale Revolution bestimmt.²³ Es geht in meiner Studie jedoch nicht darum, (historische) Gewaltkonzeptionen, wie sie etwa im

der Kolonialstaat ein schwacher Staat, der durch ein Übermaß an Gewalt sein legitimatorisches Defizit zu kompensieren versuchte.» Ebda., S. 116. 20 Vgl. für einen Abriss der begrifflichen Debatte in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie einen Überblick zu der noch jungen Disziplin der Gewaltforschung Felix Schnell: Gewalt und Gewaltforschung (Version: 1.0). In: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.11.2014, S. 1–23. 21 Am ehesten ließe sich noch eine gewisse Nähe zum mehrfach-dimensionierten Gewalt-Begriff Johan Galtungs konstatieren. Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt 1975. Galtung unterscheidet neben direkter auch strukturelle und kulturelle Gewalt. Galtung versteht Gewalt grundsätzlich als eine Reduktion des menschlichen Potentials, einen «Abstand» zwischen einem Ist- und einem Könnte-Zustand. Strukturelle Gewalt ist prinzipiell als Ungleichheit, «vor al­ lem Ungleichheit in der Verteilung der Macht» zu fassen. Vgl. ebda., S. 19. Weiterhin stellt Galtung fest: «Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) – die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren.» Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Übersetzt von Hajo Schmidt. Opladen: Leske und Budrich 1998, S. 341 und vgl. dazu weiterhin ders.: Kulturelle Gewalt. In: Der Bürger im Staat 43, Nr. 2 (1993), S. 106–112. Interessant für den vorliegenden Kontext ist der Hinweis Galtungs, dass es bei kultureller Gewalt gerade um eine Langfristdimension geht. Vgl. ebda., S. 108. 22 Frantz Fanon: Les damnés de la terre. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre (1961) und von Alice Cherki sowie einem Nachwort von Mohammed Harbi (2002). Paris: La Découverte 2002 [1961], S. 39–103. 23 «L[l] décolonisation est toujours un phénomène violent. [. . . ] Présentée dans sa nudité, la dé­ colonisation laisse deviner à travers tous ses pores, des boulets rouges, des couteaux sanglants. Car si les derniers doivent être les premiers, ce ne peut être qu’à la suite d’un affrontement décisif et meurtrier des deux protagonistes [le colon et le colonisé].» Ebd., S. 39–41. Vgl. für eine histo­

1.1 Zugriff der Studie und Textauswahl | 7

Umfeld der Négritude und der Unabhängigkeitsbewegungen oder in den späteren postcolonial studies diskutiert wurden²⁴, auf die literarischen Texte anzuwenden. Im Gegenteil gehen die Analysen von den literarischen Texten selbst aus²⁵ und vollziehen nach, wie Gewalt dort dargestellt wird. Dabei soll aber auch kein theo­ retischer Gewaltbegriff überprüft oder neu entwickelt werden.²⁶ Vielmehr wird herausgearbeitet, inwiefern die Wortkunstwerke ein Modus der kritischen Aus­ einandersetzung mit gewaltvoller Geschichte und Gegenwart sind. In den Einzelanalysen dieser Studie bezieht sich «Gewalt» also auf die Spezi­ fik ihrer literarischen Repräsentation. Das heißt, es wird untersucht, wie Gewalt in der künstlerischen Wirklichkeitsdarstellung funktioniert: Vor dem Hintergrund eines literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses liegt ein Augenmerk dar­ auf, inwiefern auf Formgeschichte(n) Bezug genommen und diese auch erneuert werden. Die koloniale Gewalt wurde unfreiwillig erlitten, insofern mag die im Titel die­ ser Studie eingeführte Rede von einer «Vermessung» eben dieser Gewalt den Vor­ wurf auf sich ziehen, eine zu einseitige, ja im schlimmsten Fall verengende Per­ spektive einzunehmen. Dies aber ist nicht der Fall, ist doch gerade die Beziehung zwischen «Kolonisatoren und Kolonisierten» stets Teil des kolonialen Machtge­ füges²⁷ – das die Kolonialherren gerade durch ihr unmenschliches Tun ebenfalls entmenschlicht, wie Aimé Césaire 1955 festgehalten hat.²⁸ Die ausgewählten Texte rische Kontextualisierung Fanons, auch mit Blick auf die späteren postcolonial studies, Robert Young: Postcolonialism, S. 274–283 und zu besagtem Kapitel Fanons über Gewalt insb. ab S. 280. 24 Vgl. etwa die historische Analyse postkolonialer politischer Konfigurationen in Afrika in Achille Mbembe: Necropolitics. In: Public Culture 15, Nr. 1 (2003), S. 11–40 sowie in einem umfas­ senderen Sinn zu den Kontinuitäten von kolonialer und postkolonialer Gewalt Achille Mbembe: De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine. Paris: Kartha­ la 2000 sowie Achille Mbembe: Sortir de la grande nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée. Paris: La Découverte 2010. 25 «Der Ansatz soll nichts Allgemeines sein, was von außen an den Gegenstand herangetragen wird – er soll aus ihm herausgewachsen sein, ein Stück von ihm selbst.» Erich Auerbach: Philolo­ gie der Weltliteratur. In: Walter Muschg/Emil Steiger (Hg.): Weltliteratur: Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Bern: Francke 1952, S. 39–50, hier S. 49. 26 Aus diesem Grund wird auch auf eine weitere begriffliche Diskussion verzichtet. 27 Unter anderem hat Albert Memmi auf die relatorische Konfiguration von «Kolonisator/Kolo­ nisiertem» hingewiesen. Vgl. Albert Memmi: Portrait du colonisé précédé de portrait du colonisa­ teur. Paris: Gallimard 2010 [1957]. In diese Richtung weitergedacht hat Homi Bhabha mit seinem Konzept der mimicry. Es stellt heraus, dass eine binäre Einteilung in aktiv/passiv respektive «Ko­ lonisator/Kolonisierter» prinzipiell zu vereinfachend ist. «[C]olonial mimicry is the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of difference that is almost the same, but not quite. Which is to say, that the discourse of mimicry is constructed around an ambivalence ; in order to be effective, mimicry must continually produce its slippage, its excess, its difference.» Homi Bhabha: The Location of Culture. London u. a.: Routledge 1994, S. 86; Hervorhebung im Original.

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von Diop und Couto schreiten die langfristigen Wirkungen von kolonialer Gewalt ab: Die Zeit der Handlung liegt in den Romanen in der nachkolonialen Periode. Dort werden werden unterschiedliche Chronotope in den Blick genommen, die für historische Gewaltereignisse relevant waren: Aufstände gegen die Kolonialmacht in Senegambia im 19. Jahrhundert und ihr Echo im unabhängigen Senegal in Le Cavalier et son ombre, der blutige Bürgerkrieg in Mosambik von den 1970er bis 1990er Jahren in O último voo do flamingo, die genozidale und auf rassistische Pa­ radigmen Bezug nehmende Gewalt in Ruanda und Burundi im 20. Jahrhundert in Murambi. Über die Ereignisgeschichte hinaus entwickeln die Romane eine Perspektive auf Gewalt als dynamisches Phänomen, das sich tief in das Leben einschreibt und sich in der Ästhetik der Romane in verschiedensten Formen manifestiert, ja auf jeweils eigene Weise hypostasiert: In der Sphäre der Zeit, oder in der Bewegung zwischen Historiographie und Mythos in Le Cavalier, in der Sphäre des Körpers oder in der Bewegung zwischen Ignoranz und Gier in O último voo sowie schließ­ lich in der Sphäre der Sprache oder in der Bewegung zwischen Erinnerung und Zeugenschaft in Murambi. Die im Titel diese Studie aufgerufene Praxis des Vermessens verweist in zweifacher Hinsicht auf die Kolonialzeit und möchte gleichzeitig den künstle­ risch-kritischen Kommentar der beiden untersuchten Autoren dazu aufnehmen: Europäische Mächte haben Land vermessen und den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt. Darüber hinaus deutet das Vermessen auch auf die (pseu­ do)wissenschaftliche Einbettung der kolonialen Unternehmungen und ihren Anspruch auf Genauigkeit und damit Wahrhaftigkeit hin. Insbesondere Anthro­ pologie, Ethnologie und Medizin fundierten den rassistischen Diskurs Europas.²⁹ Die ausgewählten Texte von Diop und Couto fertigen nun – im metaphori­ schen Sinne – eine eigene Kartierung der kolonialen Gewalt und ihrer Nachwir­ kungen an. In diesem Sinne ist «vermessen» im Titel der vorliegenden Studie als ein Akt der Wiederaneignung zu verstehen. In poetologischer Hinsicht entwerfen die Texte je eigene Skizzen vom Erzählen. Ihre komplexen künstlerischen Verfah­ ren nehmen auf verschiedenste Strömungen Bezug und erzeugen in performati­ ver Weise Gegendiskurse³⁰. Insofern wird hier auch tatsächlich eine eigene Kar­ tierung des weltliterarischen Feldes vorgenommen.

28 Vgl. Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Suivi de Discours sur la négritude. Paris: Pré­ sence Africaine 2004 [1955/1987]. 29 Vgl. Achille Mbembe: Critique de la raison nègre. Paris: La Découverte 2013. 30 Vgl. Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Übersetzung aus dem Französischen von Micha­ el Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Herausgabe von Daniel Defert/François Ewald/Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.

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Die ausgewählten Romane des senegalesischen Schriftstellers Boubacar Bo­ ris Diop markieren markante Momente in seinem Œuvre: Le Cavalier et son ombre erschien als sein viertes Buch. Bereits in seinem Debütroman Le temps de Ta­ mango sind ästhetische Grundprinzipien angelegt, die in den Folgeromanen wei­ ter elaboriert wurden. Dazu gehören die multiple Fokalisierung, der Rekurs auf mythische Stoffe, ein metaphernreicher und in der Forschung zum Teil als «ba­ rock» eingestufter Schreibstil.³¹ Le Cavalier bildet in dieser Hinsicht einen Höhe­ punkt: Der in herausragender Weise durchkomponierte Roman arbeitet mit virtu­ os verketteten mise en abymes und wechselnden Erzählperspektiven sowie Spie­ gelungen von Form und Inhalt, die die Leserin vor eine anspruchsvolle Rezepti­ onsaufgabe stellen. Der im Jahr 2000 erschienene Nachfolgeroman Murambi be­ schäftigt sich mit dem ruandischen Genozid von 1994³² und bricht mit der bis dahin charakteristischen Erzählweise des senegalesischen Autors. Murambi ba­ siert auf Recherchen in Ruanda vier Jahre nach dem Genozid und folgt in seiner Darstellungsweise realistischen Verfahren; Komplexität wird vornehmlich durch die Komposition der Erzählung artikuliert.³³ Das folgende Buch Doomi golo (2003) verfasste Diop in seiner zweiten Muttersprache, Wolof.³⁴ Sechs Jahre später legte er eine eigene Übertragung dieses Romans ins Französische vor, die unter dem Titel Les petits de la guenon veröffentlicht wurde. Im Werkzusammenhang von Mia Couto ist der in dieser Arbeit untersuchte Text O último voo do flamingo der vierte Roman des Autors. Dieser kann in Zu­ sammenhang mit Terra sonâmbula und A varanda do frangipani als Abschluss ei­ ner losen Trilogie gelesen werden. Darin angelegte ästhetische Verfahren und the­ matische Bezüge kulminieren in O último voo, etwa die Auseinandersetzung mit

31 Vgl. die detaillierte Diskussion im folgenden Forschungsüberblick. An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass viele Arbeiten von der Diskussion um lateinamerikanische Literaturen inspiriert sind. Siehe dazu exemplarisch die Studie von John V. Waldron: The Fantasy of Globalism. The Latin-American Neo-Baroque. Lanham u. a.: Lexington 2014, die das Barocke als einen Modus des «Widerstands» gegen die Globalisierung im Norden und Westen der Welt liest. 32 Vgl. die im Rahmen dieser Arbeit verwendete Ausgabe von 2014, die sich auf die Neuausgabe im Verlag Zulma bezieht, die um ein ausführliches Nachwort des Autors Boubacar Boris Diop erweitert ist. 33 Diop war Teil des von französischen Institutionen finanzierten Projekts Fest’Africa, das Au­ tor:innen 1998 nach Ruanda führte. Weitere Ausführungen dazu folgen in Kapitel 4 der vorlie­ genden Studie. 34 Wolof ist die Hauptverkehrssprache im gesamten Senegal. Der Großteil der Bevölkerung spricht es. Dabei ist zu beachten, dass das im Alltagsleben verwendete Wolof, das vor allem für technische Ausdrücke, Fachbegriffe und ähnliches auf das Französische zurückgreift, stark vom literarischen Wolof abweicht. Vgl. Martine Dreyfus/Caroline Juillard: Le plurilinguisme au Séné­ gal. Langues et identités en devenir. Paris: Karthala 2004.

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mündlicher und schriftlicher Sphäre, die kapitelweise multifokalisierte Perspekti­ ve und eine mythische Tiefenstruktur der Erzählung. Auch findet sich in allen drei Romanen eine intensive Auseinandersetzung mit der gewaltvollen, durch die Ko­ lonialisierung geprägten Geschichte Mosambiks. Jedoch ist die Drastik in O último voo auch im Vergleich zum späteren Schreiben Mia Coutos unübertroffen, in der Art und Weise, wie die Diskurse in den Körper verlegt werden und dadurch die Komplexität der Geschichtserfahrung ästhetisch zugänglich wird.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte Frankreich und Portugal unterhielten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Kolonialreiche, die sich über den asiatischen, amerikanischen und afrikanischen Kontinent erstreckten.³⁵ Das portugiesische Kolonialregime wurde in seinen letz­ ten Jahrzehnten von einer klerikalfaschistischen Diktatur gesteuert, dem SalazarRegime. Meinungsfreiheit gab es nicht, die moralischen Werte orientierten sich an der Trias Deus, Pátria, Família.³⁶ Für Frankreich spielte dagegen der Republikanis­ mus eine zentrale Rolle, der der freien Meinungsäußerung großen Wert beimaß.³⁷ Im Unterschied zum britischen verfolgten das französische und das portu­ giesische Kolonialreich im 20. Jahrhundert eine sogenannte Assimilationspoli­ tik: De jure war es möglich, dass Afrikaner:innen unter bestimmten Umständen erweiterte beziehungsweise vollumfängliche staatsbürgerliche Rechte erhalten konnten.³⁸ De facto wurde diese Möglichkeit aber kaum gewährt.³⁹ Die Assimi­ lationspolitik zielte darauf ab, kooperationswillige Eliten zur Unterstützung der

35 Vgl. für einen kritischen Überblick über die historische Forschung zum französischen Kolo­ nialregime und zur Dekolonialisierung im 20. Jahrhundert Alexander Keese: Living with Ambigu­ ity. Integrating an African Elite in French and Portuguese Africa 1930–1961. Stuttgart: Steiner 2007, S. 15–26 sowie für den portugiesischen Fall S. 27–36. 36 Vgl. für künstlerischen Widerstand beispielsweise das Schreiben der Dichterin Sophia de Mel­ lo Breyner Andresen, deren Gedichte Coutos Bücher an verschiedenen Stellen zitieren, etwa im Roman Jesusalém. Sophia de Mellos Schreiben wurde lange als nicht-politisch missverstanden. Das dem nicht so ist zeigt die umfassende Studie von Diana Gomes Ascenso: Poetischer Wider­ stand im Estado Novo. Die Dichtung von Sophia de Mello Breyner Andresen. Berlin: De Gruyter 2017. 37 Vgl. ebda. Das sagt noch nichts aus über die tatsächliche Umsetzung einer solchen Ideologie, die – wenn überhaupt – erst ab der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konstatiert werden kann. Vgl. Alexander Keese: Living with ambiguity, S. 47 f. 38 Vgl. ebda. 39 Vgl. ebda., S. 48.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte | 11

Kolonialherrschaft herauszubilden.⁴⁰ Sie stand in enger Verbindung zur ideologi­ schen Grundlage, die Frankreich und Portugal trotz aller Unterschiede teilten.⁴¹ Beide beriefen sich auf eine ‹zivilisatorische Mission› und den Einsatz gegen Will­ kürherrschaft, insbesondere nach dem Verbot der Versklavung (Frankreich 1848, Portugal 1879).⁴² Für das portugiesische Kolonialnarrativ ist das Paradigma des Lusotropikalis­ mus⁴³ fundamental, das der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre in den 1950er Jahren prägte⁴⁴ – in einer Zeit, in der sich die übrigen europäischen Kolonialre­ gime bereits weitgehend in Auflösung befanden, Portugal das seinige aber zu kon­ solidieren suchte.⁴⁵

40 Vgl. zur historischen Praxis und zur Vergleichbarkeit der beiden Fälle von Assimilationspo­ litik im Detail ebda., S. 47–55. 41 Vgl. ebda., S. 47 f. 42 Vgl. ebda. Wiederum geht es um eine Überzeugung, die rhetorisch artikuliert wurde und nicht unbedingt den historischen Befunden entspricht: «Many of the politicians involved did not see that sometimes the opposite was true, particularly under concessionaire rule, which meant brutal exploitation by concession companies in French Equatorial Africa up to the 1910s and in parts of Mozambique even up to World War II.» Ebda., S. 47. 43 Hilary Owen, die zu gender-Aspekten in der mosambikanischen Literatur geforscht hat, be­ zeichnet das Paradigma des Lusotropikalismus als «one of the most powerful and persistent pro­ pagandist tools that the New State Regime developed to envision the empire as unified, mul­ tiracial and multicultural family.» Hilary Owen: Mother Africa, Father Marx: Women’s Writing of Mozambique 1948–2002. Lewisburg: Bucknell University Press 2007, S. 18. Drei Aspekte sind nach dem französischen Soziologen Roger Bastide im Lusotropikalismus verbunden: erstens eine an­ thropologische Komponente (die Portugiesen – also vornehmlich die Männer – seien zur An­ passung an tropisches Klima besonders geeignet); zweitens eine sexuelle Komponente (sie seien besonders prädestiniert für Beziehungen mit Nicht-Portugiesinnen) und drittens eine religiöse Komponente in Form der katholischen Missionierung. Vgl. ebda. 44 Der Brasilianer Gilberto Freyre prägte den Begriff Lusotropikalismus in den 1950er Jahren; sein Anliegen war, die Besonderheit Brasiliens als eine durch das Kolonialregime Portugals ge­ prägte Gesellschaft zu erklären. Vgl. Miguel Vale de Almeida: Portugal’s Colonial Complex: From Colonial Lusotropicalism to Postcolonial Lusophony. In: Queen’s Postcolonial Research Forum, 28. April 2008. Queen’s University: Belfast, S. 1–10. 45 Wie Almeida in seinem Artikel über den Zusammenhang von Lusotropikalismus und Luso­ phonie erläutert, war Freyres Konzept dem Estado Novo nützlich, um seine koloniale Herrschaft weiter zu legitimieren: «The dictatorial regime was able to insert the narrative of modern colo­ nialism in Africa into a wider narrative about the discoveries and Portugal’s role in European expansion as of the 15th century. All became part of the same: Camões’ epic The Lusiads, Vasco da Gama’s discovery of the sea route to India, the colonization of Brazil as the major civilizing success of Portugal, and the 20th century occupation of Angola, Mozambique and so on. They were all part of a national narrative in which discovery, expansion, and colonization played an absolutely central role. This of course became hegemonic and part of people’s representations too, not just imposed propaganda.» Ebda., S. 5.

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Das französische Kolonialreich gelangte im subsaharischen Afrika in den 1950er Jahren an sein Ende; die meisten dortigen Kolonien erlangten um 1960 ihre Unabhängigkeit.⁴⁶ Bemerkenswerterweise konnte Frankreich seinen Ein­ fluss in den ehemaligen Territorien weiter halten, was etwa den Briten ihrerseits weniger gelang.⁴⁷ Sowohl Boubacar Boris Diop als auch Mia Couto beziehen sich in ihrem Schreiben in umfassender Weise auf die west- beziehungsweise südostafrika­ nische Geschichte. Die Kolonialzeit⁴⁸ spielt dabei eine zentrale Rolle, weil sie das Leben der Menschen in den europäisch dominierten Gebieten so massiv beein­ flusste – jedoch beschränken sich die historischen Bezüge in Diops und Coutos Schreiben bei Weitem nicht darauf. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist die Geschichte der afrikanischen Regionen relevant, in denen die modernen Staaten Senegal und Mosambik, sowie Ruanda, heute liegen.⁴⁹

1.2.1 Boubacar Boris Diop und der Senegal Boubacar Boris Diop wurde am 27. Oktober 1946 im Senegal geboren.⁵⁰ Sein Vater arbeitete für die Kolonialverwaltung und baute in den 1950er Jahren ei­ ne kleine Hausbibliothek mit französischsprachigen Büchern auf, was damals

46 Vgl. zu den Kolonialkriegen Frankreichs in Indochina und Algerien Anthony Clayton: The Wars of French Decolonization. London: Longman 1994. 47 Vgl. Alexander Keese: Living with ambiguity, S. 14 f. Für den Umgang Frankreichs mit der Ko­ lonialvergangenheit vgl. Nicolas Bancel/Pascal Blanchard u. a. (Hg.): La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial. Paris: La Découverte 2005. 48 Die Geschichte der europäischen Kolonialregime auf dem afrikanischen Kontinent ist sehr gut erforscht. Im Rahmen dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf dem französischen und por­ tugiesischen Kolonialregime. Angesichts der Fülle der Forschungsliteratur verstehen sich die im folgenden Überblick erwähnten Literaturhinweise nur als punktuelle Anregungen für weiterfüh­ rende Lektüren. 49 Das vierte Kapitel dieser Studie befasst sich mit Diops Roman Murambi, der sich auf den Ge­ nozid in Ruanda 1994 bezieht. Eine historische Kontextualisierung wird an entsprechender Stelle vorgenommen, wo sie für das Verständnis notwendig ist. 50 Für den folgenden biographischen Abriss stütze ich mich auf die Angaben zu Diop in Pierre Astier (Hg.): Nouvelles du Sénégal. Paris: Magellan et Cie 2010 sowie Brigitte Alessandri: L’école dans le roman africain. Des premiers écrivains francographes à Boubacar Boris Diop. Paris: Har­ mattan 2005, S. 133–140 sowie Boubacar Boris Diop: L’écrivain et ses ombres. Interview réalisée par Boubacar Camara et Ousmane Ngom de l’Université Gaston Berger de Saint-Louis. In: dies. (Hg.): Boubacar Boris Diop. Une écriture déroutante. Revue du Groupe d’Études Linguistiques et Littéraires, Sonderausgabe 2014, S. 299–332.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte |

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noch mehr als heute ein Luxus war⁵¹, wie Diop selbst erzählte.⁵² Allerdings fühlt sich Diop nach eigenen Angaben in seinem literarischen Schaffen stärker von seiner Mutter und ihren mündlichen Erzählungen beeinflusst.⁵³ Diop studier­ te Literatur und Philosophie und absolvierte das renommierte JournalismusProgramm der Université Cheikh Anta Diop (UCAD)⁵⁴. Er war als Journalist un­ ter anderem für die Tageszeitung Le Matin⁵⁵ tätig, die er zeitweise auch leitete und schrieb mehrere Jahre lang für die Schweizer Tageszeitung Neue Züricher Zeitung (NZZ) und für das italienische Wochenmagazin L’Internazionale. Außer­ dem arbeitete Diop als Lehrer und Hochschulprofessor im Senegal und unter anderem in Nigeria.⁵⁶ Diop, der nach eigenen Angaben als junger Mensch be­ kennender Marxist und Existenzialist war⁵⁷, ist einer der öffentlich aktivsten Intellektuellen des Kontinents⁵⁸; er äußert sich insbesondere kritisch zur Rolle Frankreichs während des Genozids in Ruanda. Des Weiteren ist Diop an kultu­

51 Auch öffentliche Bibliotheken gibt es heutzutage nur sehr vereinzelt. Für Dakar ist ansonsten die zentrale Universitätsbibliothek auf dem Campus in Fann zu nennen. Sie ist jedoch für NichtUniversitätsangehörige nur bedingt zugänglich. Des Weiteren haben diverse Kulturinstitute Bi­ bliotheken, die für Studierende und Akademiker:innen wichtige Anlaufpunkte darstellen. Nach Angaben der Weltbank konnten 43 Prozent der senegalesischen Bevölkerung 2013 schreiben und lesen (1988: 27 %). Das heißt im Umkehrschluss: Mehr als jeder zweite Mensch im Senegal konnte nicht schreiben und lesen. 52 Vgl. Boubacar Boris Diop: La bibliothèque de mon père. Francophone Caucus Keynote, 16.6.2017. Jahreskonferenz der African Literature Association: Africa and the World: Literature, Politics and Global Geographies, Yale University: New Haven. 53 Vgl. ebda. 54 Das Centre d’Études des sciences et techniques de l’information (CESTI) wurde bereits fünf Jahre nach der Unabhängigkeit ins Leben gerufen und gehört zur UCAD. Namhafte Journa­ list:innen wie Tidiane Kassé (heutiger Leiter einer privaten Journalistenschule) und Fawdel Sarr (prominentes Mitglied der Protestbewegung Y’en a marre) haben die Schule besucht. 55 Die Tageszeitung existierte von 1997–2011. 56 Außerdem war Diop nach Angaben der NZZ Gastdozent in Zürich und hat zeitweise in den USA, Südafrika und Mexiko gelebt. Vgl. Katrin Schregenberger: Die Macht des Kolibris. In: NZZ, 14.10.2014. 57 In dem Interview mit der NZZ-Journalistin Katrin Schregenberger erläutert Diop, wie es zu seinem Künstlernamen Boris kam: «Als Jugendlicher sei er verrückt gewesen nach Sartre, erin­ nert sich Diop [. . . ]. Seine Lieblingsfigur war der Anarchist Boris aus Sartres Trilogie Die Wege der Freiheit. Da er ohnehin von niemand anderem mehr redete – er war 17 Jahre alt –, wurde er von seinen Freunden irgendwann selber so genannt. Der heute 67-Jährige war in seiner Jugend Existenzialist, Marxist, Maoist. Schon lange steht er über diesen Kategorien. Denn mit den Erleb­ nissen in Rwanda erkannte er plötzlich: ‹Als Afrikaner Marxist oder Existenzialist zu sein, heisst eigentlich nur, welche Art Europäer man sein will.›» Ebda. 58 Vgl. zum Beispiel Diops Auftritte bei dem Sender France Culture.

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rellen Initiativen beteiligt und gründete mit dem Ökonomen Felwine Sarr den Verlag Jimsaan in St. Louis⁵⁹. Außerdem rief Diop in Dakar den Verlag EJO ins Leben, der Bücher auf Wolof verlegt. Dort sind auch seine beiden auf Wolof verfassten Romane Doomi Goolo (2003)⁶⁰ und Bàmmeelu Kocc Barma (2017) er­ hältlich. Die Beziehung zwischen dem französischen Kolonialregime in Westafrika⁶¹ und dem heutigen Senegal war besonders eng und das Land stellte zwei Mal des­ sen Hauptstadt: 1895–1902 mit St. Louis im Norden und von 1902–1960 mit Dakar weiter südlich.⁶² Mit dem sich stark an Paris orientierenden Léopold Sédar Seng­ hor wurde einer der Hauptbegründer der Négritude der erste Präsident des 1960 unabhängig gewordenen Landes. Senghor war ein großer Förderer der Kunst und festigte den Status Dakars als einer der kreativen Metropolen Afrikas.⁶³ Eine wei­ tere wichtige Figur für die Geschichte des Senegals im 20. Jahrhundert war der Wissenschaftler und Politiker Cheikh Anta Diop. Boubacar Boris Diop hat den Se­ negal in einem Essay (Le Sénégal entre Cheikh Anta Diop et Senghor⁶⁴) in eben diesem Spannungsfeld verortet. Der muslimische Wolof Cheikh Anta Diop und der katholische Serer Senghor standen sich in zum Teil harscher Gegnerschaft gegen­

59 Der Verlag hat bisher nur eine Facebook-Seite. 60 Diop hat den ganzen Roman als Hörbuch gelesen und auf der Website des Verlages in voller Länge kostenfrei zugänglich gemacht. 61 Frankreich verwaltete die Kolonien in Westafrika ab 1895 in dem Zusammenschluss AfriqueOccidentale française (AOF) auf den Gebieten der heutigen Länder Mauretanien, Senegal, Mali (damals Soudan français), Guinea, Elfenbeinküste, Niger, Burkina-Faso (damals Haute-Volta), Togo, Benin (damals Dahomey). Die damaligen Verwaltungseinheiten sind mit den modernen Staaten territorial nicht immer deckungsgleich. 62 Beide Städte gehören zu den sogenannten quatre communs, den ältesten Kolonialstädten im Senegal: Saint-Louis, Gorée, Rufisque und Dakar. Vgl. dazu Mamadou Diouf: Une histoire du Sé­ négal : le modèle islamo-wolof et ses périphéries. Paris: Maisonneuve & Larose 2001 und insb. das Kapitel: ‹Les quatre communes, histoire d’une assimilation particulière›. 63 Vgl. Elizabeth Harney: In Senghor’s Shadow. Art, Politics, and the Avantgarde in Senegal, 1960– 1995. London/New York: Duke University Press 2004. 64 Boubacar Boris Diop: Le Sénégal entre Cheikh Anta Diop et Senghor. In: ders.: L’Afrique audelà du miroir. Paris: Philippe Rey 2007, S. 89–134.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte | 15

über – jedoch wegen politischer, nicht etwa wegen religiöser⁶⁵ oder ethnischer⁶⁶ Fragen.⁶⁷ Die politische Stabilität und der gesellschaftliche Frieden im heutigen Sene­ gal⁶⁸ sind immer wieder mit der herausragenden Bedeutung der muslimischen Sufi-Bruderschaften – insbesondere der Mouriden⁶⁹ – und der sprachlichen Hege­ monie des Wolof⁷⁰ in Verbindung gebracht worden: Der senegalesische Historiker Mamadou Diouf hat deshalb von einem «modèle islamo-wolof» gesprochen.⁷¹ In jüngster Zeit richtet sich der Fokus auf die Geschichte des Senegals unter erneuerten Vorzeichen: Die zunehmende Erforschung von Dokumenten in Aja­ mi⁷² – das heißt von Texten in afrikanischen Sprachen wie Wolof, Bambara und anderen, die ein arabisches beziehungsweise modifiziertes arabisches Skript be­ nutzen – spielt dabei eine große Rolle.⁷³ Dies betrifft vor allem auch die Geistes­ geschichte Westafrikas, wie Souleymane Bachir Diagne herausgestellt hat. Dar­

65 Von den rund 15 Millionen Einwohner:innen des Senegal (Stand 2018) sind etwa 96 Prozent muslimisch. 66 Die Bevölkerung setzt sich aus verschiedenen sozio-kulturellen Gruppen zusammen (Stand 2017: Wolof 37.1 %, Pular (oder Peul bzw. Fulbe) 26.2 %, Serer 17 %, Mandinka 5.6 %, Jola 4.5 %, Soninke 1.4 % und andere 8.3 % (Europäer:innen, Libanes:innen). Diesen Gruppen entsprechen auch die jeweiligen im Senegal vertretenen Sprachen, wobei die meisten Menschen im Senegal mehrsprachig sind und Angehörige einer Gruppe nicht unbedingt auch die Sprache derselben sprechen müssen (gerade in den Städten ist dies oft nicht mehr der Fall). Vgl. ebda. Vgl. dazu auch Makhtar Diouf: Sénégal : les ethnies et la nation. Dakar: Les Nouvelles Éditions Africaines du Sénégal 1998. 67 Vgl. ebda., S. 89 f. 68 Vgl. Cruise O’Brien/Momar-Coumba Diop/Mamadou Diouf: La construction de l’État au Sé­ négal. Paris: Karthala 2002. Vgl. für eine umfassende Betrachtung des heutigen Senegal (seiner Geschichte, kulturellen Entwicklungen, der Frage der südlichen, nach Unabhängigkeit streben­ den Region Casamance) Momar-Coumba Diop: Le Sénégal contemporain. Paris: Karthala 2002. 69 Vgl. zur ökonomischen Bedeutung der Mouriden, insbesondere mit Blick auf den Erdnussan­ bau – lange Zeit einem der wichtigsten Exportgüter des Senegals – das Kapitel ‹Don divin, don terrestre : l’économie de la confrérie mouride.› In: ebda., S. 169–186. 70 Vgl. dazu das Kapitel ‹Langue et nationalité au Sénégal. L’enjeu politique de la wolofisation.› In: ebda., S. 143–156. 71 Vgl. Mamadou Diouf: Une histoire du Sénégal. 72 Vgl. dazu etwa die linguistisch orientierte Ajami-Forschung an der Universität Hamburg seit 2015 sowie die mehr kulturwissenschaftlich rückgebundene Ajami-Forschung unter der Ägide von Fallou Ngom an der Boston University. 73 Vgl. dazu etwa Fallou Ngom: Muslims Beyond the Arab World: The Odyssey of Ajami and the Muridiyya. New York: Oxford University Press 2016. Vgl. außerdem für den klassischen Fokus die­ ser Forschung (die Handschriften und wissenschaftlichen Aktivitäten rund um Timbuktu) Shamil Jeppie/Souleymane Bachir Diagne (Hg.): The Meanings of Timbuktu.

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über hinaus widerspricht die Ajami-Forschung einmal mehr dem essentialisti­ schen Vorurteil der grundsätzlichen Mündlichkeit afrikanischer Kulturen.⁷⁴ Heutzutage behauptet der Senegal seine Rolle als Impulsgeber für globale De­ batten, etwa in der Diskussion um die Restitution afrikanischer Kulturgüter oder mit Blick auf die Zukunft des afrikanischen Kontinents in der Welt.⁷⁵ Zudem steht die Hauptstadt Dakar insbesondere durch die internationale Kulturszene⁷⁶ im Fo­ kus weltweiten Interesses.

1.2.2 Mia Couto und Mosambik Ab dem 16. Jahrhundert waren die Portugiesen im Raum des Indischen Ozeans präsent; zunächst in Indien und ab 1506 mit einer ersten Niederlassung auf der Ilha de Moçambique.⁷⁷ Auf dem Territorium Mosambiks entstand allerdings nie ein kohärentes Herrschaftsgebiet.⁷⁸ Das heutige Mosambik gewann seine geo­

74 Vgl. Souleymane Bachir Diagne: Toward an Intellectual History of West-Africa: The Meaning of Timbuktu. In: ebda., S. 19–28, hier S. 19 f. 75 Der senegalesische Ökonom, Musiker und Essayist Felwine Sarr verfasste gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy den Bericht zur Restitution von Kulturgütern im Auftrag der französischen Regierung Macron. Vgl. Felwine Sarr /Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Onlineausgabe 2018. Außer­ dem sorgte Sarrs Essay Afrotopia, das 2019 auch auf Deutsch erschien, für weitere Bekanntheit. Vgl. Felwine Sarr: Afrotopia. Paris: Philippe Rey 2016. 76 Dazu zählen sowohl die bildenden Künste, die etwa bei der Kunstbiennale vertreten sind, als auch die Musikszene, die bereits seit Jahrzehnten im Hip-Hop (in diesem Bereich entstand auch die Jugend-Protestbewegung Y’en a marre), Rap, Mbalax und Jazz international vertreten ist. 77 Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique. London: Hurst and Company 2017, S. 23 f. 78 Vgl. Maylin Newitt: Mozambique. In: Patrick Chabal (Hg.): The History of Postcolonial Luso­ phone Africa. London: Hurst and Company 2002, S. 185–235, hier S. 186. Newitt beschreibt für die unmittelbar vorkoloniale Periode Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Dreiteilung Mosambiks: Nördlich des Sambesi-Tals war eine muslimische Herrschaft durch die Yao und die Swahili-Kultur in den Küstenstädten präsent und diese stützten sich ökonomisch auf den Handel mit Versklavten; in Zentralmosambik hatten sich afro-portugiesische Händler an­ gesiedelt, die sich vor allem auf Elfenbein, Land und ebenfalls den Handel mit Versklavten kon­ zentrierten; im Süden herrschte weitgehend der Estado de Gaza mit Ngoni-Kriegern und Viehwirt­ schaft. Über diese grobe Dreiteilung hinaus gab es allerdings damals schon eine Vielzahl weiterer lokaler Rivalitäten, die das Gebiet des heutigen Mosambiks fragmentierten. Die natürliche Ein­ teilung der Region durch annähernd horizontal verlaufende Flüsse bot stets auch den geographi­ schen Rahmen für politische Entwicklungen, wie Newitt herausstellt. Darüber hinaus verstärkten diverse Eisenbahnlinien diese Teilung und sorgten eher für eine regional unterschiedliche Bin­ dung an jeweilige Nachbarländer Mosambiks statt für eine innermosambikanische Verbindung. Vgl. ebda., S. 187 f.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte |

17

graphische Form weitestgehend Ende des 19. Jahrhunderts: Grundlage war der Grenzvertrag zwischen der englischen und der portugiesischen Kolonialmacht von 1891, der die jeweiligen Einflusssphären im südöstlichen Afrika regelte.⁷⁹ Im 20. Jahrhundert verpachteten die Portugiesen weite Teile des Landes an Han­ delsgesellschaften, weil ihnen die finanziellen Mittel für eine stabile Kontrolle fehlten.⁸⁰ Das portugiesische Kolonialregime stand insbesondere ab Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Druck des weitaus besser ausgerüsteten und finan­ zierten britischen Kolonialregimes⁸¹, wie etwa das Ultimatum von 1890 und der sogenannte Vertrag von Windsor von 1900 veranschaulichen.⁸² Die Küstenstädte spielten in der Entwicklung der modernen Industrie und des Handels sowie für Bildung und Kultur⁸³ eine herausragende Rolle in Mosambik, unter anderem weil sich dort viele portugiesische Siedler:innen niederließen.⁸⁴ Auch der Autor Mia Couto wurde 1955 in einer Küstenstadt geboren, in Beira, lan­ ge Zeit die zweitgrößte Stadt des Landes.⁸⁵ Seine Eltern kamen Anfang der 1950er Jahre nach Mosambik. Der Vater suchte nach einer Gelegenheit, um als Journalist

79 Vgl. Hendrik L. Wesseling: Teile und herrsche: Die Aufteilung Afrikas. 1880–1914. Stuttgart: Steiner 1999, S. 276. 80 Dies waren die Niassa Company (bis 1929) und die Mozambique Company (bis 1941), sowie weitere Agrargesellschaften (Plantagenwirtschaft). Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 187. Vgl. dazu auch Eric Allina: Slavery by Any Other Name: African Life under Company Rule in Colonial Mozambique. Charlottesville: University of Virginia Press 2012. 81 Vgl. Boaventura de Sousa Santos: Between Prospero and Caliban: Colonialism, Postcolo­ nialism, and Inter-identity. In: Luso-Brazilian Review 39, Nr. 2 (2002), University of Wisconsin, S. 9–43. Santos vertritt die These, dass es sich beim portugiesischen Kolonialismus um eine Art subalternen Kolonialismus gehandelt habe: Dieser sei seinerseits vor allem durch den in Europa hegemonialen britischen Kolonialismus bestimmt gewesen, da Portugal und England seit Jahr­ hunderten enge Beziehungen pflegten. Diese Konstellation habe Auswirkungen auf die Rollen beziehungsweise Identitäten sowohl der Kolonialist:innen («Prospero») und der Kolonialisier­ ten («Caliban») gehabt. Unter anderem spricht Santos in pointierter Weise vom portugiesischen «Calibanized Prospero» beziehungsweise aus Sicht des britischen Kolonialismus wiederum eines reinen «Caliban». Vgl. ebda., S. 17. 82 Vgl. Teresa Pinto Coelho: Lord Salisbury’s 1890 Ultimatum to Portugal and Anglo-Portuguese Relations. St. John’s College Oxford 2006, S. 1–8. 83 Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 188. 84 Vgl. ebda. 85 Für die biographische Skizze von Mia Couto stütze ich mich auf Patrick Chabal: Vozes mo­ çambicanas. Literatura e nacionalidade. Lissabon: Verga 1994, S. 274–291. Es handelt sich um ein als Fließtext verschriftetes Interview mit Couto in Ich-Form. Vgl. etwa auch die Angaben in Fer­ nanda Cavacas: Um moçambicano que diz Moçambique em português. Lissabon: Clássica Editora 2015, S. 101–128 sowie David Brookshaw: Mia Couto in Context. In: Grant Hamilton/David Hud­ dart (Hg.): A Companion to Mia Couto. Suffolk: Boydell und Brewer 2016, S. 17–24.

18 | 1 Einleitung

zu arbeiten, was im Estado Novo schwierig war⁸⁶ – wobei sich Zensur und Kontrol­ le Portugals auch in Mosambik wirksam zeigten, das als zentralistische Bürokratie verwaltet wurde.⁸⁷ Die Atmosphäre in Beira beschreibt Couto in seinen Erinnerungen als sehr rassistisch⁸⁸ – was der Autor im Rückblick als starke Motivation vieler portugiesi­ scher Jugendlicher seiner Generation sieht, sich für die Unabhängigkeit Mosam­ biks einzusetzen.⁸⁹ Couto ging 1971 in die Hauptstadt, das damalige Lourenço Marques, um Medizin zu studieren und erlebte dort die Loslösung Mosambiks von der Kolonialherrschaft.⁹⁰ Er war in einer politischen Studentengruppe aktiv, die sich gegen das Kolonialregime stellte, aber erst nach 1974 zur FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique) gehörte⁹¹, die sich 1962 im benachbarten Tansania formiert hatte.⁹² Couto unterbrach das Studium, um als Journalist zu arbeiten: Nach der Schließung der Zeitung Tribuna war er Direktor der neu aufgebauten Nachrich­ tenagentur und anschließend für die Zeitungen Tempo und bis 1985 für Notícias tätig.⁹³ Die Berichterstattung sei dezidiert und offen parteiisch gewesen und habe die an die Macht gekommene FRELIMO stützen sollen; jedoch sei die Situati­

86 Patrick Chabal: Vozes moçambicanas, S. 274. 87 Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 188. 88 Vgl. Patrick Chabal: Vozes moçambicanas, S. 276 f. 89 Vgl. ebda., S. 278. Auch wenn seine Eltern liberal und humanistisch eingestellt gewesen seien, hätten sie seine Freundschaften mit Schwarzen Mosambikaner:innen nicht gutgeheißen: «Na rua começava a África, em casa estava a Europa.» Ebda., S. 275 f. 90 Vgl. ebda., S. 278–283. Den Moment der Unabhängigkeit erinnert Couto zwar als politisch angespannt – er musste nach Beira fliehen, weil er als Weißer Sympathisant der FRELIMO von pro-kolonial eingestellten Portugiesen verfolgt wurde, gleichzeitig aber auch von der Schwarzen Bevölkerung als Kolonialvertreter gesehen wurde –, beschreibt die Lage danach aber als eher entspannt. Vgl. ebda., S. 282 f. Coutos Erinnerungen als Sohn Weißer Portugies:innen sind von denen der Schwarzen Autorin Paulina Chiziane, die im gleichen Jahr wie Couto im Süden Mosam­ biks geboren wurde, verständlicherweise sehr verschieden. Sie beschreibt in ihren Erinnerungen eine stark ablehnende Haltung der Schwarzen Bevölkerung. Vgl. Patrick Chabal: Vozes moçam­ bicanas, S. 292–301 91 Vgl. ebda., 278–283. 92 Mosambik war in den 1950er und 1960er Jahren zunächst nicht selbst Ort für nationalistische Bewegungen, wurde aber indirekt von den Nachbarländern Malawi, Tansania und Sambia in die­ se eingebunden: Dort arbeiteten viele Mosambikaner:innen. 1962 formierte sich in Dar-es-Salam unter Julius Nyerere die FRELIMO. Nach anfänglichen internen Auseinandersetzungen gewann die FRELIMO ihre stärkste Kraft ab 1969 durch ihre innere Geschlossenheit. Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 189. 93 Vgl. Patrick Chabal: Vozes moçambicanas, S. 283.

1.2 Geschichtliche und biographische Kontexte | 19

on Mitte der 1980er deutlich angespannter geworden, weswegen Couto an die Universität zurückkehrte und schließlich Biologe wurde.⁹⁴ Von 1964 bis 1992 war Mosambik praktisch ununterbrochen im Krieg; auf den Unabhängigkeitskrieg gegen Portugal (1964–1974) folgte ein fast zwei Jahrzehnte andauernder Bürgerkrieg (bis 1992). Die FRELIMO bestand 1974 auf der vollständi­ gen Machtübernahme ohne Wahlen, die im Lusaka-Abkommen vom 25. Juni 1975 auch realisiert wurde.⁹⁵ Allerdings war sich die FRELIMO bewusst, dass sie trotz ihres Anspruches, ganz Mosambik zu vertreten, in großen Teilen des Landes kei­ nen Rückhalt genoss⁹⁶ und nicht demokratisch legitimiert war.⁹⁷ Außerdem zeich­ neten sich bei der Machtübergabe fundamentale Probleme ab, die mittelfristig die Aussichten auf eine erfolgreiche Transition unwahrscheinlich machten, wie der Historiker Newitt argumentiert hat.⁹⁸ Trotz politischer Befähigung und nicht per se ungünstiger ökonomischer Bedingungen⁹⁹ führte die FRELIMO das unabhän­ gige Mosambik an den Rand des Zusammenbruchs, wie Newitt zusammenfasst: The FRELIMO leadership attempted a radical reconstruction of Mozambique’s society at a time when, as a result partly of natural disasters and partly of the chaos of the decolonisation process, the machinery of government and the economic infrastructure of the country were on the verge of collapse, and when southern Africa itself was about to sail into the eye of the geopolitical storm which marked the final phase of the Cold War.¹⁰⁰

Die FRELIMO, die sich ab 1977 offiziell zum Marxismus-Leninismus bekannte, ver­ stand sich als Fortschrittspartei und wählte ihre Mitglieder restriktiv aus.¹⁰¹ Nach

94 Vgl. ebda., S. 284. 95 Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 192 f. 96 Vgl. ebda. 97 Vgl. ebda., S. 196. 98 Die Schwarzen Mosambikaner:innen aus der Kolonialarmee wurden weder systematisch entwaffnet noch in die zivile Gesellschaft eingebunden; die besser ausgebildeten (Weißen) Ar­ beitskräfte vorwiegend aus portugiesischen Familien, die das unabhängige Mosambik dringend brauchte, wurden nicht gehalten; es gab keinen Entwurf für eine Verfassung; die Zukunft der Mitarbeiter:innen des Kolonialregimes war nicht geklärt; Menschenrechte und eine plurale De­ mokratie waren nicht sichergestellt; die Wirtschaft des Landes wurde nicht mithilfe von Kredi­ ten, Wachstumsprogrammen oder ähnlichen Maßnahmen in Schwung gebracht; das unabhängig gewordene Mosambik hatte die Beziehungen zu seinen nächsten Nachbarn nicht gefestigt. Vgl. ebda., S. 194 und vgl. dazu auch S. 250 f. 99 Vgl. ebda., S. 188. 100 Vgl. ebda., S. 196. Wie Newitt ausführt, herrschen in der Forschung Kontroversen über die Gründe dafür. 101 Vgl. ebda., S. 198.

20 | 1 Einleitung

der Unabhängigkeit fehlte es vor allem auch an qualifizierten Arbeitskräften, da viele Portugies:innen – die zuvor aufgrund ihrer Privilegien in besseren Jobs ge­ arbeitet hatten – das Land verließen.¹⁰² Ein Faktor, der Mosambik destabilisierte, war das außenpolitische Engagement gegen das Anti-Apartheid-Regime in Süd­ afrika sowie im damaligen Rhodesien.¹⁰³ Letzteres förderte die Gründung der Op­ positionskraft RENAMO (Resistência Nacional Moçambicana).¹⁰⁴ Ab Anfang der 1980er Jahre sah Mosambik sich aufgrund der desaströsen ökonomischen Situa­ tion und dem Hunger in der Bevölkerung gezwungen, sich geopolitisch vom Ost­ block wegzuorientieren und im Westen sein Image als «militant Marxist state» abzulegen¹⁰⁵: 1984 bewarb sich Mosambik erfolgreich um Mitgliedschaft beim In­ ternationalen Währungsfonds.¹⁰⁶ Ein erster Versuch des Friedensschlusses zwischen der von Südafrika unter­ stützen RENAMO und der FRELIMO scheiterte trotz internationaler Bemühun­ gen.¹⁰⁷ Nach einer weiteren Übergangsphase nahmen RENAMO und FRELIMO schließlich Gespräche auf und der Bürgerkrieg wurde mit einem Friedensabkom­ men am 4. Oktober 1992 beendet.¹⁰⁸ Die RENAMO wurde als politische Partei integriert.¹⁰⁹ Nach Ansicht des Historikers Newitt waren für den Friedensschluss und die anschließenden erfolgreichen Parlamentswahlen von 1994¹¹⁰ drei Um­ stände ausschlaggebend: Keine der Kriegsparteien war materiell noch in der Lage, weiterzukämpfen; die RENAMO wurde nicht durch eigene Führungsan­ sprüche in ihrer Umwandlung zu einem normalen politischen Akteur behindert und die UN stellten eine gut ausgerüstete Friedensmission für Mosambik zur Verfügung.¹¹¹ Mia Couto, der das Kolonialregime und die Unabhängigkeit in Mosambik so­ wie zwei Kriege erlebte, verarbeitet die Geschichte des Landes in seinem Schrei­ ben. Des Weiteren nutzt er seine zahlreichen öffentlichen Auftritte weltweit für

102 Vgl. ebda., S. 207. 103 Vgl. ebda., S. 207 f. 104 Vgl. ebda., S. 209–212. 105 Vgl. ebda., S. 213. 106 Vgl. ebda., S. 213. 107 Die Regierungen der USA und Großbritanniens setzten sich dafür ein. 1984 wurde das soge­ nannte Nkomati Abkommen von Mosambik und Südafrika unterzeichnet, das jedoch faktisch nie Wirkung zeigte. Vgl. dazu und zu der folgenden Übergangszeit ebda., S. 213 f. sowie S. 214–219. 108 Vgl. ebda., S. 219–222. 109 Vgl. ebda., S. 222. 110 Vgl. für eine Übersicht zur UN-Friedensmission und ihrer Rolle ebda., S. 222–226. 111 Vgl. ebda., S. 222.

1.3 Forschungsstand

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politisch perspektivierte Beiträge.¹¹² Er gewann zahlreiche internationale Prei­ se für sein Schreiben, darunter den Prémio Camões (2013) sowie den NeustadtLiteratur-Preis (2014). Couto ist assoziiertes Mitglied (membro correspondente) der Academia Brasileira de Letras. Seine Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Französische, Spanische, Deutsche und He­ bräische.¹¹³

1.3 Forschungsstand Ausgewählte Texte der beiden zeitgenössischen Autoren Boubacar Boris Diop und Mia Couto komparatistisch zu behandeln, bedeutet in der vorliegenden Studie, diese in einen Dialog miteinander zu bringen – ausgehend von der Leseerfahrung, dass es ein verbindendes, anschlussfähiges Moment in den drei Romanen gibt. Es geht nicht darum, den Gestus eines Sprechens über ‹Afrika› zu imitieren und künstlich eine Einheit zu konstruieren. Im Gegensatz hierzu versucht die vorlie­ gende Arbeit, den jeweils unterschiedlichen ästhetischen Verhandlungen einer je spezifischen Geschichtserfahrung durch sorgfältige Einzelanalysen Rechnung zu tragen. Dennoch: Bisher sind beide Autoren nur isoliert beziehungsweise innerhalb akademischer Sprachgrenzen untersucht worden. Dabei handelt es sich in der Re­ gel um die Kombination von Texten einer Sprache (Französisch, Portugiesisch, bei anderen Autor:innen auch Arabisch und sehr selten Spanisch) mit englischspra­ chigen Texten. Eine diese Konfiguration überschreitende Anordnung, wie sie in dieser Studie vorgeschlagen wird, ist die große Ausnahme.

112 Vgl. dafür Coutos Essaybände und die Hinweise darauf in der Forschungsübersicht. 113 Helgesson nennt Coutos Werk deshalb «spectacularly global». Stefan Helgesson: Postcolo­ nialism and World Literature. Rethinking the Boundaries. In: Interventions (International Journal of Postcolonial Studies) 16, Nr. 4 (2014), S. 483–500, hier S. 490.

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1.3.1 Forschungsüberblick zu Boubacar Boris Diops Schreiben Die senegalesische Literatur¹¹⁴ ist vergleichsweise gut erforscht.¹¹⁵ Für die deutsch­ sprachige Forschung war die Freundschaft zwischen Janheinz Jahn¹¹⁶ und Seng­ hor bedeutend. Aus dem Gebiet der sogenannten Afroromanistik¹¹⁷ in Deutsch­ land kommen einige bedeutende Beiträge, die umfassende Überblicke zu afri­ kanischen Literaturen in europäischen Sprachen bieten.¹¹⁸ Besonders diskutiert werden Fragen rund um orale Erzählkulturen. Die kolonial konstruierte Fantasie von Afrika als ‹schriftlosem Kontinent› hat gerade in den Anfängen der afrikabe­ zogenen Literaturwissenschaften, die eng mit der Fachgeschichte der Anthropo­

114 Bereits Werner Glinga weist daraufhin, dass der Bezugsrahmen des Nationalen aufgrund der Kolonialzeit und der infolgedessen, von Europa stark abweichende Entstehung von Natio­ nalstaaten für afrikabezogene Literaturwissenschaft nur bedingt Geltung haben kann. Vgl. Wer­ ner Glinga: Literatur in Senegal. Geschichte, Mythos und gesellschaftliches Ideal in der oralen und schriftlichen Literatur. Berlin: Reimer 1990, S. 54. 115 Als einziges englischsprachiges Überblickswerk liegt bisher vor Dorothy S. Blair: Senegalese Literature. A Critical History. Boston: Twayne 1984. Vgl. für einen Überblick auch Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 21–55, einschließlich eines kritischen Forschungsüberblicks. Glinga kriti­ siert bei Blair eine Fixierung auf den Einfluss des französischen Kolonialregimes, der senegale­ sische Kontexte völlig überblende. Vgl. ebda., S. 42 und S. 229. Vgl. weiterhin für senegalesische Literatur seit der Kolonialzeit János Riesz: Von der Assimilation zur Unabhängigkeit. Senegalesi­ sche Erzählliteratur seit Beginn der Kolonialzeit. In: Papa Samba Diop (Hg.): Ousmane Sembène und die senegalesische Erzählliteratur. München: Text und Kritik 1994, S. 9–30. 116 Jahns Nachlass befindet sich im Besitz des Afrika-Asien-Instituts der Humboldt-Universität in Berlin, seine Privatbibliothek an der Universität Mainz. Vgl. zur Rolle Jahns Anja Schwarz: Aufbruch und Umbruch: Die Wirkungsgeschichte von Janheinz Jahn (1918–1973) als Vermittler afri­ kanischer Literaturen und Kulturen in Deutschland. Berlin: Humboldt-Universität Berlin 2016. Dis­ sertationsschrift. 117 Der Romanist János Riesz war von 1979 bis 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Lite­ raturwissenschaft und Komparatistik unter besonderer Berücksichtigung Afrikas an der Univer­ sität Bayreuth. Vgl. auch Susanne Gehrmann: Die frankophonen Literaturen Afrikas zwischen Romanistik und Afrikanistik. Auch wenn sich Gehrmann hier auf frankophone Literaturen be­ schränkt, können ihre Beobachtungen (vielleicht sogar noch verschärft) auch für die lusophonen Literaturen Afrikas gelten. 118 Vgl. für das Erkenntnisinteresse dieser Studie etwa: – Papa Samba Diop: Archéologie littéraire du roman sénégalais. Glossaire socio-linguistique du roman sénégalais 1920–1986 (géographie, histoire, langues). Frankfurt a. M.: IKO – Verl. für Interkulturelle Kommunikation 1995/1996. – Werner Glinga: Literatur in Senegal. – Hans-Jürgen Lüsebrink: Schrift, Buch und Lektüre in der französischsprachigen Literatur Afri­ kas. Zur Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchlektüre in einem kulturellen Epochenumbruch der Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1990.

1.3 Forschungsstand |

23

logie und der Ethnologie verbunden sind, eine entscheidende Rolle gespielt.¹¹⁹ Glinga kritisiert nachdrücklich solche Tendenzen der Totalisierung: «Die euro­ päischsprachigen Literaturen Afrikas haben eine Scheinhomogenität geschaffen. Kontinentalbezogene Kriterien haben ebenso wenig oder ebenso viel Gültigkeit wie in Europa oder anderswo.»¹²⁰ Er insistiert auf einer literaturwissenschaftli­ chen Analyse, die von den Wortkunstwerken selbst ausgeht und historisch rück­ gebunden ist.¹²¹ In Westafrika war die Schriftkultur vor der Kolonialzeit eng mit der Islamisie­ rung verbunden; ihren Eingang in die breite Bevölkerung fand sie erst im Rahmen der Kolonialherrschaft.¹²² Schreiben und Lesen waren zuvor vornehmlich Ange­ legenheit einer religiösen Oberschicht, Analphabetismus aber kein Distinktions­ merkmal in der sozialen Hierarchie der Gesellschaft.¹²³ Glinga hat bereits 1990 eine Literaturgeschichte des Senegals vorgelegt, die die Vielfalt mündlicher und schriftlicher Erzähltraditionen in Westafrika mitberücksichtigt, und auch auf den Debütroman Diops verwiesen.¹²⁴ In der Forschung herrscht Konsens, dass das Schreiben von Diop¹²⁵ – das in­ zwischen zehn Romane, Erzählungen und Essays umfasst – Elemente mündlicher Erzähltraditionen inkorporiert. Detaillierte Analysen der literarischen Verfahren 119 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.1 der vorliegenden Studie. 120 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 54. 121 Vgl. ebda. 122 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Schrift, Buch und Lektüre in der französischsprachigen Literatur Afrikas, insb. S. 1–23. Lüsebrink diskutiert in Kapitel 5 das künstlerische Wirken des Autodidak­ ten Ousmane Sembène, einem der bekanntesten Literaten und Filmemacher des Senegals. Vgl. ebda., S. 162–199. 123 «Obwohl der Islam durch die Medien Schrift und Buch völlig neue Formen der Wissensan­ eignung, der Wissensübermittlung und der religiösen Unterweisung einführte, mit denen seit dem 13. Jahrhundert ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung des afrikanischen Kontinents in Berührung kam, blieb der Zugang zu Lese- und Schriftkundigkeit somit auf eine schmale soziale Schicht, die islamischen Gelehrten und Koranlehrer (‹Marabouts›), und einen begrenzten Funkti­ onsbereich, die religiöse Sphäre, beschränkt. Die senegalesische Gesellschaft verfügte insgesamt bis zum Beginn der Kolonialherrschaft – ebenso wie die übrigen vom Islam beeinflußten Gesell­ schaften West- und Zentralafrikas – über eine Kultur mit dominant mündlichen Formen der Tra­ ditionsbildung, des geschichtlichen Gedächtnisses, der Verwaltung sowie der Informations- und Kommunikationsübermittlung. [. . . ] Da der Zugang zur arabischen Buchkultur einer religiösen Gelehrtenschicht vorbehalten war, galt Analphabetismus in den islamisch beeinflußten Gesell­ schaften Afrikas vor der Kolonialherrschaft jedoch nicht als soziales Stigma und Kennzeichen einer niederen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie.» Ebda., S. 6 f. 124 Vgl. Werner Glinga: Literatur in Senegal. Diese auf Deutsch erschienene Studie ist jedoch bedauerlicherweise nicht merklich in die internationale Rezeption eingegangen. 125 Vgl. für eine Übersicht über das fiktionale und essayistische Werk von Boubacar Boris Diop Kapitel 6.1 im Literaturverzeichnis.

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bietet etwa ein Aufsatz von Susanne Gehrmann¹²⁶, in dem sie auf den populären Erzähler Birago Diop¹²⁷ Bezug nimmt. Die mündlichen Verfahren im Werkzusam­ menhang Diops arbeiten auch Aliou Sene¹²⁸ und Fodé Sarr¹²⁹ auf. Zwei weitere rezente Arbeiten befassen sich mit der Neukartierung des literarischen Felds im Senegal, unter Einbezug der Literaturproduktion auf Wolof.¹³⁰ In diesen Kontex­ ten wird auch Diops Roman Doomi Golo untersucht. Diops Debütroman Le temps de Tamango suivi de Thiaroye terre rouge (1981) arbeitet mit intertextuellen Bezügen¹³¹ und bringt außerdem Prosa und Theater zu­ sammen. In der Forschung wurde Le temps de Tamango zeitnah wahrgenommen und ist seitdem oft untersucht worden. Dabei steht vor allem die Bezugnahme auf die 1829 erstmals erschienene Novelle Tamango des französischen Schriftsteller Prosper Mérimée¹³² im Mittelpunkt. Hieran schließen sich vergleichende Perspek­ tiven auf das Schreiben Diops an, die es nachhaltig in einem weltliterarischen Feld verorten. So untersucht etwa Hans-Jürgen Lüsebrink¹³³, wie Diops Roman im Ver­

126 Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur Birago Diops zur «geschriebenen Oratur» in den Romanen von Boubacar Boris Diop. Arbeitspapier Nr. 38, Gutenberg-Universität Mainz (2004), S. 1–22. Der Fokus ihrer Studie liegt auf drei Romanen Boubacar Boris Diops: Les tambours de la mémoire, Les traces de la meute, Le Cavalier et son ombre. 127 Vgl. Birago Diop: Les contes d’Amadou Koumba und Les nouveaux contes d’Amadou Koumba. Paris: Présence Africaine 1961. 128 Vgl. Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques : la problématique de l’écriture et de l’oralité chez Boubacar Boris Diop. Dakar: Université Cheikh Anta Diop 2013. Dissertationsschrift. 129 Vgl. Fodé Sarr: Histoire, fiction et mémoire dans l’œuvre de Boubacar Boris Diop. Montréal: Université de Montréal 2010. Dissertationsschrift. 130 Vgl. Jonathon Repinecz: Whose Hero? Reinventing Epic in French West African Literature. Ber­ kley: University of California 2013. Dissertationsschrift sowie Tobias Dodge Warner: The Limits of the Literary: Senegalese Writers Between French, Wolof and World Literature. Berkley: University of California 2012. Dissertationsschrift. 131 Genannt werden unter anderem Gabriel García Marquez, Vladimir Nabokov, George Orwell, Jean-Paul Sartre, Ousmane Sembène und Mongo Béti. Vgl. Adèle King: Le temps de Tamango: Eighteen Hundred Years of Solitude. In: Komparatistische Hefte 12 (1985), S. 77–89. Lang spricht von «un pastiche d’allusion». Georg Lang: Deux non-classiques de la littérature africaine: V. Y. Mudimbe, L’Écart et Boris Boubacar Diop [sic!], Le Temps de Tamango. In: Edris Makward u. a. (Hg.): The Growth of African Literature: Twenty-Five Years After Dakar and Fourah Bay. Trenton: Africa World Press 1998, S. 105–114, hier S. 111. 132 Vgl. Prosper Mérimée: Carmen ; La Vénus d’Ille ; Tamango. Paris: F. Rouff 1927. 133 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Häretische Lektüren und Traditionsbruch: Zum Umgang mit Klassikern in kulturellen Umbruchperioden der Neuzeit. In: Jan Assman/Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar. Archäologie der Literarischen Kommunikation 4. München: Fink 1995, S. 375–388.

1.3 Forschungsstand |

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gleich zu Aimé Césaires Une tempête¹³⁴ mit kanonischen Texten¹³⁵ der Literatur umgeht – denn Césaire bezieht sich wiederum auf Shakespeares The Tempest. Lü­ sebrink konstatiert einen «‹produktiv-häretischen› Umgang»¹³⁶, der auf Paralle­ len zwischen europäischer und afrikanischer Literaturgeschichte verweise.¹³⁷ Was Lüsebrink als «Relecture» bezeichnet, fasst Felisa Reynolds als «literary cannibal­ ism».¹³⁸ Sie nennt diese Schreibpraxis «an act of revolt»¹³⁹ und bestimmt Diops Roman als «futuristic ‹politique-fiction›»¹⁴⁰. Michelman beschreibt Le temps de Tamango als «a medley of Western literary narrative approaches and styles»¹⁴¹ und summiert darunter die vielfältig gebro­ chene Erzählperspektive, surrealistische Einflüsse sowie den Mix verschiedenster sprachlicher Register¹⁴². Mit diesem komplexen Debütroman¹⁴³, der mit dem an­

134 Vgl. Aimé Césaire: Une tempête : d’après «la tempête» de Shakespeare. Adaption pour un théâtre nègre. Paris: Seuil 1980 und die Ausführungen bei Hans-Jürgen Lüsebrink: Häretische Lektüren und Traditionsbruch, S. 381–383. 135 Vgl. dazu auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Postkoloniale Perspektivierungen: Zur Neu-Lektüre europäischer Klassiker bei Autoren aus Afrika und der Karibik. In: Ralf Bogner /Manfred Leber (Hg.): Klassiker: Neu-Lektüren. Saarbrücker Literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen 3. Saar­ brücken: universaar 2013, S. 229–241. 136 «Ähnliche Prozesse des Traditionsbruchs und des ‹produktiv-häretischen› Umgangs mit Klassikern finden sich außer in der Französischen Revolution – die auch hier eine Art Labo­ ratorium kultureller und politischer Umbruchprozesse der Neuzeit darstellt – auch in anderen neuzeitlichen Umbruchperioden [. . . ].» Hans-Jürgen Lüsebrink: Häretische Lektüren und Tradi­ tionsbruch, S. 380. 137 «Er [Diop] präsentiert durch seinen ‹fiktionalen Kommentar› zu Mérimées klassischer Novel­ le eine ähnliche Form der Relecture europäischer Literatur aus außereuropäischer Sicht wie Cé­ saire, führt jedoch diese ‹häretische Lektüre› in grundlegende Überlegungen zur Epistemologie von Fiktion und Geschichtsschreibung in kulturellen Umbruchperioden über.» Ebda., S. 384 f. 138 Vgl. Felisa Vergara Reynolds: Literary Cannibalism: Almost the Same, But Not Quite/Almost the Same, But Not White. Cambridge: Harvard University 2009. Dissertationsschrift. In der Stu­ die geht es um Aimé Césaires Une tempête, Shakespeares The Tempest, Boubacar Boris Diops Le temps de Tamango, Prosper Mérimées Tamango, Assia Djebars L’amour, la fantasia im Verhältnis zur Geschichtsschreibung über die französische Invasion in Algerien 1830 sowie Maryse Condés La migration des cœurs und Emily Brontës Wuthering Height. 139 Ebda., S. 22. Und: «And Diop, like Césaire before him cannibalized a Western European canonical work to make his discontentment known.» Ebda., S. 21. 140 Ebda., S. 66. 141 Frederic Michelman: From Tamango to Thiaroye: The Revolution Back on Course? In: Edris Makward u. a. (Hg.): The Growth of African Literature: Twenty-Five Years After Dakar and Fourah Bay. Trenton: Africa World Press 1998S. 97–104, hier S. 99. 142 Vgl. ebda. 143 Bereits in Diops Debütroman sind metaliterarische Reflexionen prominent. Lang spricht des­ halb von «hyper-littérarité». Georg Lang: Deux non-classiques de la littérature africaine, S. 113.

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geschlossen Theaterstück gewissermaßen dialogisiert, wird Diop bereits in den 1980er Jahren international als Avantgardist der afrikanischen Literatur wahrge­ nommen¹⁴⁴. Gegenüber der breiten Rezeption von seinem Debüt wird Diops zweiter Ro­ man Les tambours de la mémoire (1987) zurückhaltender in der Forschung the­ matisiert. Der Fokus vieler Studien liegt auf der Erinnerung¹⁴⁵: Gehrmann spricht von Les tambours de la mémoire als «[einem Text] über die Möglichkeit und Un­ möglichkeit von Erinnerung und Gedächtnis, über die Rahmenbedingungen des kollektiven Gedächtnisses (Halbwachs), dem ein radikal individuelles Erinnern in einem einsamen Kampf gegenübergestellt wird.»¹⁴⁶ Ihr geht es um «das Wie­ dererscheinen der grundlegenden Struktur des Mythos’»¹⁴⁷ in Les tambours de la mémoire. Diops im Jahr 2000 erschienener Roman Murambi, le livre des ossements macht den senegalesischen Autor einem größeren Publikum bekannt. Es ist Diops erstes Buch, das ins Englische übersetzt wurde¹⁴⁸ und sein bisher einziges, das auf Deutsch¹⁴⁹ vorliegt. Diop war Teil einer Gruppe von afrikanischen Au­ tor:innen, die 1998 im Rahmen des Fest’Africa-Projektes nach Ruanda reiste und dort mit Überlebenden¹⁵⁰ des Genozids von 1994 sprach. Murambi wird sowohl

144 «In the subtle and brilliant dialogue which goes on between them [i. d. the novel and the play], as well as between the novel’s ‹Notes› and narrative, Boubacar Boris Diop has broken new ground in African literature and has provided us with a stimulating and penetrating literary me­ diation on revolution, objectivity and literature itself.» Ebda., S. 103. 145 So lesen etwa mehrere Wissenschaftler:innen Diops Roman im Verhältnis zu Le Clézios 1991 erschienenem Roman Onitsha, mit Blick auf die Erinnerung und das Erinnern im literarischen Raum. Vgl. Elisabeth Mudimbe-Boyi: The State, the Writer, and the Politics of Memory. In: Studies in Twentieth Century Literature 23, Nr. 1 (1999), S. 143–161 sowie Anne Donadey: Between Amnesia and Anamnesis: Re-Membering the Fractures of Colonial History. In: Studies in Twentieth Century Literature 23, Nr. 1 (1999), S. 111–116. Vgl. außerdem zur Erinnerung Hamidou Dia: Boubacar Boris Diop: Le mendiant du souvenir. In: Ethiopiques, Nr. 6 (1999), S. 112–134. 146 Susanne Gehrmann: Jeanne d’Arc in Afrika. Literarische Entwürfe mythischer Frauengestal­ ten. In: Bettina von Jagow (Hg.): Topographie der Erinnerung. Mythos im strukturellen Wandel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 95–108, hier S. 100. 147 Vgl. ebda., S. 96. 148 Vgl. Boubacar Boris Diop: Murambi, the Book of Bones. Übersetzung aus dem Französischen von F. McLaughlin, mit einem Vorwort von Eileen Julien. Bloomington: Indiana University Press 2006. 149 Vgl. Boubacar Boris Diop: Murambi. Das Buch der Gebeine. Übersetzung aus dem Französi­ schen von S. Thabet. Leipzig: Hamouda 2010. 150 Das Schreibprojekt war nicht unumstritten unter der lokalen Bevölkerung. Vgl. bswp. Niki Hitchcott: Writing on Bones: Commemorating Genocide in Boubacar Boris Diop’s Murambi. In: Research in African Literatures 40, Nr. 3 (2009), S. 48–61, hier S. 51.

1.3 Forschungsstand

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einzeln beziehungsweise im Werkzusammenhang Diops¹⁵¹ als auch im Vergleich mit weiteren aus dem Projekt entstandenen Publikationen¹⁵² untersucht. Haupt­ aspekte sind die literarische Verarbeitung der traumatischen Gewalterfahrung, die Möglichkeiten der ästhetischen Darstellung und die Bezüge der Literatur zu historischen und kulturellen Diskursen Ruandas.¹⁵³ Jean Sob ist Autor der bisher einzigen Monographie zu Diops Werk.¹⁵⁴ Er si­ tuiert dessen Schreiben vor dem Hintergrund der afrikanischen Literaturen, die sich seiner Einschätzung nach durch ihre Fokussierung auf politisches Engage­ ment bestimmen lassen.¹⁵⁵ Sob skizziert den senegalesischen Autor als Schlüs­ selfigur, die eine qualitativ-ästhetische Entwicklung der afrikanischen Litera­ tur in Gang gebracht habe.¹⁵⁶ Sein Schreiben charakterisiert er dabei als «paro-

151 Vgl. hierfür etwa – Fodé Sarr: Histoire, fiction et mémoire dans l’œuvre de Boubacar Boris Diop. Vgl. für Murambi das Kapitel II. – Virginie Brinker: «Mots-machettes», «mots-béquilles», «quenouilles de mots»: comment écrire le génocide des Tutsi au Rwanda? La spécificité de Murambi, le livre des ossements. In: Liana Nissim (Hg.): Boubacar Boris Diop. Interculturel Francophonies, Sonderausgabe, Nr. 18 (2010), S. 233–264. Sowie drei Beiträge in Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. Une écriture déroutante. Revue du Groupe d’Études Linguistiques et Littéraires, Sonderausgabe 2014: – Bojana Coulibaly: Haunting of the Return in Boubacar Boris Diop’s Thiaroye: terre rouge and Murambi: le livre des ossements, S. 27–48. – Pierre Gomez: Murambi: un tombeau à ciel ouvert, S. 49–68. – Pierre Vaucher: Les espaces de non-dit chez Boubacar Boris Diop, S. 197–223. 152 Dass diese Überlegung in der Konzeption des Projektes angelegt war, illustriert ein Kommen­ tar des Co-Organisators Nocky Djedanoum, der in Lille auch das jährliche Festival für afrikani­ sche Literatur und Kultur betreut: «‹[L]’ensemble [des textes] constituera une manière de monu­ ment élevé à la mémoire des victimes du génocide [. . . ].›» Niki Hitchcott: Writing on Bones, S. 50. Vgl. u. a. – Zakaria Soumaré: Le génocide rwandais dans la littérature africaine francophone. Paris: L’Harmattan 2013. Vgl. für Murambi S. 135–141. – José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ? Analyse des récits du massacre des Tutsi dans la littérature africaine. Montréal: Nota bene 2008. – Robert Stockhammer: Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp 2005. – Anja Bandau: «Ruanda: Schreiben aus der Pflicht zu erinnern.» Literatur zwischen Imagi­ nation und Zeugenschaft. In: Christa Eber/Brigitte Ständig (Hg.): Literatur und soziale Erfah­ rung am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Berlin: scrîpvaz 2003, S. 13–32. 153 Vgl. dazu auch José Semujanga: Origins of the Rwandan Genocide. New York: Humanity Books 2003. 154 Vgl. Jean Sob: L’impératif romanesque de Boubacar Boris Diop. 155 Vgl. ebda., S. 8. 156 Vgl. ebda., S. 9.

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dique».¹⁵⁷ Diops Texte seien von einer «pratique généralisée du déplacement, de négation et du rejet des conventions romanesques, du détournement des mythes»¹⁵⁸ gekennzeichnet. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht Diops ers­ ter Roman Les temps de Tamango, den Sob zum «roman-manifeste du récit pa­ rodique»¹⁵⁹ erklärt: In dem Text seien bereits alle Charakteristika des Schreibens Diops enthalten; außerdem werde daran deutlich, dass Diop sich strategisch als Autor der Avantgarde habe positionieren wollen.¹⁶⁰ Umfassend erkunden auch zwei Zeitschriften das Schreiben Diops.¹⁶¹ Die Analysen beziehen sowohl den auf Wolof erschienenen Roman Doomi Golo (2002)¹⁶² als auch die Novellensammlung La nuit de l’Imoko (2013)¹⁶³ und den Essayband L’Afrique au-delà du miroir (2007)¹⁶⁴ mit ein.

157 Ebda., S. 11. Das bereits in der Einleitung etablierte Verständnis der Parodie als «anti-ro­ man» (ebda., S. 19) bezieht Sob von Daniel Sangsue, der Romane des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort récit excentrique diskutiert hat (vgl. Daniel Sangsue, Le récit excentrique: Gautier, de Maistre, Nerval, Nodier. Paris: Corti 1987). Sob sieht bei Diop alle von Sangsue angeführten Merk­ male des récit parodique – «discontinuité, une composition problématique, des digressions, une hypertrophie du discours narratorial et une atrophie de l’histoire racontée, une mise en cause des personnages» verwirklicht. Vgl. ebda., S. 89. 158 Ebda., S. 12. 159 Ebda., S. 16. Warum Sob auf der Parodie als Schlüsselbegriff beharrt, begründet sich aller­ dings nicht vorrangig aus den Ergebnissen eines close readings des Roman-Œuvres Diops: So ist Sob explizit nicht an einer Auseinandersetzung mit dem Stand der Theorie gelegen (vgl. ebda., S. 83). Auch geht Sob nicht weiter auf den Forschungsstand zu Diop ein, beschränkt sich auf den allgemeinen Kommentar, dass sich die Forschung bisher nicht auf die Suche nach Diops «arrièrepensée esthétique» (ebda., S. 11, Kursivierung im Original, Sob bezieht sich auf ein zuvor genann­ tes Zitat aus Les temps de Tamango) gemacht und die Aufmerksamkeit stets auf dem Inhalt der Bücher gelegen habe (vgl. ebda.). Vielmehr braucht Sob das Konzept der Parodie, um seine Lesart von der direkten Präsenz des Autors im literarischen Text abzusichern, gilt ihm die Parodie doch als besonders elaborierte Form eines «jeu de cache-cache» (ebda., S. 21). Sob zitiert unterschieds­ los aus fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten Diops und liest sie stets als Absichtserklärungen des realen Menschen Boubacar Boris Diop (vgl. bspw. ebda., S. 203). Damit bricht er den von Coleridge etablierten Fiktionsvertrag, denn es kommt zu einer Aussetzung des willing sense of disbelief. Das ist m. E. nach eine Schwäche der in vielen Abschnitten erhellenden Studie Sobs. 160 Vgl. ebda. 161 Vgl. Liana Nissim (Hg.): Boubacar Boris Diop. Interculturel Francophonies, Sonderausgabe, Nr. 18 (2010) sowie Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. 162 Vgl. dazu die Beiträge von Papa Samba Diop in Liana Nissim (Hg.): Boubacar Boris Diop sowie von Ibrahima Sarr in Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. 163 Vgl. dazu die Beiträge von Marco Modenesi in Liana Nissim (Hg.): Boubacar Boris Diop sowie von Francesca Paraboschi in Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. 164 Vgl. dazu den Beitrag von Silvia Riva in Liana Nissim (Hg.): Boubacar Boris Diop.

1.3 Forschungsstand |

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Hervorzuheben ist ebenfalls die vergleichende Studie von Nasrin Qader, die das Verhältnis von «Katastrophe» und Erzählen neu beleuchtet.¹⁶⁵ Sie wendet sich Romanen von ben Jellohn, Abdelkebir Khatibi und Diop zu (Le Cavalier et son ombre¹⁶⁶ und Murambi¹⁶⁷). Ihre Untersuchung arbeitet dabei auch intertextuelle Bezüge zu Kafka sowie den Erzählungen von 1001 Nacht heraus.¹⁶⁸ Des Weiteren beschäftigt sich die Forschung mit epistemologischen Aspek­ ten, die Diops Schreiben immer wieder thematisiert. Daran schließen sich Fra­ gen nach der Spezifik der literarischen Darstellung des Wahnsinns¹⁶⁹, des Gen­

165 Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe. Qader wählt den Ausdruck récit, weil er das Moment der Wiederholung beim Erzählen in sich trage, auf das Alltägliche verweise und so eine Nähe zur Wahrhaftigkeit gewinne (vgl. ebda., S. 3). Damit ergeben sich laut Qader zwei Berüh­ rungspunkte zur Katastrophe, die sie in ihrer Dimension «as a problem for speaking, thinking, and writing» (ebda., S. 5) interessiert. Zum einen geht es ihr um die Distanz des erzählenden Sub­ jekts zur Geschichte: «subjectivity becomes inscribed as distancing, as turning away, as refusal» (ebda., S. 4); zum anderen bestimmt sie die Katastrophe als notwendige Ausgangsbedingung für das Erzählen, verstanden als récit: «I also maintain that since catastrophe as rupture within the thinking and speaking subject is the very condition for the possibility of récit as repetition, it is strangely affirmative» (ebda.). Erzählen erscheint als Hoffnung, als ethisch und politisch notwen­ dig insofern Quelle für die Imagination der Zukunft (ebda., S. 6). Qader hebt in letzter Konsequenz mit der Idee des Katastrophischen auf eine epistemologische Dimension ab: «I use ‹catastrophe› in the sense of a rotation, sudden and unexpected, in language and thought, brought about by a rupture and dispersion. Catastrophe marks the moment of contact between language, thought, and the surfaces of beings, things, and events. In this contact, sudden and unexpected, thought and language cannot return to themselves as grounds for self-certainty and knowledge. Instead, with the touch of these surfaces, both language and thought refract, disperse, and change direc­ tion and orientation.» Ebda., S. 7; eigene Hervorhebung. 166 Le Cavalier et son ombre situiert Qader als Erzählung zwischen einer vergangenen und einer zukünftigen Katastrophe und verortet in dieser zeitlichen Spannung das besondere Moment des Erzählens als solches. Vgl. ebda., S. 87. 167 Mit Blick auf Murambi geht es Qader um die (vermeintliche) Nicht-Erzählbarkeit respektive Nicht-Wissbarkeit der Erfahrung des Genozids. Die Geschichte im Sinne der schriftlich festgehal­ tenen Fakten ist ihrer Ansicht nach keine Quelle des Wissens; im Gegenteil: «The history reveals itself to be the source not of reassurance or knowledge but suffering the absurd. What he knows does not lead to better understanding but to the inknowable.» Ebda., S. 31 f. und S. 33. 168 Vgl. ebda., S. 101–107. 169 Vgl. Susanne Gehrmann: Face à la meute – narration et folie dans les romans de Boubacar Boris Diop. In: Présence Francophone 63 (2004), S. 145–159. Eine Gemeinsamkeit zwischen Le Ca­ valier et son ombre, Les tambours de la mémoire und Les traces de la meute ist laut Gehrmann, dass die Texte in weiterem Sinne davon handeln, diverse «voix étouffés et disparues» zu rekonstruie­ ren: In den Romanen gehe es ebenso viel um die Wahrheit einer Gruppe, einer Gesellschaft wie auch um die Wahrheit in einem Einzelfall. (Scheinbar) vom Wahnsinn befallene Figuren stehen machtvollen Akteuren gegenüber; der Wahnsinn zeige sich aber als eine Strategie des Widerstan­ des. Vgl. S. 146.

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rebezugs zum Kriminalroman¹⁷⁰ sowie der Literatur als Ort der Erkenntnis und des Wissens¹⁷¹ – im Sinne eines Gegendiskurses zu rassistischen eurozentrischen Perspektiven auf ‹Afrika›¹⁷² – an. Eine Gemeinsamkeit in der Forschung zu Boubacar Boris Diop und Mia Couto ist die Frage, inwiefern ihr Schreiben als postmodern gelten kann. Mit Blick auf Diop steht diese Diskussion nach Erscheinen seines vierten Romans Le Cavalier et son ombre im Jahr 1997 im Vordergrund.¹⁷³ Sellin etwa ordnet Diop – neben Kateb Yacine, Mohammed Dib, Assia Djebar, Ahmadou Kourouma und anderen – als postmodern ein.¹⁷⁴ Das Schreiben all dieser Autor:innen sei «a self-conscious game of melding, including ludic intertextuality».¹⁷⁵ Anhand der Debatte um die postmoderne Qualität von Diops Schreiben wird in besonderer Weise deutlich, wie problematisch die starke Verallgemeinerungs­ tendenz solcher Zuschreibungen in den Literaturwissenschaften sein kann und wie fraglich darüber hinaus die unterschiedslose Übertragung amerikanisch-eu­

170 Vgl. Susanne Gehrmann: On Crime Without Justice: Investigative Patterns and the Quest for Truth in Boubacar Boris Diop’s Novels. In: Christine Matzke/Anja Oed (Hg.): Life is a Thriller. Investigating African Crime Fiction. Köln: Rüdiger Köppe Verlag 2012, S. 97–112. Zwar wiesen die Texte Merkmale eines Krimis auf (Rekonstruktion angesichts eines (mysteriösen) Vorfalls, Detektivfiguren), unterschieden sich aber in einem zentralen Punkt: Bis zum Schluss er­ folge keine Wiederherstellung einer gestörten Ordnung und es bestehe auch keine Aussicht dar­ auf (vgl. S. 98). Die multiperspektivische Erzählweise destabilisiere jede Version der Geschichte als gültige: «The polyphony of many voices creates multiple versions of stories and of history; their diverse testimonies about the narrated events reveal contradictions and ruptures in the rep­ resented society.» S. 101. Vgl. dazu auch Susanne Gehrmann: Face à la meute, S. 146. Vgl. dazu auch Catherine Mazauric: Les mensonges de la mémoire: la part du lecteur dans Le Cavalier et son ombre de Boubacar Boris Diop et L’Aîné des orphelins de Tierno Monénembo. In: Pierre Halen u. a. (Hg.): Les langages de la mémoire. Littérature, médias et génocide au Rwanda. Metz: Centre de recherche Écritures 2007, S. 341–356. 171 Vgl. Jean Sob: Fiction et savoir dans l’œuvre romanesque de Boubacar Boris Diop. In: Muka­ la Kadima-Nzuji/Sélom Komlan Gbanou (Hg.): L’Afrique au miroir des littératures. Brüssel/Paris: AML Éditions/L’Harmattan 2002, S. 429–439. Sobs Studie behandelt summarisch alle bis 2000 erschienen Romane Diops. 172 Vgl. ebda., S. 429 ff. 173 Vgl. etwa Eric Sellin: Postmodernism and African Francophone Literature. In: Hans Bertens/ Douwe Fokkema (Hg.): International Postmodernism. Theory and Literary Practice. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 1997, S. 469–476. 174 Vgl. ebda., S. 470 f. 175 Ebda.

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ropäisch geprägter Kategorien auf Literaturen anderer Kontexte ist. Neben Sel­ lin¹⁷⁶ hat darauf auch Lüsebrink hingewiesen.¹⁷⁷ Andere Konzepte in der Forschung, die das Schreiben Diops in übergreifen­ den Zusammenhang zu stellen beabsichtigen, sind das Barocke¹⁷⁸ und das Pika­ reske¹⁷⁹. Referenzhorizont für diese Studien ist die Frankophonie.¹⁸⁰ Viele der da­ bei untersuchten Autor:innen haben sich kritisch von diesem Bezugsrahmen ab­ gesetzt, der nicht nur eine literaturwissenschaftliche Kategorie darstellt, sondern von Frankreich in der Academia weltweit institutionalisiert¹⁸¹ ist. Im Jahr 2007

176 Sellin stellt fest: «Thus many Francophone works may appear on a superficial level to have some kinship with postmodern expression whereas they actually reflect a profound fidelity to a particular African worldview.» Ebda. Diese Formulierung legt wiederum eine gewisse, mindes­ tens ebenso problematische Sicht nahe, die die ‹Andersartigkeit› afrikanischer Literaturen und Kulturen («a particular African worldview») essentialisiert. 177 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Die Herausforderung der außereuropäischen Literaturen der Ge­ genwart (Schwarzafrika, Lateinamerika) für die Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte im Kontext der Postmoderne. In: Daniel Fulda/Silvia S. Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter 2011, S. 571–584. 178 Vgl. die folgenden Beiträge in Jean Cléo Godin (Hg.): Nouvelles écritures francophones : vers un nouveau baroque ? Montréal: Presses universitaires de Montréal 2001: – Christin Ndiaye: De l’authenticité des mensonges chez Boubacar Boris Diop, S. 319–337. – Brigitte Brasseur-Legrand: Récurrence des mythes du chaos et des cataclysmes purifica­ teurs, S. 26–46. – Papa Gueye: L’Histoire comme fiction et la fiction comme histoire : Récit contestataire et contestation du récit dans les romans de Boubacar Boris Diop, S. 242–253. Vgl. dazu auch Susanne Gehrmann: Face à la meute, S. 7. 179 Vgl. Dacharly Mapangou: De Miguel de Cervantes à Boubacar Boris Diop : approche des mo­ dalités picaresques de la fiction africaine postmoderne. In : Bidy Cyprien Bodo (Hg.) : La question du picaresque dans la littérature africaine. Théories et pratiques. Paris: Harmattan 2016, S. 35–53. 180 Vgl. dazu die polemische Positionsnahme Serranos: «Against the Postcolonial is a call for a recognition of difference rather than Difference, a demonstration of the rewards of research that account for historical context and textual analysis. There is no single theory that satisfactorily explains what it means to be not-French; theories and generalizations should find their source in the texts [. . . ].» Richard Serrano: Against the Postcolonial. «Francophone» Writers at the Ends of French Empire. Lanham u. a.: Lexington Books 2005, S. 8 f. 181 Die Agence Universitaire de la Francophonie gründete sich laut ihrer Website 1961 und ver­ bindet inzwischen nach eigenen Angaben 944 Hochschuleinrichtungen in 116 Ländern weltweit. Sie finanziert mit einem Recherchefonds wissenschaftliche Vorhaben wie etwa auch das bereits zitierte Projekt zum Barock in der Frankophonie von Jean Cléo Godin.

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unterzeichneten 44 Schrifsteller:innen¹⁸², die auf Französisch schreiben, ein Ma­ nifest «Pour une ‹littérature monde› en français», das in einer Beilage der Tages­ zeitung Le Monde erschien.¹⁸³ Darin formulierten sie: «L’idée de la ‹francophonie› se donne alors comme le dernier avatar du colonialisme»¹⁸⁴ und forderten: Soyons clairs : l’émergence d’une littérature-monde en langue française consciemment af­ firmée, ouverte sur le monde, transnationale, signe l’acte de décès de la francophonie. Per­ sonne ne parle le francophone, ni n’écrit en francophone. La francophonie est de la lumière d’étoile morte. Comment le monde pourrait-il se sentir concerné par la langue d’un pays virtuel ? Or c’est le monde qui s’est invité aux banquets des prix d’automne. A quoi nous comprenons que les temps sont prêts pour cette révolution.¹⁸⁵

1.3.2 Forschungsüberblick zu Mia Coutos Schreiben Die mosambikanische Literatur, verstanden als eine noch junge Nationallitera­ tur, ist in der Forschung bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht worden.¹⁸⁶ Weitere Studien haben sich mit der regionalen Verflechtung der mo­ sambikanischen Literatur im 20. Jahrhundert¹⁸⁷ sowie ihrer Beziehung zu luso­

182 Darunter Maryse Condé, Édouard Glissant, Dany Laferrière, Alain Mabanckou, Wilfried N’Sondé und Abdourahman A. Waberi. 183 Vgl. Collectif: Pour une «littérature-monde» en français. In: Le Monde des livres, Oktober 2007. 184 Ebda. 185 Ebda. Vgl. weiterhin den wenig später erschienenen Band mit Beiträgen der Unterzeich­ ner:innen Jean Rouaud/Michel Le Bris (Hg.): Pour une littérature-monde. Paris: Gallimard 2007. 186 Vgl. etwa – Fátima Mendonça: Literatura Moçambicana. A história e as escritas. Maputo: Faculdade de Letras e Núcleo Editorial da Universidade Eduardo Mondlane 1998. – Patrick Chabal (Hg.): The Postcolonial Literature of Lusophone Africa. London: Hurst & Com­ pany 1996. – Francisco Noa: Império, Mito e miopia. Moçambique como invenção literária, Lissabon: Ca­ minho 2002. Noa geht es um die diskursive Konstruktion Mosambiks im kolonialen Roman. – Hilary Owen: Mother Africa, Father Marx. 187 Vgl. dazu – Stefan Helgesson: Transnationalism in Southern African Literature. Modernists, Realists, and the Inequality of Print Culture. London u. a.: Routledge 2009. – Pires Laranjeira: A negritude africana de língua portuguesa. Porto Afrontamento 1995.

1.3 Forschungsstand

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phonen Literaturen Afrikas und Brasiliens beschäftigt¹⁸⁸, und auch mündliche Erzähltraditionen¹⁸⁹ zu berücksichtigen versucht¹⁹⁰. Während die Forschungsliteratur zum Werk Boubacar Boris Diops vergleichs­ weise überschaubar ist, gibt es zum Werk Mia Coutos inzwischen sehr viele Studi­ en.¹⁹¹ Couto, der 1983 zuerst mit dem Gedichtband Raiz de orvalho¹⁹² als Autor in Erscheinung trat, hat seit seinem ersten Roman Terra sonâmbula (1992) elf weitere Romane¹⁹³ veröffentlicht. Dazu kommen einige Bände mit Erzählungen (contos), Kinder- und Jugendbücher sowie fünf Sammlungen mit journalistischen Beiträ­ gen und Reflexionen (crônicas). In den 1980er und 1990er Jahren arbeitete er zu­ dem in Maputo am Theater.¹⁹⁴

188 Vgl. etwa – Ana Mafalda Leite: Literaturas africanas e formulações pós-coloniais. Lissabon: Edições Co­ libri 2003. – Ana Mafalda Leite: Oralidades & escritas nas literaturas africanas. Rio de Janeiro: Editoria da Universidade do Estado do Rio de Janeiro 2012. – Laura Cavalcante Padilha: Novos pactos, outras ficções. Lissabon: Novo Imbondeiro 2002. 189 Couto steht dem Begriff Tradition kritisch gegenüber: «África tradicional, África profunda e outras entidades folclorizadas surgem como espaço privilegiado da tradição, lugar congeldao no tempo, uma espécie de nação que só vive estando morta.» Mia Couto: Encontros e encantos – Gui­ marães Rosa. In: ders.: E se Obama fosse africano? e outras interinvenções. Lissabon: Caminho 2009, S. 118. 190 Vgl. Ana Mafalda Leite: Oralidades & escritas pós-coloniais. 191 Vgl. etwa – Elena Brugioni: Mia Couto: representação, história(s) e pós-colonialidade. Braga: Univer­ sidade do Mino Centro de Estudos Humanísticos 2013. – Grant Hamilton/David Huddart (Hg.): A Companion to Mia Couto. Suffolk: Boydell und Bre­ wer 2016. Außerdem die Mia Coutos Werk gewidmeten Ausgaben zweier Zeitschriften: – Marie-Françoise Bidault (Hg.): Autour de Mia Couto. Études littéraires africaines, Nr. 25 (2008). – Cláudia Pazos Alonso/Phillip Rothwell (Hg.): Bulletin of Hispanic Studies 84, Nr. 4 (2007). 192 «In Mozambique poetry has always been the dominant literary genre.» Patrick Chabal: Mozambique. In: ders. u. a. (Hg.): The Postcolonial Literature of Lusophone Africa. Evanston: Northwestern University Press 1996, S. 29–102, hier S. 50. Vgl. dazu Celina Martins: Mia Couto: La sève de la poésie. In : Marie-Françoise Bidault (Hg.) : Autour de Mia Couto. Études littéraires africaines, Nr. 25 (2008), S. 9–15. Vgl. für eine Aufarbeitung der zunächst durchaus kontroversen Rezeption des Autors Fátima Mendonça: Mia Couto, le mal-aimé. In: ebda., S. 41–48. 193 Vgl. für eine Übersicht über das fiktionale, poetische und essayistische Werk von Mia Couto Kapitel 6.2 im Literaturverzeichnis. 194 Vgl. dazu Luís Madureira: Uma coisa fraterna. Mia Couto and the Mutumbela Gogo Thea­ ter Group. In: Grant Hamilton/David Huddart (Hg.): A Companion to Mia Couto. Suffolk: Boydell und Brewer 2016, S. 25–48. Für einen Überblick der Theateraktivitäten von Couto und mit seinen

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1986 publizierte Couto zum ersten Mal als Prosaautor: Vozes anoitecidas, ei­ ne Sammlung kurzer Erzählungen¹⁹⁵, erschien zuerst in Mosambik, ein Jahr später im portugiesischen Verlag Caminho¹⁹⁶. Schon im gleichen Jahr entstanden die ers­ ten wissenschaftlichen Studien dazu.¹⁹⁷ David Brookshaw bezeichnete den Autor 1989 als «a new voice from Mozambique», als er zwei Erzählungen Coutos erst­ mals in Englisch vorlegte.¹⁹⁸ Bei der Veröffentlichung seines ersten Romans Terra sonâmbula (1992) war Couto so bereits ein bekannter Autor. Chabal bezeichnete Coutos Romandebüt in seinem Referenzwerk The Postcolonial Literature of Luso­ phone Africa als «turning point»¹⁹⁹ in der mosambikanischen Literatur und be­ schrieb den Autor als Avantgardisten²⁰⁰. Dieses Urteil²⁰¹ dürfte zur raschen Ka­ nonisierung Coutos und schließlich einer «popularité presque planétaire»²⁰² bei­ getragen haben. In seiner Deutung von Terra sonâmbula hebt Chabal hervor, dass die Inszenierung des Erzählaktes im Fokus stehe²⁰³ und dadurch auf das kollek­

Texten sowie deren Verfilmungen (1987–2008) vgl. Marie-Françoise Bidault (Hg.): Autour de Mia Couto, S. 62 f. 195 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der portugiesische Ausdruck contos synonym für (kurze) Erzählungen verwendet und auf eine weitere Diskussion der Spezifika dieser Erzählform im lusophonen afrikanischen Raum verzichtet. Für eine detaillierte Analyse mit Schwerpunkt auf Mia Couto und Lilian Momplé vgl. Maria Fernanda Afonso: O conto moçambicano. Escritas póscoloniais. Lissabon: Caminho 2004. Patrick Chabal stuft die Erzählform der contos als am bes­ ten geeignet ein, um der kulturellen Vielfalt Mosambiks beizukommen und der oralen Tradition gerecht zu werden. Vgl. Patrick Chabal: Mozambique, S. 75–77. 196 «I[i]t was not until 1987 that he achieved international recognition within the Portuguesespeaking world, with the publication in Portugal of his short stories, Vozes anoitecidas.» David Brookshaw: Mia Couto: A New Voice from Mozambique. In: Portuguese Studies 5 (1989), S. 188–217, hier S. 189. 197 Vgl. Yara Frateschi Vieira: A pá e a chuva: Sobre cultura e natureza num conto de Mia Couto. In: Estudos Portugueses e Africanos 10 (1987), S. 65–68. 198 Vgl. David Brookshaw: Mia Couto. Brookshaw hat seither alle Übersetzungen von Coutos Werken ins Englische besorgt. 199 Patrick Chabal: Mozambique, S. 77. 200 Vgl. ebda. 201 Der Historiker Patrick Chabal (1951–2014) war fast 30 Jahre am Londoner King’s College tätig und forschte zu afrikanischer Geschichte, veröffentlichte darüber hinaus aber auch die interna­ tional maßgeblichen Übersichtswerke für lusophone Kulturen und Literaturen Afrikas. 202 Fátima Mendonça: Mia Couto, le mal-aimé, S. 41. Vgl. für eine Kritik an der Rezeption Coutos in der internationalen Academia João Cosme: Appropriating Mia Couto: Language, Identity and «Lusofonia». In: Bulletin of Hispanic Studies 84, Nr. 4 (2007), S. 435–452. 203 «The point of the book, as it is oral literature, is in the voyage, in the telling of the stories. It is in the process of the telling of the story that the reader (listener?) accumulates layers of expe­ rience, knowledge and perhaps insight. Most critically, the act of the telling, the literary journey

1.3 Forschungsstand

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tive Gedächtnis Mosambiks verwiesen werde.²⁰⁴ Chabal liest den Roman als Aus­ druck der Suche nach einem Selbstverständnis der Menschen im unabhängig ge­ wordenen Mosambik.²⁰⁵ Weitere Studien legen den Schwerpunkt auf die Darstel­ lung des Unabhängigkeitskampfes²⁰⁶ und des mosambikanischen Bürgerkriegs in Coutos Schreiben.²⁰⁷ Phillip Rothwell stellt Coutos Debütroman ins Zentrum seiner Monographie A Postmodern Nationalist: Truth, Orality and Gender in the Work of Mia Couto

itself, becomes part of the story and creates a cultural memory.» Patrick Chabal: Mozambique, S. 84. 204 Vgl. ebda., S. 83. Chabal warnt gleichzeitig vor einer reduktionistischen, dokumentarischen Lesart, die nur auf einen Abgleich mit ethnologischem Wissen strebte. Vgl. ebda., S. 84. 205 «Terra sonâmbula is without doubt a quest for Mozambique, that entity as real in interna­ tional law as it is elusive in the social ‹imaginary› of its inhabitants.» Ebda. S. 81. Chabal bezeichnet den Roman auch als «paradigmatic in two ways: First, because the content of the book is self-consciously an attempt to give literary expression to the present experience of Mozambique. Secondly, because the enterprise undertaken by Mia Couto is an effort, implicitly or explicitly, to contribute to the construction of a ‹national› culture – that part of nationhood without which the modern African nation-state does not, indeed cannot, exist. It is culture, the word, which transforms the land called Mozambique into a coherent entity. So that Mia Couto has written in his book a ‹text› in which the inhabitants of Mozambique might one day recognize themselves as Mozambicans.» Ebda., S. 82. Rothwell beschäftigt sich in seiner Monographie über Couto im 4. Kapitel mit Schrift und Mündlichkeit und nimmt auch Bezug auf Chabal. Vgl. Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 57. 206 Vgl. etwa mit Bezug zu Coutos Roman Vinte e zinco (1999): – Patrícia Vieira: The (In)Visibility of Colonial Wars in Mia Couto and J. M. Coetzee. In: Isabel Capeloa Gil/Adriana Martins (Hg.): Plots of War: Modern Narratives of Conflict. Berlin: De Gruyter 2012, S. 24–31. – Claire Williams: Blood Will Have Blood: Trauma, Transition, and Retribution in Mia Couto’s Vinte e zinco. In: Bulletin of Hispanic Studies 84, Nr. 4 (2007), S. 463–473. 207 Vgl. bspw. – Sean Rogers: «War is a Snake that Bites us With our Own Teeth»: Reading War in Southern African Literature from 1960 to 2002. Johannesburg: University of the Witwatersrand 2011. Dissertationsschrift. – Gilberto Matusse: A construção da imagem de Moçambicanidade em José Craveirinha, Mia Couto e Ungulani Ba Ka Khosa. Maputo: Universidade Eduardo Mondlane 1998. – Cornelia Uschtrin: Tailor of Dreams: Mia Couto’s Sleepwalking Land. In: Hilke Meyer-Bahl­ burg (Hg.): Levels of Perception and Reproduction of Reality in Modern African Literature. Leipzig: Institut für Afrikanistik der Universität Leipzig 1997, S. 38–46. – Robert Moser: Terra sonâmbula: manifestações de uma «odisséia» africana no Moçambique pós-independência. In: Portuguese Literary & Cultural Studies 10 (2003), S. 131–151. – Joachim Michael: Terra sonâmbula: une estória sur la fin du monde. In: Marie-Françoise Bidault (Hg.): Autour de Mia Couto. Études littéraires africaines, Nr. 25 (2008), S. 33–40.

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(2004).²⁰⁸ Er interpretiert Coutos Schreiben ausgehend von einem spezifischen Verständnis der Gegenwart als «empire».²⁰⁹ Rothwell kritisiert eine vereinfachen­ de Wahrnehmung von Coutos Texten²¹⁰ und möchte zeigen, wie «radikal» die Darstellung der Vielfältigkeit Mosambiks in dessen Werk ist.²¹¹ Die literarische Repräsentation von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Terra sonâmbula²¹² de­ stabilisiere rigide Binaritäten westlicher Prägung, so die Deutung von Rothwell.²¹³

208 Vgl. Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist. Vgl. weiterhin diese Arbeiten von Rothwell: – Fuzzy Frontiers. Mozambique: False Borders – Mia Couto: False Margins. In: Portuguese Lit­ erary & Cultural Studies 1 (1998), S. 55–65. – Mirroring Imperial Endings: Recognizing the Unknown in Nationalized Lusophone Texts. In: Hispania: A Journal Devoted to the Teaching of Spanish and Portuguese 85, Nr. 3 (2002), S. 486–493. – Between Politics and Truth: Time to Think Through the Other in Couto’s Pensatempos. In: Bulletin of Hispanic Studies 84, Nr. 4 (2007), S. 453–461. 209 Vgl. Michael Hardt/Anton Negri: Empire. Cambridge/London: Harvard University Press 2001 [2000]. Vgl. dazu Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 15 und 18 f. Die Diskussion, inwieweit Hardt und Negris Argumentation unter den veränderten Bedingungen des globalen Terrorismus in großem Maßstab noch Bestand hat bzw. ggf. modifiziert werden müsste, kann hier nicht geführt werden. Es soll an dieser Stelle aber erwähnt sein, weil Rothwell 2004 sich so stark darauf stützt. Empire erschien noch vor 9/11, das weithin als Zäsur in der neueren Ge­ schichte gewertet wird, die Macht- und Regierungspraktiken weltweit grundlegend verändert hat. 210 «[as a] postmodern, frontier-bashing, commodity, which assures the importance of their own critical discourses and detracts from Couto’s role as a forger of a distinct Mozambican identity. Paradoxically, Couto is fetishized as the mediator of his nation’s culture ‹to the outside world›.» Ebda., S. 19. 211 «Couto’s radicalism resides in his ability to transform a European heritage into an identity that respects diversity and exiles dogma. His technique strategically exploits and distorts and leads to the most compelling and idiosyncratic depiction of his nation. [. . . ] His central occupa­ tion is never to leave a duality intact.» Ebda., S. 25. 212 Vgl. ebda., insb. S. 75–90. Die Erzählung alterniert zwischen dialogischen Kapiteln einer Rah­ menerzählung, in deren Mittelpunkt die Figuren des Jungen Muidinga und des alten Mannes Tua­ hir stehen, die sich während des Bürgerkriegs in Mosambik auf der Flucht befinden und Unter­ schlupf in einem ausgebrannten Bus finden, und der als Vorlesen inszenierten Binnenerzählung der niedergeschriebenen Geschichte des Mannes Kindzu. 213 Vgl. ebda., S. 78. «Couto profoundly interrogates the distinction between orality and the script and, in the process, destabilizes both the Platonic and Hegelian competing traditions of Western orthodoxy.» Ebda., S. 19. Vgl. weiterhin auch S. 123 sowie die anschließende Analyse bis S. 132 für eine psychoanalytische Interpretation.

1.3 Forschungsstand

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Der Autor sei ein «postmodern²¹⁴ abolitionist of philosophical truth»²¹⁵. Coutos vierten Roman O último voo do flamingo, den ich in meiner hier vorliegenden Stu­ die interpretiere, sieht Rothwell als Schwellentext im Werkzusammenhang, da er die Eigenverantwortung der Mosambikaner:innen stärker als in anderen Texten betone.²¹⁶ Wie auch mit Blick auf Diops Schreiben hat die Forschung über Coutos Œu­ vre die motivische Anlehnung an das Genre des Kriminalromans herausgestellt und die Suchbewegung vor allem mit Blick auf das Selbstverständnis Mosambiks gedeutet.²¹⁷ Die Romane Terra sonâmbula, A varanda do frangipani und O último voo do flamingo werden zum Teil als Trilogie begriffen.²¹⁸

214 Für Rothwell scheint es sich bei postmodernism und magical realism um ähnliche Begriffe zu handeln: «The reason I cast Couto primarily as a postmodernist rather than an exponent of mag­ ical realism is due to his obsession for blurring frontiers, the overriding characteristic assigned to postmodernism.» Ebda., S. 32. 215 Ebda., S. 27. «The search for a unifying and unitary truth was the preoccupation of diverse Western philosophical schools from the time of Plato until Nietzsche laid the groundwork for the postmodern era. [sic!] Precisely what the truth is can never be known, if it is understood to mean the point at which all falsehood ceases. The more one interrogates the notion, the less probable its realization becomes. [. . . ] In postindependence Mozambique, the dogma of the FRELIMO government – based on a rhetorical fusion of scientific socialism and unifying nation­ alism – presupposed a totalizing truth that could logically account for all actions and situations in morally charged binary terms, and which sought to banish the multiple perspectives on reality that Mozambique’s complex, cultural syncretism offers.» Ebda., S. 29. 216 Rothwells Argumentation ist in dieser Hinsicht leicht missverständlich: Zu Beginn seiner Studie und auch im Titel bestimmt er Couto als «postmodern nationalist» (vgl. ebda., S. 28). Den­ noch habe Couto mit O último voo do flamingo eine Wendung vollzogen, und zwar weg vom Post­ modernen – das Rothwell als fragenden Modus versteht – hin zum Postkolonialen – das Rothwell wiederum als antwortenden Modus definiert (vgl. ebda., S. 170 und S. 172). Das heißt, Rothwells eigene Bestimmung des «postmodern nationalist» lässt sich am Ende seiner Studie nicht mehr halten. 217 Vgl. Sean Rogers: Living under a New Tree: Organic Representation of a Postwar Future in Mia Couto’s Under the Frangipani. In: Research in African Literatures 41, Nr. 3 (2010), S. 112–123. «Couto ostensibly employs the detective/murder genre in order to discuss issues faced by postcivil-war Mozambique. [. . . ] The frangipani tree is alien – originally from the Americas – and yet in this image it is deeply rooted in the land and allows for the old to return to their rightful place. It, like the narrative form of the detective/murder novel, has been imported, transplanted, and interrupted in such a manner as to make space for joining of many voices and many truths.» Ebda., S. 115 und S. 121. Vgl. dazu auch Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 31 ff. Vgl. Patrick Chabal: Mozambique, insb. S. 84 218 Vgl. Sean Rogers: «War is a Snake». Rogers konzentriert sich auf das südliche Afrika als Raum und untersucht Texte aus Mosambik, Angola, Südafrika und Simbabwe. Die Erfahrung des Krie­ ges ist laut Rogers ein zentrales Moment, dass die Region Südafrika als eine, wenn auch in sich heterogene, Einheit strukturiert. Vgl. ebda., S. 237.

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Die frühe Einordnung durch Chabal²¹⁹ setzte zwei Schwerpunkte in der For­ schung, die bis heute dominant sind: Zum einen geht es um Coutos «kreatives Portugiesisch»²²⁰, zum anderen um eine (implizite) Zuordnung zu Schreibweisen lateinamerikanischer Literaturen²²¹, insbesondere des Magischen Realismus. Letztere Zuschreibung haftet Coutos Schreiben seitdem wie ein Etikett an.²²² Die einschlägigen Studien zur Beziehung zwischen afrikanischen Literaturen und Magischem Realismus kommen aus dem anglophonen Raum. Sie befassen sich entweder mit literarischen Werken aus einer Region Afrikas²²³ (nämlich Westafri­ ka, aus dem etwa der nigerianische Autor Ben Okri stammt, dessen The Famished

219 «His short stories like his novel [. . . ] are remarkable for their imagination and language. They establish a new genre in Mozambican letters.» Patrick Chabal: Mozambique, S. 78 und vgl. dazu auch S. 81. 220 Vgl. dazu: – Fernanda Cavacas: Um moçambicano que diz Mombique em português, insb. Kapitel 3. – Maria Manuela Cunha: Mia Couto. Uma perspectiva africana da literatura em língua portu­ guesa. Um narrador poeta. Portugal u. a.: Chiado 2015. Sie bearbeitet einen ähnlichen Corpus wie Cavacas. Vgl. zur Sprache insb. S. 371–434. – Morton Münster: Das Unsagbare sagen. Ein Vergleich zwischen W. Hildesheimers Tynset und Masante, J. Benets Herrumbrosas lanzas und M. Coutos Estórias abensonhadas. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2013. Vgl. für weitere Literaturhinweise zu Couto in dieser Hinsicht auch ebda., S. 15. – María José Blaskovski Vieira: A linguagem em Estórias abensonhadas. In: Daniel Altami­ randa/Esther Smith (Hg.): Creación y proyección de los discursos narrativos. Buenos Aires: Dunken 2008, S. 549–555. – Graça Rio-Torto: Verbes néologiques du portugais: les choix de Mia Couto. In: Bernard Fra­ din (Hg.): La Raison morphologique. Amsterdam: Benjamins 2008, S. 197–214. 221 Chabals Assoziation zum Magischen Realismus ist jedoch sehr lose und scheint auf das hart­ näckige Klischee des Gegensatzes zwischen ‹kaltem› Westen und der ‹fantastischen/anderen› Welt Lateinamerikas abzustellen: «Recounted in the cold light of western culture, these stories may seem implausibly or mindlessly fantastic. Read as stories in the original text, however, they draw the reader into a different world, a world as attractively real as that of Alice in Wonderland or Gabriel Garcia Marquez’s Cien años de soledad.» Patrick Chabal: Mozambique, S. 79. 222 «One of the most important contributions that scholarship can make to the advancement of knowledge about writing in Portuguese from Africa, America or Asia is to counteract the pigeon­ holing effects of literary criticism in the mainstream media. It is, for example, hardly an exagger­ ation to say that it is a sine qua non of reviews in literary fiction translated from Portuguese that writers must be labelled as magical realists [. . . ]. I[i]f we are to consider this author’s work in any meaningful way, we must be aware of which aspects of magical realism [. . . ].» David Brookshaw: Mia Couto in context, S. 18. Überraschenderweise bezieht sich Brookshaw an dieser Stelle mit seiner Kritik nur auf die Mainstream-Medien, wenngleich sein Urteil auch für weite Teile der ang­ lophonen bzw. anglophon informierten Forschung über Coutos Schreiben gelten kann. 223 Vgl. Brenda Cooper: Magical Realism in West African Fiction. Seeing with a Third Eye. London u. a.: Routledge 1998.

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Road²²⁴ inzwischen emblematischen Status als der magisch-realistische Roman Afrikas erlangt hat²²⁵), mit Werken aus verschiedenen Teilen des afrikanischen Kontinents²²⁶, oder (im Anschluss an die vor allem auf lateinamerikanische Lite­ raturen bezogene Begriffsdebatte) mit Werken aus Afrika und Lateinamerika²²⁷. Die nachhaltige Kanonisierung von Mia Couto als magisch-realistischer Autor hängt auch damit zusammen, dass sein Werk verstärkt in anglophon fokussier­ ten Studien²²⁸ wahrgenommen wird. Diese beziehen sich zumeist auf Fragen des Magischen Realismus verstanden als literarische Repräsentation ontologisch dif­ ferenter Realität in Afrika.²²⁹ Verschiedentlich ist darüber hinaus der Vorschlag in

224 Ben Okri: The Famished Road. London: Cape 1991. 225 Vgl. Brenda Cooper: Ben Okri. In: Simon Gikandi Hg.): The Routledge Encyclopedia of African Literature. London u. a.: Routledge 2012, S. 412–413, hier S. 412. 226 Vgl. Gerald Gaylard: After Colonialism. African Postmodernism and Magical Realism. Johan­ nesburg: Wits University Press 2005. 227 Vgl. Christopher Warnes: Magical Realism and the Postcolonial Novel. Between Faith and Ir­ reverence. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2009. Carvalho diskutiert Coutos Schreiben im Rahmen eines Bestimmungsversuches des Postmoder­ nen in afrikanischer Literatur. Er unterscheidet folgendermaßen: «Postcolonial lusophone nar­ rative tends to exhibit its regie and poetic imagination in a written representation and allegory which contrasts with the ‹magical realism› of Latin America. It is shaped by the ‹cosmogonic re­ ality› which emerges in the legitimate (con)fusion of knowledge based on empirical facts and knowledge filtering in from the many, living beliefs coming from oral traditions [. . . ].» Alberto Carvalho: Modernism and Postmodernism in African Literature in Portuguese. In: Hans Bertens/ Douwe Fokkema (Hg.): International Postmodernism. Theory and Literary Practice. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 1997, S. 477–481, hier S. 480. 228 Vgl. zur Diskussion um eine vermeintliche Verdrängung des Portugiesischen durch das Eng­ lische in Südafrika João Cosme: Appropriating Mia Couto, S. 443 sowie Claudiany da Costa Perei­ ra: Moçambicanidade em processo ou estar desiludido não é desistir. Um estudo sobre a trajetória literária de Mia Couto. In: Letras de Hoje 43, Nr. 4 (2008), S. 11–17, hier S. 12. 229 Vgl. etwa zwei Studien, die sich auf ins Englische übersetzte conto-Sammlungen Coutos be­ ziehen: – Pietro Deandrea: «History Never Walks Here, It Runs in Any Direction»: Carnival and Magic in the Fiction of Kojo Laing and Mia Couto. In: Elsa Linguanti u. a. (Hg.): Coterminous Worlds: Magical Realism and Contemporary Post-Colonial Literature in English. Amsterdam: Rodopi 1999, S. 209–225, für Couto siehe S. 220–225. – Gerald Gaylard: After Colonialism. Gaylard liest Coutos contos neben Büchern von Au­ toren:innen wie John M. Coetzee aus Südafrika, Bessie Head aus Botswana, wiederum Kojo Laing aus Ghana sowie Ben Okri (wie auch Deandrea in seiner Studie) und Wole Soyinka aus Nigeria. Gaylard stellt zur Beziehung zwischen Postmodernem, Postkolonialem und Magi­ schem in afrikanischen Literaturen fest: «I tend to think of postcolonialism and magical realism as ‹Third World› postmodernism.» Ebda., S. 36. – Irene Marques: Transnational Discourses on Class, Gender, and Cultural Identity. West Lafayette: Purdue University Press 2011, vgl. insb. Kapitel 1.

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der Forschung auszumachen, die Literatur einer gleichermaßen ethnologischen Lektüre zu unterziehen und das Schreiben bestimmter afrikanischer Autor:innen als Ausdruck einer «animistischen Tiefenstruktur» zu bestimmen.²³⁰ Dieser Überbietungsgestus ist symptomatisch für ein immer wieder zu Tage tretendes Begehren, einzelne afrikanische Autor:innen hinsichtlich ihres reprä­ sentativen Gehalts für alle ‹afrikanischen› Autor:innen zu lesen. Dahinter wird der Anspruch sichtbar, ‹afrikanische› Literatur zu kategorisieren und handhab­ bar zu machen, ihre Vielfalt gleichsam zu domestizieren, wie es scheint. Vittoria Borsò hat mit Blick auf die Begriffsgeschichte und den hispanoamerikanischen Kontext konstatiert: Von den Schriftstellern des Booms teilweise selbst übernommen, feierte der Begriff [des Ma­ gischen Realismus] eine uneingeschränkte Vorherrschaft in der Forschung – besonders in der deutschsprachigen – im Hinblick auf die Literatur des Booms und teilweise darüber hin­ aus. Die Faszination dieser neuen Formel lag u. a. darin, daß man seitens der hispanoame­ rikanischen Kultur glaubte, damit den eigenständigen Beitrag der hispanoamerikanischen Erzählliteratur und Kunst in Bezug auf die internationale Ästhetik definieren zu können. Der neue Stil sollte auch das Identitätszeichen der Kultur Hispanoamerikas sein – einer von Europa unabhängigen Kultur. Umgekehrt sollte dieser Begriff den europäischen Interpreten ein Beschreibungsmodell für eine als fremd erfahrene Literatur und Kultur zur Verfügung stel­ len.²³¹ (eigene Hervorhebung)

Diese begriffliche Debatte steht nicht im Mittelpunkt der hier vorliegenden Studie. Doch verbirgt sich hinter der ostentativen Einordnung²³² Coutos als magisch-rea­ listischer Autor oftmals ein problematischer Gestus, worauf Couto in Interviews –

Nataniel José Ngomane: A escrita de Mia Couto e Ungulani Ba Ka Khosa e a estética do rea­ lismo maravilhoso. São Paulo: Universidade de São Paulo 2004. Dissertationsschrift. Vgl. et­ wa S. 55. Ngomanes Stude ist dennoch eher literaturtheoretisch interessiert und versteht die «Ästhetik des Magischen Realismus» als Schreibstrategie von Autor:innen nachkolonialer Räume. In diesem Sinne wird eine Analogie zwischen Lateinamerika und Mosambik postu­ liert. Vgl. ebda., S. 188 f. 230 Darunter fällt etwa der Begriff animist realism. Vgl. bspw. Ato Quayson: Strategic Transforma­ tions in Nigerian Writing: Orality & History in the Work of Rev. Samuel Johnson, Amos Tutuola, Wole Soyinka & Ben Okri. Oxford: Currey 1997 (im sechsten Kapitel geht es um Okris Roman Famished Road) sowie Harry Garuba: Untersuchungen zum animistischen Materialismus: Anmerkungen über das Lesen und Schreiben afrikanischer Literatur, Kultur und Gesellschaft. In: Irene Albers/ Anselm Franke (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne. Zürich: Diaphanes 2012, S. 263–277. In eine ähnliche Richtung gehen auch Begriffe wie anthropological magical realism, wie sie unter anderem bei Gaylard diskutiert werden. 231 Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse. Kriti­ scher Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. Frankfurt a. M.: Vervuert 1994, S. 89. 232 Vgl. dazu auch Román de la Campa: Magical Realism and World Literature: A Genre for the Times? In: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 23, Nr. 2 (1999), S. 205–219.

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selbst mehrfach hingewiesen hat. Er steht diesem Label ablehnend gegenüber²³³ und hat sich gegen den zumeist damit verbundenen essentialistischen Impetus ausgesprochen, so etwas wie eine Africanness in der Literatur zu definieren. Auf die Frage, was er von dem Konzept world literature halte, sagte Couto einmal: «This apparently new category is a way of classifying the literature of the so-called ‹others›.»²³⁴ Und in demselben Gespräch antwortet der Autor auf eine Frage zur Position seines eigenen Schreibens in Relation zu den aus Nigeria stammenden Autoren Daniel Fagunwa und Amos Tutuola²³⁵: The writing of Fagunwa and Tutuola were above all seen as emerging from African tradition and folklore. This is a reductive vision of their work. African reality is made up of cultural hybridities and dynamic combinations of culture, chronology, and knowledge. More than in any other continent, it doesn’t make sense to seek out pure elements in African literary writ­ ing.²³⁶ (eigene Hervorhebung)

Die Tendenz in der Forschung, etwa die moçambicanidade bestimmter Autor:innen nachzuweisen²³⁷, kritisiert auch Fonseca²³⁸: No contexto do espaço lusófono, a muito discutida questão da ‹africanidade› destas lite­ raturas (e, mais especificamente, da ‹moçambicanidade›, da ‹angolanidade› ou outra) é já um sintoma da preocupação com uma noção de autenticidade que, por vezes, parece re­ duzir a forte influência de modelos culturais recebidos do colonizador a um sinal de infe­ rioridade. Ao recusarmos um entendimento conservador de fronteira, exprimimos a nossa concordância relativamente a todos quantos consideram que a defesa de uma ‹pureza› afri­ cana impossível de definir reactiva uma atitude segregadora que prolonga indefinidamente

233 Fagunwas erster Roman wurde 1938 auf Igbo publiziert und wird gemeinhin als erster Ro­ man in dieser Sprache verstanden. Vgl. Daniel Fagunwa: Ogboju ode ninu igbo irunmale. 1938. Der Autor und spätere Nobelpreisträger Wole Soyinka aus Nigeria übersetzte das Buch. Vgl. The Forest of a Thousand Daemons: a Hunter’s Saga. Übersetzung aus dem Yoruba von Wole Soyinka, London u. a.: Nelson 1959 [1938]. 234 An Interview with Mia Couto, 5.2015, übersetzt von David Brookshaw. In: Grant Hamilton/ David Huddart (Hg.): A Companion to Mia Couto. Suffolk: Boydell und Brewer 2016, S. 14–16, hier S. 14. 235 Amos Tutuolas bekanntestes Buch ist sein erstes: The Palm-Wine Drunkard: and his Dead Palm-Wine Tapster in the Dead’s Town. London: Faber 1963 [1952]. 236 Vgl. An Interview with Mia Couto, S. 15 f. 237 Vgl. etwa – Claudiany da Costa Pereira: Moçambicanidade em processo ou estar desiludido não é de­ sistir. – Francis Utéza: Mia Couto: a lenda da noiva e do forasteiro ou la quête de la «Mozambicanité». In: Quadrant 12 (1995), S. 177–188. 238 Vgl. Ana Margarida Fonseca: Percursos da identidade. Representações da nação na literatura pós-colonial de língua portuguesa. Lissabon: Fundação Calouste Gulbenkian 2012.

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os binários coloniais a que anteriormente fazíamos referência, procedendo meramente à sua inversão.²³⁹

Mia Couto selbst hat die Vorstellung essentialistischer Wesenheiten mehrfach zu­ rückgewiesen, so etwa in einem Essay: «A mais perigosa armadilha é aquela que possui a aparência de uma ferramenta da emancipação. Umas dessas ciladas é a ideia de que nós, seres humanos, possuímus uma identidade essencial: somos o que somos porque estamos geneticamente programados.»²⁴⁰ In seinem jüngeren Œuvre hat Mia Couto die Perspektive auf Mosambik er­ weitert: O outro pé da sereia (2006) situiert Mosambik im Raum des Indischen Ozeans²⁴¹ und die Trilogie As areias do imperador (2015–2017) fokussiert die vor­ koloniale Zeit in Mosambik.

1.4 Gliederung der Studie Die vorliegende Arbeit ist in drei Analysekapitel gegliedert, die jeweils einem Ro­ man gewidmet sind. Im ersten Hauptkapitel geht es um gewaltsame Eingriffe in die Sphäre der Zeit in Diops Roman Le Cavalier. Das französische Kolonialregime ließ Geschichtsschreibung nur aus europäischer Perspektive gelten²⁴² und verfüg­

239 Ebda., S. 331 f. Für einen Überblick über die Diskussion von «Postkolonialität» im portugie­ sischsprachigen Raum vgl. ebda., S. 6–10. 240 Mia Couto: Quebrar armadilhas. In: ders.: E se Obama fosse africano? e outras interinven­ ções. Lissabon: Caminho 2009, S. 106. 241 Vgl. etwa Chandani Patel: Crossing the Dark Waters: Minor Narratives, Transnational Sub­ jects, and Alter-Histories of the African/Indian Ocean. Chicago: University of Chicago 2015. Dis­ sertationsschrift. 242 Siehe dazu auch die Ausführungen von Édouard Glissant über sein Verständnis von einer Poétique de la relation. Gallimard: Paris 1990. Glissant hat dort das rhizomatische Gewebe als Denkfigur vorgeschlagen, um Zugehörigkeiten zu fassen. In einem Interview erläutert Glissant zudem die Dreidimensionalität dieser poétique (Landschaft oder Raum, Zeit und Sprache) und führt vor dem Hintergrund der französischen Kolonialerfahrung der Karibik zur Gewalt des Re­ gimes, die in die Sphäre der Zeit eingriff, aus «La deuxième dimension est celle du temps. On revient là, tout de suite, aux rapports des cultures du monde entre elles, à un phénomène fon­ damental dans les colonialismes : le colonisateur prive le plus souvent le colonisé de sa mémoire historique, de la capacité de comprendre les événements et leurs causes. Par conséquent le rap­ port au temps par le biais du rapport à l’histoire, à la mémoire historique devient fondamental du point de vue politique et poétique. Par exemple, pour nous Antillais qui avons subi une forme bien particulière de colonisation dont l’acmé, l’expression ultime et majeure, a été l’assimilation à la culture française, à l’histoire de France, etc., la mémoire historique qui a été rabotée, usée, corrodée par l’acte colonisateur se présente comme un chaos.» Édouard Glissant/Philippe Artiè­

1.4 Gliederung der Studie

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te auch im Alltag über die Lebenszeit der Menschen: etwa indem Schule, Ausbil­ dung und Zugang zum Beruf kontrolliert wurden. Das Kolonialregime versuchte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschen zu beherrschen. Le Cava­ lier et son ombre erzählt senegalesische Geschichte und geht der Fabrikation von Mythen nach. Die Protagonist:innen des Romans versuchen, der Misere ihres Le­ bens zu entkommen: Das Paar Khadidja und Lat-Sukabé lebt in Armut und stößt jeden Tag auf das Fehlen von Perspektiven, die Abwesenheit von Optionen, nach eigenen Vorstellungen ihr Leben zu gestalten. Die Frau, Khadidja, verdingt sich schließlich als hauptberufliche Erzählerin. Das zweite Hauptkapitel analysiert die Sphäre des Körpers in Coutos Roman O último voo do flamingo, die als Austragungsort der kolonialen Gewalt dargestellt wird. Dabei geht es um kriegerische Gewalt, aber auch um Deportation und Aus­ beutung im Sozialismus als Folge der Ideologie des Homem Novo. In O último voo do flamingo steht vordergründig der männliche, koloniale Körper im Mittelpunkt: Während der Blauhelmmission 1994 in Mosambik explodieren UN-Soldaten auf geheimnisvolle Weise und hinterlassen lediglich ihr Geschlechtsorgan und ihre militärische Kopfbedeckung. Der Roman inszeniert die Darstellung von Gewalt am neokolonialen Körper als Spiegel, um die Reflexion der institutionalisierten Gewalteinwirkung einzufangen, die durch rassistische und kapitalistische Prak­ tiken im durch lange Kriege gezeichneten Mosambik perpetuiert wird. Im dritten Hauptkapitel steht die Sprache im Mittelpunkt. Murambi, le livre des ossements von Diop beschäftigt sich mit dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994. Der multiperspektivische Roman gibt Raum für die Erzählungen verschiedener Beteiligter an dem Geschehen. In einer dokumentarischen Schreibweise erkundet der Text die Möglichkeiten des Sprechens über eine extreme Gewalterfahrung, die sich aus der kolonialen Vergangenheit und der Fremdbenennung der Menschen nach einem rassistischen Schema von ‹Ethnizität›²⁴³ nährt. Die close readings werden in den Analysekapiteln in Dialog sowohl mit der in der Literatur bearbeiteten Geschichtserfahrung als auch mit den jeweiligen Ent­ stehungskontexten der Werke gebracht. Ergänzend werden die Erkenntnisse an

res: Solitaire et solidaire, Interview 2003 (zuerst erschienen in Terrain 41), hier zitiert nach: Jean Le Bris/Michel Rouaud (Hg.): Pour une littérature-monde, S. 77–86, hier S. 78–80. 243 Vgl. für die vielfältige, widersprüchliche und stark kontextabhängige Prägung der Kategorie «Ethnie» während der Kolonialzeit die globalhistorische Studie von Alexander Keese: Ethnicity and the Colonial State: Finding & Representing Group Identifications in Coastal West African and Global Perspective (1850–1960). Leiden: Brill 2016. Vgl. für einen sprachkritischen Kommentar zur Verwendung des Begriffs «Ethnie» im Deutschen Susan Arndt: Ethnie. In: Susan Arndt/Nad­ ja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wis­ sensarchiv deutsche Sprache. Münster: Unrast 2011, S. 632.

44 | 1 Einleitung

theoretische Überlegungen rückgebunden. Der Zugriff dieser Arbeit ist Peter Szon­ dis Überlegungen zu Philologischer Erkenntnis²⁴⁴ verpflichtet und versteht die li­ teraturwissenschaftliche Deutung als eine Praxis des Verstehens, die prinzipiell nie abgeschlossen ist²⁴⁵: «Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Er­ kenntnis, nie verlassen, Wissen ist hier perpetuierte Erkenntnis, oder sollte es doch sein.»²⁴⁶

244 Vgl. Peter Szondi: Hölderlin-Studien mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frank­ furt a. M.: Suhrkamp 1970. 245 Szondi verdeutlicht diesen Gedanken mit dem Beispiel der Interpretation eines hermeti­ schen Gedichts: «Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung a l s verschlüs­ seltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist. Es ist ein Schloß, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen. Indem aber für den Leser eines Kommentars das Wissen des Interpreten wieder zur Erkenntnis wird, gelingt auch ihm das Verständnis des hermetischen Gedichts als eines hermetischen. Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen ge­ rinnen. Auch für die Literaturwissenschaft trifft merkwürdigerweise zu, was Ludwig Wittgenstein zur Kennzeichnung der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften sagt: ‹Die Philosophie›, heißt es im Tractatis logico-philosophicus, ‹ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. [. . . ]›» Ebda., S. 12. 246 Ebda., S. 11.

2 Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre von Boubacar Boris Diop Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre setzt sich mit der franzö­ sischen Kolonialvergangenheit auseinander und nutzt dafür orale Erzählformen aus Westafrika. Erkenntnisleitend für die Analysen in diesem Kapitel ist die The­ se, dass Mythos und Geschichtserfahrung, aber auch die Suche nach einem neuen Ideal für die Menschen in der senegalesischen Gesellschaft in Le Cavalier über die literarische Modellierung von Zeit zur Darstellung kommen. Im Anschluss an Mi­ chail Bachtins Überlegungen in seinem Essay Chronotopos¹ geht es mir darum, den Zusammenhang von Zeit und Raum in seiner Beziehung zur histoire in den Blick zu nehmen. Bachtin versteht unter Chronotopos² die tragende Kategorie³, die jeden literarischen Text strukturiert, dabei aber spezifisch historisch geprägt ist: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaß­ ten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos («Raumzeit» müsste die wört­ liche Übersetzung lauten) bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathematischen Na­ turwissenschaft verwendet; als man ihn einführte und begründete, stützte man sich dabei auf die Relativitätstheorie. [. . . ] wir übertragen ihn auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher. Für uns ist wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zu­ sammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur [. . . ]. Im künstle­ risch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem

1 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Übersetzung aus dem Russischen von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Diese Ausgabe übernimmt Bachtins Studie Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik aus der Übersetzung der russischen Originalausgabe von 1986. 2 Frank und Mahlke differenzieren mindestens sechs verschiedene, sich zum Teil überschnei­ dende und in manchen Punkten durchaus widersprechende, Aspekte des Begriffs in Bachtins Essay: Chronotopos als i) kulturtheoretische, ii) gattungstheoretische, iii) erzähltheoretische Ka­ tegorie sowie iv) die gestalterische Funktion des Chronotopos, v) der Chronotopos und die literari­ sche Darstellung des Menschen und vi) der Chronotopos als produktions- und rezeptionsästheti­ sche Kategorie. Vgl. Michael C. Frank/Kirsten Mahlke: Nachwort. In: Michail M. Bachtin: Chrono­ topos. Übersetzung aus dem Russischen von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 201–242, hierfür S. 205–207. 3 Bachtin bezieht sich in seinem Verständnis von Raum und Zeit ausdrücklich auch auf Einsteins Relativitätstheorie. Vgl. zu diesem Aspekt ebda., S. 213–217. https://doi.org/10.1515/9783110723366-002

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sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewe­ gung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.⁴

Bachtin bestimmt dabei eindeutig die Zeit als das gewichtigere Moment in der Konstellation: Wir werden uns im Folgenden ganz auf das Problem der Zeit (als der ausschlaggebenden Komponente im Chronotopos) und auf all das (und nur das) konzentrieren, was in direkter und unmittelbarer Beziehung zu diesem Problem steht. Historisch-genetische Fragen wer­ den wir nahezu gänzlich beiseitelassen.⁵

In Diops Roman Le Cavalier strukturiert eine linear-chronologische Zeit die Ebe­ ne der Rahmenerzählung, eine mythisch-zirkuläre Zeit bestimmt die intradiegeti­ sche Erzählung der Abenteuer der Hauptfigur, des Cavalier. Die erzählerische Kategorie der Raumzeit soll als Achse für den Aufbau des vorliegenden Kapitels dienen, nachdem in der Einleitung (2.1) der französisch­ sprachige Gegenwartsroman Diops im Verhältnis zur westafrikanischen Erzähl­ tradition und Geschichte situiert wird. Sodann wird in Kapitel 2.2 die erzähleri­ sche Struktur des Romans nachvollzogen. Der Schwerpunkt liegt auf der linearchronologisch verfassten Rahmenerzählung. Es wird herausgearbeitet, wie sich dort die Anlage einer im Sinne Tzvetan Todorovs fantastischen Erzählweise nie­ derschlägt. Das betrifft vor allem die Figurendarstellung, wie gezeigt wird. Das Kapitel 2.3 konzentriert sich auf den autoreferentiellen und metaliterarischen Ge­ halt des Romans, der ein wesentliches Charakteristikum darstellt. Hier geht es vor allem um den Konnex von Geschichte, Erinnern und Erzählen. Der Mythos von der vergangenen Größe, der über die Binnenerzählung eines Nationalhelden model­ liert wird, ist der Fokus des Kapitels 2.4. Es geht um die Analyse der Bezüge zu historischen Mythen – insbesondere des Mythos vom mittelalterlichen Großreich Ghana, auch Wagadou⁶ genannt – und dem Ceddo-Epos von Kajoor sowie deren raumzeitlicher Gestaltung im Roman. Des Weiteren wird die Suche nach einem menschlichen Ideal für die zeitgenössische senegalesische Gesellschaft nachge­ zeichnet. Das Kapitel 2.5 nimmt zwei erzählerische Verfahren in den Blick – mise en abyme und Metalepse –, die Effekte der Vergegenwärtigung erzielen. Sie wer­ den als herausragende ästhetische Mittel interpretiert, um die im Roman thema­

4 Michail M. Bachtin: Chronotopos, S. 7. 5 Ebda., S. 9. 6 Ich bleibe bei der im Französischen gebräuchlichen Schreibweise «Wagadou», abweichend etwa von Werner Glinga: Literatur in Senegal, der auf Deutsch «Wagadu» schreibt.

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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tisierte Diskussion des dynamischen Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart nachvollziehbar zu machen. Das abschließende Fazit (2.6) stellt die wichtigsten Ergebnisse der Analyse noch einmal zusammen und bewertet sie im Hinblick auf das übergreifende Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie.

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman Im Zuge der französischen Kolonialherrschaft wurde die Fortschreibung eines ei­ genen kulturellen Gedächtnisses in Westafrika blockiert. Dieser komplexe und vielschichtige Prozess war eng verbunden mit der gewaltsamen Etablierung fran­ zösischer Regularien. Dies betraf etwa die Bereiche des Rechts und der Gesetzge­ bung sowie der Bildung und der Sprachpolitik.⁷ Es betraf aber auch das Narrativ dessen, was sich eigentlich im Laufe der Kolonialisierung zugetragen hat. Dieses Narrativ verblieb lange Zeit in der Hand der Kolonialmacht, und dies insbeson­ dere auch im Hinblick auf die Darstellung von Zeit und Raum. Das Chronotop der westafrikanischen kolonialen Erfahrung gelangte nur aus der Perspektive der Ko­ lonialisierenden zur Geltung. Autochthone Geschichten und Kulturen wurden da­ bei als Erfahrungen dezidiert als ‹Andere› konstruierter Menschen systematisch abgewertet.⁸ Die verbindliche Sprache war das Französische⁹, die darin verfass­

7 Vgl. János Riesz: Französisch in Afrika – Herrschaft durch Sprache. Frankfurt a. M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation 1998. 8 «On n’a peut-être pas suffisamment montré que le colonialisme ne se contente pas d’imposer sa loi au présent et à l’avenir du pays dominé. Le colonialisme ne se satisfait pas d’enserrer le peuple dans ses mailles, de vider le cerveau colonisé de toute forme et de tout contenu. Par une sorte de perversion de la logique, il s’oriente vers le passé du peuple opprimé, le distord, le défigure, l’anéantit.» Frantz Fanon: Les damnés de la terre, S. 201. 9 Riesz fasst den Zwiespalt, der die französische Sprachpolitik in den Kolonien bedingte, wie folgt: «Das Paradox und die Widersprüchlichkeit der französischen Sprachpolitik in Afrika – von 1820 bis zur heutigen ‹Frankophonie› – liegt hier begründet: Einerseits ist man bemüht, mög­ lichst vielen immer besser die eigene Sprache beizubringen. Andererseits muß man fürchten, daß einem dadurch immer mehr vom Eigenen abhandenkommt. Wenn das Monopol der Sprache nicht mehr vorhanden ist, wer garantiert dann noch das Macht-Monopol? Die Kunst des kolonia­ len Sprachunterrichts wird also darin bestehen, die Sprache als Instrument der Herrschaft ein­ zusetzen, aber nicht zu viel davon preiszugeben, um den Kolonisierten in gebührendem Abstand und in subalterner Position zu halten.» János Riesz: Französisch in Afrika, S. 5. Vgl. ebda., S. 13–20 für den Zusammenhang zwischen dem Status des Französischen in Frankreich als grundlegen­ dem Element des Nationalbewusstseins und der Kolonialgeschichte. Tobias Dodge Warner beschäftigt sich mit der Herausbildung des senegalesischen literarischen Feldes und ist in diesem Rahmen der historischen Praxis des Sprachunterrichts auf Grundlage von Archivmaterialien wie etwa Zeitschriften zu kolonialen Unterrichtsmethoden und von Schü­

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ten Wissensbestände sowie die französischen Formen der Geschichtsdarstellung galten mit uneingeschränkter Autorität. Die französischsprachige Gegenwartsliteratur suchte sich in vielfältiger Weise von dieser epistemischen wie zugleich physisch verlängerten Gewalt abzusetzen und selbstbewusst zu äußern. Boubacar Boris Diop ist seit seinem Romandebüt in den 1980er Jahren einer der bedeutendsten Autoren in dieser Hinsicht. Sein 1997 veröffentlichter Roman Le Cavalier et son ombre etabliert ein senegalesisches Nar­ rativ für die historische Gewalterfahrung des Kolonialismus, indem die Länge der Bruchkanten mit der vorkolonialen Ceddo-Gesellschaft¹⁰, zugleich aber auch die Tiefe der Einwirkungen in das Selbstverständnis und die Reichweite der Folgen für den heutigen Senegal vermessen werden. Dies wird über die erzählerische Ka­ tegorie der Zeit im Roman dargestellt. Um den Roman präziser verorten zu können, werden in dieser Einleitung die wichtigsten Bezüge zur westafrikanischen Literatur und ihrem Verhältnis zu Geschichte nachvollzogen. Diese Einordnung ist grundlegend für die detaillierte Analyse des Textes in den Kapiteln 2.2–2.5. Mit den Anfängen der Négritude-Bewegung in den 1930er Jahren begannen zahlreiche westafrikanische Autor:innen, die in der französischen Sprache schrie­ ben, auf die Tradition der im Westsudan¹¹ verbreiteten Mythen und Epen zurück­ zugreifen – im Sinne eines Gegendiskurses zum kolonial-französischen Narra­ tiv.¹² Diese Texte bildeten den Anfang eines bis heute andauernden Prozesses, an das eigene kulturelle Gedächtnis anzuschließen und Ausdrucksformen von Ge­ schichtserfahrung¹³ gegenüber der gewaltsamen Kolonialisierung zu gestalten.¹⁴

ler:innen angefertigten Arbeiten nachgegangen. Vgl. Tobias Dodge Warner: The Limits of the Lit­ erary, insb. Kapitel I, S. 18–21. 10 Darauf wird im Weiteren genauer eingegangen. 11 Mit dem «Westsudan» (von arabisch bilad al-sudan, ) ist eine historische Region be­ zeichnet, die sich von der Atlantikküste Nordafrikas ausdehnt bis zum heutigen Äthiopien im Os­ ten des Kontinents. Vgl. J. L. Spaulding: Sudan. In: Encyclopedia Britannica Online, 8.3.2019. Vgl. für eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse zum Westsudan Pekka Masonen: The Negroland Revisited: Discovery and Invention of the Sudanese Middle Ages. Helsinki: Academia Scientiarum Fennica 2000. 12 Vgl. dazu die umfassende Studie Werner Glinga: Literatur in Senegal. 13 In der École William Ponty (mit den wechselnden Standorten St. Louis im Norden Senegals: 1903–1913; Île de Gorée vor Dakar: 1913–1937 und Sébhikotane bei Dakar: 1937–1965), die für die Lehrerausbildung zuständig war, musste jeder Schüler der Abschlussklasse seit den 1930er Jah­ ren eine ethnographische Studie über seine Heimatgemeinde verfassen; einem «looking back on his origins from a ‹rational› perspective», wie Warner, der einige der rund 700 Texte einsehen konnte, schreibt. Vgl. Tobias Dodge Warner: The Limits of the Literary, S. 26–27. 14 Wie Warner auf Grundlage von Archivforschung ausführt, gehörte es im kolonialen französi­ schen Schulsystem Anfang des 20. Jahrhunderts zur Praxis, dass Schüler:innen und Lehrer:innen

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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Dazu gehören auch Versuche, die vielfältige mündliche Überlieferungstradition der Kulturen Westafrikas in der Form des Romans zu bewahren. Vor diesem Horizont ist das Werk von Boubacar Boris Diop zu situieren. Sei­ ne künstlerische Arbeit ist sowohl kritisch auf das koloniale Narrativ als auch auf die westafrikanischen Erzähltraditionen bezogen. Sein Œuvre ist damit «Arbeit am Mythos»¹⁵ im doppelten Sinne – es gilt der Kritik von Mythos und der Wis­ sensgenese durch die Reflexion von Mythen zugleich.¹⁶ Dies lässt sich in der gesamten Werkgeschichte nachvollziehen: Diops erster Roman aus dem Jahr 1981, Le temps de Tamango, bezieht sich intertextuell auf die Novelle Tamango des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée (1829). Es geht aber, wie Jean Sob es ausgedrückt hat, weniger um den Mythos des ver­ sklavten Afrikaners Tamango, als um den Mythos der sozialen Revolution.¹⁷ Be­ sonders sticht auch der Roman Les tambours de la mémoire (1991) in dieser Hin­ sicht hervor, in dem der Mythos einer «afrikanischen Jeanne d’Arc»¹⁸ bearbeitet wird. Diop greift damit auf eine in westafrikanischen Gesellschaften seit langem etablierte Praxis zurück, Selbstverständnis im Erzählen auszuhandeln. Werner Glinga hat diesen Zusammenhang in seiner Studie über senegalesische Litera­ tur – in ihrer jeweiligen intertextuellen Beziehung zu oralen Epen und Mythen aus animistischen¹⁹ und islamischen Beständen – nachgezeichnet:

zum Sammeln und Verschriftlichen mündlicher Erzählungen angehalten wurden, die teilweise im Unterricht zum Einsatz kamen. Vgl. ebda., S. 25–26. Die Sammlungen wurden auf einfache Erzählungen beschränkt, die als «Folklore» beschrieben und, so Warner, systematisch dekon­ textualisiert wurden: «[. . . ] this feedback loop of collecting and reproducing oral texts did not establish the value of particular versions of folktales; rather, it worked to establish the authority of the form in which they were being written down, the authority of the methods of quoting and interpreting the voices of the social world.» Ebda., S. 26. 15 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Sonderausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 [1979]. Werner Glinga hat die Nähe zwischen Blumenbergs Überlegungen und der westafrikani­ schen Tradition des «travailler le mythe» kommentiert. Vgl. Werner Glinga: Literatur im Senegal, S. 156. 16 Vgl. Jean Sob: L’impératif romanesque de Boubacar Boris Diop, S. 186–195. 17 Vgl. ebda. 18 Vgl. Susanne Gehrmann: Jeanne d’Arc in Afrika. 19 Das Konzept des Animismus wurde in der europäischen Ethnologie im 19. Jahrhundert ge­ prägt und stand in enger, problematischer Verbindung zu den Kolonialreichen. Inzwischen gibt es Versuche, die Kategorie in der Wissenschaft zu rehabilitieren. Vgl. Irene Albers/Anselm Fran­ ke (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne. Zürich: Diaphanes 2012. Ich meine mit dem Begriff spirituelle Traditionen und soziale Organisationsmuster, die sich entweder zeitlich vor der Aus­ breitung des Islam situieren oder sich als vom Islam unterschieden verstehen.

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Die oralen und schriftlichen Literaturen Westafrikas sind in auffallend ähnlicher Weise von einer Faszination geprägt, die der politischen Macht und dem Lauf der Geschichte gilt. Diese Faszination schlägt sich nicht nur in der Bevorzugung historischer Stoffe nieder, sondern auch in der Form des literarischen Sprechens selbst. Das literarische Wort erweist sich in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur als ein Medium geistiger Archäologie. [. . . ] Die Geschichtlichkeit in der Literatur ist jedoch mit der realen Geschichte nicht identisch. Das literarische Sprechen geht zumeist nicht auf den faktischen Ablauf der Geschichte ein wie die Historiographie, sondern greift höchst selektiv bestimmte Epochen und Figuren heraus. Das Selektionsprinzip der Literatur richtet sich nach dem Bedürfnis, Gegenwartsprobleme zu interpretieren [. . . ].²⁰

Diops Roman Le Cavalier et son ombre zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er diese Verfahren hypostasiert, das heißt, sie auf die Ebene der Darstellung hebt. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte artikuliert sich in der westafrika­ nischen Literatur vornehmlich über den Mythos. Fruchtbar für diesen Kontext ist Glingas Unterscheidung zwischen modernem und historischem Mythos, die ich für die Analyse von Diops Roman beibehalten möchte: Während die historischen Mythen zumeist in Form einer zusammenhängenden Legende überliefert sind, präsentiert sich der moderne Mythos in seiner oralen und fragmentarischen Form als ein einziger Gedanke, wie etwa im «Mythos von der vergangenen Größe». [. . . ] Der historische Mythos ist wie der moderne Mythos einer kontinuierlichen Veränderungsarbeit un­ terworfen. In der westafrikanischen Diskussion wird diese kollektive Transformationsarbeit ge­ läufig mit dem Ausdruck «travailler le mythe» bezeichnet.²¹ (eigene Hervorhebung)

Diops Reflexion von Mythen ist also im Sinne Schillers²² als dezidiert sentimen­ talisch und nicht als naiv zu verstehen.²³ Das heißt, es geht gerade nicht darum,

20 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 22 f. 21 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 32. 22 Vgl. für das Verständnis der Begriffe «naiv» und «sentimentalisch» an dieser Stelle Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. Projekt Gutenberg 2018 [1879]. 23 «‹Naiv› und ‹sentimentalisch› sind keine Epochenbegriffe, sondern bezeichnen Dichtungsund Empfindungsweisen. Während sich der n. Dichter ganz der Unmittelbarkeit eines Gegen­ stands überläßt, ‹bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt, und sich bloß auf Nachah­ mung der Wirklichkeit beschränkt›, thematisiert der s. Dichter über den Gegenstand zugleich dessen Beziehung zu ihm und zu einer Idee [. . . ]. ‹Naiv› wird als ‹perspektivischer› Begriff ein­ geführt: n. ist etwas nicht an sich, sondern nur in einer bestimmten Konstellation mit seinem anderen: der Gegenstand muß ‹Natur› sein, und er muß ‹n.› sein, ‹d. h. daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme›.» Schillers Überlegungen begründen damit eine der «ersten der geschichtsphilosophisch orientierten Ästhetiken der Romantik und des Deutschen Idealismus». N. N.: Naiv/sentimentalisch. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Online. Schwabe Verlag 1971–2007.

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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nach einer vermeintlichen Authentizität des Mythos im westafrikanischen Kon­ text zu suchen. In Le Cavalier et son ombre spielt – vor allem in einer eingebetteten Binnen­ erzählung – der Mythos von der vergangenen Größe²⁴, wie ihn Glinga bestimmt hat, eine Rolle. Im Zentrum steht dabei die Entwicklung eines modernen Mythos: Eine Regierungskommission – vermutlich im Senegal – sucht einen Helden, auf den die Nation zurückbezogen werden kann. Im Zuge der Reflexionsarbeit des Ro­ mans wird aber auch der historische, in Legenden eingegangene «Mythos von Wa­ gadou» aufgegriffen, der das mittelalterliche Großreich Ghana evoziert, «in der se­ negalesischen Literatur eines der geheimnisvollsten Symbole für die vergangene Größe versunkener schwarzer Zivilisationen.»²⁵ Die «kollektive Transformationsarbeit» (Glinga) wird in Diops Roman nicht nur dargestellt, sondern auch ironisch gebrochen: Der Held wandelt sich stän­ dig, von einer Statue zu einer lebendigen Figur, schließlich getötet und verein­ nahmt von ihrem Schatten, einem besessenen Staatsbeamten, der die Statue ver­ folgt hat. Danach changiert der Held zwischen Rächer, Verbrecher und Anwalt für die Schwachen und Unterdrückten. Diese Charakterwechsel vollziehen sich zum Teil abrupt. Öfter jedoch werden sie von der intradiegetischen Erzählerin ange­ kündigt und herbeigeführt. Die Hypostasierung der erzählerischen Dynamik im Roman stellt kritisch her­ aus, wie sich moderne Mythen begründen und darüber hinaus, wie sie politischideologisch dienstbar gemacht werden.²⁶ Diese Analyse wird in Le Cavalier ästhe­ tisch im Rückgriff auf Formen oraler Erzähltraditionen geleistet. Einerseits wird

24 Vgl. dazu auch die Arbeiten des senegalesischen Historikers Cheikh Anta Diop, der in seinen Arbeiten einem möglichen Ursprung afrikanischer Kulturen im alten Ägypten nachgeht: Cheikh Anta Diop: Nations nègres et cultures I/II. Paris: Présence Africaine 1979. 25 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 57. Glinga fasst wie folgt zusammen: «Die Sahara sei noch grün und bewaldet gewesen [. . . ]. Die Katastrophe des Untergangs der Zivilisation und die Verwandlung des Landes in eine Wüste haben die Nachkommen in der Sage von Wagadu festge­ halten. Die Region Wagadu, von der in der oralen Tradition die Rede ist, entspricht dem Reich, das die arabischen Geographen als Ghana bezeichnen. In der Sage wird die Schlange Biida (oder auch Sia), die Herrin von Wagadu, getötet und im Augenblick ihres Todes stößt sie einen Fluch gegen die Bewohner aus. Das Land wird zur Wüste, und die Menschen in alle Winde vertrieben.» Ebda. Die Schlange verlangt überdies ein Jungfrauenopfer, wie ich ergänzen möchte. Dieses De­ tail wird in Diops Bearbeitung im Roman relevant. 26 Susanne Gehrmann spricht in ihrem sehr dichten Überblick zum oralen Erzählen im Ro­ manwerk Diops mit Blick auf Le Cavalier von «Entmythologisierung von Geschichte», weil sich die Binnenerzählerin schließlich für eine Antiheldengeschichte entscheidet. Insofern steht diese Einschätzung nicht im Widerspruch zu meiner These, sondern es muss nur der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs «Mythos» bei Gehrmann und bei mir ggf. Rechnung getragen werden. Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 13.

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mit dem Wagadou-Mythos ein historischer Mythos in Anschlag gebracht. Ande­ rerseits wird dieser mythische Stoff vor allem in die Form des conte²⁷ eingebettet. Ergänzend evoziert die Ausgestaltung der Hauptfigur, des Cavalier, einen histori­ schen Kontext, der regional vor allem in epischen Erzählungen bewahrt wurde. Entscheidend für meine hier vorgeschlagene Analyse des Romans Le Cava­ lier et son ombre ist, dass über die Hauptfigur des Cavalier das Heldentopos auf­ gerufen wird. Es ist eng mit Texten verknüpft, die in der Region Senegambia als episch verstanden werden. Der Verweis auf diese Erzähltradition ist im Rahmen des Romans von Bedeutung, weniger die Suche nach etwaigen spezifisch regiona­ len Merkmalen, die eine Gattung Epos ausmachen können. Indes ist der Verweis ein doppelter: Die Diskussion um die Gattung Epos ist bis heute eurozentrisch und die Einordnung afrikanischer Erzählstoffe war – zumindest in ihren Anfän­ gen – stark davon beeinflusst. Negativer Bezugspunkt in der Epenforschung über und in (West)afrika ist eine Aussage von Ruth Finnegan geblieben:²⁸ In ihrer erst­ mals 1970 veröffentlichten Studie Oral Literature in Africa vertrat Finnegan, es ge­ be in Afrika keine Epen.²⁹ Lange Zeit wurde in den Literaturwissenschaften ausschließlich aus euro­ päischer (und nordamerikanischer) Perspektive über afrikanische Literaturen gesprochen. Insofern ist auch diese Fachdebatte oft ideologisch-politisch grun­ diert.³⁰ Dies gilt umso mehr, als dass die afrikabezogenen wissenschaftlichen Arbeiten zahlreicher Länder aus dem globalen Norden sich in enger Nähe von Anthropologie und Ethnologie formiert haben, die bis weit ins 20. Jahrhundert rassistisch-evolutionistische Theorien unterstützten.³¹ Das gilt gleichermaßen für die Einordnung literarischer Produktionen jenseits von Europa, was auch 27 Contes sind kürzere Prosaerzählungen, die sehr fantasievoll gestaltet sein können und zum Teil eine Moral für die Zuhörerschaft bereithalten. Ihr Merkmal ist der ritualisierte Dialogaus­ tausch mit dem Publikum. Ich komme insb. in Kapitel 2.3 darauf zurück. 28 Vgl. etwa Dieng, Bassirou: Introduction. In: ders.: L’épopée du Kajoor. Français et Wolof. Paris: Agence de coopération culturelle et technique/Dakar: Centre africain d’animation et d’échanges culturels 1993, S. 7–40, hier S. 26 sowie Jonathon Repinecz: Whose Hero?, S. 10. 29 Finnegan revidierte ihre Position später, in einer kritischer Stellungnahme zu der von ihr aus­ gelösten Polemik im Vorwort zur zweiten Auflage von 2012. Vgl. Ruth Finnegan, Ruth: Oral Liter­ ature in Africa. Cambridge, UK: Open Book Publishers 2012 [1970]. 30 Vgl. Jonathon Repinecz: Whose Hero?, Kapitel 1, S. 10–32 und an dieser Stelle insb. S. 13 f. 31 «Auf den ersten Blick besteht die schwarze Vernunft also aus einer Vielzahl von Stimmen, Aussagen und Diskursen, Kenntnissen, Kommentaren und Sottisen, deren Objekt das Ding oder die Menschen ‹afrikanischer Herkunft› bilden, und dem, was angeblich deren Name und Wahr­ heit ist (die Attribute und Eigenschaften, das Schicksal und dessen Bedeutung als empirischer Ausschnitt der Welt). Die Moderne spielt in ihrer Entstehung jedoch eine zentrale Rolle, und zwar einerseits aufgrund der Berichte der Reisenden und der Forscher, der Soldaten, und Aben­ teurer, der Kaufleute, Missionare und Kolonisten; andererseits aufgrund der Schaffung einer

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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die Beschäftigung mit außereuropäischen Epen einschließt: «[. . . ] heroic poetry was cast as a recognizable sign along the path of human evolution, and societies possessing it were placed above those thought to be without it.»³² Die Rezeption der westafrikanischen Literaturproduktion stand während der französischen Kolonialzeit in einem eigentümlichen Spannungsfeld, wie Repinecz in seiner Studie analysiert hat: Einerseits sei – in Einklang mit der Zu­ schreibung an Afrika als eine ‹geschichtslose› Weltregion – von einem Teil der Forscher:innen die Möglichkeit des Epos bestritten worden, wozu auch die zu Anfang des 19. Jahrhunderts populären Sammlungen von als primitiv eingestuf­ ten contes passten. Andererseits habe es unter französischen Forscher:innen, die in Afrika arbeiteten, sehr wohl eine gewisse Kenntnis epischer Erzählungen gegeben.³³ Für das Erkenntnisinteresse meiner Studie ist die Konsequenz von Belang: Die französische Kolonialmacht ignorierte oder leugnete den vorhandenen kulturel­ len Bestand in Westafrika nicht vollkommen, aber sie machte ihn sich dienstbar für eine französisch konturierte Geschichtsschreibung der Region.³⁴ Dies lässt sich in besonderer Weise an den Epen zu den sogenannten «mittelalterlichen Großreichen»³⁵, wie etwa dem Malireich, zeigen: Colonial historiography was fascinated with the formation of complex states in Africa; hence the liberal use of the word «empire» in historiographical writing and the detailed description (or invention) of great historical states as objects of study. [. . . ] Epic was the point at which this interest in empire intersected with the interest in oral tradition. Sunjata is the most vi­ sible example of this intersection, since its subject is the founding of the Mali empire in the 13th century.³⁶

‹Kolonialwissenschaft›, deren letzter Nachkomme die ‹Afrikawissenschaft› darstellt. Wissen­ schaftliche Gesellschaften, Weltausstellungen, Museen, Sammlungen von Liebhabern ‹primiti­ ver Kunst› – ein ganzes Spektrum von Mittlern und Institutionen beteiligt sich zu dieser Zeit an der Herausbildung dieser Vernunft und ihrer Umwandlung in Allgemeinwissen oder einen Ha­ bitus.» Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Übersetzung aus dem Französischen von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2017 [2014], S. 62 f. 32 Jonathon Repinecz: Whose Hero?, S. 14. 33 Vgl. ebda. S. 14–15. 34 Vgl. ebda., S. 15. 35 Vgl. für einen Überblick die rezente Studie Michael Gomez: African Dominion. A New History of Empire in Early and Medieval West Africa. Princeton: Princeton University Press 2018. Vgl. für Mali die Kapitel 5 (insb. zum Sunjata-Epos), 6 und 7. 36 Jonathon Repinecz: Whose Hero?, S. 16.

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Für die europäische Rezeption westafrikanischer Epen waren unter anderem der französische Ethnologe Maurice Delafosse³⁷, der das dreibändige Werk Haut-Sé­ négal-Niger (1912)³⁸ veröffentlichte, und der deutsche Forscher Leo Frobenius³⁹ zentrale Akteure. Frobenius wurde unter anderem mit seinem Werk Auf dem We­ ge nach Atlantis bekannt⁴⁰, war eng verbunden mit der Négritude und ist bis heute eine positive Bezugsgröße in der Wissenschaft geblieben⁴¹ – trotz sehr streitbarer Äußerungen.⁴²

37 Vgl. ebda., S. 16–20. Die Position von Delafosse, der ebenfalls die sogenannte Hamiten-Hypo­ these in seinem Buch vertrat, sei von François Equilbecq aufgenommen und weitergeführt wor­ den. Repinecz fasst dessen rassistische Argumentation auf Grundlage seiner Texte und des dort verwendeten Vokabulars wie folgt zusammen: «Thus, the presence of epic as noble genre, as well as the ability to compare Africa with Europe, is explainable because the genre’s inventors are not really black: they have white Semitic blood through which the high sentiments necessary for epic were made known and transmitted to them.» Ebda., S. 19. 38 Vgl. Maurice Delafosse: Haut Sénégal – Niger (Soudan français). 3 Bände, Digitalausgabe der Französischen Nationalbibliothek. Paris: Émile Larose 1912. 39 Vgl. Leo Frobenius (Hg.): Atlantis: Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas. Bände 1–12, Nachdruck, Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie München. Nen­ deln: Kraus 1978. Vgl. für den westafrikanischen Kontext insb. die Bände 5–9 und 11. 40 Vgl. Leo Frobenius (Hg.): Deutsche inner-afrikanische Forschungs-Expedition 2, Auf dem Wege nach Atlantis. Bericht über den Verlauf der zweiten Reise-Periode der D. I. A. F. E. in den Jahren 1908 bis 1910. Unveränderter Nachdruck d. Ausg. Berlin: Vita Dt. Verlagshaus 1911. Bremen: Dogma 2013. Der deutsche Ethnologe Leo Frobenius hat in seiner bekanntesten Veröffentlichung, Auf dem We­ ge nach Atlantis, an vielen Stellen eine rassistisch begründete hierarchische Einteilung afrikani­ scher Menschen vorgenommen. Dabei wollte er in epischer Literatur eine Beziehung zum mittel­ alterlichen Europa erkennen, die er wiederum auf Grundlage rassisch-völkisch begründeter Ver­ wandtschaftsbeziehungen erklärte, wie Repinecz ausführt. Vgl. dazu Jonathon Repinecz: Whose Hero?, S. 21. Die Arbeiten von Angehörigen der französischen Kolonialmacht zeichneten sich al­ lesamt durch eine solche Vergleichspolitik aus; Repinecz beschreibt eine «general tendency in colonial letters to depend on such comparisons in order to make Africa legible, and to locate it on the hierarchy of civilizations.» Ebda., S. 24. Vgl. für eine abschließende kritische Bemerkung zu der anhaltenden Vergleichsdebatte S. 31 f. 41 So erwähnt etwa das nach ihm benannte Frobenius-Institut für kulturanthropologische For­ schung an der Goethe-Universität Frankfurt auf seiner Website lediglich in einem Satz, Frobenius sei schon zu Lebzeiten umstritten gewesen. 42 Stefan Eisenhofer formuliert Frobenius’ tiefe Ambivalenz in einem Vortrag so: «Doch schwankte Frobenius stets und konsequent inkonsequent zwischen höchster Bewunderung und tiefster Verachtung für Afrika, dessen Menschen und dortige Phänomene. [. . . ] Oft findet man auf einer einzigen Seite Passagen, die hohen Respekt gegenüber Afrika bezeigen, und nur wenige Zei­ len später folgen fragwürdigste Herabwürdigungen.» Vgl. Stefan Eisenhofer: Auf den Trümmern von Atlantis – Leo Frobenius zwischen Forschung und Vision. Vortrag auf der 2. Herbsttagung der

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman |

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Mit Blick auf antike (Odyssee, Ilias, Aeneis) und europäische Epen (Nibelun­ genlied, Cid) hält Joachim Küpper als «gattungskonstitutive[n] Merkmale»⁴³ des Epos fest: «das Basis-Motiv des Kampfes [. . . ] und das Ideal der Kämpferehre.»⁴⁴ Für die westafrikanische Literatur⁴⁵ hat etwa Lilyan Kesteloot die soziale Funktion von Epen hervorgehoben. Kesteloot versteht unter Epen Heldengesän­ ge⁴⁶, die eine Funktion des Zusammenhalts und der Selbstbeschreibung einer

Vereinigung der Freunde Afrikanischer Kultur in Frankfurt/Main (Museum der Weltkulturen), Leo Frobenius und Nigeria, 6.–8.11.2009. Eisenhofer bleibt mit seiner Kritik an Frobenius eher verhalten und versucht, Leben und Werk in Bezug zu damaligen Diskursen und dem akademischen System zu setzen. Dagegen formu­ lierte der nigerianische Autor Wole Soyinka 1986 in seiner Nobelpreisrede (auf die ich im Epilog meiner Stude nochmals näher eingehen werde) eine scharfe Kritik an der Stellung Frobenius’ in wissenschaftlichen Diskursen: «Frobenius was also a notorious plunderer, one of a long line of European archeological raiders. The museums of Europe testify to this insatiable lust of Europe; the frustrations of the Ministries of Culture of the Third World and, of organizations like UNESCO, are a continuing testimony to the tenacity, even recidivist nature of your routine receiver of stolen goods. Yet, is it not amazing that Frobenius is today still honoured by black institutions, black leaders, and scholars? That his anniversaries provide ready excuse for intellectual gatherings and symposia on the black continent, that his racist condescensions, assaults have not been permit­ ted to obscure his contribution to their knowledge of Africa, or the role which he has played in the understanding of the phenomenon of human culture and society, even in spite of the frequent patchiness of his scholarship?» Wole Soyinka: This Past Must Address Its Present. Nobelpreisrede vom 8.12.1986. 43 Bauer, Busch und Reck zählen in ihrem Reader zur Theorie des Epos – wobei sie sich still­ schweigend auf Europa und die Antike beschränken – drei Merkmale für epische Texte auf: keine zielgerichtete (sondern eher eine in die Breite gehende) Handlung mit Spannungsverlauf; Spra­ che (Stil) und Thema sind dem Epos vorgegeben; es gibt eine Heldenfigur. Darüber hinaus halten sie den besonderen Stellenwert epischer Texte fest: «Das Epos ist die Geschichte aller und nicht die Geschichte eines einzelnen.» Manuel Bauer/Nathanael Busch u. a. (Hg.): Texte zur Theorie des Epos. Stuttgart: Reclam 2015, S. 21. 44 Joachim Küpper: Transzendenter Horizont und epische Wirkung. Zu Ilias, Odyssee, Aeneis, Chanson de Roland, El Cantar de mío Cid und Nibelungenlied. In: Poetica 40 (2008), S. 211–267, hier S. 241. 45 Vgl. für einen kritischen kurzen Überblick zu – vor allem westlichen – Studien über afrika­ nische Epen Lilyan Kesteloot: La problématique des épopées africaines. In: Neohelicon 16, Nr. 2 (1989), S. 247–264, hier S. 259 f. Vgl. die Diskussion des Genre Epos mit Blickrichtung auf den senegalesischen Kontext bei Bassirou Dieng: Introduction, S. 25–33. 46 Belcher, der eine umfassende Studie über Epen in Afrika in englischer Sprache – und damit zugänglich für ein weitaus größeres Publikum – vorgelegt hat, fasst den Begriff epic wie folgt: «the term ‹epic› refers to an extended narrative on a historical topic, delivered in public perfor­ mance, most often with musical accompaniment, by a specialized performer.» Stephen Belcher: Epic Traditions of Africa. Bloomington: Indiana University Press 1999, S. xiv. Diese drei definitori­ schen Merkmale seien nicht monolithisch zu verstehen, sondern ließen sich je nach Kontext un­

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Gruppe haben.⁴⁷ Sie teilt die afrikanischen Epen⁴⁸ in mindestens zwei große Gruppen: «l’épopée féodale et l’épopée clanique».⁴⁹ Erstere seien in hierarchisch organisierten Gesellschaften entstanden und spielten eine wichtige Rolle für die lokale Geschichtsschreibung.⁵⁰ Zu dieser Kategorie zählt Kesteloot auch «la gran­ diose épopée du Kajoor», das Epos über das Königreich Kajoor (und später KajoorBawol) auf dem Gebiet des heutigen Senegals.⁵¹ Für die zweite Gruppe der «épopées claniques» stellt Kesteloot fest, dass es im Kern ebenfalls um eine Heldenerzählung gehe. Jedoch, und das ist mit Blick auf Le Cavalier durchaus interessant, wohne diesen Texten⁵² oft eine fantastische Qualität inne.⁵³ Wichtig festzuhalten ist die Bestimmung dieser Erzählungen als

terscheiden; so gebe es etwa professionelle, publikumswirksame Aufführungen epischer Stoffe, aber auch individuell von Privatpersonen im kleinen Kreis vorgetragene Erzählungen. Belcher verzichtet explizit darauf, einen Helden bzw. Heldentum als konstituierenden Bestandteil des Epischen zu integrieren, da die Frage nach Heldenhaftigkeit von kulturell spezifischen Wertvor­ stellungen abhänge. Vgl. ebda. Das ist prinzipiell richtig, verweist aber eher auf das problema­ tische Unternehmen, für Stoffe des ganzen afrikanischen Kontinents eine Gattungsbestimmung festschreiben zu wollen. In Le Cavalier wird der Heldentopos explizit aufgerufen und über die Referenz zur Ceddo-Figur, die das Epos von Kajoor evoziert, mit epischen Erzählungen in Verbin­ dung gebracht. 47 Vgl. Lilyan Kesteloot: La problématique des épopées africaines, S. 249. 48 Repinecz weist darauf hin, dass der Begriff épopée africaine im Französischen zunächst für koloniale Heldenerzählungen mit französischen Protagonisten und afrikanischem Setting reser­ viert war. Vgl. Jonathon Repinecz, Whose hero?, S. 15. 49 Ebda., S. 248. Für eine Erweiterung auf noch feinere Kategorien vgl. Lilyan Kesteloot: De l’oral à l’écrit, du mythe à l’histoire, dans les épopées africaines. In: dies.: Dieux d’eau du Sahel. Voyage à travers les mythes de Seth à Tyamaba. Paris: Harmattan 2007, S. 15–30, hier S. 21. 50 «[. . . ] leurs épopées sont greffées sur les héros et l’histoire guerrière des royaumes ainsi struc­ turés et constituent d’ailleurs une source incontournable pour l’historiographie africaine. [Ils] sont assez comparables à nos chansons de geste [. . . ].» Lilyan Kesteloot: La problématique des épopées africaines, S. 250. 51 Vgl. ebda., S. 250. Vgl. für die Aufzählung weiterer Werke ebda., S. 250–252. 52 Während dieser Typ des Epos oft in eine vielschichtige Performance mit theatralen, gesangli­ chen und tänzerischen Einlagen eingebunden sei, überwiege beim «épopée féodale» der Ernst, «étant aussi nettement politique.» Ebda., S. 254. 53 «Elles [les épopées] prennent un caractère nettement fantastique ; le merveilleux qui se rédui­ sait souvent à la magie ordinaire dans les épopées féodales, prend ici des proportions ‹hénaurnes› voire surréalistes.» Ebda., S. 252. Als Beispiel erwähnt Kesteloot epische Traditionen der DoualaKultur (im heutigen Kamerun) : «Les performances des héros douala [. . . ] ne connaissent pas de limites : ils se battent contre l’océan, ils franchissent les nuages, fendent les montagnes, perforent les vampires dans les en­ trailles de la terre. Leurs affrontements (toujours le duel cependant) sont des ébranlements cos­ miques. Ils sont d’ailleurs descendants du soleil ou de la lune et participent de cette nature qu’ils

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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Quelle eines politischen Bewusstseins: «cette littérature ‹collective› censée déve­ lopper les aspirations nationales.»⁵⁴ Diops Roman Le Cavalier bearbeitet oralliterarische Erbstücke nicht nur künstlerisch, sondern geht weit darüber hinaus: Es geht in seinem Roman zwar auch um die Frage, wie die senegalesische Gesellschaft mit der Gewalterfahrung des Kolonialismus umgehen sollte. Darüber hinaus diskutiert der Text zugleich die Gefahr, insbesondere Mythen des kollektiven Gedächtnisses im Impetus der Selbstbehauptung politisch zu missbrauchen. Damit verbunden ist die Suche nach einem angemessenen Menschenbild, das einerseits in der kulturhistori­ schen Erfahrung eingebettet, andererseits jedoch in der veränderten politischen Realität handlungsfähig bleibt. Hier nutzt Diops Roman eine Tradition in West­ afrika, nach der das Literarische seit langem als privilegierter Ort der Reflexion verankert ist: Im kollektiven Geschichtsbewusstsein Westafrikas sind bestimmte Epochen, Herrscher und dramatische Wendepunkte zum Mythos erhoben worden, und diese mythischen Höhepunk­ te der eigenen Geschichte haben zu einem Selbstverständnis beigetragen, wonach die eige­ ne Geschichte Teil der Universalgeschichte ist. Zu diesen historischen Höhepunkten gehö­ ren die Abstammung aus Nubien und Altägypten, die mittelalterlichen Großreiche Ghana, Mali und Songhai, die animistische Ceddo-Gesellschaft und ihr archetypischer Held Samba Geelajegi, der Antagonismus zwischen Animismus und Islam und die Kolonialgesellschaft von den anfänglichen Handelsniederlassungen bis zur militärischen Eroberung. Diese Epo­ chen und ihre menschlichen Leitbilder gehören in sehr unterschiedlicher Form zur realen Ge­ schichte und zur fiktionalen Literatur.⁵⁵ (eigene Hervorhebung)

Der Rekurs auf regional begründete Mythen dient Diop als Folie für eine Dis­ kussion um das senegalesische Selbstverständnis. Es geht jedoch in Le Cavalier nicht darum, eine Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Gegensatz von «autochthonem Mythos und okzidentalem Logos»⁵⁶ zu führen. Der Roman arbei­ tet sich an einer solchen Gegenüberstellung gar nicht erst ab. Vielmehr wird das Erzählen als das Verfahren herausgestellt, das jeden Mythos erst hervorbringt.⁵⁷

maîtrisent dans l’épopée, pour la plus grande joie des auditeurs simples humains. L’épopée cla­ nique propose aussi plus souvent des héros marginaux, voire asociaux [. . . ].» Ebda., S. 253. 54 Ebda. 55 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 24. 56 Wie es beispielsweise Joachim Küpper im lateinamerikanischen Kontext für Asturias Hombre de maiz analysiert hat. Vgl. Joachim Küpper: «Doscientas mil jóvenes ceibas de mil años». Auto­ chthoner Mythos und okzidentaler Logos in Miguel Ángel Asturias’ Hombres de maiz. In: Roma­ nistisches Jahrbuch 42, Nr. 1 (1991), S. 303–327. 57 Vgl. dazu auch Susanne Gehrmann: Jeanne d’Arc in Afrika. Gehrmann untersucht die Roma­ ne Béatrice du Congo von Bernard Dadié und Les tambours de la mémoire von Boubacar Boris

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Mythos ist mit Blumenberg immer schon Logos, in dem Sinne, das sich der Mensch die Wirklichkeit interpretierend aneignet: Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär und macht es nicht zur erledigten Sache, nach dem Logos des Mythos im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit zu fragen. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.⁵⁸

In Diops Roman geht es nun vorrangig darum, den durch politisch-ideologisches Kalkül ins Vergessen gedrängten Konstruktcharakter eines jeden Mythos wieder ins Gedächtnis zu bringen. Wenn hier von Mythos die Rede ist, dann bezieht sich das vornehmlich auf den Mythos des Helden, der im Roman eng mit der Frage nach einem gesellschaftlich abgestimmten Ideal des Menschen verbunden ist. Glinga hat darauf hingewiesen, dass dies für die westafrikanischen Gesellschaf­ ten seit langer Zeit eine Praxis der Selbstverständigung in der Literatur ist: Der Wandel der Mythen beinhaltet einen Wandel der Ideale. Bei der Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die der Mythos leistet, transformiert er auch sich selbst. Die «Arbeit am Mythos» erfolgt als kontinuierliche Korrektur und Neuformulierung des Zivilisa­ tionsmodells. Die Verarbeitung der Geschichte im Mythos äußert sich als Fortschreibung der menschlichen Ideale. Die bisher schriftlich fixierten mythischen Texte Westafrikas reichen bis in die Epoche um das Jahr 1000 u. Z. zurück. In den mittelalterlichen Texten dominiert die Figur des idealen Herrschers. Erst in der Neuzeit wandelt sich der epische Held als idea­ ler Führer langsam zur Figur des idealen Menschen.⁵⁹

Auf Grundlage des wiedergewonnenen Wissens um die Relativität eines Ideals zeichnet sich in Diops Roman ab, dass es ein ‹So-Sein› des Menschen, einem es­ sentialistischen Verständnis folgend, nicht geben kann.⁶⁰ Die in diesem Roman literarisierte Suche nach einem neuen Ideal für das In­ dividuum in der senegalesischen Gesellschaft ist durchaus politisch. Der Helden­ mythos – oder der Mythos der vergangenen Größe, um mit Glinga zu sprechen –, auf den der Roman rekurriert, ist keineswegs neutral, sondern bereits in Machtdis­ kurse eingeschrieben. Er ist verschiedentlich bewahrt worden, etwa in der Form

Diop. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Texte in ihren kreativen Bearbeitungen von Mythen erstens deren inhärentes Innovationspotential – ausgehend von einem Verständnis des Mythos als dynamisches System (vgl. S. 95) – aufzeigen und zweitens Literatur als Ort der Aushandlung kollektiver Erinnerung inszenieren; Dadié als der Négritude nahestehender Autor noch eher kon­ servativ-affirmativ, Diop als Teil einer von der Unabhängigkeit desillusionierten Generation da­ gegen kritisch-experimentell. Vgl. ebda., S. 106 ff. 58 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 18. 59 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 36. 60 Vgl. dazu auch Jean Sob: L’impératif romanesque de Boubacar Boris Diop, S. 149.

2.1 Epos, Mythos und Geschichte im senegalesischen Roman

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des Epos.⁶¹ Der Roman nutzt das oralliterarische Genre des conte, das seit jeher selbstreflexiv und stark auf den Austausch mit der Zuhörerin ausgerichtet ist.⁶² Dieses Wissen um die Macht ritualisierter Kommunikation wird in Diops Roman als Ressource ins Spiel gebracht, die Zukunft des Landes selbstbestimmt zu ge­ stalten – ohne in bloße Heldenrhetorik zu verfallen. Dabei ist der historische Bezug zur präkolonialen Ceddo-Gesellschaft Sene­ gambias⁶³ zentral. Dass Le Cavalier darauf referiert, wurde vereinzelt zwar kon­ statiert⁶⁴, jedoch ist die entscheidende Bedeutung dieser kritischen Bezüge bis­ lang nicht umfassend herausgearbeitet worden. Diese Bedeutung erschließt sich in vier Zusammenhängen, die in der folgenden Analyse ausgearbeitet werden: Zunächst steht der Ceddo in der senegalesischen Historiographie für eine bestimmte historische Gesellschaftsform. Damit verbindet sich ein spezifisches Ethos, das sich auf zwei zentrale Konzepte der Wolof-Kultur stützt: jom (Ehre) und rafetaay (gesellschaftliche Schönheit).⁶⁵ Diops Roman nimmt diese gesellschaft­ liche Bedeutung implizit auf und aktualisiert sie in kritischer Absicht. Zweitens vergegenständlicht die Figur des Ceddo das Ringen um die Darstel­ lung erlebter Geschichte⁶⁶ – dies gilt in der senegalesischen Tradition ebenso wie in Diops Roman. Drittens ist mit dem Bezug auf die Figur des Ceddo eines der bekanntesten Epen der senegalesischen Tradition aufgerufen, L’épopée du Kajoor⁶⁷, das zu Be­ ginn des 16. Jahrhunderts entstand und einer der zentralen Texte im kulturellen Gedächtnis Westafrikas darstellt. Diop nutzt das Heldenmotiv des Epos für eine kritische Reflexion der Konzeption des Helden.

61 Etwa im Epos von Kajoor. Vgl. Bassirou Dieng: L’épopée du Kajoor. Français et Wolof. Paris: Agence de coopération culturelle et technique/Dakar: Centre africain d’animation et d’échanges culturels 1993. 62 Das conte zeichnet sich durch einen ritualisierten Austausch zwischen Erzähler:in und Zuhö­ rer:innen aus. Darauf wird in Kapitel 2.3 näher eingegangen. 63 Der Ceddo war ein Krieger in den vorkolonialen Staaten. Ab dem 18. Jahrhundert gewannen die Ceddos deutlich an Macht und entwickelten sich zu bedeutenden politischen Akteuren. Vgl. Werner Glinga: The Ceddo’s Ghost: History and Fiction in Senegal. In: Ufahamu. A Journal of African Studies 16, Nr. 2 (1988), S. 45–59, hier S. 45. 64 Vgl. etwa Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 13 f. 65 Vgl. Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 530–533. Glinga diskutiert hier vor allem die Arbei­ ten von Assane Sylla und insb. La philosophie morale des Wolof. Dakar: Sankoré 1987. Des Weite­ ren übernimmt er in Anlehnung an Bassirou Dieng den Begriff der beauté sociale als Kategorie für seine ästhetischen Analysen literarischer Texte. Vgl. ebda., S. 533–535. 66 Vgl. dafür Werner Glinga: The Ceddo’s Ghost. 67 Vgl. Bassirou Dieng: L’épopée du Kajoor.

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Viertens ist der Verzicht auf die explizite Nennung des Begriffs «Ceddo» als ein Verweis auf die Gegenwart, nämlich auf eine politisch-kulturelle Kontrover­ se – zwischen dem damaligen Präsidenten Léopold Sédar Senghor und dem Filmemacher und Autor Ousmane Sembène – nach der Unabhängigkeit des Se­ negals zu verstehen. Dabei ging es vordergründig um die Schreibung des Wortes «Ceddo», eigentlich aber um die Stellung des Französischen im Senegal, die Senghor weiter festigen wollte.⁶⁸ Die Spezifik von Diops Roman liegt nun darin, diese komplexe Konstellation im Modus des Ästhetischen nachvollziehbar zu machen. Der récit in Le Cavalier ist mit Todorov als eine fantastische Erzählweise zu bezeichnen, innerhalb de­ rer die Paradigmen des Realistischen und des Wunderbaren aufeinandertreffen, ohne dass eines dominierte.⁶⁹ Auf einer weiteren, intradiegetischen Erzählebe­ ne finden sich Erzählverfahren der oralen Wolof-Tradition, die im heutigen Sene­ gal nach wie vor präsent sind. Die Bedeutung der ästhetischen Verfahren des Ro­ mans, die in der Forschung unter anderem als «postmodern»⁷⁰ und «neo-barock» beschrieben worden sind⁷¹, erschließt sich erst vor dem Horizont der kulturhisto­ risch spezifischen Bezüge auf die präkoloniale Ceddo-Gesellschaft und den My­ thos von Wagadou (Ghana-Reich), die ich in diesem Analysekapitel untersuchen werde. Eine umfassende Deutung des Romans in diesem Sinne ist bisher noch nicht unternommen worden. Nur wenige Autor:innen verweisen überhaupt auf die angesprochenen Referenzen.⁷²

68 Es ging um die Schreibweise des Begriffes Ceddo (ob mit einem oder doppeltem «d»). Sem­ bènes Film konnte nach seiner Fertigstellung 1977 zunächst nicht gezeigt werden. Vgl. Werner Glinga: Der Schriftsteller und die politische Macht: Ngugi Wa Thiong’o in Kenia und Ousmane Sembène in Senegal. In: Neohelicon 16, Nr. 2 (1989), S. 129–155, hier S. 133–135. Der Antagonismus zwischen Sengor und Sembène schrieb sich aber auch in den größeren Kontext des Kalten Krie­ ges ein, in dem die beiden Supermächte gezielt versuchten, afrikanische Intellektuelle für sich zu gewinnen; so studierte Sembène etwa in Moskau an der Filmhochschule. Vgl. zum Einfluss der politischen Block-Logik auf die afrikanischen Literaturen die rezente Studie von Monica Po­ pescu: At Penpoint. African Literatures, Postcolonial Studies, and the Cold War. Durham/London: Duke University Press 2020. 69 Vgl. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil 1970. 70 Vgl. Eric Sellin: Postmodernism and African Francophone Literature. 71 Vgl. Brigitte Brasseur-Legrand: Récurrence des mythes du chaos et des cataclysmes purifica­ teurs. 72 Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur und Jean Sob: L’impératif roma­ nesque de Boubacar Boris Diop sowie Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques.

2.2 Lineare Rahmenzeit und Anlage der fantastischen Erzählweise | 61

2.2 Lineare Rahmenzeit und Anlage der fantastischen Erzählweise Unverstellter als in Diops vorangegangenen Büchern – die ebenfalls hochkom­ plexe Erzählstrukturen aufweisen – tritt in Le Cavalier et son ombre der Akzent auf dem Erinnern hervor. Die histoire auf Ebene der Rahmenerzählung ist mit ei­ nem Satz: Ein Mann namens Lat-Sukabé erinnert sich. Dabei fließen individuelle und kollektive Erinnerung zusammen: Lat-Sukabés Erinnerung an die gemein­ same Zeit mit seiner Lebensgefährtin Khadidja ist bestimmt durch Elemente ei­ ner kollektiven westafrikanischen Erinnerung; nämlich ihren oralen Mythen und Epen, auf die Khadidja in ihren eingeflochtenen Erzählungen zurückgreift. Zur besseren Übersicht soll an dieser Stelle zunächst kurz die Struktur des Romans erläutert werden. Le Cavalier gliedert sich in drei Kapitel, die laut Titel­ gebung drei Tagen entsprechen und deren Länge stark variiert: ‹Première Journée› (77 Seiten), ‹Deuxième Journée› (167 Seiten), ‹Troisième Journée› (28 Seiten).⁷³ Im ersten Kapitel tritt zunächst ein extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler⁷⁴ auf, der Spielwarenverkäufer Lat-Sukabé. Er erzählt in der Ich-Form, wie er in eine Kleinstadt gereist ist, um dort seine Ex-Freundin Khadidja wiederzufinden, die zuletzt als professionelle Erzählerin gearbeitet hat. Die Verbalzeit ist an mehre­ ren Stellen im Präsens gehalten, so dass stellenweise eine Gleichzeitigkeit von Erzählen und Erleben suggeriert wird. Der Erzähler Lat-Sukabé berichtet im Rück­ blick auch über seine Vergangenheit mit Khadidja. Innerhalb dieses Rückblickes tritt die Figur Khadidja selbst als Erzählerin kürzerer Fabeln und einer langen Ge­ schichte auf, die im Romantext in direkter Rede wiedergegeben werden. Khadid­

73 Die Angaben zum Seitenumfang beziehen sich auf die Romanausgabe im Verlag Nouvelles Éditions Ivoiriennes und können in anderen Ausgaben unterschiedlich ausfallen. Sie dienen an dieser Stelle lediglich der exemplarischen Illustration der großen Unterschiede in der Länge der drei Kapitel. 74 Ein extradiegetischer Erzähler hängt von keiner weiteren textuellen Erzählinstanz ab, wird also selbst nicht erzählt. Ein intradiegetischer Erzähler hingegen hängt von einer anderen – in der Ebenenlogik Gérard Genettes – höhergestellten Erzählinstanz ab, von der er selbst erzählt wird. Die Attribute homo- und heterodiegetisch geben Auskunft darüber, ob der Erzähler Teil (homodiegetisch) bzw. nicht Teil (heterodiegetisch) der erzählten Geschichte ist. Auch wenn die Terminologie Genettes im Detail nicht immer überzeugt (vgl. für eine Untersu­ chung und Weiterentwicklung Genettes etwa Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Con­ temporary Poetics. London u. a.: Routledge 1983) und zuweilen Anlass für Konfusion ist, bietet sie doch eine relativ komplexe und vor allem bekannte systematische Bestimmung des Erzählers und soll aus diesem Grund beibehalten werden. Etwaige, nicht mit der Genettschen Terminologie abzubildende Aspekte der Analyse werden ggf. ergänzt.

62 | 2 Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre

ja kann damit als intradiegetisch-heterodiegetische Erzählerin beschrieben wer­ den.⁷⁵ Lat-Sukabé ist kein allwissender Erzähler, hat aber Zugriff auf Gedanken, Ge­ fühle und Empfindungen von Khadidja. Es kann daher von einer selektiven mul­ tiplen internen Fokalisierung gesprochen werden. Ich komme auf das Verhältnis der beiden Erzählerfiguren später zurück. Im ersten Kapitel führt die Rahmenerzählung von Lat-Sukabé nicht nur in die Geschichte ein, sondern legt vor allem die letztlich unaufgelöste Spannung zwi­ schen Wunderbarem und Realistischem an, die für die Schreibweise das Fantas­ tischen charakteristisch ist. Le Cavalier verharrt in der Unsicherheit, indem flan­ kierend zu positivistisch nicht erklärbaren Geschehnissen noch eine – wenn auch bescheiden – vom Realismus gedeckte Lesart angeboten wird. Das zweite Kapitel wird hauptsächlich durch die Binnenerzählung Khadidjas eingenommen, die mit dem Roman den Titel gemein hat: Le Cavalier et son ombre. Hier überwiegt das Wunderbare. Das dritte Kapitel baut für das Finale des Romans noch einmal das Wunderbare und das Realistische auf, um in einer finalen Metalepse zu gipfeln. Sie löst jedoch die etablierte Unentscheidbarkeit zwischen den beiden Polen nicht auf, wie ich insbesondere in Kapitel 2.5 herausarbeiten werde. Autoreflexive und metaliterarische Anteile sind in allen drei Kapiteln präsent. Im Rückgriff auf Todorov ist das Fantastische des 19. Jahrhunderts gerade durch die Unsicherheit der Leserin gekennzeichnet, nicht eindeutig zwischen rea­ listischen und wunderbaren Erzählanteilen unterscheiden zu können. Todorov schreibt dazu in Introduction à la littérature fantastique:⁷⁶

75 Im Folgenden wird dafür synonym die sprachlich griffigere Bezeichnung «Binnenerzählerin» verwendet. 76 Todorov unterscheidet zwischen historischen Gattungen («genres historiques») auf der einen und systematischen Gattungen («genres théoriques») auf der anderen Seite: «Les premiers ré­ sulteraient d’une observation de la réalité littéraire ; les seconds, d’une déduction d’ordre théo­ rique.» Tzvetan Todorov : Introduction à la littérature fantastique, S. 18. Todorov interessiert sich als Formalist zwar für wiederholt auftretende, übergreifende Strukturen von Texten, hat aber durchaus kein dogmatisch-starres Gattungsverständnis. Er verweist darauf, dass jeder Text in seiner vollen Spezifizität in Beziehung zu einer Gattung stehe: «Toute description d’un texte, du fait même qu’elle se fait à l’aide des mots, est une description de genre.» Ebda., S. 11. Indes definiert Todorov die Qualität der Beziehung zwischen historischen und systematischen Gattungen nicht. Klaus Hempfer hat diesbezüglich vorgeschlagen, den Begriff der «Gattung» für historisch zu bestimmende Textkorpora zu reservieren und mit der Wittgensteinschen Familien­ ähnlichkeit zu beschreiben. Transhistorische Kommunikationsmodi seien im Rückgriff auf kogni­ tionspsychologische Erkenntnisse als «Prototypen» zu verstehen. Diese Gattungstheorie formu­ liert als Ziel, Gattungen nicht mehr im Rahmen eines taxonomischen Systems als trennscharfe logische Klassen aufzufassen, sondern den kommunikativen Aspekt in den Mittelpunkt zu stel­

2.2 Lineare Rahmenzeit und Anlage der fantastischen Erzählweise

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Ou bien le diable est une illusion, un être imaginaire ; ou bien il existe réellement, tout comme les autres êtres vivants : avec cette réserve qu’on le rencontre rarement. Le fantastique occupe le temps de cette incertitude ; dès qu’on choisit l’une ou l’autre ré­ ponse, on quitte le fantastique pour entrer dans un genre voisin, l’étrange ou le merveilleux. Le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel. Le concept de fantastique se définit donc par rapport à ceux de réel et imaginaire [. . . ].⁷⁷

Für Todorov endete die Geschichte der fantastischen Literatur mit der Veröffentli­ chung von Freuds Traumdeutung, also in dem historischen Moment, als die Psy­ choanalyse seiner Meinung nach die Position der fantastischen Literatur über­ nahm.⁷⁸ Rückgriffe auf Verfahren des fantastischen Erzählens in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts sind also im Hinblick auf ihre Funktionen genau zu ana­ lysieren. Wenn hier Diops Roman mit den theoretischen Überlegungen Todorovs in Be­ zug gesetzt wird, dann geht es mir nicht um eine abschließende Klassifizierung des Textes oder einen Nachweis vermeintlich ‹westlicher› Ästhetik in einem ‹afri­ kanischen› Roman. Vielmehr erscheint es sinnvoll, die beiden Texte zusammen zu lesen, weil Todorovs Bestimmung des Fantastischen erlaubt, die ästhetische Eigenart des Romans präziser zu fassen: Die Ambivalenz von Realistischem und Wunderbarem bleibt bestehen, ohne je in eine Ordnung stiftende Synthese⁷⁹ oder gar Auflösung zu kippen. Die Skepsis der Leserin birgt damit ein produktives Mo­ ment, denn die Unabschließbarkeit lädt zur Reflexion ein. Statt postmoderner Be­ liebigkeit und populärer Trivialisierung des Vermögens der Literatur geht es in Le Cavalier gerade darum, den gesellschaftlichen Wert des Erzählens als Modus ei­ ner nie abschließbaren Selbstkritik und Selbstverständigung herauszustellen.

len. Vgl. Klaus W. Hempfer: Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe: Von «Klassen» zu «Familienähnlichkeiten» und «Prototypen». In: Zeitschrift für französische Sprache und Litera­ tur, Nr. 120 (2010), S. 33–60. Todorov, der in einer französischen Tradition des Fantastik-Verständnisses steht (er bezieht sich in seinen Überlegungen u. a. auf die Arbeiten von Roger Caillois, Louis Vax und Pierre-Georges Casteux) grenzt die fantastische Literatur zeitlich eng ein: «Il est apparu d’une manière systéma­ tique vers la fin du XVIIIe siècle, avec Cazotte ; un siècle plus tard, on trouve dans les nouvelles de Maupassant les derniers exemples esthétiquement satisfaisants du genre.» Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, S. 174 f. 77 Ebda., S. 29. 78 Vgl. ebda., S. 168–170. 79 Wie es etwa die westliche Literaturkritik mit dem sehr vage gefassten Etikett des Magischen Realismus für Literaturen jenseits des euro-amerikanischen Kontextes getan hat. Vgl. dazu meine Ausführungen im Forschungsbericht der vorliegenden Studie, in Kapitel 1.3.

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Von Anfang an arbeitet Diops Roman mit der Kategorie der Zeit, um die fantas­ tische Erzählweise anzulegen. Analepsen und Prolepsen werden so miteinander verschränkt, dass ein Effekt des Unheimlichen entsteht. Dieser wiederum trägt zum ontologischen Horizont des Wunderbaren bei, der in ein Gegenspiel zum Rea­ listischen gebracht wird. Zu Beginn des Romans erklärt der Ich-Erzähler, dass er sich auf dem Zwi­ schenstopp einer Reise befinde: Je suis arrivé hier, peu après minuit, à l’hôtel Villa Angelo. C’est mon tout premier séjour dans cette paisible ville de l’Est et je sens déjà à quel point il me sera difficile de trouver une pirogue pour Bilenty, ma destination finale, sur l’autre rive du fleuve. (LC, S. 9)

Der Ich-Erzähler verortet die Position, von der aus er spricht und benennt gleich­ zeitig den Fluchtpunkt der Erzählung, Bilenty, als «ma destination finale». Noch bevor die Figuren überhaupt eingeführt werden und ihnen ein Platz in der To­ pographie der Erzählung zugeordnet wird, etabliert der Ich-Erzähler hier eine Opposition, die als zentrales strukturelles Moment im Roman fungiert: «Cette paisible ville de l’Est» und ein Ort namens Bilenty stehen sich gegenüber. Der Fluss erscheint als schwierig zu überwindende Grenze dazwischen. Das Demons­ trativpronomen «cette» sowie das Prädikat «je sens» im Präsens markieren das Hier-und-Jetzt als Deixis des Sprechers. Bilenty wird durch das Prädikat «il me sera difficile» der Sphäre der Zukunft zugeordnet. Implizit wird überdies ein Gegensatz zwischen friedlich/feindlich evoziert, wenn die kleine Stadt im Os­ ten⁸⁰ als «paisible» qualifiziert wird, bei Bilenty aber ein beschreibendes Adjektiv fehlt. Diese Konfiguration setzt sich im Verhältnis der beiden Hauptfiguren, LatSukabé und Khadidja, fort. «Je me demande si, croyant aller à la rencontre de Khadidja, je ne suis pas seulement en train d’accomplir mon propre destin» (LC, S. 28), heißt es bereits zu Anfang des Romans. Vom ersten Kapitel an werden die Bedingungen geschaffen, damit das Fantastische im Roman seine Wirkung ent­ falten kann. Im ersten Kapitel evoziert der Ich-Erzähler Lat-Sukabé mehrfach den Grund seiner Reise: seine Ex-Freundin Khadidja, die acht Jahre zuvor aus ungeklärter Ur­ sache verschwunden ist, wiederzutreffen, nachdem sie ihm einen Brief geschrie­ ben hat. Lat-Sukabés Angaben über den Zustand von Khadidja sind dabei wider­ sprüchlich, was eine Atmosphäre der Unsicherheit und damit eine Bedingung

80 Qader liest die Himmelsrichtung – in der die Sonne aufgeht – als einen Hinweis auf die Aus­ richtung der gesamten Erzählung auf etwas, das (noch) kommen soll. Vgl. Nasrin Qader, Narra­ tives of Catastrophe, S. 89.

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für die Entfaltung der fantastischen Schreibweise schafft. Zu Beginn des Kapi­ tels gibt Lat-Sukabé den Verlauf seiner Reise wieder und was ihm währenddes­ sen durch den Kopf gegangen ist. Mit großer Überzeugung sagt er, er habe ge­ dacht, es ginge nicht weniger als um Leben und Tod: «Khadidja, la femme qui avait compté le plus dans ma vie, était en train de mourir à Bilenty, huit ans après sa mystérieuse disparition [. . . ]» (LC, S. 11). Die verschachtelte Struktur, die die­ sen im Tempus der Vergangenheit formulierten Gedanken umgibt – Lat-Sukabé erzählt, was ihn während der Fahrt umgetrieben hat – lässt die Aussage schon entrückt wirken; es ist unklar, ob Lat-Sukabé nicht schon mehr weiß, als er an dieser Stelle preisgibt. Im weiteren Verlauf spekuliert er, dass Khadidja wahlwei­ se krank beziehungsweise wahnsinnig sein, oder gewesen sein, könnte (vgl. LC, S. 29 f.). Die Gegenüberstellung des Aufenthaltsortes von Lat-Sukabé und Bilenty wird als Grenzüberschreitung inszeniert. Der Fährmann, der Lat-Sukabé über den da­ zwischenliegenden Fluss bringen soll, wird schlicht «Passeur» genannt. Er hat zwar einen bürgerlichen Namen (Monsieur Ngom), der aber eher für Verwirrung sorgt, etwa bei den Hotelangestellten (vgl. LC, S. 22 f.). Diese Anordnung erinnert an eine Vorlage aus der griechischen Mythologie: den Fährmann Charon, der ge­ gen einen festgesetzten Obolus die Verstorbenen über den Fluss Styx in die Un­ terwelt übersetzt. Am Ende des Romans treten die Figur des Passeurs und seine Rolle als dämonischer Wächter schärfer hervor. Ich werde in Kapitel 2.5 darauf zurückkommen. Im ersten Kapitel ist es das undurchsichtige Verhalten des sogenannten Pas­ seurs, das die Erzählung Lat-Sukabés in Gang bringt. Der Passeur nennt ihm kei­ nen Termin für die Weiterreise, ist nicht erreichbar und angeblich der Einzige, der die Überfahrt vornehmen kann: «[le Passeur] qui a en quelque sorte le monopole de la ligne» (LC, S. 9). Außer dessen merkwürdigem Verhalten und den schwer­ wiegenden Spekulationen von Lat-Sukabé über den Verbleib Khadidjas sorgt ein plötzlicher Selbstmord für eine angespannte, unheilvolle Stimmung im Roman. Eine junge Frau namens Yande, mit der der Ich-Erzähler in der vorhergehenden Nacht lange im Gespräch war, hat sich im Fluss ertränkt. Ihr Tod wiegt schwer, da Lat-Sukabé konstatiert: «Yande avait tout compris» (LC, S. 21). Der Ich-Erzähler spricht ausdrücklich von der mysteriösen Situation und bringt das Verhalten des Passeurs und die Beziehungsgeschichte mit Khadidja in einen direkten Zusammenhang: Je n’ai pas encore envie de retourner à l’hôtel Villa Angelo: le voile du mystère se fait de plus en plus épais [. . . ]. Mes pas me conduisent de nouveau sur un banc, face à Bilenty, et je décide brusquement de mettre un peu d’ordre dans les événements de ces dernières semaines. Je ne peux résister plus longtemps à cette envie. Après tout, il est logique que j’essaie de comprendre l’attitude déroutante du Passeur [. . . ]. (LC, S. 28 ; eigene Hervorhebung)

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Das Erzählen wird als ordnende Handlung beschrieben. An dieser Stelle zeigt sich auch, inwiefern die Schreibweise des Fantastischen über die Kategorie der Zeit modelliert wird. Die Verben stehen im Präsens, was einen Effekt der Gegenwart erzeugt. Dieses Verfahren wiederholt sich, angereichert mit präsentischen Sinnes­ eindrücken des Essens, wenig später im Text: Les grains de maïs craquent sous mes dents, j’ai à peine le temps de me revoir en train de retirer de ma boîte postale la lettre de Khadidja que le chaos s’installe dans mon esprit. Je réussis néanmoins à me ressaisir. Je fais l’effort de garder la tête froide. Je me dis : «Il y a forcément un début à cette douloureuse histoire et il faut que tu repartes, très patiemment, de zéro. Tu dois pouvoir cela.» (LC, S. 29)

Khadidja wird mit dem Chaos in Verbindung gebracht, das Erzählen Lat-Suka­ bés mit Ordnung. Das verwendete Präsens hebt das Erzählen als einen Akt, als eine eigenständige Handlung der Geschichte hervor und unterstreicht seine Be­ deutung. Gleichzeitig wird das Erzählen als gefährlich dargestellt. Lat-Sukabé sagt, Khadidjas Job als professionelle Erzählerin habe sie in den Abgrund ge­ führt: Je n’ai pas encore réussi à démêler tous les fils de l’écheveau, mais une chose est incon­ testable : tout ce qui s’est passé par la suite – la disparition de Khadidja et son probable délabrement physique et mental – est en relation directe avec ce travail qu’elle a dû faire à l’époque, un peu malgré elle. Cela tombe sous le sens. (LC, S. 29 f.)

Und gegen Ende des ersten Kapitels formuliert die Figur des Erzählers, Lat-Suka­ bé: En revanche, j’ai la conviction que la raison de Khadidja, déjà bien chancelante avant cela, n’a pas survécu à ses récits. La lettre ne laissait d’ailleurs aucun doute à ce sujet. Elle ne contenait pas, à vrai dire, d’informations sur ce qui avait pu se passer mais il s’en dégageait une très nette impression de confusion mentale. (LC, S. 73 f.)

Lat-Sukabé sieht sich aber auch selbst bedroht. In ihrem Brief habe Khadidja da­ von gesprochen, mit einer der Figuren ihrer Erzählung ‹Le Cavalier et son ombre› in Bilenty leben und das Hoffnung verheißende Kind Tunde auf die Welt bringen zu wollen (vgl. LC, S. 74). In dieser Prolepse ist der Verlauf der weiteren Erzählung schon angedeutet. Lat-Sukabé zeigt sich irritiert darüber: Je voyais très bien à quoi elle faisait allusion et cela me troublait profondément. En clair : avec Tunde, une créature née de l’imagination de Khadidja, l’espoir demeurait réellement intact. Peut-être même que les choses étaient si claires pour moi que je refusais de les comprendre. Nous nous étions beaucoup amusés, quelques années plus tôt, avec les aventures du Cava­ lier, mais il était temps, à notre âge, de tenir toutes ces fantaisies à l’écart de notre existence réelle. C’était autre chose, la vie pratique [. . . ]. (LC, S. 74 f. ; eigene Hervorhebung)

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Lat-Sukabé ist tief verstört über die mögliche Verschmelzung von «Fantasie» und «realer Existenz», die nach seiner Darstellung voneinander zu trennen sind. Das Kind mit Namen Tunde soll nun eben diese Einteilung überschreiten: Tunde, ge­ boren aus der Vorstellungskraft – «une creature née de l’imagination» – soll in der Realität Hoffnung bringen – «l’espoir demeurait réellement intact» –, wie es im Text heißt. Das ist eine Schlüsselstelle in Diops Roman, die meine vorgeschla­ gene These von der fantastischen Erzählweise nach Todorov stützt. Lat-Sukabé fährt damit fort, sich als Vertreter des Realistischen von Khadidja abzugrenzen: Que l’on me comprenne bien : j’aime écouter les belles histoires et je me souviens toujours avec un frémissement de plaisir de celles de Khadidja. Elles me bouleversent, aujourd’hui encore, les tripes. Il faut cependant qu’elles restent à leur place qui n’est sûrement pas dans le train-train ordinaire des braves gens. Je suis persuadé que toutes les personnes raisonnables seront de mon avis : nous avons assez à faire avec nos soucis réels pour ne pas en rajouter par la dérive, les fantasmes. Sans vouloir juger Khadidja, je me demande si elle n’est pas en train de faire le choix lucide de la folie. Pour moi, les choses sont simples : j’aime encore Khadidja – on l’a sûrement déjà compris – et je voudrais seulement qu’elle me dise : «Viens à Bilenty, LatSukabé, je te raconterai, comme aux durs temps de Nimzatt, une de ces histoires que tu aimais tant.» (LC, S. 75; eigene Hervorhebung)

Die Realität und das Wunderbare haben ihren jeweils eigenen Platz, wie Lat-Suka­ bé an dieser Stelle nochmals sehr deutlich sagt. Lat-Sukabé tritt als bescheide­ ner Mann auf: Er hat mit Khadidja in einem Zimmer mit Bad auf dem Flur ge­ lebt, oft ohne genug zu essen, wie er im ersten Kapitel ausführlich beschreibt (vgl. LC, S. 30–34). Seinen Unterhalt verdiente er mit dem Verkauf von Spielwaren. In der zitierten Passage inszeniert sich der Ich-Erzähler Lat-Sukabé als Vertreter der Vernunft. Er appelliert an «toutes les personnes raisonnables» und definiert sich durch die erste Person Plural als Teil dieser Gruppe. Der Ich-Erzähler in Diops Roman entspricht damit dem Erzähler, wie ihn Todorov als typisch für das Fan­ tastische beschrieben hat: Le fantastique nous met devant un dilemme : croire ou pas ? Le merveilleux réalise cette union impossible, proposant au lecteur de croire sans croire vraiment. En deuxième lieu et ceci se lie à la définition du fantastique, la première personne «racontante» est celle qui permet le plus aisément l’identification du lecteur au personnage, puisque, comme on sait, le pronom «je» appartient à tous. En outre, pour faciliter l’identification, le narrateur sera un «homme moyen», en qui tout (ou presque) lecteur se peut reconnaître. Ainsi pénètre-t-on de la manière la plus directe possible dans l’univers fantastique. L’identification que nous évoquons ne doit pas être prise pour un jeu psychologique individuel : c’est un mécanisme intérieur au texte, une inscription structurale. Evidemment, rien n’empêche le lecteur réel de garder toutes ses distances par rapport à l’univers du livre.⁸¹

81 Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, S. 88 f.

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Wie Todorov betont, entspringt das Fantastische nicht einer zufälligen psycho­ logischen Reaktion, sondern ist als erzählerischer Mechanismus im Text selbst angelegt. In Opposition zum Ich-Erzähler, der sich auf der Seite des Realistischen veror­ tet, wird Khadidja von ihm als exzentrisch beschrieben: Ihre Schönheit, ihr selbst­ sicherer Gang und ihr Studium in Entwicklungsökonomie machen sie in Lat-Suka­ bés Darstellung zu einer außergewöhnlichen Erscheinung. Die nach Lat-Sukabés Wertung ungeheuerliche Überschreitung der Ordnung von Realistischem und Wunderbarem lässt sich durch den (möglichen) Wahn­ sinn Khadidjas rechtfertigen beziehungsweise erklären. Das Thema des Wahn­ sinns wird von Beginn des ersten Kapitels an gezielt aufgebaut, um die gleichzei­ tig klar gezogenen Grenzen zwischen Glaubhaftem und Unglaubhaftem zu unter­ laufen. Noch bevor sich im zweiten Kapitel die Binnenfiktion Khadidjas ausbrei­ tet, präsentiert Lat-Sukabé eine mit dem Realismus kompatible Lesart. Er stellt Khadidja als verrückt dar. Khadidja selbst berichtet Lat-Sukabé von einer Episo­ de aus ihrer Vergangenheit, während der sie für wahnsinnig⁸² erklärt wurde: Le moment me semble venu de dire une chose qui aura sûrement son importance plus tard. Khadidja m’avait averti, tout au début de notre liaison, là-bas, dans ce lointain pays étranger, qu’elle avait été réellement folle pendant une certaine période de sa vie. «Folle à lier», avaitelle d’ailleurs précisé avec délectation, en me regardant d’un air de défi. «Ils m’ont enfermée dans ce cabanon et le guérisseur, un vieux lubrique, a voulu me violer. Je me suis enfuie. Cela a été une nuit terrible.» Je n’avais aucune raison d’en douter. Khadidja avait une lueur de démence dans le regard et elle ne faisait rien comme les personnes que j’avais connues avant de la rencontrer. (LC, S. 65)

Der Ich-Erzähler Lat-Sukabé nutzt den Rekurs auf diese Begebenheit, um seine Darstellung Khadidjas zu fundieren. Er rahmt ihren Bericht, indem er eingangs von der großen Bedeutung dieses Aspektes für die Erzählung spricht und zum Schluss nochmals Khadidjas Aussagen bestätigt.⁸³

82 Vgl. zu diesem Thema auch Susanne Gehrmann: Face à la meute. Sie interpretiert Diops Ro­ mane Les tambours de la mémoire, Les traces de la meute und Le Cavalier et son ombre im Hin­ blick auf das Zusammenwirken von Gewalt, Wahnsinn und Erinnerung/Gedächtnis. Vgl. für Le Cavalier insb. S. 156 f., wo Khadidjas Wahnsinn in Beziehung zu ihrem sozialen Umfeld bezie­ hungsweise der Menschenmenge («la foule» oder auch «la meute») gesetzt wird. 83 Ihr Bericht illustriert eine Gesellschaft, die vermeintlich wahnsinnige Menschen gewaltsam aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Khadidja spricht nicht etwa von einer medizinischen Ein­ richtung und psychiatrischem Personal, sondern berichtet von einer «cabanon» und einem ver­ meintlichen «guérisseur». Letzterer behandelt sie wie ein Objekt, wenn er ihre sexuelle Selbst­ bestimmung gewaltvoll zu brechen versucht. Lat-Sukabé scheint mit dieser gesellschaftlichen Praxis einverstanden zu sein, denn er lässt sie kommentarlos stehen. Ihm reichen ein sogenann­

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Die Deutungshoheit der Rahmenerzählung, also von der Beziehungsge­ schichte der beiden Hauptfiguren, liegt beim Ich-Erzähler Lat-Sukabé. Die Ge­ danken, Gefühle und Sinneseindrücke von Khadidja werden stellenweise exakt wiedergegeben, weswegen von einer wechselnden internen Fokalisierung die Rede sein kann. Khadidja konstruiert sich in ihrem direkten Sprechen als selbstbewusstes Subjekt und präsentiert das Attribut «folle à lier» mit Stolz: «avec délectation, en me regardant d’un air de défi» (eigene Hervorhebung). Die Fremdbeschreibung als wahnsinnig eignet sie sich als positive Auszeichnung an, die sie in ihrer Ab­ lehnung gesellschaftlich erstarrter Konventionen noch bestärkt. Ihr Kommentar markiert sie als starke Frau, die sich allen Strategien von De-Legitimierung wi­ dersetzt. Lat-Sukabé schwächt ihre Position nicht nur, indem er sie als wahnsin­ nig bezeichnet, sondern auch beständig und vehement sexualisiert. Im Spiegel der Reaktionen ihres Partners Lat-Sukabé erscheint Khadidja vordringlich als sexuelles Objekt. Lat-Sukabé verknüpft seine Schilderungen über Khadidja als Erzählerin immer wieder mit Darstellungen seiner sexuellen Befriedigung (vgl. u. a. LC, S. 65 f., S. 283–284⁸⁴). Der bereits diskutierte Topos des Wahnsinns erfährt eine weitere Ausgestal­ tung in abgeschwächter Form im Thema des Fieberwahns. Zu Beginn des zweiten Kapitels respektive Tages wähnt Lat-Sukabé sich krank. Dass der extradiegetische Ich-Erzähler möglicherweise unter dem Einfluss fiebrigen Wahns spricht, bleibt bis zuletzt als rationale Erklärung im Raum stehen.⁸⁵ Dieser Aspekt wird anschlie­ ßend in der Analyse des Romanfinales in Kapitel 2.5 noch eingehender diskutiert. Ein weiteres erzählerisches Mittel der fantastischen Schreibweise in Diops Ro­ man ist die Integration unheimlicher Momente. Freud geht davon aus, dass das

ter «irrer Blick» und ein Verhalten, das sich von den gesellschaftlichen Konventionen absetzt, um Khadidja ebenfalls für verrückt zu erklären. 84 Lat-Sukabé erzählt hier seine Version des Kennenlernens. Khadidja erscheint wie das Kli­ schee einer (Männer)fantasie. Aber Khadidja ist im Roman die Hauptfigur. «History for a long time has been his-story», wie beispielsweise Mogobe B. Ramose von der University of South Afri­ ca sagt. Vgl. Mogobe B. Ramose: The Ethical Imperative to Rethink the Problem of Representation of Epistemology in Universities. Vortrag vom 7. Juli 2018. 4th International Annual Conference of The Dakar Institute, UCAD and West-Indies University, Jamaica. 85 Nachdem das conte ‹Le Cavalier› mit Ende des zweiten Tages zu Ende erzählt ist, beschreibt Lat-Sukabé sich als völlig entkräftet: «La verité est que je suis très malade. [. . . ] Le sentiment d’être trahi par toutes mes facultés.» LC, S. 259 f.

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Unheimliche «etwas wiederkehrendes Verdrängtes»⁸⁶ ist, das Angst hervorruft.⁸⁷ Er führt dazu in seinem Aufsatz von 1919 aus: Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen. Zwei­ tens, wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelen­ leben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.⁸⁸

Im ersten Kapitel gibt es drei solcher unheimlichen Momente. Zwei werden eher beiläufig eingebaut. Zum einen ist da der bereits erwähnte plötzliche Selbstmord der jungen Frau Yande – die sich selbst als «la reine de putes» (LC, S. 20) bezeich­ net –, und die Lat-Sukabé kurz nach seiner Ankunft zufällig im Hotel kennenlernt und mit der er eine intensive Zeit des Gesprächs verbringt. Lat-Sukabé beschreibt ausführlich, wie nahe er sich ihr fühlte und sagt: «Même la mort de certains de mes proches ne m’avait pas atteint autant que celle de cette inconnue» (LC, S. 22). Yande ist also wie eine ihm schon lange gut bekannte Person. Die ursprünglich positive Nähe kehrt durch ihren unerwarteten Selbstmord als eine angstmachen­ de Verbindung wieder. Das zweite unheimliche Moment betrifft Khadidja. Als sie sich für die Arbeit als Erzählerin im Haus des anonymen Arbeitgebers einfindet, fällt ihr das Foto einer jungen Frau in der Nähe der Tür auf, der gegenüber sie sich als Erzählerin platzieren soll. Sie glaubt – «p[P]our une raison qu’elle ne pus s’expliquer ni ce jour-là ni au cours des années suivantes» (LC, S. 52) – sofort, dass es sich um das Bild einer Verstorbenen handele, deren Tod als unüberbrückbarer Verlust in dem Haus erlebt worden sei. Hier ist es also ein nicht erklärlicher Augenblick der Wie­ dererkenntnis einer nie zuvor gesehenen Person, der das Unheimliche hervorruft. Möglicherweise erkennt sich Khadidja auf dem Foto selbst, das ja ausgerechnet über der Tür platziert ist, der sie sich gegenübersetzen muss. Sie ist ebenfalls jung und oszilliert zwischen Heiterkeit und Ernst, wie die Frau auf dem Foto. Das nachdrücklichste Moment des Unheimlichen ist eine Episode, die über mehrere Seiten im ersten Kapitel von Diops Roman erzählt wird. Im Kontrast zu der wunderlichen Begebenheit, die Lat-Sukabés Reise darstellt, sticht diese hy­ perrealistische Szene im ersten Kapitel hervor. Der Darstellungsmodus ruft Kaf­ ka und damit einen der prominentesten Vertreter der deutschsprachigen Litera­ 86 Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Kleine Schriften II – Kapitel 29. Projekt Gutenberg 2019 [1909]. 87 Vgl. ebda. 88 Ebda.

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tur und dessen spezifische Darstellungsästhetik auf.⁸⁹ Der Ich-Erzähler schildert sehr ausführlich, wie seine Partnerin und er eine Kakerlake in einem Abendessen finden, das sie trotz Geldnot bei einem Restaurant in der Nachbarschaft gekauft haben: L’atmosphère, ce jour-là, était étouffante. On n’entendait, à intervalles réguliers, que le lourd bruit de nos mâchoires. Et puis, soudain, il y a eu cette inoubliable vision d’horreur. Je me souviendrai toujours de l’instant où, m’apprêtant à porter la cuiller à ma bouche, j’ai vu frémir les antennes brunes d’un insecte au-dessus de la sauce épaisse du «buraxe», puis ap­ paraître, tel un monstre préhistorique s’arrachant lourdement des profondeurs de la terre, un énorme cancrelat ébloui par la lumière et pas encore tout à fait assommé par la chaleur. Pourquoi donc avais-je immédiatement pensé que cette bestiole était vielle de plusieurs mil­ lions d’années ? Ce fut ma première idée, une idée assurément idiote. Après tout, je ne suis pas censé savoir ces choses-là, ces petites bêtes immondes, personne n’en sait jamais rien, on les écrase sous son talon avec une grimace de dégoût et c’est tout. L’idée qu’elle conden­ sait dans son corps tout le temps du monde me fascinait. J’avais peut-être besoin d’ajouter une sorte de prestige mythologique à la situation pour en apprivoiser l’insoutenable abjec­ tion. Étourdi par la chaleur, le cancrelat se retrouvait parfois sur le dos et se débattait, les élytres péniblement entrouverts par moments. Peut-être voulait-il s’enfuir et je me dis, dans ma stupéfaction, que j’allais entendre pour la première fois de ma vie le cri du cancrelat. Le hurlement de douleur du cancrelat. Nous regardâmes la chose noire et velue grimper vers le rebord du plat puis retomber, le ventre de nouveau en l’air, sur la sauce gluante où elle resta emprisonnée. Elle s’agita un peu, se raidit et demeura inerte entre un morceau de manioc et un bout de piment. Morte. Le regard de Khadidja et le mien se croisèrent. (LC, S. 37 f.)

Die erzählte Zeit – ein kurzer Moment, in dem die Kakerlake aus der Soße her­ ausschaut, zurückgleitet, auf den Rücken fällt und schließlich stirbt – und die Erzählzeit stehen in Unverhältnismäßigkeit zueinander: Die detaillierte Beschrei­ bung, angereichert mit den Gedanken des Erzählers angesichts des Insekts, zieht sich über anderthalb Buchseiten. Hyperreal wirkt die extrem entschleunigte Sze­ ne durch die genaue Beschreibung des Insektes – mit seinen braunen Antennen, dem rundlichen Bauch – und seiner direkten Umgebung auf dem Teller, wenn es schließlich zwischen einem Stück Maniok und Pfefferkörnern verendet. Diese Darstellungsweise gleicht einer filmischen Nahaufnahme ohne Ton, die der Er­ zähler wie ein Filmsprecher aus dem Off kommentiert. Das Prinzip der Unverhältnismäßigkeit auf der Ebene der Darstellung er­ streckt sich auch auf die Ebene des Inhaltes. Der Vorfall weitet sich zu einem handfesten Streit aus, nachdem Khadidja sich im Restaurant beschwert hat. Die Polizei wird gerufen und erkundigt sich groteskerweise genauestens nach dem Weg, den das Insekt zurückgelegt hat (vgl. LC, S. 43). Das anzeigende Opfer wird 89 Gemeint ist natürlich Franz Kafka: Die Verwandlung. In: ders.: Gesammelte Werke in 12 Bän­ den in der Fassung der Handschrift. Herausgegeben von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: S. Fi­ scher 1983. Vgl. dazu Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, insb. S. 101 ff.

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in die Rolle der Verantwortlichen gedrängt: Der Restaurantbesitzer bringt so­ fort die Idee auf, dass die Kakerlake sich in ihrer Wohnung statt in dem Essen befunden habe, die Schuld also nicht auf seiner Seite liegen könne. Diese perver­ tierte Logik der Ereignisse stellt die Welt von Khadidja und Lat-Sukabé als eine dar, in der soziale Konventionen außer Kraft gesetzt sind. Dass die beiden sich darüber offenbar nicht im Klaren sind, bringt sie in eine Position der Schwäche­ ren, macht sie schutzlos und leicht angreifbar. Der prekäre Status ihres Daseins wird durch die detailreiche Schilderung ihrer angespannten Lebensverhältnisse illustriert (vgl. LC, S. 30). Weiterhin wird ihre marginale Stellung auch auf so­ zialer Ebene verortet. Nachdrücklich geschieht dies durch die zuvor analysierte Kakerlaken-Szene, aber auch zuvor im Text, wenn der Nachbar Khadidja mit se­ xuellen Übergriffen droht. Bedeutsam ist, dass sich die prekäre Situation auch in Khadidjas Körper einschreibt. Ihre physische Integrität wird als verletzlich dargestellt, ergriffen von einer Spannung zwischen Mangel und Exzess. Wieder­ um in hyperrealistischer Manier schildert der Ich-Erzähler, wie Khadidja und er aus Geldknappheit hungern müssen, sie deswegen abmagert und zusätzlich von übermäßigen Regelblutungen geschwächt wird. Das geht so weit, dass sie sogar im Krankenhaus behandelt werden muss (vgl. LC, S. 33 f.). Der Roman zeigt an dieser Stelle noch einmal: Der weibliche Körper ist verletzlicher und leidet mehr, denn er ist Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. Gerade wegen der hyperrealistischen Beschreibung des Insekts entsteht ein Effekt des Unheimlichen im Sinne Freuds. Es ist durch die unvertraut-vertraute Wiederkehr des Verdrängten charakterisiert. In der hier diskutierten Szene un­ terbricht eine gedankliche Digression des Ich-Erzählers den Fortlauf der erzähl­ ten Zeit. Lat-Sukabé hat einen solchen Moment des Wiedererkennens, als er in der Kakerlake ein prähistorisches Wesen sieht. In der Folge hat er den Eindruck, überdies ein menschliches Verhalten bei der Kakerlake wieder zu finden – einen Schmerzensschrei. Das Präfix «un» des Wortes «unheimlich» steht laut Freud für die Überwin­ dung eines einstmals empfundenen Affektes, der in einer solchen Situation wie­ der aufgedeckt wird. Insofern entfaltet das Unheimliche seine volle Kraft erst im zweiten Teil der Kakerlaken-Episode. Lat-Sukabé und Khadidja werden als An­ kläger:innen in die Rolle der Täter:innen gedrängt und erfahren dadurch wieder ein Gefühl tiefster Verunsicherung. Dass sie sich zusammengetan haben und als Paar zusammenleben und arbeiten, schützt sie nicht. Ihr Lebensstil entspricht nicht vollkommen den sozialen Normen: Khadidja entzieht sich dem Sozialleben in der Nachbarschaft und als unverheiratetes Paar zusammenzuleben ist im Sene­ gal immer noch keine unproblematische Selbstverständlichkeit. Vor diesem Hin­ tergrund lässt sich die starke Ablehnung der Nachbarschaft auch als Sanktion für einen Regelbruch deuten.

2.3 Geschichte(n) erzählen: Verfahren der Hypostasierung

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2.3 Geschichte(n) erzählen: Verfahren der Hypostasierung Der Roman Le Cavalier et son ombre thematisiert nicht nur den Zusammenhang zwischen Geschichte, Erinnern und Erzählen, sondern hebt diesen auch auf die Ebene der Darstellung. Dieser doppelte Aspekt ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels. In Le Cavalier steht das orale Erzählen im Zentrum. Khadidja erzählt gezwun­ genermaßen, da sie aus Geldnot dem Beruf der Erzählerin nachgehen muss: La vérité toute simple est que nous n’avions pas le choix. Nous avions réellement le couteau sur la gorge. Elle ne pouvait pas refuser l’emploi – si on peut appeler cela un emploi – de conteuse professionnelle que lui avait offert le mystérieux individu qui a peut-être finale­ ment causé sa perte. (LC, S. 27)

Die Erzählerin Khadidja muss in ihrem Job erzählen, weiß aber nicht, zu wem sie spricht. Ich werde auf diesen Umstand zurückkommen. Zunächst plant Khadidja, ihrem Gegenüber – das sie zu diesem Zeitpunkt noch für ein unschuldiges Kind hält –, die offizielle Darstellung der Geschichte des Landes zu erzählen. So heißt es mit Blick auf die gleichnamige Binnenerzählung ‹Le Cavalier et son ombre›: Initialement, elle avait conçu Le Cavalier et son ombre, comme un récit historique de facture classique, collant au plus près à la réalité du moins à celle qui se trouve dans les manuels scolaires. Le but était louable : amuser et éduquer l’enfant. Travail facile, aussi. Il s’agissait seulement de répéter ce que disent les livres d’histoire – ou les griots – en exagérant, au be­ soin, certains exploits, ressassés jusqu’à l’écœurement de nos anciens souverains et chefs d’armée. Dans l’esprit de Khadidja, ceux-ci devaient être soit des stratèges militaires de gé­ nie, soit des hommes d’État visionnaires et, autant que possible, les deux à la fois. (LC, S. 106 ; Hervorhebung im Original)

Ein solcher «récit historique de facture classique» nimmt Bezug auf ein Erzähl­ paradigma des Realismus – wobei Realismus hier schon subtil als Konstrukt aus­ gewiesen wird: Geschichte entsteht in einem narrativen Prozess, dessen Ergebnis man in den Schulbüchern lesen kann. Überdies wirkt der Text seinerseits auf die Welt zurück: Was in Büchern geschrieben steht, bekommt rückwirkend den Sta­ tus von Realität zugeschrieben. Deswegen auch die Bemerkung, dass Realität ein relativer Begriff sei: «[collant au plus près à] la réalité du moins à celle qui se trouve dans les manuels scolaires» (eigene Hervorhebung). Die Gesellschaft hat ein starres Verhältnis zu dieser Form von offizieller Ge­ schichte und ist der ewig gleichen Wiederholung überdrüssig «jusqu’à l’écœure­ ment», wie der Erzähler Lat-Sukabé es ausdrückt. Die Wiederholung soll die Zu­ hörerschaft erziehen und somit die Erzählung der Nation konsolidieren, so legt es der zitierte Abschnitt nahe. Geschichte oder vielmehr Geschichtswerdung wer­

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den in Verbindung mit Institutionen und damit ihrer Macht gesehen; Schulbü­ cher oder autorisierte Griot-Vorträge sind die legitimen Quellen. Die Protagonis­ ten dieser Geschichte sind immer Helden, seien es Herrscher aus vorkolonialer Zeit («nos anciens souverains») oder geniale Militärstrategen und visionäre Po­ litiker des nachkolonialen Staates. Khadidja scheint hier der Programmatik des Narrating the Nation⁹⁰ zu folgen, wie sie etwa Frantz Fanon schon 1961 – ein Jahr nach der Unabhängigkeit des Senegals – im Abschnitt ‹Sur la culture nationale› in Les damnés de la terre formuliert hat: Inconsciemment peut-être les intellectuels colonisés, ne pouvant faire l’amour avec l’histoire présente de leur peuple opprimé, ne pouvant s’émerveiller de l’histoire de leurs barbaries actuelles, ont-ils décidé d’aller plus loin, de descendre plus bas et c’est, n’en doutons point, dans une allégresse exceptionnelle qu’ils ont découvert que le passé n’était point de honte mais de dignité, de gloire et de solennité. La revendication d’une culture nationale passée ne réhabilite pas seulement, ne fait pas que justifier une culture nationale future.⁹¹ (eigene Hervorhebung)

Diese positive Neuorientierung, wie sie Fanon für den Kontext der Unabhängigkei­ ten gedacht hatte, wird in Le Cavalier von Khadidja wortgetreu ausgeführt. Diese Übertreibung in Diops Roman streicht ironisch heraus, dass Fanons Überlegun­ gen machtpolitisch vereinnahmt wurden und eine Erzählung der Nation ohne die gleichzeitige Entwicklung einer «conscience nationale» (Fanon) eine leere Geste bleibt. Diops Roman inszeniert ein Nachdenken darüber, was Erzählen für den nach­ kolonialen Senegal vermag und was das für die Gesellschaft impliziert. Die beiden Protagonist:innen des Romans sind höchst reflexiv und nehmen die Angelegen­ heit sehr ernst, wie ein Streit⁹² illustriert. Lat-Sukabé kritisiert Khadidjas geplante Erzählung, die sich schließlich nur auf Momente des Ruhms beschränkt – eben wie in den Schulbüchern. Sie entgegnet daraufhin: «Et puis, tu le sais bien, chaque peuple se raconte d’agréables foutaises sur son passé, et ça marche tou­ jours. Où est ton problème, mon ami ?» (LC, S. 106). Nachdem Khadidja glaubt sicher zu sein, dass es sich bei ihrem Zuhörer nicht um ein Kind handelt, wächst ihre Wut und sie ändert ihre Erzählstrategie ins 90 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Na­ tionalism. London: Verso Editions & NLB 1983 und Homi Bhabha (Hg.): Nation and Narration, London u. a.: Routledge 1990, dort insbesondere Bhabhas Einleitung mit dem gleichlautenden Titel ‹Narrating the Nation›. 91 Frantz Fanon : Les damnés de la terre, S. 200 f. 92 «In each of these ‹foundational fictions› the origins of national traditions turn out to be as much acts of affiliation and establishment as they are moments of disavowal, displacement, ex­ clusion, and cultural contestation.» Homi Bhabha: Narrating the Nation.

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Gegenteil. «La nouvelle idée de la conteuse Khadidja était simple : prouver que l’histoire de notre pays était une infâme succession de trahisons et de lâchetés, dont il ne reste aujourd’hui que des mensonges éhontés» (LC, S. 116). Khadidja hat als Erzählerin mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie ihr Ge­ genüber nicht kennt, und sich nicht einmal seiner Anwesenheit sicher sein kann. Das löst vielfältige Gefühle bei ihr aus: Les sentiments de Khadidja pour l’inconnu devaient être un mélange inextricable de peur, de haine et d’admiration. Des sentiments si extrêmes qu’aucun mot, à mon avis, ne réussira jamais à les exprimer du dehors. Le Cavalier et son ombre fut l’enfant de cette violence. (LC, S. 116)⁹³

Bemerkenswert ist, dass Khadidja über die schwierige Situation nicht verstummt.⁹⁴ Stattdessen schafft sie die Erzählung ‹Le Cavalier et son ombre›, wie der Erzähler im letzten Satz des zitierten Abschnitts feststellt. Das muss mit Blick auf den gleichnamigen Roman auch als selbstbezügliche Aussage gelesen wer­ den. Die Konstellation von Khadidja und dem unbekannten Gegenüber ist in der Forschung über Le Cavalier analog zur Situation des postkolonialen afrikani­ schen Schriftstellers interpretiert worden.⁹⁵ Aus dieser Perspektive ist Khadidja die (post)koloniale Autorin, die eine Verbindung zum Publikum sucht, aber nicht findet. Wichtig für das Erkenntnisinteresse meiner Analysen von Diops Roman, näm­ lich den Zusammenhang von Zeit und Gewalt im (nach)kolonialen Senegal, ist, dass der Erzähler Lat-Sukabé die Situation als «violence» bezeichnet. Der Roman­ 93 Die Schreibweise des Titels der Binnenerzählung ist im Original kursiv angegeben, was ich lediglich in direkten Zitaten übernehme. Wann immer ich mich in meinen Ausführungen auf die Binnenerzählung beziehe, schreibe ich ‹Le Cavalier et son ombre›. 94 Gleiches gilt auch für Diop selbst, der in seinem Werk die schwierige Situation des Postkolo­ nialen aushalten lässt, ohne dass es deswegen in eine naiv-optimistische oder fatalistisch-pessi­ mistische Haltung kippen würde. Vgl. dazu auch die Schlussreflexionen meiner Studie. 95 Diese Lesart schlägt unter anderem der Klappentext der Romanausgabe bei Nouvelles Éditi­ ons Ivoiriennes vor: «Roman lyrique et grave, Le Cavalier et son ombre dit superbement la déchi­ rure de l’écrivain africain, qui ne sait si ses textes s’adressent à l’âbime ou à des êtres de chair et de sang.» Boubacar Boris Diop: Le Cavalier. Auch Gehrmann schließt sich dem an. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 10, Anm. 14. Diop hat sich in mehreren Interviews ebenfalls für eine solche Lesart ausgesprochen: «Les auteurs de l’Afrique francophone sont face à une impasse. [. . . ] Au Sénégal – je n’aime pas parler de l’Afrique en général – très peu de gens ont la possibilité d’aller à l’école, de comprendre des romans écrits en français et même s’ils le comprennent, la majorité d’entre eux n’ont pas les moyens d’acheter les livres. [. . . ] L’un de mes romans, Le Cavalier et son ombre travaille sur ce thème.» Boubacar Boris Diop: La langue en ques­ tion. In: Africultures, 5.12.2007 und Boubacar Boris Diop: Interview. In: Brezault, Éloïse: Afrique. Paroles d’écrivains. Montréal/Québec: Mémoire d’encrier 2010.

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text gibt an dieser Stelle keinen weiteren expliziten Hinweis darauf, wer diese Ge­ walt verursacht hat. Aber die bereits erwähnte Interpretation der schwierigen Si­ tuation etwa frankophoner Autor:innen in Afrika verweist auf die koloniale Ge­ walt. Diese hat das Französische als einzig gültige Sprache gesetzt und bewirkt bis in die Zeit der Gegenwart eine rupture zwischen frankophonen Eliten und dem Gros der Bevölkerung. Diop hat die Situation im Senegal, die maßgeblich von des­ sen ersten Präsidenten und weltbekannten Dichter Léopold Sédar Senghor ge­ prägt wurde, in einem Interview so kommentiert: La colonisation française a été violemment assimilationniste. [. . . ] Au Sénégal, nous avons connu le fameux bonnet d’âne que l’on était obligé de porter quand on se faisait prendre en flagrant délit de parler notre langue. Dans la sphère francophone, c’est beaucoup plus valo­ risant lorsqu’on appartient aux élites intellectuelles, avec ce que cela suppose comme alié­ nation, d’utiliser la langue française. On s’y repaît du matin au soir des Hugo, Montesquieu, Vigny et autres. C’est assez exceptionnel que les gens écrivent à la fois dans leur langue et en français. [. . . ] Tout écrivain sénégalais est confronté au «problème particulier» d’avoir Sen­ ghor pour président car il reste comme une sorte de référence. [. . . ] Je n’ai jamais été d’accord avec lui et ne m’en suis jamais caché. Il est mort, j’ai mûri et je serais beaucoup moins sévère aujourd’hui avec lui qu’autrefois. Je le considère comme un auteur important et un poète ho­ norable. Mais en même temps, il reste pour moi furieusement francophone et je continue à penser que cela nous a causés du tort. Senghor a été un grand homme d’État à beaucoup d’égards et un grand auteur mais il a tout fait pour empêcher le développement des langues locales. Et il a eu le pouvoir pendant 20 ans.⁹⁶

Diops Roman stellt diese spannungsreiche Position für frankophone Autor:innen dar. Die Erzählerin Khadidja hat zwar maßgeblich Anteil daran, die Gesellschaft, ihr Publikum, zu einer Reflexion über ihr Selbstverständnis anzuregen.⁹⁷ Aber wie der Roman auch herausstellt, ist diese Aufgabe nicht ohne ein Publikum zu bewäl­ tigen. Die beiden Erzählfiguren Lat-Sukabé und Khadidja konkurrieren um die Deu­ tungshoheit der Nationalerzählung und letztlich des Romans. Dieses Tauziehen wird in Le Cavalier umfangreich beschrieben. Das ist ein weiteres Element, das die fantastische Erzählweise unterstützt. Lat-Sukabé präsentiert sich nachdrücklich als Agent der Sphäre des Realismus: Une nation de traîtres et de lâches, ça n’existe tout simplement pas. Le contraire non plus, d’ailleurs. Certains d’entre vous vont peut-être m’accuser de mollesse ou d’indécision. Ce ne serait pas juste. [. . . ] Mon tempérament et, je le crois aussi, mes activités profession­ nelles – la gérance, plus complexe et difficile qu’on ne le pense en général, d’un magasin 96 Boubacar Boris Diop: La langue en question. 97 «In an anthropological spirit, then, I propose the following definition of the nation: it is an imagined political community – and imagined both as inherently limited and sovereign.» Bene­ dict Anderson: Imagined Communities, S. 15.

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de jouets thaïlandais – m’inclinent à toujours chercher la vérité au juste milieu et à ne ja­ mais perdre le sens des réalités. Khadidja, elle, ne se sentait à l’aise que dans les positions extrêmes. (LC, S. 117)

Lat-Sukabé beharrt darauf, dass Extrempositionen nicht vertretbar seien. Dieser Abschnitt ist eine Schlüsselstelle, die meine These untermauert: Le Cavalier et son ombre ist ein hochreflexiver Text, der danach fragt, wie die senegalesische Geschichtserfahrung zu deuten und zu schreiben ist. Der Erzähler wendet sich in einer Apostrophe an die Leserschaft und verteidigt sich gegen eine Rezeptions­ haltung, die ihn als zögerlich und nachgiebig versteht.⁹⁸ Lat-Sukabé spricht von «vérité» und beschreibt seine Position in der Mitte des sozioökonomischen Spek­ trums – er ist Verkäufer von aus Thailand importierten Spielsachen und lebt in bescheidenen Verhältnissen – als vorteilhaft in dieser Hinsicht. Die Figur in Diops Roman entspricht dem Prototyp des ‹kleinen Mannes›. Er ist jemand, der tagtäg­ lich mit Menschen zu tun hat und sich durch die Geschäftsführung mit nachvoll­ ziehbaren Sachverhalten auskennt. In dieser Alltagsroutine, so insinuiert der Er­ zähler Lat-Sukabé, sei die Wahrheit am ehesten zu finden. Interessanterweise spricht Lat-Sukabé von Realitäten im Plural, «le sens des réalités». Dieses differenzierende Verständnis von Wissen und Wahrheit unter­ läuft seine vermeintlich klare Position und erhöht dadurch die Spannung seines Verhältnisses zu Khadidja. Denn der Streit zwischen Lat-Sukabé und Khadidja impliziert noch Weiteres: Dem Antagonismus der beiden Figuren ist gleichzei­ tig ein Antagonismus zweier Erzählparadigmen zugeordnet. Auf diese Weise wird der literarische Dualismus von realistischer und wunderbarer Erzählweise verge­ genständlicht: Lat-Sukabé beharrt in der narrativen Wiedergabe der Geschichte auf Ausgewogenheit und Klarheit; Khadidja hingegen wird – wohlgemerkt immer durch die Linse Lat-Sukabés, das heißt aus der Perspektive seines Anspruchs an Repräsentation von Geschichtserfahrung – in die Rolle der übertreibenden, von überbordender Fantasie getriebenen Erzählerin gedrängt. Es ist Lat-Sukabé, der ihr damit die Sphäre des Wunderbaren zuschreibt. Die unabschließbare Dynamik zwischen Realistischem und Wunderbarem konstituiert nach Todorov die Fantas­ tik. Der Zweifel darüber, wie Geschichte erzählt werden sollte, wird durch die Fan­ tastik auf die Ebene der Darstellung gehoben: Lat-Sukabé und Khadidja diskutie­ ren nicht nur über diese Frage, sondern der Text verunsichert die Leserin gleich­ zeitig auch durch die ästhetischen Verfahren der fantastischen Schreibweise.

98 Es wäre aufschlussreich, noch einmal gezielt der hier konstruierten Männlichkeit – insbe­ sondere ex-negativo vor der Folie einer als rezeptiv, überemotional und sexuell-disponibel dar­ gestellten Weiblichkeit – nachzuspüren. Ich komme im weiteren Verlauf der Analyse noch auf den Aspekt der Geschlechterverhältnisse zurück.

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Dazu passt auch, dass Khadidja als Erzählerin das Genre der contes (auf Wo­ lof: leeb) wählt, die im westafrikanischen Raum verbreitet sind.⁹⁹ Kesteloot defi­ niert das Genre wie folgt: Les contes sont des récits plus longs, où le merveilleux est souvent présent et les péripéties curieuses ou extraordinaires. Ils ne sont pas toujours moraux, mais en revanche, constituent d’excellents miroirs de la psychologie des hommes.¹⁰⁰

Das conte, das die Binnenerzählung des Romans strukturiert, ist also seinerseits in gewissem Sinne auch fantastisch, als eine «‹mensonge[s] du soir›»¹⁰¹. Diese Di­ mension ist nicht zu verwechseln mit der übergreifenden fantastischen Schreib­ weise, wie sie für das Zusammenspiel von Rahmen- und Binnenerzählung her­ ausgearbeitet wurde. Sehr wohl hat sie aber an dieser Anteil, denn Khadidja als Vertreterin des Wunderbaren markiert sich gewissermaßen durch die Wahl des conte als Genre ihrer Erzählung selbst. Die westafrikanische Erzählform des conte¹⁰² legt viel Wert auf die Kommu­ nikation mit dem zuhörenden Gegenüber. Dadurch wird das Erzählen zu einem Erzählereignis, einer gemeinsamen Performance¹⁰³. Der Romantext gibt die Eröff­ nungsformeln in Wolof wieder: – Leebòòn, disait Khadidja. – Lëpòòn, répondais-je. Alors débutait une passe d’armes endiablée. Il ne fallait surtout rien omettre. De la question de savoir si la conteuse avait été réellement témoin d’événements aussi lointains («Ba mu amee yaa ko fekke ?») au constat que l’histoire était enfin allée se jeter dans la mer («Foffu la leeb doxee tàbbi gèèj»), nous savourions les délices d’une sorte de danse amoureuse. Nous veillions avec beaucoup de soin à respecter toutes les règles, si subtiles, de l’art du conte. 99 Kesteloot betont, dass die contes sehr weit und sehr frei mit den Menschen reisten und wenig lokal präzise gebunden seien; im Gegensatz zu den Mythen. Vgl. Lilyan Kesteloot (Hg.): Contes, fables et récits du Sénégal. Paris: Karthala 2006, Paris: Karthala, S. 7. 100 Ebda., S. 13. 101 Ebda., S. 8. 102 Das conte wird im Roman in einem Kontext der Wolof-Kultur situiert. Vgl. dazu auch http: //ellaf.huma-num.fr/litteratures/litterature-en-wolof/, eine herausragende elektronische Res­ source, die Korpora und Erklärungen für verschiedene Literaturen der Region zusammenträgt (u. a. Peul, Mandinke aber auch aus der Kabylie). 103 Ich übernehme die jeweils verschiedenen Konventionen folgenden Schreibweisen des Wolof wie in den jeweiligen Originalen angegeben. Eine nähere Diskussion derselben ist hier verzicht­ bar. «Die dialogische Eröffnungsformel der Wolof Westafrikas z. B. signalisiert dem Redner von vorneherein die Macht der Zuhörer, die sich damit als wichtige Akteure des rhetorischen Ereignis­ ses konstituieren, von denen der Redner selbst abhängig ist. Anders als in der abendländischen Rhetoriktheorie ist rhetorische Handlungsmacht damit zu einem Gutteil bei den Hörern angesie­ delt.

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Je mettais sérieusement en doute la véracité de l’histoire à venir, prenant un malin plaisir à souligner le fait, bien connu du reste, que les conteurs étaient tous de fieffés menteurs. Khadidja s’énervait un peu, pour le principe, sachant bien qu’au fond je brûlais d’entendre ce qu’elle avait à dire et cela en vertu même du pacte par lequel le public se livre pieds et poings liés au conteur afin de donner au rêve toutes ses chances. [. . . ] Je ne démordais pas de ma position : j’y en avais marre de tous ces conteurs dont les récits complètement illogiques finissaient d’ailleurs toujours par s’égarer en haute mer. Non et mille fois non, disais-je, le lion n’a jamais été le roi de la brousse et c’était insensé que l’hyène meure à la fin de chaque histoire pour ressusciter le lendemain. Bref, il était temps d’arrêter ce cirque !¹⁰⁴ (LC, S. 59 f. ; eigene Hervorhebung)

Wie diese metaliterarische Passage des Romans verdeutlicht, gehört das Zweifeln als ritualisiertes Element in der oralen Tradition zum Erzählereignis immer dazu. An dieser Stelle zeigt sich, wie wesentlich es für ein angemessenes Verständnis ist, Diops Roman im diskursiven Geflecht seiner vielfältigen Bezüge zu verorten. Neben die Aktualisierung von Verfahren etwa der europäischen Fantastik treten autochthone Erzähltraditionen. Die metafiktionale Reflexion, das explizite Infra­ gestellen chronologisch eineindeutigen Erzählens, das in den westlichen Litera­ turen als distinktives Merkmal der Postmoderne wahrgenommen wird, ist hier als Bestandteil westafrikanischer Erzähltraditionen markiert. Das Moment des Zweifels wird im Text minutiös ausgestaltet und in der zi­ tierten Passage ausführlich beschrieben (siehe meine Hervorhebungen): Dabei steht zunächst der Wahrheitsgehalt der Erzählung, der Status der Erzählerin als

Sprecher: Lééboon. – Es war einmal eine Geschichte. Zuhörer: Lippoon? – Was daran ist uns nicht schon bekannt? Sprecher: Amoon na fi. – Sie geschah hier. Zuhörer: Daana am – Sie wird immer geschehen! Sprecher: Ba mu amee yaa fekk? – Als sie passierte, warst Du dabei? Zuhörer: Yaa wax ma dégg! – Sprich Du – ich höre! Sprecher: Waxi tey matula dégg. – Das, was ich erzähle, kennst Du noch nicht. Zuhörer: Sa jos a ci raw? – Was soll an Deinem Stück besonders sein? Sprecher: Waaye dég dég matul xeeb! – Aber Neuigkeiten soll man nicht unterschätzen! Zuhörer: Waawaaw ne Wolof Njaay day yokk, waaye du sos mukk. Lu mu wax am na dalil. – Oh ja, das Sprichwort sagt, daß der Sprecher hinzufügt, aber nicht erfindet. Was er erzählt, hat eine Vorgeschichte. Sprecher: Degluleen boog yeen ñepp, ma waxatileen lu masa am. – Dann hört alle zu, damit ich euch noch einmal erzählen kann, was einst geschah. Zuhörer: Moo fu mu amewoon? – Und wo geschah es?» Felix Gierke/Christian Mayer: Afrikanische Rhetorik. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörter­ buch der Rhetorik Online, Nachträge A–Z, Berlin: De Gruyter 2012. 104 Gehrmann zitiert in ihrem Aufsatz ebenfalls den Eröffnungsdialog und stellt fest: «Variatio­ nen sind möglich, das Léébóón ! – Lippóón ! Paar ist feststehende Konvention.» Susanne Gehr­ mann : Von der verschriftlichten Oratur, S. 5, Anm. 7.

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vermeintliche Zeugin sowie die als mangelhaft beklagte Glaubwürdigkeit der Ge­ schichten als «récits complètment illogiques» und «insensé[s]» im Fokus der Dar­ stellung. Lat-Sukabé und Khadidja befolgen die überlieferten Vorgaben mit großem Re­ spekt: «Nous veillions avec beaucoup de soin à respecter toutes les règles, si sub­ tiles, de l’art du conte.» Das Erzählereignis verweist als etablierte kommunikative Handlung auf einen sozialen Zusammenhang. Das Erzählen wird explizit als eine Kunst verstanden, die ihren Sitz im Leben in der Gemeinschaft hat.¹⁰⁵ Das Ritu­ al dient zur regelmäßigen Selbstvergewisserung der Teilnehmenden und ist eine Form, Kritik zu äußern, ohne dass jemand sein Gesicht verliert.¹⁰⁶ Das Publikum schließt einen «pacte» mit dem Erzähler und liefert sich ihm «pieds et poings liés» freiwillig aus. Der Geschichte zu folgen bedeutet, sich ihr preiszugeben in unein­ geschränkter Teilhabe «afin de donner au rêve toutes ses chances.» Khadidja findet sich wie bereits erwähnt in der befremdlichen Situation, ihren Zuhörer nicht zu kennen. Jedoch ist sie angewiesen, zu ihm zu sprechen und sich gegenüber einer Tür zu platzieren; das heißt, ihr ist ein Zuhörer versprochen.¹⁰⁷ Da Khadidja seiner weder ansichtig wird noch sonst irgendeine Reaktion erhält, empfindet sie diese Anwesenheit-Abwesenheit zunehmend als Belastung: Quand elle lança : «Leebòòn», seul lui répondit le silence. Au bout de quelques secondes, elle répéta le mot «Leebòòn» et le silence lui parut encore plus lourd. Elle fut prise de peur en s’apercevant qu’elle était condamnée à être à la fois la conteuse et le public. [. . . ] Elle n’obtint jamais le moindre écho et cela finit par la mettre dans une rage folle contre la personne qui se trouvait de l’autre côté de la porte. Mais sa colère ressemblait beaucoup à du dépit amoureux. (LC, S. 61)

Khadidjas heftige Reaktion einer «rage folle» zeigt, dass Erzählen in dieser Sicht losgelöst von der Kommunikation mit dem Publikum nur begrenzt funktionieren

105 «Ein zweites Sprichwort der Wolof Senegals zeigt, daß sie die Eloquenz für eine bedrohliche Fähigkeit halten, die kulturell geformt, aber auch gebändigt werden muß: ‹Die Sprache (Zunge) ist eine Waffe, ein Messer, aber bevor sie schneiden kann, muß man sie schärfen.› Dieses Sprich­ wort macht auch deutlich, daß bei den Wolof wie in vielen anderen afrikanischen Gesellschaften Eloquenz nicht als ein natürliches Talent angesehen wird, sondern als ein Können, das durch viele Jahre an Übung und Erfahrung erst erworben werden muß. Es ist eine kulturelle Instituti­ on, erlangt durch Sozialisation, Enkulturation und Bildung. Diejenigen, die ihr Sprechen in den Dienst der Gemeinschaft stellen (Schlichter, Redner, Erzähler), sind hoch angesehen.» Felix Gier­ ke/Christian Mayer: Afrikanische Rhetorik. 106 Vgl. Lilyan Kesteloot, Contes, fables et récits du Sénégal, S. 8. 107 Quader analysiert die Position Khadidjas im Vergleich zu Franz Kafka: Vor dem Gesetz. In: ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden in der Fassung der Handschrift. Herausgegeben von HansGerd Koch. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1983. Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, S. 100 ff.

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kann. Wenn Khadidja aufgrund der Beschneidung des Erzählens physisch und psychisch zunehmend degradiert, so ist dies ernst zu nehmen: Ohne gehört (oder gelesen) zu werden, kann die Erzählerin auf Dauer ihrem Handwerk nicht gerecht werden. Gerade das conte ist ein Genre, das eine markant soziale Funktion erfüllt: Es soll zur Diskussion unter Erzähler:innen und Publikum anregen und zieht oft weitere Erzählungen nach sich.¹⁰⁸ Khadidja wird in Diops Roman zwar als Erzählerin von contes ausgewiesen. Jedoch bezieht sich ihre Haupterzählung ‹Le Cavalier et son ombre› motivisch und in ihrer Anlage als geschichtliche Erzählung durchaus auf das Epos. Diese Ver­ bindung von conte in der Form und Epos in Motiv und Funktion hat Folgen für die Position der Erzählerin Khadidja – auch wenn sie keine autorisierte Griotte in einem sozial genau abgegrenzten Zusammenhang ist.¹⁰⁹ Zunächst sind, wie Bassirou Dieng bemerkt, in der westafrikanischen Erzähl­ tradition¹¹⁰ die Sprecherpositionen und Kontexte von conte und épopée grund­ sätzlich verschieden: Das Epos ist nur für wenige spezielle Anlässe reserviert, sein Sprecher ein autorisierter Griot.¹¹¹ Das hängt mit der verantwortungsvollen Rolle des Griots als Historiker zusammen.¹¹² Der Spielraum eines Epenerzählers ist tra­ ditionell gering und er wird ob seiner sozial bedeutsamen Aufgabe streng von der Gesellschaft kontrolliert.¹¹³ Die Epenerzähler sind eng mit den Zirkeln der Mäch­

108 Vgl. Lilyan Kesteloot: Contes, fables et récits du Sénégal, S. 8. 109 Vgl. dazu auch Cornelia Panzacchi: Der Griot. Der Meister des Wortes in traditionellen west­ afrikanischen Gesellschaften. Rheinfelden: Schäuble 2000. 110 Vgl. für eine Diskussion des Epos und seiner sozialen Einbettung in der Wolof-Kultur Bassi­ rou Dieng: Introduction, S. 28–31. 111 Vgl. ebda., S. 32. 112 Vgl. ebda. Die Figur des Griot ist in der westafrikanischen Literatur durchaus ambig; es kann um Schmeichelei, die Wahrheit, Manipulation und Machtinteressen gehen. Vgl. Jonathon Repi­ necz: Whose hero?, S. 37 mit genaueren Literaturhinweisen. Alle diese Facetten spiegeln sich auch bei Khadidja wider: Zunächst versucht sie – in der Annahme, der Zuhörer sei ein Kind – ihm zu schmeicheln, danach möchte sie ihm die Geschichte des Landes nahebringen, alsbald wechselt sie dazu, eine diametral entgegengesetzte Form derselben zu entwickeln. Aufgrund der mangeln­ den Kommunikation mit dem Gegenüber weiß Khadidja nicht, um wen es sich handelt, zweifelt, ob ihr wirklich jemand zuhört und kann vor allem nicht interagieren, wie es das soziale Skript des Erzählens in der Wolof-Kultur vorsieht. 113 «[. . . ] la part d’improvisation est assez dérisoire. Le récit épique est presqu’un texte figé, mé­ morisé de père en fils. Le griot ne pouvait pas le manipuler à sa guise. Les données historiques et généalogiques assez complexes, codifiées dans des formules pour la mémorisation, lui im­ posèrent une première limite. L’omission de certaines de ces données ou leur bouleversement pouvait entraîner la disgrâce du griot. On raconte encore des bastonnades de griots à cause de manquement dans la restitution de cette matière historique.» Bassirou Dieng : Introduction, S. 35.

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tigen verbunden¹¹⁴ und haben eine privilegierte Stellung inne. Sie sind selbst auf dem Schlachtfeld mit dabei, was den performativen Charakter des Epos unter­ streicht und die konstruierte Gegensätzlichkeit von Welt und Text unterminiert: «L’agent producteur du récit est témoin de l’histoire se faisant.»¹¹⁵ Das gilt in ge­ wissem Sinne auch für Khadidja, wenn sie am Ende ihrer langen Erzählung ‹Le Cavalier› zur Prinzessin Siraa wird. Bis zum 19. Jahrhundert bestätigte der Protagonist des Epos, der Held und Kö­ nig, die sozialen Institutionen. Noch im Kontext der Kolonialkriege bedeutete sein Tod eine Affirmation eigener Werte.¹¹⁶ Wie Dieng feststellt, hängt die Glaubwür­ digkeit des Epos vom Sprecher, dem Griot, ab: «The enunciation of an historical narrative must proceed from a legitimate speaker for the authentication of the in­ formation. In the epic, the griot-historian is master of the word, as is explained right from the enunciative protocols.»¹¹⁷ Die Haupterzählerin in Le Cavalier ist Khadidja, auch wenn sie als intradie­ getische Stimme vom Erzähler Lat-Sukabé abhängt.¹¹⁸ Er stellt Khadidja immer wieder aufs Neue als wahnsinnig dar. Dies ist nicht nur ein Versuch, ihre Positi­ on im Gefüge des fantastischen Erzählens zu schwächen; es ist auch ein Verweis darauf, dass Erzählen eine ernste, und oftmals politisch gefährliche Angelegen­ heit ist.¹¹⁹ Der Hintergund ihres langen contes ‹Le Cavalier› ist schließlich die Fra­ ge nach der Autorität und Legitimität des Sprechens und Erzählens, die im conte durch die Suche nach einem Nationalhelden thematisiert wird. Des Weiteren bildet die Konstellation der beiden Haupterzähler:innen in Le Cavalier eine auch im realen Senegal noch verbreitete Machtstruktur ab. Die Frau­ en sind im Alltag die Erzählerinnen, die Männer firmieren aber letztlich als Au­ toren, wenn es um Festschreibung und Veröffentlichung geht, wie Susanne Gehr­

114 Vgl. ebda., S. 28. Übrigens scheint es sich beim Epos in der Regel um einen männlichen Er­ zähler zu handeln, wie die Ausführungen von Dieng nahelegen. Vgl. dazu auch das Zitat in der vorhergehenden Anmerkung. 115 Ebda., S. 30. Wie Dieng bemerkt, berichteten die Informanten seiner Studie von Griots, die bei diesen Anlässen ums Leben kamen. 116 Vgl. Bassirou Dieng: Narrative Genres and Intertextual Phenomena in the Sahelian Region. Myths, Epics, and Novels. In: Research in African Literatures 24, Nr. 2 (1993), S. 33–45, hier S. 39. 117 Ebda. 118 Nasrin Qader hat darauf hingewiesen, dass es einen Aspekt gibt, der Khadidjas Position als Erzählerin durchaus stärkt: Khadidja erschafft Lat-Sukabé gleichsam in seiner Funktion als Er­ zähler, denn es ist ihr Brief, der die Erzählung mit in Gang setzt. Lat-Sukabé wiederum gibt der Erzählerin Khadidja Raum, indem sie in seinem Erzählen auftritt. Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, S. 93. 119 Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 18 f.

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mann bemerkt hat.¹²⁰ Dies ist etwa der Fall für die ikonisch gewordenen contes, die Birago Diop gesammelt hat. Es trifft aber auch ein Stück weit für Boubacar Boris Diop zu, der nach eigenen Angaben sehr stark von den mündlichen Erzäh­ lungen seiner Mutter geprägt wurde – stärker als durch jegliche Schriftliteratur, wie er einmal selbst sagte.¹²¹ Khadidja erfährt durch Lat-Sukabé eine beständige Wertung als Objekt seiner Sexualität beziehungsweise anderweitiger männlicher Sexualität. Erwähnt wer­ den etwa zwei Episoden, in denen andere Männer sich übergriffig verhalten: Der Hausverwalter belästigt sie mit anzüglichen Kommentaren, ein Marabout sperrt sie ein und greift sie körperlich an (vgl. LC, S. 65). Überdies kann hier eine Verbindung zur Stellung von Frauen in epischen Tex­ ten der Mandinké gezogen werden. Repinecz weist im Rückgriff auf Studien zu Epen der Mandinké darauf hin, dass sich Frauen in älteren Texten oft gegen männ­ liche Dominanz zur Wehr setzen müssen und von deren Erzählstimmen boykot­ tiert und abgewertet werden, obwohl sie zum Teil heldenhafte Taten an den Tag legen beziehungsweise den männlichen Protagonisten in diesen unterstützen.¹²² Aufschlussreich mit Blick auf die wiederholten, zunächst schwer zuzuord­ nenden Exkurse über Khadidjas Position als sexuelles Objekt und Reproduktions­ instanz – Lat-Sukabé berichtet etwa von ihren exzessiven Regelblutungen und wie er sich mit ihr den unsichtbaren Zuhörer als gemeinsames Kind vorstellt – ist ein Verweis auf das Sunjata-Epos: Die Mutter des Helden Sunjata versucht zunächst, sich dem Sex zu entziehen, wird aber dann vergewaltigt und bringt den späteren Helden zur Welt und damit, ohne eine Wahl zu haben, «the reproduction of maledominated order»¹²³ auf den Weg. Khadidja bringt eben kein Kind mit Lat-Sukabé zur Welt, sondern erschafft im Erzählen mit Tunde die Verkörperung einer mögli­ cherweise neuen, anderen Ordnung.¹²⁴

120 Vgl. ebda., S. 4, Anm. 6. 121 Diop machte diese Angaben in einem Publikumsgespräch auf der Jahreskonferenz der Af­ rican Literature Association 2017. Diops dem vorausgehender Vortrag beschäftigte sich dagegen mit den Einflüssen französischsprachiger Literatur, zu der er in seiner Kindheit in den 1960er Jahren dank der Privatbibliothek seines Vaters, eines Beamten für die französische Kolonialad­ ministration, Zugang hatte. Vgl. Boubacar Boris Diop: La bibliothèque de mon père. 122 Vgl. Jonathon Repinecz: Whose hero?, S. 37 f. 123 Ebda. 124 Interessanterweise ist es in Diops späterem Roman Doomi Golo dann ein kleines Mädchen, das im Rückgriff auf die sogenannte Talaatay Nder Erzählung als Heldin aufgebaut wird, wie Re­ pinecz bemerkt. Vgl. ebda., S. 96 f. Der überlieferten Erzählung nach wurde an einem Dienstag um 1820 der Ort Nder, Zentrum des damaligen Königreiches Walo im heutigen Nordsenegal, von Muslimen überfallen, als nur die Frauen des Dorfes dort waren. Sie verkleideten sich als Män­ ner und drängten die Invasoren zurück, die schließlich die Oberhand gewannen, nachdem eine

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Für ihre contes schöpft Khadidja aus vielen Quellen und beschränkt sich nicht. Sie recherchiert mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und lässt sich von Stoffen und Erzählweisen verschiedenster Provenienzen inspirieren, wie es in Diops Roman heißt. Europäischer, afrikanischer und amerikanischer Kontinent stehen gleichberechtigt nebeneinander: Au fil des semaines, la chambre s’était remplie d’ouvrages aux titres parfois énigmatiques, pour ne pas dire inquiétants. Khadidja prétendait faire ses recherches sur la tradition orale, sur les techniques du conte africain et sur toutes ces choses qui, normalement, n’intéressent que les érudits. Elle dévorait aussi des livres sur les légendes et les mythes de peuples presque oubliés d’Europe et des Amériques. [. . . ] Khadidja, qui connaissait par cœur le conte de l’Homme-Lune et de la Femme-Soleil, s’évertuait aussi à faire des comparaisons entre la Grèce antique et l’Afrique noire. (LC, S. 63–65)

Khadidja wird in diesem hierarchiefreien Umgang mit Texten als philologisch angetriebene Erzählerin von Weltliteratur dargestellt. Der im ostafrikanischen Dschibuti geborene zeitgenössische Schriftsteller Abdourahman Waberi spricht von einer solchen Praxis als «to plug into someone’s archive».¹²⁵ Im weltlitera­ rischen Kosmos dieser Gestalt haben alle ungehindert Zugang zu den Quellen globalen Erzählens und können sich ihrer einfach bedienen.¹²⁶ Khadidja ist in diesem Sinne eine avantgardistische Figur. Sie aktualisiert das orale Erzählen und entwirft ehrfurchtsfrei Neues. Traditionelle Erzähler:innen ha­ ben zwar immer schon den Bestand oraler Literatur fortlaufend neubearbeitet und eigene Versionen erschaffen, die jedoch einen gewissen Grundbestand an Form- und Inhaltskonventionen beachten.¹²⁷ Im obigen Zitat ist etwa die Rede von der griechischen Antike oder von einem in Westafrika bekannten Stoff: «Homme-Lune» und «Femme-Soleil» scheint sich

der Frauen ihre Maskierung verloren hatte. Die Frauen beschlossen, sich kollektiv das Leben zu nehmen, bevor die Invasoren einen Sieg davontragen konnten. In Diops Roman wird ein klei­ nes Mädchen fortgeschickt, um als Botin der Nachwelt und den übrig gebliebenen Männern des Dorfes von der Begebenheit zu erzählen. 125 Waberi hat diese Metapher verwendet: Afrotopia. Writing and Thinking Africa. Antrittsvor­ lesung im Rahmen der Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin, 1.12.2016. 126 Waberi stellt explizit, wie er in der o. g. Veranstaltung erklärt hat, auf die technische Di­ mension einer neuen Weltliteratur ab. Das spiegelt sich auch in der Wahl seiner Metapher wider. In Zeiten unaufhaltsamer Digitalisierung soll der Zugang zu Quellenmaterial vor allem elektro­ nisch gedacht werden. Das impliziert eine positive Konzeption des vernetzten digitalen Raumes als gleichberechtigt und chancenreich. Diese Utopie soll hier nicht weiter diskutiert werden. 127 Vgl. zu dieser Erzählpraxis Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 3.

2.3 Geschichte(n) erzählen: Verfahren der Hypostasierung

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auf einen Mythos zu beziehen, der bei den Fon im heutigen Benin bekannt ist.¹²⁸ Hauptfigur ist die Schöpfer-Gottheit Mawu-Lisa¹²⁹, die das Weibliche (Mawu) und das Männliche (Lisa) in sich enthält¹³⁰. Diese Dualität findet ihre Entsprechung in der Aufteilung von Nacht (Mawu) und Tag (Lisa).¹³¹ Khadidjas längste Erzählung ‹Le Cavalier et son ombre› greift auf eines der bekanntesten Motive der Weltliteratur zurück, das in der Geschichte des Bildhau­ ers Pygmalion in den Metamorphosen¹³² des Ovid bekannt wurde.¹³³ Es geht um die Verwandlung einer – wie bei Pygmalion zumeist weiblichen – Statue in ein

128 Kesteloot nennt diese Art der Mythen, die den Ursprung vor allem natürlicher Gegebenhei­ ten thematisieren, «récits étiologiques» und grenzt sie von den anderen, historisch orientierten Mythen ab. Vgl. Lilyan Kesteloot: Contes, fables et récits du Sénégal, S. 9. 129 Vgl. Harold Scheub: Mawu-Lisa bzw. Mawu-Lisa and the Shape of the Universe In: ders.: A Dictionary of World Mythology. The Storyteller as Mythmaker. Onlineausgabe. New York: Oxford University Press 2000. 130 «Although Mawu-Lisa is thought of as a creator deity, the Fon sometimes say that there ex­ isted a god prior to Mawu-Lisa. This was Nana Buluku, an androgynous deity, and the progenitor of the dual creator. At the beginning of the present world, however, the Fon recognize only the existence of Mawu-Lisa and their offspring, vodu, sky gods and earth gods. It appears that MawuLisa ‹created›, ‹shaped›, and ‹ordered› the universe out of a pre-existing material. In the dual Mawu-Lisa, Mawu is female and Lisa male. They are xoxo, ‹twins›, and their union is regarded as the basis of the universal order. It is a concept that has parallels elsewhere. [. . . ] Serpentine power, personified as Da, son of the divine pair, assists in the ordering of this cosmos. A serpent, he has a dual nature rather than a female-male identity. [. . . ] A way of describing this cosmic interrelationship would be to say that Mawu-Lisa is thought and Da is action. Other vodu of course are assigned parts in the government of the world [. . . ].» Harold Scheub: Mawu-Lisa. 131 «In the sky pantheon, Mawu, the female, is the moon; Lisa, the male, is the sun. Mawu is a dualistic figure, one side of its body being female, with eyes forming the moon, and bearing the name of Mawu, ‹body divided›. The other portion is male: the eyes are the sun, the name is Lisa. The part of the androgynous figure that is Mawu directs the night, the portion named Lisa has charge of the day. The universe is a sphere divided in two, one half fitting on top of the other. They join at the horizon. The earth is on the plane that separates the two halves, the top half of which is the sky. This sphere is encased in a larger sphere, with water between them, the smaller sphere floating in the larger one. The rains and the sea come from these waters.» Harold Scheub: Mawu-Lisa and the Shape of the Universe. 132 Vgl. Ovidius P. Naso: Metamorphosen. Lateinisch – Deutsch. Übersetzung und Herausgabe Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 2000, Buch 10, Verse 243–278. 133 Vgl. den Eintrag «Pygmalion» in Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dich­ tungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner 2008 sowie ergänzend die Einträge «Der künstliche Mensch» sowie «Statuenverlobung». Bei jedem Eintrag finden sich jeweils weiterfüh­ rende Literaturangaben.

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lebendiges Wesen. Eng damit verbunden¹³⁴ ist das Motiv des Doppelgängers.¹³⁵ Elisabeth Frenzel kommentiert die große Wirkmächtigkeit des Motivs insbeson­ dere in der europäischen Literatur der Romantik, aber auch darüber hinaus¹³⁶, wie folgt: Entscheidend für die Spannkraft des Motivs, ist die Existenz zweier gleichzeitig nebeneinan­ der agierender, sich möglicherweise gegenseitig verdrängender Figuren, die auf diese selbst und ihr Umfeld eine verblüffende bis unheimliche Wirkung hat [. . . ].¹³⁷

Diese Dynamik spielt auch in Diops Roman eine große Rolle, da in der Binnener­ zählung die Motive von lebendigwerdender Statue und Doppelgänger miteinan­ der verwoben werden. Zunächst erschafft der Bildhauer Silmang Kamara eine Statue, die er «irgendeinem Idioten» gleich geschaffen hat (vgl. LC, S. 127). Der Beamte Dieng Mbaloo glaubt, darin den Cavalier, also den von der staatlichen Kommission vorgeschlagenen Nationalhelden, zu erkennen. Da es diesen aller­ dings niemals gegeben hat und demzufolge auch keine Bildvorlagen von ihm vorhanden sind, deutet das Wiedererkennen Mbaloos eher darauf hin, dass er sich selbst im Antlitz des Cavalier erkennt. Diese Interpretation, dass die Statue des Cavalier ein Doppelgänger von Mbaloo ist beziehungsweise umgekehrt, wird durch die weitere Gestaltung des Statuen-Motivs gestützt. In der Nacht vor der öffentlichen Enthüllung befindet sich Mbaloo bei der Statue, die er sehr bewun­ dert. Diese wird lebendig, steigt vom Sockel und Mbaloo folgt ihr. In Khadidjas conte ‹Le Cavalier› wird später von einem Zeugen beschrieben, wie der Cavalier von einem zweiten Mann augenscheinlich umgebracht wurde. Der tot aufgefun­ dene und der andere Mann seien sich jedoch derart ähnlich, dass praktisch keine sichere Unterscheidung getroffen werden könne (vgl. LC, S. 147).

134 Vgl. Gerald Bär: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam u. a.: Rodopi 2005, S. 34. 135 Vgl. den Eintrag «Doppelgänger» in Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. 136 «Im Ganzen zeugt die für die Romantik typische Doppelgänger-Motivvariante von der Ent­ deckung des gebrochenen Persönlichkeitsbewusstseins durch die Dichtung, die zwar oft noch überlieferte Medien der Doppelungen des Ichs – Traumbild, Schatten, Spiegelbild, Porträt –, aber auch reine Phantom-Doppelgänger einsetzte.» Ebda., S. 99. Und weiter: «Nachdem das Doppel­ gänger-Motiv von der Romantik dämonisiert und auf sehr unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten hin durchexerziert worden war, erhielt sich eine weite Verbreitung auch in der Literatur des mitt­ leren und späten 19. Jahrhunderts trotz des vorherrschenden Realismus. Dabei waren Übergänge zwischen dem rein imaginären Doppelgänger, dem an Medien wie etwa einen Schatten oder ein Spiegelbild gebundenen Doppelgänger und dem personalen Doppelgänger ebenso fließend wie diejenigen zwischen dem allegorisch bestimmten und dem moralisch wertfreien, psychologisch begründeten.» Ebda., S. 104. 137 Ebda., S. 93.

2.3 Geschichte(n) erzählen: Verfahren der Hypostasierung

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Im Motiv der lebendigwerdenden Statue steckt in mehreren literarischen Be­ arbeitungen der Verweis auf die buchstäbliche Kraft der Geschichte, wie Volker Klotz¹³⁸ als Ergebnis der Analyse novellistischer Texte¹³⁹ festgehalten hat: Unausgesprochen besagen auch sie: nicht nur mit göttlichen, auch mit geschichtlichen En­ ergien sei jede Statue aufgeladen. Derart komprimiert, dass sie eigentlich zerplatzen müsste wie ein Kessel unter Überdruck. Doch die Statue zerplatzt nicht. Stattdessen explodiert die gewaltige Verdichtung gewesener Zeiten motorisch ins Jetzt: die Statue setzt sich in Bewe­ gung.¹⁴⁰

Hier zeigt sich, wie das Motiv in diesem Roman von Diop ironisch gebrochen wird. Bezeichnend für den Cavalier und die ihm geschaffene Statue ist ja gerade, dass sie keine historische Rückbindung hat, sondern der Phantasie des anberaumten Expertenkomitees entspringt. Die Figur des rangniedrigen Beamten Dieng Mbaloo, der zum Doppelgänger des Cavalier wird, kann als ein weiterer ironischer Verweis auf ein Werk der Welt­ literatur gelten. In Dostojewskijs Roman Der Doppelgänger ( )¹⁴¹ geht es auch um die Vereinnahmung eines Alter Ego. Der Protagonist des Romans ist ein rangniedriger Beamte, der feststellen muss, wie sein Doppelgänger sich die Lebensträume erfüllt, die er selbst hegt.¹⁴² In Diops Roman ist es allerdings der Beamte selbst, der sich des (neugewonnenen) Daseins eines Helden mit Pferd be­ mächtigt. Außerdem ist es in Diops Roman der Mensch, der die lebendig geworde­ ne Statue tötet und nicht umgekehrt, wie es etwa in der literarischen Bearbeitung des Motivs in Prosper Mérimées Novelle La Venus de l’Ille der Fall ist.¹⁴³

138 Vgl. Volker Klotz: Venus Maria. Auflebende Frauenstatuen in der Novellistik. Bielefeld: Ais­ thesis 2010. 139 Klotz untersucht Novellen von Ovid, Joseph von Eichendorff, Prosper Mérimée, Franz von Gaudy, Gustavo Adolfo Becquer, Gottfried Keller, José Maria Eça de Queiroz und Carlos Fuente. 140 Ebda., S. 245. 141 Vgl Fëdor Michajlovič Dostojevskij: Der Doppelgänger: Frühe Romane und Erzählungen. Über­ setzung aus dem Russischen von E. K. Rahsin. München: Piper 1961. Der Roman erschien zu­ nächst 1845–1846 in einer Zeitschrift. Diop ist bekanntermaßen auch von den russischen Autoren sehr geprägt worden. Vgl. dazu die Ausführungen in der Einleitung meiner Studie. 142 Vgl. für eine sehr knappe, überblickshafte Interpretation von Dostojewskijs Roman Agnes Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers in der deutschen Romantik und im russischen Realismus. E. T. A. Hoffmann, Chamisso, Dostojewskij. Marburg: Tectum 2003, S. 69–82. Frenzel spricht von Dostojewskijs Roman als «Studie eines sich steigernden Verfolgungswahns». Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 110. 143 Vgl. Prosper Mérimée: La Venus d’Ille. Diop hat sich bereits an anderer Stelle mit Mérimées Schreiben auseinandergesetzt: Sein erster Roman Le temps de Tamango arbeitet mit dem zen­ tralen Bezug zu Tamango, dem Titelhelden einer gleichnamigen Novelle Mérimées. Vgl. ders.: Tamango.

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Darüber hinaus steht das Motiv des Doppelgängers literaturgeschichtlich mit Freuds Konzept des Unheimlichen in Verbindung, was für Todorovs Überlegun­ gen zum Fantastischen eine bedeutende Rolle spielte. Dieser Zusammenhang wird in Kapitel 2.5 genauer erörtert. Le Cavalier verknüpft westafrikanische orale Erzähltradition mit weiteren weltliterarischen Kontexten. Dieser Umgang mit dem oralen Erbe stellt eine In­ novation dar. Gehrmann, die das Verhältnis von Boubacar Boris Diop zu Birago Diop untersucht hat, spricht von einem «Paradigmenwechsel im Hinblick auf den Umgang mit der Oratur in der afrikanischen Literatur».¹⁴⁴ Der 1906 geborene Birago Diop zählt zu den populärsten senegalesischen Autoren, dessen Samm­ lungen mündlicher contes Standardlektüre in der Schule sind.¹⁴⁵ Während der ältere Diop mündliche Erzählungen in das Medium der Schrift überträgt (und mit signifikanten rhetorischen Strategien eine Fiktion des Sammlergestus erzeugt), stellt Gehrmann beim jüngeren Diop eine andere Praxis fest. Sie spricht in seinem Fall von «‹geschriebener Oratur›» als emanzipativem und zugleich zukunftswei­ sendem Akt für französischsprachige Literatur aus Afrika: «Geschriebene Oratur» im Roman bedeutet auch eine Emanzipation vom manchmal über­ mächtig wirkenden Erbe der Oratur, indem dieser nicht mehr nur respektvoll und reproduk­ tiv begegnet wird. Zugleich beinhaltet diese Subversivität ein immenses kreatives Potential, oralliterarische Stoffe, Motive und Formen weiterzuentwickeln und fortzuschreiben – womit diese letztlich wiederum auch bewahrt werden, aber nicht mehr als museale und unantast­ bare Stücke, sondern als lebendige literarische Quellen.¹⁴⁶

2.4 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit und die Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal In diesem Kapitel wird die Analyse der unterschiedlichen Aspekte von Zeit in Le Cavalier weitergeführt. In Kapitel 2.2 wurde herausgearbeitet, dass eine lineare Zeit die Rahmenerzählung bestimmt. Nun konzentriert sich die Analyse auf die temporale Deixis der Binnenerzählung ‹Le Cavalier›. Ihr Genre wird im Roman explizit als conte bestimmt. Dessen Implikationen für die Kommunikationssitua­ tion zwischen Erzählerin und Publikum wurden bereits in Kapitel 2.3 diskutiert. Jetzt geht es mir darum zu untersuchen, wie die Binnenerzählung die Raumzeit

144 Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 2. 145 Vgl. Birago Diop: Les contes d’Amadou Koumba und Les nouveaux contes d’Amadou Koumba. 146 Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 19.

2.4 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit – Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal | 89

modelliert und welcher Zusammenhang sich mit der Suche nach einem gesell­ schaftlichen Ideal ergibt, wie sie der Roman thematisiert. In Diops Roman Le Cavalier et son ombre sind der Mythos und dessen kriti­ sche Befragung in unterschiedlicher Weise präsent. Die Binnenerzählung ‹Le Ca­ valier› greift einen der im westafrikanischen Raum bekannten Mythen, die oft in einer zusammenhängenden Legende¹⁴⁷ überliefert sind, auf: den bereits in Kapi­ tel 2.1 erwähnten Mythos von Wagadou, der sich auf den Untergang des mittel­ alterlichen Großreiches Ghana¹⁴⁸ bezieht. Die mythisch-zirkuläre Zeit des Mythos ist insofern vorhanden, als dass der Verlauf verschiedener Episoden Parallelen aufweist. Dadurch steht immer schon die Frage im Raum, ob es – nachdem die zyklische Zeit zunächst durchbrochen wird – wieder eine Rückkehr zu dem im Mythos festgehaltenen Ausgangszustand geben wird. Fiktionsironisch warnt ei­ ne Aussage von Maa Ndumbe, der eine Doppelrolle als Präsident und Aktivist hat, vor dieser Vereinfachung. Darin nimmt er explizit Bezug auf die Episode über das Monster Nkin’tri und den König Dapienga, also auf die in Diops Roman bearbei­ tete Version des Mythos von Wagadou. Ndumbe sagt zu Prinzessin Siraa und dem Cavalier, die ihm auf ihrer Reise durch die Zeit begegnen: «Vous espériez, n’est-ce pas, me trouver là-dessous, en train de sangloter lâchement, comme jadis le bon Roi de Dapienga ? Eh bien, vous voyez, l’histoire ne se répète pas» (LC, S. 219). Diops Roman stellt nicht mythisch-zirkuläre und linear-historische Zeit ge­ geneinander; vielmehr werden die verschiedenen Zeitaspekte miteinander ver­ bunden. Eine solche Opposition wäre auch künstlich, da der Mythos in Westafrika vornehmlich ein Reflexionsmodus für Geschichte ist. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie schwierig es für den westafrikanischen Kontext ist, mit Be­ griffen wie «Mythos» und «Geschichte» zu operieren, deren dominante Bedeu­ tungen so markant in der europäisch-westlichen Philosophie- und Wissenschaft verhaftet sind. Das afrikanische Epos ist, wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt, über den Hel­ dentopos präsent. Dies dient in Le Cavalier mehr dazu, eine westafrikanische Er­ zähltradition als Prinzip der Geschichtsverarbeitung aufzurufen, denn mit ihrer Formsprache zu spielen. Das Epos zeichnet sich in Westafrika denn auch durch ein stark kodifiziertes, formelhafte Sprechen aus. Das Epos bezieht sich auf einen spezifischen historischen Kontext: Dieser Bezug ist im Roman jedoch nur durch den Namen des Protagonisten der Rahmenerzählung, Lat-Sukabé, enthalten. Hier

147 Mit dem Begriff «Legende» meine ich eine narrative Zusammenfassung des Gehalts des My­ thos, das heißt, die histoire. Im Unterschied zu Mythos und Epos geht mit der Legende kein be­ stimmter sozio-kultureller Kontext einher. Der Begriff wird in der Forschung zum Teil synonym gebraucht 148 Vgl. für die Geschichte Ghanas Michael Gomez: African Dominion, Kapitel 3.

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wiederum evoziert der Name zwar den Ceddo und das Epos von Kajoor – wie ich noch detaillierter diskutieren werde –, stärker aber ist der Verweis auf die Kon­ troverse in der senegalesischen Gesellschaft um den Heldenstatus des Ceddo. Die Zeitgestaltung epischer Texte kommt dagegen im Roman nicht zur Geltung. Des Weiteren taucht der Topos einer ruhmreichen Vergangenheit als Motiv auf, den Glinga als «Mythos der vergangenen Größe» bezeichnet. Dies ist etwa im ersten Kapitel des Romans der Fall, als der Ich-Erzähler Lat-Sukabé sich mit dem Namensvetter seines Hotels «Villa Angelo» auseinandersetzt. Der Name verweise auf einen gewissen Angelo Suleimaan, wie der Portier des Hotels dem Gast er­ zählt. Suleimaans Vater habe den jungen Prinzen dem Herrscher von Österreich geschenkt, wo er – nach Streit um Macht und Einfluss – als Vierzigjähriger von seinen engsten Vertrauten ermordet worden sei (vgl. LC, S. 14–17). Die Figur des Prinzen ist Angelo Soliman (in eingedeutschter Schreibweise) nachempfunden, dessen Leben historisch verbürgt ist: Er wurde 1721 in Westafrika geboren und lebte bis 1796. Soliman wurde versklavt und musste zunächst in Sizilien arbeiten, später gelangte er als Kammerdiener nach Österreich und war schließlich als Prin­ zenerzieher beim Fürsten Franz Joseph von Liechtenstein in Wien.¹⁴⁹ Mit der Figur des nach Österreich verschafften Angelo ist in Diops Roman der goût Europas für rassistischen Exotismus aufgerufen. Wie im Falle des historischen Angelo¹⁵⁰ wur­ de auch der Leichnam der Romanfigur nach seinem Tod präpariert, ausgestopft und ausgestellt. Woher Suleimaan stammte, kann die Wissenschaft nicht sicher beantworten; vermutlich aus dem heutigen Nordostnigeria.¹⁵¹ Dieser Aspekt wird in Le Cavalier et son ombre aufgegriffen: Am meisten treibt Lat-Sukabé die Herkunft des Prin­ zen um, die er bis zum Gespräch mit dem Hotelangestellten in Äthiopien vermu­ tet. «Äthiopien» fungiert hier gleichsam als Stichwort: Damit ist ein Element des Mythos der vergangenen Größe aufgerufen, zu dem «die Vorstellung der afrikani­ schen Völker aus Nubien und Altägypten [gehört]».¹⁵² Nubien und Äthiopien wer­ den in diesem Kontext häufig in eins gesetzt.¹⁵³

149 Vgl. Monika Firla: Angelo Soliman und seine Freunde im Adel und in der geistigen Elite. Bundeszentrale für politische Bildung 2004. 150 Wobei der historische Angelo Soliman seine Haut dafür selbst zur Verfügung gestellt haben soll (was allerdings auch nichts an dem rassistischen Konzept der Ausstellung von Menschen ändert). Vgl. ebda. 151 Vgl. ebda. 152 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 33. 153 «Nubien befand sich im Norden des heutigen Sudan und wird seit der Antike zuweilen mit Äthiopien gleichgesetzt. Das antike Äthiopien, insbesondere das Reich von Aksum, lag jedoch weiter südöstlich in der heutigen nordäthiopischen Provinz Eritrea. [Eritrea wurde 1993, also drei

2.4 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit – Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal | 91

Mit dem Topos Äthiopien sind im senegalesischen Kontext zwei zentrale Fi­ guren des 20. Jahrhunderts verbunden, die die Geschichte des Landes maßgeb­ lich prägten und deren Einfluss bis heute fortwirkt: der Historiker Cheikh Anta Diop und der erste Präsident des unabhängigen Senegals und Dichter Léopold Sédar Senghor.¹⁵⁴ Anta Diop verlegte den Ursprung afrikanischer Zivilisationen in seinen historischen Studien nach Nubien, Senghor etablierte diese Idee in der Literatur.¹⁵⁵ Im Roman ist mit Blick auf Soliman von der «heure de gloire» (LC, S. 15) des Ortes die Rede sowie von der dort mit Stolz erinnerten Abreise des Prinzen (vgl. LC, S. 16). Äthiopien, das als einziges Land des afrikanischen Kontinents nicht unter eine dauerhafte Kolonialherrschaft gebracht werden konnte, wird deswegen auch oft als Symbol für Unabhängigkeit gelesen.¹⁵⁶ In Le Cavalier kommt diese Span­ nung zum Tragen, da die Statue des möglicherweise aus Äthiopien kommenden Prinzen den Namen für ein Hotel bereitstellt, das in einer alten Villa im Kolonial­ stil untergebracht ist (vgl. LC, S. 14). Lat-Sukabé ist enttäuscht, dass er nichts Sicheres über die Herkunft des Prin­ zen erfahren kann und bemerkt ironisch: «Eh bien, ce voyage aura au moins servi à remettre en cause une telle certitude» (LC, S. 16). Das Verb steht hier im futur an­

Jahre nach Erscheinen von Glingas Studie, unabhängig von Äthiopien.] Aber auch Nubien und Altägypten werden nicht immer klar auseinandergehalten, da sich Nubien in späterer Zeit vor­ übergehend in Vasallenabhängigkeit von Ägypten befand. Im zeitgenössischen senegalesischen Geschichtsbild erscheint deshalb in verkürzter Form häufig allein Altägypten als Repräsentant der ältesten Hochkultur auf afrikanischen Boden.» Ebda., S. 118 f. 154 Boubacar Boris Diop hat dem antagonistischen Verhältnis dieser beiden und ihrer Bedeu­ tung für die senegalesische Gesellschaft einen langen, bereits erwähnten Essay gewidmet. Vgl. Boubacar Boris Diop: Le Sénégal entre Cheikh Anta Diop et Senghor. 155 «Das älteste Ausstrahlungszentrum der schwarzen Hochkulturen auf afrikanischem Boden ist Cheikh Anta Diop zufolge das antike Reich Nubien, das die äthiopischen Zivilisationen im Süden und die ägyptischen im Norden maßgeblich befruchtet habe. Die Vorstellung von der Ab­ stammung aus Äthiopien ist durch Léopold Sédar Senghor zum literarischen Topos geworden. Senghor macht allerdings einen geistigen Umweg über die christlich-jüdische Tradition und greift die Sage von der Königin von Saba auf, die eine legendäre Herrscherin von Äthiopien war. Sie hat­ te König Salomon einen Besuch abgestattet, und ihre Geschichte ist über die Bibel der Nachwelt überliefert worden. Einer Version der Sage zufolge vereinigten König Salomon und die Königin Saba ihre Reiche zu einem gemeinsamen Reich: Äthiopien. Als literarisches Bild verweist Äthiopien somit auf sehr unterschiedliche Stränge der Geschichte: auf jüdische, islamische, christliche und animistische Traditionen. Äthiopien als literarisches Bild verbirgt grundsätzlich zwei unterschiedliche Bedeutungen: Es kann erstens als pars pro toto für Afrika stehen und zweitens kann damit die Urheimat aller Schwarzen gemeint sein.» Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 118. 156 Bis 1974 hatte das Kaiserreich Abessinien (aus den heutigen modernen Staaten Eritrea und Äthiopien) Bestand.

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térieur und drückt eine Art spekulative Prolepse aus. Dadurch wird nicht nur aus­ gedrückt, dass Lat-Sukabé den Ausgang seiner Reise nicht kennen kann. Es wird vielmehr auch die Unsicherheit antizipiert, die bei der Leserin am Schluss des Romans bleiben wird. Außerdem ist hier ein Kommentar für die gesamte Erzäh­ lung verborgen. Lat-Sukabés Reise stellt schließlich gerade die von ihm als zen­ tral, sogar lebensnotwendig, postulierte Sicherheit von der Trennung zwischen Realem und Wunderbarem infrage (vgl. LC, S. 75), die ich in Kapitel 2.2 analysiert habe. Die Evokation des Mythos der vergangenen Größe über den Ort der Erzählung hat einen zeitlichen Effekt: Das Vergangene tritt im Gegenwärtigen hervor. Wie bei einem Palimpsest lassen sich Zeichen unter dem dominant Sichtbaren erkennen. Darin steckt der Gedanke einer beständigen Rekreation, ohne das Vorherige voll­ kommen auslöschen und Eindeutigkeit herstellen zu können. Dies gilt insbeson­ dere für die Geschichte, wie der Text suggeriert. Lat-Sukabé hat seine Informatio­ nen über den Prinzen Suleimaan vorwiegend von einem befreundeten Historiker erhalten, der selbst Mühe hatte, eine stringente Version der Ereignisse zu formu­ lieren: «Je tiens à dire que mon ami historien, pas vraiment sûr de son affaire, s’était embrouillé à plusieurs reprises au cours de son récit» (LC, S. 15). Das ist ein ironischer Seitenhieb auf den Genauigkeitsanspruch der Geschichtswissenschaft, die – wie die Fiktion auch – mit einem «récit» arbeiten muss. Das Prinzip der zeitlichen Schichtung findet sich auch in der Namensgebung der Protagonist:innen Lat-Sukabé und Khadidja wieder. Sie verweisen auf Dimen­ sionen der senegalesischen Geschichte. Ihre Kombination im Rahmen einer Paar­ beziehung verweist auf das besondere Spannungsverhältnis zweier sozialer Ord­ nungen: der Ceddo-Gesellschaft (Lat-Sukabé) und der islamischen Gesellschaft (Khadidja).¹⁵⁷ Glinga fasst ihr Verhältnis anhand der Akteure des Kriegers (Ced­ do) und des muslimischen Geistlichen (Marabout) wie folgt: Im Ceddo und im Marabout standen sich Animismus und Islam in tödlicher Feindschaft ge­ genüber. Beide rangen um die Hegemonie über dieselben Menschen und dieselben Territo­ rien. Animismus und Islam haben zwar als Religionen zu friedlicher Eintracht und harmo­ nischem Synkretismus gefunden; als Gesellschaftssysteme und Zivilisationsmodelle aber gerieten sie in unüberwindlichen Antagonismus.¹⁵⁸

Khadidja war der muslimischen Überlieferung zufolge die erste Frau des später als Propheten verehrten Mohammed im siebten Jahrhundert. Khadidja gilt als

157 Es ist hierbei zwischen dem Islam als Religion und dem Islam als gesellschaftlicher Organi­ sationsform zu unterscheiden. 158 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 35

2.4 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit – Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal | 93

weise und tüchtige Geschäftsfrau und als Lieblingsfrau des Propheten. Allein sie schenkte ihm Kinder.¹⁵⁹ Die Khadidja der islamischen Überlieferung unter­ stützte den wirtschaftlich wenig erfolgreichen Mohammed. Der Islam war schon sehr früh im westlichen Sahel präsent, seit dem 10. Jahrhundert.¹⁶⁰ In Le Cavalier taucht mit der weiblichen Figur der Khadidja zwar kein Marabout¹⁶¹ auf, jedoch stellt ihr Name, wie bereits erläutert, den Bezug zum Islam her. Das sieht auch Nasrin Qader, die in ihrer Studie eine interessante Interpretation für Khadidjas Position als Erzählerin ohne sichtbares Gegenüber¹⁶² bereithält: Clearly, this scenario hints at a religious dynamic, especially since Khadidja bears the name of the first wife of the prophet Muhammed. As such, the novel simultaneously recasts the scene of the prophecy in two ways. First, if we equate the guardian with the angel Gabriel whose first command to the prophet was ‹Iqra!› (recite, read, speak), the prophecy seems to be bestowed upon the woman rather than the man. Second, this shift not only questions the privileged gender construction of prophetic religion but also recasts prophetic religions as storytelling.¹⁶³

Die Figur Lat-Sukabé teilt den Namen mit einem Wolof-Souverän, einem soge­ nannten Damel. 1697–1719 herrschte der historische Lat-Sukabé mit großem Glanz über die Wolof-Reiche Kajoor und Bawol.¹⁶⁴ Das Königreich Kajoor entstand zu Be­ ginn des 16. Jahrhunderts.¹⁶⁵ Es ging aus dem Zerfall des Jolof-Reiches hervor, das

159 Vgl. Montgomery Watt: Khadidja. In: Peri Bearman u. a. (Hg.): Encyclopaedia of Islam, Sec­ ond Edition, 2012. 160 «Die frühesten Quellen des Mittelalters bezeugen, daß der Islam seit der Blütezeit des Groß­ reiches Ghana in Westafrika präsent ist. Vermutlich war der Islam vor der Invasion der Dynas­ tie der Almoraviden im 11. Jh. vor allem in den städtischen Zentren verbreitet.» Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 231. Vgl. ebenfalls Timothy Insoll: The Archeology of Islam in Sub-Saharan Africa. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 213–220. 161 Ein Marabout ist, zumindest in der grundlegenden Bedeutung des Wortes, ein islamischer Heiliger. Vgl. Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 512, insb. Anm. 33. 162 Qader sieht eine Parallele zwischen der Figur des unsichtbaren Gegenübers, der nur mit «Monsieur» benannt wird, und dem Passeur. Beide seien Schwellenfiguren. Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, S. 101. 163 Ebda. 164 Vgl. Papa Samba Diop: Archéologie littéraire du roman sénégalais, S. 332. 165 Dieng verweist auf die verschiedenen, in der historischen Forschung diskutierten Grün­ dungsdaten. Bassirou Dieng: Introduction, S. 9. Für die folgende kurze Übersicht zum Königreich Kajoor beziehe ich mich auf seine Ausführungen.

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ungefähr zeitgleich zum Ghana-Reich¹⁶⁶ in Westafrika bestand.¹⁶⁷ Die Herrscher von Kajoor, von denen die meisten einer bereits im Jolof-Reich einflussreichen Fa­ milie angehörten, trugen den Titel des Damel (auf Wolof: Dammeel).¹⁶⁸ Die König­ reiche Bawol, Sine und Saloum waren unmittelbare Nachbarn Kajoors, das immer wieder versuchte, Bawol unter seine Kontrolle zu bringen.¹⁶⁹ Der historische Lat-Sukabé – mit vollem Namen Latsoukabé Ngoné Diè­ ye¹⁷⁰ – kam 1692 im Königreich Bawol an die Macht, 1697 im Königreich Kajoor.¹⁷¹ Er gründete eine neue Hauptstadt in Kajoor, Maka,¹⁷² und wird als eine politisch gewichtige Figur erinnert.¹⁷³ Der Anfang des Romans Le Cavalier verweist indirekt auf Maka: Lat-Sukabé erzählt die Geschichte seiner Vergangenheit mit Khadidja in einer kleinen Stadt an einem Fluss, die diese vom Ziel seiner Reise, nämlich Bilenty, auf der anderen Seite, trennt. Diese Situierung der Stadt als Ort an ei­ ner Grenze verweist auf die glorreiche Vorzeit der Hauptstadt unter der WolofHerrschaft. Zwischen der Figur des Lat-Sukabé und dem Protagonisten der Binnenerzäh­ lung, dem Cavalier, gibt es ein analoges Verhältnis, das als mise en abyme zu verstehen ist. Ich werde darauf im Einzelnen in Kapitel 2.5 zurückkommen. Für den Moment ist wichtig, dass der Cavalier – der sonst keinen weiteren Namen

166 Über welchen Zeitraum genau das Ghana-Reich existierte, ist in der Forschung umstritten. Gomez gibt in seiner Studie kein genaues Anfangsdatum, sondern spricht davon, wie sich das Ghana-Reich besonders ab dem 5. Jahrhundert nach Christus durch Handel konsolidieren konn­ te. Die früheste schriftliche Erwähnung habe es in Quellen aus dem 9. Jahrhundert gegeben. Vgl. Michael Gomez: African Dominion, S. 31 ff. Weiterhin stellt Gomez fest, dass man eigentlich von Ghana-Reichen im Plural sprechen müsse, da sich Ghana ab dem 11. Jahrhundert noch einmal neu aufstellen konnte, bevor ab dem 13. Jahrhundert sein Einfluss zurückging bis zur Auflösung. Vgl. ebda., S. 38–40. Kesteloot fasst in ihrem Überblick zum Mythos von Wagadou zusammen, dass in früherer Forschung vom 6.–12. Jahrhundert ausgegangen wurde, neuere Forschung die Periode aber ausdehne auf das 1.–13. Jahrhundert. Vgl. Lilyan Kesteloot: Le mythe de Wagadou. In: dies.: Dieux d’eau du Sahel. Voyage à travers les mythes de Seth à Tyamaba. Paris: Harmattan 2007, S.81–91, hier S. 81. 167 Vgl. Bassirou Dieng: Introduction, S. 8 f. 168 Vgl. ebda., S. 9. 169 Vgl. ebda. 170 Ich übernehme für die Zitation die bei Dieng verwendete Schreibweise. Vgl. ebda., S. 19. 171 Vgl. ebda. 172 Wie Dieng erläutert, wählte jeder Damel seine eigene Hauptstadt aus, so dass mehrere in Kajoor nebeneinander existierten. Vgl. ebda., S. 20., Anm. 27. 173 Vgl. ebda. Für die Darstellung der historisch gesicherten Geschehnisse um Kajoor im Epos vgl. ebda., S. 18–22.

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trägt – nach dem Vorbild eines im Senegal als Widerständler bekannten Ceddo, eines Nachfahren des historischen Lat-Sukabé, modelliert ist: Lat-Dior.¹⁷⁴ Mit Lat-Dior, der fest im kollektiven Gedächtnis im Senegal verankert ist¹⁷⁵ und insbesondere in der Zeit der Unabhängigkeitswerdung in den 1960er Jahren als literarischer Stoff wiederentdeckt wurde¹⁷⁶, ist die Periode der kolonialen Herr­ schaft erreicht. Lat-Dior Ngoné Latir musste sich gegen eine konkurrierende Fami­ lie durchsetzen, bevor er in Kajoor Damel werden konnte.¹⁷⁷ Lat-Dior herrschte als Damel zwei Mal über das Königreich Kajoor: von 1862 bis 1863 sowie von 1869 bis 1882.¹⁷⁸ Er stand mit den Franzosen in Konflikt, sein Leben war durch zahlreiche Kämpfe geprägt: Lat-Dior widersetzte sich der Zusammenarbeit mit dem französi­ schen Kolonialregime¹⁷⁹, das sich mit dem benachbarten Königreich Bawol – LatSukabé hatte noch über beide Reiche gleichzeitig geherrscht – verbündet hatte.¹⁸⁰ Er wurde 1886 in Dékhelé von den Franzosen getötet.¹⁸¹ Lat-Dior wurde im nachkolonialen Senegal zur zentralen Figur des antiko­ lonialen Widerstandes stilisiert. Er wird als hartnäckig den Franzosen gegenüber erinnert, weswegen der Bezug auf ihn mit dem Ende der Kolonialzeit naheliegend

174 Papa Samba Diop gibt an, dass Lat-Sukabé ein Spitzname für Lat-Dior gewesen sei. Die­ sen Hinweis konnte ich jedoch in keiner anderen Quelle bestätigt finden. Vgl. Papa Samba Diop: Archéologie littéraire du roman sénégalais, S. 332. 175 Lat-Dior ist auch auf Facebook zu finden. Eine private Fan-Seite (mehr als 1300 Abon­ nent:innen) beschreibt ihn wie folgt: «Lat Dior Ngoné Latyr Diop, dit Lat Dior, résistant et patriote sénégalais, se comparait lui-même à ‹un arc que l’on peut ployer mais que l’on ne peut rompre.›» Des Weiteren gibt es eine Seite ‹Lat Dior Ngoné Latyr Diop- Héros National›, die laut Impressum von dessen Familie geführt wird und fast 6000 Abonnent:innen verzeichnet. 176 Vgl. als bekannteste Texte die beiden Theaterstücke Thierno Bâ: Lat-Dior ou le chemin de l’honneur : drame historique en huit tableaux. Dakar: Nouvelles Éditions Africaines 1975 und Ama­ dou Dia Cissé: Les derniers jours de Lat Dior. La mort du damel. Paris: Présence Africaine 1965. Der Text von Bâ wurde bereits vor der Unabhängigkeit vom Autor im Selbstverlag veröffentlicht. 177 Lat-Dior gehörte zur genealogischen Linie der Gedj und trug den Namen Diop; sein Konkur­ rent Makadou gehörte zu den Gelwar. Nachdem er diesem unterlag, musste sich Lat-Dior später gegen den Damel Madiodio durchsetzen, der 1861 mit Hilfe der Franzosen an die Macht gekom­ men war. Vgl. Bassirou Dieng: Introduction: S. 21 f. 178 Vgl. ebda., S. 330. 179 Lat-Dior stimmte zunächst dem Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen Dakar und der im Nor­ den Senegals liegenden Stadt St. Louis durch die Franzosen zu, widerrief dann jedoch sein Ein­ verständnis. Vgl. Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 437. 180 Vgl. ebda., S. 331: Lat-Diors Nachfolger, Sàmba Lawbe Faal, der zwischen 1882 bis 1886 der 31. Damel von Kajoor war, wurde schließlich am 6. Oktober 1886 getötet. Das französische Kolo­ nialregime unterstützte den Herrscher des Reiches Jolof (vgl. ebda., S. 276 f.), das seit Jahrhun­ derten in Konkurrenz zu den Wolof-Reichen stand. 181 Vgl. ebda.

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war: «Lat-Dior, archétype du héros épique du Kajoor, et héros national du Sénégal indépendant»¹⁸². In Dakar wurde vor allem auf Betreiben des ersten Präsidenten Senegals, Léopold Sédar Senghor, 1982 eine bronzene Statue von Lat-Dior auf sei­ nem berühmten Pferd Malaw, aufgestellt.¹⁸³ Entscheidend für meine These, dass Diops Roman die Suche nach einem ge­ sellschaftlichen Ideal abbildet und dabei Bezug auf historische Entwicklungen des Senegal nimmt, ist der umstrittene Status des Ceddo (als Angehöriger einer sozialen Gruppe) und seines Krieger-Ethos. Glinga hat das in einem Aufsatz wie folgt gefasst: The modern myth of the Ceddo is, however, full of contradictions. For some, he is a cultural hero and the representative of the highest ethos of pre-colonial society, both in individual and national terms. [. . . ] On the other side of the fence there are those who believe the Ceddo to be the most brutal and barbaric creature pre-colonial society produced in Senegal. [. . . ] The basic contradiction of today’s myth is that it has both a positive and a negative expression. One could even talk of a myth and its counter-myth [. . . ]. The myth of the Ceddo has become a controversial topic because both parties are actively engaged in rewriting history.¹⁸⁴

Glinga sagt im letzten Satz des obigen Zitates ausdrücklich, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen beim Thema des Ceddo um Deutungshoheit über eines der zentralen Kapitel der Geschichte Senegals ringen. Dieser Punkt rührt am Kern des Romans, an Khadidjas Erzählung über den – ansonsten namenlosen – Ca­ valier. Darin wird die Suche nach einem Nationalhelden sowie dessen anschlie­ ßende Verwandlungen und Begegnungen erzählt. Die Elite des Landes beschließt zunächst, dass die «Nation», und vor allem ihre Jugend, einen Helden brauche. Die Erzählerin Khadidja fasst das im zweiten Romankapitel folgendermaßen: Des experts – en réalité des véritables savants – s’étaient vu confier par le gouvernement une tâche particulièrement délicate. La jeunesse, estimait-on en haut lieu, avait besoin de mieux connaître son passé pour se tourner avec confiance vers l’avenir, et le moment était venu de lui proposer «un héros national au-dessus de tout soupçon». La formule en disait long sur les angoisses, les doutes et les errements de la nation. Toutefois, de l’avis des autorités, la situation n’était pas aussi désespérée que cherchaient à le faire croire les pêcheurs en eaux troubles. Le gouvernement refusait de sombrer dans le pessimisme et la thèse officielle se résumait à ceci : certes, pendant plusieurs siècles, des étrangers avaient soumis le pays à leur loi de fer et personne n’avait réussi à les bouter dehors. C’était entendu. Mais, en cherchant bien, on trouverait sûrement quelqu’un qui avait au moins essayé. Alors il fallait chercher,

182 Bassirou Dieng: Introduction, S. 7. 183 Die Statue steht am Eingang des Centre International du Commerce Exterieur du Senegal in Dakar. 184 Werner Glinga: The Ceddo’s Ghost, S. 46–47.

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en laissant de côté les préjugés et les fanfaronnades, selon les méthodes éprouvées de la science historique moderne. Le projet de dépistage d’un héros, en dépit de son évidente originalité, entrait dans le cadre des accords de coopération avec l’ancienne puissance coloniale. Celle-ci s’engagea à finan­ cier, pour quelques centaines de millions, la construction d’un grandiose monument en l’honneur de l’hypothétique résistant inconnu. (LC, S. 119)

Die Erzählerin Khadidja spickt den Anfang ihres conte mit ironischen Wendungen wie «des véritables savants», «en haut lieux». Sie macht dadurch deutlich, dass das Projekt eine von der politischen Elite aufgezwungene Idee ist. Das Projekt ist symptomatisch für den gestörten historischen Prozess des Landes: «La formule en disait long sur les angoisses, les doutes et les errements de la nation.» «Nati­ on» ist hier das Schlüsselwort.¹⁸⁵ Während sich in Europa die Nationalstaaten in einem historischen Verlauf herausbilden konnten, gilt dies für afrikanische Natio­ nalstaaten aufgrund der kolonialen rupture nicht¹⁸⁶. Insbesondere nach ihrer Un­

185 Historisch gesehen stand für den Senegal das Motiv der Nationenwerdung zunächst über dem Motiv der Unabhängigkeit im Prozess der Loslösung von Frankreich: «Au Sénégal, ce n’est que très tard, après un agrément avec la France, que l’indépendance devient un slogan. Il est fort intéressant de constater que, de 1960 au jour de l’indépendance, la ‹construction nationale› – ce slogan pour la mobilisation de masse – est le premier leitmotiv.» Kathrin Heitz: Décolonisation et construction nationale au Sénégal. In: Presses Universitaires de France, Nr. 133 (2008), S. 41–52. 186 Europäische Regime kolonialisierten Afrika ab dem 14. Jahrhundert – mit Ausnahme Äthio­ piens – in seiner Gänze. Sicherlich weichen die einzelnen Fälle der heute als Nationalstaaten bekannten Länder historisch voneinander ab. Dennoch ist ihnen gemeinsam, dass Grenzen auf­ erlegt und damit eine Staatenbildung von außen vorgegeben wurde. Vgl. zu der Herausbildung von Kolonialstaaten im 19. Jahrhundert Winfried Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, S. 247–262 sowie zur Übergangsphase nach der Un­ abhängigkeit S. 390–415. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert in sog. Französisch-Westafrika schreibt Speitkamp: «Eine maß­ gebliche Rolle spielte dabei der französische Offizier Louis Faidherbe, der 1854 Gouverneur der Kolonie wurde und in den folgenden zehn Jahren die Kolonialisierung des Hinterlandes betrieb, um einen straffen und effizienten Kolonialstaat zu schaffen. Er sorgte auch für den Aufbau ei­ nes Schulwesens, und in seiner Zeit kam es 1857 zur Gründung von Dakar, seit 1902 Hauptstadt von Französisch-Westafrika und später des unabhängigen Senegal. Man kann dies als Vorberei­ tung der kolonialen Aufteilung Afrikas sehen, man kann es aber auch als typisches Muster einer afrikanischen Staatsbildung im 19. Jahrhundert deuten, ging es doch darum, mit starker Militär­ macht ökonomische Reformen durchzusetzen, um zur regionalen Vormacht zu avancieren. Denkt man nicht deterministisch und hält man insofern die koloniale Aufteilung seit den 1880er Jahren nicht für zwingend, dann sollte man die kolonialen Erscheinungen der Jahrhundertmitte, also Südafrika, Algerien und Senegal, eher im afrikanischen Kontext deuten: als Ausdruck tiefgreifen­ der, für die Zeitgenossen oft verstörender, in ihren Konsequenzen freilich nicht abzuschätzender Umstrukturierungsprozesse, die den ganzen Kontinent in ein neues politisches Beziehungsnetz einbanden.» Ebda., S. 146.

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abhängigkeit hatten viele afrikanische Länder Schwierigkeiten, sich auf eine ge­ meinsame Erzählung ihrer Geschichte zu einigen. In der Übergangsphase von Ko­ lonial- zu Nationalstaat herrschten europäische Praktiken der Erinnerung vor, oft wurden eher als charismatisch beworbene politische Führungsfiguren denn his­ torische Persönlichkeiten, beispielsweise des antikolonialen Widerstandes, ge­ ehrt.¹⁸⁷ Es sind diese Widrigkeiten und internen Auseinandersetzungen, die die Erzählerin Khadidja als «angoisses» sowie «fanfaronnades» und «préjugés» be­ schreibt. Das Vorhaben mag zunächst als ein Schritt nach vorne wirken, als Versuch, sich die eigene Geschichte wieder anzueignen. Jedoch spielt die ehemalige Kolo­ nialmacht weiterhin eine entscheidende Rolle: «Le projet de dépistage d’un héros, en dépit de son évidente originalité, entrait dans le cadre des accords de coopéra­ tion avec l’ancienne puissance coloniale.» Unter dem Deckmantel des bürokrati­ schen Terminus der «coopération» verwirklicht sie ihren Kontrollanspruch durch die Finanzierung des Projekts, obschon es ausdrücklich Landesinterna betrifft. Das erinnert an die Geschichte des Senegal: Dort spaltete sich die Linke im Streit über das Verhältnis zu Frankreich auf dem Weg zur Unabhängigkeit.¹⁸⁸ Zu Beginn ihres conte macht die Erzählerin Khadidja also deutlich, dass das Projekt hoch­ politisch ist: Die Erzählung der Vergangenheit in dem einen oder dem anderen Sinne stützt oder untergräbt Machtstrukturen. In Khadidjas conte fällt die Wahl des Nationalhelden auf den Cavalier, nach­ dem es öffentlichen Druck gibt. Der Staatsbeamte Dieng Mbaloo, der zuvor in der wissenschaftlichen «Helden-Kommission» mit dem Protokoll beauftragt war, soll die Herstellung der Statue überwachen. Was er zuvor bei den Kommissionsmit­ gliedern beobachten konnte, nämlich Arroganz, Gier und Überheblichkeit (vgl. LC, S. 120 f.), macht er sich selbst zu eigen. Die Unersättlichkeit der Wissenschaft­ ler:innen und ihr Statusdenken sowie Mbaloos schnelle Anpassung an diese Sit­ ten spielt auf die sozialen Regeln in einem politisch instabilen System in nachko­ lonialen Staaten an, das sich durch Klientelismus und Patronage stützt¹⁸⁹.

187 Vgl. ebda., S. 391 ff. 188 Vgl. Kathrin Heitz: Décolonisation et construction nationale au Sénégal, S. 49. 189 Ohne damit sagen zu wollen, dass Korruption und Patronage ein exklusives Problem nach­ kolonialer afrikanischer Staaten sind, bemerkt Speitkamp dazu: «Auf der einen Seite sicherte das Patronagesystem eine gewisse Berechenbarkeit, es war ein in sich nachvollziehbares Instrument zur Vergabe von Einfluss und Rechten und erfüllte insofern staatssubstituierende Funktionen. Auf der anderen Seite war es angesichts der Labilität staatlicher Strukturen naheliegend, dass sich die jeweils regierende Gruppe auf Kosten des Staates versorgte, musste sie doch ihrerseits damit rechnen, bei einem Machtverlust jeden Zugang zu öffentlichen Mitteln zu verlieren.» Win­

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Die fiktive Qualität des Helden streicht der spröde Künstler Silmang Kamara in einem Dialog mit Dieng Mbaloo heraus, der sich über die angebliche Ähnlichkeit zum Cavalier auslässt: – Elle ressemble à qui, d’après toi ? – Au Cavalier, bien sûr, fit Dieng Mbaloo, quelque peu troublé par la question. – Je ne te comprends pas. Cette œuvre ne ressemble à personne, puisqu’il n’existe aucun portrait de votre Cavalier. [. . . ] – Pourtant, dit-il [Dieng Mbaloo] en hésitant, j’ai eu l’impression que c’était le Cavalier. . . – . . . le Cavalier que tu n’as jamais vu, dit le sculpteur, se montrant enfin un peu aimable. [. . . ] – Mais comment as-tu donc fait? – Ce n’est pas difficile, dit Silmang Kamara, il m’a suffi de penser à une quelconque ca­ naille, c’est tout. (LC, S. 127)¹⁹⁰

Kamara spielt das Spiel der Eliten mit und hat den Auftrag für die Skulptur wegen des Geldes – seines Teils der «Beute» – angenommen. Den Cavalier bezeichnet er als Verbrecher: «Pour le fric, mon gars. Pour le fric et pour rien d’autre. Votre Cava­ lier est un lâche, il a passé des nourrissons au fil de l’épée et moi, des siècles après, je ne crache pas sur ma part de butin. C’est clair ?» (LC, S. 128). Als er Mbaloo sein Werk präsentiert, wechselt Kamara in die erwartete Rolle und findet gehobene, lobende Worte: Le Cavalier s’arrache impétueusement de la pierre pour aller venger la veuve et l’orphelin, ses cheveux hirsutes se couchent sous le vent, et on le voit bien que le rude guerrier ne prend aucun soin de sa personne. Le pur-sang, qui a les antérieurs noblement levés, semble aller en même temps à gauche et à droite. C’est que notre héros est indécis. . . [. . . ] il y a tant d’injustices à venger qu’il est désespéré de ne pouvoir être sur plusieurs champs de bataille à la fois. (LC, S. 131 f.)

Sprachlich drückt sich die opportunistische Anpassungsfähigkeit bei Kamara in den extrem unterschiedlichen Registern aus, die er verwendet. Seine Figurenrede oszilliert zwischen umgangssprachlich-vulgär und akademisch-elitär. Die Statue soll im angeblichen Geburtsort des Cavalier enthüllt werden, in Bi­ lenty. Damit fällt die Regierung reflexhaft in ein bekanntes Verhaltensmuster zu­ rück: nämlich die landeseigene, durchaus umstrittene Geschichte durch die Wahl

fried Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 407–408. Vgl. dazu auch Achille Mbembe: De la postcolonie, S. 95–138 und insb. S. 124 f. 190 Die Dialogszene zwischen dem Künstler Kamara und dem Staatsbeamten Mbaloo veran­ schaulicht Diops Stärke als szenischer Schreiber.

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des peripheren Ortes für die Statue erneut zu marginalisieren.¹⁹¹ Das ist im Se­ negal mit der bereits erwähnten Ceddo-Statue auch der Fall; sie steht in einem Außenbezirk Dakars vor einem Messezentrum. In Khadidjas conte kommt es zu turbulenten Ereignissen: Die verlebendigte Statue macht sich am Vorabend ihrer Einweihung mit Dieng Mbaloo auf und da­ von und wird später von Mbaloo getötet, der fortan als Cavalier auftritt. Auffällig ist, dass die Erzählerin an diesem Punkt noch einmal ironisch den Status ihrer Narration thematisiert: «I[i]l se passa une chose que vous aurez du mal à croire, Monsieur, mais dont l’authenticité, comme du reste celle de tous mes mensonges, ne fait aucun doute» (LC, S. 133; eigene Hervorhebung). Dieser metaliterarische Kommentar ist zum einen ein Verweis auf den Vorwurf Platons, dass die Dich­ ter lügen¹⁹² und hat zum anderen Anteil an der Evokation des Fantastischen als Schreibweise, die den Roman charakterisiert. Authentizität und Lüge schließen sich nicht aus: Etwas kann Authentizität beanspruchen, insofern eine Überein­ stimmung mit einem gesetzten Referenzrahmen besteht. Bis zu diesem Punkt be­ wegt sich Khadidjas Erzählung widerspruchslos im Rahmen eines Referenzrah­ mens, der als ‹Realismus› bezeichnet werden kann. Wenn sie nun auf der «authen­ ticité» des Erzählten beharrt – dass eine leblose Statue zur Figur wird, jemanden kidnappt und schließlich stirbt – unterstreicht sie, dass sich der Referenzrahmen in Richtung des Wunderbaren verschiebt. Todorov fasst, wie bereits erwähnt, das Fantastische als in der Schwebe bleibend zwischen dem Unheimlichen (l’étrange) und dem Wunderbaren (le merveilleux). In seiner Konzeption hängt die Zuschrei­ bung fantastisch von der Leserin ab: S’il [le lecteur] décide que les lois de la réalité demeurent intactes et permettent d’expliquer les phénomènes décrits, nous disons que l’œuvre relève d’un autre genre : l’étrange. Si, au contraire, il décide qu’on doit admettre de nouvelles lois de la nature, par lesquelles le phé­ nomène peut être expliqué, nous entrons dans le genre du merveilleux.¹⁹³

191 «Auch die meist anlässlich von Jubiläumstagen der Befreiung errichteten Nationaldenkmä­ ler folgten europäischen Mustern der Befreiungs-, Hoffnungs- und Zukunftssymbolik. [. . . ] In der Regel erhielten freilich nur die Staatsführer Personendenkmäler, an andere Befreiungskämpfer wurde allenfalls durch lokale Gedenkstätten erinnert. Sie wurden dadurch gewissermaßen ins regionale Gedächtnis verbannt. [. . . ] Darin spiegelte sich weniger eine Werthierarchie als vielmehr erneut das Bemühen, die strittige Geschichte zu marginalisieren, das Augenmerk auf die großen gemeinsamen Linien afrikanischer Befreiung zu lenken und daraus nationale Identität zu schöpfen.» Winfried Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 394. 192 Vgl. Platon: Der Staat: Über das Gerechte. Übersetzung aus dem Griechischen von Otto Apelt, durchgesehen von Karl Bormann. Hamburg: Meiner 1961, 10. Buch 595–603. 193 Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, S. 46.

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Khadidjas Erzählung zeigt, dass sich Erinnerung schwerlich von oben befehlen lässt. Die herbeizitierte, vermeintlich objektive Geschichtswissenschaft kann nur bedingt helfen. Die Werturteile der Kommission und der Bevölkerung über den Cavalier stehen sich diametral gegenüber, was auf den umstrittenen Status des Ceddo in der kollektiven Erinnerung Senegals verweist.¹⁹⁴ Die Menschen des Dor­ fes sind entsetzt, als sie vom Verschwinden des Cavalier erfahren, gilt er ihrer Er­ innerung nach doch alles andere als ein Held: Les anciens de Bilenty tinrent aussitôt des réunions secrètes. L’événement annonçait de grands malheurs. Le temps, disaient-ils, venait encore une fois de tourner le dos à l’avenir. Était-il donc dit que le Cavalier et eux, la guerre ne finirait jamais ? Ils le savaient, l’Hommeaux-mille-lances tenterait, comme jadis, de soumettre Bilenty à sa sanglante loi. Dès qu’ils seraient aux champs, le Cavalier reviendrait semer la terreur parmi leurs femmes et leurs enfants. Le temps des guetteurs était revenu. (LC, S. 134)¹⁹⁵

Die Einschätzungen bezüglich des Cavalier widersprechen sich laufend, ohne dass die Reibung thematisiert wird. Die vielzitierten Experten sind sich plötzlich einig, dass Schlimmes bevorsteht: «‹C’est un phénomène récurrent de notre his­ toire, une occurrence millénariste indiscutable et personne ne pourra s’opposer aux méfaits du Cavalier : le Cavalier va semer la désolation, détruire les récoltes et raser les maisons›» (LC, S. 147). Die Vokabel «millénariste» ruft sogar die Apo­ kalypse auf.¹⁹⁶ In der von Khadidja geschilderten Welt ist alles äußerst wandlungsfähig, auch das Verhalten des selbstermächtigten Cavalier und die Reaktionen der Menschen auf ihn: Vom brutalen Straßenbanditen wird er rasch zu einer Art Robin Hood.¹⁹⁷ Bemerkenswert ist, dass die Erzählerin keinen Versuch unternimmt, den plötzli­ chen Umschwung im Verhalten des Cavaliers kausal zu unterlegen. Sie konstatiert

194 Vgl. Werner Glinga: The Ceddo’s Ghost, S. 46–47. 195 Vgl. dazu auch LC, S. 141. 196 Vgl. für die Apokalypse im christlichen Kontext etwa im Alten Testament das Buch Daniel, Kapitel 7–12 sowie für das Neue Testament die Offenbarung des Johannes, in: Die Bibel. Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Hg. i. A. d. Bischöfe Deutschlands, Lizenzausgabe in neuer Rechtschreibung. Freiburg i. B. u. a.: Herder 2006. 197 «Les premiers pas de Dieng Mbaalo dans la légende furent, Monsieur, d’une émouvante mal­ adresse. Dépourvu d’expérience, il manquait donc aussi de discernement. [. . . ] Dieng Mbaalo le Cavaier fut d’abord un vulgaire bandit de grand chemin. La seule évocation de son nom remplis­ sait les populations de terreur. [. . . ] Puis, sans qu’on sût pourquoi, le Cavalier se transforma subi­ tement en défenseur de la veuve et de l’orphelin. [. . . ] I[i]l prit aux riches et donna aux pauvres. [. . . ] De nombreux pères de familles donnèrent à leurs bébés le nom de Dieng Mbaloo. [. . . ] Interro­ gés, les Sages affirmèrent que la venue du Cavalier avait été annoncée par les oracles depuis des millénaires.» LC, S. 147–149; eigene Hervorhebung.

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lediglich: «Puis, sans qu’on sût pourquoi, le Cavalier se transforma subitement en défenseur de la veuve et de l’orphelin» (LC, S. 148; eigene Hervorhebung). Wie eine Nebenfigur zu Beginn von Khadidjas conte in einem autoreferenti­ ellen Kommentar bemerkt¹⁹⁸, ist die kollektive Erinnerung der Dreh- und Angel­ punkt der Erzählung. Die Kontroverse um die historische Figur des Ceddo zwi­ schen Wohltäter und Verbrecher wird im Roman auf die Spitze getrieben. Die Ge­ schichte wird völlig umgeschrieben, durch die Annahme des Namens «Cavalier» jede Spur der ausgelöschten beziehungsweise überschriebenen Identitäten – der des ursprünglichen Cavalier und der Dieng Mbaloos – unsichtbar gemacht. Dieng Mbaalo multiplia ses prodiges et bientôt tout le monde jugea plus commode de l’appeler simplement le Cavalier. Mieux encore, on prit l’habitude de parler de lui comme s’il avait vécu dans les siècles les plus lointains de l’histoire du pays. D’avoir ainsi réussi à emmêler les lignes de son destin et les cycles du temps fut la plus grande victoire de Dieng Mbaalo. Aujourd’hui, il n’existe dans la mémoire collective qu’un seul Cavalier et c’est Dieng Mbaalo, le grand, le valeureux Dieng Mbaalo. (LC, S. 151)

Die stillschweigende Transformation der Wahrnehmung und Erinnerung wird als Verdienst Dieng Mbaalos gewertet. Gleichzeitig wird in einem Gestus der Legiti­ mierung auf die kollektive Erinnerung verwiesen, obwohl die Erzählerin deren Unverlässlichkeit erst kurz zuvor erst herausgestellt hat. Der Protagonist der Binnenerzählung, die lebendig gewordene Heldenstatue, bewegt sich grenzenlos durch Raum und Zeit. In dieser Hinsicht spreche ich von «Abenteuerzeit» im Anschluss an Bachtin.¹⁹⁹ Die Abenteuerzeit zeichnet sich da­ durch aus, dass plötzliche Wechsel in Zeit und Raum geschehen und es keine biographische Entwicklung der Figuren gibt.²⁰⁰ Das ist auch in ‹Le Cavalier› der Fall: So vollzieht sich etwa die Wandlung des Helden vom raubenden Banditen zum Wohltäter «subitement» (LC, S. 148), und der Cavalier muss, nachdem er das

198 Ein gewisser Modou spürt dem Verschwinden der Statue nach und entwirft einfallsreiche kriminalistisch anmutende Theorien der Aufklärung. Im Zuge seines Bemühens echauffiert er sich (im discours indirect libre) über den Bildhauer Silmang Kamara und dessen Schweigsamkeit: «Il [Silmang Kamara] devait parler à tout prix, c’était une question de patrie et de mémoire !» LC, S. 140. Dieser autoreferentielle und metafiktionale Kommentar ist zugleich ein ironisches Augen­ zwinkern: Das simple Verschwinden einer Skulptur zur Frage nach Vaterland und kollektiver Er­ innerung auszubauen, bedarf einigen Einfallsreichtums. Es gehört zum labyrinthischen Charak­ ter des Romans, manche Motive nur anzureißen und dann nicht auszubauen. Dazu gehört eben jene kurze Seitenhandlung der an den Krimi angelehnten Spurensuche. Vgl. zu diesem Aspekt im Schreiben Diops Susanne Gehrmann: On crime without justice, in dem sie mehrere Romane Diops analysiert. 199 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos, S. 14 ff. 200 Vgl. ebda., S. 14 f.

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Monster in Dapienga getötet hat, weiter zu einem Streik von Textilarbeitern, «le lendemain, c’est-à-dire environ sept siècles plus tard» (LC, S. 170). Strukturierend für die Abenteuer des Cavalier ist eine modifizierte Version des Mythos von Wagadou²⁰¹. Deren Kerngeschehen wird im Anschluss an eine hochi­ ronische Episode (‹Cro-Magnon›) erzählt (vgl. LC, S. 164–172), die ich in Kapitel 2.5 genauer analysieren werde. In der Einleitung zum Mythos um das Monster Nkin’tri markiert die intradiegetische Erzählerin Khadidja ein weiteres Mal explizit die Geste, sich auf eine gemeinsame Erinnerung zu berufen: De tous ses faits d’armes consignés par la mémoire collective, le plus fameux fut la victoire du Cavalier sur le monstre Nkin’tri. Redevenez donc, Monsieur, le petit enfant que longtemps vous avez été pour moi. Laissez-moi vous tenir la main et suivons pas à pas le Cavalier, en ce jour où il va triompher du monstre Nkin’tri et enfin rencontrer la Princesse Siraa. (LC, S. 164)

Der Rekurs indes ist wiederum ironisiert. Die kollektive Erinnerung wird durch das Partizip des Verbs «consigner», einer bürokratischen Vokabel, als absolute Autorität dargestellt. Überdies wird «consigner» auch gebraucht, um zu betonen, dass etwas schriftlich niedergelegt beziehungsweise dokumentiert wird. An die­ ser Stelle verweist Le Cavalier auf den unter der französischen Kolonialherrschaft konstruierten Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, der mit ei­ ner Abwertung des kollektiven oralen Gedächtnisses einherging, und bricht ihn durch die Ironie. In allegorischer Lesart verweist der Roman damit auf das Ent­ stehen der senegalesischen Literatur. Sie musste sich vor dem Hintergrund der rigiden französischen Sprach- und Kulturpolitik etablieren und ihre Autor:innen mussten ein eigenes Verständnis von Textualität neu durchsetzen.²⁰²

201 Vgl. exemplarisch als Bezugsgröße Tiondi Magassouba: Histoire du Wagadou/Wagadu xiisa. Version de Tiondi Magassouba, recueillie de Matam (Sénégal) par Badoua Siguiné, 1982. Über­ setzung aus dem Soninké von Badoua Siguiné. In: Lilyan Kesteloot/Christian Barbey/Siré Mama­ dou Ndongo: Tyamaba, mythe Peul, et ses rapports avec le rite, l’histoire et la géographie. Notes Africaines, Sonderausgabe, Nr. 185–186 (1985), S. 62–67. Vgl. für eine bibliographische Übersicht verschiedener Versionen des Wagadou-Mythos Stephen Belcher: African Myths of Origin. Lon­ don: Penguin Books 2005, Kapitel 63 sowie dazugehörige Anmerkungen am Ende des Buches, außerdem Stephen Belcher: Epic Traditions of Africa, S. 76–82 und S. 198–199. 202 Warner bemerkt zu den engen Verflechtungen zwischen kolonialer Unterrichtspraxis und der modernen senegalesischen Literatur des 20. Jahrhunderts: «Teaching reading and writing were also intended as a form of moral instruction, with the aim of reforming the local textual cul­ tures and bodies of knowledge in West-Africa. In the case of Senegal, these included many living oral traditions, the centuries-old system of Quran schools (daara), and the literate communities that employed Arabic scripts (ajami) to write African languages. In colonial education discourse, ‹proper› reading and writing came to be defined over and against these textual cultures, which were described as being overly reliant on memory – particularly orality and religious education.»

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Der Cavalier tötet im Königreich Dapienga das Monster Nkin’tri, um die Prin­ zessin Siraa und die Einwohner vor seinem tyrannischen Hunger zu bewahren: Das Monster verlangt jährlich eine der Königstöchter zu fressen und lässt im Ge­ genzug die Menschen weitgehend in Ruhe (vgl. LC, S. 164). Die Geschichte vom Monster Nkin’tri ist analog zum Mythos von Wagadou aufgebaut. Darin ist es die Schlange Biida (manchmal auch Sia), die ein Opfer verlangt. Der Niedergang des Reiches folgt, als die Schlange getötet wird.²⁰³ In Diops Roman droht die Katastro­ phe mit dem Tod des Monsters Nkin’tri. Während im Mythos von Wagadou ein Verliebter²⁰⁴ aus eigenem Antrieb han­ delt und entscheidet, seine Geliebte vor der Schlange Biida zu retten, liegt der Fall in Le Cavalier anders: Hier ist es der König von Dapienga, der seine eigene Tochter, die Prinzessin Siraa, vor dem Monster Nkin’tri beschützen will. Der Ca­ valier trifft zufällig am Tag des rituellen Opfers in Dapienga ein und begibt sich zum König. Dort sieht er die Prinzessin, die sich für das Königreich opfern will. Das Zusammentreffen weckt seine, und gleichermaßen ihre, Begeisterung.²⁰⁵ Der Cavalier bietet an, das Monster Nkin’tri zu töten. Siraa verweist ironisch auf den Bezug zum Fall Wagadous, indem sie ihren Vater vor den im Mythos geschilder­ ten Folgen²⁰⁶ warnt: «Tu ne peux pas faire cela, Père. Dapienga va subir famines

Tobias Dodge Warner: The Limits of the Literary, S. 19. Der Ajami-Textbestand ist noch weitgehend unerforscht. Vgl. für einige Literaturhinweise in diese Richtung ebda., S. 98, Anm. 4. Der senega­ lesische Wissenschaftler Fallou Ngom hat online eine Bibliothek (African Ajami Library) mit frei zugänglichen Materialien aufgebaut, die in einer Kooperation zwischen der Boston University und dem West African Research Center (WARC, Dakar) entstand. 203 Vgl. Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 57 sowie zur Verarbeitung des Mythos allgemein im Roman S. 113–117, für einen Kommentar des Autors Diop zu dieser literarischen Verarbeitung vgl. Boubacar Boris Diop: Interview, S. 83. Der Name des Monsters erinnert indes an Ninkinanka: ein mythisches Wesen aus dem Niger, wie es in mündlichen Erzählungen der Mandinka beziehungsweise der Diola bekannt ist. Es taucht beispielsweise in einer der oralen Erzählungen auf, die Lilyan Kesteloot im Senegal zu­ sammengetragen und verschriftlicht hat. Vgl. Lilyan Kesteloot: Contes, fables et récits du Sénégal, S. 50. 204 Manchen Quellen zufolge ist der Mann, der den Kult um Biida bricht, muslimisch. Zur Lesart des Mythos als Übergang von Animismus zu Islam siehe auch Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 117, Anm. 3. 205 «Voici la plus belle Princesse parmi les nations de la terre. [. . . ] Voici une Princesse au cœur fier.» und analog «Jamais je n’ai vu à Dapienga un aussi beau et fier guerrier.» LC, S. 166. 206 Es gibt strukturell und motivisch enge Beziehungen zwischen dem Mythos von Wagadou aus der Soninké-Kultur und den Mythen, die rund um die Schlange Tyamaba in der Peul-Kultur ent­ standen sind. Vgl. hierfür Lilyan Kesteloot/Christian Barbey/Siré Mamadou Ndongo: Tyamaba, mythe Peul, et ses rapports avec le rite, l’histoire et la géographie. Notes Africaines, Sonderausgabe,

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et épidémies, les hommes et le bétail vont périr et il sera dit dans des siècles à venir que tu as été un lâche» (LC, S. 167). In Le Cavalier wird ein bekannter mythischer Stoff der oralen Tradition von Anspielungen auf die jüngere Geschichte – Militärputsche und vor allem den Ge­ nozid 1994 in Ruanda – durchdrungen. Der König, der seine gerettete Tochter nicht wie versprochen dem Cavalier überlassen will, versucht ihn zu töten. Das führt Dapienga, wie im Folgenden noch besprochen wird, ins Verderben. Als der Mord am Cavalier misslingt, setzt der König die Einwohner Dapiengas unter Druck und sät Hass gegen den Cavalier: Ils [les hommes du Roi] veulent savoir ce que pense le peuple de Dapienga. Le peuple pense que son Roi est très mauvais, mais le peuple ne dit rien, car personne ne veut avoir la tête coupée. Alors les hommes aux oreilles ouvertes et aux yeux fureteurs commencent à se mêler à la foule. Ils disent: – Vous savez, cet étranger qui a tué le monstre. . . Les gens répondent, prudents : – Han ? De quel étranger parles-tu ? – Celui qui a voulu enlever Siraa ! Eh bien, c’est un Twi ! Les gens n’ont jamais entendu parler des Twis, mails ils répondent: – Maudite race, il faut les tuer tous, jusqu’au dernier ! Un autre dit: – Il voulait emmener Siraa ! La plus noble et la plus belle des Mwas chez les Twis !²⁰⁷ Quel monde, han ! Quel monde ! (LC, S. 171)

Die Menschen lassen sich trotz anfänglicher Vorsicht vom Hass mitreißen und hinterfragen die arbiträr eingeführten ethnischen Kategorien bald nicht mehr. Gehrmann hat darauf hingewiesen, dass «Twis»/«Mwas» lautlich dem französi­ schen «toi»/«moi» entspricht, also «Menschen wie Du und Ich» bedeutet.²⁰⁸ Der Roman stellt den vor allem in den Medien gebrauchten Ausdruck des «ethnischen Konflikts» oder «Stammeskrieges»²⁰⁹ in pointierter Weise als Fiktion heraus: Ethnische Zugehörigkeiten sind nichts essentialistisch Gegebenes, son­

Nr. 185–186 (1985), insb. den Beitrag der Herausgeber:innen: Tyamaba et le mythe de Wagadou, S. 35–43, hier S. 35 f. 207 «Twi» ist auch der Name einer Gruppe im Ashanti-Reich auf dem Gebiet des heutigen Ghana. Vgl. dafür Kapitel 9 in David Robinson : Muslim Societies in African History. Cambridge u. a. : Cam­ bridge University Press 2004, S. 124–138. 208 Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 14. 209 Diop berichtet davon, wie er vor seinem Besuch in Ruanda selbst von einem «affrontement tribal» ausging. Vgl. Boubacar Boris Diop: Postface. In: ders.: Murambi, le livre des ossements. Neuausgabe mit einem Nachwort des Autors. Paris: Zulma 2014 [2011], S. 195–221, hier S. 203.

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dern etwas historisch Konstruiertes.²¹⁰ Bedeutsam ist, dass in dieser Textpassa­ ge Identität vornehmlich als Ergebnis eines gewaltvollen und gewaltbringenden Akts erscheint, der politischen Interessen dient. Die Schergen des Königs nennen den Cavalier bewusst einen «étranger», um ihn auszugrenzen. In einem Folge­ schritt ist es umso einfacher, den derart abstrahierten Menschen zu einem Gegner zu stilisieren und weiterhin als exemplarisch für eine ganze Gruppe von Gegnern einzustufen, wie Diops Roman an dieser Stelle in sehr verdichteter Form skizziert. Antrieb ist die Angst des Königs, seine Macht einzubüßen. Khadidjas conte verfolgt den Verlauf des rassistisch unterlegten Konflikts wei­ ter. In einer Episode der intradiegetischen Erzählung geht es um die brutale Ver­ gewaltigung einer älteren Dame der Twis, Mère Mwenza, durch aggressive MwaJugendliche (vgl. LC, S. 178–185). Die Erzählerin, Khadidja, hebt aus diesem An­ lass noch einmal ihre Rolle als solche hervor und bekundet nachdrücklich ihre Meinung: «Rien d’autre que cela [le viol de la vieille Mwenza] n’a fait, selon moi Khadidja la conteuse, éclater la guerre» (LC, S. 178). Der Hinweis auf ihre persön­ liche Meinung lässt jegliche kausale Erklärung für das komplexe Phänomen von Gewalt als subjektiv erscheinen. Der Übergriff auf Mère Mwenza wird in realistischer Erzählmanier geschildert und setzt sich damit vom übrigen conte ab: Es gibt einen klaren Handlungsverlauf ohne Digressionen oder sonstige zeitbezogene Erzählverfahren, die Sprache ist überwiegend beschreibend, die Verbalzeit ist das Präsens. Mit Genette handelt es

210 Ich behandle diesen Punkt ausführlich im Rahmen des Hauptkapitels zu Diops Roman Mu­ rambi über den ruandischen Genozid. Die Festschreibung ethnischer Kategorien reicht in die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft im damals sogenannten Deutsch-Ostafrika zurück: «Einhei­ mische Gruppen wurden so im Interesse des kolonialen divide et impera voneinander separiert. Dieser Mechanismus läßt sich auch in der Unterscheidung von Hutu und Tutsi beobachten, ei­ nem Teil des damaligen Deutsch-Ostafrika. Hier wurden ethnische Gruppen in einer Trennschär­ fe unterschieden, die es zuvor in der Alltagspraxis so nicht gegeben hatte. Die Einteilung wurde von den Kolonialoffizieren vorgenommen, die sich auf ethnologisches und juridisches Wissen stützten, das sie zum Teil – angeleitet etwa durch die ‹Instruktion für ethnographische Beobach­ tungen und Sammlungen in Deutsch-Ostafrika›, die der Direktor des Museums für Völkerkunde von Berlin, Felix v. Luschan, ihnen mit auf den Weg gab – selbst generiert hatten. Diese im Zei­ chen administrativer Erfordernisse stehende Trennung von Hutu und Tutsi, die nach 1919 unter belgischer Herrschaft fortgesetzt wurde, beförderte eine Form der Ethnogenese, die ethnische Unterschiede gegenüber einer Praxis der Interaktion, aber auch gegenüber politischen und so­ zialen Differenzen privilegierte. In den letzten Jahren ist daher eine lebhafte Diskussion darüber geführt worden, ob diese Festschreibung von Ethnizitäten in der Phase der deutschen Herrschaft eine der Bedingungen war, die zu den genozidalen Massakern des Jahres 1994 beigetragen ha­ ben.» Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. München: C. H. Beck 2016 [2008], S. 68 f. Diops Roman nimmt explizit Bezug auf dieses Verfahren. Vgl. LC, S. 231.

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sich um einen heterodiegetischen Erzähler mit einer Kombination aus focalisation zéro²¹¹ sowie einer focalisation interne der Protagonistin: À combien de coups d’État a-t-elle assisté depuis sa vingtième année ? Elle essaye de comp­ ter. [. . . ] Puis elle se souvient que tous les quinze ans, il y avait un horrible bain de sang : de­ puis bientôt un demi-siècle, le désir chaque fois renouvelé, de finir le travail²¹², c’est-à-dire d’exterminer jusqu’au dernier ennemi, le Twi ou le Mwa, jetait le pays par terre, au milieu de ses ordures et de ses immondes déjections. C’était une histoire connue. (LC, S. 180 f. ; Kursiv im Original, weitere Hervorhebung von mir.)

Mère Mwenza kennt den Kreislauf aus politischer Instabilität, Putsch und Gewalt­ exzessen. Ihre Gedanken über die sich wiederholende Gewalt stehen im Zentrum der Episode (vgl. LC, S. 183). Jedoch wird die von der Erzählerin angekündigte Ver­ gewaltigung dann doch nicht erzählt, sondern nur der Moment davor. Die Sprache umschreibt die Gewalt, insbesondere der Vergleich mit einem «cauchemar» (vgl. LC, S. 185) markiert dies. Es folgt ein Dialog mit dem Zuhörer, der die Frage nach der Funktion des Erzählens aufwirft: «Où irions-nous si parfois la fable ne nous laissait un peu rêveurs ?» (LC, S. 185). Das ist mit Blick auf die erzählten Ereignis­ se von Gewalt und Töten ein durchaus zynischer Kommentar. Der Cavalier spielt in der Geschichte von Mère Mwenza überhaupt keine Rolle. Es ist außerdem die einzige Episode, die im Präsens gehalten ist. Die Technik des Cliffhangers und die wertenden Kommentare sind auffällig. Im Anschluss, in einer neuen Episode mit dem Titel ‹L’Histoire des vendeurs d’agonie› (vgl. LC, S. 186–194), geht es darum, wie die Enkelkinder von Mère Mwenza zu Tode kommen. Wiederum ist der Konflikt zwischen Twis und Mwas eine Folie, um das zynische Denken der Gewalttäter:innen vorzuführen (vgl. LC, S. 186–194): In über Generationen eingeübten Verhaltensmustern töten die Men­ schen, deren Familien angegriffen wurden und treiben die Spirale der Gewalt weiter. Eine historische Aufarbeitung oder Reflexion des Geschehenen findet nicht statt, so legt der Text nahe. Der Cavalier besucht ein Flüchtlingscamp (vgl. LC, ab S. 189). Eine Szene von besonderer Grausamkeit im Zentrum: Eine Frau bringt inmitten eines Massakers, umgeben von Leichen und Leichenteilen, ein Kind zur Welt. Das Neugeborene wird in dem Moment buchstäblich zerschossen, als der Bruder der Mutter es hoch­

211 Vgl. bspw. wertende Analysen der Erzählstimme, die nicht der Protagonistin zugeordnet wer­ den, wie: «La tragédie ne se formalisait pas de grandioses alibis.» LC, S. 181. 212 Der Ausdruck «travailler» für «töten» kommt aus der in Ruanda gesprochenen Sprache Kinyarwanda und ist spezifisch für den Kontext des ruandischen Genozids, was die Referenz verstärkt. Ich gehe im Analysekapitel 4 zu Murambi näher darauf ein.

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hält (vgl. LC, S. 191). Was passiert hier? Ist dies eine allzu leichtfertige Drastik, zu­ mal der Roman einen Bezug zu den Ereignissen während des Genozids 1994 na­ helegt? Aus meiner Sicht ist dies nicht unbedingt der Fall. Das Dargestellte setzt Opfer von Gewalt nicht herab und doch bleibt die Frage unabweisbar, wie und zu welchem Zweck historisch referenzierbare Gräueltaten erzählt werden können und sollen. Der Autor Boubacar Boris Diop ist für seinen darauffolgenden Roman über Ruanda 1994 sehr mit diesen Fragen beschäftigt gewesen.²¹³ In Murambi, le livre des ossements wählte Diop eine dokumentarische Schreibweise, nachdem er mit Überlebenden des Genozids gesprochen hatte. Auffällig ist an dieser Stelle, dass der Wechsel von den Mwas zu den Twis im Roman geradezu fließend erscheint. Das impliziert aber eine Interpretation des deutlich referenzierten ruandischen Genozids als eine doppelseitige Tragödie, in der alle Beteiligten gleichzeitig Opfer und Täter:innen waren – eine verzerrende Lesart, die das mit der Hutu-Regierung verbündete Frankreich lange Zeit propa­ gierte. Siraa, aus dem Königreich Dapienga und folglich von den Mwas, so wie der Cavalier von den Twis gestehen sich stellvertretend ihre wechselseitige Schuld ein: – J’ai étranglé des Twis de mes mains, j’ai mis le feu à leurs maisons et dansé de joie avec d’autres jeunes femmes au-dessus de leurs cadavres. – Moi aussi, Siraa, j’ai porté ma hache sur la chair vive des Mwas, j’ai bu ma bière dans leurs crânes et quand mes hommes violaient leurs femmes, j’exultais comme un enfant. (LC, S. 196)

Genau diese Sicht auf den ruandischen Genozid als gegenseitiges ‹ethnisches› Massaker herrschte 1994 in der Berichterstattung vor und konnte sich noch lange halten. Der Autor Diop selbst hat seine Interpretation nach dem Besuch in Ruanda 1998 und dem daraus entstandenen Roman Murambi (2000) in aller Deutlichkeit und Häufigkeit als großen Fehler bezeichnet.²¹⁴ In den Episoden über den Genozid – der in verzerrender Weise als «guerre civile» (etwa LC, S. 177) bezeichnet wird – kommt die Frage nach einem menschli­ chen Ideal erst am Ende auf. Der Cavalier, der die Rolle eines Helden erfüllen soll, fühlt sich den Grausamkeiten der modernen Welt gegenüber machtlos. «Pourtant, j’ai traversé cette guerre sans la comprendre. Dans mes autres vies, les choses sont plus simples. Il suffit d’affronter le monstre Nkin’tri et de le terrasser» (LC, S. 192). Dieses Stadium entspricht dem klassischen epischen Helden in der westafrikani­ schen Tradition, der eine klare Rolle und Aufgabe hat:

213 Nähere Ausführungen folgen in Kapitel 4, das sich mit Murambi beschäftigt. 214 Vgl. etwa Boubacar Boris Diop: Postface, S. 204, wo er von einem «grave quiproquo» spricht.

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Die alte idealtypische Identität zwischen Individuum und Gesellschaft ist von dem senegale­ sischen Epenforscher Bassirou Dieng in Anlehnung an Wertvorstellungen des Ceddo-Ethos auf den Begriff der «gesellschaftlichen Schönheit» gebracht worden. Die Erfüllung des Ideals der gesellschaftlichen Schönheit heißt für den Epos-Helden, dass er sein Leben der Erfüllung einer präzisen historischen Mission widmet. Diese Mission besteht im Epos darin, den Er­ fordernissen des eigenen Geschlechts und des Thrones zu genügen, indem idealtypisch die Erfüllung des einen mit der Erfüllung des anderen zusammenfällt. Die Identität zwischen In­ dividuum und Gesellschaft realisiert sich somit im Epos in einer spezifischen Erscheinungs­ form: der Identität des Einzelnen, seines Geschlechtes und der Gesellschaft. Darin besteht die «gesellschaftliche Schönheit» des Helden. Dieses alte aristokratische Ideal hat die heuti­ ge Bourgeoisie übernommen. In der französischsprachigen Gegenwartsliteratur Senegals wird an dem Wandel des Ideals dargestellt, dass die Bourgeoisie historische Riten pflegt, um ihre Führungsrolle geschichtlich zu sanktionieren.²¹⁵ (eigene Hervorhebung)

Interessant ist der Verweis auf die Bourgeoisie, die sich als in einer Tradition ste­ hend inszeniert, ohne sich unbedingt des vollen Gehalts dieser Bezüge bewusst zu sein. Diops Roman nimmt das in einem Detail auf, das ein ironischer Seitenhieb gegen diese neue Mittelschicht ist: Der Bürokrat Dieng Mbaloo, der als Protokol­ lant die Arbeit der Heldenkommission begleitet, bringt dem gefundenen Helden und der Statue so große Begeisterung entgegen, dass er sich schließlich dieser Rolle bemächtigt, nachdem die Statue lebendig geworden ist. Außerdem weist auch der bissige Kommentar des Bildhauers auf die Parallelisierung von neuem Bürgertum und historischen Heldenvorbildern hin, als er Mbaloo ins Gesicht sagt, er habe das Aussehen der Statue schlicht «irgendeinem Idioten» nachempfunden (vgl. LC, S. 127). Schließlich hat der Cavalier auch Anteil an der modernen Bour­ geoisie, weil Dieng Mbaloo seinen Platz gewaltsam einnimmt. Die Suche nach einem Ideal oder Ethos, das mit den Problemen des moder­ nen Afrika fertig zu werden vermag, zieht sich als roter Faden durch die weiteren Begegnungen des Cavalier. Das ist dann nicht mehr nur Männersache: Der Cava­ lier kehrt, nachdem er der Gewalt im 20. Jahrhundert ansichtig geworden ist, nach Bilenty zurück und trifft Prinzessin Siraa wieder (vgl. LC, S. 194). Mit ihr macht er sich auf den weiteren Weg. Der Cavalier hat zwar Siraa gerettet, doch sie erfahren im Gespräch mit dem Monster Nkin’tri, zu dem sie zurückkehren, dass sein Eingreifen für böse Folgen gesorgt hat.²¹⁶ Nkin’tri – das losgelöst von seinem Tod in der Anfangsepisode wei­ ter existiert – liefert hier die Interpretation des bereits besprochenen Konflikts

215 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 37. 216 Hier bleibt der Text wie erwähnt dem zugrundeliegenden Mythos von Wagadou treu, der den Untergang des Reiches als Konsequenz aus dem Bruch des Kultes darstellt.

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nach, indem es auf den Konstruktcharakter des Feindes, der Gruppe der Twis, hinweist. Hélas, dès le lendemain de ma mort, le Roi de Dapienga m’a remplacé par un autre monstre, imaginaire et bien plus dangereux, le Twi, l’ennemi à abattre, un vrai monstre, celui-là, et qui dévore des peuples entiers. Pour sauver la Princesse Siraa, tu as conduit cette nation à sa perte. (LC, S. 199)

In der Konfrontation mit dem früheren Gegner bildet sich eine fundamentale De­ batte der Ethik ab. Der Cavalier kann als Vertreter einer Prinzipienethik, so wie sie Kant mit seinem kategorischen Imperativ vertreten hat, gelten. Ihm ging es darum, angesichts des drohenden Unheils nach seinem Vermögen zu handeln. Das Monster vertritt dagegen eine konsequentialistische und genauer gesagt eine utilitaristische Ethik, wenn es über die Praxis des jährlichen Frauenopfers sagt: Il le fallait. Cela ou autre chose, je dirais même n’importe quoi. La tranquillité de tout un royaume vaut bien la vie d’une Princesse. Et qui doit se dévouer, sinon le Roi, en se séparant de ce qu’il aime plus au monde ? (LC, S. 201)

Auf dieses Dilemma des Menschen, in einer Welt unausweichlicher Kontingenz doch handeln zu müssen, treffen Siraa und der Cavalier nochmals. Sie verfolgen den korrupten und angeblich geflohenen Präsidenten einer modernen Republik, der sich gleichzeitig als ein vom Volk geliebter Visionär mit Namen Maa Ndumbe herausstellt (vgl. LC, S. 202–230). In der Rolle von Maa Ndumbe greift der Mann in seiner Ansprache zunächst auf ein populäres Erklärungsmuster zurück: Die alte Kolonialmacht hat den kor­ rupten, aber loyalen Präsidenten installiert, der sich im Angesicht der Probleme in Sicherheit gebracht und Chaos zurückgelassen hat. Ausländische Truppen wer­ den intervenieren und die Menschen unter ein von außen auferlegtes Gesetz zwin­ gen (vgl. LC, S. 209). «Ils continueront à faire de vous des animaux» (LC, S. 209), schließt Ndumbe. Jedoch schlägt er vor, sich dagegen zu wenden und appelliert an die Verantwortung des Einzelnen: Peut-être chacun de nous doit-il interroger sa conscience pour savoir quelle est sa part de responsabilité dans ce qui nous arrive et ce que, désormais, il peut faire, dans sa vie de tous les jours, pour nos enfants ne soient pas demain les exclus de l’humanité et les damnés de l’univers. (LC, S. 210 ; eigene Hervorhebung)

In dieser Formulierung klingt das Erbe Frantz Fanons an, dessen Buch Les damnés de la terre einer der zentralen Texte der Dekolonialisierungsbewegung auf dem afrikanischen Kontinent war. Ndumbe argumentiert in diesem Sinne, sich der his­ torisch lange währenden Unterdrückung selbstbewusst entgegenzustellen. Damit

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wird ein weiterer Schritt in der Suche nach einem Ideal gemacht: Der und die Ein­ zelne sind wichtig in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, nicht mehr der politische Anführer oder Elite-Krieger wie der Ceddo. Glinga hat eine solche Entwicklung in der senegalesischen Literatur herausgearbeitet: In den Anfängen der hier betrachteten Epochen werden Individuum und Gesellschaft in ide­ altypischer Identität gesehen. Der politische Herrscher ist höchster Ausdruck dieser Iden­ tität. Erst nach und nach beginnt sich ein Ethos herauszubilden, das tendenziell als For­ derung an jedes Individuum der Gesellschaft gestellt wird. Im Epos war der Held noch ein Führer seines Volkes, und das Ethos bezog sich allein auf die Führungsschicht und nicht auf jedes Mitglied der Gemeinschaft. Das Ethos war ein Privileg der herrschenden Aristokratie. Im Laufe der Zeit verliert das Ethos sowohl seinen klassenspezifischen Bezug als auch sei­ nen militärischen Gehalt. In humanistischer Sicht werden jetzt die verschiedenen Phasen der Erziehung zum Helden als Erziehung zum Menschen interpretiert. Diese «Vermensch­ lichung» lässt sich in der Geschichte des Ceddo-Ethos exemplarisch nachweisen. Ehemals kriegerische Ideale wie Ehre, Mut und der so wichtige culte du refus – ein Mittel der Selbstbe­ stätigung – werden zu friedlichen Idealen der inneren Selbsterziehung des Menschen. Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft verlagert sich nach innen und wird zur Ausein­ andersetzung des Subjekts mit sich selbst. Das Ringen um Subjektivität bleibt aber auf dem Boden der gegebenen historischen Logik.²¹⁷

Die Erzählung von Khadidja bleibt ihrem sarkastischen Tonfall durchaus treu, in­ dem sie Ndumbes Appell an das Individuum ins Lächerliche zieht: Die Menschen lassen sich sofort von Ndumbes Worten bewegen, sind schlagartig erfüllt von Hoff­ nung und einem Gefühl zurückgekehrter Würde, das happy ending scheint zum Greifen nahe. In pathetischen Floskeln heißt es: Siraa et le Cavalier sentirent des frissons leur parcourir le corps. La foule redevint muette après quelques murmures d’approbation. Personne n’osa briser le silence. Avec des mots simples, Maa Ndumbe avait réussi à faire renaître, dans chaque homme et dans chaque femme, le désir de s’élever au-dessus de soi, un désir de grandeur oublié et presque inti­ midant. (LC, S. 210)

Große Worte allein ändern nichts, wie diese überzeichnete Szene nahelegt. Die Groteske nimmt ihren Lauf, als die Menschen sich begeistert dem Vor­ schlag eines Dritten zuwenden, eine Heldenstatue zu errichten (vgl. LC, S. 211) – ei­ ne fiktionsironische Volte. Der Präsident wird als machtbewusster, prinzipienloser Herrscher beschrie­ ben, dessen einziger Maßstab sein eigenes Fortkommen ist (vgl. LC, S. 218 f.). Er hängt von den ehemaligen Kolonialherren ab und ist deshalb «le pantin idéal» (LC, S. 219). Seine Selbstbeschreibung indes ist eine andere: Er stellt sich als ge­ fallenen, resignierten Idealisten dar (vgl. LC, S. 224 f.), der unter seinem ehema­ 217 Werner Glinga: Literatur in Senegal, S. 36.

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ligen Kampfnamen Maa Ndumbe die Menschen zu erreichen versucht und nach Kräften den ausländischen Einflüssen widersteht (vgl. LC, S. 227 f.). Es ist die Lo­ gik des politischen Systems, die seiner Meinung nach unweigerlich Politiker wie ihn selbst zermürbt: En entrant dans la politique, je voulais sincèrement aider mon pays. Très vite, hélas, les choses se sont compliquées et j’ai constamment agi pour survivre, sans me soucier de savoir si je faisais du bien ou du mal. Ces deux mots, le bien et le mal, avaient perdu tout sens pour moi. Il arrive un moment où la seule idée que vous avez de l’avenir, à un certain niveau de l’action publique, c’est qu’il vous faut chaque jour, sauver votre peau. (LC, S. 226)

Auch die Figur des Präsidenten ist – wie die meisten Figuren im Roman und ins­ besondere in Khadidjas Erzählung – ambivalent strukturiert.²¹⁸ Unterschiedliche Stimmen evozieren Sympathie und Antipathie. Einerseits ist hier die Stimme der Figur selbst gedoppelt, in der janusköpfigen Rolle des Visionärs und korrupten Präsidenten. Andererseits sorgt die kontrapunktische Erzählstimme für dissonan­ te Klänge im Text. Die optische Metapher des Schattens funktioniert mit Blick auf die Figurenführung im Sinne des Sprichwortes ‹Wo Licht ist, ist auch Schatten›. Diesem übertragenen Sinn folgend hängen Gut und Böse zusammen.²¹⁹ In den scheinbar gleichartigen Episoden, die sich durch Gewalt, Gegengewalt und Unterdrückung strukturieren, klingt durchaus eine mythisch-zirkuläre Zeit an. Das bedeutet aber nicht, dass Diops Roman in eine ahistorische, fatalistische Perspektive münden würde. Erstens ist der Mythos in der westafrikanischen Tra­ dition eng mit der Geschichte verknüpft. Und zweitens öffnet im Roman eine Figur diesen scheinbaren Zirkel: das Kind Tunde, das in der – oder als – Zukunft exis­ tiert. Der Cavalier und Siraa sollen dieses Kind namens Tunde finden (vgl. LC, S. 194). Sein Name bedeutet «celui qui maintient l’espoir intact» (LC, ebda.), wie im Text erklärt wird. «Tunde» bedeutet im Yoruba «jemand der wiederkehrt /wiedergeboren wird».²²⁰ Dieses messiasähnliche Wesen dient erzähltechnisch als Movens für die Erkundungen des Paares über die Zeiten hinweg. Damit fun­ 218 Die einzige Ausnahme bildet Mère Mwenza. Sie wird in der entsprechenden Episode jedoch mehr in der Rolle des wehrlosen Opfers dargestellt und übernimmt keine weiteren Handlungen. Ihr erzählökonomisch illustrativer Charakter wird auch dadurch bestimmt, dass diese Episode freisteht und es zu keiner Interaktion mit der Hauptfigur, dem Cavalier, kommt. 219 Vgl. für eine Interpretation in diese Richtung Alison Joyce MacAdmas: Secretly Numinous: The Role of Joseph Campbell’s Monomyth in James Joyce’s Ulysses, Mario de Andrade’s Macunaima, and Boubacar Boris Diop’s Le Cavalier et son ombre. Waltham: Brandeis University 2004. Disser­ tationsschrift, S. 53–66. MacAdams bezieht sich bei der psychoanalytischen Interpretation des Schattens auf Jung. 220 Ich danke Susanne Gehrmann für diesen Hinweis.

2.4 Zeit des Mythos, Abenteuerzeit – Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal | 113

giert Tunde semantisch als Fluchtpunkt, als Perspektive trotz der Evidenz der Grausamkeit, die im Roman geschildert wird. Die Hoffnung auf Hoffnung ist das treibende Moment, das ein Bemühen um historische Erkenntnis und die damit verquickten Fragen von Erzählen und Ethik in Gang hält. Die letzte Begegnung haben Siraa und der Cavalier mit einem ehemaligen Un­ abhängigkeitskämpfer, der Gormack heißt (vgl. LC, S. 231–252). Er wird als mo­ ralisch integre, pragmatische Persönlichkeit gezeichnet, ist aber ein in die Jahre gekommenes Vorbild. Die Episode um Gormack ist zweigeteilt. In der ersten Hälf­ te wird der Eindruck verfestigt, dass die wiederkehrenden ausländischen Inter­ ventionen dem Land schaden. Vor den Augen Gormacks und seines Kompagnons aus vergangenen Kriegstagen spielt sich eine apokalyptische Szene ab: Heuschre­ cken verdunkeln den Himmel, Gormacks kriegserfahrener und furchtloser Beglei­ ter spürt Angst (vgl. LC, S. 238). Der Cavalier und Siraa bestätigen in der zweiten Hälfte der Episode den Einmarsch ausländischer Truppen. Sie sind betroffen von der naiv-freudigen Reaktion der Einheimischen und interpretieren die Ankunft der Truppen als Anfang vom Ende (vgl. LC, S. 253). Gormack ist ein Befreiungskämpfer in Rente, der in der Vergangenheit die Armee des unabhängig gewordenen Landes aufgebaut hat und danach eine un­ rechtmäßig auferlegte Gefängnisstrafe absitzen musste (vgl. LC, S. 231 f.). Er di­ stanziert sich von dem Monster Nkin’tri, «[qui] était comme un jeune fonction­ naire ambitieux, rêvant de grades et de promotions» (LC, S. 250), wie er sagt. Gor­ mack lehnt Nkin’tris Haltung ab, das auf einem quasi-kathartischen grausamen Ritual beharrt, um die Gewalt der Gesellschaft zu kanalisieren (vgl. LC, S. 251). Gormack besteht auf einer rationalen Haltung, die sich differenziert artikuliert: «tracer une ligne nette entre les morts et les vivants, entre l’ici et l’ailleurs, se mé­ fier des enflures et des labyrinthes et ne pas vider les mots de leurs sens à force d’incantations» (LC, ebda.). Die Rolle der Literatur als gesellschaftskritische Kraft sieht er als seit der Befreiungsbewegung im Verfall begriffen (vgl. LC, S. 248). Das conte ‹Le Cavalier› verlässt den Bereich des Wunderbaren zu keiner Zeit und widersteht den fiktionsironischen, realistischen Spitzen, die der Figur Gor­ mack in den Mund gelegt sind: «Au fond de lui-même, Gormack était un peu ir­ rité par l’obstination des visiteurs à parler comme si Tunde était un véritable être humain et pas seulement un symbole» (LC, S. 246). Das ist nötig, um das dynami­ sche Gesamtkunstwerk des Romans als fantastische Erzählung funktionieren zu lassen. Die Begegnung mit Gormack endet mit seiner pessimistischen Einschätzung zur Lage in Afrika: «Notre vie réelle sur terre n’est pas un conte qui doit toujours bien se terminer» (LC, S. 251 f.). Die Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal erhält also keine eindeutige Antwort, sondern evoziert verschiedene Meinungen. Siraa und der Cavalier bleiben bei ihrer Meinung und suchen weiter nach Tunde.

114 | 2 Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse Zwei erzählerische Verfahren rücken die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Diops Roman Le Cavalier et son ombre in den Fokus. Zum einen han­ delt es sich um den Einsatz der mise en abyme, zum anderen um den Einsatz der Metalepse. Diese ästhetischen Mittel sind voneinander zu unterscheiden, auch wenn die Forschungsliteratur dies gelegentlich nicht tut.²²¹ Grundsätzlich ist un­ ter mise en abyme die spiegelbildliche Reproduktion erzählerischer Elemente²²² und unter Metalepse die Überschreitung von Erzählebenen²²³ zu verstehen. Mise en abyme und Metalepse wirken auf die (Raum)zeit in Le Cavalier und erzeugen spezifische Effekte der Vergegenwärtigung, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Diese stehen meiner Ansicht nach in Zusammenhang mit der fantastischen Er­ zählweise im Sinne Todorovs. Auch die psychoanalytische Bedeutung des bereits in Kapitel 2.3 diskutierten Doppelgängermotivs wirkt in diese Richtung, wie die Analyse veranschaulichen soll: Das Unheimliche zeichnet sich nach Freud ja ge­ rade durch die Anwesenheit in der Abwesenheit aus; das Verdrängte scheint in der Gegenwart auf. Ausgehend von André Gides begrifflicher Prägung aus dem Jahr 1893²²⁴ stellte Lucien Dällenbach in seinem Essay Le récit spéculaire strukturale Eigenschaften des ästhetischen Verfahrens der mise en abyme zusammen. Er bestimmte sie als «une modalité de réflexion», die vornehmlich «l’intelligibilité et la structure for­ melle de l’œuvre» hervorhebe und als eine «réalité structurelle» weder auf ein Genre noch auf die Literatur als solche zu beschränken sei.²²⁵ Schließlich fasste

221 So scheint zum Beispiel Sene in seiner Analyse des Werkes von Diop mise en abyme und Metalepse synonym zu gebrauchen. Vgl. Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques. 222 Vgl. Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Paris: Seuil 1977. 223 Bernd Häsner unternimmt in seiner systematisch-theoretisch angelegten Studie den Ver­ such, den Begriff der Metalepse als textanalytische Kategorie zu schärfen, abzugrenzen und zu fundieren. Vgl. Bernd Häsner: Metalepsen: Zur Genese, Systematik und Funktion transgressiver Er­ zählweisen. Berlin: Freie Universität Berlin 2005. Dissertationsschrift. Er geht dabei von Genettes Überlegungen zur Metalepse als «transgressive Relationen zwischen ‹deux mondes : celui où on raconte, celui que l’on raconte› (Gérard Genette : Discours du récit, 1972, S. 245)» aus. Ebda., S. 13. Häsner erarbeitet ein Verständnis von Metalepsen, auf das ich im Rahmen der vorliegenden Ana­ lysen detaillierter zurückkommen werde. 224 Vgl. André Gide: Journal 1889–1939, Bibliothèque de la Pléiade, Paris: Gallimard 1948, S. 41 in Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire, S. 15. 225 Ebda., S. 16.

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse | 115

Dällenbach wie folgt zusammen: «mise en abyme [est] toute enclave entretenant une relation de similitude avec l’œuvre qui la contient.»²²⁶ Der Roman weist einige spiegelbildliche Verhältnisse zwischen histoire-Ein­ heiten auf: so etwa zwischen der Rahmenerzählung und mindestens zwei contes von Khadidja, in denen es um eine Liebesgeschichte geht. Im conte ‹Patchwork› erzählt Khadidja nach Auskunft des Rahmenerzählers Lat-Sukabé ihr Kennen­ lernen nach (vgl. LC, S. 76–83). Der Titel ‹Patchwork› ist ein autoreflexiver, fikti­ onsironischer Kommentar zu dem vielgestaltigen Roman, dessen Teil er ist: So sind etwa die Geschlechterrollen vertauscht, das heißt es spricht wiederum ein sich selbst als Lat-Sukabé identifizierender Ich-Erzähler.²²⁷ Die Spiegelung ist hier zweifach und bezieht sich sowohl auf die Rahmenerzählung als auch auf das längste conte, das sich im zweiten Kapitel des Romans entfaltet: Im conte ‹Le Cavalier et son ombre› nimmt die Liebesbeziehung zwischen dem Cavalier und der von ihm geretteten Prinzessin Siraa zentralen Raum ein. Die Handlung der Rahmenerzählung widmet sich ebenfalls einer solchen Konstellation: Lat-Suka­ bé will Khadidja retten oder glaubt, es tun zu müssen. Der doppelt verwendete Titel für das conte und den Roman weist explizit darauf hin, dass es eine enge Beziehung zwischen diesem und der Rahmenerzählung gibt.²²⁸

226 Ebda., S. 18. Dällenbach unterscheidet drei Formen der mise en abyme : «la réduplication simple (fragment qui entretient avec l’ouevre qui l’inclut un rapport de similitude), la rédupli­ cation à l’infini (fragment qui entretient avec l’ouevre qui l’inclut un rapport de similitude et qui enchâsse lui-même un fragment qui. . . , et ainsi de suite) et la réduplication aporistique (fragment censé inclure l’œuvre qui l’inclut)». Ebda., S. 51. Vgl. für eine graphische Übersichtsdarstellung auf Grundlage von Dällenbachs drei Typen Sébastien Allain: La mise en abyme actée, nouveau fer de lance du serious game. In: Revue des Interactions Humaines Médiatisées 14, Nr. 1 (2013), S. 33–64, hier S. 44, Abb.3. 227 Sene spricht von einer «impression d’un véritable patchwork fait de tissage de matériaux narratifs hétéroclits.» Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques, S. 257. Das Verhältnis von diesem conte und dem Roman kann als mise en abyme aufgefasst werden, wie ich im Haupttext argumentiere. Meiner Ansicht nach handelt es sich aber nicht um eine (aktualisierte) Metalep­ se, weil zwar die verschiedenen (intra- und extradiegetischen) Erzählebenen angedeutet, jedoch ihre Logik nicht gebrochen oder überschritten wird. 228 Ich folge der Argumentation Häsners, um das Verfahren der mise en abyme von der Metalep­ se abzugrenzen: «Selbstverständlich sind, um hier eventuellen Mißverständnissen vorzubeugen, Text-im-TextStrukturen nicht per se transgressiv; auch die aufwendigste metatextuelle Tektonik kann unter vollständiger Wahrung der pragmatischen und ontologischen Hierarchien konstruiert sein – und tatsächlich dürfte dies sogar für die Mehrzahl der Fälle zutreffen. Transgressiv wird diese Tekto­ nik nur, wenn es zu alogischen oder akausalen Relationen zwischen den verschiedenen textu­ ellen Welten, die sie konstituieren, kommt. Parallelismen der Handlungsdynamik oder semanti­ sche Korrespondenzen und Äquivalenzen, die den eingelegten Text eventuell als mise en abyme

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Ein weiteres Element der Rahmenerzählung, das sich in der Binnenerzählung wiederholt, ist die Statue beziehungsweise die damit verbundenen Reflexionen über Geschichtsschreibung. Lat-Sukabé denkt über die Statue Angelo Suleimaans nach, die vor seinem Hotel steht. Er stellt fest, dass er kein sicheres Wissen über die historische Figur hat und beschuldigt seinen Freund, einen Historiker, ihm keine kohärente Darstellung gegeben zu haben (vgl. LC, S. 15). In Kapitel 2.4 wur­ de diese Passage des Romans hinsichtlich ihres historischen Verweises und als Prolepse auf die Romanhandlung gedeutet. An dieser Stelle geht es mir darum, diese Prolepse in einem weiteren Schritt als mise en abyme zu deuten: In Khadid­ jas conte ‹Le Cavalier› tritt schließlich die Statue des Cavalier auf. Sie dient als Prisma für Reflexionen über Geschichtsschreibung, Gedächtnis und deren politi­ sche Indienstnahme, wie ebenfalls in Kapitel 2.4 herausgearbeitet wurde. In seinem Essay Le récit spéculaire bestimmt Dällenbach die mise en abyme als «tout miroir interne réfléchissant l’ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse.»²²⁹ Diops Roman evoziert am Anfang das Prinzip des Spie­ gels und setzt damit einen fiktionsironischen Kommentar. Der Ich-Erzähler LatSukabé sagt: Une route pleine de périls s’ouvrait devant moi et je n’étais plus sûr, au dernier moment, d’oser l’emprunter. En son temps, Khadidja, elle, n’avait pas hésité une seconde. Elle ne le pouvait d’ailleurs pas. Je l’ai vue sombrer lentement dans un délire intégral, au point de ne plus savoir de quel côté du miroir elle se trouvait. (LC, S. 13)

Diops Roman etabliert an vielen Stellen Fiktionsironie, die ich im Anschluss an Häsner²³⁰ nicht als Metalepse begreife. Eine weitere fiktionsironische mise en abyme ist innerhalb der Binnenerzählung zu finden. Das conte ‹L’Homme de CroMagnon› (vgl. LC, S. 151–164), das Khadidja einschiebt, spiegelt Teile des con­ te ‹Le Cavalier et son ombre›. Es soll zeigen, welche Wirkung der Cavalier alias Dieng Mbaloo auf die Nachwelt ausgeübt hat (vgl. LC, S. 151). Protagonist ist ein Griot. Khadidja kündigt das conte wie folgt an: «J’ai été témoin, Monsieur, de l’événement horrible et spectaculaire qui va suivre et tout que vous allez entendre est d’une rigoureuse, d’une totale exactitude» (ebda.).

des hierarchisch übergeordneten Textes fungieren lassen – ein Beispiel von paradigmatischem Status wäre das Spiel-im-Spiel des Hamlet –, können nicht als Transgressionen gelten.» Bernd Häsner: Metalepsen, S. 86 f. 229 Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire, S. 52. 230 «Ich würde aber dafür plädieren, den Begriff der Metalepse im Interesse seiner Kohärenz und Trennschärfe ausschließlich für logisch unmögliche Relationierungen [zwischen Erzählebe­ nen] zu reservieren.» Bernd Häsner: Metalepsen, S. 30; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Häs­ ners Anmerkung zu Dällenbach, ebda., S. 87, Anm. 131.

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse | 117

Für ‹L’Homme de Cro-Magnon› installiert Khadidja einen intra- und homodie­ getischen Ich-Erzähler zweiten Grades.²³¹ Ein Griot besucht ein Nobel-Restaurant, wo es zu einem ebenso gewaltsamen wie merkwürdigen Eklat kommt. Er misshan­ delt brutal den Pudel reicher und arrogant auftretender Restaurantgäste, verbrei­ tet Angst und verwandelt schließlich seinen Stab in eine Schlange. Der Griot selbst wird wiederum ein Erzähler, der auf die – von dieser Perspektive aus – Rahmen­ handlung von Khadidjas ‹Le Cavalier› zurückgreift: «‹Approche, mon petit, fre­ donna-t-il, approche, je vais te raconter la glorieuse aventure de Dieng Mbaalo, Dieng Mbaalo l’orgueil de notre peuple, le compagnon de la Princesse Siraa, le vainqueur du monstre de Nkin’tri. . . ›» (LC, S. 154).²³² Der Griot vermengt, nach­ dem er das Restaurant verlassen hat, vor Zuhörer:innen das, was ihm nach Anga­ ben des Ich-Erzählers wiederfahren ist mit Versatzstücken aus der Erzählung ‹Le Cavalier›: Il leur disait comment, par une nuit de violent orage, il y avait de cela au moins mille ans, l’intrépide Dieng Mbaalo livra, dans un lieu de débauche appelé le «Croque-Manioc», un combat singulier et victorieux contre une immense chiotte. (LC, S. 162)²³³

Das lautmalerische Spiel mit dem Namen des Restaurants Croque-Manioc und dem Titel der Erzählung Cro-Magnon legt nahe, dass es sich bei den Spiegelun­ gen immer wieder um Verschiebungen handelt. Das Bild ist nie identisch mit dem Original.²³⁴

231 Das wird sichtbar an den grammatikalisch maskulin bestimmten Adjektiven wie beispiels­ weise in dem Satz: «[. . . ] j’étais probablement le seul [. . . ].» LC, S. 153. 232 Der Griot spricht hier den Hund an. 233 Das ist eine der sehr komischen Stellen in Le Cavalier. Der Witz beruht auf einem Wortspiel bzw. einem assoziativen Spiel. Das französische «chiottes» (von «chier») ist umgangssprachlich und bedeutet im Deutschen ungefähr so viel wie «Klo». Es wird zumeist im Plural gebraucht, kann aber auch im Singular («la chiotte») auftauchen. An dieser Stelle des Romans geht es aber um einen weiblichen Welpen, «la chiotte» ist hier die feminine Form von «le chiot». Dem Griot nach kämpfte er also gegen einen riesengroßen weiblichen Welpen – nicht etwa gegen eine über­ dimensionale Toilette. Vgl. die Einträge «chiot»/«chiottes»/«chier» in: Dictionnaire alphabétique & analogique de la langue française. Le Robert: Paris 1982. 234 Text-im-Text-Verfahren rücken die Gemachtheit des Textes in den Blickpunkt und ver­ weisen auf die Grenze zwischen Text und außertextueller Realität: «Gemeinsam ist frei­ lich allen transgressiven wie nicht-transgressiven Realisationen metatextueller ‹Text-imText›-Strukturierungen, daß sie die Grenze von Text und Welt sich textintern wiederholen las­ sen und damit überhaupt erst einer Gestaltung verfügbar machen; diese textinterne Gestaltung von Text-Welt-Grenzen kann sowohl deren Sakrosanz bestätigen als sie auch in Frage stellen; in jedem Fall konstituiert sie eine Art impliziten Kommentar zu jener Grenze, die den empirischen Text von seiner empirischen ‹Umwelt› scheidet und die in diesem Text selber natürlich nicht mehr unmittelbar darstellbar ist.» Bernd Häsner: Metalepsen, S. 87.

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Der Ich-Erzähler adressiert immer wieder einen Zuhörer mit «Monsieur» und stellt sich als bloßen Berichterstatter dar (vgl. LC, S. 160). Er insinuiert eine prin­ zipielle Unverlässlichkeit des Erzählten: Vous le savez aussi bien que moi : les actes les plus banals des êtres humains sont soit totale­ ment dépourvus de signification, soit sans rapport avec les explications qu’en donnent leurs auteurs eux-mêmes. Peut-être que ce joueur de kora²³⁵ était tout simplement un malade. La lueur de cruauté qui brillait dans son regard m’inclinerait d’ailleurs plutôt à le penser. (LC, S. 160)

Dieser metafiktionale Kommentar ist auch autoreflexiv zu lesen. Er hebt auf die Schreibweise des Fantastischen ab, die die Statik des Romans entscheidend stützt. Der Hinweis auf den möglichen Wahnsinn des Kora-Spielers spiegelt den in der Rahmenerzählung immer wieder in Anschlag gebrachten möglichen Wahn­ sinn Khadidjas. Allerdings wird dieses Argument hier überzeichnet und dadurch ironisch gebrochen. Dieses conte ist daher als fiktionsironische Kommentierung des Romans zu verstehen. Die Fiktionsironie in Diops Roman, die in Form von autoreflexiven Kom­ mentierungen und Apostrophen auftritt, fordert die Aufmerksamkeit der Leserin, indem sie die künstlerische Gemachtheit des Textes ausweist. Jean Sob inter­ pretiert diese Verfahren – die er im Gegensatz zu mir als Variante der Metalepse begreift – als kommunikatives Element.²³⁶ Sie sollen der Leserin die von Sob be­ hauptete Programmatik des Romans, nämlich eine ästhetische Erneuerung des afrikanischen Romans, mitteilen.²³⁷ Es ist sicher richtig²³⁸, dass der innovative

235 Das Instrument impliziert den Griot-Status. 236 «L’usage intensif de la métalepse vise à entretenir un dialogue permanent avec le lecteur, pour lui communiquer cette stratégie de la parodie : transgression généralisée de doxa litté­ raire, contestation des conventions romanesques traditionnelles, pour promouvoir les nouvelles formes d’écriture romanesque en Afrique. Claude Abastado a dit à juste titre que ‹Cette décons­ truction-reconstruction est d’essence parodique.› (Abastado, C. : Situation de la parodie. In : So­ ciété d’Études du XXe siècle, Nr. 6 (1976), S. 34) De là se justifie pleinement la parodisation cou­ rante du lecteur à partir de cet emploi de la métalepse dans l’œuvre romanesque de Boubacar Boris Diop.» Jean Sob : L’impératif romanesque de Boubacar Boris Diop, S. 139. 237 «Pour faire passer cette intention esthétique, seul le récit parodique pouvait autoriser l’organisation simultanée dans un même espace textuel de la contestation des conventions lit­ téraires et d’une communication intersubjective entre l’auteur qui se met en scène à travers les personnages et le lecteur qui est en permanence parodié par les narrateurs comme un partenaire du jeu textuel.» Ebda., S. 141. 238 Sobs Analysen sind in vielen Punkten überzeugend, jedoch setzt er konsequent jede Au­ torenfigur in den fiktionalen Texten mit dem Autor gleich und konstatiert: «son œuvre est en grande partie une autoparodie» (ebda.). Die Texte legen das meiner Ansicht nach jedoch nicht

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse | 119

Charakter des Romans in den Fokus rückt. Darüber hinaus hebt die Fiktionsiro­ nie aber die Rolle der Leserin überhaupt hervor. Dies wiederum steht in Bezie­ hung dazu, dass Khadidja unter der praktischen Abwesenheit eines Gegenübers leidet. Es ist, wie bereits erwähnt, in der Forschung argumentiert worden, dass diese Konstellation die Situation afrikanischer Schriftsteller:innen widerspie­ gele. Hintergrund ist auch die sogenannte Sprachenfrage, die bis heute immer wieder diskutiert wird.²³⁹ Der Zugang zu höherer Bildung und Alphabetisierung waren an das Erlernen der aus Europa importierten Kolonialsprache gebunden. Im Senegal ist das Französische administrative und bildungsgebundene Sprache geblieben.²⁴⁰ Damit stellt sich die Frage, welches Publikum ein auf Französisch schreibender Autor wie Diop erreichen will und kann.²⁴¹ Im Roman gibt es mehrere Figurenpaare, die sich jeweils aus einem Charakter der Rahmenhandlung und aus einem zweiten der intradiegetischen Erzählungen zusammensetzen. Diese Bezüge sind als eine Form der mise en abyme zu verste­ hen. Die vorgeschlagene Deutung der Figurenbeziehungen ist in einem weiteren Schritt mit der Doppelgängerthematik zu verbinden. Die mise en abyme enthält diesen Aspekt schon immer, da sie als spiegelbildliche Reproduktion von Erzähl­ elementen etabliert wird. In Diops Roman erweitert dieser Aspekt der mise en abyme aber die Deutung der Figurenverhältnisse grundlegend: Erst durch die Verbindung mit der Doppelgängerthematik entfaltet sich der Gegenwartseffekt in vollem Maße, so dass er der Schreibweise des Fantastischen im Roman zuträglich ist. Auch Bär stellt einen Zusammenhang zwischen der Figur des Schattens bezie­ hungsweise der lebendig gewordenen Statue und dem Doppelgängermotiv her.²⁴² Für das Erkenntnisinteresse meiner Deutung von Diops Roman Le Cavalier ist To­

so unbedingt nahe, wie Sob es formuliert. Weiterhin liefert er keine Belege, sondern bleibt im Gestus der rhetorischen Frage spekulativ. Sob liest Diops Texte als rückbezügliche Äußerungen des Autors und schwächt dadurch seine Studie, wie ich meine: Einerseits insistiert er richtiger­ weise darauf, afrikanische Literatur als fiktionale Texte und damit Wortkunstwerke zu würdi­ gen – andererseits unterläuft Sob seine eigene, an vielen Stellen wirksame Herangehensweise bei der übergreifenden Interpretation von Diops Schreiben. 239 Diop selbst hat nach seinem Buch Murambi über den ruandischen Genozid begonnen, auch auf Wolof zu publizieren. Mehr dazu im Hauptkapitel 5. 240 Vgl. dazu Martine Dreyfus/Caroline Juillard: Le plurilinguisme au Sénégal. 241 Ich möchte an dieser Stelle die sogenannte Sprachenfrage nicht ausführlich behandeln. Vgl. dazu die klassischen Positionen: Chinua Achebe: The African Writer and the English Language. In: Molefi Kete Asante/Abu Shardow Abarry (Hg.): African Intellectual Heritage. Philadelphia: ˜ ı wa Thiong’o: Decolonising the Mind. The Temple University Press 1996, S. 379–384 sowie Ngug˜ Politics of Language in African Literature. London: James Currey 1984. 242 Vgl. Gerald Bär: Das Motiv des Doppelgänger, S. 34.

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dorovs Abhandlung über das Fantastische zentral, in der er auch auf das Dop­ pelgängermotiv eingeht. Die Diskussion um das Doppelgängermotiv fand ihren Eingang in die französische Literaturkritik durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse nach Freud und Lacan in den 1960er Jahren.²⁴³ Todorov sieht in manchen literarischen Texten im Doppelgängermotiv den Zweifel vergegenständ­ licht, den er als konstitutiv für die fantastische Literatur bestimmt hat.²⁴⁴ Dieser Zweifel beziehungsweise ein Moment des Unheimlichen ist in Diops Roman in die Beziehungen zwischen den Figuren eingeschrieben. Die Paarung Lat-Sukabé/Khadidja gespiegelt in Cavalier/Prinzessin Siraa ergibt sich durch die bereits angesprochene Reproduktion des Liebesverhältnisses. Auch die in Kapi­ tel 2.4 diskutierten Bezüge auf historische Eigennamen können als Doppelgän­ gerrelationen verstanden werden. Des Weiteren gibt es zwischen der Prostituierten Yande, mit der Lat-Sukabé seine erste Nacht des Wartens im Gespräch verbringt, und Khadidja eine Paralle­ le. Diese bewegt sich jedoch lediglich auf der Ebene der Rahmenerzählung. LatSukabé begehrt beide Frauen, die jeweils eine marginale gesellschaftliche Posi­ tion innehaben. Yande verschwindet nach dem Treffen mit Lat-Sukabé und wird später tot im Fluss aufgefunden. Nach ihrem Verschwinden aus Dakar und aus der Beziehung mit Lat-Sukabé ist Khadidja, wie es im dritten Kapitel des Romans (‹Troisième Journée›) heißt, auch in der Stadt vorbeigekommen. Khadidja war mit Yande befreundet und verschwand später erneut. Sie wollte angeblich den Fluss überqueren, um nach Bilenty zu gelangen (vgl. LC, S. 273–275). Im Gegensatz zu Yande gibt es allerdings keine Spur über ihren Verbleib. Zentral ist im Anschluss an Freud das Moment des Wiedererkennens, das ei­ ne zeitliche Komponente enthält. Das Unheimliche ist nach Freud durch eine Si­ multaneität gekennzeichnet. Obwohl etwas Bekanntes abwesend ist, erscheint es doch als anwesend: «Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‹un› an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.»²⁴⁵ Besonders virulent wird dieses Moment des Unheimlichen an der Figur des rätselhaften Passeur. Er wird Lat-Sukabé als Fährmann genannt, der ihn nach Bi­ lenty bringen kann. Das evoziert die Figur des Charon aus der griechischen My­

243 Vgl. ebda., S. 70. 244 Vgl. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, S. 77. 245 Sigmund Freud: Das Unheimliche.

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse | 121

thologie.²⁴⁶ Der Passeur, der im ersten Kapitel des Romans als derjenige auftritt, der die Weiterfahrt Lat-Sukabés nicht umgehend besorgt, tritt im dritten Kapitel wieder auf. Er scheint auf geheimnisvolle Weise alles zu wissen (vgl. LC, S. 261). Jedoch sorgt er wenig später für rationale Erklärungen und damit für einen Rück­ halt im realistischen Erzählparadigma: Der Passeur verweist auf Lat-Sukabés fieb­ rigen Zustand (vgl. LC, S. 273) sowie Khadidjas exzentrisches Verhalten bei ihrem Aufenthalt in der Stadt (vgl. LC, S. 273–275). Auch der Passeur als Charakter der Rahmenerzählung hat ein Pendant auf Ebene der Binnenerzählung, worauf Sene hingewiesen hat.²⁴⁷ Es ist das Mons­ ter Nkin’tri, das von sich selbst sagt, es wolle mit menschlichem Antlitz unter den Einwohner:innen des Königreiches Dapienga weiterleben. Und, wie Gormack wie­ dergibt: «Il disait toujours : ‹Moi, Nkin’tri, je ne suis qu’un modeste Passeur, celui qui relie les Morts et les Vivants et je suis prêt à me dévouer›» (LC, S. 251). ‹Le Cavalier› entwirft zum Abschluss eine pessimistische Vision von einem neuerlichen Untergang des Landes. Jedoch widersteht die Hoffnung bis zum Ende und hat das letzte Wort: «Siraa et le Cavalier, eux, n’avaient jamais perdu l’espoir, car tel était justement le nom de Tunde pour qui ils allaient se mettre à l’œuvre, sans relâche» (LC, S. 255). Ein Erzählen, dass sich um historische Erkenntnis be­ müht – so wie ‹Le Cavalier› – ist im performativen Sinne Hoffnung. Khadidja be­ stätigt das in ihrem letzten Wortwechsel mit dem unbekannten Zuhörer, wenn sie sagt: «La fable est infinie» (LC, S. 256) und sich dem Cavalier anschließt (vgl. LC, S. 256), der im Dialog an die Stelle des unbekannten Zuhörers tritt. Damit sind die Grenzen zwischen Fiktion und Außenwelt auf der intradiegetischen Ebene durch­ brochen. Hier ist also eine erste Metalepse auszumachen. Häsner versteht die Metalepse erstens als ein «genuin narratives Phäno­ men»²⁴⁸, das zweitens «die Gleichzeitigkeit von Erzählakt, erzähltem Geschehen

246 Charon setzt die Toten gegen einen Obolus in das Reich des Hades über. Wenn man der In­ terpretation folgt, dass Khadidja tot ist und Lat-Sukabé sich also im Jenseits mit ihr zu vereinigen wünscht, ergibt diese Parallele durchaus Sinn. Forscher:innen haben darauf hingewiesen, dass Le Cavalier an verschiedenen Stellen auf griechische Mythen Bezug nimmt und insbesondere den Passeur hervorgehoben. Vgl. unter anderem Alison Joyce MacAdams: Secretly Numinous und Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques, S. 57. 247 Vgl. ebda., S. 32 f. 248 Häsner nennt drei Aspekte der Metalepse, auf die ich hier Bezug nehme. «a) Je nach überge­ ordnetem pragmatischem Kontext können Metalepsen entweder als ‹narrativierte dramatische› oder als ‹dramatisierte› narrative Sprechhandlungen beschrieben werden. Insofern sie die Kon­ stituierung einer Diskursebene voraussetzen, handelt es sich aber um genuin narrative Phäno­ mene. [. . . ]» Bernd Häsner: Metalepsen, S. 20 f.

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und Textrezeption» vorschlägt²⁴⁹ und stellt drittens besonders den raumzeitli­ chen Effekt der Gleichzeitigkeit heraus: c)

Aus der metaleptisch nominierten, d. h. im Medium der Sprache konstituierten Simul­ taneität von Narrationsakt, erzähltem Geschehen und Textrezeption resultieren mehr oder weniger entfaltete logische und semantische Effekte, die man durchweg als paradox charakterisieren kann [. . . ]. Der grundlegende und obligatorische Komplementäreffekt metaleptischer Simultaneisierung ist der einer Spatialisierung der Relation von erzähltem Geschehen, Erzähler und Leser. Erzählen unter metaleptischen Vorzeichen bedeutet, eine räumliche Kontiguitätsrelation zwischen den Elementen der Erzählsituation herzustellen oder deren temporale Relation in den Begriffen räumlicher Nähe bzw. Distanz zu rede­ finieren; im äußersten Fall kann es zu einem Handgemenge des Erzählers mit seinen Figuren kommen, während die Lektüre einer Erzählung unter diesen Bedingungen als visuelle oder auch akustische Apperzeption des erzählten Geschehens erscheinen mag [. . . ]. (eigene Hervorhebung)²⁵⁰

In Le Cavalier lässt sich dieser Effekt an der Distanz zum Ort Bilenty nachvollzie­ hen, gegen den der Roman konvergiert: Lat-Sukabé bekundet am Anfang des Ro­ mans seinen Willen, Khadidja in Bilenty zu treffen. Am Schluss des Romans fällt dieser Ortsname wieder, der in der Binnenerzählung als Geburtsort des Cavalier ebenfalls einen Platz hat. Im dritten Kapitel richtet Lat-Sukabé einen langen Vortrag über Khadid­ ja an den Passeur, während dessen er ihn mehrfach direkt anspricht (vgl. LC, S. 262–272). Das Erzählen überwältigt Lat-Sukabé mit seiner Kraft und verselbst­ ständigt sich gleichermaßen (vgl. LC, S. 262 f.). Damit ergeht es ihm ähnlich wie Khadidja, die zunehmend die Kontrolle verloren hat. Lat-Sukabé zitiert Khadidja folgendermaßen: «‹Qui est l’ombre et qui et le Cavalier ? Tout glisse de mes mains. Le sens de mes propres paroles m’échappe›» (LC, S. 268). Reflexionen über die Rolle des Erzählers, den Sinn eines conte und sein Verhältnis zur Wahrheit wer­

249 «b) Wenngleich Metalepsen genuin narrative Sprechhandlungen sind, nehmen sie doch die Kommunikationssituation dramatischer Sprechhandlungen für sich in Anspruch: Sie postulie­ ren, implizieren oder supponieren die Gleichzeitigkeit von Erzählakt, erzähltem Geschehen und Textrezeption. [. . . ] Die szenische Präsenz des Erzählten weist dem Erzählakt ein Konstitutions­ potential zu, das über die Signifikation und ‹Vergegenwärtigung› eines abgeschlossenen Gesche­ hens (sei dieses nun real oder fiktiv) weit hinausgeht. Metaleptisches Erzählen beansprucht nicht einfach die Konstituierung einer histoire als einer im narrativen Diskurs reorganisierten Hand­ lungs- und Ereignisfolge, der unabhängig von diesem Diskurs ein Existenzprädikat zukäme, son­ dern es impliziert die gleichsam logostatische Hervorbringung des zu erzählenden Geschehens. Wird das Erzählte damit einerseits als artefaktiell ausgewiesen, soll doch andererseits diese ar­ tefaktielle, im Medium der Sprache ‹gezeugte› erzählte Welt der sie ‹erzeugenden› Welt konsub­ stantiell sein. [. . . ]» Häsner nennt dieses Erzählen pseudo-performativ. Vgl. ebda. 250 Ebda.

2.5 Gegenwartseffekte durch mise en abyme und Metalepse |

123

den mit Blick auf Khadidja nochmals angesprochen (vgl. LC, S. 271). Zum Schluss erinnert Lat-Sukabé noch einmal eindringlich an den Brief, den er von Khadidja erhalten hat: Je lève les yeux sur lui [le Passeur] et je pense à mon magasin de jouets et à tout ce qui aurait pu me décider à rester sur la terre ferme. [. . . ] Il y avait quand même cette lettre de Khadidja. Il y avait surtout cette lettre. Il m’était impos­ sible de faire comme si Khadidja ne me l’avait pas écrite. Je dois partir. – L’endroit où tu veux que je t’emmène n’existe pas, dit encore le Passeur qui me sent mûr pour la défaite. Je m’emporte : – Allons ! Allons ! Elle va s’impatienter. – Je suis très excité et je sens que la mécanique est en train de se dérégler définitivement. Je veux surtout qu’on en finisse au plus vite. [. . . ] – Les nuages me servent de boussole depuis toujours, dit-il [le Passeur]. Tu m’entends ? Je ne lui réponds même pas. Je ne parlerai plus qu’à Siraa. Elle au moins, elle ne me mentira jamais. Si vous avez bien écouté les histoires de Siraa, vous devez savoir ce que je veux dire. Pendant que la pirogue glisse lentement vers Bilenty, je contemple, songeur, les eaux du Tassele. (LC, S. 286 ; eigene Hervorhebung)

Der Brief von Khadidja, der als zentrales Movens der gesamten Erzählung fun­ giert – ihre wenigen Worte inspirieren eine Flut weiterer Worte – taucht zum Schluss des Romans nochmal auf. Auch hierin artikuliert sich eine Metalepse. Sie verklammert die Rahmen- und die Binnenerzählung, deren Unterscheidbar­ keit am Ende infrage gestellt wird. Diese Metalepse wird zu Beginn des Romans sehr diskret eingeführt und dadurch zunächst suspendiert: Lat-Sukabé hat einen Brief von seiner Ex-Freundin Khadidja erhalten. Im Anschluss berichtet er über seine Vergangenheit mit ihr. Zum Ende des Romans, der zu einem großen Teil aus der Binnenerzählung von Khadidja selbst besteht, erscheint der Brief drängen­ der denn je. Khadidja, so insinuiert das Ende des zweiten Kapitels (‹Deuxième Journée›), ist von einer Figur ihrer Erzählung vereinnahmt worden und hat sich mit ihr auf und davon gemacht. Dies wurde bereits als eine Metalepse auf Ebene der Binnenerzählung festgemacht. Diese Metalepse zieht aber zum Schluss des Romans eine weitere nach sich, wenn sich Lat-Sukabé auf die Suche nach der verschwundenen Khadidja und nach Tunde begibt, einer Figur, die ebenfalls aus der Binnenerzählung Khadidjas stammt. Khadidjas lange zuvor zugestellter brieflicher Hilferuf wird so am Ende des Romans als unmittelbar gesandter Hilferuf dargestellt. Der Passeur folgt zu Beginn des oben zitierten Abschnittes dem Paradigma des realistischen Erzählens, wenn er Bilenty als Non-Lieu bezeichnet. Lat-Sukabé bekräftigt jedoch seinen Entschluss, dieses Terrain – verstanden als «terre ferme» (LC, S. 285) – zu verlassen. Er stellt fest: «la mécanique est en train de se déré­

124 | 2 Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre

gler définitivement». Das ist auch ein fiktionsironischer Kommentar, denn hier wird die Metalepse akut, das heißt, die Trennung der Erzählebenen wird infrage gestellt. Dies entspricht der fantastischen Schreibweise, die sich hier am Schluss noch einmal zeigen kann: Die Trennung von Realistischem und Wunderbaren wird angezweifelt, ohne, dass es eine klare Entscheidung für einen der beiden Bereiche gäbe. Der Ich-Erzähler spricht von der weiblichen Sehnsuchtsfigur als Siraa, das heißt er greift auf den Namen der Prinzessin aus Khadidjas Erzählun­ gen zurück. Deren Protagonist, der Cavalier (beziehungsweise sein Schatten), hatte die Erzählerin am Ende des zweiten Kapitels schon als Siraa apostrophiert und mit sich fortgenommen. Der Roman Le Cavalier et son ombre schließt mit einem auffälligen Satz: «Pendant, que la pirogue glisse lentement vers Bilenty, je contemple, songeur, les eaux du Tassele» (LC, S. 286). Der Schluss der wendungsreichen Erzählung gelangt scheinbar behutsam an sein Ende. Mehrere aneinandergereihte Wörter aus dem gleichen semantischen Feld markieren demonstrativ Ruhe: «glisser»/ «lentement»/«contempler»/«songeur». Jedoch steckt in diesem Satz die echte Pointe des fantastisch angelegten Ro­ mans, nämlich eine final angedeutete Metalepse²⁵¹, deren Valenz letztlich unent­ scheidbar bleibt²⁵²: Ist Lat-Sukabé auf dem Weg nach Bilenty und gibt es Bilenty im Wirklichkeitshorizont der Rahmenerzählung tatsächlich und werden also Er­ zählebenen letztlich transgrediert? Oder halluziniert er nur im Fieberwahn und spricht vor sich hin?²⁵³ Im ersten Fall würde das Erzählgefüge in Richtung des

251 Metalepse und nicht mise en abyme des dritten Typs nach Dällenbach (mise en abyme apo­ ristique), wie ich meine: weil im Roman Le Cavalier zunächst eine hierarchische und vonein­ ander abgegrenzte Ebeneneinteilung zwischen Rahmen- und Binnenerzählung aufgebaut und dann – um im Gefüge der Fantastik zu bleiben – überschritten wird. 252 Vgl. ebda., S. 41 f. 253 Sene interpretiert den Schluss des Romans anders: Mit dem Passeur alias dem Monster Nkin’tri sei bereits die entscheidende Anspielung auf den Tod gegeben. Die Überfahrt nach Bilen­ ty sei also «la métaphorisation ou l’allégorie de la mort»; auch wenn Khadidja in Bilenty gerade einen Auftrag erfüllen möchte, nämlich Tunde, das Kind der Hoffnung, in die Hügel zu modellie­ ren. Aliou Sene: Aventure et ambiguïté romanesques, S. 57. Damit ergebe sich für die Leserschaft ein humanistischer Appell, sie selbst zu werden und auf Hoffnung zu setzen: «Autrement dit, comme elle Khadidja a engendré le Cavalier et est ensuite partie poursuivre sa quête et achever son destin avec lui, le peuple des lecteurs dont Lat-Sukabé serait le prototype devrait savoir se créer son Tunde en une quête personnelle quasi mystique de cet idéal d’optimisme. Le lectorat dynamique devrait savoir maintenir le flambeau de l’espoir vivace en assumant son destin et sa voie. De cette sorte, en plus de l’esthétique de la pédagogie de l’écriture et de la lecture, il se dégage de ce parcours une authentique philosophie de la quête de soi, voire une invite à une mystique de la réalisation intégrale de l’homme: un humanisme, en fait.» Ebda. Gehrmann stellt

2.6 Zwischenfazit

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125

Wunderbaren kippen, im zweiten Fall in Richtung des Realen. Es bleibt letztlich in der Schwebe und damit fantastisch im Sinne Todorovs. Es sind also zwei erzählerische Verfahren zu unterscheiden, die beide einen Effekt der Gegenwart erzeugen: mise en abyme und Metalepse. Letztere erzeugt durch die Überschreitung narrativer Ebenen eine Illusion von Gleichzeitigkeit. Die erzeugten Präsenzeffekte machen im Modus des Ästhetischen deutlich, dass die Gegenwart etwas mit der Vergangenheit zu tun hat. Aber die Beziehung ist nicht statisch und festgeschrieben, sondern dynamisch und eröffnet Spielräume der Aneignung, Interpretation, Neuerzählung, Anderserzählung. Diese kreative Auseinandersetzung mit der Vergangenheit birgt das Potential für Hoffnung, im Roman kodiert in der Figur des Kindes Tunde.

2.6 Zwischenfazit Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre setzt sich mit der longue du­ rée der historischen Erfahrung des französischen Kolonialregimes auseinander. Dies geschieht ästhetisch vornehmlich über die Kategorie der (Raum)zeit: Durch historische Eigennamen und Verweise wird die Vergangenheit evoziert, die Aben­ teuerreise der Protagonist:innen beschäftigt sich mit der Gegenwart im nachkolo­ nialen Afrika und der Fluchtpunkt der Erzählung ist die Zukunft, oder die Frage, was zu tun sei. Dabei behauptet sich der Roman im Rückgriff auf orale Erzähltraditionen Westafrikas gegen die totalitäre Vereinnahmung des kollektiven Gedächtnisses durch die Kolonialmacht: Die Analysen dieses Kapitels haben gezeigt, wie Le Ca­ valier den bekannten Mythe de Wagadou transformiert und wie durch die Haupt­ figur der Binnenerzählung ein Bezug zur epischen Tradition und präkolonialen Ceddo-Gesellschaft etabliert wird. Dieser mehrfache Bezug zum Ceddo – einer nach der Unabhängigkeit des Senegals als Widerstandskämpfer gefeierten, aber dennoch umstrittenen Figur – impliziert in besonderer Weise das Ringen um Geschichtsschreibung im nachkolonialen Senegal. Bemerkenswert ist, dass Le Cavalier diese Aushandlungen im Französischen, also in der kolonial imprägnierten Sprache, vollzieht. Als ästhetische Verfahren sind die fantastische Schreibweise nach Todorov sowie der strukturelle Einsatz von mise en abyme und Metalepse herausgearbeitet worden. Dem Roman geht es aber nicht darum, über einen «animistischen Realismus» – ein Begriff, den Har­

lediglich fest, dass Lat-Sukabé bereit sei, Khadidja in Wahnsinn oder Tod zu folgen. Vgl. Susanne Gehrmann: Von der verschriftlichten Oratur, S. 15.

126 | 2 Gesellschaftliches Ideal und nachkoloniale Realität in Le Cavalier et son ombre

ry Garuba vorgeschlagen hat²⁵⁴ – zu sprechen. Vielmehr formuliert der Text eine scharfe Kritik an solchen, lange Zeit von der europäischen Kolonialmacht verge­ benen Zuschreibungen. Etwa, wenn sich in der in Kapitel 2.5 analysierten Episode ‹Cro-Magnon› die Anwälte darauf berufen: Ce qui s’est réellement passé par la suite, personne ne le sut. Le procès devait d’ailleurs, plus tard, se focaliser pendant des heures sur la question suivante : L’accusé avait-il menacé l’assistance avec un poignard bleu ? Je me souviens que les avocats ont parlé, à cette occasion, d’autosuggestion collective, de mauvaise foi, des «réalités mystérieuses de l’Afrique profonde» et de choses de ce genre. (LC, S. 155 ; eigene Hervorhebung)

Die fantastische Schreibweise ermöglicht es, die Gleichzeitigkeit verschiedener Referenzrahmen auszuhalten, die durchaus eine Widersprüchlichkeit auszeich­ net. Die Dynamik dialektischer Bewegung wird in Gang gehalten: Der Roman kippt weder in Richtung des Wunderbaren noch des Realistischen. Gewalt stellt sich in Le Cavalier als komplexe Erfahrung dar, die epistemisch induziert, aber dadurch nicht weniger real für die betroffenen Menschen ist. So leben die Protagonist:innen des Romans, Lat-Sukabé und Khadidja, in vergleichs­ weise bescheidenen Verhältnissen in der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Die Figur der Khadidja ist studierte Entwicklungsökonomin. Sie hat ihren Partner in der Schweiz kennengelernt, wo sie zusammen auf die Spuren Vladimir Lenins treffen. Das ist ein ironischer Verweis darauf, dass das linke Ideal des Marxismus im nachkolonialen Raum mit seinen Verwerfungen durch Kooperationsverträge und Strukturanpassungspolitiken nicht mehr zu greifen vermag. Die Ideologie und Theorie des Marxismus war für viele afrikanische Länder auf dem Weg zur Unabhängigkeit und danach eine positive Bezugsgröße: Im Se­ negal wurde 1965 eine Kommunistische Partei gegründet, die nicht lange Bestand haben sollte.²⁵⁵ Im Zuge der 1968er-Proteste starb der politische Aktivist Oumar Blondin Diop im Gefängnis auf der Île Gorée vor der Küste Dakars – unter bis heu­ te nicht geklärten Umständen.²⁵⁶ Der senegalesische Autor und Filmemacher Ousmane Sembène war ein pro­ minenter Vertreter der Linken und geriet in den 1970er Jahren in einen erbitter­ ten Streit mit dem damaligen Präsidenten Léopold Sédar Senghor: Anlass war die Schreibweise des Begriffes «Ceddo». Schon im Zuge des Prozesses der Unabhän­ gigkeit des Senegals war es zu einem Zerwürfnis in der Linken und heftigen Aus­

254 Vgl. Harry Garuba: Untersuchungen zum animistischen Materialismus. 255 Vgl. François Zuccarelli: La vie politique sénégalaise. 1940–1988. Paris: CHEAM Diffusion, La Documentation française 1988, S. 95, 194 und 134 zu Oumar Blondin Diop. 256 Mehdi Ba: Sénégal: retour sur la mort d’Omar Blondin Diop, le normalien subversif qui dé­ fiait Senghor. In : Jeune Afrique, 21.5.2013.

2.6 Zwischenfazit |

127

einandersetzungen um Ideologie und Geschichte gekommen. Senghor war auch eine Gegenfigur zum Historiker Cheikh Anta Diop, dessen Arbeiten über eine Be­ ziehung des subsaharischen Afrikas zu Ägypten zum Teil an den Mythos vergan­ gener Größe, das heißt die Idee einer gemeinsamen ägyptisch-subsaharisch-afri­ kanischen Hochkultur, anschließen. Diops Roman Le Cavalier lässt diese Aspekte senegalesischer Geschichte im Roman an verschiedenen Stellen aufleuchten. Die Suche nach einem gesellschaftlichen Ideal, das den Herausforderungen und Problemen im nachkolonialen Afrika gerecht werden kann, ist der Flucht­ punkt des Romans. Die beiden Protagonist:innen der Binnenerzählung, Prinzes­ sin Siraa und der Cavalier, gehen dieser Frage bei ihrer abenteuerlichen Reise durch Zeit und Raum nach. Dabei wird im Roman auch der ruandische Genozid aufgegriffen.²⁵⁷ Die Prinzessin und der Cavalier suchen das Kind Tunde, dessen Name «der, der wiederkehrt» bedeutet. Es kann nicht nur als Symbol für Hoffnung gelesen werden, sondern bedeutet in der Inkarnation, auf die die Protagonist:innen be­ stehen, die Suche nach einer echten nächsten Generation, der die gesellschaftli­ che Verantwortung zufällt. Die im Titel des Romans eingeführte Metapher des Schattens verwirklicht sich im Roman im Rückgriff auf das Motiv des Doppelgängers. Der Schatten impli­ ziert aber auch ein Moment der Verschiebung, eine différance: Es gibt keine völ­ lige Identität und keine Wiederholung der Geschichte. Dennoch betont das Bild des Schattens, dass Vergangenheit und Gegenwart untrennbar aufeinander bezo­ gen sind und sich je nach Perspektive – um im Bild zu bleiben: je nach Lichtein­ fall – anders darstellen können. Die Arbeit am Mythos bedeutet in Le Cavalier also gerade nicht, die Oppositi­ on von historisch-linearer und mythisch-zirkulärer Zeit, die jeweils die Rahmenbeziehungsweise Binnenerzählung strukturieren, herauszustellen. Vielmehr geht es darum, die Ressource des westafrikanischen Denkens und Dichtens fruchtbar zu machen, die den Mythos immer schon als besonderen Ort der Reflexion von Geschichtserfahrung genutzt hat. Schließlich ist noch festzuhalten, dass die Bin­ nenerzählung die Erzählform des conte einsetzt. Diese betont den Austausch und den Dialog mit dem Publikum. Diops Roman stellt die Leserin vor eine anspruchs­ volle Rezeptionsarbeit und bezieht sie in die ästhetische Reflexion mit ein. Die weibliche Hauptfigur, die Binnenerzählerin Khadidja, wird im Roman als starke Frau dargestellt, die den patriarchalen gesellschaftlichen Bedingungen Wi­ derstand entgegensetzt. Das haben die Analysen insbesondere in Kapitel 2.2 und 2.3 nachgezeichnet. 257 Die Problematik der Darstellung in Le Cavalier, von der sich der Autor Diop später distanziert hat, habe ich ebenfalls aufgezeigt.

3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo von Mia Couto Arbeitsthese dieses Kapitels ist, dass der Roman O último voo do flamingo des mosambikanischen Schriftstellers Mia Couto den Körper als Austragungsort (nach)kolonialer Gewalt in den Mittelpunkt rückt. Dabei wird direkte physische Gewalt dargestellt, etwa durch die Explosion von Minen, die nach dem jahrzehn­ telangen Bürgerkrieg in Mosambik verblieben sind, aber auch sexuelle Ausbeu­ tung durch UN-Soldaten während ihres Schutzmandats Anfang der 1990er Jahre. Zugleich kommt die durch das Kolonialregime ausgeübte und weiter andauern­ de epistemische Gewalt zur Darstellung. O último voo do flamingo artikuliert die komplexe Situation der Nationenbildung¹ nach der Unabhängigkeit von Portu­ gal in einer multiperspektivischen Erzählung, die systematisch über Epigraphe funktioniert und die portugiesische Sprache kreativ bearbeitet. Coutos Roman stellt das Verhältnis von Mensch, Objekt und Umwelt im nach­ kolonialen Mosambik als fragmentiert dar. Erkenntnisleitend für meine Deutung ist das Konzept des Fetischismus, das Europa und Afrika historisch verbindet. Es formierte sich im Kontakt europäischer Kolonialist:innen mit afrikanischen Men­ schen und wurde in der Zeit der Aufklärung zu einem maßgeblichen Bezugspunkt kolonialer Diskurse und Praktiken.² Im 19. und frühen 20. Jahrhundert etablier­ ten Marx und Freud Fetischismus als zentrale Momente für Kapitalismuskritik und Psychoanalyse. Coutos Roman nimmt auf diese Begriffsgeschichte Bezug und bricht die fortgesetzte neokoloniale Dominanz ironisch auf: Ausgangspunkt des Romans sind geheimnisvolle Explosionen von UN-Soldaten, die lediglich deren Geschlechtsorgan zurücklassen. Hier wird ein männlich zentriertes Verständnis von Rationalität, das Derrida als Phallogozentrismus kritisiert hat und das das ge­ samte westliche Denken durchzieht³, in grotesker Weise zur Darstellung gebracht. In der folgenden Analyse werden in Kapitel 3.1 zunächst die wichtigsten histo­ rischen Bezüge zur jüngsten Geschichte Mosambiks vorgestellt. Dies gilt vor allem

1 Vgl. Kapitel 7 zu O último voo do flamingo in Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 158–69. Ich stimme allerdings nicht mit Rothwells Interpretation des Phallus überein, die auf Lacan beruht, sondern sehe im Gegenteil dieses Element in Coutos Roman gerade als ironische Distanzierung von einem solchen Verständnis. Dies werden die folgenden Ausführungen zeigen. 2 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek: Ro­ wohlt 2006. 3 Vgl. Jacques Derrida: La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines. In: ders.: L’écriture et la différence. Paris: Seuil 1967, S. 409–428 und ders.: Of Grammatology. Baltimore and London: John Hopkins University Press 1976. https://doi.org/10.1515/9783110723366-003

130 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

für die UN-Friedensmission ONUMOZ. Des Weiteren wird die Begriffsgeschichte des Fetischismus nachvollzogen, insoweit sie mit Coutos Roman verknüpft ist. Das darauffolgende Kapitel 3.2 arbeitet heraus, wie der Roman eine differenzier­ te Perspektive auf die Dominanz neokolonialer Wert- und Weltvorstellungen eta­ bliert und deutet die bereits angesprochenen Explosionen als scharfe Kritik an dieser Persistenz. Dabei wird auch auf intertextuelle Referenzen – etwa zum bra­ silianischen Autor Guimarães Rosa⁴ – sowie auf das Verhältnis des Romans zu mündlichen Erzähltraditionen in Mosambik eingegangen. Im Zentrum von Kapi­ tel 3.3 steht die Analyse von Idolatrie im Rahmen des marxistisch-leninistischen Paradigmas in Mosambik. Idolatrie kann dabei als Form des Fetischismus ver­ standen werden. Der Machtkult und seine repressive Kehrseite zeigen sich in Coutos Roman insbesondere an den Figuren des korrupten Lokalbeamten Jonas und der Prosti­ tuierten Ana Deusqueira. Weiterhin geht es in Kapitel 3.3 um die tödliche Kon­ sequenz der fortgesetzten kolonialen Hegemonie für Mosambikaner:innen, die durch echte, blutige Minenexplosionen anschaulich gemacht wird. Die Familie und die Beziehung zwischen Ich-Erzähler, Mutter und Vater, einem ehemaligen Kolonialbediensteten, sind der Fokus in Kapitel 3.4. Dabei wird gezeigt, wie die fa­ miliäre Auseinandersetzung des Ich-Erzählers als Modus historischer Erkenntnis fungiert. In Kapitel 3.5 werden Alternativen zum Phallogozentrismus diskutiert, wie sie der Roman vorschlägt: Die Figur der Mutter und ihre Rolle als Geschich­ tenerzählerin sowie die Figur der Temporina werden hier näher besprochen. Dies geschieht vor der Folie der Suchbewegung des zunächst phallogozentristisch ori­ entierten UN-Ermittlers Massimo Risi, der seine Haltung im Verlauf des Romans zunehmend kritisch hinterfragt. Außerdem wird in Kapitel 3.5 das Ende des Ro­ mans in den Blick genommen, das das Erzählen als Möglichkeit der Hoffnung und als Modus der Selbstverständigung für Mosambik reflektiert. In einem abschlie­ ßenden Fazit (3.6) werden die Ergebnisse der close readings gebündelt und in Be­ ziehung zum Erkenntnisinteresse der gesamten Studie gesetzt.

3.1 Der Mensch als Objekt in Kolonialismus, Sozialismus und Kapitalismus Mosambik wurde am 25. Juni 1975 unabhängig und damit rund 15 Jahre nach den meisten britischen und französischen Territorien. Die Kolonialmacht Portugal

4 Vgl. etwa Jeremias Zunguze: Divergent Metaphors: The Intertextuality between Guimarães Rosa and Mia Couto. Berkeley: University of California 2014. Dissertationsschrift.

3.1 Der Mensch als Objekt in Kolonialismus, Sozialismus und Kapitalismus | 131

verabschiedete sich nicht freiwillig von ihren Kolonien, sondern führte mehrere Kolonialkriege. So auch in Mosambik, wo der Krieg von 1964 bis 1974 dauerte.⁵ In Mosambik schloss sich von 1976 bis 1992, und damit fast nahtlos, ein Bürger­ krieg zwischen konkurrierenden nationalen Befreiungsbewegungen an.⁶ Dabei standen sich die RENAMO und die FRELIMO gegenüber. 1992 beendete ein Frie­ densvertrag zwischen den Kämpfern der RENAMO und der FRELIMO-Regierung den Bürgerkrieg.⁷ Im Anschluss daran entschied der UN-Sicherheitsrat 1992, eine Blauhelm-Friedensmission in Mosambik auf den Weg zu bringen.⁸ Dieser mit dem Akronym ONUMOZ abgekürzte Einsatz⁹ dauerte bis Dezember 1994.¹⁰ Der Roman O último voo do flamingo des mosambikanischen Schriftstellers Mia Couto nimmt Bezug auf die ersten Jahre nach Ende des Bürgerkriegs. In den Erinnerungen ver­ schiedener Figuren wird auch die Geschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigt. Nach dem Ende des Bürgerkriegs war Mosambik ein völlig zerstörtes Land: Mehr als zwei Millionen Menschen waren aus Mosambik geflüchtet, drei Millionen Menschen waren Binnenvertriebene.¹¹ 1990 brach wegen einer Dürreperiode eine Hungerkatastrophe aus.¹² Des Weiteren hatten Portugal und die anderen Kriegs­ parteien vor allem die ländlichen Gegenden mit Minen übersät, was die landwirt­ schaftliche Produktion zum Teil unmöglich machte.¹³ Die Infrastruktur lag am Bo­ den, genauso wie die politischen und sozialen Institutionen des Landes, die Men­

5 Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 138–146 und 147–167. Vgl. für eine kom­ pakte Geschichte Mosambiks seit der Unabhängigkeit Margarete Hall/Tom Young: Confronting Leviathan. Mozambique since Independence. London: Hurst and Company 1997. 6 Vgl. Patrick Chabal: The Post-Colonial State in Portuguese-Speaking Africa. In: Portuguese Studies 8 (1992), S. 189–202, hier S. 192. 7 Vgl. für einen konzisen Überblick der politischen Umstände auch Phillip Rothwell: A Postmod­ ern Nationalist, S. 158–161. Bis weit in die jüngste Gegenwart flammen immer wieder Kämpfe zwi­ schen RENAMO und FRELIMO auf, so etwa zwischen 2013 und 2019. 8 Diese Entscheidung entspricht der Sicherheitsrats-Resolution 797. 9 Vgl. Richard Synge: Mozambique. UN Peacekeeping in Action 1992–94. Washington: United States Institute of Peace in Process 2005. 10 Vgl. UN-Steckbrief zu ONUMOZ. 11 Vgl. Richard Synge: Mozambique, S. 73 und S. 81. 12 Allein von 1979 bis 2010 war Mosambik von einem Dutzend Dürreperioden mit gravierenden Folgen für die Ernährungssicherheit zahlreicher Menschen betroffen: 1979, 1981, 1987, 1990, 1998, 2001, 2003, 2005, 2007, 2008, 2010. Vgl. Ilyas Masih u. a.: A Review of Droughts on the African Continent: a Geospatial and Long-Term Perspective. In: Hydrology and Earth System Sciences, Nr. 18 (2014), S. 1–15, hier S. 8. 13 Vgl. Richard Synge: Mozambique, S. 77–80 und Giorgio Chiovelli u. a.: Landmines and Spatial Development. Working Paper 2019, S, 1–51, hier S. 8 f.

132 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

schen waren verarmt. Newitt bündelt die Lage nach dem Bürgerkrieg wie folgt: «Almost every aspect of the state and the nation had to be reinvented [. . . ].»¹⁴ Dazu kam das belastende Erbe des Kolonialismus und Sozialismus, das die Lebenserfahrungen vieler Menschen prägt: Das portugiesische Kolonialregime hatte von Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts (1891–1942) Zentralmosambik (die Provinzen Manica und Sofala) praktisch vollständig an die private Handelsgesellschaft Companhia de Moçambique vergeben – Zwangsar­ beit war die Folge.¹⁵ Die ‹Rassenpolitik› des portugiesischen Kolonialsystems, die Mosambikaner:innen theoretisch den Zugang zu gleichen Rechten sichern sollte, vergrößerte die Kluft zwischen urbanem und ruralem Mosambik.¹⁶ Arbeitsmi­ gration nach Südafrika und in das damalige Süd-Rhodesien waren ein weiterer entscheidender Faktor für die Verarmung des Landes.¹⁷ Der Sozialismus spielte bei der Dekolonialisierung Mosambiks eine zentrale Rolle, denn er wurde von allen Beteiligten weitgehend einhellig als das bevor­ zugte Paradigma für einen neuen Nationalstaat gesehen.¹⁸ Durch die späte Auflösung des portugiesischen Kolonialregimes vollzog sich dieser Prozess vor dem Hintergrund bereits gescheiterter sozialistischer Versuche in anderen nachkolo­ nialen Staaten Afrikas und in einer Zeit, in der der Sozialismus weltweit bereits in der Krise steckte.¹⁹ Deswegen waren die Hoffnungen in ein erfolgreiches sozia­ listisches Modell in Mosambik von Seiten der Bevölkerung, aber auch von Sei­ ten internationaler Beobachter:innen und Sympathisant:innen sehr hoch²⁰: «Be­ cause of this, and because Portuguese-speaking Africa had achieved indepen­ dence through ‹people’s wars›, it was seen as the last great hope of ‹socialism›».²¹ Mia Coutos Roman O último voo nimmt diese hoffnungsvolle Stimmung auf und

14 Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 176. 15 Vgl. Eric Allina: Slavery by Any Other Name. 16 Assimilados waren meistens Weiße portugiesischstämmige Siedler:innen in den Kolonien. Diese Differenzierung des sozialen Status geht auf ein Kolonialgesetz Salazars aus dem Jahre 1930 zurück. Es unterscheidet zwischen indigenato und não-indigenato beziehungsweise civili­ zado. Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 121. 17 Vgl. ebda., S. 132. 18 Vgl. Patrick Chabal: The Post-Colonial State in Portuguese-Speaking Africa, S. 192. Newitt merkt an, dass der FRELIMO-Gründer Eduardo Mondlane (der in der Schweiz und in den USA studierte und arbeitete und 1969 von einer Paketbombe getötet wurde) dem Sozialismus weniger zugetan war und sich mehr darum bemühte, innerhalb der FRELIMO eine einheitliche Positi­ on zu entwickeln, die von verschiedensten Strömungen mitgetragen werden konnte. Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 140 f. 19 Vgl. Patrick Chabal: The Post-Colonial State in Portuguese-Speaking Africa, S. 192. 20 Vgl. ebda., S. 192 f. 21 Ebda.

3.1 Der Mensch als Objekt in Kolonialismus, Sozialismus und Kapitalismus | 133

konterkariert sie mit den schwierigen Lebensbedingungen im ruralen Mosambik Anfang der 1990er Jahre.²² Sowohl im Kolonialismus als auch im Sozialismus und ab Beginn der 1990er Jahre im Kapitalismus wurden die Menschen in Mosambik kontinuierlich zu Ob­ jekten gemacht: durch Zwangsarbeit und menschenunwürdige Lager, in denen das sozialistische Regime seine Vorstellung vom Homem Novo umzusetzen ge­ dachte.²³ Coutos Roman nimmt diese historischen Umstände auf. In O último voo do flamingo stehen zunächst zwei Themen im Vordergrund: Sexualität und Ökono­ mie. Wie bereits erwähnt, wird Sexualität beziehungsweise sexuelle Ausbeutung allein durch die zurückbleibenden Penisse der UN-Soldaten, die bei unerklärli­ chen Explosionen verschwinden, repräsentiert. Weiterhin fällt auf, dass eine gan­ ze Fülle von Redeweisen, Tropen und Metaphern des ökonomischen Diskurses im Roman zur Darstellung gelangt.²⁴ Diese enge Verbindung der beiden Themati­ ken verweist wiederum auf die europäische Diskursgeschichte des Fetischismus, die eine Vorstellung von ‹Afrika› konstruierte, in dem eine aus Sicht der Euro­ päer:innen verkehrte Tauschlogik, Affektdominanz und angebliche sexuelle Aus­ schweifung verwoben wurden. Böhme stellt mit Blick auf den Dresdner Philoso­ phieprofessor Fritz Schultze, der an der Diskursbildung um den Fetischismus En­ de des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Anteil hatte²⁵, fest: Die Beliebigkeit fetischistischer Objektbeziehungen, die einen tauschökonomischen Skan­ dal darstellen, wird von Schultze mit der Wahllosigkeit der sexuellen Partnerwahl und der Verwilderung des Triebs verbunden. Die Zügellosigkeit, die den Afrikanern untergeschoben wird, entspringt indes der Verwilderung des Diskurses von Schultze selbst. Darin spiegelt er die deutsche, aber auch europäische Kolonialpolitik seiner Zeit, der er die ideologischen Waffen der Ausbeutung an die Hand liefert. Er hat allerdings ahnungslos auch jene beiden

22 De facto gab es für die Hoffnungen einer gelungenen Transition zum Sozialismus wenig Ba­ sis. Vgl. ebda., S. 193 f. Wie der Historiker Chabal feststellt, hielt sich auch die Wissenschaft an eine nicht begründbare Erwartungshaltung, die davon ausging, dass sich in den portugiesischen Kolonien aufgrund der Befreiungskämpfe – die im Sinne der Revolutionen etwa in China und Vietnam gelesen wurde – ein erfolgreicher Systemwechsel zum Sozialismus vollziehen würde. Vgl. ebda., S. 194. 23 Vgl. dazu Benedito Luís Machava: The Morality of Revolution: Urban Cleanup Campaigns, Reeducation Camps, and Citizenship in Socialist Mozambique (1974–1988). Ann Arbor: University of Michigan 2018. Dissertationsschrift. 24 Auch Massimo Risi kann als eine Verkörperung des Homo oeconomicus gelesen werden. Ich komme in Kapitel 3.2 darauf zurück. 25 Schultze stellte 1871 – und damit im selben Jahr wie Edward Tylor, dessen Buch Primitive Culture für die Diskurse zentral war – seine Dissertation Der Fetischismus. Ein Beitrag zur Anthro­ pologie der Religionsgeschichte fertig. Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 226.

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Linien bereits fusioniert, welche für das 19. Jahrhundert epochal sind: die Warenanalyse von Marx, nach welcher der Fetischismus den Dingwert pervertiert, und die Theorie der Sexuali­ tät, für welche der Fetischismus eine Pervertierung des libidinösen Objekts darstellt. Beides sind gleichsam ‹afrikanische› Muster. Als Typen der Objektbeziehung ergreifen sie den euro­ päischen Menschen in der Warengesellschaft und werden, aus seinem Inneren aufsteigend, zum perversen Band seiner Sexualität. Europa wird zum Gefangenen eines phantasmatischen Afrikas. Zum anderen wird der Fetischismus zur Quintessenz des kolonialistisch besetzten Afri­ kas gemacht, in denen sich die Afrikaner vor der weißen Herrenschicht verbarrikadiert haben sollen.²⁶ (eigene Hervorhebung)

Das Fetischkonzept entstand, wie es Böhme formuliert, «aus dem Zusammen­ prall christlicher und paganer Vorstellungen»²⁷. Die Europäer:innen hielten an dem Vorurteil fest, dass Afrikaner:innen aus ihrer Sicht Ursache und Wirkung im naturwissenschaftlichen Sinne nicht auseinanderzuhalten vermochten, und so­ mit einen falschen – nämlich nicht dem ihrigen entsprechenden – Wertebegriff hätten.²⁸ Fetischismus wird verstanden als «Verbindung von artifiziellen Dingen und dynamischer Kraft», die sowohl positiv als auch negativ wirken kann. Die­ se Perspektive ist durchweg europäisch geprägt und differenzierte sich konzep­ tuell vor allem im 19. Jahrhundert aus²⁹, wenngleich im Europa des 18. Jahrhun­ derts «Wort und Sache ‹Fetisch›» schon bekannt waren³⁰: «Es können Ahnen (Ma­ nismus), Dämonen oder Geister (Dämonismus), unpersönliche magische Mächte (Magie) oder Kräfte (Dynamismus), eine allgemeine Beseeltheit (Animismus) oder die Wirksamkeit von Verwandtschaftsbeziehungen (Totemismus) sein.»³¹ Die Eu­ ropäer:innen beschränkten sich dabei nicht auf Kritik, sondern zielten auf Zerstö­ rung des Fetischismus. Sie folgten damit einem paradoxen und nach ihren eige­ nen Maßstäben «unaufgeklärten» Impuls: [E]s kann gar nicht in den Blick kommen, dass der afrikanische Fetischismus ein komplexes System der Ordnungserzeugung, der Handlungssteuerung, der Grenzbewahrung, des Schut­

26 Ebda., S. 230. 27 Ebda., S. 183. 28 Vgl. ebda. 29 Ebda., S. 188. 30 Vgl. ebda., S. 179 f. Aber, wie Böhme bemerkt, gab es schon davor und auch außerhalb Spa­ niens und Portugals einige Kenntnisse über Fetische und Fetischismus. Vgl. ebda. Ein «erster Rückschlag des Fetischismus auf die Europäer selbst» sei der Vergleich von fetischistischen mit katholischen Praktiken von Seiten der protestantischen Holländer gewesen, der sich bereits ab dem 18. Jahrhundert abzeichnete. Vgl. ebda., S. 184. 31 Ebda., S. 188.

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zes, der Angstbewältigung, der symbolischen Sinnstiftung und der rituellen Integration von Gemeinschaften wie Individuen darstellt.³²

Mia Coutos Roman O último voo do flamingo setzt sich mit diesem europäischen Blick auf Afrika kritisch auseinander und übersetzt die Wucht der epistemischen Gewalt ins Körperliche. Die Forschung über Coutos Schreiben zeigt, dass diese Fragen immer noch aktuell sind: Mia Coutos Schreiben wird immer wieder als Ausdruck einer spezifisch ‹afrikanischen› Realität interpretiert. Das Nachwort von Luís Patrarquim, das die chronologisch gesehen erste Ausgabe des Erzählbandes Vozes anoitecidas in Mosambik begleitete³³, mag vielleicht die Spur gelegt haben, nach einer moçambicanidade im Sinne einer essentialistischen Seinsbestimmung zu suchen.³⁴ In einem Artikel mit dem Titel ‹Portugal visto de Maputo: As per­ guntas respondedoras›³⁵ verweist Mia Couto jedoch darauf, dass die Geschichte Mosambiks die Mosambikaner:innen gerade vor einem essentialisierenden Ver­ ständnis von Identität bewahren könne: E esta nação que é ainda um projecto em construção não olha especialmente os outros por­ que não tem uma imagem de si própria. Se perguntássemos – como Moçambique é visto por Moçambique? – teríamos como resposta um sem número de equívocos, de hesitações. Este sujeito capaz de um olhar (de uma visão no singular) implica uma consolidação de iden­ tidade que Moçambique ainda não realizou. Essa ausência de retrato a corpo inteiro não é uma desvantagem. Pode ser mesmo uma vantagem histórica: estamos abertos a inventar o nosso próprio rosto, possuímos o olhar multifacetado do insecto. O mundo está cheio de la­ dos. Num desses lados está Portugal. Ou melhor, está o conjunto de mistificações que se

32 Und weiter: «Diese sozialen Ordnungsfunktionen des Fetischismus hatten voraufklärerische Autoren wie Wilhelm Johann Müller (1676) noch deutlich, wenn auch nicht vorurteilsfrei erkannt. Ebendies sind Mechanismen, auf die keine, auch keine aufgeklärte und moderne Gesellschaft verzichten kann.» Ebda., S. 185. 33 Patrarquim sagt zwar: «Se mais ou menos andamos todos a esgaravatar na substância da Moçambicanidade – e é preciso dizer que mais honesta e verdadeiramente uns do que outros –, julgo ver nestes teus textos um empenhamento total.» Aber er fährt auch fort: «E a complicação começa aqui. Pois que raio de coisa será essa da Moçambicanidade? O despedaçado boi étnico a que um excesso de etnocentrismo rotula de tribalismo? A orteguiana circunstância de sermos os embaraçados ‹herdeiros›, cada um por sua privada genealogia, ou do cantochão latino, ou de muezins arábicos, ou de Monomotapas nostálgicos, ou já algum sincretismo histórico disso tudo, mas ainda na ilha onde Caliban e Próspero lambem as últimas feridas? Ou já nem será bem isto por milagre de um denominador comum em projecto político estruturado?» Luís Patrarquim: Como se fosse um prefácio. In: Mia Couto: Vozes anoitecidas. Lissabon: Caminho 1992 [1987], S. 13–18. 34 Vgl. Petar Petrov: O projecto literário de Mia Couto. Lissabon: Universidade de Lisboa 2014, S. 25. 35 Vgl. Mia Couto: Portugal visto de Maputo: as perguntas respondedoras. In: Janus (2004).

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acumularam sobre os lusitanos. Tudo esbatido em fumos, cacimbos antigos. Tudo aberto a ser reinventado.³⁶ (eigene Hervorhebung)

Seit dem Beginn seines literarischen Schaffens zeichnen sich Mia Coutos erzäh­ lerische Texte durch eine reflektierte Schreibweise aus, die nicht den Paradig­ men des Neo-Realismus (beziehungsweise des Sozialistischen Realismus)³⁷ folgt. Insbesondere über die Rezeption brasilianischer, nordamerikanischer und portu­ giesischer Literatur war der Neo-Realismus in Mosambik seit Mitte des 20. Jahr­ hunderts präsent.³⁸ In Mosambik klassisch gewordene Texte wie die Erzählbände Godido e outros contos von João Dias³⁹ aus der Zeit der Négritude sowie Luís Ber­ nardo Honwanas Nós matamos o cão-tinhoso orientierten sich daran.⁴⁰ Coutos erste Prosaveröffentlichung Vozes anoitecidas, die sich bereits deut­ lich vom Neo-Realismus absetzte, rief eine Polemik hervor: Autor:innen wie Rui Nogar, zur damaligen Zeit Präsident der mosambikanischen Schriftstellerverei­ nigung, Hélder Muteia und Teresa Manjate kritisierten Coutos fantastische Ver­ fahren – andere, etwa Marcelo Panguane, Calane da Silva, Gilberto Matusse und Albino Magaia verteidigten Coutos Originalität.⁴¹ Couto wurde vorgeworfen, der Realität in Mosambik nicht gerecht zu werden und unberechtigterweise über Schwarze⁴² Menschen zu schreiben, wie er sich in einem Interview erinnert: Quando as Vozes anoitecidas foram publicadas houve algumas reacções que foram mal ori­ entadas. Em Maputo, a capital do país, houve pessoas que colocavam, na altura, questões como esta: «Se tu escreves bem em português, se tu tens domínio do português padrão, por­ que é que tu fazes isso?» Outros ainda iam mais longe e diziam: «Tu estás a fazer pouco das pessoas que não têm o domínio do português. Tu estás a usar a ignorância como uma ins­ piração exótica. . . » Outros ainda colocavam o problema do ponto de vista racial dizendo: «O. K., tu és um branco. Como é que tu sabes isto? Como é que tu podes falar destas coisas? Como é que estás credenciado para falar destas coisas que são da cultura mais profunda

36 Ebda. 37 Böhme hat mit Blick auf die Wirksamkeit des Sozialistischen Realismus der Stalinzeit in der Architektur herausgestellt, dass es sich gerade nicht um die Widerspiegelung der Realität in mimetischem Sinne, sondern um die ästhetische Erschaffung einer vorgegebenen Realität han­ dele. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 260 f. 38 Vgl. Patrick Chabal: The Postcolonial Literature of Lusophone Africa, S. 27. 39 Vgl. João Dias: Godido e outros contos. Lissabon: Ed. da Secção de Moçambique da CEI (Centro dos Estudantes do Império) 1952. Der Erzählband wurde posthum veröffentlicht. Dias starb 1949 in Lissabon an Tuberkulose. 40 Vgl. Patrick Chabal: The Postcolonial Literature of Lusophone Africa, S. 27. 41 Vgl. Petar Petrov: O projecto literário de Mia Couto, S. 21 f. 42 Die Großschreibung weist darauf hin, dass nicht biologische Eigenschaften relevant sind für eine Unterscheidung, sondern es sich um eine konstruierte, gesellschaftlich dominante Katego­ risierung handelt. Vgl. Neue Deutsche Medienmacher: Glossar, 2019.

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do país, das zonas rurais?» Inclusive saíram artigos nos jornais que diziam que eu devia ser conduzido a uma aldeia comunal (as aldeias comunais foram criadas nesse período para concentrar a população rural), para aprender do povo, etc.⁴³

Couto reagierte mit einem Essay, der die Vorwürfe ironisch aufnahm. ‹Escrevên­ cias desinventosas›⁴⁴ heißt der Text, dessen Titel bereits die Position des Autors zu den Vorwürfen verdichtet. Die Vokabeln «escrever» und «ciência» werden iro­ nisch zusammengebracht und mit dem negativierten Adjektiv für «erfinderisch» versehen: «desinventoso». Couto formuliert in diesem Text: Afinal de contas, quem imagina é porque não se conforma com o real estado da realidade. E nós devemos estar para a realidade como o tijolo está para a parede: a linha certa, a aresta medida. Entijole-se o homem com tendência a imaginescências. Voltando à língua fria: não será que o português não está já feito, completo, made in e tudo? Porquê esta mania de usar os caminhos, levantando poeira sem a devida direcção? Estrada civilizada é a que tem polícia, sirenes serenando os trânsitos.⁴⁵

Klarheit und Eindeutigkeit assoziiert Couto mit dem Tod.⁴⁶ In seinem Vorwort zur portugiesischen Ausgabe von Vozes anoitecidas ordnete der mosambikanische Dichter José Craveirinha das Schreiben Coutos als Nachfolge von Dias (1950er Jahre) und Honwana (1960er Jahre) ein und sprach dadurch in gewisser Weise ein Machtwort, was die Bedeutung von Coutos Schreiben betrifft.⁴⁷ Craveirinha band Coutos Erzählungen an die schmerzvolle Realität in Mosambik und an die Schwierigkeit, sie zu verstehen beziehungsweise in der Literatur zu repräsentie­ ren. Bemerkenswerterweise tritt dieser Aspekt in Coutos Schreiben in vielen wis­ senschaftlichen Beiträgen zurück. Eine der häufigsten Zuschreibungen, die zur Charakterisierung seines Werks herangezogen wird, ist die des Magischen Realis­ mus.⁴⁸

43 Entretien avec Mia Couto. In: Cahier Centre de Recherche sur les Pays Lusophones-Crepal, Nr. 3 (1996), S. 113–135, hier S. 115. 44 Vgl. Mia Couto: Escrevências desinventosas. In: ders.: Cronicando. Maputo: Ndjira 1988, S. 167–169. 45 Ebda., S. 167 f. 46 Vgl. ebda., S. 169. 47 «Uma trilogia que nos apetece exaltar como base e fase da nossa criação na arte de escri­ tor ou – porque não? – capitulo cultural importante de uma fisionomia africana com personali­ dade identificavelmente moçambicana, umas vezes nas simbologias, outras vezes em certos des­ fechos, reacções e codificações de um fatalismo místico, ritualista, aparentemente imagi-nado mas extraído da própria vida.» José Craveirinha: Prefácio da edição portuguesa. In: Mia Couto: Vozes anoitecidas. Lissabon: Caminho 1992 [1987], S. 9–12. Vgl. dazu auch Petar Petrov: O projecto literário de Mia Couto, S. 23. 48 Vgl. dazu die Angaben zur Forschungsliteratur in der Einleitung meiner Studie.

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In Mia Coutos Schreiben ist das, was etwa Harry Garuba⁴⁹ als «magische Rea­ lität» oder Irene Marques als «holistisches Weltbild» fassen⁵⁰, sicherlich präsent. In der vorliegenden Studie wird vertreten, dass die Bezeichnungen «magische Realität» oder «animistischer Realismus» (Garuba) mehr verstellen, als sie offen­ legen. Couto selbst hat in Interviews etwa darauf verwiesen, dass er als Biolo­ ge eine ganzheitliche Perspektive auf die Welt habe. So wird er etwa in einem Guardian-Artikel wie folgt zitiert: [Biology is] my way of praying, of feeling part of something bigger. It’s a language to un­ derstand our intimate relationship with the «others» – plants and animals. It’s important to regain that link between nature and humanity.⁵¹

Stets ein extra qualifizierendes Adjektiv zu Realismus zu stellen, wiederholt mei­ ner Ansicht nach die Geste der Absetzbewegung, die vor allem seit der Zeit der europäischen Aufklärung einen Dualismus von ‹rationalem Westen› und ‹magi­ schem Afrika› konstruiert hat.⁵² Das wichtigere Argument ist aber, dass es Coutos Schreiben um viel mehr geht, als um die bloße Repräsentation von etwaigen Glaubens- und Lebensprak­ tiken in Mosambik.⁵³ Auch aus diesem Grund ist das Label des Magischen Realis­ mus irreführend, denn es verstellt den analytischen Blick auf die politisch-histori­ schen Zusammenhänge, die in Coutos Werken stets eine wichtige Rolle spielen.⁵⁴

49 Harry Garuba: Untersuchungen zum animistischen Materialismus. 50 Vgl. Irene Marques: Suspending the «Lack» Through Art: African and Western Epistemologi­ cal and Artistic Intersections (Mia Couto, Wole Soyinka, Léopold Senghor, Gaston Bachelard and Mark Epstein). In: African Studies 77, Nr.1 (2018), S. 127–144. 51 Maya Jaggi: Mia Couto: «I am White and African. I like to Unite Contradictory Worlds». In: The Guardian, 11.8.2015. 52 Mit Blick auf die monotheistischen Religionen etwa ist es auch nicht üblich, von Magie zu sprechen und doch lässt sich etwa der Glaube im katholischen Christentum nicht in ein Para­ digma rational-aufklärerischer Weltauffassung im engen Sinne einpassen. Als Beispiel sei etwa die Lehre der Transsubstantiation genannt, die davon ausgeht, dass sich die Hostie während der Eucharistie wesenshaft (nicht symbolhaft) in den Leib Christi verwandelt. 53 Aus diesem Grund halte ich bestimmte Arbeiten wie etwa Irene Marques: Suspending the «Lack» Through Art für schwierig, da sie zum Teil die literarischen Texte Coutos als Informa­ tionsquellen – im Sinne eines ethnologischen Erkenntnisinteresses – für spirituelle Praktiken lesen. Sie riskieren, die künstlerische Qualität des literarischen Textes zu verkennen, der mit äs­ thetischen Techniken arbeitet. 54 Die Literaturkritikerin Maya Jaggi schreibt dazu in ihrem Artikel: «Initially a poet and jour­ nalist, Couto still sees himself as a ‹poet writing prose›. When I first met him in London in 1990, his debut short stories, Voices Made Night, were forging his reputation as a magical realist. Yet Couto, who turned 60 last month, is dismissive of a ‹label not created by writers. In Colombia,

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Der Einsicht, dass zentrale Konzepte der afrikabezogenen europäischen Geis­ tes- und Sozialwissenschaften kritisch zu reflektieren sind, sind etwa Hartmut Böhme in seiner Studie Fetischismus und Kultur⁵⁵ sowie die Autor:innen des von Irene Albers und Anselm Franke verantworteten Sammelbandes Animismus. Re­ visionen der Moderne⁵⁶ gefolgt. Die in diesem Kapitel vorgestellten Analysen des Romans Ó último voo do fla­ mingo von Mia Couto versuchen, diese Einsichten auch für die literaturwissen­ schaftliche Interpretationsarbeit fruchtbar zu machen. Die Verfahren des Romans Ó último voo legen nahe, dass es um eine kritische Bezugnahme auf eurozentristi­ sche Perspektiven auf Afrika geht. Damit verweist der Roman auch auf ein Deside­ rat in den Literaturwissenschaften, die etwa durch vorgefertigte Zuschreibungen den hochreflexiven Zugriff mancher Texte überdecken. Coutos Roman thematisiert weniger eine etwaige ontologische Differenz zwi­ schen europäischer und mosambikanischer Lebensrealität als solche. Vielmehr verfolgt der Text den Prozess und die Konsequenzen dieses Vergleichenwollens, der historisch mit der Kolonialisierung und der Ausgrenzung von Afrikaner:innen verbunden⁵⁷ war und dessen Gestus – das Beharren auf der ‹Andersheit› und eine daraus abgeleiteter eigener Dominanzanspruch – sich in Mosambik etwa bei der ONUMOZ-Mission der Vereinten Nationen wiederholt hat, die, wie bereits erläu­ tert, mit Gewaltexzessen gegen Mosambikaner:innen verbunden war.

Mexico, Nigeria, Mozambique, it’s the real thing, not magic, and the only way to tell these sto­ ries.› When an ox ‹bursts without so much as a moo›, its flesh transformed into ‹red butterflies› this is not the supernatural, but a child’s uncomprehending perception of a land mine.» Maya Jaggi: Mia Couto: «I am white and African». 55 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. 56 Vgl. Irene Albers/Anselm Franke (Hg.): Animismus. 57 «Man löst den Fetischismus nicht auf, sondern unterliegt ihm umso eher, als man ihn beim Anderen und nicht im Selbst identifiziert, in der anderen Kultur, der anderen Gesellschaft, der anderen Schicht, der anderen Gruppe. Das Vertrackte des Fetischismus, das Marx zum Unglück seiner Nachfolger nicht verstanden hatte, besteht nämlich darin, dass man ihn bei sich selbst umso eher verstärkt, als man ihn beim Anderen kritisch verfolgt. Der Fetischismus der Anderen ist zumeist der projizierte eigene. Der Umgang mit kolonisierten Völkern, mit ethnischen Minder­ heiten, mit kulturell Fremden, mit sexuellen Außenseitern hat dies blutig bewiesen.» Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 229 f.

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3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie Die UN-Soldaten werden in Mia Coutos Roman als Nachfolger kolonialer Beherr­ scher inszeniert. Die seltsamen Explosionen, bei denen die Soldaten verschwin­ den und jeweils nur ihr Glied übrigbleibt, können als Kritik neokolonialer Wertund Weltvorstellungen verstanden werden. Dabei wird der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie entlarvt. Die folgenden Analysen entfalten diese These und arbeiten heraus, wie der Roman O último voo do flamingo diese Kritik vor allem durch eine nuancierte Bearbeitung der portugiesischen Sprache vollzieht. Die Frage nach dem Umgang mit der kolonialen Sprache, dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit sowie der Suche nach einem eigenen literari­ schen Ausdruck sind Themen, mit denen sich alle nachkolonialen Nationen – jen­ seits der jeweiligen Spezifika – beschäftigt haben. Mia Coutos Schreiben setzt sich in besonderer Weise mit der portugiesischen Sprache auseinander, indem der Au­ tor etwa mit Neologismen, Wortspielen und intertextuellen Verweisen arbeitet.⁵⁸ Coutos Roman O último voo do flamingo ist in hohem Maße autoreflexiv und wirft gleich zu Beginn Fragen darüber auf, inwiefern die portugiesische Sprache mo­ sambikanischen Kontexten gerecht werden kann. Damit verknüpft ist auch der Austauschprozess zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck. Der Roman beginnt mit einem Vorwort des Ich-Erzählers, das mit ‹O tradutor de Tizangara› (UV, S. 12)⁵⁹ unterzeichnet ist. Das Textsubjekt stellt sich selbst als Übersetzer vor, der den im Folgenden geschilderten Ereignissen beigewohnt habe: Fui eu que transcrevi, em português visível, as falas que daqui se seguem. Hoje são vozes que não escuto senão no sangue, como se a sua lembrança me surgisse não da memória, mas do fundo do corpo. É o preço de ter presenciado tais sucedências. Na altura dos acontecimentos, eu era tradutor ao serviço da administração de Tizangara. Assisti a tudo o que aqui se divulga, ouvi confissões, li depoimentos. Coloquei tudo no papel por mando de minha consciência. Fui accusado de mentir, falsear as provas de assassinato. Me condenaram. Que eu tenha mentido, isso não aceito. Mas o que se passou só pode ser contado por palavras que ainda não nasceram. Agora, vos conto tudo por ordem de minha única vontade. [. . . ] (UV, S. 11; eigene Hervorhebung)

58 Vgl. dazu auch die Ausführungen im Forschungsbericht im ersten Kapitel der vorliegenden Studie. 59 In der hier verwendeten Ausgabe des Romans O último voo do flamingo von Caminho sind das Vorwort, mündliche Figurenrede sowie die als Briefe ausgewiesenen Kapitel kursiv gesetzt (was der Gestaltung aller Texte von Couto entspricht, wie sie im Verlag Caminho erschienen sind). Ich übernehme für eine bessere Lesbarkeit diese Kursivsetzung in den hier angegebenen Zitaten nicht, da sie keine Hervorhebung im eigentlichen Sinne ist.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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In der Passage sind zahlreiche Hinweise auf die zentrale Denkfigur des Romans, das Übersetzen im weitesten Sinne, enthalten. Auffällig ist zunächst, dass der IchErzähler als Übersetzer – nicht als Dolmetscher – beauftragt wird. Seine Domäne ist also das geschriebene Wort. Er gibt an, das Mündliche ins Schriftliche übertra­ gen zu haben. Der Fachterminus «transcrever» deutet an dieser Stelle mit Nach­ druck auf die Schreibbewegung hin. Der Erzähler ist Übersetzer auch jenseits der sprachlich-exakten Übertragung: Er fungiert als Vermittler in einer komplexen kommunikativen Situation und bewegt sich zwischen allen am Plot beteiligten Fi­ guren. Dabei kann er auf unterschiedlichste Informationsquellen zurückgreifen. Er gibt an, unmittelbarer Zeuge und vermittels der Aussagen Dritter auch sekun­ därer Zeuge zu sein. Diese Aussagen sind sowohl schriftlicher als auch mündli­ cher Natur. Seine Vermittlerrolle charakterisiert der Erzähler als schwierig und gefährlich: Der Vorwurf der Lüge habe zu einer Verurteilung geführt. Er stellt das Erzählen als Aufgabe dar, die ihm sein Gewissen auferlegt habe. Erzählen sei eine Frage von Leben und Tod.⁶⁰ Es ist bemerkenswert, dass der Ich-Erzähler in seinem Vorwort von «por­ tuguês visível» spricht. Er weist mit dieser metaliterarischen Aussage auf die besondere Situation eines Autors der lusophonen Sphäre im weltliterarischen Panorama hin: Erstens nehmen portugiesischsprachige Texte angesichts der anglophonen Dominanz noch immer eine vergleichsweise marginale Rolle ein. Zweitens hat dieses Faktum für den mosambikanischen Schriftsteller noch ei­ ne andere Virulenz.⁶¹ Sichtbarkeit meint in diesem Fall nicht nur die materielle Dimension des geschriebenen Wortes, sondern ist der selbstbewusste Ausdruck eines Ichs, das sich und seine spezifische historische Erfahrung zu artikulieren vermag. Mia Couto hat in diesem Hinblick von «cordão desumbilical»⁶² gespro­ chen und die Sprache als wichtigsten Bereich bezeichnet, in dem sich Mosambik mit seiner eigenen Geschichte produktiv auseinandersetzt: Moçambique não é um país de língua portuguesa mas a língua portuguesa é a língua da nação moçambicana. [. . . ] A língua portuguesa (a nossa língua portuguesa) é uma espinha dorsal para sedimentarmos esse corpo soberano que é a nação moçambicana. Por via desse idioma – que começou por ser a língua do Outro – estamos a romper laços. A língua é o nosso cordão desumbilical, uma linha de fronteira com os outros que nos cercam.⁶³

60 Dieses Motiv findet sich auch in Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2 der vorliegenden Studie. 61 Mia Couto hat eine weitreichende internationale Präsenz als Autor: Mehrere seiner Bücher sind übersetzt worden, unter anderem ins Englische, Deutsche, Schwedische und Hebräische. 62 Vgl. Mia Couto, Mia: Portugal visto de Maputo: As perguntas respondedoras. 63 Ebda.

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Im Vorwort des Übersetzers wird diese Suchbewegung in den Satz gefasst: «Mas o que se passou só pode ser contado por palavras que ainda não nasceram.» Die Rolle des Erzählers mit einem Übersetzer zu füllen bedeutet, einen durch­ gehenden metafiktionalen Kommentar zu installieren. Die «palavras que ainda não nasceram» greifen in metaliterarischer Perspektive auf die sodann folgende Erzählung voraus. Sie verweisen auf die Bedingung jeden Erzählens, sprachlich kreativ zu werden und Geschehenes in Worte zu kleiden. In der vom Erzähler skiz­ zierten bedrohlichen Situation, in der jedes Sprechen eine unmittelbare Gefahr bedeuten kann, bekommt diese Aussage jedoch ein größeres Gewicht. Mit Blick zurück auf das «português visível» geht es für den Erzähler darum, auf dem lin­ guistischen Sediment der europäischen Kolonialgeschichte eine neue Unabhän­ gigkeit zu gewinnen. Das ist kein Aufruf zur Geschichtsvergessenheit, sondern im Gegenteil eine gerade aus dem historischen Bewusstsein heraus kommende Selbstermächtigung durch literarisch geformte Sprache. Das Vorwort setzt durch eine Reihe von rhetorischen Fragen auch den Grund­ tenor der Erzählung, nämlich das Zweifeln und die Unsicherheit: Agora, pergunto: explodiram na inteira realidade? Diz-se, em falta de verbo. Porque de um explodido sempre resta alguma sobra de substância. No caso, nem resto, nem fatia. Em feito e desfeito, nunca restou nada de seu original formato. Os soldados da paz morreram? Foram mortos? Deixo-vos na procura da resposta, ao longo destas páginas. (UV, S. 12)

Der Ich-Erzähler stellt erstens den Realitätsbegriff in seiner Absolutheit in Fra­ ge – was aber gerade nicht darauf hinausläuft, eine wie auch immer geartete ‹an­ dere, afrikanische Realität› mit dem gleichen essentialistisch aufgeladenen Gel­ tungsanspruch zu postulieren wie eine vermeintlich ‹westliche Realität›. Zweitens hinterfragt der Übersetzer das mimetische Vermögen von Sprache, verstanden als bloße Blaupause der Welt. Damit deutet der Erzähler also darauf hin, dass die Fra­ ge der sprachlichen Repräsentation weitaus komplexer ist als es beispielsweise das ästhetische Paradigma des Sozialistischen Realismus behauptet.⁶⁴ Im litera­ rischen Raum ist die Leserin gefragt, selbst nach Antworten zu suchen. Ähnlich wie in Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre wird sie vor eine anspruchsvolle Rezeptionsarbeit gestellt und dadurch in die Verantwortung ge­ nommen. Der Ich-Erzähler zieht sich nach eigenen Angaben in der folgenden Haupter­ zählung als urteilende Instanz zurück, wie die Verwendung der Präposition «em» (statt «a») anzeigt: «deixo-vos na procura da resposta ao longo destas páginas»

64 Das insbesondere während des Kalten Krieges politisch-ideologisch aufgeladen wurde.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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(eigene Hervorhebung).⁶⁵ Die Suche nach der Antwort wird als ein zeitlich über­ schaubarer Prozess abgebildet. Gemeint ist der Prozess des Lesens. Die Selbstdar­ stellung des Erzählers als bloßes Sprachrohr ist vor allem dies: Selbstdarstellung. Sie rührt am Kern des Romans, der Frage nach den Möglichkeiten von Erkennt­ nis und nach der Qualität und Autorität dessen, was als ‹Wahrheit› und ‹Wissen› ausgewiesen wird.⁶⁶ Der oben zitierte letzte Absatz der Einleitung widerspricht gängigen Leseer­ wartungen. Dass es in der folgenden Erzählung um mehr als eine dokumentari­ sche Wiedergabe ausgewählter Ereignisse geht, deutet der zweite Satz an: «Dizse, em falta do verbo.» Das Vorwort stellt klar, dass ein alltagssprachliches Ver­ ständnis des Verbs «explodir» nicht den Gehalt der Erzählung in sich aufheben kann. Dadurch wird die – im Westen besonders oft an literarische Texte afrikani­ scher Provenienzen gerichtete – Erwartung, künstlerisch ansprechend verpackte Fakten über ‹Afrika› zu lesen⁶⁷, ironisch gebrochen. Für den Gehalt der Erzählung ist es unerheblich, ob die UN-Soldaten im allgemeinsprachlichen Sinn explodie­ ren oder nicht, wie die Antithese am Anfang dieses Satzes ausdrückt: «Em feito o desfeito, nunca restou nada de seu formato original.» Im zweiten Satzteil nach dem Komma folgt eine doppelte Verneinung. Diese betont, dass es immer nur Ver­ änderung gibt und damit keine unveränderlichen Gegebenheiten im Sinne eines «Originals». Die stets durch den Erzähler vermittelte Rede verweist auf das orale Erzählen, wie Petrov vertritt: Como se pode constatar, é a narração na 1a pessoa que ocupa um lugar central, circunstância enfatizante que sublinha a presença de modelos tradicionais da arte popular. Isto porque os vários enunciadores estão sempre a recontar histórias ouvidas, para além das presenciadas, com toda a performance obrigatória na transmissão de um saber por via oral.⁶⁸

Coutos Roman O último voo gliedert sich in 21 Kapitel, die eigene Überschriften tragen und denen jeweils ein Motto vorangestellt ist. Petrov stellt heraus, dass die

65 Das erweiterte Objekt «procura da resposta» wird in Verbindung mit «em» wie eine lokative Konstruktion gehandhabt, die im Portugiesischen – durch die Unterscheidung von «para» und «em» – eine zeitliche Komponente miteinschließt. Der Ausdruck «deixar alguem na/no. . . » ist etwa bekannt in den Verbindungen «deixar alguem na mão» (etwa: «jemanden im Stich lassen/ hängen lassen»). 66 Vgl. zum Standpunkt des Erzählers auch Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 162 f. 67 Vgl. für eine Kritik an solchen Lesarten Patrick Chabal: The Postcolonial Literature of Luso­ phone Africa, S. 84. Es geht an der angegebenen Stelle um eine Diskussion über Coutos ersten Roman Terra sonâmbula. 68 Petar Petrov: O projecto literário de Mia Couto, S. 46.

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gesamte narrative Prosa Coutos eine Nähe zum conto aufweise; vor allem durch die Struktur der Romane, die als Kette einzelner contos verstanden werden kön­ ne.⁶⁹ Die in O último voo durch die Wiedergabe von Briefen und langen, szenisch wirkenden Dialogen angelegte Vielstimmigkeit kann als ein Merkmal des oralen Erzählens gelten, das in die Schriftlichkeit übertragen wurde.⁷⁰ Von Guimarães Rosa übernahm Couto den Begriff «estória», wie er im brasi­ lianischen Portugiesisch verbreitet ist, statt «história».⁷¹ Das wichtigste Merkmal der anekdotenhaften estória ist nach Guimarães Rosa, dass sie eine Art Volksmär­ chen ist und mit populären Motiven arbeitet.⁷² Das findet sich in Coutos Roman O último voo in Form des Derben, Grotesken und Ungeschönten wieder: Die Blau­ helm-Soldaten verschwinden und es bleibt nur ihr Geschlechtsorgan zurück. Das wiederum schafft ebenfalls eine gewisse Nähe zum pikaresken Roman, der in Eu­ ropa entstanden ist.⁷³ Dort wird eine schwankhafte Geschichte aus der Perspek­ tive einer jungen Figur erzählt, die nicht zum Establishment gehört. Diese begibt sich auf eine Reise und trifft dabei auf Angehörige verschiedener gesellschaftli­ cher Schichten. Der Ich-Erzähler in Coutos Roman ist abweichend hiervon zwar nicht ungebildet, bewegt sich aber wie der pikareske Held in unterschiedlichen Milieus der Gesellschaft. Allerdings entwickelt Coutos Roman im Verlauf eine im­ mer stärker werdende Tragik, wodurch der komisch-groteske Zug des Textes in den Hintergrund tritt.⁷⁴

69 Vgl. ibd., S. 34. Bedauerlicherweise kippen die insgesamt luziden Analysen und intertextu­ ellen close readings Petrovs zuweilen in stark verallgemeinernde Essentialismen, etwa wenn er schreibt: «Verifica-se, assim, uma clara tendência para a exploração do conto como género, cuja eleição representa uma apropriação de matrizes enraizadas nas origens mais profundas da cultura africana. Como é sabido, o conto oral, nas suas várias formas, assume uma importância particu­ lar em África porque representa um meio privilegiado de transmissão de conhecimentos de ordem moral, filosófica e religiosa. Representa, na sua essência, um reservatório de valores culturais e tem a ver directamente com os problemas básicos da existência do africano.» Ebda.; eigene Her­ vorhebung. 70 Vgl. ebda., S. 43 und S. 45. 71 Via ebda., S. 30. 72 Vgl. ebda. 73 Der von einem anonymen Verfasser geschriebene El Lazarillo de Tormes von 1554 ist der zen­ trale Bezugstext für den pikaresken Roman. Vgl. für eine historisch rückgebundene Interpreta­ tion, die auch eine Neubewertung der Bedeutung des Textes für die romanischen Literaturen vornimmt Susanne Zepp: Herkunft und Textkultur, S. 85–108. 74 Das ist ein Grund, warum ich Coutos Roman nicht dem «postmodernen pikaresken Roman» zuschlage, so wie Elze ihn charakterisiert. Vgl. Jens Elze: Postcolonial Modernism and the Pi­ caresque Novel. Literatures of Precarity. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2017. Außerdem geht es Elze um die materielle Dimension in vor allem postkolonialen Kontexten, die er gleichsam als die Kehrseite des globalen Neoliberalismus versteht. Dahingegen ist die Kritik in Coutos Roman

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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Die Erzählung wird als ein Bericht von den Rändern ausgewiesen. Der IchErzähler, der sich im Vorwort als Beobachter und Zeuge ausweist, beschreibt im ersten Kapitel seine Perspektive auf das Geschehen. Dort kommentiert er seine Position als Zuschauer, als die UN-Delegation das Dorf Tizangara erreicht: «Tam­ bém eu me cheguei, parado nas fileiras mais traseiras, mais posto que exposto. Avisado estou: atrás é onde melhor se vê e menos se é visto» (UV, S. 17). Hier wird ein Nachteil – die Position in der Peripherie – ins Positive gewendet. Wichtig ist, dass mit dem Übersetzer ein Bewohner des Dorfes Tizangara die Geschehnisse erzählt. Zwar gibt er zu großen Teilen das von dem UN-Ermittler Massimo Risi gesammelte Material wieder, jedoch beschränkt sich das auf auf­ genommene direkte Reden. Die Frage, wer kann, wer soll, wer erzählt letztlich diese Geschichte aus Mosambik ist vor dem Hintergrund der europäischen Ko­ lonialherrschaft entscheidend. Es geht im Kern um Deutungshoheit. Lange Zeit dominierten Geschichten über afrikanische Konstellationen, die aus einer west­ lich-europäischen Perspektive geschrieben wurden. Es ist bezeichnend, wenn die Figur Massimo Risi ihre schriftlichen Aufzeichnungen und Fotos der Recherchen nicht benutzen kann.⁷⁵ Die Dokumente sind physisch noch vorhanden, die Worte und Abbildungen auf den Papieren jedoch verschwunden. Das ist eine Metapher dafür, dass eine europäische Figur über mosambikanische Geschichtserfahrung aus ihrem Blickwinkel und mit ihren Worten nicht erzählen kann und soll.⁷⁶ In O último voo werden beständig Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhan­ delt. In den 21 Kapiteln des Romans rücken – vermittelt durch den Erzähler – ver­ schiedene Figuren und ihre Sicht der Dinge in den Fokus. Das Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird durch den Übersetzer selbst eta­

viel weitreichender als Elzes Bestimmung: «The picaresque’s specific modernist dimension, on the other hand, does not offer a critique of the universality of modernity or the temporalities of his­ tory, but exposes the material obstacles that prevent physical inclusion into the realm of moder­ nity and the ‹cruel optimism› that continues to enlist people’s hopes and efforts in a capitalist promise of permeability that is contained by the permanence of quasi-cosmological hierarchy.» Ebda., S. 8; eigene Hervorhebung. 75 «Eram papéis de fotografia, mas em branco. Era esse o mistério – aqueles papéis e aquelas imagens não eram virgens. Até ali estavam maculados por letras, por imagens gravadas. Aqueles eram as provas, os materiais que o italiano acumulava para mostrar aos seus chefes.» UV, S. 158. 76 Eine ganz ähnliche Konstellation findet sich in Chimamanda Ngozi Adichie: Half of a Yellow Sun. London: Fourth Estate 2006. Das Buch handelt vom nigerianischen Bürgerkrieg zwischen 1967 und 1970, der auch als Biafra-Krieg bekannt wurde. Eine heterodiegetische Erzählstimme spricht mit multipler Fokalisierung aus drei verschiedenen Perspektiven. Eine davon ist die des britischen Journalisten Richard, der stets kundtut, ein Buch über den Biafra-Krieg schreiben zu wollen. Einige Male verliert er jedoch seine Aufzeichnungen bzw. diese werden zerstört. In dem Roman wird überdies mehrfach auf ein solches Buch verwiesen. Erst am Ende enthüllt sich, dass der Protagonist des Romans, Ugwu, ein ehemaliger Kindersoldat, das Buch verfasst hat.

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bliert, der sich üblicherweise in der Sphäre des Schriftlichen bewegt. Zugleich hat der UN-Gesandte Massimo Risi den Auftrag, die Aussagen der Dorfbewoh­ ner:innen als mündliche Zeugnisse aufzuzeichnen. Ironisch wird hier eine be­ stimmte klischeehafte Zuschreibung gebrochen; weder der ‹Westen› noch ‹Afrika› haben das Monopol für eine der beiden Ausdrucksformen. Die Spur der Ironie lässt sich auf Ebene der Mottos weiterverfolgen, die je­ dem der Kapitel vorangesetzt sind. Die überwiegende Mehrheit dieser Zitate wird in ihrem Ursprung entweder vage dem fiktiven Dorf Tizangara oder im Roman auftretenden Figuren zugeordnet; fünf der 21 Mottos werden schlicht als «Provér­ bio» klassifiziert.⁷⁷ Mündlichkeit ist zweifelsohne eines der prominentesten Stich­ wörter, wenn afrikanische Literarizität diskutiert wird.⁷⁸ Problematisch ist aller­ dings, dass Oralität oft im Sinne einer essentialisierenden Zuschreibung verstan­ den wird, die mit ‹Natur› und ‹Ursprünglichkeit› assoziiert wird.⁷⁹ Das wiederum steht in Verbindung zum Topos des ‹edlen Wilden› von Jean-Jacques Rousseau: «einem der mächtigsten Mythen der europäischen Moderne»⁸⁰, wie Küpper ihn nennt. Coutos Roman nutzt Mottos und evoziert auf diese Weise den dargelegten (wissenschafts)historischen Kontext. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Mottos, denen stets eine Gattung zugeordnet wird: dito/crença/provérbio de Ti­ zangara, provérbio, provérbio africano, fala (de alguém), palavras (de alguém), depoimento. Viele der Mottos sind als Aussagen der Figuren der histoire zuzuordnen. Sie figurieren aber gleichzeitig als Metatexte und treten somit aus der traditionellen Struktur des discours heraus. Bis auf einen Fall, in dem sich die vorangestellte Aussage als Zitat des nachfolgenden Kapitels erweist, verweisen die übrigen Mot­ tos in ihrer fragmentarischen Qualität auf ein potentiell unendliches fiktives Uni­ versum. Dies ist in Kapitel sieben besonders deutlich, dem ein «Extrato de um díalogo entre o italiano e Deusqueira» vorausgeht. Hier wird auf das Gespräch zwischen zwei Romanfiguren verwiesen, das aber im Roman nirgends wiederge­ geben wird. Indem die Aussagen fiktiver Figuren (beziehungsweise einer Figurengemein­ schaft, als die man das Dorf Tizangara verstehen kann) prominent und in Nach­ barschaft zu ausgewiesenen Sprichwörtern gesetzt werden, mokiert sich der Text über eine allzu ehrfurchtsvolle Haltung gegenüber oraler Traditionalität, die dem

77 Das ist der Fall für die Mottos der Kapitel 8, 11, 14, 16, 19. 78 Vgl. für die lusophone Forschung Ana Mafalda Leite: Oralidades & escritas pós-coloniais. 79 Vgl. ebda., S. 20. 80 Joachim Küpper: «Doscientas mil jóvenes ceibas de mil años», S. 307.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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kreativen Wandel keinen Raum zugestehen will. Indem der Roman Mottos als Sprichwörter erfindet, zeigt er überdies, dass Sprichwörter nicht losgelöst von spe­ zifischen Ursprüngen beziehungsweise Autor:innen existieren – auch wenn die­ se danach in Vergessenheit geraten sollten. Es passiert aber noch mehr: Die so herausgehobenen Aussagen der Figuren werden in eine Reihe mit intertextuellen Verweisen auf real existierende Quellen gestellt. Historisch referenzierbare und erfundene Sprichwörter unterscheiden sich nicht in ihrem epistemologischen Ge­ halt, ist das Signal dieses ästhetischen Verfahrens.⁸¹ Coutos Roman konzentriert sich in der räumlichen Deixis auf das rurale Mo­ sambik. Das Dorf Tizangara wird im Norden des Landes verortet. Die Einwoh­ ner:innen Tizangaras haben ein gleichsam hyperlokales Verständnis von Zugehö­ rigkeit: Alle, die nicht aus dem Dorf kommen, werden in gleicher Weise als fremd wahrgenommen. Das sagt beispielsweise der Zauberer Andorinho: Nada é nosso nos dias de agora. Chega um desses estrangeiros, nacional, ou de fora, e nos arranca tudo de vez. Até o chão nos arrancam. Digo isto por vistoria: não confianço em nin­ guém, estamos ser empurrados para onde não há lugar nem data certa. (UV, S. 166 f.; eigene Hervorhebung)

Andorinho deutet auf die Distanz und die Diskrepanz zwischen städtischem und ländlichem Leben in Mosambik hin. Eines der zentralen Vorhaben der FRELIMO, die mit der Unabhängigkeit 1975 die Macht beanspruchte, war die Reformierung der Verwaltungsstrukturen.⁸² Die FRELIMO fürchtete, dass die Landbevölkerung das Projekt einer neuen, sozialistischen Ordnung nicht unterstützten würde.⁸³ Nach dem Bürgerkrieg zwischen FRELIMO und RENAMO⁸⁴ wurde 1992 das Frie­ densabkommen unterzeichnet und die RENAMO hatte sich in weiten Teilen Mittelund Nordmosambiks als politische Kraft etabliert.⁸⁵ Bereits kurz davor hielt die FRELIMO selbst die Einsicht fest, dass sie die ländlichen Gegenden in Mosambik

81 Diese Praxis wird in Coutos Roman Vinte e zinco noch weiter diversifiziert und ausgebaut. Ich habe mich an anderer Stelle ausführlicher damit beschäftigt. Lucia Weiß: The Representation of History in Poetic Space. Strategies of Polyphony in Contemporary African Novels: Boubacar Boris Diop’s Murambi and Mia Couto’s Vinte e zinco. In: Susanne Gehrmann u. a. (Hg.): Crossings and Comparisons (Arbeitstitel). 2021 (in Vorbereitung). 82 Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 192–196. 83 Vgl. ebda., S. 192. 84 Inwiefern sich der Rückhalt der 1975 gegründeten anti-kommunistischen Gegenbewegung der RENAMO auch aus der ruralen Bevölkerung beziehungsweise aufgrund der Versäumnisse der FRELIMO dort rekrutierte, ist in der Forschung umstritten. Vgl. ebda., S. 193. 85 Vgl. ebda. Vgl. für einen sehr kurzen Überblick zur erfolgreichen Integration der RENAMO als Partei in der Zeit nach dem Bürgerkrieg Patrick Chabal: Angola and Mozambique: The Weight of History. In: Portuguese Studies 17 (2001), S. 216–232, hier S. 219.

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nicht angemessen beachtet hatte. Im Bericht des Zentralkomitees zum Sechsten Parteikongress 1991, aus dem Newitt zitiert, ist die Rede von einer overestimation of the degree of collective consciousness of the popular masses [. . . ] without taking into account the economic and social complexity of the nation, the types of social relations, the dominant form of property relations, and the structural consequences of the colonial order.⁸⁶

Es darf nicht vergessen werden, dass hier die Rede vom Großteil der Bevölkerung ist: Lebten 1975 noch 80 Prozent der Mosambikaner:innen auf dem Land⁸⁷, wa­ ren es Anfang der 1990er Jahre immer noch 75 Prozent.⁸⁸ Dieser Wert ist bis zur Gegenwart auf etwa 64 Prozent gesunken.⁸⁹ Es ist kein Zufall, dass es die Figur des Zauberers ist, die die zuvor zitierte Aussage zum Verständnis von Zugehörigkeit in Tizangara macht. Den Zauberer und damit eine aus Regime-Sicht problematische Figur an dieser Stelle sprechen zu lassen verweist auf den Umstand, dass die FRELIMO im Rahmen ihres sozia­ listischen Programms ein neues gesellschaftliches Ideal durchsetzen wollte, das unter dem Schlagwort des Homem Novo bekannt wurde.⁹⁰ Der ab 1975 regierende erste Präsident des unabhängigen Mosambiks, Samora Machel – selbst ein assi­ milado – sagte 1972 vor FRELIMO-Aktivist:innen: Our watchword is Production, Study and Combat. [. . . ] The first battle is to instill national consciousness and the importance of unity and of wiping out tribalism. Closely related to the battle for unity is the struggle to wipe out the spirit of individualism and to foster a collective spirit [. . . ] the struggle against tribalism, racism, false religious and family loyalty [. . . ] is essential if the barrel of our gun is always to be trained on the correct target. [. . . ] It also gives us ammunition to wipe out superstition.⁹¹

Die FRELIMO ging repressiv gegen vermeintliche Traditionen, Aberglauben, spi­ rituelle Praktiken und ihre Anhänger:innen vor. Damit wies das neue, autoritär aufgestellte Regime weite Teile der Bevölkerung als feindlich aus.⁹² In Coutos Ro­

86 Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 193. 87 Vgl. ebda., S. 148. 88 Vgl. ebda., S. 194. 89 2018 lebten circa 36 Prozent der Menschen in Mosambik in Städten. Vgl. N. N.: CIA Factbook: Mozambique. 2018. 90 Vgl. zu den damit einhergehenden Dynamiken der gesellschaftlichen Exklusion Albert Farré: Assimilados, régulos, Homens Novos, moçambicanos genuínos: a persistência da exclusão em Moçambique. In: Anuário Antropológico 40, Nr. 2 (2015), S. 199–229. 91 Samora Machel: Mozambique. Sowing the Seeds of Revolution. 1975, S. 16–17. In: Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 156 f. 92 Vgl. Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 158 f.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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man spricht der Zauberer Andorinho von «vistória». Das ist ein Neologismus, der sich aus «história» und «visão» zusammensetzt. Dieser Ausdruck ironisiert die von der FRELIMO strikt vertretene Opposition zwischen Geschichte – verstan­ den als Modernität – und prophetischer Vision – verstanden als Rückständigkeit. Das sozialistische Regime in Mosambik reproduzierte damit koloniale Vorurtei­ le, die auf sich auf das Bemühen um sogenannte ‹zivilisatorische Fortschritte› stützte. Der Zauberer Andorinho berichtet davon, dass den Dorfbewohner:innen von den Fremden, das heißt sowohl Ausländer:innen als auch urbanen Eliten, glei­ chermaßen alles genommen werde. Sie erfahren sich als fremdbestimmt, wie hier deutlich wird. Darüber hinaus kann «vistória» in Zusammenhang mit Andorinhos Äußerung «Até o chão nós arrancam» als proleptischer Hinweis auf die Schluss­ szene des Romans gedeutet werden. Dort versinkt das Land in einem tiefen Ab­ grund. Die Einwohner:innen von Tizangara sind in einer passiven Position ge­ fangen und werden in eine nicht genau definierbare Raum-Zeit-Konstellation ge­ zwungen, also im äußersten Maße marginalisiert und einer konkreten Zukunft be­ raubt. Der in Tizangara abgeordnete Regierungsbeamte Jonas greift diese hyperlo­ kale Sichtweise auf, allerdings aus der Perspektive der herrschenden urbanen Elite. Mehrmals verweist Jonas darauf, aus dem Süden und deshalb in Tizanga­ ra fremd zu sein.⁹³ Anstatt den Kontakt mit der Bevölkerung zu suchen, besteht er nachdrücklich auf der Distanz und sucht sich in einer Geste des Othering von den Dorfbewohnern abzusetzen. Dadurch wird deutlich, wie Othering strategisch auch dazu genutzt werden kann, ein Nichtverstehen-Können zu legitimieren. In­ dem das Gegenüber als ‹anders› essentialisiert wird, ist auch jeder Versuch einer Kommunikation von vorneherein entbehrlich, da in dieser Perspektive ohnehin zum Scheitern verurteilt.⁹⁴ Das Othering war das zentrale Movens kolonialer Nar­ rative von ‹Eroberung› und ‹Zivilisationsauftrag›. Jonas imitiert hier das Kolonial­ regime, gegen das er sich einst selbst wendete.⁹⁵ Historisch gesehen berief sich die FRELIMO zwar auf das Gegen-Narrativ vom souveränen Nationalstaat, wies aber in ihren Praktiken Ähnlichkeiten zu den gesellschaftlich spaltenden Verfah­

93 Vgl. u. a. UV, S. 84 und S. 186. 94 Massimo Risi sucht im Gegensatz dazu die Kommunikation, wenn auch unter anleitender Vermittlung des Ich-Erzählers. 95 Das ruft Bhabhas Überlegungen zur mimicry auf. Vgl. Homi Bhabha: The location of culture, S. 85–92. Problematisch bei Bhabha ist seine androzentrierte Theorie, worauf unter anderem Owen hinweist. Vgl. Hilary Owen: A Hybridity of One’s Own: Re-Reading Noémia de Sousa. In: Hilary Owen/Phillip Rothwell (Hg.): Sexual, Textual Empires. Bristol: University of Bristol 2004, S. 1–22, hier S. 5–7.

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ren des Kolonialregimes auf. In Coutos Roman O último voo bleibt das Dorf für die Landbewohner:innen in Tizangara das Maß aller Dinge. Es zeigt sich, dass die rhetorische Evokation einer Nation diese noch nicht als Realität ausmacht. Sie muss erst durch und innerhalb der Gesellschaft, praktisch wie diskursiv, her­ gestellt werden. Weiterhin verweist die hyperlokale Perspektive der Dorfbewoh­ ner:innen darauf, dass auch eine einmal etablierte Nation stets divers und von historisch bedingten Bruchkanten durchzogen ist – was der FRELIMO-Rhetorik vom homogenen und geeinten Volk entgegensteht.⁹⁶ Im Mittelpunkt des Romans stehen die seltsamen Explosionen, bei denen die Soldaten der UN-Blauhelmmission verschwinden. Von den Männern bleiben stets nur ihr Glied und der charakteristische blaue UN-Helm zurück. Das erste Kapitel fasst die unerhörte Begebenheit, die der Ausganspunkt des Romans ist, in einem kraftvollen Satz: «Nu e cru, eis o facto: apareceu um pénis decepado, em plena Estrada Nacional, à entrada da vila de Tizangara» (UV, S. 17). Statt diskreter Um­ schreibungen gebraucht der Ich-Erzähler die Vokabel «pénis». Die asyndetische Satzstruktur mit dem in sich gereimten Vorschaltsatz «nu e cru» hat den Charakter einer Kurznachricht. Der Satz funktioniert wie eine Überschrift, die für Aufmerk­ samkeit sorgen soll. Auf den Zusammenhang von Ereignis und Aufmerksamkeit weist auch das Motto des ersten Kapitels hin: «O mundo não é o que existe, mas o que acontece. (Dito de Tizangara)» (UV, S. 15). Was zumeist in den Medien als Ereignis wahrgenommen wird, bestimmt die Erzählung, die gemeinhin als ‹Welt› verstanden wird. Ana Deusqueira, die örtliche Prostituierte mit dem vielsagenden Namen⁹⁷, bringt die heuchlerische Doppelmoral dieses Spiels der Aufmerksam­ keiten auf den Punkt: «Morreram milhares de moçambicanos, nunca vos vimos cá. Agora, desaparecem cinco estrangeiros e já é o fim do mundo?» (UV, S. 35). Der italienische UN-Vertreter Massimo Risi⁹⁸ – dessen Name etwa so viel wie «enor­ 96 So sagte etwa Eduardo Mondlane, der damalige Präsident der FRELIMO, in seinem letzten In­ terview eine Woche vor dem tödlichen Paketbombenanschlag am 3.2.1969: «Aber wenn der Kampf beginnt, gibt es nur das vereinte Volk von Moçambique. Auch der bedeutendste Häuptling hört in diesem Augenblick auf, einer zu sein.» Eduardo Mondlane: Eine entscheidende Herausforderung. Interview im Januar 1969 mit der frz. Zeitschrift Tricontinental. In: Barbara Schilling, Karl Unger (Hg.): Angola, Guinea, Moçambique. Dokumente und Materialien des Befreiungskampfes der Völker Angolas, Guineas und Moçambi­ ques. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter 1971, S. 42–67, hier S. 54. 97 Ihr Name bedeutet wörtlich «so Gott will». Ich komme auf den Aspekt der ‹sprechenden Na­ men› in Kapitel 3.4 zurück. 98 Vgl. für etwaige Bezüge zu der historischen Figur des italienischen UN-Kommandanten Aldo Ajello Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 161 f. Couto selbst hat diese Bezüge zurück­ gewiesen. Vgl. Mia Couto: Entrevista, 2008. In: Elena Brugioni: Mia Couto: representação, histó­ ria(s) e pós-colonialidade. Braga: Universidade do Mino, Centro de Estudos Humanísticos 2013, S. 89 f.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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mes Gelächter» bedeutet –, der mit der Aufklärung des mysteriösen Falles beauf­ tragt wird, kann auf diese Frage keine Antwort geben und bleibt stumm (vgl. UV, S. 36). Die Vorstellung der Blauhelmsoldaten im Roman macht deutlich, dass es im Verhältnis der westlichen Welt zu Afrika eine fortgeführte Kontinuität über die Ko­ lonialzeit hinaus gibt. Im Vorwort heißt es über die UN-Soldaten: «Chegaram com a insolência de qualquer militar. Eles, coitados, acreditavam ser donos de frontei­ ras, capazes de fabricar concórdias» (UV, S. 12). In ihrer Selbstwahrnehmung kon­ trollieren sie die Situation, wobei sie noch immer der kolonialen Logik verhaftet sind, so legt es der Text nahe. In dem Ausdruck «donos de fronteiras» konfluie­ ren zwei Zeitschichten der Kolonialgeschichte. Während mit «donos» («Herren») die frühere Phase des Sklavenhandels ab dem 15. Jahrhundert aufgerufen ist, er­ innert «fronteiras» an spätere Momente der Grenzziehung am Schreibtisch, wie bei der Kongo-Konferenz Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin. Der zusammenge­ setzte Ausdruck weist also darauf hin, dass (neo)koloniale Unternehmungen mit ökonomischen Interessen eng verbunden sind. Aufschlussreich ist auch der letz­ te Teil des Satzes: «capazes de fabricar concórdias.» «Fabricar» ist eine Vokabel aus dem ökonomischen Bereich, die hier unmittelbar auf die politische Sphäre angewandt ist. Die Hervorbringung von Frieden und Stabilität wird hier sehr abs­ trakt mit «concórdias» bezeichnet. Sie wird nicht als politischer Dialogprozess dargestellt, sondern erscheint als ein technisches, standardisiertes Produktions­ verfahren. Aktiv dabei sind nur die erwähnten Subjekte, die «donos de frontei­ ras». Frieden und Stabilität sind Produkte und somit direkt einer ökonomischen Logik unterworfen, so erscheint es in Coutos Roman. Das bedeutet: Einer Logik des Tauschens. Die Soldaten der internationalen Gemeinschaft werden im ersten Kapitel von O último voo als unmittelbare Nachfolger der Kolonialmacht dargestellt. Sie tragen lediglich einen anderen Namen. Die Bezeichnung «coitados» ist hochironisch. In diesem einen Satz ist eine Kernkritik des Romans prägnant zusammengefasst, nämlich jene der fortdauernden Fremdbestimmung Mosambiks durch die Welt­ gemeinschaft. Mit Blick auf die weiteren Bedeutungsdimensionen von «fabricar» fällt die Nähe zur Literatur auf, denn das Verb bedeutet auch «etwas erfinden». Die hervorgebrachte Einigung erscheint aus dieser Perspektive als eine Fiktion. Der UN-Gesandte, Massimo Risis Chef, formuliert die Erwartungen der Welt­ gemeinschaft in einer Unterredung mit dem lokalen Minister: – Não me venha com essa merda dos explodidos. Desculpe lá, mas essa eu não engulo. – Mas eu, como ministro, recebo informações. . . – Escute bem: já desapereceram cinco soldados. Cinco! Eu tenho que dar relatório aos meus chefes em Nova Iorque, não quero estórias nem lendas. – Mas o meu governo. . .

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– O seu governo está a receber muito. Agora são vocês a dar qualquer coisa em troca. E nós queremos uma explicação plausível! [. . . ] – Está certo, vou falar com a pu. . . com a prostituta. – Isso, fale. O que eu quero é esclarecer a situação. E ouça: quero tudo gravado. Não quero blá-blá, estou cansado de folclore. – Mas o depoimentos são todos unânimes: os soldados explodem! – Explodem? Como é que explodem sem minas, sem granadas, sem explosivos? Não me venha com conversa. Quero tudo gravado, aqui. (UV, S. 33 f.; eigene Hervorhebung)

Das Machtgefälle zwischen der UN-Delegation und der örtlichen Regierung ist er­ sichtlich: Der UN-Gesandte spricht fast ausschließlich in Imperativen (vgl. Her­ vorhebungen) und wiederholt sehr deutlich, was er möchte. Statt der höflicheren Form «queria» benutzt er fünf Mal «quero» beziehungsweise «queremos». Bemerkenswert ist ein Satz des UN-Gesandten, der das Verhältnis zwischen UN und Mosambik als ein Tauschgeschäft unter Ebenbürtigen darstellt: «O seu governo está a receber muito. Agora são vocês a dar qualquer coisa em troca. E nós queremos uma explicação plausível!» Es fallen die Schlüsselvokabeln «rece­ ber» und «dar em troca», mit denen sich das Prinzip des Marktes beschreiben lässt. Doch das Verhältnis zwischen UN und Landesregierung genügt keineswegs den Vorgaben eines fairen Geschäfts. Vielmehr verschleiern die Termini des öko­ nomischen Diskurses, dass es um eine ungleiche Beziehung zwischen den beiden Parteien geht, wie der Roman in seinem Verlauf herausstellt. Die Penisse, die neben den blauen Kopfbedeckungen von den UN-Soldaten übrig bleiben, stehen im Vordergrund der Aufmerksamkeit und sind zumindest vordergründig das Movens des gesamten Plots. Sie tauchen auf geheimnisvolle und unerklärliche Weise auf, wodurch ihnen etwas Magisches anhaftet. Diese Konstellation evoziert das Konzept des Fetischismus. Der Rückbezug im Roman impliziert eine kritische Stellungnahme zur europäischen Perspektive auf Afri­ ka. In der Zeit der Aufklärung verband sich aus europäischer Sicht im Fetischis­ mus-Diskurs das rassistische Bild von den Afrikaner:innen als sprunghaften und unberechenbaren Kindern mit einer latenten Sexualisierung.⁹⁹ «Afrika [. . . ] als das Land der Fetische wird zum Inbegriff einer Welt dunkel in sich kreisender Triebe»¹⁰⁰ fasst Böhme in seiner Studie Fetischismus und Kultur zusammen. In Coutos Roman wird das ironisch überzeichnet: Das, was von den UN-Soldaten übrigbleibt, sind nur die Penisse. Das kann als Anspielung auf die UN-Mission in Mosambik gelesen werden. Diese geriet in Verruf, weil es Vorwürfe sexuellen Miss­

99 Siehe dazu beispielhaft die Aussagen des Franzosen Charles de Brosse. Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. S. 199–202 und insb. S. 202 und auch S. 209, S. 229. 100 Ebda., S. 198

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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brauchs junger Frauen gab.¹⁰¹ Mit diesem Plot wird ein nicht nur verstörendes, sondern hypersexualisiertes Setting geschaffen, zu dem noch weitere Elemente beitragen. So spielt die Prostituierte Ana Deusqueira eine zentrale Rolle. Außer­ dem ist Sex allgegenwärtig in der Figur des Jonas, des örtlichen Verwaltungsbe­ amten, der mit vielen Frauen schläft. Damit stellt der Roman sexuelle Ausbeutung vor allem als Gewohnheit der Mächtigen dar.¹⁰² Das Konzept des Fetischismus wird im Roman auch auf anderer Ebene zur Darstellung gebracht. Wie bereits erwähnt betont der Romananfang gleicherma­ ßen «den Penis» – der wie bereits erläutert als Fetischobjekt erscheint – als auch «den Fakt». Beide, Fetisch und Fakt haben etwas Gemeinsames: Darauf hat unter anderem Bruno Latour mit seiner Wortschöpfung französischen «faitiche» hinge­ wiesen.¹⁰³ Ein Blick auf die Etymologie des Wortes Fetisch macht das deutlich: Fetisch und Faktum gehen auf dieselbe Wurzel zurück: factititus – das Gemachte (im Gegen­ satz zu terrigenus, das der Erde Entstammende). Wir sahen schon, dass dem die griechische Entgegensetzung von physis und techné entsprach. Beiden also, dem Fetisch wie dem Fakt, eignet Technisches. Und dies will Latour im Begriff Faitiche wiedergewinnen: ihr Gemein­ sames.¹⁰⁴

Das Wort Fetisch kommt aus dem Portugiesischen und hat sich später in ande­ ren europäischen Sprachen verbreitet. Es entstand im Rahmen der kolonialen Be­ strebungen der Portugiesen in Westafrika als Pidgin-Wort «fetisso» und wurde zunächst neben dem Wort «Idol» benutzt, das es später verdrängte.¹⁰⁵ Das Por­ tugiesische kannte im 16. Jahrhundert zunächst die Wörter «feitiço»/«feitiçaria»/ «feitiçeiro». Ausgehend davon bildeten sich Lehnwörter wie «fetish»/«fétiche»/

101 Rothwell weist darauf hin. Vgl. Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 161. Demnach gab es zwar Ermittlungen, aber letztlich keine Anklage. 102 Mit Blick auf O último voo lässt sich auch festhalten, dass sexuelle Ausbeutung den «Leuten von draußen» zugeschrieben wird, das heißt jenen, die nicht zur ruralen Bevölkerung Mosam­ biks gehören. Es ist aber nicht so, dass dies in Coutos Schreiben als exklusives Verbrechen einer bestimmten Gruppe dargestellt würde: Viele von Mia Coutos Büchern thematisieren sexuelle Aus­ beutung und Gewalt. Das drastischste Beispiel ist der Roman Jesusalém. 103 «Doch wir verwenden diese Wörter, nachdem der Hammer sie entzwei geschlagen hat: Der Fetisch ist nun nichts weiter als ein leerer Stein, auf den fälschlicherweise Bedeutung projiziert wird; der Fakt ist zur absoluten Gewißheit geworden, die sich als Hammer verwenden läßt, um al­ le Verblendungen des Glaubens zu zerschlagen.» Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Unter­ suchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Übersetzung aus dem Englischen von Gustav Roß­ ler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 334. Wichtig für den Zusammenhang ist das Kapitel 9 bei Latour, S. 327–360. 104 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 92 f. 105 Vgl. ebda., S. 179.

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«Fetisch», «[die] von Autoren außerhalb des portugiesischen Empires, vor allem von Holländern in die nordeuropäischen Sprachen verbreitet [wurden].»¹⁰⁶ Coutos Roman greift diese Nähe von Faktischem und Magischem auf: «Na nossa vila, acontecimento era coisa que nunca sucedia. Em Tizangara só os factos são sobrenaturais. E contra factos tudo são argumentos» (UV, S. 17). Der Ausdruck «os factos são sobrenaturais» erscheint nur in einer rationalistischen Perspekti­ ve als Oxymoron. Im Kontext des Romans verweist es jedoch auf die historische Beziehung zwischen Europa und Afrika, in deren Zentrum das Fetisch-Konzept gesehen werden kann.¹⁰⁷ Der Roman etabliert auf diese Weise eine kritische Per­ spektive auf die Selbstwahrnehmung der europäischen Moderne und entlarvt sie als Phantasma.¹⁰⁸ Bruno Latour formulierte das in dem ikonisch gewordenen Satz «Nous n’avons jamais été modernes»¹⁰⁹ – zugleich der Titel einer Studie von 1991, in der er die strikte Trennung von Natur und Gesellschaft in Zweifel gezogen hat. Diese vom kolonialen Europa ausgeübte epistemische Gewalt wird in Coutos Roman O último voo konsequent an Repräsentationen des Körpers gebunden. Be­ reits das Vorwort des Erzählers stellt den Körper ins Zentrum: «Hoje são vozes que não escuto senão no sangue, como se a sua lembrança me surgisse não da memória, mas do fundo do corpo» (UV, S. 11). Erinnerung ist mit dem Körper ver­

106 Ebda. 107 «Meine These ist, dass der Fetischismus eine so staunenswerte Karriere im 19. Jahrhundert durchlief, weil mit ihm auf die geheimnisvollen Kehrseiten der veränderten quantitativen und qualitativen Dynamik der ‹Gesellschaft der Dinge› reagiert wurde. Man muss sich erinnern: An­ fänglich war der Fetischismus ein peripherer Term zur Bezeichnung von unverstandenen und, im christlichen Sinn, anstößigen religiösen Praktiken, welche Missionaren, Kaufleuten und Rei­ senden in zentralafrikanischen Stammesgesellschaften auffielen. Am Ende des 19. Jahrhunderts dagegen ist der Fetischismus nicht nur weltweit ausgedehnt auf alle Formen der ‹Primitive Cul­ ture› (Tylor 1871), sondern er ist ins Zentrum der europäischen Gesellschaften gerückt. Was eine befremdliche Alterität primitiver Kulturen schien, schreckt wie eine Fratze aus allen Segmenten der europäischen Kultur selbst. Alles konnte als Fetisch und alle als Fetischist verdächtigt wer­ den, egal ob es sich um religiöse Gläubige, um sexuell Perverse, um Psychopathen, um obsessive Sammler aller Art, um besinnungslose Warenkonsumenten [. . . ] handelte. Herauswachsend aus Diskursen der frühen Religionswissenschaft und Ethnologie, wurde der Fetischismus in wenigen Jahrzehnten zu einem Schlüsselbegriff, der die Phantasmagorien des 19. Jahrhunderts decodie­ ren sollte.» Ebda., S. 19 f.; Hervorhebung im Original. 108 «Die Einsicht in den Illusionscharakter der Moderne (wir sind nie modern gewesen) liegt nicht jenseits der Moderne – in einer Postmoderne, im Dekonstruktivismus, einer zweiten oder reflexiven Moderne, die der ersten Epoche folgen würde; sondern sie gehört strukturell zu ihr. Moderne heißt gerade, dass Selbstverzauberung und ihre Aufklärung so zusammengehören wie Fetischisierung und ihre Kritik.» Ebda., S. 75. 109 Vgl. Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique. Pa­ ris: La Découverte 1991.

3.2 Das nachkoloniale Mosambik und der Phallus als Fetisch westlicher Ontologie

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bunden. Das unterläuft wiederum die in der europäischen Aufklärung postulier­ te strikte Trennung von Körper und Geist. Gleichzeitig wird diese Trennung im Roman anschaulich gemacht an der buchstäblichen Fragmentierung der UN-Sol­ daten: Der erste Satz des Romans spricht von einem «pénis decapado» (eigene Hervorhebung). Auch im Fetischismus, verstanden als Übertragungspraktik, wer­ den häufig einzelne Körperglieder oder -bestandteile (von Mensch und Tier) ein­ gesetzt: «Darin wirkt das Pars-pro-Toto-Prinzip (Synekdoché), das geradezu die Fundamentalstruktur des Fetischismus darstellt; denn in den Teilen bemächtigt man sich (der Kraft) des Ganzen.»¹¹⁰ In Coutos Roman wird also ein Verfahren aus der Praxis des Fetischismus eins zu eins in das Ästhetische übertragen. Überdies wird es genutzt, um das Konzept des Fetischismus und damit im weiteren Sin­ ne den Phallogozentrismus aufzuzeigen beziehungsweise ironisch zu brechen. Es geht darum, dass der Westen im Phallogozentrismus selbst den nur ‹Afrika› zuge­ schriebenen Fetischismus pflegt: Das abgetrennte Körperteil als Phallus ist Re­ präsentant des Logos, das sich durch die Fragmentierung verselbstständigt. Die Fixierung auf den Phallus ist bei Jacques Lacan wohl am deutlichsten: Der Phal­ lus bestimmt die symbolische Ordnung und ist unabweisbar zentral und jedem Subjekt (unabhängig vom Geschlecht) vorgängig.¹¹¹ Böhme bemerkt dazu: Der Lacan’sche Signifikant Phallus ist ein Fetisch, eine magische Größe. Der Phallus wird zum Namen des Vaters (zum Papst) ordiniert, d. h. zum höchsten Stellvertreter (Signifikan­ ten) des sich immer entziehenden Signifikats, der eine traumatische Abwesenheit verbirgt, die Kastration. Niemand im 20. Jahrhundert hat erfolgreicher als Lacan den phallischen Nar­ zissmus und Fetischismus zur Bedingung des Menschen beiderlei Geschlechts erklärt. Vor dem Hintergrund der mythischen Erzählung des Vatermordes verwandelt sich die Rationa­ lisierung, die Lacan vornimmt, in eine «Vertiefung» des mythischen Banns. Was das Totem als Repräsentant des toten Vaters und seines Gesetzes, was es als Begehren und Schuld des Stammes, als Zeichen der Gemeinschaft des Orts der Geschlechter bedeutete, das schreibt Lacan allein dem «Phallus» zu. Der Phallus nimmt dieselbe Stelle ein wie das Totem.¹¹²

Coutos Roman realisiert im ästhetischen Raum genau die Kritik, die Derrida – auf den der Begriff des Phallogozentrismus¹¹³ zurückgeht – schon formuliert hat. Die

110 Ebda., S. 190. 111 Vgl. insb. Jacques Lacan: Die Bedeutung des Phallus. In: ders.: Schriften II. Übersetzung aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Berlin/Wien: Turia + Kant 2015, S. 192–204. 112 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 434 f. 113 Derrida fasst den Kern seiner Kritik in einem Interview kurz zusammen: «Je parle surtout, depuis longtemps, des différences sexuelles, plutôt que d’une seule différence – duelle et oppo­ sitionnelle – qui est en effet, avec le phallocentrisme, avec ce que je surnomme aussi le ‹phallo­ gocentrisme›, un trait structurel du discours philosophique qui aura prévalu dans la tradition. La déconstruction passe en tout premier lieu par là. Tout y revient. Avant toute politisation féministe

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UN-Soldaten sind die Besitzer der übrigbleibenden Phalli und werden damit als Agenten des Phallogozentrismus ausgewiesen. Dass diese Enttarnung aber durch eine de-facto Kastration erfolgt, ist höchst ironisch. Es ist die örtliche Prostituier­ te, Ana Deusqueira, die zweifelsfrei bestätigt, dass die Penisse zu den UN-Solda­ ten gehören müssen (vgl. UV, S. 33). Sie kommentiert den Fund mit dem sarkasti­ schen Satz «Esse homem aí era do sexo maisculino» (UV, S. 36; eigene Hervorhe­ bung) – das heißt, der Besitzer des Penis war «zu viel Mann.» Das Motiv der vereinzelten und vom Körper abgetrennten Penisse schafft eine interessante Parallele zur surrealistischen Ästhetik, wie Maria Estela Guedes be­ merkt hat.¹¹⁴ Im Surrealismus war der «zerstückelte Körper» ein häufiges Sujet¹¹⁵, sowohl im Visuellen¹¹⁶ als auch in der Schrift mit der écriture automatique.¹¹⁷ Cou­ tos Roman bezieht sich durch den Verweis auf die surrealistische Ästhetik auch auf deren historische Stellung. Analog zur Avantgarde, die die Erkenntnisse der Psychoanalyse ernstnahm und aufgriff, kritisiert der Roman den Phallogozentris­

(et, bien que je m’y sois souvent associé, à certaines conditions), il importe de reconnaître cette puissante assise phallogocentrique qui conditionne à peu près tout notre héritage culturel. Quant à la tradition proprement philosophique de cet héritage phallocentrique, elle est représentée, de façon certes fort différente mais égale, aussi bien chez Platon que chez Freud ou Lacan, chez Kant que chez Hegel, Heidegger ou Lévinas. Je me suis employé à le démontrer en tout cas.» Jac­ ques Derrida: Autrui est secret parce qu’il est autre. Interview mit Antoine Spire. In: Le Monde de l’éducation, Nr. 284 (2000). Vgl. für einen Überblick auch Anna Babka/Gerald Posselt: Gender und Dekonstruktion. Stuttgart: utb 2016, S. 82–83. 114 Vgl. Maria Estela Guedes: Travessia do bom selvagem pela selva surrealista. In: Revista Tri­ plov, Nr. 59 (2016), ohne Seitenzahl. Guedes schlägt überdies eine intertextuelle Lesart für die «órgãos genitais masculinos, pendurados nos ramos das árvores» vor, die sie wie es scheint über das Verb «pendurar» etabliert. Dadurch ergäben sich Verweise auf den Psalm 136, der sowohl von Camões (in dem Lied ‹Super flumina›) und Mallarmé (in ‹Le démon de l’analogie›) und von Herberto Helder (in Servidões) bearbeitet wird. Diese Bezüge wären durchaus spektakulär, aller­ dings hängen in Coutos Roman meines Wissens nicht die Geschlechtsorgane in den Zweigen, sondern die Helme der UN-Soldaten. Vgl. UV, S. 18: «Era uma desses bonés dos soldados das Na­ ções Unidas. Pendurado num galho [. . . ].» Möglicherweise hat Guedes eine andere Textstelle im Kopf, weist diese allerdings nicht nach. 115 Vgl. dazu Anja Seifert: Körper, Maschine, Tod. Zur symbolischen Artikulation in Kunst und Ju­ gendkultur des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 169–172. Interessanterweise ist es im Surrealismus in der Regel ein weiblicher zerstückelter Körper (vgl. ebda., S. 347) – und in Coutos Roman nicht. Vgl. dazu auch die Analysen bei Sigrid Schade: Der Mythos des «ganzen Körpers». Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als De­ konstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte. In: Ilsebil Barta u.a (Hg.): Frauen – Bilder – Män­ ner – Mythen. Berlin: Reimer 1987, S. 239–260. 116 Vgl. Anja Seifert: Körper, Maschine, Tod, S. 57 f. 117 Vgl. dazu ebda., S. 150.

3.3 Homem Novo, Macht und Gewalt am nachkolonialen Körper | 157

mus im 20. Jahrhundert und erinnert daran, dass die Erkenntnisse Freuds als nar­ zisstische Kränkung abgelehnt wurden.¹¹⁸ Dadurch wiederholt sich die Geste der «Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätsvorstellungen».¹¹⁹

3.3 Homem Novo, Macht und Gewalt am nachkolonialen Körper Coutos Roman O último voo do flamingo setzt sich nicht nur mit dem in der westli­ chen Denktradition geprägten Phallogozentrismus kritisch auseinander, sondern bezieht auch das sozialistische Programm der FRELIMO in Mosambik mit ein, das bis Anfang der 1980er maßgeblich vom Marxismus-Leninismus geprägt war.¹²⁰ Zentral für diesen Zusammenhang ist die Figur des lokalen Regierungsbeamten, Estêvão Jonas. An ihm zeigt sich, wie die mosambikanische Regierung nach der Unabhängigkeit die Paradigmen des Marxismus-Leninismus und des Homem No­ vo gleichsam zu ihrem Fetisch machte. Das ist vor dem Hintergrund der zentralen Kritik des Marxismus am Fetischcharakter des Kapitalismus mit Blick auf Waren und Geld¹²¹ eine ironische Perspektive. Im Roman wird dies in komischer Wei­ se überzogen, etwa wenn Jonas seine moralischen Verfehlungen durch intensi­ 118 «Im 20. Jahrhundert, sollte man meinen, hätten die Erkenntnisse Freuds unhintergehbar sein müssen, die Erkenntnis dessen, daß die Phantasmen des ‹ganzen› und des ‹zerstückelten› Körpers als Vorstellungsbilder die imaginierte Intaktheit des Subjekts begleiten und bis in sei­ ne erotischen Projektionen hinein in den Figuren von Fetischismus und phallischen Inszenie­ rungen und in politischen, gesellschaftlichen Machtphantasien verfolgen. Die allgemeine Ab­ lehnung und Verdrängung der Freudschen Theorien ist eben selbst als ein Effekt der narzißti­ schen Kränkungen zu verstehen, deren Funktionieren er zu analysieren begonnen hatte, und die schließlich in den kollektiven Machtphantasien eines totalitären Systems kanalisiert wurden. Al­ lein die künstlerische Avantgarde, besonders die Surrealisten, setzte sich mit der Psychoanalyse auseinander. Diese entwickelten einen Verbund von Techniken, dem Unbewußten, Verdrängten, auf die Spur zu kommen, und die Zerstückelungsphantasmen zu spiegeln.» Sigrid Schade: Der Mythos des «ganzen Körpers», S. 250 f. 119 «[. . . ] vom Ende einer alten patriarchalen Figur: der Selbstkonstitution des bürgerlichen Sub­ jekts, das sich selbst als Einheit – als autonome Entität – denkt, im Besitz der Wahrheit des Wis­ sens und der Wahrnehmung. Die narzißtische Figur, die auf dem Feld des Blicks nach der Garan­ tie eines ‹ganzen› Spiegelbildes verlangt [ . . . ].» Ebda., S. 241. 120 Vgl. Joaquim Miranda Maloa: O lugar do marxismo em Moçambique: 1975–1994. In: Revista Espaço Acadêmico 11, Nr. 122 (2011), S. 85–92, hier S. 91. Der dritte Partei-Kongress der FRELI­ MO sprach sich 1977 offiziell für den Leninismus-Marxismus aus. Vgl. Margaret Hall/Tom Young: Confronting Leviathan, S. 62–68 zur Aneignung des Marxismus-Leninismus durch die FRELIMO. 121 «Man darf sagen, dass Marx aufgeklärt-moderne Gesellschaft als eine versteckt religiöse Ge­ sellschaft ansieht, ja, zu einer solchen macht. [. . . ] Zugleich findet damit ein Doppelsprung in ei­ nen anderen Diskurstyp statt: nämlich von der religiösen Fetischexegese über die ökonomischsoziologische Analyse zur symbolischen Interpretation der Gesellschaft. Auch das Fetischkonzept

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ve Selbstkritik zu kompensieren versucht. Die repressiven Konsequenzen dieses Ideologie-Fetischismus fielen auf die Bevölkerung und vor allem auf margina­ lisierte Gruppen zurück. Anhand der Figur der Prostituierten¹²² Ana Deusquei­ ra verweist der Roman auf die sogenannten «Umerziehungslager» für Mosambi­ kaner:innen, die das Regime von 1974–1988 unterhielt. Es internierte dort Men­ schen, die als schädlich für das Projekt des Homem Novo angesehen wurden. Der Roman situiert sich zwar Anfang der 1990er Jahre – als die FRELIMO bereits der Marktwirtschaft folgte und Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds beigetreten war – bezieht aber die historische Entwicklung Mo­ sambiks mit ein. Damit wird deutlich, dass sich die Gegenwart ohne die Vergan­ genheit nicht verstehen lässt und eine ahistorische, dogmatische Perspektive – sei es eine marxistisch-leninistische oder eine neoliberale – keine schlüssige Inter­ pretation bereitzustellen vermag. Dies zeigt sich an der Figur des UN-Ermittlers Massimo Risi, der zumindest am Anfang mechanisch neoliberalem Modellden­ ken folgt und der in gewisser Weise als Homo oeconomicus verstanden werden kann. Risis Entwicklung wird in Kapitel 3.5 eingehend diskutiert, da sie eng mit den Frauenfiguren des Romans verbunden ist. Für die Nachkriegszeit in Mosambik wird die Beziehung zwischen Magie und Macht im Roman virulent: Es geht vor allem um die Macht korrupter Eliten. Macht hat aber in gewisser Weise auch etwas mit Magie zu tun: «Macht ist die Fähigkeit, etwas oder jemanden auch gegen seinen eigenen Willen zu bewegen, Max Weber sagt: dies ist die Urform der Magie.»¹²³ Die Elite konzentriert sich zunehmend auf Macht und Geld und bemüht sich, durch Korruption prestigeträchtige Insignien der Herrschaft zu bekommen. Das fällt wiederum auf die Einwohner:innen Tizangaras zurück, die durch Minenex­ plosionen sterben. Diese werden von der Regierung bewusst provoziert, um in perverser Weise für Entminungsprogramme bereitgestellte Gelder abzuzweigen. Coutos Roman arbeitet heraus, wie eng die als unmodern verstandene Tra­ dition des Dorfes, die mit magischen Praktiken einhergeht und in der Figur des

selbst wechselt dabei seinen Status: von einem deskriptiven Term, der offenbare Ritualformen so genannter einfacher Gesellschaften erfasst (so bei Comte), zu einer Metapher, welche die ver­ steckte Tiefenstruktur des modernen Kapitalismus polemisch entlarvt. [. . . ] ‹Fetisch› ist die me­ taphorische Formel für den faszinierenden und geheimnisvollen, undurchdringlichen wie ver­ schlingenden, zwischen Naturhaftigkeit und Maschinerie, Göttlichkeit und Materie schwanken­ den Schein des Kapitalismus.» Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 316 f.; Hervorhebung im Original und S. 326. 122 Vgl. für eine Untersuchung der Figur der Prostituierten in frankophonen postkolonialen Ro­ manen auch Hjördis Jendryschik: Afrikanische Bauformen des Erzählens. Spezifische Eigenarten des frankophonen Romans Schwarzafrikas. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1991, S. 134 f. 123 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 235.

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Zauberers Andorinho verkörpert wird, und die vermeintlich modernen Ideen von Marxismus-Leninismus und Kapitalismus beieinander liegen. Sie wurden von der mosambikanischen Führung jedoch als widersprüchlich und miteinander unver­ einbar bewertet. Für die meisten afrikanischen Befreiungsbewegungen war die marxistische Ideologie ein zentrales Moment im Bestreben, die kolonialen Ordnungen durch neue, sozialistische Ordnungen abzulösen. Shlomo Avineri hat deutlich gezeigt, dass Marx’ Denken, das besonders in Afrika, Asien und Lateinamerika eine große Rolle spielte, ausgesprochen eurozentrisch war.¹²⁴ Marx erwähnte die nicht-westliche Welt zum ersten Mal in seinem Kommunis­ tischen Manifest 1848, als der Westen dort schon seit langem signifikanten Ein­ fluss ausübte.¹²⁵ Bekanntermaßen sah Marx den Kapitalismus als eine notwen­ dige Vorstufe in der dialektischen Entwicklung hin zum Sozialismus. Aufgrund seines an Hegel anschließenden Geschichtsverständnisses, dass nicht-westliche Gesellschaften statisch und in dieser Hinsicht «geschichtslos» seien¹²⁶, musste Marx den Kolonialismus als unumgängliches Übel im Dienste der Entwicklung des Sozialismus in Europa sehen: Since Oriental society does not develop internally, it cannot evolve toward capitalism through the dialectics of internal change; and since Marx postulates the ultimate victory of socialism on the prior universalization of capitalism, he necessarily arrives at the position of having to endorse European colonial expansion as a brutal but necessary step toward the victory of socialism. Just as the horrors of industrialization are dialectically necessary for the triumph of communism, so the horrors of colonialism are dialectically necessary for the world revolution of the proletariat since without them the countries of Asia (and presumably also Africa) will not be able to emancipate themselves from their stagnant backwardness.¹²⁷ (eigene Hervorhebung)

Dieser blinde Fleck im Marxismus konnte für Unbehagen gerade in marxistisch orientierten Kreisen der nicht-westlichen Welt sorgen: «Consequently, Marx’s view on imperialism can be painfully embarrassing to the orthodox communist [. . . ].»¹²⁸ Es geht allerdings nicht darum, dass Marx diese Sicht gutgeheißen hätte: Die «moralische Empörung» brachte er unabhängig davon auf.¹²⁹

124 Vgl Shlomo Avineri: Introduction. In: Karl Marx: Karl Marx on Colonialism and Moderniza­ tion. Herausgegeben von Shlomo Avineri. New York u. a.: Anchor Books 1969, S. 1–31, hier S. 1. 125 Vgl. ebda., S. 2. 126 Vgl. ebda., S. 10–13. 127 Ebda., S. 13. 128 Ebda. 129 «Marx’s critique of colonial expansion thus avoids a mere moralistic stance and is deeply integrated into his general critique of European socialist society; similarly, his insistence on the

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Nach der Unabhängigkeit Mosambiks proklamierte die nationale Befreiungs­ bewegung der FRELIMO ihre ideologische Zugehörigkeit zum Marxismus-Leninis­ mus und legte ein sozialistisches Programm auf.¹³⁰ Noch in einer seiner späteren Reden im Jahr 1980 – also wenige Jahre vor der Hinwendung zu den USA und dem IWF – betonte der Präsident Samora Machel die Einheit Mosambiks: The state must be the first to be organized and totally committed to serving the interests of the people. We must always be clear that the example is set at the top. The example in the exercise of power must come from the top. If this has not yet been done fully, it is because we have not yet banged home the hammer we have in our hands. The nail has not gone in, has not reached the heart of the wood. So, our structures are weak, they are not solid, they are susceptible, they do not form a unity with all their personnel on the same road shoulder to shoulder and marching in step towards the same goal, towards development and the consolidation of socialism.¹³¹ (eigene Hervorhebung)

In Coutos Roman erinnern noch materielle Rückstände an den Marxismus-Leni­ nismus. So etwa ein Plakat, das vor dem Besuch der UN-Delegation noch schnell abgenommen werden muss: De entre a multidão figurava um bem visível cartaz com enormíssimas letras: «Boas vindas aos camaradas soviéticos! Viva o internacionalismo proletário!» O administrador deu ordem instantânea de se mandar retirar o dístico. E que ninguém entoasse vivas a ninguém. O povo andava bastante confuso com o tempo e a atualidade. (UV, S. 26)

Wo einst Sozialismus und das Primat des Proletariats postuliert wurden, haben Vertreter des Kapitalismus ihren Platz eingenommen. Als solche werden die UN im Roman dargestellt, wie die Analyse in Kapitel 3.2 bereits gezeigt hat. Mosambik suchte Anfang der 1980er die Unterstützung des Westens und der internationalen Gemeinschaft; 1983 reiste Samora Machel in die USA.¹³² Die Sowjetunion steckte ultimate necessity of colonialism is divorced from his moral indignation of its horrors. This is surely a complex attitude to adopt, and it does not translate well into the necessarily more sim­ ple-minded language of political mass organizations, as the ideological writings on the subject by most European and non-European communist theoreticians amply show. The sophistication of Hegelian dialectics cannot be easily adapted to the more prosaic need of Marxist parties of whatever coloration.» Ebda., S. 19. 130 Vgl. für die zum Teil bereits sozialistisch anmutenden Ansätze in der Zeit während der Be­ freiungsbewegung N. N.: Moçambique: Ökonomische Probleme der befreiten Gebiete. Artikel von 1970. In: Barbara Schilling, Karl Unger (Hg.): Angola, Guinea, Moçambique. Dokumente und Ma­ terialien des Befreiungskampfes der Völker Angolas, Guineas und Moçambiques. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter 1971, S. 128–132. Vgl. für einen Überblick nach der Unabhängigkeit Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 154–160. 131 Samora Machel: Every Revolution is a Contribution to Marxism (1983). 132 Vgl. Joaquim Miranda Maloa: O lugar do marxismo em Moçambique, S. 91.

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selbst in der Krise und war den «Kameraden» keine Hilfe.¹³³ Die im Kalten Krieg etablierten ‹zwei Systeme› begannen bereits porös zu werden und die Länder der sogenannten Dritten Welt suchten ihren Platz. Coutos Roman skizziert die weltpolitischen Kräfte und ihre Ideologien eher grob und überzeichnet die jeweiligen Parteien in komischer Weise, bricht diese Schemenhaftigkeit jedoch immer wieder auf, wie sich etwa an dieser Stelle zeigt. Die hochironische Szene legt nahe, dass die Armut der Menschen weiterbesteht, auch wenn der Name des politisch-ökonomischen Regimes gewechselt hat. So ist es niemandem aufgefallen, dass die Grußworte an die «camaradas soviéticos» nie verschwunden sind. Der Roman geht auf diesen Aspekt noch an anderer Stelle ein: So wohnt der UN-Ermittler Risi in einer Herberge, die zwar ihren Namen geändert von Martelo Proletário zu Pensão Martelo Jonas geändert hat, jedoch stets glei­ chermaßen desolat bleibt (vgl. UV, S. 40). Was im Sozialismus staatliches Eigen­ tum war, ist nun im Privatbesitz. Doch hat sich der Nutznießer des Wohlstandes nie geändert: «Beneath the changed symbol, the same character (Jonas) benefits at the expense of others.»¹³⁴ Dieses Detail im Roman ist vor der Folie von Machels emphatischen Proklamationen des Marxismus’ als «Sonne der Hoffnung» für die Menschen im Klassenkampf zu verstehen. So sagte er in einer Rede 1983: For the oppressed peoples and classes, for the peoples and workers who have taken control of their destiny, Marxism is a shining path, a sun of hope and certainty that never sets, a sun that is always at its zenith. Marxism, the science of revolution, is the fruit of practice, of mankind’s struggle for a better future and so is renewed and developed through human practice. The experience of revolu­ tionary struggle of the Mozambican people provides an illustration of this principle. Dear comrades, our history validates the thesis that the motive force of history is class strug­ gle. Class struggle was and is a reality on the African continent.¹³⁵

Der Ich-Erzähler im Roman O último voo kommentiert den Systemwechsel folgen­ dermaßen: «Mudam-se os tempos, desnudam-se as vontades» (ebda., eigene Her­ vorhebung). Hier wird der Vers eines bekannten Sonetts des als portugiesischer Nationaldichter verehrten Luís de Camões parodiert, wie Rothwell feststellt. Im Original heißt es: «‹Mudam-se os tempos, mudam se as vontades.›»¹³⁶ Dieser in­ tertextuelle Bezug legt nahe, dass die koloniale Ausbeutung durch Portugal in die nachfolgende Geschichte Mosambiks stets eingeschrieben bleibt.

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Vgl. ebda., S. 90. Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 165. Samora Machel: Every Revolution is a Contribution to Marxism (1983). Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 164 f.

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Ein weiterer Aspekt ist mit Blick auf die erwähnte Namensänderung des Ho­ tels relevant: Der neue Name ist eine vulgäre phallische Anspielung, was in Ver­ bindung mit den regelmäßigen Treffen von Jonas mit der Prostituierten Ana De­ usqueira zu sehen ist. Dieses Detail bedeutet aber noch mehr, denn es betont die Verbindung der Mächtigen zu sexueller Ausbeutung.¹³⁷ Ana Deusqueira wird im ersten Kapitel als selbstbewusste Frau eingeführt. Als sie eintrifft, um die Zuge­ hörigkeit des abgetrennten Geschlechtsorgans zu bestimmen, sagt sie: «Txarra! Estava pensar era uma chamada de serviço. E com taxa de urgência» (UV, S. 30). In der Vergangenheit wurde Ana zum Opfer der repressiven Maßnahmen des sozialistischen Regimes. Das Leitbild des Homem Novo machte aus der Sicht der FRELIMO eine umfassende Erziehung der Mosambikaner:innen nötig, die nicht nur durch Bildungskampagnen, sondern durch regelrechte Säuberungsak­ tionen umgesetzt wurde.¹³⁸ Es entstanden Lager¹³⁹ für «Umerziehung», gedacht für nicht regimetreue Menschen. Das schloss marginalisierte Gruppen wie Pro­ stituierte und Alkoholkranke mit ein.¹⁴⁰ Die erste dieser menschenverachtenden

137 In Coutos Roman wird Prostitution nicht per se mit sexueller Ausbeutung gleichgesetzt. Je­ doch wird anhand der Lebensgeschichte von Ana Deusqueira deutlich, dass sie der Sexarbeit mindestens aus pragmatischen Gründen nachgeht und gesellschaftlich noch immer eine prekä­ re Stellung hat. 138 Die Relevanz der exzellenten und auf umfassenden Archivrecherchen sowie Zeit­ zeug:inneneninterviews basierende Studie zu diesem in Mosambik noch immer heiklen Thema von Benedito Luís Machava: The Morality of Revolution kann m. E. gar nicht genug hervorgeho­ ben werden, da es um ein völlig verdrängtes Kapitel der mosambikanischen Geschichte geht – das aber große Teile der Bevölkerung und ihrer Familien betroffen hat und in der Erinnerung weiter betrifft. 139 «Although many people died in the camps – either due to covert executions or the harsh conditions of internment – Mozambique’s camps were not, by any stretch of imagination, closer to German camps or Stalin’s Gulag. If one takes the death toll and the number of people who revolved through the camps as valid comparative tools, Mozambique’s camps would rank as the least severe in a long list that may include camps in Eastern Europe, China, Cuba, Vietnam, North Korea, to mention only those socialist regimes with whom Mozambique authorities had close ties and from whom they gathered expertise on mass internment. Nevertheless, the less bleak charac­ ter of Mozambique’s camps compared to their more sinister counterparts does not set them com­ pletely apart from the larger family of modern institutions of mass internment, which derive – for the better or worse – from the mechanism of social control that consists of concentrating many people in one place against their will. It is under this observation that a comparative examination of Mozambique’s camps with the Soviet Gulag or the Chinese labor camps needs to be situated.» Ebda., S. 19. 140 «However, the camps and the socio-political dynamics that produced them are essentially a Mozambican phenomenon. While the ideology behind the camps derived from a tapestry of global experiences to which Mozambique authorities were exposed, the motivations and the or­ ganic character of the camps emerged from the particular context of the country’s historical tra­

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Aktionen trug den Namen Operação Limpeza und wurde ab 1974 durchgeführt.¹⁴¹ Die zweite und weitaus größere hieß Operação Produção und startete 1983.¹⁴² Zeitweise sollen bis zu 100.000 Menschen interniert gewesen sein.¹⁴³ Ana Deusqueira nimmt auf diesen völlig verdrängten Aspekt der mosambi­ kanischen Geschichte Bezug, wenn sie im 17. Kapitel (‹O passarinho na boca do crocodilo›) ihr Leben erzählt. Sie wurde gewaltsam von der Stadt auf das Land geschafft: Fui mandada para aqui pela Operação Produção. Quem se lembra disso? Atafulharam ca­ miões com putas, ladrões, gente honesta à mistura e mandaram para o mais longe possível. Tudo de uma noite para o dia, sem aviso, sem despedida. Quando se quer limpar uma nação só se produzem sujidades. (UV, S. 194)

Im Roman bekommen die Opfer der Säuberungsaktion durch die Figur der Ana eine Stimme und eine Präsenz, denn über die «sujidades» wird in der kollekti­ ven Erinnerung Mosambiks nicht gesprochen.¹⁴⁴ Anas Lebenslauf ist beispielhaft für den vieler Menschen; ihre Überlebensstrategie ist, sich teilweise anzupassen: «Como aqueles passaritos que comem na boca do crocodilo. [. . . ] Minha vida é um acerto de favores, um negócio entre dentes e maxilas dos matadores» (UV, S. 196). Die marxistisch-leninistische Ideologie, die einst der Fetisch der mosambi­ kanischen Elite unter Präsident Machel war, ist weiterhin als Rhetorik präsent. Das kann auch als Anspielung darauf verstanden werden, dass es auch damals vor allem um Worte und nicht um Taten ging. Diese Kritik wird im 16. Kapitel des Romans ausführlich zur Darstellung gebracht, wie ich im Folgenden noch näher diskutieren werde. Jonas’ Kommentar zu einer seltsam anmutenden Begebenheit ist durchzogen von marxistisch-leninistischem Vokabular. Angeblich hat ein Esel ein Menschen­ kind zur Welt gebracht, was Jonas mit eigenen Augen bezeugen sollte. Doch er verweigert, wie er seinem Vorgesetzten erzählt: Fui chamado para comprovar a verdade do acontecimento do burro. Mas recusei. Confesso, Excelência: tinha receio. Não medo, receio. E se fosse tudo factualmente autenticada ver­

jectory from a Portuguese colony to an independent state. Their physical and structural archi­ tecture, as well as the organization of daily life inside the camps reflected the general state of Mozambican society during the first decade of independence: a period marked by the enthusi­ asm of independence as well as by chronic shortages, hunger, and social strife.» Ebda., S. 20. 141 Vgl. ebda., S. 83–95. 142 Vgl. ebda., S. 112–155. 143 Vgl. ebda., S. 6. 144 Vgl. Anne Pitcher: Forgetting from Above and Memory from Below: Strategies of Legitimati­ on and Struggle in Postsocialist Mozambique. In: Africa 76, Nr. 1 (2006), S. 88–112.

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dade? Como se pode combinar a combinar a explicação da coisa conforme a antiga conjun­ tura marxista-leninista? Sabe o que eu digo? O céu está em obras só tem caído ferrugem lá das nuvens. [. . . ] (UV, S. 186)

Nicht Angst («medo») habe ihn abgehalten, sondern ein verwandtes Gefühl, die begründete Furcht («receio»). Sie tritt im Unterschied zur zuweilen diffusen Angst als Reaktion auf bestimmte Situationen, Ereignisse oder Menschen auf und grün­ det sich auf Überlegungen; etwa, dass ein anderer Mensch einem selbst Schaden zufügen wird. Die Furcht Jonas’ entzündet sich an der hyperbolisch formulierten Frage: «E se fosse tudo factualmente autenticada verdade?» Jonas scheitert bei dem Versuch, mit Hilfe des sich rational ausweisenden Diskurs, «a antiga con­ juntura marxista-leninista», die Situation zu meistern. Da die autoritär etablier­ te Theorie keine Antwort für die Lebenspraxis bereithält, flüchtet sich Jonas in eine Redensart. Das absurde Vorkommnis, um das es hier geht, bietet in seiner komischen Übertreibung eine Kontrastfolie für weitreichende philosophisch-po­ litische Fragen nach Wissen, Erkenntnis und Verantwortung. Ironischerweise stellt Jonas im Anschluss implizit klar, dass er eigentlich doch Angst hat. Das Unterbewusste lässt ihm in seinen Träumen keine Ruhe, sodass er sich wie verhext fühlt: «Lhe digo, por descargo da inconsciência: me converti num trejeitoso, pareço um desses xidakwas sem destino» (UV, S. 186). Im Text steht statt «inconsciente» («das Unbewusste») das Wort «inconsciência», also zuvorderst «Bewusstlosigkeit». Jedoch finden sich in dem Wort weitere se­ mantische Anteile: das Unbewusste, Bewusstlosigkeit im Sinne von etwas nicht im Bewusstsein haben – sei es aus Nachlässigkeit oder Dummheit – und auch die Abwesenheit von Gewissen («consciência»), wenn man das Wort als ein Kom­ positum mit negierendem Präfix liest.¹⁴⁵ Für Jonas’ Verhalten spielen alle diese Aspekte eine Rolle. Es sind sprachliche Manöver dieser Art, die Coutos Schrei­ ben so dicht machen. Hier gelingt es dem Text, in einem Wort das charakterliche Spektrum einer Figur zu bündeln. Der Roman O último voo erkundet die Diskre­ panz zwischen Begriff und Realität. Couto selbst greift in seinem Schreiben nach eigenem Bekunden auf Verfahren der Oralität in Mosambik zurück: A[a]lguns dos mecanismos que eu uso para subverter a norma são inspirados na forma como os moçambicanos se apropriam da língua portuguesa, como casam e descasam – como é que eles, usando uma língua europeia, moldam nessa língua os traços da cultura africana. Portanto, eu procuro encontrar muitas vezes essa lógica, não tanto reproduzir o que é feito, mas compreender a lógica de como é que isso é feito.¹⁴⁶ 145 Im Standardportugiesisch würde man Gewissenlosigkeit etwa durch die Formulierung «falta de consciência», «falta de/sem escrúpulos» ausdrücken. 146 Michel Laban: Moçambique. Encontro com escritores. Porto: Fundação António de Almeida 1998, S. 107.

3.3 Homem Novo, Macht und Gewalt am nachkolonialen Körper | 165

Jonas entspricht in seiner Selbstdarstellung einem tapferen Unabhängigkeits­ kämpfer. Dass er sich mit seinen unbeholfenen Worten beständig selbst des­ avouiert¹⁴⁷, stellt seine Glaubwürdigkeit in Frage. Jonas benutzt seinen Einsatz im Befreiungskrieg fortwährend als Legitimationsgrund für sein korruptes und gegen die Bevölkerung gerichtetes Verhalten. In einem Traum konfrontieren ihn schließlich zwei antikoloniale Kämpfer mit seinem moralischen Verfall: Noutro dia até tive um sonho. Nós fazíamos as cerimónias chamando os nossos heróis do passado. Vieram o Tzunguine, o Madiduane e os outros que combateram os colonos. Sentá­ mos com eles e lhes pedimos para colocar ordem no mundo nosso de hoje. Que expulsassem os novos colonos que tanto sofrimento provocavam na nossa gente. [. . . ] – Você não pediu que expulssássemos os opressores? [os heróis] – Sim, pedi. [Jonas] – Pois então estamos expulsando a si. – A mim!? – A si e aos outros que abusam do Poder. [. . . ] Os resistentes da nossa gloriósa História chutando-nos fora da História? (UV, S. 185)

Die Traumszene hinterfragt den Gehalt des Begriffes «Held» und setzt dies in Be­ ziehung zur Geschichtsschreibung. Das von der Unabhängigkeitsbewegung eta­ blierte Narrativ ihres uneingeschränkten Heldentums wird dekonstruiert. Der Mo­ dus des Traums und der bereits analysierte Begriff der «inconsciência» verweisen auf Freud: Die Kämpfer gegen den Kolonialismus und für die Unabhängigkeit Mo­ sambiks, so wie Jonas, sind in Phantasmen gefangen, verdrängen die Defizite und Fehler und werden von ihrem Unterbewussten deshalb eingeholt. Die lokalen Eliten sind formal in die Nachfolge der Kolonialmacht getreten, je­ doch ohne die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern. Stattdessen zeichnet sich die Verwaltung in Tizangara durch skrupellose Raffgier und Kor­ ruption aus. Die Lokalregierung hat ihren Sitz in einem vormals von der Kolonial­ macht genutzten Gebäude, wie der Ich-Erzähler beschreibt: Foi assim que, momentos depois, desemboquei direito o direto na sede da administração. Era o mesmo edifício dos tempos coloniais, já depurado de espíritos. O casarão tinha sido tratado pelos feiticeiros, consoante as crenças. (UV, S. 20)

Die Regierung um Estêvão Jonas und seine Frau Ermelinda wird dadurch als direk­ te Fortsetzung der kolonialen, schlechten Regierungspraktiken inszeniert, auch

147 «Sempre eu lhe [à sua esposa, eigene Anmerk.] faço lembrar meu heroísmo na luta armada. Em pleno mato, sem nada para comer, tudo em sacrifício pela libertação do povo. Certa vez, até comi Colgate.» UV, S. 85.

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wenn die Zauberer:innen die schlechten Geister vertrieben haben. Der Überset­ zer¹⁴⁸ besucht als Vermittlerfigur das Haus von Jonas, das mit Diebesgut vollge­ stellt ist: Entrei. Dentro havia mais fresco. No teto, uma ventoinha espanejava o ar. Eu sabia, como todos na vila: o administrador Jonas tinha desviado o gerador do hospital para seus mais privados serviços. Dona Ermelinda, sua esposa, tinha vazado os equipamentos públicos das enfermarias: geleiras, fogão, camas. Até saíra num jornal da capital que aquilo era abuso do poder. Jonas ria-se: ele não abusava; os outros é que não detinham poderes nenhuns. E repetia o ditado: cabrito come onde está amarrado. (UV, S. 20)

Das herrschaftliche Haus mit dem luxuriösen Mobiliar funktioniert als Zeichen der Macht und trägt dazu bei, diese zu konsolidieren, als «Darstellung der Macht.»¹⁴⁹ Wobei gilt: «Darstellung ist nicht nur Re-Präsentation. Sie verweist nicht nur auf vorgängige Bedeutungen, sondern erzeugt sie immer auch. Die Dar­ stellung von Macht ist ein wichtiger Generator ihrer selbst, ihrer Verstetigung.»¹⁵⁰ Der Übersetzer dient der Lokalregierung ebenso als Insigne ihrer Macht (vgl. UV, S. 21). Jonas und seine Frau zeigen ihren Machtmissbrauch ganz offen. Zur Rede ge­ stellt antwortet Jonas mit einem Sprichwort «Cabrito come onde está amarrado.» Im Kontext Mosambiks ist dieser Satz Synonym für eine bestimmte Haltung ge­ worden. Er beschreibt die Verweigerung jeglicher Verantwortung und die kom­ mentarlose Resignation angesichts einer Situation.¹⁵¹ Der fleischgewordene Bock taucht wenig später auf und stört die Inszenierung, die Jonas für die UN-Dele­ gation vorgesehen hat. Die Inkarnation des Bocks ist gleichsam eine maximale Hypostasierung. Die Szene gehört zu den komischsten des Romans, der vor allem am Anfang die ernste Thematik durch eine groteske Tonalität aufbricht: Estava-se nessas desconformidades quando surgiu em nossa frente um cabrito malhado. O bicho destoava das solenidades. O administrador arreganhou em surdina: – Quem é esse cabrito? – De quem é. . . – o secretário corrigiu, discreto. – Sim, de quem é essa merda? – Esse cabrito não será dos seus, Excelência?

148 Seinen Einsatz für die Lokalregierung sehen die Einwohner:innen von Tizangara durchaus kritisch. Vgl. UV, S. 28. Vgl. dazu meine weiteren Analysen in Kapitel 3.4. 149 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 255. 150 Ebda. 151 Vgl. zur Bedeutung der Redewendung in dieser Hinsicht Noé Nhantumbo: África, Moçambi­ que: sem coerência não há boa governação. Durban: Just Done Productions 2007, S. 23 und Mia Couto: Pensatempos, Textos de opinião. Lissabon: Caminho 2005, S. 7.

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A ordem para evacuar dali o caprino veio tarde de mais: as sirenes já invadiam a praça. Num segundo, os velozes viaturas encheram a praça de poeira e ruído. De súbito, a travagem aflita. E escutou-se um baque surdo, o fragor de um carro embatendo num corpo. Era o cabrito. O bicho voou que nem uma garça felpuda e se estatelou num passeio próximo. Não morreu instantâneo. Antes, ficou por ali, manchado e desmanchado, amplificando seus berros pelo mundo. Com um embate, um chifre saltou com tal ímpeto que veio esbarrar no adjunto Chu­ panha. O homem pegou no desirmanado corno e entregou-o ao administrador. – Excelência, isto é seu. (UV, S. 26 f.)

Wenn sein Helfer ihm das Horn des überfahrenen Tieres gibt, wird Jonas symbo­ lisch zur Ziege im Sinne des Sprichwortes. Außerdem bedeutet die Übergabe des abgetrennten Hornes – das als Phallus begriffen werden kann – die Entmannung, also Herabsetzung von Jonas. Das Blöken des sterbenden Tieres während des Tref­ fens mit der UN ist gleichsam ein akustisches Störsignal. Es weist nachdrücklich auf Jonas’ korrupte Attitüde hin¹⁵², der sich selbst als tapferen Helden darstellt (vgl. UV, S. 85). Der Lokal-Gouverneur Jonas ist eine Schlüsselfigur der Handlung, an der Pro­ bleme der nachkolonialen Staatsführung in Mosambik aufgezeigt werden. Er wird als unbeholfener, aber nichtsdestotrotz skrupelloser Charakter dargestellt. Das geschieht vor allem durch seine Selbstzeugnisse. Ausführlich kommt er in den Kapiteln sechs, acht und 16 zu Wort.¹⁵³ Im sechsten Kapitel ‹Primeiro escrito do administrador› richtet sich Jonas an den Provinzvorsteher. Der Ton seines Brie­ fes ist in mehrfacher Weise seinem Vorgesetzten gegenüber unangemessen: Das Schreiben ist umgangssprachlich und geht ins Intime, was Jonas mit den Worten «é uma carta muito familiar» (UV, S. 81) vorwegnimmt. So spricht Jonas ungefiltert über einen Zwischenfall, bei dem er und seine Frau ängstlich von «trovões» (UV, S. 82) geweckt werden, die sich dann jedoch als Trommelmusik anlässlich einer im Norden des Landes verbreiteten Feierlichkeit herausstellen – die Jonas kurzum verbieten lässt. Er folgt dem Leitbild des Homem Novo und lehnt offiziell «tradi­ tionelle Praktiken» des Dorfes ab. In vorauseilendem Gehorsam entschuldigt er sich in überkorrektem marxistischem Jargon: «Peço desculpa se estou enganada, faço-lhe uma autocrítica» (UV, S. 82). Seine Ehefrau nennt er «camarada esposa»

152 Mahlstedt interpretiert das abgeschlagene Horn analog zu den abgetrennten Sexualorganen und liest beide Phänomene unter dem Signum der Verwaisung als ein dauerhaftes Überbleibsel (genauer: residue im Anschluss an Raymond Williams, vgl. insb. S. 41) der Kolonialvergangen­ heit. Vgl. Andrew Mahlstedt: Recognizing the Poor: Invisibility, Immobility, and Narrative under Globalization. Madison: University of Wisconsin-Madison 2012. Dissertationsschrift, S. 99. 153 Damit die Selbstbloßstellung nicht die Figurenlogik konterkariert, gibt zum Teil der Ich-Er­ zähler diese vertraulichen Briefe gegenüber dem UN-Ermittler Massimo Risi und damit den Le­ ser:innen preis.

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(ebda.). Jonas’ Sprechen ist gesättigt mit dem marxistischen Vokabular aus der Zeit des sozialistischen Regimes. Offen stellt Jonas die menschenferne ideologische Orientierung heraus. Er be­ richtet, dass er im Sozialismus die Armen des Landes zu verstecken hatte: «Tínha­ mos orientações superiores: não podíamos mostrar a Nação a mendigar, o País com as costelas todas de fora» (UV, S. 83). Mit dem Kapitalismus und den inter­ nationalen Hilfszahlungen wurde es allerdings opportun, die Armut geradezu in Szene zu setzen: «Lembro bem as suas palavras, Excelência: a nossa miséria está render bem» (UV, S. 83). Was also ungeachtet jeglicher politischer Versprechen fortdauert ist die Armut der Menschen. Die korrupte Regierung¹⁵⁴ hat auch kein Interesse daran, das zu ändern, kann sie doch die Hilfsgelder in die eigenen Ta­ schen wirtschaften. Die Ideologien sind gleichermaßen wertentleert. Dona Erme­ linda¹⁵⁵ drückt das, nach Wiedergabe ihres Gatten, in einem zynischen doppelten Wortspiel aus: «Fomos socialistas aldrabões, somos capitalistas aldabrados. E que se antes tinha dúvidas, agora tenho dívidas» (UV, S. 104; eigene Hervorhebung). Die Lügen bleiben und aus Zweifeln sind Schulden geworden; eine Anspielung auf die Maßnahmen des IWF in Mosambik. Die seltsamen Explosionen der UN-Soldaten, die nur deren Penisse hinter­ lassen, die bereits herausgearbeiteten pikaresken Züge der Figur des Lokalgou­ verneurs Jonas sowie das Verwirrspiel mit dem orientierungslosen Massimo Risi tragen zur Komik im Roman bei. O último voo ist jedoch kein Klamauk, sondern die ironischen Überzeichnungen verweisen auf etwas anderes: Der Roman situiert sich explizit vor der historischen Folie des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Mo­ sambik, der zahlreichen Menschen ihr Leben kostete, und thematisiert die men­ schenverachtenden Praktiken in der Zeit der Sozialistischen Republik Mosambik. Diese Ambiguität zeigt sich an der Referenzierbarkeit der explosões: Sie scheint sich zunächst nur auf das Verschwinden der UN-Soldaten zu beziehen. Im Verlauf des Romans stellt sich dann heraus, dass es auch um tödliche, durch Tretminen verursachte Detonationen geht. Wie extrem die Korruption Jonas’ ist und zu welcher Pervertierung der Situation dies geführt hat, enthüllt sich gegen Ende der Erzählung. Den mysteriösen Explosionen der UN-Soldaten stehen blu­ tige Minenunfälle gegenüber, bei denen Einheimische sterben. Der Bruder von Temporina – einer Frau, der Massimo Risi und der Ich-Erzähler begegnen und

154 Vgl. bspw. den Verweis am Ende von Jonas’ Brief auf gewisse Lieferungen an seinen Vorge­ setzten, UV, S. 187. Ein weiterer Aspekt des korrupten Gefüges ist der rekurrente Verweis auf den Sohn Ermelindas und Stiefsohn Jonas’, Jossoane, und wie er in die Machenschaften verwickelt ist. Vgl. bspw. UV, S. 103. 155 Ermelinda gibt dem Geld den Vorzug und weist moralische Bedenken als unpragmatisch zurück. Vgl. UV, S. 103.

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deren Rolle ich in Kapitel 3.5 näher analysiere – kommt auf diese Weise ums Le­ ben: «Desta vez, porém, era uma explosão real, dessas a que a guerra já antes nos havia habituado» (UV, S. 157). Die Minen haben als Überbleibsel der jahrzehntelangen Auseinandersetzun­ gen den Erdboden des ganzen Landes zu einer tödlichen Bedrohung werden lassen.¹⁵⁶ An den Landminen lässt sich auch eine ökonomische Dimension der Globalisierung exemplifizieren: Sie sind extrem billig in der Herstellung und durch Waffenhandel nach Mosambik gelangt (das selbst kein Produzent von Minen war).¹⁵⁷ Außerdem veranschaulichen sie, dass Globalisierung und interna­ tionaler Kapitalismus bei weitem nicht nur Gewinner:innen hervorbringen.¹⁵⁸ Im 16. Kapitel – dem zweiten, in dem Jonas seinen Vorgesetzten adres­ siert – verdichtet sich der doppelte Bezug der Explosionen: O obséquio deste relatório é a urgência da situação nesta localidade, no âmbito dos explosi­ vos acontecimentos e dos acontecimentos explosivos. A situação em si é muitíssimo gravís­ sima, fora do controlo das estruturas político-administrativas. Suspeitamos a sabotagem do inimigo, muito-muito para nos desacreditar em face da comunidade mundial. (UV, S. 183)

Der komische Ton von Jonas, der wiederum durch marxistisch-technisches Voka­ bular geprägt ist, steht in Kontrast zu den folgenden Enthüllungen. Sie werden maßgeblich von Ana Deusqueira vorangebracht, die Jonas im 16. Kapitel bei sei­ nem Vorgesetzten in Verdacht bringen will. Was sich schließlich herausstellt, ist dies: Die lokale Regierung, tief verstrickt in Abhängigkeiten und Korruption, ver­ gräbt bereits entfernte Minen wieder, um mehr Hilfszahlungen für deren erneute Entfernung zu bekommen und direkt abzweigen zu können. Der Erzähler sagt: Em Tizangara tudo se misturava: a guerra dos negócios e os negócios da guerra. No final da guerra restavam minas, sim. [. . . ] Todavia, não era coisa que fizesse prolongar tanto os projetos de desminagem. O dinheiro desviado desses projetos era uma fonte de receita que os senhores locais não podiam despensar. [. . . ] Plantavam-se e desplantavam-se minas. Umas mortes à mistura até calhavam, para dar mais crédito ao plano. Mas era gente anónima, no interior de uma nação africana que mal sustenta seu nome no mundo. Quem se ocuparia disso? [. . . ] A verdade das minas pedia provas de sangue. Mas sangue nacional. Nada de hemorragias transfronteiriças. (UV, S. 212 f.)

156 Für einen ausführlichen Überblick mit zahlreichen weiterführenden Quellenhinweisen vgl. Andrew Mahlstedt: Recognizing the Poor, S. 107–112. 157 «So, if landmines can be read as a sign of globalization, they must exemplify the contradic­ tion inherent in the narrative of globalization as fluidity, flows, and mobility: movement in some places, or from some places to others, effects a debilitating immobility in others.» Ebda., S. 109. 158 Ebda., S. 110.

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Die perfide Logik des Geschäftemachens fasst der erste Satz in einem chiastisch angeordneten Wortspiel zusammen: «a guerra dos negócios/[e]os negócios da guerra.» Profitgier und Krieg gehen miteinander einher und bedingen sich ge­ genseitig, so die Bilanz in Coutos Roman. Zynisch nutzen die korrupten Regie­ rungsmitglieder, die sarkastisch als «senhores locais» bezeichnet werden, das rein monetäre Bewertungssystem aus, das die durchökonomisierte Welt organi­ siert. Der Tod der Einheimischen, die pejorativ als «gente anónima» umschrieben sind, wird billigend in Kauf genommen; wohl wissend, dass dies international keine große Aufmerksamkeit erregt, wie die rhetorische Frage impliziert: «Quem se ocuparia disso?» Storys sind das zentrale Produkt, das auf dem globalen Markt der Aufmerk­ samkeiten gehandelt wird, wie bereits die Analysen des Romananfangs in Kapi­ tel 3.2 gezeigt haben. Beteiligt sind in diesem Fall Hilfsgeldempfänger (wie viele Länder des afrikanischen Kontinents) und Geldgeber: westliche Regierungen und Nichtregierungsorganisationen. Eine gute Geschichte zahlt sich aus, wie die Lo­ kalregierung im Roman verstanden hat. Wahrheit muss überzeugend inszeniert werden: «A verdade das minas pedia provas de sangue.» Die Toten sorgen für die nötige Glaubwürdigkeit. «Crédito» funktioniert in diesem Zusammenhang als Scharnierbegriff. Ihm liegt das lateinische Verb «credere» («glauben») zugrunde. Hier trifft der Diskurs über Glaubwürdigkeit auf den ökonomischen Diskurs. Diese Strategie der Lokalregierung wird bereits zuvor erwähnt. In einem Brief an seinen Chef lobt Jonas dessen pragmatischen Umgang mit der Wahrheit im Kontext ka­ pitalistischer Funktionslogiken: Porém, com os donativos da comunidade internacional, as coisas tinham mudado. Agora, a situação era muito contrária. Era preciso mostrar a população com a sua fome, com suas doenças contaminosas. Lembro bem as suas palavras, Excelência: a nossa miséria está ren­ der bem. Para viver num país de pedintes, é preciso arregaçar as feridas, colocar à mostra os ossos salientes dos meninos. Foram essas palavras do seu discurso, até apontei no meu caderno manual. Essa é atual palavra de ordem: juntar os destroços, facilitar a visão do de­ sastre. Estrangeiro de fora ou da capital deve poder apreciar toda aquela coitadeza sem des­ pender grandes suores. É por isso os refugiados vivem há meses acampados nas redondezas da administração, dando ares de sua desgraça. (UV, S. 83)

Für die Aussicht auf Einnahmen aus Hilfsgeldern legt die Lokalregierung nachge­ rade eine Servicementalität an den Tag: Ohne Mühen («sem despender grandes suores») sollen die Geldgeber das sehen, was sie erwarten. Es etabliert sich eine Art Elendstourismus, der von beiden Seiten gestützt wird. In der Ökonomie der Aufmerksamkeit, die maßgeblich vom Medium Fernsehen bestimmt wird, zählt der visuelle Eindruck, wie Jonas es ausdrückt: «era preciso mostrar, colocar à mos­ tra, facilitar a visão.» In einer Art sich selbst bestätigendem Kreislauf bleiben die

3.4 Biographische Erkundung: Gesellschaftliche Fragmentierungen in der Familie | 171

Rollen dauerhaft klar verteilt zwischen dem hilfsbedürftigen afrikanischen Dorf und reichen Geldgebern von außerhalb.¹⁵⁹

3.4 Biographische Erkundung: Gesellschaftliche Fragmentierungen in der Familie Parallel zu Risis Recherche, die ich in Kapitel 3.5 näher analysiere, wird in O último voo do flamingo die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit seinen familiären Beziehungen nachgezeichnet. Beide Suchbewegungen werden miteinander eng verknüpft, so dass der Erkenntnisprozess als solcher als Coming of Age-Geschichte inszeniert wird.¹⁶⁰ Dies werde ich im vorliegenden Kapitel herausarbeiten. Wie in anderen Büchern Mia Coutos zeigt sich auch in seinem Roman O úl­ timo voo do flamingo: Das Private ist politisch.¹⁶¹ Der Vater des Ich-Erzählers hat in der Vergangenheit für die Kolonialverwaltung gearbeitet und bildet im Figuren­ ensemble einen Gegenpol zum Regierungsbeamten Jonas. Beide werden als Mo­ sambikaner dargestellt, die sich von der Unabhängigkeit ihres Landes viel erhofft haben, aber enttäuscht wurden und in unterschiedlicher Weise in Resignation verfallen: Der Vater zieht sich zurück, Jonas beteiligt sich an der Korruption der neuen Eliten. Die Mutter des Ich-Erzählers, die zum Zeitpunkt des Erzählens be­ reits verstorben ist, blieb als alleinerziehende Frau zurück. Anhand der Verknüp­ fung von Jonas’ Biographie mit der Familiengeschichte des Ich-Erzählers wird eine weitere Ebene des Übersetzungsauftrags sichtbar, den der Ich-Erzähler im Roman erfüllt. Es geht nicht nur darum, dass er zwischen europäischer und afri­ kanischer Perspektive vermittelt, sondern auch darum, dass er innerhalb Mosam­ biks zwischen den diversen Lebensgeschichten vermittelt. Erzähltechnisch wird diese Vielfalt der Erfahrungen über die sprechenden Namen der Figuren model­ liert, wie im vorliegenden Kapitel ebenfalls herausgearbeitet wird.

159 Es ist bemerkenswert, dass die Dorfgemeinschaft sich auch innerhalb des Landes abgrenzt. Mahlstedt konstatiert: «For Couto, being a foreigner has much less to do with nationality than with class and access to power.» Ebd., S. 102. 160 Rothwell sieht das auch, interpretiert den Befund aber anders: «In essence, Couto’s very astute and controversial message in this novel is that the time has come for the nation, like the narrator of the story, to grow up.» Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 166. 161 Coutos dritter Roman Vinte e zinco (1999) beschäftigt sich mit 12 Tagen unmittelbar vor und nach der Unabhängigkeit Portugals am 25. April 1974. Der Text begleitet Mutter und Schwester eines Offiziers der PIDE (Polícia Internacional e de Defesa do Estado) im ländlichen Mosambik und zeigt, wie jede private Beziehung unausweichlich politisch verstrickt ist.

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In O último voo spricht der Haupterzähler in der ersten Person und seine pri­ vate Suche nimmt großen Raum ein. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zum oralen Erzählen, wie in Kapitel 3.2 bereits diskutiert wurde. Mia Couto integriert in sei­ nem Schreiben überdies systematisch Sprichwörter beziehungsweise Aphorismen oder Maximen. Das ist in der Forschung breit zur Kenntnis genommen worden, allerdings oft mit einem gleichlautenden Ergebnis¹⁶²: Sprichwörter wurden als Ausdruck einer ‹afrikanischen› Oralität und einer spezifischen Form des Wissens verstanden und Coutos Schreiben als ‹hybrid› interpretiert. Nur wenige Arbeiten stellen überhaupt den Bezug zu spezifischen oralen Beständen her.¹⁶³ Aufschluss­ reicher ist es meiner Ansicht nach allerdings, die Sprichwörter in ihrer jeweiligen textuellen Umgebung zu untersuchen – unabhängig davon, ob sie vom Autor er­ funden wurden und nur den Anschein von Referenzierbarkeit haben oder nicht. Dies soll hier exemplarisch mit Blick auf das zwölfte Kapitel in O último voo do fla­ mingo geschehen: In diesem Kapitel (‹O pai sonhando frente ao rio parado›) trifft der Ich-Erzähler seinen Vater wieder. Zwei Mottos sind dem Kapitel vorangestellt: Queres saber onde está o gato? Pois procura no canto mais quente. (Provérbio) Se queres ver de noite passa pelos olhos a água onde o gato lavou os olhos. (Dito de Tizangara) (UV, S. 141)

Beide beziehen sich darauf, mit welchen Mitteln jemand, der etwas wissen oder tun will, zum Erfolg findet. Das erste als Sprichwort ausgewiesene Motto rät im übertragenen Sinn, zum Lieblingsplatz eines Lebewesens zu gehen, um es zu fin­ den. Das kann auf den Besuch des Sohnes bezogen werden, der seinen Vater zu­ hause aufsucht. Das zweite Motto wird als eine «Redensart aus dem Dorf Tizanga­ 162 Vgl. zu dieser Kritik Anita Martins de Moraes: Discurso etnográfico e representação na ficção africana de língua portuguesa: notas sobre a recepção crítica de Mia Couto e o projeto literário de Ruy Duarte de Carvalho. In: Via Atlântica, Nr. 16 (2009). Moraes hat sich mit diesem «Reflex» in der auf Coutos Roman Terra sonâmbula bezogenen Forschung in ihrer Dissertation auseinander­ gesetzt. Vgl. O inconsciente teórico. Investigando estratégias interpretativas de Terra sonâmbula de Mia Couto. Campinas: Universidade Estadual de Campinas 2007. Dissertationsschrift. 163 Eine der wenigen Studien dürfte Fernanda Cavacas: Mia Couto: acrediteísmos. Lissabon: Mar Além/Edição de Publicações/Instituto Camões 2001 sein. Darin stellt die Autorin Sprich­ wörter in Coutos Texten gesammelten Sprichwörter verschiedener Gruppen (Achirima, Bantu, Bitonga, Chope, Chuabo, Iao, Maconde, Macua, Marave, Ndau, Nianja, Sena, Tauara, Tewe, Thonga, Tsonga, Tsua) gegenüber. Durchaus problematisch ist, dass Cavacas diese Sprichwör­ ter aus anderen Dokumenten, etwa den Zeugnissen von kolonialen Missionaren, entnimmt. Das ist allerdings kein problematischer Punkt, der nur Cavacas’ Studie eigen wäre. Vielmehr betrifft dies viele Arbeiten, die auf kolonial geprägte Wissensbestände zugreifen (müssen).

3.4 Biographische Erkundung: Gesellschaftliche Fragmentierungen in der Familie | 173

ra» ausgewiesen. Es hat etwas mit Kontakt und Übertragbarkeit zu tun. Wieder geht es darum, selbst aktiv etwas zu tun, wenn man etwas sucht. Das Verb «ver» («sehen») ruft den Topos des Verstehens auf. Das wiederum hat mit der Reise des Erzählers zu tun, der sich mit seiner Zugehörigkeit beschäftigt. Der Erzähler wird von Massimo Risi begleitet, da er nicht allein bleiben will. Die Anwesenheit des Europäers wird zum Gesprächsanlass, da der Vater seinem Sohn schwere Vorwürfe macht, mit einem «Branco» zusammenzuarbeiten und diesen zu ihm nach Hause gebracht zu haben (vgl. UV, S. 146). In der Begegnung mit dem kreuzen sich die Suchbewegungen des UN-Ermittlers Risi und des Über­ setzers. Beide erfahren im Gespräch mit dem Vater etwas, das für ihre jeweiligen Fragen wichtig ist. Der Vater thematisiert zunächst aus seiner Sicht das Überset­ zen als kulturelle Praxis und schildert, wie es seinem Sohn gleichsam in die Wiege gelegt worden sei. Im Roman gibt der Ich-Erzähler das wie folgt wieder: E falou a explicação que jamais ouvira. Eu era um filho especial: desde cedo meu pai notara que os deuses falavam por minha boca. É que eu, enquanto menino, padecera de gravís­ simas doenças. A morte ocupara, essas vezes, meu corpo, mas nunca me chegara a levar. Nos saberes locais, aquela resistência era um sinal: eu traduzia palavras dos falecidos. Essa era a tradução que eu vinha fazendo desde que nascera. Tradutor era, assim, meu serviço congénito. (UV, S. 152)

Hier wird deutlich, dass «Übersetzen» in Coutos Roman in einem umfassenden Sinn zu verstehen ist. Der Ich-Erzähler übersetzte als Kind die Worte der Verstor­ benen; das kann auch so verstanden werden, dass er von der Vergangenheit er­ zählt hat. An einer weiteren Stelle des Kapitels geht es um das Verhältnis von Spra­ che und Welt und damit um einen Konnex, der vor allem Risis Aufklärungsarbeit der seltsamen Explosionen betrifft. Der Vater erzählt, dass der Fluss seinen Lauf gestoppt habe: – O rio parou? [perguntou o pai] O italiano me aolhou, arrelampejado. Eu sabia que não era para se responder. Ele, afinal, não falava o que dizia. Referia outro assunto. Cada coisa tem direito a ser uma palavra. Cada palavra tem o dever de não ser nenhuma coisa. Seu assunto era o tempo. Como o rio: parado é que o tempo cresce. (UV, S. 147)

Während der UN-Beauftragte Massimo Risi eine Antwort auf die Frage des Vaters erwartet, macht der Übersetzer deren rhetorische Qualität deutlich. Im Portugie­ sischen wird die semantische Nuancierung zwischen dem Akt des (Aus)sprechens und Meinens mit «falar»/«dizer» ausgedrückt: «não falava o que dizia.» Alles hat das Recht, in Worte gefasst zu werden, aber gleichzeitig bleibt es eine Freiheit in der Sprache, dass nicht jedes Wort referenzierbar sein muss, wie der Ich-Erzäh­ ler kommentiert: «Cada coisa tem direito a ser uma palavra./Cada palavra tem o

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dever de não ser nenhuma coisa» (eigene Hervorhebung). Der Chiasmus wird im zweiten Satz durch eine Negation abgeändert, so dass die gesetzte Äquivalenzbe­ ziehung von Welt und Sprache als ein inkongruentes, also nicht vollständig auf­ einander abbildbares Verhältnis herausgestellt wird. Die Worte des Vaters werden für den Erzähler der Anlass, um in konziser Form das Vermögen von Literatur zu fassen: Worte können einen semantischen Überschuss produzieren beziehungs­ weise Sinn herstellen, ohne eine spiegelbildartige Verbindung zur ‹Welt› zu haben oder haben zu müssen.¹⁶⁴ Das ist natürlich auch ein autoreferentieller Kommentar des Romans. Der Übersetzer, der die Rolle des Erzählers innehat, reflektiert diese auch. Als Kind erzählte er dem Vater (Suplício) von seinen Bootsfahrten, wie er sich im vier­ ten Kapitel (‹Apresentação do falador da estória›) erinnert: Nesse tempo, eu ainda tinha o corpo todo vivo, estava ali para as crenças e nascenças. De noite, ante a crepintação da fogueira, o velho Suplício me pedia para relatar minhas aven­ turas na barqueação. (UV, S. 55)

Das Erzählen wird mit Lebhaftigkeit verbunden, auch mit Ursprünglichkeit, wie die lautmalerisch reimende Wortpaarung «crenças»/«nascenças» nahelegt. Das erste Wort bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die noch vollkommen intak­ te intellektuelle und spirituelle Geisteswelt des Erzählers. Intakt meint hier, dass er noch nicht mit anderen Denk- und Sichtweisen in Kontakt gekommen ist, die etwaige Fragen und Konflikte aufwerfen könnten. Der Erzähler reflektiert seinen späteren Gewinn an Schulbildung als ambige Erfahrung: A escola foi para mim como um barco: me dava acesso a outros mundos. Contudo, aquele ensinamento não me totalizava. Ao contrário: mais eu aprendia, mais eu sufocava. Ainda me demorei por anos, ganhando saberes precisos e preciosos. Na viagem de regresso não seria já eu que voltava. Seria um quem não sei, sem minha infân­ cia. Culpa de nada. Só isto: sou árvore nascida em margem. Mais lá, no adiante, sou canoa, a fugir pela corrente; mais próximo sou madeira incapaz de escapar do fogo. (UV, S. 52 f.)

Die Schule erweitert seinen geistigen Horizont, eröffnet «outros mundos», jedoch regen sich widersprüchliche Gefühle: Der Erzähler spricht davon, dass ihn der Unterricht gleichsam erstickt («eu sufocva») habe. Das ist ein Hinweis auf sei­ ne schwierige Position zwischen dem geistigen Erbe seiner lokalen Wissenstradi­ tionen verbundenen Familie und der kanonisierten Schulbildung. Erst als er das 164 Gerade im mosambikanischen Kontext und mit Blick auf die anfängliche Rezeption von Mia Coutos ästhetisch elaborierten Kurzgeschichten und Romanen kann das auch als Seitenhieb ge­ gen den Sozialistischen Realismus verstanden werden, der während der Zeit des Kalten Krieges in den dominierenden Künstler:innen-Kreisen propagiert wurde.

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äußere Streben aufgibt und zur Ruhe kommt («demorei por anos») kann sich Er­ kenntnis herausbilden, was sprachlich mit dem Wortspiel «saberes precisos e pre­ ciosos» gefasst wird. Der Erzähler merkt sehr wohl, dass er sich verändert, ohne dass er es genau fassen könnte oder wollte: «Seria um quem não sei.» An dieser Stelle geht es aber weder um die romantische Überhöhung einer wie auch im­ mer gearteten ‹Ursprünglichkeit› noch ihres Gegenteils im Sinne einer vermeint­ lich überlegenen wissenschaftlichen Bildung westlicher Prägung:¹⁶⁵ Der Erzäh­ ler fügt den Satz Culpa de nada an. In seiner Sicht auf die Dinge verhält sich das Subjekt je nach Umgebung, die auch als eine historisch spezifische Konfiguration verstanden werden kann, unterschiedlich. Er gebraucht die Metapher eines Bau­ mes, der zunächst fest verwurzelt wächst. Sich selbst verortet der Erzähler – wie auch schon am Anfang des Romans¹⁶⁶ – als Außenseiter («nascida em margem»). Mit Fortgang seines Lebens wird er zu einem Kanu, losgelöst von der Erde, aber aus dem gleichen Holz. In dem sprachlichen Bild bewegt sich das Kanu sodann mit dem Lauf des Wassers. Zu einem späteren Zeitpunkt mag das Holz in der Nähe des Feuers dann in Flammen aufgehen. Die drei Elemente Erde, Wasser und Feuer markieren in der Beschreibung sich jeweils verändernde Bedingungen, zu denen sich das Holz unterschiedlich verhält. Im Wasser funktioniert es als Kanu gut, in der Nähe des Feuers kann es sich nicht anpassen und beginnt zu brennen. Die Biographie der Erzählfigur des Übersetzers ist gekennzeichnet von ei­ nem Generationenwechsel: Er hatte die Möglichkeit, die Schule zu besuchen und wohnt zwar noch im Dorf Tizangara, nicht aber im Hinterland wie der Vater. Der Roman thematisiert keinen expliziten inneren Konflikt des Übersetzers ob seines Werdegangs. Allerdings wird im Text immer wieder angedeutet, dass seine Positi­ on von den Einwohner:innen unterschiedlich gesehen wird. So heißt es im ersten Kapitel etwa: Uns se admiravam de me ver ali, entre os notáveis. Passara eu a partilhar da panela dos graúdos, a beneficiar do fogão deles? Outros me acenavam com improvisado respeito, não fosse eu um mandador de chuva. (UV, S. 28)

Die Reaktionen spiegeln einerseits das Misstrauen gegenüber der Elite und ande­ rerseits eine Bewunderung für den sozialen Aufstieg wider. In jedem Fall scheint 165 Gemeint ist hier mit Blick auf das portugiesische Kolonialregime in Mosambik die damit ein­ hergehende Einführung eines europäisch-geprägten Schulsystems. Der Text selbst gibt den Hin­ weis auf diese Verbindung, die in Portugal – wie auch in anderen kolonialen Kontexten – eng mit der Missionierungstätigkeit der christlichen Kirchen verbunden war: Es ist Padre Munhano, der den Erzähler in jungen Jahren anregt, seine ländliche Heimat in Richtung Stadt zu verlassen und ihm den Zugang zur Schule ermöglicht. Vgl. UV, S. 52. 166 «Também eu me cheguei, parado nas fileiras mais traseiras, mais posto que exposto. Avisado estou: atrás é onde melhor se vê e menos se é visto.» UV, S. 17.

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der Übersetzer keine allzu große Nähe zu den anderen Einwohner:innen zu ha­ ben. Es zeichnet sich ab, dass die Beziehungen der verschiedenen Generationen und Gruppen innerhalb der Bevölkerung fragmentiert sind. Der Übersetzer ist dennoch mit allen Figuren des Romans in Kontakt, denn er organisiert die Erzählung und vermittelt den Austausch. Die Vielfalt der Lebens­ welten wird im Roman durch sprechende Eigennamen abgebildet. Diese wirken im Sinne von Mikro-Erzählungen.¹⁶⁷ Dabei fällt auf, dass zwei Hauptfiguren nicht mit Eigennamen vorgestellt werden: der Übersetzer und seine Mutter. Das sind gleichzeitig die beiden Figuren, die jeweils die Rolle als Erzähler:in innehaben; die Mutter erzählt den Flamingo-Mythos, der für den Roman eine verklammern­ de Semantik bereithält, wie in Kapitel 3.5 herausgearbeitet wird. Für den Moment lässt sich festhalten, dass Erzählen in O último voo als ein kritischer Modus der Reflexion von Geschichtserfahrung inszeniert wird. Insofern sind die beiden na­ menlosen Figuren Platzhalter für andere Erzähler:innen und deren Namen. Die Einwohner:innen von Tizangara sowie der UN-Ermittler tragen sämt­ lich ‹sprechende Namen›, die eine Bedeutung für die Handlung haben bezie­ hungsweise diesen perspektivisch ergänzen. In dieser Hinsicht funktionieren die sprechenden Namen strukturell in ähnlicher Weise wie die bereits in Kapitel 3.2 besprochenen Mottos. Estêvão Jonas und seine Frau, Dona Ermelinda, haben in Anlehnung an die Kolonialzeit als einzige christliche Namen. Der Name Jonas ist ambig: Einerseits bedeutet er «Taube» (aus dem Hebräischen «Yochanan») und ist dadurch mit dem Konzept des Friedens verbunden. Andererseits gibt es auch die negative Konnotation im Sinne eines Zerstörers, denn der Prophet Jona – von dem sich der Name Jonas ableitet – soll zunächst der Stadt Ninive die Botschaft Gottes überbringen, dass sie für ihre Sünden ausgelöscht wird.¹⁶⁸ Im Roman wird der Lokalgouverneur häufiger mit Jonas als mit seinem ersten Vornamen erwähnt. Estêvão (Stephan) verweist auf den ersten Märtyrer der Christen.¹⁶⁹ Das passt zum Selbstbild des Lokalgouverneurs und gewinnt im Roman eine ironische Konno­ tation, wie im Folgenden noch näher besprochen wird. Ermelinda heißt so viel wie «die Große, die Herrschaftliche»¹⁷⁰ und entspricht der Selbstinszenierung der «primeira dama» (vgl. UV, S. 21 f. und S. 31 f.). Der Zauberer heißt Zeca Andorinho. Zeca ist ein geläufiger umgangssprachli­ cher Vorname im Portugiesischen. Andorinho lässt sich als männliche Form von «Andorinha» begreifen was im Portugiesischen «Schwalbe» bedeutet. Tempori­

167 Vgl. dazu auch Ana Mafalda Leite: Oralidades & escritas pós-coloniais, S. 192. 168 Vgl. Duden: Das große Vornamenlexikon. Bearbeitung von Rosa und Volker Kohlheim, Ber­ lin: Duden 2013. 169 Vgl. ebda. 170 Vgl. ebda.

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nas Name steht mit «o tempo», der Zeit, in Verbindung. Sie ist eine «velha-moça» wie es im Roman heißt und vereint in sich die alte Frau und das junge Mädchen. Sie ist es, die Massimo Risi erklärt, in Tizangara gäbe es keine Trennung zwischen den Zeitlichkeiten: «Em Tizangara não há dois mundos» (UV, S. 75). Ihre Figur und deren Funktion in O último voo do flamingo werden im folgenden Kapitel einge­ hender diskutiert. Der Adjutant von Jonas heißt Chupanga. Das Verb «chupar» wird häufig in der Wendung «chupar o dedo» gebraucht («am Daumen lutschen»). Das stellt die kindische Dimension der Figur des Chupanga heraus. Im Roman wird er als «agra­ dista» beschrieben, ein Neologismus, der auf das Verb «agradar» («jemandem ge­ fallen/es jemandem recht machen») zurückzuführen ist: «Homem mucoso, sub­ serviente – um engraxa-botas. Como todo o agradista: submisso com os grandes, arrogante com os pequenos» (UV, S. 19). Dieses Figurenarrangement wird immer wieder mit historischen Reflexionen verbunden. In seiner Erinnerung erkundet der Übersetzer, welche gelebten Er­ fahrungen mit dem Begriff des Friedens verknüpft sind und ruft das historische Datum des Friedensabkommens von 1992 auf. Als junger Erwachsener erlebte er den Friedensschluss in Tizangara und berichtet, welche Sicht die älteren Einwoh­ ner:innen auf die politische Veränderung hatten: Não tinhamos entendido a guerra, não entendíamos agora a paz. Mas tudo parecia correr bem, depois que as armas se tinham calado. Para os mais velhos, porém, tudo estava de­ cidido: os antepassados se sentaram, mortos e vivos, e tinham acordado um tempo de boa paz. Se os chefes, neste novo tempo, respeitassem a harmonia entre terra e espíritos, então cairiam as boas chuvas e os homens colheriam gerais felicidades. (UV, S. 122)

Die Hoffnung der Menschen wurde durch die Realität enttäuscht, in der unter der Führung der neuen Eliten weiterhin Ungerechtigkeit herrscht, wie der Ich-Erzäh­ ler beschreibt: «Mas, na minha vila, havia agora tanta injustiça quanto no tempo colonial. Parecia de outro modo que esse tempo não terminara. Estava era sendo gerido por pessoas de outra raça» (UV, S. 122). Der Übersetzer selbst resigniert: «Eu já não tinha crença para converter a minha terra num lugar bem assombrado» (UV, ebda.). Die Zeit des Friedens ist nach Worten des Übersetzers genauso töd­ lich wie die Zeit des Krieges: «A guerra o que havia feito de nós? O estranho era eu não ter sido morto em quinze anos de tiroteiros e sucumbir agora em meio da paz. Não falecera da doença, morria do remédio?» (UV, S. 123) Welche historischen Umstände hierfür eine Rolle spielen, wird im Roman anhand der biographischen Erkenntnissuche des Übersetzers deutlich gemacht. Die Biographie des Vaters, der für das portugiesische Kolonialregime gearbei­ tet hat, ergänzt das Spektrum der Erfahrungen im Roman. Der Vater wohnt außer­ halb des Dorfes in der Natur, nachdem er die Familie früh verlassen hat (vgl. UV,

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S. 175). Er meldet sich bei seinem Sohn zurück, als die um die geheimnisvollen Explosionen mit der Ankunft der UN-Vertreter auf ihrem Höhepunkt ist. Ein mög­ licher Grund ist, dass der Vater um die Minenexplosionen weiß, die immer wieder Mosambikaner:innen das Leben kostet (vgl. UV, S. 153). Der Vater trägt den sprechenden Namen «Suplício», was auf Deutsch so viel bedeutet wie «Körperstrafe/Qual». Sein Name stellt heraus, dass der Körper des und der Einzelnen Austragungsort für Geschichtserfahrung ist. An dieser Figur vollzieht sich materiell und sichtbar immer wieder aufs Neue Gewalt. Der gestraf­ te Körper, der überdauert, ist einerseits Mahnmal: Er zeugt von erlittenem Un­ recht. Andererseits kann der Körper selbst wieder zu einer Art Strafe für das Indi­ viduum werden. Ihm ist nicht zu entkommen, seine physische Präsenz in der Welt scheint unhintergehbar. Suplício pflegt die Gewohnheit, sich zum Schlafengehen seines Skeletts zu entledigen. Seine Eigenart macht deutlich, dass er jenseits des gestraften Körpers und nicht auf diesen reduzierbar ist. Ich komme im Folgenden noch auf einen weiteren Aspekt des im Roman beschriebenen Skelettablegens zu­ rück. Suplício hat für die portugiesische Kolonialmacht gearbeitet. Seine Frau, die Mutter des Ich-Erzählers, war damit nicht einverstanden (vgl. UV, S. 149). Die Fa­ milie erscheint fragmentiert, was die Position der einzelnen Familienmitglieder innerhalb der mosambikanischen Gesellschaft und ihre Beziehungen unterein­ ander betrifft. Getrieben durch die überraschende Konfrontation mit dem Europäer Massi­ mo Risi legt der Vater im 12. Kapitel eindringlich Zeugnis von seiner inneren Zer­ rissenheit ab. Er bezieht sich auf den Doppelstandard einer rassistischen Koloni­ alideologie, die vordergründig nach Assimilation verlangte, eine Gleichwertigkeit der in die Anpassung gezwungenen Menschen jedoch prinzipiell ausschloss: Se atrapalhou, tudo de enfiada: durante séculos quiseram que fôssemos europeus, que acei­ tássemos o regime deles de viver. Houve uns que até imitaram os brancos, pretos desbotados. Mas ele, se houvesse de ser um deles, seria mesmo, completo, os pés aos cabelos. Iria para a Europa, pedia lugar lá no Portugal Central. Não o deixavam? Como é: ou se é português ou se não é? (UV, S. 148)

Im Unabhängigkeitskrieg kämpfte Suplício schließlich auf der Seite Portugals und geriet in eine tödliche Aporie, wie seine Schilderung und die Kommentare des Erzählers, seines Sohnes, deutlich machen: Era o tempo colonial, não se brincava. Ele era quase o único preto que tinha um igual lugar. Não fora fácil. – Sofri racismos, engoli saliva de sapo. [o pai] Aprendera na tropa – só que dispara sobre o inimigo quando ele estiver perto. No caso dele, porém, ele estava tão próximo que arriscava disparar sobre ele mesmo. Ou fosse dizer: o

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inimigo lhe estava dentro. Isso que ele atacava não era um país de fora, mas uma província de si. A bandeira portuguesa não era dele. Isso ele sabia. – Mas veja bem: que mais outra bandeira eu tinha? [o pai] E se houvesse, se outra bandeira tivesse, não havia outro maestro se não aquele em que subia a bandeira portuguesa. Se fazia descortinar? É que minha mãe nunca aceitara ele ter disparado do lado dos coloniais. Em contrapartida, ela deitava glória era nos que guerrilha­ ram a favor da independência. Como se dessa banda todos fossem puros. (UV, S. 149)

Der Vater musste nicht nur sprichwörtlich «die Kröte schlucken» («engolir o sapo»), das heißt den Rassismus aushalten, sondern auch zum Geschehen schwei­ gen, was die portugiesische Redewendung «engolir a saliva» meint. Die Kombina­ tion beider idiomatischer Wendungen drückt sein doppeltes Leid aus: «engoli sa­ liva de sapo». Der Vater befand sich als Mitglied der unterdrückten Bevölkerung, aber gleichzeitig doch in vergleichsweise privilegierter Stellung als Mitarbeiter der Kolonialverwaltung in einer schwierigen Lage (vgl. UV, S. 150 f.). Die Propaganda des portugiesischen Kolonialregimes sprach von der Gemein­ schaft zwischen Portugal und seinen Kolonien und prägte dafür im 20. Jahrhun­ dert das Konzept des lusotropicalismo: «one of the most powerful and persistent propagandist tools that the New State Regime developed to envision the empire as unified, multiracial and multicultural family.»¹⁷¹ Suplício weiß aus eigener Erfahrung um die gewaltvolle Realität im Umgang der Portugiesen mit den Einheimischen. Wie der erste Satz des zitierten Absat­ zes explizit sagt: Es geht um kein spielerisches Dazwischensein, sondern um schmerzvolle, gelebte historische Erfahrung. Die aphoristische Wendung «Isso que ele atacava não era um país de fora, mas uma província de si» nutzt geo­ graphisches Vokabular, um das spannungsreiche innere Erleben des Vaters zu kartographieren, das untrennbar von den äußeren Gegebenheiten bestimmt ist. Der Einfluss Portugals ist, ungeachtet des Willens des Vaters, ein Teil von ihm, «uma província de si». Die komplexe Zugehörigkeit ist unabweisbar, hat aber in der Rhetorik des homogenen Einheitsstaates im unabhängig gewordenen Mo­ sambik keinen Platz. Dass Angehörige der einheimischen Bevölkerung oft die rassistische Ideologie der Kolonialmächte internalisiert haben, ist in literari­ schen Bearbeitungen solcher Geschichtserfahrungen häufig Gegenstand.¹⁷² Der

171 Hilary Owen: Mother Africa, Father Marx, S. 18. 172 Albert Memmis 1957 erschienener Text Portrait du colonisé précédé de Portrait du colonisateur ist einer der prominentesten, der die Konfiguration colonisateur-colonisé als relatorisch heraus­ stellt. Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung stellt Memmi die Abhängigkeit aus der Perspek­ tive des cololonisé dar: «L’affirmation de soi du colonisé, née d’une protestation, continue, à se définir par rapport à elle. En pleine révolte, le colonisé continue à penser, sentir et vivre contre et donc par rapport au colonisateur et à la colonisation.» Albert Memmi: Portrait du colonisé, S. 153.

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Vater benutzt an einer anderen Stelle explizit den Ausdruck «estes nossos irmãos, colonos de dentro» (UV, S. 178). Mehrfach wird die Flagge als Symbol des Nationalstaates evoziert. Coutos Ro­ man stellt heraus, dass die Eltern des Erzählers unterschiedliche Vorstellungen dazu hatten: Die Mutter setzt, zumindest zeitweise, alle Hoffnung in einen von Portugal unabhängigen Nationalstaat. Der Vater hingegen weist schon früh dar­ auf hin, dass viele Unabhängigkeitskämpfer ihren eigenen Idealen nicht entsprä­ chen. Der Ich-Erzähler relativiert am Schluss des zitierten Abschnitts den starken Antagonismus zwischen seinem Vater und seiner Mutter, die alle Unabhängig­ keitskämpfer glorifiziert hat. Es geht dabei auch um die Verfolgung und Folter des Vaters nach dem Machtwechsel in Mosambik Mitte der 1970er Jahre: Suplí­ cio arbeitete zu dieser Zeit in seinem alten Beruf weiter und überwacht die Jagd auf wildlebende Tiere. Er zeigte Jonas, Mitglied der Lokalregierung an, weil die­ ser unerlaubt Elefanten wegen ihres Elfenbeins jagte. Suplício wurde dafür von der neuen Regierung schwer misshandelt und von seinen Kollegen im Stich ge­ lassen. Im Roman beklagt Suplício, dass die Bevölkerung sich nach wie vor als kolonialisiert erfahre, auch wenn sich die Umstände scheinbar geändert hät­ ten: Matar o patrão? Mais difícil é matar o escravo que vive dentro de nós. Agora, nem patrão nem escravo. – Só mudámos de patrão. (UV, S. 151)

Der Figur des Vaters steht die Figur Lokalgouverneur Jonas gegenüber. Die Familie des Übersetzers teilt mit ihm eine ähnliche Vergangenheit. Der Vater und Jonas zeigen verschiedene, jedoch gleichermaßen unkonstruktive Reaktionen auf den schwierigen Übergang nach der Unabhängigkeit, wie der folgende Textausschnitt im 15. Kapitel veranschaulicht: – Esse país vai ser grande. Minha mãe se recordava de ele [de Jonas] declamar essa esperança. Quando nasci, já meu pai deixara a polícia de caça. E já Estêvão Jonas deixara de sonhar em grandes futuros. Morrera o quê dentro dele? Com Estêvão se passou o seguinte: a sua vida esqueceu-se da sua palavra. O hoje comeu o ontem. Com meu pai passou-se o oposto – ele queria viver em nenhum tempo. (UV, S. 175)

Während Jonas sich auf seinen persönlichen Vorteil konzentriert und dabei das Gemeinwesen aus dem Blick verliert, zieht sich der Vater vollkommen zurück. Er scheint die Gegenwart nicht annehmen zu wollen: «Eu olhava a teimosia do meu pai e me parecia ver nele uma raça inteira sentando o seu tempo contra o tempo

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dos outros»¹⁷³ (UV, S. 147). Das Verhältnis zwischen dem Vater und der Gesell­ schaft wird dadurch als fragmentiert bestimmt. Die Erinnerung an einen gemein­ samen Zusammenhang ist noch da, gleichwohl kann der Vater seine Erfahrung nicht darin verorten und im Austausch mit anderen Mosambikaner:innen zur An­ erkennung bringen. Coutos Roman O último voo schafft mit Suplício das Bild eines isolierten Man­ nes, der tief von der Erfahrung des Kolonialregimes, des jahrzehntelangen Bür­ gerkriegs und des nicht eingelösten Versprechens auf eine neue, gerechte Nation gezeichnet ist. Das gelingt über die Beschreibung einer Reihe von zunächst enig­ matischen Eigenheiten des Vaters, die auf diese komplexe Geschichtserfahrung verweisen. So sucht der Sohn ihn an seinem Wohnort, einem alten Leuchtturm auf, um ihm den Tod der Mutter mitzuteilen – eine Nachricht, der sich der Va­ ter geschickt entzieht. Jedenfalls sieht sich der frühere Polizist und Jagdaufseher weiterhin als Wächter: «Se em toda a vida ele inspecionara e policiara a savana! Agora, ele simplesmente mudava o objeto de vigilância» (UV, S. 58). Eine bereits erwähnte Eigenheit des Vaters ist es, sich vor dem Schlafen seines Skeletts zu ent­ ledigen: «– Vou lá fora, pendurar os ossos. [. . . ] Como lhe doessem os ossos e so­ fresse de grandes cansaços [. . . ]» (UV, S. 143). Die Widrigkeiten des Lebens haben den Vater gleichsam «bis auf die Knochen» müde gemacht, so lässt sich diese Ei­ genheit des Vaters im Erzählzusammenhang deuten. Der gesellschaftliche Kontext in Tizangara ist patriarchal geprägt, sowohl vor als auch nach der Unabhängigkeit: Die Frauenfiguren im Roman sind zwar stark, können aber die ihnen gesetzten Barrieren letztendlich nicht durchbrechen, wie im folgenden Kapitel noch eingehender diskutiert wird. Bemerkenswert ist aber, wie brüchig die Männlichkeit von Suplício und von Jonas gezeichnet wird, die als antagonistisches aber doch miteinander verstricktes Figurenensemble auftreten. Der Vater lässt seine Frau im Stich, weil sie keine weiteren Kinder mehr bekom­ men kann. «Me irresponsabilizo», kündigt er an: «E passou a dormir fora, gas­ tando sua idade em leitos de outras» (UV, S. 51). Dennoch gibt es im Text Hinwei­ 173 Der Begriff «raça» hat im schriftstellerischen Werk Mia Coutos eine besondere Konnotation, die auf den Erzählband Cada homem é uma raça zurückgeht. Vorangestellt ist folgendes Epi­ graph, das unter der Verwendung des Begriffes raça dessen übliche Bedeutung als Gruppenzu­ gehörigkeit unterläuft: «Inquirido sobre a sua raça respondeu: – A minha raça sou eu, João Passarinheiro. Convidado a explicar-se, ascrecentou: – Minha raça sou eu mesmo. A pessoa é uma humanidade individual. Cada homem é uma raça, senhor policía. (Extracto das declarações do vendedor de pássaros.)» Mia Couto: Cada homem é uma raça, Lis­ sabon: Caminho 2009 [1990], S. 9.

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se darauf, wie konfliktuell das machismo-Paradigma für den Vater selbst ist, das physische Stärke, sexuelle Leistung und eine dominante Haltung Frauen gegen­ über wertschätzt. Bereits als Junge entsprach Suplício nicht den Erwartungen an ihn als Mann, wie ihm sein Vater und Onkel vermitteln. Im Roman wird das Töten als Ritual für das Erwachsenwerden der Männer vorgestellt: Suplício erzählt im 18. Kapitel, dass er Flamingos habe töten sollen, was er verweigerte – zum Unmut seines Vaters, der das Tier selbst tötete und den Jungen dann verprügelte. Suplí­ cio verfluchte ihn und der Vater starb in derselben Nacht. Das wird im Roman als lebenslanges Trauma für Suplício dargestellt, der es so erzählt: O pássaro morria em mim. [. . . ] Meu tio me culpou [. . . ]. Desde então me perseguia, dimi­ nuindo minha estima: – Esse aí é um quanto e tanto mulherado. Eu me sentia frágil, perseguido por essa vergonha. Matar os flamingos era uma prova de macheza em que reprovara. E fiquei acabrunhado, inferior, cabisbaixito. Até que conheci sua mãe e ela me salvou desse fundo sem fundo. Os homens são assim, fingidos de força, porque têm medo. (UV, S. 203 f.)

Der junge Suplício wird abwertend als «mulherado» («verweiblicht») geschmäht. Im Zusammenhang mit seiner gender-Identität kommt der Flamingo-Mythos ins Spiel. Dieser spielt in Coutos Roman eine zentrale Rolle, wie in Kapitel 3.5 gezeigt wird. An dieser Stelle ist wichtig, dass die Mutter des Übersetzers und Frau von Suplício die Erzählerin des Flamingo-Mythos ist und dass den Flamingos lebens­ rettende Kraft zugeschrieben wird. So ist Suplício überzeugt, dass seine Frau den Flamingo-Mythos nur zu seinem Trost erfunden habe, wie er im obigen Textaus­ schnitt sagt (vgl. ebda.). Die Flamingos sind damit Lebensretter in zweifacher Hin­ sicht, denn die Vögel haben den Vater auch einmal tatsächlich vor dem Ertrinken bewahrt: Pássaros nenhuns não havia. Tudo em liso silêncio. Mas meu pai, só ele escutava o rouco grasnar dos flamingos. Dívida que ele tinha com as aves pernaltas. Os pescadores chamamlhes os «salva-vidas». No meio da noite, em plena tempestade, quando se perde noçao da terra, é a presença e a voz dos flamingos que orienta os pescadores perdidos. (UV, S. 145)

Durch diese Episode wird deutlich, dass den Flamingos beziehungsweise der Er­ zählung über die Flamingos eine heilende und rettende Wirkung im Roman zu­ geschrieben wird. Sie sind ein verbindendes Element innerhalb der zerrütteten Familie des Übersetzers. Wie die bisherigen Analysen bereits gezeigt haben, ist die Familiengeschich­ te des Übersetzers in O último voo auch eine Geschichte über die zerstörerische Wirkung toxischer Männlichkeitsbilder. Der Vater verlässt die Mutter, wie es ge­ sellschaftlich von ihm erwartet wird. Der Text gibt aber Hinweise darauf, dass Su­ plício selbst zeugungsunfähig sein könnte – und nicht die Mutter unfruchtbar. Für

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den Vater wäre es gesellschaftlich eine viel größere Schande gewesen, offenlegen zu müssen, dass er seine Männlichkeit nicht leben kann. Die Mutter äußert, als sie stirbt, dass der Sohn jemand anderem ähnlich sehe (vgl. UV, S. 53 f.). Auf Nachfra­ ge des Sohnes beim Vater reagiert jener verletzt und bekräftigt seine Vaterschaft, unabhängig von der Frage einer biologischen Vaterschaft (vgl. UV, S. 177 f.). «Afi­ nal, tudo é crença», schließt der Ich-Erzähler (UV, S. 178). Jonas’ Schwäche und Angst vor seiner charakterstarken Ehefrau artikuliert sich vor allem in seinen Schreiben im 6., 8. und 16. Kapitel. Die Darstellung sei­ ner sexuellen Eskapaden nimmt dabei großen Raum ein. Auch hier erscheint die postulierte potente Männlichkeit brüchig, wird allerdings im Unterschied zu Su­ plícios Fall lächerlich gemacht. Die geschickte Führung der beiden männlichen Figuren Suplício und Jonas trägt so zu einer indirekten Kritik an den patriarchalen Strukturen in der mosam­ bikanischen Gesellschaft bei. Anhand individueller Lebenswege werden die in­ neren Konflikte der Männer und die destruktiven Folgen der patriarchalischen Er­ wartungen aufgezeigt. Dennoch sind die Männer nicht vollkommen handlungsunfähig, wie der Ro­ man herausstellt. Insbesondere Suplício wird auch als jemand gezeigt, der durch seine Lebenserfahrung gereift ist und die Mosambikaner:innen auf ihre eigene Verantwortung hinweist. Diese Perspektive wird vor allem im letzten Drittel der Erzählung virulent: Das Land muss seine Probleme, die mit der schwierigen und nicht aufgearbeiteten Geschichte der sozialistischen Volksrepublik zusammen­ hängen, selbst in den Griff bekommen. Die korrupte Lokalregierung und die Resi­ gnation der einheimischen Bevölkerung tragen eine Mitschuld an der Stagnation beziehungsweise Verschlechterung der Lage, so legt es der Roman nahe. Der Va­ ter kritisiert darüber hinaus auch die externe Einflussnahme und ökonomische Abhängigkeit, vor allem mit Blick auf die UN: – [. . . ] Não é a paz que lhe interessa. Eles se preocupam é com a ordem, o regime desse mundo. – Ora, pai. . . – O problema deles é manter a ordem que lhes faz serem patrões. Essa ordem é uma doença em nossa história. Dessa doença, segundo ele, se refazia em nós essa divisão de existências: uns moleques dos patrões e outros moleques dos moleques. A aposta dos poderosos – os de fora e os de dentro – era uma só: provar que só colonizados podíamos ser governados. [. . . ] Continuávamos, ao fim ao cabo, prisoneiros da vontade de não sermos nós. (UV, S. 205)

Im 14. Kapitel (‹Fala do feiticeiro Andorinho›) spricht der Zauberer Andorinho. Auch er nimmt Bezug auf das Sprechen über den Kolonialismus, bemüht sich aber den konkreten, lebenswirklichen Gehalt dessen zu fassen:

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Falam muito de colonialismo. Mas isso foi coisa que eu duvido que houvesse. O que fizeram esses brancos foi ocuparem-nos. Não foi só a terra: ocuparam-nos a nós, acamparam no meio das nossas cabeças. Somos madeira que apanhou chuva. Temos que secar à luz de um sol que ainda não há. Esse sol só pode nascer dentro de nós. (UV, S. 168 f.)

Andorinho streicht heraus, dass sich die gewaltvolle Geschichte in die Menschen eingeschrieben hat. Bedeutsamer ist jedoch seine Schlussfolgerung: Die Erfah­ rung des Leids rechtfertigt nicht, auf unbestimmte Zeit darin zu verharren und angesichts der Probleme passiv zu bleiben. Die «Sonne», die als Symbol der Hoff­ nung verstanden werden kann, muss von den Mosambikaner:innen selbst ausge­ hen: «Esse sol só pode nascer dentro de nós.» Dieser Anspruch wird schließlich im Rückgriff auf ein abenteuerliches Szena­ rio auf die Probe gestellt. Nach der Enthüllung über das kriminelle Tun der Re­ gierung will Jonas flüchten und einen Staudamm sprengen lassen. Es droht eine tödliche Flut.¹⁷⁴ Der Vater und der Zauberer Andorinho bekommen an dieser Stelle des Romans noch einmal die Gelegenheit, um die Eigenverantwortung der Men­ schen in Mosambik für die Geschicke ihres Landes zu betonen: – Porque este é um assunto que devemos resolver nós. Nós sozinhos sabemos e podemos tratar disto. Entende? [o pai] [. . . ] – Chega de pedirmos aos outros para resolver os nossos problemas. [Zeca Andorinho] (UV, S. 215)

Das unmittelbare Unglück kann abgewendet werden, jedoch steht am Schluss des Romans kein glückliches Ende, wie im Folgenden analysiert wird.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren Im Figurenensemble des Romans O último voo do flamingo bilden die Frauenfigu­ ren ein wesentliches Gegengewicht zu der ansonsten männlich dominierten Er­ zählperspektive und den Protagonisten Massimo Risi und dem Übersetzer. Der gesellschaftliche Kontext im Roman ist patriarchal geprägt und orientiert sich da­ mit an der Lebensrealität in Mosambik in den 1990er Jahren.¹⁷⁵ Die Frauenfiguren

174 Um die Härte dieses plötzlichen dramaturgischen Kniffs abzumildern, spart der Ich-Erzähler nicht mit fiktionsironischen Kommentaren. Vgl. UV, S. 214. 175 Vgl. für eine Geschichte der gender-Verhältnisse in Mosambik Kathleen E. Sheldon: Pounders of Grain: A History of Women, Work, and Politics in Mozambique. Portsmouth, N. H.: Heinemann 2002 und für einen Überblick bis in die jüngere Gegenwart Inge Tvedten: Mozambique Country

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 185

können diese Verhältnisse ein Stück weit aufbrechen. Damit rücken sie perspek­ tivisch eine gleichberechtigt(er)e Gesellschaft ins Blickfeld.¹⁷⁶ Der Roman präsentiert eine Reihe weiblicher Biographien in Mosambik und zeigt die drastische Diskriminierung von Frauen. Im Rahmen des vorliegenden Kapitels werde ich die Figur der Temporina im Zusammenspiel mit der Entwick­ lung des UN-Ermittlers Risi sowie die Figur der Mutter des Übersetzers analysie­ ren; ergänzend werden die Frauenfiguren Ana Deusqueira und Dona Ermelinda betrachtet. Im Rückgriff auf Hélène Cixous kann vor allem die Mutter als Gegenpol zur phallogozentrischen Ordnung verstanden werden, die ich bereits in Kapitel 3.2 diskutiert habe. Die Mutter tritt als Erzählerin des Flamingo-Mythos auf, der dem Roman den Titel gibt. Der Schluss des Romans stellt das Erzählen als Ressource der politischen Imagination und der gesellschaftlichen Hoffnung heraus, so mei­ ne These. Josima Machel, die erste Ehefrau des späteren Präsidenten Samora Machel, und damalige Politkommissarin in der Frauenabteilung der FRELIMO, beschrieb 1969 die Rolle der Frau im Unabhängigkeitskampf und nahm Bezug auf herr­ schende Vorurteile: In diesem Zusammenhang betonen wir, daß der Erfolg der Revolution von den vereinten Kräften aller abhängt, daß sich niemand ausnehmen darf, und daß deshalb die bisherige eher passive Rolle der Frau geändert werden muß, damit ihre Fähigkeiten voll genutzt wer­ den können. [. . . ] Hier stellt sich uns die ziemlich schwierige Aufgabe, gegen das alte Vorur­ teil zu kämpfen, die Funktion der Frau solle sich aufs Kochen und auf die Kindererziehung usw. beschränken.¹⁷⁷

Jenseits der sozialistischen Kampfesrhetorik war nicht nur die Einbindung von Frauen in den Städten schwierig, sondern noch viel mehr auf dem Land.¹⁷⁸ Bis

Case Study. Gender Equality and Development. Background Article for the World Development Report 2012. In: Report in External Series. Gender equality and development in Mozambique (2011). 176 Coutos Roman situiert sich im Norden Mosambiks, nimmt aber keinen weiteren Bezug zu spezifischen lokalen Sozialstrukturen wie etwa matriarchale Gesellschaftsordnungen, die vor al­ lem dort noch verbreitet sind. Vgl. ebda., S. 4 f. 177 Josima Machel: Die Rolle der Frau in der Revolution. Übersetzung aus dem Engl. eines Bei­ trags aus: Mozambique Revolution (FRELIMO Parteizeitschrift), Nr. 41 (1969). In: Barbara Schil­ ling, Karl Unger (Hg.): Angola, Guinea, Moçambique. Dokumente und Materialien des Befreiungs­ kampfes der Völker Angolas, Guineas und Moçambiques. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blät­ ter 1971, S. 113–116, hier S. 114. 178 Gretchen Bauer u. a.: Women and Post-Independence African Politics. In: Oxford Research Encyclopedia of African History, 2017, S. 1–24, hier S. 4.

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heute haben Frauen im ohnehin sehr armen Mosambik weniger Zugang zu Bil­ dung und Ressourcen als Männer.¹⁷⁹ Die fünf weiblichen Figuren im Roman fächern ein Panorama an historischen Erfahrungen und Lebensrealitäten von Frauen in Mosambik auf¹⁸⁰: Dona Ermelin­ da führt ein Leben als sich bereichernde und eitle Gattin des korrupten Lokalgou­ verneurs von Tizangara. Sie bleibt, abgesehen vom Spott der Einwohner:innen, unbehelligt, widersetzt sich aber hartnäckig den sexuellen Eskapaden ihres Man­ nes. Die zum Zeitpunkt der erzählten Zeit bereits verstorbene Dona Hortênsia, an die sich ihre Nichte Temporina erinnert, kümmerte sich als alleinstehende Frau um Temporina und ihren Bruder. Da Dona Hortênsia ohne Mann lebte, wurde sie als verdächtig empfunden und marginalisiert. Ihre Nichte Temporina, mit der der UN-Ermittler Massimo Risi eine Beziehung eingeht, wird ebenfalls ausgegrenzt, da sie in Nachfolge ihrer Tante gesehen wird und sich als junge Frau nicht fest an einen Mann gebunden hat. Die ebenfalls bereits verstorbene Mutter des Überset­ zers, die der gleichen Generation wie Dona Ermelinda und Hortênsia angehört, hat als einzige Frau im Roman ein eigenes Kind. Da sie nach der Geburt ihres Sohnes, des Ich-Erzählers, keine weiteren Kinder bekommen kann, respektiert ihr Mann Suplício sie nicht mehr und lässt sie im Stich. Ana Deusqueira arbeitet als Prostituierte, um sich ihr Leben zu finanzieren und wurde unter der FRELIMO in einem Arbeitslager interniert, wie in Kapitel 3.3 besprochen wurde. Sie wird von den herrschenden Männern patriarchal verein­ nahmt und brutal angegriffen, als sie den Lokalgouverneur als Kriminellen ent­ larvt (vgl. UV, S. 210 ff.). Dieser Moment am Schluss des Buches ist bemerkenswert, denn die drei Frauenfiguren Ermelinda, Ana und Temporina schließen sich über alle sozialen Unterschiede hinweg solidarisch zusammen: – Você vai ficar boa, minha irmã! [diz Ermelinda] [. . . ] A prostituta encolheu o pescoço para se render à carícia da outra e as duas choraram. Os homens, nós, escutávamos em silêncio. Elas eram donas, exclusivas, do que ali se passava. [. . . ]

179 Vgl. N. N.: CIA Factbook: Mozambique. 180 Das marxistisch-leninistische Programm der FRELIMO ab 1975 sah eine «Befreiung» der Frauen von der «Unterdrückung des Kapitalismus» vor. Vgl Samora Machel: A libertação da mu­ lher. Es konstruierte die Frauen als «asexuell»; was allerdings in Widerspruch zur Lebenserfah­ rung der Frauen im Haushalt und mit der patriarchal geprägten Konzeption von «Modernität» und Sexualität stand. Vgl. Hilary Owen: Mother Africa, Father Marx, S. 34. Vgl. für die Zeit nach der Unabhängigkeit ebda., S. 33–37. Vgl. für die zum Teil ermächtigenden Erfahrungen von Frau­ en Signe Arnfred: Women in Mozambique: Gender Struggle and Gender Politics. In: Review of African Political Economy, Nr. 41 (1988), S. 5–16.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren |

187

– Você saia desta casa, Estêvão. [. . . ] Contei o que se passara. De imediato, Temporina tomou a deçisão: foi à casa da administra­ ção. Ia apoiar Ana Deusqueira, juntar-se às outras mulheres. (UV, S. 211 f.)

Es ist auffallend, dass die Frauen im Roman die treibende Kraft sind: Temporina setzt sich mit Massimo Risi auseinander und führt ihn in das lokale Leben und die Glaubensgewohnheiten ein; Ana Deusqueira enthüllt den Skandal um das verun­ treute Geld und die Minenexplosionen; und die Mutter des Erzählers stellt mit dem Flamingo-Mythos das zentrale Motiv des ganzen Plots bereit, das sich jen­ seits der Handlung wie eine Art Bezugshorizont aufspannt. Mia Couto spracht in einem Interview von 2008 von einem «lugar feminino», der jedoch nicht in essentialistischem Sinne an die Frau gekoppelt sei: A capacidade de estar próximo daquilo que é vital, isso para mim é o lugar feminino – que pode também ser perfeito para um homem – mas este que eu poderei chamar lugar feminino é uma proximidade com uma coisa que é uma espécie de segredo, uma espécie de intimidade com os processos que fazem com que a vida seja um fio que não se parte, acho que isto é feito pelas mulheres. [. . . ] Depois também há o facto em que aqui [Moçambique] se vive numa sociedade em que a mulher é a grande construtora. Todavia, não sou romântico ou ingénuo em pensar que o homem é um malandro e não trabalha, não é isso, mas o lugar da mulher junto de aquilo que são os processos de produção, os processos de reconciliação, é vital e fundamental. Ao mesmo tempo esta é uma sociedade que tem dificuldade em se reencaminhar e de se refazer por causa de um certo peso machista que ainda existe e que impede que a mulher esteja nos sítios onde deve estar.¹⁸¹ (eigene Hervorhebung)

Coutos Roman O último voo formuliert eine Kritik am machismo über die Figuren Suplício und Jonas, wie ich bereits in Kapitel 3.4 herausgearbeitet habe. Dieses Thema spielt aber auch im Zusammenhang mit den geheimnisvollen Explosionen eine Rolle. Laut dem Zauberer Andorinho sind sie eine Rache gegen die auswär­ tigen «Machos» der UN. In Andorinhos Rede im 13. Kapitel (‹A última tontura do moço tonto›) scheint ein Selbstverständnis davon durch, dass die Frauen den ein­ heimischen Männern wie ein Besitz zustehen: – Ágora esse likaho¹⁸² dos soldados é de sapo. – De sapo?

181 Mia Couto: Entrevista. 2008, S. 94. 182 Der Zauberer erklärt zuvor, dass «likaho» eine spezielle Art von Zauber sei: «Uma diversi­ dade desses feitiços, cada qual feito de diferente animal.» UV, S. 161.

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– Os tipos engordam até ficarem como o imbondeiro.¹⁸³ E depois eles já não cabem no ta­ manho e se arrebentam. Fazia esse feitiço por encomenda dos homens de Tizangara. Ciúme dos locais contra os visi­ tantes. Inveja de suas riquezas, ostentadas só para fazer suas esposas tontearem. Carecia-se de castigo contra os olhares compridos dos machos estrangeiros. Sobretudo, se fardados de soldados das Nações Unidas. [. . . ] Afinal, aquele feitiço começava onde todo o homem começa – no namoro. À medida que ia avançando ficava quente e o seu corpo se desconformava. O enfeitiçado inchava, sem dar conta. Crescia como o sapo face a seu próprio medo. Até que, no preciso momento do orgasmo, explodia. (UV, S. 161)

Die UN-Soldaten platzen wie Kröten, die sich in bedrohlichen Situationen auf­ blasen, um ihre Gegner abzuschrecken. Im Roman wird diese Verhaltensweise der Amphibien auf die Menschen übertragen. Hier ist es die Arroganz der aus­ ländischen Einsatzkräfte, die sich buchstäblich dermaßen aufblasen, dass sie schließlich daran zugrunde gehen – und das im biologischen Moment der poten­ tiellen Kreation neuen Lebens. Die Analogie des Zaubers zur Natur ist bemerkens­ wert, weil diese Verteidigungsstrategie der Kröten Biolog:innen mitunter ratlos gemacht hat, zumindest zeitweise.¹⁸⁴ Die Überheblichkeit der UN-Soldaten wird im Roman nachdrücklich im Vor­ wort des Übersetzers herausgestellt, wie die Analysen in Kapitel 3.2 gezeigt haben. Couto erklärte in einem Interview, dass genau diese Arroganz der UN-Soldaten Ausganspunkt für seinen Roman gewesen sei: Agora o que eu quis, sobretudo, mostrar foi o que não é exactamente verdadeiro; o que fun­ ciona como os lugares comuns que as pessoas aceitam para explicar o mundo e no caso de Moçambique para explicar a paz. Então a paz é simples: há lá uns países que não se enten­ dem, têm problemas tribais, étnicos e depois vem a Europa ou as Nações Unidas e constroem a paz, como se fosse uma questão numa classe primária com as crianças que não se enten­ dem bem e portanto com toda a arrogância dos que fazem a paz, dos construtores de paz.¹⁸⁵

183 Imbondeiro (oder auch embondeiro) ist eine Art des Baobab-Baums. Diese Bäume sind sehr groß und machen mit ihrem dicken Stamm einen mächtigen Eindruck in der Landschaft. 184 2005 machte ein kurioser Fall in Hamburg Schlagzeilen: Tausende Kröten explodierten in einem Tümpel und tagelang konnte keine Erklärung dafür gefunden werden. Schließlich stellte sich heraus: Krähen pickten die Haut der Amphibien auf, um ihre Leber zu fressen. Die Kröten waren wegen der Paarungszeit den Angaben zufolge stark mit sich beschäftigt. Als die Kröten sich in ihrer typischen Abwehrreaktion aufbliesen, fehlte der Widerstand der Leber im Bauch­ raum und sie bliesen sich zu stark auf, sodass sie schließlich platzten; die Innereien wurden fortgeschleudert. Vgl. Markus Becker: Rätsel um explodierende Kröten gelöst. In: Spiegel-Online, 28.4.2005. 185 Mia Couto: Entrevista. 2008, S. 87.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 189

In O último voo do flamingo spielen die Frauenfiguren eine maßgebliche Rolle für den Frieden in der Gesellschaft und in der Familie: Ana deckt die durch Jonas’ Kor­ ruption verursachten Minenexplosionen auf, die Mutter des Übersetzers sorgt für das Kind und ermöglicht ihm ein gutes Aufwachsen. Trotzdem bleiben die Frau­ en Verliererinnen, wie der Roman zeigt. Sie müssen alleine zurechtkommen und werden von Männern ausgenutzt. Das illustriert das Motto des siebten Kapitels (‹Uns pós na bebida (fala da Deusqueira)›), ein kurzer Dialog zwischen Risi und Ana: – Tenho saudades de minha casa, lá na Itália. – Também eu gostava de ter um lugarzinho meu, onde pudesse chegar e me aconchegar. – Não tem, Ana? – Não tenho? Não temos, todas nós, as mulheres. – Como não? – Vocês, homens, vêm para casa. Nós somos a casa. (Extrato de um díalogo entre o italiano e Deusqueira) (UV, S. 87)

Ana beschreibt ihren Wunsch nach Halt und Geborgenheit mit dem Verb «acon­ chegar». Diese Wortkreation ist im Maritimen verortet und kombiniert das Verb «ancorar» («ankern») mit dem Substantiv «concha» («Muschel»). In der Darstel­ lung Anas sind die Frauen durch ihre Funktion für die Männer bestimmt, ohne dass sie selbst etwas dafür zurückbekommen. In O último voo ist die Rolle der Frauen an Risis schwierige Recherchearbeit¹⁸⁶ gekoppelt: In der Figur des UN-Ermittlers konkretisiert sich der neokoloniale Herr­ schaftsanspruch. Risi ist dennoch eine durchaus sympathische Figur, wodurch er der Leserin zugänglicher gemacht wird. Risi kann überdies als personifizier­ ter Homo Oeconomicus¹⁸⁷ gesehen werden, als Agent einer kapitalistischen Logik, für die sich Mosambik bereits ab 1983 verstärkt öffnete. Seine Figur ist allerdings nicht statisch angelegt, sondern macht neben dem Übersetzer und Haupterzähler eine entscheidende Wandlung durch. Im Verlauf des Romans öffnet sich Risi und hinterfragt seine Weltsicht, ausgehend von den Begegnungen mit den Menschen in Tizangara. Eine besondere Rolle dabei spielt seine Beziehung mit Temporina. Risi ist ein UN-Mitarbeiter am Anfang seiner Karriere und folgt den ihm vorge­ gebenen Regeln.¹⁸⁸ Er selbst ahnt, dass die ihm aufgetragene Mission, die Dinge

186 Der Ich-Erzähler spricht von einem «labirínto». UV, S. 191. 187 Vgl. zu diesem Thema in der Literatur Susan F. Feiner: A Portrait of Homo Economicus as a Young Man. In: Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hg.): The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics. London u. a.: Routledge 1999, S. 193–209. 188 In einem Interview sagte Couto dazu, er habe einen noch formbaren Charakter vor Augen gehabt: «Massimo Risi é um personagem ingénuo. E escolhi um italiano porque um italiano em

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zu klären, schwierig ist und er den Übersetzer als Vermittler der Kommunikati­ on jenseits der sprachlichen Übertragung braucht (vgl. UV, S. 45). Risi hat jedoch das persönliche Ziel einer Beförderung vor Augen. Sein Aufenthalt in Tizangara wird im Roman als Tauschhandel dargestellt: Der Erfolg der Mission soll mit ei­ nem Karrierefortschritt belohnt werden. Gewinn- beziehungsweise Nutzenmaxi­ mierung – die zentralen Momente im neoliberalen Verständnis des Wirtschafts­ handelns – sind die Richtlinien dieser Figur. Die Kommunikation mit den Einwoh­ ner:innen von Tizangara ist für Risi in dieser Hinsicht rein funktional: – E eu não sei viver no seu mundo? – Não, não sabe. – Isso não me interessa. Eu só quero é cumprir a minha missão. Você não sabe como isto é importante para mim, para a minha carreira. E para Moçambique. (UV, S. 116 f.)

In seiner Ich-Bezogenheit stellt Risi seinen eigenen Vorteil vor die Geschicke des Landes, für das er sich offiziell einsetzen soll. Dies wird durch die Häufung des Personalpronomens in der ersten Person Singular ausgedrückt: «me»/«a minha»/«para mim»/«para a minha». Mosambik wird in dieser Anordnung syn­ taktisch abgetrennt nur in einem elliptischen Halbsatz am Schluss erwähnt. Risi erweist sich zunächst als jemand, der die neoliberalen Funktionslogiken vollständig internalisiert hat: Was zählt ist die Leistung des Individuums, sie wird monetär belohnt. Der UN-Mitarbeiter wird in Coutos Roman als jemand darge­ stellt, der auf der Gewinnerseite des kapitalistischen Systems steht. Da Risi als Weißer Europäer von den bestehenden Verhältnissen profitiert, scheint es für ihn keinen Anlass zu geben, sie zu hinterfragen. Die ihm aufgetragene Aufgabe inter­ pretiert er entsprechend des ihm bekannten Referenzrahmens, wie die folgenden close readings im Detail herausarbeiten. Auf den Austausch lässt sich Risi erst im Verlauf der Handlung ein. Die im Roman anklingende Kritik beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Kapitalismus, sondern stellt dessen Verbindung mit einem Denken heraus, das Derrida als «Phallogozentrismus» gefasst hat. Mit Blick auf Risi steht im Roman vor allem die Sprache im Vordergrund: Für diese Figur ist sie ein kongruentes Ab­ bild der Realität im positivistischen Sinne, das sich am besten über die mündliche Aussage einfangen lässt. Alles muss aufgezeichnet werden, wie der UN-Befehls­

Moçambique é um europeu diferente; ele parece que vem habilitado; sem uma posição de dis­ tanciamento e cinismo; parece que já vem de uma África. Por causa da sua disponibilidade; ele está disponível e é por isso que escolhi um personagem italiano. No princípio, ele começa por ser funcionário das Nações Unidas e quer impor a sua lógica mas depois torna-se um funcionário esponja pois se apercebe que esta lógica não funciona e fica perdido. E esta habilidade de ficar perdido era o de que eu precisava para esta personagem.» Mia Couto: Entrevista. 2008, S. 92.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 191

haber im zweiten Kapitel bestimmt (vgl. UV, S. 34). In Of Grammatology schreibt Derrida: «the heritage of that logocentrism which is also phonocentrism: absolute proximity of voice and being, of voice and the meaning of being, of voice and the ideality of meaning.»¹⁸⁹ Diese fast schon fetischistische Fixierung auf das gespro­ chene Wort resoniert in Coutos Roman mit der Reaktion des Vaters des Überset­ zers, der das Aufnahmegerät ironischerweise für einen «feitiço» (UV, S. 201) hält. Risi arbeitet bei seinen Recherchen mit direkten Ja-Nein-Fragen (vgl. UV, S. 63). Im neunten Kapitel (‹O desmaio›) findet sich eine Szene, die mit Blick auf die Zusammenhänge von westlichem Logos und Sprache aufschlussreich ist: Eu lhe senti pena. Porque ele procurava como um cego. Não seguia o cuidado: a verdade tem perna comprida e pisa por caminhos mentirosos. Para agravar, em Tizangara tudo ocor­ ria de passagem. Quem aqui vinha nunca era para ficar. Por isso, quando chegaram, esses soldados das Nações Unidas foram chamados de gafanhotos. – Outra coisa: o senhor pergunta de mais. A verdade foge de muita pergunta. – Como posso ter respostas se não pergunto? – Sabe o que devia fazer? Contar a sua estória. Nós esperamos que vocês, brancos, nos contem vossas estórias. – Uma estória? Eu não sei nenhuma estória. – Sabe, tem que saber. Até os mortos sabem. Contam estórias pela boca dos vivos. – A propósito, eu ando por aí perguntando aos outros. Mas inda não perguntei a si: você estava aqui quando começaram esses estrondos? (UV, S. 117)

Der Topos der Erkenntnis wird im zitierten Abschnitt über das Wortfeld des Se­ hens aufgerufen. Der Ich-Erzähler bezeichnet Risi als einen Blinden und stellt dessen Erwartungshaltung infrage: Risi versteht Sprache als unmittelbaren Zu­ gang zu Wahrheit, weswegen er den Menschen direkte Fragen stellt. Die implizite Grundannahme ist eine transparente Beziehung zwischen Sprache und Welt. Dem stellt der Übersetzer das Erzählen entgegen: «Sabe o que devia fazer? Contar a sua estória.» Literatur wird hier als ein Modus der zwischenmenschlichen Verständi­ gung und damit von Erkenntnis ins Spiel gebracht. Das ist auch eine höchst au­ toreflexive Aussage, denn der Roman versucht zu erzählen, was eigentlich in Mo­ sambik nach dem Friedensvertrag passiert ist – denn dies lässt sich gerade nicht in simplen Beschreibungen verstehen, sondern erst mit Worten «que ainda não nasceram», wie es im Vorwort des Ich-Erzählers heißt. Vor diesem Hintergrund ist das doppelte Rätsel um die Explosionen zu verstehen. In der zitierten Passage fasst der Übersetzer den Prozess von Bedeutungskon­ stitution folgendermaßen: «a verdade tem perna comprida e pisa por caminhos mentirosos.» Das bekannte Sprichwort «a mentira tem perna curta» ist chiastisch verkehrt und in antithetischer Spannung mit der Sphäre der Lüge verbunden. 189 Jacques Derrida: Of Grammatology, S. 12.

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Die Bewegungsmetapher macht deutlich, dass Bedeutung oder Wahrheit ein Weg sind (um im Bild zu bleiben). Dabei steht jedoch die Bewegung im Mittelpunkt und nicht ein Ziel, das erreicht werden kann. Das evoziert Derridas Gedanken zur différance als unabschließbarer, un-ursprünglicher Dynamik der Sprache und der Bedeutung.¹⁹⁰ Auf den Aspekt der Temporalität, der in der différance als unendlichem Auf­ schub enthalten ist, nimmt der Coutos Roman explizit Bezug. In der bereits zi­ tierten Passage heißt es: «Para agravar, em Tizangara tudo ocorria de passagem. Quem aqui vinha nunca era para ficar.» Risi und die UN sind bedacht darauf, für eine Aufgabe so wenig Zeit wie möglich aufzuwenden. Deshalb nennen die lokalen Einwohner:innen sie «gafanhotos» («Heuschrecken»).¹⁹¹ Das weckt we­ nig schmeichelhafte Assoziationen: Neben der Sprunghaftigkeit sind Heuschre­ cken als Plage bekannt, biblisch stehen sie mit der Apokalypse in Verbindung. Der Übersetzer fasst in einem Kommentar pointiert zusammen: Conhece a diferença entre o sábio branco e o sábio preto? A sabedoria do branco mede-se pela pressa com que responde. Entre nós o mais sábio é aquele que mais demora a responder. Alguns são tão sábios que nunca respondem. (UV, S. 196)

Diese Aussage stellt überspitzt heraus, dass Schnelligkeit für Erkenntnis kein all­ gemeingültiger Maßstab ist und Antworten als solche auch nicht unbedingt ein Ausweis von Klugheit sind. Der Übersetzer schlägt Risi vor, durch eine eigene Ich-Erzählung seine Sub­ jektposition zu reflektieren, was dieser ablehnt. Wenn der Übersetzer von den Ver­ storbenen spricht, die durch die Lebenden zu Wort kommen, verweist das auf den

190 Vgl. Jacques Derrida: La différance. In: ders.: Marges de la philosophie. Paris: Minuit 1972, S. 1–30. Und beispielsweise: «A vouloir réintroduire une pureté dans le concept de différence, on le recon­ duit à la non-différence et à la présence pleine. Ce mouvement est très lourd de conséquence pour toute tentative s’opposant à un anti-hegelianisme indicatif. On n’y échappe, semble-t-il, qu’en pensant la différence hors de la détermination de l’être comme présence, hors de l’alternative de la présence et de l’absence et de tout ce qu’elles commandent, qu’en pensant la différence comme impureté d’origine, c’est-à-dire comme différance dans l’économie finie du même.» Jacques Der­ rida: La structure, le signe et le jeu, S. 366. 191 In Deutschland wurde ein ähnliches Sprachbild Anfang der 2000er Jahre kontrovers disku­ tiert. Der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hatte bestimmte private Investoren und Hedgefonds als besonders drastischen Auswuchs der kapitalistischen Ordnung kritisiert und als «Heuschrecken» bezeichnet. Der Historiker Michael Wolffsohn wies in der Folge darauf hin, dass Menschen-Tier-Vergleiche sich vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit verböten. Vgl. für ei­ nen Überblick Yassin Musharbash: Münteferings Heuschrecken. Streit um Wolffsohns Nazi-Ver­ gleich. In: Spiegel-Online, 3.5.2005.

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Bestand an kollektiven Erinnerungen. Der Ich-Erzähler versucht, in Risi ein Be­ wusstsein für die narrative Dimension von Geschichtserfahrung zu wecken. Doch Risi orientiert sich an Zahlen, Fakten und Berichten. Das Wort «relatório» wird im Roman als Schlüsselbegriff gebraucht, um die Fixierung Risis auf die Wertmaß­ stäbe neoliberaler Logik zu beschreiben: Agora, de boina azul na mão, Massimo se consumia em consumada preocupação: mais um soldado resumido a um sexo! Que podia ele escrever no relatório? Que os seus homens explo­ diam com bolas de sabão? Na capital, a sede da missão da ONU esperava notícias concretas, explicações plausíveis. E o que tinha ele esclarecido? Uma meia dúzia de estórias delirantes, no seu parecer. Sentiu-se só, com toda África lhe pesando. (UV, S. 111)

Die Figura Etymologica «se consumia em consumada preocupação» doppelt das Sem «consum» und wird dadurch hochironisch: Das Verb «consumir» bedeutet im Deutschen «gebrauchen/verbrauchen». Risi verzehrt sich hier im übertrage­ nen Sinne selbst. Das adjektivisch gebrauchte Partizip «consumada» kommt von «consumar» («vollenden/ausführen»). Dadurch entsteht eine antithetische Span­ nung zwischen den semantischen Polen Zerstörung und Vollendung. Das Wortfeld ruft in seiner modernen Bedeutung die ökonomische Sphäre und mehr noch eine kapitalistische Ordnung auf, für die der Konsum kinetisches Kernmoment ist. Risi erscheint in ironischer Weise als Konsument der besonderen Art und als ausfüh­ render Agent der kapitalistischen Logik geradezu als ‹Konsumopfer›. Den «notícias concretas»/«explicações plausíveis» stehen «estórias deliran­ tes» der Einheimischen gegenüber. Die Zwei-Zu-Eins-Verteilung der parallel auf­ gebauten Wendungen aus Substantiv und Adjektiv zeigt einen klaren Überhang zugunsten eines im ökonomischen Sinne rationalen Weltverständnisses, das nach Ansicht des UN-Vertreters als das einzig Vernünftige Geltung hat. Wenn Risi von «éstorias delirantes» spricht, wird das Erzählen als Modus der Erkenntnis klar ab­ gewertet. Risi postuliert hier eine Binarität zwischen ‹westlicher Rationalität› und ‹afrikanischer Irrationalität› postuliert. In narzisstischer Manier stellt er sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit: «Sentiu-se só, com toda África lhe pesando.» Risis Haltung verändert sich jedoch im Lauf der Handlung. Entscheidend da­ für sind die Begegnungen mit Temporina. Ihre Figur ist an der Vermittlungsarbeit des Übersetzers beteiligt, denn sie bringt Risi das Weltverständnis der Menschen in Tizangara nahe. Anhand dieser Figurenkonstellation thematisiert der Roman auch das problematische Frauenbild beziehungsweise die gesellschaftlichen Er­ wartungen an Frauen im ruralen Mosambik. Temporina wird im Roman als eine Grenzgängerin zwischen Leben und Tod und zwischen verschiedenen Zeitlichkeiten dargestellt. Sie sagt über sich selbst: «Tenho duas idades. Mas sou miúda. Nem vinte não tenho.» (UV, S. 68). Tempo­ rina wird als «moça-velha» bezeichnet. Sie ist im Gesicht gealtert und hat einen

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jugendlichen Körper – als Strafe der Götter dafür, dass sie in ihrer Jugend mit kei­ nem Mann zusammen war (vgl. UV, S. 68 f.). Temporina besucht im fünften Ka­ pitel (‹A explicação de Temporina›) mit Risi und dem Übersetzer das Haus ihrer verstorbenen Tante, Dona Hortênsia. Von ihr hat sie die Bestrafung für ein Leben als alleinstehende Frau gleichsam geerbt (vgl. UV, S. 73). Der italienische UN-Er­ mittler trifft also auf eine Außenseiterin der mosambikanischen Gesellschaft. Die Dorfbewohner:innen wertschätzen sie und ihre Tante nur insoweit sie in einer an­ erkannten Beziehung zu Männern stehen beziehungsweise strafen sie dafür, dass sie den Erwartungen nicht entsprechen. Das neunte Kapitel in O último voo ist fast schon eine Art pädagogisches Zwi­ schenspiel, während dessen Massimo Risi in konzentrierter Form das holistische Verständnis von Existenz und Zeit in Tizangara kennenlernt. Dieser Perspekti­ venwechsel zurück auf diejenigen, die andere Menschen exotisiert haben evoziert Claude Lévi-Strauss. In Lé totémisme aujourd’hui¹⁹² schreibt er 1962 mit Blick auf die Freud’sche Hysterie und das Konzept des Totemismus: Mais la comparaison avec le totémisme suggère une relation d’un autre ordre entre les théo­ ries scientifiques et l’état de la civilisation, où l’esprit des savants interviendrait autant et plus que celui des hommes étudiés : comme si, sous couvert d’objectivité scientifique, les premiers cherchaient inconsciemment à rendre les seconds – qu’il s’agisse de malades mentaux ou de prétendus ‹primitifs› – plus différent qu’ils ne sont. La vogue de l’hystérie et celle du toté­ misme sont contemporaines, elles ont pris naissance dans le même milieu de civilisation ; et leurs mésaventures parallèles s’expliquent, d’abord, par la tendance commune de plu­ sieurs branches de la science, vers la fin du XXe siècle, à constituer séparément – et sous forme, aimerait-on dire, d’une ‹nature› – des phénomènes humains que les savant préfé­ raient tenir pour extérieurs à leur univers moral, afin de protéger la bonne conscience qu’ils ressentaient vis-à-vis de celui-ci.¹⁹³ (eigene Hervorhebung)

Interessant ist hier die Feststellung, dass zwischen den beiden Konzepten der Hys­ terie und des Totemismus eine Parallelführung bestanden habe. Die Hysterie nach Freud führte zu einem Othering der Frau, die des Totemismus zu einem Other­ ing nicht-europäischer Menschen. Coutos Roman reflektiert anhand der Figur der Temporina diese doppelte Ausgrenzung, statt diese Konzepte explizit zu benen­ nen. Durch ästhetische Strategie schlägt O último voo do flamingo eine differen­ zierte Bestandsaufnahme der Lebenswelt im ländlichen Mosambik vor, die sich nicht darin erschöpft, eindimensional die (neo)koloniale Domination des Wes­ tens herauszustellen.

192 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Le totémisme aujourd’hui. Paris: Presses Universitaires de France 1962. 193 Ebda., S 1 f.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren |

195

Die Diversität innerhalb des Lebens anzuerkennen und auszuhalten vermag der UN-Ermittler in Coutos Roman zu Anfang nicht. Abgesehen von realitätsfer­ nen Erwartungen bezüglich des Lebensstandards¹⁹⁴ missachtet er die Glaubens­ praktiken in Tizangara und respektiert die etablierten Grenzen nicht. Die Thema­ tik von Grenzen spielt im Roman eine wichtige Rolle, wie bereits in Kapitel 3.2 gezeigt wurde. Dabei geht es einerseits sowohl um politisch-geographische Gren­ zen als auch um kulturelle Grenzen und die damit verbundene Forderung nach Selbstbestimmung und Hoheitsrecht. Die UN-Soldaten werden zu Beginn des Ro­ mans als «Grenzstifter» («donos de fronteiras») eingeführt, was auf die kolonialen Grenzziehungen im 19. Jahrhundert verweist. Massimo Risi verhält sich entspre­ chend, als er die in Tizangara geltenden Grenze verletzt, die mit der Verehrung von bestimmten Insekten, den Gottesanbeterinnen, zu tun hat. Der Rezeptionist weist ihn bei der Ankunft im Hotel darauf hin: «Nós aqui não matamos esses bichos. São nossas razões. Esse aí lhe explicara depois» (UV, S. 43). Risi tötet dennoch ei­ ne Gottesanbeterin in seinem Zimmer, die die verstorbene Dona Hortênsia verkör­ pert (vgl. UV, S. 66 ff.). Der Übersetzer und die Hotelangestellten sind entsetzt über Risis Respektlosigkeit: «E com a bengala enxotou do quarto o bicho, varrendo-o como se de um mero lixo se tratasse» (UV, S. 67; eigene Hervorhebung). Wichtig an dieser Szene ist die Grenzverletzung¹⁹⁵ von Risi und nicht die Darstellung so­ genannter fetischistischer oder animistischer Praktiken, wie der Text nahelegt. An Risi wird nachvollzogen, inwiefern sich die Europäer:innen skandalisierten, wenn es um abweichende kulturelle und religiöse Praktiken ging, mit denen sie sich bei der Erforschung des Fetischismus konfrontiert sahen.¹⁹⁶

194 So fragt Risi bei der Ankunft in der Pension, wie viele Sterne sie trüge. Außerdem wundert er sich darüber, dass es kein fließendes Wasser gibt; was der Rezeptionist wie folgt kommentiert: «A água não vem de nenhum lugar: é um miúdo que traz.» UV, S. 40 ff. Wassermangel ist bis heute ein ständiges Thema in Mosambik, und das bei Weitem nicht nur in den ländlichen Gegenden. Auch in der Hauptstadt Maputo ist es mitunter schwierig, zu jeder Zeit fließendes Wasser zu haben. 195 Die Vorstellung, dass etwa die Ahnen in anderer Form auch nach ihrem Tod in der Welt der Lebenden präsent sind, ist in verschiedenen religiösen und spirituellen Zusammenhängen welt­ weit verbreitet. So schildern zum Beispiel die Aufzeichnungen von Willem Bosman, der eine der zentralen Referenzfiguren für den in Europa geprägten Fetischdiskurs war, wie englische Han­ delsleute in Westafrika die von den afrikanischen Einwohner:innen gezogenen Grenzen verletz­ ten und eine Fetisch-Schlange töteten. Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 195 f. (Üb­ rigens ist die erwähnte Fetisch-Schlange möglicherweise die Schlange Bida, wie sie in Variation auch im Wagadou-Mythos vorkommt. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 2 zu Boubacar Boris Diops Roman Le Cavalier et son ombre.) 196 Vgl. Ebda., S. 196 ff.

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In der Begegnung mit Temporina werden Traum und Wirklichkeit für Risi un­ unterscheidbar (vgl. u. a. UV, S. 63 f., S. 76 f.). Das zeigt, wie sich seine geordnete Wahrnehmung aufzulösen beginnt. Temporina erklärt beim Besuch des Hauses von Dona Hortênsia¹⁹⁷, dass es in Tizangara keine binäre Trennung zwischen Le­ benden und Verstorbenen gebe: – Entende agora por que viemos aqui? Para você ver que em Tizangara não há dois mundos. Ele que visse, por si, os vivos e os mortos partilharem da mesma casa. Como Hortênsia e seu sobrinho. E pensasse nisso quando procurasse os seus mortos. (UV, S. 75)

Etwa nach der ersten Hälfte der Erzählung beginnt Risi, sich auf seine Gegenüber einzulassen und das anzunehmen, was sie ihm mitteilen. Der Geistliche des Dor­ fes, Padre Munhando, liest Risi regelrecht die Leviten (vgl. UV, S. 135). Der UNMitarbeiter reagiert mit einer Entschuldigung, die der Erzähler explizit als positiv bewertet: «O italiano cabisbaixou-se e pediu desculpa. Parecia sincero. E assim, a cara metida no rosto, escutou as restantes falas do sacerdote» (UV, S. 135). Wenig später träumt Risi, die Überreste der explodierten UN-Mitarbeiter zu den Hinterbliebenen nach Italien zu überführen. Er ist in seinem Albtraum auf Zwergengröße geschrumpft: «Só então se apercebeu: ele se havia convertido num anão. Regressara vivo de África. Mas sem tamanho» (UV, S. 140). Dieser Traum legt nahe, dass der von Zweifeln geplagte Risi einen Moment der Einsicht hat, wenn auch vorerst nur im Unterbewusstsein. Er selbst sieht sich im Traum als jemand, der «sem tamanho» zurückkehrt. Diese Wendung deutet auf die weitere seman­ tische Ebene des Wortes hin: Größe im Sinne von Arroganz. Der Zwerg kann als Metapher für Demut gedeutet werden. Risi erkennt, dass sein bisheriges Verhal­ ten alles andere als moralisch ehrenwert gewesen ist. Dass ihm während seiner Recherchen nichts zustößt, liegt laut dem Zauberer Andorinho daran, dass eine Frau – vermutlich Temporina – für seinen Schutz gesorgt hat. Schließlich löst sich Risi von seiner überheblichen Perspektive und schreibt seinen letzten Bericht an die UN, an der Seite des Ich-Erzählers.¹⁹⁸ Indem er die Lage des Landes ernst nimmt und sich auf die Menschen dort einlässt, wird eine echte Begegnung doch noch möglich. Der Ich-Erzähler empfindet ihn als «irmão» (UV, S. 242).

197 Hier spielt sich ebenfalls eine Grenzüberschreitung ab: Die UN-Soldaten werden gegen den Willen der Einwohner:innen, aber auf Geheiß des Lokalgouverneurs, in dem Haus der Verstorbe­ nen untergebracht. Vgl. UV, S. 70. 198 «[. . . ] que todo este imenso país se eclipsou, como que por golpe de magia. Não há território, nem gente, o próprio chão se evaporou num imenso abismo. Escrevo na margem desse mundo, junto do último sobrevivente dessa nação.» UV, S. 241.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 197

Am Schluss des Romans steht eine Katastrophe: Das ganze Land geht in ei­ nem Abgrund unter. ‹Uma terra engolida para terra› ist der Titel des 21. und letzten Buchkapitels. Der Vater des Übersetzers kommentiert das Geschehen: Já acontecera com outras terras de África. Entregara-se o destino dessas nações a ambiciosos que governaram como hienas, pensando apenas em engordar rápido. Contra esses desgo­ vernantes se tinha experimentado o inatentável: ossinhos mágicos [. . . .]. Tudo fora em vão: não havia melhora para aqueles países. Faltava gente que amasse a terra. Faltavam homens que pusessem respeito nos outros homens. (UV, S. 237)

Das Phänomen, dass ein gesamtes Land gleichermaßen in eine Warteposition rutscht, ist nach den Worten des Vaters für den ganzen Kontinent paradigma­ tisch. Er spielt damit auf die gemeinsame koloniale Vergangenheit an, nach de­ ren formalem Ende häufig dieselben Probleme auftraten: korrupte einheimische Regierungen («hienas», «desgovernantes»), ein Zyklus aus externen Abhängig­ keiten und Frustration. Was laut der Diagnose des Vaters fehlt, ist der Einsatz der lokalen Bevölkerung für ihre Heimat: Porque a nossa pátria não via em si o apreço de seus filhos. Eu já notara o destino de nossa terra? Fazia lembrar aquele homem que, de tanto ressuscitar, acabou morrendo. Eu que visse como haviam esburacado o nosso chão. Uns semeavam minas no país. Eram esses de fora. Outros, de dentro, colocavam o país numa mina. (UV, S. 224)

Im letzten Satz macht der Vater sowohl ausländische als auch inländische Kräfte für ihr Versagen verantwortlich. Das ist eine deutlich Kritik an den nachkolonia­ len Zuständen, die die Mosambikaner:innen nicht außen vor lässt. Das Leitmotiv in O útimo voo do flamingo ist ein Mythos, der sich auch im Romantitel abbildet und dessen umfassende Bedeutung sich erst zum Schluss des Romans entfaltet. Der mythischen Erzählung zufolge sind die Flamingos dafür verantwortlich, dass Tag und Nacht sich voneinander geschieden haben: «havia um lugar onde o tempo não tinha inventado a noite. Era sempre dia. Até que, certa vez, o flamingo disse: – Hoje farei o meu último voo!» (UV, S. 126). Der Flamingo-Mythos ist eingebettet in die Auseinandersetzung des Erzählers mit seiner eigenen Lebensgeschichte, denn seine Mutter hat ihm die Geschichte mitgegeben. Dadurch bekommt der Flamingo-Mythos etwas Intimes:¹⁹⁹ Para ela os flamingos eram eles que empurravam o sol para que o dia chegasse ao outro lado do mundo. – Este canto é para eles voltarem, amanhã mais outra vez! (UV, S. 52)

199 Auch für den Vater haben die Flamingos eine große Bedeutung als Lebensretter, die von der Fischerei herrührt. Vgl. UV, S. 145. Bemerkenswert ist, dass den Flamingos auch in dieser Interpretation eine existenzielle Bedeutung zukommt.

198 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

Wenn die Mutter auf die Wiederkehr des Flamingos wartet, damit es wieder Tag wird, ist das eine Chiffre für die Hoffnung. Das steht im Gegensatz zur ansonsten pessimistischen Haltung der Mutter, die dem Frieden nicht vertraut: «A guerra nunca partiu, filho. As guerras são como as estações do ano: ficam suspensas, a madurecer no ódio da gente miúda» (UV, S. 125). Wesentlich ist, dass der Flamingo-Mythos eine metaliterarische Dimension aufweist, wodurch Hoffnung mit dem Akt des Erzählens verknüpft wird. Der Wunsch des Flamingos, die Grenzen zu überschreiten, kann in diesem Zusam­ menhang als Transgression der Grenzen zwischen Erzählung und Realität ge­ dacht werden. Vor seinem Abflug erklärt der Flamingo den anderen Vögeln seine Sehnsucht: Mas vai voar para onde? – Para um sítio onde não há nenhum lugar. O pernalta, enfim, chegou e explicou – que havia dois céus, um de cá, voável, e um outro, o céu das estrelas, inviável para voação. Ele queria passar esse fronteira. (UV, S. 126)

Der «Ort, der keinen bestimmten Platz hat», wie es im Text heißt, ist der Ort der Fiktion, der Fantasie. Er ist da und sichtbar, aber wie die Sterne – die längst er­ loschen sind, bis ihr Licht zum menschlichen Auge gereist ist – erscheint er nur, ohne in seiner Materialität je erreichbar zu sein. Als der Flamingo in den Himmel aufsteigt gibt der Text weitere metaliterarische Hinweise: Assim, visto em voo, dir-se-ia que o céu se vertebrara e a nuvem, adiante, não era senão alma de passarinho. Dir-se-ia naus; que era a própria luz que voava. E o pássaro ia desfolhando, asa em asa, as transparentes páginas do céu. Mais um bater de plumas e, de repente, a todos pareceu que o horizonte se vermelhava. (UV, S. 128)

Die Flugbewegungen des Flamingos scheinen Buchseiten umzublättern. Seine «plumas», die im anschließenden Satz erwähnt sind, wecken die Assoziation zu einer Schreibfeder. Ihre Bewegung verändert den Himmel, färbt ihn rot, genauso wie der Akt des Schreibens Dinge verändert. Die hier vorgeschlagene Interpreta­ tion des Flamingo-Mythos als Metapher für den schriftstellerischen Akt spiegelt sich im Titel des Buches: O último voo do flamingo verweist auf den im Roman explizierten Mythos. Die materielle Realität des Textes ist gleichsam eine Mani­ festation der im Mythos beschriebenen Hoffnung. Die Erinnerung des Erzählers im zehnten Kapitel beschränkt sich nicht auf eine bloße Wiedergabe des Flamingo-Mythos, sondern evoziert vielmehr den Akt des Erzählens der Mutter. Das stellt das Erzählen als soziales Ereignis in den Vor­ dergrund:

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 199

Então, ela contou. Eu repetia palavra por palavra, decalcando sobre a voz cansada dela. Rezava: [. . . ] Era o ponto fial. No escurecer, a voz de minha mãe se desvaneceu. Olhei o poente e vi as aves carregando o sol, empurrando o dia para otros aléns. (UV, S. 126, S. 128)

Die Schlussszene des Romans greift den Flamingo-Mythos nochmals auf und be­ stärkt die Bedeutungsdimension des Schreibens als Hoffnung. Der UN-Mitarbeiter Massimo Risi faltet einen Papiervogel aus seinem Bericht für die UN, den er in den Abgrund wirft, der sich aufgetan hat: – Há de vir um outro – repetiu [Massimo Risi]. Aceitei a sua palavra como de um mais velho. Face à neblina, nessa espera, me perguntei se a viagem em que tinha embarcado meu pai não teria sido o último voo do flamingo. Ainda assim, me deixei quietado, sentado. Na espera de um outro tempo. Até que escutei a canção de minha mãe, essa que ela entova para que os flamingos empurassem o sol do outro lado do mundo. (UV, S. 242; eigene Hervorhebung)

Der Ich-Erzähler ist sich nicht sicher, ob die Flamingos den letzten Flug schon gemacht haben oder noch einmal wiederkehren. Bemerkenswert ist, dass am Schluss das Erzählen auf zweifache Weise als Me­ dium für diese Hoffnung dargestellt wird. Zunächst trägt der Vater dem Sohn auf, Zeugnis von der erlebten Geschichtserfahrung abzulegen: «Para contar aos ou­ tros o que aconteceu com nosso mundo. Não quero que seja esse, de fora, a falar desta nossa éstoria» (UV, S. 240).²⁰⁰ Im Akt des Lesens realisiert sich dieser An­ spruch performativ. Zudem faltet Risi wie bereits erwähnt aus seinem Bericht ei­ nen Papiervogel. Risi und der Ich-Erzähler sind in einem Erkenntnisprozess, der parallel zu einem hermeneutischen Leseprozess angelegt ist, zu Einsichten ge­ langt und haben durch die gegenseitige Annäherung ihre jeweilige Haltung ge­ ändert. Durch diese Dopplung wird nachdrücklich insinuiert, dass der literari­ sche Raum ein Raum der Erkenntnis ist. Das schließt an Szondis Überlegungen zur philologischen Erkenntnis an. Diese grenze sich von Wissen der Naturwissen­ schaften ab: «Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Erkenntnis nie verlassen, Wissen ist hier perpetuierte Erkenntnis, oder sollte es doch sein.»²⁰¹ Durch den Flamingo-Mythos rückt die Mutter des Übersetzers als eine wei­ tere wichtige Erzählstimme in den Fokus. Auch wenn sie im Roman vermittelt durch die Erinnerungen des Ich-Erzählers²⁰² auftritt, nimmt sie in vier von 21 Ka­

200 Vgl. dazu auch UV, S. 201. 201 Peter Szondi: Hölderlin-Studien mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, S. 11. 202 Auch der Vater erwähnt sie, allerdings eher kurz und zumeist abwertend.

200 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

piteln größeren Raum ein.²⁰³ Anhand dieser Figur wird eine weitere Facette des Frauseins in Coutos Roman beleuchtet. Außerdem stellt die Mutterfigur am poin­ tiertesten heraus, dass in O último voo die Frauen eine Perspektive auf eine (bes­ sere) Zukunft eröffnen. Die Mutter ist am Ende des Romans inmitten der Katastro­ phe präsent, indem ihr Gesang die Hoffnung aufrechterhält: «Até que escutei a canção de minha mãe, essa que ela entoava para que os flamingos empurrassem o sol do outro lado do mundo» (UV, S. 242).²⁰⁴ Das sagt der Ich-Erzähler am En­ de. Das ruft Hélène Cixous’ Gedanken zu Mutter und Vater auf. Sie schreibt: «Die Mutter singt, der Vater diktiert.»²⁰⁵ In Coutos Roman thematisiert der Gesang der Mutter die Hoffnung und er ist selbst Hoffnung: Die Mutterfigur als diejenige, die die Kinder und damit die nächste Generation zur Welt bringt, erscheint auch als diejenige, die Zukunft denkbar macht. Das Werk von Hélène Cixous, das in enger Verbindung mit Jacques Derridas Schreiben und Denken steht, kreist um die Mutter: Nicht nur um ihre eigene Mut­ ter, sondern um die Figur der Mutter. Abgesehen von emblematischen Texten wie etwa Osnabrück²⁰⁶ und Homère est morte²⁰⁷ taucht die Figur der Mutter auch in kleineren Texten auf. Ihre Verbindung zur Zeit wird etwa in ‹Quelle heure est-il ou La porte (celle qu’on ne passe pas)›,²⁰⁸ betrachtet oder in ‹Von der Szene des Unbe­ wussten zur Geschichte. . . ›²⁰⁹, einem Tagungsbeitrag, der auf Deutsch erschien. In O último voo wird mit der Mutter nicht nur eine zukünftige Temporalität verbunden, sondern auch eine gegenwärtige, die durch die vergangene mitkon­ stituiert wird. Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Mutter, um sich selbst in der Gegenwart zu verorten. Im zehnten Kapitel (‹Os primeiros rebentamentos›) erzählt der Übersetzer, wie optimistisch die Menschen in Tizangara unmittelbar nach En­ de des Krieges gewesen seien und wie sehr das korrupte und unrechte Verhalten der neuen Eliten diese Hoffnungen konterkariert habe (vgl. UV, S. 122 ff.). Er habe sich eine zeitlang im Wald verschanzt, nachdem es zu ersten Minenexplosionen kam, die er zunächst für ein Zeichen des erneut ausgebrochenen Krieges hielt. In dieser Situation erscheint ihm die Mutter als Vision und fordert ihn auf, zurück­ 203 In Kapitel vier und zehn sowie in Kapitel 15 und 18, in denen vor allem der Vater spricht. 204 Vgl. dazu UV, S. 52 sowie S. 126–128. 205 Hélène Cixous: Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte. In: Karin Rick (Hg.): Das Sexuelle, die Frauen und die Kunst. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1987, S. 62–89, hier S. 70. 206 Vgl. Hélène Cixous: Osnabrück. Paris: Des femmes 1999. 207 Vgl. Hélène Cixous: Homère est morte. Paris: Galilée 2014. 208 Vgl. Hélène Cixous: Quelle heure est-il ou la porte (celle qu’on ne passe pas). In: MarieLouise Mallet (Hg.): Le passage des frontières : autour du travail de Jacques Derrida (colloque de Cerisy). Paris: Galilée 1994, S. 83–98. 209 Vgl. Hélène Cixous: Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 201

zukehren: «Ficámos ali horas troncando nadas, simplesmente adiando o tempo. Alongando o milagre de estarmos ali, na margem da floresta. Já entardecia, ela me avisou: – Volte para a vila, há de acontecer tantíssima coisa» (UV, S. 125; Hervor­ hebung im Original). Die Mutter wacht in gewisser Weise über die Zeit des Sohnes und erinnert ihn daran, dass er erwachsen und sein Platz damit innerhalb des Dorfes ist. Die Mutter tritt hier als Garantin der eigenen Lebenszeit auf, alles führt auf sie zurück. Ein Gedanke, den Hélène Cixous n ihrem Text ‹Quelle heure estil›²¹⁰ ausgeführt hat. Darin schreibt sie über die Mutter und die Zeit: ‹Notre âge›, s’il compte, c’est pour notre mère, c’est notre mère qui l’a, le compte c’est elle qui le fait. Nous, nous avons toujours intérieurement notre âge secret, un certain âge de notre en­ fance, notre âge-force, notre âge préféré, nous avons cinq ans, dix ans, l’âge où nous avons été pour la première fois les historiens ou les auteurs de notre propre vie, où nous avons fait trace, où nous avons pour la première fois été marqués, frappés, empreints, nous avons saigné et signé, la mémoire a commencé, où nous nous sommes manifestés comme chef ou reine de notre propre état, où nous avons pris notre propre pouvoir, ou biens nous avons vingt ans ou trente-cinq, et nous sommes sur le point de surprendre l’univers.²¹¹ (eigene Hervorhebung)

Der Vater des Übersetzers hat die Familie verlassen, weil seine Frau keine wei­ teren Kinder mehr bekommen konnte. Der Erzähler beschreibt sich als einzigen Sohn als personifizierte Bestrafung: «Eu não era apenas um filho – era o castigo de ela não mais poder ser mãe. E aquele destino em outras punições se multipli­ cou [. . . ]» (UV, S. 50). Die Mutter blieb mit dem Kind allein zurück und ihr Ehebett verwandelte sich in ein «leito desconjugal», wörtlich etwa: ein «Un-Ehebett». Sie litt im Stillen und steht damit für das Leiden vieler Frauen in Mosambik, wie Cou­ tos Roman nahelegt: Als sie dem Sohn nach ihrem Tod erscheint und ihn vor den Minenexplosionen bewahrt, macht sie sich auf, die Tränen aller Mütter einzusam­ meln (vgl. UV, S. 125).

210 Zu Beginn des Textes ‹Quelle heure est-il› schreibt Cixous über die Protagonistin, die Zeit: «‹La porte s’ouvre› – on ne sait jamais qui l’ouvre, de quel côté il ou elle entre ou sort. La porte s’ouvre, entre – l’Heure. L’heure est le personnage de mon récit. ‹La porte s’ouvre›, dit la langue qui ne dit pas ‹quelqu’un ouvre la porte.› Est-ce mère, est-ce chat, est-ce loup, est-ce toi ? ‹La porte s’ouvre› dit le poème – qui sait que toute porte est esprit magique, et tout poème est une porte, et, de même le Temps s’ouvre et se ferme, selon sa magie étrangère, le Temps, qui est la propre matière de notre âme, notre propre substance étrange et redoutée – Quelle heure est-il ? That is the question.» Hélène Cixous: Quelle heure est-il, S. 83 f. 211 Ebda., S. 88.

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Die Mutter sorgte allein für ihren Sohn, den Übersetzer – «É que eu carrego tão sozinha as nossas vidas!» (UV, S. 175) – und ermöglichte ihm den Schulbesuch außerhalb des Dorfes, wie er sich als Erwachsener erinnert. Ihre Liebe schränk­ te sein Leben nicht ein, obwohl sie der modernen Bildung gegenüber skeptisch eingestellt war: «–Veja você, meu filho, já apanhou maneiras dos brancos! [. . . ] Você quer entender o mundo que é coisa que nunca se entende» (UV, S. 50). Die Darstellung der Mutter als bedingungslos Liebende knüpft wiederum an Cixous an. Mutterliebe schenkt Freiheit, wie sie schreibt: Avec l’autre pour mère sans fin, fondent les digues qui empêchent l’âme charnelle de rouler ses flots jusqu’à l’extrémité des mondes. Le service que tu me rends dans l’acte d’amour – cette possibilité d’évasion, cette chance de jouir de l’extravagance sans souffrir la folie, Je l’appelle liberté.²¹²

Die Freigiebigkeit und die Großzügigkeit, die in Coutos Roman mit der Mutter­ figur verbunden werden, bekommen ein besonderes Gewicht, denn sie situieren sich vor den bereits erörterten kapitalistischen Logiken in O último voo. Indem die Mutter bedingungslos und ohne Gegenleistung liebt, durchbricht sie die ökono­ mische Tauschbeziehung von Geben und Nehmen.²¹³ Die enge und durch die Schwangerschaft existenzielle Verbindung zwischen Mutter und Sohn evoziert der Erzähler zu Beginn des vierten Kapitels. Die Mutter kann ihren Sohn nicht sehen, weil er ein Teil von ihr ist, wie es im Text heißt: Há aqueles que nascem com defeito. Eu nasci por defeito. Explico: no meu parto não me extraíram todo, por inteiro. Parte de mim ficou là, grudada nas entranhas da minha mãe. Tanto isso aconteceu que ela não me alcançava ver: olhava e não me enxergava. Essa parte de mim que estava nela me roubava da sua visão. [. . . ] A vida é assim: peixe vivo, mas que só vive no correr da água. Quem quer prender esse peixe tem que o matar. [. . . ] Os filhos se parecem com água andante, o irrecuparável curso do tempo. (UV, S. 49)

In Coutos Roman wird die Verbindung zwischen Mutter und Kind ins Körperliche rückübersetzt. Das Kind ist Teil der Mutter und so wie sie sich nicht selbst sehen kann, kann sie auch das Kind nicht erblicken. Cixous schreibt dazu: Mais il arrive parfois qu’en essayant de nous circonscrire, nous frôlions notre porte. Cela se produit dans certaines circonstances, plutôt aux environs d’un anniversaire, car c’est alors que nous revient la mère et avec elle vient le secours d’un regard autre, le sui qui se ‹souvienne› de nous depuis notre première seconde.

212 Ebda., S. 94. 213 Vgl. dazu auch Jacques Derrida: Donner le temps. 1. La fausse monnaie. Paris: Galilée 1991.

3.5 Die Wandlung des UN-Ermittlers und die Darstellung der Frauenfiguren | 203

Ou bien aux environs d’un événement fatidique, la mort d’un parent ou d’un enfant, la dis­ parition d’un proche par le sang, qui réveille en nous la source toujours oubliée (le sang). Vivant je meurs par morceaux, je meurs par plusieurs morts avec ma propre mort, je le sais mais c’est ce que j’ai oublié. Car ceci est le mystère de mon corps qui s’étend au-delà de mon corps, mon corps à la merci de ton corps.²¹⁴ (eigene Hervorhebung)

In O último voo wird «un regard autre» erst dann wirksam, als die Mutter stirbt. Sie kann den Sohn für den Augenblick des Sterbens sehen (vgl. UV, S. 53 f.). Für den Übersetzer ist das ein Moment der Erleichterung und des Neubeginns: «Fiquei com o corpo de minha mãe encostando uma leveza no meu peito, semelhando uma folha tombando do imbondeiro» (UV, S. 54). Er nennt den Tod der Mutter ein «desacontimento» (ebda.). Der Ich-Erzähler sagt also, dass mit dem Tod der Mut­ ter etwas auch in ihm gestorben sei: Das Blatt, das sich leblos vom Baum ablöse. Das markiert den nicht-lebbaren Moment – das «Nichtgeschehen» – des Todes der Mutter, wie ihn Cixous in Worte fasst: C’est que, avec l’annonce de la mort de Portia à Brutus, entre, monumental, le Silence. Ma voix est tranchée nette dans ma gorge puisqu’elle n’est plus, la personne à qui je l’adressais. Personne ne peut vivre ce moment-là. On ne peut que le mourir. À l’approche, à l’évocation de la scène de ma perte de toi, du plus loin qu’une pensée s’aven­ ture dans cette direction, tout s’éteint, je ‹meurs› à moi, je m’en vais. Plutôt mourir que subir ta mort. Ta mort je ne la vivrai pas. Nul n’a jamais vécu au présent la perte d’un proche. La mort d’un parent cher d’abord nous élimine. Sur l’heure pas une larme sur mon père, pas une larme sur ta mère. Pourtant dieu sait que nous avons de fleuves de larmes à verser. Où sont-ils donc passés ? Ailleurs, au loin, au futur, chez le voisin. Elles reviendront plus tard, indirectes, déplacées.²¹⁵ (eigene Hervorhebung)

Vor dem Hintergrund dieser Interpretation der Mutterfigur als Alternative zum Phallogozentrismus deutet das Ende von Coutos Roman darauf hin, dass die Zu­ kunft Mosambiks maßgeblich mit und durch die Frauen gestaltet werden muss. Dass die Mutter als Erzählerin des Flamingo-Mythos die zentrale Quelle für Hoff­ nung ist, stellt ihr schöpferisches Potential für den Aufbau Mosambiks heraus. Der Roman sieht also die selbstbestimmte Entwicklung Mosambiks jenseits des Phal­ logozentrismus und nicht innerhalb der Ordnung desselben, wie es etwa Phillip Rothwell in seiner Interpretation vorgeschlagen hat.²¹⁶

214 Hélène Cixous: Quelle heure est-il, S. 87 f. 215 Ebda., S. 92. 216 Rothwell sieht zwar auch, dass es darum geht, eine von außen aufoktroyierte Ordnung loszu­ werden, bleibt aber letztlich im phallogozentrischen Bezugsschema von Lacan haften und spricht von der «challenge to Tizangara (i. e. Mozambique) to find its own phallus, to assume its own symbolic order.» Phillip Rothwell: A Postmodern Nationalist, S. 167 und vgl. auch ebda., S. 19.

204 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

3.6 Zwischenfazit Mia Coutos Roman O último voo do flamingo (2000) stellt den Körper als Austra­ gungsort nachkolonialer Gewalt in Mosambik in den Mittelpunkt. Dabei ist der kritische Bezug ein doppelter: Es geht sowohl um Gewalt des kolonialen Euro­ pas und der Internationalen Gemeinschaft als auch um Gewalt der sozialistischen FRELIMO-Führung im unabhängigen Mosambik. Das Verhältnis der Mosambika­ ner:innen untereinander und das Verhältnis zwischen ihnen und der Vergangen­ heit erscheint fragmentiert. Mia Couto hat diesen Gedanken mit Blick auf O último voo do flamingo in einem Interview formuliert: Não me apetece muito fazer a crítica política explícita mas interessa-me fazer o jogo de ca­ ricaturas em relação àquilo que me parece um pouco desajustado em termos de situações, comportamentos, estereótipos. Aqui em Moçambique há também a questão de que não só os modelos políticos estão sendo experimentados e testados, mas também correspondem e nasceram em contextos culturais muito diferentes, tão longínquos. Interessa-me esta deslo­ cação, esta fractura que há neste aspecto e que mostra que há alguma coisa que não está em sintonia.²¹⁷ (eigene Hervorhebung)

Coutos Roman zeigt, dass epistemische und materielle Gewalt nicht zu trennen sind. O último voo do flamingo verhandelt die Domänen der Magie, der Sexua­ lität, der Ökonomie, der politischen Macht und der Psychologie. Deswegen habe ich den Text vor der Folie der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Fetischkon­ zepts analysiert, das an alle diese Domänen anknüpft und historisch in besonde­ rer Weise auf das Verhältnis von Europa und Afrika verweist. Die scharfe Kritik eines männlich dominierten eurozentristischen Weltver­ ständnisses wird in O último voo do flamingo in ein radikales Bild gefasst, das mit einem historischen Bezug verknüpft ist: Die Soldaten der UN-Friedensmis­ sion in Mosambik Anfang der 1990er Jahre – die UN-Mission etablierte in der Rea­ lität eine Art Parallelregierung und übernahm die Angelegenheiten Mosambiks fast vollständig²¹⁸ – explodieren unblutig und lassen lediglich ihr männliches Ge­ schlechtsorgan zurück. Das habe ich als symbolische Kastration und damit Un­ schädlichmachung des Phallogozentrismus, wie ihn Jacques Derrida in seinen Arbeiten kritisiert hat, gedeutet. Coutos Roman ironisiert auch die damit verbun­ dene Fixierung auf das Mündliche und ein positivistisches Sprachverständnis, das mit normativem Anspruch von einer objektiven und transparenten Welt-Spra­ che-Beziehung ausgeht. Das geschieht vor allem durch den Ich-Erzähler, der als Übersetzer ausgewiesen wird. Wie meine Analysen in Kapitel 3.2 herausgearbei­ 217 Mia Couto: Entrevista. 2008, S. 95. 218 Vgl. Maylin Newitt: Mozambique, S. 233.

3.6 Zwischenfazit |

205

tet haben, ist sein Vorwort ein programmatischer Rahmen für den Roman, in dem Coutos detaillierte Arbeit mit der kolonial besetzen Sprache deutlich wird. Hier lässt sich eine Verbindung von Coutos Werk mit dem brasilianischen modernismo ausmachen. Couto wurde nach eigenen Angaben stark von der brasilianischen Li­ teratur beeinflusst, darunter vor allem von Guimarães Rosa.²¹⁹ An Rosas Sprache schätze er, dass sie der einengenden Logik des Schriftlichen zu entgehen wisse, so fasste es Mia Couto einmal selbst.²²⁰ Herausragende erzählerische Verfahren, die an die mündliche Erzählform des conto angelehnt sind, betreffen die Komposition sowie die Figurenführung. Der Roman ist multiperspektivisch angelegt und reiht in sich weitgehend abgeschlos­ sene Kapitel aneinander, die die Sicht einzelner Figuren auf das Geschehen wie­ dergeben. Dabei kommt eine Fülle von Ausdrucksformen zur Geltung, die etwa als Briefe, Aussagen und Erinnerungen ausgewiesen werden. Darüber hinaus haben die Analysen insbesondere in Kapitel 3.2 gezeigt, wie den Kapiteln vorangestellte Epigraphe den fiktionalen Raum erweitern. Sie schaffen gleichsam eine BinnenIntertextualität, indem neben Sprichworten auch Zitate der Figuren des Romans eingesetzt werden. Dazu kommen sprechende Namen für die Figuren, wodurch diese wiederum als weitgehend autarke erzählerische Einheiten fungieren. Die­ ses Verfahren habe ich in Kapitel 3.4 ausführlich etwa für «Suplício» diskutiert. Coutos Roman konzentriert sich auf ein Dorf im ländlichen Norden Mosam­ biks und stellt damit die Geschichtserfahrung eines großen Teils der Bevölkerung unter der FRELIMO-Politik zwischen 1974 und 1990 in den Mittelpunkt. Die durch den Süden des Landes dominierte FRELIMO setzte in den 1970er und 1980er Jah­ ren den Marxismus-Leninismus als Leitideologie. Diese Maximen wurden strikt und absolut gehandhabt. Die Fixierung auf den Marxismus-Leninismus erscheint so als eine Art Fetischismus, wie ich in meiner Deutung vorgeschlagen habe: Coutos Roman stellt diese historische Phase Mo­ sambiks stellenweise ironisch überspitzt dar. O último voo do flamingo entlarvt den vordergründigen Gegensatz zwischen Kolonialregime, sozialistischer Volks­ republik und neoliberal organisierter Staatlichkeit als Konstrukt. Nuanciert ar­ beitet Coutos Roman heraus, wie das Fetischkonzept der unsichtbare gemeinsa­ me Nenner dieser Politiken ist. Von der exotisierenden kolonialen Chiffre für das ‹Anderssein› über die ungewollte Aneignung und Übertragung derselben auf die sozialistische Regierung des unabhängigen Mosambiks – die ironischerweise den Marxismus selbst zum Fetisch verklärt, der ja gerade den Fetischkult anklagt – bis

219 Vgl. Petar Petrov: O projecto literário de Mia Couto, S. 27 f. 220 Vgl. ebda., S. 30.

206 | 3 Fragmentierungen: Mensch, Objekt und Umwelt in O último voo do flamingo

hin zur Fixierung auf kapitalistische Tauschlogiken und ein damit einhergehen­ des, als ‹rational› definiertes Weltbild. Die close readings des gesamten Analysekapitels haben gezeigt, dass Coutos Roman solche komplexen theoretischen Reflexionen enthält, sie jedoch über die Lebensgeschichten der Figuren anschaulich macht und so die epistemische Ge­ walt an den einzelnen menschlichen Körper rückbindet. Die sozialistische Füh­ rung unter Samora Machel propagierte die Idee eines Homem Novo, deren Umset­ zung durch repressive und gewaltsame Maßnahmen – etwa Besserungslager für Prostituierte und Alkoholiker:innen, die als Bedrohung des Sozialismus gesehen wurden – erzwungen wurde. Das spiegelt sich in der Figur der Prostituierten Ana Deusqueira wider, wie ich in Kapitel 3.3 erörtert habe. In Kapitel 3.4 habe ich die Lebensgeschichte der Figur des Suplício, des Vaters des Erzählers, näher betrachtet. Sie konzentriert Erinnerungen an die Kolonial­ vergangenheit und an die Versprechen der Unabhängigkeit, die nicht eingelöst wurden. Der Roman bezieht sich auf den historischen Moment Anfang der 1990er Jahre, als die FRELIMO nach einem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Bür­ gerkrieg – der auf den Unabhängigkeitskrieg folgte – vor einer enormen Aufgabe stand: The challenge which now faced the new Mozambique government was immense. The country’s economy and infrastructure, the legacy of the colonial era, had been largely de­ stroyed and the institutional and cultural innovations of FRELIMO’s early years had proved bankrupt and had to be abandoned. Almost every aspect of the state and the nation had to be reinvented – new liberal democratic institutions and a large element of decentralization had been promised, the economy had to be rebuilt and a new cultural identity respectful of the country’s traditions had to be nurtured.²²¹

Die Frauenfiguren spielen in Coutos Roman eine zentrale Rolle und können als Ge­ gengewicht zum Phallogozentrismus gelten, wie im Rückgriff auf Hélène Cixous in Kapitel 3.5 gezeigt wurde. Insbesondere Temporina, die in enger Beziehung zum UN-Ermittler Massimo Risi steht, und die Mutter des Erzählers sind hier zu nen­ nen. Jedoch bildet der Roman die herrschende patriarchale Machtstruktur ab, so dass das Potential der Frauenfiguren eher als Ressource für den zukünftigen Wie­ deraufbau Mosambiks ins Spiel gebracht wird. Damit verbunden ist der titelge­ bende Flamingo-Mythos, der nicht nur über Hoffnung spricht, sondern in einer metaliterarischen Lesart das Erzählen als konstruktiven Modus von Reflexion in­ szeniert. Coutos Roman verbindet einen zeitgenössischen kritischen Blick auf Vergan­ genheit und Gegenwart mit Anleihen an das mündliche Erzählen und die Lebens­ 221 Maylin Newitt: A Short History of Mozambique, S. 176.

3.6 Zwischenfazit

| 207

realität in Mosambik. Eine holistische Weltauffassung, die Mensch, Umwelt und Objekte miteinander in Beziehung sieht, kommt dabei zur Geltung. Dies jedoch nicht im Sinne eines essentialisierenden oder romantisierenden Zeigegestus’, der die ‹Andersheit› von Mosambik und die Sehnsucht nach einer vermeintlich un­ versehrten Vergangenheit beschreibt, sondern vielmehr als Element der Lebens­ praxis. Ana Margarida Fonseca hat dies in ihrer Studie auf Grundlage von Coutos’ zahlreichen Äußerungen in Zeitungen und Essays herausgestellt: A presença do passado, sob a forma de tradições, práticas ou crenças, não pode, pois, nem ser descartada como algo de espúrio, nem sobrevalorizada como o último reduto de identidades perdidas. A mestiçagem, sublinha Couto, não é uma condenação, mas um direito e uma prática quotidiana não só por parte das elites urbanas e letradas, mas também por parte das populações rurais, onde o escritor observa hábitos e comportamentos que já nada têm que ver com a concepção estática de uma cultura oral e animista.²²² (eigene Hervorhebung)

Die rassistische Ideologie der Kolonialzeit behauptete einen wesentlichen Unter­ schied zwischen Menschen aus Afrika und Menschen aus Europa. Als Akt des Wi­ derstandes wurde vor diesem Hintergrund die Nicht-Zugehörigkeit zu Europa auf­ gewertet, so etwa im Programm der Négritude ab den 1930er Jahren, die den Kon­ tinent und auch die Diaspora miteinbezog. Der Roman verweist auf das komplexe Erbe dieser geistigen Tradition, das in Tizangara die Gestaltung der Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre schwierig macht. Der Geistliche Padre Munhando kom­ mentiert angesichts eines Neugeborenen: O pensamento do sacerdote ia direito no assunto: mulatos, não somos todos nós? Mas o povo, em Tizangara, não se queria amulatado. Porque o ser negro – ter aquela raça – nos tinha sido passado como nossa única e última riqueza. E alguns de nós fabricavam sua iden­ tidade nesse ilusório espelho. (UV, S. 66; eigene Hervorhebung)

Hier klingt die Spannung an zwischen dem Geistlichen einer durch den Kolonia­ lismus importierten Religion und der Bevölkerung. Während Padre Munhando die Loslösung von essentialistischen, auf Unterschiedlichkeit beharrenden Zuge­ hörigkeiten betont, beharren die Menschen in Tizangara auf dem Konstrukt von Identität – als Reaktion auf die Erfahrung der kolonialen Unterdrückung. Der Text gibt hier eingedenk der Geschichtserfahrung eine klare Wertung ab, ohne die Hal­ tung der Dorfbewohner:innen zu verunglimpfen, wenn im letzten Satz die Rede von einem «ilusório espelho» ist. Hier zeigt sich noch einmal: O último voo do flamingo versucht, die Geschichtserfahrung der Mosambikaner:innen zu verste­ hen und differenziert zu reflektieren. Damit ist der Roman exemplarisch für das gesamte Werk Mia Coutos.

222 Ana Margarida Fonseca: Percursos da identidade, S. 333.

4 Den Genozid benennen, Unrecht erzählen: Über Recht im ästhetischen Raum in Murambi von Boubacar Boris Diop Boubacar Boris Diops Roman Murambi befasst sich mit dem Genozid in Ruanda 1994 und rückt dabei den Konnex von Sprache und Gewalt ins Blickfeld. Der Ro­ man lotet aus, wo die Grenzen des Erzählens mit Blick auf menschliche Extrem­ erfahrungen liegen und thematisiert, wie davon erzählt werden kann und sollte: Dass es kein abgeschlossenes Narrativ und keine stabile Erinnerung im Sinne ei­ ner endgültigen ‹Ablage› der Vergangenheit geben kann, heißt nicht, dass der Ge­ nozid absolut ‹unsagbar› wäre. Immer wieder ist in Diops Text festgehalten, dass es notwendig ist, historische Erkenntnis als solche und in der Erzählung zu for­ mulieren, jedoch nicht im Sinne einer letztgültigen Erzählung. Die Analyseschritte des vorliegenden Kapitels orientieren sich weitgehend entlang der vier Teile des Romans: ‹La peur et la colère› (Teil I), ‹Le retour de Cor­ nelius› (Teil II), ‹Génocide› (Teil III), ‹Murambi› (Teil IV). Diese Struktur ist nicht zufällig, sondern hat eine Bedeutung im Kontext des Sprechens über Gewalt: Es alternieren in Ich-Form verfasste Zeugenberichte (Teile I, III) – mit jeweils einer homodiegetischen Erzählstimme mit wechselnder interner Fokalisierung – und zwei erzählerische Blöcke (Teile II, IV). Diese werden von einer heterodiegeti­ schen Stimme mit einer durchgehenden internen Fokalisierung auf die Hauptfigur Cornelius geschildert. Die vier Teile des Romans werden übergreifend durch die wiederkehrende Präsenz einer Figur (Jessica, einer Kämpferin des Front Patrio­ tique Rwandais) zusammengehalten und in Dialog gebracht, wie im Folgenden herausgearbeitet wird. Die hier skizzierte Architektur des Romans vermag, ver­ schiedene Zeitebenen – vor, während, nach dem Genozid – im erzählerischen Raum in ihrem jeweils eigenen Vollzug zu vergegenwärtigen. In der Einleitung (4.1) dieses Kapitels wird das mindestens dreifache Verhält­ nis von Sprache und Gewalt erläutert, wie es sich laut meiner These in Diops Ro­ man abbildet. Diese drei Dimensionen von Sprache und Gewalt sind in den fol­ genden Kapiteln 4.2–4.5 stets präsent; jedoch setzten die Analysen jeweils unter­ schiedliche Schwerpunkte, die der Roman selbst vorgibt: Kapitel 4.2 bezieht sich auf Teil I des Romans und die Betonung der sprachlich verfassten Darstellung von Wirklichkeit im Rahmen der Geschichte; 4.3 erörtert die Form der Familien­ geschichte in den Teilen II und IV und arbeitet heraus, wie diese im Roman ge­ nutzt wird, um eine überindividuelle, historische Erkenntnis zu konturieren. Das Analysekapitel 4.4 konzentriert sich auf die metaliterarischen Reflexionen in den Teilen II und IV von Murambi. Es wird gezeigt, wie dort die Angemessenheit der li­ https://doi.org/10.1515/9783110723366-004

210 | 4 Über Recht im ästhetischen Raum in Murambi

terarischen Darstellung diskutiert und schließlich das Ästhetische als privilegier­ ter Raum für (kollektive) Erinnerung vorgeschlagen wird. Kapitel 4.5 analysiert Teil III des Romans, in dem durch eine komplexe Figurenführung Zeugenschaft in der Fiktion gestaltet wird. Dies ergibt eine psychologische, gleichsam innere Rekonstruktion des Genozids, die sich abgrenzt von dokumentarisch-journalisti­ schen Nacherzählungen, die ihr Augenmerk auf ereignisbezogene Vorgänge und Verläufe legen. Das Fazit (4.6) bündelt die zentralen Erkenntnisse der Textanaly­ sen und setzt sie in Bezug zum übergeordneten Erkenntnisinteresse dieser Studie. In dem vorliegenden Kapitel meiner Studie argumentiere ich, dass sich Diops Roman Murambi selbstbezüglich als literarischer Reflexions- und Erinnerungsort konstituiert und ästhetisch (sekundäre) Zeugenschaft verwirklicht. Entscheidend ist die kompositorische Anlage des Romans, in dem die einzelnen Teile systema­ tisch aufeinander bezogen sind, so meine These. Die Gewalt des Genozids, die historisch Anteil an der kolonialen Vergangenheit hat, wird durch Sprache reflek­ tiert: Dies geschieht durch den Akt des Erzählens und eine gleichzeitige selbst­ reflexive Vermessung des Vermögens der Sprache im Angesicht der Gewalt des Genozids in Ruanda 1994.

4.1 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda Der Genozid in Ruanda 1994 war kein plötzliches Ereignis, sondern hatte eine mindestens jahrzehntelange Vorgeschichte rassistisch motivierter Machtkämpfe und Verfolgungen. Um nachvollziehen zu können, auf welche Weise die fiktionale Darstellung in Boubacar Boris Diops Roman Murambi den Völkermord reflektiert, soll zunächst ein knapper historischer Überblick gegeben werden. Diops Roman stellt zahlreiche Bezüge zu ereignis- sowie diskursgeschichtlichen Kontexten her¹, deren Kenntnis für das Verstehen unerlässlich ist. Die entfesselte Gewalt im Frühjahr 1994 steht in Verbindung mit der kolonia­ len Vergangenheit der Region², in der vor der europäischen Beherrschung mehre­ re Königtümer vorhanden waren, die sich in patrilinearen Clans strukturierten³.

1 Vgl. für eine umfassende Analyse der kolonialen, rassistischen und extremistischen Diskurse verschiedener Akteursgruppen (etwa Hutu-Extremist:innen, Kirchen, Kolonialmächte, UN) mit Bezug zum Genozid von 1994 José Semujanga: Origins of the Rwandan Genocide. 2 Aufgrund der jahrhundertelangen engen Verknüpfung der heutigen Länder Ruanda und Bu­ rundi muss die Geschichte beider Länder in ihrer jeweiligen Wechselbeziehung gelesen werden. 3 Vgl. Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi. Zur Notwendigkeit von Konfliktprävention und Übergangsjustiz nach dem Genozid. Moers: Institut zur Förderung von Ethnizitätsforschung und Konfliktbearbeitung (IFEK) 1999, S. 24.

4.1 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda | 211

Ab 1899 wurden das heutige Ruanda und Burundi Teil des deutschen Kolonialre­ gimes («Deutsch Ostafrika»). Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die Gebiete von deutscher in belgische Kolonialherrschaft über, als Mandatsgebiet des Völkerbun­ des «Rwanda-Urundi», nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie Treuhandgebiet der UN.⁴ Zentraler Bezugspunkt für den Genozid 1994 war ein rassistisches Ver­ ständnis von Ethnien⁵, das auf in Europa entwickelten Rassentheorien aufbaute.⁶ Dieses wurde im Zuge der belgischen Kolonialherrschaft durch die Einführung einer Ausweispflicht⁷ im Jahr 1933 mit der Angabe der Ethnie in einem essentialis­ tisch-biologistischen Sinn gefestigt.⁸ Diese Regelung war ein markanter Eingriff in die lokale Lebenspraxis.⁹ Durch das Benennen der Zugehörigkeit in amtlichen Do­ kumenten wurde die Einteilung in Ethnien rigoros durch Sprache verankert. Diese Kategorisierung der Menschen wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Rechtfer­ 4 Vgl. ebda., S. 25 und Daniela Kroslak: The Role of France in the Rwandan Genocide. London: Hurst and Company 2007, S. 19–26. 5 «Rwanda und Burundi liefern Anschauungsunterricht darüber, wie Gruppenidentitäten seit der Kolonialzeit zum Gegenstand von politischen Manipulationen gemacht wurden. [. . . ] Ethni­ zität und ethnische Identität wurden in Rwanda und Burundi die einer Frage der rassischen und politischen Zuordnung.» Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 23. Vgl. weiterhin den aus­ führlicheren Überblick auf S. 24–32. Kroslak erwähnt in ihrem historischen Überblickskapitel das rassistische Fundament der euro­ päischen Kolonialherrschaften nur am Rande, wodurch dieser zentrale Umstand, der die Herr­ schaftspraxis und deren Konsequenzen determinierte, m. E. nicht angemessen scharf hervortritt. Vgl. Daniela Kroslak: The Role of France in the Rwandan Genocide, S. 21. Dort wird in einem Ne­ bensatz vom Einfluss der «standard European convictions of the time» gesprochen sowie die ras­ sistische Ideologie lediglich als «prejudice» bezeichnet. 6 Vgl. hierzu Thomas Becker: Mann und Weib – schwarz und weiß: Die wissenschaftliche Kon­ struktion von Geschlecht und Rasse 1650–1900. Frankfurt a. M.: Campus 2005. 7 Mit Blick auf den französischen Kolonialkontext widmet sich Riesz im dritten Teil seiner Studie bürokratischen Verfahrensweisen, die von der französischen Kolonialmacht in den afrikanischen Gebieten durchgesetzt wurden. In Kapitel zwei geht es um Pässe und Personalausweise. Als lite­ rarische Analysetexte dienen ihm Jean-Marie Adiaffi: La carte d’identité. Abidjan: Ceda 1980 und Ahmadou Kourouma: Les soleils des indépendances. Paris: Seuil 2010 [1968]. Vgl. János Riesz: Französisch in Afrika, S. 299–320. 8 Vgl. Daniela Kroslak: The Role of France in the Rwandan Genocide, S. 20 f. 9 Jean-Loup Amselle hat in seinem Buch Logqiues métisses darauf hingewiesen, dass die aus der europäischen Anthropologie stammende Vorstellung essentialistischer, rigider Identitäten im Zuge der Kolonialherrschaften in Afrika oftmals gegen dortige Verständnisse von fluiden, nicht-essentialistischen Zugehörigkeiten durchgesetzt wurde. Vgl. Jean-Loup Amselle: Logiques métisses. Paris: Payot 1999 [1990]. Amselle hat sich im Fortgang seiner Forschungen von der biologistisch-orientierten Metapher der logiques métisses verabschiedet, da sie die Idee trennbarer, nicht-gemischter Entitäten im­ pliziert. Stattdessen hat er den Begriff branchement ins Zentrum neuerer Arbeiten gestellt. Vgl. Branchements : anthropologie de l’universalité des cultures. Paris: Flammarion 2005.

212 | 4 Über Recht im ästhetischen Raum in Murambi

tigung für wiederkehrende Genozid(versuch)e herangezogen und ist damit als ein Faktor zu betrachten, der historisch mit der genozidalen Gewalt verquickt ist.¹⁰ Die extreme Gewalterfahrung des ruandischen Genozids steht also mit der ko­ lonialen Fremdbenennung in Verbindung, die ich als einen zunächst in der Spra­ che vollzogenen Gewaltakt verstehe. Das deutsche und das belgische Kolonialre­ gime beanspruchten damit die Deutungshoheit über die Menschen der Region, ihre Geschichte und Lebenspraxis. Scherrer schreibt zur kolonialen Perspektive: Ein seit 1895 verbreiteter kolonialer Mythos ist derjenige von drei ethnischen Gruppen in beiden Ländern. In der Tradition der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts wurden im Zwi­ schenseengebiet drei sog. Rassen unterschieden, die «pygmoide» (Twa), «bantuide» und «hamitische» (bzw. «nilohamitische»). Diese Kategorisierung wurde von den deutschen Kolonialherren, den katholischen Missionaren und später von den Belgiern anhand von Menschenvermessungen (Größe, Anatomie, Physiognomie) und Schattierung der Hautfarbe pseudowissenschaftlich aufgemacht. Die Geschichte wurde zu einer Folge von Eroberungen erklärt. Die diffusionistische Kolonialethnologie erfand die Hamiten-Theorie, wonach die Bantu als die Negroiden schlechthin von den angeblich höherwertigen, äthiopiden Tutsi zivilisiert worden seien.¹¹ (Hervorhebung im Original)

Die rassistische Ideologie materialisierte sich weiterhin mittels kolonialer Herr­ schaftspraxen. Die Ausweispolitik der Belgier steuerte de facto den Zugang zu Bildung, Arbeit und Ressourcen¹²: Bis zur sogenannten «Hutu-Revolution» 1959 waren die Tutsi¹³, die eine Bevölkerungsminderheit darstellten, privilegiert wor­

10 «Vor 1959 und in der vorkolonialen Zeit der Königtümer kam es in keinem der beiden Län­ der zum Ausbruch organisierter Gewalt zwischen den beiden großen sozialen Gruppen. Erst die Ethnisierung und Polarisierung durch die Kolonialisten und durch die nachkoloniale Politik der jeweiligen ethno-politischen Machteliten führten zur ‹Diabolisierung› und Dehumanisierung der jeweils anderen Gruppe. In Rwanda-Burundi kam es zu Serien von Massakern, die eine fried­ liche politische Lösung erschwerten und schließlich verunmöglichten.» Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 32. 11 Ebda., S. 25; Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu auch José Semujanga: Lé génocide, sujet de fiction ?, S. 46. 12 Vgl. Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S.30–34. 13 Selbst der Begriff der Ethnie im Sinne einer sozio-kulturell distinkten Gruppe scheint mit Blick auf Hutu, Tutsi und Twa fraglich ob der großen Gemeinsamkeiten (einschließlich der Sprache). Vgl. ebda., S. 30. Auch die ökonomischen Rollen sind nur ein schwaches Kriterium, wie Scher­ rer schreibt: «Als objektives Kriterium unterschiedlicher Zugehörigkeit bleibt die andersgeartete Produktionsweise, wobei die Grenzen sich jedoch auch hier verwischt bzw. aufgelöst haben. Die Tutsi-Gemeinschaften sind fundamental (aber heute oft mythologisch und nicht mehr real) ge­ prägt durch die ehemals dominante Produktionsweise einer Viehzüchtergesellschaft. Die regio­ nal distinkte Mehrheitsbevölkerung der Hutu des Hochlandes ist im Ackerbau tätig, Viehhaltung in geringerer Stückzahl ist bei den Hutu jedoch verbreitet. Die rurale Bevölkerung machte vor April 1994 über 90 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.» Ebda., S. 30.

4.1 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda |

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den¹⁴. Eine tragende Rolle spielte in dieser Zeit die katholische Kirche, die im Zuge der Kolonialherrschaft nach Ruanda und Burundi gekommen war.¹⁵ Seit den 1950er Jahren versuchte die belgische Kolonialverwaltung, das Sys­ tem der extremen Ungleichbehandlung von Hutu und Tutsi in Ruanda etwas auf­ zuweichen.¹⁶ 1959 starb der ruandische Kolonialkönig Rudahigwa unter ungeklär­ ten Umständen, während er sich in Burundi aufhielt.¹⁷ Die Hutu besetzten nach einer Revolte das entstandene Machtvakuum und wurden dabei von den Belgiern unterstützt. Diese versuchten eine Politik des Ausgleichs zu verfolgen, um ihre ei­ genen Interessen in der Region zu wahren: In Ruanda unterstützten sie das neue Hutu-Regime, in Burundi blieb die Tutsi-Monarchie erhalten.¹⁸ Bereits 1957 wurde das sogenannte «Hutu-Manifest» veröffentlicht,¹⁹ das sich für eine Hutu-Regierung stark machte.²⁰ Es wurde als Brief an die damaligen Kolo­ nialbehörden gesandt. Vorgeschobene Grundlage für die Ablehnung der Tutsi war die bereits erwähnte Hamiten-Theorie. Das Manifest war eine rassistische Propa­ gandaschrift, in der wiederholt von einem «hamitischen Kolonialismus» die Rede war.²¹ Zu den neun Unterzeichnern²² gehörte der spätere erste Präsident der ab

14 Vgl. ebda., S. 30–32. Vgl. dazu auch José Semujanga: Lé génocide, sujet de fiction ?, S. 46–49. 15 «Diese ausländischen Religionsfunktionäre waren die eigentlichen Erfinder bzw. Förderer der pseudo-ethnologischen Theorie einer angeblichen äthiopischen bzw. semitischen Herkunft der Tutsi.» Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 32. 16 Vgl. ebda., S. 32. 17 Vgl. Linda Melvern: Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt. Mün­ chen/Kreuzlingen: Heinrich Hugendubel 2004, S. 16. 18 Vgl. Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 32. 19 Vgl. Collectif: Le Manifeste des Bahutu : Note sur l’aspect social du problème racial indigène au Ruanda, 24.3.1957. 20 Vgl. für eine Analyse des Textes die Ausführungen bei José Semujanga: Lé génocide, sujet de fiction ?, S. 49–56. 21 Am deutlichsten werden sowohl das rassistische Grundverständnis als auch der Rückgriff auf die Hamiten-Theorie in folgender Passage des Manifestes: «Si nous sommes d’accord que l’administration mututsi actuelle participe de plus en plus au gouvernement du pays, nous pensons pourtant mettre en garde contre une méthode qui tout en tendant à la suppression du colonialisme blanc-noir, laisserait un colonialisme pire du Hamite sur le Muhutu. Il faut à la base aplanir les difficultés qui pourraient provenir du monopole hamite sur les autres races habitant, plus nombreuses et plus anciennement, dans le pays.» Collectif: Le Manifeste des Bahutu, S. 5. 22 Das sind: Maximilien Niyonzima, Grégoire Kayibanda, Claver Ndahayo, Isidore Nzeyimana, Calliope Mulindaha, Godefroy Sentama, Sylvestre Munyambonera, Joseph Sibomana und Joseph Habyarimana. Zur Illustration der andauernden Selbstdarstellung als «politisch engagierte Vor­ kämpfer» sei die französische Wikipedia-Seite zum Manifest erwähnt, die eindeutig parteiisch ist und die Extremisten und z. T. späteren Organisatoren von Massakern und dem Genozid von 1994 «engagierte Intellektuelle» nennt. Vgl. N. N.: Manifeste des Bahutu. In: Wikipedia, 2021.

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1961 unabhängigen Republik Ruanda, Grégoire Kayibanda. Er wurde 1973 bei ei­ nem Militärputsch von seinem damaligen Verteidigungsminister Juvenál Habyari­ mana entmachtet.²³ 1959 war ein einschneidendes Jahr, in dem sich die Machtverteilung grund­ legend verschob. Mit der Hutu-Revolution (auch «soziale Revolution» genannt) übernahmen Hutu die Macht.²⁴ Das zog eine Massenflucht von Tutsi vor allem nach Burundi und in das damalige Zaire²⁵ nach sich, da die Revolutionäre eine re­ gelrechte Terrorkampagne gegen Tutsi initiierten.²⁶ Es kam danach zu einer gan­ zen Reihe von Massakern und Pogromen gegen Tutsi in den Jahren 1959, 1960, 1963–1967, 1973, 1990²⁷ und schließlich 1994²⁸. Juvénal Habyarimana, wie bereits erwähnt ab 1973 der Präsident Ruandas, gründete 1974 die Partei MRND (Mouvement Révolutionnaire National pour le Dé­ veloppement) und baute Ruanda zu einem «der autoritärsten Länder der Welt» um.²⁹ Die MRND war von 1975 bis 1994 an der Macht und wurde von Frankreich als gewählte und damit legitime Regierung Ruandas angesehen. Dabei ging es Frankreich aber um die Wahrung der eigenen neokolonialen Interessen. Ende der 1980er Jahre formierte sich mit der FPR (Front Patriotique Rwandais) ein neuer politischer Akteur.³⁰ Paul Kagame, der nach dem Genozid von 1994 selbst ruandi­ scher Präsident wurde, baute die Bewegung im Exil in Burundi mithilfe geflüchte­ ter Tutsi auf.³¹ 1990 überfiel der FPR Ruanda zum ersten³², 1991 zum zweiten Mal.³³ 23 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 20–22. Laut Melvern starben Kayibanda und seine Frau später den Hungertod, an einem geheimen Ort. Vgl. ebda., S. 22. 24 Vgl. Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 32–34. 25 Vgl. ebda., S. 34. Für die Dynamiken im Nachbarland Burundi vgl. ebda., S. 34 f. sowie Kapi­ tel 2 (‹Destruktive Wechselwirkungen zwischen Rwanda und Burundi›), S. 36–52. 26 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 16 f. Unter den vertriebenen Tutsi war auch Paul Kagame, der spätere Gründer des FPR und Präsident Ruandas ab 1994. Vgl. ebda., S. 16. 27 Vgl. ebda., S. 17–24. Zum Teil setzt Melvern die Datierungen der Gewaltakte geringfügig anders. 1972 wurden Hutu im von Tutsi regierten Burundi getötet, in Ruanda wurden daraufhin wieder verstärkt Tutsi ermordet. Vgl. ebda., S. 19 f. 28 Vgl. José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 140. 29 «Habyarimana machte sich daran, eines der autoritärsten Länder der Welt zu erschaffen. Ru­ anda wurde ein Einparteienstaat, ein Land, in dem alle anderen politischen Parteien verboten waren. [. . . ] Dem Nationalkongress der Partei gehörten Repräsentanten aus allen 140 Kommunen Ruandas an. Alle in Ruanda mussten Mitglied der MRND sein, das galt auch für Babys. Selbst für einen Umzug benötigte man die ausdrückliche Genehmigung der Partei. Jeglicher Widerspruch gegenüber Habyarimana oder der Partei war verboten.» Linda Melvern: Ruanda, S. 21. 30 Vgl. Christian P. Scherrer: Rwanda – Burundi, S. 47. Laut Darstellung Scherrers liegen die ei­ gentlichen Anfänge des FPR bereits 1989 in Uganda. 31 Vgl. ebda., S. 46–48. 32 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 24–27. 33 Vgl. ebda., S. 28–30.

4.1 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda | 215

Infolge der wachsenden Spannungen zwischen der Regierungspartei MRND und dem FPR wurde gemeinsam mit internationalen Akteuren ein Friedensab­ kommen ausgehandelt und am 4. August 1993 in der tansanischen Stadt Arusha unterzeichnet.³⁴ Die von den Vereinten Nationen entsandte Mission UNAMIR (United Nations Assistance Mission for Rwanda) unter der militärischen Leitung des kanadischen Generalmajors Roméo Dallaire kam nach Ruanda, um die Um­ setzung des Friedensabkommens sicherzustellen.³⁵ Sie wurde jedoch von Anfang an nicht voll von den Mitgliedsstaaten unterstützt, weder politisch noch finanzi­ ell.³⁶ Doch bereits seit 1990 bereitete die machthabende MRND-Partei in Zusam­ menarbeit mit weiteren staatlichen Akteuren systematisch einen Völkermord vor³⁷: Dazu gehörte insbesondere die flächendeckende Bewaffnung von Zivilist:­ innen beziehungsweise die Vorbereitung derselben durch entsprechende Waffen­ depots. Die Miliz der Interahamwe wurde als wichtigste Struktur für den späteren Völkermord etabliert. Jede kommunale Verwaltungseinheit entsprach einer zu bewaffnenden Zelle. Wie die umfangreichen Recherchen der Journalistin Lin­ da Melvern belegen, meldete der Leiter der UNAMIR-Truppen, Dallaire, immer wieder detaillierte Berichte über die vorbereitenden Maßnahmen für einen Völ­ kermord an die UN-Zentrale in New York, ohne dass jemals Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.³⁸ Der bis heute ungeklärte Abschuss des Flugzeugs von Präsident Habyarima­ na am 6. April 1994 war der Startschuss für die Völkermörder.³⁹ In den darauffolgenden 100 Tagen töteten Angehörige der Interahamwe, der Präsidentengarde, der Regierung und des Staatswesens sowie einfache Bürger und Bürgerinnen bis zu eine Million Ruander:innen, die als Tutsi galten. Darüberhinaus wurden auch moderate Hutu und solche, die sich weigerten, am Völkermord teilzunehmen, er­ mordet. Von einem plötzlichen Ausbruch der Gewalt kann also nicht die Rede sein. Sicherlich ohne den Anspruch einer allumfassenden und letztgültigen Erklärung des Genozids erheben zu wollen, lässt sich auf Grundlage der bis hierhin vorge­

34 Vgl. ebda., S. 77–84. 35 Melvern hat dem entsprechenden Kapitel den Titel ‹Mission Impossible› gegeben. Vgl. ebda., S. 85–106. 36 So mangelte es an Transportpanzern, Hubschraubern und zeitweise auch an basaler Ausstat­ tung. Vgl. ebda., S. 94–96. 37 Vgl. ebda., S. 31–65. Die im Haupttext folgende Kurzzusammenfassung stützt sich auf Infor­ mationen aus dem genannten Abschnitt bei Melvern. 38 Vgl. ebda., S. 96–113. 39 Vgl. ebda., S. 159–196.

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stellten Forschung festhalten: Lange vor dem Genozid 1994 bereitete die kontinu­ ierliche koloniale Gewalt der Fremdbenennung und Fremdbestimmung der Men­ schen in Ruanda den Boden für strukturelle Gewalt. Diese produzierte in der Dau­ er auch weitere physische und psychische Gewaltanwendungen. Zugleich wirkt der Genozid von 1994 auf die Sprache selbst zurück, und dies in mindestens drei­ facher Weise, so meine These: Die Überlebenden und historischen Zeitzeug:innen müssen eine Sprache für das Erlebte finden; der Schriftsteller (wie Diop), der über die Gewalt schreibt, muss nach einer angemessenen Darstellung suchen; und im Rückblick stellt sich die Frage, wie das faktische Geschehen seinerzeit benannt und wie dadurch die Gegenwart von 1994 bewertet wurde. Das betrifft die Inter­ nationale Öffentlichkeit, das heißt sowohl Regierungsinstitutionen als auch die mediale Berichterstattung. In journalistischen Berichten wurde der Genozid 1994 oft in rassistischer Sprache beschrieben und erfuhr damit bereits eine Deutung, in der sich die koloniale Gewalt fortsetzte. Von der offiziellen Benennung der Gewalt als «Genozid», die sich 1994 erst spät durchsetzte, hingen völkerrechtliche Inter­ ventionsmechanismen und Unterstützung der UN ab.⁴⁰ Boubacar Boris Diops Ro­ man Murambi beleuchtet das Verhältnis von Sprache und Gewalt mit Blick auf den Genozid in Ruanda 1994 und bringt die erwähnten drei Dimensionen im Modus des Ästhetischen zur Geltung. Diese sind im Roman differenziert. Für die Überlebenden geht es darum, die Schwierigkeit zu überwinden, das Erlebte in die eigene Sprache zu heben. Der Holocaust-Überlebende Robert Antel­ me hat das eindrücklich im Vorwort zu seinem Buch L’espèce humaine beschrie­ ben: Die Überlebenden entziehen das an ihnen verübte Verbrechen dem Schwei­ gen und markieren es sprachlich als etwas, das passiert ist. Wie Antelme sagt, spielt die Vorstellungskraft bei der Wiedergabe des tatsächlich Erlebten eine wich­ tige Rolle, gerade weil es darum geht, außergewöhnlich schreckliche Realitäten in Sprache zu heben.⁴¹

40 Vgl. dazu in Linda Melvern: Ruanda den Abschnitt ‹Völkermord oder nicht? Die UN bera­ ten. . . ›, S. 283–287. 41 «Il y a deux ans, durant les premiers jours qui ont suivi notre retour, nous avons été, tous je pense, en proie à un véritable délire. Nous voulions parler, être entendus enfin. On nous dit que notre apparence physique était assez éloquente à elle seule. Mais nous revenions juste, nous ra­ menions avec nous notre mémoire, notre expérience toute vivante et nous éprouvions un désir frénétique de la dire telle qu’elle. Et dès les premiers jours cependant, il nous paraissait impos­ sible de combler la distance que nous découvrions entre le langage dont nous disposions et cette expérience que, pour la plupart, nous étions encore en train de poursuivre dans notre corps. Com­ ment nous résigner à ne pas tenter d’expliquer comment nous en étions venus là ? Nous y étions encore. Et cependant c’était impossible. A peine commencions-nous à raconter, que nous suffo­ quions. A nous-mêmes, ce que nous avions à dire commençait alors à nous paraître inimaginable.

4.1 Bedingungen des Schreibens über den Genozid in Ruanda |

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Damit widersetzen sich die Opfer von Gewalt der Deutungshoheit der Tä­ ter:innen. Die Überlebenden sind Zeug:innen im Sinne des lateinischen Wortes superstes.⁴² Auch andere nicht direkt Betroffene, aber im Geschehen involvier­ te Personen können nachträglich Aussagen darüber machen. Das Lateinische bezeichnet sie mit dem Wort testis.⁴³ Für unbeteiligte Dritte, die sich im Nach­ gang ein Bild machen wollen und mit superstes und testis sprechen, hat sich der Ausdruck der sekundären Zeugenschaft etabliert.⁴⁴ Boubacar Boris Diop kann als ein solch sekundärer Zeuge gelten. Sein Ro­ man Murambi⁴⁵ ging aus einem besonderen Schreibprojekt hervor: 1998, vier Jah­ re nach dem Genozid, reisten zehn afrikanische Autor:innen nach Ruanda, unter ihnen Diop. Die Gruppe besuchte Schauplätze und Erinnerungsorte des Genozids und sprach mit Einwohner:innen und Überlebenden.⁴⁶ Im Rahmen der fiktionalisierten Wiedergabe des historischen Gewaltereig­ nisses geht es um die ethische Dimension der Sprache. Dem Schriftsteller als se­ kundärem Zeugen stellt sich die Frage nach einer angemessenen Darstellung im

Cette disproportion entre l’expérience que nous avions vécue et le récit qu’il était possible d’en faire ne fit que se confirmer par la suite. Nous avions donc bien affaire à l’une de ces réalités qui font dire qu’elles dépassent l’imagination. Il était clair désormais que c’était seulement par le choix, c’est-à-dire encore par l’imagination que nous pouvions essayer d’en dire quelque chose.» Robert Antelme: L’espèce humaine. Paris: Gallimard 1978 [1947], S. 9; Hervorhebung im Original. 42 Vgl. Giorgio Agamben: Quel che resta di Ausschwitz. L’archivio e il testimone. Homo sacer, III. Turin: Bollati Boringhieri 2016 [1998], S. 15. 43 Vgl. ebda. 44 Vgl. Anna Pollmann: Zeugenschaft. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Online. Stuttgart: J. B. Metzler 2011–2017. 45 Es ist Diops international bekanntestes Buch und sein einziges, das bisher ins Deutsche über­ setzt worden ist. 2006 wurde Murambi von Fiona McLaughlin ins Englische übersetzt und damit einem breiten Publikum zugänglich gemacht, 2010 folgte die deutsche Ausgabe. Vgl. Boubacar Boris Diop: Murambi, the Book of Bones sowie Boubacar Boris Diop: Murambi. Das Buch der Ge­ beine. 46 Diop war Teil des von französischen Institutionen finanzierten Projekts Fest’Africa, das Au­ tor:innen 1998 nach Ruanda führte. Aus dem Projekt entstanden neun Veröffentlichungen. Vgl. dazu José Semujangas umfassende Studie Le génocide, sujet de fiction ?, in der er die Beiträge von sechs Teilnehmenden diskutiert, darunter Tierno Monénembo, Abdourahman Waberi, Bou­ bacar Boris Diop, Véronique Tadjo, Monique Ilboudo und Koulsy Lamko. Semujanga benennt in seiner Studie explizit ein literaturwissenschaftliches Interesse, das sich gegen eine dokumenta­ rische Lesart der Wortkunstwerke ausspricht. Seine These mit Blick auf den Analysekorpus ist, dass sich für den afrikanischen Kontinent eine Kulturen übergreifende Erinnerung an den Ge­ nozid in Ruanda herausbilde: «[ce sont des] textes qui évoquent inlassablement la nécessité de reconstruire une nouvelle mémoire, une modernité africaine à partir des lambeaux des pratiques et événements anciens. C’est donc par là que l’écriture romanesque se veut une reconstruction d’une nouvelle mémoire transculturelle du génocide.» Ebda., S. 23.

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Modus des Ästhetischen. Hier lässt sich die zweite Dimension der Beziehung von Sprache und Gewalt verorten. Im Nachwort zu Murambi schreibt der Autor Diop dazu: Je ne voulais donc pas revenir du Pays des Milles Collines avec une œuvre de fiction et, d’une certaine manière, la promesse a été tenue : Murambi, le livre des ossements accorde beau­ coup plus d’importance aux faits rapportés par mes interlocuteurs qu’aux tours de passepasse souvent associés à une écriture expérimentale qui était, on me permettra de le signa­ ler, ma marque de fabrique.⁴⁷

Die Frage nach der literarischen Bearbeitung extremer Gewalterfahrungen ist geprägt durch die ethisch-ästhetische Debatte um die Darstellbarkeit des Holo­ caust.⁴⁸ Diese Anschlüsse müssen bei einer Analyse von Diops Roman miteinbe­ zogen werden – nicht im Sinne eines Vergleiches, sondern im Sinne eines Dialogs, wie etwa Robert Stockhammer festgehalten hat.⁴⁹ Dies gilt umso stärker, als dass sich Murambi in autoreflexiver Weise mit Fragen literarischer Repräsentation auseinandersetzt. Überdies platziert Diop als erfahrener Journalist und in der Öffentlichkeit stehender Publizist⁵⁰ seinen Roman in flankierenden Paratexten gezielt in einem Diskurs über das Erinnern und die Verantwortung der Kunst ge­ genüber der Geschichte. Dabei verbindet Diop seine Überlegungen stets mit einer vehementen Kritik an der Rolle Frankreichs im Genozid 1994.⁵¹ Diop hat sich auch in Le Cavalier et son ombre, einem Vorgängerroman zu Murambi, mit dem ruandischen Genozid befasst.⁵² Jedoch sei ihm erst durch den dreimonatigen Aufenthalt in Ruanda im Jahr 2000 klar geworden, dass es sich um einen Genozid an den Tutsi in Ruanda – und nicht einen «doppelten Geno­ 47 Boubacar Boris Diop: Postface, S. 204. 48 Vgl. insb. Primo Levi: I sommersi e i salvati. Mit einem Vorwort von David Bidussa. Turin: Einaudi 2003 [1986]; Giorgio Agamben: Quel che resta di Ausschwitz; Theodor W. Adorno: Enga­ gement. In: ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 [1974], S. 409–430. 49 Vgl. dazu die Argumentation in Robert Stockhammer: Ruanda. Ich komme in Kapitel 4.5 näher auf diesen Aspekt zurück. 50 Vgl. zu den Techniken der Selbstinszenierung des Autors Boubacar Camara: Les je(eux) de Boubacar (Boris) Diop. In: Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. Une écriture déroutante. Revue du Groupe d’Études Linguistiques et Littéraires, Sonderausgabe 2014, S. 1–25, insb. S.3. 51 Insbesondere zu nennen sind drei lange Aufsätze in L’Afrique au-delà du miroir, einem bereits zitierten Essayband von Boubacar Boris Diop: Génocide et devoir du mémoire, S. 17–36; Yolande Mukagasana: parler avec les tuers, S. 37–50; Kigali-Paris: le monstre à deux têtes, S. 50–85 sowie weitere Interviews: «Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom.» In: Africultures, Nr. 30 (2000), S. 15–17 sowie Diop «À la découverte de notre innocence.» In: Africultures, Nr. 59 (2004), S. 30–38. 52 Vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 2.4 der vorliegenden Studie.

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zid», wie es die französische Propaganda vertrat – gehandelt habe.⁵³ Diese Sicht auf Ruanda vertrat die französische Regierung noch weit über 1994 hinaus.⁵⁴ Mu­ rambi sieht der senegalesische Autor nach eigenen Angaben als Korrektiv der äs­ thetischen Verarbeitung des Genozids in Le Cavalier. In Murambi kommen Täter und Opfer des Genozids durch einzelne Romanfiguren zu Wort⁵⁵: mordende In­ terahamwe-Milizionäre und ihre Angehörigen, Überlebende, eine Widerstands­ kämpferin der Opposition, genauso wie Hintermänner des Genozids und das fran­ zösische Militär. Die juristische Klassifizierung von organisierten Massenmorden als «Geno­ zid» ist im Einzelfall ebenso umstritten wie die Angaben zu den Opferzahlen.⁵⁶ Vor diesem Hintergrund tritt ein weiterer Zusammenhang zwischen Gewalt und Sprache hervor. Es geht um die referentielle Dimension von Sprache. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatte die juristische Sprache kein Wort für dieses spezifi­ sche Verbrechen. Der Tatbestand des Genozids wurde erst Mitte des 20. Jahrhun­ derts ins internationale Völkerstrafrecht aufgenommen. Der polnisch-jüdische Ju­ rist Raphael Lemkin setzte sich nachdrücklich dafür ein. Er verwendete den Be­ griff Genozid bereits 1944 in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe, in dem er die von den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen zu fas­ sen suchte: Dabei ging es ihm vor allem um Verbrechen an der Zivilbevölkerung der besetzten Staaten.⁵⁷ Die UN-Vollversammlung verabschiedete am neunten De­ zember 1948 die Konvention zur Verhütung und Verfolgung von Völkermord. Sie trat am 12. Januar 1951 in Kraft und wurde seither von 147 Ländern weltweit ratifiziert.

53 Vgl. ebda., S. 203–205. 54 Vgl. dazu Narell Fletcher: «A Genocide of Little Importance»: The Impact of the Terminology Used by Members of the French Government on the Representation of the 1994 Tutsi Genocide in Rwanda. In: Essays in French Literature and Culture 53 (2016), S. 151–167. 55 Diop sprach im Rahmen des Projekts mit Zeitzeug:innen des Genozids. Im Roman wird jedoch an keiner Stelle ausdrücklich auf reale Zeug:innen verwiesen. In einem Interview gibt Diop Ein­ blick, welche Begegnungen in Ruanda die Entwicklung der Figuren geprägt haben. Das betrifft insbesondere die Charaktere Siméon und Jessica. Vgl. etwa Boubacar Boris Diop: «Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom.» In Diops Roman kommen tatsächlich nur Männer als Täter vor, weswegen ich das an dieser Stelle so markiere. Am ruandischen Genozid haben sich auch Frauen beteiligt, jedoch in einem weit geringeren Umfang und sie haben meistens niemanden eigenhändig ermordet. Vgl. Nicole Hogg: Women’s Participation in the Rwandan Genocide: Mothers or Monsters? In: International Review of the Red Cross 92, Nr. 877 (2010), S. 69–102. 56 Vgl. für einen Überblick zur Genozidforschung aus zeithistorischer Forschungsperspektive Boris Barth: Genozid und Genozidforschung. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.5.2011, S. 1–13. 57 Vgl. Claudia Kraft: Genozid. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Online, Stuttgart: J. B. Metzler 2011–2017.

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Der Tatbestand des Genozids wird in Artikel 2 der Konvention wie folgt defi­ niert: Article II In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its phys­ ical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.⁵⁸

Diops Roman reflektiert die Tragweite dieses juristischen Begriffs in der histori­ schen Situation während der 100 Tage in Ruanda 1994. Um einen Vorgang als Genozid einzustufen, müssen laut Artikel II mehrere Kriterien als erfüllt erach­ tet werden. Dazu gehört einerseits die Absicht der Täter:innen, eine bestimmte Gruppe zu vernichten und andererseits die Umsetzung dieser Absicht. In Muram­ bi werden diese beiden Teiltatbestände gewissermaßen geprüft, indem insbeson­ dere die Berichte in den Teilen I und III des Romans Einblicke in die Überzeugung der Täter geben und darüber hinaus etliche Szenen der Vernichtung beschrieben werden. Dabei wird die Frage nach dem Verhältnis von Recht und der Ahndung von Unrecht berührt. Im Fall Ruandas setzte sich das Sprechen von einem Genozid in der Welt­ gemeinschaft erst sehr spät durch. Hier gestaltete die Sprache maßgeblich den katastrophalen Verlauf der Geschehnisse mit. Die Begriffsdebatte blockierte ein schnelles und entschiedenes Eingreifen.⁵⁹ Insbesondere die französische Regie­ rung unter François Mitterrand hielt bis zuletzt an der extremistischen Hutu-Re­ gierung fest⁶⁰, weil sie diese als gewählte und damit legitimierte Regierung be­ trachtete und durch deren Stützung ihren eigenen Einfluss in der Region sichern wollte. Ein weiterer Aspekt der referentiellen Dimension der Sprache ist die Dis­ kussion um die Opferzahlen, die in Diops Roman ebenfalls aufgerufen wird. Das

58 UN-Generalversammlung: Resolution Adopted by the General Assembly: 260 (III). Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, 9.12.1948. 59 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 262–290. 60 Recherchen von 2017 legen nahe, dass die damalige Regierung die Täter sogar bewaffnete und die Gewalt dadurch aktiv beförderte. Vgl. Isabell Pfaff: Blutige Spur in den Elysee-Palast. In: Süddeutsche Zeitung, 18.7.2017.

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Verbrechen in Ruanda, bei dem mehr als 800.000 als Tutsi bezeichnete Menschen ums Leben kamen⁶¹, gilt als mindestens dritter Genozid des 20. Jahrhunderts.⁶² Überdies tut sich im Falle von Ruanda 1994 eine zusätzliche Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Gewalt auf. Sie betrifft die koloniale Vereinnah­ mung, die auf Basis rassistischer Theorien sprachlich eine Pseudo-Wirklichkeit schuf.⁶³ Der Genozid von 1994 wurde von den Hutu-Extremisten dezidiert rassis­ tisch begründet.⁶⁴ Wenn auch das Sprechen von «Hutu», «Tutsi» und «Twa» län­ ger in die Vergangenheit des modernen Ruanda zurückreicht⁶⁵, so ist die strikte und essentialisierende Einteilung in diese Gruppen auf die belgische Kolonialver­ waltung in den 1930er Jahren zurückzuführen.⁶⁶ Damals wurden – wie bereits er­ wähnt – flächendeckend Ausweise eingeführt, in der eine Gruppenzugehörigkeit festgeschrieben wurde.⁶⁷ Diese koloniale Praxis transformierte eigentlich soziale Zugehörigkeiten in rassistische Kategorien von Ethnien. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Kolonialherren sprachlich eine Wirklichkeit herbeiführ­ ten, die im weiteren Verlauf der Geschichte die Grundlage für wiederholte Gewalt­ exzesse bildete. Auch die wissenschaftliche Rede über den ruandischen Genozid birgt das Risiko, von der Kolonialgeschichte beschädigte Formulierungen fortzu­

61 Die UN macht auf ihrer Website zum pädagogischen Nachsorgeprogramm bzgl. des ruandi­ schen Genozids diese Angabe: «In 1994, as the international community watched, more than 800.000 Rwandans, mostly ethnic Tutsi, were massacred by Hutu militia and government forces over a period of just 100 days.» Outreach Programme on the 1994 Genocide Against the Tutsi in Rwanda and the United Nations. 62 Barth nennt die folgenden historischen Fälle von Genozid, je nach Definition des Begriffes: «die jungtürkischen Morde an den Armeniern im Ersten Weltkrieg 1915–1916 bzw. 1921, die natio­ nalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber den Juden seit 1941, die Vernichtung der soge­ nannten Zigeuner und die nur ansatzweise in die Tat umgesetzte Vernichtung einiger der slawi­ schen Nationen. Hinzu kommt der Fall Ruanda aus dem Jahre 1994. Neben diesen Fällen von zweifelsfreiem Genozid gibt es mehrere Grenzfälle, die – abhängig von der gewählten Defini­ tion – Völkermord waren. Hierzu gehört der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904, die Massensäuberungen und bewusst her­ beigeführten Hungerkatastrophen in der Stalinzeit und im China Maos sowie die killing fields der Khmer Rouge in Kambodscha in den 1970er-Jahren.» Boris Barth: Genozid und Genozidfor­ schung, S. 11. 63 Vgl. für die wissenschaftliche Auseinandersetzung in den Geschichtswissenschaften zu die­ ser Position Alexander Keese: Ethnicity, S. 1–14 und zu Ruanda insbesondere S. 7 sowie die Lite­ raturangaben in Anm. 30 dort. 64 Wie bereits zuvor am Beispiel des sog. Hutu-Manifests erörtert wurde. 65 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 12–15. 66 Vgl. ebda., S. 15. 67 Vgl. ebda.

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schreiben. Wenn im Rahmen der vorliegenden Studie von «Hutu» und «Tutsi» die Rede ist, so werden diese Bezeichnungen ausdrücklich in ihrer historischen Se­ mantik und nicht als essentialistische Zuschreibungen verstanden.⁶⁸ Die Kolonialregime suchten in unterschiedlicher Weise ihre Sprachen in den afrikanischen kolonialen Gebieten durchzusetzen. Frankreich verfolgte be­ kanntlich dabei eine besonders rigide Sprachpolitik. Die kolonialbedingte Ver­ strickung von Sprache markiert (nicht nur nach Ansicht des Autors Diop) auch im Fall Ruandas die Ereignisgeschichte. Frankreich unterstützte nachweislich die Regierung von Präsident Habyarimana, um den eigenen Einfluss in der Region zu wahren.⁶⁹ In dem zentralafrikanischen Land Ruanda, das an Burundi, die Demokratische Republik Kongo, Uganda und Tansania grenzt, ist Französisch bis heute neben Englisch sowie Suaheli und Kinyarwanda Amtssprache. Heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Genozid, ist das Englische indes die wichtigste internationale Sprache Ruandas. Für den Autor Diop ergibt sich deshalb eine weitere Konsequenz. Diops Geburtsland ist der Senegal, der bis 1965 zum franzö­ sischen Kolonialregime gehörte und für längere Zeit das Zentrum des damaligen «Französisch-Westafrika» bildete. Der Senegal gehört bis heute zur Sphäre der so­ genannten Frankophonie. Frankreich versuche, über die Sprache eine dominante Rolle auch in Zentralafrika und damit in Ruanda zu halten, so argumentierte Diop nach seinem Aufenthalt in Ruanda 1998.⁷⁰ Frankreich habe sich in dem Genozid durch sein Nicht-Handeln schuldig gemacht. Ziel sei gewesen, die frankophone Einflusssphäre in Afrika nicht zu gefährden. Diop zog daraus die Konsequenz, sein Verhältnis zur französischen Sprache zu überprüfen. Der Roman Murambi ist in seinem Werk ein Schwellentext: Den Folgeroman Domi Golo schrieb Diop in seiner familiär verankerten Muttersprache Wolof.

4.2 Geschichten Ruandas: Die sprachliche Konstitution von Wirklichkeit vor 1994 Der erste Teil von Boubacar Boris Diops Roman Murambi, le livre des ossements steht unter der Überschrift ‹La peur et la colère›. Drei Figuren, die unterschied­ liche Positionen in der Gesellschaft und im Genozid haben, erzählen jeweils aus der Ich-Perspektive von der Zeit unmittelbar vor beziehungsweise zu Beginn der

68 Nach dem Genozid wurde die Nennung der Ethnie in den Ausweispapieren verboten. 69 Vgl. Narell Fletcher: «A Genocide of Little Importance», S. 154 f. 70 Vgl. Boubacar Boris Diop: Postface sowie das Interview «Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom.»

4.2 Geschichten Ruandas: Die sprachliche Konstitution von Wirklichkeit vor 1994 |

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Massaker ab April 1994. Ihre Namen fungieren gleichzeitig als Titel der jeweiligen Kapitel: Michel Serumundo, Faustin Gasana, Jessica. Wie die Überschrift des ersten Romanteils nahelegt, eröffnen die Extreme der Angst einerseits und der Wut andererseits das Spannungsfeld, innerhalb des­ sen sich die drei Berichte verorten lassen. Die Texte sind zwar affektiv grundiert, gleichwohl reflektieren alle Figuren die Situation sowie ihre jeweilige Rolle darin. Mit Blick auf die These des vorliegenden Analysekapitels zum Zusammenhang von Sprache und Gewalt lässt sich festhalten, dass es in allen drei Berichten um die narrative Verortung von Wirklichkeit im Rahmen der Geschichte geht und dar­ um, wie die Sprache als Instrument dafür genutzt wird. Das heißt, dass in Diops Roman über den ruandischen Genozid Fragen von Repräsentation von Anfang an präsent sind, also eine metaliterarische Ebene eingezogen wird. Die Sprecher:innen präsentieren ihre Sicht der Dinge, die sie als objektive Wirklichkeit ausgeben. Ihren Anspruch, die einzig mögliche Wirklichkeit wieder­ zugeben, begründen sie wiederum durch die vermeintlich objektive Geschichte. Die folgenden close readings arbeiten heraus, wie auf diese Weise die gespaltene Wahrnehmung der Gegenwart von 1994 und der Vergangenheit dargestellt wird. Insbesondere die Figuren Faustin Gasana und die FPR-Kämpferin Jessica ordnen den Genozid, über dessen Planung sie qua ihrer Rollen bereits vorab informiert sind, in einen geschichtlichen Verlauf ein.

a) Michel Serumundo Der Bericht von Michel Serumundo steht am Anfang und übernimmt die Funk­ tion einer Exposition für den Roman: Er gibt einen Vorausblick auf den Genozid in Ruanda und etabliert bereits eine erste summarische Bewertung zum völligen Versagen der Weltgemeinschaft. Serumundo stellt sich im Text als Videotheken-Besitzer in der ruandischen Hauptstadt Kigali vor. Er schildert, wie er eines Tages auf seinem Nachhauseweg Soldatenpatrouillen bemerkt und am Busbahnhof in eine Ausweiskontrolle gerät. Die Figur Serumundo beschreibt die Geschehnisse in parataktisch gehaltenen Sät­ zen, mit wenigen Adjektiven. Die Wiedergabe direkter Rede (vgl. MU, S. 14) sowie die Beschreibung einzelner Szenen (vgl. MU, S. 13) verleihen seinem Bericht eine unmittelbare, fast akute Note. Allerdings steht Serumundos Rede überwiegend im Tempus der Vergangen­ heit (passé composé und imparfait), was eine zeitliche Distanz zu den Gescheh­ nissen nahelegt. Der Sprecher verfügt außerdem über Informationen, die er zum Zeitpunkt des Erzählten nicht haben konnte. Beispielsweise nimmt er Bezug auf den Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten Ruandas, Juvenal Ha­

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byarimana: «Apparemment, j’étais le seul à ne pas savoir que l’avion de notre pré­ sident, Juvénal Habyarimana, venait d’être abattu en plein vol par deux missiles, ce mercredi 6 avril 1994» (MU, S. 13). Der Abschuss, dessen Urheber nie zweifels­ frei gefunden wurden, wurde von Ruandas Extremist:innen als Vorwand genutzt, um mit der massenhaften Gewalt zu beginnen. Dennoch wird punktuell eine hic-et-nunc-Deixis hergestellt, etwa indem durch ein Demonstrativpronomen eine relative Nähe zu den Geschehnissen von 1994 etabliert wird⁷¹ und von «cette fois-ci» die Rede ist. Das geschieht ebenfalls durch den plötzlichen Wechsel zum Präsens als Erzähltempus.⁷² Die Figur schildert nicht nur ihre Beobachtungen, sondern analysiert und kommentiert auch ausführlich. Am Ende des Berichts von Serumundo gibt es ei­ ne lange reflexive Passage, die sich metonymisch in Bezug auf den ganzen Roman verstehen lässt. Serumundo formuliert indirekt den Vorwurf, dass die politische internationale Gemeinschaft und alle Weltbürger:innen gegenüber den Katastro­ phen auf der Welt gleichgültig seien: Dans mon for intérieur, je savais que c’était faux. La Coupe du monde de football allait bien­ tôt débuter aux États-Unis. Rien d’autre n’intéressait la planète. Et de toute façon, quoi qu’il arrive au Rwanda, ce serait toujours pour les gens la même vieille histoire de nègres en train de se taper dessus. Les Africains eux-mêmes diraient, à la mi-temps de chaque match : «Ils nous font honte, ils devraient arrêter de s’entre-tuer comme ça.» Puis on passerait à autre chose. [. . . ] Ce que je dis là n’est pas un reproche. J’ai moi-même souvent vu à la télé des scènes difficiles à supporter. [. . . ] J’en souffrais sans me sentir vraiment concerné. Je ne me rendais pas compte que si les victimes criaient aussi fort, c’était pour que je les entende, moi, et aussi des milliers d’autres gens sur la Terre, et qu’on essaye de tout faire pour que cessent leurs souffrances. Cela se passait toujours si loin, dans des pays à l’autre bout du monde. Mais en ce début d’avril 1994, le pays à l’autre bout du monde, c’est le mien. (MU, S. 16)

Die Anklage dieser Nachlässigkeit wiederholt sich im Text und wird zu einem Topos, der sich durch den Roman zieht, wie meine Analysen insbesondere in Kapitel 4.4 zeigen werden. Zurück zu der zitierten Passage vom Romananfang: Se­ rumundo geht von seinen eigenen Erfahrungen aus, die er selbst als ethisches Ver­ sagen begreift und macht sich stark für einen bedingungslosen Humanismus. Zu­ nächst greift er in seiner Rede auf ein rassistisches Klischee zurück und verwendet

71 «Il y a longtemps que ce pays est devenu complètement fou. De toute façon, cette fois-ci, les assassins avaient un prétexte en or : la mort du président. Je n’osais pas espérer qu’ils se conten­ teraient d’un peu de sang.» MU, S. 17; eigene Hervorhebung. 72 «Oui, pour eux, le moment est venu de régler ces comptes-là aussi. Chaque Interahamwe a probablement sa liste de petits copains tutsi à liquider.» MU, S. 15; eigene Hervorhebung.

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den Begriff «nègres» statt «africains».⁷³ Die Wendung «la même vieille histoire des nègres en train de se taper dessus» bedient ein umgangssprachliches Register mit dem Verb «se taper dessus». Damit ist angedeutet, dass diese polemische Formu­ lierung aus informellen Kontexten stammt. Sie ist als Alltagsrede markiert, die je­ ne routinierte Verachtung und Gleichgültigkeit mit Blick auf jegliche Geschehnis­ se in Afrika ausdrückt, die den Genozid überhaupt erst möglich gemacht haben. Mithilfe eines dreistufigen rhetorischen Verfahrens (Praeteritio – Entwarnen/ Pars pro Toto – der Sprecher nennt sich als Stellvertreter für die Gesellschaft/Con­ clusio – die Aufforderung zur Verantwortung) fügt sich Serumundos vergleichs­ weise langes Plädoyer bruchlos in seinen vorhergehenden Bericht ein. Der erste Satz gebraucht das Stilmittel der Praeteritio: Der Sprecher gibt vor, niemanden anschuldigen zu wollen, tut aber genau das im Folgenden («Ce que je dis là n’est pas un reproche. J’ai moi-même souvent vu à la télé des scènes difficiles à suppor­ ter»). Dadurch, dass er zuallererst von sich selbst spricht – zudem mit dem em­ phatisch verstärkten Subjektpronomen «je»/«moi-même» – muss die Leserin sich nicht direkt angegriffen fühlen. Serumundo präsentiert sich selbst als negatives Beispiel, jedoch im Sinne eines Pars pro Toto nicht als Einzelfall, sondern stellver­ tretend für viele andere, wie er später sagt («c’était pour que je les entende, moi, et aussi des milliers d’autres gens sur la Terre, et qu’on essaye de tout faire pour que cessent leurs souffrances»). Die Elemente «je» sowie «des milliers d’autres gens sur la Terre» sind diejenigen Subjekte, die sich hinter dem unpersönlichen Personalpronomen «on» des letzten Satzteils verbergen, der in einer Conclusio die Aufforderung enthält, alles zu tun, um das Leiden der anderen Menschen zu beenden. Die Argumentation Serumundos basiert, wie gezeigt wurde, auf einem Drei­ schritt, um das Allgemeine zu dekonstruieren und eine solidarische Ethik heraus­ zuarbeiten. Dadurch werden die nachfolgenden Berichte der anderen Figuren in den Verständnishorizont des eigenverantwortlichen Handelns gestellt (‹hätte die Weltgemeinschaft reagiert, wäre ein anderer Verlauf möglich gewesen›). Gleich­ zeitig wird eine fatalistische Haltung (‹am Genozid führte kein Weg vorbei›) zu­ rückgewiesen. Es geht zunächst weniger um die Motive und den Hergang eines Verbrechens, als vielmehr darum, entschieden einzugreifen, sobald es geschieht – so der Kern

73 Auch im Französischen ist die rassistische Einschreibung des «mot n» inzwischen anerkannt. Mbembe argumentiert in seinem Buch Critique de la raison nègre allerdings (auch polemisch) für eine Wiederaneignung des Wortes u. a. unter Berufung auf die Négritude Césaires und verwendet es konsequent. (Irritierenderweise ist das in der deutschen Übersetzung mit dem N-Wort wie­ dergegeben, ohne weitere Einordnung des Übersetzers.) Vgl. dafür Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, insb. S. 56–80.

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von Serumundos Plädoyer. Sich selbst und andere als prinzipiell verwundbare Menschen zu begreifen und nicht die räumliche Distanz als Ausrede zu gebrau­ chen, das fordert der letzte Satz seiner Reflexion: «Cela se passait toujours si loin, dans des pays à l’autre bout du monde. Mais en ce début d’avril 1994, le pays à l’autre bout du monde, c’est le mien.» Bemerkenswert ist, dass Serumundo hier ins Präsens wechselt und damit Nähe zu den Geschehnissen markiert. Ob diese affektiv in der Erinnerung oder in der zum Zeitpunkt des Erzählens andauernden Aktualität zu verorten ist, bleibt offen. Das Motiv einer durch Doppelmoral strukturierten Welt wiederholt sich in Diops Büchern.⁷⁴ Dies macht deutlich, dass ethische Fragen nach Solidarität und Mitmenschlichkeit ein zentrales Moment im Schreiben des senegalesischen Au­ tors sind. Stets geht es darum, dass diskursiv Menschenrechte und für alle ver­ bindliche ethische Standards eingefordert werden, diese aber faktisch Verbrechen wie den Genozid in Ruanda nicht verhindern. Diop ist eine wichtige literarische Stimme, die vor allem auf Französisch spricht und das mit der Sprache einher­ gehende Selbstverständnis kritisch hinterfragt: denn dass sich das Französische seit der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789 als die Sprache der Menschenrechte versteht, markiert diesen Widerspruch in besonderer Weise.

b) Faustin Gasana Die drei Erlebnisberichte des ersten Teils von Murambi bilden ein erzählerisches Triptychon. Die Stimmen der unterschiedlichen Figuren stehen ohne eine erzähle­ rische Brücke nebeneinander. An Serumundos Sprechen schließt sich der Bericht der Figur Faustin Gasana an. Gasana ist Teil der sogenannten Interahamwe-Miliz, die mit der Ausführung des Massenmordes befasst war.⁷⁵ Die Anordnung der Berichte erzielt dramaturgisch den größtmöglichen Kon­ trast: Nachdem ein als Tutsi verfolgter Ruander gesprochen hat, kommt ein als Hutu verfolgender Ruander zu Wort. Unkommentiert stehen diese beiden Perspek­ tiven hintereinander, aber es ist wichtig festzuhalten, dass mit Michel Serumundo eines der Opfer des Genozids das erste Wort hat.

74 Vgl. die Analyse in Kapitel 2 der vorliegenden Studie zu Le Cavalier et son ombre. 75 Die Interahamwe konstituierten sich landesweit in Ruanda. Sie bestanden aus jungen Män­ nern, die im Zuge einer systematisch angelegten Kampagne zur Vorbereitung des Genozids an­ geworben und paramilitärisch ausgebildet sowie mit Waffen ausgestattet wurden. Im Verlauf des Völkermords bezogen die Interahamwe ihre Kraft auch daraus, dass es ein Machtvakuum gab und sie stärker waren als die Armee. Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 31–65.

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Der Bericht von Faustin Gasana ist ebenfalls aus der Ich-Perspektive erzählt. Er schildert im Präsens den Abend vor dem Beginn des organisierten Massenmor­ dens: Gasana trifft seinen Vater und streitet sich mit ihm, nimmt Abschied vom Rest der Familie und seiner Freundin. Die Figur Gasana stellt sich selbst als Über­ zeugungstäter dar, der an der Organisation der Gewalt im Vorfeld beteiligt ist (vgl. MU, S. 18). Er strukturiert seine Rede über zwei Ebenen: Auf politischer Ebene be­ gründet er den Genozid und scheidet diese Überlegungen von der menschlichpersönlichen Ebene. In seinen Ausführungen skizziert er einen nicht-einholba­ ren Antagonismus zwischen Kollektiv und Individuum, wobei sich Letzteres dem Kollektiv unterordnen müsse. Gasana gesteht freimütig seine Gefühle ein, selbst wenn er sich selbst als «na­ turel assez réservé» (MU, S. 26) beschreibt. Als er im Restaurant auf den sicht­ lich verängstigten Inhaber, einen «Tutsi», trifft, versucht er sich der ihm unan­ genehmen Situation möglichst zu entziehen: «Il [le propriétaire du restaurant] a ce pauvre sourire qui me perturbe légèrement, je dois l’avouer. Je me dépêche de sortir du restaurant» (MU, S. 28). Er überlegt ebenfalls, was seine Mutter von den bevorstehenden Gewaltverbrechen halten möge (vgl. MU, S. 26 f.). Gasana vermei­ det jedoch bewusst jegliche Konfrontation, die eine Störung der mörderischen Ab­ sichten bedeuten könnte. Das gleiche Muster wiederholt sich beim Abschied von seiner Freundin Marie-Hélène (vgl. MU, S. 29). Diese Nuancen lassen die Konturen des angehenden Mörders in einem ge­ wissen Maße erkennbar werden, indem sie aus der Ich-Perspektive vorgetragen werden. Sie zeichnen indes das psychologische Profil eines Menschen nach, der dazu beiträgt, dass Raum für entfesselte Gewalt entstehen kann. Gasana handelt nicht aus Affekt. Die kontrolliert aufgebaute Aggression gegen eine Bevölkerungs­ gruppe und die Ermutigung zur Gewalt durch oberste Stellen im Staat waren das Fundament des Genozids in Ruanda. Der Historiker Jörg Baberowski, der sich ins­ besondere mit den Stalinistischen Verbrechen beschäftigt hat, schreibt zur ge­ sellschaftlichen Einbettung von Gewalt: «Ordnung ist eine Voraussetzung für die Eindämmung der Gewalt, zugleich ist sie aber auch eine Voraussetzung für ihre Organisation. Aus diesem Teufelskreis gibt es kein Entkommen.»⁷⁶ Die in Murambi angewandte Schreibweise eines psychologischen Realismus trägt dazu bei, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung verbreitete Li­ aison von Gewalterfahrung und Unsagbarkeit aufzubrechen.⁷⁷ Der Genozid wird

76 Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016 [2015], S. 94. 77 Vgl. hierzu exemplarisch die in Kanada eingereichte Dissertation von Fodé Sarr: Histoire, fic­ tion et mémoire dans l’œuvre de Boubacar Boris Diop. Sarr wählt als Titel für sein Kapitel über den

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nicht als ein isoliertes Ereignis⁷⁸ dargestellt, das wie ein monolithischer Block im Geschichtsverlauf steht. Vielmehr wird einsichtig gemacht, wie ein Raum der Ge­ walt⁷⁹ entstehen kann, innerhalb dessen Grausamkeiten geschehen. Baberowski fasst das wie folgt: Sobald sich die Umgebung in einen Gewaltraum verwandelt, in dem das Recht des Stärke­ ren das Leben strukturiert, gewöhnen sich Menschen daran, zu verletzen und zu töten. [. . . ] Immer nur kommt es darauf an, was einer kann und was einer darf. Und wenn sich Gele­ genheiten eröffnen, zu tun, was man kann und darf, ist auch alles möglich.⁸⁰

Für einen Überzeugungstäter, wie Faustin Gasana in Diops Roman, ist die Ratio­ nalisierung seines Tuns entscheidend. Sie beruht auf einer fundamentalistischen Haltung, denn sie setzt bestimmte Inhalte als unangreifbar, duldet keine Wider­ rede und zieht dementsprechende Handlungen nach sich. In Murambi beruft sich die Figur Gasana auf ihre Kenntnis der Geschichte. In Gasanas Darstellung wird sie als die einzig Gültige ausgewiesen: Les choses ne sont pas si simples. Moi, j’ai toujours su en devenant Interahamwe que j’aurais peut-être à tuer des gens ou à périr sous leurs coups. Cela ne m’a jamais posé de problème. J’ai étudié l’histoire de mon pays et je sais que les Tutsi et nous, nous ne pourrons jamais vivre ensemble. Jamais. Des tas de fumistes prétendent le contraire, mais moi je ne le crois pas. Je vais faire correctement mon travail. Et je suis d’accord avec le vieux : chaque fois que vous hurlez des grossièretés à quelqu’un qui va mourir, vous laissez à un autre le temps de s’enfuir. Je ne suis pas si stupide au point de l’ignorer. (MU, S. 25)

Roman: ‹Murambi : le livre des ossements: L’indicible du génocide, entre fiction et histoire›. Seine Analyse geht verdienstvollerweise über diese Festschreibung hinaus. Dennoch perpetuiert sich im Titel der Arbeit die konstruierte Verbindung von «Unsagbarkeit» und «Genozid». 78 Der Begriff Ereignis(se) wird im Kontext des Genozids in Ruanda 1994 durchaus als problema­ tisch gesehen. Vgl. bspw. die Verwendung bei Thierno Monénembo: L’aîné des orphelins. Paris: Seuil 2000, S. 14. Der 1947 in Guinea geborene Autor nahm wie Diop an der Aktion «Écrire par devoir de mémoire» in Ruanda 1998 teil, aus der sein hier zitierter Roman entstanden ist. Ich ver­ wende den Begriff im Zusammenhang der vorliegenden Studie mit einem kritischen Bewusstsein und weise explizit jedes Ansinnen zurück, den Genozid in irgendeiner Weise zu banalisieren. 79 Vgl. Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Der Historiker Baberowski konzentriert sich darauf, welche Wirkungen von Gewalt ausgehen und wie sie sich mit Blick auf das sie umgebende Hand­ lungsfeld (einen Raum der Gewalt) verhält beziehungsweise was die Akteur:innen machen und was das mit ihnen macht: «Gewalt verändert die Situation, und es ist am Ende nicht mehr von Bedeutung, welchem Motiv sich der Anlass der Aggression verdankt. [. . . ] Nicht auf Ursachen, sondern auf das Geschehen selbst kommt es an, wenn man verstehen will, was Gewalt ist und was sie anrichtet. Denn Gewaltsituationen sind offen, das Geschehen ist dynamisch und unvor­ hersehbar. [. . . ] Gewalt verändert Handlungsräume und Menschen in so kurzer Zeit (Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens, Seite 25–26). Sie wird zur Ursache ihrer selbst, und deshalb muss genau beschrieben werden, was geschieht.» Ebda., S. 139. 80 Ebda., S. 107, S. 109.

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Gasana behauptet, im Recht zu sein: «Je sais que les Tutsi et nous, nous ne pour­ rions jamais vivre ensemble.» Wer nicht seiner Ansicht ist, wird als «Schwätzer» («fumiste») herabgewürdigt. Gasana ist ein Fundamentalist und hat sich die Ver­ nichtung der Tutsi auch zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht. Er benutzt die Vokabeln «travail», «travailler»⁸¹ und «tâche» (vgl. MU, S. 26). Diese abstrahieren von der konkreten Gewaltanwendung und verschleiern auf diese Weise, was tat­ sächlich gemeint ist. Die veränderte Semantik wird der Leserin auch klar, wenn die historische Referenz nicht bekannt ist, auf die in Diops Roman auch nicht hin­ gewiesen wird. Die genannten Vokabeln sind Teil der Hass-Propaganda, die vor allem über den Radiosender Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) verbreitet wur­ de.⁸² Das Verb «travailler» ist eine Übersetzung aus dem Kinyarwanda und wurde als Chiffre für das Töten in Umlauf gebracht. In der Urteilsbegründung des Inter­ nationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (der von November 1994 bis Dezember 2015 bestand) im Fall des Belgiers Georges Ruggiu findet sich eine prägnante Be­ schreibung dieser Propaganda-Strategie, die zum Töten aufrief.⁸³ Ruggiu war als Journalist für RTLM tätig: The accused admits that as part of the move to appeal for, or encourage, «civil defence», he made a public broadcast to the population on several occasions to «go to work». The phrase «go to work» is a literal translation of the Rwandan expression that Phocas Habimana, Man­ ager of the RTLM, expressly instructed the accused to use during his broadcasts. With time, this expression came to clearly signify «go fight against members of the RPF and their ac­ complices.» With the passage of time, the expression came to mean, «go kill the Tutsis and Hutu political opponents of the interim government.»⁸⁴

81 Vgl. auch Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 76. 82 Zur Rolle des Senders RTLM gibt es eine Fülle von Forschungsliteratur. Vgl. etwa Alison Des Forges: Leave None to Tell the Story : Genocide in Rwanda. New York: Human Rights Watch and the International Federation of Human Rights Leagues 1999, S. 48–52 und Karen Krüger: Worte der Gewalt. Das Radio und der kollektive Blutrausch in Rwanda. In: Zeitschrift für Geschichts­ wissenschaft 51, Nr. 10 (2003), S. 923–939. An dieser Stelle sei der Sammelband von Milo Rau ge­ nannt, dessen begleitendes dokumentarisches Theaterprojekt den Genozid und die Geschichte um RTLM im deutschsprachigen Raum jüngst sehr bekannt machte. Milo Rau: Hate Radio. Mate­ rialien, Dokumente, Theorie. Berlin: Verbrecher Verlag 2014. 83 Ich danke Narelle Fletcher, Koordinatorin und Dozentin im Bereich Genocide Studies von der University of Technology of Sydney, für diesen wertvollen Hinweis auf den Zusammenhang und die hier zitierte Quelle. 84 International Criminal Tribunal for Rwanda: The Prosecutor v. Georges Ruggiu. Case No. ICTR97-32-1. Judgment and Sentence, 1. Juni 2000. S. 1–20, hier S. 9.

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Die Figur Gasana in Murambi verwendet also eine von Hass-Propaganda über­ formte Sprache. Dass eine solche Rede nicht spontan entsteht, macht Diops Ro­ man in seinem weiteren Verlauf deutlich, wie ich in den folgenden Analysekapi­ teln im Detail herausarbeiten werde. Gasana setzt sich als strategischer Vordenker von seinen Handlangern ab, wie aus seinem Bericht hervorgeht. Er nutzt sie psychologisch aus, indem er ihnen ermöglicht, Macht auszuüben: Mais comment faire entrer ça dans la tête de mes hommes ? Ils se sont engagés dans la milice Interahamwe pour faire trembler des hommes et des femmes plus puissants qu’eux. Ils se moquent bien de tuer tous les Tutsi. Pour peu, ils en laisseraient échapper quelques-uns, juste pour le plaisir d’autres revanches tout aussi sanglantes. (MU, S. 25)

Als Anführer sieht Gasana sich in der Verantwortung, den ausgearbeiteten Plan vollkommen umzusetzen. Anvisiertes Ziel ist die alleinige und unanfechtbare Herrschaft in Ruanda (vgl. MU, S. 21). In seinem Nachdenken über die psychi­ sche und physische Anstrengung desjenigen, der andere Menschen massenhaft umbringt, zeigt Gasana, dass ihm die Realität des Tötens vertraut ist: Je ne vais pas à la guerre. Je ne cours aucun risque. À Kibungo comme dans le reste du Rwanda, nous allons juste aligner les Tutsi aux barrières et les tuer. [. . . ] Tuer autant des personnes sans défense, ce ne sera sûrement pas simple. À la longue, ça peut devenir mo­ notone et lassant. (MU, S. 26)⁸⁵

Die immer wiederkehrende Gewalt an den Tutsi zieht sich buchstäblich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Familie Gasana. Der Vater Faustins hat ein Bild des ersten ruandischen Präsidenten Grégoire Kayibanda und des belgischen Königs an der Wand. Es zeigt vermutlich den Moment der offiziellen Unabhän­ gigkeit des Landes von der belgischen Kolonialmacht (vgl. MU, S. 19).⁸⁶ Zentrale Lektion für die nachwachsenden Generationen ist die vorgebliche Notwendigkeit des absoluten Tötens, so stellt es Gasana dar (vgl. MU, S. 21). Zum Bestand der kol­ lektiven Erinnerung der Überzeugungstäter gehört eine Geschichte, in der Mörder

85 «Die Zeit unorganisierter Gewalt ist kurz. Menschen, die sich prügeln und übereinander her­ fallen, Räuber, die Geschäfte ausrauben oder umbringen, wer sich ihnen in den Weg stellt, Killer, die lautlos töten – sie alle wollen, dass die Gewalt schnell vorübergeht, denn je länger der Furor dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vorhaben misslingen wird. Deshalb zie­ hen sich Angreifer zurück, wenn sie begreifen, dass sie nicht siegen können. Erst wenn Gewalt organisiert und institutionalisiert wird, kann sie sich über einen längeren Zeitraum verstetigen.» Jörg Baberowski: Räume der Gewalt, S. 40. 86 Im Roman heißt es zu dem Bild: «Kayibanda paraît très fier de vivre ce moment historique, et le roi des Belges, ganté de blanc, a l’air un peu distrait ou dédaigneux.» MU, S. 19.

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eine Tutsi-Familie nicht an der Flucht gehindert haben. Eines der entkommenen Kinder soll später Anführer der gegnerischen Tutsi-Guerilla geworden sein (vgl. MU, S. 22). Gasana selbst weist implizit daraufhin, in welchem Maße es sich hier­ bei um Mythenbildung handelt: Nous l’avons entendu mille fois de la bouche de nos instructeurs. C’est l’exemple qu’ils nous donnaient toujours pour montrer à quel point il peut être dangereux d’épargner les bébés pendant le travail. Le récit comporte d’ailleurs de nombreuses variantes. (MU, S. 22; eigene Hervorhebung)

Diese Einsicht führt jedoch nicht dazu, den Gehalt und die Funktion der Erzäh­ lung als Mittel der gezielten Manipulation zu hinterfragen. Im Unterschied zur Ge­ neration seines Vaters ist das Massenmorden in der Darstellung Gasanas profes­ sioneller und zugleich alltäglicher geworden. Er unterstreicht nachdrücklich die technischen und organisatorischen Aspekte, spricht explizit von den «Tutsi» und vom Töten. Gasanas Vater dagegen ist aufbrausend in seinem Hass und gebraucht rhetorische Strategien der Entmenschlichung, wenn er von den Tutsi spricht: Sans me laisser répondre, il ajoute que, cette fois-ci, «‹ils› ont dépassé les bornes». La poli­ tique a toujours été son sujet de conversation favori, mais je ne l’ai jamais entendu prononcer le mot «Tutsi». Il les appelle toujours «ils» ou les «Inyenzi», littéralement les «cancrelats». (MU, S. 20)

Diese herabsetzenden und entmenschlichenden Ausdrücke sind wiederum durch die Propaganda der Extremisten verbreitet worden.⁸⁷ Auch der Vater ist sich be­ wusst, dass ein Genozid ein geplantes und kein spontanes Verbrechen ist, wenn er den Holocaust evoziert (vgl. MU, S. 23 f.). Die Verbalzeit von Gasanas Bericht ist, im Unterschied zum vorhergehenden Bericht Michel Serumundos, das Präsens. Der Tempuswechsel erhöht die Span­ nung, die im Sprechen Serumundos bereits angelegt wurde. Die physische Gewalt steht unmittelbar vor ihrem Ausbruch, wie die Deixis im zweiten Kapitel anzeigt. Der letzte Absatz fungiert als eine Art Cliffhanger: «Nous allons sûrement veiller jusqu’à très tard. Contrairement à ce que j’ai dit au vieux, c’est demain que les choses sérieuses commencent pour nous» (MU, S. 29).

87 Etwa in der Rede des MRND-Politikers Léon Mugesera von 1992, die kurz vor Beginn des Ge­ nozids im April 1994 nochmals durch den bereits erwähnten Sender RTLM verbreitet wurde, im November 1993. Vgl. dazu Narell Fletcher: Words That Can Kill: The Mugesera Speech and the 1994 Tutsi Genocide in Rwanda. In: PORTAL/Journal of Multidisciplinary International Studies 11, Nr. 1 (2014), S. 1–15, insb. S. 1 und 6 für die entmenschlichenden Ausdrücke, die Mugesera mehr als 20 Mal in seiner Rede benutzte.

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Die von Serumundo im ersten Kapitel geäußerten Befürchtungen, dass der Tod des Präsidenten Habyarimana als Vorwand für neuerliche Gewalt dienen könnte, bestätigt sich. Gasana erwähnt den Vorfall nur am Rande (vgl. MU, S. 19). Seine Ausführungen zu den umfassenden Vorbereitungen des Genozids von 1994 machen deutlich, wie systematisch und sorgfältig darauf hingearbeitet wurde.

c) Jessica Der Bericht der Figur Jessica ergänzt das dreigeteilte Tableau des ersten Teils im Roman Murambi. Was auf Anhieb heraussticht ist, dass nur ein Vorname über dem Kapitel steht, während bei den ersten beiden Berichten stets auch ein Nachname genannt wird. Jessica ist eine Anhängerin des Front Patriotique Rwandais (FPR) und kämpft mit verdeckter Identität. Dieser Logik folgend kann der Nachname nicht preisgegeben werden. Jessica spricht über extreme ethische Herausforderungen. Die zuvor angeleg­ te klare Einteilung der Involvierten in solche, die erleiden und jene, die Leiden verursachen, wird in dieser Figurenrede unschärfer: Jessica lässt bedrohte Tutsi in vollem Wissen ihrem Tod entgegengehen, weil sie ihr Geheimwissen und ih­ re Rolle als Spionin des FPR nicht preisgeben darf. Ein Beispiel ist der Fall ihrer Freundin Theresa, den sie schildert: – Je vais y aller, dit Theresa, tu ferais mieux de venir avec moi, Jessica. Je pense exactement le contraire. Les combattants avec qui je suis entrée dans Kigali ont appris qu’on encourageait les futures victimes à se réfugier dans les églises pour les y exter­ miner. Mais moi, Jessica Kamanzi, je n’ai rien d’autre à proposer à Theresa. – Bonne chance, dis-je en évitant de la regarder. [. . . ] Je la serre contre moi sans répondre. (MU, S. 32)

Die Konfrontation zwischen Jessicas Rolle als Spionin, die im Sinne eines größe­ ren Interesses handelt, und ihrer Rolle als Privatmensch wird in dieser Szene zu­ gespitzt, da Theresa ihre Freundin ist.⁸⁸ Jessica schildert die Begegnung mit einer weiteren Frau, die sie nicht schützen kann:

88 Es ist die Rede davon, dass sie gemeinsam zur Hochzeit von Freunden eingeladen sind. Vgl. MU, S. 32. Theresa wird im zweiten Teil des Romans nochmals kurz eine Rolle spielen: Ihr miss­ handelter Leichnam ist zur Erinnerung aufgebahrt geblieben. Vgl. MU, S. 80 f. Der Autor Diop erläutert, dass es einen direkten Bezug zu einer Getöteten gibt. Boubacar Boris Diop: Postface, S. 208.

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Une femme qu’ils ont blessée en attendant de l’achever plus tard vient à moi. Sa mâchoire droite et sa poitrine sont couvertes de sang. Elle jure qu’elle n’est pas Tutsi et me supplie de l’expliquer au chef de la barrière. Je m’écarte très vite d’elle. Elle insiste. Je luis dis sèchement de me laisser tranquille. Voyant cela, le milicien Interahamwe est convaincu que je suis de son camp. Il me lance dans un joyeux éclat de rire : – Ah ! Tu es dure, toi aussi, ma sœur ! Il faut avoir pitié, toi aussi ! (MU, S. 38)

Über ihre eigenen Gefühle sagt Jessica nichts. Ihr Bericht ist inhaltlich auf ihre Rolle als FPR-Kämpferin fokussiert, jedoch zeigt sie sich der ambigen ethischen Ansprüche durchaus bewusst: Indem sie die schwer erträglichen Zusammentref­ fen nicht verschweigt – auch wenn sie das Geschehene nicht weiter kommen­ tiert – vermag sie die Dilemmata zumindest zu illustrieren. Noch deutlicher als in den vorigen Kapiteln liegt der Akzent hier auf einer psy­ chologischen, unmittelbaren Introspektive. Jessicas Sprechen apostrophiert nie­ manden direkt: «Moi, je mène une double vie. Il y a des choses dont je ne peux parler à personne» (MU, S. 30). Wie bei Faustin Gasana ist Jessicas Rede überwie­ gend im Präsens gehalten. Der Zeitpunkt des Erzählens sowie der erzählte Zeitab­ schnitt liegen sehr nah beieinander, Anfang April 1994⁸⁹: L’heure de la libération a sonné. Depuis ce matin, nos unités font mouvement sur Kigali. Mais arriveront-elles partout à temps ? Non, hélas. Dans certains endroits, la boucherie a déjà commencé. (MU, S. 37)

Jessica sieht eine Chance für eine positive Entwicklung, auch wenn sie viele Opfer erwartet: Jessica Kamanzi, c’est moi. Je souris en regardant mes deux doigts triomphalement levés vers le ciel.⁹⁰ Ah, ça oui, la victoire est certaine. Je n’en ai jamais douté un seul instant. Elle sera pourtant si amère. . . (MU, S. 32)

Was die Berichte des Interahamwe-Kämpfers Gasana und der FPR-Kombattantin Jessica eint, sind die Bezüge zu den jeweiligen Familiengeschichten. Dies macht deutlich, wie tief die historische Erfahrung die individuellen Le­ bensläufe über Generationen hinweg geprägt hat. Auch Jessica hat ein besonderes

89 Die ruandische Premierministerin Agathe Uwilingiyimana ist zu dem Zeitpunkt, als Jessica erzählt, bereits tot. Vgl. MU, S. 34. Uwilingiyimana, eine gemäßigte Hutu, wurde am 7. April 1994 umgebracht. Zu Beginn des Kapitels spricht Jessica über den kürzlich erhaltenen Brief eines Kol­ legen, der auf den 8. April 1994 datiert ist. 90 Jessica bezieht sich auf eine Zeichnung von ihr in dem bereits erwähnten Brief eines FPR-Kol­ legen. Vgl. MU, S. 31. Sie sagt ihren vollen Namen und bekräftigt ihre Identität. Damit betont sie ihre Individualität als Jessica Kamanzi und widersetzt sich Fremdzuschreibungen an ihre Person.

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Verhältnis zu ihrem Vater, der – wie der Vater Gasanas – 1959 aktiv in die gewalt­ vollen Auseinandersetzungen der sogenannten Hutu-Revolution involviert gewe­ sen ist; jedoch auf der anderen Seite (vgl. MU, S. 35). Jessica erzählt von ihren eigenen Erfahrungen mit dem FPR, dem sie 1990 bei­ getreten ist (vgl. MU, S. 36). Anhand ihrer Lebensgeschichte verdeutlicht Jessica, dass die Gewalt in Ruanda andauert und dass es sich dazu unausweichlich zu verhalten gilt: Si aujourd’hui je racontais tout cela, on pourrait penser que je me vante. Ce n’est pas le cas. Depuis 1959, chaque jeune Rwandais doit, à un moment ou à un outre de sa vie, répondre à la même question : faut-il attendre les tueurs les bras croisés ou tenter de faire quelque chose pour que notre pays redevienne normal ? Entre notre avenir et nous, des inconnus ont planté une sorte de machette géante. Vous avez beau faire, vous ne pouvez pas ne pas en tenir compte. La tragédie finit toujours par vous rattraper. (MU, S. 36 f.)

Jessica spricht nicht von Vergeltung oder Rache, sondern davon, den Normalzu­ stand wiederherstellen zu wollen. In ihrer Perspektive ist das die Aufgabe der Ju­ gend des Landes: «chaque jeune Rwandais doit, à un moment ou à un outre de sa vie, répondre à la même question». Es ist bemerkenswert, dass sie weder das Wort «Hutu» noch «Tutsi» in diesem Zusammenhang gebraucht. Dadurch distan­ ziert sich ihr Sprechen von der konstruierten Dichotomie, mithilfe derer die Ge­ walt immer wieder gerechtfertigt wurde. Jessica macht niemanden direkt verant­ wortlich, sondern benennt nur «des inconnus» als Urheber der «tragédie». Die martialische Metapher der Machete weist in ihrer Drastik auf die Materialität der Gewalt zurück: «Entre notre avenir et nous, des inconnus ont planté une sorte de machette géante.» Die in diesem Kapitel vorgelegte Analyse des ersten Teils von Diops Roman Murambi hat deutlich werden lassen, inwiefern die ersten drei Kapitel als sorgfäl­ tig komponierte Mikroaufnahmen zu Beginn des Genozids zu verstehen sind. Die psychologisch nuancierten Berichte der Figuren, die unterschiedliche Rollen im Geschehen haben, streichen ihre gemeinsame Eigenschaft heraus: unabänderlich Mensch zu sein. Murambi legt diese vor dem Hintergrund des Gewaltverbrechens so schwierig zu formulierende Einsicht bereits im ersten Teil an.⁹¹ Sèye sieht in der textuellen Architektur, wie sie hier für den ersten Teil von Murambi herausgearbeitet worden ist, eine Nähe zum Theater. Eine mögliche Les­ art, die ich für sehr plausibel halte. Demzufolge gehe es darum, die Leserschaft direkt anzusprechen:

91 Im dritten Teil des Romans (‹Génocide›) wird dieses Verfahren wiederaufgenommen. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 4.5.

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis

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De plus, les noms des personnages placés en en-tête de plusieurs chapitres de Murambi rappellent les indications de nom au début des monologues théâtraux. Le récit, éclaté et fragmenté, devient ainsi une compilation de monologues qui s’adressent directement à des lecteurs présents. Le roman Murambi, le livre des ossements, peut donc être perçu comme une représentation de différents personnages qui se succèdent sur scène pour partager leur mémoire. Ce procédé vise à rendre l’histoire plus crédible car le témoignage est immédiat et instantané.⁹²

Zugleich, so wäre zu ergänzen, schließt diese Zeugenschaft die Täter:innen gerade nicht aus: Sie nicht auf Distanz zu halten und als Menschen wie alle anderen (und nicht etwa als ungeheuerliche Kreaturen) und in unmittelbarer (textueller) Nach­ barschaft darzustellen, ermöglicht einen Zugang zum Genozid nicht vornehmlich als unbegreifliches sondern als menschengemachtes Verbrechen.

4.3 Die Familiengeschichte: Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis Der zweite und vierte Teil des Romans (‹Le retour de Cornelius› sowie ‹Murambi›) setzen sich erzähltechnisch vom ersten und dritten Teil ab. Aus Gründen der nar­ rativen Kohärenz werden in der folgenden Analyse die Teile zwei und vier in ih­ rer Gesamtheit betrachtet. In diesem Kapitel möchte ich erörtern, wie die Form der Familiengeschichte in Diops Roman Murambi genutzt wird, um eine überin­ dividuelle, historische Einsicht zu artikulieren. Dieser Fokus in der Analyse ergibt sich aus der Anlage dieser Romanteile: Dort geht es um die Familiengeschichte von Cornelius Urimana, der in Ruanda geboren wurde und nach mehreren Jahren im Exil in Djibouti dorthin zurückkehrt. Als Kind flüchtete Cornelius 1973 aus Ru­ anda, während der Gewalt gegen die Tutsi; er wurde als Sohn einer Tutsi-Mutter verfolgt. Ein heterodiegetischer Erzähler mit überwiegend interner Fokalisierung schildert Cornelius’ Geschichte. Der Protagonist hat einen Hutu Vater und eine Tutsi Mutter. Diese Konstellation markiert Cornelius als jemanden, der in seiner Familie beide Gruppenzugehörigkeiten hat. Auf diese Weise wird die von den Extremisten autoritativ postulierte Eindeutigkeit unterlaufen und zugleich der Konstruktcharakter von Zugehörigkeiten aufgezeigt. Die Lebensrealität in Ruan­ da vor dem Genozid kannte keine klare Gruppentrennung, wie ich in Kapitel 4.1 ausführlich dargelegt habe. Dennoch muss daran erinnert werden, dass in dem

92 Sérigne Sèye: La théâtralité du récit romanesque ou la tentation du théâtre chez Boubacar Boris Diop. In: Interculturel 21 (2017), S. 251–272, hier S. 267.

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zunehmend rassistisch-völkischen Klima die formal festgelegte Zugehörigkeit stets als distinktiv hervorgehoben wurde. Der einleitende Absatz des zweiten Teils ist paradigmatisch für eine mit örtli­ chen und zeitlichen Details ausgestattete Schreibweise, die den gesamten zweiten Teil von Diops Roman markiert: Abidjan. Kinshasa. Nairobi. Dar es Salam. Addis-Abeba. Entebbe. . . Cornelius Uvimana refit mentalement le compte des nombreuses escales de l’avion avant son atterrissage à Kigali. Le vol 930 d’Ethiopian Airlines de ce 6 juillet 1998 s’était arrêté presque partout. À chaque vague de nouveaux passagers, les hôtesses avaient servi des sandwiches et du jus d’orange. Cornelius en avait l’estomac tout retourné. Trente-six heures du voyage. Il se sentait épuisé et salé. (MU, S. 41)

Die Stationen der Reise und ihre Dauer, die Flugnummer und -gesellschaft, das exakte Datum bis hin zur Bordverpflegung – jedes Detail ist wichtig genug, um aufgezählt zu werden. Der dokumentarische Einstieg erinnert nicht nur an rea­ listische Erzählverfahren, sondern aufgrund der parataktischen Syntax auch an die Schreibweise der Reportage. Deren zentrales Stilmittel ist, viele möglichst genaue Fakten innerhalb eines narrativen Verlaufs zu verknüpfen. Damit sucht sich die Reportage als wahrhaftig auszuweisen und von einer fiktionalen Erzäh­ lung abzugrenzen.⁹³ Diops Roman nutzt diese Nähe zum Genre der Reportage als textuelle Strategie, um die Erwartung der Leserschaft zu lenken: Indem der Romantext ostentativ auf Fakten besteht, markiert er ebenfalls seinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Dabei geht es weniger darum, ob es tatsächlich eine abso­ lute Deckungsgleichheit mit der faktualen Welt gibt, schließlich wird Murambi im Paratext eindeutig als «roman» ausgewiesen. Vielmehr zählt, dass ein wahr­ scheinliches Szenario dargestellt wird. Das ist kein Zufall: Das Sprechen über eine fundamentale Gewalterfahrung innerhalb der Fiktion wirft die Frage auf, in welcher Weise dies überhaupt in angemessener Weise geschehen kann. Der Autor Diop hat im Nachwort⁹⁴ zu einer Neuausgabe von Murambi bemerkt, dass

93 Es gibt für die journalistische Reportage keine zwingenden Regeln. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf die zumindest in euro-amerikanischen journalistischen Presseorganen üblichen Kon­ ventionen. Es geht um die klassische Schreibweise der journalistischen Reportage, jenseits von New Journalism oder weiteren experimentell-kreativeren Formen des Erzählens im Journalismus. Die moderne Textreportage (Online- oder Printmedien) hat sich aus den Formen des Reisebe­ richts und des Augenzeugenberichts entwickelt. Ihr Anliegen ist, die Leserin etwas miterleben zu lassen, bei dem sie gar nicht zugegen war. Vgl. Claudia Mast (Hg.): ABC des Journalismus. Ein Handbuch. 10. völlig neu bearbeitete Auflage. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2004, S. 256. 94 Semujanga geht so weit zu sagen, dass das Nachwort den Status des Romans als Literatur verneine. Vgl. José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 149.

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis

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237

ihm seine Berufserfahrung als Journalist bei der Recherche vor Ort in Ruanda und im Schreibprozess wesentlich geholfen habe: Se trouver, quatre ans après le génocide, au contact d’un pays dévasté par la folie meurtrière du Hutu Power, être immergé dans des récits affreux, inconcevables pour un esprit humain normal, essayer de les comprendre, cela vous éloigne très vite d’on ne sait quels voluptueux tourments esthétiques. Chacun de nous s’est débrouillé comme il a pu et je crois bien que ma formation de journaliste m’a été d’un grand secours : pendant deux mois, je me suis contenté de poser des questions et d’écouter en silence, avec une infinie patience, les réponses que l’on voulait bien y faire.⁹⁵

Der Autor Diop hat nach eigenen Angaben also die Rolle eines sekundären Zeugen eingenommen, in dem er die Genozid-Erlebnisse der Menschen in Ruanda aufge­ nommen hat. Seine Rolle spiegelt sich in der Romanfigur Cornelius wider, aller­ dings bedingt: Denn Cornelius hat als in Ruanda aufgewachsener Mann und als Mitglied einer am Genozid betroffenen wie gleichermaßen beteiligten Familie ei­ ne sehr viel komplexere Position. Die heterodiegetische Erzählstimme im zweiten und vierten Teil des Romans ist durch eine vorwiegende Fokalisierung auf Cor­ nelius zwischen panoramahafter Distanz und relativer Nähe kalibriert. In diesem Rahmen werden auch die Schwierigkeiten, die mit dem Überleben und Berichten der Zeug:innen ersten Grades, der superstitis, verbunden sind, berührt. Dabei ist die Lebens- beziehungsweise Familiengeschichte Cornelius’ der Vektor des zweiten und vierten Teils in Murambi. Der Geschichtslehrer ist nach Ruanda zurückgekehrt, um seine Biographie zu vervollständigen, wie es im Ro­ man heißt: – Alors, qui nous revient au pays ? [Jessica] Cornelius songea que c’était une façon peu habituelle de poser son problème. Il n’avait pas encore de réponse. Toute sa famille avait péri pendant le génocide, à l’exception de son oncle Siméon Habineza. Il était évident que tout ce qu’il avait vécu hors du Rwanda ne trouverait son véritable sens que dans ce qui était arrivé quatre ans plus tôt. D’une certaine façon, sa vie ne faisait que commencer. (MU, S. 42)

Seine Kindheitsfreundin Jessica trifft mit ihrer scherzhaften Frage den Kern von Cornelius’ Anliegen; nämlich zu klären, wer er eigentlich ist. Der Genozid ist aus seiner Perspektive eine Leerstelle im Verlauf seines Lebens, die ihn daran hindert, dessen «véritable sens» zu bestimmen. Auch wenn Cornelius die Einzelheiten der Geschehnisse bei seiner Ankunft in Ruanda nicht kennt, weist er den Fakten exante einen zentralen Platz zu. Dieses faktengesättigte Erzählschema hat der be­ reits analysierte Beginn des zweiten Romanteils mit seiner reportagigen Schreib­

95 Boubacar Boris Diop: Postface, S. 198.

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weise beispielhaft vorgeführt. Cornelius will sein Leben ebenfalls wie eine (weit­ gehend) lineare Erzählung strukturieren, die sich auf Fakten stützen kann. Das macht die folgende Passage deutlich, in der Cornelius’ Erwartungen an seine bio­ graphischen Erkundungen geschildert werden: Par fragments disparates, les scènes du passé et du présent se croisaient dans sa mémoire. Il sentait à quel point il lui serait difficile de mettre de l’ordre dans sa vie et il n’aimait pas du tout cette idée. Revenir dans son pays – y être heureux ou y souffrir – était une renaissance, mais il ne voulait pas devenir un être sans passé. Il était tout ce qu’il avait vécu. Ses fautes. Ses lâchetés. Ses espoirs. Il voulait savoir, dans les moindres détails, comment sa famille avait été massacrée. À Murambi, Siméon Habineza lui raconterait tout. Il le fallait. (MU, S. 50)

Wahrheit erscheint in diesem Hinblick relativ, insofern sie immer nur gebrochen im biographischen Prisma vorzufinden ist. Cornelius hat die Absicht, eine Selbst­ erzählung zu rekonstruieren, indem er den «fragments disparates» eine «Ord­ nung» gibt. Sein Onkel soll ihm möglichst genau erzählen, was passiert ist. Im bisher untersuchten Textzusammenhang wird also deutlich, dass der Prot­ agonist in Murambi zunächst davon ausgeht, dass der «wahre Sinn» sich aus den berichteten Fakten ergeben wird. Das setzt voraus, dass es überhaupt so etwas wie einen Sinn oder eine Bedeutung gibt, eine durchaus teleologische Sicht auf das Leben. Die Teile zwei und vier des Romans, in denen Cornelius im Mittelpunkt steht, zeichnen seine Suche Schritt für Schritt nach: Die Erzählung ist überwiegend chronologisch aufgebaut. Analepsen stören den Erzählfluss nicht, insofern sie die Ereignisse der temporalen Hauptachse lediglich illustrieren. Prolepsen wer­ den nicht eingesetzt.⁹⁶ Das erzähltechnische Movens ist die Bewegung selbst: Cornelius begibt sich konkret und im übertragenen Sinn auf eine Reise. Seine Be­ suche an verschiedenen Orten Ruandas und die Begegnungen dort zeigen, dass Erkenntnis im dynamischen Prozess des Suchens selbst beheimatet und nicht etwa das stabile Endprodukt einer präzisen epistemologischen Operation ist. Das konterkariert Cornelius’ anfängliche Annahme eines in Fakten verborgenen Sinnzusammenhangs. Wie in Kapitel 4.2 bereits herausgearbeitet wurde, zeichnen sich die Zeugen­ berichte in den Teilen eins und drei des Romans durch ihren reflexiven Gehalt aus. Das gilt auch für die Teile zwei und vier: Sie sind durch introspektive Passagen in Bezug auf Cornelius geprägt. Es ist vor allem das Erzählverfahren der indirekten

96 Ausnahme ist der letzte Satz des Romans, in dem die Zukunft Cornelius’ angedeutet wird. Vgl. MU, S. 193.

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freien Rede, das hier häufig zum Einsatz kommt (vgl. u. a. MU, S. 49) und Gedan­ ken, Gefühle und Überlegungen des Protagonisten nachvollziehbar macht. Die Zeugenberichte in den Romanteilen eins und drei sind nicht unmittelbar in einen narrativen Fluss eingebunden und stehen auf diese Weise für sich allein. Jedoch ergibt sich im kompositorischen Zusammenhang des Romans ein Wech­ selspiel mit den eingeschobenen Teilen zwei und vier, die von Cornelius’ Suche handeln. Die Struktur des Romans verweist beständig auf das Motiv der Suche, indem es deren Prozesshaftigkeit auf die Ebene der Darstellung hebt: Die Abfolge der einzelnen Ich-Berichte, die ich als Mikroerzählungen begreife, kann stellver­ tretend für das Erzählen der Figuren stehen, die Cornelius’ Geschichte überhaupt erst konstituieren. Cornelius’ Fortkommen als Reisender korreliert mit einem inneren Fort­ schritt, einer sich vertiefenden Einsicht. Cornelius ist Geschichtslehrer und geht davon aus, die Geschehnisse von 1994 systematisch begreifen zu können.⁹⁷ Nach­ dem er in Kigali gelandet ist, sucht er nach sichtbaren Hinweisen auf den Genozid vor Ort: Cornelius eut envie de se faire indiquer l’endroit où était tombé l’avion d’Habyarimana en avril 1994, puis y renonça. Il dévorait la ville des yeux, espérant saisir par intuition la relation secrète entre les arbres immobiles au bord de la route et les scènes de barbarie qui avaient stupéfié le monde entier pendant le génocide. (MU, S. 43)

Die zitierte Passage ist zentral für mein analytisches Interesse im vorliegenden Ka­ pitel, weil sie Fragen nach den Möglichkeiten der Darstellbarkeit des vergangenen Genozids berührt. Cornelius vermutet, über das Materielle eine Einsicht in die Ge­ schehnisse von 1994 zu erhalten. Er gleicht dabei einem eingeflogenen Reporter⁹⁸, der über angelesene Informationen aus Vorabrecherchen verfügt und die Erwar­ tung aufgebaut hat, am realen Ort des Geschehens durch bloßen Augenschein zu tieferen Einsichten zu gelangen. Vorherrschendes Gefühl ist Sensationslust, wie der Text nahelegt: Cornelius «eut envie» heißt es und weiter: «il dévorait la ville des yeux.» Er hat bereits feste Vorstellungen im Kopf und hofft deshalb – ähnlich wie ein investigativer Reporter – das Verborgene freizulegen und die als unerklär­

97 Vgl. dazu auch Niki Hitchcott: Writing on Bones, S. 53. 98 Im Falle besonderer Vorkommnisse, seien es politische Konflikte, Kriege oder Naturkatastro­ phen, werden Krisenreporter:innen direkt vor Ort geflogen. Das gilt insbesondere für Weltregio­ nen, in denen es keine ständigen Korrespondentenbüros gibt, was in den 1990er Jahren – und auch heute noch bzw. wieder – für weite Teile Afrikas der Fall war. Diese Arbeitsweise im Aus­ landsjournalismus hat sich seit Beginn der 2000er Jahre und mit der rasanten Entwicklung der neuen Medien zum Teil geändert. Für Großereignisse ist sie, wegen der finanziellen und sicher­ heitsbezogenen Anforderungen, dennoch Standard geblieben.

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lich markierten Ereignisse («qui avaient stupéfié le monde entier») des Genozids zu enthüllen. Die Beschreibung «les scènes de barbarie» enthält eine Schlüssel­ vokabel für eine stereotype Perspektive auf das Geschehen. Das rassistisch-kolo­ nialistisch geprägte Konzept der ‹Barbarei› impliziert, dass diese durch eine ‹Zi­ vilisierung› durch den Westen überkommen werden könne. Die zitierte Formulierung nimmt sich im Textzusammenhang wie eine reißeri­ sche Bildunterschrift aus, wenn sie Cornelius beim Anblick der Stadt⁹⁹ durch den Kopf geht. Der Verweis auf «le monde éntier» teilt die Menschen in zwei Gruppen: einige, die an den grauenhaften Ereignissen partizipiert haben und die Masse der anderen; in Akteur:innen und Zuschauer:innen. Dadurch entsteht einerseits eine Distanz zwischen diesen beiden Gruppen und andererseits eine Distanz zwischen den Zuschauer:innen und den Ereignissen. Cornelius zählt sich zur Gruppe der Zuschauer:innen, wie die Analyse seiner Kommentierungen gezeigt hat. Das illustriert ebenfalls sein geradezu zynischer Ausspruch «La tragique routine de la terreur» (MU, S. 47), als er über weitere Gräu­ eltaten in der Vergangenheit nachdenkt. Es geht dem Text aber nicht darum, diese Einschätzungen bloßzustellen und als verwerflich zu brandmarken.¹⁰⁰ Vielmehr geht Diops Roman über bloße Empörung hinaus: Der Text entwickelt eine subtile Kritik an einer naiven Lesart des Genozids, indem die dominante Perspektive des zurückgekehrten Cornelius’ durch weitere Stimmen – wie die seiner Kindheits­ freundin Jessica oder seines Onkels Siméon Habineza – dialogisch flankiert und aufgebrochen wird. Cornelius’ Kommentare können überdies als Ausdruck eines psychologi­ schen Schutzmechanismus gedeutet werden: als ein Versuch, die extremen Ge­ walterfahrungen in einer vereinfachten Sentenz zu bündeln. Das bedeutet, das Erlebte zu einem gewissen Grad zu beherrschen. Der Text lässt den Gefühlen und Überlegungen des Protagonisten viel Platz und hält so die inneren Verände­ rungen fest. Dadurch gewinnt die Figur psychologisches Profil und wird in ihrer Komplexität dargestellt.

99 Noch an anderer Stelle ist zu lesen, wie Cornelius vergeblich nach sichtbaren Spuren des Genozids in der Stadt sucht. Vgl. MU, S. 55 f. Er ist sich so sicher, etwas sehen zu müssen, dass er die Alltäglichkeit der Menschen in einem Café mit Zweifeln und Verwunderung beobachtet: «[Ils] faisaient leur travail comme les serveurs du monde entier. [. . . ] Ce mépris du tragique lui parassait presque suspect. Était-ce par dignité ou par habitude du malheur ?» MU, S. 56. 100 Der Erzähler kommentiert Cornelius’ Gedanken nicht weiter. Der zitierte Kommentar kann an dieser Stelle Cornelius zugeordnet werden, auch wenn der Erzähler im Verlauf der Teile zwei und vier stellenweise eine Nullfokalisierung aufweist. Der zitierte Satz ist Teil einer längeren Pas­ sage (vgl. MU, S. 45–47), die explizit als Gedankenstrom Cornelius’ gekennzeichnet ist: «Seul dans sa chambre à coucher Cornelius se souvint [. . . ].» MU, S. 45.

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis |

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Der Roman geht ausführlich auf Cornelius’ Erwartungen und innere Haltung ein. So wird etwa geschildert, wie er den Genozid in Ruanda zu konfrontieren ge­ denkt: Der Auseinandersetzung mit den Gewaltexzessen begegnet Cornelius auf eine Weise, die ihm als Lehrer vertraut ist. Er nähert sich dem Thema durch die Arbeit mit akademischen Texten: Cornelius commença à trier et à classer ses papiers : des documents et des livres sur l’histoire du Rwanda. Il en avait beaucoup lu au cours des années précédentes, moins pour connaître le passé lointain de son pays que pour comprendre le génocide. Il avait l’impression que tout le ramenait aux tueries de 1994. Même les savantes spéculations sur la formation des couches géologiques au Rwanda l’y conduisaient, par des sentiers secrets et tortueux. (MU, S. 48 ; eigene Hervorhebung)

Das Ziel von Cornelius’ Lektüren ist immer schon das Verstehen: «comprendre le génocide.» Indem er ex-ante das Ergebnis seiner Studien fixiert, trifft er es immer schon an, liest es gleichsam teleologisch in alle Texte hinein. Das gilt sogar für völlig themenfremde Texte, etwa über Geologie. Ein Satz fasst in Mu­ rambi zusammen, wie die Gewalt des Genozids über 1994 hinaus förmlich «aus­ strahlt»: C’était comme si le génocide irradiait tout de sa sombre lumière, aspirait vers lui les faits les plus anciens et les plus anodins pour leur donner une dimension tragique, un sens différent de celui qu’ils auraient eu ailleurs. (MU, S. 48)

Die oxymorische Metapher «sombre lumière» fängt die Dynamik ein, die von den extremen Gewaltereignissen ausgeht. Sie überwältigen Cornelius in ihrer Wucht und sind ständig präsent. Eingebettet in einen langen, parataktischen Satz voll­ zieht die sprachliche Gestalt die Irritation nach, die der Versuch des Verstehens des Genozids bei Cornelius erzeugt. Für ihn scheint rückblickend ein Fatalismus am Werk zu sein, der die Vergangenheit lediglich als Etappe auf dem Weg zur un­ ausweichlichen Katastrophe des Genozids erscheinen lässt. Dass dies jedoch ein nachträglicher und irreführender Effekt ist, diesen Gedanken bringt Diops Roman anhand der inneren Entwicklung der Figur Cornelius ins Spiel. Erkenntnis wird in Murambi immer wieder auf ihre ethische Dimension hin befragt. Dabei geht es stets um das Zusammenspiel von Individuum und Grup­ pe, das eine Gesellschaft ausmacht. Die historische Perspektive soll die Urteils­ kraft jeder Einzelnen schärfen, denn die Zukunft der Gemeinschaft liegt in der Verantwortung aller ihrer Mitglieder. Das illustriert ein Gespräch zwischen Cor­ nelius und seinem alten Klassenkameraden Stanley, der während des Genozids weltweit finanzielle und politische Unterstützung für den FPR zu beschaffen suchte:

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– Les gens du gouvernement font des efforts, c’est vrai. On a supprimé la mention de l’eth­ nie sur les cartes d’identité et il y a beaucoup d’autres choses. Mais le vrai problème, ce sont les logiques de pouvoir en Afrique. On ne sait jamais de quoi demain sera fait. [Stanley] – Penses-tu que cela peut recommencer ? [Cornelius] – Cela dépend de chacun. Le génocide n’a pas commencé le 6 avril 1994 mais en 1959 par de petits massacres auxquels personne ne faisait attention. S’il y a des meurtres politiques aujourd’hui, il faut châtier très vite les coupables. Sinon, tout ce sang nous retombera sur la tête un jour ou l’autre. (MU, S. 54)

Stanley spricht von den unberechenbaren «Herrschaftslogiken in Afrika» und macht im zweiten Teil seiner Antwort deutlich, was er damit meint: Gewalt braucht einen sozialen «Raum» (Baberowski), um sich realisieren zu können. Dieser tut sich erst auf, sobald bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Wenn die Gesellschaft nach einem Verbrechen gleichgültig bleibt und sich nicht zeit­ nah und konsequent um Recht bemüht, werden schützende Barrieren abgebaut. Stanley erwähnt in diesem Zusammenhang das Datum 1959, ohne es weiter zu erklären. Er ruft damit die sogenannte Hutu-Revolution auf, deren Gewalt hun­ derttausende als Tutsi bezeichnete Menschen in die Flucht trieb, wie ich in Ka­ pitel 4.1 dargelegt habe. Hier zeigt sich beispielhaft, dass Diops Roman über den Genozid 1994 keinen pädagogisch erklärenden Ansatz beziehungsweise keine rein in Fiktion eingebettete Chronologie der ruandischen Geschichte bietet. Viel­ mehr muss sich die Leserin im Zweifel selbst aus anderen Quellen über die Fakten informieren. In der Folge kann sich die Gewalt immer wieder ausbreiten, so die Argumen­ tation Stanleys: «tout ce sang nous retombera sur la tête un jour ou l’autre.» Der kurze Austausch zwischen Stanley und Cornelius verknüpft eine Einordnung des Genozids von 1994 mit einer allgemeineren Aussage über die Dynamik von Ge­ waltgeschehen. Erstens wird festgehalten, dass der Genozid in Ruanda eine lan­ ge Vorgeschichte hatte und zweitens, dass Gewalt nicht aus dem Nichts entsteht, sondern es um historisch gewordene Verhältnisse geht. Laut der Figur Stanley liegt es in der Verantwortung einer Gemeinschaft, ge­ waltfördernde Verhältnisse gar nicht erst entstehen zu lassen. In großem Maß­ stab geht es um die ruandische Gesellschaft als Ganzes, in kleinem Maßstab geht es um unmittelbare zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte, etwa in der Fa­ milie. Diops Roman lässt das Thema der gemeinsamen Verantwortung anhand mehrerer Episoden aufscheinen. So schildert etwa der Überlebende Gérard einen Fall, der sich während des Genozids zugetragen hat. Es geht um den Zusammenhalt in einer zufällig ent­ standenen Gruppe, die gemeinhin als Schicksalsgemeinschaft bezeichnet werden könnte. Gérard konnte sich retten, weil er sich mit anderen solidarisiert und der

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Dynamik der Gewalt widersetzt hat, wie er selbst darlegt. Gemeinschaftlich ha­ be die Gruppe die durch die Gewalt bereits veränderten Herrschaftsverhältnisse sabotiert, erzählt Gérard Cornelius: Les Interahamwe étaient vêtus de guenilles, ils puaient de la mauvaise bière, mais c’étaient des dieux, car ils avaient le pouvoir de tuer, personne n’était capable de les en empêcher, et il fallait voir leurs victimes aux faces émaciées leur ouvrir les bras dans un geste d’amour désespéré ! À Bisesero, les choses ont été différentes. En résistant aux tueurs, nous les avons obligés à rester des êtres de chair et de sang comme nous. (MU, S. 185)

In Bisesero haben Gérard und die anderen Verfolgten die Mörder durch ihren Wi­ derstand gezwungen, Menschen – und in dieser Position an ihre Verantwortung gebunden – zu bleiben.¹⁰¹ Sie haben ihnen nicht gewährt, eine andere Rolle – et­ wa als «Götter» – anzunehmen und sie ungehindert über Leben und Tod entschei­ den zu lassen. Während des Genozids 1994 wurde Bisesero zum Ort eines der größ­ ten Massaker. Bisesero wurde auch deswegen bekannt, weil dort viele Menschen den Mörder:innen entschiedenen Widerstand leisteten.¹⁰² Diesen Gedanken, das gemeinsame Menschsein nicht zu unterschlagen, greift auch eine andere Figur in Murambi auf: Cornelius’ Onkel Siméon Habi­ neza bezieht sich auf die gemeinsame Verantwortung im Rahmen der Familie. Er ist der Bruder von Cornelius’ Vater, dem Massenmörder Dr. Joseph Karekezi. (Dass sein eigener Vater zu den Mördern gehört, erfährt Cornelius erst gegen Ende der Erzählung.) Siméon besteht darauf, dass sowohl Verfolgte als auch Mörder:innen Menschen seien. Um die Gewalt zu durchbrechen, müsse am ge­ meinsamen Menschsein festgehalten werden. Siméon will aus diesem Grund

101 Dass Täter:innen wie Opfer unabweisbar als Menschen verbunden sind, hat der HolocaustÜberlebende Robert Antelme besonders nachdrücklich formuliert. Vgl. Robert Antelme: L’espèce humaine. 102 In der Präfektur Kibuye im Osten Ruandas liegt Bisesero. Dort wurde eines der größten Mas­ saker durchgeführt, wie Melvern in ihrem Kapitel ‹Das Massaker von Kibuye› ausführt. Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 264–266. In der gleichnamigen Hauptstadt der Präfektur wurden, wie auch an anderen Orten, Menschen gezielt in einen Hinterhalt gelockt; in Bisesero leisteten Tutsi Wi­ derstand, wie Melvern beschreibt: «An vielen Orten kämpften die Tutsi um ihr Leben und stellten sich ihren Angreifern entgegen, doch am meisten erfuhr man über den Widerstand, den sie in Bi­ sesero leisteten, einem bewaldeten, bergigen Gebiet in Kibuye, in das viele Tutsi geflohen waren, um sich dort zu verstecken. Da es der ortsansässigen Miliz nicht gelang, die Tutsi zu überwältigen, schickte man Verstärkung von Cyangugu und Gisenyi. Nachdem am 12. Mai ein Angehöriger der Präsidentengarde getötet worden war, kamen weitere Soldaten und acht Busse mit Mitgliedern von Milizen nach Bisesero. Viele Tutsi in den Bergen verhungerten inzwischen. [. . . ] Schätzun­ gen zufolge verloren 50.000 Menschen ihr Leben in den Bergen von Bisesero (vgl. African Rights: Rwanda. London: African Rights 1995, S. 662).» Ebda., S. 265.

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nicht, dass das Haus seines Bruders – der gezielt tausende Menschen in Murambi hat töten lassen – verwüstet wird. Es ist Gérard, der für Cornelius diese Worte Siméons zitiert, als sie zusammen das Haus von Cornelius’ Vater besuchen: «Quand j’étais jeune, c’est ainsi que les choses ont commencé. Après avoir détruit cette mai­ son, vous allez rentrer chez vous. En chemin, certains diront: ici habite un Hutu, pour nous venger prenons ses biens et tuons ses enfants. Mais après, vous ne pourrez plus vous arrêter pendant des années. Je veux vous dire ceci : vous avez souffert mais cela ne vous rend pas meilleurs que ceux qui vous ont faire souffrir. Ce sont des gens comme vous et moi. Le mal est en chacun de nous. [. . . ] I[i]l y a un moment où il faut arrêter de verser le sang dans un pays.» (MU, S. 174)

Habineza besteht auf seiner humanistischen Haltung. Die Extremsituation des Genozids wird ihr zum Prüfstein. Er widersetzt sich der Logik des «venger», da die­ se immer wieder als Legitimation für Rache und somit eine Fortsetzung der Gewalt diente und weiterhin dienen könnte, wie er an anderer Stelle ausführt (vgl. MU, S. 73 f.). Habinezas Überlegungen sind auf die Zukunft ausgerichtet. Er sieht jeden Menschen in Ruanda in der Verantwortung, Blutvergießen («verser le sang») zu verhindern. Wenn Habineza über die Mörder:innen sagt «Ce sont des gens comme vous et moi. Le mal est en chacun de nous», dann entzieht er allen Versuchen, den Ge­ nozid als schicksalshaft verklären zu wollen, die Grundlage. Alle Menschen sind nach Habinezas Auffassung gleich. Unter bestimmten gegebenen Umständen ent­ scheiden sie sich für oder gegen eine Handlung. Gewalt ist nicht schlechthin ei­ ne präferierte Option, sondern nur eine unter vielen, wie es der Historiker Babe­ rowski ausgedrückt hat.¹⁰³ Das ist eine durchaus positive Botschaft, insofern sich hier die Gestaltungsspielräume für jede Einzelne und eine Gesellschaft als Gan­ ze verorten lassen. Mit dieser Möglichkeit geht jedoch eine Verantwortung einher, wie Habineza durch sein Handeln deutlich macht. Wie auch Cornelius’ Kindheits­ freund Stanley spricht Habineza sich dafür aus, Muster frühzeitig zu bestimmen und aufmerksam einzuschreiten. Diops Roman verknüpft das Erzählen über den ruandischen Genozid von 1994 konsequent mit dessen Vorgeschichte und entwi­ ckelt ausgehend davon eine Perspektive für die Zukunft. In Murambi wird wiederholt herausgestellt, welche Bedeutung einem kriti­ schen Bewusstsein für die Historizität der Gegenwart zukommt, das heißt, für die grundsätzliche historische Dimension des menschlichen Daseins. Das betrifft das Individuum am unmittelbarsten, wenn es um dessen Selbstbestimmung geht. So wehrt sich Stanley gegen wertende Zuschreibungen von außen, wenn es um die Zugehörigkeit zu Ruanda geht: 103 Vgl. Jörg Baberowski: Räume der Gewalt, S. 31.

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis

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Ce que toute cette période de ma vie m’a appris, c’est ce qui nous différencie des autres : per­ sonne ne naît Rwandais. On apprend à le devenir. J’ai lu ça ailleurs et ça colle parfaitement avec notre situation. C’est un travail très lent de chacun de nous sur lui-même. (MU, S. 54)

Stanley spricht sich gegen ein essentialisierendes Verständnis von Zugehörigkeit aus: Niemand werde als Ruander:in geboren. Es ist das Aufwachsen in einem be­ stimmten soziokulturellen Kontext und die Auseinandersetzung mit der spezifi­ schen Geschichte, die Zugehörigkeit ausmachen, so seine These. Diese Einsicht wirkt zweifach: aus der betroffenen Gesellschaft heraus, aber zunächst in die be­ troffene Gesellschaft hinein, da die Handlungsmacht des Individuums hervortritt. Der explizite Verweis auf Simone de Beauvoir, die vom Werden der Frau gespro­ chen hat, interpretiert diese Arbeit am Ich und am Wir als Akt der Emanzipation; insofern das Individuum in Kenntnis identitätsstiftender Mechanismen im sozia­ len Raum – zumindest ein Stück weit – sich selbst gestalten kann. Die von der Romanfigur Stanley formulierte Einsicht wirkt des Weiteren aus der Gesellschaft heraus: Weil die Ruander:innen sich auf diese Weise der Theorie vom unveränderlichen ‹So-Sein› einer Gesellschaft entgegenstellen, die seinerzeit die öffentliche Wahrnehmung des Genozids als ein ‹afrikatypischer ethnischer Konflikt› – einer rassistischen Chiffre – prägte.¹⁰⁴ Die Kritik an einer essentialis­ tischen Sicht betrifft nicht nur die Weltgemeinschaft und insbesondere Europa, sondern schließt auch den afrikanischen Kontinent mit ein. So erinnert sich etwa der Autor Diop, von klischeehaften Vorstellungen vereinnahmt gewesen zu sein und den Genozid verkannt zu haben.¹⁰⁵ In Murambi nehmen Überlegungen zur ethischen Dimension historischer Er­ kenntnis und der Rolle der Einzelnen im sozialen Gefüge viel Raum ein, wie meine Analysen bis hierhin deutlich gemacht haben. Der letzte Teil des Romans reformu­ liert und präzisiert viele Positionen explizit, die im Erzählverlauf bis zu diesem Punkt entwickelt worden sind. Dennoch wird der Roman nicht apodiktisch, was in der Figurendarstellung begründet ist. Siméon Habinzea, der Cornelius über die Verbrechen seines Vaters aufklärt und damit eine zentrale Rolle im vierten Ro­ manteil ‹Murambi› einnimmt, wird als unabhängiger und starker Charakter dar­ gestellt, der aber durchaus Brüche aufweist. Dadurch bleibt die Figur nahbar und 104 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 336, Anm. 1. 105 «Je n’en étais pas conscient à l’époque mais je me rends bien compte à présent que je n’arrivais pas à lire le Cent-Jours de Rwanda autrement que comme un affrontement tribal où tous les acteurs avaient, de façon égale, du sang sur les mains. Cela signifie que avant même de savoir qu’il y avait eu un génocide, j’étais partisan de la théorie du double génocide ! On ne dira jamais à quel point il est impératif pour chacun de nous de se désengluer l’Afrique d’elle-même pour au moins avoir quelque chance d’en parler rationnellement. . . » Boubacar Boris Diop: Post­ face, S. 203.

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vermag ihre durch schmerzvolle Erfahrungen gewonnenen Einsichten zu vermit­ teln. Die Erzählung der Teile zwei und vier wird durch eine überwiegend inter­ ne Fokalisierung auf Cornelius gefiltert und lenkt auf diese Weise den Leseein­ druck. Habineza wird aus dieser Perspektive zunächst als imposant und sogar einschüchternd gezeichnet: «Cornelius se sentit encore intimidé par son oncle, à Murambi. Il avait gardé de lui l’image d’un être sobre, réservé et d’une grande force intérieure» (MU, S. 47). Gegen Ende der Erzählung hat sich Cornelius weit genug angenähert, um die Zweifel seines Onkels zu sehen. Diese entfalten sich vor Habinezas Gottglauben: Die Auseinandersetzung mit dem Genozid wirft aus religiöser Perspektive die Fra­ ge nach der Theodizee auf. «Imana¹⁰⁶ tu m’étonnes», formuliert Habineza im Ge­ bet (MU, S. 190).¹⁰⁷ Er ist nicht frei von inneren Konflikten: Auf Cornelius’ Nach­ frage erzählt Habineza, wie er seinen Bruder, und Cornelius’ Vater, Dr. Joseph Karekezi zwar als mörderischen Drahtzieher verdächtigte, den entscheidenden Hinweis dann aber übersah (vgl. MU, S. 164 f.). Allerdings verweilt Habineza nicht bei Selbstvorwürfen; vielmehr wird er in Diops Roman als eine Figur gezeigt, die nach vorne schaut, ohne die Vergangenheit zu verdrängen. Murambi fächert verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen auf den Geno­ zid in Ruanda durch nuancierte Figurendarstellung und differenzierte narrative Verfahren auf. Es geht weniger darum, das Verhalten der Figuren anhand von ab­ soluten Maßstäben von falsch und richtig zu beurteilen; als vielmehr darum, die moralische Not in der Extremsituation zur Anschauung zu bringen. Wie erläutert, trifft dies für die Figur Siméon Habineza zu. Aber auch die Figur des Überleben­ den Gérard macht dies deutlich. Im Gegensatz zu Habineza vertraute er auf seine Zweifel an Doktor Joseph Karekezi, der die Menschen in der École technique in Murambi gezielt ermorden ließ. Jedoch konnte Gérard trotz seiner Ahnung nie­ manden retten (vgl. MU, S. 187). Er überlebte, weil andere starben, wie er erzählt: «Je me suis laissé couvrir par les corps des premières victimes. Mais j’étais en­ core à moitie visible. Alors j’ai prié très fort que d’autres tombent à côté de moi et c’est qui est arrivé» (MU, S. 184). Das Prädikat «j’ai prié» gibt einen Hinweis auf

106 «Imana» bedeutet wörtlich «allmächtig» und bezeichnete eine Gottheit bei den Banyarwan­ da in Ruanda. Vgl. den Eintrag «Imana» in Arthur Cotterell: A Dictionary of World Mythology. Ox­ ford: Oxford University Press 2003. Die Bezeichnung wird bis heute auch von christlich Gläubigen für Gott verwendet. 107 Das vollständige Klagelied des Onkels lautet: «Ah ! Imana tu m’étonnes/Dis-moi qui t’as mis dans cette colère, Imana !/Tu as laissé tout ce sang se déverser sur les collines/Où tu venais te reposer le soir/Où passes-tu tes nuits à présent?/Ah ! Imana tu m’étonnes !/Dis-moi donc ce que je t’ai fait/Je ne comprends pas ta colère !» MU, S. 190 (im Original kursiv).

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis

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247

die existenzielle Verzweiflung Gérards. Der Akt des Gebets als die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott kontrastiert mit dessen Inhalt, der den Tod anderer herbei­ sehnt. Gérard erfährt, dass er im Augenblick der Todesangst als Mensch auf sich allein zurückgeworfen ist. Anhand der Figur Gérards wird deutlich, wie problematisch das Überleben für die Einzelnen ist.¹⁰⁸ Sie müssen das Faktum und gleichzeitig das traumatische Erlebnis aushalten, außerhalb der sozialen Ordnung gewesen zu sein. Gérard er­ zählt Cornelius von dieser Erfahrung und benennt konkrete Details: «Oui, j’étais obligé d’avaler et de recracher leur sang, il m’entrait dans tout le corps. Pendant ces minutes, j’ai pensé que chercher à survivre n’était pas peut-être la bonne décision. J’ai mille fois été tenté de me laisser mourir. Quelque chose m’appelait, quelque chose d’une force terrible : c’était le néant. Une sorte de vertige. J’avais l’impression qu’il y aurait comme du bonheur à basculer dans le vide. Mais j’ai continué à barboter dans leur sang.» (MU, S. 185)

Die detailreiche Schilderung eines Menschen zwischen Leben und Tod dient an dieser Stelle keiner Effekthascherei: Sie hilft der Leserin, einen Eindruck von der existenziellen Notlage zu gewinnen und bereitet dadurch auf metaphysisch-abs­ trakte Überlegungen vor, die sich am Ende des Romans verdichten. Im obigen Textausschnitt motiviert die Erinnerung an das unmittelbare Erleben die wei­ terführende Reflexion Gérards. Seine Gedanken zum «Nichts» und zum «Glück» knüpfen an die Schilderung der sinnlichen Eindrücke an. Auch Gérard wird, ähnlich wie Habineza, im Roman nicht als glatte Helden­ figur aufgebaut. Vielmehr stellen die narrativen Verfahren des Romans ihn als schwer gezeichneten Mann dar, dessen Einsichten die seelischen Verletzungen nicht zu lindern vermögen. Das veranschaulicht Gérards erster Auftritt in der Er­ zählung: Cornelius begegnet Gérard kurz nach seiner Ankunft in einem Café. Dort randaliert Gérard betrunken (vgl. MU, S. 57 f.) und wirft immer wieder den Satz «Moi, j’ai bu du sang !» (MU, S. 57) in den Raum.¹⁰⁹ Das Blut ist hier kein narratives Leitmotiv von metaphorischem Wert, wie Gérards Überlebensbericht später deut­

108 Vgl. dazu José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 147. 109 Vgl. die Schilderung der Überlebenden Claudine Kayitesi in Hatzfelds Dokumentation: «Wir haben uns in den Schlamm gelegt und Blätter über uns gedeckt. Solange die Angreifer noch nicht kamen, haben wir uns erzählt, was uns durch den Kopf geht, um gegen die Angst anzukämp­ fen. Wenn sie dann da waren, konnten wir nicht einmal mehr flüstern. Wir tranken das schlam­ mige Wasser der Sümpfe. Es war nährstoffreich – entschuldigen Sie den Ausdruck – vom Blut der Toten.» Jean Hatzfeld: Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas. Übersetzung aus dem Französischen von Karl-Udo Bigott, Gießen: Haland & Wirth/Psychosozial-Verlag 2004, S. 182. Jean Hatzfeld hat im Übrigen auch mit den Täter:innen gesprochen. Vgl. ders.: Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda. Übersetzung aus dem Fran­

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lich macht. Indem Gérard die Gewalt explizit benennt, hypostasiert der Roman­ text den von Gérard vorgebrachten Anspruch an die Literaten, die Gewalt nicht mit «belles paroles» zu übertünchen.¹¹⁰ Gérards Spitzname «Le Matelot» beziehungsweise «Mataf» bezieht sich auf seinen früheren Berufswunsch, Matrose zu werden. Seine nicht erfüllten Träume haften ihm mit diesem Spitznamen an, aber darin liegt eigentlich ein positives Moment: Denn Gérard hat den Genozid überlebt, wird in der Stadtgemeinschaft aber nicht ausschließlich darüber definiert. Sein Spitzname ist ein Verweis dar­ auf, dass der Genozid Teil eines temporalen Kontinuums ist und dass es davor durchaus Normalität im Leben gab. Dramaturgisch bewegt sich Diops Roman auf ein leises Finale zu, das in dem vielschichtigen Ort Murambi – der gleichzeitig eine metaliterarische Dimension aufweist – verdichtet ist. In der Technischen Hochschule in Murambi versteckten sich im April 1994 etwa 50.000 Menschen, die vor dem Genozid geflohen waren und schließlich dort ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden. Nach dem Genozid entstand dort ein Museum, in dem die körperlichen Überreste der Getöteten zu sehen sind.¹¹¹ Murambi steht emblematisch für das Aufeinandertreffen der Beteiligten des Genozids, wodurch eine mehrfache Topographie entsteht, die weit über die bloße Örtlichkeit der Technischen Hochschule hinausgeht. So heißt es am Schluss des Romans: L’École technique était un carrefour, l’un des rares endroits du Rwanda où s’étaient rencon­ trés tous les acteurs de la tragédie : les victimes, les bourreaux et les troupes étrangères de l’opération Turquoise. (MU, S. 187)

Der Ausdruck «carrefour» unterstreicht den zufälligen Charakter der Begegnung. Darüber hinaus ist die Schule in Murambi als Ort der Erinnerung erhalten geblie­ ben. Es ist kein Zufall, dass sowohl der vierte Teil des Romans als auch Diops ge­ samter Roman mit Murambi betitelt sind. Erzählerischer und materieller Raum werden dadurch aufeinander bezogen. Einerseits bezeichnet Murambi das histo­ rische Ereignis eines Massakers und das Aufeinandertreffen verschiedener Betei­ ligter dabei; andererseits kommen diese Beteiligten im gleichnamigen Roman zu Wort. Der Aufbau von Diops Roman übersetzt also Murambi als die Abfolge ver­ schiedener Stimmen, die genau diesen Raum ausmachen. Auch der fehlende Dia­

zösischen von Karl-Udo Bigott, mit einem Nachwort von Hans-Jürgen Wirth. Gießen: Haland & Wirth/Psychosozial-Verlag 2012. 110 Dieser Aspekt wird eingehender in Kapitel 4.4 diskutiert. 111 Vgl. Niki Hitchcott: Writing on Bones, S. 48 f.

4.3 Biographisches Erzählen als Modus historischer Erkenntnis

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249

log zwischen diesen verschiedenen Stimmen ist in der Struktur verbaut: Denn die verschiedenen Einzelperspektiven stehen in den Teilen eins und drei des Romans isoliert nebeneinander.¹¹² In der ruandischen Stadt Murambi entstand nach dem Genozid eine der wich­ tigsten Gedenkstätten des Landes. Dort verbinden sich individuelles und kollekti­ ves Erinnern, denn der Erinnerungsort wendet sich gleichermaßen an die einzel­ nen Hinterbliebenen wie auch an die breite Öffentlichkeit. Diops Roman nimmt diese doppelte Perspektive auf: die Stadt Murambi ist ein besonderer Ort in der Biographie von Cornelius. Sein Vater war es, der das Massaker an den Geflüch­ teten organisiert hat, darunter an seiner Mutter und den kleinen Geschwistern. Weiterhin kann Murambi für die gesamte ruandische Gesellschaft als Chiffre für die grausame Dynamik des Genozids gelten, die sich bis in die Familien fortsetzte. Darüber hinaus ist mit Murambi auch der Prozess des Zusammenlebens nach dem Genozid markiert. Von der Stätte des Gegeneinanders im Massaker wird sie als Gedenkstätte zu einem Ort des Miteinanders, verbunden in der gemeinsamen Erinnerung – die nicht vergisst, aber dennoch um Versöhnung bemüht ist. Diese Transformation wird in Diops Roman analog abgebildet. Cornelius macht einen persönlichen Reifeprozess durch, während er sich mit seiner Vergangenheit aus­ einandersetzt: Tout cela lui permettrait, même s’il ne savait pas encore comment, de renouer un jour les fils brisés ou distendus de son existence. Il le savait: accepter son passé était le prix à payer pour commencer à retrouver la sérénité et le sens de l’avenir. (MU, S. 173)

Für den Einzelnen lässt sich «le sens de l’avenir» nur durch die (Re)konstruktion der eigenen Biographie schaffen. Der Aufarbeitungsprozess der durch den Geno­ zid zutiefst verwundeten Gesellschaft, der insbesondere anhand der Figuren Si­ méon, Gérard und Jessica im Roman Murambi thematisiert wird, verläuft ähnlich. Als Fluchtpunkt der schmerzhaften Auseinandersetzung mit dem Geschehen be­ tont Diops Erzählung die Zukunft. «Au fond, ce qu’il disait, c’était simplement ceci : tout le sang versé sur la terre du Rwanda doit obliger chacun à se ressai­ sir» (MU, S. 182), so wird am Ende des vierten Teils die Botschaft Siméon Habi­ nezas zusammengefasst. Die Toten sind nicht mehr zurückzuholen – das heißt nicht, dass sie ignoriert werden sollen. Es heißt vielmehr, dass sich das Bemü­

112 Sarr scheint die Teile I und III von Diops Roman als das Theaterstück zu sehen, das Corne­ lius zu schreiben gedenkt, wie er im Roman ankündigt. Diese Interpretation schlägt der Roman m. E. explizit nicht vor, widerspricht dem aber auch an keiner Stelle. Sie würde meine Lesart nur noch mehr stützen, indem Cornelius in die Rolle des Autors versetzt würde, der aufgrund von Begegnungen und darauf beruhenden Lernprozessen literarisch entsprechend reagiert.

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hen der Überlebenden auf die Überlebenden selbst richten muss, wie Siméon im Roman sagt: Certains se sentent coupables de ne pas avoir été tués. Ils se demandent quelle faute ils ont commise pour être encore en vie. Cependant, toi, tâche de penser à ce qui peut encore naître et non à ce qui est déjà mort. (MU, S. 151)

Siméon setzt der unproduktiven und lähmenden Frage nach dem Warum eine pragmatische Antwort entgegen: Il n’existe pas des mots pour parler aux morts, fit Siméon d’une voix tendue. Ils ne se lèveront pas pour répondre à tes paroles. Ce que tu apprendras là-bas, c’est que tout est fini pour les morts de Murambi. Et peut-être alors respecteras-tu mieux la vie humaine. Notre existence est brève, elle est un chapelet d’illusions qui crèvent comme de petites bulles dans nos en­ trailles. Nous ne savons même pas à quel jeu elle joue avec nous, la vie, mais nous n’avons rien d’autre. C’est la seule chose à peu près certaine sur cette Terre. (MU, S. 177)

Siméon weist mit der Metapher «chapelet d’illusions» auf die Kürze des Lebens hin, dessen Sinn sich den Menschen nicht erschließe. Er ruft, wie die Lektüren gezeigt haben, nicht zum Fatalismus, sondern zum selbstreflexiven Handeln im Bewusstsein des Wertes des Lebens auf. Die Erzählung der Teile zwei und vier verlagert die Reflexionen bezüglich der Ethik des Schreibens über den Genozid, über das Verhältnis von Sprache und Gewaltgeschehen in der akuten Situation sowie über das Weiterleben nach dem Genozid in die Figurenperspektive. Dabei wird die Figur des außenstehenden, gleichzeitig aber familiär involvierten Cornelius zum Prisma für den gesamten Roman.

4.4 Wie über Genozid sprechen Die Analyse des ersten Romanteils in Kapitel 4.2 hat bereits gezeigt, dass durch die nebeneinander gestellten Ich-Berichte ein Teiltatbestand des Genozids, wie er in der sogenannten Genozidkonvention festgehalten ist, überprüft wird. Ein Täter, Mitglied der Interahamwe-Miliz, legt Zeugnis ab von der Intention, die Gruppe der Tutsi zu vernichten. Der dritte Romanteil, den ich im anschließenden Kapitel 4.5 genauer besprechen werde, überprüft die Umsetzung der mörderischen Absicht, indem Tötungen aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden. In beiden Teilen kommen Verfolgte und Überlebende zu Wort. Mit diesen beiden rein monologhaften Romanblöcken wird die Frage «Wie über den Genozid sprechen?» bereits zum Teil gestalterisch beantwortet. In den dazwischengeschalteten erzählerischen Romanabschnitten zwei und vier, in de­

4.4 Wie über Genozid sprechen | 251

nen der Geschichtslehrer Cornelius im Mittelpunkt steht, wird diese Frage auch explizit erörtert. Darauf möchte ich im vorliegenden Analysekapitel eingehen. Zunächst geht es um die referentielle Dimension der Sprache, das Verhältnis von signifiant und signifié. Wie lässt sich solch ein Gewaltereignis in Worte fas­ sen? Bedeuten die gewählten Worte den Tatbestand des Genozids beziehungswei­ se wird anerkannt, dass sie ihn bedeuten? Es geht um den arbiträren Zusammen­ hang zwischen signifiant (lautliche Zeichenkette «Genozid») und signifié (geteilte Vorstellung davon, was – unabhängig von der Sprache – als Genozid erfahren wird). Die Schwierigkeit liegt aber erst einmal darin, einen phänomenologischen Zugang zum signifié zu finden, ja sich überhaupt auf ein zu benennendes Phäno­ men zu einigen, da es sich nicht um ein für alle in demselben zeitlichen Abschnitt gleichermaßen fühlbares Erlebnis handelt. Allein die chronotopischen Koordina­ ten werden von jedem beteiligten Individuum anders bestimmt: Wer sieht, fühlt, erlebt zu welchem Zeitpunkt was? Weiterführend stellt sich deshalb die Frage: Wie kann eine sprachliche Ver­ ständigung über dieses signifié in einem Roman ausgetragen werden? An diesem Punkt wird die in der Literaturkritik über Diops Roman oft in Anschlag gebrachte ‹Unsagbarkeitsthematik› zum Gegenstand innerhalb des Romans, wenn Murambi solche sprachphilosophischen Reflexionen thematisiert. Ein Dialog zwischen Cornelius und seinem Kindheitsfreund Stanley im zwei­ ten Teil (‹Le retour de Cornelius›) macht dieses Nachdenken über den Zusammen­ hang von Gewalt und Sprache explizit. Im Roman wird das mithilfe des Topos’ des Übersetzens markiert: Stanley hat während der Gräueltaten von 1994 als Presse­ sprecher für den oppositionellen Front Patriotique Rwandais gearbeitet. Er fun­ gierte in der Kommunikation mit internationalen Akteur:innen als eine Art Über­ setzer, indem er zwischen zwei Realitätsauffassungen zu vermitteln suchte, die von unterschiedlichen Funktionslogiken bestimmt wurden: – [. . . ] Je parlais de notre pays à des tas de gens, dans des petites salles, à Bobo-Dioulasso, à Stockholm ou à Denver. Des types bien, d’ailleurs, ils voulaient aider, mais ils avaient d’abord envie de comprendre. [Stanley] – Tu arrivais à leur expliquer ? C’est parfois à devenir fou. . . [Cornelius] – J’essayais et eux me disaient: «Est-ce que c’est vraiment aussi simple que ça ?» C’était la question classique. Et quand je répondais : «Oui», ils me lançaient: «Alors, pourquoi tant de cruauté ?» Je disais : «Je ne sais pas», et ils trouvaient cette explication louche. Je ne voulais pas leur mentir. Je ne comprends d’ailleurs toujours pas cette débauche de sang, Cornelius. – La vraie victoire des tueurs, c’est d’avoir réussi à tout embrouiller. Les gens ont toujours l’impression qu’on leur cache des choses.¹¹³ (MU, S. 52 f.; eigene Hervorhebung) 113 Siehe dazu auch Cornelius’ Blickwinkel zu Beginn seiner Reise. Vgl. MU, S. 56.

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Stanleys Gesprächspartner:innen gehen davon aus, dass die Ereignisse in ihrer Tragweite unmittelbar intelligibel sein müssten und dies von der Genauigkeit und Stichhaltigkeit der Erklärung des FPR-Sprechers abhinge. Das im Text ver­ wendete Begriffspaar «comprendre»/«expliquer» verteilt klare Rollen: Auf der einen Seite steht die internationale Gemeinschaft, die auch afrikanische Länder mit einschließt.¹¹⁴ Sie setzt ein nicht näher bestimmtes ‹Verstehen› als conditio sine qua non für ein Eingreifen in die damals andauernde Gewalt. Auf der an­ deren Seite steht der FPR-Sprecher, der diese unmögliche Forderung zu erfüllen sucht und scheitern muss, wie die enttäuschte Reaktion seiner Gesprächspart­ ner:innen zeigt. Stanleys Ausführungen machen deutlich, dass es gerade nicht um den Vortrag aneinandergereihter Fakten geht – nämlich, dass ungeheures Blutvergießen stattfindet –, sondern um eine narrative Darstellung des Gesche­ hens. Hier zeigt sich, wie nah Literatur und Recht beieinander liegen: Die in­ ternationalen Akteur:innen erwarten eine erzählerische Verknüpfung, die aus ihrer Sicht nachvollziehbare Gründe für die Situation bietet und sie repräsentiert. Aber man kann einen Genozid nicht unmittelbar sehen und unverkennbar be­ schreiben; die Einschätzung, dass es sich bei (massenhaften) Tötungen um einen Genozid im rechtlichen Sinne handelt, wird auf Grundlage einer Interpretation von faktischen Zusammenhängen getroffen. Von der Beurteilung «Genozid» oder «kein Genozid» hängen die weiteren Reaktionsmöglichkeiten der Internationalen Gemeinschaft ab. Im völkerrechtlichen Rahmen ist die (vorläufige) Einstufung ei­ nes vor sich gehenden Verbrechens als Genozid¹¹⁵ als performativer Sprechakt zu verstehen: Erst durch diese Benennung können auf Grundlage der UN-Konventi­ on zur Verhütung und Verfolgung von Völkermord bestimmte Schritte eingeleitet werden.¹¹⁶ Wie Stanley in seiner Rede darstellt, missachtete die Internationale Gemein­ schaft im Falle Ruandas 1994 den Faktor Zeit und verzögerte eine Entscheidung,

114 Dabei geht es nicht um die Konstruktion eines ‹Westens›, dem dieses Verhalten alleinig zu­ geschrieben wird. Das wird aus der Aufzählung der Orte zu Beginn ersichtlich: Es handelt sich um Städte weltweit, in Afrika (Burkina Faso), Europa (Schweden) und Amerika (USA). 115 Die abschließende rechtliche Beurteilung ob ein Völkermord stattgefunden hat oder nicht kann nur ex-post von der zuständigen Strafgerichtsbarkeit, wie dem Internationalen Stafge­ richtshof, nationalen Strafgerichten oder Sondertribunalen entschieden werden. Seit 2004 gibt es einen bei der UN einen Sonderberater zur Verhütung von Völkermord (Special Adviser of the Secretary-General on the Prevention of Genocide); von 2012 bis 2020 war dies der senegalesi­ sche Jurist Adama Dieng, seine Nachfolgerin ist die Kenianerin Alice Wairimu Nderitu. Vgl. Tina Schmidt: Völkermord verhindern, 2013. 116 Vgl. dazu den Abschnitt ‹Völkermord oder nicht? Die UN beraten› in Linda Melvern: Ruanda, S. 283 ff.

4.4 Wie über Genozid sprechen | 253

die in der akuten Situation über Leben und Tod bestimmte:¹¹⁷ «Son idéal [de Stan­ ley] tenait en peu de mots : savons des vies humaines d’abord et discutons ensuite si vous le voulez» (MU, S. 54).¹¹⁸ Das Vermögen von Sprache und die Grenzen der nachvollziehbaren Bedeu­ tung werden mit Blick auf die Opferzahlen des ruandischen Genozids in Murambi in den Mittelpunkt gerückt. Bis heute gibt es unterschiedliche Angaben zur Zahl der 1994 getöteten Menschen. Der Roman stellt die begrenzte Aussagekraft von Zahlen in einer Szene am Schluss heraus. Cornelius betrachtet die Gebeine der Ermordeten, die in der Gedenkstätte in Murambi ausgestellt sind. Als er eine Pas­ santin wahrnimmt, setzt dies folgende Reflexion in Gang: Elle-même, était-elle morte ou vivante ? Cornelius aurait voulu pouvoir poser cette question à ceux qui, sous prétexte de dresser le compte exact de victimes du génocide, se jetaient furieusement des chiffres à la tête. Un million de victimes. N’exagérons pas, monsieur, il n’y a eu, après tout, que huit cent mille. Beaucoup plus, un peu moins. Il avait envie de leur demander quelle était la place de la jeune femme en noir dans leurs statistiques et leurs gra­ phiques. C’était pourtant si facile à comprendre : après une histoire pareille, tout le monde est, de toute façon un peu mort. Il restait peut-être moins de vie dans les veines de l’inconnue que parmi les ossements de Murambi. (MU, S. 192)

Hier geht es darum, inwiefern und für was die Opferzahl als Maßstab gelten mag: Denn auch in den Überlebenden sei etwas gestorben, wie Cornelius gedanklich formuliert. Aber die genaue Angabe der Opferzahl hat eine dokumentarische Bedeutung und eine, die die Gerechtigkeit betrifft, wie Robert Stockhammer schreibt: «Die genaue Zahl der Opfer ist nicht unerheblich; erst die Statistik wird jedem einzelnen Opfer wenigstens insofern gerecht, als es gezählt worden ist. Als es zählt.»¹¹⁹ Jedoch kann ein Mensch eine große Zahl nicht begreifen, wohl aber einzelne Schicksale im Zusammenhang erfassen. Damit wird gleichzeitig das er­ zählerische Verfahren Murambis, das Individuelle im Kollektiven darzustellen, einsichtig, wie auch meine Analysen in Kapitel 4.3 zur Form des biographischen Erzählens herausgearbeitet haben. 117 Vgl. dazu beispielsweise die literarische Aufarbeitung von Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Göt­ tingen: Wallstein 2008. Der Roman zeichnet nach, wie vor Ort engagierte internationale Ak­ teur:innen (in diesem Falle aus der Schweiz) lange Zeit versuchten, sich einer Reaktion auf die Vorgänge durch Nichtstun zu entziehen. Schließlich vermag die ursprünglich gute Absicht der Entwicklungshilfe nicht, ihrem Anspruch gerecht zu werden. Vgl. für einen Überblick zur Son­ derrolle der Schweizer Entwicklungshilfe auch Kapitel 3.5 in: Christian P. Scherrer: Rwanda – Bu­ rundi, S. 60–63. 118 Die ruandische Regierung intervenierte mehrmals in New York, um die Benennung als Ge­ nozid zu verhindern; der FPR verfasste dagegen viele Pressemitteilungen und offizielle Briefe an die UN. Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 283 ff. 119 Robert Stockhammer: Ruanda, S. 29.

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Stockhammer verweist in seiner Studie Der andere Genozid auf den Begriff der «Katastrophenkomparatistik».¹²⁰ Alle, die über Genozid schreiben, versuch­ ten wertende Vergleiche von Genoziden zwar «demokratisierend zu zähmen», aber nicht mit vollem Erfolg.¹²¹ Auch Cornelius wird damit konfrontiert. Er muss sich dazu verhalten, dass von außen eine perfide Rhetorik der Banalisierung an ihn herangetragen wird: Tôt au tard, en Afrique et ailleurs, des gens diraient calmement: reparlons un peu des CentJours du Rwanda, il n’y a pas de génocide sans importance, le Rwanda, non plus, n’est pas un point de détail de l’histoire contemporaine. Cornelius était bien plus troublé par les appels à la raison venant de ceux pour qui il avait de l’estime et souvent même une grande amitié. Ces étrangers, aussi horrifiés que lui par les tue­ ries de Kigarama, de Nyamata et d’ailleurs, avaient compris ceci : un génocide parle à chaque société humaine de son essentielle fragilité. Ils invitaient pourtant à prendre du recul : Oui, c’est terrible tout cela, disaient-ils, mais il y a une vie après le génocide, il est temps de passer à autre chose. Suivait presque toujours la longue liste des abominations dans le monde. [. . . ] Il [Cornelius] s’efforçait d’expliquer : près d’un million de morts en si peu de temps, c’était réellement unique dans l’histoire de l’humanité. On lui retorquait – et il soupçonnait un mélange de pitié et d’ironie dans les regards de ses amis : ce n’est quand même pas une guerre de chiffres, chaque souffrance en vaut des millions d’autres. Pourquoi s’obstinait-il à tirer la couverture à lui ? C’était triste à dire, mais il devait l’admettre : le Rwanda n’est pas de taille à troubler le sommeil de l’univers. S’il continuait à parler ainsi, on pourrait le soupçonner de vantardise. . . Que répondre à cela ? Étrange époque. Il se sentait déchiré. Le quatrième génocide du siècle restait une énigme et peut-être fallait-il en chercher la clé dans la tête d’un fou ou dans les mystérieux mouvements de planètes. Cette orgie de haine allait très loin au-delà de la lutte pour le pouvoir dans un petit pays. Il songea à un Dieu soudain pris de démence, écartant les nuages et les étoiles à grands gestes pour descendre sur la terre du Rwanda. (MU, S. 189 ; eigene Hervorhebung)

Einerseits beteuern Cornelius’ Freund:innen aus dem Ausland, dass ein Genozid schlimm sei. Andererseits bedienen sie sich einer Rhetorik des «Es ist genug», um über den Bruch, den der Genozid geschaffen hat, hinwegzugehen und sich der daraus folgenden Verantwortung zu entziehen. Cornelius’ Versuche, ihnen die Dimension des Verbrechens näherzubringen, werden als unpassend abgetan. Der afrikanische Fall, Ruanda, zähle nicht im internationalen Maßstab. Damit wird ei­ ne Haltung perpetuiert, die bereits zu Beginn des Romans als feige herausgestellt 120 Stockhammer benutzt den Begriff «Katastrophenkomparatistik», in Anlehnung an Anaot Yerushalami. Vgl. ebda., S. 57 und S. 85. 121 Ebda., S. 62.

4.4 Wie über Genozid sprechen | 255

wird. Die Welt habe 1994 die im Frühsommer stattfindende Fußball-WM wichtiger gefunden als den Genozid in Ruanda, heißt es im ersten Kapitel (vgl. MU, S. 16). Wenn Genozid als Thema in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert wird, fällt ein bereits genannter Begriff besonders häufig: Unsagbarkeit ist für viele Stu­ dien ein Schlagwort.¹²² Diops Roman Murambi widerspricht der postulierten Un­ sagbarkeit performativ¹²³, im Vollzug des Erzählens über den Genozid.¹²⁴ Darüber hinaus bestreitet Diops Text ausdrücklich einen zwingenden Zusammenhang von Extremerfahrung und Unsagbarkeit, wie ich im Folgenden noch zeigen werde. Die These von der Unsagbarkeit extremer Gewalt ist durch verschiedene li­ teraturwissenschaftliche Arbeiten über den Holocaust geprägt. Sie bezieht sich einerseits auf das Sprechen der Überlebenden, andererseits auf das Sprechen der sekundären Zeug:innen. Die Tatsache, dass es Berichte von Überlebenden gibt, widerspricht dem ersten Punkt bereits, wie auch Huberman festgestellt hat.¹²⁵ Was den zweiten Punkt angeht, so hat Huberman sich in Bilder trotz allem mit der Kritik an seinen Arbeiten über Fotografien die Shoah betreffend befasst und herausgestellt, es gehe darum, «Unvorstellbarkeit als Dogma»¹²⁶ zurückzuweisen und «trotz allem»¹²⁷ Bilder – beziehungsweise, wie ich ergänzen möchte, Wor­ te – zu finden. Es gehe nicht darum, die «Erfahrung des Unvorstellbaren»¹²⁸ zu­ rückzuweisen. Das ist eine wichtige Unterscheidung, die meines Erachtens auch in Murambi in Anschlag gebracht wird. In Diops Roman artikuliert die Figur Cornelius, welche Konsequenzen es ha­ ben kann, sich auf den Anspruch nach einer absoluten und allumfassenden Er­ zählung zu versteifen. Ich möchte deshalb noch einmal auf die Textstelle zurück­ kommen, die ich zu Beginn dieses Kapitels 4.4 bereits zitiert habe. Im Gespräch mit seinem Freund Stanley sagt Cornelius den entscheidenden Satz: «La vraie victoire des tueurs, c’est d’avoir réussi à tout embrouiller. Les gens ont toujours l’impression qu’on leur cache des choses» (MU, S. 53). Die Reichweite dieser Ein­ sicht vollzieht Cornelius im Verlauf des Romans nach, als er auch seinen persönli­

122 Vgl. dazu José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 16–21. 123 Vgl. ebda., S. 130. 124 Vgl. ebda., S. 28. 125 «Die bloße Existenz und die Möglichkeit solche Berichte – ihre Äußerung trotz allem – wi­ derlegen die schöne und um sich selbst kreisende Idee eines unaussprechlichen Auschwitz.» Ge­ orges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. Übersetzung aus dem Französischen von Peter Geimer. München: Wilhelm Fink 2007 [2003], S. 45; Hervorhebung im Original. Huberman verweist au­ ßerdem auf die Kritik von Giorgio Agamben ebda., S. 46, Anm. 72. 126 Ebda., S. 97. 127 Ebda., S. 93. 128 Ebda., S. 96.

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chen Anspruch aufgibt, einen stringenten Verlauf und klaren ‹Sinn› für die eigene Biographie zu formulieren. Cornelius’ Aussage macht darüber hinaus deutlich, wie (individuelle und kol­ lektive) Erinnerung funktioniert und warum sie so notwendig ist: In und durch narrative Formen lässt sich gelebte historische Erfahrung fassen, bewahren und weitergeben.¹²⁹ Jedoch können auch Leerstellen und Brüche Teil davon sein. Wenn die Menschen zu sehr auf konventionellen, linearen und lückenlos voll­ ständigen Erzählschemata beharren, kann das Narrativ nicht als solches erkannt werden. Die Andersartigkeit wird als Defizit begriffen, das Misstrauen stiftet, wie Cornelius sagt. Infolgedessen findet das Erlebte nur schwer – oder gar nicht – Ein­ gang in das kollektive Gedächtnis. Das resoniert mit Hubermans Überlegungen. Er schreibt über das schwierige und unabschließbare Unterfangen des Sprechens, Zeigens und Sich-Verständigens nach dem Holocaust das Folgende: Man verweist nicht einseitig auf das Unsagbare und das Unvorstellbare dieser Geschich­ te, man arbeitet mit ihm und also dagegen: Indem man das Sagbare und das Vorstellbare als eine endlose, notwendige, wenn auch nur bruchstückhaft zu bewältigende Aufgabe be­ greift.¹³⁰

Deshalb spricht Cornelius von einem «Sieg der Mörder», weil sie auf lange Sicht triumphieren könnten: Die Gewalt zerstört das Vertrauen, verhindert so, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es infolgedessen als Narrativ zu bewah­ ren, weil es sich jedem Zugriff zu entziehen scheint. Jedoch wird die Selbstrefle­ xion der ruandischen Gesellschaft ohne das Erinnern nicht produktiv, was wieder­ um für das Weiterleben notwendig ist – eine Einsicht, die etwa in die Praxis der Wahrheitskommissionen Eingang gefunden hat.¹³¹ Dies erinnert an eine scharfe Kritik von Primo Levi an der vorgeblichen «incomunicabilità», in seinem Buch I sommersi e i savlati:

129 Ich meine an dieser Stelle nicht nur geschriebene und gesprochene Texte, sondern jegliche «Texte» in einem umfassenden Sinn beziehungsweise narrative Elemente und Strukturen wie sie etwa auch in bildender Kunst, Gedenkstätten, Filmen etc. angelegt oder angeregt werden, auch durch Paratexte und Framing. 130 Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 221; Hervorhebung im Original. 131 Die sogenannten Wahrheitskommissionen haben bei verschiedenen Gelegenheiten dieser Notwendigkeit zu begegnen versucht. Vgl. für einen Einstieg in die Thematik den bibliographisch orientierten Aufsatz Kevin Avruch/Beatriz Vejarano: Truth and Reconciliation Commissions: A Review Essay and Annotated Bibliography. In: The Online Journal of Peace and Conflict Resolution 4, Nr. 2 (2002), S. 37–76 sowie für basale Überlegungen exemplarisch den Aufsatz Charles O. III Lerche: Truth Commissions and National Reconciliation: Some Reflections on Theory and Prac­ tice. In: Peace and Conflict Studies 7, Nr. 1 (2000).

4.4 Wie über Genozid sprechen | 257

Salvo casi di incapacità patologica, comunicare si può e si deve: è un modo utile e facile di contribuire alla pace altrui e propria, perché il silenzio, l’assenza di segnali è a sua volta un segnale, ma ambiguo, e l’ambiguità genera inquietudine e sospetto. Negare che comunicare si può è falso: si può sempre. Rifiutare di comunicare è colpa; per la comunicazione, ed in specie per quella sua forma altamente evoluta e nobile che è il linguaggio, siamo biologica­ mente e socialmente predisposti.¹³²

Levi geht so weit, das Unterlassen des Sprechens über erfahrene Gräuel als schuldhaft zu bezeichnen. So stark formuliert es Diops Roman über den ruandi­ schen Genozid nicht, wohl aber wird umgekehrt immer wieder darauf hingewie­ sen, dass das Sprechen über die Gewalt eine Verantwortung darstelle. Cornelius’ Onkel Siméon wird in Murambi als jemand dargestellt, der sich dieses Zusam­ menhangs bewusst ist und sich auf die vom Leben gestellte Aufgabe einlässt. Am Schluss findet sich hierfür eine Schlüsselstelle: Oui, c’était une affaire bien obscure. Ces jours cruels ne ressemblaient à rien de connu. Tissés d’éclairs, ils étaient traversés par tous les délires. Cornelius en était conscient, il ne réussirait jamais à dompter ce tourbillon, ses vives couleurs, ses hurlements et ses furieuses spirales. Tout au plus Siméon lui avait-il fait pressentir ceci : un génocide n’est pas une histoire comme les autres, avec un début et une fin, entre lesquels se déroulent des événements plus ou moins ordinaires. Sans avoir jamais écrit une seule ligne de toute sa vie, Siméon Habineza était à sa manière un vrai romancier, c’est-à-dire, en définitive, un raconteur d’éternité. (MU, S. 190)

Erzählen bedeutet, einem Stoff eine Ordnung zu verleihen, ihn nach Parametern von Chronos und Topos zu strukturieren. Insofern ist Erzählen ein Akt der Herr­ schaft: Im Wortursprung von «Autor» steckt die auctoritas. Cornelius gewinnt am Ende seiner Reise die Einsicht, dass sich der Stoff des Genozids nicht in diesem Sinne beherrschen («dompter») lässt. Die außergewöhnlich schwierige Qualität des Stoffes darf aber nicht als Vorwand dienen, das Erzählen einzustellen und sich prinzipiell auf Unsagbarkeit zu berufen, wie der zitierte Textausschnitt verdeut­ licht. Siméon ist ein «vrai romancier», weil er sich nicht beirren und zum Schwei­ gen bringen lässt, sondern weitererzählt. Das «weiter» bezieht sich auf eine Kon­ tinuität im Akt des Erzählens, nicht auf eine Kontinuität der Erzählung im Sinne einer linearen histoire, «une histoire comme les autres», wie es im Text heißt. Das führt einmal mehr zu Huberman. Er spricht davon, dass der Künstler in seiner Arbeit konfrontiert sei mit der «Erprobung der Möglichkeiten [dar], die er trotz allem noch hat. Dabei handelt es sich selbstverständlich um partielle, erratische und immer wieder neu zu formulierende Möglichkeiten.»¹³³

132 Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 68 f. 133 Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 242.

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Anja Bandaus Analyse, einer der wenigen deutschsprachigen Beiträge zu Diops Roman Murambi,¹³⁴ versteht Siméon als einen Vertreter der «afrikani­ sche[n] orale[n] Tradition», durch den das Erzählen eines «conteur» gegenüber eines «écrivain» privilegiert würde.¹³⁵ Mir scheint Bandaus Argumentation nicht begründet, denn es lässt sich in ihrer Studie leider nicht nachvollziehen, anhand welcher Textbelege der Onkel Siméon als Vertreter einer «traditionellen afrikani­ schen Gesellschaft stilisiert» würde. Überdies reproduziert diese Formulierung das problematische Stereotyp ei­ ner nicht näher bestimmten, allgemeinen ‹afrikanischen Tradition›. Diese Einord­ nung scheint hier auf den Roman projiziert zu sein: Die Textstelle, auf die Bandau sich dafür bezieht und die ich zuvor ebenfalls zitiert habe, nennt Siméon einen «raconteur»; und nicht einen «conteur», was – um den Bezug zu oralem Erzäh­ len und dem Genre der contes deutlich zu machen – ja möglich gewesen wäre. Überdies wird Siméon mit einem Romanautor verglichen, wofür im Text das Wort «romancier» steht, nicht das Wort «écrivain». Letzteres hätte deutlich – und da­ mit im Sinne von Bandaus Argumentation – eine Gegenüberstellung von Münd­ lichkeit und Schriftlichkeit evoziert. Genau das aber passiert nicht und das ist das Entscheidende, wie ich meine. Die gewählte Formulierung des «romanciers» birgt den Verweis auf das Genre des Romans. Dieses erscheint hier gerade nicht als Privileg eines schreibenden Autors, sondern als eine Form – unabhängig von Schriftlichkeit oder Mündlichkeit – die für das Erzählen über den Genozid be­ sonders geeignet ist.¹³⁶ Bandau nun scheint es so zu sehen, dass der Roman der Schriftlichkeit anheimfalle und damit automatisch ein Platzhalter für «westliche

134 Vgl. Anja Bandau: «Ruanda: Schreiben aus der Pflicht zu erinnern.» 135 «[Siméon wird] zum Träger der positiven Werte der traditionellen afrikanischen Gesellschaft stilisiert [wird]. Siméon erzählt die Geschichte der Familie und greift dabei auf die Kunst oralen Erzählens als Wissensvermittlung zurück. Mit dieser Figur privilegiert Diops Text die afrikanische orale Tradition gegenüber der Schrift, stellt den Erzähler (conteur) gegen den Schriftsteller Corne­ lius. Er gibt damit seine eigene Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis und dem Stellenwert von Oratur und Schriftkultur im Zusammenhang mit dem Sprechen vom Völkermord in Ruanda: Angesichts des Grauens ist die westlich geprägte Literaturtradition, ist der Schriftsteller gegen­ über dem conteur in der oralen Tradition sprachlos. Während Siméon mit der Kraft der mündli­ chen Rede zum ‹wahren› Schriftsteller wird, bleibt dem Geschichtslehrer und potentiellen Dra­ matiker Cornelius nur zu benennen, zu zeugen, ‹die Monster bei ihrem Namen zu nennen› (Diop 2000, S. 227). Diese Haltung beschränkt sich auf die Notation von Fakten und misstraut jeder Mög­ lichkeit einer metaphorischen oder symbolischen Bedeutungsübertragung. Als Cornelius Simons Erzählung von den Hunden, die abends an den Blutlachen auf den Massengräbern ihren Durst löschen, als Symbol liest, widerspricht ihm dieser und hält dagegen: ‹das ist kein Symbol. [. . . ] Unsere Augen haben es gesehen.› (Diop 2000, S. 194) erneut werden Zeugenbericht und Fiktion gegeneinander gestellt, und Imagination wird als nicht adäquat zurückgewiesen.» Ebda., S. 19 f. 136 Vgl. dazu auch Robert Stockhammer: Ruanda, S. 75.

4.4 Wie über Genozid sprechen | 259

Literaturtradition» sei; übrigens ungeachtet der Romanproduktion afrikanischer Schriftsteller:innen seit mindestens einem Jahrhundert.¹³⁷ Stockhammer spricht vom «Ansatz einer Poetik [. . . ], aus der die Affinität des Genozids zum Roman hervorgeht.»¹³⁸ Seine Interpretation stellt heraus, dass diese Affinität auf der Unabschließbarkeit des Genozids beruhe, der das Genre des Romans am besten entsprechen könnte, wie Diops Text es nahelege.¹³⁹ Das scheint mir vor dem Hintergrund eines Sprechens «trotz allem», wie ich es im Dialog mit Hubermans Überlegungen herausgearbeitet habe, sehr schlüssig. Die Formulierung «raconteur d’éternité» (MU, S. 190) im zitierten Romanaus­ schnitt könnte sich im Textzusammenhang neben der bereits erläuterten metalite­ rarischen Bedeutung auf eine theologische Dimension beziehen. Ausgangspunkt für die aus Cornelius’ Perspektive abgegebene Einordnung ist ein Gebet Siméons zu Imana, das er zufällig und unentdeckt mitanhört. Siméon begleitet sich dabei instrumental. «Eternité» ruft den Glauben an eine Zeit jenseits des menschlichen Daseins auf. Siméon erzählt vom Bösen (um ebenfalls eine theologische Voka­ bel zu gebrauchen) und damit von einem Stück Menschsein, das sich aber der menschlichen Kontrolle entzieht und sich in der Theodizee an Gott richtet. Simé­ on kann also auch in dieser Hinsicht als «Erzähler der Ewigkeit» gelten. Die – spar­ samen – Rekurse auf den Wahnsinn in Murambi¹⁴⁰ scheinen mir auch eher hier verortet zu sein: als Chiffre für die letztliche Unergründbarkeit menschlichen Han­ delns, die auch zum Genozid geführt hat.¹⁴¹ Mit Siméon und Cornelius finden zwei unterschiedliche ruandische Perspek­ tiven auf den Genozid Eingang in Diops Roman: Siméon ist unmittelbarer Zeitzeu­ ge und Überlebender, Bruder eines Massenmörders und mit Schuldgefühl behaf­ tet, weil er nicht eingeschritten ist; Cornelius musste als Kind flüchten und kehrt 137 Ebenfalls scheint es mir bei Bandau einen inhärenten Widerspruch zu geben, wenn sie Schriftlichkeit der sog. westlichen Tradition zuordnet und nicht darauf eingeht, dass Corneli­ us’ ursprüngliches Vorhaben des Theaterstücks als Form ja gerade auch in der Mündlichkeit und dem Vortrag verhaftet ist oder es sich mindestens um ein literarisches Genre handelt, das eben jene strikte binäre Unterscheidung von mündlich/schriftlich unterläuft. Bei Cornelius also schei­ tert die Mündlichkeit in gewisser Weise, laut Bandau, bei Siméon aber nicht. Warum, bleibt offen. 138 Robert Stockhammer: Ruanda, S. 74. 139 Vgl. ebda., S. 75. Stockhammer führt zudem aus, es könne nicht um ein europäisches Ver­ ständnis von Roman an dieser Stelle gehen: Erstens, weil der Roman nicht an Schriftlichkeit ge­ bunden sei und zweitens, weil er sich in einem «Feld entwickeln kann, das seinerseits nicht ge­ schlossen ist, dem also keineswegs etwas wie ästhetische Autonomie garantiert ist [. . . ].» Ebda. 140 Vgl. MU, S. 189. 141 Den Anspruch, die Untiefen menschlicher Wesenheit erklären zu können oder zu wollen, hat der Roman aber auch an keiner Stelle formuliert – falls es diese Erwartung an den Text gewe­ sen sein sollte, die bei Bandau enttäuscht wurde und ihr Urteil vom Totalversagen des Romans begründet.

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aus dem Exil zurück – er hat den Genozid nicht selbst miterlebt, will aber seine Fa­ miliengeschichte erhellen. Er erfährt dabei vom Morden seines Vaters. Cornelius kann als sekundärer Zeuge gesehen werden: Er gibt wieder und arbeitet auf, was Zeug:innen ihm erzählen. Er nimmt also in dieser Hinsicht eine ähnliche Rolle ein wie der empirische Autor Boubacar Boris Diop während seines Ruandaauf­ enthalts. Der Schriftsteller Abdourahman A. Waberi aus Djibuti, der mit Diop an dem Schreibprojekt in Ruanda teilnahm, hat seine Aufgabe in Moisson de cranes so ge­ fasst: «Se transformer en donneur d’échos.»¹⁴² Waberis Aussage beschreibt die Po­ sition eines sekundären Zeugen: Er nimmt die Aussagen von testis und superstites auf und gibt sie wieder. In der Metapher des Echos, die Waberi gebraucht, weist er sowohl auf die zeitliche Verschiebung als auch auf die qualitative Veränderung hin, die mit der sekundären Zeugenschaft einhergeht. Das Echo folgt auf die Ur­ sprungsäußerung, jedoch etwas später und obwohl es ähnlich klingt, klingt es doch immer anders. Sekundäre Zeugenschaft ist in diesem Bild ein Medium, ein Raum, durch den die ursprünglichen Stimmen wiedergegeben werden. Für den Schriftsteller ist die­ ser Raum die Literatur, die die Wiedergabe ermöglicht; er selbst als reale Person tritt als Ausführender im Schaffensprozess auf und sodann hinter dem Geschrie­ benen zurück, wie Waberi nahelegt: «Élever un panthéon d’encre et de papier à la mémoire des victimes, héler les consciences un brin disponibles.»¹⁴³ Waberi formuliert also einen Anspruch der Bescheidenheit an den Schrift­ steller, der sich mit dem ruandischen Genozid befasst. In Diops Roman fällt der Begriff des «chroniqueur», der die «puissance de l’évocation» der Zeug:innen (wie die von Siméon) nicht zu überbieten suchen soll (vgl. MU, S. 191). In «chro­ niqueur» steckt sowohl die deutsche Bedeutung des Chronisten im Sinne eines Dokumentators als auch die Bedeutung des Kommentators im weitesten Sinne. Das Kommentieren kann als gewissermaßen zurückhaltende kreative Variante verstanden werden, in dem Sinne, dass ein Kommentator zu seinem Gegenstand nichts frei dazuerfinden soll. Die Aufgabe des «chroniqueur» richtet sich nach außen, an ein wie auch immer geartetes Publikum, das nicht in Zusammenhang zum Genozid stehen muss. Gleichwohl wird dadurch die gesellschaftliche Aufga­ be des Schriftstellers hervorgehoben: Die Dokumentation und kommentierende Einordnung haben das Ziel des gemeinschaftlichen Gesprächs. Diese metaliterarischen Aussagen in Diops Roman sind zugleich autoreflexiv zu lesen: Die dokumentarisch-theatrale Schreibweise von Murambi schafft einen

142 Abdourahman A. Waberi: Moisson de crânes. Paris: Le Serpent à Plumes 2000, S. 15. 143 Ebda.

4.4 Wie über Genozid sprechen |

261

Raum, in dem das nie abbrechende Erzählen des Genozids möglich wird. Das ist in der Komposition des Romans begründet, der sich nicht auf die – zwar mit Analep­ sen ausgestattete, aber ansonsten linear aufgebaute – Erzählung über die Suche Cornelius’ in den Teilen zwei und vier beschränkt, also auf eine «histoire comme les autres». Vielmehr brechen die in den Teilen eins und drei installierten Einzel­ monologe¹⁴⁴ die temporale und perspektivische Kontinuität auf. Die erzählte Zeit dieser Berichte aus der Ich-Perspektive liegt während der 100 Tage des Genozids, wie in Kapitel 4.2 gezeigt wurde. Dadurch versetzen sie die Leserin immer wieder in die Ereigniszeit des Genozids (zurück) und evozieren das Geschehen jedes Mal aufs Neue. Dieses Erzählen bleibt unabgeschlossen im Sinne eines progredienten Erzählschemas «avec un début et une fine, entre lesquels se déroulent des événe­ ments plus ou moins ordinaires», wie es in der zitierten Passage heißt. Diops Ro­ man Murambi eröffnet so einen Zugang, den ruandischen Genozid als fortwirken­ des, jedoch nicht lineares Geschehen zu verstehen und vergegenständlicht dies in der durchbrochenen Romanform. Prominent platziert, am Schluss des Romans, steht ein Plädoyer dafür, sich mit dem Genozid in und durch Sprache zu befassen. Es bündelt nochmals die Auffassung, die insbesondere die Figuren Siméon und Stanley (der FPR-Sprecher) im Romanverlauf schon geäußert haben, gegenüber der Gewalt nicht zu verstum­ men: Cornelius eut un peu honte d’avoir pensé à une pièce de théâtre. Mais il ne reniait pas son élan vers la parole, dicté par le désespoir, l’impuissance devant l’ampleur du mal et sans doute aussi la mauvaise conscience. Il n’entendait pas se résigner par son silence à la victoire définitive des assassins. Ne pouvant prétendre rivaliser avec la puissance d’évocation de Si­ méon Habineza, il se réservait un rôle plus modeste. Il dirait inlassablement l’horreur. Avec des mots-machettes, des mots-gourdins, des mots hérissés de clous, des mots nus et – n’en déplaise à Gérard – des mots couverts de sang et merde. Cela, il pouvait le faire, car il voyait aussi dans le génocide des Tutsi du Rwanda une grande leçon de simplicité. Tout chroni­ queur peut au moins y apprendre – chose essentielle à son art – à appeler les monstres par leur nom. (MU, S. 190 f.)

Diese Passage ist auf Cornelius fokalisiert. Er will dem Vorbild seines Onkels fol­ gen und sich nicht dem Schweigen unterwerfen: «Il n’entendait pas se résigner par

144 Pierre Vaucher, der sich mit dem Schweigen als Teil des Sprechens über den Genozid in Mu­ rambi befasst hat, schreibt dazu: «Leur appréhension du génocide, et du rôle qu’ils ont à y jouer, est autant limitée par leur ignorance des faits qui sont en train de se produire, que par la charge idéologique qui oriente leur regard. Malgré la focalisation variable qui se détache du concert de ces voix, et qui permet une multiplication des angles d’approche, ce qui constituerait une ‹his­ toire› du génocide reste hors de portée. Par le concert de ces voix, la représentation débouche alors sur une absence.» Pierre Vaucher: Les espaces de non-dit chez Boubacar Boris Diop, S. 269.

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son silence à la victoire définitive des assassins.» Die Gefühle von Hoffnungslosig­ keit, Machtlosigkeit und schlechtem Gewissen führen nicht weg von der Sprache, sondern zu ihr hin, so insinuiert es Diops Roman. Cornelius bemüht sich auf eige­ ne Weise, die historische Erfahrung des Genozids in Sprache zu heben: «Il dirait inlassablement l’horreur. Avec des mots-machettes, des mots-gourdins, des mots hérissés de clous, des mots nus et – n’en déplaise à Gérard – des mots couverts de sang et merde.» Die Worte werden als Waffen im Kampf gegen das Schweigen und somit das Vergessen verstanden.¹⁴⁵ Anja Bandau kommt in ihrem hier bereits erwähnten Aufsatz ‹Ruanda: Schrei­ ben aus der Pflicht zu erinnern› zu einem anderen Ergebnis und attestiert Diops Roman gleichsam ein Totalversagen: Das Korsett des Romans mit seiner Stimme der Vernunft ist aber zu eng geschnürt. Der hete­ rodiegetische Erzähler, der in der Erzählung von Cornelius Geschichte immer die Oberhand behält, entpuppt sich als totalitäres Konzept, das zugleich an der Aufgabe scheitert, das Unsagbare zu gestalten.¹⁴⁶

Bandau setzt den Protagonisten Cornelius mit dem empirischen Autor Diop gleich und begründet dies damit, dass der eine wie der andere ein «Akteur des Er­ innerns» sei.¹⁴⁷ Dass es Berührungspunkte hinsichtlich der sekundären Zeugen­ schaft gibt, ist sicher richtig, wie ich ebenfalls dargelegt habe. Allerdings verkennt 145 Das erinnert an die Gedichte von Aimé Césaire: Les armes miraculeuses. Paris: Gallimard 1970 [1946]. 146 Weiter heißt es bei Bandau: «Gerade der immer wieder beschworene ‹Wahnsinn› (folie), der nicht nur in Diops Text als Metapher für die Bezeichnung eines Jenseits der Norm, des Unbegreiflichen und Unsagbaren eingesetzt wird, lässt sich so nicht zeigen bzw. erfahrbar machen. Mu­ rambi setzt diese Metapher diskursiv als Erklärungsmuster sowohl für das Handeln der Täter als auch für den chaotischen Seinszustand der Opfer ein, setzt sie aber ästhetisch nicht um. Es wird beschrieben, der Text sucht zu erklären, sich multiperspektivisch dem Geschehen zu nähern, aber es scheint als müsse dieser erklärende, beschreibende Ansatz allzu oft vor dem Unsagbaren kapitulieren.» Anja Bandau: «Ruanda: Schreiben aus der Pflicht zu erinnern.», S. 20 f. Bandau weist aber nicht anhand des Textes nach, wie der Wahnsinn durchgehend als Erklärungsmuster eingesetzt würde. Der durchkomponierte Roman arbeitet m. E. vielmehr gegen dieses immer wie­ der reflexhaft heraufbeschworene Topos des Unsagbaren. Auch macht Bandau nicht klar, was sie überhaupt damit bezeichnet. In der psychologisch nuancierten Figurenführung werden sowohl das Handeln der Täter als auch das Erleben der Opfer, wie zum Beispiel Gérards, anschaulich gemacht. Insgesamt bleibt Bandaus Position deshalb leider wenig nachvollziehbar im Sinne des­ sen, was Semujanga als «impressionnisme» im akademischen Schreiben über Genozid-Literatur kritisiert. Vgl. José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 28. 147 Bandau verstrickt sich in einer mindestens unglücklichen Formulierung: «Als Geschichts­ lehrer und als Autor ist Cornelius Akteur des Erinnerns und Gegner des Vergessens; in dieser Eigenschaft wird er das Alter Ego Diops. In beiden Rollen sind seine Fähigkeiten begrenzt, den Genozid [. . . ] überzeugend darzustellen.» Anja Bandau: «Ruanda: Schreiben aus der Pflicht zu

4.4 Wie über Genozid sprechen | 263

Bandau meines Erachtens einen wichtigen Unterscheidungspunkt: Cornelius als Historiker und Betroffener einerseits sowie Diop als (empirischer) Autor anderer­ seits haben gerade nicht das gleiche Verhältnis zu dem historischen Tatbestand des Genozids – weder persönlich noch methodologisch. Die Reflexion über das spezifische Vermögen der Literatur ist ja gerade das zentrale Thema in Muram­ bi: Eben weil der Geschichtslehrer Cornelius mit seiner Herangehensweise der akademisch-historischen Auseinandersetzung daran scheitert, zu historischer Erkenntnis zu gelangen, wird der Literatur diesbezüglich eine entscheidende Rolle zugewiesen, wie meine Analysen des Romans in Kapitel 4.2–4.4 gezeigt haben. Bandau bewertet den Umstand, dass Cornelius sein Projekt von einem Theaterstück aufgibt, als Scheitern.¹⁴⁸ Diops Roman selbst verwendet aber thea­ trale Elemente in seiner Komposition, wie ich herausgearbeitet habe. Von daher kann Bandaus Argumentation, der Roman verwerfe dieses Genre per se als unge­ eignet, um über den Genozid zu sprechen, nicht überzeugen. Diops Roman orientiert sich an dem darin formulierten Grundsatz, die Dinge klar zu benennen: «appeler les monstres par leur nom». Darin steckt eine Hand­ lungsmacht, wie es mit Blick auf Cornelius heißt: «Cela il pouvait le faire.» Diese kann die Betroffenen davor bewahren, sich von den Mördern zu Objekten machen zu lassen. Murambi sperrt sich dagegen, das Gewaltgeschehen durch formales Spiel dem Blick der Leserin zu entziehen, was aber nicht gleichbedeutend damit ist, dass der Text auf ästhetische, auf literarische Verfahren verzichtete. Allein die hervorgehobenen Formulierungen aus dem, was ich als ‹Schlussplädoyer› des Ro­ mans verstehe, fallen alle in den Bereich des bildhaften Sprechens: die Worte als Waffen, die «Monster» bei ihrem Namen nennen. Der ethische Anspruch auf Wahrhaftigkeit wird in Diops Roman von den Be­ troffenen des Genozids erhoben, etwa von Gérard, der ein Massaker überlebte. Er insistiert, die grausame Erfahrung als solche stehen zu lassen und sie nicht hinter erinnern.», S. 17; eigene Hervorhebung. Bandau geht allerdings nicht darauf ein, nach welchen Maßstäben sie ein solches Urteil zu fällen gedenkt. In Diops Roman ist der Knackpunkt der aus­ führlichen Meta-Reflexionen und ästhetischen (durchaus zurückhaltenden) Verfahren das Ver­ mögen von Sprache und Literatur betreffend ja genau diese Frage: Was kann und soll denn eine «überzeugende» Darstellung (um Bandaus Vokabular aufzugreifen) des Genozids in Ruanda mei­ nen? 148 «Das Projekt des Theaterstücks wandelt sich nun zur Erzählung der eigenen Geschichte, wird zum eigenen Zeugenbericht: und diese Erzählung wird als Geschichte des idealtypischen Ruanders, der Opfer und Schuldiger zugleich ist, zur Geschichte von Ruanda nach dem Genozid.» Ebda., S. 18. Die Formulierung des «idealtypischen Ruanders. . . » ist ein nicht gekennzeichnetes Zitat aus dem Roman. Cornelius begreift sich als solcher. Die Formulierung ist m. E. problema­ tisch, da sie als eine Gleichsetzung der Opfer und der Täter verstanden werden könnte – aller­ dings widerspricht der Rest des Romans einer solchen Annahme. Schuld könnte hier eher eine ge­ sellschaftliche Mitverantwortung bedeuten, gegen Diskriminierung und Verfolgung einzustehen.

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Metaphern zu verbergen. Gleichzeitig ist seine Rede in eine lyrische Sprechweise verpackt, wie die folgende Analyse noch zeigen wird. Im Gespräch mit Cornelius sagt er über eine allegorische Verwendung des Wortes «sang»: Tu sais, ce n’est rien le sang, les poètes ont fini par le rendre presque beau. Verser son sang pour la Patrie. Le sang des Martyrs. Tu parles. Cela ne dit rien, Cornelius, de l’urine et des excréments répandus par terre, des vielles femmes qui courent toutes nues, du bruit des membres que l’on fracasse et de tous ces regards hallucinés, des gaillards qui se servent des blessés comme boucliers contre les machettes, cela ne dit rien de tous ces malheureux qui se méprisent si fort entre eux qu’ils ne songent même pas à haïr leurs bourreaux. (MU, S. 185)

Tatsächlich ist diese Passage sprachlich durchkomponiert und wird durch den wiederholten Einschub «Cela ne dit rien» in drei Teile gegliedert. Auf den ers­ ten apodiktischen Satz («cela ne dit rien») folgt eine Reihe von Beschreibungen, die den zuvor aufgezählten Phrasen von «Vaterland» und «Märtyrertum» entge­ genstehen. Die Rede Gérards erstreckt sich anschließend über eine fünfteilige, parallel angeordnete Parataxe und wirkt dadurch nahezu atemlos: «de l’urine et des excréments/des vieilles femmes/du bruit/de tous ces regard hallucinés/des gaillards.» Außerdem liegt eine quantitative Verschiebung vor: Den zwei meta­ phorischen Beispielen, die in elliptischen Sätzen festgehalten sind, stehen fünf genaue Beschreibungen aus Gérards Erleben gegenüber. Nach einem Komma wird «cela ne dit rien» emphatisch wiederholt, um mit einer eher abstrakten Bewer­ tung über die Emotionen der Opfer gegenüber den Täter:innen zu schließen. Die Aufzählung der Beispiele im zweiten (und etwas abgeschwächt im dritten) Teil folgt einer rhythmisierten Sprechweise, die mit Binnenreimen arbeitet. Durch diese Tonalität und den Gebrauch der Apostrophe entsteht eine Art Sprechgesang, wie er auch im Rap zu finden ist; einem musikalischen Genre, das großen Wert auf (eine Fiktion von) Authentizität legt. Eine Anordnung der Satzteile entlang der vorgegebenen Struktur durch Kom­ mata, Konjunktionen («et»/«que»), die Genetiv-Objekt-markierende Präposition «de» und das Relativpronomen «qui» zeigt deutlich die rhythmische Anordnung in einem Wechsel aus kürzeren und längeren Satzteilen (in Klammern die Angabe der Sprechsilben) sowie die Binnenreime (vgl. Unterstreichungen): Cela ne dit rien, (5)¹⁴⁹ Cornelius, (3) de l’urine (3) et des excréments répandus par terre, (8) 149 Die Anzahl der Sprechsilben kann (je nach Aussprache, Betonung und Duktus) leicht va­ riieren und ist an dieser Stelle eher exemplarisch zu verstehen, um den deutlichen Kontrast zwi­ schen vielsilbigen (ca. 6–10 Silben pro Satzeinheit) und wenigsilbigen (2–3 Silben) Satzeinheiten zu verdeutlichen.

4.4 Wie über Genozid sprechen | 265

des vielles femmes (3) qui courent toutes nues, (4) du bruit (2) des membres (3) que l’on fracasse (4) et de tous ces regards hallucinés, (10) des gaillards (3) qui se servent des blessés (6) comme boucliers (4) contre les machettes (4) cela ne dit rien (5) de tous ces malheureux (6) qui se méprisent (4) si fort entre eux (4) qu’ils ne songent même pas à haïr leurs bourreaux. (10)

Diese sprachlich durchkomponierte Passage ist eine Form literarischer Rede die dem von Gérard vorgetragenen Anspruch nach Wahrhaftigkeit deswegen nicht entgegenstehen muss. Gérard legt minutiös Zeugnis ab von den Grausamkeiten, die er zu erleben gezwungen wurde (vgl. u. a. MU, S. 186). In seiner metaliterarischen Reflexion be­ gründet er, wieso ein formal-verspieltes Sprechen über den Genozid seiner Mei­ nung nach unangemessen ist: «[. . . ] Et toutes les belles paroles des poètes, Cornelius, ne disent rien, je te le jure, des cin­ quante mille façons de crever comme des chiens, en quelques heures [. . . ].» Gérard avait insisté : «Est-ce que tu me crois, Cornelius ? Il est important que tu me croies. Je n’invente rien, ce n’est pas nécessaire pour une fois. Si tu préfères penser que j’ai imaginé ces hor­ reurs, tu te sentiras l’esprit en repos et ce ne sera pas bien. Ces souffrances se perdront dans des paroles opaques et tout sera oublié jusqu’au prochains massacres. Ils ont réellement fait toutes ces choses. Cela s’est passé au Rwanda il y a juste quatre ans, quand le monde entier jouait au foot en Amérique [. . . ].» (MU, S. 186)

Gérard spricht von «poètes» (nicht von «écrivains») und wiederholt von «belles paroles» sowie «paroles opaques», die mehr verschleierten als offenlegten.¹⁵⁰ Er

150 Das erinnert stark an die Worte des Historikers Baberowski, der in seinen Abhandlungen großen Wert auf eine explizite Sprache legt: «Und sie [die Auseinandersetzung mit den Gewalt­ taten des stalinistischen Terrors] hat mich davon überzeugt, dass man über die Wirkung der Ge­ walt nichts erfährt, wenn sie nicht als blutiges Geschehen empfunden wird. Der Leser soll sich schlecht fühlen, ihm soll übel werden, damit er versteht, dass Gewalt kein abstraktes, klinisch sauberes Geschehen ist, sondern Verletzte und Tote, Schmerz und Blut und Tränen verursacht. Wer darüber nicht schreiben will, sollte über die Gewalt schweigen.» Jörg Baberowski: Räume der Gewalt, S. 11.

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wehrt sich damit gegen ein Sprechen über den Genozid, das sich zu große Frei­ heiten bei der Darstellung nimmt. Stattdessen betont er die Wichtigkeit aufzu­ schreiben, was passiert ist, etwa «[les] cinquante mille façons de crever comme des chiens.» Gérards Frage an Cornelius («Est-ce que tu me crois ?») berührt den Kern sei­ nes Kommentars über das ‹Wie›¹⁵¹ des Sprechens. Auch hier bezieht sich das Ar­ gument für eine der Zeugenschaft und Dokumentation verpflichteten Darstellung auf die Funktion des Schreibens in der Gesellschaft: In der Literatur wird das Er­ lebte bewahrt und kann Eingang finden in das kollektive Gedächtnis, ohne ad ac­ ta gelegt zu werden. Gérard eröffnet in seiner Rede einen umfassenden zeitlichen Horizont, indem er auf die Zukunft verweist: Das Schreiben arbeite gegen das Ver­ gessen, die Erinnerung halte Lektionen für nachfolgende Generationen bereit. Gérard ist ein Überlebender und erinnert sich als Zeuge im Sinne des super­ stes. Seine Figurenrede wirft grundsätzliche Fragen darüber auf, wie über den Ge­ nozid gesprochen werden kann und soll. Diese erzählerische Strategie verleiht den Ausführungen dieser Romanfigur großes Gewicht und legitimiert die Anfor­ derungen an das Sprechen über den Genozid. In der historischen und sozialwissenschaftlichen Genozidforschung werden Völkermorde immer wieder in Verbindung zur Shoah diskutiert; in der Literatur und in den Literaturwissenschaften geht es um diskursive Bezüge. Semujanga hat in seiner Studie über mehrere Texte des Fest’Africa-Projektes, darunter Murambi, zusammenfassend festgestellt: En tant que métaphore absolue, elle [la Shoah] acquiert dans ces textes la fonction d’inter­ prétant du massacre des Tutsi pour en faire un autre génocide. Non pas que la Shoah ex­ plique que l’itsembabwoko («massacre des Tutsi»), mais cette référence à la fois historique et discursive permet de trouver les mots pour dire dans la fiction narrative ce qui s’est passé au Rwanda en 1994. La Shoah, tout en gardant son premier sens d’événement horrible qui, pour la première fois, a désigné le massacre de Juifs en Europe, est utilisé dorénavant comme une métaphore, un mot hyperbolique pour désigner tout génocide.¹⁵²

Anders als etwa Moisson de crânes von Waberi verweist Diops Roman kaum ex­ plizit auf die Shoah. Stockhammer hat in seiner Analyse den Begriff «Vergleichs­ druck» genutzt, um das Verhältnis von Texten über den Genozid in Ruanda zum (Schreiben über den) Holocaust zu charakterisieren.¹⁵³ Wie Stockhammer erläu­ tert, geht es dabei nicht um eine normativ verstandene Setzung einer möglichen

151 Vgl. dazu auch Virginie Brinker: «Mots-machettes». 152 José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 28. Das gilt insbesondere für den Text Wa­ beris, Moisson de crânes. Vgl. dazu ebda., S. 31 und das Kapitel III, S. 99–123. 153 Robert Stockhammer: Ruanda, S. 8.

4.4 Wie über Genozid sprechen |

267

Vergleichbarkeit, sondern um die in den Texten selbst angelegten Bezugnahmen auf den Holocaust als «Referenzgröße».¹⁵⁴ Diops Roman widersetzt sich meines Erachtens einer solchen Perspektivierung, die den Holocaust als notwendigen Fluchtpunkt des Schreibens über den ruandischen Genozid, versteht.¹⁵⁵ Stock­ hammer argumentiert im Gegensatz dazu, Diops Roman partizipiere allein durch die Nennung des Holocausts schon an den Vergleichen. Dies soll im Folgenden diskutiert werden. In einer Szene aus dem ersten Teil des Romans (vgl. MU, S. 23–25) verweist der Vater eines Kommandanten der Interahamwe auf Hitler und den Holocaust. Aus meiner Sicht handelt es sich an dieser Stelle aber vielmehr um eine dokumenta­ rische Referenz als um eine Andeutung des sogenannten «Vergleichsdrucks». So ist durch zahlreiche Zeugenaussagen und Äußerungen von Täter:innen des Ge­ nozids belegt, dass sie tatsächlich häufig explizit auf Hitler und den Holocaust verwiesen haben.¹⁵⁶ Die zweite Textstelle, in der der Holocaust benannt ist, findet sich im dritten Teil des Romans im Kapitel ‹Colonel Perrin›. Der Soldat erinnert sich an einen Dialog mit einem jüngeren Regierungsmitarbeiter, Jean-Marc, der Vergleiche zwischen Ruanda und dem Holocaust zurückgewiesen hat (vgl. MU, S. 165). Jean-Marc und Perrin sind sich zum erzählten Zeitpunkt einig, dass es sich in Ruanda um einen Genozid handelt (vgl. ebda.). Das heißt, die Zurückweisung bezieht sich nicht auf das Tertium comparationis der Sachverhalte (ein Genozid­ geschehen), sondern auf die nicht-mögliche und unethische Geste eines Verglei­ chenwollens.¹⁵⁷

154 «In Deutschland wurde derjenige Genozid organisiert, an dem sich das Schreiben über alle anderen Genozide orientiert – also auch das Schreiben über den Genozid von Ruanda. Unter­ nommen wird hier jedoch nicht ein Vergleich zwischen dem Mord an den Juden und dem an den Batutsi, sondern eine Untersuchung dessen, wie dieser Vergleich sich aufdrängt. Nur in Ausein­ andersetzung mit diesem Vergleichsdruck kann eine spezifische Analyse des Schreibens über den spezifischen Genozid in Ruanda herausgearbeitet werden.» Ebda. Stockhammer unterschei­ det die Bezugnahmen auf den Holocaust im Sinne einer «Referenzgröße» und eines «Referenz­ rahmens», d. h. die Bezugnahme auf das Schreiben über den Holocaust in Texten über den ruan­ dischen Genozid. Vgl. ebda., S. 71. 155 Das ist etwa im Text Waberis, der aus dem Schreibprojekt in Ruanda hervorgegangen ist, an­ ders. Waberi thematisiert zu Beginn seiner essayistischen Abhandlung vergleichend das Schrei­ ben über den ruandischen Genozid mit dem Schreiben über den Holocaust. 156 Vgl. Linda Melvern: Ruanda. 157 «Wenn der Mitarbeiter des Ministeriums den Vergleich ablehnt, so keineswegs, um den Ge­ nozid in Ruanda zu verharmlosen, sondern weil er darauf verzichtet, im Krieg um diesen Geno­ zid das Machtwort ‹Auschwitz› einzusetzen. Der General widerspricht nicht, sondern insistiert, gerade deswegen: ‹Un génocide est un génocide.›» Robert Stockhammer: Ruanda, S. 69; Hervor­ hebung im Original.

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Es gehört zu den Spezifika des Romans von Diop, dass er sich dem vermeint­ lichen «Vergleichsdruck» zu entziehen und dennoch mit Primo Levi auf die Sag­ barkeit des Grauens zu insistieren vermag.

4.5 Fiktionalisierte Zeugenschaft: Eine psychologische Rekonstruktion des Genozids Analog zu Teil I ist Teil III von Diops Roman Murambi als Abfolge von Stimmen angelegt, die den Genozid aus verschiedenen Perspektiven schildern.¹⁵⁸ Teil III trägt eben diesen Titel, ‹Génocide›, und umfasst acht jeweils mehrseitige Kapi­ tel, in denen je eine Figur aus der Ich-Perspektive spricht. Zur besseren Übersicht soll hier kurz der Aufbau vorgestellt werden: Aloys Ndasingwa, Interahamwe-Mi­ lizionär – Marina Nkusi, Angehörige einer Hutu-Familie, deren Vater zum Töten gedrängt wird – Jessica, erster Bericht der FPR-Kämpferin – Rosa Karema, eine al­ te Dame, deren Nachbarin sie umbringen lassen will – Docteur Joseph Karekezi, Cornelius’ Vater und Organisator des Massakers von Murambi – Jessica II, zwei­ ter Bericht der FPR-Kämpferin – Colonel Étienne Perrin, ein französischer Offizier der Opération Turquoise¹⁵⁹ – Jessica III, dritter Bericht der FPR-Kämpferin. Duktus und Vokabular der Berichte variieren, wodurch das Sprechen realistisch wirkt. Auffallend ist, dass die Figur Jessica dreimal zu Wort kommt und ihre Stim­ me somit mehr als ein Drittel dieses Romanteils beansprucht. Als FPR-Kämpferin repräsentiert Jessica eine zentrale politische Partei des Konfliktes. Damit wird be­

158 Der Autor selbst besteht in Interviews immer wieder darauf, dass die Nüchternheit des Stils den Inhalt des Romans umso stärker hervortreten lassen sollte: «L’histoire du Docteur Karekezi est malheureusement presque banale. C’est pour cela qu’il m’a paru de ne pas en rajouter. Le récit est dépouillé afin que le lecteur n’ait aucun prétexte pour détourner le regard, je ne voulais pas le distraire du contenu du livre par de vains artifices de style.» Boubacar Boris Diop: «Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom.», S. 16. Allerdings handelt es sich natürlich um eine fiktionale Konstruktion, wenn auch auf Grundla­ ge von Gesprächen. Die Authentizität mag durch den dokumentarischen Schreibstil suggeriert werden, entspricht aber laut Autor gerade nicht exakt dem von den Zeug:innen (superstites) ge­ machten Aussagen. «Si j’avais raconté les horreurs vues et entendues au Rwanda, personne ne m’aurait pris au sérieux. Les lecteurs auraient probablement vanté ma créativité en se disant avec soulagement que le génocide des Tutsi n’a pas eu lieu tel que décrit par les victimes et les témoins, qu’il a été une invention. Nous préfèrerions tous vivre dans un monde moins moche et souvent nous refusons de regarder la réalité en face. Yolande Mukagasana, rescapée rwandaise, appelle cela la ‹peur de savoir› et le romancier ne doit pas se faire le complice involontaire de ces straté­ gies d’évitement.» Boubacar Boris Diop: L’écrivain et ses ombres, S. 308. 159 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 287–290.

4.5 Eine psychologische Rekonstruktion des Genozids |

269

reits deutlich, dass ein Schwerpunkt auf der Perspektive des FPR liegt, der gegen die 1994 amtierende Regierung in Ruanda kämpfte, die den Genozid organisiert hatte. Statt einer narrativ organisierten Wiedergabe oder zumindest Einbettung der jeweiligen Berichte beschränkt sich dieser Romanteil, dessen erzählte Zeit wäh­ rend der hundert Tage des Genozids liegt, auf die Aneinanderreihung der Einzel­ darstellungen. Dadurch treten die unterschiedlichen Positionen und Erlebnisse der Figuren während des Genozids nacheinander hervor. Auf diese Weise wird Zeugenschaft in der Fiktion dargestellt.¹⁶⁰ In der folgenden Analyse wird die Figu­ rendarstellung im Detail herausgearbeitet, wobei ich die Zwischenüberschriften aus dem Roman, die stets die Eigennamen der Ich-Erzähler:innen sind, überneh­ me. Jedes Kapitel entwirft ein knappes Psychogramm. In ihrer Zusammenschau versuchen sie nicht weniger als eine innere Rekonstruktion des Genozids, so mei­ ne These: Der Roman verdichtet die individuellen Berichte in Form einer fiktiona­ lisierten Zeugenschaft und versucht hier etwas anderes zu leisten als etwa jour­ nalistisch-dokumentarische Aufarbeitungen, die sich entweder wortgetreu an Be­ richte halten¹⁶¹ oder vor allem auf äußere Vorgänge des Genozids konzentrieren. Die Abfolge der einzelnen Berichte, die aber gleichzeitig einen deutlichen Schwer­ punkt auf die Stimme einer oppositionellen Rebellen-Kämpferin legt, mag als ein erzählerischer Kompromiss verstanden werden: als subtile und behutsame An­ eignung des heiklen Gegenstands, des Genozids.

a) Aloys Ndasingwa Den Auftakt des Romanteils ‹Génocide› macht der Bericht eines Interahamwe-Mi­ lizionärs Aloys Ndasingwa. Aloys schildert, wie er und andere Interahamwe-Mit­ glieder an dem historisch verbrieften Massaker in der Kirche in Nyamata¹⁶², im Südosten Ruandas, beteiligt waren. Die Opfer seiner Gewalt setzt er sprachlich

160 Vgl. dazu auch José Semujanga: Le génocide, sujet de fiction ?, S. 128 f. 161 Die narrative Technik der Verdichtung von Zeug:innenberichten wird auch in einigen jour­ nalistischen Genres verwendet, etwa in der Reportage oder in stark narrativen Rekonstruktionen. Insofern ist diese Abgrenzung von Fall zu Fall sicherlich zu diskutieren. Dieses Verfahren ist jour­ nalistisch übrigens alles andere als unumstritten. 162 In der Kirche in Nyamata befindet sich eine der vier offiziellen Gedenkstätten des Genozids. Eine ikonisch gewordene Fotografie aus dem Jahr 2007 zeigt eine Ansammlung menschlicher Schädelknochen in Nyamata. Selbige ist auf dem Cover der deutschen Ausgabe von Diops Roman zu sehen. Vgl. für das Bild: Fanny Schertzer: Nyamata Memorial Site. Der französische Journalist Jean Hatzfeld hat ein Gespräch mit Claudine Kayitesi, einer damals 21-jährigen Bäuerin dokumentiert, die den Genozid überlebte. Über die Kirche in Nyamata sagt

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systematisch herab. In der Figurenrede kommt das entmenschlichende Vokabular zum Einsatz, das die Interahamwe tatsächlich benutzte. Alle Variationen tauchen bereits im ersten Absatz auf: «Inyenzi», «cancrelats», «ennemi» (vgl. MU, S. 91). Detailreich erzählt Aloys, wie ein hinzugekommener Regierungsbeamter Trä­ nengas in die Menge der Leichen werfen lässt, um noch lebendige Menschen aus­ findig zu machen (vgl. MU, S. 92 f.). Die Sprache der Figur ist nachlässig und zy­ nisch. So kommentiert Aloys etwa die Ermordung einer alten Dame, die um ihr Leben flehte, durch einen anderen Interahamwe wie folgt: «D’un seul coup de machette, il lui a envoyé la tête au diable» (MU, S. 92). Zu den Vergewaltigungen von Frauen, die während des Genozids stattfanden¹⁶³, sagt er: «On est des jeunes, après tout, et il faut bien vivre» (MU, S. 92). Aloys steht für einen der Handlanger des Genozids, ohne die das systemati­ sche und großangelegte Töten 1994 nicht möglich gewesen wäre. Der Bericht deu­ tet auch auf den Machtkampf in Ruanda hin, der zwischen der Armee, der Präsi­ dentengarde, den Interahamwe und der Regierung nach dem Abschuss des Flug­ zeugs von Präsident Habyarimana ausbrach.¹⁶⁴ Die Interahamwe bemerkten mit Ärger, dass an den Schaltstellen der Macht andere saßen. In Diops Roman kom­ mentiert der junge Milizionär Aloys den Besuch eines Regierungsbeamten in Nya­ mata wie folgt: «Tu vois seulement ses mains et tu sais qu’elles n’ont jamais tenu une machette. Ils arrivent de l’université et ils commandent à tout le monde, ces

sie: «Wenn ich an der Kirche vorbeikomme, die jetzt Gedenkstätte ist, ertrage ich nicht den An­ blick all dieser namenlosen Gebeine. Dennoch begleite ich manchmal ausländische Besucher dorthin, wenn sie den Weg nicht finden, und komme dann nicht umhin, die Schädel anzustar­ ren. Ich fühle mich krank, wenn ich in diese leeren Augenhöhlen blicke und an die Menschen denke, die nach allem, was sie erlitten haben, vielleicht nicht zur Ruhe kommen und ihr würde­ loses Ende nicht einmal in ein Grab mitnehmen konnten. Oft haben die Interahamwe jemandem, den sie ermordet hatten, die Kleider weggenommen, wenn sie sie brauchbar fanden. Stießen wir dann auf diese entblößten Leichen, denen die Glied­ maßen zerhackt worden waren, Leichname von alten Leuten, von jungen Mädchen, irgendwie von all jenen Menschen, war es der Anblick dieser Nacktheit, die sich schrecklich in unsere See­ len brannte. Diese nackten Körper, so dem Spiel der Zeit ausgesetzt, waren schon nicht mehr sie selbst, aber noch nicht ganz wir. Sie waren ein Wirklichkeit gewordener Albtraum, ich glaube, das können andere wie Sie gar nicht verstehen.» Jean Hatzfeld: Nur das nackte Leben, S. 188. 163 Hunderttausende Frauen wurden während des Genozids systematisch vergewaltigt. In Mu­ rambi wird das allerdings kaum thematisiert. Der Autor Koulsy Lamko hat das in seinem Roman La phalène des collines aufgenommen, der ebenfalls nach der Ruanda-Recherchereise entstand, an der auch Diop teilgenommen hat. Vgl. dazu Anja Bandau: Vergewaltigung als Trope? Texte über den Genozid in Ruanda. In: Isabella von Treskow (Hg.): Bürgerkrieg: Erfahrung und Reprä­ sentation. Berlin: Trafo-Verlag 2005, S. 225–258. 164 Vgl. Linda Melvern: Ruanda, S. 270.

4.5 Eine psychologische Rekonstruktion des Genozids |

271

salauds. Pourquoi ? Ce n’est pas juste» (MU, S. 92). Sodann erzählt Aloys mit gro­ ßer Zustimmung, wie der Chef seiner Einheit den Regierungsbeamten attackierte (vgl. MU, S. 92 f.). Der Bericht des Täters Aloys konzentriert sich auf die unmittelbare Gegen­ wart, die alles einnimmt und keinen Raum für eventuelle Empathie und Refle­ xion lässt. Das Töten steht gemäß des Jargons der Extremisten als «Aufgabe» im Vordergrund: «Mais quand on commence à faire des sentiments, on ne peut plus s’arrêter et c’est le travail qui en pâtit» (MU, S. 94).

b) Marina Nkusi Marina Nkusi gehört zu einer nicht-extremistischen Hutu-Familie, die sich zu­ nächst nicht an den Morden beteiligt. Sie erzählt eine der vielen Tragödien ru­ andischer Familien nach. Ihre Familie versteckt einige Kinder vor den Mördern. Marinas Onkel ist jedoch Extremist und stellt ihren Vater vor die Wahl: töten oder getötet werden (vgl. MU, S. 96). Der Vater entscheidet sich für ersteres. Die Toch­ ter sagt: «Il est allé sur les barrières. On nous a dit que là-bas il manie la machette comme un forcené» (MU, S. 96). Im Text bleibt offen, ob der Vater engagiert tötet, weil er vor Verzweiflung wahnsinnig geworden oder vom Hass angesteckt worden ist. In Marinas Bericht kreuzt sich die Erinnerung eines Kindes mit der Beobach­ tung einer jungen Frau. Sie schildert, was unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Er­ zählens passiert ist.¹⁶⁵ Es steht in Widerspruch zu ihrer bisherigen Weltordnung, deren Einteilung in Gut und Böse plötzlich nicht mehr gültig ist. Wie unter Schock ruft sie den Kosenamen des Onkels («Tonton Antoine») und erzählt eine Kind­ heitserinnerung an ihn (vgl. MU, S. 95). Die Analepse macht an dieser Stelle deut­ lich, dass die überzeugten Mörder, wie Marinas Onkel, zuvor ein Leben als norma­ le Bürger führten. Marinas persönliche Geschichte verhindert bei der Leserin, die Gewalttäter:innen schlicht als ‹Monster› auf Distanz zu halten. Indem ihre ‹Nor­ malität› hervorgehoben wird, macht Diops Roman deutlich, dass die Gewalt ihren Sitz mitten in der Gesellschaft hat.

165 Ihr Bericht schließt im Präsens ab, was darauf schließen lässt, dass der Genozid noch andau­ ert: «Quand il [son père] repart très tôt le lendemain matin, nous faisons semblant d’être encore endormies.» MU, S. 96.

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c) Rosa Karemera In eine ähnliche Richtung geht das Folgekapitel: Die betagte Rosa Karemera wird von Hutu versteckt gehalten, muss aber fliehen. Sie erzählt, wie sie dem Geno­ zid – bis zum Zeitpunkt des Erzählens – entkommen konnte und von ihrer Nach­ barin Valérie, die es förmlich auf ihren Tod abgesehen habe: «Son génocide à cette salope, c’est ça : me faire tuer, moi, Rosa Karemera.» (MU S. 104). Die alte Dame gewinnt aus ihrem Trotz die unbedingte Motivation, dem Töten zu entgehen (vgl. MU, S. 106).

d) Docteur Joseph Karekezi Zentral für den Plot von Murambi ist die Figur des Vaters von Cornelius: dem Arzt Jospeh Karekezi. In den Romanteilen II und IV sprechen Cornelius und andere Fi­ guren immer wieder über ihn; in Teil III kommt er selbst ausführlich zu Wort. Noch mehr Plastizität gewinnt die Figur von Karekezi durch den Bericht des französi­ schen Offiziers Étienne Perrin in einem weiteren Kapitel des dritten Teils. Darin schildert Perrin seine persönliche Begegnung mit Karekezi. Indem Karekezi aus unterschiedlichen Erzählperspektiven gezeigt wird, ent­ steht ein eigenständiger Charakter, der nicht im Stereotyp eines unnahbaren Mör­ ders aufgeht. Die Romanfigur ist an einen realen Völkermörder angelehnt, den da­ maligen Bürgermeister von Murambi, wie der Autor Diop herausgestellt hat. Ich komme später noch darauf zurück. In seinem Erzählen zeigt Karekezi, wie fanatisch überzeugt er vom Töten ist. Er führt den Begriff der Pflicht an, den er als Synonym für den Massenmord be­ nutzt: «Quoi qu’il arrive, j’aurai fait mon devoir. Le devoir» (MU, S. 107)¹⁶⁶. Solch’ eine gezielte Deformation der Sprache hat Primo Levi wie folgt kommentiert: «là dove si fa violenza all’uomo, la si fa anche al linguaggio».¹⁶⁷ (Physische) Gewalt und verunglimpfende, ja manchmal eben auch verharmlosende Sprache sind mit­ einander verschränkt. Karekezis Sprechen macht deutlich, welch’ hohes Maß an Organisation der Genozid braucht. Zehntausende Menschen binnen kurzer Zeit zu töten, erfordert eine ausgefeilte Logistik und zahlreiche Mörder, die kontinuierlich aktiv sind, so beschreibt er es:

166 Im Druckbild sind die beiden Sätze durch eine jeweils eigene Zeile voneinander abgesetzt, was ihnen mehr Gewicht verleiht beziehungsweise einen bedächtigen Sprechrhythmus anzeigen könnte. 167 Primo Levi: I sommersi e i salvati, S. 76.

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273

La vérité toute nue est celle-ci : nos hommes sont fatigués. [. . . ] N[n]ous avons peut-être sous-estimé l’effort physique que cela représente de tuer tant de gens à l’arme blanche. Ceux qu’ils veulent éliminer ne leur facilitent pas la tâche et on les comprend. (MU, S. 109)¹⁶⁸

Karekezi zeigt hier Empathie mit seinen Handlangern. Das Verbrechen kaschiert er als «tâche», was zu seinem sachlichen Duktus passt. Der reiche Arzt wird durch die Figurenrede als mächtiger und entscheidender Akteur im Hintergrund darge­ stellt. Er gesteht sich Gefühle zu, drängt sie aber mit Hinweis auf seine Überzeu­ gung zurück, was die folgende Episode zeigt. Als einer der Interahamwe glaubt, den Fuß seines eigenen Kindes in den menschlichen Überresten gefunden zu ha­ ben, kommentiert Karekezi das folgendermaßen: Bien sûr, je n’ai pas aimé cette scène. Je ne suis ni un monstre ni un imbécile. Je mentirais cependant en disant qu’elle m’a beaucoup affecté. Il s’agit, si on est un homme décidé, de savoir ce qu’on veut. Nous sommes en guerre, un point c’est tout. La manière parfois un peu sadique dont les choses se passent est sans importance. Notre objectif final est juste. Rien d’autre ne compte. Et, de toute façon, nous ne pouvons plus revenir en arrière. (MU, S. 108 f.)

Die Figurenrede von Karekezi spiegelt in ihren kurzen Sätzen die Entschlossen­ heit des Täters wider. Mit dem Verweis auf das gemeinsame Anliegen einer Grup­ pe («notre objectif final») verortet sich Karekezi in einer größeren Gemeinschaft. Das kann einerseits als Bloßlegung der inneren Strategie Karekezis gedeutet wer­ den, dem eigenen Tun Legitimität zu verleihen. Andererseits ist der Ausdruck «objectif final» eine klare Anleihe an das propagandistische Vokabular des NSRegimes für den Völkermord an den europäischen Jüd:innen, was auf die Bewun­ derung der ruandischen Täter:innen dafür schließen lässt. Überdies bedient der Satz «Nous sommes en guerre» die gezielte Desinformationskampagne der Völ­ kermörder:innen 1994, die den Genozid in Ruanda als Bürgerkrieg darzustellen versuchten. Die Zeugenberichte der Figuren im ersten und dritten Teil von Diops Roman evozieren kein näher bestimmtes Publikum. Jedes Sprechen ist die – in unter­ schiedlichem Grad kontrollierte – Darstellung eines Selbst. Karekezi inszeniert sich als Idealist im Dienst einer ‹größeren Sache›, lässt aber auch sein Machtbe­ wusstsein aufscheinen. Dies ist etwa im Gespräch mit dem Colonel Musoni der Fall, das Karekezi ausführlich wiedergibt (vgl. MU, S. 110–114)¹⁶⁹ und in dem es um seine politischen Ambitionen auf das Präsidentenamt geht.

168 Vgl. dazu auch MU, S. 108. 169 Das Kapitel Karekezis umfasst neun Seiten (vgl. MU, S. 107–116); vier Seiten entsprechen damit fast der Hälfte.

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Karekezi steht stellvertretend für die einflussreichen Hintermänner, die den Genozid planten, aber Handlanger anwarben, um ihn in die Tat umzusetzen. Deutlich grenzt sich der wohlhabende Akademiker von ihnen ab, wenn er über die Interahamwe-Milizen sagt: Oui, nous leur avons fait goûter à l’ivresse d’exister. Et ils ne sont pas dupes. D’instinct, ils savent que si toute cette affaire se termine bien, ils retourneront dans leurs taudis et que nous n’irons pas là-bas boire la bière de banane avec eux. Les tapes amicales, la fraternité entre les pauvres et les puissants, tout ça sera vite oublié. (MU, S. 110)

In seiner Wortwahl setzt sich Karekezi einem Schöpfer gleich: Im ersten Satz be­ ansprucht er, den Interahamwe-Mitgliedern zur Existenz verholfen zu haben und stellt ihre Rolle im Genozid («l’affaire») gleichsam als einen Akt der Sinnstiftung dar. Die Alliteration «les pauvres et les puissants» im letzten Satz hebt die Tren­ nung in zwei antagonistische soziale Gruppen hervor. Karekezis Sprechen changiert zwischen Selbstüberhöhung und Rückzug auf ein überindividuelles, fanatisches Ideal. Das macht ihn entschlossen, auch seine eigene Familie am folgenden Tag in Murambi töten zu lassen: Sur le chemin de l’École technique [de Murambi, le lieu du massacre un jour après], j’ai pensé à Julienne et François et à leur mère. Ce qui va arriver, ce n’est la faute de personne. Au dernier moment, elle me maudira en pensant que je ne l’ai jamais aimée. Ce n’est pas vrai. C’est juste l’histoire qui veut du sang. Et pourquoi verserais-je seulement celui des autres ? Le leur est tout aussi pourri. Et moi, Joseph Karekezi, je sais que j’ai commis une erreur de jeunesse qui a gâché toute ma vie et je ne reculerai devant rien pour la réparer. (MU, S. 114)

Wenn Karekezi von der Liebe zu seiner Frau, einer Tutsi, spricht, tritt er als Indivi­ duum hervor; verbirgt sich jedoch gleich darauf hinter der menschenfeindlichen Ideologie, was in der Sprache durch die grammatikalisch unpersönliche Formu­ lierung und den Gebrauch verallgemeinernder Begriffe deutlich wird: «ce n’est la faute de personne/c’est l’histoire qui veut du sang/[leur sang] est tout aussi pourri» (eigene Hervorhebung). Deren Logik folgend ordnet er seine Gefühle als «erreur de jeunesse» ein. Das Fundament seines Selbstverständnisses ist ein selbstgerech­ ter Überlegenheitswahn, der konsequent als überzeitliche und überindividuelle Wahrheit dargestellt wird. Vor diesem Hintergrund gerät das Morden an der Fami­ lie zu einer ehrenwerten Pflicht. Der Abschluss des Kapitels verdichtet Karekezis Weltsicht: Demain, je serai là. Des ombres dans la brume de l’aube, face aux arbres immobiles. Des cris monteront vers le ciel. Je n’éprouverai ni tristesse ni remords. Ce seront des souffrances atroces, certes, mais seules les âmes faibles confondent le crime et le châtiment. Dans les cris vulgaires, battra le cœur pur de la vérité. Je ne suis pas de ceux qui redoutent les ombres de leur âme. Mon unique foi est la vérité. Je n’ai pas d’autre Dieu. La plainte du supplicié n’est que ruse du diable. Elle veut obstruer le souffle du juste et empêcher sa volonté de se réaliser. (MU, S. 116)

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Gleichsam in einem ‹Abschlussplädoyer› bringt Karekezi rhetorisch alles zu sei­ nen Gunsten in Anschlag: Er setzt sich selbst in Kontrast zu den «âmes faibles» und bezeichnet sich indirekt als «le juste». Karekezi verwendet eine Reihe von Begriffen, die den Genozid in perverser Weise als eine Erlösung stilisieren: «la foi»/«la vérité»/«le châtiment»/«Dieu»/«le diable»/«l’âme»/«la volonté». Das politisch-theologische Vokabular sucht die gewaltvolle Realität des von ihm mit­ organisierten Massenmordes zu verschleiern. Dieser Schluss des Kapitels mit der grenzenlosen und geradezu geschmacklosen Selbstüberhöhung Karekezis gewinnt seine Dramatik durch einen dramaturgischen Kniff: Wie das Tempus deutlich macht, liegt der Zeitpunkt des Erzählens unmittelbar vor dem Massaker in Murambi.

e) Colonel Étienne Perrin Aus dem Blickwinkel des französischen Oberst Étienne Perrin erscheint Kareke­ zi als skrupelloser und geldgieriger Machtmensch. Insofern ergänzt der Bericht Perrins die Selbstdarstellung Karekezis. Er situiert sich zeitlich nach dem Massa­ ker in Murambi, das Karekezi organisiert hat. Dieses Kapitel ist mit Abstand das umfangreichste des dritten Teils von Diops Roman (vgl. MU, S. 122–138) und damit ein Kernstück der Darstellung des Genozids. Perrin ist Offizier der französischen Opération Turquoise. Er begründet die Haltung Frankreichs: Die Regierung in Paris ist unentschieden, ob sie mit dem Massenmörder Karekezi zusammenarbeiten soll. Jedoch ist vor allem das politi­ sche Kalkül entscheidend, einen Sieg des FPR unterbinden zu wollen (vgl. MU, S. 129).¹⁷⁰ Dazu kommt die diplomatische Verlegenheit, über keine alternativen Kontakte zu verfügen (vgl. MU, S. 125). So soll Perrin die Verbindung zu Karekezi halten. Die Männer treffen sich in dessen herrschaftlichem Anwesen. Perrin be­ gegnet Karekezi ambivalent. Er ist abgeschreckt von seiner Grausamkeit, zugleich aber auch fasziniert: «Eh bien, le voici donc, le fameux Boucher de Murambi.» Il avait l’air d’un homme normal. En fait, c’est peut-être seulement au cinéma que les tueurs ressemblent à de vrais tueurs. [. . . ] R[r]ien ne laisse soupçonner chez lui un individu bassement haineux et fanatique. [. . . ] Il m’inspirait cette sorte de répugnance et de fascination que l’on éprouve en présence de ces meurtriers sadiques dont parlent les journaux.

170 Das ist zumindest die Darstellung der Dinge im Roman. Für eine umfangreiche Analyse der Rolle der sogenannten westlichen Welt im ruandischen Genozid von 1994 vgl. Linda Melvern: Ruanda.

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Mais, d’autre côté, j’avais du respect pour son courage proche de la témérité. Au milieu de la débâcle, il était l’une des rares personnalités à n’avoir perdu ni sa dignité ni son sang-froid. (MU, S. 123 f.)

Perrin begegnet Karekezi mit Neugier, denn das Massaker von Murambi und dessen Hauptverantwortlicher sind ihm bis dahin nur aus den Medien bekannt. Perrin zitiert den boulevardesken Namen «le fameux Boucher de Murambi» für Karekezi. Diese Beschreibung war für den damaligen Bürgermeister von Muram­ bi, auf den sich die Romanfigur bezieht, in Umlauf.¹⁷¹ Perrins Faszination geht so weit, dass er dem Mörder Karekezi Respekt für seinen Mut entgegenbringt: Dadurch wird eine charakterliche Nähe der beiden Männer suggeriert. Colonel Perrins Bericht zeichnet die markant von kolonialen Interessen ge­ prägte Sicht Frankreichs auf die Ereignisse in Ruanda nach: Macht ist zu gewin­ nen und zu erhalten, die Einsätze dürfen die eigene Partei nicht in den Ruin trei­ ben, wofür es einer adäquaten Einschätzung der Situation bedarf. So fällt sein Kommentar angesichts des Mordens von Karekezi lapidar aus: «C’était plutôt gê­ nant. [. . . ] Certains disaient : d’accord, c’est une ordure. Et après ? En Afrique, les querelles politiques ne se règlent-elles pas partout avec une extrême cruauté ?» (MU, S. 129). Hier scheint es sich um ein indirektes Zitat des damaligen französi­ schen Präsidenten Mitterrand zu handeln.¹⁷² Die zur Geltung gebrachte Erklärung beschränkt sich auf das kolonial-rassistische Klischee, wonach verallgemeinernd «en Afrique» das Leben eben grausam und brutal sei. Karekezi ist für Frankreich eine strategisch wichtige Persönlichkeit, wie Per­ rin darlegt: Il avait un profil de rêve. Médecin hutu riche et influent, marié à une Tutsi, il s’était illustré pendant de longues années dans le combat contre l’impunité au Rwanda. Il avait plusieurs fois dénoncé en public les massacres de Tutsi. On l’avait jeté en prison et torturé, et sa famille avait toujours vécu dans l’insécurité. [. . . ] Habyarimana le craignait un peu [. . . ]. Bref, il pou­ vait apparaître comme un recours pour le pays et une alternative à un président rwandais quelque peu dépassé depuis le début des négociations d’Arusha. (MU, S. 128)

Der reiche Arzt vergegenständlicht das französische Interesse, den Einfluss in Ru­ anda zu halten; ungeachtet seiner bekannten kriminellen Machenschaften (vgl.

171 Es kann an dieser Stelle nicht nachgewiesen werden, wann und unter welchen Umständen dieser Name geprägt wurde. Fest steht, dass Gatete nach dem Genozid so bezeichnet wurde. Vgl. AFP: Perpétuité pour le cérveau du génocide. In: Luxemburger Wort, 14.3.2012. 172 Vgl. Patrick de Saint-Exupéry: L’inavouable. La France au Rwanda. Paris: Éditions des Arènes 2004, S. 185 und Boubacar Boris Diop: La France au banc des accusés. «Dans ces pays-là, un génocide n’est pas trop important.» In: Le Quotidien/Dakar, 8.4.2004, wieder publiziert durch Courrier International.

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MU, S. 128). Die Vokabel «profil», mit der Karekezi beschrieben wird, lässt an das machtpolitische Spiel denken, in dem passende Mitstreiter:innen gefunden wer­ den müssen. Perrin benutzt die Spielmetapher auch ausdrücklich: «Quelles cartes avions-nous encore en main ? Le docteur Karekezi, malgré tout ? Un autre ? Mais qui ?» (MU, S. 129). Das Gespräch zwischen Karekezi und Perrin konzentriert sich auf die Positi­ on Frankreichs während des Genozids. Perrin wird als ein militärischer Befehls­ haber dargestellt, den seine Erfahrung im politischen Betrieb zu einem gewissen Grad abgestumpft¹⁷³ und arrogant¹⁷⁴ gemacht hat. Perrin ist in seiner Funktion als hochrangiger militärischer Vertreter Frankreichs an die Spielregeln des poli­ tischen Alltags gebunden – um dem im Text vorgeschlagenen Bild zu folgen. Er ist sich seiner Beschränkung bewusst und kann offen die von Karekezi gegebe­ ne Analyse teilen, dass ein Nichteingreifen in den Genozid Frankreich lange Zeit gelegen kam: – Vous connaissiez chaque rouage de la machine à tuer et vous avez regardé ailleurs parce que cela vous arrangeait. [Karekezi] [. . . ] J’étais pratiquement du même avis que lui. (MU, S. 132)

Wie bereits angedeutet, hat der Bericht von Colonel Perrin im Roman auch die Funktion, den Mörder¹⁷⁵ Karekezi in der (zuweilen banalen) Interaktion und aus einem weiteren Blickwinkel zu zeigen. Die Erzählverfahren entwerfen so die Skizze eines fundamentalistischen und arroganten Machtpolitikers und suchen das ästhetisch einzulösen, was Gérard an anderer Stelle sagt: dass auch die Tä­ ter:innen Wesen aus Fleisch und Blut seien und man sie nicht mit Allmächtigen verwechseln solle (vgl. MU, S. 185). Die Gesprächssituation vollzieht die Auseinandersetzung Perrins mit der Fi­ gur des Mörders nach. Die Stimmung kippt, als Karekezi einen vulgären Kommen­

173 Das wird vor allem deutlich, als Perrin einen jungen Kollegen (Jean-Marc Gaujean) und des­ sen unverbrauchten, auf das Menschliche konzentrierten Blick evoziert. Vgl. MU, S. 132–334. Vgl. für den Topos der Figur des idealistischen jungen Mitarbeiters in der internationalen Zusam­ menarbeit auch Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Dort geht es um den Protagonisten des Romans, der für die Schweizer Entwicklungshilfe tätig ist. 174 Perrin schließt mit einem geradezu arroganten Kommentar über seinen jungen Kollegen: «Un face-à-face entre Jean-Marc Gaujean et le docteur Karekezi. . . Il ne s’en serait sûrement pas relevé. Une bonne leçon d’histoire pour ce jeune fonctionnaire encore soucieux de vertu.» MU, S. 134. 175 Der Begriff des Mörders umfasst im strafrechtlichen Sinne ausdrücklich das Vorhandensein sogenannter niederer Beweggründe: Rache, Gier etc. Das setzt den Tatbestand des Mordes von dem des Totschlags ab. Im Verständnis des deutschen Strafrechtes kann auch ein Hintermann Täter und damit Mörder sein.

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tar macht und sich als unverschämtes Gegenüber entlarvt: «Vous avez manqué de couilles» (MU, S. 131). Die doppeldeutige Beleidigung verfängt bei Perrin, der sie persönlich nimmt, obwohl sich der Kommentar vordergründig auf das Verhalten Frankreichs bezieht (vgl. MU, ebda.). Seine Reaktion zeigt, dass er Karekezi auf Augenhöhe begegnet. Dies ist ein weiterer, subtiler Kniff in der Erzählführung, um Karekezi und gleichzeitig Perrin als machtbewusste Charaktere plastisch wer­ den zu lassen, die allerdings verschiedenen politischen Kontexten angehören. Perrin distanziert sich schließlich entschieden von Karekezi und weist dessen Selbstdarstellung zurück, wobei er einen ähnlich provokativen Ton anschlägt wie dieser zuvor: J’ai montré la piscine, le court de tennis et les plantes rares, j’ai dit: – Vous philosophez docteur, mais vous avez tué votre femme et vos deux enfants pour ne pas perdre toutes ces belles choses. Vous n’êtes pas un être d’exception, docteur, mais un minable politicien milliardaire d’Afrique. Vous avez liquidé des milliers d’innocents par pure cupidité. Il s’est mis à tapoter sur le bras de son fauteuil. Il espérait passer à mes yeux pour l’Ange de la Mort, terrible mais juste. Raté. Et merde à cet enfant de pute ! (MU, S. 136)

Dass in Murambi immer wieder eine charakterliche Nähe zwischen Colonnel Per­ rin und Karekezi hergestellt wird, legt die Deutung nahe, dass 1994 auch auf Sei­ ten Frankreichs skrupellose Machtmenschen standen und diese eine Mitverant­ wortung tragen. Der Roman vermeidet jedoch, Perrin in ausführlicher Weise ne­ gativ darzustellen – was bei der vehementen Kritik des Autors Diop an der Rolle Frankreichs im Genozid durchaus denkbar gewesen wäre.¹⁷⁶ Dafür allerdings hät­ te der Roman sich weniger auf die unmittelbar involvierte ruandische Gesellschaft sowie deren Akteur:innen konzentrieren können.

f) Jessica Jessica, die FPR-Rebellin, kommt im dritten Teil des Romans in drei separaten Ka­ piteln zu Wort. Ihre Stimme ist damit überproportional vertreten. Dadurch wird in der Darstellung der 100 Tage des Genozids ein klarer Schwerpunkt auf die Position des oppositionellen FPR gelegt. Jessicas wiederholtes Auftreten hegt die übrigen

176 Außer Perrin taucht auch kein weiterer Vertreter der Internationalen Gemeinschaft auf, wie etwa der UNAMIR-Friedenstruppe. Roméo Dallaire, der als Generalmajor die Blauhelme der UN­ AMIR-Mission kommandierte, veröffentlichte später ein Buch über seinen Einsatz zusammen mit seinem Adjutanten Brent Beardsley. Vgl. Roméo Dallaire/Brent Beardsley: Shake Hands with the Devil. The Failure of Humanity in Rwanda. Toronto: Vintage Canada 2003.

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Berichte ein, die unter anderem von Tätern stammen. Überhaupt ist Jessica in al­ len Teilen des Romans prominent präsent: Sie tritt mit einem Bericht in Teil I auf, wie erwähnt mit drei Ich-Berichten in Teil III und ist als Kindheitsfreundin von Cornelius eine wichtige Protagonistin in den Teilen II und IV. Jessicas Präsenz ver­ bindet die vier Teile des Romans, die durch die unterschiedlichen Erzählperspek­ tiven voneinander abgesetzt sind. In ihrem und durch ihr Sprechen verklammert ihre Figur Zeiten und Orte, wodurch ein umfassender Chronotopos entsteht, der den Genozid von 1994 in einen geschichtlichen Verlauf einbettet. Dadurch zeich­ net sich ein Verständnis vom Genozid in Ruanda als prozesshaftes Geschehen ab, das sich nicht auf ein eindeutiges Anfangs- und Enddatum beschränken lässt und das über die 100 Tage hinausreicht. In der Figurenkonstellation des Romans nimmt Jessica die Rolle einer Vermitt­ lerin ein¹⁷⁷: Als Freundin begleitet sie Cornelius bei seiner Rückkehr nach Ruanda auf Besuchen. Darüber hinaus ist sie eine Brücke zu seiner Vergangenheit, da sich die beiden aus Kindheitstagen kennen. Sie ermöglicht dem zurückgekehrten Cor­ nelius außerdem eine Art Zugang zum Geschehen ex-post, indem sie selbst als Überlebende des Genozids mit ihm spricht. Jessica ist damit eine wichtige Stütze in Cornelius’ biographischer Suche nach Erkenntnis. Beide sind gleich alt und sprechen auf Augenhöhe. Das ist mit Blick auf die zweite wichtige Stütze für Cornelius’ Auseinandersetzung mit der Vergan­ genheit nicht gegeben. Seinem Onkel Siméon Habineza, dem Vater seines Bru­ ders, begegnet er vor allem anfangs mit Scheu und Distanz. Dagegen hat Jessica ein nahes Verhältnis zu Siméon (vgl. MU, S. 182) und erleichtert Cornelius dadurch die Annäherung an seinen Onkel. Im dritten Romanteil spricht Jessica das erste Mal nach den Kapiteln von Aloys und Marina. Die oppositionelle FPR-Kämpferin tritt also nach einem Mör­ der und einem Opfer auf. Jessica berichtet vom Zeugnis einer Frau, die in ihrem Kampf ums Überleben in eine sexuelle Beziehung mit einem mörderischen Pries­ ter gezwungen wird. Jessica erlaubt sich kein Urteil (vgl. MU, S. 99), was sie zurückhaltend wirken lässt. Hier greifen narrative Mechanismen in der Figuren­ darstellung, um die Gestalt der FPR-Kämpferin zwar als tapfer erscheinen zu lassen, aber nicht zu glorifizieren und damit zu entrücken. Jessica unterdrückt in ihrer Wiedergabe nichts von den ihr mitgeteilten verstörenden Details, was die sexuelle Gewalt angeht (vgl. MU, S. 99 f.).

177 Jessica ist eine starke und die einzig prominente Frauenfigur in Murambi. Sie berichtet von Gewalt gegen Frauen, etwa von Vergewaltigungen. Ansonsten wird der Aspekt der Frauen als Opfer von Gewalt nicht weiter vertieft. Jessica dagegen ist als FPR-Rebellin mehr eine Art Heldin.

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Jessica spricht in diesem Kapitel als eine sekundäre Zeugin, indem sie die Ge­ schichte der Frau weitergibt. Ihr Bericht schließt mit einer metaliterarischen Be­ merkung, die eine Reflexion über das Verhältnis von Sprache und Gewalt enthält: «Tout cela est absolument incroyable. Même les mots n’en peuvent plus. Même les mots ne savent plus quoi dire» (MU, S. 103). Angesichts der Brutalität ihrer Erleb­ nisse haben Zeug:innen des Genozids immer wieder erfahren, dass ihren Worten nicht geglaubt wird. Diesen Aspekt habe ich in Kapitel 4.4 anhand einer ähnlichen Befürchtung des Überlebenden Gérards herausgearbeitet. In einem zweiten Moment geht es um die Anstrengung, überhaupt Worte für das Geschehen zu finden. In dem zitierten Satz werden die Worte personifiziert: Sie sind an den Grenzen ihrer Belastbarkeit und wissen nicht, was sie sagen sol­ len. Anstelle der Worte könnten auch die Zeug:innen stehen. Die menschliche Sprache wird angesichts des gewaltvollen menschlichen Tuns so strapaziert, dass sie an ihre Grenzen kommt. Jessicas zweiter Bericht folgt auf das Kapitel des Mörders von Murambi, Jo­ seph Karekezi. Seine Rede wird dadurch konterkariert. Jessica ist wiederum se­ kundäre Zeugin und berichtet über einen ihr zugetragenen Mord an einer reli­ giösen Hutu-Frau, Félicité. Deren Verhalten – Félicité stellt ihre Fluchthilfe für bedrohte Menschen trotz Warnungen ihres Bruders, einem Soldaten der Regie­ rungstruppen, nicht ein – wird in Jessicas Darstellung ein Anlass für Hoffnung: J’ai d’abord éprouvé un sentiment d’espoir. Je me suis dit: «Tout n’est pas perdu, au fond, nous pouvons devenir un pays comme les autres. Heureux ou accablé par la misère, je ne sais trop. Un pays comme les autres, c’est tout.» Mais j’ai ensuite pensé aux milliers de Rwan­ dais, y compris parfois des hommes d’Église, qui ont trempé leurs mains dans le sang des innocents. Le geste de Félicité pourra-t-il faire oublier demain le comportement ignoble de tant d’autres personnes ? Après la victoire, la question sera inévitablement posée : que vaut un pardon sans justice ? Les organisateurs du génocide en savent trop. Ils sont en train de s’enfuir et leur fuite les met à l’abri d’un procès qui guérirait notre peuple de son trauma­ tisme. (MU, S. 118 f.)

In Diops Roman ist Jessica eine zentrale Figur, die langfristige Visionen verfolgt und eine Perspektive auf die Zukunft eröffnet. Noch während des Genozids stellt sie Überlegungen zu der Zeit danach an. Die Frage «Que vaut un pardon sans jus­ tice ?» rührt an einer Grundproblematik: Jedes noch so brutale Vergehen stellt eine Gesellschaft vor die Aufgabe, danach gemeinsam weiterleben zu müssen.¹⁷⁸ Eine Herangehensweise stellen die sogenannten Wahrheitskommissionen dar, wie sie etwa im Kontext des Apartheid-Regimes in Südafrika entstanden sind. Diese wid­ 178 In Ruanda etablierte die UNO anlässlich des Genozids das International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) am 8. November 1994. Es war formal bis 31. Dezember 2015 aktiv.

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men sich allerdings explizit der Aufklärung von Verbrechen, nicht der Strafverfol­ gung. Das zweite Jessica-Kapitel verortet ihren Bericht drei Tage nach dem Massaker in Murambi am 21. April 1994 (vgl. MU, S. 119). Jessica spricht von «l’ordre anor­ mal des choses» (MU, S. 119). Dieser Ausdruck trägt eine antithetische Spannung in sich, die auf die Dynamik der Gewalt verweist. Diese verschiebt den Rahmen der Ordnung und etabliert als normal, was zuvor in der Gesellschaft als Grenz­ überschreitung markiert und nicht akzeptiert wurde. Damit widersetzt sie sich dem Klischee, brutales Töten in Ruanda (oder verallgemeinernd in ‹Afrika›) sei Teil der ‹dortigen Normalität›.¹⁷⁹ Diops Roman scheint hier ein weiteres Mal auf Mitterrand zu verweisen.¹⁸⁰ Jessica beschreibt eine Strategie der Mörder angesichts der drohenden Nie­ derlage gegen den FPR, der Gesellschaft so viel Schaden als möglich zu berei­ ten: «N’ayant pas réussi à se débarrasser de tous les Tutsi, ils disent maintenant : chaque Hutu doit avoir tué au moins une fois. C’est un second génocide, par la destruction des âmes cette fois-ci» (MU, S. 120).¹⁸¹ Dieses Verfahren zielt darauf

179 Vgl. bspw. einen Kommentar Cornelius’ kurz nach seiner Ankunft: «La tragique routine de la terreur.» MU, S. 47. In einem Rückblick zwanzig Jahre nach dem Genozid erinnert sich der deutsche Journalist Bar­ tholomäus Grill im Spiegel an seine fehlgeleitete Berichterstattung für die Wochenzeitung Die Zeit. In seinem Artikel von 2014 schreibt Grill, der damals in Südafrika lebte und sich vorrangig mit der Berichterstattung über das Ende der Apartheid beschäftigte: «Die ersten Meldungen aus dem 4000 Kilometer entfernten Ruanda waren konfus: militärisches Kräftemessen, blutige Unru­ hen, ethnisches Gezänk, Bruderzwist. Im Spiegel, Ausgabe 16/1994, stand: ‹Anarchie, die aus sich selbst lebt.› Typisch Afrika eben. ‹Ruanda?›, meinte ein britischer Kollege, ‹da hauen sich wie­ der mal die Tutsi und die Hutu die Köpfe ein, der ewige Stammeskrieg.› [. . . ] Denn nicht nur die Vereinten Nationen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten haben versagt, sondern auch wir, die Journalisten. Wir sind der Big Story in Südafrika nachgejagt – und haben Ruanda kaum beachtet oder nur Klischees über das Land verbreitet. Am 15. April, als das Massaker in Ntarama in vollem Gang war, wurde meine flott hingeschriebene Fernanalyse in der Zeit veröffentlicht. Ich fabulierte über den ‹grausamen Stammeskrieg› im Herzen Afrikas, bei dem jeder gegen je­ den kämpfe. Bellum omnium contra omnes – die Lateiner-Formel passt immer, wenn man vom tatsächlichen Geschehen wenig Ahnung hat. Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die unverzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Be­ rufsleben unterlaufen sind.» Bartholomäus Grill: Im Gefängnis des Gestern. In: Der Spiegel, Nr. 14 (2014), S. 57–60. 180 Vgl. Boubacar Boris Diop: La France au banc des accusés. «Dans ces pays-là, un génocide n’est pas trop important.» 181 Die Formel des «sécond génocide» ist durchaus problematisch an dieser Stelle, weil sie in dem Diskurs über das Geschehen in Ruanda 1994 geprägt wurde für die Theorie, dass es in Ru­ anda 1994 einen gegenseitigen Genozid gegeben habe. Diop selbst sagt in seinem Nachwort, dass er vor seinem Besuch in Ruanda 1998 und seinen Recherchen für den Roman ein Anhänger

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ab, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erodieren und das künftige Zusam­ menleben zu erschweren.¹⁸² Noch ein weiteres Mal kommt Jessica zu Wort und beschließt den dritten Teil des Romans. Somit ist es ihre Stimme, die am Ende des génocide unwiderspro­ chen stehen bleibt. Dieses Kapitel ist als Ausklang konzipiert; der Sieg des FPR ist vorgezeichnet, die Rebellen haben Kigali erobert (vgl. MU, S. 139). In der letzten di­ rekten Intervention Jessicas geht es ausführlicher um das Eingreifen Frankreichs mit einer eigenen Militäraktion, der Opération Turquoise. Aus Sicht des FPR ist klar: «Il s’agit, paraît-il, de se porter au secours des Tutsi menacés de génocide. On verra comment ils vont s’y prendre pour sauver des gens morts depuis si long­ temps. C’est une farce bien sinistre» (MU, S. 139). Frankreich wurde nach dem Ge­ nozid 1994 vielfach für seine langandauernde Unterstützung der damaligen ru­ andischen Hutu-Regierung kritisiert. In Diops Roman kommen die Vorwürfe an Frankreich von der ruandischen FPR-Rebellin, was ihnen mehr Glaubwürdigkeit und Legitimität verleiht.

4.6 Zwischenfazit Das Verhältnis von Sprache und Gewalt steht im Zentrum von Boubacar Boris Diops Roman Murambi, der sich mit dem Genozid in Ruanda 1994 auseinander­ setzt. Der Roman erkundet, wie die entfesselte Gewalt durch Sprache angefacht wurde und ihrerseits wieder auf die Sprache zurückwirkt – ohne diesen Zusam­ menhang zur Kausalität oder letztgültigen Erklärung des Genozids zu stilisieren. Die Analyse hat die dreifache Dimension dieses Verhältnisses herausgearbeitet: Die Frage, welche Sprache die Überlebenden und historischen Zeitzeug:innen fin­ den; die Frage, wie der Schriftsteller, der über den Genozid schreibt, eine ange­ messene Darstellung entwickelt und was das heißen kann; sowie ex-post die Fra­ ge, wie das Geschehen 1994 benannt und bewertet wurde – einerseits von Jour­ nalist:innen und andererseits von der Internationalen Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang habe ich auf die Genozid-Konvention verwiesen, denn von der

der Theorie des «double génocide» gewesen sei. Vgl. Boubacar Boris Diop: Postface, S. 203. Im Jahr 2018 löste ein neues Buch der kanadischen Journalistin Judi Rever erneut Kontroversen aus: In Praise of Blood: The Crimes of the Rwandan Patriotic Front. Toronto: Random House Canada 2018. 182 Dieses Vorgehen erinnert an mafiöse Praktiken, die gezielt darauf ausgerichtet sind, sich in alle sozialen Beziehungen einer Gemeinschaft einzuschreiben. Das ist entweder durch familiä­ re Bande oder die Nachahmung derselben gegeben. So weist etwa der Name der sizilianischen Mafia, Cosa Nostra (unsere Sache), auf diese Funktionslogik hin.

4.6 Zwischenfazit

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Benennung der Gewalt als «Genozid», die sich 1994 erst spät durchsetzte, hingen völkerrechtliche Interventionsmechanismen ab. Boubacar Boris Diop hat seinen Aufenthalt in Ruanda 1998, aus dem der Ro­ man hervorging, nachdrücklich als persönlichen und schriftstellerischen Wende­ punkt markiert. Der zuvor bereits sehr aktive Autor und Journalist hat sein intel­ lektuelles Engagement seitdem noch verstärkt und wird inzwischen als eine der profiliertesten Stimmen zu Ruanda wahrgenommen.¹⁸³ Anlässlich des 25. Jahres­ tages des Genozids hat Diop in einem Interview mit dem französischen Auslands­ sender RFI darauf verwiesen, wie verhängnisvoll der essentialisierende Blick auf Afrika sein kann und auch seine eigene Haltung reflektiert: Le Rwanda m’a émancipé de la vision essentialiste du monde et de l’Afrique que je nour­ rissais à l’époque. C’était non seulement vrai pour le génocide rwandais, mais aussi pour les crises majeures sur le continent africain, qu’il s’agisse du Liberia, de la Sierra Leone, du Congo ou de la guerre entre l’Éthiopie et l’Érythrée. J’avais tendance à tout mettre dans le même sac, attribuant tous les conflits au tribalisme et à des haines ancestrales. J’ai compris au Rwanda que chaque crise africaine appelle une lecture spécifique, liée aux circonstances, aux alliances, aux rapports de force en présence. L’Afrique, c’est 55 pays et ce qui se passe dans l’un de ces pays ne dit rien sur les événements survenus ailleurs.¹⁸⁴

Die entfesselte Gewalt in Ruanda 1994 war kein plötzliches Ereignis, sondern schrieb sich in die Vorgeschichte des Landes ein, die von kolonialer Gewalt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägt war. Eine maßgebliche Rolle spielte die ab 1895 stark verbreitete rassistische Fiktion ethnischer Gruppen, die schließ­ lich in Pässen festgeschrieben wurde. Die Fremdbenennung überschrieb das Selbstverständnis der lokalen Bevölkerung gewaltsam und zog strukturelle und physische Gewalt nach sich, die sich in mehreren Genozidversuchen an den Tutsi im 20. Jahrhundert äußerte. Diops Roman greift diese Vorgeschichte insbeson­ dere in den Teilen I und III auf, die aus aneinander gereihten kurzen Berichten aus der Ich-Perspektive von Menschen aus Ruanda und Beteiligten des Genozids bestehen. Durch die nuancierte Figurenführung werden die Täter nicht vereinfa­ chend als ‹Ungeheuer› abgetan. Stattdessen bieten die Berichte der Zeug:innen einen vielfältigen Blick auf den Genozid, der als totale Einheit nicht erfasst wer­ den kann. Der Roman formuliert auch weder den Anspruch noch postuliert er das Vermögen oder überhaupt die Möglichkeit, den Genozid abschließend zu verstehen.

183 Das gilt mit Blick auf Europa mindestens für Frankreich, Italien und die Schweiz – weniger allerdings für Deutschland. 184 Tirthankar Chanda/Boubacar Boris Diop: Raconter l’indicible: le génocide rwandais au prisme de la fiction, suivi de trois question à Boubacar Boris Diop. In: RFI, 8.4.2019.

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In den auktorial erzählten Teilen II und IV wird die Geschichte der Figur Cornelius, eines zurückkehrenden Exil-Ruanders, nachgezeichnet. In seinen Ge­ sprächen mit Familienmitgliedern und alten Freund:innen, insbesondere der FPR-Kämpferin Jessica, werden die Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Gewalt reflektiert. Die Figur des Onkels Siméon Habineza, dem Bruder von Cornelius’ Vater, einem herausragenden Täter des Genozids, steht für einen um­ fassenden Humanismus und ein Ende der Rachelogik ein. Habineza wird als Erzähler dargestellt, der sich gegen die vermeintliche Unsagbarkeit des Genozids positioniert. Dieser Topos durchzieht die literaturwissenschaftliche Forschung über den Genozid in Ruanda, die stark von der Auseinandersetzung mit dem Sprechen und Schreiben über den Genozid an den europäischen Jüd:innen, den Holocaust, geprägt ist. Meine Analysen in diesem Hauptkapitel haben gezeigt, dass vor allem die durchbrochene Form des Romans aus Ich-Berichten und zwei zusammenhängen­ den Erzählteilen ästhetisch nachvollziehbar macht, wie der Genozid erzählt wer­ den kann – jedoch nicht im Sinne eines abgeschlossenen, linearen Narrativs. Die gesellschaftliche Notwendigkeit, sich vom Anspruch einer absoluten Erzählung zu verabschieden, aber dennoch nicht in Schweigen zu verfallen, formuliert die Figur des Siméon mehrfach. Der Titel des Romans, Murambi, ist auch der Titel eines wichtigen Kapitels von Cornelius’ Lebensgeschichte, die im gleichnamigen vierten Teil des Romans besprochen wird. Außerdem bezeichnet Murambi den Ort eines der schlimmsten Massaker des Genozids, an dem die Beteiligten – Mörder, Opfer und die franzö­ sischen Soldaten der Opération Turquoise –aufeinandertrafen und an dem spä­ ter eine Gedenkstätte errichtet wurde. Alle diese Dimensionen werden durch die homologe Benennung aufeinander bezogen und lassen den Text Murambi zu ei­ nem literarischen Reflexions- und Erinnerungsort werden. Dort wird ästhetisch (sekundäre) Zeugenschaft verwirklicht, so lässt sich festhalten. Der senegalesische Autor Diop hat in zahlreichen Interviews, Buchpublika­ tionen und öffentlichen Auftritten die Rolle Frankreichs im Genozid scharf kriti­ siert.¹⁸⁵ Dieses Engagement schlägt sich in Murambi aber nicht in simplifizieren­ den Angriffen auf Frankreich nieder, was eine der großen Stärken des Romans ist. Während und nach dem Genozid waren der politische und der mediale Diskurs

185 «Plus important encore, je suis sorti de cette aventure rwandaise avec un sentiment de rejet pour la langue française. N’est-ce pas pour la défense de sa langue et de sa position d’influence dans la région que la France s’était impliquée si fortement dans la crise rwandaise ? Tout cela m’a incité à passer à l’écriture en wolof. La tentation m’habitait depuis longtemps, mais sans ce séjour rwandais, qui a été suivi d’autres séjours, je n’aurais peut-être pas eu le courage de passer à l’acte.» Ebda.

4.6 Zwischenfazit

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in Europa und insbesondere in Frankreich von der rassistischen Rhetorik eines «Stammeskrieges» geprägt. Der Roman nimmt darauf an einigen Stellen Bezug und integriert implizite Zitate des damaligen Präsidenten François Mitterrand, wie die Analyse deutlich gemacht hat. Dieser Blick auf Ruanda und auf Afrika hält sich noch immer. Diop hat sich in einem Beitrag für die Zeitung Le Quotidien aus Dakar an einige Begegnungen mit Genozid-Leugner:innen erinnert, die er im Zuge seiner expliziten Kritik an Frank­ reich hatte: «Ah, oui. . . Les Tutsis du Rwanda ! Ces gens qui utilisent le génocide pour justifier leur propre cruauté. . . » Nous sommes en 1998 et celui qui parle ainsi en faisant tinter les glaçons dans son verre de whisky est un jeune Zurichois, patron d’une ONG d’aide au développement. Cinq ans après, je n’ai toujours pas compris (ni oublié) la lueur de haine que j’ai vu briller dans le regard de Benedict. Il n’était en fait que le premier de la longue liste des négation­ nistes que j’ai croisés sur mon chemin ces dernières années.¹⁸⁶

Unter dem Druck des anhaltenden öffentlichen Interesses, und sicherlich auch der intellektuellen Interventionen von Akteur:innen wie Diop, hat sich Frank­ reichs Präsident Emmanuel Macron anlässlich des 25. Jahrestages dazu bereit erklärt, eine Historiker:innen-Kommission zur Untersuchung einzusetzen. Die­ se hat Frankreich inzwischen eine Mitverantwortung am Genozid, jedoch keine Mitschuld zugeschrieben.¹⁸⁷ Weiter unter Verschluss bleibt aber das Archiv von Mitterrand.¹⁸⁸

186 Boubacar Boris Diop: La France au banc des accusés. «Dans ces pays-là, un génocide n’est pas trop important.» 187 Vgl. Vincent Duclert/Commission de recherche sur les archives françaises relatives au Rwan­ da et au génocide des Tutsi: La France, le Rwanda et le génocide des Tutsi (1990–1994). Rapport remis au Président de la République le 26 mars 2021. Der Bericht kann als ein erster Schritt zur Rehabilitierung der französisch-ruandischen Beziehungen gesehen werden. Vgl. N. N.: Le rap­ port Duclert, une étape importante dans la normalisation entre la France et le Rwanda. In: RFI, 7.4.2021. 188 Vgl. AFP: Französischer Verfassungsrat: Verschluss von Ruanda-Akten rechtens. In: Der Standard, 15.9.2017 sowie David Servenay: Génocide au Rwanda: «Personne, pas même le pré­ sident, ne peut obliger Bertinotti à ouvrir les archives Mitterrand». In: Le Monde, 5.4.2019.

5 Epilog Der Historiker Achille Mbembe hat im Jahr 2000 in seinem buchlangen Essay De la postcolonie die Grundsätzlichkeit und Ubiquität von Gewalt in kolonialen Be­ ziehungen markiert und daraus den Begriff des Postkolonialen hergeleitet: Quant à la notion de postcolonie, elle renvoie, simplement, à l’identité propre d’une tra­ jectoire historique donnée : celle des sociétés récemment sorties de l’expérience que fut la colonisation, celle-ci devant être considérée comme une relation de violence par excellence.¹

In der Zusammenschau der drei Hauptkapitel der vorliegenden Studie wird deut­ lich, wie die zeitgenössischen afrikanischen Autoren Boubacar Boris Diop und Mia Couto durch komplexe erzählerische Verfahren diesen immer noch andau­ ernden Wirkungen kolonialer Gewalt nachspüren. Die hier untersuchten Texte der Autoren vergegenständlichen auf differenzierte Weise, was Gewalt im nach­ kolonialen Afrika recht eigentlich bedeutet. Denn so unbestritten Gewalt in al­ len kolonialen und nachkolonialen Kontexten präsent war und ist, so spezifisch manifestiert sie sich im Senegal, in Mosambik und Ruanda. Die Analyse hat ge­ zeigt, welche unterschiedlichen Schwerpunkte die Texte setzen: Diops Roman Le Cavalier reflektiert Fragen von Zeit, Mia Coutos Roman O último voo fokussiert den Körper, Diops Roman Murambi stellt wiederum die Sprache in den Mittel­ punkt. Le Cavalier et son ombre von Diop macht die langfristigen Wirkungen kolo­ nialer Gewalt im Senegal durch eine komplexe Zeitdarstellung zugänglich, die sich auf mündliche Erzähltraditionen der Wolof-Kultur bezieht. Die fantastische Schreibweise schafft in der Kombination von Erzählverfahren der mise en abyme und der Metalepse Effekte von Gegenwärtigkeit. Dennoch berücksichtigt der Ro­ man stets historische Tiefe und öffnet sich perspektivisch zur Zukunft: Die Re­ flexion der Geschichtserfahrung der Kolonialisierten, deren Narrativ von der Ko­ lonialmacht Frankreich kontrolliert wurde, ist verbunden mit dem Nachdenken über die Bedingungen nachkolonialen Erzählens. Dabei kommt zugleich die Fra­ ge nach dem Stellenwert utopischer Ideale im Senegal zur Geltung. O último voo do flamingo von Couto markiert den Körper als ultimativen Aus­ tragungsort von Herrschaft. Die Wucht der kolonial begründeten epistemischen Gewalt in Mosambik, die bis weit in die Gegenwart hineinreicht, findet im Ro­ man in den Explosionen von UN-Friedenssoldaten ihren drastischen Ausdruck.

1 Achille Mbembe: De la postcolonie, S. 139 f. https://doi.org/10.1515/9783110723366-005

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Die Einzelanalysen haben ergeben, wie die Figurendarstellung – unter anderem mittels sprechender Eigennamen – wesentlich dazu beiträgt, die Reichweite und Tiefe von Gewalt zu vermessen. Murambi, le livre des ossements von Diop erkundet, wie Sprache auf die ge­ nozidale Gewalt in Ruanda reagiert und in welchem Verhältnis die entfesselte Gewalt des organisierten Massenmordes zu vorausgehenden Sprachhandlungen steht. Die Analyse hat ergeben, mit welchen Verfahren der Roman auf das Spre­ chen über Ethnien vor dem Genozid eingeht und wie er sich zur Benennung der Ereignisse als Genozid situiert. Der gewählte Zugriff dieser Studie, die literarischen Verfahren in den Roma­ nen von Diop und Couto als künstlerische Reaktion auf die Ereignisgeschichte zu verstehen, hat sich auch in den Detailanalysen bewährt. Auf diese Weise konnten semantische Zusammenhänge herausgearbeitet werden, die in der bis­ herigen Forschung unberücksichtigt geblieben sind oder nicht in vollem Umfang erschlossen wurden. Dabei wurde auch deutlich, dass bislang in der Forschung dominierende Begriffe wie etwa der des Magischen Realismus die zeitkritische Bedeutung der Romane nicht erfassen. Damit belegen die Ergebnisse dieser Studie über die Einzelanalysen hinaus auch eine Notwendigkeit, die Zugriffe in den afrikabezogenen Literaturwissen­ schaften – insbesondere im europäischen Kontext – auszudifferenzieren: Vitto­ ria Borsò hat den «Problemcharakter bestimmter Positionen» bereits 1991 für die Lateinamerikanistik formuliert. Damit sind weniger die Begrifflichkeiten ge­ meint – Susanne Gehrmann hat in dieser Hinsicht die wesentlichen Einsichten der postcolonial studies für das Fach mit Fokus auf frankophone Literaturen übernommen.² Vielmehr geht es um den aus anderen Kontexten übernomme­ nen Rekurs auf Konzepte wie ‹Magischer Realismus›, ‹Identität› oder ‹Natio­ nalliteratur›, der den afrikanischen Literaturen nicht vollumfänglich gerecht wird. Die hier diskutierten Romane beschäftigen sich eben auch mit solchen Facet­ ten epistemischer Gewalt, die als Folge der Kolonialvergangenheit in den nach­ kolonialen Gesellschaften weiterwirkt. Der rassistische Blick Europas auf Afrika ist dabei das Kernmoment. Dieser besteht im Senegal, in Ruanda und in Mosam­ bik auch noch im 20. Jahrhundert in vielfältiger Weise fort, ist eingeschrieben in strukturelle, materielle und physische Gewalt und findet in den Romanen seinen Ausdruck in der Darstellung von Korruption, Armut, Perspektivlosigkeit – ohne dies als bloße Klischees über Afrika zu reproduzieren. Dabei gehen die Romane über eine schlichte Schuldzuweisung an die ehemaligen Kolonialreiche weit hin­

2 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1.3 (Forschungsüberblick) der vorliegenden Arbeit.

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aus. Vielmehr suchen die Texte auszuloten, welche Bedeutung die Geschichtser­ fahrung des Kolonialismus auch heute noch für das Leben im Senegal, in Ruanda und in Mosambik hat. Dies geschieht jeweils in höchst differenzierter Weise. Eine wesentliche Leistung der Romane ist es, diese komplexen Verhältnisse in Worte zu fassen und für die Leserin zugänglich zu machen. Der Fokus richtet sich da­ bei auf die Menschen, ihre Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten in den afrikanischen Ländern selbst. Le Cavalier, O último voo und Murambi inszenieren in ihren Sujetführungen jeweils einen (juristischen) Fall, dem es in der narrativen Ausgestaltung nachzu­ gehen gilt: In Le Cavalier bekommt der Protagonist Lat-Sukabé den mysteriösen Brief seiner Ex-Freundin, und dies Jahre, nachdem diese spurlos verschwunden ist. Zuvor arbeitete sie aus Geldnot als Erzählerin in einem reichen Haushalt, je­ doch ohne jemals ihr Gegenüber zu Gesicht oder nur dessen Anwesenheit versi­ chert zu bekommen. O último voo do flamingo beschreibt, wie der italienische UN-Mitarbeiter Mas­ simo Risi in ein Dorf im ländlichen Mosambik entsandt wird, um die rätselhaften Explosionen seiner Kollegen von der Friedensmission aufzuklären, die nur ihre Penisse und ihre blauen UN-Mützen zurücklassen. Murambi verfolgt schließlich die Recherchen des Exil-Ruanders und Ge­ schichtslehrers Cornelius, der nach dem Genozid 1994 zurückkehrt und her­ auszufinden versucht, was mit seiner Familie geschehen ist. Dabei macht er die Entdeckung, dass sein eigener Vater ein großes Massaker vorbereitet und reali­ siert hat, und auch seine Mutter und die Geschwister ermorden ließ. Der Bezug zum Kriminalroman beziehungsweise vielmehr zum Topos des ju­ ristischen Falles ist alles andere als Zufall. Diese Form weist bereits ostentativ dar­ auf hin, dass es in allen Texten um Fragen von Aufklärung und Recht geht. Alle Romane gestalten diese Erkenntnissuche durch unterschiedliche ästhetische Ver­ fahren, aber sie eint die multiperspektivische, vielstimmige Erzählung – was als deutliche Absage an einfache Antworten zu verstehen ist. In Murambi spielt die Komposition des Romans eine besondere Rolle und kombiniert kurze Ich-Berichte mit einer auktorialen Erzählung. O último voo verwendet ein ähnliches Verfahren, verbindet die Erzählstimmen aber strukturell stärker. Le Cavalier setzt eine Bin­ nenerzählerin ein, wobei durch mise en abyme und Metalepse die Autoritäten der Erzählstimmen sowie die Grenzen zwischen Rahmen- und Binnenerzählung un­ terlaufen werden. Die in allen Romanen präsente Suchbewegung, die von metasprachlichen Kommentaren flankiert wird und begriffliche Oppositionen unterläuft, verweist dabei stets auf den Bereich des Rechts. Dies verbindet die drei hier untersuchten Romane mit dem Denken Derridas, der diese Verfahren in den Kern der Dekon­ struktion gestellt hat:

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[. . . ] un questionnement déconstructif qui commence, comme cela fut le cas, par déstabili­ ser, compliquer ou rappeler à leurs paradoxes des valeurs [. . . ], un tel questionnement dé­ constructif est de part en part un questionnement sur le droit et sur la justice.³

Was in der Einleitung dieser Arbeit als Vermessung von Gewalt beschrieben wur­ de, kann auch als eine Art literarische Ermittlung gefasst werden. In allen drei Romanen befinden sich die Protagonist:innen ohne eigenes Verschulden in der Lage, einem Kriminalfall nachgehen zu müssen. Dieser Fall ist in jedem der Ro­ mane mit den Nachwirkungen kolonialer Gewalt verbunden. Was die drei Romane eint, ist ihr intertextueller Bezug auf andere literarische Ermittlungen. Als zen­ traler Text, der dem Moment, sich unverschuldet vor dem Recht wiederzufinden, Ausdruck verliehen hat, wird in den drei Romanen in unterschiedlicher Weise Kaf­ kas Novelle Vor dem Gesetz aufgerufen.⁴ Entsprechend verorten sich die Romane zu Derridas Diktum vom «mystischen Grund der Autorität», indem gefragt wird, unter welchen Umständen Recht erhalten beziehungsweise neu gesetzt werden soll. Die Geschichtserfahrungen, die die Romane nachvollziehen, liegen jenseits des festgeschriebenen Rechts. Es gibt keinen Gerichtshof, an dem die longue du­ rée epistemischer Gewalt verhandelt werden könnte – dies ist Literatur und Kunst überlassen. Da wo das Recht keine Sprache findet, da wo es noch nicht angekom­ men ist – wie etwa im Falle Ruandas – benennen die Romane das Geschehene. Jenseits von vermeintlichen Identitätsfragen geht es den Romanen um die Ausbildung historischer Urteilskraft durch Literatur. Dass beide Autoren in den Kolonialsprachen schreiben, ist in diesem Zusammenhang besonders relevant. Insbesondere Mia Couto setzt sich mit dem Portugiesischen als Sprache auseinan­ der, um nicht die kolonial eingeschriebenen Gewalttätigkeiten zu reproduzieren und trotzdem schreiben zu können. Derrida hat solch eine dekonstruktive Praxis als deutendes Gedächtnis beschrieben, das gesetzte Begriffe stets neu hinterfragt und überprüft: Le sens d’une responsabilité sans limite, et donc nécessairement excessive, incalculable, devant la mémoire ; et donc la tâche de rappeler l’histoire, l’origine et le sens, donc les limites des concepts de justice, de loi et de droit, des valeurs, normes, prescriptions qui s’y sont imposées et sédimentées, restant dès lors plus ou moins lisibles ou présupposées. Quant à ce qui nous est légué sous le dom de justice, et en plus d’une langue, la tâche d’une mémoire historique et interprétative est au cœur de la déconstruction. Ce n’est pas seulement une tâche philologico-étymologique ou une tâche d’historien mais la responsabilité devant un héritage qui est en même temps l’héritage d’un impératif ou d’un faisceau d’injonctions. La

3 Jacques Derrida: Force de loi. Le «fondement mystique de l’autorité». Paris: Galilée 1994, S. 22. 4 Vgl. Nasrin Qader: Narratives of Catastrophe, insb. S. 100 ff.

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déconstruction est déjà gagée, engagée par cette exigence de justice infinie qui peut prendre l’aspect de cette «mystique» dont je parlais tout à l’heure.⁵

So ist diese Studie insgesamt der Frage gewidmet, wie Literatur die Situation afrikanischer Schriftsteller:innen und Geschichtserfahrung zu repräsentieren vermag. Diese Aspekte begegnen der Leserin auch in der Nobelpreisrede von Wole Soyinka von 1986. Aus diesem Grund schließt diese Studie über das nach­ koloniale Schreiben von Boubacar Boris Diop und Mia Couto mit einer Lektüre dieses wegweisenden Essays. Diop veröffentlichte seinen ersten Roman Tamango im Jahre 1981, Couto pu­ blizierte seinen Gedichtband Raiz de orvalho 1983. Nur wenige Jahre später, 1986, erhielt der Schriftsteller Wole Soyinka aus Nigeria als erster afrikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Am 8. Dezember 1986 hielt er seine Nobelpreisrede mit dem Titel ‹This past must address its present›. Der 52-Jährige Soyinka lebte da­ mals in Nigeria – das blockfrei war – und verortete seine Rede in der politischen Realität der Zeit: Er fand eindringliche Worte der Verurteilung des Apartheid-Re­ gimes in Südafrika, das erst 1994 ein Ende finden sollte und erinnerte an den Tod Samora Machels. Der erste mosambikanische Präsident starb am 19. Oktober 1986 bei einem Flugzeugabsturz, dessen Ursache nie aufgeklärt wurde. Machel hatte sich offen gegen das Apartheid-Regime gestellt, auch wenn diese Politik strate­ gisch riskant und nachteilig für Mosambik war.⁶ Zuvor war bereits im Februar der schwedische Ministerpräsident Olof Palme auf offener Straße nach einem Kinobe­ such erschossen worden. Auch sein Tod wurde nie aufgeklärt, allerdings gibt es Hinweise, dass der südafrikanische Geheimdienst ihn ermorden ließ. Palme hat­ te auf einer Anti-Apartheid-Konferenz in Stockholm das Regime in Südafrika in aller Schärfe kritisiert.⁷ 1986 ist ein vergessenes Schwellenjahr der Zeitgeschich­ te. In diesem Jahr begann auch der Veränderungsprozess innerhalb der KPdSU: Auf dem 25. Parteitag sprach sich Gorbatschow noch vor seiner berühmten Pere­ stroika-Rede im Januar 1987 für eine strukturelle Veränderung der Sowjetpolitik aus. Soyinka eröffnete seine Rede im Dezember 1986 mit einer Anekdote, die sein Unbehagen deutlich macht, als afrikanischer Autor über koloniale Verbrechen zu schreiben und dabei mit einem europäischen Publikum konfrontiert zu sein. Er habe Ende der 1950er Jahre als junger Schauspieler am Royal Court Theatre in Lon­ don die Theaterdarstellung des Hola Camp Massakers in Kenia am 3. März 1959 ab­

5 Jacques Derrida: Force de loi, S. 44. 6 Vgl. dazu den geschichtlichen Überblick in der Einleitung der vorliegenden Studie. 7 Vgl. Jan Stocklassa: Stieg Larssons Erbe. München u. a.: Europa-Verlag 2018.

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brechen müssen.⁸ Die britische Kolonialmacht hatte während des Mau-Mau-Auf­ standes elf Menschen erschlagen und zahlreiche weitere schwer verletzt.⁹ Soyinka sagt über sich selbst in der dritten Person: Unlike his colleagues together with whom he shared, unquestionably, the same political at­ titude towards the event which was being represented, he found the mode of presentation at war with the ugliness it tried to convey, creating an intense disquiet about his very presence on that stage, in that place, before an audience whom he considered collectively responsible for that dehumanizing actuality.¹⁰

Kenia wurde erst 1963 unabhängig, die Theatergruppe spielte in London vor Men­ schen, für die laut Soyinka galt: «every death of a freedom fighter was a notch on a gun, the death of a friend, an animal, a bestial mutant, not the martyrdom of a patriot.»¹¹ Anhand dieser Anekdote fasst Soyinka die schwierige Position des Schriftstellers zusammen, der sich mit Verbrechen dieser Art beschäftigt: «What then was the problem? It was one, I believe, that affects most writers. When is playacting rebuked by reality? When is fictionalizing presumptuous? What hap­ pens after playacting?»¹² Soyinka plädiert in seiner Nobelpreisrede eindringlich dafür, dass Europa die Verantwortung für seine Kolonialgeschichte übernehme. In scharfen Wor­ ten prangert Soyinka an, dass die europäische Geistesgeschichte von Rassismus durchzogen und der Umgang mit diesem belasteten Erbe weiterhin nicht ange­ messen sei: H[h]ow many students of European thought today, even among us Africans, recall that sev­ eral of the most revered names in European philosophy – Hegel, Locke, Montesquieu, Hume, Voltaire – an endless list – were unabashed theorists of racial superiority and denigrators of the African history and being. As for the more prominent names among the theorists of revo­ lution and class struggle – we will draw the curtain of extenuation on their own intellectual aberration, forgiving them a little for their vision of an end to human exploitation.¹³

8 Soyinka sagt in der Rede, die Theatervorführung sei 1958 gewesen. Es muss sich allerdings um einen Fehler handeln, denn das Hola-Massaker, um das es geht, geschah erst im März 1959. 9 Vgl. Wanjohi Kabukuru: Kenya: The Hola Massacre. In: New African, Nr. 424 (2003), S. 34–37. 10 Wole Soyinka: This Past Must Address Its Present. 11 Ebda. 12 Ebda. Soyinka selbst wurde während des nigerianischen Bürgerkriegs (1968–1970) – der auch Biafra-Krieg genannt wird –inhaftiert, weil er sich mit dem Anführer der abtrünnigen Region Biaf­ ra getroffen hatte, um einen Krieg zu verhindern. Vgl. dazu seine Memoiren The Man Died: Prison Notes. London: Rex Collings 1972 und You Must Set Forth at Dawn: a Memoir. New York: Random House 2006 sowie die Gedichtesammlung Poems From Prison. London: Rex Collings 1969. 13 Wole Soyinka: This Past Must Address Its Present.

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In seinem letzten Satz verwies Soyinka ironisch auf die afrikanische Rezeption des Marxismus – den er nicht namentlich nennt –, dessen rassistische Züge in der Euphorie für den Sozialismus in Afrika übersehen wurden.¹⁴ Um das Verhältnis von europäischer Kolonialvergangenheit und der Gegen­ wart zu beschreiben, wählt Soyinka die Metapher der Familie. Die Welt müsse an­ erkennen, dass die Gegenwart unmittelbar aus dieser rassistisch verlogenen Ver­ gangenheit hervorgegangen sei, die sich auch und gerade unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität verborgen habe: In any case, the purpose is not really to indict the past, but to summon it to the attention of a suicidal, anachronistic present. To say to that mutant present: you are a child of those centuries of lies, distortion and opportunism in high places, even among the holy of holies of intellectual objectivity. But the world is growing up, while you willfully remain a child, a stubborn, self-destructive child, with certain destructive powers, but a child nevertheless. And to say to the world, to call attention to its own historic passage of lies – as yet unaban­ doned by some – which sustains the evil precocity of this child. Wherein then lies the sur­ prise that we, the victims of that intellectual dishonesty of others, demand from that world that is finally coming to itself, a measure of expiation? Demand that it rescues itself, by con­ crete acts, from the stigma of being the wilful parent of a monstrosity, especially as that monstrous child still draws material nourishment, breath, and human recognition from the strengths and devises of that world, with an umbilical cord which stretches across oceans, even across the cosmos via so-called programs of technological co-operation.¹⁵

Soyinka nennt Europa und Afrika in diesem Abschnitt nicht mehr explizit, aber die Bezüge sind durch den zuvor zitierten und unmittelbar vorhergehenden Ab­ satz der Rede evident. Er fordert die Welt auf, die eigenen Verfehlungen anzuer­ kennen und sich ihrer eigenen Aufklärungsgeschichte würdig zu erweisen. Die verhängnisvolle Abhängigkeit Afrikas vom neokolonialen Europa fasst Soyinka mit dem Bild der Nabelschur – eine Metapher, die Mia Couto ebenfalls an einer Stelle gebraucht hat, um für eine Loslösung Mosambiks von Portugal zu plädie­ ren.¹⁶ Das Bild der Nabelschnur macht vor allem deutlich, dass sich Afrika diesen Lauf der Geschichte nicht ausgesucht hat – und gleichzeitig, dass es trotzdem un­ ausweichlich mit dieser Geschichte verbunden bleiben wird, auch wenn das Über­ leben nicht mehr direkt von den alten Kolonialmächten abhängt, die Nabelschnur also durchtrennt sein wird. In seiner Rede verwies Soyinka auch auf die von den Kolonialregimen aus Afrika geraubte Kunst, die seit jeher unbehelligt die europäischen Museen füllt.¹⁷

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Vgl. dazu Shlomo Avineri: Introduction. Wole Soyinka: This Past Must Address Its Present. Vgl. Mia Couto: Portugal visto de Maputo: As perguntas respondedoras. Wole Soyinka: This Past Must Address Its Present.

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Die Restitutionsdebatte der 1980er verebbte folgenlos und brach erst 2018 mit dem vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr wieder auf.¹⁸ Die erneute Verhandlung über die Rückgabe von Kunst an die afrikanischen Länder, aus denen die europäischen Kolonialregime über Jahrhunderte entwendeten, kann als ein Moment der Afroto­ pia¹⁹ verstanden werden. Sarr, der den gleichnamigen Essay verfasste, spricht von einer «utopie active, qui se donne pour tâche de débusquer dans le réel africain les vastes espaces du possible et les féconder.»²⁰ Bemerkenswert ist, mit einem abschließenden Blick auf das Schreiben von Boubacar Boris Diop und Mia Couto, dass in den hier analysierten Romanen die Frauenfiguren eine zentrale Rolle spielen. Sie treten in Le Cavalier et son ombre sowie in O último voo do flamingo als Erzählerinnen auf, die die patriarchale Ord­ nung ein Stück weit aufzubrechen vermögen und den Raum für Reflexion und das Utopische erst eröffnen.

18 Auch Savoy und Sarr weisen darauf hin, dass es eine in mindestens Deutschland und Frank­ reich breit angelegte Restitutionsdebatte in den 1980er Jahren bereits gegeben hatte. Vgl. Felwine Sarr/Bénédicte Savoy: Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. 19 Vgl. Felwine Sarr: Afrotopia. 20 Ebda., S. 14.

6 Literaturverzeichnis 6.1 Primärliteratur von Boubacar Boris Diop 6.1.1 Romane Diop, Boubacar Boris: Le temps de Tamango, suivi de Thiaroye, terre rouge. Paris: Harmattan 1981. — Les tambours de la mémoire. Paris: Harmattan 1991. — Les traces de la meute. Paris: Harmattan 1993. — Le Cavalier et son ombre. Abidjan: Nouvelles Éd. Ivoiriennes 1999 [1997]. — Murambi, le livre des ossements. Paris: Stock 2000. — Murambi, le livre des ossements. Neuausgabe mit einem Nachwort des Autors. Paris: Zulma 2014 [2011]. — Murambi, the Book of Bones. Übersetzung aus dem Französischen von F. McLaughlin, mit einem Vorwort von Eileen Julien. Bloomington: Indiana University Press 2006. — Murambi. Das Buch der Gebeine. Übersetzung aus dem Französischen von S. Thabet. Leip­ zig: Hamouda 2010. — Doomi Golo. Dakar: Papyrus 2003. — L’impossible innocence. Paris: Philippe Rey 2004. — Kaveena. Paris: Philippe Rey 2006. — Les petits de la guenon. Freie Übersetzung von Doomi Golo von Boubacar Boris Diop. Paris: Philippe Rey 2009. — Bàmmeelu Kocc Barma. Dakar: ELO 2017.

6.1.2 Essays Diop, Boubacar Boris: L’Afrique au-delà du miroir. Paris: Philippe Rey 2007. — Le Sénégal entre Cheikh Anta Diop et Senghor. In: ders.: L’Afrique au-delà du miroir. Paris: Philippe Rey 2007, S. 89–134. — Génocide et devoir du mémoire. In: ders.: L’Afrique au-delà du miroir. Paris: Philippe Rey 2007, S. 17–36. — Yolande Mukagasana: parler avec les tuers. In: ders.: L’Afrique au-delà du miroir. Paris: Phil­ ippe Rey 2007, S. 37–50. — Kigali-Paris: le monstre à deux têtes. In: ders.: L’Afrique au-delà du miroir. Paris: Philippe Rey 2007, S. 50–85. — Postface. In: ders.: Murambi, le livre des ossements. Neuausgabe mit einem Nachwort des Autors. Paris: Zulma 2014 [2011], S. 195–221. — Capitaine Mbaye Diagne. Paris: Philippe Rey 2014. Diop, Boubacar Boris/Traoré, Aminata Dramane: La Gloire des imposteurs: lettres sur le Mali et l’Afrique. Paris: Philippe Rey 2014. Diop, Boubacar Boris/Tobner, Odile/Verschave, François-Xavier: Négrophobie. Paris : Les Arènes 2005.

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296 | 6 Literaturverzeichnis

6.1.3 Erzählungen Diop, Boubacar Boris: La nuit de l’Imoko : récits. Montréal/Québec: Mémoire d’encrier 2013.

6.1.4 Interviews und Zeitungsbeiträge Chanda, Tirthankar/Diop, Boubacar Boris: Raconter l’indicible: le génocide rwandais au prisme de la fiction, suivi de trois question à Boubacar Boris Diop. In: RFI, 8.4.2019. http://www. rfi.fr/afrique/20190407-rwanda-genocide-romans-hutus-tutsis-boubacar-boris-diop [letzter Zugriff: 26.6.2019]. Diop, Boubacar Boris: «Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom.» In: Africul­ tures, Nr. 30 (2000), S. 15–17. — «À la découverte de notre innocence.» In: Africultures, Nr. 59 (2004), S. 30–38. — La France au banc des accusés. «Dans ces pays-là, un génocide n’est pas trop important.» In: Le Quotidien/Dakar, 8.4.2004, wieder publiziert durch Courrier International. https: //www.courrierinternational.com/article/2004/04/08/dans-ces-pays-la-un-genocide-nest-pas-trop-important [letzter Zugriff: 21.4.2021]. — La langue en question. In: Africultures, 5.12.2007. http://africultures.com/boubacar-borisdiop-7169/ [letzter Zugriff: 11.5.2021]. — Interview. In: Brezault, Éloïse: Afrique. Paroles d’écrivains. Montréal/Québec: Mémoire d’encrier 2010. — L’écrivain et ses ombres. Interview réalisée par Boubacar Camara et Ousmane Ngom de l’Université Gaston Berger de Saint-Louis. In: Boubacar Camara/Ousmane Ngom (Hg.): Boubacar Boris Diop. Une écriture déroutante. Revue du Groupe d’Études Linguistiques et Littéraires, Sonderausgabe 2014, S. 299–332. — La bibliothèque de mon père. Francophone Caucus Keynote, 16.6.2017. Jahreskonferenz der African Literature Association: Africa and the World: Literature, Politics and Global Geographies, Yale University: New Haven. Schregenberger, Katrin: Die Macht des Kolibris. In: NZZ, 14.10.2014. https://www.nzz.ch/ zuerich/die-macht-des-kolibris-1.18403138 [letzter Zugriff: 21.4.2021].

6.2 Primärliteratur von Mia Couto 6.2.1 Romane Couto, Mia: Terra sonâmbula. Lissabon: Caminho 1992. — A varanda do frangipani. Lissabon: Caminho 1996. — Vinte e zinco. Lissabon: Caminho 1999. — O último voo do flamingo. Lissabon: Caminho 2015 [2000]. — Um rio chamado tempo, uma casa chamada terra. Lissabon: Caminho 2002. — O outro pé da sereia. Lissabon: Caminho 2006. — Venenos de deus, remédios do diabo. Lissabon: Caminho 2008. — Jesusalém. Lissabon: Caminho 2009. — A confissão da leoa. Lissabon: Caminho 2012.

6.2 Primärliteratur von Mia Couto

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— Mulheres de cinzas (erster Band der Trilogie As areias do imperador). Lissabon: Caminho 2015. — A espada e a azagaia (zweiter Band der Trilogie As areias do imperador). Lissabon: Caminho 2016. — O bebedor de horizontes (dritter Band der Trilogie As areias do imperador). Lissabon: Cami­ nho 2017.

6.2.2 Erzählungen Couto, Mia: Vozes anoitecidas. Maputo: Associação dos Escritores Moçambicanos 1986/Lissa­ bon: Caminho 1987. — Cada homem é uma raça. Lissabon: Caminho 2009 [1990]. — Estórias abensonhadas. Lissabon: Caminho 1994. — Contos do nascer da terra. Lissabon: Caminho 1997. — Na berma de nenhuma estrada. Lissabon: Caminho 2001. — O fio das missangas. Lissabon: Caminho 2004.

6.2.3 Kinder- und Jugendliteratur Couto, Mia: Mar me quer. Maputo: Expo/Njira 1998. — O gato e o escuro. Mit Illustrationen von Danuta Wojciechowska. Lissabon: Caminho 2001. — A chuva pasmada. Mit Illustrationen von Danuta Wojciechowska. Maputo: Njira 2004. — O beijo da palavrinha. Mit Illustrationen von Malangatana. Lissabon: Caminho 2006.

6.2.4 Gedichte Couto, Mia: Raiz de orvalho. Maputo: 1983. — Tradutor de chuvas. Lissabon: Caminho 2011.

6.2.5 Crónicas und Essays Couto, Mia: Cronicando. Maputo: Ndjira 1988. — Escrevências desinventosas. In: ders.: Cronicando. Maputo: Ndjira 1988, S. 167–169. — O país do queixa andar. Maputo: Ndjira 2003. — Pensatempos. Textos de opinião. Lissabon: Caminho 2005. — E se Obama fosse africano? e outras interinvenções. Lissabon: Caminho 2009. — Encontros e encantos – Guimarães Rosa. In: ders.: E se Obama fosse africano? e outras interinvenções. Lissabon: Caminho 2009. — Quebrar armadilhas. In: ders.: E se Obama fosse africano? e outras interinvenções. Lissabon: Caminho 2009. — Pensageiro frequente. Lissabon: Caminho 2010.

298 | 6 Literaturverzeichnis

6.2.6 Interviews und Zeitungsbeiträge — Entretien avec Mia Couto. In: Cahier Centre de Recherche sur les Pays Lusophones-Crepal, Nr. 3 (1996), S. 113–135. — Portugal visto de Maputo: as perguntas respondedoras. In: Janus (2004). https://www. janusonline.pt/arquivo/1998/1998_5_5.html [letzter Zugriff: 22.5.2019]. — Os sete sapatos sujos. Oração de Sapiência por Mia Couto. Maputo: Universidade Eduardo Mondlane 2005. http://www.ufrgs.br/inov/producao/seminarios/politica-educacao-econtemporaneidade/textos-selecionados/mia [letzter Zugriff: 7.7.2016]. — Entrevista, 2008. In: Elena Brugioni: Mia Couto: representação, história(s) e pós-coloniali­ dade. Braga: Universidade do Mino, Centro de Estudos Humanísticos 2013. — An Interview with Mia Couto, 5.2015, übersetzt von David Brookshaw. In: Grant Hamilton/Da­ vid Huddart (Hg.): A Companion to Mia Couto. Suffolk: Boydell und Brewer 2016, S. 14–16. Jaggi, Maya: Mia Couto: «I am White and African. I like to Unite Contradictory Worlds». In: The Guardian, 11.8.2015. https://www.theguardian.com/books/2015/aug/15/mia-coutointerview-i-am-white-and-african-i-like-to-unite-contradictory-worlds [letzter Zugriff: 2.6.2019].

6.3 Primärliteratur anderer Autor:innen Adiaffi, Jean-Marie: Carte d’identité. Abidjan: Ceda 1980. Adichie, Chimamanda Ngozi: Half of a Yellow Sun. London: Fourth Estate 2006. Adorno, Theodor W.: Engagement. In: ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 [1974], S. 409–430. Antelme, Robert: L’espèce humaine. Paris: Gallimard 1978 [1947]. Astier, Pierre (Hg.): Nouvelles du Sénégal. Paris: Magellan et Cie 2010. Bärfuss, Lukas: Hundert Tage. Göttingen: Wallstein 2008. Bâ, Thierno: Lat-Dior ou le chemin de l’honneur : drame historique en huit tableaux. Dakar: Nouvelles Éditions Africaines 1975. Césaire, Aimé: Les armes miraculeuses. Paris: Gallimard 1970 [1946]. — Une tempête: d’après «la tempête» de Shakespeare. Adaption pour un théâtre nègre. Paris: Seuil 1980. Cissé, Amadou Dia: Les derniers jours de Lat Dior. La mort du damel. Paris: Présence Africaine 1965. Cixous, Hélène: Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte. In: Karin Rick (Hg.): Das Sexuelle, die Frauen und die Kunst. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1987, S. 62–89. — Quelle heure est-il ou la porte (celle qu’on ne passe pas). In: Marie-Louise Mallet (Hg.): Le passage des frontières: autour du travail de Jacques Derrida (colloque de Cerisy). Paris: Galilée 1994, S. 83–98. — Osnabrück. Paris: Des femmes 1999. — Homère est morte. Paris: Galilée 2014. Die Bibel. Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. Hg. i. A. d. Bischöfe Deutschlands, Lizenzausgabe in neuer Rechtschreibung. Freiburg i. B. u. a.: Herder 2006.

6.3 Primärliteratur anderer Autor:innen |

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