Kleine Kunstgeschichte Frankreichs 3534244060, 9783534244065


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German Pages 208 [209] Year 2012

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Von der Höhlenkunst zur Karolingerzeit
Die Kunst der Romanik
Das Zeitalter der Mönche
Die Architektur
Die Skulptur und weitere Kunstgattungen
Die Kunst der Gotik
Das Zeitalter der Kathedralen
Die gotischen Kathedralen
Die Skulptur der Früh- und Hochgotik
Der Burgenbau
Die Spätgotik
Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus
Die Renaissance
Der Barock
Das Rokoko
Die Anfänge des Klassizismus
Die Kunst im 19. Jahrhundert
Vom Klassizismus zur Romantik
Vom Historismus zur Ära der Avantgarden
Orientalismus
Innovationen in Architektur, Skulptur und Fotografie
Die Kunst im 20. Jahrhundert
Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Kunst im frühen 20. Jahrhundert
Kunst zwischen den Weltkriegen
Frankreich in der Zeit der Vierten und Fünften Republik
Kunst in den Jahren 1945 bis 1960/70
Kunst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
Literatur
Register
Abbildungsnachweis
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Kleine Kunstgeschichte Frankreichs
 3534244060, 9783534244065

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Hilja und Thorsten Droste

Kleine Kunstgeschichte Frankreichs

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2012 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Elke Austermühl, Alsbach Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-534-24406-5 Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag ISBN 978-3-86312-315-4 www.primusverlag.de

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71970-9 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-71971-6 (für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-86312-841-8 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-842-5 (Buchhandel)

Inhalt

Von der Höhlenkunst zur Karolingerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Kunst der Romanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Das Zeitalter der Mönche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Skulptur und weitere Kunstgattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Kunst der Gotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Das Zeitalter der Kathedralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Die gotischen Kathedralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die Skulptur der Früh- und Hochgotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Der Burgenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die Spätgotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Der Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Das Rokoko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Die Anfänge des Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Kunst im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Vom Klassizismus zur Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Vom Historismus zur Ära der Avantgarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Orientalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Innovationen in Architektur, Skulptur und Fotograf ie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Kunst im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Frankreich in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kunst im frühen 20.  Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Kunst zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Inhalt

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Frankreich in der Zeit der Vierten und Fünften Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Kunst in den Jahren 1945 bis 1960  /  70 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Kunst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Von der Höhlenkunst zur Karolingerzeit

I

Höhlenkunst der Steinzeit

m Raum des heutigen Frankreich vollzog sich vor etwa 40 000 Jahren die Ablösung des Neandertalers durch den Cro-Magnon-Menschen, der als erster die Bezeichnung des Homo sapiens sapiens trägt. Abgesehen von spärlichen Spuren im übrigen Europa – z. B. die Venus von Willendorf in Österreich – konzentrieren sich seine Hinterlassenschaften in den Landschaften Südfrankreichs und Nordspaniens. Für die Höhlenkunst der Steinzeit hat sich deshalb schon früh der Name des franko-kantabrischen Kunstkreises eingebürgert. Die Erforschung dieser geheimnisvollen Bilderwelt ist noch recht jung und hängt mit der Entdeckungsgeschichte der Höhlen zusammen, die oft über Zeiträume von mehreren Jahrtausenden verschüttet und deshalb vollständig in Vergessenheit geraten waren. Ein erstes Fanal ging von Spanien aus. Dort hatte im Jahr 1879 der Graf de Sautuoloa nahe dem Küstenstädtchen Santillana del Mar die Höhle von Altamira entdeckt. Er suchte allerdings nur im Boden der Grotte nach Spuren aus prähistorischer Zeit. Die kleine Tochter des Grafen, die den Vater bei seinen Erkundungen begleitete, entdeckte als Erste die Bilder, die sich an der natürlichen Wölbung der Höhle befanden. Mit dem Ausruf „mira, Papa, toros pintados“ (schau, Papa, gemalte Stiere) schlug sie in kindlicher Naivität ein neues Kapitel der Geschichtsforschung auf, an dessen Beginn zunächst ein Glaubenskrieg der Gelehrten stand. Die nach Altamira angereiste Crème de la Crème der damaligen Altertumsforschung stand fassungslos vor den polychromen Felsbildern mit zahlreichen Darstellungen von Bisons, Pferden und anderen Tieren. Und ihr Urteil war ebenso einhellig wie vernichtend: hier hätte sich ein Spaßmacher einen Ulk erlaubt, um die seriöse Wissenschaft an der Nase herumzuführen. Das späte 19. Jh. war offenbar noch nicht gewillt, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es bereits vor Urzei-

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ten Menschen gegeben haben sollte, die zu derart vollendeten Kunstschöpfungen befähigt waren. Die Diskussion war für ein Vierteljahrhundert verstummt. Da gelang im Herbst 1901 den beiden jungen Forschern Henri Breuil und Denis Peyrony der Durchbruch. Sie untersuchten binnen weniger Tage die Höhlen Combarelles und Font-de-Gaume nahe der Ortschaft Les Eyzies im Périgord (Département Dordogne), in deren vorderen Abschnitten Hirten schon seit Menschengedenken bei Schlechtwetter ihre Schafe unterbrachten – doch niemand war auf die Idee gekommen, tiefer in diese Höhlen einzudringen, geschweige denn ihre Wände auf mögliche Bemalung hin unter die Lupe zu nehmen. Hier nun fanden Breuil und Peyrony Felszeichnungen (Combarelles) und zahlreiche polychrome Tierbilder (Font-de-Gaume). Über letzteren hatten sich an einigen Stellen Kalksinterschichten gebildet, wie sie in dieser Form nur über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden entstehen können. Damit war urplötzlich die Diskussion um die Echtheit der Höhlenkunst vom Tisch, und es folgte eine fieberhafte Suche nach weiteren Höhlen. Unter dem Abri du Cap-Blanc, ebenfalls nahe Les Eyzies, das schon bald als Hauptstadt der Vor- und Frühgeschichte galt, fand man 1909 einen aus dem Stein geschlagenen Fries von mehreren lebensgroß dargestellten Pferden. 1920 entdeckte man im Quercy (Département Lot) die Höhle von Pech-Merle. Der bedeutendste Fund, der der Höhle von Lascaux bei Montignac, ging 1940 zunächst im Trubel der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs unter. Erst nach 1945 wurde Lascaux, die „Sixtinische Kapelle der Eiszeit“, mit ihrem Bilderreichtum erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – mit katastrophalen Folgen! Der Besucherstrom führte zu einer radikalen Veränderung des Mikroklimas in der Höhle, so dass Pilze und Destruktionsfäule die Bilder befielen. 1962 wurde Lascaux deshalb für immer geschlossen. Die Datierungsfrage war zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen soliden naturwissenschaftlichen Boden gestellt, denn 1949 hatte der amerikanische Chemiker und Geophysiker Williard Frank Libby die Radiokarbonmethode, auch C-14-Methode genannt, entwickelt, mittels derer die Strahlung von organischen Stoffen bzw. deren Abnahme – man spricht von Halbwertzeit – messbar wurde. Libby erhielt für seine Forschungen 1960 den Nobelpreis für Chemie. Die Bilder von Lascaux wurden auf ein Alter von 15 000 Jahren BP datiert – das Kürzel BP steht für „before present“, das Jahr Null der Prähistoriker ist das Jahr 1950. Anders gesagt: die Bilder von Lascaux sind rund 13 000 Jahre vor Christi Geburt entstanden. Hielt man die Bilder – es handelt sich fast ausnahmslos um Tiere: Rentiere, Wisente, Pferde, Mammuts, Hirsche, seltener Steinböcke, Ziegen, aber auch Nashörner und Löwen – anfangs für reine Dekoration, so setzte sich schon bald (um 1920) die Ansicht durch, dass ihnen ein tieferer Sinn innewohnen müsse. Verschiedene Theorien, wonach die Tierbilder im Zusammenhang mit Totemismus

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1  Malereien   in der Höhle   von Lascaux

( Jagdzauber), Fruchtbarkeitskult oder Naturreligion stünden, wurden wieder verworfen. Heute besteht lediglich Einigkeit darin, dass die Bilderwelt des CroMagnon-Menschen Teil eines komplexeren kultischen Geschehens war. Die Sichtweise, wonach es eine stilistische Entwicklung von anfänglichen einfachen Ritzungen hin zu den vollendet schönen polychromen Schöpfungen des Magdalénien (Epoche 18 000 – 12 000 BP) gegeben habe, ist mittlerweile wieder zu den Akten gelegt. Anfang der 1990er Jahre wurden kurz nacheinander im südöstlichen Frankreich die Höhlen Cosquer (1991 bei Marseille) und Chauvet (1993 im Tal der Ardèche) entdeckt, die fast alle bis dahin gehandelten Theorien widerlegt haben. Nicht allein der Raum des südwestlichen Frankreich, sondern der gesamte Raum Südfrankreichs war das Verbreitungsgebiet des Cro-Magnon, eine Entwicklung der Kunst ist aktuell nicht mehr nachzuzeichnen, denn die ungemein bewegten, lebensnahen Tierbilder in der Grotte Chauvet, denen von Lascaux weit überlegen, sind doppelt so alt wie jene (ca. 30 000 BP).

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Mesolithikum und Neolithikum

Mit dem Ausklang der letzten Eiszeit, der Würmeiszeit, ging um 10 000 v. Chr. die Altsteinzeit und mit ihr deren letzte Epoche, das Magdalénien, zu Ende. Es folgte das Mesolithikum, das zwar in technischer Hinsicht manchen Fortschritt brachte, indem die Menschen z. B. das Durchbohren von Knochen und Steinen erfanden, aber in künstlerischer Hinsicht scheint dieses Zeitalter weniger produktiv gewesen zu sein. Unsere mangelnde Kenntnis von Artefakten kann aber auch damit zusammenhängen, dass nun häufiger organische Stoffe Verwendung fanden wie Leder und Holz. Es ist daher nahezu unmöglich, einigermaßen objektive Urteile über diese Epoche abzugeben. Das ändert sich mit der Neolithischen Revolution ab ca. 5000 v. Chr. Dieser Name hat sich für den fundamentalen Wandel eingebürgert, den die prähistorischen Menschen durchmachten. Die Entwicklung ging vom Raum Kleinasiens aus und eroberte von dort das westliche Europa. Die Menschen gaben das Dasein nomadisierender Jäger auf, sie wurden sesshaft und gingen zum Ackerbau über. Überall in Europa, von Süditalien bis nach Skandinavien, von Irland bis in den Raum Polens sind die Zeugnisse der neolithischen Megalithkultur erhalten, in hoher Konzentration im atlantischen Bereich, also entlang der portugiesischspanischen Küste, in England  /  Irland, Norddeutschland und Dänemark, in besonderer Konzentration im heutigen Frankreich und dort wiederum in der Bretagne. Das hängt damit zusammen, dass die Jagd auf Großwild mehr und mehr durch das Angeln in Flüssen, Seen und an der Küste verdrängt worden war. Die markantesten Formen der Megalithkultur sind die Menhire, gewaltige senkrecht stehende Steine, die jedermann durch Asterix und Obelix bekannt sind, und die Dolmen. Die Menhire (im Deutschen: Hinkelsteine) können als Einzelmonumente vorkommen, zum Teil hat man sie auch zu Gruppen unterschiedlicher Formen zusammengestellt. Das berühmteste Beispiel ist der Steinkreis von Stonehenge in England. In der Bretagne faszinieren die in einigen Fällen Kilometer langen Alignements, Alleen aus Hinkelsteinen, deren kultische Funktion und Bedeutung bis heute ungeklärt ist. Dolmen – man spricht im Deutschen von Hünengräbern – sind dagegen Grabkammern, die aus monumentalen Steinplatten errichtet wurden, über denen ein Hügel aus Erdreich (Tumulus) aufgeschüttet wurde. In den meisten Fällen haben Regen und Erosion das Erdreich dieser Tumuli fortgespült, so dass heute der einstige Kern der Grabkammer, bestehend aus senkrecht gestellten Monolithen und einer Abdeckplatte, freiliegt. Wir kennen aber auch Grabkammern, die aus kleineren, lose geschichteten Steinen errichtet wurden. Diese nennt man nach einem alten walisisch-gälischen Wort Cairn, ein Begriff, der im Namen des bretonischen Ortes Carnac lebendig ist. Hier befinden sich die größten Alignements der Me-

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galithkultur. Der älteste Cairn ist jener von Barnenez (Bretagne), der in die Zeit um 4500 v. Chr. datiert wird. Im Neolithikum kommt zugleich erstmals das Töpfern auf, und es entstehen (Handels)-Wege, die die Verbindung zum Mittelmeer herstellten. Kelten, Griechen, Römer

Um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung wanderten Kelten in den Raum des heutigen östlichen Frankreich ein, denen bald weitere keltische Einwanderungswellen folgten. Es kam zu einer Vermischung der ethnischen Gruppen, die nach unserer Kenntnis weitgehend friedlich vonstattenging. Der Begriff der Kelten ist missverständlich. Die Griechen verstanden das Wort als einen Überbegriff für Fremdlinge. Tatsächlich reicht der Siedlungsraum der Kelten von Ungarn bis nach Frankreich, so dass kaum von einer kohärenten ethnischen Gruppierung die Rede sein kann; besser spricht man von der keltischen Zeit im Sinne eines spätvorzeitlichen Epochennamens. Diese keltische Epoche teilt man grob gesagt in die zwei Phasen der Hallstatt-Zeit (ca. 800 – 500 v. Chr.) und der La Tène-Zeit (ca. 500 – 50 v. Chr.) ein. Erst in der zweiten Phase, der La Tène-Zeit, drangen keltische Stämme bis in das südwestliche Frankreich vor. Die Tectosagen etwa gründeten Toulouse und die Bituriger Bordeaux. Die keltische Besiedlung Galliens, wie der Raum Frankreichs in der Antike genannt wurde, überlappte sich mit dem Auftauchen der Griechen in der Provence. Namentlich waren es Phokäer aus Kleinasien, die im 7. Jh. von Osten her unter den Druck der expandierenden Perser gerieten und sich nach neuem Lebensraum umsahen. Sie gründeten um das Jahr 600 v. Chr. Massalia, das heutige Marseille, nebst anderen, kleineren Häfen entlang der südfranzösischen Küste: Antipolis (Antibes), Nicäa (Nizza), Agatä (Agde) u. a. Die Zeit griechischer Präsenz in Gallien hat bis heute tiefe Spuren in der Geschichte und der Kultur Frankreichs hinterlassen. Die Griechen machten den Ölbaum und den Weinstock in Gallien heimisch. Das Tal der Rhône, deren Namen sich von den Bewohnern der Insel Rhodos herleitet, diente als von der Natur geschaffener Handelsweg nach Norden. Auf ihm gelangten Zinn und das begehrte Silber von den Britischen Inseln nach Griechenland. So ist auch die keltische Kultur Galliens vom Austausch mit der Welt der Griechen geprägt worden. Teils schufen die Kelten Schmuck, Keramik und Skulpturen, die von griechischen Vorbildern beeinflusst sind, teils importierte man von den Griechen deren Erzeugnisse. Das beachtlichste Stück solchen Kulturtransfers ist der Schatz von Vix, den man 1953 im nördlichen Burgund aus dem Grab einer keltischen Fürstin hob. Zu diesem Schatzfund gehört u. a. der Bronzekrater (Mischkrug) aus der Zeit um 500, der entweder aus Griechenland

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2  Nîmes, Maison Carrée

oder aus dem griechischen Süditalien hierher gelangt war. Er ist das größte uns bekannte Bronzegefäß der Antike. Die Griechen waren Seefahrer und Kaufleute. Sie interessierten sich lebhaft für die Erschließung neuer Handelswege, für den Güteraustausch und für die Gründung von Häfen und Stützpunkten im Landesinnern. Die Inbesitznahme von Land war ihnen fremd. Das erklärt die lange Periode friedlicher Koexistenz zwischen ihnen und den Kelten. Ganz anders lagen die Interessen der Römer. Sie waren von ihrem Ursprung her Bauern, und als solche hatten sie ihr Hauptinteresse auf den Gewinn von Land gerichtet. So kam es ihren Plänen entgegen, dass sich in den 120er Jahren v. Chr. das Verhältnis zwischen den (griechischen) Einwohnern von Marseille und den benachbarten (keltischen) Saluviern einzutrüben begann. Auf wiederholte Angriffe seitens der Saluvier auf ihre Karawanen riefen die Massalioten die Römer zu Hilfe, die ihren Einmarsch im Süden Galliens sofort zu einer gezielten Unterwerfung aller keltischen Stämme im Raum zwischen Alpen und Pyrenäen nutzten. Im Jahr 118 v. Chr. gründeten die Römer die Colonia Narbo Martius (Narbonne) als Hauptstadt der neu eingerichteten Provinz Gallia Narbonensis. Anderthalb Jahrhunderte später folgte die systematische Unterwerfung ganz Galliens durch Cäsar, der diesen Krieg – von ihm selbst in der Schrift „De bello Gallico“ he-

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roisiert – als Maßnahme gegen die Infiltrierung Galliens durch Germanenstämme begonnen und dann zu einem Eroberungsfeldzug gegen Gallien zu Ende geführt hatte. Der Triumph Cäsars war mit dem Fall der letzten keltischen Festung Alesia in Burgund und der Gefangennahme des Vercingetorix im Jahr 52 v. Chr. besiegelt. Bald darauf endete das Zeitalter der römischen Republik und es begann die Kaiserzeit. An ihrem Beginn steht Augustus, der Gallien planvoll in seine Besiedlungspolitik einbezog. Die Veteranen aus dem Ägypten-Feldzug gegen Marc Anton und Kleopatra siedelte er in der Colonia Nemausus an, dem heutigen Nîmes. Nun begann die Epoche tiefer Durchdringung Galliens mit der römischen Kultur, man spricht von der gallo-römischen Zeit. In zahlreichen Städten entstanden repräsentative Bauten, von denen noch heute eine große Zahl erhalten ist, besonders in der Provence. Man kann zwei Arten von Bauten trennen: solche, die eine praktische Funktion besaßen, und andere, die einem politischen oder religiös-kultischen Zweck dienten. Zur ersten Gruppe gehören Theater (gut erhalten jenes in Orange), Amphitheater, auch Arenen genannt (beste Beispiele in Arles und Nîmes), Thermen (Beispiele in Arles und Paris), Stadttore (Nîmes, Die) und Wasserleitungen bzw. Aquädukte. Der Pont-du-Gard bei Nîmes, der Teil einer 50 km langen Wasserleitung war, ist für die gesamte römische Antike 3  Pont-du-Gard

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zu einem ähnlichen Symbol geworden wie für das alte Griechenland der Parthenon in Athen. Er ist das Sinnbild römischer Zivilisation schlechthin. Zur zweiten Gruppe gehören in erster Linie Tempel (die besterhaltenen in Vienne und in ­Nîmes), Stadtgründungsmonumente (der sog. Triumphbogen in Orange oder der Germanicusbogen in Saintes), oder Denkmäler, die der Verherrlichung des Imperiums bzw. einer der Kaiserdynastien gewidmet sind (z. B. das Julier-Monument bei St-Rémy de-Provence). Die Denkmäler der Römerzeit sollten über Jahrhunderte nachwirken. Erstmalig fanden Rückgriffe auf ihr Formengut in der Kunst der Romanik statt; die Renaissance und noch der Klassizismus des 19. Jh. leben ebenfalls vom Rückgriff auf die Antike. Völkerwanderung und Merowingerzeit

Bereits um das Jahr 100 v. Chr. hatte sich mit dem Einfall der Kimbern und Teutonen in Gallien jenes Gespenst abgezeichnet, das Cäsar mit seinen Feldzügen zu bannen gedachte und das dann doch seit dem 3.  /  4. Jh. n. Chr. zum Untergang des Weströmischen Reiches führen sollte: die Völkerwanderung. Mehrere kurz aufeinander folgende Mini-Eiszeiten hatten vor allem die Völker Südskandinaviens in Bewegung gebracht. Sie durchzogen die Provinzen des Römerreiches auf der Suche nach Beute und einer neuen Heimat. Den größten Anfangserfolg erzielten die Westgoten. Nachdem sie zuerst Griechenland und dann Italien durchstreift hatten (410: Zerstörung Roms durch Alarich I.), gründeten sie Anfang des 5. Jh. im Raum Südwest-Frankreichs das erste unabhängige Germanenreich auf dem Boden des Imperiums. Es hieß nach seiner Hauptstadt Tolosa (Toulouse) das Tolosanische Reich. Nur geringfügig später folgte das Reich der Burgunder, das sich von den Französischen Alpen bis ans Mittelmeer erstreckte. Das Jahr 476 markiert das Ende des Weströmischen Reichs. Schon kurz darauf wurden die Westgoten (507: Schlacht bei Vouillé) und die Burgunder (536: Schlacht bei Autun) von den expansionshungrigen Franken vernichtend geschlagen. Vorangegangen war die Taufe Chlodwigs aus dem Haus der Merowinger, des Herrschers der Franken, nach seinem Sieg gegen die Alamannen bei Zülpich. Die Jahrhunderte zwischen dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und dem Aufstieg der Karolinger ist in Frankreich kunstgeschichtlich schwer fassbar. Die Westgoten erlebten ihre große kulturelle Blüte erst nach ihrer Abdrängung auf die Iberische Halbinsel durch die Franken, wo sie im 6.  /  7. Jh. ein mächtiges Königreich aufgebaut hatten. Und auch die Epoche der Merowinger ist nur spärlich in Denkmälern präsent. Aber von einem Hiatus, von einem großen schwarzen Loch, wie es noch das 19. Jh. gesehen hatte, kann man heute nicht mehr sprechen. Eine kleine Gruppe von Bauten belegt das Bestreben der Franken,

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in die Fußstapfen der Römer treten zu wollen. Es handelt sich dabei um frühchristliche Baptisterien. Das älteste von ihnen, in Poitiers, reicht noch in spätantike Zeit zurück (4  /  5. Jh.); die drei anderen, ausnahmslos in der Provence (Riez, Aix-en-Provence und Fréjus), sind in den Zeitrahmen 5.  /  6. Jh. datiert. Vom Reich der Franken zu Frankreich

Die Franken waren ebenso wenig eine ethnische Gruppe wie Jahrhunderte vor ihnen die Kelten. Erst seit neuestem wissen wir, dass die Bezeichnung „Franken“ in der Spätantike eine Formel für Fremdlinge, Ausländer war. Die frühere Meinung, es hätte sich bei ihnen um eine klar umrissene Volksgruppe gehandelt, resultiert aus der Tatsache, dass man gegen Ende des Weströmischen Reiches den Begriff schwerpunktmäßig auf jene bunt zusammengewürfelte Schar von Menschen unterschiedlicher Herkunft anwandte, die damals im Raum des heutigen Belgien lebte. Von dort starteten sie zu ihrem Siegeszug durch Gallien. Die Geschichte des ersten Frankenreiches unter den merowingischen Herrschern ist die ständiger Teilungen, erbrechtlicher Streitigkeiten und dynastischer Fehden. Das einschneidendste Datum ist das Jahr 561 mit der Dreiteilung des Merowingerreichs in Neustrien, Austrasien und Burgund. Das merowingische Haus war Mitte des 8. Jh. ausgelaugt, und an seine Stelle trat jene Dynastie, die zuvor den Majordomus (Hausmeier, die wichtigste Persönlichkeit des Staatsapparates) gestellt hatte: die Karolinger. Pippin der Kleine, Sohn des Maurenbezwingers Karl Martel (732: Schlacht bei Tours und Poitiers) setzte 752 den letzten König aus dem Haus der Merowinger ab und nahm nun selbst auf dem Thron Platz. Nach seinem Tod ging die Herrschaft 768 auf seinen Sohn Karl den Großen über. Dieser machte sich tatkräftig daran, das Fränkische Reich wieder zu einen und zu erweitern. Sein erklärtes Ziel war die Renovatio Imperii Romanorum, die Wiederherstellung des Römischen Reiches, eine utopisch anmutende Aufgabe. Und dennoch gelang es dem ehrgeizigen „Vater Europas“, dieser Utopie in einem erstaunlichen Maße reale Gestalt zu geben. Zum Teil in langen Kriegen (die Unterwerfung der Sachsen zog sich über 30 Jahre hin), zum Teil in kurzen Feldzügen und nicht zuletzt dank diplomatischen Geschicks baute er tatsächlich ein Herrschaftsgebilde auf, das in seiner Größe – es reichte von Katalonien und Oberitalien bis nach Norddeutschland, vom Atlantik bis nach Thüringen – dem untergegangenen Römerreich nahe kam. Seine Renovatio-Idee gipfelte am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom in seiner Krönung zum Kaiser durch Papst Leo III. Bereits unter seinen Enkeln zerfiel dieses Reich wieder. Infolge der Reichsteilung von 843 (Vertrag von Verdun) entstanden das Ostfränkische Reich als spätere Keimzelle Deutschlands, das Westfränkische, aus dem Frankreich hervorging, und das Mittelreich Kaiser Lothars. Dessen Linie starb noch im 9. Jh. aus. Italien sagte sich

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von den Franken los, die Provence ging unter den Bosoniden gleichfalls eigene Wege, und Lothringen gelangte an das Ostfränkische Reich (880: Vertrag von Ribémont). Im Ostfränkischen Reich starben die Karolinger bereits im Jahr 911 aus. Dort bestieg mit Heinrich I. schon bald das sächsische Haus der Ottonen den Thron (919), unter denen das junge Deutschland einen kometenhaften Aufstieg erlebte. 956 stellte sich Otto I. der Große in die Nachfolge Karls des Großen und ließ sich in Rom zum Kaiser krönen. Im Westen dagegen siechte das Karolingertum noch bis in das späte 10. Jh. dahin. Nach dem Tod Ludwigs V. (986 – 987), des letzten Karolingers, wählten die Fürsten den Herzog von Franzien, Hugo Capet (987 – 996), zum neuen Herrscher. Mit ihm beginnt Ende des 10. Jh. die Geschichte Frankreichs und jene der kapetingischen Dynastie. An Bauten der Karolingerzeit ist in Frankreich nur wenig erhalten geblieben. Das bedeutendste Denkmal aus der Zeit Karls des Großen, zugleich das besterhaltene Denkmal des 9. Jh. in Europa, ist die Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen, die als Zentralbau antiken Vorbildern verpflichtet ist. Der Bestand in Frankreich nimmt sich bescheiden aus. Nur ein einziges Bauwerk ist erhalten, die Kapelle in Germigny-des-Prés an der Loire, das private Oratorium Bischof Theodulfs von Orléans; er war auch Abt von St-Benoît-sur-Loire und gehörte zum Beraterkreis Karls des Großen. Es handelt sich um einen Zentralbau, der mit vier Armen um eine quadratische Vierung der byzantinischen Architektur nahe steht. Diese enge Verbindung mit Byzanz bestätigt sich im Innern, wo man noch Reste frühmittelalterlicher Mosaiken sieht, jenen der gleichzeitigen byzantinischen Kunst eng verwandt. Viel stärker als die architektonische Hinterlassenschaft karolingischer Zeit fällt in Frankreich das Erbe der Buchmalerei ins Gewicht. Zur Zeit Karls des Großen bildete Aachen als Lieblingsresidenz des Kaisers mit der dortigen Hofschule den Schwerpunkt. Infolge der Reichsteilung bildeten sich im Westfränkischen Reich mehrere höfische Kunstzentren heraus, allen voran Reims, Metz und Tours. Berühmt sind die Touronischen Bibeln, die Vivian-Bibel und die Bibel von Grandval, monumentale Handschriften mit zahlreichen szenischen Bildern besonders zur Genesis, die im Auftrag Karls des Kahlen (840 – 877) entstanden. Metz war außerdem ein bedeutendes Zentrum der Elfenbeinschnitzerei und der Goldschmiedekunst. Nicht geklärt ist die Herkunft jener kleinen bronzenen Reiterstatue mit der Figur Karls des Großen, die aus dem Domschatz der Kathedrale von Metz in den Louvre gelangte. Sie steht am Beginn der Geschichte der Skulptur des Mittelalters. Alle diese Arbeiten zeigen die Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern. Die Kunst des 9. Jh. ist ein lebendiger Spiegel des RenovatioGedankens Karls des Großen. Das gilt auch für die spärlich erhaltenen Wandbilder. Am besten erhalten sind jene in der Krypta von St-Germain in Auxerre, die manchen Künstlern der Romanik den Weg gewiesen haben dürften.

Die Kunst der Romanik Romanik als Epochenbegriff

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 ie Kunstgeschichte hat Begriffe, mit denen Epochen definiert und zeitlich umrissen werden, geprägt. Zur Kunst des 11.  / 12. Jh. herrschte noch bis in das frühe 19. Jh. ein babylonisches Sprachgewirr. Man liest von byzantinischer, auch von griechischer und von römischer Kunst. Erst um 1820 taucht der Name der Romanik in Frankreich auf. Er setzte sich rasch durch und wurde auch in der deutschen Kunstgeschichte ab etwa 1840 verwendet. Der Name scheint schlüssig, denn er macht deutlich, dass die Baukunst des Mittelalters auf römisch-antiken Fundamenten aufbaut und zugleich zu ihren eigenen Formen gefunden hat, so wie die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen hervorgegangen sind. Der konkrete Bezug zwischen der Architektur des Mittelalters und der römischen Antike besteht in der Verwendung von Pfeilern und Säulen, Gewölbebau und Rundbögen – die beiden letztgenannten kannte die grie­chische Antike noch nicht. Ergänzend ist festzustellen, dass die Romanik überall dort entstand, wo nach der Völkerwanderung Germanen sesshaft geworden waren. Die Romanik erwächst letztlich aus unterschiedlichen Wurzeln, und das erklärt ihre Vielgestaltigkeit. Neben Bezügen zur Antike beobachtet man auch Rückgriffe auf die Karolingerzeit und auf die Kunst des 10. Jh.; in Deutschland spricht man von ottonischer Kunst, in Frankreich von Art préroman (­vorromanischer Kunst). Für die sehr konkrete zeitliche Festlegung auf die Zeit um das Jahr 1000 als Beginn der Romanik werden folgende Kriterien in ­erster Linie angeführt: Für Deutschland gilt St. Michael in Hildesheim (errichtet 1002 – 1033) als Gründungsbau, weil hier zum ersten Mal das Prinzip des ­Gebundenen Systems konsequent durchgeführt wurde. In Frankreich erkennt man in der technischen Neuerung des Gewölbebaus, der kurz nach 1000 auf den Plan tritt, den Epochenbeginn (erster Wölbebau ist St-Martindu-Canigou). Das Ende der Romanik ist fließend. In Nordfrankreich, dem

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­ ntstehungsgebiet der Gotik, wird die Romanik bereits um 1140 verdrängt. In E den südlichen Provinzen des Landes dagegen hat sie sich noch bis in die Zeit um 1200 gegen den Vormarsch der Gotik behauptet.

Das Zeitalter der Mönche Historische Bedingungen

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ie romanische Kunst Frankreichs ist so vielfältig wie die historischen Konstellationen des 11.  /  12. Jh. Sie hat nicht nur ein Zentrum, sondern deren viele. Ihre Denkmäler sind über das ganze Land verteilt und machen anschaulich, dass Frankreich in romanischer Zeit noch keine politische und kulturelle Einheit bildete. Die besondere Situation Frankreichs wird deutlich, wenn man einen Vergleich zu Deutschland zieht. Beide Länder sahen sich im 9.  /  10. Jh. massiven äußeren Bedrohungen ausgesetzt. In Deutschland waren es die Ungarn, die das Land mit Gewalt überzogen, in Frankreich kam die Aggression von Westen. Dort waren es die Normannen, die mit ihren schnellen Booten die Flüsse landeinwärts segelten und überall eine Spur der Verwüstung nach sich zogen. Während in Deutschland die ersten Herrscher aus dem Haus der Ottonen die Abwehr der Ungarn erfolgreich in die Hand nahmen (955: Sieg Ottos I. des Großen auf dem Lechfeld) und damit zugleich die zentrale Autorität des Königtums festigten, standen die letzten karolingischen Herrscher im Westfrankenreich der Normanneninvasion tatenlos gegenüber. Als Folge organisierten die Landesfürsten selbst die Verteidigung ihrer Territorien, was den Verlust der königlichen Autorität zur Folge hatte. Als 987 die Karolinger durch Hugo Capet abgelöst wurden, stand das junge französische Königtum auf einem Tiefstand. Der König, dessen Krondomäne kaum 10 Prozent des westfränkischen Reichsgebietes ausmachte, war bestenfalls ein Primus inter Pares, während seine Großvasallen die Hoheitsrechte in ihren Gebieten eigenmächtig wahrnahmen. Die Rolle der Mönche

Die Besonderheit der Situation Frankreichs erhellt sich erneut am besten durch den Vergleich mit Deutschland. Die Entstehung und Entfaltung der romanischen Kunst in Deutschland war an die Herrscherhäuser gebunden. Die Wiege der frühen Romanik liegt deshalb in Deutschland zwangsläufig in Sachsen, wo mit der Stiftskirche in Gernrode und der Michaelskirche in Hildesheim die Gründungsbauten romanischer Architektur entstanden. Nach dem Ende der Ottonen 1024 ging die politische Führungsrolle an die Salier über, zugleich verlager-

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te sich der kunstgeschichtliche Schwerpunkt an den Mittelrhein, wo Konrad II. (1024 – 1039) und Heinrich IV. (1056 – 1106) mit dem Dom zu Speyer das bedeutendste Bauwerk des 11. Jh. in Deutschland errichten ließen. Infolge des Machtverlustes des jungen französischen Königtums traten in Frankreich andere Kräfte auf den Plan. Und diese waren in der Hauptsache die Klöster. Wie konnte es dazu kommen? Um diese Frage schlüssig beantworten zu können, müssen wir kurz auf die Situation des Mönchtums im 9.  /  10. Jh. zurückblicken. In karolingischer Zeit hatte das Mönchtum eine staatstragende Rolle, es war in die Reichsorganisation Karls des Großen eingebunden. Als Konsequenz aus dieser Symbiose geriet das Mönchtum, als die karolingische Herrschaft zerfiel, in eine existentielle Krise. Die klösterliche Zucht verfiel, Anfang des 10. Jh. befand sich das westfränkische Mönchtum auf einem Tiefstand. Aus dieser Talsohle führte es die von Cluny (gegründet 910) ausgehende Reform zu neuer Blüte. Doch jetzt war die Situation des wiedererstarkten Mönchtums eine andere als zu Zeiten Karls des Großen. Frei von politischer Bevormundung konnten die Klöster eine Wirkung entfalten, die bedeutend weiter reichte als jemals zuvor, und so übten sie einen tiefgreifenden Einfluss auf die mittelalterliche Gesellschaft Frankreichs aus. Dem rauflustigen Rittertum etwa suchte man mit der Treuga Dei (Gottesfrieden) Zügel anzulegen, indem Kampfhandlungen auf wenige Tage in der Woche beschränkt wurden. Frauen, Reisende und Kaufleute genossen Schutz dank der von mönchischer Seite formulierten Sanktionen. Jedem, der sich an diesen Personengruppen vergriff, drohte der Kirchenbann. Zudem erwiesen sich die Mönche als Förderer einer ländlichen Kultur, was sich mit den Interessen der Feudalherren deckte. Ihre Klöster entstanden oft – vergleichbar den Burgen weltlicher Herren – auf Anhöhen. Der Mont St-Michel ist dafür das eindrucksvollste Beispiel. Wo die Mönche dagegen in versumpften Ebenen oder in dichten Wäldern siedelten, führte ihr Pioniergeist zur Urbarmachung brachliegenden Landes. Dergestalt waren sie maßgeblich am Aufblühen der Wirtschaft des 11.  /  12. mitbeteiligt. Weitere Aufgabengebiete der Klöster waren die Archivierung, das Unterrichtswesen und die Krankenpflege. Die grosse Wallfahrt des Mittelalters

Die Mönche profilierten sich ebenfalls in der Organisation der Pilgerbewegung. Die wichtigsten Ziele der christlichen Pilger waren Rom und, solange dies nach dem Erfolg des Ersten Kreuzzugs möglich war, Jerusalem. Daneben entfaltete Santiago de Compostela als Grablege des Apostels Jakobus des Älteren eine steigende Popularität, so dass Santiago im 12. Jh. zeitweilig Rom und Jerusalem überflügelte. Die Entdeckung des Apostelgrabes um das Jahr 820 hatte zunächst kaum mehr als lokale Bedeutung und diente vor allem der Selbstaufwertung

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der Herrscher im damals noch jungen christlichen Königreich Asturien. Mit den fortschreitenden Erfolgen der Reconquista (Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den Muslimen) entstanden im 11. Jh. die christlichen Königreiche Aragón, Navarra und León in Nordspanien, so dass fortan der Weg zum Apostelgrab den europäischen Christen offen stand. Mitte des 11. Jh. setzte deshalb die ­Internationalisierung der Pilgerfahrt nach Santiago ein, und es ist kein Zufall, dass deren Zahl von Franzosen deutlich angeführt wurde. Man nannte deshalb schon damals den Pilgerweg durch Nordspanien den Camino Francès, den Frankenweg. Durch Frankreich formierten sich damals vier Hauptrouten des Jakobswegs: Die Via Touronensis trägt ihren Namen nach der Stadt Tours. Hier verehrte man den hl. Martin, den Nationalheiligen der Franken. Ausgangspunkt dieses Weges war Paris. Von dort führte er über Tours, Poitiers und Bordeaux in die Pyrenäen. Die Via Lemovicensis ist nach Limoges benannt, damals das Zentrum der französischen Emailkunst. Ihr Ausgangspunkt war Vézelay in Burgund, von dort ging es über La Charité-sur-Loire bzw. Nevers, Limoges und Périgueux in die Gascogne. Die Via Podiensis ist die einzige der vier Routen, die nach ihrem Ausgangsort benannt ist, nach Le Puy (Auvergne). Von hier führte der Weg der Pilger über Conques, Cahors und Moissac in die Pyrenäen. Bei Ostabat liefen diese drei Wege zusammen. Von dort ging es über den Pass von Roncesvalles nach Spanien. Die Via Tolosana ist nach Toulouse benannt und begann in Arles. Die w ­ ichtigsten Stationen: St-Gilles, St-Guilhem-le-Désert, Toulouse und Auch. Von dort, von der Hauptstadt der Gascogne, bog der Weg nach Süden ab. Letzte Station in Frankreich war Oloron, bevor es von dort über die Pyrenäen (Col de ­Somport) weiterging. Südlich von Pamplona traf dieser Weg auf den Camino Francès. Diese Routen beschreibt der Pilgerführer des 12. Jh., den man früher den „Codex Calixtinus“ genannt hat in der irrigen Meinung, Papst Calixtus II. (1119 – 1124) habe ihn verfasst. Die Forschung hält den aus dem Poitou stammenden Mönch Aimery de Picaud für den Autor, der sich am Ende des Codex bescheiden nur als dessen Überbringer nennt. Man spricht deshalb jetzt vom „Liber Sancti Jacobi“. Es handelt sich dabei um eine Kompilation von fünf verschiedenen Büchern unterschiedlichen Inhalts. Nur der fünfte, der letzte Abschnitt, ist als Pilgerführer zu verstehen. Geradezu betulich gibt der Autor darin unterschiedliche Tipps, warnt vor bestimmten Spelunken und halsabschneiderischen Wirten. Diesen ersten Reiseführer der abendländischen Touristik-Geschichte dürften allerdings nur geistliche Pilger mitgeführt haben, da die meisten Jacquaires des Lesens nicht mächtig waren. Entlang der Pilgerrouten entstanden Klöster, Pilgerhospize und Totenkapellen. Die Pilgerrouten entwickelten sich zu pulsierenden Lebensadern. Da auch Künstler nach Santiago zogen, fand entlang der Wege eine lebhafte Vermittlung

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statt. So gelangten baukünstlerische und ikonographische Motive von Spanien bis nach Skandinavien, und besonders innerhalb Frankreichs kam es zu einem lebhaften kulturellen Austausch, der zu einer wechselseitigen Befruchtung der Regionen beitrug.

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n den Bauwerken der französischen Romanik fallen fundamentale Unterschiede auf. Generell lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Die Bauten der einen Gruppe sind aus einem kleinen, nur grob bearbeiteten Bruchstein errichtet und besitzen eine verhaltene Gliederung in Gestalt von Lisenen (flachen, senkrecht der Wand aufgeblendeten Streifen) und kleinen Friesen von Blendarkaden (der Wand aufgeblendeten Bogenreihen). Die Vertreter der anderen Gruppe sind dagegen aus sorgfältig bearbeiteten Quadern erbaut und besitzen plastische Gliederungen in Gestalt von Diensten (vorgelagerten Viertel-, Halb- oder Dreiviertelsäulen) und Rundstäben. Die Bauten der ersten Gruppe erscheinen flächig und infolge einer zurückhaltenden Durchfensterung im Innern dunkel und ernst. Die anderen dagegen besitzen größere Fenster, sind entsprechend heller und erscheinen wie plastisch geformte Körper. Früher hat man darin einen zeitlichen Abstand sehen wollen, und die französische Kunstgeschichte unterscheidet zwischen einem Premier Art Roman des 11. und einem Second Art Roman des 12. Jh. Der katalanische Kunsthistoriker und Architekt Puig y Cadafalch hat schon in den 1930er Jahren das Phänomen der unterschiedlichen Bauauffassungen anders gedeutet. Demnach handelt es sich hier nicht um den Ausdruck verschiedener Epochen, sondern um den Niederschlag differenter kunstlandschaftlicher Bezüge. Der Ursprung der flächenhaften Architektur des Premier Art Roman wurzelt in der Baukunst Oberitaliens, konkret der Lombardei. Die Lombarden gehören seit jeher zu den wanderfreudigsten Künstlern in Europa. Namentlich in der Romanik zogen sie durch weite Teile des Kontinents und wurden an den unterschiedlichsten Orten tätig. Am deutlichsten haben sie ihre Spuren in Katalonien, in Südfrankreich und in Burgund, im Rheinland und in Süddeutschland hinterlassen. Ja, wir können ihre Spuren bis nach Skandinavien verfolgen. Cadafalch spricht deshalb vom ostromanischen Kunstkreis. Die Verwendung des Quaders und bauplastischer Gliederungsformen tritt hingegen zum ersten Mal in der Normandie auf. Die mit der Normannen-Architektur einhergehende fort-

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schreitende Aufbrechung der Wandflächen, die in letzter Konsequenz der Gotik den Weg geebnet hat, hat sich noch im 11. Jh. vor allem in den Westprovinzen Frankreichs durchgesetzt. Cadafalch hat dafür den Begriff des westromanischen Kunstkreises geprägt. Dieser sollte im Laufe des 12. Jh. seinen Siegeszug in ganz Frankreich sowie im übrigen Europa antreten. Ihm, dem westromanischen, und nicht dem ostromanischen Kunstkreis, gehörte im 12. Jh. die Zukunft. Beginn der Romanik

Frankreich gehört neben Deutschland, Italien und Nordspanien zu den Kernländern der Romanik. Ihr Beginn ist mit dem Werden Frankreichs verknüpft und damit in die Zeit um das Jahr 1000 anzusetzen. Nach diesem Wendedatum setzte eine geradezu fieberhafte Bautätigkeit ein, es ist das erste Kapitel der französischen Kunstgeschichte. Früher hat man gemeint, der Weltuntergangsglaube, der an das Jahr 1000 geknüpft war, habe die Baufreude vor der Jahrtausendwende gebremst. Heute sieht man das nüchterner, eine kollektive Weltuntergangsangst hat die Menschen damals nicht gelähmt. Vielmehr waren es die äußeren Umstände, die dieses Frühlingserwachen im frühen 11. Jh. plausibel machen. Die Normannengefahr wurde schon im 10. Jh. wirkungsvoll gebannt. Desgleichen hatte man die Araber in die Schranken verwiesen, die im Laufe des 10. Jh. ihre letzten Bastionen in Südfrankreich geräumt hatten. Man hat die Zeit zwischen 850 und 950 ein „Dunkles Jahrhundert“ genannt. In Deutschland ging dieses früher zu Ende, in Frankreich brach erst um das Jahr 1000 das Klima eines neuen Lebensgefühls an, dessen steingewordener Ausdruck die romanische Kunst geworden ist. Die lokalen Bauschulen

Nirgendwo sonst in Europa hat die Architektur einzelner Landschaften derart ausgeprägte Eigenarten angenommen wie in Frankreich. Es gibt keine einheitliche französische Romanik, besser spricht man von der Kunst der Romanik in Frankreich. Die Kunstlandschaften, die in der Romanik zu Bedeutung gelangten, traten nicht gleichzeitig, sondern sukzessive auf den Plan. Am Beginn stehen die Normandie, Burgund und der Pyrenäenraum, es folgen Ende des 11. Jh. die Auvergne, Aquitanien und Poitou, zuletzt beschließt die Provence im 12. Jh. den Reigen. Normandie

Die Landschaft im Nordwesten Frankreichs war im 9. Jh. schutzlos den Überfällen der Normannen ausgesetzt. Von hier segelten sie bis Paris, das sie im Jahr 845 brandschatzten. 910 tauchten die „Nordmänner“ erneut vor den Toren von

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Paris auf, dieses Mal unter der Führung des Wikingerfürsten Rollo. Aber dieser Versuch einer Eroberung blieb erfolglos. Nun vollzogen die Normannen eine rasche Kehrtwende. 911 ließ sich Rollo taufen und nahm das Angebot Karls des Einfältigen an, in Rouen sesshaft zu werden. Dort nahm er den Titel des Grafen von Rouen an. Seine Nachfolger vergrößerten das Territorium nach Westen und nannten sich fortan Herzöge der Normandie. Wilhelm der Eroberer (1027  /  28 – 1087) regierte ab 1035 als Wilhelm II. über die Normandie. 1066 erweiterte er seinen Herrschaftsbereich durch die Eroberung Englands, wo er seither als Wilhelm I. den englischen Thron besetzte. Die Blütezeit der Normandie fällt in die Zeit zwischen 1060 und die Wende vom 11. zum 12. Jh. Das Verblüffende ist, dass die Normannen, die als heidnische Invasoren in das Land eingefallen waren, in weniger als 100 Jahren zu engagierten Verfechtern des christlichen Glaubens mutierten und die erste Bauschule der Romanik in Frankreich hervorbrachten. Die Besonderheit der normannischen Bauschule ist die Ausbildung des „mur épais“ (fette Mauer), wie Jean Bony (1908 – 1995) die Art der Konstruktion genannt hat. Die wörtliche Übersetzung ist missverständlich, da man spontan an geschlossene Wandflächen denkt. Das Gegenteil ist der Fall! Das französische Wort „épais“ müsste man im Deutschen freier mit „plastisch“ übersetzen. Die Baukunst der Normandie zielte von Anbeginn auf eine Durchbrechung der Wand. Bereits im ältesten der heute noch erhaltenen Bauten, der Abteikirche Nôtre-Dame in Bernay (Baubeginn bald nach dem Jahr 1000), ist zwischen die Arkaden (Bögen) des Untergeschosses und der Fensterreihe im Obergaden (der oberen Wandzone) der basilikalen Hochschiffwand ein Zwischengeschoss mit kleinen Zwillingsarkaden eingeschoben, eine Frühform der Empore. Diese Entwicklung setzt sich in der Abteikirche Nôtre-Dame in Jumièges (Baubeginn 1040) fort. Hier hat sich das Zwischengeschoss zur Empore emanzipiert. Zudem fallen die halbrunden Dienste auf, die als Unterteilung der Joche (Gewölbeabschnitte zwischen zwei Pfeilern oder Säulen) in der Hochschiffwand aufgehen, ein Gliederungselement, das in Bernay noch fehlt. Erhalten blieb auch die Zweiturmfassade, die erste ihrer Art in der Normandie, die noch in ungeschlachten Formen gehalten ist. Die Form der Zweiturmfassade hatte man aus Burgund übernommen, wo dieser Typ seinen Ursprung hat (St-Philibert in Tournus). Auf Jumièges folgen die Kirchen St-Etienne und Ste-Trinité in Caen (Baubeginn in beiden Fällen um 1063), erstere von Wilhelm I., letztere von seiner Frau Mathilde von Flandern initiiert. Beide Bauten gehören zu den ersten Monumentalbauten der Romanik in Frankreich (St-Etienne ist 110 m, Ste-Trinité 81 m lang), beide besitzen eine Zweiturmfassade. Das Prinzip der Wandaufbrechung im Innern ist weiter fortgeschritten. In St-Etienne erreicht die Empore dieselbe

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Höhe wie das darunter befindliche Arkadengeschoss, in Ste-Trinité haben sich die Baumeister für ein Triforium (Zwischengeschoss in Form eines Laufgangs) anstelle der Empore entschieden. In beiden Bauten ist das Motiv der Dienste zu einem festen Bestandteil der Architektur geworden. Was sind die tieferen Gründe für diese Neuerungen, die die gesamte mittelalterliche Baukunst in Europa revolutionierten? Die Ursache liegt in der Herkunft der Initiatoren! Als die Normannen zu Beginn des 10. Jh. von dem neuen Land Besitz ergriffen, war ihnen das Bauen in Stein unbekannt. Nachweislich wurden die ersten Kirchen in der Normandie aus Holz errichtet (nichts davon ist erhalten, aber die Tatsache ist quellenmäßig belegt). Nun gelten für ein hölzernes Gebäude andere Gesetzmäßigkeiten als für ein steinernes. Im Steinbau werden Steine – hier sind es Quader – zu einer glatten Fläche übereinander gefügt, im Holzbau entsteht aus einzelnen Balken ein Gerüst, dessen Zwischenräume gefüllt werden. So gesehen erscheint der normannische Kirchenbau der Romanik wie die Übersetzung der Holzbauweise in Stein. Indem dieses neuartige Prinzip der Gestaltung von Wänden – Füllmauern innerhalb eines struktiven Gerüsts aus bauplastischen Gliedern – die gesamte Baukunst Frankreichs im Mittelalter durchdrungen hat, ist die romanische Architektur letztlich Ausdruck einer Synthese aus germanischem Holz- und mittelmeerisch-antikem Steinbau. Als die wichtigsten Bauten der normannischen Romanik entstanden, steckte die Wölbetechnik noch in ihren Kinderschuhen. Großbauten wie jene in der Normandie konnte man damals noch nicht einwölben. Heute aber besitzen fast alle diese normannischen Kirchen Wölbungen. Diese erhielten sie im 12. Jh., als das technische Know-how weiter fortgeschritten war. Nur zwei Bauten, die erst im 12. Jh. entstanden, erhielten von Anbeginn ihre Einwölbung mit Kreuzrippen: St-Martin-de-Boscherville und Ste-Trinité in Lessay, die zugleich am Ende der großen Zeit der Normannen-Architektur stehen. Mit der Eroberungspolitik der Normannen im Westen drang auch ihre Bauweise nach England vor, wo sich die Weiterentwicklung in Richtung auf die Gotik schrittweise vollzog. Man kann deshalb die anglo-normannische Architektur unmöglich von der Entwicklung auf dem Kontinent losgelöst betrachten. Burgund

Früh zu Bedeutung gelangte die Romanik auch in Burgund, wo die Gründungsbauten dieser Epoche errichtet wurden. Im Falle dieser Landschaft erscheint es geraten, zunächst ihre historische Identität gegenüber anderen, im Mittelalter gleichfalls mit dem Namen Burgund verbundenen Herrschaftskomplexen zu definieren. Gemeint ist in unserem Zusammenhang die heutige französische

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Provinz Bourgogne bzw., bezogen auf das Mittelalter, das Herzogtum Burgund. Dieses Herzogtum Burgund ist nicht zu verwechseln mit den zunächst selbständigen karolingischen Nachfolgestaaten Nieder- und Hochburgund, die Mitte des 10. Jh. zu einem einzigen Königreich Burgund – auch Arelat genannt – fusionierten. 1032, nach dem Tod König Rudolfs III., fiel dieser ausgedehnte Komplex zwischen Schwaben und der provenzalischen Mittelmeerküste an das Deutsche Reich. Sowohl die frühmittelalterliche Geschichte als auch die geographische Situation haben dazu geführt, dass Burgund unter den Kunstlandschaften Frankreichs eine Sonderstellung einnimmt. Keiner der Invasoren, die im Laufe des 8. bis 10. Jh. das Land in Angst und Schrecken versetzten, erreichte den Boden Burgunds. Burgund bildete inmitten chaotischer Zeiten einen Ruhepol. Das führte dazu, dass Mönche aus anderen, bedrohten Landesteilen hier Zuflucht suchten. Das bekannteste Beispiel sind die Mönche von der Atlantikinsel Noirmoûtier, die sich nach jahrzehntelanger Irrfahrt durch ganz Frankreich in Tournus niederließen. Bezeichnenderweise gründete Herzog Wilhelm V. der Fromme von Aquitanien das Reformkloster Cluny nicht in seinem Stammland im Südwesten, sondern in Burgund. Dies erklärt auch, warum in Burgund früher als in anderen Landschaften die Wiederbelebung des Klosterwesens einsetzte und die Zahl der Reliquien wie der Mönche gerade in diesem Landstrich besonders hoch war. Geographisch ist Burgund weniger definiert als manche andere Region Frankreichs, es fehlen markante Grenzen. Die Landschaft hat vielmehr nach allen Himmelsrichtungen etwas Fließendes. Diese Offenheit brachte es mit sich, dass Burgund Anregungen von Norden und Süden, von Westen und Osten aufnahm und zugleich in die eine oder andere Richtung weiter vermittelte. Die im 11. Jh. in Burgund errichteten Gründungsbauten der Romanik sind St-Philibert in Tournus, St-Etienne in Nevers und St-Bénigne in Dijon, jeder für sich eine unverwechselbare Einzelerscheinung. Die Grundsteinlegung in Tournus fand im Jahr 1007 statt. Entgegen mittelalterlicher Baupraxis begann man mit der Errichtung der Kirche im Westen mit dem Narthex (Vorhalle). Dieser stellt einen kubisch geschlossenen Block aus Bruchsteinen dar. Lisenen und Blendarkadenfriese gliedern die schmucklose Westseite. Hier müssen Lombarden mitgewirkt haben, denn das Bild der Architektur vertritt stilrein den ostromanischen Kunstkreis. Eine Besonderheit sind die beiden Türme. Der rechte, südliche, ist ein eingeschossiger Stumpf mit einem Satteldach als Abschluss. Dieser stammt aus der Ursprungszeit. Ihm zu Seiten befand sich ein Pendant, das im 12. Jh. einem Nachfolgebau weichen musste. Dieser ist mehrgeschossig, reich gegliedert und besitzt ein Pyramidendach – ein typischer Vertreter der westromanischen

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Kunstauffassung, die damals nach Burgund vorgedrungen war. Der Innenraum der Basilika, die sich an den Narthex anschließt, ist dem lombardisch-ostromanischen Erbe verpflichtet. Zunächst war St-Philibert als Basilika mit einem offenen Dachstuhl geplant. Im Verlauf der Baumaßnahmen fand ein Planwechsel statt. Unter dem Eindruck der ersten gewölbten Bauten entschloss man sich nun auch hier, die bereits in Bau befindliche Kirche einzuwölben, was natürlich drastisch veränderte statische Verhältnisse schuf. Anstatt das Mauerwerk nachträglich zu verstärken, entschloss sich der verantwortliche Baumeister zu einer unkonventionellen Lösung. Anstelle einer Halbtonne im Mittelschiff, die sich damals als gängiges Muster der Romanik durchzusetzen begann, stellte er mehrere kleine, quer angeordnete Tonnen derart zusammen, dass sie sich an ihren Fußpunkten berühren und sich gegenseitig stützen – man spricht von Transversaltonnen. So entstand das erste sich selbst tragende Gewölbe der Nachantike. Es bleibt unverständlich, weshalb dieses überzeugende Prinzip, das den Säulen ihre schlanken Proportionen bewahrte, die Wände auffallend dünn beließ und eine großzügige Durchfensterung erlaubte, keine Nachfolge fand. Der Chor schließlich, der im 12. Jh. entstand, besitzt den für Pilgerkirchen in Frankreich kennzeichnenden Grundriss mit einem Umgang und Radialkapellen (strahlenförmig daran angebaute Kapellen). Er fußt auf den Grundmauern der älteren Krypta aus dem späten 10. Jh., in der dieser Grundriss bereits vorgegeben war. St-Philibert besitzt damit neben der zerstörten Kirche St-Martin in Tours und der gleichfalls nicht mehr existenten Kathedrale in Clermont-Ferrand (dort erhebt sich heute ein gotischer Nachfolgebau) einen der ältesten Chöre mit Umgang und Radialkapellen. Dieser Bautypus ist aus der Pilgerbewegung hervorgegangen und erfüllte den Zweck, den Strom der Pilger um das Chorhaupt herumzuführen. Viele Kirchen, die an den Pilgerrouten liegen, weisen dasselbe Muster auf. Von ganz anderer Art ist St-Etienne in Nevers an der Loire, die die westliche Grenze Burgunds darstellt. In St-Etienne hat man den glatten Quader und die Empore als Errungenschaft der Normandie aufgegriffen (Bauzeit: 1060 – 1090). Da St-Etienne aber – anders als die Kirchen in der Normandie – mit einer Halbtonne eingewölbt wurde, schwebt die Wölbung ohne sicheren Halt über den Seitenschiffen. Hier dient die Empore zwar der Öffnung der Wand, aber zugleich macht sie diese instabil. Statiker sprechen von einem Wunder, dass diese Kirche nicht schon längst eingestürzt ist. Aber Quadertechnik und Empore machen deutlich, wie sich bestimmte Neuerungen innerhalb Frankreichs, salopp gesagt, auf Wanderschaft begaben. Die kulturhistorische Funktion von St-Etienne bestand in der Hauptsache darin, die Empore der benachbarten Auvergne zu vermitteln, in deren Baukunst das Motiv um 1100 eine überraschende neue Interpretation erfuhr.

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4  Tournus, St-Philibert, Innenansicht

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Der dritte Gründungsbau der Romanik in Burgund, St-Bénigne in Dijon, steht wie St-Philibert eng mit dem ostromanischen Kunstkreis in Verbindung. Bauherr war der selbst aus der Lombardei stammende Abt Wilhelm von Volpiano (962 – 1031), ein Verfechter der cluniazensischen Reform. Im Jahr seiner Priesterweihe 990 wurde er umgehend Abt des Reformklosters in Dijon, 11 Jahre später berief ihn Herzog Richard II. auf den Abtsposten im normannischen Fécamp. In der oberitalienischen Heimat hat der umtriebige Wilhelm die Abtei Fruttuaria gegründet, die ihrerseits in engem Kontakt mit Abteien in Deutschland stand, u. a. mit der im Jahr 2011 aufgelösten Traditionsabtei St. Michael in Siegburg. In Dijon, der Hauptstadt des Herzogtums Burgund, ließ Wilhelm einen Bau errichten, der damals neue Größenmaßstäbe setzte: eine fünfschiffige Basilika, Zeichen höchsten Anspruches – allerdings ungewölbt. An diese schloss sich nach Osten eine dreistöckige Rotunde an, in deren Kryptengeschoss sich das Märtyrergrab des Benignus befindet; den Abschluss bildete der Chor der Mönche. Eine solche Bauschöpfung stand kurz nach dem Jahr 1000 einzigartig in Europa da. Im 13. Jh. musste der Bau, inzwischen zur Kathedrale erhoben, einem gotischen Neubau weichen, von dem lediglich die Rotunde unbeeinträchtigt blieb. Diese wurde erst in der Revolution ein Opfer der Spitzhacke. Mitte des 19. Jh. entdeckte man deren Untergeschoss wieder, das daraufhin frei gelegt und wiederhergestellt wurde. Die im 11. Jh. in Burgund errichteten Gründungsbauten der Romanik repräsentieren noch eine Phase des Experimentierens. Erst gegen Ende des 11. Jh. bildeten sich hier zwei feste architektonische Typen heraus. Den ersten, relativ einfachen Typus vertritt die Kirche Ste-Trinité in Anzy-le-Duc im Süden der Landschaft. Sie wurde im 11. Jh. begonnen und im 12. Jh. vollendet; genaue Baudaten sind nicht überliefert. Sie vertritt einen neuen, relativ einfachen Bautypus: Das basilikale Langhaus ist dreischiffig, die Hochschiffwand zweigeschossig mit Arkade und Obergaden. Anstatt des in dieser Zeit verbreiteten Musters der Längstonne hat man sich hier für Kreuzgratgewölbe entschieden. Das Muster dieses ersten Schultyps gelangte in der Kirche Ste-Madeleine in Vézelay zu seiner ausgereiften Form. Vézelay war damals Ziel einer eigenen Wallfahrt, die die Pilger zum Grab der Büßerin Magdalena zog, einer besonders populären Identifikationsfigur der Gläubigen, zugleich war Vézelay Ausgangspunkt eines der vier Hauptwege nach Santiago de Compostela. Obwohl das Kloster damals von Cluny abhing, war man bestrebt, sich vom Mutterkloster in baukünstlerischer Hinsicht abzugrenzen. Ste-Madeleine (erbaut 1120 – 1150) ist eine ins Großformat gesteigerte Version von Anzy-le-Duc, die zudem ein arabisches Motiv aufgreift: Die Gurtbögen, die die Joche des Mittelschiffs voneinander scheiden, sind

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aus Keilsteinen geformt, die abwechselnd aus rotem Sand- und aus gelbem Kalkstein bestehen. Das daraus resultierende Farbenspiel hat in Bauten Andalusiens seine Vorbilder. Neben dieser ersten Bauschule Burgunds riefen die Cluniazenser Ende des 11. Jh. eine zweite ins Leben. Aber bevor wir darauf eingehen, kurz ein paar Bemerkungen zu dieser wichtigsten Abtei des mittelalterlichen Frankreich. Von der Reform, die von Cluny ausging, war bereits die Rede. Welches sind aber die Faktoren, die den faszinierenden Höhenflug dieses Klosters begründen, das manche Zeitgenossen als ein Nova Roma priesen? Zuvorderst ist der Rechtsstatus zu nennen. Cluny besaß das Privileg der Exemtion, das damals nur wenige andere Abteien genossen. Konkret bedeutete diese Auszeichnung, dass Cluny direkt dem Papst unterstellt war. Ein anderer Faktor sind die starken Persönlichkeiten der Cluniazenser Äbte und deren auffallend lange Amtsperioden: Odo amtierte 15 Jahre (927 – 942), Majolus stolze 31 Jahre (936 – 994) und Odilo (994 – 1049) und Hugo von Semuar (1049 – 1109) sogar mehr als ein halbes Jahrhundert. In Cluny folgten drei Abteikirchen aufeinander. Von der ersten, man nennt sie Cluny I, haben wir keine Kenntnis. Sie wird vermutlich ein eher bescheidenes Sanktuarium gewesen sei. Von großem Maßstab war dagegen die Cluny II genannte Kirche, die Mitte des 11. Jh. auf den ersten Bau folgte. Ihr Aussehen ist überliefert. Das auffallendste Merkmal dieser dreischiffigen Basilika war ihr Chor. Er bestand aus fünf parallel angeordneten Kapellen, die von der Mittelapsis zu den Seiten schrittweise an Tiefe abnahmen. Man nennt diese Form den Benediktinischen Chor oder auch Staffelchor. Die Anordnung der Sanktuarien im Osten der Klosterkirche trug den liturgischen Bedürfnissen einer Klostergemeinschaft Rechnung und hatte keinen Bezug zur Pilgerbewegung. In der Nachfolge von Cluny II entstanden auch andernorts derartige Staffelchöre. Die beiden größten mit jeweils sieben gestaffelten Kapellen befinden sich in Châteaumeillant im Berry und in St-Sever in der Gascogne. Der Bezug zur Pilgerbewegung entstand erst mit dem Neubau der Kirche Cluny III, zu der Abt Hugo 1088 den Grundstein gelegt hatte. Es sollte das ehrgeizigste Projekt einer Klosterkirche im europäischen Mittelalter werden. Bis zum Neubau von St. Peter in Rom war Cluny III die größte Kirche der Welt (Länge: 187 m, Höhe des Mittelschiffs: 32 m). Die gewaltigen Dimensionen sind ein Spiegel des Geltungsanspruchs der damals einflussreichsten Mönchsgemeinschaft. Alles erscheint in Verdoppelung: die Basilika war fünfschiffig und besaß zwei Querhäuser, um den Chorumgang legten sich fünf anstatt der üblichen drei Radialkapellen. Mit der Errichtung des dreischiffigen Narthex und der Zweiturmfassade brachte der letzte der großen Cluniazenseräbte, Petrus Venerabilis

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(1124 – 1156), das Projekt nach einer ungewöhnlich kurzen Bauzeit von nur 40 Jahren zum Abschluss. Nicht nur die Dimensionen setzten neue Maßstäbe, auch in stilgeschichtlicher und baustatischer Hinsicht haben die Mönche mit Cluny III ein neues Kapitel der Architekturgeschichte geschrieben. Die Hochschiffwand besaß einen dreigeschossigen Aufriss mit der Abfolge von hoch gestelzter Arkade, Blendtriforium (Zwischengeschoss aus Arkaden ohne Laufgang) und dem Obergaden. Bei der Frage, wie man das Problem der Einwölbung lösen sollte, musste man sich von der halbrunden Tonne verabschieden. Deren stark zu den Seiten wirkender Schub hätte Mauermassen unvorstellbaren Ausmaßes erfordert. Die Cluniazenser erdachten ein System, das bereits eng mit der Gotik zusammenhängt bzw. auf diese hinarbeitete. Man kreierte den zugespitzten Bogen bzw. die in ihrem Scheitel zugespitzte Tonne. Mithilfe dieser scheinbar geringfügigen und dennoch in ihrer Wirkung weittragenden Innovation wurden die Schubkräfte stärker vertikalisiert, zugleich stieß man das Tor zu Größenmaßstäben auf, die das Mittelalter bis dahin nicht gekannt hatte. Das Schicksal von Cluny ist bekannt. Anfang des 19. Jh. war der gigantische Bau an einen Abbruchunternehmer verkauft worden, der die Kirche kurzerhand in die Luft sprengte, um an billiges Baumaterial zu kommen. Die Gemeinde hatte sich zuvor ausbedungen, wertvoll erscheinende Fragmente aus dem Bauschutt bergen zu dürfen. So wurden jene Kapitelle gerettet, die heute im Musée du Farinier ausgestellt sind. Ansonsten hat nur der südliche Arm des vorderen Querhauses die Zerstörung überstanden. Cluny III diente einer ganzen Bautenfamilie als Vorbild, von denen einige die Zerstörungswut der Revolutionsjahre überdauert haben. Will man die Vorstellung vom einstigen Aussehen von Cluny III vertiefen, so muss man den Blick auf diese Bautenfamilie lenken. Cluny III am engsten verwandt ist die Prioratskirche in Paray-le-Monial, die in der Kunstgeschichte salopp ein „Cluny im Taschenformat“ genannt wurde. Tatsächlich zeigt sich alles auf Normalmaß reduziert – drei Schiffe, ein Querhaus und drei Radialkapellen. Aber die formale Gestalt ähnelt dem Vorbild wie ein Ei dem anderen. Die steile Proportionierung verdeutlicht, dass, fundamental anders als in der zweiten, durch Vézelay vertretenen Bauschule Burgunds, das Vertikalstreben vor dem Ausgleich zwischen Höhe und Breite den Vorrang genießt, neben dem Spitzbogen ein weiteres Kriterium, das auf die folgende Gotik hinweist. Andere Bauten innerhalb Burgunds traten in Konkurrenz zu Cluny, obwohl sie als Priorate kirchenrechtlich gesehen im zweiten Glied standen. Ein solches Beispiel ist die Prioratskirche in La Charité-sur-Loire mit ihrer Fünfschiffigkeit und fünf Radialkapellen bei einer Länge des Bauwerks von 122 m. Vor allem in der Fülle der Baudekoration trachtete man das Vorbild auszustechen.

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5  Paray-le-Monial, ehem. Prioratskirche von Westen

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Nicht nur Klöster orientierten sich an Cluny III, auch die Weltgeistlichkeit begeisterte sich für die neue Bauschule, allen voran Bischof Etienne de Bagé in Autun. Dessen Kathedrale St-Lazare entstand in den Jahren 1120 – 1146. An ihr fällt neben der reichen Bauzier, die auf römisch-antike Vorbilder zurückgeht, und den Skulpturen des Meisters Gislebertus die von Cluny III abweichende Gestalt des Chores auf. Man verzichtete auf den Pilgerchor und errichtete stattdessen eine schlichte Drei-Apsiden-Anlage, und das ausgerechnet in einem Ort, der ein stark frequentiertes Pilgerziel war. Die Erklärung ist denkbar einfach. In Autun verehrte man die Reliquien des hl. Lazarus, dessen sterbliche Überreste wie die seiner Schwester Magdalena im 8. Jh. aus Südfrankreich hierher gebracht worden waren, um sie vor den Sarazenen zu retten. Die Bibel erzählt von zwei Männern desselben Namens. Einmal erscheint er im Gleichnis, das Jesus vom armen Lazarus mit seinen schwärenden Wunden und dem reichen Prasser erzählt, ein anderes Mal handelt es sich um jenen Lazarus, den Christus zum Leben erweckte. In dem einen Fall ist Lazarus eine fiktive, in dem anderen eine historische Person. Dem Mittelalter waren solche Unterschiede unwichtig. Man setzte beide Lazarus-Gestalten gleich, und so wurde daraus der Schutzpatron der Leprösen. Diese pilgerten in der Hoffnung auf Heilung zahlreich nach Autun. Aber die Kathedrale durften sie natürlich nicht betreten. Damit blieb der personenstärkste Kreis der Wallfahrer aus dem Gebäude ausgesperrt, der komplizierte und kostspielige Bau eines Pilgerchores war überflüssig. Der Pyrenäenraum

Neben der Normandie und Burgund gehört auch der Pyrenäenraum, insbesondere das Roussillon im Osten des Gebirges, zu den Führungslandschaften, die im frühen 11. Jh. an der Entstehung der Romanik mitgewirkt haben. In unserer Vorstellung sind die Pyrenäen eine von der Natur geschaffene Barriere, gleichsam eine von der Schöpfung gewollte Grenze zwischen Frankreich und Spanien – und mit dieser Fehleinschätzung setzen wir uns die von nationalstaatlicher Doktrin gefärbte Brille des 16.  /  17. Jh. auf, die die Pyrenäen in diesem Sinne definiert hat. In Wahrheit waren die Pyrenäen durchlässig und die Landschaften beidseits des Höhenzuges ein Raum kulturgeographischer Gemeinsamkeiten. Während nur die zentralen Pyrenäen mit ihrem alpinen Bergmilieu unüberwindbar sind, ist sowohl die dem Mittelmeer zugewandte Ost- als auch die dem Atlantik zugeneigte Westseite der Pyrenäen nur mäßig hoch, und beide Partien des Gebirges sind von zahlreichen Wegen durchzogen. Auf diesen sind schon die Sippen des Cro-Magnon und im Mittelalter die Jakobspilger von hüben nach drüben und zurück gewandert. Auch die politische Geschichte hat diesen geographischen Gegebenheiten Rechnung getragen, indem es im Osten wie im Westen passübergeifende Staa-

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ten gab, deren Einheit erst die Neuzeit zerschlagen hat. Im Osten der Pyrenäen hatte sich schon in karolingischer Zeit die Grafschaft Katalonien konstituiert, der als nördliche Provinz das Roussillon noch bis ins 17. Jh. zugehörte. Erst im Pyrenäenfrieden 1659 wurde das Roussillon vom spanischen Teil Kataloniens abgetrennt und kam an Frankreich. Ähnlich stellt sich die Situation im Westen dar, wo sich im 10.  /  11. Jh. das Königreich Navarra formiert hatte, das sich gleichfalls auf beiden Seiten der Pyrenäen ausbreitete. 1512 trennte Ferdinand von Kastilien das spanische vom französischen Navarra ab. Ende des 10. Jh. überrannten die Muslime unter Almanzur ein letztes Mal die längst wieder christlich gewordenen Nordprovinzen der Iberischen Halbinsel. Die Folgen waren verheerend, denn die Sarazenen machten alle christlichen Bauwerke dem Erdboden gleich. Diese muslimische Okkupation blieb eine kurze Episode. Schon nach wenigen Jahren eroberten die Christen ihre Territorien zurück. Nun setzte eine geradezu fieberhafte Bautätigkeit ein, aber im Lande selbst mangelte es an geschulten Kräften. Man berief deshalb Künstler aus der Lombardei, die die neuen Kirchen errichteten und ausschmückten. Zwangsläufig wurde das Midi, der mittlere Süden des heutigen Frankreich, davon mit erfasst, ja, hier stehen sogar die wichtigsten Gründungsbauten der Romanik im Pyrenäenraum. Diese sind in erster Linie die Abteikirche in St-Michel-de-Cuxa und die Prioratskirche von St-Martin-du-Canigou. Cuxa war eine karolingische Gründung des 9. Jh., die in wenigen Jahrzehnten das bedeutendste Kloster des Pyrenäenraums wurde. 950 erhielt Cuxa wie Cluny das Privileg der Exemtion. Die Abtei war eine zentrale Schaltstelle im Grenzbereich zwischen christlichem Abendland und dem muslimisch-arabischen Machtbereich südlich der Pyrenäen. Berühmt war das Kloster vor allem wegen seiner Bibliothek, die Wissenshungrige von weither anlockte. Anfang des 11. Jh. stand Oliba Cabreta, die auffälligste Gestalt unter den Äbten von Cuxa, dem Kloster vor. In Personalunion war der mächtige Kirchenmann, der zuvor die Grafenwürde der Cerdagne abgelegt hatte, Abt von Santa Maria de Ripoll und Bischof von Vich in Katalonien. Er ließ den bestehenden Kirchenbau von Cuxa umbauen und erweitern. Die Basilika des 10. Jh. blieb davon weitgehend unberührt. Diese ist im Kern eine Bausubstanz aus vorromanischer Zeit und hängt eng mit der Architektur Nordspaniens zusammen. Dort herrschte im 10. Jh. der mozarabische Stil, dessen auffälligstes Merkmal der Hufeisenbogen ist. Die Abteikirche St-Michel-de-Cuxa ist heute der einzige Monumentalbau in Frankreich, der im Innern Hufeisenbögen in den Arkaden aufweist. Die Türme der Abteikirche – ursprünglich waren es zwei, der eine stürzte 1839 ein – sind dagegen Denkmäler des ostromanischen Kunstkreises. St-Martin-du-Canigou ist ein Ableger von Cuxa, ein Priorat in hoher Bergeseinsamkeit, zu dessen Bau im Jahr 1001 Guifred von der Cerdagne, der jün-

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gere Bruder des Oliba Cabreta, den Grundstein legte. In den Quellen wird ein Baumeister mit Namen Sclua genannt, der im Jahr 1014 das Amt des Priors von St-Marin übernahm und dieses 30 Jahre innehatte. Dieser Umstand lässt erahnen, welches Ansehen die Architekten genossen. Die Kirche ist ein Denkmal von welthistorischer Bedeutung! Sie wurde zweigeschossig mit einer Unter- und einer Oberkirche erbaut. Die Unterkirche ist eine Halle, die Kirche darüber eine Basilika. Diese sollte einen offenen Dachstuhl erhalten. Doch dann entschloss man sich zu einer Einwölbung. Das ist daran zu erkennen, dass die ursprünglichen kleinen Säulen in der Unterkirche nachträglich ummantelt und zu Pfeilern umgestaltet wurden. Alle drei Schiffe der Basilika erhielten Längstonnen. Damit ist St-Martin-du-Canigou der erste Bau der europäischen Architektur der Nachantike, der vollständig eingewölbt wurde. Hier also steht die Wiege der romanischen Wölbekunst in Frankreich. Von Osten nach Westen fortschreitend nimmt nicht nur die Zahl romanischer Denkmäler in den Pyrenäen, sondern auch deren architekturgeschichtliche Bedeutung ab. Die westlichen Pyrenäen gehörten politisch zu Navarra, ethnisch und linguistisch zum Baskenland, das einen Teil von Navarra ausmacht. Die Basken sollen sich erst spät zum Christentum bekannt haben. Bis in das 12. Jh. blieben autochthone Religionen und Riten lebendig. Das mag ein Grund für die geringe Zahl romanischer Kirchen in diesem Raum sein. Die wenigen Denkmäler gehören ausschließlich dem westromanischen Kunstkreis an, als wichtigster Bau die Kathedrale in Lescar bei Pau. Auvergne

Zu den Kunstlandschaften Frankreichs, die in der Romanik zu Bedeutung gelangten, ist auch die Auvergne zu rechnen. Sie ist das Kernland des Zentralmassivs mit seinen charakteristischen Vulkankegeln, von denen der Puy-de-Dôme mit 1465 m Höhe der größte ist. Im Gegensatz zu anderen Feudalterritorien blieb die Herrschaft über die Auvergne im Mittelalter weitgehend zersplittert. Daran vermochte auch die offizielle Lehnsabhängigkeit der Grafen der Auvergne vom Herzogtum Aquitanien und der damit verbundene Anschluss an das Angevinische Reich der Plantagenets Mitte des 12. Jh. kaum etwas zu ändern. Dessen ungeachtet hat die Auvergne eine eigenständige Bauschule hervorgebracht, die ihre kanonische Gestalt im anbrechenden 12. Jh. fand. Der vorherrschende Bautypus dieser Landschaft ist die Emporenbasilika. Die Empore war in der Normandie entwickelt und von dort nach Burgund (Beispiel St-Etienne in Nevers) vermittelt worden. Kurz nach der Fertigstellung von St-Etienne wurde Ende des 11. Jh. die Kirche Nôtre-Dame in Châtel-Montagne errichtet, die wie St-Etienne eine Empore besitzt, die als Zwischengeschoss zwischen Arkade und Obergaden

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eingeschoben ist. Auch hier besitzt die Empore eine ästhetische Funktion, keine baustatische. Der Baumeister von Nôtre-Dame-du-Port in Clermont-Ferrand, Hauptstadt der Auvergne, griff um das Jahr 1100 die Empore auf, deutete diese jedoch in einem neuen Sinn. In Nôtre-Dame hat er auf den Obergaden und damit auf eine direkte Beleuchtung des Mittelschiffs verzichtet. Stattdessen ist die über den Seitenschiffen aufgehende Empore so weit hochgezogen, dass ihre Vierteltonne an die Halbtonne der Mittelschiffwölbung heranreicht. Damit ist eine Vorform des Strebebogens geschaffen, denn die Emporenwölbung stützt die Tonne des Mittelschiffs. In der Konsequenz erscheint die Kirche innen lichtarm, es herrscht ein mystisches Halbdunkel. Die Kirche in Clermont-Ferrand wurde zum Gründungsbau einer ganzen Familie mit gleichen Eigenschaften. Die wichtigsten sind die Kirchen St-Nectaire im gleichnamigen Ort, Ste-Austremoine in Issoire und Nôtre-Dame in Orcival. Drei weitere Eigentümlichkeiten fallen an dieser Bautengruppe auf. Sie besitzen vier Radialkapellen anstatt der üblichen drei (gilt nicht für St-Nectaire). Eine weitere Eigenart ist das massif barlong, eine gestufte Erhöhung der Querschiff­ arme, mit der ein differenzierter Übergang zum Vierungsturm einhergeht. Die proportionierte Stufung des Ostbaus, die aus der Abfolge von Radialkapellen, Chorumgang, und dem Chorhaupt in Verbindung mit dem massif barlong hinauf zum Vierungsturm entsteht, nennt man die Auvergnatische Pyramide. Zuletzt sei auf die Baudekoration hingewiesen. Alle diese Kirchen besitzen an ihren Außenwänden, teils als Zier des Chores, teils an der Westseite, in Einzelfällen auch an der Langhauswand oder an den Giebeln der Querhausfassaden, Inkrustationen (Verkleidungen) aus verschiedenfarbigen Steinen: schwarzem Basalt, rotem Ziegel und gelbem Kalkstein. Diese Form farbiger Inkrustation ist ein Import aus dem muslimischen Südspanien. Mit diesem Farbenspiel haben auch die Baumeister der Kathe­drale in Le Puy gearbeitet. Die Bischöfe dieser Diözese pflegten traditionell eine enge Verbindung zu Spanien. Mitte des 11. Jh. soll Bischof Godescalc einer der ersten Prominenten gewesen sein, die sich auf die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela machten. Die Architektur dieser Kathedrale folgt nicht dem Muster der Auvergnatischen Schule, sondern setzt auf die Kuppelbauweise und hängt darin gleichermaßen mit der arabischen wie mit der Bautradition in Aquitanien zusammen. Aquitanien

In Raum Südwest-Frankreichs war es im Laufe des 10. Jh. zu einer Machtkonzentration gekommen, die Aquitanien damals zum größten Herzogtum Frankreichs aufsteigen ließ. Dazu gehörten das Herzogtum Gascogne sowie die Grafschaften Périgord, Poitou und Auvergne. Als 1137 Eleonore von Aquitanien den

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Kronprinzen Ludwig, der schon bald darauf als Ludwig VII. den französischen Thron bestieg, heiratete, bedeutete diese Verbindung einen enormen Macht- und Prestigegewinn für das französische Königtum und trug wesentlich zu dessen Aufstieg bei. Das Beispiel Aquitaniens verdeutlicht, dass die politischen Grenzen nicht zwangsläufig identisch mit denen der Kunstlandschaften sind. Wir haben gesehen, dass die Auvergne mit der Emporenbasilika einen Sonderstatus einnahm. Ein anderer Bautypus, die Kuppelkirche, die seit Ende des 11. Jh. ihre Heimat im Herzen Südwest-Frankreichs hatte, steht in hervorragenden Beispielen nicht nur im Périgord, sondern gleichfalls in der Nachbarlandschaft Quercy, das nicht zu Aquitanien, sondern zur Grafschaft Toulouse gehörte. Diese Bauschule ist zugleich eine besonders eigenwillige. Als Gründungsbauten gelten die Kathedrale in Cahors und St-Etienne-de-la-Cité in Périgueux, beide um 1090 begonnen. Es handelt sich um einschiffige Saalkirchen mit einer Reihe von Kuppeln. Die Kuppelbauweise hat zwei Wurzeln. Die eine ist die muslimisch-arabische Architektur auf der Iberischen Halbinsel, die andere die byzantinische Kunst. Letztere – konkret die (zerstörte) Apostelkirche in Byzanz – hatte beim Bau der Markuskirche in Venedig Pate gestanden, die ihrerseits das Vorbild der Kathedrale St-Front in Périgueux war. Allerdings ist diese die einzige Kreuzkuppelkirche in Frankreich geblieben, alle anderen sind Saalbauten (weitere Beispiele: Ste-Marie in Souillac, Nôtre-Dame in Trémolat). Erneut sehen wir eine Bauform, die vom Kerngebiet ihrer Entstehung den Weg in benachbarte Regionen fand. Die Kathedrale in Angoulême ist eine einschiffige Kuppelkirche, den nördlichsten Ableger finden wir in der Abteikirche von Fontevraud an der Loire mit der Grablege der Eleonore von Aquitanien, ihres zweiten Ehemanns Heinrich II. von England und ihres Sohnes Richard Löwenherz. Die Kuppelbauweise war der Tonnenwölbung haushoch überlegen. Die Kuppeln bilden im Baukontext einzelne Baldachine, die auf vier starken Stützen stehen. Die Wände zwischen diesen Pfeilern sind lediglich Füllwände, die in der Statik keine Rolle spielen. Man konnte sie deshalb sehr dünn halten, was nicht nur den Bauvorgang erheblich beschleunigte, sondern auch preismindernd zu Buche schlug. Das Baldachinsystem der Kuppelkirchen ist ein Schritt in Richtung auf die gotische Baukunst. Noch in einem anderen Punkt hat speziell das Périgord der Gotik einen wichtigen Beitrag geliefert: den Wimperg (Ziergiebel). Das ist die Bezeichnung für die dreieckigen Giebel, die bei jeder gotischen Kathedrale Portale und Fenster überfangen. Die Geburt des Wimpergs fand in der Abtei Brantôme um 1090 statt. Dort errichtete man nach Art italienischer Campanile neben der Klosterkirche einen freistehenden Glockenturm mit mehreren sich nach oben

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verjüngenden Geschossen. Über den Klangarkaden (Bogenöffnungen im Glockengeschoss) des vorletzten Stockwerks gehen steile Giebel – Wimperge – auf, die das darüber befindliche oberste Geschoss überschneiden. Auch dieses Motiv begab sich auf Wanderschaft. An den Glockenturm von Brantôme schließen sich jene in Uzerche im Limousin und der Kathedrale in Le Puy an, bald nach der Mitte des 12. Jh. fand der Wimperg Eingang in die Kathedralbaukunst Nordfrankreichs. Poitou

Obwohl die Grafschaft Poitou schon im 10. Jh. mit dem Herzogtum Aquitanien fusioniert hatte, hat sich diese Landschaft in kulturhistorischer Hinsicht ihre Selbständigkeit bewahrt und mit der Hallenkirche eine eigene lokale Bauschule hervorgebracht. Deren bedeutendste Vertreter sind Nôtre-Dame in Poitiers, St-Savin in St-Savin-sur-Gartempe, St-Pierre in Aulnay, St-Pierre in Chauvigny und St-Hilaire in Melle. Streng genommen handelt es sich nicht um Hallen im klassischen Sinn. Bei diesen sind nämlich die Gewölbe aller drei Schiffe gleich hoch. Im Poitou sind dagegen die Seitenschiffe geringfügig niedriger als das Mittelschiff. Man spricht deshalb vom Typ der Staffelhalle. Diese hängt mit der romanischen Baukunst in Nordspanien zusammen, wo die Staffelhalle gleichfalls in hervorragenden Beispielen vertreten ist (z. B. San Martín in Frómista). In einer ganz anderen Richtung bestehen Verbindungen zu Norddeutschland. Um das Jahr 1200 etablierte sich das Muster der Halle in Westfalen (Beispiele u. a. in Billerbeck, Lippstadt und Herford) und fand von dort Eingang in die Baukunst Skandinaviens und des Baltikums. Mit der Lanterne des morts (Totenlaterne) hat das Poitou eine weitere originelle Sonderform kreiert. Es handelt sich um Türmchen, die auf Friedhöfen Aufstellung fanden. Der am weitesten nach Osten vorgedrungene Ableger in Deutschland befindet sich im Hof des Zisterzienserklosters Schulpforta nahe Naumburg. Provence

Zu den Zentren der Romanik in Frankreich gehört schließlich auch die Provence. Geradezu verwirrend lesen sich hier die Besitz- und Machtverhältnisse im 12. Jh.: Infolge des Erbrechts gehörte die Provence Rhôdanienne (Niedere Provence) den Grafen von Toulouse, die Côte d’Azur und Teile der Haute-Provence (Hochprovence) den Grafen von Barcelona und nur ein Kerngebiet rund um Forcalquier dem heimischen Geschlecht der Grafen von Forcalquier. Im 13. Jh. klärten sich die Besitzverhältnisse, nachdem sich die Grafen von Toulouse und Barcelona infolge des verlorenen Katharerkrieges (1213: Niederlage von Muret)

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aus der Provence hatten zurückziehen müssen. Das Lehen vergab König Ludwig IX. an seinen Bruder Karl von Anjou, der die Provence als Sprungbrett für seine ehrgeizige Politik in Italien benutzte. Die Provence ist erst spät, Anfang des 12. Jh., mit eigenen architektonischen Leistungen auf den Plan getreten, die im engen Austausch mit Burgund entstanden sind. In der Hauptsache gibt es zwei Bautypen, den einschiffigen Saal und die dreischiffige Basilika. Die Saalkirchen sind überwiegend kleinere Bauten mit Verstärkungspfeilern, die nicht nur außen, sondern auch im Innenraum in Erscheinung treten. Man spricht deshalb vom Typ des eingezogenen Wandpfeilersaals. Die Tonnenwölbung dieser Räume ist nach cluniazensischem Muster zugespitzt. Beispiele dafür sind die Kapelle St-Gabriel bei Beaucaire und die Kirche in St-Restitut. In Einzelfällen wurden auch Monumentalbauten als Saalkirchen konzipiert: die Wallfahrtskirche in Saintes-Maries-de-la-Mer und die Abteikirche Montmajour. Ein denkbares Vorbild war die Ruine des Diana-Tempels in Nîmes. Hier konnten die Baumeister den Zuschnitt der Keilsteine für das Gewölbe studieren. Größere Kirchen wurden in der Regel dreischiffig und als Basilika angelegt. Auch in diesen Fällen hat sich das Prinzip der Zuspitzung der Tonnenwölbung durchgesetzt. Der damit einhergehende prägotische Eindruck wird durch die steile Proportionierung der Räume verstärkt. In der Kathedrale St-Trophime in Arles ist das Mittelschiff nur knapp 6 m breit, seine Höhe dagegen beträgt 20 m. Zu dieser Bautengruppe gehören außerdem die Kathedrale in St-Paul-Trois-Châteaux und die Kirche St-Michel in La Garde-Adhémar. Eine lokale Besonderheit der Provence ist die Gestaltung der Chöre. Oft sind diese nicht gerundet, sondern in ihrer Außenansicht polygonal gebrochen. Nur im Innenraum besitzen sie einen halbrunden Grundriss. Dadurch erhalten die Choransichten einen fassadenhaften Charakter. In der Regel sind diese Polygone aus fünf Flächen gebildet, es gibt aber auch Variationen mit nur zwei Flächen, die zusammen ein Dreieck beschreiben (Kapelle St-Quenin in Vaison-la-Romaine), oder Polygone mit sieben Teilflächen (Nôtre-Dame-du-Lac in Le Thor). Die übrigen Landschaften

Neben den hier beschriebenen Kerngebieten romanischer Architektur – der Normandie, Burgund und dem Pyrenäenraum sowie der Auvergne, Aquitanien, Poitou und der Provence – gibt es Landschaften, die keine eigenen Bauschulen hervorgebracht haben. Ihre Funktion bestand vielmehr darin, dem Kulturtransfer zu dienen. Hier erlebt man Bauten heterogener Gestalt, deren Architekten aus unterschiedlichen Quellen schöpften. In der Hauptsache sind dies das Tal der Loire und das Berry.

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Die Bretagne ist ihre eigenen Wege gegangen. Hier sind nur wenige romanische Bauwerke entstanden. Andere Landschaften in Nordfrankreich, die Ilede-France, die Picardie und die Champagne besitzen nur noch eine geringe Zahl romanischer Denkmäler; eigenständige Bauschulen sind hier nicht auszumachen­. Allerdings muss man einräumen, dass vieles dem Baueifer im Zeitalter der Kathed­ ralen zum Opfer fiel. Die große Stunde dieser drei Landschaften schlug erst mit der Gotik. Elsass und Lothringen gehören zwar heute zu Frankreich, im Mittelalter jedoch waren beide Landschaften Bestandteile des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Lothringen, schon damals ein umkämpfter Zankapfel zwischen den Königreichen, besitzt nur wenige Bauten von Rang. Die Doppelchörigkeit der Kathedrale in Verdun, ein der französischen Romanik völlig fremdes System, hängt mit der Romanik in Deutschland zusammen. Im Elsass gibt es eine Gruppe von Bauten mit gemeinsamen Merkmalen: Massivität des Mauerwerks, Stützenwechsel, Kreuzgratgewölbe (die Kirchen in Rosheim, ­Lautenbach und Sélestat). Man spricht von staufischer Romanik, denn im 12. Jh. war das Elsass neben Schwaben eines der beiden Stammesgebiete der Staufer. Landschaftsunabhängige Denkmäler

Bislang haben wir die Kunstlandschaften vorgestellt und deren jeweilige Bauschulen beleuchtet. Daneben gibt es aber auch Denkmäler, die frei von lokalen Bezügen entstanden sind und ihrerseits aufschlussreiche Beiträge zur vielfältigen Erscheinung der Romanik in Frankreich beigetragen haben. Pilgerkirchen

Dazu gehören zweifellos die Pilgerkirchen, die in den wichtigsten Orten an den Jakobswegen durch Frankreich entstanden. Es handelt sich, obwohl weit voneinander errichtet, um Bauten mit denselben Merkmalen. Die wichtigsten befanden sich in Tours (St-Martin), Limoges (St-Martial), Toulouse (St-Sernin) und Conques (Ste-Foy); erhalten sind jedoch nur die beiden letztgenannten. Die Kirche in Toulouse ist ein Monumentalbau, jene in Conques ist kleiner, weist aber dieselben Merkmale wie die größere Verwandte auf. Es handelt sich um eingewölbte Emporenbasiliken, die als solche den Bauwerken in der Auverg­ ne ähnlich sind. Dennoch kann man sie mit diesen nicht zu einer Familie zusammenfassen. Sie sind bzw. waren fünfschiffig (außer Conques). Als weitere Besonderheit – und das gilt auch für Conques – sind die Querhäuser mehrschiffig, was es in anderen Bauten der Romanik sonst nicht gibt. Der Chor ist funktionsbedingt ein Pilgerchor mit Umgang und Radialkapellen. Die Emporen der

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6  Toulouse, St-Sernin, Chor

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Basilika erfüllten nicht nur eine baustatische Funktion, sondern dienten auch der Unterbringung der Pilger, die ja in den Kirchen zu schlafen pflegten, was zugleich ein Schlaglicht auf die Multifunktionalität der Bauwerke wirft. Dieser Pilgerkirchentypus fand über Frankreich hinaus nur in einem Beispiel Verbreitung. Nach ihrem Schema wurde im 11.  /  12. Jh. die Kathedrale in Santiago de Compostela errichtet. Zentralbauten

Unter den bedeutenden landschaftsunabhängigen romanischen Denkmälern in Frankreich sind auch einige Zentralbauten erwähnenswert. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Jakobus-Wallfahrt entstanden Memorialbauten zum Gedächtnis jener Pilger, die unterwegs verstorben waren. Das wichtigste Beispiel einer solchen Totenkapelle ist das Oktogon von St-Michel-d’Entraygues in einem Vorort von Angoulême, das mit den Totenkapellen in Torres del Rio und Eunate – beide im spanischen Navarra – in Verbindung steht. Die kollektive Jakobus-Euphorie, von der im 12. Jh. ganz Europa erfasst war, hatte in wirtschaftlicher Hinsicht auch negative Begleiterscheinungen. Pilger waren über Monate, manchmal über Jahre unterwegs und damit dem Arbeitsleben in der Heimat lange Zeit entzogen. Als dann noch der Zweite Kreuzzug (1146  /  47) in einem Desaster endete und der Traum von einer Wallfahrt zu den christlichen Stätten im Heiligen Land in weite Ferne gerückt war, sann der Klerus auf Abhilfe. Diese fand sich in Gestalt von Nachbildungen des Heiligen Grabes, die in doppelter Hinsicht von Vorteil waren. Die Heilig-Grab-Kirchen übernahmen Stellvertreterfunktion für Jerusalem und boten Gelegenheit zu lokalen Wallfahrten, wodurch sich die Pilgerreisen deutlich verkürzten. Deshalb gibt es derartige Heilig-Grab-Kirchen in ganz Europa. Das schönste Beispiel in Frankreich ist jenes in Neuvy-Saint-Sépulchre, eine Rotunde mit einem Umgang und einem erhöhten Mittelteil. Die Kirche weist eine Anomalie auf. Den Umgang trennen vom Kernraum elf Säulen, wo man eine gerade Zahl erwarten würde. Da das Mittelalter in den Säulen einer Kirche Symbole der Apostel sah, handelt sich um eine unmissverständliche Anspielung auf die Zahl der Jünger Jesu bei dessen Kreuzestod. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ihr Kreis wegen des Suizids des Judas auf elf reduziert. Solche Anomalien, denen eine tiefere Symbolik innewohnt, finden sich auch andernorts. In Rieux-Minervois (Languedoc) steht die Kirche L’Assomption de Nôtre-Dame, ein Polygon mit sieben Stützen im Innern, drei Säulen und vier Pfeilern. Die Sieben ist eine heilige Zahl (die sieben Freuden Mariens, die sieben Sakramente etc.), zudem gibt die Bibel an einer Stelle des Alten Testaments einen Hinweis auf den Zusammenhang von Architektur mit der Zahl Sieben. In den

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Sprüchen Salomons (9,1) heißt es: „Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen.“ Diese Beispiele belegen, wie sehr die Bauten der Romanik von Symbolvorstellungen durchdrungen waren. Die Klöster der Zisterzienser

Eine herausragende Stellung innerhalb der romanischen Architektur Frankreichs nehmen ferner die zahlreichen Zisterzienserklöster ein. Der Orden, den Robert von Molesme im Jahr 1098 gegründet hatte, bestand anfangs nur aus einem einzigen Kloster, dem der Gründer den unspektakulären Namen Novum Monasterium gab. Und doch ist dieser Name zugleich Programm. Cîteaux, wie man es bald nannte, sollte ein Gegengewicht zu Cluny schaffen, dem Ende des 11. Jh. einige Zeitgenossen Dekadenz und Abtrünnigkeit von den Idealen des hl. Benedikt vorwarfen. Jede Mönchsgemeinschaft lief Gefahr, nach einer Anfangszeit ihre Zielsetzungen aus den Augen zu verlieren. Die Formel „monasterium semper reformandum“ (das Klosterwesen bedarf der ständigen Erneuerung) bringt die Sache auf den Punkt. Aber die strengen Ordensvorschriften Roberts besaßen wenig Anziehungskraft auf eine Jugend, die damals noch vom Glanz Clunys geblendet war. Cîteaux führte in seinen Anfangsjahren ein Dasein im Abseits. Das änderte sich schlagartig, als 1113 der blutjunge Bernhard von Fontaine, uns besser bekannt unter seinem späteren Namen des hl. Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153), in den Orden eintrat. Jetzt begann die rasche Ausbreitung der Zisterzienser, die in Bernhard eine wortgewaltige Führungspersönlichkeit besaßen. Er selbst gründete 70 Klöster, bei seinem Tod hatte der Orden bereits 343 Niederlassungen überall in Europa. Die Zisterzienser grenzten sich schroff gegen die Cluniazenser ab. Ihre Klöster mussten gemäß dem Ordensstatut von 1134 mindestens drei Meilen von der nächsten menschlichen Behausung entfernt und immer in der Ebene, niemals auf Anhöhen – als Zeichen der Demut vor Gott – liegen. Die Zisterzienser flohen vor den Menschen und propagierten ein kontemplatives Leben in Schweigen und Meditation. Pilgerrummel und alle die sozialen Tätigkeiten, die die Cluniazenser zu ihrem Aufgabengebiet erklärt hatten, wiesen sie von sich. Ihre hermetisch abgeschlossenen Klöster erscheinen deshalb wie „Gefängnis und Paradies in einem“ (Wolfgang Braunfels). Europaweit folgen alle ihre Abteien einem festen Schema. Regional unterscheiden sie sich äußerlich in der Hauptsache in den Baumaterialien, die in Norddeutschland aus Ziegeln und in den mittelmeerischen Ländern aus Kalkstein bestanden. Im Stammland der Zisterzienser ist mit Fontenay nur ein einziges Kloster erhalten. Die größte Zahl gut erhaltener Zisterzienserklöster Frankreichs findet sich heute in der Provence: Aiguebelle, Sénanque, Silvacane und Le Thoronet. Die beiden erstgenannten sind auch jetzt noch (Aiguebelle) bzw. wieder (Sénanque) in der Hand von Zisterziensern.

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Der wichtigste Baukörper des Klosters ist natürlich die Kirche, in der Regel eine dreischiffige Basilika mit Querhaus und einem Chor, den zu den Seiten je zwei Kapellen begleiten. Dieser Chor ist mal halbrund (Sénanque), häufiger jedoch rechteckig (Silvacane, Fontenay). Die Regel verbot jeden Schmuck. Die Kirchen, ebenso die Kreuzgänge, besitzen deshalb keine Skulpturen, keine Fresken und keine farbigen Fenster. Die vier Flügel der Kreuzgänge erhielten einen Namen und eine klar umrissene Bestimmung. Im Kollationsflügel an der Kirche (der Name geht auf die Schrift „Collationes Patrum“ des Johannes Cassianus zurück, der im 4. Jh. eine der ersten Mönchsregeln verfasst hatte) ergingen sich die Mönche in Gebet und Meditation. Im Ostflügel, man nennt ihn Dormitoriumsflügel, befinden sich der Kapitelsaal und darüber der Schlafraum. Dieses ist der einzige zweistöckige Trakt. Im Nordflügel, dem Refektoriumsflügel, sind Küche und Speisesaal untergebracht. Den Westflügel nennt man Konversenflügel. Hier befanden sich die Ess- und Schlafräume der Konversen (Laienbrüder). Sie stellten den zisterziensischen Anspruch auf Selbstversorgung und wirtschaftliche Unabhängigkeit sicher. Während sich die Patres nur innerhalb der Klostermauern aufhielten, waren die Fratres zur Arbeit – auch außerhalb des Klosters, z. B. auf dem Felde – abgestellt. Patres konnten nur Angehörige des Adels werden. Schon die Zeitgenossen haben den Zisterziensern deshalb Standesdünkel vorgeworfen. Besonders die Cluniazenser kritisierten die Zisterzienser dafür, richteten dann jedoch selbst Laienbrüderschaften ein. In jedem Fall haben die Zisterzienser der abendländischen Klosterarchitektur als erste eine klar definierte Form verliehen, der sich auch später andere, neu gegründete Orden (Franziskaner, Dominikaner) mit nur geringfügigen Änderungen anschlossen. Der Burgenbau

Bislang war nur von Sakralbauten die Rede, warum nicht von Burgen? Die Erklärung ist denkbar einfach. Noch bis in das 11. Jh. war es ein Privileg der Kirche, Bauten in Stein zu errichten. Erst im Laufe des 11. Jh. ertrotzte sich der Adel das Recht, gleichfalls in Stein zu bauen – das Bürgertum musste sich damit noch bis in das 13. Jh. gedulden. Die älteste Bauform der adligen Wohnstätte ist der Donjon (von lat. „dominus“: Herr), im Deutschen Bergfried genannt. Dabei handelt es sich um Türme über quadratischem oder rechteckigem Grundriss. Da die meisten entweder zerstört oder später mit Anbauten ummantelt wurden, sind nur wenige unverfälscht erhalten. Gute Beispiele stehen in Beaugency an der Loire, in Pons in der Saintonge und in Loudun im Anjou aus dem späten 11. Jh. Der größte aller französischen Donjons befindet sich in Crest im Tal der Drôme nahe deren Mündung in die Rhône. Er ist stolze 50 m hoch. Solche Maßstäbe wären für das 11. Jh. noch unvorstellbar gewesen, erst im 12. Jh. wurden derartige Di-

Die Kunst der Romanik

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mensionen realisierbar, wie auch der Reichtum an baulichen Erscheinungsformen in der späten Romanik zugenommen hat. Damals kamen polygonale Donjons auf wie jener in Simiane-la-Rotonde in der Haute-Provence oder runde, wie das Beispiel in Dourdan in der Ile-de-France zeigt. Rundtürme hatte die französische Ritterschaft während der Kreuzzüge im Nahen Osten kennengelernt. Sie boten den Wurfgeschossen von Belagerern eine geringere Angriffsfläche. Ein weiteres monumentales Beispiel ist der Doppeldonjon in Niort im Poitou, den Heinrich II. Plantagenet errichten ließ. Aus diesen aufwändigeren Bauten hat sich die abwechslungsreiche Burgenarchitektur des 13.  /  14. Jh. entwickelt. Wir halten fest: Zu keiner anderen Zeit seiner Geschichte hat Frankreich eine vergleichbare Vielfalt baulicher Formen hervor- gebracht wie zur Zeit der Romanik. Goethes Vision von einem Frankreich, für das es „eine Wohltat wäre, wenn es statt eines großen Zentrums zehn hätte, die überall Licht und Leben verbreiten würden“, im Zeitalter der Romanik war dies gelebte Realität.

Die Skulptur und weitere Kunstgattungen Ursprünge und Entwicklung der Skulptur

D

as Werden der romanischen Skulptur vollzog sich parallel zum Entstehen der Architektur der Romanik. Auffälligerweise entstanden die ältesten Skulpturen der Romanik überall dort, wo lombardische Baumeister tätig waren, also im Roussillon und in Burgund. Der Türsturz der Kirche in St-Genis-des-Fontaines ist dank einer Inschrift auf das Jahr 1020 datiert. Die kleinen Hufeisenbögen, unter denen Figuren der Apostel dargestellt sind, verweisen erneut auf den engen Zusammengang mit Spanien. Zur selben Zeit entstanden der Gerlanus-Bogen im Narthex der Philibertkirche in Tournus mit dem Selbstporträt eines Steinmetzen und die archaischen Kapitelle in der Rotunde von St-Bénigne in Dijon. Wenig später folgen die Reliefs am Portal der Kirche in Arles-sur-Tech im Roussillon (um 1040  /  50). Den Arbeiten der frühen Romanik sind zwei Merkmale gemeinsam: sie besitzen ein extrem flaches Relief, und die Figuren sind unterlebensgroß. Vermutlich benutzten diese Künstler – Steinmetze, denn Bildhauer gab es in dieser Zeit noch gar nicht – Buchillustrationen, geschnitzte Elfenbeintafeln oder Werke der Goldschmiedekunst als Vorlagen.

Die Skulptur und weitere Kunstgattungen

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Ende des 11. Jh. war die Phase des Experimentierens überwunden, hatten sich aus Steinmetzen Bildhauer-Persönlichkeiten entwickelt. Einer der ersten von ihnen ist jener Bernardus Gelduinus, der den Tischaltar in St-Sernin in Toulouse (um 1090) geschaffen und signiert hat. Um die Wende vom 11. zum 12. Jh. nimmt der Größenmaßstab zu. Das Westportal der Kirche St-Fortunat in Charlieu (Burgund, um 1090), die Apostelreliefs im Kreuzgang von Mois­ sac (Quercy, kurz vor 1100) und die Porte Miégeville an St-Sernin in Toulouse (kurz vor 1115) mit ihren halblebensgroßen Figuren markieren den Übergang zur hohen Romanik. In der Zeit zwischen 1120 und 1140 schließlich erfährt das Format eine Steigerung in die Überlebensgröße. Dafür stehen die Tympana (Schmuckflächen in den Bogenfeldern von Portalen) der Kirchen in Autun, Vézelay und Moissac sowie die Nischenfiguren an den Portalen von St-Trophime in Arles und St-Gilles. Hand in Hand mit dieser Zunahme des Maßstabs ging die Verräumlichung der Skulptur, die schrittweise gegenüber den flachen Reliefs des 11. Jh. an plastischem Volumen zugenommen hat. In ihrer späten Zeit gegen die Mitte des 12. Jh. erfährt die Skulptur eine deutliche Verlebendigung. Die Figuren nehmen tänzerische ( Jesaja in Souillac), zum Teil ekstatische bewegte Haltungen ein, und die Gewandungen sind wild gebauscht (Christusfigur auf einem Kapitell in Plaimpied). Man kann von einem barocken Spätstil der romanischen Skulptur sprechen. Erkennungsmerkmale

Romanische Skulptur, soweit es sich um Steinskulptur handelt, ist grundsätzlich mit Architektur verzahnt. Zwar lässt sich eine Entwicklung nachzeichnen, die von einem extrem flachen zu einem plastisch bewegten Relief führt, aber das Prinzip der Bindung an einen Hintergrund als Bildträger blieb dasselbe. Erst die Gotik vollzog um 1220 den Schritt zur freiplastisch gearbeiteten Monumental­ skulptur. Abgesehen von wenigen mobilen Zeugnissen – Kultbildern, Kruzifixen, Taufbecken – zeichnet sich die romanische Skulptur durch ihre Immobilität aus. An Portalen oder Kapitellen fixiert, ist sie unverrückbar und überzeitlich präsent. Zugleich ist sie Allgemeingut, öffentlich zugänglich und für jeden erlebbar – anders als viele Zeugnisse der frühmittelalterlichen Kunst, zu denen nur Priester oder andere Privilegierte Zugang hatten (vor allem Bücher). Die Bildersprache der romanischen Skulptur ist mehr als nur eine Biblia Pauperum, ein Mittel der Belehrung für Analphabeten. Sie ist Bedeutungsträger symbolischer Inhalte, die sich weniger über den Verstand als über die Intuition erschließen. Dem heutigen Verständnis mag es irritierend erscheinen, dass manche Symbole gegensätzliche Bedeutungen tragen können. So kann z. B. das Bild des Löwen sowohl für Christus als auch für den Teufel stehen. Ein weiteres Cha-

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7  Vézelay, ehem. Abteikirche, Tympanon des Westportals

rakteristikum der romanischen Skulptur ist die Funktion des Ornaments als Bedeutungsträger. Eine Trennung zwischen reiner Schmuckform und Inhalt kennt die Romanik nicht. Das Akanthusblatt dient ihr wie schon der Antike als Symbol der Unsterblichkeit, die Blüte des Steinbrechs steht für Christus; die Zahl der Beispiele ist endlos. Auch mit den Bildern von Tieren verbinden sich prinzipiell symbolische Vorstellungen. Pflanzen und Tiere, aber auch Darstellungen von Menschen sind oftmals ineinander verwoben, die Grenzen zwischen Ornament und Figur verwischen. Das Figurenkapitell

Zwei Formen sind die wichtigsten Ausdrucksträger der von der romanischen Skulptur verkörperten Bilderwelt: das Kapitell und das Portal. Die für die Romanik typische Symbiose von Ornament und Figur erreicht ihren Höhepunkt in der Kapitellplastik. Hier feiern Imagination, Erzählfreude und gestalterische Virtuosität wahre Triumphe. Frühformen des Figurenkapitells finden sich in der vormittelalterlichen Kunst auf der Iberischen Halbinsel. Die ältesten Beispiele hat die westgotische Kunst des 7. Jh. n. Chr. hervorgebracht (S. Pedro de la Nave,

Die Skulptur und weitere Kunstgattungen

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Provinz Zamora, und S. Maria de la Quintanilla de las Viñas, Altkastilien). Die asturische Kunst des 9. Jh. (Beispiele in Oviedo: S. Miguel de Lillo und S. Maria de Naranco) hat den Spielball aufgegriffen und die Form des Figurenkapitells der Romanik in Frankreich weitervermittelt, wo im 12. Jh. ganze Zyklen entstanden, wie es sie in dieser Form weder jemals zuvor noch danach wieder gegeben hat. Man findet sie in Kreuzgängen und im Innern der Kirchen. Die aufwändigsten Kreuzgänge besaß der Raum des südwestlichen Frankreich. Toulouse könnte heute den Rang einer Welthauptstadt der Romanik für sich in Anspruch nehmen, denn in dieser Stadt gab es im 12. Jh. drei große ­Kreuzgänge mit umfangreichen Kapitellzyklen (La Daurade, St-Sernin und St-Etienne). Sie wurden in der Revolution zertrümmert. Was erhalten blieb, befindet sich heute im Musée des Augustins in Toulouse, immerhin noch so vieles, dass dieses Museum heute die umfangreichste Sammlung romanischer Bauplastik weltweit besitzt. Erhalten blieb der Kreuzgang von Moissac mit 76 Kapitellen. Was den Reichtum der Kapitelle im Innern von Kirchen anbetrifft, liegt Burgund ganz vorne. In der Kathedrale in Autun und in der ehemaligen Abteikirche in Vézelay erleben wir heute die umfangreichsten Kapitellzyklen der Romanik in Europa. Generell gilt: Das Figurenkapitell ist eine spezifisch romanische Kunstform. Es ist ursächlich an diese Epoche gebunden und hat sich aus der Kunst Frankreichs wieder verabschiedet, als mit der Gotik eine neue Ära der Kunstgeschichte anbrach. Das Stufenportal

Der zweite Bildträger des romanischen Ausdruckswillens ist das Portal, insbesondere das Stufenportal. Und wieder sehen wir eine enges Wechselverhältnis zwischen den Kunstlandschaften beidseits der Pyrenäen, denn die ersten Vertreter des Stufenportals befinden sich in Toulouse (St-Sernin, Porte des Comtes um 1100) und in Jaca (Westportal der Kathedrale 1090er Jahre), zugleich war Burgund an der Entstehung des Stufenportals beteiligt (Charlieu, Westportal um 1090). Waren Kirchentüren bis in das späte 11. Jh. einfach aus der Wand ausgesparte Öffnungen, so hängt die Entstehung des Stufenportals mit dem zunehmenden Einfluss des westromanischen Kunstkreises und dessen Bestreben zusammen, Wand in einem plastischen Sinne durchzuformen. Die Bezeichnung Stufenportal leitet sich von der in mehreren Brechungen in die Wand fluchtenden Einbuchtung des Portals ab. In diese Einbuchtungen werden Säulen gestellt, die sich im Rundbogen über dem Portal in Gestalt von Archivolten (geschmückten Bögen) fortsetzen. Diese sind zugleich die obere Rahmung des Tympanons. Diese Form eines halbrunden Bogenfeldes sollte im 12. Jh. der wichtigste Bildträger der romanischen Skulptur in Frankreich werden. Aus anfänglich kleineren Formaten

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entwickelten sich die großen Bildfelder der Portale in Moissac, Conques, Autun und Vézelay. Die Fassaden der Romanik in Frankreich besaßen anfangs immer nur einen Eingang. Im Poitou bereitete sich die Form der Dreitoranlage vor. Hier begleiten in vielen Fällen der Wand aufgeblendete Scheinportale das Kirchentor. Daraus hat sich die Dreitorigkeit entwickelt, deren erste Beispiele wir in Vézelay (um 1130) und in St-Gilles (entstanden zwischen 1125 und 1150) erleben. In der Gotik sollte dieser Typus zum Standard werden. Die Kunstlandschaften und ihre Bildhauerschulen

Die Schwerpunkte romanischer Skulptur in Frankreich liegen in Burgund sowie im Südwesten (Aquitanien, Languedoc) und im Südosten des Landes (Provence). Die Nordprovinzen treten erst mit der Gotik auf den Plan. Andere Landschaften wie das Poitou oder die Auvergne haben interessante Beiträge geleistet, gehören aber nicht zu den führenden Zentren der Zeit. Die Skulpturen Burgunds erscheinen nahezu entkörperlicht, spindeldünn und biegsam. Die besten Beispiele sind die Arbeiten des Meisters Gislebertus in Autun. Die Figuren im Südwesten dagegen sind körperlich kompakt aufgefasst, und sie sind in der Regel szenisch – im Gespräch, in Interaktion – aufeinander bezogen. Hier steht das erzählerische Moment im Vordergrund. Die Skulpturen der Provence dagegen sind von Vorbildern der römischen Antike beeinflusst. Ihr Stil ist von Monumentalität und Hoheitlichkeit gekennzeichnet, die Figuren der provenzalischen Romanik sind in antikisch anmutende Gewänder mit einem reichen und komplizierten Faltenspiel gehüllt. Wilhelm Messerer hat einen treffenden Vergleich gezogen. Er spricht im Zusammenhang von burgundischer Romanik von Beweglichkeit, der südwestfranzösischen bescheinigt er Bewegung, und der provenzalischen Skulptur der Romanik hat er das Attribut der Bewegtheit verliehen. Im Stil steht die Skulptur der Auvergne derjenigen der Provence nahe. Aber die Auvergne ist den Weg in die Monumentalisierung nicht mitgegangen. In dieser Landschaft gibt es keine großen Tympana, wenn man von jenem in Conques absieht (ein Einzelfall, der ohnehin nicht in der Auvergne, sondern in deren Nachbarlandschaft Rouergue liegt). Hier hat man sich ganz auf Kapitellzyklen konzentriert (Clermont-Ferrand, St-Nectaire, Issoire, Mozat). Ein anderer Sonderfall ist das Poitou mit seinen beiden südlichen Nachbarlandschaften Saintonge und Angoumois. Hier kennt man ebenfalls kein Tympanon, stattdessen sind die Archivolten die Bildträgern (Aulnay, Nôtre-Dame in Saintes, Fenioux u. a.). Außerdem hat sich – in Bespielen später Romanik – die Skulptur die gesamte Fläche der Westfassaden erobert und ist bis in den Giebel gewuchert (Notre-Dame in

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Poitiers). Die Kathedrale in Angoulême besitzt Frankreichs flächengrößte und figurenreichste Fassade der Romanik. Die französische Kunstgeschichte hat dafür den Begriff der façade écran (Leinwandfassade) geprägt, eine Anspielung auf das Kino unserer Tage. Zugleich steht dieses Prinzip fassadenübergreifender Skulptur mit Spanien in Verbindung. Der vermittelnde Faktor ist der Jakobsweg, dem entlang nicht nur baukünstlerische, sondern natürlich auch die Neuerungen anderer Kunstgattungen ihren Weg durch Europa nahmen. So taucht der Typus des Bestienpfeilers, der seine Heimat im Raum Südwest-Frankreichs hat (Moissac, Souillac) in einem Ableger in Bayern auf (Bestiensäule in der Krypta des Freisinger Domes). Ikonographie

Die Ikonographie der Romanik ist christozentrisch geprägt. Der Christus der Romanik ist ein Souverän, ein Triumphator über Leiden und Tod. Entsprechend vermied die Romanik die Darstellung der Passion. Wenn man den Gekreuzigten darstellte, dann lebend, mit weit geöffneten Augen und ausgebreiteten Armen, nicht leidend, nicht sterbend. Die Tympana der Romanik in Frankreich sind dadurch definiert, dass prinzipiell eine Christusfigur in ihrer Mitte erscheint. Dort kann er als Weltenrichter auftreten wie in Autun oder Conques, mal erscheint er im Bildschema der Majestas Domini (Herrlichkeit Gottes) mit den Evangelistensymbolen (am häufigsten in Burgund), mal als Parusie-Christus (Christus, der am Jüngsten Tage wiederkehrt) wie in Moissac, gelegentlich auch als Himmelfahrender (Toulouse, St-Sernin, Kathedrale in Cahors). Ein Einzelfall ist das Tympanon in Vézelay, in dem Christus stellvertretend für den Heiligen Geist inmitten einer Darstellung des Pfingstgeschehens thront. Namentlich der Südwesten, und dort besonders die Landschaft Quercy, hat an der Ausbildung neuer Bildtypen gearbeitet. So sieht man im Tympanon der Kirche in Beaulieu-sur-Dordogne einen thronenden Christus mit weit ausgebreiteten Armen. In den Handinnenflächen waren einstmals die Wundmale zu sehen, denn alle Skulpturen waren farbig gefasst, was heute nur noch in seltenen Fällen, und dann auch nur schemenhaft zu erkennen ist. Das ist die Geburt des sog. Wundmale-Christus, ein Thema, das die Gotik des 13. Jh. aufgegriffen hat. Der damit einhergehende Hinweis auf die Passion rückte gegen Ende der Romanik stärker ins Visier der Künstler und ihrer theologischen Auftraggeber. Die Fassade in St-Gilles markiert in diesem Zusammenhang einen Wendepunkt. Hier zieht sich über die gesamte Breite der dreitorigen Westfassade ein Fries, der szenenreich die Passion schildert. Es beginnt mit dem Palmsonntag und endet mit der Auferstehung des Herrn. In den Tympana darüber sind bzw. waren (das Mittelportal fast vollständig zerstört) die Anbetung der Könige, die Majestas und

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8  St-Gilles, ehem. Abteikirche, Detail aus der Westfassade

die Kreuzigung dargestellt. Es ist der erste Passionszyklus der abendländischen Kunstgeschichte. Fortan stellte man auch in anderen Tympana die Kreuzigung dar. Neu ist hier auch die Darstellung der Maria in einem Tympanon. Die Muttergottes eroberte sich kurz vor der Mitte des 12. Jh. diesen Platz. Mitverantwortlich für die nun anhebende Marienikonographie war das Wirken des hl. Bernhard von Clairvaux, dessen misogyne Grundeinstellung ihn nicht davon abhielt, sich engagiert für die Marienverehrung einzusetzen. Die Holzskulptur und die Goldschmiedekunst

Neben Architektur und Steinskulptur sind in kunstgeschichtlicher Hinsicht auch Zweige des romanischen Kunsthandwerks erwähnenswert, die in einigen französischen Landschaften Frankreichs zur Blüte kamen: die Holzskulptur und die Goldschmiedekunst. Ihre Entwicklung ist auf natürliche Gegebenheiten zurückzuführen: Wo Wälder das Landschaftsbild beherrschen, wurzelt die Schnitzkunst, wo Metalle geschürft werden, entstehen Zentren der Goldschmiedekunst. Ersteres gilt in Frankreich vor allem für die auch heute noch waldreiche Auvergne, letzteres für das Limousin. In der Auvergne wurden im 12. Jh. zahlreiche Madonnen geschnitzt. Sie sind vom Typus der byzantinischen Hodegetria (Hoheit

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der Muttergottes) inspiriert. In der Romanik nannte man den Typus Sedes sapientiae (Sitz der Weisheit). Die Maria sitzt streng aufrecht, ist frontal ausgerichtet und hat ein Christuskind auf dem Schoß, das die Züge eines Erwachsenen trägt – es soll die Inkarnation des Wortes Gottes versinnbildlichen. Daneben brachten die Ateliers der Auvergne Kruzifixe hervor. Die meisten dieser nur in geringer Zahl erhaltenen Denkmäler befinden sich heute in unterschiedlichen Museen, nur vereinzelt trifft man noch auf Originale in Kirchen (z. B. die Madonna in Orcival). Gerade die Madonna in Orcival ist aufschlussreich für das Wechselverhältnis von Schnitz- und Goldschmiedekunst, die oft Hand in Hand arbeiteten. Diese Madonna ist aus Holz geschnitzt, diesem Kern wurden dünne vergoldete Silberbleche aufgelegt, um dem Kultbild mithilfe des hochwertigen des Materials eine Aura höherer Bedeutungsinhalte zu heben. Ur- und Vorbild dafür war die Statue der hl. Fides in Conques aus dem 10. Jh. Limoges entwickelte sich zum wichtigsten Zentrum der Gold- bzw. Emailkunst. Geradezu fabrikmäßig produzierte man Mini-Reliquiare und Kruzifixe für die durchreisenden Pilger, liturgisches Gerät für die Messen (Teller, Kelche, Kreuze, Rauchfässchen etc.) und auch größere Werke wie z. B. Altarverkleidungen, die für den Export in andere Regionen und Länder bestimmt waren. Im Chor von St-Denis befindet sich z. B. ein Prinzengrab aus dem 13. Jh., das in Limoges angefertigt wurde. Kennzeichnend für die Limousiner Arbeiten ist die plastische Applikation von Köpfen. Das Email wurde hier im Zellenschmelz-Verfahren hergestellt, während man zur selben Zeit im Raum von Rhein und Maas den Grubenschmelz bevorzugte. Die Malerei

Die stattliche Zahl romanischer Denkmäler in Frankreich darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir heute nur noch einen kleinen Teil des einstigen Denkmälerbestandes kennen. Eine erste Zerstörungswelle brachten die Religionskriege des 16. Jh. mit sich, eine zweite die Französische Revolution. Verglichen mit den Bauwerken und Skulpturen des 11.  /  12. Jh. ist der Bestand erhaltener Malerei erschütternd. Wir gehen zunächst auf die Wandmalerei ein. Man schätzt, dass mehr als 99 Prozent verloren sind. Unsere Kenntnis ist also äußerst lückenhaft, und umso größere Bedeutung kommt den wenigen erhaltenen Bildzyklen zu. Den flächengrößten der Romanik in Frankreich mit etwas mehr als 400 m² besitzt das Mittelschiffgewölbe der Abteikirche in St-Savinsur-Gartempe. Er ist im späten 11. Jh. entstanden und zeigt einen bilderreichen alttestamentlichen Zyklus. Die Eleganz der Figuren zeigt einen reifen Stil, den die Bildhauerei erst etwa 30 Jahre später erreicht hat. Die Malerei scheint der Skulptur in der Entwicklung vorausgeeilt zu sein. Der Grund dafür ist einfach.

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Während die Skulptur um 1000 gleichsam aus dem Nichts heraus entstand, war das Medium der Malerei, insbesondere der Wandmalerei, in den Jahrhunderten zwischen dem Ende der Antike und dem anhebenden Mittelalter nicht in Vergessenheit geraten. Es gab also bereits im 11. Jh. Künstler, die in dieser Technik geschult waren. Ein anderes wichtiges Beispiel für die Malerei der Romanik befindet sich in der Chapelle-aux-Moines in Berzé-la-Ville (Burgund), dem privaten Oratorium des Abtes Hugo von Cluny. Hier ist in der Chorapsis die Traditio legis (Auftrag zur Gründung der Kirche) dargestellt, die Christus Petrus und Paulus erteilt hat. Diese Bilder vermitteln einen Abglanz vom einstigen Aussehen des Innenraums von Cluny III, denn dieser war – wie fast alle Kirchen der Romanik – in großen Partien ausgemalt. Die klassische Freskotechnik, bei der die Farbe auf den feuchten Verputz aufgetragen wird, fand in der Romanik kaum Anwendung, ebenso wenig die Seccotechnik. Verbreitet war vielmehr eine Mischtechnik. Die Künstler malten auf einen trockenen Verputz, den man aber vor der Bemalung wieder anfeuchtete, um dergestalt die Vorteile beider Techniken zu nutzen. Das Fresko garantiert eine lange Haltbarkeit, das Secco eine größere Entfaltung koloristischer Ausdrucksmöglichkeiten. Aus dem erhaltenen Bestand könnte man folgern, dass es zwei geographische Schwerpunkte gab: das Loirebecken und die östlichen Pyrenäen. Aber die Streuung vereinzelter Werke über das ganze Land macht deutlich, dass Einflüsse von überall her und Verbindungen in unterschiedliche Richtungen bestanden, so zu Byzanz, zu Italien und besonders zu Katalonien, das seinerseits wiederum eng mit Oberitalien zusammenhing. Die Wandmalerei ging mit dem Beginn der Gotik zu Ende, die ihr, drastisch ausgedrückt, den Lebensraum entzog. Der Verlust mittelalterlicher Bücher ist vermutlich noch gravierender, so dass wir uns von der Buchmalerei des 11.  /  12. Jh. ebenfalls nur ein lückenhaftes Bild machen können. Die wenigen erhaltenen Codices gelangten fast ausnahmslos in die Bibliothèque Nationale in Paris. Im Süden, wo ein enger Zusammenhang mit Spanien bestand, entstanden mit der „Apokalypse von St-Sever“ prächtige Buchmalereien, die mit den ebenfalls reich geschmückten sog. Beatus-Apokalypsen des spanischen 10.  /  11. Jh. eng verwandt sind. Die Anfänge der Glasmalerei reichen in das 11. Jh. zurück. Heute gelten als die ältesten erhaltenen Beispiele in Europa die Prophetenfenster im Augsburger Dom, die in den 1060er Jahren entstanden. Die frühesten Beispiele in Frankreich stammen aus dem späten 11. Jh. (Fragmente im Museum in Straßburg). Die Stunde der farbigen Glasfenster schlug in der französischen Kunst erst mit dem Heraufziehen der Gotik um die Mitte des 12. Jh.

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9  Berzé-la-Ville, Chapelle aux Moines, Apsisfresko

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Mosaiken

Zum Repertoire der Kirchenausstattungen gehörte auch das Fußbodenmosaik. Davon ist ebenfalls nur weniges erhalten. Es fällt auf, dass wir Mosaiken überall dort antreffen, wo römisches Erbe gegenwärtig ist. Man kann davon ausgehen, dass in der Zeit der Romanik noch einiges mehr vorhanden war, als es heute der Fall ist, und dass den Künstlern des 12. Jh. antike Originale vor Augen standen. Als man im 19. Jh. anlässlich von Kirchenrestaurierungen besonders im Süden Frankreichs zugeschüttete Mosaiken der Romanik aufdeckte, glaubte man zum Teil, römische Arbeiten wieder gefunden zu haben. Lange Zeit galten die Tierdarstellungen im Chor der Klosterkirche in Sorde-l’Abbaye (Gascogne) als römisch, bevor man feststellte, dass es sich in Wahrheit um Kunstwerke des Mittelalters handelt. Den mit 70 m² größten erhaltenen Mosaikzyklus besitzt heute die Klosterkirche in Ganagobie in der Haute-Provence mit symbolischen Tierbildern und der ältesten Darstellung des Ritterheiligen Georg im Kampf gegen den Drachen in der abendländischen Kunst. In der Kapelle im Bischofspalais in Die (Dauphiné) zeigt das dortige Mosaik die vier Paradiesströme, in der Kirche in Cruas im Rhônetal sind zwei Propheten dargestellt, in der Kathedrale in StPaul-Trois-Châteaux sind Reste einer Darstellung des Himmlischen Jerusalem zu sehen. Einen besonderen Schatz besitzt die Kathedrale in Lescar (Gascogne). Hier sieht man neben verschiedenen Tieren des romanischen Bestiariums das Bild eines Jägers, dem ein Bein unterhalb des Knies amputiert ist. Er trägt eine Holzprothese. Die Prothesetechnik kommt aus der arabischen Medizin und war dem christlichen Abendland des 12. Jh. noch unbekannt. Mit den romanischen Fußbodenmosaiken geht es uns ähnlich wie mit den prähistorischen Höhlen: Wir wissen nicht, wie viele Schätze noch im Verborgenen schlummern. In der Abteikirche in Tournus entdeckte man erst im Jahr 2001 im Chorumgang Mosaiken des 12. Jh. mit Darstellungen der Monatsarbeiten.

Die Kunst der Gotik

A

m Ende des Zeitalters der Gotik (12. – 16. Jh.) verlor Frankreich seine kulturelle Führungsrolle in Europa. Diese ging mit dem Heraufziehen der Renaissance an Italien über, wo fortan die Maßstäbe gesetzt wurden. So haben sich denn auch die Vertreter der italienischen Renaissance kritisch zur Gotik geäußert, als deren Überwinder sie sich selbst sahen. Giorgio Vasari (1511 – 1574), der Begründer der Kunstgeschichte, verhöhnte die Gotik als barbarische Kunst. Er bezeichnete sie als „maniera tedesca“, (deutschen Stil) und als „maniera de’ Goti“ (Stil der Goten). Das führte zu einem folgenschweren Missverständnis. Während man im Spätmittelalter sehr wohl um die Tatsache wusste, dass die Ursprünge der Gotik in Frankreich lagen, so dass man in deutschen Quellen des 13. und 14. Jh. den Begriff des „opus francigenum“ liest, verbreitete sich seit dem 16. Jh. die irrige Meinung, die Gotik hätte ihren Ursprung in Deutschland gehabt. Diese Ansicht hielt sich noch bis in die Zeit um 1800, zugleich brachte die Romantik eine fundamentale Wende in der Beurteilung der Gotik. Ein Schlüsseldatum ist dem Zusammenhang Goethes Besuch des Straßburger Münsters im Jahr 1772. Enthusiastisch schrieb Goethe in seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ (1773), er habe erwartet, ein architektonisches Monster zu erleben; stattdessen sei er ergriffen von „der Harmonie der Massen, der Reinheit der Formen“. Zugleich aber unterlag auch noch Goethe der falschen Einschätzung, die Gotik sei eine genuin deutsche Kunst. Sein Verdienst war es, einen Prozess der Neuorientierung, ja, die Wiederentdeckung der Gotik eingeleitet zu haben. In Frankreich hatte diese Wiederentdeckung schon kurz zuvor begonnen. Bernard de Montfaucon (1655 – 1741) hatte in fünf Bänden die „Monuments de la Mo­ narchie Française“, darunter auch die gotischen Kathedralen, ausführlich beschrieben. Anfang des 19. Jh. begann die Phase der Versachlichung. Durchaus noch gefühlsbetont, doch in der Tendenz bereits nüchterner lesen sich Friedrich

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Schlegels „Grundzüge der gotischen Baukunst“, erschienen 1805. Seine Feststellung, dass man an Bauwerken der Gotik „bei dem größten Reichtum von Zier­ raten eine strenge Symmetrie und eine durchgehende Gleichförmigkeit und Harmonie“ feststellt, benennt jenen Wesenskern gotischer Baukunst, der auch uns heute noch am stärksten berührt. 1806 wies der Engländer George Downing Whittington (1781 – 1807) erstmals schlüssig nach, dass die Gotik ihren Ursprung in Frankreich und nicht in England hatte, womit er sich im eigenen Land keine Sympathien erwarb. In Deutschland aber hielt sich vorerst die Sichtweise einer aus Deutschland hervorgegangenen Gotik beharrlich. Noch 1842 schrieb Rudolph Wiegmann (1804 –  1865), Deutschland sei „das eigentliche Vaterland des Spitzbogenstils“. Das 19. Jh. wurde von einem wahren Taumel der Mittelalter-Euphorie erfasst. Einen entscheidenden Fortschritt in der Bewertung und Erforschung der Gotik verdanken wir Franz Kugler (1808 – 1858). Im dritten Band seiner „Geschichte der Baukunst“ räumte er mit dem Fehlurteil auf, die Gotik sei in Deutschland entstanden, und stellte klar, dass Nordfrankreich das Ursprungsland dieser Kunst sei.

Das Zeitalter der Kathedralen Aufstieg und Triumph der Capetinger

H

  ugo Capet (987 – 996) begründete eine Dynastie, die über mehr als 300     Jahre herrschen sollte. Seine ersten Nachfolger – Robert II. der Fromme (996 – 1031), Heinrich I. (1031 – 1060) und Philipp I. (1060 – 1108) – setzten wenig daran, die Bedeutung der Krone wieder zu stärken. Erste Schritte zu einer Ausdehnung der Krondomäne unternahm Ludwig VI. der Dicke (1108 – 1137). Kurz vor seinem Tod schloss sein Sohn und Nachfolger Ludwig VII. (1137 – 1180) die Ehe mit Eleonore von Aquitanien. Der Zuwachs an Macht und territorialer Ausdehnung für die Krone war enorm, erlitt aber einen empfindlichen Rückschlag, als die Ehe 1152 annulliert wurde und Eleonore kurz darauf Herzog Heinrich von der Normandie heiratete, der zwei Jahre später den englischen Thron bestieg. Doch letztlich konnte der Verlust den weiteren Aufstieg des Hauses Capet nicht mehr behindern. Bereits im frühen 13. Jh. eroberten Philipp II. August (1180 – 1223) und Ludwig VIII. (1223 – 1226) weite Teile der englischen Besitzungen auf dem Festland wieder zurück. Seinen größten Triumph über England feierte Frankreich mit dem

Das Zeitalter der Kathedralen

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Sieg von Bouvines 1214. Es war eine Schlacht von welthistorischer Dimension, denn hier wurde zugleich der welfisch-staufische Gegensatz ausgetragen. Der Aufstieg des kapetingischen Herrscherhauses gipfelte in der Regierungszeit Ludwigs IX. des Heiligen (1226 – 1270). Faktisch war er Mitte des 13. Jh., nachdem die Staufer von der politischen Bühne abgetreten waren, der mächtigste Monarch in Europa. 1259 kamen die Konflikte mit England zu einem vorläufigen Abschluss. Im Frieden von Paris musste der englische König Heinrich III. die Lehnshoheit des französischen Monarchen über Aquitanien anerkennen, zugleich wurde das englische Hoheitsgebiet auf dem Kontinent auf einen eng begrenzten Bereich im Raum des südwestlichen Frankreich verkleinert. Faktisch war das Angevinische Reich zerfallen, Frankreich hatte in diesem ersten großen Ringen mit England – man spricht vom Ersten Hundertjährigen Krieg – triumphiert. Diese geschichtliche Entwicklung Frankreichs spiegelt sich in der Kunst wider. Bis zur Mitte des 12. Jh. beherrschte die Romanik das gesamte Land. Der Aufstieg des Königtums ging Hand in Hand mit der Entstehung der Gotik, deren Ursprungsland bezeichnenderweise die Ile-de-France ist, die Krondomäne der französischen Könige. Mit der fortschreitenden Ausdehnung der monarchischen Autorität über das ganze Land verdrängte bald nach der Mitte des 12. Jh. die Gotik die Kunst der Romanik. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse im 12.  /  13. Jh.

Die Geschichte des frühen Mittelalters ist in Europa periodisch überschattet von Hungersnöten, deren Zahl ab der Mitte des 12. Jh. deutlich abnahm. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Besonders ausschlaggebend waren die klimatischen Verhältnisse. Auf eine Serie von Kälteperioden im 11. und im frühen 12. Jh. folgte eine Phase der Erwärmung, was automatisch eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Ertragslage und der Versorgung für die Bevölkerung nach sich zog. Hinzu kamen technische Erneuerungen, die zu einer weiteren Verbesserung der Lebensumstände führten. Wir nennen hier den Übergang von der Zwei- zur Dreifelder-Wirtschaft und die neue Pflugtechnik. Im Laufe des 12. Jh. setzte sich der von Pferden anstatt des von den langsameren Ochsen gezogenen Pfluges durch. Zeitgleich mit dieser Entwicklung ging die Verlagerung von der Land- zur Stadtkultur einher. In Frankreich hat sich die Bevölkerung in der Zeit zwischen 1150 und 1300 von 12 Millionen auf etwa 21 Millionen nahezu verdoppelt. Während die Einwohnerzahl im ländlichen Bereich stagnierte, schwollen die Städte beträchtlich an. Zugleich etablierte sich mit dem handeltreibenden Bürgertum eine neue soziale Gruppe im Gefüge der hochmittelalterlichen Gesell-

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schaft. Dieses Bürgertum aber hatte seinen Platz in den Städten, nicht auf dem Lande. In dem Zusammenhang ist auch auf die wachsende Bedeutung der Geldwirtschaft hinzuweisen, die im Laufe des 12. Jh. den Tauschhandel verdrängte. In letzter Konsequenz traten an die Stelle der Klosterkirchen auf dem Lande nun die Kathedralen in den urbanen Zentren. Die Funktion der Kathedralen

Für die Ausprägung dieses in Form und Ausmaß gänzlich neuen Typus’ der sakralen Architektur sind eine Reihe von praktischen Funktionen verantwortlich, die den städtischen Kirchen im Mittelalter erwuchs: Im Kirchenraum wurden liturgische Handlungen zusammengeführt, die vorher, einer spätantiken Tradition folgend, oft auf unterschiedliche Sanktuarien verteilt waren; der Abriss kleinerer Kirchen, der in Paris und Amiens dem Bau der dortigen Kathedralen voranging, ist dafür symptomatisch. Im Gegensatz zu den Klosterkirchen dienten die Kathedralen u. a. als öffentlicher Versammlungsraum. Da zahlreiche Kathedralen zugleich Wallfahrtskirchen waren, besaßen sie im Regelfall einen Chorumgang und einen Kapellenkranz sowie Fußboden-Labyrinthe, die die Pilger bei ihren Bußübungen beschritten. Auch den Emporen frühgotischer Kathedralen kam neben ihrer statischen Bedeutung eine praktische Funktion zu. Sie boten zusätzlichen Platz zur Teilnahme an der Messe und konnten auch als Schlafstätten genutzt werden. Nicht zu unterschätzen ist ferner die wirtschaftliche Bedeutung der großen Kirchenräume, in denen anlässlich großer Messen bzw. Märkte Verkaufsstände aufgebaut wurden. Zu erwähnen ist auch der juristische Aspekt: Verfolgte genossen schon immer Immunität in einer Kirche, also den Schutz vor der Verfolgung durch weltliche Gewalten. Aber in den Kathedralen muss der Andrang Asylsuchender teils so groß gewesen sein, dass man in einigen eigene Unterkunftsräume für diesen Personenkreis eingerichtet hatte. Ein Abbild des Himmlischen Jerusalem

Maßgeblichen Einfluss auf die Architektur der Kathedrale hatte aber neben diesen praktischen Anforderungen auch die symbolische Bedeutung, die ihr zugeschrieben wurde. In der Offenbarung des Johannes beschreibt der Verfasser seine Vision des Himmlischen Jerusalem, einer Stadt mit Mauern und Toren, erbaut aus Edelsteinen und von Gold und Licht strahlend. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass nicht erst im Zeitalter der Kathedrale die Vorstellung aufkam, eine Kirche sei ein Abbild des Himmlischen Jerusalem. Mit dem Aussehen Jerusalems hat sich schon die mozarabische Buchmalerei des 10.  /  11. Jh. auf der Iberischen Halbinsel auseinandergesetzt (eine Illustration in der Beatus-Apokalypse der Pierpont-Morgan Library zeigt eine planimetrische

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Ansicht), und in der Architektur der Romanik kennen wir Bauten, in deren Gestalt sich der Versuch äußert, die Beschreibung des Johannes wörtlich umzusetzen. Ein Beispiel dafür ist der über quadratischem Grundriss errichtete Vorhallenturm (clocher-porche) der Abtei in Moissac, dessen oberes Geschoss sich in alle vier Himmelsrichtungen über je drei große Fenster – gemeint sind die Tore Jerusalems – öffnet. Wenn wir uns nun die gotische Kathedrale anschauen, sehen wir, dass an keiner Stelle der Versuch unternommen wurde, die biblische Textvorlage eins zu eins umzusetzen, wenn wir einmal von dem Einzelfall Beauvais absehen, wo man im Hinblick auf die Maße – gemeint ist die Höhe des Gebäudes – die direkte Umsetzung anstrebte. Keine einzige Kathedrale besitzt einen quadratischen Grundriss. Aber in vielen Details ist die direkte Annäherung zu erkennen. So hat Abt Suger, der sich ja wortreich zum Bau des Chores von St-Denis ausgelassen hat, die zwölf Säulen den Aposteln gleichgesetzt. Ferner symbolisiert der Schlussstein im Gewölbe Christus. Der Typus der Dreitoranlage ist ebenfalls von der Offenbarung her inspiriert. Zugleich erklärt sich von daher, dass sich die Kathedralen nach allen Himmelrichtungen in drei Toren öffnen; nur nach Osten war das nicht möglich, da man einen Chor schlecht mit Türen nach außen hin begehbar machen konnte. Es ist festzustellen, dass die bauliche Gestalt der Kathed­ rale Bezug auf die Offenbarung nimmt, aber nicht in dem konkreten Sinne, dass man dem literarischen Vorbild sklavisch folgte. Das Entscheidende ist die Frage des Lichts und der Farbe. Die Offenbarung beschreibt die Lichtfülle und nennt die verschiedenen Edelsteine sowie das Gold. In dieser Richtung zielt die Gesamt­ erscheinung der Kathedrale. Alles soll in Farbe und Helligkeit schimmern. Das Licht ist aber etwas Ideelles. Man nimmt es wahr, aber man kann es nicht fassen. Die Kathedrale soll den Menschen erheben, ihn über sinnliche Wahrnehmung zum Verständnis einer höheren Wirklichkeit führen, es ist ein geistiger Vorgang. In der schönen Form soll man die Wahrheit erkennen, oder anders ausgedrückt: das Göttliche offenbart sich im Licht. Gotische Kunst und Scholastik

Die größten Dome entstanden in Orten mit bedeutenden Kathedralschulen, allen voran Chartres und Reims. Sie sind im 12.  /  13. Jh. jene geistigen Kristallisationspunkte, aus denen die sog. Scholastik hervorgegangen ist. Es handelt sich dabei um eine theologisch-philosophische Wissenschaft, die ihren Namen (Schulwissenschaft, Schulbetrieb) den mittelalterlichen Dom- und Klosterschulen verdankt, an denen sie entwickelt und gelehrt wurde. Im Zentrum der u. a. von Aristoteles beeinflussten scholastischen Lehre stand eine auf Logik und rationale Begründung abzielende Denkweise, die Glaubensinhalte und Welterkenntnis systematisch zu durchdringen suchte. Im Laufe der Zeit hat sich eine feste Methodik

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scholastischen Denkens und Erkennens herausgebildet. Den ersten Schritt stellt die lectio, die Lektüre eines (z. B. theologischen oder philosophischen) Textes dar. Daraus entwickelt man die quaestio, die Problemstellung. Die führt zur disputatio, also zur Diskussion über das gestellte Problem, und als Resultat daraus ergibt sich als vierter Schritt die determinatio, die Auflösung. Die nach gedanklicher Systematik und rationaler Durchdringung strebende scholastische Erkenntnismethode leitete eine neue Form der Geistigkeit ein, die dem Zeitalter der Romanik noch fremd war und gegen die sich deren letzter Vertreter, der Mystiker Bernhard von Clairvaux, vehement zur Wehr setzte. Für ihn waren Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis nur auf dem Wege der Intuition vorstellbar, daher sollten Schweigen und innere Versenkung in seinen Klöstern den Lebensweg der Mönche bestimmen. Die Scholastik bedeutet demgegenüber eine neue Form des Rationalismus. Zwar räumte sie der Theologie Vorrang vor allen anderen Disziplinen ein und bezeichnete die Philosophie als deren ancilla (Magd); aber da sich nach hochmittelalterlicher Meinung das Göttliche in den unterschiedlichsten Erscheinungen der Schöpfung manifestiert, rückten auch die Natur bzw. naturwissenschaftliche Fragestellungen ins Blickfeld des Interesses. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Kathedrale Spiegel der Scholastik sei. Tatsächlich ist an ihrem Erscheinungsbild die neue Sichtweise der Natur ebenso ablesbar wie das Streben der Scholastik nach Systematik, das in der fortschreitenden Vereinheitlichung als einem Prinzip gotischen Bauens seinen Widerhall in der Architektur gefunden hat. Insofern ist die Kathedrale als Stein gewordene Scholastik zu verstehen. So verschwindet etwa das Figurenkapitell der Romanik aus ihrem Repertoire, an seine Stelle tritt das Blatt- oder Knospenkapitell mit außerordentlich realistischen Darstellungen. Die Bildprogramme der Tympana (wir werden das noch am Beispiel von Amiens weiter unten ausführen) zeigen eine Systematik, die der Romanik völlig fremd war. Nun entstehen Bilderzyklen, die in korrekter chronologischer Reihenfolge von einem Punkt zum nächsten führen, während Bildprogramme z. B. romanischer Kapitellzyklen wie kunterbunt durcheinander gewürfelt anmuten. In den Bildprogrammen der Kathedralen wird nicht nur die Heilsgeschichte dargestellt. Die gesamte Komplexität aller Phänomene rund um den christlichen Glauben (z. B. Heiligenviten, Legenden etc.) werden verbildlicht, die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament (Typologie) wird systematisiert und führt zu bilderreichen Zyklen. Auch die Wiederentdeckung der Antike und das Studium der griechischen Philosophen sind in den Bildprogrammen der Kathedralen zum Niederschlag gekommen. Berühmt sind die Gestalten der Philosophen am Portail Royal der Kathedrale in Chartres, wo außerdem Personifikationen der Sieben Freien Künste erscheinen.

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Hans Sedlmayr hat davon gesprochen, dass im Zeitalter der Kathedralen mit den Schriften der Denker dieser Epoche auch „geistige Kathedralen“ entstanden seien. Gemeint sind die seit dem ausgehenden 12. Jh. entstandenen sog. „Summen“, also systematische zusammenfassende Darstellungen verschiedener Wissensgebiete. Die wichtigsten sind die „Summa aurea“ des Wilhelm von Auxerre (1220), die „Summa de creaturis“ des Albertus Magnus (um 1240), die „Summa de anima“ des Johannes von La Rochelle (um 1245) und zuletzt, als das gewaltigste Werk des 13. Jh., die mehrbändige „Summa theologica“ des DominikanerHeiligen Thomas von Aquin (um 1270). Der betonte Rationalismus musste zwangsläufig zur Verdrängung der Mystik führen, die fortan ein Nischendasein fristete und sich erst im 14. Jh. in der Gestalt des Meisters Ekkehard wieder zu Wort meldete. In der Offenbarung wird auf die Baumeisterrolle Christi angespielt. Dieses Bild hat die gotische Buchmalerei aufgegriffen. In der „Bible moralisée“, die im 13. Jh. (wohl in Reims) entstand (das Original heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien), zeigt Gott bzw. Christus mit einem Zirkel in Händen bei der Vermessung der Welt.

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rotz regionaler und zeitlicher Besonderheiten in der konkreten Aus­führung weist die gotische Kathedrale einige stabile Bauelemente auf. Sie betreffen Grundriss, Aufriss und Wölbung sowie die Turm- und Fassadengestaltung. Grundriss

Das Langhaus aller Kathedralen ist basilikal gestuft, es besteht in der Regel aus drei, in seltenen Fällen (z. B. St-Etienne in Bourges und Nôtre-Dame in Paris) aus fünf Schiffen. Die Gestalt der Basilika mit einem über die Seitenschiffe erhobenen Mittelschiff und einem durchfensterten Obergaden geht auf die frühchristliche Baukunst zurück. Sie war auch für die Architektur der Romanik das bestimmende Muster. Die christliche Kirche des Mittelalters besteht aus drei Abschnitten: im Westen die Basilika, dann folgt nach Osten das Querhaus, zuletzt der Chor. Bereits in der Romanik war das System eines Chores mit Umgang und Radialkapellen entwickelt worden. Neu ist in der Gotik, dass die Kapellen nicht mehr voneinander isoliert um den Umgang gruppiert sind, sondern miteinan-

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der verzahnt werden. Man spricht deshalb auch nicht mehr von Radialkapellen, sondern von einem Chorumgang mit Kapellenkranz. Das erscheint erstmals in St-Denis. Aufriss

Für den Wandaufriss der gotischen Kathedralen hat die Baukunst der Normandie den Weg bereitet, wie überhaupt die normannische bzw. anglo-normannische Baukunst des 11.  /  12. Jh. fundamentale Voraussetzungen für die Entstehung der Gotik entwickelt hat. Zwei Dinge stehen dabei im Vordergrund: die Vertikalisierung der Bauten und die fortschreitende Gliederung bzw. Auflösung der Wand. Aus der normannischen Romanik ist das Emporengeschoss hervorgegangen, das für die frühgotischen Kathedralen kennzeichnend ist. Ein weiterer konstituierender Bestandteil des gotischen Wandaufrisses ist das Triforium. Hierbei geht es um die baukünstlerische Formung jener von der Lichtführung her gesehen blinde Zone im Bereich zwischen Arkade und Obergaden, an die sich am Außenbau die Pultdächer der Seitenschiffe an die Hochschiffwand lehnen. In der Romanik der Normandie und Burgunds handelt es sich um Blendbögen. In der Gotik hat sich das Triforium zu einem räumlich-dreidimensional in Erscheinung tretenden Laufgang fortentwickelt. Wölbung

In der Abteikirche Cluny III erscheint erstmals der im Scheitel zugespitzte Bogen, und auch das Gewölbe zeigt eine Tonne, die im Zenit zugespitzt ist. Der Vorteil gegenüber dem halbrunden Bogen der Romanik bzw. gegenüber der halbrunden Tonne liegt in der stärkeren Vertikalisierung der Schubkräfte, ein Prinzip, das die Gotik aufgreifen und zur Perfektion führen sollte. Die Form der Gewölberippen, die das struktive Gerüst eines gotischen Gewölbes darstellen, ist dagegen aus der islamischen Baukunst hervorgegangen. Frühe Beispiele in Gestalt von Bandrippen sieht man in der Mezquita in Cordoba. Von dort ist das Gewölbe mit eingebundenen Rippen in die spätromanische Architektur Nordspaniens und Südfrankreichs eingedrungen. Die Zweiturmfassade

Eine der Urformen der Zweiturmfassade sehen wir an St-Philibert in Tournus (Burgund). Hier bestehen die Türme aus zwei Stümpfen mit einem Satteldach. Die Weiterentwicklung fand indes nicht in Burgund statt, sondern erneut in der Normandie. Hier erfuhr die Zweiturmfassade bereits im 11. Jh. ihre große Entfaltung. An St-Etienne in Caen ragen die beiden Türme als beherrschender Akzent an der Westseite der Kirche auf. Diese betonte Vertikaltendenz sollte der gotischen Architektur besonders entgegenkommen.

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Zugleich wurde die Zweiturmfassade der wichtigste Bildträger der Kathedrale. An den Fassaden gotischer Kathedralen werden die unterschiedlichen Formen der Romanik zusammengeführt, miteinander kompiliert. Das Tympanon bleibt der wichtigste Bildträger, ihm gesellen sich reich mit Skulpturen besetzte Archivolten hinzu. Zugleich werden weitere Skulpturen in den höher gelegenen Geschossen der Westwand angesiedelt. Eine neue Form entsteht: die Königsgalerie (erstmals an Nôtre-Dame in Paris). Es ist noch auf die Zahl der Portale in einer Fassade hinzuweisen. Die Romanik kannte zunächst nur die eintorige Situation. In der späten Romanik Burgunds und der Provence kamen in der Zeit um 1130  /  40 die ersten Dreitoranlagen auf (Vézelay, St-Gilles). In der Fassade der gotischen Kathedrale hat sich nach der Mitte des 12. Jh. die Anlage mit drei Durchgängen als fester Topos etabliert. Auch in dieser Hinsicht ist die Beziehung zwischen Romanik und Gotik außerordentlich eng. Turmgruppen

Keine Kathedrale ist jemals vollendet worden. Türme waren oft nicht nur an der Westfassade geplant, sondern auch an den Fassaden der Querhausarme und als Flanken zu Seiten des Chores. In Chartres waren neun Türme geplant: je zwei an den Fassaden der Basilika, der Querhausarme, neben dem Chor und ein zusätzlicher Turm über der Vierung. Hier hat die Gotik auf unterschiedliche Quellen zurückgegriffen. Doppeltürme als Bestandteil einer Fassade gab es in der Normandie und in Burgund. Die Stellung von zwei Türmen zu Seiten des Chores, also im Osten der Kirche, war der französischen Architektur bis dahin fremd. Dieses geht auf die lombardisch-oberitalienische Baukunst zurück (S. Abbondio in Como u. a.) und hatte im 11.  /  12. Jh. überall dort in Europa Nachfolge gefunden, wo der italienische Einfluss stärker war als der französische. Chorflankentürme finden sich deshalb in gerade in der süddeutschen Romanik. Es gab aber auch schon in der Romanik Bauten mit Turmgruppen, wie das die Marienkirche in Tournai (Belgien) lehrt. Sie ist das seltene Beispiel einer Kirche, bei der sich im Vierungsbereich fünf Türme zu einer einzigartigen Turmfamilie gruppieren – so hat die Romanik in diesem Beispiel etwas realisiert, was zwar an vielen gotischen Kathedralen geplant, jedoch in keinem einzigen Fall zur Ausführung gekommen ist. In summa halten wir fest, dass viele der konstituierenden Bestandteile der gotischen Kathedrale in der Romanik vorbereitet sind. Um die Mitte des 12. Jh. sehen wir die Ile-de-France als einen Trichter, in den die unterschiedlichen Strömungen einfließen und miteinander amalgamiert werden, so dass daraus etwas Neues entsteht. Zugleich hat die Gotik Formen hervorgebracht, die sich nicht auf ältere Vorläufer zurückführen lassen. Hierbei handelt es sich um genuin goti-

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sche Formen, deren Entstehung wir erst in die Zeit um 1150 oder danach stellen können. Als Beispiele nennen wir das Strebewerk, das Rosenfenster, das Maßwerk sowie den ganzen Formenschatz der Bauornamentik. Die Frühgotik und die Kirche Abt Sugers in St-Denis

In der Zeit zwischen 1140 und 1195 entstanden die französischen Kathedralen der Frühgotik. Während die Romanik um das Jahr 1000 an verschiedenen Stellen in Europa ihren Anfang nahm, stand am Beginn der Gotik ein einziger Gründungsbau, die Abteikirche in der nördlich von Paris gelegenen Stadt StDenis. Die besondere Stellung von St-Denis wird deutlich, wenn man sich die Geschichte des Klosters und die Bedeutung des Bauherrn der ersten gotischen Kirche, Abt Sugers, vergegenwärtigt. Mitte des 3. Jh. wurde der legendäre erste Bischof von Paris, der hl. Dionysius, auf der Ile-de-la-Cité enthauptet. Die Legende berichtet, der Enthauptete habe seinen Kopf genommen und sei damit über den Montmartre nach Norden gegangen. An der Stelle, wo er sein Haupt niederlegte, wurde er bestattet und später das nach ihm benannte Kloster gegründet. Nachdem König Dagobert I. (gest. 639) in St-Denis beigesetzt worden war, wurde das Kloster traditionelle Grablege der französischen Könige. Mit nur zwei Ausnahmen wurden bis zu Ludwig XVIII. (gest. 1824) alle Herrscher des Landes in der Kirche des hl. Dionysius zur letzten Ruhe gebettet. Die Kirche war nicht nur eine religiöse Kultstätte, sondern zugleich ein Denkmal von höchster staatspolitischer Bedeutung. Hier wurden die Kroninsignien und das königliche Kriegsbanner, die Oriflamme, aufbewahrt. Werner Schäfke hat St-Denis deshalb den „religiösen Mittelpunkt Frankreichs“ genannt. Abt Suger (1081 – 1151) stammte aus bäuerlichem Milieu und kam als Knabe in das Kloster von St-Denis. Er durchlief eine einzigartige Karriere, 1122 wählte man ihn zum Abt von St-Denis. Danach stieg er zum Ratgeber und Kanzler Ludwigs VI. und Ludwigs VII. auf, er war nach dem König der mächtigste Mann im Staat. Suger ist das Musterbeispiel für den unternehmerischen Geist der großen Kirchenfürsten dieser Zeit. Im 12. Jh. stand in St-Denis noch der karolingische Kirchenbau. Suger ließ in einem ersten Vorgang den Westbau (1135 – 1140) und danach den Chor (1140 – 1144) errichten. Die karolingische Basilika dazwischen blieb noch bis in das 13. Jh. stehen. Zu dieser Zeit gab es nur wenige kunstfertige Handwerker in der Ile-de-France. Es ist überliefert, dass Suger auf seinen Reisen durch Frankreich Künstler für sein Projekt anwarb. Infolge der engen Anlehnung an romanische Vorbilder ist auch die Fassade noch ganz von der Romanik durchdrungen. Erste Vorboten der Gotik sind die (in der Revolution zerstörten) Gewändefiguren (Figuren in der schrägen Einschnittsfläche neben dem Portal).

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10  St-Denis, ehem. Abteikirche, Blick in den Chorumgang

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Eine Besonderheit ist der Zinnenkranz, der den blockhaften Unterbau von dem Turmpaar trennt. Hier wird immer auf Sugers Vision, ein Abbild des Himmlischen Jerusalem zu erschaffen, verwiesen. Aber neben dieser religiös-symbolischen Dimension klingt auch eine ganz reale politische Seite an. Als Abt von St-Denis war Suger zugleich Graf des Vexin. Der Zinnenkranz spielt auf die weltliche Autorität des Abtes an. Der Chor besitzt einen Umgang und erstmals anstatt der in der Romanik üblichen Radialkapellen einen Kranz von sieben Kapellen, die sich zueinander öffnen, so dass nahezu der Eindruck zweier Umgänge entsteht. Die Größe und Vielzahl der farbig verglasten Fenster deutet die Wände zu transparenten Lichtfolien um. Im Gewölbe erscheinen zum ersten Mal die Wulstrippen, die über dem unregelmäßigen Grundriss der Kapellen eine elegante Wölbung ermöglichen. Es wird ein Maß von Entmaterialisierung der Steinmasse erreicht, die der Romanik fremd war und mit der das neue Zeitalter der Gotik eingeläutet wird. Im Zusammenspiel der Farben muss man sich heute die verlorene Ausstattung vorstellen: die verbliebenen Bauteile, Säulen, Wandstücke, Kapitelle waren farbig gefasst, den Boden bedeckte ein Mosaik, und auf den Altären waren kostbare Goldreliquiare aufgestellt – es ist die Geburt einer neuen Ästhetik. Die Kathedrale in Noyon

Bald nach der Fertigstellung des Chores von St-Denis wurde das Kronland von einem wahren Baufieber erfasst, an dem auch sehr rasch die an die Ile-deFrance angrenzenden Landschaften der Picardie und der Champagne teilnahmen. In kurzer Reihenfolge entstanden die Bauten der Frühgotik, als erster die Kathed­ rale Nôtre-Dame in Noyon. Als Bauherr gilt Bischof Simon von Vermandois (1122 – 1148). Er soll bald nach der Weihe des Chores von St-Denis den Grundstein gelegt haben, also in der zweiten Hälfte der 1140er Jahre. Die Fortführung des Projekts fand unter Bischof Baudouin II. (1148 – 1167) statt. Danach zogen sich die Bauarbeiten am Langhaus bis in die Zeit um 1200 hin. Der Chor erscheint gegenüber dem von St-Denis etwas schlichter, er besitzt nicht dessen hohes Maß an Transparenz. Jedoch hat der Architekt in Noyon neue Maßstäbe gesetzt. Hier erscheint erstmals das System des viergeschossigen Aufrisses mit der Abfolge von Arkade, Empore, Triforium und Obergaden, wie es für alle nachfolgenden Kathedralen der Frühgotik richtungsweisend blieb. Das Triforium ist dabei der Wand lediglich aufgeblendet und tritt noch nicht räumlich als Laufgang in Erscheinung. Erst im Fortschreiten des Projekts, im Langhaus, gewinnt das Triforium räumliche Tiefe. Ungewöhnlich ist der Grundriss der gesamten Ostpartie. Indem die Enden der Querschiffarme nicht flach geschlossen, sondern gerundet sind, beschreibt die Ostpartie den Grundriss eines Kleeblatt-

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chores, man spricht auch von einer Dreikonchenanlage. Das könnte auf eine Verbindung zu Köln hinweisen, wo dieser seltene Bautypus bereits im 11. Jh. eine feste Heimat gefunden hatte (St. Maria im Kapitol). Die Kathedrale in Laon

Mit der Kathedrale Nôtre-Dame in Laon entstand ein Bauwerk, das nahezu idealtypisch die Architektur der Frühgotik verkörpert. Dem Bau der Kathedrale waren bewegte Ereignisse vorangegangen. 1112 wurde die romanische Vorgängerkirche durch einen Brand beschädigt und zunächst nur notdürftig renoviert. Dieser Brand war im Zuge einer Revolte ausgebrochen. Die Bürger hatten das Palais des Bischofs Gaudri erstürmt und diesen ermordet. Der König ließ den Aufstand niederschlagen, räumte aber den Bürgern 1128 einige Freiheiten ein, da der Konflikt zwischen Obrigkeit und der Bürgerschicht weiterschwelte. 1177 kam es zu einem erneuten Aufstand. Bischof Roger de Rozoi floh vorübergehend nach Burgund, um dem Schicksal Gaudris zu entgehen. Ungeachtet der antiklerikalen Haltung der Bevölkerung nahm die neue Kathedrale Gestalt an. Den Grundstein hatte Bischof Gautier de Mortagne (1155 – 1174) kurz nach seinem Amtsantritt gelegt. In klassischer Manier hatte man mit dem Bau des Chors begonnen, gegen 1190 machte man sich an die Errichtung der Westfassade. Um 1220 war das Bauwerk weitgehend vollendet. Schon in ihrer äußeren Gestalt ist die Kathedrale von Laon eine der eindrucksvollsten der französischen Gotik. Sie liegt weithin sichtbar auf einem Kalkplateau. Die Westfassade baut sich aus tief gehöhlten Baumassen auf, ganz anders als die in die Fläche verspannte Westansicht von Nôtre-Dame in Paris. Die drei Portale überfangen tief gezogene Vorhallen und auch die Gruppe der Fenster darüber erscheint weit in die Wand zurückgestuft. Eine technische Meisterleistung ist allein für sich das Rosenfenster mit einem Durchmesser von 9 m. Die Ecken der beiden Türme besetzen kleinere Türme, zuoberst lugen Halbfiguren von Stieren auf den Betrachter hinunter – mögliches Vorbild waren die Stiere am bronzenen Taufbecken des Rainer von Huy in Lüttich. Die Fassade der Kathedrale in Laon wurde zur Grundlage der meisten folgenden Kathedralfassaden. Im Innern sieht man die Prinzipien frühgotischer Baukunst in Vollendung. Im viergeschossigen Aufriss hat sich nun auch das Triforium zu einer räumlich in Erscheinung tretenden Zone weiterentwickelt. Im Langhaus sehen wir das sechsteilige Gewölbe: jeweils zwei Interkolumnien (also der Achsabstand zwischen drei Säulen) werden unter einem Kreuzrippen-Baldachin mit sechs Kappen zu einer Travee (Gewölbeeinheit) zusammengefasst. Aber es fällt auf, dass die Dienste, die in der Hochschiffwand aufgehen und sich im Gewölbe in Gestalt der Wulst-

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rippen verzweigen, noch nicht bis auf den Boden herabreichen. Ungewöhnlich ist der Chor, von dem wir aus den Quellen erfahren, dass er erst im 13. Jh. anstelle des ersten gotischen Chores aus dem 12. Jh. erbaut wurde. Der gerade östliche Abschluss ist mit dem Einfluss der Zisterzienser in Verbindung gebracht worden. Nôtre-Dame in Paris

Als ein weiteres Beispiel der Frühgotik kann auch die Kathedrale Nôtre-Dame in Paris gelten. Mancher wird jetzt stutzig! Warum wird die Pariser Bischofskirche den Denkmälern der Frühgotik zugerechnet? Ist nicht gerade Nôtre-Dame in Paris einer der Paradebauten der Hochgotik? Beides ist richtig. Wir erleben hier einen Fall ähnlich dem des Speyrer Domes, der sein heutiges Aussehen zweier aufeinander folgender Bauphasen verdankt. Nôtre-Dame wurde zunächst im 12. Jh. als frühgotischer Bau errichtet und erfuhr im 13. Jh. durch tiefgreifende Veränderungen seine Umgestaltung zu einer hochgotischen Kathedrale. Aber der Reihe nach! Als 1163 der Grundstein gelegt wurde, waren dem Projekt umfangreiche Planungen vorausgegangen. Drei Kirchen mussten dem Neubau weichen, darüber hinaus war der Abriss eines Teils des alten Krankenhauses sowie etlicher Wohnhäuser erforderlich; zudem entstand eine neue Straßenachse. Wir sehen den frühen Fall einer systematischen Stadtplanung. Initiator war Bischof Maurice de Sully, ein hoch gebildeter Theologe, der der Kirchenreform nahe stand. Die auffallende Größe von Nôtre-Dame erklärt sich aus der Tatsache, dass neben dem Bischof noch andere Personenkreise Einfluss auf die Planung nahmen, in erster Linie der König. Gerade Nôtre-Dame spiegelt insofern sehr deutlich das Erstarken der monarchischen Zentralgewalt wider. Daneben beteiligten sich die Bürger von Paris an dem Projekt, allen voran die Zünfte, die ihrerseits in der Größe des Denkmals ein geeignetes Mittel der Selbstdarstellung erblickten. Die Finanzierung stand auf soliden Füßen, denn man konnte aus drei Quellen schöpfen: aus den Pfründen des Bischofs, aus Spenden der Bürger und aus der königlichen Schatulle. Das erklärt das rasche Voranschreiten. Bereits 1182 wurde der Chor geweiht, schon um 1200 begannen die Arbeiten an der Westfassade, und um 1220 war das Gebäude im Wesentlichen fertig gestellt. Dennoch sollte Nôtre-Dame weiterhin eine Baustelle bleiben. Während man am Langhaus arbeitete, entstanden im Umfeld von Paris bereits die Kathedralen der Hochgotik. Der königliche Prestigebau durfte diesen nicht nachstehen. Nach 1220 wurde deshalb der Aufriss der Hochschiffwand modernisiert, und an den Seiten des Langhauses legte man Kapellen an, was wiederum die Erweiterung der Querschiffarme um je ein Joch nach Süden bzw. Norden erforderte. Gegen 1300 war schließlich alles vollendet.

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Die Westfassade erscheint merkwürdig flächig. Sie ist als einzige unter den großen Kathedralfassaden des 13. Jh. von der Fassade von Nôtre-Dame in Laon unbeeinflusst geblieben. Obwohl auch hier die Turmhelme fehlen, fügen sich die beiden Turmstümpfe durchaus stimmig in die Gesamterscheinung, so dass man die spitzen Helme, die natürlich auch hier ursprünglich geplant waren, kaum vermisst. Der Innenraum von Nôtre-Dame hat eine Länge von 127 m, ist 48 m breit und im Mittelschiffgewölbe 35 m hoch. Hier hat die Gotik erstmals den Schritt in den kolossalen Maßstab gewagt. Die vorangegangenen Kathedralen besitzen Höhen zwischen 20 und 26 m. Der Blick auf den Grundriss überrascht, denn die Basilika besitzt fünf Schiffe – nach der Disposition der Westportale würde man eine dreischiffige Anlage erwarten. Chor und Langhaus sind nahezu gleich gewichtet, ähnliches sehen wir in Laon. Die Seitenschiffe sind im Chor fortgeführt, so dass dieser zwei Umgänge anstatt einem besitzt. Die Hochschiffwand erscheint nach dem Umbau des 13. Jh. dreigeschossig. Über der Arkade befindet sich die Empore, darüber der Obergaden mit Gruppenfenstern, bestehend aus zwei Lanzetten (senkrechten Bahnen) und einem Okulus (kleinen Rundfenster). Ungeachtet des hochgotischen Eindrucks weisen drei Kriterien Nôtre-Dame als eine frühgotische Kathedrale aus: Im letzten Joch vor der Vierung hat Viollet-le-Duc im 19. Jh. den ursprünglichen Zustand rekonstruiert, wie er in den Querschiffarmen noch erhalten ist. Dort sehen wir den viergeschossigen Aufriss, allerdings mit der Besonderheit, dass das Triforium noch nicht als Laufgang ausgebildet ist, sondern aus einer Folge von (ursprünglich blinden) Rundfenstern besteht. Anders als in der Hochgotik weisen die Stützen kein Profil auf, sondern die Dienstbündel gehen wie in Laon und Noyon erst über der stützenden Kämp­ ferplatte auf. Da die Modernisierung des 13. Jh. das Gewölbe nicht erfasst hat, ist hier ist das sechsteilige Gewölbe der Frühgotik erhalten. Die Kathedrale in Soissons

Einer der schönsten Bauten der Gotik Nordfrankreichs ist die Kathedrale StGervais-et-St-Protais in Soissons. Baubeginn war um das Jahr 1180. Nach dem Vorbild der Kathedrale in Noyon sollte im Osten ein Dreikonchenbau entstehen. Gegen das Jahr 1200 war der südliche Querhausarm fertiggestellt. Dann erfolgte unter dem Eindruck des Neubaus der Kathedrale in Chartres ein radikaler Planwechsel. Man vollzog den Schwenk zur Hochgotik, so dass lediglich das südliche Querschiff noch stilrein die Frühgotik vertritt, dieses aber in einem so vollendeten Maße, dass man hier vom Gipfel der Frühgotik sprechen kann. Wir sehen wieder den viergeschossigen Aufriss. Die Stützen sind noch weiter ausgedünnt

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und erscheinen als ein Wald zierlicher Glieder. Hier lässt sich besonders gut nachvollziehen, was Hans Jantzen als die „diaphane Struktur“ der gotischen Baukunst bezeichnet hat. Die Hochgotik und die Kathedrale Nôtre-Dame in Chartres

Mit dem Neubau der Kathedrale Nôtre-Dame in Chartres begann Ende des 12. Jh. die Epoche der Hochgotik, die sich zwischen 1195 und 1260 entwickelte. Chartres war bereits in vorrömischer Zeit ein spirituelles Zentrum des keltischen Druidentums. Hier wurde die Virgo paritura (wörtlich: die Jungfrau, die gebären wird; Gottesgebärerin) verehrt. Es erscheint schlüssig, dass in christlicher Zeit Maria an die Stelle der keltischen Gottheit trat. Chartres war im Mittelalter das bedeutendste Marien-Heiligtum nördlich der Alpen. Ende des 9. Jh. kam als Geschenk König Karls des Kahlen jenes Hemd nach Chartres, das Maria bei der ­Verkündigung – nach einer anderen Version bei der Geburt Christi – getragen haben soll. Diese Reliquie stand metaphorisch für die Menschwerdung des Erlösers. Vier Kirchen folgten von der merowingischen Zeit bis zum 10. Jh. aufeinander. Im Jahr 1020 fiel die letzte von ihnen, ein spätkarolingisches Denkmal, einem Brand zum Opfer. Der damalige Bischof von Chartres, Fulbert (1006 – 1028), einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, der die Kathedralschule von Chartres zu einer der wichtigsten Lehrstätten des französischen Mittelalters machte, initiierte die Errichtung einer frühromanischen Kathedrale, in die Grundmauern des abgebrannten Vorgängerbaus für die Einfassung der Unterkirche übernommen wurden, damals die größte ihrer Art in ganz Europa. Dieser Fulbert-Bau erfuhr verschiedentlich Veränderungen, blieb aber bis in das frühe 12. Jh. weitgehend unbeschadet stehen. Dann zerstörte 1134 ein Feuer seine Westseite, die danach wieder aufgebaut wurde; bei diesem Bau hat die Romanik noch weitgehend die Architektur geprägt, während die Skulpturen bereits den neuen frühgotischen Stil, der von St-Denis ausging, übernahmen. 1194 war es wieder ein Feuer, das dieses Mal den gesamten übrigen Bestand des Fulbert-Baus zum Einsturz brachte. Dabei wurde auch die kostbare Reliquie vernichtet. In der Bevölkerung machte sich Verzweiflung breit. Es hieß, die Muttergottes habe Chartres ihren persönlichen Schutz entzogen. Deshalb begegnete man auch dem Vorschlag des Bischofs Renaud de Mouçon, unverzüglich mit einem Neubau zu beginnen, mit Ablehnung. Ein Wunder sorgte für den Umschwung. In einer feierlichen Prozession präsentierte das Domkapitel der staunenden Einwohnerschaft der Stadt die verloren geglaubte Reliquie. Es hieß, eine Gruppe beherzter Kleriker habe sich mit dem Tuch während des Brandes in der Unterkirche verschanzt, die tatsächlich trotz des Einsturzes des Fulbert-Domes, intakt geblieben war. Die Skepsis schlug in Euphorie um, und man beschloss unverzüglich den Neubau der Kathedrale.

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Die Aufgabe, die sich den Architekten 1195 stellte, war anders als im Fall von Nôtre-Dame in Paris, wo man auf keinerlei Vorgaben Rücksicht nehmen musste. In Chartres waren einmal durch den abgebrannten Fulbert-Bau und zum anderen durch die erhalten gebliebene Westseite Gegebenheiten zu berücksichtigen. Deshalb verbinden sich in Chartres Altertümlichkeiten mit sensationellen Neuerungen. An der Fassade wird das besonders deutlich. Die Türme sind Substanz des romanischen Bauwerks, das nach 1140 entstanden war. Von der frühen Gotik ist der Mittelteil zwischen den Türmen geprägt. Das gilt für die Dreitoranlage und für die in den Gewänden platzierten Statuen. Das Rosenfenster darüber wurde gleichfalls erst in der Gotik in die romanische Wand eingefügt. An den Grundriss des romanischen Vorgängerbaus war man auch bei der Anlage des Chors gebunden. So erklärt es sich, dass wir hier in der Anordnung der Kapellen am Chorumgang das zu dieser Zeit überholte Muster von Radialkapellen anstelle eines Kapellenkranzes sehen. Was ist nun neu in Chartres? Am auffälligsten ist das Strebewerk, Stützpfeilern mit Bögen, die den Obergaden absichert. Dieses war aus der anglo-normannischen Spätromanik hervorgegangen. Das erste Beispiel von Strebebögen besitzt die Kathedrale in Durham. Hier sind sie noch unter den Pultdächern der Seitenschiffe verborgen. Erstmals treten Strebebögen, die sich von den Strebepfeilern an die Hochschiffwand schwingen, an der Chorpartie von St-Germain-des-Prés in Paris offen zu Tage. In Chartres erleben wir den ersten Fall, dass ein Strebewerk den gesamten Bau umzieht. Da man keine Erfahrung mit dem neuen System besaß, erscheint das Strebewerk in Chartres jedoch massig und schwer. An der Kathedrale in Chartres wurden drei gewaltige Fassaden angelegt, an der Westseite und an den Stirnseiten der Querschiffarme. Jede dieser Fassaden sollte die Gestalt einer Zweiturmfassade annehmen, doch nur im Westen kam dies zur Ausführung. An den Querhausfassaden wurden lediglich die unteren Geschosse aufgeführt, ihnen fehlen die geplanten Helme. Dasselbe gilt für die Chorflankentürme. Auch zum Bau des ursprünglich geplanten Vierungsturms kam es nicht. Im Innern wird der Fortschritt gegenüber den Denkmälern der Frühgotik besonders deutlich. In Chartres wurde die Viergeschossigkeit aufgegeben. Man verzichtete auf die Empore, der Aufriss der Hochschiffwand wird zur Dreigeschossigkeit vereinfacht. Die Reduzierung der Geschosse betont die Vertikalität der Architektur, zugleich wird das Bestreben der Gotik erkennbar, den Weg der Vereinheitlichung weiterzugehen. Das gilt auch für das Gewölbe. Das sechsteilige Gewölbe der Frühgotik ist zugunsten des strafferen Systems der Vierteiligkeit aufgegeben. Nun bildet tatsächlich jede Interkolumnie auch eine mit dieser iden-

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tischen Travee. Günther Binding unterscheidet Früh- und Hochgotik, indem er für die erste Phase von der „vereinzelten Form“ und für die nachfolgende von der „verbundenen Form“ spricht. Und noch ein Novum beobachten wir in Chartres. Waren in der Frühgotik die Stützen im unteren Arkadengeschoss unprofiliert, so sind nun die Dienste der Hochschiffwand an ihren Schäften bis zum Boden hinabgeführt, zu jeder Himmelsrichtung ein Dienst. Man nennt dieses den kantonierten Pfeiler. Dabei fällt das alternierende Muster auf. Wir sehen einen Wechsel von Rundstützen mit oktogonalen Diensten und oktogonale Stützen mit Runddiensten. Mit Nôtre-Dame in Paris hatte bereits der Wettlauf um die Größensteigerung begonnen. Auch in dieser Beziehung setzten die Baumeister der Kathedrale in Chartres den Weg der Gotik fort. Das Gebäude hat eine Länge von 130 m, das Gewölbe erreicht im Mittelschiff eine Höhe von 36 m. Die Kathedrale in Chartres gilt uns heute als Inbegriff der Gotik. Das hat seine Berechtigung und gründet sich vor allem auf die Tatsache, dass das Chartreser Denkmal das am besten erhaltene der Epoche überhaupt ist. Die farbigen Fenster sind zu einem großen Teil erhalten. Sie sind konstituierender Bestandteil im Gesamtkontext und verleihen dem Innenraum jene unbeschreibbare Aura von etwas Überirdischem, das bereits Suger mit dem Chorneubau in St-Denis angestrebt hatte. Allerdings wirkt der Raum heute unverhältnismäßig dunkel, wo doch im Zusammenhang mit der Gotik – vor allem im Vergleich zur vorangegangenen Romanik – auch von Zeitgenossen immer von der gesteigerten Lichtfülle die Rede ist. Ursprünglich war die Kathedrale tatsächlich sehr viel heller. Die Wände waren in einem leuchtenden Gelb gestrichen und die Dienste weiß gehöht. Seit 2008 findet eine Wiederherstellung dieses ursprünglichen Zustandes statt, die 2014 zum Abschluss kommen soll. Nôtre-Dame in Reims

Neben der Kathedrale in Chartres kommt der Kathedrale Nôtre-Dame in Reims eine herausragende Stellung zu. Die historischen Voraussetzungen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, unterscheiden sich von denjenigen in Chartres. Chartres gründete seine Stellung auf den Rang als bedeutender Marien-Wallfahrtsort, Reims dagegen war die traditionelle Krönungsstätte der französischen Könige. Hier sehen wir erneut – wie im Falle von St-Denis und Nôtre-Dame in Paris – die enge Verbindung zur Monarchie. Die Tradition reicht weit zurück. In Reims wurde der Merowinger Chlodwig im Jahr 496 zum König gesalbt und gekrönt, nachdem er sich zur Orthodoxie bekannt hatte und getauft worden war. In karolingischer Zeit kam eine Legende auf, auf die sich später der Anspruch des französischen Königs stützte, als einziger direkt von Gott eingesetzter Herrscher in Europa zu gelten. Als Bischof Remigius die Salbung vollziehen wollte,

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11  Reims, Kathedrale Nôtre-Dame, Zweiturmfassade

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habe sich der Himmel geöffnet und eine Taube mit einem Salbgefäß sei herabgeschwebt. Dieses legendäre Gefäß wurde seither in der Abtei von St-Remi aufbewahrt und in feierlicher Prozession zu jeder Krönung in die Kathedrale gebracht. Im Rechtsverständnis galt nur derjenige Herrscher als legitimer König Frankreichs, der in Reims gekrönt worden war. Schon vor der Grundsteinlegung war deshalb klar, dass hier erneut ein Prestigebau von höchsten Ansprüchen entstehen würde. Die Baugeschichte allerdings liest sich, soweit man sie erschließen kann, geradezu abenteuerlich! Im Jahr 1210 war ein frühgotischer Vorgänger, an dem noch gebaut wurde, durch einen Brand zerstört worden. Am 6. Mai 1211, dem Jahrestag der Feuersbrunst, legte Erzbischof Albéric den Grundstein. Vier Jahre später nahm der Bauherr am 2. Laterankonzil in Rom teil, von dort brach er ins Heilige Land auf. Unterwegs nahmen ihn Piraten gefangen, aus deren Händen ihn Ritter des Ordens von Calatrava wieder befreiten. Von den Strapazen der Reise ausgezehrt, starb der Bischof 1218 auf der Heimreise in Pavia, wo er bestattet wurde. Völlig unklar ist, ob die Bauarbeiten in Reims während dieser Zeit fortgeführt wurden. Die Tatsache, dass sein Nachfolger Guillaume de Joinville (1219 – 1226) bereits 1221 eine Messe in der Chorscheitelkapelle zelebrierte, ist nicht unbedingt als Indiz für eine Kontinuität der Bauarbeiten zu werten. 1223 wurde Karl VIII., drei Jahre später Ludwig IX. in Reims gekrönt, das damals eine einzige Baustelle war. Von Anbeginn erschwerten finanzielle Engpässe das Bauvorhaben. Emissäre des Domkapitels zogen deshalb über Land, um Spenden zu sammeln, Papst Honrius III. erteilte Ablässe, es bildeten sich Bruderschaften – Schäfke nennt sie salopp „Dombauvereine“. 1233 kommt es zu einem Aufstand der Bürger, der Bischof muss aus der Stadt fliehen. Ähnliches hatten wir bereits in Laon erlebt. Es fällt auf, dass beide Orte in der Champagne liegen. Hier muss der Klerus gegenüber den Bürgern eine überheblichere Haltung an den Tag gelegt haben als andernorts. Im Zusammenhang mit Laon bemerkt Robert Suckale: „Der Klerus war adelsstolz und selbstherrlich“. Ungeachtet dieser Wechselfälle schritt der Bau der Kathedrale seiner Vollendung entgegen. 1252 begannen die Arbeiten an der Westfassade. Diese sollten sich noch bis in das frühe 16. Jh. hinziehen­. Dennoch blieb auch die Westfassade der Kathedrale in Reims ein Torso. Genaueres wüssten wir, wenn das Labyrinth der Kathedrale erhalten wäre. Es war in den Boden eingelegt und nannte nicht nur die Namen der Baumeister, sondern auch wichtige Eckdaten zur Baugeschichte. Es wurde 1779 auf Weisung des damaligen Bischofs zerstört, weil lärmende Kinder beim Spielen im Labyrinth den Gottesdienst störten. Schon damals war das Labyrinth stark abgetreten, so dass in der Zeichnung, die uns die Situation im 17. Jh. überliefert, nur noch ei-

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nige der Baumeisternamen zu entziffern sind. Danach waren Jean d’Orbais, Jean le Loup, Gaucher de Reims und Bernhard de Soissons an dem Projekt beteiligt. Dennoch lebt dieses Labyrinth bis in die Gegenwart fort. Seit Jahren ist es das offizielle Logo, mit dem alle als „monument historique“ klassifizierten und staatlich geschützten Denkmäler Frankreichs gekennzeichnet sind. Ursprünglich besaßen alle Kathedralen ein solches Labyrinth, erhalten ist nur ein einziges, jenes in Chartres, das allerdings auch seiner Inschriften verlustig ging. Diese Labyrinthe waren multifunktional. Zum einen dienten sie der namentlichen Verewigung der am Bau beteiligten Personen, zum anderen rutschten in ihren verschlungenen Bahnen Pilger betend auf Knien bis zum Mittelpunkt. Die Kathedrale in Reims gilt als der vollkommenste Bau der Hochgotik. Dieses Urteil gründet sich zum einen darauf, dass in diesem Bau ein bis dahin nicht erreichtes Maß an Einheitlichkeit erreicht wurde, zum anderen auf die Ausgewogenheit der Proportionen, die trotz der gewaltigen Maße harmonisch erscheinen. Die Kathedrale ist 150 m lang, die Höhe des Mittelschiffs beträgt 38 m, die Breite des Mittelschiffs 14,65 m. Die Baumeister in Reims knüpften in wesentlichen Punkten an die Errungenschaften ihrer Chartreser Kollegen an, zugleich entwickelten sie diese weiter und bereicherten die gotische Baukunst mit neuen Ideen. Wir betrachten zunächst den Außenbau. Die Westfassade folgt den Prinzipien, die in Laon maßgebend waren. Die Baumasse weist tiefe Höhlungen auf, ist mit Fialen (spitzen Türmchen) reich verziert und besitzt eine Königsgalerie als oberen Abschluss. Überhaupt fällt auf, dass der Reichtum der Skulpturen in der Gesamterscheinung bestimmend mitspricht. Anlässlich einer Inventarisierung, die kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (der der Kathedrale erheblichen Schaden zugefügt hat) durchgeführt wurde, hat man 2303 Skulpturen an dem Bauwerk gezählt. Eine Besonderheit fällt auf, die es nur in Reims gibt: Die Tympana der drei Portale sind durchfenstert. Ihre Funktion als Träger von Skulpturen haben ihnen die Wimperge abgenommen, die dadurch Tympanoncharakter annehmen. Das Strebewerk, das in Chartres erstmals einen ganzen Baukörper umschließt, ist nun bereits Repertoire. Aber in Reims hat eine Verfeinerung seiner Gestalt stattgefunden. Anstelle der klobigen Steinmassen, die in Chartres himmelwärts streben, sehen wir in Reims ausgedünnte Pfeiler. In Chartres bestand noch Unsicherheit in der Bemessung des Volumens, in Reims dagegen hat man mit sicherem Instinkt das richtige Verhältnis zwischen dem, was statisch notwendig, und dem, was ästhetisch befriedigend ist, gefunden. Offene Tabernakel bekrönen die Pfeiler, in denen Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln stehen. Einer Himmelsarmee gleich umziehen sie die gesamte Kathedrale. Die Strebebögen schwingen sich mit leichter Eleganz von den Pfeilern an die Außenwand des Hochschiffs.

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Der Innenraum gipfelt noch steiler als der in Chartres in bis dahin ungeahnte Höhen. Wieder erscheint der kantonierte Pfeiler, doch in einer einheitlicheren Gestalt als in Chartres. Wir können nun von dem kantonierten Rundpfeiler sprechen, denn es findet kein Wechsel mehr der Reihung statt, weil die Stützen einander angeglichen sind. Die bedeutsamste Neuerung, die in Reims kreiert wurde, ist das Maßwerk. Schauen wir uns zum Vergleich die Fensterrosen in den Westfassaden der beiden Kathedralen in Chartres und in Reims an, dann wird der Unterschied zwischen beiden auf Anhieb deutlich. In Chartres sind die Fensteröffnungen aus den Steinquadern ausgeschnitten, man spricht von Plattenmaßwerk, auch negatives Maßwerk genannt; in Reims dagegen sind die Rahmungen aus Stäben gebildet. Dadurch wird der letzte Rest an Wandfläche eliminiert, und es können weitere Felder durchfenstert werden. Das ist der letzte Schritt zur Auflösung der Wand. In Reims ist also ein Höchstmaß von Vergitterung erreicht. Nôtre-Dame in Amien

Unter den Kathedralen der Hochgotik, die in den Kernlandschaften Nordfrankreichs entstanden, ist schließlich Nôtre-Dame in Amiens zu nennen. In Amiens treffen wir auf historische Gegebenheiten, die sich fundamental von Chartres und Reims unterscheiden. Weder war Amiens ein bedeutender Wallfahrtsort, noch stand die Stadt in einer ursächlichen Beziehung zur Krone. Amiens war im Mittelalter eine der reichsten Handelsstädte Nordfrankreichs. 150 km nördlich von Paris lag Amiens direkt an der Handelsroute, die von dort nach Flandern führte. Die Kathedrale ist also nicht zuletzt Ausdruck eines Selbstbewusstseins, das auf der Basis von materiellem Wohlstand ruhte. Inzwischen waren die Bischöfe von einer wahren Bauwut getrieben. Nachdem auch in Amiens 1218 ein Feuer die ältere Kathedrale zum Einsturz gebracht hatte, legte Bischof Evrard de Fouilloy den Grundstein zum größten Kirchenbau der Gotik in Frankreich. Er erreichte eine Länge von 145 m, erstmals übersprang die Gewölbehöhe des Mittelschiffs die 40-m-Marke: 42,3 m. Die Kathedrale überfängt eine bebaute Fläche von 7700 m². Ungewöhnlich erscheint der Bauvorgang. Während man sonst prinzipiell im Osten begann, um möglichst rasch den Chor liturgisch in Gebrauch nehmen zu können, errichtete man in Amiens zuerst die Fassade und schob sich von dort nach Osten vor. Der Grund dafür ist einleuchtend. Dort, wo sich heute das nördliche Seitenschiff der Basilika und der Chor erheben, standen im 13. Jh. noch andere Kirchen, St-Firmin und St-Nicolas, des Weiteren eine Krankenanstalt und Wohnhäuser, die man den Eigentümern Schritt um Schritt abkaufte, um sie sodann abzureißen. Das ging nicht ohne Reibereien und Prozesse ab. Der vom

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Ehrgeiz getriebene Bauherr wollte so rasch wie möglich Resultate sehen, also entschloss er sich, unorthodoxerweise mit dem Bau der Westfassade zu beginnen. Diese war nach nur knapp 10 Jahren Bauzeit vollendet – allerdings auch in diesem Fall wieder ohne die Turmhelme. Die Eile, mit der das Projekt vorangetrieben wurde, ist nicht ohne Folgen auf den Stil der Skulpturen geblieben. Die Inschrift des Labyrinths ist überliefert. Sie nannte die Namen dreier Baumeister, als ersten Robert de Luzarches sowie als dessen Nachfolger Thomas de Cormont und nach diesem dessen Sohn Renaud de Cormont. Von Robert de Luzarches wird vermutet, dass er von der Pariser Dombauhütte nach Amiens berufen wurde (Suckale). Er ist auch der Architekt der Sainte-Chapelle in Paris. Robert de Luzarches ist eines der überragenden Genies des gotischen Zeitalters. Er hat der Baukunst jener Zeit vor allem in technischer Hinsicht neue Horizonte erschlossen. Allein der Blick auf die Solidität der Fundamente lässt den genialen Ingenieur erkennen: bis 12 m reichen die Fundamente der Kathedrale von Amiens in den Boden. Robert de Luzarches hat auch neue Formen der Steinbearbeitung ersonnen, ja, er hat den gesamten Betrieb der Bauhütte revolutioniert. Bis dahin wurde nur in der warmen Jahreszeit gearbeitet. Von etwa November bis in das Frühjahr ruhte die Arbeit auf den Baustellen. Außerdem wurde von den Steinmetzen jedes Werkstück individuell behauen. Luzarches richtete als erster Ateliers ein, in denen auch in den Wintermonaten weitergearbeitet wurde. Sie waren geheizt, so dass der Stein problemlos bearbeitet werden konnte. Zuvor war das Steinmaterial bei Kälte gesprungen. Darüber hinaus wurde nun auf Halde gearbeitet, das bedeutet, dass Werkstücke gleicher Größe, also im Sinne einer festen Norm, vorgefertigt wurden, die man nach Ablauf des Winters unverzüglich an dem für sie vorgesehenen Platz montierte. Das bedeutete natürlich eine enorme Rationalisierung der Baukosten, und zugleich beschleunigten die neuen Techniken den Fortgang der Arbeiten. Darüber hinaus ließ Robert de Luzarches in den fragilen Obergaden eiserne Zuganker einziehen, die das gesamte Bauwerk wie einen Gürtel umfangen. Nur so ist das unvorstellbar rasche Emporwachsen der Amienser Kathedrale nachvollziehbar. Bereits 1236 war das Hauptschiff vollendet, 1238 begannen die Arbeiten am Chor, 1247 waren Chorumgang und Chorkranzkapellen fertig. 1248 kam es allerdings zu einer Verzögerung, danach ist ein Planwechsel festzustellen. Die Formen der Hochgotik wurden aufgegeben, an ihre Stelle ist das verspieltere, feingliedrigere Maßwerk der Rayonnant-Gotik getreten. Mit dem Ausscheiden des Robert de Luzarches ist dies nicht zu erklären, da dieser schon gestorben war. 1269 fand die Verglasung der Fenster des Obergadens im Chor statt, 1288 waren die Bauarbeiten im Wesentlichen abgeschlossen. Im Innenraum – klassisch und verbindlich: der dreigeschossige Aufriss, der kantonierte Rundpfeiler, das vierteilige Gewölbe – herrschen andere Proporti-

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12  Amiens, ­ athedrale NôtreK Dame, Langhaus

onsverhältnisse als in Chartres und Reims. In diesen beiden Kathedralen haben die Arkade des Unterschosses und die Fenster des Obergadens annähernd dieselbe Höhe. In Amiens werden der Obergaden und das Triforium zu derselben Höhe zusammengefasst wie die Arkade unter ihnen, so dass diese im Eindruck des Besuchers deutlich höher aufzuragen scheint. Der Raum erhält dadurch eine lichte Weite und Transparenz, die wir in den beiden vorangegangenen Bauten noch nicht in dieser Form sehen. Im Chor sind die Baumeister hinsichtlich der Durchfensterung einen entscheidenden letzten Schritt weitergegangen. Hier wurde nun auch das Triforium zu einer lichtdurchlässigen Zone. Dies wurde möglich, indem man das alte Muster des Pultdaches aufgab und über dem Umgang Zeltdächer

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errichtete. Das machte wiederum ein komplizierteres System der Entsorgung des Regenwassers erforderlich, aber der Versuch war von Erfolg gekrönt. In der Nachfolge des Chores von Amiens entstanden Bauten, bei denen auch im Langhaus das Triforium durchfenstert erscheint (Troyes, Straßburg). Gotische Kathedralen in anderen Landschaften

Bereits um 1200 begann die Ausbreitung der Gotik über die Kernlandschaften Nordfrankreichs hinaus. Erstes Beispiel ist die Kathedrale St-Etienne in Bourges, die zwischen 1200 und 1260 errichtet wurde. Der anspruchsvolle Bau besitzt fünf Schiffe. Hinsichtlich des Strebens nach Vereinheitlichung ist der Architekt dieser Kathedrale noch einen Schritt über seine Kollegen im Norden hinausgegangen, indem er auf ein Querhaus verzichtet hat, das tatsächlich in allen anderen Kathedralen einen gewissen optischen Bruch im Gesamtgefüge darstellt. Die Kathedrale in Bourges ist der bedeutendste Bau der französischen Gotik außerhalb des Kerngebietes in Nordfrankreich. Zu einer Hochburg der Gotik in Burgund erblühte Auxerre, wo bereits 1215 die Kathedrale St-Etienne in Bau war. Hier konnte sich das betonte Vertikalstreben der klassischen Gotik nicht durchsetzen. In St-Etienne erscheinen die Verhältnisse von Höhe zu Breite ausgewogener. Beidseits der Kathedrale entstanden in der Nachfolge die gotischen Kirchen der Abtei von St-Germain und zuletzt St-Pierre. Alle drei Bauten wenden ihre Chorseiten der Yonne zu, in deren Wasser sie sich spiegeln. So besitzt heute Auxerre das am stärksten von der Gotik geprägte Bild einer Stadt in ganz Frankreich. In Dijon wurde im 13. Jh. die Pfarrkirche Notre-Dame errichtet, die dieselbe in sich ruhende Ausgewogenheit besitzt wie St-Etienne in Auxerre. Hans Jantzen hat sie als eines der schönsten Bauwerke der Gotik gepriesen. Die Gruppe der Kathedralen in Clermont-Ferrand, Bayonne und Narbonne gehen auf einen Baumeister zurück, auf den Auvergnaten Jean Deschamps, der mit diesen Beispielen Ableger der Kathedralgotik Nordfrankreichs schuf. Alle anderen großen Kathedralen des 13. Jh. in den Südprovinzen bleiben Traditionen der Romanik verpflichtet. Die Kathedrale in Poitiers ist eine dreischiffige Halle, die Bauten in Albi, Perpignan u. a. sind einschiffige Saalkirchen. Das Musterbuch des Villard d’Honnecourt

Ein bedeutendes schriftliches Dokument der gotischen Architektur stellt das Bauhüttenbuch von Villard d’Honnecourt dar. Der Verfasser, der in der Zeit zwischen 1230 und 1250 in Nordfrankreich arbeitete, war vermutlich Architekt. Man schreibt ihm den Chor der Kollegiatskirche in St-Quentin zu, die große Ähnlichkeit mit dem Chor der Kathedrale in Reims besitzt. Ähnlich wie Vitruv in der Antike oder Sebastiano Serlio in der Renaissance ist Villard d’Honnecourt

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jedoch nicht als Baumeister in die Geschichte eingegangen, sondern als Architekturtheoretiker bzw. Autor. Er unternahm in der Zeit um 1235 mehrere Reisen durch Nordfrankreich und besuchte dort die Dombauhütten. So hielt er sich in u. a. in Cambrai, Chartres, Reims, Laon und Meaux auf, sein Weg führte ihn aber auch nach Lausanne und bis nach Ungarn. Überall hielt er Dinge, die ihm wichtig erschienen, in Zeichnungen fest. So ist das berühmte „Musterbuch“ entstanden, ursprünglich eine Loseblatt-Sammlung, später gebunden, von der heute noch 33 Blätter mit rund 300 Zeichnungen erhalten sind (Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. fr 19093). Offenbar diente der Traktat als Bauhüttenbuch und zur Unterweisung der Schüler. Die Rayonnant-Gotik

Das auffälligste Merkmal der Gotik in den Jahrzehnten nach 1260 ist die Verfeinerung des Maßwerks, das immer verspieltere Formen annimmt. Man nennt diese Epoche, die sich in der Zeit von 1260 bis 1380 ausformte, die Rayonnant-Gotik (von „rayonner“: ausstrahlen). Der Terminus ist doppeldeutig. Zum einen nimmt er Bezug auf die Strahlenform spätgotischer Rosenfenster, deren Maßwerk sich zentrifugal von der Mitte zum Rand zu bewegen scheint, also den Eindruck von Lichtstrahlen erweckt; zum anderen spielt der Begriff auf die Internationalisierung der Gotik an, die schon vor der Mitte des 13. Jh. anfing, in die Nachbarländer Frankreichs auszustrahlen. Am weitesten öffneten sich Deutschland und England der französischen Gotik. Die lateinischen Länder des Mittelmeerraums, also in der Hauptsache Spanien und Italien, wurden nur partiell von der Gotik berührt. In Spanien sind es vor allem die Kathed­ ralen in Burgos, León, Sevilla und auf Mallorca, die sich den französischen Vorbildern eng annähern. In Italien ist der gewaltige Mailänder Dom, dessen Gestalt ­wesentlich von deutschen Künstlern mitbestimmt wurde, ein Einzelfall geblieben. Die Kathedrale in Beauvais

Nach der Amienser Kathedrale, an der sich bereits Elemente der RayonnantGotik beobachten lassen, sollte nur noch ein einziger Bau einen neuen Größenmaßstab erreichen: die Kathedrale in Beauvais, die unvollendet blieb. An ihr vollzieht sich vollends der Übergang von der Hochgotik zur Rayonnant-Gotik. Baubeginn war 1238. In Beauvais, wo stilistisch nicht mehr viel Fortschritt zu erkennen ist, tastete man sich an die magische 50-m-Grenze: die Höhe des Mittelschiffgewölbes im Chor beträgt 46,7 m. Das entspricht 144 Ellen mittelalterlicher Maßeinheit, und das wiederum ist die Höhe, die in der Offenbarung des Johannes für die Höhe der Stadtmauern des Himmlischen Jerusalems genannt

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wird. Man wollte also in Beauvais ganz real ein irdisches Abbild dieses Himmlischen Jerusalem erschaffen. Doch war man endgültig an die Grenzen des technisch Machbaren gestoßen. 1284 stürzten die Gewölbe ein. Trotzdem biss man sich an dem Projekt fest, erhöhte und verstärkte das Strebewerk und stellte die Gewölbe des Chores in mühevoller und langjähriger Arbeit wieder her. Dann aber wurden die Arbeiten eingestellt. Heute ist der Innenraum der Kathedrale in Beauvais durch zahlreiche Stützen und Zuganker verunstaltet, und es ist ungewiss, ob man das Gebäude überhaupt dauerhaft wird retten können. In Beauvais hat sich die Gotik in Hybris verstiegen. Das Langhaus der Abteikirche in St-Denis

Ein weiteres Beispiel der Rayonnant-Gotik ist die Abteikirche in St-Denis. Abt Suger hatte den Westbau mit den beiden Türmen (eben noch romanisch) und den Chor (dieser schon frühgotisch) errichten lassen. Zwischen 1231 und 1281 wurde als letztes das karolingische Langhaus durch einen gotischen Neubau ersetzt. Historische Gründe dürften den Anstoß dazu gegeben haben. Zu Beginn des 13. Jh. drohte der Abtei ein Prestigeverlust, die Benediktiner liefen Gefahr, gegenüber den Zisterziensern ins Hintertreffen zu geraten. Ludwig VII. hatte sich nicht in St-Denis, sondern in der Zisterzienserabtei Nôtre-Dame-de-Barbeau in der Nähe von Fontainebleau beisetzen lassen, König Ludwig IX. schleppte demütig selbst Steine für den Bau der Zisterzienser-Abteikirche von Royaumont. Zudem war St-Denis von Kathedralen regelrecht umzingelt. Da war mit dem alten karolingischen Bau kein Staat mehr zu machen. Mit dem Neubau des Langhauses in den eleganten Formen des Rayonnant gelang der Abtei der Anschluss an das Niveau der Zeit. Die Sainte-Chapelle in Paris

Ebenfalls im Stil der Rayonnant-Gotik wurde die Sainte-Chapelle in Paris errichtet. Sie ist nicht nur ein Gründungsbau des verfeinerten Spätstils der Hochgotik, sie leitet zugleich im zeitlichen Vorfeld der Katastrophe von Beauvais ein neues Zeitalter hinsichtlich der Größenmaßstäbe ein. Als Palastkapelle des Königs und Aufbewahrungsort der Dornenkrone Christi wirkt sie wie das verkleinerte Abbild einer Kathedrale. Sie steht damit am Beginn eines neuen Kapitels der Frömmigkeitsgeschichte, die bald danach im 14. Jh. anhebt und europaweit ihren Höhepunkt im 15. Jh. erlebt. Es ist die private Frömmigkeit, die intime Andacht, der Dialog des Einzelnen mit Gott, die in den Vordergrund drängen – Devotio moderna nannte man das sehr bald. Dieses neue Kapitel der Religiosität im europäischen Spätmittelalter ist ein weiterer Grund für das bald nachlassende Interesse an den Großbauten, es ist nicht nur ein technischer, der mit dem Einsturz der

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Gewölbe in Beauvais eine Kehrtwende einleitet. Die Sainte-Chapelle ist das letzte epochale Bauwerk der Gotik im Kronland, das bald nach 1270 die Rolle als Innovationszentrum verliert. Die Gotik beginnt danach im Formelhaften zu erstarren.

Die Skulptur der Früh- und Hochgotik

I

Symbolik des Portals

   n der gotischen Architektur gewinnt das Portal besonderen Stellenwert, weil  ihm symbolische Bedeutung zugeschrieben wird. Das Portal ist der Bereich des Übergangs von außen nach innen, der Übergang vom Profanen zum Sakralen. Allein im Alten Testament wird in verschiedenen Zusammenhängen mehr als 300mal die Tür genannt. Im Neuen Testament findet sich in den Worten des Erlösers wiederholt der eschatologische Hinweis auf die Tür als Zugang zur Erlösung. Im Gleichnis der Törichten und der Klugen Jungfrauen (Matthäus 25,1 – 13) stehen die Törichten vor verschlossener Tür, während die Klugen Einlass zu ihrem Bräutigam finden. Den Höhepunkt erreicht die neutestamentliche Türsymbolik in dem Vergleich, den Christus zwischen der Tür und sich selbst zieht ( Johannes 10,9): „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden.“ Diesem Passus ist es in erster Linie zuzuschreiben, dass bereits die Romanik das Kirchenportal mit Christus gleichgesetzt hat. In der späten Romanik wurde im Zusammenhang mit der an Popularität gewinnenden Marienverehrung ab etwa 1140 auch Maria tympanonwürdig. An die spätromanischen Marientympana knüpfen die Portale der frühen Gotik an. Die Skulptur der Frühgotik und die Westportale von St-Denis

Bedeutende Beispiele der frühgotischen Skulptur, die sich in der Zeit zwischen 1140 und 1200 entwickelte, finden sich an den Westportalen der Kathedrale von St-Denis. Die Skulpturen im Gewände sind die ersten ihrer Art. Es waren 20, erhalten ist keine einzige, da alle in der Revolution zertrümmert wurden. Wir kennen sie nur aus Zeichnungen des 18. Jh. Sie stehen stilistisch im Übergang von der Spätromanik zur frühen Gotik. Die Schrittstellung, die einige dieser Figuren aufweisen, ist vergleichbar mit Reliefs der Zeit um 1130  /  40 in Südwest-Frankreich. Man vermutet deshalb, dass der bzw. die Bildhauer aus dem Languedoc stammten. Das Tympanon, die Archivolten und die Türpfosten sind noch weitgehend original aus der Zeit kurz vor 1140 erhalten. Es handelt sich um das erste Weltgerichtsportal der Gotik. Dieses Thema, das in der Romanik nur eines unter vielen

Die Skulptur der Früh- und Hochgotik

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13  Chartres, Kathedrale Nôtre-Dame, Portail Royal

war, sollte in der Gotik eine beherrschende Stellung einnehmen. Im Zentrum thront Christus mit weit ausgebreiteten Armen, über ihm schweben Engel mit den Leidenswerkzeugen in Händen. Diese Disposition geht auf ein konkretes Vorbild in Südwest-Frankreich zurück, das Tympanon in Beaulieu-sur-Dordogne. Die Archivolten-Figuren haben dagegen ihre Vorbilder in der Romanik des Poitou. In den Nischen der beiden Portalpfosten stehen Gestalten der Klugen und der Törichten Jungfrauen, auch hier ist der Bezug zum Poitou gegeben. Das Portail Royal der Kathedrale in Chartres

Da die Fassade von St-Denis vieles von ihrer Substanz verloren hat, ist das Portail Royal der Kathedrale in Chartres heute das älteste erhaltene Beispiel einer frühgotischen Portalanlage. Sie ist in der Zeit 1145  /  55 entstanden. Von den einstmals 24 Gewändestatuen sind 19 erhalten. Hier sehen wir zum ersten Mal das neue gotische Muster der statue-colonne, einer Statue, die mit der sie hinterfangenden Säule aus einem einzigen Werkstück gearbeitet ist. Neuartig gegenüber der romanischen Kunst sind der gesteigerte Maßstab, die Loslösung von der Wand und die Reihung der Figuren. Dargestellt sind Könige (7), Königinnen (5) und weitere Gestalten des Alten Testaments, Propheten (7), von denen nur die wenigsten namentlich zu bestim-

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men sind. Zwei Bedeutungsebenen werden angesprochen, zum einen die Typologie (die Gestalten des Alten Testaments als Vorgänger des Neuen Testaments) und zum anderen die Sakralität des französischen Königtums. Das mittlere der drei Tympana zeigt eine Mischung von Parusie (Wiederkunft Christi) und Weltgericht. Die Christusfigur wirkt herrscherlich und unterkühlt, zugleich gegenüber den visionären Tympanon-Gestalten der Romanik gebändigt, vermenschlicht. Willibald Sauerländer zitiert in dem Zusammenhang den Ausspruch des Aelfred von Rielvaux: „Deus amicitia est“ (Gott ist die Freundschaft). Das linke Tympanon zeigt die Himmelfahrt Christi. In den Archivolten sind Monatsarbeiten und Tierkreiszeichen dargestellt. Wir zitieren hier Sicardus von Cremona (12. Jh.): „Das Jahr im Ganzen ist Christus, seine Teile, die Jahreszeiten, sind die vier Evangelien, die zwölf Monate sind die Apostel“. Das rechte Tympanon ist das erste Marientympanon der Gotik. Es ist das am stärksten von der Romanik geprägte. In den beiden Registern sieht man Verkündigung, Heimsuchung, Geburt, Verkündigung an die Hirten und die Darbringung des Christuskindes im Tempel. In dem Bogenfeld darüber thront die Muttergottes in der strengen Frontalhaltung, die wir von den romanischen Madonnen des Typus Sedes sapientiae (Sitz der Weisheit) kennen. In den Archivolten sind Personifikationen der Sieben Freien Künste (Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Quadrivium: Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik) und antike Philosophen dargestellt, eine neue Ikonographie, die der Romanik noch fremd war. Neuartig ist auch die zum Teil genrehafte Wiedergabe. So sieht man die Grammatik als gestrenge Lehrerin, die zwei Schulbuben mit einer Rute züchtigt. In allem schwingt ein neues Gefühl für Lebenswirklichkeit mit. Stilistisch fällt auf: die Verfestigung der Formen, der klare Aufbau, die extreme Längung der Figuren (nur der Säulenstatuen), und zugleich hat alles einen Hauch höfischer Verfeinerung. Es bleibt aber ein hohes Maß an Irrationalität. Das sieht man vor allem mit Blick auf das Standmotiv: die Figuren scheinen regelrecht zu schweben. An der Ikonographie ist die Systematik bemerkenswert: Im rechten Portal die Menschwerdung Christi, links gegenüber das Ende des Wirkens Jesu auf Erden, seine Himmelfahrt, in der Mitte seine Wiederkunft und das Weltgericht. Das alles ist im Sinne einer Bedeutungssteigerung von den Seiten zur Mitte aufzufassen. Der Stilwandel um 1200

Einen fundamentalen Stilwandel stellen die Portale an der Westfassade der Kathedrale St-Etienne in Sens in der Zeit um 1200 dar. Das älteste der drei Portale ist das Johannesportal. In dessen Tympanon sind die Taufe Christi, das Fest-

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mahl des Herodes und die Enthauptung des Täufers dargestellt, darüber befindet sich ein Brustbild Christi mit zwei Engeln. Das Auffallendste ist der Stil, der eine neue Bewegtheit zeigt. Wir erleben einen der frühen Fälle von Antikenannäherung in der gotischen Skulptur. Das Hauptportal ist wenige Jahre später entstanden (um 1200) und heute leider verstümmelt. Vor allem die Gewändefiguren sind in der Revolution verschwunden. Neu sind hier die Schrägung des Gewändes, das bislang immer getreppt war, sowie ein weiteres Detail: Bislang befanden sich über den Gewändestatuen immer in zwei Zonen übereinander der kleine Baldachin, darüber Kapitelle. Hier verschmelzen Baldachin und Kapitell nun zu einer Form, was in der Nachfolgezeit ein kanonischer Typus wurde. Fünf Archivolten schwingen sich über das Tympanon, darin Figuren von Engeln (innen), sitzenden Diakonen und Heiligen mit Märtyrerpalmen, stehende Märtyrer, Heilige mit Spruchbändern und zuletzt (außen) Personifikationen der Tugenden. Hier sind die Figuren noch körperlicher, fülliger aufgefasst und in fließende, lockere Gewänder gekleidet. Ähnliches gilt für das rechte Portal, das Gerichtsportal. Diese Annäherung an antike Vorbilder ist gänzlich neu in der gotischen Skulptur. Von hier ist die Brücke zu den Skulpturen der beiden Querhausfassaden der Kathedrale in Chartres zu schlagen. Ähnlich ist der Stil der Figuren in den Archivolten des Hauptportals der Kathedrale in Laon, die gleichfalls um 1200 entstanden sind. Wir sehen um 1200 einen fundamentalen Stilwandel, der uns auch in anderen Kunstgattungen begegnet, z. B. im Werk des Goldschmieds Nikolaus von Verdun. Die Skulptur der Hochgotik und die Querhausfassaden der Kathedralen in Chartres

Die hochgotische Skulptur, die sich in der Zeit von 1200 bis 1270 entwickelte, ist an den Querhausfassaden der Kathedrale in Chartres exemplarisch realisiert. Im Jahr 1204 hatte der Graf von Blois der Kathedrale von Chartres das Haupt der hl. Anna zum Geschenk gemacht. Dieses Ereignis gilt als Anstoß für das Skulpturenprogramm der Nordquerhaus-Fassade, in der die hl. Anna als Trumeaufigur (Figur am mittleren Pfeiler) des Mittelportals eine zentrale Stelle besetzt. Die Marienikonographie erfährt hier ihre weitere Entfaltung. Im Tympanon erscheint die bereits als Typus festgeschriebene Marienkrönung, im Architrav darunter folgen Tod und Himmelfahrt Mariens. Im Gewände stehen Statuen von Propheten sowie von Johannes dem Täufer und Petrus. Als besonders lebendig fallen erneut die Figuren in den Archivolten auf, die gelöster erscheinen als die Gewändestatuen. Um 1210 muss es zu einer Unterbrechung der Arbeiten an der Nordquerhaus-Fassade der Kathedrale in Chartres gekommen sein. Jetzt erfolgte die Anlage der Fassade des südlichen Querhauses (1210 – 1215). Es handelt sich um eine

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der ersten Dreitoranlagen mit einem konsequent durchdachten theologischen Programm, das zugleich voller neuer Ideen steckt. Neu ist z. B. der Christus am Trumeau. Er ist der erste Vertreter des sog. Beau-Dieu (schöner Gott), einer idealisierten Darstellung Christi. Im Tympanon darüber thront Christus als Weltenrichter, und zwar in der Pose des Wundmale-Christus. Neuartig ist hier die Konstellation der Fürbittergruppe. In der byzantinischen Ikonographie stehen Maria und Johannes, hier in Chartres haben sie Platz genommen und wenden sich mit gefalteten Händen an den Erlöser. Dadurch verliert der Richter an Strenge, er wird menschlicher, der Aspekt der Vergebung wirkt stärker betont. Das linke Seitenportal nennt man das Stephanus-Portal, weil im Architrav der Tod des Erzmärtyrers dargestellt ist. Korrekter wäre die Bezeichnung Märtyrer-Portal, denn im Gewände stehen Statuen von Märtyrern, namentlich bestimmbar nur Stephanus und Laurentius. Das rechte Portal ist das Bekenner-Portal. Hier stehen Statuen der hl. Martin und Gregor sowie weiterer Heiliger, die nicht alle zu identifizieren sind. Im Tympanon wird die Geschichte des hl. Martin (Mantelteilung, links) und des hl. Nikolaus (Goldspende, rechts) geschildert. In summa ist mit den drei Portalen die Kirche in ihrer Gesamtheit angesprochen, deren Mittelpunkt Christus der Erlöser ist. Nach Fertigstellung dieser Arbeiten am Südquerhaus kehrte das Atelier zum unfertigen Nordquerhaus zurück. Nun entstanden die beiden Seitenportale. Man nimmt für deren Entstehung die Zeit um 1220 an. Die Vorhallen kamen in beiden Fällen, Süd und Nord, erst nachträglich um 1220  /  60 hinzu. Das Bildprogramm von Amiens

Die drei Portalen der Westfassade der Kathedrale in Amiens sind ohne Unterbrechung in den Jahren 1220 – 1235 entstanden. Sie nehmen eine Breite von 35 m ein und erreichen eine Höhe von bis zu 20 m. Das Bildprogramm (rund 800 Figuren) ist nicht nur das geschlossenste aller Kathedralen, es ist auch das besterhaltene. Zentrum ist der Beau-Dieu am Trumeau des Mittelportals, die erste freiplastisch gearbeitete Monumentalstatue aus Stein der Nachantike. Mit 2,60 m Höhe ist er weit überlebensgroß. Die Figur ist doppeldeutig: der Christus der Versuchung und Christus als Sieger. Die Tiere zu seinen Füßen sind ein Hinweis auf Psalm 91, Vers 13: „Super aspidem et basiliscum ambulabis et conculcabis leonem et draconem“ (Über Aspis und Basilisk wirst du schreiten, wirst den Löwen und die Schlange zertreten). Christus steht hier in der Tür, ja, er ist die Tür selbst ( Johannes 10,9). Besonderheiten am Trumeau: am Sockel sind eine Lilie (Symbol der Reinheit) und eine Rose (Symbol der göttlichen Liebe und zugleich Hinweis auf die Passion) dargestellt, an der Vorderseite König Salomon als Inbegriff der Weisheit. Er steht für den Alten Bund, Christus für den Neuen, der auf den Schultern des Alten steht.

Die Skulptur der Früh- und Hochgotik

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Im Tympanon darüber sehen wir ein vielfiguriges Weltgericht mit der Fürbittergruppe im Zentrum. Neu gegenüber Chartres-Süd: die Fürbitter knien. Der Aspekt des demütigen Bittens um Gnade für die sündige Menschheit ist also noch stärker betont. Darüber erscheint der Heiland als Parusie-Christus. In der Addition von Beau-Dieu, Richter und Wiederkehrendem ergibt sich eine „ideographische Achse“ (Wilhelm Schlink). Das rechte Portal ist ein Marienportal mit der Madonna am Trumeau und Szenen aus der Kindheit Jesu im Tympanon. Das linke Portal ist dem hl. Firmin gewidmet, dem ersten Bischof von Amiens. In der Systematik geht das Bildprogramm in Amiens über jenes der Südquerhaus-Fassade in Chartres hinaus. Auch in Amiens wird die Kirche in ihrer Gesamtheit angesprochen, doch erscheint alles noch straffer durchdacht und geordnet. Der ideographischen Vertikalachse im Mittelportal entsprechen die vielfältigen Querverbindungen, die sich als Gedankenbrücken durch alle drei Portale ziehen. Es handelt sich um ein Programm mit ausschließlich theologisch-heilsgeschichtlichem Charakter. Schlink spricht vom „strukturellen Beziehungsgeflecht“. Das assoziative Denken der Romanik ist nun endgültig von einem neuen kausalen Denken verdrängt worden. Für ein neues Verständnis von Wirklichkeit spricht auch das Standmotiv. Die Figuren schweben nicht mehr auf schräg gestellten Füßen, sondern sie haben Bodenhaftung, ihre Füße sind flach auf den Sockel gestellt. Der Stil der Figuren weist dieselbe Einheitlichkeit auf wie das theologische Programm. Die Gestalten sind in Gewänder gehüllt, die in schweren Bahnen herabwallen. Auf kunstvolle Drapierungen wurde verzichtet. Auch die Gesichter weisen einen gewissen Schematismus auf. Es gibt dafür nur eine plausible Erklärung: die Bildhauer waren gezwungen, sich dem unerhörten Tempo bei der Errichtung der Fassade anzupassen. Skulptur als Spiegel der Baugeschichte in Reims

Reims und Amiens – beide Namen stehen für die Vollendung der Kathedralkunst. Und doch kann man sich kaum ein gegensätzlicheres Paar vorstellen! In Amiens: Baubeginn im Westen; in Reims: Baubeginn im Osten. In Amiens: kurze Bauzeit, straffes Vorgehen, Einheitlichkeit in der Planung; in Reims: Verzögerungen, Unterbrechungen, Planwechsel. Der Architektur in Reims ist von der bewegten Entstehung nichts anzumerken. Aber die Skulpturen erzählen beredt von der wechselvollen Geschichte. Zum Verständnis ist vorauszuschicken, dass von den ursprünglich weitläufigen Baukomplexen rund um die Kathedrale heute so gut wie nichts mehr erhalten ist. Auf der Nordseite befanden sich einst die Wohnbauten des Domklerus und direkt daran angrenzend die Räume des bischöflichen Gerichts, auf der Südseite die Residenz des Bischofs, von der noch Teile aus nachmittelalterlicher Zeit erhal-

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ten. Die aktuelle denkmalhafte Freistellung dieser wie auch anderer Kathedralen ist sinnentstellend. Die drei Portale der Westfassade in Reims zeigen inhaltlich wie auch stilistisch eine verwirrende Vielfalt. Hier hat mehrfach ein Programmwechsel stattgefunden, und die Skulpturen stammen aus unterschiedlichen Zeiten wie auch von verschiedenen Künstlern. Aber zunächst ist der Aufbau zu beachten. Es gibt keine Tympana, da die Bogenfelder über den Türen durchfenstert sind. Stattdessen sind die Wimperge tympanonartig mit Skulpturen besetzt. In ihnen sind die Marienkrönung (Mitte), die Kreuzigung (links) und das Weltgericht (rechts) dargestellt. Dass die Krönung das Weltgericht vom zentralen Platz in der Mitte verdrängt hat, hängt mit der Funktion von Reims als Krönungsstätte zusammen. Wir kommen zu den Portalen. Im rechten Gewände des rechten Seitenportals stehen die ältesten unter den Reimser Skulpturen. Sie sind etwa zwischen 1211 und 1220 entstanden und zeigen Verwandtschaft mit den Figuren vom Mittelportal des Nordquerhauses in Chartres. Sie sind Teil eines offenbar aufgegebenen Programms und stehen hier eher als Lückenbüßer. Der Planwechsel erfolgte um 1230. Anstelle einer Reihe mit alttestamentlichen Personen sollte am Mittelportal ein großfiguriger Zyklus zum Thema der Kindheit Jesu entstehen. Hier waren verschiedene Meister tätig. Links die Darbringung im Tempel mit Simeon, Maria, Joseph und einer Magd. Ein Amienser Meister hat Simeon und die beiden Frauen geschaffen. Der Joseph mit seinen spitzen Gesichtszügen gehört einer späteren Zeit an (Mitte des 13. Jh.). Er besitzt Verwandtschaft mit den Apostelstatuen in der Sainte-Chapelle und mit der TrumeauMadonna vom Nordportal von Nôtre-Dame in Paris. Man nennt diesen Künstler den ­Reimser Josephsmeister. Auf der rechten Seite stehen die beiden Doppelgruppen der Verkündigung und der Heimsuchung. Die Maria der Verkündigungsgruppe (um 1230) stammt wiederum von einem jener Künstler, die von Amiens nach Reims berufen worden waren – der Amienser Stil ist unverkennbar! Der Engel mit dem berühmten „Reimser Lächeln“ ist später (um 1250) entstanden und gehörte ursprünglich zu einer Gruppe im linken Seitenportal. In der Heimsuchungsgruppe erlebt die Reimser Skulptur, die Antikenrezeption des 13. Jh., ja, die gotische Skulptur schlechthin einen ihrer großen Höhepunkte! Die Gestalten Marias und Elisabeths zeigen den antiken Kontrapost (Stand- und Spielbein) und ein vielfach geknittertes Gewand. Der Vergleich zwischen diesen Statuen macht deutlich, dass man nur noch bedingt von einem Zeitstil sprechen kann. Wir sehen um 1230 eine erstaunliche Heterogenität, bedingt durch die Tatsache, dass Künstler mit zum Teil sehr unterschiedlichen Auffassungen tätig waren. Und nun zum linken Seitenportal: Im rechten Gewände stehen Heilige, die namentlich nicht bestimmbar sind, gegenüber eine Gruppe mit einem Kephalo-

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14  Reims, Kathedrale, Westportal, Verkündigung und Heimsuchung

phoros (Kopfträger; entweder Nicasius oder Dionysius, beide wurden enthauptet) mit zwei Engeln, die das Reimser Lächeln zeigen, Ausdruck des Zustands einer überirdischen Glückseligkeit. Fazit: Die stilistische Vielfalt im Figurenzyklus der Reimser Westfassade erklärt sich aus der Tatsache, dass die meisten Figuren zu einer Zeit gemeißelt wurden, als die Westfassade noch gar nicht im Bau war. Man arbeitete also auf Halde. Erst um 1250 begannen die Bauarbeiten, da waren die meisten Skulpturen bereits fertig und warteten schon lange auf ihre Aufstellung. Skulptur hat in der Gotik Frankreichs nur in Ausnahmefällen Eingang in den Innenraum der Kathedralen gefunden – Reims ist ein solcher Ausnahmefall. In der Westwand befinden sich in sieben Zonen übereinander Nischen mit Einzelfiguren, von denen nur die wenigsten zu deuten sind. Mit den farbigen Fenstern in den Tympana ergibt sich eine ganz eigene Ästhetik, die vermutlich mit dem Krönungsritus in Verbindung steht. Zuletzt erwähnen wir die Engel in den Tabernakeln, die die Strebepfeiler am Außenbau bekrönen und das Bauwerk wie eine himmlische Heerschar bewachen. Reims genoss nicht nur wegen seiner Architektur, sondern auch wegen seiner Skulpturen europaweit Berühmtheit. Der Einfluss der Reimser Bildhauer reichte in Spanien nach Burgos, in Deutschland nach Bamberg und Naumburg und fand in Italien Eingang in das Werk Giovanni Pisanos (1245 –  1314), der sich in seiner Jugend eine unbestimmte Zeit in Nordfrankreich aufgehalten hat.

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Die Skulpturen von Nôtre-Dame in Paris

Die einheitliche und geschlossene Wirkung der Westfassade von Nôtre-Dame in Paris lässt zunächst vermuten, dass auch ihr Skulpturenprogramm aus einem Guss sein müsse – das Gegenteil ist der Fall. Man sieht eine ähnliche Stilpluralität wie in Reims, jedoch mit dem Unterschied, dass hier nicht alles willkürlich zusammengestellt erscheint, sondern dass man bei richtiger Betrachtung sehr schlüssig den Weg der gotischen Skulptur nachvollziehen kann. Das älteste Portal der Pariser Kathedrale Nôtre-Dame ist das rechte Seitenportal, das Annenportal. Es gehört noch zur Substanz der frühgotischen Kathed­ rale und ist um 1160 entstanden. Die thronende Muttergottes im Tympanon folgt dem romanischen Typ der Sedes sapientiae. Daran schließt zeitlich das linke Seitenportal an, das Marienportal aus der Zeit um 1210  /  20 mit der Darstellung der Krönung Mariens (darunter der Tod Mariens), die die antikisierende und idealisierende Tendenz der Skulptur dieser Epoche zeigt. Zuletzt entstand um 1230 das Mittelportal mit der Darstellung des Weltgerichts. Wie in Amiens ist der Richter als Wundmale-Christus dargestellt, und wieder knien die beiden Fürbitter. Der Stil ist von einer Nüchternheit geprägt, die an einen Einfluss aus Amiens denken lässt. Die Gewändestatuen aller drei Portale wurden in der Revolution vollständig zerstört. Im 19. Jh. hat Viollet-le-Duc sie durch Abgüsse von Statuen anderer Portale ersetzt. Es war die erste große Fassadenrekonstruktion des Historismus. Die Statuen der Königsgalerie über der Portalzone waren ebenfalls zerstört. Bei Ausschachtungsarbeiten fand man in den 1970er Jahren Fragmente wieder, die heute im Musée National du Moyen-Age in Paris ausgestellt sind. Man erkennt jenen antikisierenden Stil, der für das Marienportal kennzeichnend ist. Mit einer Höhe von 3,50 m sind es die größten Skulpturen der französischen Gotik. An der Fassade des nördlichen Querhauses von Nôtre-Dame ist die TrumeauMadonna aus der Zeit um 1250 erhalten. Ihre Kennzeichen sind: straffe Formen, durchgehende Gewandfalten, elegante Erscheinung – sämtlich Ausdruck eines neuen, höfisch geprägten Stils. Zuletzt das südliche Querhaus, dessen Skulpturen um 1260 entstanden sind. Im Tympanon erscheint das Martyrium des hl. Stephanus. Es erinnert daran, dass der Vorgängerbau von Nôtre-Dame dem Erzmärtyrer geweiht war. Die einst hier befindliche Statue des Adam wird heute im Musée National du Moyen-Age aufbewahrt. Sie ist um 1260 entstanden und scheint beinahe aus der Zeit zu fallen. Die Figur zeigt sich von einer Natürlichkeit, die im Rahmen der Skulptur des 13. Jh. die Sprache verschlägt! Man meint einen ersten Hauch der Renaissance zu spüren.

Der Burgenbau

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Die Vièrge dorée in Amiens

Mit der Vièrge dorée am Trumeau des Südquerhaus-Portals der Kathedrale in Amiens geht um 1270 das Kapitel der hochgotischen Skulptur zu Ende. Sie zeigt den höfischen Stil, der für die Skulpturen an den Querhausportalen an Nôtre-Dame in Paris kennzeichnend ist. Möglicherweise hat hier ein Bildhauer gearbeitet, der zuvor in Paris tätig war. Eines wird deutlich: um 1200 und kurz danach gab es verschiedene Zentren der Bildhauerkunst in Nordfrankreich. Dann aber hat Paris die schöpferischen Kräfte an sich gezogen und ist Mitte des 13. Jh. führend geworden.

Der Burgenbau

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eben der sakralen Baukunst nimmt seit dem 13. Jh. die Profanarchitektur einen immer bedeutsameren Platz ein. Die schlichte Form des romanischen Donjon gehörte alsbald der Vergangenheit an. In vielen Fällen blieben die Donjons des 11.  /  12. Jh. zwar stehen, aber sie wurden im 13. Jh. ummantelt und sind deshalb in den meisten Fällen nur noch schwer auszumachen; die Burg von Beynac im Tal der Dordogne ist dafür ein gutes Beispiel. Die Familien wuchsen und das Hofgesinde hatte an Zahl zugenommen, so dass die Bauten zwangsläufig immer aufwändiger werden mussten. Zudem erzwangen technisch verbesserte Belagerungsmaschinen die fortschreitende Verstärkung der Verteidigungsanlagen. Im 13. Jh. kommt das Muster des doppelten Mauerrings auf, im Beispiel der Cité von Carcassonne nicht nur in einem hervorragenden, sondern zugleich dem größten Beispiel des europäischen Mittelalters bestens erhalten. Ein doppelter Mauerring umzieht die Stadt und die Burg der Vizegrafen von Carcassonne im Herzen der Anlage. Nach Möglichkeit suchte der Adel höher gelegene Orte für seine Burgen, um sich besser gegen Angreifer verteidigen zu können. In einigen Fällen wurden sie in enger Nachbarschaft errichtet, so dass ganze Burgen-Familien entstanden. Die besten Beispiele sind die Burggruppen in Lastours östlich von Toulouse, in Chauvigny unweit von Poitiers und – als der bekannteste Bau – Chinon am Unterlauf der Vienne. In diesem Fall handelt es sich allerdings um ein System­ von Befestigungsanlagen, die zum gegenseitigen Schutz errichtet wurden. Mit der Emanzipation des Burgenbaus ging auch eine gesteigerte Wohnkultur einher, die ihre Anregungen aus dem Orient bezog.

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Die Spätgotik Kurzer Abriss zur Geschichte

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ach der Glanzzeit unter Ludwig IX. erlebte das kapetingische Haus unter seinen letzten Herrschern seinen Niedergang. Philipp III. der Kühne (1270 – 1285) und Philipp IV. der Schöne (1285 – 1314) setzten zunächst die Großmachtpolitik Ludwigs IX. erfolgreich fort. Das führte zwangsläufig zur Konfrontation mit dem Papsttum, mit dem die Herrscher Frankreichs bis dahin in bester Eintracht gelebt hatten. Indem der König von Frankreich als mächtig­ ster Monarch in Europa in die Fußstapfen der Staufer getreten war, erbte er zugleich deren spannungsgeladenes Verhältnis zu Rom, denn im 13. Jh. reklamierte auch der Papst für sich den Anspruch auf die Weltherrschaft. Der Konflikt spitzte sich Ende des 13. Jh. zu, als mit Bonifaz VIII. ein brillanter Jurist auf dem Stuhle Petri saß. 1302 hatte dieser die Bulle „Unam Sanctam“ erlassen, in der er die Unterwerfung aller Menschen – auch der Herrscher! – unter die päpstliche Autorität postulierte. Niemals zuvor hat ein Papst – nicht einmal Innozenz III.! – den Titel eines Vicarius Christi (Stellvertreter Christi) wörtlicher und kompromissloser ausgelegt. Auf die Weigerung Philipps IV., den Papst als ihm übergeordnete Autorität anzuerkennen, drohte ihm Bonifaz VIII. mit der Exkommunikation. Philipp de Nogaret kam diesem Akt zuvor. Als Gesandter des französischen Königs überfiel er Bonifaz am 8. September 1303 in dessen Residenz Anagni und nahm ihn gefangen. Trotz der raschen Freilassung erholte sich der Papst nicht von dem Schock und starb kurz darauf am 12. Oktober 1303 als gebrochener Mann. Das folgende Pontifikat Benedikts XI. (1303 – 1304) war nur eine kurze Episode. Nach dessen Tod setzte Philipp IV. mit Clemens V. (1305 – 1314) die Wahl eines Franzosen durch und zwang diesen, in der Provence Residenz zu beziehen. Im Ringen zwischen dem Papsttum und der französischen Krone hatte der Monarch obsiegt, aber zugleich sein Ansehen in Europa beschädigt. Dasselbe gilt für seinen Einsatz bei der Zerschlagung des mächtigen Templerordens, ein Ereignis, das als das größte Justizverbrechen des gesamten Mittelalters bewertet wird. So erlebte das französische Herrschertum unter König Philipp IV. einerseits einen vorerst letzten Gipfel, zugleich deutete sich der Niedergang des Hauses der Kapetinger an. Beim Blick auf die Liste der letzten Herrscher aus diesem Geschlecht fallen deren kurze Regierungszeiten auf: Ludwig X. der Zänker (1314 – 1316), Philipp V. (1316 – 1322) und Karl IV. (1322 – 1328). Es waren schwache Persönlichkeiten, die der Opposition, die aus dem wieder erstarkten Adel hervor-

Die Spätgotik

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gegangen war, nichts entgegenzusetzen hatten. Als 1328 Karl IV. ohne Erben starb, endete die Geschichte der Kapetinger. Um die Nachfolge bewarben sich Philipp von Valois und der englische König Edward III., die beide mit Ludwig IX. verwandt waren. Da die Juristen und Diplomaten keinen Ausweg aus dem Dilemma fanden, brach 1338 der Zweite Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich aus, in dessen Verlauf Frankreich nahezu an den Rand seiner Existenz geriet. Erst dank des Auftretens der Johanna von Orléans 1429 schlug das Kriegsglück zugunsten Frankreichs um, 1453 verlief der Krieg nach der Schlacht von Castillon-la-Bataille im Sande. Das 14. Jh. ist das düsterste Kapitel in der Geschichte Frankreichs, denn außer den Niederlagen im Krieg gegen England hatte das Land unter der Pest (1348), unter Hungersnöten, Revolten und Anarchie zu leiden. Erst nach der Mitte des 15. Jh. erfolgte ein Neubeginn. Architektur der Flamboyant-Gotik

Die letzte Phase der Gotik in Frankreich (1380 – 1530) nennt man den Flamboyant. Das Wort bedeutet wörtlich „lodernd“ und beschreibt das Bild züngelnder Flammen. Solchen ähneln die Maßwerkfenster, insbesondere die Rosenfenster, der Spätgotik. Einem Ornament verdankt also die Spätgotik ihren Namen. Das ist keine Seltenheit, denn immer dann, wenn eine Stilepoche in ihre Endphase eintritt, nimmt die Ornamentik einen beherrschenden Platz ein. Dasselbe gilt für das Rokoko. In der Flamboyant-Gotik bleibt das architektonische Repertoire der Hochgotik nahezu unverändert, wenn man vom Aufriss der Hochschiffwand absieht. Hier sind die Baumeister dem Weg der fortschreitenden Vereinheitlichung treu geblieben. Wir bringen in Erinnerung: Kennzeichen der Frühgotik ist der viergeschossige Aufriss, die Hochgotik ging zur Dreigeschossigkeit über. Der logische nächste Schritt ist die Reduzierung der Hochschiffwand auf zwei Geschosse, und genau das ist in einer Gruppe von Bauten des 15. Jh. geschehen, als deren wichtigste Vertreter wir St-Germain-l’Auxerrois in Paris und die Abteikirche in Brou (bei Bourg-en-Bresse) nennen. Hier ist das Triforium verschwunden, der Aufriss auf Arkade und Obergaden reduziert. Die letzte Konsequenz wäre die Eingeschossigkeit, was zwangsläufig zur Bauform der Halle führt. Diesen letzten Schritt ist die Spätgotik in Frankreich nicht gegangen. Die Halle ist dagegen zum typischen Vertreter der Spätgotik in Deutschland und in Österreich geworden. Neben den zweigeschossigen Basiliken haben sich aber auch dreigeschossige Kirchen behauptet, die man nur in ihren verspielten Flamboyantformen als Vertreter der späten Gotik erkennt, z. B. St-Eustache in Paris.

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Der Sonderfall Burgund

Außergewöhnliche Leistungen insbesondere auf dem Gebiet der Skulptur brachte in der Spätgotik das Herzogtum Burgund hervor. Seit dem 11. Jh. herrschte hier eine Seitenlinie der Kapetinger. Diese starb beim Tod Philipp de Rouvres aus, der 1361 der Pest erlag. Karl V. (1364 – 1380) belehnte im Jahr seines Regierungsantritts seinen jüngeren Bruder Philipp den Kühnen mit Burgund. Dieser begründete dort das Haus Valois. Mit Philipp dem Kühnen (1364 – 1404) brach nun für Burgund das strahlende Zeitalter der Großen Herzöge an. Auf Philipp folgten sein Sohn Johann Ohnefurcht (1404 – 1419), sein Enkel Philipp der Gute (1419 – 1467) und zuletzt sein Urenkel Karl der Kühne (1467 – 1477). Dank einer geschickten Heiratspolitik, gerissener Diplomatie und, wo beides nichts nützte, mit kriegerischer Gewalt, dehnten die vier Burgunder Valois-Herzöge ihren Herrschaftsbereich vor allem nach Norden in den Raum der Niederlande aus. Brügge, Antwerpen und Mecheln liefen Dijon den Rang der Residenz ab. In der Zeit des Johann Ohnefurcht und Philipps des Kühnen befand sich der Hundertjährige Krieg auf seinem Höhepunkt. Burgund hatte die Schwächung 15  Dijon, ehem. Kartause von Champmol, ­Mosesbrunnen Claus Sluters

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Frankreichs entscheidend mit zu verantworten, nachdem sich die Burgunder Valois zeitweilig mit den Engländern verbündet hatten. Erst 1436 erfolgten deren Umkehr und ihre Aussöhnung mit Frankreich, das damals nur noch ein Schatten seiner selbst war. Burgund dagegen stand als eine gefestigte Macht im Herzen des damaligen Europa. Das burgundische Hofzeremoniell war tonangebend, der Reichtum der Herzöge legendär. Mit dem Tod Karls des Kühnen, der 1477 bei der Belagerung von Nancy, der Hauptstadt Lothringens, fiel, endete dieses Kapitel der Geschichte. Karls einzige Tochter, Maria von Burgund, heiratete den Habsburger Maximilian I. Die burgundischen Niederlande kamen an das Haus Habsburg, der französische Teil Burgunds fiel zurück an die Krone. Philipp der Kühne gründete vor den Toren von Dijon die Kartause von Champmol, die er zur Grablege seiner Dynastie bestimmte. Er berief den Niederländer Claus Sluter an seinen Hof, damals noch in Dijon. Sluter gab der Skulptur um 1400 neue Impulse. Mit den Prophetenfiguren vom Mosesbrunnen in Dijon und den Pleurants (Trauernden) vom Grab Philipps des Schönen (heute im Museum in Dijon) schuf er einen neuen Realismus, der der gotischen Skulptur des 13.  /  14. Jh. unbekannt war. Die Stifterfiguren Philipps des Kühnen und seiner Frau Margarete von Maele, die ihrem Gemahl das reiche Flandern zugeführt hatte, am Portal der Klosterkirche von Champmol gehören zu den frühesten Porträts der abendländischen Kunstgeschichte. Das Maleratelier des Herzogs hatte anfangs gleichfalls seinen Sitz in Dijon. Alsbald aber verlagerte sich neben dem politischen auch der künstlerische Schwerpunkt der Burgunderzeit in die Niederlande. Die Begründer der altniederländischen Malerei – Jan van Eyck, der Meister von Flémalle und dessen Schüler Roger van der Weyden – schufen ihre bedeutendsten Werke im Auftrag Philipps des Guten und seines Kanzlers Nicolas Rolin, des Stifters des Hôtel-Dieu in Beaune. Auch die Kleinkünste, vor allem die Buchmalerei, erlebten in diesem „Herbst des Mittelalters“ – so der Titel des einschlägigen Buches von Johan Huizinga – eine letzte Blüte, nicht nur in Burgund, sondern auch am Hof der Herzöge von Berry, deren Name unauslöschlich mit dem Stundenbuch des Duc de Berry, gemalt von den Brüdern von Limburg, verbunden bleibt. Die Schule von Avignon und die Malerei des Spätmittelalters

Ein weiteres Zentrum der Spätgotik entwickelte sich in Avignon, wo die französische Malerei des Spätmittelalters zu ihrem Höhepunkt gelangte. 1304 hatte König Philipp IV. Papst Clemens V. (1304 – 1314) genötigt in der Provence zu residieren. Anfangs war Carpentras der Sitz des Papstes, 1309 verlegte er seine Residenz nach Avignon. Nach Johannes XXII. (1316 – 1334) war Benedikt XII.

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(1334 – 1342) der dritte von insgesamt sieben Päpsten, die in Avignon residierten. Er und sein Nachfolger Clemens VI. (1342 – 1352) ließen den Papstpalast in Avignon errichten, das größte Bauprojekt des französischen 14. Jh. Zu seiner Ausmalung berief Clemens VI. Künstler aus Italien, als die bekanntesten den Sienesen Simone Martini und den aus Viterbo stammenden Matteo Giovanetti. Von den Werken Simone Martinis ist kaum etwas, von denen des Matteo Giovanetti weniges erhalten, genug aber, um von einer Ersten Schule von Avignon zu sprechen. Dabei handelt es sich um Fresken in den Kapellen St-Jean und St-Martial des Papstpalastes und um al secco ausgeführte Bilder in den päpstlichen Privatgemächern, wo besonders ein Raum mit überraschend realistisch aufgefassten Jagdszenen in Bann zieht. Innozenz VI. (1352 – 1362) und Urban V. (1362 – 1370) kündeten zwar an, den Sitz des Papsttums nach Rom zurückzuverlegen, doch erst Gregor XI. (1370 – 1378) beendete das „Babylonische Exil“ – diesen Begriff hat Dante geprägt. Zuvor hatten die Prominenten jener Zeit – allen voran die hl. Katharina von Siena, Francesco Petrarca und die hl. Birgitta von Schweden – massiven Druck auf den Pontifex ausgeübt. Avignon blieb zwar noch bis 1793 Teil des Kirchenstaats, aber nach dem Umzug der Kurie nach Rom kam die Erste Schule von Avignon zum Erliegen. Erst Mitte des 15. Jh. lebte die Malschule wieder auf. Nun trat das Haus Anjou als Auftraggeber auf den Plan. Besonders war es René der Gute, Graf der Provence und Titularkönig von Jerusalem und Sardinien, der an seinem Musenhof in Aixen-Provence die Künste pflegte. Die Maler, die in seinen Diensten tätig waren, hat man unter dem Namen der Zweiten Schule von Avignon zusammengefasst. Zwei Namen begründen den Ruhm dieser südfranzösischen Malschule, der ersten der Kunstgeschichte Frankreichs: Enguerrand Quarton (um 1410 – um 1466) und Nicolas Froment (um 1430 – 1485). Von Quarton, der aus Nordfrankreich stammte, sind nur drei Altarbilder erhalten, aber diese sind von überragender Qualität. In Villeneuve-lès-Avignon befindet sich (einst in der Kartause, heute im Museum) die „Marienkrönung“ von 1453. In ihr greift der Künstler gleichermaßen auf Vorbilder in der italienischen (symmetrischer Aufbau, Harmonie) wie in der altniederländischen Malerei (detailgenaue Landschaftswiedergabe, Porträts) zurück, die er in diesem Werk zu einer Synthese führt. Gestiftet wurde der Altar von Jean de Montagnac, der auch die Pietà von Villeuve-lès-Avignon (heute im Louvre) in Auftrag gegeben hat, ein ergreifendes Werk mit einem unvergleichlichen Lyrismus. Das Motiv der Hände des Johannes etwa, die in den vom Haupte des Leichnams Christi ausgehenden Lichtstrahlen zu spielen scheinen, als wären sie die Saiten eine Harfe, stellt eine Bilderfindung dar, die ohne Vergleich ist. Von Nicolas Froment ist gleichfalls nur weniges erhalten, ein Triptychon in Florenz (Uffizien), wo er sich 1461 aufgehalten hatte, zwei kleine Porträts von René dem Guten Graf der Provence und seiner Frau Jeanne de Laval (im Louvre) sowie

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16  Enguerrand Quarton, Marienkrönung, Villeneuve-lès-Avignon, Museum

ein großes Triptychon in der Kathedrale in Aix-en-Provence (vormals Karmeliterkirche, heute in der Kathedrale; nach siebenjähriger Restaurierung 2011 dort neu aufgehängt), auf dessen Außenflügeln man als Stifter eben diesen René den Guten und seine Frau wieder sieht. Die Mitteltafel ist von der Typologie inspiriert. Hier sieht man Moses und den brennenden Dornbusch, in dessen Mitte die Muttergottes thront. Auch Froment ist den Italienern der Frührenaissance sowie den Niederländern der Spätgotik verpflichtet. Das lyrische Landschaftspanorama erscheint toskanisch inspiriert, der Verismus des sich die Schuhe ausziehenden Propheten sowie die verklausulierte Symbolik weisen nach Norden. Der Dornbusch wächst aus zwölf Stämmen hervor – eine versteckte Anspielung auf die Schar der Apostel; Erwin Panofsky spricht in diesem Zusammenhang vom „disguised symbolism“. 1480 starb René der Gute, der letzte Spross aus dem Haus Anjou. Die Provence fiel nun endgültig an die Krone, und die Schule von Avignon schloss ihre Pforten für immer, denn sie hatte ihren wichtigsten Auftraggeber verloren. Spätmittelalterliche Skulptur

Neben der Flamboyant-Gotik und den künstlerischen Zentren in Burgund und Avignon ist für die Epoche der Spätgotik schließlich die Bedeutung des sog. Weichen Stils hervorzuheben. Die deutsche Kunstgeschichte hat diesen Begriff Anfang des 20. Jh. für die Kunst um 1400 geprägt. Man liest auch den Terminus

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„Internationaler Stil um 1400“ oder – in Kombination beider Bezeichnungen – „Internationaler weicher Stil um 1400“. Tatsächlich herrscht in dieser Zeit eine überraschende stilistische Einheitlichkeit. Das trifft besonders auf die Skulptur zu, mit Einschränkungen auch auf die Malerei. Kennzeichen sind die weich fließenden Gewandfalten, die an den Figuren ohne Knickungen und Brechungen herunterwallen. In Frankreich entstanden damals zahlreiche Madonnen, als eine der schönsten und zugleich letzten die Nôtre-Dame-de-Grace im Musée des Augustins in Toulouse (datiert um 1470). Trotzdem muss man sagen, dass der Weiche Stil in Frankreich nicht jene Popularität erreicht hat wie im deutschen Sprachraum. Die Spätgotik Frankreichs hat sich mehr mit dem Thema der Passion beschäftigt. Die Gotik hatte ein neues Christusverständnis hervorgebracht, das dem Christusbild der Romanik diametral entgegengesetzt war. Statt des Siegers über den Tod rückte das Bild des geschundenen und für die Menschen gestorbenen Heilands in den Mittelpunkt des Interesses – oder anders gesagt: die Romanik setzte auf den Gottessohn, die Gotik auf den Menschensohn. Damit entstand eine neue Passionsikonographie, die ihre Wurzeln in der Fassade der Abteikirche in St-Gilles hat. Als mit dem 14. Jh. eine Zeit grenzenlosen Leidens über Frankreich und seine Bevölkerung hereinbrach, rückte die Passion des Herrn zum beherrschenden Thema der Kunst auf und es entstanden neue Bildtypen. La Pitié du Seigneur entspricht im Deutschen dem Christus im Elend. Bildnisse dieses Typs zeigen Christus nach überstandener Geißelung – ein eindrucksvolles Beispiel befindet sich im Hôtel-Dieu in Beaune. Ein anderes Thema entwickelte sich zum beliebtesten der spätmittelalterlichen Kunst in Frankreich, ja es wurde gleichsam ein Markenzeichen französischer Spätgotik: die Grablegung. Ungeachtet der Zerstörungen in der Revolution sind noch heute zahlreiche Grablegungsgruppen im ganzen Land erhalten. Als wichtigste Beispiele unter vielen nennen wir die Skulpturen in Auch (Gascogne), Moulins (Bourbonnais), Carennac (Quercy) und Tonnerre­ (Burgund). In der Regel sind die Figuren knapp unterlebensgroß, acht an der Zahl (Maria und Johannes, Nikodemus und Joseph von Arimathia, Magdalena, Maria Jakobäa und Maria Salome sowie der Leichnam Christi). Im Einzelfall ist diese Stammbesetzung auf zehn und noch mehr Figuren angewachsen (z. B. in der Kirche St-Martin in Pont-à-Mousson in Lothringen, Ende 15. Jh.). Frankreich hatte mit der Gotik eine Kunst hervorgebracht, die ihren Siegeszug durch große Teile Europas erlebte und in Form der Neogotik noch bis in das 19. Jh. fortwirkte. Im ausgehenden Mittelalter verlor Frankreich diese künstlerische Vorreiterrolle, die nun Italien übernahm. Im 15. Jh. ging die Renaissance aus Florenz, im 16. Jh. der Barock aus Rom hervor. Doch an beiden Epochen sollte Frankreich lebhaften Anteil nehmen und zu seinen eigenen Leistungen finden.

Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus Die Renaissance Eine Begriffsbestimmung

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erselbe Vasari, der den Begriff der Gotik im Sinne eines Schimpfwortes prägte, hat im Zusammenhang mit der Kunst seiner eigenen Epoche (16. Jh.) von der Wiedergeburt gesprochen, von der „rinascita“ oder dem „rinascimento“, während andere Zeitgenossen auch von der „reformatio“ sprachen. Gemeint ist die Wiedergeburt der Antike, die nach den vermeintlich dunklen Jahrhunderten des Mittelalters den Künstlern des 15.  /  16. Jh. wieder als ­Vorbild leuchtete. Erst im 19. Jh. hat sich, von Frankreich ausgehend, der Begriff­der Renaissance durchgesetzt. Endgültig etabliert war der Terminus 1860, als Jacob­ Burckhardts Werk „Die Kultur der Renaissance in Italien“ erschien. Während alle anderen Epochennamen kunstgeschichtliche Stile benennen, ist die Bezeichnung Renaissance weiter zu spannen. Gemeint ist nicht nur ein neuer Stil, sondern alle Bereiche des menschlichen Lebens sind darin erfasst. Es geht um ein neues Verständnis vom Menschen und seiner Individualität. Man liest deshalb neben Renaissance auch das Etikett vom „Zeitalter des Humanismus“. Bezogen auf die Kunstgeschichte ist eine der wichtigsten Errungenschaften dieser Epoche, die um 1420  /  30 von Florenz ihren Siegeszug durch ganz Europa antrat, die Wiederentdeckung der Zentralperspektive, was die Renaissance so deutlich vom „unperspektivischen Mittelalter“ absetzt ( Jean Gebser). Zugleich verlässt der Künstler die Anonymität, er gilt nicht länger als Handwerker. Kunstgeschichte ist seither eine Geschichte der Kunst und zugleich auch eine Geschichte der Künstler.

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Die letzten Könige aus dem Hause Valois

Bevor wir die kunstgeschichtliche Bedeutung der Renaissance näher betrachten, sei kurz die Geschichte Frankreichs im 16. Jh. rekapituliert: An den Folgen des Hundertjährigen Krieges hatte Frankreich noch lange zu leiden. Historiker schätzen, dass die Landbevölkerung erst Mitte des 19. Jh. den Populationsstand der Zeit vor Ausbruch des Krieges zurückgewonnen hatte. Umso mehr überrascht es, mit welcher Energie sich das neu erstarkende Königtum dem Wiederaufbau des Landes widmete. Das begann bereits unter Karl VII. (1422 – 1461), der dank des Einsatzes der Jeanne d’Arc als Sieger aus dem langen Ringen mit England hervorgegangen war. Ludwig XI. (1461 – 1483) setzte dessen Werk energisch fort. Er war ein gerissener Diplomat, den die Zeitgenossen „l’araignée universelle“ (die allgegenwärtige Spinne) nannten. Zudem begleitete Fortune seine Regierungszeit, in die der Erbfall Burgunds (1477) und der Provence (1480) fiel. Karl VIII. (1483 – 1498) brachte die bis dahin unabhängige Bretagne an Frankreich, indem er 1491 die Ehe mit Anne de Bretagne schloss. Er war zugleich der letzte Spross aus der Hauptlinie des Hauses Valois. Mit Karl VIII. begann der Versuch Frankreichs, in Oberitalien Fuß zu fassen. Als er 1498 den Folgen eines Unfalls erlag, trat die Nebenlinie des Hauses ValoisOrléans in Gestalt Ludwigs XII. (1498 – 1515) auf den Plan. Dieser musste, so sah es der Ehevertrag vor, den Karl VIII. mit Anne de Bretagne geschlossen hatte, die Witwe seines Vorgängers heiraten, um die Verbindung der Bretagne mit Frankreich nicht zu gefährden. Er knüpfte an die Eroberungspolitik Karls VIII. an, scheiterte indes an den selbst gesteckten Zielen. Auch die zweite Ehe der Anne de Bretagne brachte nicht den erhofften Thronerben, so dass beim Tode Ludwigs XII. die Linie Valois-Orléans ihrerseits ausstarb. Nun übernahm die dritte Linie, das Haus Valois-Angoulême mit König Franz I. (1515 – 1547) das Staatsruder. In seiner Regierungszeit brach der schon lange schwelende Konflikt Frankreich-Habsburg mit Allgewalt aus. Als die Fürsten des Deutschen Reiches 1519 zusammentraten, um den Nachfolger des verstorbenen Maximilian I. zu wählen, präsentierte sich Franz I. als Kandidat. Bekanntlich unterlag er, denn die Wahl fiel auf den blutjungen Karl V. aus dem Haus Habsburg, der bereits drei Jahre zuvor von den Granden Kastiliens, Aragóns und Navarras als Karl I. zum König von Spanien gewählt worden war. Fortan trachtete Franz I. danach, die Umzingelung Frankreichs durch habsburgisches Territorium zu brechen. Unter Hinweis auf die Verwandtschaft mit dem Mailänder Herzogshaus der ViscontiSforza versuchte er, die Lombardei an Frankreich anzuschließen. In der Schlacht von Pavia 1525, dem größten Waffengang des europäischen 16. Jh., musste er sich Karl V. geschlagen geben und geriet in dessen Gefangenschaft. Die danach getroffenen Friedensvereinbarungen hat Franz I. regelmäßig missachtet und noch

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drei weitere Kriege gegen Karl V. geführt, die letztlich alle ergebnislos blieben. Aber die hautnahe Begegnung mit Italien und seiner Kultur sollte Initialwirkung auf die französische Kunst haben. In seiner Innenpolitik waren Franz I. die größeren Erfolge beschert. Er schuf einen Beamtenapparat, der Frankreich bis auf den heutigen Tag den Ruf einer Überbürokratisierung eingebracht hat. Das Latein als Amtssprache wurde abgeschafft und durch die französische Sprache ersetzt. Franz I. brach die Macht seiner Vasallen und legte den Grundstein für den Absolutismus. In Deutschland unterstützte er die Protestanten, während er die Reformation im eigenen Land unterdrückte. Heinrich II. (1547 – 1559) setzte die antihabsburgische Politik Franz’ I. fort. Mit Billigung der protestantischen Reichsfürsten besetzte er 1542 die lothringischen Bistümer Metz, Toul und Verdun. 1559 starb der König an den Folgen einer Turnierverletzung. Obwohl seine Ehe mit Katharina de Medici eine reine Vernunftbeziehung war, durch die die Medici zur Königswürde aufstiegen, während die französische Krone im Gegenzug eine astronomische Mitgift einstrich und der König seine freie Zeit lieber mit seiner Mätresse Diana von Poitiers verbrachte, gingen aus der Beziehung zahlreiche Kinder hervor. Der Bestand des Hauses Valois schien bleibend gesichert, aber das Gegenteil trat ein. Glücklos regierten nacheinander die drei Brüder Franz II. (1559 – 1560), Karl IX. (1560 – 1574) und zuletzt Heinrich III. (1574 – 1589), die letztlich Marionetten in der Hand ihrer Mutter Katharina de Medici blieben. In diese zweite Hälfte des 16. Jh. fallen die Religionskriege, die Frankreich auf einen erneuten Tiefpunkt führten. Makabrer Höhepunkt ist die berüchtigte Bartholomäusnacht (23.  /  24. August 1572), die man auch die „Bluthochzeit von Paris“ genannt hat. Damals wurde die Ehe zwischen Margarete von Valois, der Schwester der letzten Valois-Könige, und Heinrich von Navarra geschlossen, der mütterlicherseits aus Navarra stammte, väterlicherseits aus dem Haus Bourbon. In jener Nacht fielen nach Schätzungen der Historiker mindestens 10 000 Hugenotten (die französische Bezeichnung für die Calvinisten bzw. Protestanten) einem von katholischer Seite entfesselten Massaker zum Opfer. Als 1589 Heinrich III., der letzte Valois, ermordet wurde, war der Weg zur Krone frei für das Haus Bourbon. Bald nach 1500 kamen Künstler aus Italien nach Frankreich, als der berühmteste Leonardo da Vinci (1452 – 1519). Ihm schenkte Franz I. den Clos Lucé, einen komfortablen Landsitz vor den Toren von Amboise, wo das größte Genie der Renaissance nach drei Jahren in Frankreich starb, ohne auch nur einen Pinselstrich getan zu haben. Zu nennen ist auch der Architekturtheoretiker Sebastiano Serlio (1475 – 1554), der zwar offiziell bei Hof angestellt, jedoch mehr für die Aristokratie tätig war. Er hat u. a. den Plan für das Château Ancy-le-Franc in Burgund geliefert.

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Sakralarchitektur

Die Gotik ist zutiefst in der Kunst Frankreichs verwurzelt und hat sich noch bis in das 16. Jh. beharrlich gegen die Renaissance behauptet. Auf keinem anderen Gebiet der bildenden Künste wird dies so deutlich wie im Rahmen der Sakralarchitektur. Es ist aber festzustellen, dass das Interesse an der sakralen Baukunst im 16. Jh. rapide abgenommen hat. Zwar entstanden noch Kirchen, aber gegenüber den Jahrhunderten des Mittelalters ging ihre Zahl zurück. Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass der Calvinismus in seiner asketischen Haltung den Bau neuer Kirchen für überflüssig hielt und sich entweder damit begnügte, vorhandene Kirchen zu nutzen – wobei es vor dem Ausbruch der Religionskriege Beispiele friedlicher Koexistenz mit den Katholiken gab, indem sich beide Konfessionen die Nutzung eines gemeinsamen Kirchenraumes teilten – oder Neubauten zu errichten, die an Schlichtheit nicht zu übertreffen sind. Wir können zwei Gruppen von Kirchenbauten unterscheiden. Die eine setzt kompromisslos auf das gotische Erbe wie die Abteikirche in Brou (Bresse), die Kathedrale in Condom (Gascogne) und St-Eustache in Paris; die andere unternimmt den Spagat, gotische Formen mit Elementen der Renaissance zu kompilieren. Herausgekommen sind dabei Bauten, die eher kurios anmuten: die Kathed­ rale in Auch (Gascogne) und die Kirche St-Michel in Dijon (Burgund). Diese Bauten sind letztlich keinem der Stilkreise zuzuordnen. Es führt kein Weg vorbei an der Erkenntnis: Das Zeitalter der Renaissance ist in Frankreich die Epoche der Schlossarchitektur. Die Schlösser im Tal der Loire

Die Ereignisse des Hundertjährigen Krieges, in dessen Verlauf die Engländer Paris besetzt hatten, führten dazu, dass sich die Valois-Könige des 15. Jh. aus Paris zurückzogen und dem Tal der Loire den Vorzug gegenüber der Hauptstadt ihres Landes einräumten. Auch wenn Franz I. sich wieder auf Paris zurück besann, so hielten auch er noch und seine Nachfolger an den Residenzen im Loiretal fest. Dort standen noch bis in das späte 15. Jh. zahlreiche mittelalterliche Burgen. Das Ende des Hundertjährigen Krieges läutete eine längere Friedenszeit ein, die Notwendigkeit der Verteidigung gegen äußere Feinde bestand nicht mehr. Das fällt zeitlich mit den Kriegen Karls VIII., Ludwigs XII. und Franz’ I. in Oberitalien zusammen, die zwar militärisch für Frankreich erfolglos blieben, aber dem Kulturtransfer auf der Wende vom 15. zum 16. Jh. förderlich waren. Um 1500 beginnt der Prozess des Einsickerns der Renaissance in Frankreich, die im Profanbau deutlichere Spuren hinterlassen hat als in der Sakralarchitektur. Überall wurden nun die Wehrburgen des Mittelalters abgerissen, und an ihrer Stelle ent-

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standen die Schlösser. Da man aber in vielen Fällen an mittelalterlichen Grundmauern festhielt, entstanden Bauten mit Unregelmäßigkeiten, die im Widerspruch zu den hehren Harmoniegesetzen der italienischen Renaissance standen; das Wasserschloss Azay-le-Rideau ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Andernorts ließ man Bauten des Mittelalters stehen und errichtete neben diesen neue Trakte. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist das Schloss in Blois, wo sich Baukörper aus der Spätgotik, der Renaissance und des Barock zu einem lebendigen Lexikon der Architekturstile um einen Hof gruppieren. Erst ab etwa 1520 entstanden auch Schlösser, die nicht an ältere Vorgaben gebunden waren und deshalb regelmäßige Grundrisse besitzen; bestes Beispiel ist das Schloss Chambord. Alle diese Schlösser verzichten auf Wehrmauern; Wassergräben übernimmt man im Einzelfall, aber diese dienen nicht mehr dem Schutz des Bauwerks vor Angreifern. Anstelle der Schießscharten mittelalterlicher Burgen sorgen große Fenster für Helligkeit im Innern. Die Architektur ist Ausdruck eines völlig neuen Lebensgefühls. Zu den wichtigsten Schlössern im Loire-Tal gehört Blois, dessen RenaissanceFlügel eines der ersten Auftragswerke Franz’ I. darstellte. Baubeginn war kurz nach dessen Regierungsantritt, nach der Niederlage von Pavia wurden die Arbeiten an dem noch nicht fertiggestellten Projekt infolge Geldmangels eingestellt. Markanter Blickfang ist der reich mit Bauornamentik und Skulpturen verzierte Treppenturm, der, wie es im Mittelalter üblich war, zur Hofseite an der Außenfront des Schlosses erbaut wurde – eine Altertümlichkeit also inmitten einer Architektur, die bereits deutlich das Prinzip klarer Ordnung nach Art der italienischen Renaissance zu erkennen gibt. Das Schloss Chenonceaux stellt in diesem Punkt eine Weiterentwicklung dar. Neben einem mittelalterlichen Vorgänger ließ 1512 Thomas de Bohier, Finanzminister dreier Könige, einen Renaissance-Neubau errichten. Hier wurde die Treppe im Innern des Schlosses angelegt. Sie ist keine Wendeltreppe, sondern das erste Beispiel mit gerade verlaufenden Aufgängen und Treppenabsätzen, was optisch eindrucksvollere Auftritte anlässlich höfischer Feste ermöglichte. Es heißt, nicht Bohier selbst, sondern seine Frau hätte das ersonnen. Nach dem Tod Bohiers wurden Steuerhinterziehungen des Ministers aufgedeckt, die Erben überließen Chenonceaux zum Ausgleich der Krone. 1547 vermachte Heinrich II. das Schloss seiner Mätresse Diana von Poitiers, die zuvor schon die Geliebte seines Vaters gewesen war. Die sportliche Diana ließ dem Schloss der Bohiers eine Brücke anbauen, die über den Cher führte. Auf dieser galoppierte sie zu ihren täglichen Ausritten in die angrenzenden Wälder, auch soll ihr die Brücke bei ihren Schwimmrunden im Cher als Sprungbrett gedient haben. Ihr Schicksal war beim Tode Heinrichs II. besiegelt. Katharina de Medici, die

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Königinwitwe und Königinmutter, verjagte Diana von Poitiers und wies ihr das finstere Gemäuer von Chaumont als Bleibe zu. Wieder wurde die Baugeschichte von Chenonceaux von einer Frau diktiert, dieses Mal von Katharina de Medici, die der Brücke der verhassten Rivalin eine zweigeschossige Galerie aufpflanzen ließ. So entstand das wohl originellste Schloss der französischen Renaissance­, dessen Haupttrakt in Gestalt einer bebauten Brücke den Cher überfängt. Franz’ I. ehrgeizigstes Projekt war das Schloss Chambord. Es wurde an einer Stelle errichtet, wo bereits im Mittelalter die Grafen von Blois eine kleine Jagdresidenz besaßen. Diese wurde abgerissen, als die Bauarbeiten 1519 begannen. Die gewaltigen Ausmaße des Bauwerks erforderten in dem sumpfigen Terrain aufwändige Fundamentierungsarbeiten, die Unsummen verschlangen. Des Königs Bauprojekt wurde durch seine eigenen kriegerischen Unternehmungen lahm gelegt, die ihrerseits den Staatshaushalt leerten. Nach einer Unterbrechung wurde ab 1526 wieder mit Nachdruck an Chambord gebaut. Jetzt sollen 1800 Arbeiter ständig auf der Baustelle beschäftigt gewesen sein. Als Kaiser Karl V. 1539 König Franz I. in Chambord besuchte, schmeichelte er seinem chronisch unterlegenen Gegner mit der Bemerkung, Chambord sei „ein Inbegriff menschlicher Schaffenskraft“. Das gigantische Projekt ist ein Torso geblieben. Im Kern handelt es sich um einen quadratischen Bau, dessen Grundriss auf den mittelalterlichen Donjon zurückgeht. Seine Ecken flankieren vier mächtige Rundtürme. Vier ausgedehnte Flügel waren als äußere Einfassung geplant, doch nur einer wurde fertiggestellt. Bei aller Neuartigkeit der Einzelformen ist die Struktur der Anlage alten französischen Traditionen der Feudalarchitektur verpflichtet. Eine praktische Funktion des Kolosses ist nicht auszumachen. Offenbar diente Chambord einzig dem Ruhm seines Bauherrn. Das Schloss Chambord steht exemplarisch für die französische RenaissanceArchitektur, so dass man deren wesentliche Erkennungsmerkmale an dieser Stelle resümieren kann: Selten wurden Bauten ex nihilo errichtet, meistens wurde der Grundriss eines Vorgängerbaus übernommen. Wenn wirklich einmal, wie im Fall Chambord, voraussetzungslos gebaut wurde, schwingt die Erinnerung an das Mittelalter trotzdem in irgendeiner Form immer mit, hier in Gestalt des Donjon. Die Bauten des Adels legen ihren wehrhaften Charakter ab und wandeln sich zu komfortabel eingerichteten und sich nach außen öffnenden Wohnbauten. Die strenge Symmetrie, die die Bauten der italienischen Renaissance beherrscht, hat sich in Frankreich nicht durchsetzen können. Die französischen Bauten des 16. Jh. haben immer etwas Unbekümmertes. So gesehen ist Chambord ein Ausnahmefall geblieben. Der gotische Spitzbogen verschwindet, an seine Stelle treten gerade

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17  Schloss Chenonceaux

Abschlüsse über Fenstern und Türen. Und dort, wo man Bögen errichtet hat, sind diese entweder gedrückt (man spricht von Korbbogen) oder – seltener – halbrund. Gotische Detailformen wie z. B. der Krabbenbesatz von Wimpergen oder Kreuzblumen leben während des gesamten 16. Jh. als Marginalie fort, als kleine Dekorationen über Giebeln, Fenstern und Brüstungen. Bis in die Zeit um 1600 bleibt die Gotik, wenn auch oft nur noch in ganz rudimentärer Form, gegenwärtig. Die Dächer Italiens und Frankreichs sind grundlegend verschieden. In Italien hat man in der Regel Dächer mit einem geringen Steigungswinkel errichtet, so dass diese in der Erscheinung des Bauwerks kaum mitsprechen; in Frankreich dagegen hat man betont steile Dächer bevorzugt. Selbst dort, wo ein italienischer Architekt wie im Beispiel des Château Ancy-le-Franc abgeflachte Dächer vorgesehen hatte, setzte man sich in der Bauausführung darüber hinweg und errichtete spitze Dächer. Das Schloss Amboise – damals noch in seiner mittelalterlichen Gestalt – war die bevorzugte Residenz Ludwigs XI., doch erst sein Sohn Karl VIII. ließ den heute noch bestehenden Bau errichten, der damals das größte Schloss an der Loire war. Seine bauliche Gestalt ist noch stark dem Mittelalter verpflichtet. Als Karl VIII. 1495 von seinem erfolglosen Italienfeldzug zurückkehrte,

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hatte er zwar viele Italiener in seiner Gefolgschaft, nicht nur Baumeister und andere Künstler, sondern auch Kürschner, Schneider, sogar Geflügelzüchter; aber für Amboise kamen diese zu spät, da der größte Teil des Schlosses bereits fertiggestellt war. Ein architektonisches Meisterwerk ist die Tour des Minimes. Dieser Turm besitzt im Innern keine Treppen, sondern Rampen, breit genug, dass Kutschen darüber ins Schloss und von dort hinunter zum Loireufer fahren konnten. Schlösser in anderen Landschaften

Das Tal der Loire genoss die Vorliebe der Valois-Herrscher. Zahlreiche Vertreter des Adels ließen sich deshalb gleichfalls dort nieder. Das erklärt die Dichte feudaler Bauwerke an der Loire und an den Unterläufen ihrer Nebenarme Cher und Vienne. Aber das bedeutet nicht, dass das Loiretal damit automatisch ein Monopol auf das Thema der Schlossarchitektur besaß. In praktisch allen Landschaften Frankreichs entstanden im 16. Jh. Bauten unterschiedlicher Größe und Bedeutung. Neben der Loire spielte selbstverständlich die Ile-deFrance eine tragende Rolle. In Paris ließ Franz I. 1546 den mittelalterlichen Louvre abreißen und an seiner Stelle einen Neubau beginnen. Bereits ein Jahr später starb der König. Heinrich II. beauftragte den Architekten Pierre Lescots (1510 – 1578), den begonnenen Flügel zu vollenden. Das ist heute der Westflügel des alten Louvre. Ein weiteres ehrgeiziges Projekt des bauwütigen Franz’ I. war das Schloss Fontainebleau südlich von Paris. Hier begannen die Arbeiten 1528, und wieder war es Heinrich II., der als Nachfolger Franz’ I. das unvollendete Prestigeobjekt seines Vaters fortführen ließ. Derselbe Heinrich II. machte das westlich von Paris gelegene Schloss Anet seiner Geliebten Diana von Poitiers zum Geschenk; es ist das Paradebeispiel eines Lustschlosses der Renaissance. Sein Architekt war Philibert Delorme (1510 – 1570), der die Kultur der Renaissance in Italien vor Ort studiert hatte. Allerdings wurde Anet zu großen Teilen in der Revolution zerstört und ist nur noch als Fragment erhalten. Anders das stolze Schloss St-Germain-en-Laye westlich vor den Toren von Paris, das als Geburtsort Ludwigs XIV. in die Geschichte Frankreichs eingegangen ist und heute das Musée National d’Archéologie beherbergt. Ein weiteres glanzvolles Beispiel der feudalen Renaissance-Architektur ist das Schloss Chantilly nördlich von Paris, das der Architekt Pierre Chambiges (Geburtsdatum unbekannt, gest. 1544) in den Jahren 1528 – 31 für den Herzog von Montmorency erbaute. Als Wasserschloss zeigt es seine Wurzeln, die auf eine mittelalterliche Wehrburg zurückgehen. Eine erstaunliche Konzentration besitzt das Tal der Dordogne in SüdwestFrankreich, wo neben stolzen Ritterburgen des 13. und 14. Jh. etliche Bauten

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der Renaissance erhalten sind. Als Beispiele seien genannt: Lanquais, Monbazillac, Losse und Les Milandes, letzteres in den 1950er  /  60er Jahren bekannt geworden als Wohnsitz der afro-amerikanischen Sängerin und Tänzerin Josefine Baker (1906 – 1975). Aber an Größe kann sich natürlich keines von ihnen mit den Königsresidenzen an der Loire messen. Das größte Schloss der Renaissance in Südfrankreich ist das Château de Grignan am Nordrand der Provence, das der italienischen Renaissance näher steht als alle anderen Schlösser in Frankreich. Gartenarchitektur

Mit der Errichtung der Renaissance-Schlösser in Frankreich ging auch Erneuerung der Gartenarchitektur einher. Gartenkultur war noch bis in das ausgehende Mittelalter weitgehend eine Angelegenheit der Klöster und damit in einem weiteren Sinne dem sakralen Bereich zugeordnet. Das änderte sich in der Renaissance, die ja nicht zuletzt einen Prozess fortschreitender Laisierung eingeleitet hatte. Gärten wurden im 16. Jh. konstituierender Bestandteil der Feudalarchitektur, fast alle Schlösser besaßen zum Teil ausgedehnte Parks. Diese sind zwar in keinem einzigen Fall im Original erhalten, aber einige hat man im 20. Jh. rekonstruiert. Das bekannteste Beispiel sind die Gartenanlagen des Schlosses Villandry. Das Schloss selbst ist wiederum ein Beispiel für die Vermischung von Elementen des Spätmittelalters und der Renaissance, der Garten dagegen ein reiner Vertreter der Renaissance. Die Rekonstruktion hat in den 1930er Jahren der kunstliebende Arzt Dr. Carvallo initiiert. Alle Beete und Wege sind in klaren geometrischen Formen konzipiert. Der Park baut sich in drei Terrassen auf. Der untere dient dem Anbau der Nutz- und Heilpflanzen. Der mittlere ist der Ziergarten mit Blumen und blühenden Büschen. Hier durchdringen schöne Form und symbolische Bedeutung einander. Jedes der vier großen Ornamentbeete symbolisiert eine andere Form der Liebe: Briefe und Fächer stehen für die flüchtige Verliebtheit, Herzen und Flammen für die innige Liebe, Schwerter symbolisieren die tragische Liebe, und ein Labyrinth aus gebrochenen Herzen ist die Metapher für die Raserei. Der obere Teil besteht aus einem Wassergarten mit Brunnen und Becken. Von hier werden die darunter liegenden Terrassen mit Wasser versorgt. Insgesamt führt diese Gartenanlage, die detailgetreu nach alten Quellen rekon­ struiert wurde, exemplarisch ein Grundanliegen der Renaissance vor Augen: das Bestreben, schöne Formen mit inhaltlichen Aussagen und praktischem Nutzen zu verflechten. Die Lustgärten der großen Schlösser waren nicht selten Schauplatz ausschweifender Feste, wie es für das Beispiel Chenonceaux hinlänglich belegt ist. Auch hier hat man einen Teil der Renaissance-Gärten rekonstruiert.

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18  Die Gärten des Schlosses Villandry

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Das adlige Stadtpalais: das Hôtel particulier

Auch im Erscheinungsbild zahlreicher Städte hat die Renaissance ihre Spuren hinterlassen, besonders nachhaltig in Lyon und in Pézenas im Languedoc. Aber unangefochten setzte sich schon damals Paris an die Spitze des Landes. Hier entstand im 16. Jh. mit dem Marais ein Stadtteil, der bis heute den Stempel der Renaissance trägt. Der auffälligste Bautyp ist das Hôtel particulier, wie man die Stadtresidenzen der Adelsfamilien nennt, ein Begriff, den man nicht wörtlich ins Deutsche übertragen kann. Da jedoch die meisten dieser Bauten in den nachfolgenden Jahrhunderten verändert wurden, erlebt man nur noch in Einzelfällen die unverfälschte Substanz des 16. Jh. In Paris sind dies in erster Linie das Hôtel de Sens und das Hôtel Carnavalet. Das Hôtel de Sens wurde 1475 – 1507 als Residenz der Erzbischöfe von Sens in der Hauptstadt errichtet. Seine Erscheinung ist noch stark von der späten Gotik geprägt, einzig die neue Fensterform weist auf den beginnenden Einfluss der Renaissance. Das Hôtel Carnavalet (heute darin das Museum zur Stadtgeschichte von Paris) ist ein halbes Jahrhundert jünger, Baubeginn war 1547. Vorbild war das Grand Hôtel Ferrare in Fontainebleau, das Sebastiano Serlio 1544 – 46 als Botschaft des Herzogs von Ferrara errichtet hatte. Drei Gebäudetrakte gruppieren sich um einen zu einer Seite hin offenen Ehrenhof. Den betonten mittleren Teil nennt man das Corps de logis. Darin befinden sich die Repräsentationsräume, während in den niedrigeren Seitentrakten die Wohn-, Schlaf- und wirtschaftlichen Nutzräume untergebracht sind. Damit war zugleich ein Idealtypus festgelegt, der noch bis in das 18. Jh. Verbindlichkeits­ charakter besaß. Malerei des 16. Jahrhunderts

In der französischen Malerei des 16. Jh. erhält das Porträt große Bedeutung. Das älteste französische Gemälde dieses Genres, geschaffen von einem anonymen Künstler, ist ein Profilbildnis König Johanns II. des Guten (1350 – 1364) aus der Zeit um 1360. Es ist in seiner Zeit ein Solitär. Erst nach 1400 entsteht das Porträt als eigenständige Gattung. An seinem Beginn sehen wir Skulpturen, nicht gemalte Bilder; die Stifterfiguren am Portal der Kartäuserkirche in Dijon von Claus Sluter fanden bereits Erwähnung. So war es denn auch die Hofkunst der Burgunder Herzöge, die dem Porträt zum Durchbruch verhalf. Namentlich Jan van Eyck und Roger van der Weyden haben die Valois-Herzöge und deren Kanzler Nicolas Rolin verschiedentlich konterfeit. Der Begründer der altfranzösischen Tafelmalerei war Jean Fouquet (um 1420 – um 1480). Er war, wie übrigens auch die Alten Niederländer, gleichermaßen Miniaturist wie Tafelmaler. Seine Porträts, als bekanntestes das Bildnis Karls VII. im Louvre, zeigen die Auseinandersetzung mit dem Realismus der Nie-

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derländer seiner Zeit. Sein Werk markiert den Übergang von der Spätgotik zur Frührenaissance. Eine Generation später trat Jean Clouet (1480 – 1541) in dessen Fußstapfen. Er stammte aus den Niederlanden und hieß vermutlich ursprünglich Clowet. Bereits vor 1520 hat er sich in Tours niedergelassen, wo er 1522 urkundlich erwähnt wird. 1529 siedelte Clouet nach Paris über, wo ihn Franz I. zum Hofmaler ernannte. Das Porträt, das er um 1530 von diesem König schuf (Louvre), ist ein prachtvoll repräsentatives Bildnis, das den König in der Pose eines machtbewussten Souveräns zeigt. Neben dem Einfluss der Kunst der Niederlande erkennt man nun auch die steigende Bedeutung Italiens, insbesondere Venedigs, wo im zweiten Viertel des 16. Jh. Tizian zum Titanen der Hochrenaissance-Malerei emporstieg und mit seiner Porträtkunst über Rubens, van Dyck und Goya bis in das 20. Jh. fortwirkte (noch Francis Bacon hat sich von Tizian-Porträts inspirieren lassen). Im Œuvre von Clouets Sohn François Clouet (1510 – 1572) ist der Einfluss Tizians noch bestimmender geworden, wie sich am Dreiviertelprofil, an der Brauntonigkeit der Palette und an der Betonung des Psychischen ablesen lässt. Neben François Clouet erschlossen sich auch zahlreiche andere Maler mit dem Porträt ein lukratives Betätigungsfeld – ein ganzer Raum im Louvre zeigt die Beispiele. Neben dem Königshaus und der Aristokratie traten nun auch mehr und mehr Vertreter des wohlhabenden Bürgertums als Auftraggeber auf den Plan. Eines der besten Bilder F. Clouets ist das Porträt des Apothekers Pierre Quthe von 1562 im Louvre. Eine herausragende Stellung in der französischen Renaissance-Malerei kommt der Schule von Fontainebleau zu. Man unterscheidet in der Kunstgeschichte zwischen einer Ersten (1530 – 1570) und einer Zweiten Schule von Fontainebleau (1590 – 1610). Der Name leitet sich von dem Schloss ab, das wir oben bereits gestreift haben. Franz I. ließ den Prestigebau von namhaften italienischen Künstlern ausmalen. Sie machten damals den Manierismus in Frankreich heimisch, jene späte Phase der Renaissance, die in Italien den Übergang zum Barock kennzeichnet, jedoch nicht in der gestelzten Form, wie er sich in Italien äußerte, sondern in einer poetischeren, subtileren Gestalt, die mehr dem französischen Geschmack entsprach. Die Arbeiten in Fontainebleau begannen 1531 unter der Leitung von Rosso Fiorentino (1494 – 1540), dem alsbald Niccolò dell’Abate (um 1510 – 1571) und Francesco Primaticcio (1504 – 1570) folgten. Rosso Fiorentino und Primaticcio hatten zuvor bereits bei der Ausmalung des Palazzo del Tè in Mantua zusammengearbeitet. Diese drei gelten als die Begründer der Ersten Schule von Fontainebleau. Kennzeichen ihrer Kunst ist die Verbindung von Malerei und Skulptur (Stuck) mit Holzschnitzerei und Wandteppichen; die Themen ihrer Bilder sind Historien- und mythologische Szenen. Eines der besten Bilder

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19  Schule von Fontainebleau, Porträt der Gabrielle d’Estrée, Paris, Louvre

dieser Ersten Schule von Fontainebleau ist der stehende Akt der Jagdgöttin Diana (Louvre), mit ziemlicher Sicherheit ein Porträt der Diana von Poitiers, geschaffen von einem Künstler, der namentlich nicht bekannt ist. Die Religionskriege führten nach 1570 zu einer längeren Unterbrechung der Arbeiten. Erst 1590 ließ Heinrich IV. die Dekoration des Schlosses fertig stellen. Jetzt waren keine Italiener mehr beteiligt, sondern es waren ausschließlich Franzosen am Werk. Sie bildeten die Zweite Schule von Fontainebleau. Als deren Vertreter nennen wir die wenig bekannten Maler Antoine Caron (1521 – 1599) und Martin Fréminet (1567 – 1619). In dieser Zeit erfährt der weibliche Akt wachsende Beliebtheit. Eine Inkunabel dieser Zweiten Schule von Fontainebleau ist das Doppelporträt der Gabrielle d’Estrée und ihrer Schwester (Louvre). Auch in diesem Fall ist der Name des Künstlers nicht ermittelt. Das Bild entstand um 1595 und zeigt die Lieblingsmätresse Heinrichs IV. Deren Schwester, die Herzogin von Villars, berührt eine der Brustwarzen Gabrielles mit Daumen und Zeigefinger, eine Geste, die als Hinweis auf deren Gravidität gedeutet wird. Diese Vermischung von Erotik und versteckter Symbolik ist typisch für die Zweite Schule von Fontainebleau. Das erotische Element ist indes bar jeder Sinnlichkeit, erscheint vielmehr gebändigt und unterkühlt.

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20  St-Mihiel, Kirche St-Etienne, Grablegungsgruppe von Ligier Richier

Skulptur der Renaissance

Auch in der Gattung Skulptur sind die Grenzen zwischen ausgehendem Mittelalter und der frühen Renaissance fließend. Diesem Übergangsbereich ist das Grabmal des Philippe Pot (um 1493) zuzurechnen (ursprünglich in Cîteaux, heute im Louvre). Die Pleurants, bei Sluter noch Miniaturgestalten am Sockel des Katafalks (stufenförmiges Sarggerüst), haben hier halbe Lebensgröße angenommen und erscheinen zu Trägern des Gisant (der Liegefigur) umfunktioniert. Das Thema der Grablegung Christi blieb auch im 16. Jh. in Frankreich beliebt. Auf der Wende von der Spätgotik zur Renaissance steht die Grablegungsgruppe, die Michel Colombe (um 1430 – 1511) für die Abteikirche in Solesmes in Nordfrankreich geschaffen hat (1496 – 1498). Weitere Skulpturengruppen, die das spätmittelalterliche Sujet aufgreifen und deren Künstler ihren Figuren zugleich ein neues Leben eingehaucht haben, finden sich u. a. in der Kirche St-Vorles in Châtillonsur-Seine in Burgund (1527) und in St-Remi in Reims in der Champagne (1531). Grandios ist die Interpretation, die der Bildhauer Ligier Richier (1500 – 1567) dem Thema abgewonnen hat. Der Lothringer hat für die Kirche St-Etienne in seiner Geburtsstadt St-Mihiel die figurenreichste Grablegungsgruppe Frankreichs geschaffen (1554 – 1564). Sie besteht aus 13 überlebensgroßen Gestalten und bildet ein gewaltiges Theatrum sacrum, das nahezu die ganze Kirche ausfüllt.

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Während diese Werke immer noch die Nähe zum Mittelalter ahnen lassen, gibt es daneben im 16. Jh. eine jüngere Generation von Bildhauern, die sich kompromisslos zu den neuen Prinzipien der Renaissance bekannten. Ihre Arbeiten stehen den vom italienischen Manierismus inspirierten Bildern der Schule von Fontainebleau nahe. Die führende Gestalt dieser jüngeren Generation ist Jean Goujon (1510 – 1565). Zu seinen Hauptwerken gehört die Fontaine des Innocents in Paris. Dieser Brunnen steht heute nicht weit vom Centre Pompidou. An seinem Sockel sind in Relief Nymphen dargestellt, die in vielfältig geknitterte Gewänder gekleidet sind. Ihnen sind die Reliefs mit Personifikationen der vier Jahreszeiten am Hôtel Carnavalet in Paris eng verwandt. Es fällt vor allem die schlanke und manieristisch gelängte Anatomie der Gestalten auf. Goujon war nicht nur ein Meister des Reliefs. Seine bekannteste Freiplastik ist ein liegender Akt der Göttin Diana mit einem Hirsch. Das Original – es befand sich im Park des Schlosses Anet – ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen. Erhalten sind zwei Abgüsse im Louvre und im königlichen Schlosspark in Stockholm. Mit diesem Werk hat sich Goujon an Benvenuto Cellinis Relief „Die Nymphe von Fontainebleau“ von 1542 orientiert, einer Arbeit, die heute ebenfalls ihren Platz im Louvre hat. Germain Pilon (um 1528 – 1590) war der auserwählte Liebling der Katharina de Medici. Seine Werke findet man heute entweder in der Kirche in St-Denis (dort u. a. das Doppelgrab Heinrichs II. und der Katharina de Medici) oder im Louvre, wo auch eines seiner Hauptwerke, das Grabdenkmal für das Herz Heinrichs II., steht. Drei aus Marmor gearbeitete Grazien tragen die goldene Urne mit dem Herz des Königs. Ihre schlanke Gestalt und die unterkühlte Sinnlichkeit hängen eng mit der Malschule von Fontainebleau zusammen. Eine der markantesten Gestalten der französischen Renaissance ist Philibert Delorme, der als Architekt bereits kurz erwähnt wurde. Er stammte aus Lyon. 1533 – 1536 hielt er sich in Rom auf. Nach Lyon zurückgekehrt, schuf er dort den bezaubernden Erker im Innenhof des Hôtel Bullioud, ein besonderes Kleinod der französischen Renaissance-Architektur. Von Lyon führte der Weg Delormes steil nach oben. 1540 übersiedelte er nach Paris, und nur fünf Jahre später bekleidete er das Amt des obersten Inspekteurs der königlichen Bauwerke. Delorme war eines jener Multitalente, die zwar in der italienischen Renaissance in großer Zahl auftraten, in Frankreich dagegen die Ausnahme geblieben sind. Er war auch als Architekturtheoretiker tätig und verfasste Schriften, in denen er sich u. a. mit der Stereotomie (Wissenschaft von der Technik des Zuschnitts von Steinen für ein Gewölbe) – auseinandersetzte. Gerade dieser Traktat hatte eine enorme Wirkung. Die Überdachung des im Jahr 1900 erbauten Straßenbahndepots in FrankfurtBockenheim fußt auf der Schrift Philibert Delormes. Daneben hat sich Delorme

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mit Fragen der Architekturdekoration beschäftigt. Er soll den originellen Lettner in der Kirche St-Etienne-du-Mont in Paris mit seinen geschwungenen Treppenaufgängen und den zierlichen Durchbrechungen seiner Brüstungen entworfen haben.

Der Barock

I

Geschichte der Bourbonen im 17. Jahrhundert

m Jahr 1589 starb das Haus Valois aus. Nach dem feudalen Erbrecht hatte der damalige junge König Heinrich von Navarra, der über seinen Vater, Anton von Bourbon, seine Genealogie auf Ludwig IX. den Heiligen zurückführen konnte, Anspruch auf den Thron von Frankreich. Allein, seine Konfession stand dem entgegen. Seine Mutter, Jeanne d’Albret, hatte ihn im calvinistischprotestantischen Glauben erzogen, so dass sich eine katholische Mehrheit im Lande seiner Thronbesteigung widersetzte. Erst 1594 öffnete Paris dem jungen Monarchen seine Tore, nachdem dieser zum Katholizismus übergetreten war. Sein salopper Ausspruch „Paris ist eine Messe wert“ ist zum geflügelten Wort geworden. Aber auch ein anderer Ausspruch Heinrichs IV., wonach er sich wünschte, jeder Franzose möge am Sonntag sein Huhn im Topf haben, hat sich in bleibender Erinnerung gehalten und garantiert dem ersten Herrscher aus dem Geschlecht der Bourbonen seine immerwährende Popularität. Das wichtigste Datum seiner Herrschaftszeit ist das Jahr 1598, in dem er das Edikt von Nantes erließ, das den Hugenotten die freie Ausübung ihrer Religion garantierte. Damit beendete Heinrich IV. das für Frankreich unsägliche Kapitel der Religionskriege. Daneben war sein Engagement auf die Festigung der Königsgewalt konzentriert. Die Forschung hat das von ihm initiierte System den „Königsmechanismus“ tituliert, der, etwas vereinfacht ausgedrückt, den Ausgleich zwischen dem Adel und dem Bürgertum bei gleichzeitiger Sicherung der monarchischen Autorität anstrebte. Diese Politik führte gradlinig auf den Absolutismus zu. Die Herrschaft Heinrichs IV. endete jäh, als er 1610 in Paris einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Ludwig XIII. (1610 – 1643) war zu diesem Zeitpunkt erst neun Jahre alt, so dass seine Mutter Maria de Medici zunächst bis 1614 die Regentschaft führte (Heinrich IV. hatte sie geheiratet, nachdem seine Ehe mit Margarete von Valois annulliert worden war). Ihr Einfluss blieb allerdings gering, weil schon damals Kardinal Richelieu (1585 – 1642) die Szene zu beherrschen begann. Seit 1624 bekleidete er das Amt des Ersten Ministers. Nicht Ludwig XIII., vielmehr Richelieu ist es ge-

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wesen, der die Richtlinien der französischen Politik in der ersten Hälfte des 17. Jh. bestimmt hat. Drei Kernpunkte seiner Politik sind herauszustellen: die Beseitigung der Sonderstellung der Hugenotten, über die er mit der Einnahme ihrer Festung La Rochelle 1628 triumphierte; die Unterwerfung des Hochadels zugunsten einer absoluten Stellung der Monarchie, die darin gipfelte, dass sogar die Königinmutter Maria de Medici 1630 in die Verbannung gehen musste; und schließlich die Befreiung Frankreichs aus der Habsburgischen Umklammerung. Dazu diente ihm der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), in den Richelieu anfangs verdeckt, später offen eingriff. Dabei scheute er sich nicht, mit dem protestantischen Schwedenkönig Gustav Adolf ein Bündnis zu schließen (1631: Vertrag von Bärwalde). 1635 erklärte er Spanien den Krieg und verhinderte schließlich den Sieg der Habsburgischen Front. Die Vorverhandlungen zum Westfälischen Frieden, der erst sechs Jahre nach seinem Tode in Münster geschlossen wurde, hatte der gerissene Taktiker noch selbst eingefädelt. Zwei Verdienste zeichnen das Wirken Richelieus aus. Zum einen hat er 1635 die Académie Française gegründet, ein Instrument des französischen Geisteslebens, das bis auf den heutigen Tag eine tragende Rolle im Leben des Landes spielt; zum anderen hat er das Fundament für Frankreichs Vormachtstellung im Europa des 17. Jh. gelegt, das man auch das Grand Siècle genannt hat. Beim Tode Ludwigs XIII. trat dieselbe Situation ein wie zuletzt 1610. Der Thronerbe Ludwig XIV. (geb. 1638, König 1643 – 1715) war noch ein Kind. Erneut führte die Königinmutter, in diesem Fall Anna von Österreich, die Regentschaft. Ihr zur Seite stand Kardinal Mazarin (1602 – 1661), der Schüler Richelieus. Der Adel nutzte die Schwächung der Krone und versuchte im Aufstand der Fronde ein letztes Mal, die Macht des absolutistischen Königtums zu brechen. Allein, er scheiterte an der eisernen Haltung Mazarins. So sah sich das absolutistische Königtum Mitte des 17. Jh. in seinen Fundamenten gefestigt. Weitere Erfolge trugen zu seiner Stärkung bei. Nachdem 1648 das Elsass im Osten, 1659 das Roussillon im Süden und das Artois im Norden des Landes Frankreich einverleibt wurden, hatte die Nation annähernd ihre heutigen Grenzen in Gestalt eines Hexagons (Sechsecks) definiert. Nach dem Tod Mazarins nahm Ludwig XIV. die Regierungsgeschäfte selbst in die Hände. Er führte Frankreich auf den Höhepunkt seiner Geschichte. Nicht zufällig wählte sich Ludwig XIV. die Sonne zum Symbol seiner Herrschaft. 1685 erfolgte der vernichtende Schlag gegen die Hugenotten. Ludwig XIV. widerrief das Edikt von Nantes von 1598. Die Protestanten wurden vor die Wahl gestellt, entweder zum Katholizismus zu konvertieren oder auszuwandern. Die meisten entschieden sich für das Exil. Die Folge war ein Massenexodus. Al­lerding scheiterte Ludwig XIV. mit seinem Versuch, 1692 England zu erobern. Die Vorherrschaft Frankreichs auf den Meeren sollte ein unerfüllter Traum bleiben.

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Zur Begriffsbestimmung

Die Herkunft des Epochenbegriffs des Barock ist nicht unumstritten. Mal liest man, „barocco“ komme aus dem Italienischen, wo es „übertrieben, aufbauschend“ und in der Literatur so viel wie ein „skurriler Einfall“ bedeutet; dann findet man aber auch als Erklärung, das Wort käme aus dem Portugiesischen. Dort bezeichnet man mit „barocca“ Perlen mit unebener Form. Aber im Kern liegen die etymologischen Wurzeln beider Worte letztlich nahe beieinander. Zunächst war der Begriff Barock mit abwertenden Vorstellungen verbunden. Erst Mitte des 19. Jh. setzte er sich als Epochenbezeichnung der europäischen Kunstgeschichte durch. Gemeint ist konkret die Zeit vom ausgehenden 16. Jh. bis in die Zeit um 1720  /  30. Aber noch um 1900 herrschte gerade in der deutschen kunstgeschichtlichen Forschung (Heinrich Wölfflin) die Meinung vor, der Barock sei eine entartete Spätzeit der Renaissance. Seither hat es sich eingebürgert, von barocken Endphasen zu sprechen, wenn es um späte Romanik, späte Gotik usw. geht. Der Barock ist aus Italien hervorgegangen, konkret aus Rom. Die Barockkunst war ein kirchenpolitisches Mittel im Zeitalter der Gegenreformation. Mit Größe und schillernder Pracht galt es, die Gläubigen zu beeindrucken. Die Kunst des 17. Jh. ist also nicht zuletzt ein Instrumentarium gewesen, mit dessen Hilfe die katholische Kirche verlorenes Terrain wieder gutzumachen gedachte. In Italien ist deshalb Barock in der Hauptsache Kirchenkunst. Nachdem der Katholizismus in Frankreich in den beiden Kardinälen Richelieu und Mazarin erfolgreiche Verfechter der Gegenreformation gefunden hatte, war dem Übergreifen des Barock von Italien auf Frankreich der Boden bereitet. Zugleich bot der pompöse neue Stil unerschöpfliche Möglichkeiten, die Stellung des absolutistischen Königtums zu verherrlichen. Das erklärt zugleich, warum dem Barock in Frankreich eine grundlegend andere Aufgabenstellung zufiel als in seinem Ursprungsland Italien. Die Kirchenkunst spielte eine untergeordnete Bedeutung, in Frankreich ist die Kunst des 17. Jh. eine profane. Was die Peterskirche in Rom für Italien darstellt, ist das Schloss von Versailles für Frankreich. Zudem hat der Barock in Frankreich eine stilistische Umwandlung erfahren. Die Kunst des französischen 17. Jh. bewahrt einen gewissen Ernst und hält an den klaren Ordnungsgedanken der Renaissance fest. Natürlich gibt es auch hier einen Hang zur Monumentalisierung, besonders die Königsplätze in Paris führen das vor Augen. Aber alles bleibt klar gegliedert, nüchtern, man vermied jenes auftrumpfende Pathos, das für den römischen ­Barock kennzeichnend ist. Die französische Sprache hat deshalb den Begriff des ­Barock nur zögerlich angenommen, und er ist letztlich ein Fremdwort geblieben. Stattdessen hat sich in der kunstgeschichtlichen Terminologie­ ­Frankreichs der Begriff des Style classique für das 17. Jh. durchgesetzt.

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Dennoch hat der Begriff des Barock auch in Frankreich als Bezeichnung einer Epoche seine Gültigkeit, wenn man ihn auf das gesamte Spektrum der kulturellen Zeiterscheinungen – also auch das Theater, die Musik, die Kleidung – bezieht. Der Barock liebt den großen Auftritt, die Inszenierung. Gerade in Frankreich wird das Privatleben des Königs repräsentativ in Szene gesetzt und Teil der höfischen Prachtentfaltung. Versailles und die Schlossarchitektur des Style classique

Versailles, das ist mehr als nur der Name eines Schlosses, das ist der Inbegriff zugleich das Synonym des europäischen Hochbarock, denn nicht nur die Architektur wurde überall nachgeahmt – in München durch die Wittelsbacher, in Wien durch die Habsburger –, auch die Hofkultur von Versailles wurde zum Vorbild aller großen Fürstenhäuser, Französisch europaweit Hofsprache. Die Anfänge des Schlosses gehen auf Ludwig XIII. zurück. Er ließ hier zunächst einen kleinen Jagdsitz anlegen, dem 1631 ein Jagdschlösschen folgte. Ludwig XIV. hegte schon in früher Jugend eine besondere Liebe für Versailles. In den Gärten fanden um 1660 erste Feste statt. 1668 begann der systematische Ausbau des Schlosses zu Europas größtem Profanbauwerk des Feudalzeitalters. Das Schloss Ludwigs XIII., von Louis Le Veau erbaut, bildet den Kern der Anlage. Diesem fügte Jules Hardouin-Mansart zur Gartenseite den Spiegelsaal an und ließ nach Norden und Süden die weit ausgreifenden Seitentrakte anlegen. Bereits 1682 hielt der Sonnenkönig mitsamt seinem Hofstaat Einzug in dem Schloss, dessen Seitentrakte damals allerdings noch eine Baustelle waren. Dieser Traum Versailles war, so der Historiker Uwe Schultz, Ludwigs XIV. Mittel, das Trauma des Adelsaufstands in seiner Kindheit für immer vergessen zu machen. Mehr als 100 Jahre residierten die Herrscher Frankreichs in dem Schloss. Wenn auch Ludwig XVI. 1789 gezwungenermaßen wieder Residenz in Paris bezog, blieb Versailles weiterhin Schauplatz historischer Ereignisse. 1871 brüskierte Deutschland den Kriegsverlierer Frankreich mit der Proklamation seines Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles, 1919 folgte die Retourkutsche und Frankreich demütigte an derselben Stelle den Kriegsverlierer Deutschland mit den Versailler Verträgen. Die Größendimension des Schlosses von Versailles setzte im 17. Jh. neue Maßstäbe, die architektonische Gestalt hingegen erscheint konventionell. Die Form eines Schlosses mit einem Mitteltrakt und begleitenden Seitenteilen hatte bereits die Renaissance als Bautypus hervorgebracht. Dem Bau von Versailles war die Errichtung der Schlösser von Maison-Laffitte und Vaux-le-Vicomte unmittelbar vorangegangen, letzteres gab nicht nur das Vorbild, sondern zugleich den Anlass zum Bau von Versailles. Bauherr von Vaux-le-Vicomte war Nicolas Fouquet, der Finanzminister Ludwigs XIV. Zur feierlichen Eröffnung seines Schlosses 1661

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21  Schloss und Park von Versailles

lud Fouquet auch den König ein, den beim Anblick des Luxus der Verdacht beschlich, sein Minister habe sich durch Hinterziehung von Staatsgeldern die Mittel zum Bau seines Schlosses verschafft. Fouquet musste sein Protzen teuer bezahlen. Nur drei Wochen nach der spektakulären Einweihung von Vaux-le-Vicomte verlor er seinen Posten und verbrachte die letzen Jahre seines Lebens im Kerker. Ludwig XIV. pochte darauf, nicht nur das Monopol in Sachen der Politik, sondern auch der Hofhaltung für sich zu beanspruchen. Konstituierender Bestandteil des Schlosses Versailles sind die ausgedehnten Parkanlagen mit ihren Wasserspielen. Alles ist axial auf das Schloss ausgerichtet, das inmitten dieser Pracht als steingewordenes Sinnbild des absolutistischen Königtums thront. Obwohl des Sonnenkönigs ganze Liebe Versailles galt, vernachlässigte er den Louvre nicht. Franz. I, Heinrich IV. und Ludwig XIII. hatten dem monumentalen Bauwerk schon annähernd seine heutige Größe verliehen. Ludwig XIV. ist verantwortlich für die nach Osten ausgerichtete Fassade, für die er 1665 einen Architektur-Wettbewerb ausschreiben ließ, an dem auch Lorenzo Bernini, der Star des römischen Barock, teilnahm. Bezeichnenderweise fand der Entwurf des Römers wenig Gegenliebe. Den Stich machten Le Veau und Le Brun mit ihrem Entwurf einer nüchternen Kolonnadenreihe. Diese Ostfassade des Louvre ist das eindrucksvollste Beispiel für die Auffassung des Style classique.

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Stadtbauplanung in Paris

Heinrich IV. hatte den Anstoß zum Bau der Place Royale (seit der Revolution: Place des Vosges) im Pariser Stadtteil Marais gegeben. Dies war der Beginn einer systematischen Stadtbauplanung in der Hauptstadt, in deren Schatten die Städte der Provinz bis zur Bedeutungslosigkeit verblassten. 1605 begannen die Arbeiten, die erst lange nach dem Tod Heinrichs IV. zum Abschluss kamen. Der Platz besitzt einen quadratischen Grundriss, 36 gleich gestaltete Wohngebäude rahmen seine vier Seiten, nur der Pavillon du Roi und der Pavillon de la Reine in der Mitte der Nordund der Südseite erheben sich geringfügig über diese. 1639 wurde in seiner Mitte ein bronzenes Reiterstandbild Ludwigs XIII. aufgestellt, sinnbildhafter Ausdruck für die Entfaltung des Absolutismus (in der Revolution zerstört und 1819 durch ein Denkmal aus Stein ersetzt). Der Platz lebt von dem farblichen Wechselspiel zwischen roten Ziegeln und helleren Rahmenteilen, die aus Kalkstein gearbeitet sind. Von einem zweiten städtebaulichen Großprojekt Heinrichs IV. sind nur Teile geblieben. Der Pont Neuf (neue Brücke; heute in einer kuriosen Verdrehung der Verhältnisse die älteste Seinebrücke in Paris) in seiner Verbindung mit der Place Dauphine. Während von dieser nur zwei Häuser und der dreieckige Grundriss auf der nach Westen spitz zulaufenden Seineinsel erhalten sind, zeigt der Pont Neuf noch sein originales Aussehen. Seine Besonderheit im damaligen Europa ist die Tatsache, dass es sich hier um eine der ersten unbebauten Brücken in einer Stadt handelt. Davor sahen alle Brücke derart aus, wie wir es heute noch vom Ponte di Rialto in Venedig oder vom Ponte Vecchio in Florenz kennen: sie waren dicht mit Geschäften bebaut. Was für die Zeit Heinrichs IV. und Ludwigs XIII. die Place Royale darstellte, sollten für die Epoche des Sonnenkönigs die Place des Victoires und die Place Vendôme werden, beide Ende des 17. Jh. angelegt. Erstere geht auf die Initiative des Marschalls de la Feuillade zurück. Der Platz war als Huldigung an die Adresse seiner Majestät gedacht. Mehrere Straßenzüge führen auf den als Polygon angelegten Platz zu, dessen Mitte die Reiterstatue Ludwigs XIV. von Desjardins markiert (in der Revolution zerstört; die Nachbildung stammt von 1822). Als Rechteck ist die Place Vendôme angelegt. Diese entstand auf Anordnung des Königs selbst, der seinen Ratgebern darin zustimmte, dass man die Anlage eines königlichen Platzes in der Metropole nicht einem Privatmann überlassen dürfe. Der Platz ist größer als die Place Royale, die rahmenden Bauten monumentaler, aber in dem Verzicht auf die auftrumpfenden Formen des römischen Barock dem Geist der Renaissance ebenso verpflichtet wie die Place Royale. Das ursprünglich in seiner Mitte aufgestellte Reiterdenkmal des Monarchen ließ Napoleon 1806 durch jene der Trajanssäule in Rom nachempfundene Siegessäule ersetzen, die aus den mehr als 1200 erbeuteten und eingeschmolzenen Kanonen seines Sieges bei Austerlitz gegossen wurde.

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Der Wohnbau des Adels

Der Barock nahm nicht nur über öffentliche Großprojekte Einfluss auf das Pariser Stadtbild; er veränderte auch den Wohnbau des Adels. Schon im 16. Jh. hatte das Hôtel particulier, das adelige Stadtpalais, als dreiflügelige Anlage eine kanonische Form angenommen, die im 17. Jh. fortlebte. Im Grunde handelt es sich um verkleinerte Ableger der Schlösser. Bemerkenswert ist die Aufteilung im Innern: im Corps de Logis befanden sich die Repräsentationsräume, in den Seitentrakten waren die Wohn- und Schlafräume untergebracht. Eine Besonderheit ist, dass der Hausherr und die Dame des Hauses über je einen Flügel geboten, was auf eine weitgehende Gleichstellung der Frauen schließen lässt, die der bürgerlichen Gesellschaftsordnung des 19. Jh. wieder verloren ging. Im fortschreitenden 17. Jh. gewannen die Adelshäuser immer größere Ausmaße. Ein prachtvolles Beispiel dieser Epoche ist das Hôtel de Sully in Paris im Stadtteil Marais (1628). Schlosshafte Ausmaße erreichte das Palais de Luxembourg, das sich Maria de Medici nach der Ermordung Heinrichs IV. als Witwensitz erbauen ließ. Das Vorbild war der Palazzo Pitti in Florenz. Nach der Mitte des 17. Jh. geht die Zahl aufwendig gestalteter Adelspalais deutlich zurück. Das absolutistische Königtum Ludwigs XIV. hatte den Adel in seine Schranken verwiesen, eine Zurschaustellung von Rang und Reichtum hätte leicht den Unmut des Monarchen wecken können. Keiner war darauf erpicht, es Nicolas Fouquet gleichzutun. Fortan wurden Wohnbauten der Aristokratie in größere urbane Kontexte eingebunden, wie es etwa an der Place Vendôme der Fall ist, und traten nicht mehr als individuelle Bauten in Erscheinung. Sakralarchitektur

Entsprechend der fortschreitenden Zentralisierung des Landes verlor nicht nur der Bau von Schlössern und Adelssitzen in den Provinzen an Bedeutung, auch der Kirchenbau kam nahezu zum Erliegen. Die wenigen Kirchen des Barockzeitalters außerhalb von Paris (z. B. die Kathedralen in Besançon und La Rochelle) erscheinen merkwürdig nüchtern, beinahe seelenlos. Die Kirche Nôtre-Dame in Briançon gibt zu erkennen, dass ihr Entwurf von einem Festungsbaumeister (Marquis de Vauban) stammt. Anspruchsvollere Kirchen entstanden im 17. Jh. nur noch in Paris. Und auch hier erweist es sich, dass man nur bedingt von Barock sprechen kann, dass der französische Begriff des Style classique die Eigenheiten dieser Bauten sicherer erfasst. Vergleicht man etwa die Fassaden von St-Gervais oder St-Louis in Paris mit bedeutenden Bauten Roms wie Il Gesù oder S. Andrea della Valle, fallen die unterschiedliche Geschosszahl und das andere Proportionsgefühl auf. Die römischen Beispiele sind zweigeschossig und auf Breitenwirkung angelegt, die Pariser Bauten zeigen dagegen einen dreigeschos-

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sigen Aufriss und eine stärkere Vertikalbetonung. Und auch dort, wo sich die Architekten mit einem zweigeschossigen Fassadenaufriss stärker den römischen Vorbildern annäherten wie bei der Kirche der Sorbonne oder der Klosterkirche Val-de-Grâce – letztere ein Werk François Mansarts (1598 – 1666) – setzen die dahinter über einem hohen Zwischenelement (Tambour) aufgehenden Kuppeln einen betonten Vertikalakzent. Triumphale Großbauten sollten den Ruhm Ludwigs XIV. verewigen. Neben den erwähnten Königsplätzen entstand mit dem Hôtel des Invalides ein Projekt, das schon in seiner Bestimmung etwas Neuartiges darstellte. Die Institution diente als Altersheim für Veteranen der Armee, um deren Belange sich der Staat bis dahin nicht gekümmert hatte. Ein weitläufiger Gebäudekomplex, in dem die Insassen ein klösterliches Leben führten, umschließt mehrere, unterschiedlich große Innenhöfe. Das Vorbild des Escorial nahe Madrid springt ins Auge. Über allem erhebt sich majestätisch die vergoldete Kuppel, die deutlicher in Erscheinung tritt als bei dem spanischen Vorbild. Zugleich wird Michelangelos Kuppel des Petersdomes in Rom zitiert – auch im Detail wie z. B. in der Form der doppelten Säulen. Insgesamt hat der Architekt Jules Hardouin-Mansart (1646 – 1708), ein Großneffe François Mansarts, aus verschiedenen Quellen geschöpft und doch zugleich ein genuin französisches Bauwerk geschaffen. Die monumentale Betonung der Kirche über zentralem Grundriss, dieser seit Urzeiten für Memorialbauten festgelegte Bautyp, erklärt sich aus dem Wunsch des Sonnenkönigs, im Invalidendom bestattet zu werden. Doch nicht Ludwig XIV., sondern statt seiner fand Napoleon I. hier seine letzte Ruhestätte, was den Invalidendom zur nationalen Wallfahrtsstätte machte. Malerei des Grand Siècle

Wurde die Malkunst Frankreichs während der Renaissance weitgehend von italienischen Einflüssen bestimmt, so emanzipierte sie sich im 17. Jh. von fremden Vorbildern und brachte selbst eine staunenswerte Zahl bedeutender Persönlichkeiten hervor. Überraschend ist zudem die stilistische Pluralität der französischen Malerei des Grand Siècle. Hervorzuheben ist die Bedeutung der sog. Römer. Als solche kann man Nicolas Poussin (1594 – 1665) und Claude Lorrain (1602 – 1682) bezeichnen, die beide die längste Zeit ihres Lebens in Rom verbrachten. Poussin führte ein an äußeren Ereignissen unspektakuläres Leben, sein Werk, seine Bedeutung und der Einfluss, den er auf seine Zeitgenossen ausübte, sind indes gigantisch! 1624 ließ sich Poussin in Rom nieder. 1641 kehrte er auf den dringenden Wunsch Richelieus und Ludwigs XIII. wohl eher widerwillig nach Paris zurück. Als der Kardinal und der König kurz nacheinander starben (1642 und 1643), lag Poussin

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kein Stein mehr im Weg, und er ging zurück in seine Wahlheimat Rom, wo er bis zu seinem Tode lebte. Anfangs für kirchliche Auftraggeber tätig, schloss er sich alsbald akademischen Kreisen an und fand unter den Humanisten und Wissenschaftlern neue Auftraggeber. Die klare Ordnung seiner rational durchdachten Kompositionen zeigt ihn als Gegenpol zum gleichzeitigen lärmigen Hochbarock Roms. Seine Themen bezog er aus der Geschichte und Mythologie der Antike. Immer steht der Mensch im Mittelpunkt seiner Darstellungen. Die ruhigen, ausgewogenen Bilder Poussins beeinflussten die großen Hofmaler des 17. Jh. – allen voran Eustache Le Sueur und Charles Lebrun – und wirkten noch bis in das Werk der Klassizisten der Zeit um 1800 nach. Ganz anders Claude Lorrain (eigentlich Claude Gelée), der 1626 nach Rom übersiedelte, das er bis zu seinem Lebensende nicht mehr verlassen sollte. Er wurde zum Begründer der europäischen Landschaftsmalerei. Seine Bilder sind klassisch beruhigte Kompositionen, in denen arkadische Landschaften im Vordergrund stehen. Menschen erscheinen darin mikroskopisch klein und als Teil der Schöpfung. Die Bildtitel, entweder der Bibel oder der Mythologie entlehnt, wirken immer nur wie eine Marginalie am Rande; zentralen Raum nehmen die Landschaftsprospekte ein, oftmals mit antiken Bauwerken oder Hafenansichten im Vordergrund. Intensive atmosphärische Dichte besitzen jene Bilder, in denen er Sonnenauf- und -untergänge festgehalten hat. Claude Lorrain war Vorbild für William Turner (1775 – 1851), und noch die Impressionisten gehörten zu seinen Bewunderern. Wir kommen zu den Klassizisten unter den Malern des Grand Siècle. Eustache Le Sueur (1616 – 1655) und Charles Lebrun (1619 – 1699) wurden bereits genannt. Sie sind die Hauptvertreter einer klassizistischen Gesinnung, die stark von Poussin beeinflusst war. Während bei Le Sueur alles in etwas süßlich wirkende Farben getaucht ist, die wie eine Vorahnung auf das spätere Rokoko anmuten, setzte Lebrun auf das Pathos großformatiger Historien- und Schlachtengemälde, darin offenbar den Geschmack des Sonnenkönigs auf den Punkt treffend. Lebrun war maßgeblich an der Ausstattung des Schlosses von Versailles beteiligt. Eine dritte Gruppe von Malern des 17. Jh. in Frankreich sind die Caravaggisten. Das sind in der Hauptsache Nicolas Régnier (1590 – 1667), Claude Vignon (1593 – 1670) und – als die bedeutendste Persönlichkeit dieser Richtung – Valentin de Boulogne (1594 – 1632). Ihr Vorbild war Michelangelo Merisi (1573 – 1610), besser bekannt unter dem Namen seines Geburtsortes Caravaggio, der die italienische Malerei der gegenreformatorischen Ära mit seiner gnadenlosen und auf extreme Hell-Dunkel-Kontraste setzenden Malerei revolutioniert hatte. Überall in Europa eiferten ihm Künstler nach. Am bekanntesten ist die Gruppe der Utrechter Caravaggisten. Seine französischen Nachfolger al-

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22  Claude Lorrain, Seehafen bei aufgehender Sonne, München, Alte Pinakothek

lerdings glätteten den Verismus Caravaggios und nahmen den Lichtkontrasten ihre Schärfe. Hässlichkeit hat in der französischen Kunst niemals eine Heimat gefunden! Neben diesen drei Gruppen gibt es ferner Autodidakten, die sich nicht zwingend einem der genannten Künstlerkreise zuordnen lassen. Als Klassizist könnte noch Philippe de Champaigne (1602 – 1674) gelten, der am Hof Ludwigs XIII. nicht nur wegen seiner künstlerischen Begabung reüssierte, sondern auch deshalb die Gunst insbesondere Richelieus genoss, weil er Katholik war. Gemeinsam mit Poussin baute Champaigne Dämme gegen den italienischen, speziell römischen Barock und verhalf der klassizistischen Richtung in Frankreich zum Sieg. Besonders als Porträtist war Champaigne bei Hof begehrt. Eine Inkunabel unter den Bildnissen seiner Zeit ist das ganzfigurige Porträt Richelieus von 1635 (Louvre), das den Kardinal im flammenden Ornat seiner Kardinalswürde zeigt. Der Erste Minister stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht: er hatte die Hugenotten in die Knie gezwungen, seine Rivalin Maria de Medici verbannt und bestimmte seit Jahren die Richtlinien der Politik Frankreichs.

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Ein echter Autodidakt war Georges de La Tour (1593 – 1652), dessen Bedeutung die Kunstgeschichte erst nach der Mitte des 20. Jh. wieder ins rechte Licht gerückt hat. Er war wie Claude Lorrain Lothringer – und das ist beinahe schon alles, was wir über dieses Genie wissen. Kaum eine andere Künstlerbiographie der Zeit liegt derart im Dunkeln wie die des Georges de La Tour. Seine Meisterschaft liegt in der Wiedergabe von Nachtstücken, die von starken Hell-Dunkel-Kon­ trasten geprägt sind. Bevorzugtes Motiv sind Szenen, deren Figuren von einer einzigen spärlichen Lichtquelle, zumeist einer Kerze, einseitig beschienen sind. Als Meister des Chiaroscuro – darin Rembrandt verwandt – steht er den Caravaggisten nahe, jedoch unterscheidet ihn von diesen die magische Grundstimmung, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Zuletzt ist auf die Brüder Le Nain einzugehen. Es waren ihrer drei: Louis (um 1600  / 10 – 1648), Antoine (um 1610 – 1648) und Mathieu (um 1607 – 1677). Da sie ihre Werke prinzipiell nicht signierten, ist es heute nahezu unmöglich, ihre Hände voneinander zu scheiden. Sie standen den Caravaggisten nahe, und doch unterscheiden sie sich von diesen. Neben religiösen Themen beschäftigten sie sich – damals ein Novum in der Kunst – mit dem Leben niederer sozialer Schichten. Im Louvre hängen Bilder mit Szenen aus dem bäuerlichen Leben. Diese sind keinesfalls im Sinne einer sozialen Anklage zu verstehen, so etwas wäre im französischen 17. Jh. unweigerlich einer Zensur zum Opfer gefallen, sondern erzählen von der Würde solcher Menschen, die nicht zur Klasse der Privilegierten gehören. Damit führen die Brüder Le Nain ein Thema in die französische Malerei ein, das über Chardin im 18. Jh. an Millet und Corot im 19. Jh. weiter vermittelt wurde. Auf der Grenze zwischen Barock und Rokoko steht jenes berühmte Porträt Ludwigs XIV., das Hyacinthe Rigaud (1659 – 1743, Louvre) im Jahr 1701 gemalt hat. Es zeigt den Sonnenkönig in allem Pomp, selbstbewusst, in einen geradezu artistisch gemalten Hermelinmantel gekleidet. Das Bild war eigentlich als Geschenk an den Enkel Philipp von Anjou gedacht, dem Ludwig zum spanischen Thron verholfen hatte, aber der Auftraggeber war von dem Werk derart begeistert, dass er das Original selbst behielt. Der Enkel musste sich mit einer Kopie begnügen. Gartenkunst

Die französische Gartenkunst des 17. Jh. ist aus der Renaissance hervorgegangen. Bereits im 16. Jh. wurden Gärten nach geometrischen Gesichtspunkten angelegt, und bei der Anordnung von Blumen, Büschen und Bäumen wurde deren symbolisch-allegorische Bedeutung berücksichtigt. Daran knüpften die Garten-Baumeister des französischen Barock an, als der berühmteste unter ih-

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23  Hyacinthe Rigaud, Porträt Ludwigs XIV., Paris, Louvre

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nen André Le Nôtre (1613 – 1700), den Ludwig XIV. bei seinem folgenschweren Besuch auf Vaux-le-Vicomte anlässlich der dortigen Schlosseinweihung kennenlernte. Der König berief Le Nôtre nach Versailles, wo er die dortigen Gartenanlagen entwarf. Alles ist größer und ausladender als in den Schlossgärten der Renaissance, aber das Prinzip geometrischer Formen blieb bestehen. Neu kamen die Wasserspiele hinzu, und so wurde zugleich eine Gartengestalt festgelegt, die wie die Schlossarchitektur europaweit zum Vorbild wurde. Einer der wichtigsten Nachfolger Le Nôtres war Dominique Girard (1680 – 1738), der in jungen Jahren Erfahrungen in Versailles sammelte. Von hier führte ihn sein Weg nach Bayern, wo er die Schlossparks in Schleißheim und in Nymphenburg entwarf. Er starb in München, nachdem er zuvor noch den Park des Belvedere in Wien gestaltet hatte.

Das Rokoko Kurzer Abriss der Geschichte

D

as 18. Jh. begann mit einem Paukenschlag. Im Jahr 1700 starb in Spanien der debile und erbenlose König Karl II. Mit ihm erlosch der spanische Zweig der Habsburger. Ganz Europa hatte auf diesen Tag gewartet, und namentlich Frankreich hatte sich mit der Errichtung mächtiger Bollwerke, die der Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre Marquis de Vauban (1633 – 1707) errichtet hatte, bestens auf den großen europäischen Waffengang vorbereitet, der erwartungsgemäß ausbrach, kaum dass Karl II. von Spanien die Augen für immer geschlossen hatte. Man spricht vom Spanischen Erbfolgekrieg (1701 – 1713  /  14). Konkret ging es um die Frage, ob die österreichischen Habsburger oder das bourbonische Frankreich die Erbfolge in Spanien antreten sollte. Der Krieg ging mit den Kompromissfrieden von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) zu Ende. Ludwig XIV. setzte seinen sehnlichsten Wunsch durch, indem sein Enkel Philipp von Anjou den spanischen Thron bestieg. Endlich sah Frankreich seinen lang gehegten Wunsch erfüllt, sich aus der habsburgischen Umklammerung zu lösen. Allerdings musste sich Spanien aus Italien zurückziehen und dieses den österreichischen Habsburgern überlassen. Der Gewinn der spanischen Krone ging für die Bourbonen also mit erheblichen Gebietsverlusten einher. Somit konnte Frankreich bzw. Ludwig XIV. nur einen Teil seiner hochfliegenden Pläne realisieren, denn die angestrebte Führungsrolle Frankreichs in Europa ließ sich nicht festigen. Der Kompromissfrieden

Das Rokoko

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führte zu einer­ ­Machtbalance und ebnete nicht zuletzt Englands Aufstieg zur Weltmacht. Als Ludwig XIV. 1715 hochbetagt starb, waren ihm sein Sohn Louis le Grand (gest. 1711) und sein Enkel Ludwig Herzog von Burgund (gest. 1712) bereits ins Grab vorangegangen, so dass die Herrscherwürde auf seinen Urenkel Ludwig XV. (1715 – 1774) überging. Dieser war zum Zeitpunkt des Erbfalls wie sein Vorgänger erst fünf Jahre alt. Für ihn führte Philipp aus dem Haus Bourbon-Orléans bis 1723 die Regentschaft. Man nennt diese Episode, die der Adel sogleich wieder dazu nutzte, sich größere Freiheiten zu verschaffen, das Régence. Danach überließ der König die Staatsgeschäfte bis 1743 Kardinal Fleury (1653 – 1743), um sich einem ausschweifenden Leben hinzugeben. Bald wurden seine Mätressen Madame de Pompadour (1721 – 1764) und Madame Dubarry (1743 – 1793) einflussreiche Ratgeberinnen. Ludwig XV. war den innen- und außenpolitischen Problemen seiner Zeit nicht gewachsen. Weder der Österreichische Erbfolgekrieg (1741 – 1748), noch der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763) hatten Frankreich greifbare Ergebnisse gebracht. Im Krieg gegen England verlor die Grande Nation ihre überseeischen Besitzungen in Nordamerika und Ostindien. Der übersteigerte Luxus des Königs, das verschwenderische Gebaren des Hofes und Wirtschaftskrisen zerrütteten die Autorität Ludwigs XV., dem auch zunehmend der kalte Wind der Aufklärung ins Gesicht blies. An den Regierungsantritt Ludwigs XVI. (1774 – 1793) knüpften sich zunächst hochfliegende Erwartungen. Tatsächlich berief der letzte Monarch des Ancien Régime mit den Herren Necker, Turgot und Calonne nacheinander fähige Persönlichkeiten auf den Posten des Finanzministers, aber die gesamtwirtschaftliche Lage war zu diesem Zeitpunkt bereits derart verfahren, dass ihnen eine tiefgreifende Sanierung der Staatsfinanzen nicht mehr gelang. Um der vielfältigen Probleme Herr zu werden, wurden deshalb 1789 zum ersten Mal seit 1614 wieder die Generalstände einberufen. Aber die von Ludwig XVI. signalisierte Reformbereitschaft genügte den meisten nicht mehr. Der Volkszorn entlud sich am 14. Juli 1789 gegen das Staatsgefängnis in der Bastille, es kam zum Ausbruch der Revolution. Ludwig XVI. blieb als König einer konstitutionellen Monarchie noch bis 1792 im Amt. Dann wurde er entthront und Anfang des Jahres 1793 hingerichtet. Eine Begriffsbestimmung

Die prägende Kunstrichtung des 18. Jh. ist das Rokoko. Sein Name ist aus dem Französischen hervorgegangen. „Rocaille“ nennt man eine Ornamentform, die sich auf die gedrehte Form von Muscheln bezieht; hinzukommt das französische Wort für Muschel: „coquille“. Aus den Anfangssilben dieser bei-

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den Worte leitet sich der Name des Rokoko ab. Weil diese Epoche weitgehend identisch mit der Regierungszeit Ludwigs XV. ist, spricht man in Frankreich im kunstgeschichtlichen Zusammenhang auch vom Style Louis Quinze. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet ein Terminus aus dem Bereich der Ornamentik dieser Epoche zu ihrem Namen verholfen hat. Dem entspricht, dass immer dann, wenn Epochen der Kunstgeschichte sich ihrem Ende zuneigen, das Interesse an der menschlichen Figur und an szenischen Darstellungen erlahmt und verspielte Ornamentformen an deren Stelle treten. Dasselbe beobachten wir am Ende der Romanik und der Gotik. Zwar erlischt im Spätbarock – auch diesen Namen liest man für das Rokoko – das Interesse an der Darstellung von Menschen nicht mit derselben Kompromisslosigkeit wie etwa am Ende der Romanik, aber schmückendes Beiwerk erhält doch einen Stellenwert, den es im 17. Jh. nicht besaß. Und wieder gilt: Mit Rokoko wird nicht nur eine Stilrichtung in der Kunst bezeichnet, sondern in einem weiter gefassten Sinn eine ganze Epoche und das in ihr herrschende Lebensgefühl benannt. Auf die pompöse Zurschaustellung des Hochbarock folgt eine Form höfischer Verfeinerung, die man als eine Flucht ins Private bezeichnen möchte. Rokoko bedeutet in diesem Sinne Sublimierung, Zartgefühl, Intimität. Eines der Hauptvergnügen der feudalen Gesellschaft war die Inszenierung ländlicher Feste. Man schwelgte in Pastoralnostalgie, der Begriff des „Schäferstündchens“ stammt aus dieser Zeit. Die ­höfische Verklärung des Landlebens aber macht deutlich, dass sich der französische Adel des 18. Jh. auf der Flucht vor der Realität befand, denn das tatsächliche Leben auf dem Lande war ein karges und entbehrungsreiches, von Armut und ­Hungersnot gekennzeichnet. Zwischen der sozialen Wirklichkeit und dem schönen Schein des Hoflebens entstand eine Kluft, die sich nach der Mitte des 18. Jh. stetig ­vergrößerte. Die Revolution war die geradezu zwangsläufige Folge. Architektur des 18. Jahrhunderts in Paris

Deutliche Spuren hat das Rokoko in der Architektur in Paris hinterlassen. Die Zeit des Régence hatte dem Adel wieder dazu verholfen, aus der Deckung zu treten, in die er durch Ludwig XIV. gedrängt worden war. In der ersten Hälfte des 18. Jh. wurden in Paris wieder deutlich mehr Adelspalais` errichtet als in der zweiten Hälfte des 17. Jh., einige in schlosshaften Dimensionen. Die meisten finden sich in St-Germain-des-Prés, dem bevorzugten Quartier des Adels im 18. Jh. Das größte unter ihnen, das Palais Bourbon (erbaut 1722) ist heute der Sitz des Parlaments, der einstige Stadtteil der Noblesse hat sich zum Regierungsviertel gewandelt, ein Zufall? Offenbar möchten diejenigen, die heute politische Verantwortung in Frankreich tragen, standesgemäß residieren: das Hôtel Matignon (1721)

Das Rokoko

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ist heute Sitz des Premierministers, das Hôtel de Villeroy (1724) beherbergt das Landwirtschaftsministerium, im Hôtel de Noirmoutiers (1720) residiert jetzt der Präsident der Region Ile-de-France, das Hôtel de Lessay (1722) ist Amtssitz des Parlamentspräsidenten usw. Ein besonders stattliches Beispiel ist der Elysée-Palast (erbaut 1718 – 1722) nahe der Place de la Concorde, errichtet für Henri-Louis de la Tour-d’Auvergne, danach bis zu ihrem Tod Wohnsitz der Marquise de Pompadour und seit 1873 die offizielle Residenz des französischen Staatspräsidenten. Allen gemeinsam ist die nüchterne bauliche Gestalt, die mit einem weitgehenden Verzicht auf Bauzier einhergeht. Barock und Rokoko, 17. und 18. Jh., lassen sich in Frankreich im Hinblick auf die äußere Erscheinung ihrer Bauwerke kaum voneinander unterscheiden. Im Innern dagegen hat sich die verspielte Sprache des Rokoko durchgesetzt, Ausdruck scheinbar sorgloser Lebensfreude des Adels am Vorabend einer Epoche, die gerade dieser Gesellschaftsschicht den Untergang bereiten sollte. 1764 – 1768 wurde im Schlosspark von Versailles das Petit Trianon errichtet, ein kleines privates Refugium, in das sich Ludwig XV. mit seinen Mätressen zurückzog. Selbst dem König war nicht mehr an Schlossbauten größeren Maßstabs gelegen. Anders liegen die Dinge bei den Repräsentationsbauten, die im 18. Jh. in Paris entstanden. Größtes Kirchenprojekt der Zeit Ludwigs XV. war Sainte-Geneviève, nach der Revolution in Panthéon umbenannt. Architekt war Jacques-Germain Soufflot (1713 – 1780), die Grundsteinlegung fand 1764 statt. Finanzielle Engpässe führten wiederholt zu Unterbrechungen, Soufflot starb über dem Projekt, das 1790 – ungeachtet der Revolutionswirren – seine Schüler Jean-Baptiste Rondelet (1743 – 1829) und Maximilien Brébion (1716 – 1792) zum Abschluss brachten. Das Kolossalbauwerk mit einer gewaltig aufragenden Kuppel über dem Grundriss eines griechischen Kreuzes sollte weit reichenden Wirkungsradius entfalten und hat im Kapitol in Washington einen prominenten transatlantischen Nachfolger gefunden. Ein anderes Prestige-Objekt Ludwigs XV. ist die Ecole Militaire. 1750 wurde das Marsfeld als Exerzierplatz angelegt, als dessen südlicher Abschluss die Ecole Militaire 1751 – 1773 errichtet wurde. In dieser Militärakademie fanden 500 Söhne mittelloser, verwundeter oder auch besonders verdienter Veteranen als Rekruten Aufnahme. Der weitläufige Baukomplex ist als Konkurrenz zum Hôtel des Invalides zu verstehen. Offenbar wollte Ludwig XV. mit diesem Denkmal nicht hinter dem Vorgänger zurückstehen. Auch mit einem monumentalen Königsplatz stellte sich Ludwig XV. ebenbürtig in die Reihe seiner Vorgänger, indem er die Place de la Concorde anlegen ließ, die diesen republikanischen Namen natürlich erst nach der Revolution erhielt.

Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus

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Architektur des 18. Jahrhunderts in den Provinzen

So wie der Adel im 18. Jh. wieder zu größerem Selbstvertrauen gelangte und sich mit eigenen Bauprojekten zu Wort meldete, begannen auch die Provinzen aus jenem Dornröschenschlaf zu erwachen, in den sie der Absolutismus Ludwigs XIV. versetzt hatte. Soufflot, den wir eben als Baumeister des Panthéon vorgestellt haben, weilte, nachdem er von Lehrjahren in Rom nach Frankreich zurückgekehrt war, eine Zeit lang in Lyon. Hier war der junge Architekt am Bau des Hôtel-Dieu maßgeblich beteiligt. Der Prunkbau wendet seine Fassade der Rhône zu. Der Stil ist identisch mit den Großbauten in Paris: klare Gliederung, verhaltene Bauzier; insgesamt herrscht ein Eindruck von Nüchternheit, der bereits den heraufziehenden Klassizismus ahnen lässt. Dasselbe gilt für die Bautengruppe der Börse in Bordeaux, ein Ensemble von drei Baukörpern, die sich dem Ufer der Garonne zuwenden. Architekt war Jacques-Ange Gabriel (1698 – 1782), der damit sein bedeutendstes Werk schuf (errichtet 1730 – 1755). Er war in Paris maßgeblich an den Entwürfen zur Ecole Militaire und zur Place de la Concorde beteiligt. Auch Gabriel, der einer traditionsreichen Familie von Baumeistern entstammte, gilt als einer der Wegbereiter des Klassizismus. Als solcher ist auch der um eine Generation jüngere Victor Louis (1731 – 1800) anzusehen, der mit dem Grand Théâtre in Bordeaux sein Hauptwerk geschaffen hat (1175 – 1780). Die Kolonnadenreihe der Frontseite ist mit ihrem betonten Rückgriff auf antikes Formengut eine deutliche Absage an das Rokoko. Dieses aber diktierte noch die heitere und sinnenhafte Gestaltung im Innern des Theaters, das Mitte des 19. Jh. das Vorbild für die Opéra Garnier in Paris abgab. Doch letztlich blieben die hier genannten Beispiele Einzelerscheinungen. Von einem deutlichen Auftreten der Provinzen bzw. Provinzstädte kann man im 18. Jh. nicht sprechen. Paris gab auch weiterhin die Führungsrolle nicht aus der Hand. Malerei von Boucher bis Watteau

Seine schönste Blüte hat das Rokokozeitalter in Frankreich im Bereich der Malerei hervorgebracht. (Die Bilder, die nachstehend aufgeführt werden, befinden sich, soweit nicht anders vermerkt, ausnahmslos im Louvre in Paris.) Ihr wichtigster Wegbereiter war Antoine Watteau (1684 – 1721), der aus der Tradition der hochbarocken Kunst des 17. hervorgegangen war. Sein Verdienst ist es, mit dem Thema der Fêtes galantes der Malerei ein neues Thema erschlossen zu haben. Grundlegend war jenes Bild mit dem Titel „Aufbruch nach Kythera“, das dem Künstler 1717 die Aufnahme in die Akademie einbrachte. Hier verbinden sich Mythologie, Landschaftsdarstellung und konkreter Zeitbezug (Stichwort: Pastoralidylle) mit einer lockeren Malweise und dem für die Malerei Venedigs typischen Sfumato zu einer lyrischen Darstellungsform, die die Malerei in Frank-

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24  François Boucher, Diana entsteigt dem Bade, Paris, Louvre

reich für nahezu ein halbes Jahrhundert prägen sollte. Ein anderes Schlüsselwerk Watteaus ist der „Pierrot“, der zur selben Zeit entstanden ist, und als Selbstporträt des tragisch jung an Tuberkulose gestorbenen Genies gilt. Dieser Pierrot steht isoliert vor einer bukolischen Gruppe im Hintergrund, er wirkt einsam und traurig. Dieses Hintergründige Watteaus sollte im weiteren Verlauf der Entwicklung der Rokoko-Malerei verloren gehen. Eine Generation jünger als Watteau war François Boucher (1703 – 1770), der uns heute als der Hauptvertreter des französischen Rokoko gilt. Die Stationen seiner Karriere: 1727 – 1731 Lehrjahre in Rom, 1734 Mitglied, seit 1737 Professor und zuletzt (1765) Direktor der königlichen Kunstakademie. Er malte bevorzugt mythologische und pastorale Szenen, und er entwickelte sich zum Meister des weiblichen Aktes, wobei ihm mythologische Themen (Venus vor allem) als Aufhänger dienten. Die Tonigkeit zahlreicher seiner Bilder erinnern an Gobelins, und tatsächlich dienten viele von ihnen als Vorlagen für Wandteppiche – der umtriebige Boucher war nebenher Direktor der königlichen Gobelin-Manufaktur (seit 1755). Ein Hauptwerk Bouchers ist das Bild mit dem Titel „Diana entsteigt dem

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Bade“ (1742), eine Hymne an die Schönheit des weiblichen Körpers. Die unverblümte Sinnlichkeit seiner Kunst sicherte ihm den Applaus bei Hofe, die bürgerliche Aufklärung sah dagegen darin den Ausdruck von Dekadenz. Diderot etwa ließ kein gutes Haar an Boucher, dessen Stellung in der Kunstgeschichte jedoch längst rehabilitiert ist. Auguste Renoir war von den Akten Bouchers derart fasziniert, dass er durch diese zur Malerei kam. Jean-Honoré Fragonard (1732 – 1806) ist der bedeutendste Schüler Bouchers und neben diesem und Watteau der wichtigste Vertreter der französischen Rokoko-Malerei. In seinem Stil hat er die Malkultur Rembrandts und Franz Hals’ aufgegriffen und zugleich die Auflösung des Umrisses von Gegenständen und Figuren zu einem Prinzip erhoben, dem sich einhundert Jahre später die Impressionisten anschlossen. Erotisch, beinahe schon lasziv ist das Bild der „Badenden“ aus dem Jahr 1763, spontan und lebendig sind seine Porträts. „Die Schaukel“ von 1767 (London, Wallace Collection) ist eine Inkunabel der Rokoko-Malerei. Wie ein Kleinod leuchtet vor dem Hintergrund der dunkel gehaltenen Vegetation das zartrosafarbene Gewand der schaukelnden Dame auf, während ein junger Voyeur unter selbiges zu lugen scheint. In dem späten Bild „Der Riegel“ (1777), in dem es bei Licht betrachtet um eine Vergewaltigung geht, erstarrt Fragonards Kunst in Formelhaftigkeit. Fragonard ist der letzte Chronist des Ancien Régime. Zwar rettete er sich zunächst in die neue Ära, aber 1806 wurde ihm seine Amtswohnung im Louvre gekündigt, kurz darauf starb er an den Folgen eines Schlaganfalls. Ein Autodidakt und stiller Zeitzeuge des 18. Jh. ist Jean-Baptiste Siméon Chardin (1699 – 1779), der Meister des Stilllebens. Im Katalog zum Salon von 1765 wurde er als „der große Zauberer mit den stummen Kompositionen“ bezeichnet. Die Intimität seiner Interieurszenen erinnert an die Kunst Jan Vermeers; die Wiedergabe bürgerlichen Milieus in einer Zeit, deren Kunst noch ganz in den Dienst der herrschenden Klasse gestellt war, ist geradezu revolutionär. Chardin fällt völlig aus dem Rahmen seiner Epoche und zeigt keine B ­ erührung mit dem Rokoko Bouchers oder Fragonards. Die Wirkung, die von ihm ausging, war enorm. Zahlreiche Maler des 19. Jh. beriefen sich auf Chardin­, namentlich Cézanne nannte ihn als Leitstern für seine eigenen Stillleben. Skulptur des 18. Jahrhunderts

Die Bildhauerei hat sich im französischen 18. Jh. nur widerstrebend dem Illusionismus des Rokoko verschrieben, und nur wenige Künstler bzw. Arbeiten kann man dem Rokoko zuweisen. Gerade in dieser Kunstgattung ist der typisch französische Hang zum Klassischen lebendig geblieben. Ein Hauptwerk des Rokoko ist das großformatige Relief „Die Tränkung der Sonnenrosse“ des Bildhauers

Die Anfänge des Klassizismus

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Robert Le Lorrain (1666 – 1743) aus den 1730er Jahren im Innenhof des Hôtel de Rohan in Paris. Raffiniert arbeitet der Künstler mit dem Gegensatz zwischen hauchdünnen und betont plastisch vom Grund abgehobenen Partien. Die meisten seiner Werke wurden in den Jahren der Revolution zerstört. Zu den Schülern Le Lorrains gehörten Jean-Baptiste Lemoyne (1704 – 1778) und Jean-Baptiste Pigalle (1714 – 1785). Eines von Lemoynes Hauptwerken ist die zweifigurige Gruppe der Taufe Christi in der Pariser Kirche St-Roch (1731), deren manieristisch überlängte Figuren den Werken eines Ignaz Günther nahe stehen. Hauptwerke Lemoynes sind auch seine zahlreichen Porträtbüsten. Pigalle war der Meister dramatischer Inszenierungen. Zu seinen Schlüsselwerken gehört das Grabmal des Marschalls Moritz von Sachsen in der Straßburger St-Thomas-Kirche. Hier paart sich ein neuer Realismus mit spätbarockem Pathos. 1750 war der Marschall, der Sieger von Fontenoy (1745: Sieg Frankreichs gegen England), gestorben. 1753 wurde sein Grabmonument, das größte des französischen 18. Jh., in Auftrag gegeben, jedoch erst 1776 aufgestellt (ein farbig gefasstes Wachsmodell davon ist im Louvre ausgestellt). Hier kündigt sich die Abkehr vom Rokoko an, wie es auch in späten Arbeiten Edme Bouchardons (1698 – 1762) und Etienne-Maurice Falconets (1716 – 1791) zu beobachten ist.

Die Anfänge des Klassizismus

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it Voltaire betrat im 18. Jh. die Führungsgestalt der Aufklärung die geistige und philosophische Bühne Frankreichs; er hieß eigentlich FrançoisMarie Arouet (1694 – 1778). In ungezählten Schriften trug er seine Kritik am Absolutismus und an der Feudalherrschaft vor und wurde so zum entscheidenden Wegbereiter der Französischen Revolution. Voltaire stand mit seinen Gedanken nicht allein. Als früher Aufklärer gilt Charles de Secondat Baron de Montesquieu (1689 – 1755), der als erster mit einer noch verhaltenen Kritik am System des Absolutismus hervorgetreten war. Zur Generation Voltaires gehören die unwesentlich jüngeren Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) und Denis Diderot (1713 – 1784). Ihnen ist es zu verdanken, dass man das 18. Jh. in Frankreich rückblickend als das Siècle des Lumières bezeichnet hat, und damit ist nicht die dekadente Endzeit der Bourbonen, sondern eben das Zeitalter der Aufklärung gemeint. Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 war der Ausbruch eines Vulkans, aber dessen Eruption hatte sich von langer Hand angekündigt.

Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus

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Kunst ist auch immer ein Seismograph. Die Gedanken der Aufklärung fanden schon bald nach der Mitte des 18. Jh. einen Widerhall in den bildenden Künsten, und zwar in Gestalt eines neuen Klassizismus. In der Zeit von etwa 1770 bis zur Revolution sind deshalb zwei unterschiedliche Stilrichtungen in Frankreich auszumachen. Da ist auf der einen Seite das höfische Rokoko, auf der anderen Seite als Ausdruck einer neuen Geisteshaltung dieser frühe Klassizismus. Wir wollen versuchen, diesen zu orten, und wenden uns zunächst der Architektur zu. Das letzte große Bauprojekt des Ancien Régime war die Zollmauer rund um Paris. Claude-Nicolas Ledoux (1737 – 1806) errichtete 1784 – 1789 die 54 Zollhäuschen, gegen die sich in der Revolution der Volkszorn mit besonderer Heftigkeit entlud, so dass nur vier von ihnen erhalten blieben (am Parc Monceau, an der Place Denfert-Rochereau, an der Place de la Nation und am Bassin de la Villette). Sie sind zum Teil der Renaissancekapelle Tempietto von Donato Bramante in Rom, zum Teil den Villen des Renaissancearchitekten Andrea Palladio nachempfunden, greifen also auf klassisches Formengut zurück. Allerdings besitzen sie nicht die leichte Eleganz ihrer Vorbilder, sondern erscheinen erdenschwer und gedrungen. Man liest deshalb auch gelegentlich den Begriff der Revolutionsarchitektur, aber dieser ist irreführend und nicht gerechtfertigt, denn eine Revolutionsarchitektur hat es als solche nicht gegeben (von wenigen Monumentalbauten abgesehen, die aber nur in Zeichnungen überliefert sind, denn keines dieser Projekte wurde realisiert). Vielmehr sind diese Pavillons erste Äußerungen eines neuen Klassizismus. Dieselbe Rückkehr zu einer nüchternen Bauauffassung zeigen in Paris des Weiteren die Fassade des Théâtre de l’Odéon (1779 – 1782), das Hauptwerk des Architekten Charles de Wailly (1730 – 1798), und die Kirche StPhilippe-du-Roule (erbaut 1774 – 1784) des Architekten Jean-François-Thérèse Chalgrin (1739 – 1811). In der Malerei des frühen Klassizismus ist Jacques-Louis David (1748 – 1825) die zentrale Gestalt, mit der der Schwenk fort von der Verspieltheit des Rokoko hin zu einer neuen Form der Ernsthaftigkeit begann. Als Schlüsselwerk der Epoche gilt sein Bild „Der Schwur der Horatier“, gemalt 1784. Klarheit des Bildaufbaus, Exaktheit der Linienführung und das antike Thema sind dessen auffallend­ ste Merkmale. Radikaler konnte die Abkehr vom Rokoko eines Boucher oder eines Fragonard kaum ausfallen. Das Thema – Horatius lässt seine Söhne schwören, für Rom zu siegen oder zu sterben – ist zugleich Ausdruck der politischen Haltung Davids, denn der Staat, für den die Helden zu sterben bereit sind, ist die römische Republik, nicht etwa das Kaiserreich! Ungeschminkt ruft der Maler zum Widerstand gegen die Tyrannei auf. „Der Schwur der Horatier“ ist das kunstgeschichtlich schwerwiegendste Bild am Vorabend der Revolution.

Die Anfänge des Klassizismus

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25  Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier, Paris, Louvre

Das 18. Jh. hat weitere Maler hervorgebracht, die zwar nicht mit der Radikalität Davids dem Rokoko ihrer Zeit den Rücken gekehrt haben, die aber erkennbar schon geraume Zeit vor der Revolution bestrebt waren, der Kunst neue Wege durch das Beschwören klassischer Ideale zu erschließen. Zu diesen gehört Joseph Vernet (1714 – 1789). Der Provenzale hat sich lange Zeit in Rom aufgehalten und wurde zum Spezialisten in der Wiedergabe mediterraner Landschaften, wobei er der lyrischen Auffassung eines Claude Lorrain nahe steht. Der Burgunder JeanBaptiste Greuze (1725 – 1805) war in seiner Zeit ein gesuchter Porträtist. Er hielt es in der Pastelltonigkeit seiner Bilder einerseits mit der Stilauffassung des Rokoko, andererseits weist deren betonte Schlichtheit auf den Klassizismus hin, dem sich Greuze aber letztlich nur halbherzig verschrieb. Er war deshalb auch schon bald nach der Revolution außer Mode und soll in bitterer Armut gestorben sein. Hubert Robert (1733 – 1808) wurde tief von seinem elf Jahre dauernden Aufenthalt in Rom geprägt (1754 – 1765). Das genaue Studium römisch-antiker Bau-

Die Kunst im Zeitalter des Absolutismus

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werke machte ihn zum Spezialisten in der Wiedergabe antiker Ruinen, weshalb man ihn auch den Robert des Ruines genannt hat. Berühmt wurde er vor allem mit den Ansichten römischer Bauwerke in der Provence, die heute im Louvre hängen. Und erstmals in der Kunstgeschichte Frankreichs traten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Frauen als Künstlerinnen auf den Plan: Adélaїde LabilleGuiard (1749 – 1803) und Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun (1755 – 1842), die beide als Porträtistinnen international Ansehen genossen. In der Skulptur sind die Grenzen zwischen Rokoko und frühem Klassizismus fließender als in der Malerei, allein schon deshalb, weil die gesamte Skulptur des 18. Jh. in ihrer Grundhaltung dem Rokoko abhold war und eine gewisse Nüchternheit bewahrt hat. Der wichtigste Vertreter der Skulptur auf der Grenze zwischen den beiden verschiedenen Stilrichtungen war Jean-Antoine Houdon (1741 – 1828). Seine Arbeiten verhalfen dem Klassizismus schon in den 1770er Jahren zum Durchbruch. Es ist kein Zufall, dass Houdon Porträtbüsten jener Geistesgrößen schuf, die als die Totengräber des Ancien Régime gelten: Rousseau, Diderot und Voltaire. Houdon bereiste ganz Europa und wurde zum gefeierten Porträtisten seiner Zeit.

Die Kunst im 19. Jahrhundert Vom Klassizismus zur Romantik

I

  n der Anfangszeit der Revolution herrschte Unklarheit über die Zukunft. Das   Ziel einer konstitutionellen Monarchie nach dem Vorbild Englands verloren die Verantwortlichen aus dem Auge, als die Revolution in eine Phase der Radikalisierung geriet. Anfang des Jahres 1793 fiel das Haupt Ludwigs XVI. unter der Guillotine, und man rief die Erste Republik aus. Auch wenn diese nur sehr kurzlebig war, ist dieses Ereignis ein tiefer Einschnitt in der Geschichte. Es handelte sich um nichts weniger als um die Geburt der ersten Demokratie der Neuzeit. Von 1795 bis 1799 bestand die Direktorialverfassung, die von der Konsularverfassung abgelöst wurde. 1802 wurde Napoleon Bonaparte zum Konsul auf Lebenszeit gewählt. Nur zwei Jahre später räumte der machthungrige Korse mit allen bisherigen Errungenschaften der Revolutionsjahre auf und begründete das Erste Kaiserreich (1804 – 1814  /  15). Die weitere Geschichte Frankreichs im 19. Jh. verlief überaus kompliziert. Sie war geprägt vom Ringen konservativer, royalistisch gesonnener Adelskreise mit Vertretern des demokratisch-republikanischen Großbürgertums. Mal gewann die eine, dann wieder die andere Seite die Oberhand. Napoleons utopisches Ziel von einem Europa unter Frankreichs Hegemonie ging in den Kriegen unter, mit denen er den Kontinent überzog. 1814 musste er nach dem Scheitern des Russlandfeldzuges abdanken. Auch wenn er kurz darauf noch einmal aus seinem Exil von der Insel Elba zurückkehrte, so war doch sein Schicksal und das des Ersten Kaiserreichs nach nur 100 Tagen 1815 (Niederlage von Waterloo) besiegelt. Es folgte das Zeitalter der Restauration, und das bourbonische Königtum feierte in der Gestalt Ludwigs XVIII. (1815 – 1824) seine Auferstehung. Doch

Die Kunst im 19. Jahrhundert

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dessen schwacher Nachfolger Karl X. (1824 – 1830) war den drückenden Problemen seiner Zeit nicht gewachsen. Die Julirevolution 1830 fegte ihn von seinem brüchig gewordenen Thron. Nun wandelte sich Frankreich doch noch zu einer konstitutionellen Monarchie. Man nennt die Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe (1830 – 1848) die Julimonarchie. Eine dritte Revolution, jene von 1848, von der nahezu alle Staaten Europas mitberührt waren, führte zu deren Untergang. Nun setzten sich wieder die demokratischen Kräfte durch, und Frankreich wandelte sich zur Zweiten Republik. An diesem erneuten Umsturz waren Künstler (u. a. Gustave Courbet) und Intellektuelle maßgeblich beteiligt. Die Schriftsteller George Sand, Eugène Sue und Victor Hugo gehörten zu den Erneuerern des demokratischen Gedankens, und der aus Burgund stammende Schriftsteller Alphonse de Lamartine war 1848 sogar für kurze Zeit Außenminister. Aber der Gegenschlag der reaktionären Seite sollte nicht lange auf sich warten lassen; nach nur vier Jahren wurde auch diese Zweite Republik wieder zu Grabe getragen. 1851 unternahm Louis Napoléon, ein Neffe Bonapartes, der bereits das Amt des Ministerpräsidenten innehatte, einen Putsch, bei dem er sich auf das Militär stützen konnte. Zum Jahresbeginn 1852 verordnete er dem Land eine neue Verfassung, die jener des Ersten Kaiserreiches ähnlich war, und er selbst bestieg als Napoleon III. den Thron dieses Zweiten Kaiserreichs. Die kunstgeschichtlichen Hauptepochen des 19. Jh. – Klassizismus, Romantik, Historismus und Realismus – folgen nicht linear aufeinander, sondern sind Strömungen, die sich zum Teil zeitlich überlagern. Diese Pluralität verschiedener Stile ist etwas gänzlich Neues und erhellt sich nicht zuletzt aus dem jeweiligen historischen Kontext. Neben den Hauptrichtungen lassen sich individuelle Positionen erkennen, so dass sich nicht alle Künstler bzw. Werke einem Stilbegriff unterordnen lassen. Klassizismus

Statt von Klassizismus spricht man im Französischen von Néoclassicisme, um diese Epoche vom Style classique der Barockzeit zu unterscheiden. Seine ersten Äußerungen reichen in die 1780er Jahre zurück. Seine Entstehung ist eng mit den Ideen der Aufklärung verbunden. In seiner historischen Reflexion bezieht sich der Klassizismus auf die Antike, aber auch auf die als klassisch empfundenen Epochen der Renaissance und des französischen 17. Jh. Auftrieb erhielt jene Zeit durch die Entdeckung von Herculaneum und Pompeji, wo die Ausgrabungen damals bereits in Gang waren. Mit der Aufklärung ging ein neues Kapitel in der Beschäftigung mit der Kunst einher. Diese wurde musealisiert und erstmals unter dem Aspekt einer Epochenzugehörigkeit geordnet. Es entstanden akademische Institutionen, denen die Aufgabe der Systematisierung und Katalogisierung zufiel.

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26  Paris, Kirche La Madeleine

Architektur

In der Architektur des Klassizismus erfolgte eine radikale Abwendung von dem verspielten Formenreichtum des Rokoko, Vereinfachung und Klarheit waren nun das erklärte Ziel. Die Revolution verlieh diesem neuen Denken eine besondere Dynamik. In den Jahren nach 1789 galt das Rokoko als Inbegriff jener höfischen Vergangenheit, zu der es keine Rückkehr mehr geben sollte. Die letzten Bauten, die noch unter Ludwig XVI. in Paris entstanden waren, hatten einen Weg gewiesen, den die Architekten der nachrevolutionären Zeit konsequent weiter beschritten. Vom ausgehenden 18. Jh. bis in die Zeit um 1830 sollte der Klassizismus den Ton angeben. Auf Geheiß Napoleons I. begann 1807 der Umbau der Kirche Ste-Madeleine (Baubeginn 1764) in Paris zu einem Ruhmestempel seiner Grande Armée. Architekt war Pierre Alexandre Vignon (1763 – 1828). Griechische wie römische Antike haben gleichermaßen Pate gestanden. Die Gestalt eines Peristyltempels mit einer den inneren Hauptraum, die Cella, umgürtenden korinthischen Säulenstellung schöpft aus dem Fundus des alten Griechenland, wohingegen die Form des Podiumtempels – das Denkmal ist auf einen podestartigen Sockel gestellt – der Baukunst Roms entliehen ist. Ganz vom Esprit römischer Kaiserzeit ist der Arc de Triomphe in Paris bestimmt, begonnen 1806 nach den Plänen von Jean-François-Thérèse Chalgrin und Jean-Arnaud Raymond (1742 – 1811). Ihnen diente der Titusbogen auf dem Forum Romanum als Vor-

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bild, sie steigerten aber dessen Form in einen monumentalen Maßstab. In einem Kernpunkt brachten die Revolution und das Erste Kaiserreich keine Veränderung gegenüber der alten Zeit. Paris blieb auch weiterhin das unangefochtene Zentrum nicht nur in Sachen der Politik, sondern gleichfalls der Kunst. Dennoch entstanden auch außerhalb der Hauptstadt, wenn auch nicht viele, so doch einige respektable Bauten. Hier ist an erster Stelle das Grand Théâtre von Victor Louis in Bordeaux zu nennen, das, 1775 begonnen und nach fünf Jahren fertig gestellt, mit seiner kolossalen Säulengliederung der Fassade zu den Gründungsbauten des Klassizismus in Frankreich gehört. Hier sehen wir den seltenen Fall, dass ein Bauwerk der Provinz einem ebensolchen in der Hauptstadt als Vorbild diente. Bei der Innengestaltung der nach ihrem Architekten Charles Garnier benannten Oper in Paris griff man auf das Grand Théâtre zurück. Empire

Eine Sonderform des Klassizismus ist das Empire. Dieser Begriff hat allerdings keine Bedeutung für die Architektur, sondern verbindet sich mit der angewandten Kunst, insbesondere mit dem Mobiliar, das während der Zeit des Ersten Kaiserreichs entstand. Es ist eng mit der Gestalt Napoleons I. verknüpft, dem jedes Mittel kaiserlicher Repräsentation recht war. Auffallend ist die Bevorzugung von Motiven, die sich u. a. aus dem alten Ägypten herleiten (z. B. Sphinxen); der römische Formenschatz lieferte weitere Elemente (z. B. Lorbeerkränze und Lyren). Für die Verbreitung des Empire sorgten u. a. die Musterbücher „Recueil de Décorations Intérieures“ (erschienen ab 1801) von Charles Percier (1764 – 1838) und Pierre-François-Léonard Fontaine (1762 – 1853). Malerei und die offiziellen Salons

In der Malerei setzte Jean Auguste Dominique Ingres (1780 – 1867) den von seinem Lehrer David eingeschlagenen Weg fort und wurde zur bestimmenden Gestalt der zweiten Generation des Klassizismus. Charakteristisch für seine Arbeiten ist die klare Dominanz der Linie. Im Salon von 1806 reüssierte er mit dem Monumentalgemälde „Napoleon I. auf dem Kaiserthron“ (1806, Paris, Musée de l’Armée). Es belegt exemplarisch Ingres’ Bestreben, wirklichkeitsgetreue Wiedergabe mit einem Hang zur Idealisierung zu verbinden. Das Bild zeigt das Porträt des von Selbstbewusstsein strotzenden Kaisers, zugleich ist es eine Verherrlichung der Macht. Kennzeichnend für die Bilder Ingres’ ist das zurückhaltende Kolorit, das selbst einen weiblichen Akt wie „Die große Odaliske“ (1814, Louvre) kühl und distanziert erscheinen lässt. Dieser akademischen Grundhaltung ist er zeitlebens treu geblieben. Eines seiner berühmtesten Werke, „Das türkische Bad“ (1862, Louvre), zeigt im Vergleich mit der „Odaliske“ keine Entwicklung. Als dieses Bild

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27  Jean-Auguste-Dominique Ingres, Die Odaliske, Paris, Louvre

entstand, bekleidete der Künstler das einflussreiche Amt des Präsidenten der Ecole des Beaux-Arts. In dieser Funktion war er maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass der Klassizismus noch über die Mitte des 19. Jh. hinaus überleben konnte. Gerade in der Zeit Napoleons III. diktierten zwei staatliche Institutionen den offiziellen Geschmack. Diese waren aus der Academie Royale de Peinture et de Sculpture (1648 – 1793) hervorgegangen, die Ecole des Beaux-Arts (gegr. 1795) und die Academie des Beaux-Arts (gegr. 1816). Mit der konservativen Haltung ihrer Professoren dominierten sie den Salon. Dieser ist eine Besonderheit der französischen Kulturgeschichte. Er führte seinen Namen zurück auf den Salon Carré im Louvre, wo in der Gründungszeit (erstmals 1667) dem Herrscher die neuesten Kunstwerke präsentiert wurden. Ab 1857 fand der Salon im Palais de l’Industrie statt. Ob ein Werk in den Salon aufgenommen wurde oder nicht, bestimmte eine Jury, die damit zugleich den Werdegang eines Künstlers massiv beeinflusste. Nur wer hier Akzeptanz fand, konnte mit Aufträgen rechnen und durfte einer finanziell gesicherten Zukunft entgegensehen. Zurückgewiesene Bilder wurden regelrecht stigmatisiert, indem ihre Rückseite einen roten Stempel mit einem „R“ für „refusé“ (abgelehnt) erhielt. 1863 war die Jury des Salons besonders rigide gewesen. Um die erhitzten Gemüter zu besänftigen, ließ Napoleon III. deshalb erstmals einen Salon des Refusés (Salon der Zurückgewiesenen) zu.

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Weitere Vertreter des Klassizismus sind Antoine-Jean Gros (1771 – 1835), PierrePaul Prud’hon (1758 – 1823) und Théodore Chassériau (1819 – 1856). Letzterer ist vielen bekannt durch das im Louvre ausgestellte Porträt „Die beiden Schwestern“ (1843). Sein Lehrer Ingres allerdings brandmarkte ihn als Verräter, weil er, etwas anders als dieser, eine malerischere Haltung an den Tag legte. Dazu hatte er sich wohl durch einen Seitenblick auf die Bilder des Eugène Delacroix (1798 – 1863) verleiten lassen. Skulptur

Im Rahmen der Skulptur waren Houdon, von dem bereits die Rede war, und Augustin Pajou (1730 – 1809) die beherrschenden Gestalten in der Anfangszeit der Klassizismus. Die nächste Generation der Bildhauer – Antoine-Denis Chaudet (1763 – 1810), Joseph Chinard (1756 – 1813) und François-Joseph Bosio (1769 – 1845) – legte auch den letzten Rest der Verspieltheit des Rokoko ab und huldigte kompromisslos den hehren Idealen der Antikenrezeption. Bosio schuf einige wichtige öffentliche Aufträge in Paris, so das bronzene Reiterstandbild Ludwigs XIV. (1822) auf der Place des Victoires. James Pradier (1790 – 1852) hat man den „Ingres der Skulptur“ genannt. Eines seiner Hauptwerke ist die lebensgroße „Sitzende Sappho“ (1852, Musée d’Orsay). Die bekannteste Lyrikerin der Antike ist sitzend und in nachdenklicher Haltung dargestellt. In der äußeren Form ist diese Marmorskulptur ein Werk des Klassizismus, der melancholische Ausdruck lässt dagegen bereits Ansätze zur Romantik erkennen. Romantik

Der Begriff Romantik wurzelt im Altfranzösischen „romanz“, die Bezeichnung der romanischen Volkssprache im Unterschied zum Latein. Anfangs in der Literatur verwendet als Terminus für fantasievolle und abenteuerliche Erzählungen, erwuchs daraus die Bezeichnung Romanze, schließlich Roman. Zum Namen einer kunstgeschichtlichen Epoche wurde die Romantik erst zu Beginn des 19. Jh. In der Malerei unterscheidet sich die französische Romantik fundamental von der deutschen. Die französische Kunst thematisierte bevorzugt die Historienmalerei – Katastrophen, Aufbruchs­stimmungen, Kämpfe; die düsteren Stimmungen und das Visionäre der deutschen Kunst sind ihr fremd geblieben. Anstatt wie die Klassizisten, die auf den Primat der Linie schworen, stellten die Romantiker die malerischen Werte in den Vordergrund. Malerei

Delacroix ist der Gegenpol zu Ingres. Während Ingres die Führungsfigur des Klassizismus ist, nimmt Delacroix diesen Rang für die französische Romantik ein. Da sich für Delacroix in der französischen Kunst keine Anknüpfungspunkte bo-

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28  Eugène Delacroix, Der Tod des Sardanapal, Paris, Louvre

ten, ließ er sich von der hellen Palette der englischen Landschaftsmaler Richard Parkes Bonington (1802 – 1928) und John Constable (1776 – 1837) inspirieren und übertrug ihre Sichtweise auf Themen der Historienmalerei. Exemplarisch dafür stehen „Der Tod des Sardanapal“ (1827, Louvre) und „Das Massaker von Chios“ (1824, Louvre). Die Leidenschaftlichkeit seiner Bildauffassung stand in lebhaftem Kontrast zu den Idealen der Klassizisten, denen zufolge ein Kunstwerk schön, harmonisch und edel sein sollte. Ein anderer Vertreter der Romantik ist der jung verstorbene Théodore­ Géricault (1791 – 1824). Sein bekanntestes Werk ist „Das Floß der Medusa“ (1818 – 19, Louvre). Es zeigt ein Ereignis, das die Gemüter im Jahr 1816 tief bewegte. Damals hatten nur wenige den Untergang des Passagierdampfers Medusa als Schiffbrüchige auf einem Floß überlebt. Géricault schildert mit bedrü-

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ckender Eindringlichkeit die Dramatik einer Extremsituation. Die Komposition in Form eines Dreiecks erscheint konventionell und an der Renaissance orientiert. Dennoch verursachte das Bild in seiner Zeit einen Skandal, denn die Schonungslosigkeit der Darstellung menschlichen Elends brach mit allen Sehgewohnheiten. Skulptur

Die Skulptur der Romantik rückte die Gefühlswelt in den Mittelpunkt ihres Interesses. Das bekannteste Werk François Rudes (1784 – 1855) ist das Relief „Der Auszug der Freiwilligen 1792“ (1833 – 36) am Arc de Triomphe, das mit seiner bewegten Komposition und einer überraschenden Expressivität im Antlitz der geflügelten Hauptfigur, der Personifikation der Marseillaise, eine andere Auffassung vertritt als der Klassizismus. Die kraftvolle Szene ist emotional aufgeladen. Zu den bedeutendsten romantischen Bildhauern zählt Auguste Préault (1809 – 1879), auf dessen Modell des Reliefs „Das Massaker“ (1834, Chartres, Musée des Beaux-Arts) das Publikum mit Empörung reagierte. Das Werk war nur im Sinne eines abschreckenden Beispiels zum Salon zugelassen worden. Die Kritiker hielten das Relief für unvollendet und bemängelten dessen unübersichtliche Komposition. Wie weit Préault seiner Zeit voraus war, wird deutlich, wenn man sich zum Vergleich Picassos „Guernica“ (1937) vor Augen hält. Préault selbst schrieb „Ich bin nicht für das Vollendete, ich bin für das Unvollendete“. Dies machte ihn zum Wegbereiter der modernen Skulptur, insbesondere Rodins.

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as Zweite Kaiserreich Napoleons III. (1852 – 1870) war ein autokratisches System mit allen dazu gehörigen Begleiterscheinungen wie Bespitzelung, Pressezensur, und auch den Künstlern fegte der kalte Wind staatlicher Bevormundung in Gesicht. Malern, deren Werke man als unsittlich erachtete, wurde ebenso der Prozess gemacht wie Schriftstellern, aus deren Werken die Obrigkeit kritische Töne herauszulesen meinte. Gustave Flaubert und Charles Baudelaire sind die prominentesten Fälle. Außenpolitische Misserfolge brachten Napoleon III. jedoch zunehmend unter Druck. Der Krimkrieg (1853 – 1856) ging noch mit einem Sieg Frankreichs über Russland zu Ende, aber 1866 scheiterte die fran-

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zösische Intervention in Mexiko, die zur Hinrichtung des dortigen Kaisers Maximilian führte; Edouard Manet hat dieses Ereignis in einem berühmten Gemälde heroisiert (1868  /  69, Mannheim, Kunsthalle). Napoleon III. suchte deshalb sein Heil im Krieg gegen Preußen, der im August 1870 ausbrach. Hier ging es konkret darum, die von Bismarck tatkräftig betriebene Einigung Deutschlands zu vereiteln. Dieser Waffengang führte zum genauen Gegenteil dessen, was die Absicht des französischen Monarchen war. Schon Anfang September kapitulierte die französische Armee bei Sedan vor der preußischen Übermacht. Napoleon III. musste abdanken und ging ins Exil. Im Januar 1871 wurde im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das neue Deutsche Kaiserreich proklamiert. In Bordeaux trat im Februar die Nationalversammlung Frankreichs zusammen, die dem Land eine neue Verfassung geben sollte. Als sich dort das Gespenst einer erneuten Res­ tauration abzeichnete, brach im März in Paris der Aufstand der Kommune aus, die genau dieses verhindern wollte. Der Maler Courbet war daran aktiv beteiligt, andere Künstler flohen angesichts der chaotischen Verhältnisse aus der Hauptstadt. Regierungstruppen schlugen die Kommune gnadenlos nieder. Etwa 25 000 Menschen sollen dabei zu Tode gekommen sein. Dennoch blieb der Aufstand nicht wirkungslos, denn die Wiederherstellung der Monarchie war verhindert worden, und Frankreich wurde zum dritten Mal binnen weniger als 100 Jahren Republik. Diese junge Dritte Republik sah sich von der Siegermacht Deutschland demütigenden Friedensbedingungen ausgesetzt. Erst nach der Leistung von 5 Milliarden Francs an Reparationszahlungen zogen die preußischen Kontingente 1873 aus Frankreich ab, über das Elsass und Lothringen gebot nun der deutsche Kaiser Wilhelm I. in Berlin. Auf tragische Weise war damit dem Ersten Weltkrieg bereits der Boden bereitet. Frankreich befand sich nach der Niederlage in einem Zustand nationaler Zerknirschung. Als Sühnezeichen errichtete man damals die Kirche Sacré-Cœur in Paris. In ihren Anfangsjahren stand die Dritte Republik (1871 – 1940) auf schwankendem Boden. Finanz- und Bestechungsskandale waren an der Tagesordnung, 1889 versuchte der General Boulanger vergeblich zu putschen. Die berüchtigte Dreyfus-Affäre macht deutlich, wie tief der Graben zwischen dem konservativen Lager auf der einen und dem liberalen auf der anderen Seite war. Die Dritte Republik bestand bis 1940. In den 70 Jahren ihrer Geschichte hatte Frankreich 95 Regierungen, die längste von ihnen hielt sich drei Jahre im Amt. Bereits 1911 führte die Marokko-Krise Frankreich und Deutschland an den Rand eines erneuten Krieges, den der Verzicht Deutschlands auf eine Intervention in Nordafrika in letzter Sekunde verhinderte. Aber das Klima zwischen beiden Staaten wurde immer kälter und aggressiver. Die Juli-Krise 1914 stürzte Europa in die Katastrophe. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juli in

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Sarajevo nahm Österreich zum Anlass, Serbien den Krieg zu erklären. Deutschland stellte sich auf die Seite Österreichs, Russland solidarisierte sich mit den Serben, und kurz nacheinander traten auch Frankreich und England in den Ersten Weltkrieg ein. Auch wenn die Dritte Republik über das Ende des Krieges 1918 hinaus fortbestand, so ging doch mit dem Einschnitt des Jahres 1914 eine Ära zu Ende, die in unserer Erinnerung unter dem Namen der Belle Epoque lebendig geblieben ist. Historismus

Gegen die Mitte des 19. Jh. trat der Historismus auf den Plan. Mit ihm verbindet sich der Rückgriff auf die Stile zurückliegender Jahrhunderte. Der Historismus bedient sich ihrer nach Belieben. Seine Entstehung hängt mit dem zunehmenden Nationalbewusstsein in Europa zusammen. Der Blick in die Vergangenheit diente der Stärkung der eigenen Identität. Er äußerte sich zuerst in der Architektur. Um 1840 kam die Neogotik auf. Der maßgebliche Architekt war Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc (1814 – 1879). Da er hauptsächlich als Denkmalpfleger und Architekturtheoretiker tätig war, hat er allerdings nur wenige eigene Bauten wie z. B. St-Denis-de-l’Estrée (1862 – 67, in St. Denis) realisiert. Neogotik wie auch die Neoromanik sind natürlich in erster Linie im Sakralbau zum Niederschlag gekommen, haben aber seit der Mitte des 19. Jh. auch die Erscheinung öffentlicher Gebäude geprägt. In Paris vertritt die den Montmartre bekrönende Kirche Sacré-Cœur (1874 – 1914) einen neoromanischen Stil, dem zugleich byzantinische Elemente eingebunden sind. Diese Kirche ist das Hauptwerk des Architekten Paul Abadie (1812 – 1884), der zuvor als Restaurator romanischer Kirchen im Raum des südwestlichen Frankreich ­einschlägige Erfahrungen in Sachen mittelalterlicher Architektur gesammelt hatte. Unter dem Zweiten Kaiserreich fand auch der Barock in Gestalt eines pompösen Neobarock seine Wiederauferstehung. Die Erweiterung des Louvre in den Jahren 1852 – 68 repräsentiert diesen Stil ebenso wie das Herzstück der damals neu gestalteten Pariser Innenstadt, das Opernhaus (1861 – 74) Charles Garniers (1825 – 1898), das ehrgeizigste Bauvorhaben seiner Zeit. Diese Opéra Garnier steht in ihrer Überladenheit in denkbar lebhaftem Kontrast zu den Planungen des Baron Georges-Eugène Haussmann (1809 – 1891), dessen Neugestaltung der Stadt von geraden Linien und Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist. Sein Ziel war es, die hygienischen Zustände zu verbessern, neuen Wohnraum zu schaffen und dem stetig anschwellenden Verkehr Rechnung zu tragen. Um all dies zu erreichen, schuf Haussmann breite Boulevards, gerahmt von hohen Häusern, die von den zentralen Plätzen ausgehen und die Stadtviertel

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miteinander verbinden. Dem Historismus eng verwandt ist der Eklektizismus. Damit bezeichnet man Bauten, bei denen Stilelemente verschiedener Epochen, als z. B. Formen der Romanik und der Gotik miteinander kombiniert wurden. In der Malerei ist der Historismus eine Fortsetzung des Klassizismus über die Mitte des 19. Jh. hinaus. Zu den Epigonen Ingres’ gehören der Hofmaler Napoleons III. Thomas Couture (1815 – 1879), ferner William-Adolphe Bouguereau (1825 – 1905), Alexandre Cabanel (1823 – 1889) und Jean Léon Gérôme (1824 – 1905), die im Salon wiederholt begeistert gefeiert wurden, während zur selben Zeit die Impressionisten nichts als Hohn ernteten. Ende des 19. Jh. schlug die Meinung ins Gegenteil um. Die Salonmalerei nannte man nun verächtlich L’Art Pompier. Der Name („pompier“: Feuerwehrmann) bezog sich auf die Kopfbedeckung der in den Bildern dargestellten antiken Helden, weil diese den Helmen der Pariser Feuerwehrleute ähnelten. Hundert Jahre später ist um das Jahr 2010 überraschend eine Revision der Salonkunst auf die Tagesordnung gekommen, und es finden wieder Ausstellungen mit den Werken der oben genannten Künstler statt. Das Medium der Fotographie lässt den (Foto-)Realismus dieser Bilder in neuem Licht erscheinen. In der Skulptur gilt Jean-Baptiste Carpeaux (1827 – 1875) als der wichtigste Bildhauer des neobarocken Stils. Sein monumentales Werk „Der Tanz“ (1869) war eine Auftragsarbeit für die Fassade der Opéra Garnier. Die nackten Figuren dieser Skulpturengruppe drücken in der rauschhaften Bewegung ihrer Körper Heiterkeit und Leichtigkeit aus und erscheinen als Inbegriff von Freude und Sinnlichkeit. Das sittenstrenge Publikum sah darin jedoch in der Hauptsache den Ausdruck von Unmoral und Ausschweifung. Realismus

Auf die sich überlappenden Epochen des Klassizismus und der Romantik folgte der Realismus – ein Begriff übrigens, der in der Kunstgeschichte ebenso verankert ist wie in der Literaturgeschichte (Flaubert). Von der Romantik mit ihren überwiegend historisierenden Themen grenzt sich der Realismus ab, indem seine Künstler ihren Blick auf das gegenwärtige Leben richteten. Für die Malerei hat Gustave Courbet (1819 – 1877) diesen Begriff 1855 im Zusammenhang mit einer von ihm selbst organisierten Einzelausstellung geprägt. Erste Ansätze des Realismus sieht man bei den Malern von Barbizon. Die Bezeichnung Schule von Barbizon ist nicht korrekt, weil es sich nicht um eine geschlossene Künstlergruppe handelte, sondern eher um eigenständige Persönlichkeiten. Ihr gemeinsamer Nenner war die Freilichtmalerei, die sie seit den 1830er Jahren im Wald von Fontainebleau und dort nahe dem Dorf Barbizon zusammen-

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führte. Zu diesen Künstler gehörten u. a. Camille Corot (1796 – 1875), CharlesFrançois Daubigny (1817 – 1878), Narcisse Diaz de la Peña (1807 – 1876), Jules Dupré (1811 – 1889), Jean-François Millet (1814 – 1875) und Théodore Rousseau (1812 – 1867). Neben reine Landschaftsdarstellungen rückte die Wiedergabe bäuerlichen Lebens in ihr Visier. Mit den Malern von Barbizon stand auch Gustave Courbet in Verbindung. Er war zugleich der politisch ambitionierteste Künstler seiner Zeit. Dies spiegelt sich auch in vielen seiner Bilder wider. Das übergroße „Begräbnis von Ornans“ (1849 – 50, Musée d’Orsay) zeigt eine Trauergemeinde seiner Heimatstadt. Die ungeschönte Darstellungsweise stieß ebenso auf Unverständnis wie der Größenmaßstab, den man damals nur der Gattung des Historienbildes zubilligte. Ein anderes Gemälde in Riesenformat „Das Atelier des Malers“ (1854 – 55, Musée d’Orsay) erscheint wie ein Manifest: zum einen offenbart der Künstler hier die Bandbreite seines Könnens (Akt, Landschaft, Tierdarstellung, Porträt), zum anderen definiert er darin sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld. Courbet hat die Figuren in diesem Bild treffend benannt: „Ich selbst sitze malend in der Mitte. Zur Rechten befinden sich alle Teilhaber, d. h. die Freunde, die Mitarbeiter, die Liebhaber der Welt der Kunst. Zur Linken die Welt des gewöhnlichen 29  Gustave Courbet, Das Atelier des Malers, Paris, Musée d’Orsay

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30  Edouard Manet, Das Frühstück im Freien, Paris, Musée d’Orsay

Lebens, das Volk, das Elend, die Armut, der Reichtum, die Ausgebeuteten, die Ausbeuter, die Leute, die vom Tod leben“. Als einen „peintre de la vie moderne“ sah sich Edouard Manet (1832 – 1883). Er näherte sich aus einer anderen Richtung als Courbet und Millet dem Realismus an, indem er die Stoffe alter Meister aufgriff und diese neu interpretierte. Das zeigen eindrucksvoll zwei seiner Hauptwerke: „Das Frühstück im Freien“ und die berühmte „Olympia“ (beide 1863, Musée d’Orsay). Sie beziehen sich auf bekannte Vorbilder, das erste auf „Das ländliche Konzert“ (1511) von Tizian, das zweite Bild auf die verschiedenen Venus-Darstellungen Giorgones, Tizians und auf „Die nackte Maya“ (1797  /  98) von Goya. Bemerkenswert erscheint die Reaktion seiner Zeitgenossen. Man nahm nicht etwa an den unbekleideten Frauen Anstoß, sondern man zeigte sich schockiert ob der unidealisierten Darstellungsweise, der als skizzenhaft empfundenen Ausführung und den als roh empfundenen Farbund Lichtkontrasten. Bezogen auf die „Olympia“ unterstellte man dem Künstler, eine Kurtisane gemalt zu haben.

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Ungeachtet dieser Ablehnung brach sich der Realismus Bahn. Zu den damals zukunftsweisenden Künstlern gehören auch Eugène Boudin (1824 – 1898) und der Holländer Johan Barthold Jongkind (1819 – 1891) mit ihren in der Normandie plein air gemalten maritimen Szenen. Honoré Daumier (1804 – 1879) überspitzte den Realismus und wurde so zum wichtigsten Vertreter der Karikatur im Frankreich des 19. Jh. Impressionismus

Auch die Frühwerke der Impressionisten gehören zu der realistischen Strömung. Die Künstler lernten sich in den 1860er Jahren in Paris kennen. Claude Monet (1840 – 1926), Frédéric Bazille (1841 – 1870), Pierre-Auguste Renoir (1841 – 1919) und Alfred Sisley (1839 – 1899) waren Schüler im Atelier Charles Gleyres (1806 – 1874). Ungeachtet der akademischen Sichtweise ihres Lehrers galt ihre Bewunderung der Kunst Delacroix’, der Maler von Barbizon, Courbets und Manets. In späteren Jahren stießen auch Paul Cézanne (1839 – 1906), Camille Pissarro (1830 – 1903) und Edgar Degas (1834 – 1917) zu dem Kreis. Impressionismus (von „impression“: Eindruck) ist die Kunstbewegung, die damals begann und in den 1870er bis zum Anfang der 1880er Jahre ihre Blütezeit erlebte. Als impressionistisch wird eine Malweise bezeichnet, bei der kurze Pinselstriche mit ungemischten Farben nebeneinander gesetzt werden. Auf dem Weg nach einer neuen Malerei ließen sich die Künstler von der Fotographie sowie von Farbholzdrucken aus Japan inspirieren. Auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Farbe gedachten sie umzusetzen. Neu war damals die Entdeckung, dass sich Farben nur aus wenigen Grundtönen zusammensetzen, die erst auf der Netzhaut des menschlichen Auges miteinander gemischt werden. Wie die Maler von Barbizon, wie Boudin und Jongkind arbeiteten die Impressionisten unter freiem Himmel, um das Momenthafte im Zusammenspiel von Licht und Farbe zu erfassen. Die Malerei im Freien führte sie zwangsläufig zu einer Aufhellung ihrer Palette, die sich deutlich von den dunkleren Tönen der offiziellen Salonkunst unterscheidet. Sie verzichteten auch auf Konturlinien, um so der Flüchtigkeit des Augenblicks besser Ausdruck zu verleihen. Inhalte, die bis dahin im Vordergrund gestanden hatten, verlieren nun an Bedeutung. Die Themen, denen sich die Impressionisten zuwandten, waren neben Landschaften, Porträts und Akten auch städtisches und familiäres Leben. Als impressionistische Werke gelten jene Arbeiten, die in den 1870er und 1880er entstanden sind. Das ist zugleich der Zeitraum, innerhalb dessen die acht Impressionisten-Ausstellungen in Paris stattfanden. Sie selbst verstanden sich nicht als feste Gruppe und nannten sich auch nicht Impressionisten. Dieser Begriff ist aus dem Kritikerjargon zur ersten Ausstellung 1874 hervorgegangen.

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31  Claude Monet, Impression, Soleil Levant, Paris, Musée Marmottan Monet

Diese Ausstellung zeigte 167 Arbeiten von 30 Künstlern. Die Reaktion des Pub­ likums ist Legende, den Künstlern schlug eine Woge der Entrüstung entgegen. Ihre skizzenhaft anmutende Malweise interpretierte man als Schlampigkeit und Mangel an künstlerischem Können. Unter jenen neun Werken, die Monet zeigte, befand sich auch das Bild „Impression, Soleil Levant“ (1874, Paris, Musée Marmottan Monet). Der Kritiker der satirischen Zeitung „Charivari“ Louis Leroy fand den Namen des Bildes von Monet besonders lächerlich. Er griff ihn aber auf und übertitelte seine Rezension mit der neuen Wortschöpfung „Impressionisten“. Ungewollt hatte er damit einer neuen Kunstrichtung ihren bleibenden Namen verliehen. Die Impressionisten waren die ersten, die sich über die damaligen Konventionen hinwegsetzten, indem sie Eigeninitiative ergriffen. Manet und Courbet hatten ihnen diesbezüglich mit ihren Einzelausstellungen den Weg gewiesen. Das Novum des Jahres 1874 war es, dass sich nun nicht ein einzelner Künstler, sondern eine größere Gemeinschaft außerhalb des offiziellen Kunstbetriebes der Öffentlichkeit präsentierte.

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Die personelle Zusammensetzung der sieben folgenden Gruppenausstellungen (1876, 1877, 1879, 1880, 1881, 1882 und 1886) variierte von Mal zu Mal, Pissarro hat als einziger an allen acht Ausstellungen teilgenommen. Gleichfalls wechselten die Orte. So fand die erste Ausstellung in den Geschäftsräumen des Fotographen Nadar statt, die zweite in der Galerie des Kunsthändlers Paul Durand-Ruel (1831 – 1922), eines der ersten Förderer der Impressionisten. Bereits in den 1880er Jahren bröckelte der Kern der Gruppe. Monet, Renoir, Degas­, ­Pissarro und Sisley gingen ihre eigenen Wege, Bazille war 1870 im Krieg ­g efallen. Die meisten von ihnen hatten zudem Paris den Rücken gekehrt. Claude Monet

Unter den impressionistischen Künstlerpersönlichkeiten zuerst Claude Monet zu nennen. Sein Hauptthema ist die Landschaft. Eines der Werke, die Monet in der Ausstellung 1874 zeigte, war das „Mohnfeld bei Argenteuil“ (1873, Musée d’Orsay). Mit der gedämpften Farbigkeit des Bildes steht Monet einerseits noch der Malerei etwa Corots nahe, anderseits beschreitet er neue Wege, indem er keine seitlichen Begrenzungen definiert. Das Bild erscheint wie ein zufälliger Ausschnitt aus einem größeren Kontext. Mit kleinen Pinselstrichen hat er die Stimmung eines lichterfüllten Frühsommertages eingefangen. Die Mohnblumen erscheinen nur als Farbtupfer. Monets Interesse an sich rasch verändernden Lichtverhältnissen hat ihn zu seinen Bilderserien inspiriert, als bekannteste jene der Westfassade der „Kathedrale in Rouen“ und der „Heuschober“. Es ist überliefert, dass Monet gelegentlich mehrere Leinwände auf Staffeleien nebeneinander aufgestellt hatte und, je nach Situation, mal an dieser, mal an jener gearbeitet hat. Eine derartige serielle Arbeitsweise hatte es nie zuvor gegeben. Zu einem der Vorreiter der Abstraktion in der Kunst des 20. Jh. machten ihn seine „Seerosen“-Bilder, das beherrschende Thema seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte. Nach langen Jahren des Hungerleidens hatte es der Künstler doch noch zu Wohlstand gebracht, der ihm in Giverny den Erwerb eines eigenen Hauses mit großem Garten erlaubte. Den dort angelegten Teich malte er anfangs noch mitsamt seiner Umgebung, um sich in späteren Arbeiten ganz auf das Wasser und die Seerosen zu konzentrieren. Damit ging eine fortschreitende Auflösung der konkreten Form einher. Diese Tendenz zur Abstraktion und Intensivierung der Farben, die möglicherweise auch mit einem Augenleiden Monets zusammenhängt (seit etwa 1910 litt Monet unter dem Grauen Star, an dem er 1923 operiert wurde), findet ihren Höhepunkt im Zyklus der großformatigen ­Seerosenbilder in der Orangerie in Paris, die er in seinen letzten Lebensjahren schuf.

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Pierre-Auguste Renoir

Durch das ganze Œuvre Pierre-Auguste Renoirs, der als Porzellanmaler begonnen hatte, ziehen sich als Konstante das helle Kolorit und die damit einhergehende Grundstimmung heiterer Gelöstheit. Ein Schlüsselwerk seiner impressionistischen Zeit ist das Bild „Le Moulin de la Galette“ (1876, Musée d’Orsay) mit der Darstellung von tanzenden und feiernden Menschen in einem Gartenlokal. Renoirs Interesse richtete sich auf das Wechselspiel von Licht und Schatten. Da er die Schatten in Form von farbigen Reflexen darstellte, irritierte er die Sehgewohnheiten des Publikums seiner Zeit. Frauenporträt und weiblicher Akt haben den Künstler bis ins hohe Alter beschäftigt, zuletzt in den Gruppenbildnissen der Badenden. Diese üppigen und monumental empfundenen Frauenfiguren lassen erkennen, dass sich Renoir von den Prinzipien des Impressionismus ab- und in seinem Spätwerk barockzeitlichen Vorbildern, vor allem Rubens, zugewandt hatte. Sein Spätwerk entstand an der Côte d’Azur, in deren mildem Klima der im Alter von der Gicht geplagte Künstler seine Tage beschloss. Immer wieder liest man, diese gesundheitliche Beeinträchtigung habe dazu geführt, dass Renoir seine letzten Bilder mit an die Hände gebundenen Pinseln gemalt hätte. Das allerdings gehört in das Reich der Legende! Camille Pissarro und Alfred Sisley

Das beherrschende Thema der Werke von Camille Pissarro und Alfred Sisley ist die Landschaft, und auch in ihrer Malweise waren sie zeitlebens einander verwandt. Ihre Herkunft indes kann man sich kaum unterschiedlicher denken. Pissarro hatte auf den kleinen Antillen das Licht der Welt erblickt und kam erst als junger Mann nach Frankreich. Sisley dagegen war väterlicherseits englischer Abstammung, hat aber sein ganzes Leben in Frankreich verbracht. Beide malten Dörfer inmitten der Natur und das unspektakuläre Landleben, beide mit sensiblem Gespür für Farben und Komposition. Schöne Beispiele für den Lyrismus Sisleys sind seine melancholisch gestimmten Variationen einer „Überschwemmung in Port-Marly“ (1876; Musée d’Orsay u. Rouen, Musée des Beaux-Arts). Während Sisley ein Einzelgängerdasein führte und seinem einmal gefundenen Weg treu blieb, ist Pissarro weltoffener gewesen. So hat er einerseits Einfluss auf andere Künstler – Cézanne, van Gogh – ausgeübt, andererseits war er empfänglich für neue Anregungen. Als einziger der Impressionisten experimentierte er mit dem Pointillismus. Edgar Degas

Edgar Degas nimmt in der Gruppe der Impressionisten in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung ein. Als einer der wenigen genoss er das Privileg einer Herkunft aus wohlhabenden Verhältnissen. Zudem durchlief er eine nach damaligen Maßstäben konventionelle Ausbildung an der Ecole des Beaux-Arts. Anders

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32  Edgar Degas, Die Absinthtrinker, Paris, Musée d’Orsay

als bei seinen Kollegen spielte bei ihm die Zeichnung zeitlebens eine tragende Rolle. Er malte aber auch in Öl und aquarellierte. Das Interesse an Landschaft, das gerade bei Monet, Sisley und Pissarro im Mittelpunkt stand, war für ihn kein Thema. Er richtete seinen Blick auf das Leben um ihn herum. Seine Bilder aus dem Theater, von Rennbahnen und Menschen bei der Arbeit legen Zeugnis ab von seiner Liebe zu Bewegungsabläufen. Ungewöhnliche Kompositionen lassen seine Bilder ausgesprochen originell erscheinen. Psychologische Einfühlsamkeit kennzeichnet „Die Absinthtrinker“ (1876, Musée d’Orsay) in ihrer Beziehungslosigkeit zueinander. Eine weniger bekannte Seite Degas’ sind seine Skulpturen, die aus der Beschäftigung mit Formen und deren Verhältnis zum Raum hervorgegangen sind. Ende der 1860er Jahren begann er damit, Plastiken (Pferde, Tänzerinnen und badende Frauen) herzustellen. Das einzige Werk, das zu seinen Lebzeiten

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ausgestellt wurde, ist die „Kleine, vierzehnjährige Tänzerin“ (1879  /  81, Musée d’Orsay). Auch als Bildhauer beschritt Degas neue Wege, indem er die bronzene Figur in einen echten Tüllrock kleidete und ihr ein Satinband ins Haar flocht. Künstler im Umfeld des Impressionismus

Unter den weiteren Künstlern im Umfeld der Impressionisten ist zunächst Gustave Caillebotte (1848 – 1894) zu nennen, der die Impressionisten engagiert unterstützte, ihre Werke sammelte und selbst Maler war. Bekannt wurde er mit seinen Pariser Straßenszenen wie z. B. „Paris, Place de l’Europe, ein Regentag“ (1877, The Art Institute of Chicago). Zum Kreis der Impressionisten gehörten auch einige wenige Frauen, als bekannteste Berthe Morisot (1841 – 1895). Sie erreichte allerdings nie die Popularität ihrer männlichen Kollegen, obwohl sie an den meisten Impressionisten-Ausstellungen teilgenommen hatte. Ihre Bilder kennzeichnet eine besonders lockere und lichte Malweise in hellem Kolorit, ihr bevorzugtes Thema waren idyllische Familienszenen. Weitere Impressionistinnen waren die Amerikanerin Mary Cassatt (1844 – 1926), zeitweilig Schülerin Degas’, sowie Marie Bracquemond (1840 – 1916) und Eva Gonzalès (1849 – 1883). Dem Einsatz Cassatts verdankten die Impressionisten ihr frühes Bekanntwerden in den Vereinigten Staaten. Diese Künstlerinnen erfuhren als eigene Gruppierung überraschend spät das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Im Jahr 2008 fand erstmalig – und zwar in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt – eine Ausstellung mit dem Titel „Impressionistinnen“ statt. Die Ära der Avantgarden

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. haben wir das Nebeneinander unterschiedlicher Stilrichtungen festgestellt. Diese Diversifikation schritt gegen Ende des 19. Jh. fort, wozu auch die Veränderung im Ausstellungswesen beitrug. Courbet, Manet und die Impressionisten hatten mit ihren selbst organisierten Ausstellungen bereits gezeigt, dass Alternativen zum offiziellen Salon möglich waren. 1884 riefen Künstler die Sociéte des Artistes Indépendants ins Leben, die noch im selben Jahr eine erste juryfreie Ausstellung mit dem Titel des „Salon des Indépendants“ veranstaltete; ab 1886 fand sie dann jährlich statt. Das ist der Beginn der Sezessionen. Nicht ohne Grund bezeichnete man diese Künstler als Avantgardisten und benutzte damit einen Begriff, der sich aus der Militärsprache herleitet und ursprünglich die Vorhut einer Armee meinte. Paul Cézanne

Die beiden markantesten Vorkämpfer, die sich keiner bestimmten Richtung zuordnen lassen, sind die Einzelgänger Paul Cézanne und Vincent van Gogh (1853 – 1890). Beide malten in ihrer Anfangszeit mit dunklen, pastosen Farben.

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Die Begegnung mit Pissarro – für Cézanne bereits in den 1870er Jahren, für van Gogh kurz nach der Mitte der 1880er Jahre – veränderte ihre Palette. Das Kolorit hellte sich auf und die Pinselstriche wurden lockerer und luftiger. Nach dieser zeitweiligen Annäherung an die impressionistische Malweise entwickelten sie sich jedoch schon bald in ihre eigenen, jeweils unterschiedlichen Richtungen. Sie kehrten beide Paris, dem damaligen Mekka der Malerei, den Rücken zu und gingen in die Provence. Für Cézanne war es die Rückkehr in die Heimat, für van Gogh der Aufbruch in eine temporäre Wahlheimat. Besonders auf van Gogh übten das gleißende Licht des Südens und dessen Farbenfülle eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Cézanne, der aus Aix-en-Provence stammte und sich gegen den Willen seines Vaters, eines erfolgreichen Bankiers, für die Laufbahn des Künstlers entschied, hatte nicht zuletzt vor der dauerhaften Ablehnung seitens des Pariser Publikums resigniert, und führte zuletzt das zurückgezogene Leben eines Eigenbrötlers. Unter dem Einfluss Pissarros hatte sich nicht nur die Ausdrucksweise Cézannes beruhigt, sondern er verabschiedete sich außerdem von den bedeutungsschweren Themen. Der Bildinhalt stand nun nicht mehr im Vordergrund, vielmehr entdeckte der Künstler den Reiz im Spiel der Farben und Strukturen. Die Landschaftsbilder sollten schließlich die bedeutendste Werkgruppe innerhalb seines Œuvres werden, Stillleben und Porträts spielten daneben eine weitere wichtige Rolle. Vor allem die Panoramen der Sainte-Victoire – das Gebirgsmassiv östlich von Aix-enProvence, ab Mitte der 1880er Jahre sein bevorzugtes Motiv – sind uns heute der Inbegriff der Kunst Cézannes. Am liebsten malte der Künstler den Gebirgszug von Westen mit seinem seicht ansteigenden Nord- und dem steil abfallenden Südhang. Man sieht im weiträumig angelegten Landschaftspanorama im Vordergrund das Tal des Arc. Häuser, Bäume und andere Details der Landschaft erscheinen nur flüchtig angedeutet. Dahinter erhebt sich beherrschend die Sainte-Victoire in kristalliner Schärfe. Mit dieser neuen Auffassung – Modulation durch Farbe, einheitliche Bildstruktur – hat Cézanne Künstler nachfolgender Generationen beeinflusst. Er gilt als einer der Wegbereiter der Moderne. Einer der ersten Künstler, die sich auf Cézanne beriefen, war Henri Matisse. Ebenso nannten die Kubisten – allen voran Georges Braque und Pablo Picasso – ihn als ihr Vorbild. Sie folgten seiner Empfehlung, „man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel“, wörtlich. Vincent van Gogh

Das Werk des Holländers Vincent van Gogh hat eine ähnlich solitäre Stellung in der Kunstgeschichte wie jenes Cézannes. 1888 reiste der Künstler nach Arles, wo ihn die Sonne Südfrankreichs in Bann schlug. In nur 15 Monaten, die er in Arles verbrachte, schuf er rund 200 Gemälde sowie über 100 Aquarelle und Zeichnungen. Nach seiner Selbstverstümmelung Ende 1888 begab er sich in die

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33  Vincent van Gogh, Das Nachtcafé, New Haven, Yale University Art Gallery

psychiatrische Klinik in Saint-Rémy-de-Provence. Als er dort keine Heilung von seiner Geisteserkrankung erfuhr, suchte er im Mai 1890 Zuflucht bei Dr. Gachet in Auvers in der Nähe von Paris, wo er im Zustand tiefer Verzweiflung wenige Wochen später seinen Leben ein Ende setzte. Kennzeichnend für die provenzalische Zeit ist es, dass van Gogh viele seiner Arbeiten im Sinne einer zyklischen Zusammengehörigkeit geschaffen hat. Das gilt besonders für jene Gruppe von Bildern, die er als Dekoration für das von ihm angemietete (und inzwischen nicht mehr erhaltene) Gelbe Haus malte. Zu dieser Gruppe gehören z. B. die berühmten „Sonnenblumen“-Gemälde. Van Gogh schuf ein ganzes Konvolut von Bildern, die als Paare oder größere Ensembles gedacht waren und inhaltlich oder auch formal aufeinander Bezug nahmen. Deshalb ist der Sinnzusammenhang zweier bekannter Bilder – „Das Nachtcafé“ (1888, New Haven, Yale University Art Gallery) und „Das Schlafzimmer“ (1888, Amsterdam, Van Gogh Museum) –, die der Künstler als Paar gemeint hatte, die aber heute auf zwei Museen verteilt sind, massiv gestört. Aus seiner Sicht sollte das „Nachtcafé“ das Leben in der Öffentlichkeit und das „Schlafzimmer“ die Intimität des Privaten versinnbildlichen.

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Im Gegensatz zu den Impressionisten war für van Gogh der Bildinhalt wichtig, und auch die Farben hatten für ihn symbolische Bedeutung. Charakteristisch für seine Werke sind die Komplementärkontraste der Farben und deren pastoser Auftrag, der den markanten Pinselduktus sichtbar macht. Damit thematisierte er gleichermaßen den Arbeitsprozess wie auch die Materialität seiner Bilder, beides Faktoren, die für die Moderne richtungsweisend wurden. Neoimpressionismus

Neben den künstlerischen Einzelgängern Cézanne und van Gogh sind auch die Vertreter des Neoimpressionismus der Ära der Avantgarden zuzurechnen. Sie knüpften an den Impressionismus an und führten diesen in eigener Form weiter. Den Neoimpressionismus entwickelte Georges Seurat (1859 – 1891) in den 1880er Jahren. Bei dieser Technik, die uns auch unter dem Namen des Pointillismus oder des Divisionismus bekannt ist, werden reine Farben in kleinsten Tupfern auf die Leinwand aufgetragen, die sich auf der Netzhaut des Betrachters mischen. Die Farbwirkung ist dadurch intensiver, aber in ihrer Gesamtwirkung erscheinen die Bilder merkwürdig leblos, es fehlt ihnen die Spontaneität der Impressionisten. Neben Seurat ist Paul Signac (1863 – 1935) der wichtigste Vertreter des Neoimpressionismus. Auch Pissarro war Ende der 1880er Jahren Anhänger dieser Technik, die er als „wissenschaftlichen Impressionismus“ bezeichnete. Paul Gauguin und der Synthetismus

Neben Cézanne, van Gogh und einigen Vertretern des Impressionismus (Monet, Sisley) gehörte auch Paul Gauguin (1848 – 1903) zu jenen Künstlern, die der Großstadt den Rücken kehrten. Diese Abkehr von Paris ist zugleich Ausdruck einer gewissen Zivilisationsmüdigkeit. Viele Künstler empfanden schon damals das Großstadtgetriebe mit seiner Hektik als irritierend, ja sogar als unmoralisch. Gauguin suchte seine Themen in der Bretagne und in Ozeanien, wo er seine letzte Lebenszeit verbrachte. Dort suchte er dem Reinen und Ursprünglichen Ausdruck zu geben. Eine kurze Episode blieb sein Besuch bei Vincent van Gogh in Arles, der von einer Künstlergemeinschaft in Südfrankreich träumte. Die Begegnung endete bekanntermaßen mit einem tiefen Zerwürfnis, und im Zustand der Verzweiflung schnitt sich van Gogh an Weihnachten 1888 ein Ohrläppchen ab. Danach blieb van Gogh ein Einzelgänger, während Gauguin eine Anhängerschaft um sich scharte. Er war das Haupt jener Künstlergruppe, die sich im bretonischen Pont-Aven Ende der 1880er Jahre gebildet hatte und dort den Synthetismus entwickelte. Zu dieser Gruppe gehörte auch Emile Bernard (1868 – 1941), dessen besondere Eigenart, die Bildgegenstände mit dunkler Farbe zu konturieren, den Begriff des Cloissonnismus hervorgebracht hat (von „cloisonné“: Zellenschmelz, eine Technik des Email).

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34  Paul Gauguin, Kampf Jakobs mit dem Engel, Edinburgh, National Galleries

Die Künstler dieser Richtung reduzierten die Formen auf große, farbige Flächen. Exemp­larisch deutlich macht dies Gauguins Bild vom „Kampf Jacobs mit dem Engel“ (1888, Edinburgh, National Galleries of Scotland). Das Bild ist zweigeteilt. Im Vordergrund steht eine Gruppe Bretoninnen, als solche erkenntlich an ihren weißen Hauben. Ein diagonal das Bild kreuzender Baumstamm trennt sie von der von ihnen als Vision geschauten Episode des Alten Testaments. Naturgemäß änderten sich in der Südsee seine Motive, in der Malweise blieb sich Gauguin indes treu. Während Cézanne heute als Vorreiter des Kubismus und van Gogh als solcher des Expressionismus gelten, weist das Schaffen Gauguins in Richtung auf den Primitivismus. Die Nabis

Vermittelt durch Paul Sérusier (1864 – 1927), wurden die Ideen des Synthetismus von einer Künstlergruppe mit dem Namen Nabis (hebräisch; Propheten) aufgegriffen, die sich ebenfalls Ende der 1880er Jahre rekrutiert hatte. Zu ihr gehörten Maurice Denis (1870 – 1943), Pierre Bonnard (1867 – 1947), Edouard Vuillard (1868 – 1940) und der gebürtige Schweizer Félix Vallatton (1865 – 1925). Initialzündung hatte in dem Zusammenhang Sérusiers Bild „Der

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Talisman“ (1888, Musée d’Orsay), das er unter Gauguins Anleitung gemalt hatte. Es ist der seltene Fall, dass ein kleinformatiges Bild (27 × 21,5 cm) eine außerordentliche Wirkung entfaltete. Es handelt sich um ein Landschaftsbild, das aber als solches kaum noch zu erkennen ist, weil die konkrete Form aufgelöst erscheint und den Primat an die Farbe abgetreten hat. Nach diesem Vorbild malten die Nabis nicht nur Leinwandbilder, sondern auch großformatige Innenraumdekorationen sowie Paravants, und sie entwarfen Wandteppiche und Tapeten. Die ungewöhnlichen Kompositionen Bonnards und Vuillards sind außerdem von japanischen Holzschnitten inspiriert. Die heitere Grundstimmung ihrer Bilder erscheint wie der Ausdruck französischen Lebensgefühls, jenes sprichwörtlichen Savoir-vivre, das auch für das Werk von Henri Matisse so bezeichnend ist. Henri de Toulouse-Lautrec

Eine Einzelerscheinung in der Ära der Avantgarden ist Henri de ToulouseLautrec (1864 – 1901). Das gilt für den Menschen gleichermaßen wie für sein Œuvre. Er entstammte einer Dynastie südfranzösischen Uradels und war mit dem Makel der Zwergwüchsigkeit geschlagen. Als Außenseiter der Gesellschaft fühlte er sich anderen Randfiguren seiner Zeit emotional verbunden. So fand er sein künstlerisches Tätigkeitsfeld in den Cabarets und anderen Amüsierbetrieben und nicht zuletzt in den Bordellen von Paris. Er gilt als Erneuerer der Gebrauchsgrafik und Mitbegründer der Plakatkunst. Werke von Degas und japanische Farbdrucke inspirierten ihn zu jenen asymmetrischen Kompositionen und skizzenhaft wirkenden Bildern, die Toulouse-Lautrecs bleibenden Ruhm sicherten. Henri Rousseau

Ein weiterer origineller Künstler dieser Zeit, den wir als Autodidakten keiner der oben geschilderten Richtungen zuordnen können, ist Henri Rousseau (1844 – 1910), bekannt auch unter seinem Spitznamen „der Zöllner“, weil er zeitweilig im Dienste des Pariser Stadtzolls tätig gewesen war. Erst im Alter von 40 Jahren entschied er sich für den Künstlerberuf, den er in den Jahren zwischen 1885 und 1910 ausübte. Obwohl er zur Generation der Impressionisten gehörte, galt seine Bewunderung der Salonmalerei und damals gefeierten, heute nahezu in Vergessenheit geratenen Künstlern wie Bouguereau und Cabanel. Rousseau bemühte sich entsprechend in seinen eigenen Bildern um eine exakte Wiedergabe der Realität. Er malte die Bildgegenstände in festen Umrisslinien und vermied geflissentlich komplizierte perspektivische Ansichten. Bekannt wurde er mit seinen fantastischen Urwalddarstellungen, die in ihrer anrührenden Unreflektiertheit beinahe wie Kinderbilder anmuten. So wurde „der Zöllner“ völlig unbeabsichtigt Vater der Naiven Malerei.

Orientalismus

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Der Symbolismus

Der Symbolismus entwickelte sich in den 1880er Jahren als Gegenbewegung zum Realismus. Dabei handelt es sich nicht um einen Stilbegriff, vielmehr ging es den Künstlern darum, Inhalte zu vermitteln. Gustave Moreau (1826 – 1898) gilt als die Gründungsfigur. Seine Themen waren mythologische und biblische Stoffe, die er detailgenau und farbenprächtig in Szene setzte. Seine Sprache ist einerseits fantasievoll, bleibt aber anderseits einer konventionelle Malweise verpflichtet. Die Umwälzungen, mit denen der Impressionismus und der Pointillismus die Malerei des späten 19. Jh. revolutioniert hatten, gingen an Moreau spurlos vorüber. Die Schlüsselfigur des Symbolismus ist Odilon Redon (1840 – 1916), der mit seinen tiefgründigen Fantasiebildern das Tor zu Traumwelten aufstieß. Seine visionären Schöpfungen erschlossen ein neues Feld bildlicher Ausdrucksmöglichkeiten, das den Surrealisten des 20. Jh. ihr Terrain bereitete. Auch Pierre Puvis de Chavannes (1824 – 1898) wird dem Symbolismus zugerechnet. Seine Bilder erscheinen weniger fantastisch als die Redons, aber auch sie umweht stets ein Hauch des Träumerischen. Die Grundstimmung seiner Arbeiten ist von Stille und einen gewissen Strenge geprägt. Bekannt wurde er vor allem als Wandmaler. Die Vereinfachung im Bildaufbau trug bei Gauguin und dem jungen Picasso Früchte.

Orientalismus

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arallel zu den bislang vorgestellten Stilen und Entwicklungen brachte das 19. Jh. mit dem Orientalismus eine Sparte hervor, die man als Begleiterscheinung des Kolonialzeitalters zu betrachten hat. Der Feldzug Napoleons in Nordafrika 1798 – 99 steht am Beginn dieser Epoche. Das Interesse gerade am Alten Ägypten beförderte ein großherziges Geschenk des damaligen Sultans von Ägypten, der im Jahr 1833 jenen 250 t schweren Obelisken in Richtung Paris auf den Weg brachte, der, nachdem er den zwei Jahre dauernden Transport überstanden hatte, 1836 seine Aufstellung auf der Place de la Concorde fand. Das Ereignis fiel mit der Eroberung Algiers durch die Franzosen 1830 zusammen, womit das Zeitalter der Kolonisation ganz offiziell begann. Alles das weckte bei einigen Künstlern das Interesse an exotischem Milieu. In diesem Punkt trafen sich sogar die sonst so konträr veranlagten Ingres und Delacroix, allerdings mit dem Unterschied, dass Ingres die vier Wände seines Ateliers nie verlassen hat, während Delacroix tatsächlich nach Afrika gereist ist, um die ihm fremde Welt hautnah zu erleben. Ein wichtiges Bild dieser Phase ist „Die Löwenjagd“ (1861, Chica-

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go, The Art Institute). In ihre Fußstapfen traten Künstler wie Eugène Fromentin (1820 – 1876, wichtige Werke im Museum seiner Heimatstadt La Rochelle), Gustave Guillaumet (1840 – 1887) und Léon Belly (1827 – 1877), die den Reiz nordafrikanischer Städte und Landschaften erschlossen. Gérôme, den wir bereits erwähnten, spezialisierte sich in der Hauptsache auf Genreszenen, deren hyperrealistische Malweise den Beifall des Publikums fand. Gérôme, der den Bildern Manets das Etikett von „Schweinereien“ attestiert hatte, wusste sich geschickt zu vermarkten. Die glatte Oberfläche seiner Gemälde war der Vervielfältigung in Form von Fotografien besonders dienlich. Dieser spezielle Realismus eines Gérôme fand seinen Widerhall in der Skulptur des Bildhauers Charles Cordier (1827 – 1905). Dieser schuf eine Reihe von Büsten von Afrikanern mit dem Ziel, alle auf dem schwarzen Kontinent vertretenen Rassen systematisch zu erfassen. Die Büste „Schwarzer aus Sudan“ (1857, Musée d’Orsay), mit der nicht eine konkrete Person gemeint ist, sondern ein Idealtyp, ist nicht nur eine Inkunabel des Orientalismus, sie markiert darüber hinaus auch ein zentrales Kapitel der Kunstgeschichte. Die auffallende Besonderheit dieser Skulptur nämlich ist die Verwendung unterschiedlich farbiger Materialien: Bronze und Onyx. Diese Polychromie ist der direkte Reflex auf die damals sensationelle Entdeckung, dass die bewunderten und immer wieder als Vorbild dienenden Skulpturen der Antike nicht, wie man lange gemeint hatte, monochrom, sondern mehrfarbig gefasst waren. Wenn heute mancher Betrachter den Werken des Orientalismus mit kritischem Abstand begegnet, dann wohl in der Hauptsache deshalb, weil man in vielen von ihnen den Ausdruck der vermeintlichen Überlegenheit des „weißen Mannes“ lesen kann.

Innovationen in Architektur, Skulptur und Fotografie Architektur

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ie Technik der Eisenkonstruktion eröffnete der Architektur neue, ungeahnte Möglichkeiten. Ihre Anfänge reichen in das englische 18. Jh. zurück. Die Industrialisierung des 19. Jh. bediente sich der Skelettbauweise, weil sie Dimensionen ermöglichte, die es in dieser Form niemals zuvor gegeben hatte; zudem ließen sich selbst die aufwändigsten Vorhaben in kürzester Zeit realisieren. Anfänglich haben die Architekten das Gerüst ihrer Eisenkonstruktion beinahe schamhaft hinter Steinverschalungen versteckt. Wenn der heutige Besucher in

Innovationen in Architektur, Skulptur und Fotografie

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Paris vor dem Pantheon steht und sich nach links wendet, fällt sein Blick auf die repräsentative Fassade der Bibliothèque Ste-Geneviève (1843 – 1850) von Henri Labrouste (1801 – 1875), und er ahnt nicht, dass diese ein Eisen­skelett kaschiert. Nach demselben Muster – innen Eisen, außen Stein – haben auch Charles Garnier die Grand Opéra und Victor Laloux (1850 – 1937) den Bahnhof Gare d’Orsay (1898 – 1900), heute Musée d’Orsay, konzipiert. Nun entstanden auch Bautypen, die man bis dahin nicht gekannt hatte, wie Fabrikhallen, Bahnhöfe, Kaufhäuser, Märkte und Passagen. Hier verzichtete man auf derartige Maskeraden, die Skelettbauweise durfte offen zu Tage treten, und damit erschlossen sich der Architektur, die nun mehr und mehr von Ingenieuren dominiert wurde, neue Möglichkeiten der Ästhetik. Charakteristisch ist die filigrane Struktur der gegenüber dem Stein leichteren Bauweise. Ein bedeutendes Beispiel der Skelettarchitektur war das 1910 abgebrochene Palais des Machines der Pariser Weltausstellung 1889, das Ferdinand Dutert (1845 – 1906) entworfen hatte. Eine Eisenkonstruktion überspannte die Halle, die eine Grundfläche von ca. 115 m × ca. 442 m besaß. Das war die größte Raumfläche, die Menschen jemals ohne Stützen im Innern bis dahin überspannt hatten. Noch bekannter ist der Eiffelturm (1887 – 89) von Gustave Eiffel (1832 – 1923), der, für dieselbe Weltausstellung 1889 in nur zwei Jahren errichtet, ebenfalls eine Sensation darstellte, da er mit den 300 m, die er in den Himmel ragt, damals das höchste Bauwerk der Welt war. Sein Abriss war für das Jahr 1909 geplant, fand aber nicht statt, weil er inzwischen die Funktion eines Funkturmes erhalten hatte. Der Eiffelturm ist heute mehr als ein Symbol für den technischen Fortschritt des 19. Jh.; er ist zum Wahrzeichen von Paris geworden und gilt weltweit als ein Inbegriff von Frankreich. Auch die Sakralbaukunst des 19. Jh. übernahm die Skelettbauweise. Das mag zunächst überraschen, erweist sich aber vor dem Hintergrund der Geschichte nicht nur als schlüssig, sondern geradezu zwingend. Bei Licht betrachtet, haben die Baumeister der gotischen Kathedralen das Prinzip des gerüsthaften Bauens bereits im 13. Jh. praktiziert, und sie haben in den Beispielen der Kathedrale von Amiens und der Sainte-Chapelle in Paris sogar mit eisernen Zugankern experimentiert. Die Kirchen des 19. Jh. in Paris erlebten dieselbe Vorgehensweise wie die Profanbauten ihrer Zeit. St-Augustin (1860 – 71) ist die erste Kirche, die im Kern aus einem Eisenskelett besteht, das aber nach außen durch einen Steinmantel versteckt wird. Entworfen hat sie Victor Baltard (1805 – 1874), dessen Name auf ewig mit den Markthallen (1860 – 66) von Paris verbunden bleiben wird, auch wenn diese Anfang der 1970er Jahren abgerissen wurden. Emile Zola hat ihnen mit seinem Roman „Der Bauch von Paris“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Für die Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris wurde für die Arbeiter

Die Kunst im 19. Jahrhundert

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im Montparnasse-Viertel die Kirche mit dem bezeichnenden Namen NôtreDame-du-Travail erbaut. Sie ist vollständig aus Eisen errichtet, das in diesem Fall ungeschminkt zu Tage tritt. Nirgendwo sonst wird der enge Zusammenhang zwischen der Gotik des Mittelalters und der Gerüstbauweise der Neuzeit augenfälliger. Skulptur

So wie im Bereich der Malerei gibt es auch in der Skulptur Künstlerpersönlichkeiten, die sich in keine der geläufigen Richtungen einordnen lassen. Hier sind vor allem Aimé-Jules Dalou (1838 – 1902) und Auguste Rodin (1840 – 1917) zu nennen. Beide lernten sich an der Pariser Petite Ecole (Ausbildungsstätte für Kunsthandwerker) kennen. Während Dalou seine Ausbildung an der Ecole des Beaux-Arts fortsetzte, scheiterte sein Freund Rodin wiederholt an den dortigen Aufnahmebedingungen. Dalous Œuvre stellt sich sehr vielseitig dar, allerdings hat man den Eindruck, dass er sich chamäleonartig je nach der Thematik seiner Darstellungen mal in dieser, mal in jener Richtung orientierte. Im Bildnis der knapp 70 cm hohen „Stickerin“ (um 1870, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle) zeigt er eine junge Frau erkennbar gehobenen Standes, und hier befleißigt er sich des glatten Ausdrucks eines späten Klassizismus. Die Gestalt eines „Schmiedes“ (1879  /  89, Musée d’Orsay) derselben Größe erscheint dagegen ungeschlacht und erinnert, wenn wir einen Vergleich zur Malerei ziehen wollen, an die Heroisierung der Arbeiter bei Courbet. Rodin ist anders als Dalou geradliniger und ohne Wenn und Aber sich selbst treu geblieben. Vielleicht ist er gerade deshalb der berühmtere von den beiden geworden. Kennzeichnend für sein Werk sind die unruhige Modellierung der Oberfläche, die Skizzenhaftigkeit und die Fragmentierung der Figur. Rodin hat den Torso zu einer eigenen Kunstform erhoben und hat damit die Bildhauerei maßgeblich erneuert. In der Skulptur „Der schreitende Mann“ (1907; diese und alle weiteren in diesem Absatz genannten Skulpturen in Paris, Musée Rodin) hat Rodin auf Arme und Kopf verzichtet und konzentriert die Darstellung auf die Dynamik der Schreitbewegung. Dieses Non-Finito, die bewusste Beschränkung auf einen Teilaspekt, war damals ein Novum und hat den Weg in Richtung der Moderne gewiesen. Höhepunkte seines Schaffens sind u. a. „Das Höllentor“ (1880  /  1889 – 1890), „Die Bürger von Calais“ (1889) und „Der Denker“ (1880 – 82  /  1902 – 04), Skulpturen, die Zeugnis ablegen von den Abgründen des menschlichen Daseins. Umso mehr überrascht es, dass heute „Der Kuss“ (1881 – 82  /  1889) weltweit Popularität genießt, ein Werk, das in seiner­ ­­Harmoniebetontheit nicht gerade typisch für Rodin­  ist.

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Tragik umweht Camille Claudel (1864 – 1943), die Schwester des Schriftstellers Paul Claudel. Sie war nicht nur Schülerin, sondern auch langjährige Geliebte des um 24 Jahre älteren Rodins. Die Beziehung endete 1898. Autobiographische Züge trägt ihre bronzene Skulpturengruppe „Das reife Alter“ (1899, Paris, Musée Rodin). Man sieht die Gestalt eines älteren Mannes. Eine alte Frau drängt ihn fort von einer jüngeren, die ihn kniend zurückzuhalten versucht. 1914 verfiel Claudel in geistige Umnachtung und war den Rest ihres Lebens Patientin in einer geschlossenen Abteilung. 35  Auguste Rodin, Der schreitende Mann, Paris, Musée Rodin

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Fotografie

Als Datum der Geburt der Fotografie gilt offiziell das Jahr 1839. Damals hat der französische Staat die Erfindung Louis-Jacques Daguerres (1787 – 1851) erworben, um sie der Menschheit als Allgemeingut zum Geschenk zu machen. Das nach seinem Erfinder Daguerreotypie genannte Verfahren ist sehr komplex und findet unter Verwendung von sensibilisierten Silber- oder Kupferplatten statt. Das Ergebnis waren kleinformatige Unikate. Ende der 1840er Jahre setzte sich die praktikablere Technik der Fotografie mit Papierabzügen durch, da Negative die beliebige Reproduzierbarkeit erlaubten. Nadar (1820 – 1910), der eigentlich Gaspard-Félix Tournachon hieß, war der bedeutendste Porträt-Fotograf seiner Zeit. Zu seinen Kunden gehörten Berühmtheiten wie Sarah Bernhard, Charles Baudelaire, Victor Hugo und Gustave Courbet. Nadar verzichtete auf die damals üblichen Kulissen und Accessoires und vertraute allein auf Licht und Schatten. Eine seiner Pionierleistungen war die erste Luftaufnahme von Paris, die ihm 1858 aus dem Korb eines Heißluftballons gelang. Ein anderer Fotograf, dessen Aufnahmen Wertschätzung genossen, ist Gustave­Le Gray (1820 – 1884). Seine Meeresbilder, die er zum Teil aus zwei Negativen kompilierte, sind sorgfältig gestaltete Kompositionen, die auch wegen ihres damals noch ungewöhnlich großen Formates (ca. 30 × 40 cm) aus dem Rahmen fielen. Die technische Weiterentwicklung (u. a. Rollfilm, größere Lichtempfindlichkeit der Filme und des Laborpapiers) führte ab den 1880er Jahren zur Herstellung erster Handkameras. In der Konsequenz wurde das neue Medium der Fotografie damit einem breiten Kreis von Amateuren zugänglich, und auch Künstler wie etwa Degas oder Bonnard begannen damit zu experimentieren. Die Fotografie um 1900 ist vom Piktorialismus beherrscht, d. h. die Fotografen bemühten sich damals, ihre Arbeiten den Werken der Malerei anzunähern. In dem sonst so konservativ gestimmten Salon wurde die Fotografie überraschend zeitig, nämlich bereits 1859, als ein neuer Zweig künstlerischen Ausdrucks zugelassen. Diese frühe Akzeptanz hat dazu geführt, dass die Fotografie seither einen festen Platz in der neueren französischen Kunstgeschichte hat. In dem Zusammenhang ist ein Vergleich mit Deutschland besonders aufschlussreich. Hier wurde auf der Documenta erst 1977 Fotografie als eigene Kunstgattung ausgestellt.

Die Kunst im 20. Jahrhundert Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

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ach Ausbruch des Ersten Weltkrieges rückte die deutsche Armee wie bereits 1870 zügig auf Paris vor. Doch sehr bald kam der Vormarsch ins Stocken, und nun begann der gnadenlose Grabenkrieg mit den verlustreichen Schlachten an der Marne, an der Somme und bei Verdun. Das Eintreten der Amerikaner brachte die Entscheidung, und am 11. November 1918 musste das geschlagene Deutschland die Urkunde seiner Kapitulation unterzeichnen. Frankreich hatte im diesem Ringen der Giganten 1,4 Millionen Gefallene zu betrauern. Man spricht deshalb seither von dem Grand Guerre, und der 11. November ist ein staatlicher Gedenktag. Dieselbe Arroganz, mit der der Kriegsgewinner von 1870  /  71 Frankreich gedemütigt hatte, schlug nun von französischer Seite den Deutschen ins Gesicht, denen mit dem Versailler Friedensschluss astronomische Reparationszahlungen auferlegt wurden. Damit war dem Aufstieg Hitlers, der 1933 die Macht im Deutschen Reich an sich riss, auf verhängnisvolle Weise der Weg bereitet. Zu spät boten Frankreich und England dem dreisten Expansionsdrang der Nazis die Stirn. Erst als am 1. September 1939 die Wehrmacht Polen überfallen hatte, erklärten Frankreich und England Deutschland den Krieg. Und nun begann jene Phase, die man in Frankreich Drôle de guerre (der verrückte Krieg) genannt hat. In Erwartung eines neuen Waffengangs hatte Frankreich von langer Hand in Gestalt der Maginot-Linie Vorsorge getroffen. Das war jener Verteidigungsgürtel, den man entlang der deutsch-französischen Grenze angelegt hatte. Das nervenaufreibende Abwarten auf beiden Seiten dauerte Monate. Erst im Mai 1940 eröffnete Hitler seinen Blitzkrieg gegen Frankreich. Dieser erfolgte aus einer von den Franzosen nicht erwarteten Richtung. Die deutsche Wehrmacht

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überrollte die neutralen Staaten der Niederlande und Belgiens und marschierte von Norden her auf Paris zu, wo sie bereits am 14. Juni Einzug hielt. In dieser ersten Phase des Zweiten Weltkrieges besetzten die deutschen Truppen die Nordhälfte Frankreichs. Die Südhälfte des Landes wurde von der Regierung des Marschalls Pétain kontrolliert, die ihren Sitz in Vichy hatte und von dort aus mit den Deutschen kollaborierte. Die eigentliche Stimme Frankreichs war damals jene des Generals Charles de Gaulle, der aus dem Londoner Exil zum Widerstand aufrief. Nachdem die Alliierten 1942 in Nordafrika gelandet waren, besetzte die Wehrmacht auch den Süden Frankreichs. Die Guerilla-Attacken der Résistance ahndeten SS und Gestapo mit wahren Gräueltaten. Wieder war es der Eintritt Amerikas in den Krieg, der die Wende einleitete. Im Juni 1944 erfolgte die Invasion der Alliierten in der Normandie, und von dort rückte ihre Armee auf Paris vor, wo sie die Bevölkerung bereits im August unter frenetischem Jubel empfing. Deutschland, das sich mit ­einem Mehrfrontenkrieg hoffnungslos verzettelt hatte, taumelte seiner vernichtenden Niederlage entgegen, die mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 besiegelt war.

Kunst im frühen 20. Jahrhundert Architektur und Kunsthandwerk des Art Nouveau

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er Hauptvertreter des Art Nouveau, dessen deutsche Spielart wir den Jugendstil nennen, war in Frankreich Hector Guimard (1867 – 1942). Reisen nach England, Schottland und Belgien, wo er dem Architekten Victor Horta begegnete, inspirierten ihn beim Bau des Apartmenthauses Castel Béranger (1895 – 1898), des ersten Denkmals des Art Nouveau. Dessen Außenansicht wird ebenso wie die Gestalt der Innenräume von organischen Formen und einer Vielfalt der verwendeten Materialien bestimmt. Es folgten zahlreiche Häuser in und um Paris. Sein einziger öffentlicher Auftrag blieb der Entwurf für die Aufbauten und Einfassungen der Pariser Metroeingänge (1900 – 1904), weshalb man in Paris den Jugendstil auch ironisch als Style Métro bezeichnet hat. Das frühe Ende des Art Nouveau fällt nicht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammen, sondern schon vor 1914 kam ein neuer Rationalismus auf, für den die nüchterne Erscheinung des Pariser Théâtre des Champs-Elysées (1913) des Architekten Auguste Perret (1874 – 1954) und seines belgischen Kollegen Henry van de Velde (1863 – 1957) exemplarischen Charakter hat. Nirgendwo ist der Jugendstil deutlicher zum Niederschlag gekommen als im Kunsthandwerk. Neben Paris war um 1900 Nancy die Hochburg des Art Nouveau

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in Frankreich. Hier befindet sich heute das bedeutendste Museum zum Thema. Der Grund dafür ist ein politischer, denn in der Zeit nach der Niederlage Frankreichs 1870  /  71 und der Besetzung Lothringens mit seiner Hauptstadt Nancy durch die Preußen sollte der Art Nouveau Sinnbild einer neuen französischen Kunst sein. Man spricht von der Schule von Nancy. Deren wichtigste Vertreter sind Emile Gallé (1846 – 1904) und Louis Majorelle (1859 – 1926). Kennzeichen für diese Schule von Nancy, die ihre schönsten Leistungen im Bereich des Möbeldesigns hervorgebracht hat, ist die gegenüber der nüchterneren Pariser Schule reichere Verwendung ornamentaler Dekorationen, die von der lokalen Flora und Fauna inspiriert ist. Für die Pariser Schule war die Aktivität der Galerie Bing maßgebend. Der aus Hamburg stammende Siegfried Bing (1838 – 1905) hatte sich 1871 in Paris niedergelassen, um dort mit ostasiatischer Kunst zu handeln. Zu seinen Kunden gehörte u. a. Vincent van Gogh, der hier mehrere japanische Holzschnitte erstand. 1895 eröffnete Bing ein neues Kunsthaus mit dem programmatischen Namen L’Art Nouveau, der fortan als Stilbezeichnung Gültigkeit behielt. Die Vertreter der Pariser Schule – Guimard, Eugène Gaillard (1862 – 1933), Georges de Feure (1868 – 1943), Edouard Colonna (1862 – 1948) – scharten sich um Bing, der ihre Kreationen in Umlauf brachte. Malerei

Auch im frühen 20. Jh. blieb die Stellung von Paris als Zentrum der Kunst unangefochten. Das verdeutlichen nicht zuletzt wichtige Ausstellungen wie der „Salon des Indépendants“ und „Salon d’Automne“ (dieser seit 1903). Reisen wurde erschwinglicher und Printmedien garantierten schnellere Verbreitung von Neuigkeiten. Beides begünstigte den rascheren Austausch von Informationen auch unter Künstlern. Damit ging eine fortschreitende Internationalisierung einher. Immer mehr Künstler drängten nun aus dem Ausland nach Paris; Picasso ist der berühmteste, aber beileibe nicht der einzige Fall. In der Malerei war die erste neue Kunstrichtung des Jahrhunderts zunächst noch eine rein französische Angelegenheit. Im Atelier von Gustave Moreau hatten sich Henri Matisse (1869 – 1954), Albert Marquet (1875 – 1947), Henri-Charles Manguin (1874 – 1943), Charles Camoin (1879 – 1965) und Georges Rouault (1871 – 1958) kennengelernt. Dieser Gruppe verlieh der Kritiker Louis Vauxcelles (1870 – 1943) das Etikett der „Fauves“ (die wilden Tiere), als er die Ausstellung des Pariser Herbstsalons 1905 für die Zeitung „Gil Blas“ rezensierte. Damit war der Name des Fauvismus aus der Taufe gehoben. Ausgehend von Gauguin, van Gogh und Cézanne setzten diese Künstler auf intensiven Farbauftrag, Komplementärfarben und vereinfachte Formen. Um Matisse als die zentrale Gestalt scharten sich Maurice de Vlaminck (1876 – 1958) und André Derain (1880 – 1954)

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als erste, und alsbald folgten auch Raoul Dufy (1877 – 1953), Georges­Braque (1882 – 1963) und der Niederländer Kees van Dongen (1877 – 1968). Eine Sonderrolle nimmt Georges Rouault ein, der wegen seiner sozialkritischen Themen und seines anderen Kolorits dem Fauvismus nur am Rande zugerechnet werden kann. Ihr beliebtester Treffpunkt war das Hafenstädtchen Collioure im Roussillon. Die Gruppe der Fauves hatte nur kurzen Bestand, denn schon 1908 gingen die Künstler wieder ihrer eigenen Wege. Die Jahre 1907  /  08 markieren einen Wendepunkt der Kunstgeschichte. 1906 war der große Erneuerer Cézanne gestorben, der posthum bereits im Jahr darauf seinen Durchbruch erlebte. In Paris fanden 1907 gleich zwei Ausstellungen seiner Werke statt. Das Ereignis hatte die Wirkung einer Initialzündung, wie wir am Werk Braques und Pablo Picassos (1881 – 1973) erkennen. Dieser schuf noch im selben Jahr das Bild der „Demoiselles d’Avignon“, das er im Sommer im Freundeskreis zur Beurteilung vorstellte. Picasso hatte in diesem Bild, in dem auch sein Verhältnis zu Skulpturen Afrikas zum Niederschlag gekommen ist, mit allen Traditionen gebrochen. Es zeigt fünf stark schematisierte und flächig gehaltene Frauenakte. Wie bei Cézanne vorbereitet, ist die Trennung zwischen Vorder- und Hintergrund aufgehoben. Das Bild war die Geburt einer neuen Ästhetik, die in ihrer Zeit auf Unverständnis stieß, während uns dieses Werk heute als eines der wichtigsten des 20. Jh. gilt. Picasso und Braque bewegten sich 1908 auf ihrer Suche nach neuen Ausdrucksformen aufeinander zu. Braque löste sich in dieser Zeit vom Fauvismus. Picasso hatte die Werke seiner sog. Blauen (1901 – 04) und, nachdem er 1904 in Paris ansässig geworden war, seiner Rosa Periode (1904 – 07) geschaffen. Die Schnittstelle ihres gemeinsamen neuen Kunstverständnisses bildete die bereits zitierte Forderung Cé­ zannes, „die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel“ zu behandeln. Entsprechend reduzierten Braque und Picasso die Gegenstände ihrer Bilder auf geometrische Formen. Unterschiede zwischen Figur und Umfeld lösten sich auf, zugleich legte sich der Schleier gedämpfter Braun- und Grautöne auf ihre Palette. Und wieder war es Vauxcelles, der dafür die treffende Bezeichnung fand: Kubismus (von „cube“: Würfel). Die Kunstgeschichte hat den Kubismus in zwei Phasen unterteilt. Man spricht vom analytischen und vom synthetischen Kubismus. In der ersten Phase, dem analytischen Kubismus (1908 bis etwa 1912), zerlegten die Maler Gegenstände in kleine Facetten. Die Objekte werden simultan aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Prägnante Beispiele sind das „Bildnis Daniel-Henry Kahnweiler“ (1910, Chicago, The Art Institute) von Picasso und „Der Portugiese“ (1911 – 12, Basel, Kunstmuseum) von Braque. Gerade der Vergleich dieser beiden Bilder zeigt, in welch erstaunlich hohem Maß sich die Künstler einander anglichen. Da sie in diesen Jahren zudem auf das Signieren teilweise verzichteten, ist es in manchen Fällen nahezu unmöglich festzustellen, von welcher Hand das jeweilige kubistische Bild

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36  Georges Braque, Der Portugiese, Basel, Kunstmuseum

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stammt. Ab etwa 1912 beginnt der synthetische Kubismus, der gegen die Mitte der 1920er Jahren endete. In dieser Phase wandten sich die Künstler neuen und bildfremden Materialien zu. Zeitungsausschnitte, Holzpartikel und Fetzen von Tapeten fanden Eingang in ihre Werke. Damit leiteten sie die Geburt der Collage ein. Zugleich hob sich der oben genannte Schleier der Farbenthaltung. Kennzeichnend dafür sind die Bilder von Juan Gris (1887 – 1927). Er war wie Picasso Spanier und ist neben diesem und Braque der dritte Hauptvertreter des Kubismus. Aus dem Kubismus sind zwei weitere Stilrichtungen der Malerei hervorgegangen. Sie wurden geprägt von Mitgliedern der Gruppe Section d’Or (Goldener Schnitt) und von den Vertretern des sog. Orphismus. Zur Section d’Or, die sich 1912 rekrutierte, gehörten u. a. Francis Picabia (1879 – 1953), Jean Metzinger (1883 – 1956) und Fernand Léger (1881 – 1955). Diese setzten auf eine betont konstruierte Ästhetik, die sie aus mathematischem Kalkül herleiteten. In den nun immer rascher aufeinander folgenden Richtungswechseln war auch der Section d’Or nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Eine andere Spielart des Kubismus ist der Orphismus. Den Namen hat Guillaume Apollinaire mit einer sprachlichen Anleihe aus der antiken Mythologie geprägt. Hauptvertreter des Orphismus sind Robert Delaunay (1885 – 1941) und seine Frau Sonia Delaunay-Terk (1885 – 1979). Die Delaunays schufen Bilder, die sie aus prismatischen Farbflächen aufbauten. In der Serie der Fensterbilder (1912, u. a. Hamburger Kunsthalle) Robert Delaunays erkennt man schemenhaft Häuser und wiederholt den Eiffelturm. In der Folgezeit wurde ihre Bildersprache immer abstrakter. Gegenüber dem Bildinhalt dominieren die Leuchtkraft und die Dynamik der Farbe. Die Delaunays sprachen in dem Zusammenhang von den Simultankontrasten als einem Mittel der optischen Steigerung. Sie waren nicht nur Pioniere der abstrakten Kunst in Frankreich, sondern übten auch einen starken Einfluss auf die deutschen Expressionisten aus. Hier sind besonders August Macke, Franz Marc und Paul Klee zu nennen. Eine besonders auffällige Erscheinung innerhalb des breiten Spektrum des ­Kubismus ist der im Zusammenhang mit der Section d’Or bereits erwähnte Fer­ nand Léger. Nach einer Ausbildung zum Architekten spezialisierte er sich zunächst­ auf das Fach der Bauzeichnung. Auf diesem Wege fand er um 1910 zum Kubismus, dem er eine eigene Sichtweise abgewann. Seine zeitweilige Hinwendung zu Fragen moderner Technik und des Menschen in einer von Maschinen beherrschten Welt wurde zum Teil mit seinen Eindrücken aus dem Ersten Weltkrieg, zum Teil mit seiner politischen Haltung – Léger sympathisierte eine Zeitlang mit dem Kommunismus – erklärt. Ab etwa 1917 verlieh er den in seinen Bildern dargestellten Menschen und Gegenständen ein röhrenähnliches Aussehen. Ein Kritiker schlug deshalb vor, in diesem Zusammenhang von Tubismus zu sprechen. Légers Gemälde unterscheiden sich von denen des klassischen Kubismus durch ihre Tie-

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37  Henri Matisse, Der Tanz, St. Petersburg, Eremitage

fenwirkung, die Verwendung kräftiger Farben und die Betonung des körperlichen Volumens seiner Figuren. In späteren Werken treten auch weichere, gerundete Formen auf. Seine Eigenart, Gegenstände auf den Charakter des Zeichenhaften zu reduzieren, hat ihn im Zusammenwirken mit der plakathaften Erscheinung vieler seiner Werke zum Vorbild für die Künstler der Pop-Art werden lassen. Zwei Genies ragen in der Malerei des frühen 20. Jh. besonders hervor und können als die beiden bedeutendsten Künstler der klassischen Moderne gelten: Henri Matisse und Pablo Picasso. Nach anfänglicher Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen – bei Picasso waren es die Kubisten, bei Matisse die Fauvisten – lösten sie sich aus derartigen Bindungen und prägten ihren persönlichen Stil. Matisse als der ältere der beiden ist aus dem Milieu des 19. Jh. hervorgegangen. Wie alle jene großen Genies, die mit ihren Werken Meilensteine der Kunstgeschichte geschaffen haben, hat auch Matisse verschiedene Stadien durchlaufen. Ausgehend von altmeisterlicher Manier, die er sich im Atelier seines Lehrers Moreau aneignete, partizipierte er an den künstlerischen Erneuerungen Ende des 19. Jh., unternahm einen Exkurs in den Pointillismus, kreierte als eigene Schöpfung den Fauvismus und entzieht sich zuletzt jeder begrifflichen Einordnung. Der Kubismus ging mehr oder weniger spurlos an ihm vorüber. Während dieser seinen Anfang nahm, huldigte Matisse dem Frohsinn der Farbe und der Dynamik der Bewegung. Ein Schlüsselwerk dieser Zeit ist „Der Tanz“ (1909  /  10,

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38  Pablo Picasso, Guernica, Madrid, Centro de Arte Reina Sofia

St. Petersburg, Eremitage). Nach dem Ersten Weltkrieg begann seine sog. NizzaPeriode. Matisse hatte sich inzwischen an der Côte d’Azur niedergelassen. Heitere Interieurs und Frauenakte stehen im Mittelpunkt seines weiteren Schaffens. Auffallend sind einmal das dekorative Element, zum anderen seine „Odalisken“, die wie ein ferner Widerhall auf den Orientalismus des 19. Jh. anmuten. In einer späteren Schaffensphase entdeckte er die Freude an Papierschnitten, die ihm ein neues Mittel zur Darstellung farbenfroher Kompositionen voller Dynamik lieferten. Mit der Ausstattung der Rosenkranzkapelle der Dominikanerinnen in Vence übernahm Matisse im Alter von 77 Jahren einen Auftrag, dessen Ausführung innerhalb seines breit gefächerten Œuvres eine Sonderstellung einnimmt. Hier hat er die komplette Ausstattung eines Kirchenraumes gestaltet. Auch dieses letzte monumentale Werk ist ein einziges Bekenntnis zur Schönheit der Schöpfung. Picasso war der Sohn eines seinerseits begabten Malers. Als der Vater schon früh das Genie Pablos erkannte, legte er allerdings den Pinsel resigniert für immer aus der Hand. Picasso wurde in Südspanien geboren, 1891 zog die Familie zunächst nach La Coruña im Norden des Landes, vier Jahre später nach Barcelona, wo Picasso seine ersten künstlerischen Schritte unternahm. Nach einem ersten Aufenthalt in Paris im Jahr 1900 siedelte er 1904 ganz dorthin über. Am Montmartre quar-

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tierte er sich in einem auch von anderen Künstlern bewohnten Mietshaus ein, das den Spitznamen Bateau-Lavoir trug, weil es nur über eine einzige Nasszelle verfügte. Auf die verschiedenen Perioden seines frühen Schaffens und auf die Phase des Kubismus folgte jene Spanne seines Künstlerlebens, in der auch Picasso von allen Strömungen seiner Zeit Abschied nahm. Nun wandte er sich der Antike zu. Große, kraftvolle Gestalten bevölkern, wenn auch stilisiert, die Leinwände seiner 1920er Jahre. Die Kunstgeschichte spricht von seiner Klassischen Periode. Im folgenden Jahrzehnt entwickelte Picasso seinen vielseitigen Stil, für den kraftvolle Farben, Deformation und eine akzentuierte Betonung der Konturen kennzeichnend sind. Aufsehen erregte er mit dem Monumentalwerk „Guernica“ (1937, Madrid, Centro de Arte Reina Sofia), das auf der Pariser Weltausstellung 1937 das menschenverachtende Regime des Nationalsozialismus an den Pranger stellte. Mit erschütternder Eindringlichkeit hat Picasso in diesem düsteren Gemälde die Auslöschung der baskischen Stadt Guernica durch die Legion Condor zum Gegenstand einer künstlerischen Anklage gemacht. Wie Matisse ließ sich auch Picasso später an der Côte d’Azur nieder. Hier begann er neben der Malerei mit unterschiedlichsten künstlerischen Techniken zu experimentieren. Die Nachbarschaft zu dem Töpferdorf Vallauris brachte ihn dazu, selbst in Ton zu modellieren. So unterschiedlich

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die Arbeiten von Matisse und Picassos auch sind – Matisse ging es um Schönheit, Picasso analysierte die Form –, eines haben beide Künstler gemeinsam: Die Malerei war zwar ihr Hauptbetätigungsfeld, aber daneben nahmen sie sich auch weiterer Gattungen wie der Bildhauerei, Kupferstecherei und Bühnenbildnerei an. 39  Constantin Brancusi, Die schlafende Muse, Paris, Centre Pompidou

Skulptur

Wie die Malerei weist auch die Skulptur des frühen 20. Jh. eine bemerkenswerte Stilvielfalt auf. Es entstanden Werke im Spannungsfeld zwischen spätklassizistischem Akademismus und den Neuerungen Rodins, die die Moderne einleiteten. Obwohl Emile Antoine Bourdelle (1861 – 1929) stattliche 12 Jahre (1893 – 1905) Mitarbeiter Rodins war, lassen seine Skulpturen wenig von dessen Einfluss erkennen. Sein Markenzeichen wurden verschiedene Porträts Beethovens, dem er sich besonders verbunden fühlte. Letztlich huldigte er noch den Schönheitsidealen des 19. Jh., Aristide Maillol (1861 – 1944) denen der griechischen Antike. Bekanntestes Werk des Südfranzosen ist die kauernde Frauenfigur mit dem Titel „Das Mittelmeer“, von der es mehrere Versionen gibt. Zweifellos der bedeutendste Bildhauer der Zeit ist der Rumäne Constantin Brancusi (1876 – 1957), der seit 1904 in Paris lebte. Er gilt als der erste moderne Bildhauer des 20. Jh. Sehr früh (bereits ab 1907) entstand ein Œuvre, das sich jeder Einordnung entzieht. Kennzeichnend für seine Skulpturen ist die Reduktion auf einfachste Grundformen. Ein Schlüsselwerk ist „Die schlafende Muse“ (1910, Bronze, Centre Pompidou), ein auf der Seite liegender Frauenkopf. Brancusi war

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zugleich der erste Bildhauer, der die Skulptur und ihren Sockel als Einheit verstand und deshalb beidem Gestalt gab. Führend unter jenen Bildhauern, die am Kubismus teilhatten, war Henri Laurens (1885 – 1954). Seine Figur eines „Clowns“ (1915, Duisburg, Wilhelm Lehmbruck Museum) setzt sich aus Kegeln und anderen geometrischen Formen zusammen. Der russische Bildhauer Ossip Zadkine (1890 – 1967), seit 1909 in Paris tätig, war anfangs von der Bilderwelt außereuropäischer Kulturen beeinflusst (man spricht vom Primitivismus), später, in den 1920er Jahren, vom Kubismus. Das Hauptwerk aus dieser Zeit ist die Skulptur „Frau mit Fächer“ (1923). Zwei weitere Ausländer, der Ukrainer Alexander Archipenko (1887 – 1964) und der Litauer Jacques Lipchitz (1891 – 1973), kamen kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris. Dort verschrieben sie sich gleichfalls dem Kubismus. Allen gemeinsam ist ihre Abkehr vom Kubismus im Laufe der 1920er Jahre. Fotografie

Einer der Vorläufer der modernen Fotografie ist Eugène Atget (1857 – 1927), ein Autodidakt, der das Objektiv seiner Kamera mit Vorliebe auf Motive in Paris richtete. Er fotografierte systematisch alte Bauten, Architekturdetails und Schaufenster, aber auch die Bewohner der Stadt. Mit besonderem Einfühlungsvermögen erfasste er das Alltägliche. In seinen Aufnahmen wird eine Epoche lebendig, die sich uns in der Betrachtung der Kunstwerke dieser Zeit nicht erschließt. Zu Lebzeiten blieb Atget weitgehend unbekannt; materielle Not litt er deswegen nicht, weil er einen treuen Kreis von Sammlern als Abnehmer hatte. Dass seine Arbeiten posthum über die Grenzen Frankreichs hinaus Anerkennung fanden, verdankt er dem Engagement der amerikanischen Fotografin Berenice Abbott (1898 – 1991).

Kunst zwischen den Weltkriegen Architektur

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ie Architekten wollten in der Zeit zwischen 1920 und 1940 die Gestalt ihrer Bauwerke von den Prinzipien des Historismus bzw. Eklektizismus lösen. Ihnen ging es weniger um die repräsentative Ansicht, vielmehr war es ihr Anliegen, Gebäude funktional und den menschlichen Bedürfnissen angepasst zu konzipieren. Die neue Architektur wurde außerhalb Frankreichs von der niederländische Gruppe De Stijl und in Deutschland vom Bauhaus getragen. Für die gesamte Baukunst in der westlichen Hemisphäre gilt für diese Zeit der Rationalismus als

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Oberbegriff. Klarheit durch Betonung von rechten Winkeln und eine Nüchternheit, die aus dem Verzicht auf schmückendes Beiwerk resultiert, sind Kennzeichen dieser Bauweise. Der bedeutendste Architekt Frankreichs ist Le Corbusier (1887 – 1965), eigentlich Charles-Edouard Jeanneret. Fünf Komponenten nannte er als Basiselemente moderner Baukunst: die Pilotis (Stützen), den Dachgarten, das Fensterband, den freien Grundriss und die freie Fassade. Exemplarisch verwirklichte Le Corbusier sein Programm an der Villa Savoy (1929 – 34) in Poissy. So wie wir es bei den Malern schon wiederholt gesehen haben, bildete sich nun erstmals auch eine Gruppe von Architekten, in diesem Fall um Le Corbusier. Das waren Robert Mallet-Stevens (1886 – 1945), André Lurçat (1894 – 1970) und ­Pierre Chareau (1883 – 1950). Auch wenn die Sakralbaukunst nur noch eine untergeordnete Rolle spielte, entstanden zwischen den Weltkriegen vereinzelt interessante Kirchen. Auguste Perret gehört zu den Pionieren des Bauens mit sichtbarem Eisenbetonskelett. Erstmals hatte er diese Technik bereits 1904 bei der Errichtung des Wohnhauses in der Rue Franklin 25 (Paris) angewandt. Nach demselben Prinzip verfuhr er beim Bau der Kirche Notre-Dame-de-la-Consolation (1922  /  23) in dem Pariser Vorort Le Raincy. In der Form einer dreischiffigen Halle schwingt die Erinnerung an Bauten des Mittelalters mit; die Technik erlaubte Perret allerdings eine derart weitgehende Ausdünnung der die Schiffe trennenden Stützen, dass der Raum den Eindruck eines Saales vermittelt. Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 markiert in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine deutliche Zäsur. In Deutschland setzte sich der Nationalsozialismus durch, dessen Staatsarchitekt Albert Speer martialische Monumentalbauten aufführte. Das Phänomen blieb nicht auf Deutschland beschränkt. Bauten, die man als Ausdruck von Imponiergehabe verstehen muss, entstanden ebenso im damals faschistischen Italien wie im demokratischen Frankreich. Der Olympiade des Jahres 1936 in Berlin folgte die Weltausstellung 1937 in Paris. Aus diesem Anlass entstand damals das Palais de Chaillot am Trocadero, dessen beide ausladende Flügel als Ausstellungshallen errichtet wurden und zugleich als gigantisches Portal zu der Mammutschau dienten. Dadaismus und Surrealismus

Der Erste Weltkrieg spaltete auch die Künstler Europas in verschiedene Lager. Es gab solche, die den Krieg als vermeintlichen Fortschritt verstanden und sich freiwillig zum Dienst an der Front meldeten. Andere bezogen eine kritische Position und sahen im Krieg jene sinnlose Tötungsmaschinerie, als die er sich sehr bald tatsächlich erwies. Einige von diesen suchten Zuflucht in der Schweiz. Dort, und zwar in Zürich, erlebte die Bewegung Dada 1916 ihre Geburt, die erste, die

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international vernetzt war (u. a. Berlin, Hannover, New York, Budapest) und in der Kunst und Literatur ihren Ausdruck fand. Über die genaue Herkunft und Bedeutung des Wortes Dada herrscht Uneinigkeit. Die Version, wonach es auf ein französisches Kinderwort zurückgehe, ist nur eine unter mehreren. Im Selbstverständnis der Künstler steht der Begriff für ihre grundsätzlich kritische Haltung gegenüber allen Erscheinungsformen der bürgerlichen Kultur. Herkömmliche Kunstäußerungen waren verpönt, großer Beliebtheit erfreuten sich Aktionen auf der Bühne, und die Collage stand hoch im Kurs. In der Kunstgeschichte Frankreichs hat Dada keine so zentrale Rolle gespielt wie in jener Deutschlands. Aber mit der Dada-Bewegung hängt der Surrealismus ursächlich zusammen, der seinerseits – das gilt zumindest für die Anfangszeit – wieder eine französische Erscheinung ist. An dessen Beginn steht die Veröffentlichung des von André Breton (1896 – 1966) verfassten „Ersten Manifests des Surrealismus“ (1924). Dada hatte das Irrationale und das Absurde zum Thema gemacht. Daran knüpften die Surrealisten mit ihren Werken an (in der Hauptsache Bilder, aber auch Objekte, Filme usw.). Die Requisiten ihrer Bilderwelt schöpften sie aus dem Reich des Unbewussten und der Träume. Neben konventionellen Maltechniken ersannen die Künstler unterschiedliche Techniken wie die Ecriture automatique (eine Form von unreflektiertem Schreiben), das Abklatschverfahren und die Frottage (Durchreibung). Dabei geht es darum, dem Zufall Tor und Tür zu öffnen und Dinge miteinander in Beziehung zu bringen, die normalerweise nicht zusammengehören – gemäß der Metapher „Schön wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“, die Comte de Lautréamont bereits 1874 formuliert hatte. Unter den Objekten macht das berühmte „Hummer-Telefon“ (um 1936) von Salvador Dalì (1904 – 1989) das Prinzip des Surrealismus besonders sinnfällig. Surrealismus ist kein Stil, sondern eine innere Haltung. Geistesgeschichtlich gesehen steht er in Verbindung mit Sigmund Freud und der von diesem bereits Ende des 19. Jh. entwickelten Psychoanalyse und der Traumdeutung. Die Surrealisten hatten auch andere Wurzeln, die in das 19. Jh. zurückreichen. Wir nennen das dichterische Werk des Comte de Lautréamont und Charles Baudelaires, Bilder der Romantiker Goya und Füssli und der Symbolisten, besonders Redons. Ein direktes Vorbild war zudem das Frühwerk des Italieners Giorgio De Chirico (1888 – 1978), der die letzten vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in Paris gelebt und gearbeitet hat. Hierher kehrte er übrigens 1924 für sieben weitere Jahre zurück und schloss sich damals dem Kreis der Surrealisten um Breton an. Neben diesem gehörten auch andere Autoren wie Paul Eluard und Louis Aragon dazu, Vertreter der Bildenden Künste waren indes in der Überzahl. Neben den

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Franzosen Yves Tanguy (1900 – 1955) und André Masson (1896 – 1987) macht die Zugehörigkeit der Spanier Dalí und Joan Miró (1893 – 1983), des Elsässers Hans Arp (1886 – 1966), des Amerikaners Man Ray (1890 – 1976), des Belgiers René Magritte (1898 – 1967), des Deutschen Max Ernst (1891 – 1976) und des Schweizers Alberto Giacometti (1901 – 1966) die Internationalität des Surrealismus deutlich. Auch der spanische Filmregisseur Luis Buñuel (1900 – 1983) ist in dem Zusammenhang zu nennen. Wir greifen zwei Künstler heraus, deren Biographien ebenso wie ihr Œuv­ re die fortschreitende Internationalisierung des Kunstbetriebs im 20. Jh. und zugleich die Vielschichtigkeit sich überlagernder Richtungen verdeutlichen. Marcel Duchamp (1887 – 1968) war ein Wanderer zwischen der Alten und der Neuen Welt, lebte mehr in New York als in Paris, und starb dennoch in Neuilly. Er durchmaß vom Impressionismus bis zum Surrealismus praktisch alle Stile seiner Zeit, und schließlich kreierte er u. a. die Kunst der Ready-Mades. Damit sind Gegenstände gemeint, die der Künstler nicht selbst geschaffen hat, sondern die er zu Kunstwerken erklärt. Das bekannteste Beispiel ist die „Fontaine“ (1917  /  1964), bei der es sich in Wahrheit um ein Urinoir handelt (eine Replik davon im Centre Pompidou). Ähnlich steht es mit dem experimentierfreudigen Francis Picabia (1879 – 1953), einem Franzosen spanisch-kubanischer Ab­stammung, der zeitweilig auch in den Staaten lebte und in seiner Künstler­ laufbahn die impressionistische, kubistische, orphistische, dadaistische und sur­­ rea­listische Malweise durchlief – ein Weg, der ihn letztlich zur Abstraktion führte. École de Paris

Die fortschreitende Internationalisierung, von der eben die Rede war, beschränkt sich nicht auf Duchamp und Picabia, die als Franzosen Jahre ihres Lebens im Ausland verbrachten, sondern gilt auch für einen breiteren Kreis von ausländischen Künstlern, die Paris zu ihrer teils temporären, teils längerfristigen Wahlheimat machten. Das wirft zwangsläufig die Frage auf, ob man in dem Zusammenhang noch von französischer Kunst sprechen kann. Läge es nicht näher, von einer Kunst in Frankreich sprechen? Der Kunstkritiker André Warnod hat dieses Problem elegant und auf eine bezeichnend französische Art gelöst, indem er ausgerechnet die Ausländer mit dem Etikett Ecole de Paris (Schule von Paris) belegte. Diesen Begriff prägte er in seinem 1925 veröffentlichten Buch „Les berceaux de la jeune peinture“. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die zugewanderten Künstler einen bedeutenden Beitrag zum Facettenreichtum der Kunstmetropole leisteten. Der Name dieser Schule ist längst ein Terminus der Kunstgeschichte. Er bleibt indes problematisch, denn weder

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ist ein Zeitrahmen definiert, noch lassen sich die darunter zusammengefassten Künstler einer einheitlichen Stilrichtung zuordnen. Zur Ecole de Paris rechnet man so ­bedeutende Künstler wie Amadeo Modigliani (1884 – 1920, Italien), Jules ­Pascin (1885 – 1930, Bulgarien), Moïse Kisling (1891 – 1953, Polen) sowie Marc Chagall (1887 – 1985) und Chaim Soutine (1893 – 1943, beide aus Russland). Abstrakte Kunst

Neben den vorstehend genannten Richtungen, die bei aller Unterschiedlichkeit in einem weiteren Sinne gegenständlich blieben, schritt die Abstraktion, die aus dem Kubismus hervorgegangen war, zwischen den Weltkriegen weiter voran. 1929 bildete sich die Gruppe Cercle et Carré (Kreis und Quadrat), deren treibende Kräfte der Kunstkritiker Michel Seuphor und der uruguayische Maler Joaquin Torres-Garcia (1874 – 1949) waren. Hierbei handelte es sich um eine Interessensgemeinschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, abstrakte Kunst zu fördern. Sie gab eine eigene Zeitschrift heraus und erlangte dadurch europaweite Bekanntheit, zudem erlebte sie einen raschen Zuwachs ihrer Mitglieder. 1930 organisierte man eine Gruppenausstellung, an der u. a. Hans Arp und seine Frau Sophie Taeuber-Arp (1889 – 1943), Piet Mondrian (1872 – 1944), Wassily Kandinsky (1866 – 1944), Antoine Pevsner (1886 – 1962) und Georges Vantongerloo (1886 – 1965) teilnahmen. Aus dieser Gruppe, die sich bereits 1931 wieder auflöste, ging noch im selben Jahr als deren Nachfolgeorganisation die Künstlervereinigung Abstraction-Création hervor. Deren Gründerväter waren Vantongerloo und Auguste Herbin (1882 – 1960). Mit Ausstellungen, Diskussi­ onen, Lesungen und der Herausgabe eines Almanachs warben sie für die abstrakte Kunst. Neben den Ehepaaren Delaunay und Arp lesen wir erneut die Namen prominenter Ausländer: Kandinsky, Mondrian, Pevsner, auch dessen Bruder Naum Gabo (1890 – 1977), außerdem Lucio Fontana (1899 – 1968), František Kupka (1871 – 1957) und Willy Baumeister (1889 – 1955). 1936 löste sich diese Gruppe wieder auf. Parallel zu ihren malenden Kollegen gingen auch einige Bildhauer einen Weg, der sie vom Kubismus zur Abstraktion führte. Die aus Russland stammenden Pevsner und Gabo sind Vertreter des Konstruktivismus. Pevsner, Anfangs Maler, beschäftigte sich seit den 1920er Jahren überwiegend mit Skulptur. Kennzeichnend für sein Werk sind die Arbeiten aus dünnen, zusammengeschweißten Stäben, die konkave und konvexe Flächen bilden wie z. B. „Monde“ (1947, Centre Pompidou). Seine Arbeiten wirken beschwingt und elegant. Die frühen Werke Hans Arps sind Reliefs, die er collagenartig aus verschiedenen Formen zusammensetzte. Um 1930 änderte sich sein Stil. Er ging zu voll-

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plastischen Skulpturen aus Marmor, Gips und Bronze über, deren biomorphe Erscheinung der Künstler als „Konkretionen“ bezeichnete. Das lesen wir als Titel der Marmorskulptur „Menschliche Konkretion“, die er 1933 (Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris) geschaffen hat. Lipchitz, Zadkine und Laurens beschritten, nachdem sie den Kubismus hinter sich gelassen hatten, einen Mittelweg zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Art déco

Fortschreitende Möglichkeiten der Serienproduktion in Verbindung mit der gleichzeitigen Ausweitung der Käuferschicht haben dazu geführt, dass im 20. Jh. Fragen des Designs von Möbeln und anderen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens immer größere Beachtung gefunden haben. Schon der Art Nouveau hat uns gezeigt, dass sich ein bestimmter Zeitstil sowohl in der Baukunst, als auch in der Inneneinrichtung ausdrückt. Diese Entwicklung setzt sich im Art déco fort. Hier sehen wir den Fall, dass die Architektur davon nur am Rande berührt war, während die angewandte Kunst im Mittelpunkt stand. Das macht auch die Herkunft des Namens Art déco deutlich, der auf die Pariser Ausstellung des Jahres 1925 „Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“ zurückgeht. Als Abkürzung von Arts décoratifs wurde die Stilbezeichnung Art déco aber erst in den 1960er Jahren geprägt. Der Stil ist aus Frankreich hervorgegangen. Die eben zitierte Ausstellung trug wesentlich zu seiner Internationalisierung bei. Die Designer des Art déco legten dem bewegten Schwung des Jugendstils Leinen an und beschritten einen sachlicheren Weg. Ein Rückgriff auf den Klassizismus des späten 18. Jh. schwingt mit. Im Möbeldesign ist ein Hang zum Luxuriösen unübersehbar. Man schätzte exotische, kostbare Materialien wie z. B. Wurzelahorn, Elfenbein und Haifischhaut. Die Möbel sind nicht nur elegant und ästhetisch eine Augenweide, sondern sie erfüllen auch das Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Emile-Jacques Ruhlmann (1879 – 1933) ist einer der bedeutendsten Designer dieser Zeit. Sein Name steht für schlichte, aber distinguierte Möbel, die sehr zurückhaltend mit ornamentalen Details dekoriert sind. Der Architekt und Möbeldesigner Pierre Chareau orientierte sich mit seinem sparsamen, klarlinigen Design mehr am Funktionalismus. Fotografie

In der Fotografie entwickelte sich nach 1914 eine Gegenbewegung zum Piktorialismus. Die Anhänger dieser neuen Richtung wollten mit den der Fotografie eigenen Mitteln ihre persönliche Weltsicht festhalten. In den USA entstand die

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straight photography, in Deutschland spricht man vom Neuen Sehen und der Neuen Sachlichkeit. In den 20er Jahren entwickelte sich Paris neben Moskau, Berlin, Dessau und New York zu einem Zentrum der neuen Fotografie. Maßgebend dafür war der Einfluss ausländischer Fotografen, die damals in Paris lebten. Obwohl es nahe läge, wie bei den Malern von einer Ecole de Paris zu sprechen, sucht man einen solchen Begriff in der Literatur vergebens. Wie bei den Vertretern der anderen Kunstgattungen kann man auch in diesem Fall nicht von einer Schule sprechen, dafür unterscheiden sie sich zu sehr in ihren Resultaten. Der Entfaltung der lebendigen Fotoszene in Paris verliehen die zahlreichen neu gegründeten Zeitschriften Auftrieb, die den Fotografen ein willkommenes Forum der Verbreitung boten. Eine der interessantesten Persönlichkeiten war der aus Ungarn stammende Brassaï (eigentlich Gyula Halász, 1899 – 1984), der mit seiner Serie „Paris de nuit“ (1932) die nächtliche Seine-Metropole porträtierte. In einer anderen Werkgruppe beschäftige er sich mit der anonymen Kunst und fotografierte Graffitis und Ritzungen an Mauern und Hauswänden. Die Fotografien Man Rays entstanden unter dem Eindruck des Surrealismus. Er experimentierte mit unterschiedlichen Effekten wie Montagen und Doppelbelichtungen und arbeitete auch mit der Fotogramm-Technik des 19. Jh. Dafür hat er selbst den Begriff der Rayographie geprägt. Zu erwähnen sind außerdem der Ungar André Kertész (1894 – 1985), die Polin Germaine Krull (1897 – 1985) und die Schweizerin Florence Henri (1893 – 1982).

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harles de Gaulle, der umjubelte Retter Frankreichs, versuchte in den ersten Jahren nach 1945 der Politik Frankreichs seinen Stempel aufzudrücken. Es ist dieses die Zeit der Vierten Republik, in der das Land chaotische Verhältnisse erlebte. De Gaulle wurde zwischen den Parteien und unterschiedlichen Interessengruppen aufgerieben und zog sich zeitweilig ganz aus der Politik zurück. In den 12 Jahren zwischen 1946 und 1958 folgten 25 Regierungen aufeinander. Die Schwächung des Landes wurde auch außenpolitisch offenbar, 1954 ging die Grande Nation geschlagen aus dem Indochinakrieg hervor. De Gaulle hatte inzwischen eine eigene Partei gegründet. 1958 kehrte der General an die Spitze des Landes zurück. Die Verfassung der Vierten Republik wurde außer

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Kraft gesetzt, und an ihre Stelle trat die neue Präsidialverfassung, mit der das Zeitalter der Fünften Republik begann. De Gaulle war deren erster Staatspräsident. Eines seiner erklärten Ziele war die Aussöhnung mit Deutschland, wo damals Konrad Adenauer regierte. Diese beiden Persönlichkeiten schlossen 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag und sie brachten den Prozess der europäischen Einigung auf den Weg. In Frankreich aber verlor de Gaulle als Folge seines monarchischen Regierungsstils zunehmend an Popularität. In dem legendären Mai 1968 brach die Studentenrevolte aus, die den Sturz des Präsidenten einleitete. Als de Gaulle im Jahr darauf die Volksabstimmung über die Gebietsreform mit seinem persönlichen Schicksal verknüpfte, nutzte das Wahlvolk die Gelegenheit, sich seines inzwischen ungeliebten Staatsoberhauptes zu entledigen. De Gaulle trat zurück und starb schon bald darauf in seinem L ­ othringischen Heimatort Colombey-les-Deux-Eglises. Seine Nachfolger waren Georges Pompidou (1969 – 1974) und Valéry Giscard-d’Estaing (1974 – 1981). Das Jahr 1981 bedeutet eine Zäsur in der Geschichte der Fünften Republik, denn zum ersten Mal entschied mit François Mitterrand ein Sozialist die Präsidentschaftswahl für sich. Die von ihm vorgenommenen Reformen und Verstaatlichungen lösten bei vielen Franzosen einen Schock aus. Rasch korrigierte Mitterrand seinen Kurs, nahm einige der Verordnungen wieder zurück und bewahrte sich so die Gunst seiner Wähler, die ihn 1988 als Staatspräsident bestätigten. Seine zweite Amtsperiode endete 1995. Der zu diesem Zeitpunkt bereits schwer kranke Mitterrand starb wenige Monate später Anfang des Jahres 1996. Mitterrand und der deutsche Kanzler Helmut Kohl waren die Garanten des dauerhaft guten Verhältnisses zwischen beiden Staaten. Nur einmal schien sich ein Schatten auf das Bündnis zu legen, als es nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 um die Frage der deutschen Wiedervereinigung ging. Frankreich hat damals mit seinem Plazet gezögert. Die Ära Mitterrand hat ein Dilemma der Verfassung dieser Fünften Repub­ lik offenbart. Da, ähnlich wie in Amerika, der Präsident und das Parlament unabhängig voneinander gewählt werden, kam es zu der spannungsreichen Situation, dass das sozialistische Staatsoberhaupt sich mit einer bürgerlichen Parlamentsmehrheit arrangieren musste. In Frankreich nennt man das „cohabitation“. Mit demselben Problem sah sich auch Mitterrands gaullistischer Nachfolger Jacques Chirac (1995 – 2007) zeitweilig konfrontiert, nachdem die Franzosen 1997 erstmals in der Geschichte des Landes eine rot-grüne Regierung gewählt hatten. Das bedeutendste innenpolitische Ereignis der Fünften Republik war die Dezentralisierung, an der de Gaulle 1969 noch gescheitert war, die aber sein

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Nachfolger in die Tat umsetzte. Damals entstanden als neue Gebilde die 22 Regionen Frankreichs, in denen die Départments gruppenweise zusammengefasst sind. Im selben Zuge wurde deren Zahl von ursprünglich 89 auf nunmehr 94 angehoben. Das Land hat sich seither fundamental verändert, und Provinzstädte, die bis dahin im Dornröschenschlaf dahingedämmert hatten, sind inzwischen wichtige Schaltstellen des Wirtschafts- und Kulturlebens. Neben der großen Politik ist in der Zeit der Fünften Republik ein Kulturphänomen aufgetreten, das weltweit ohne Vergleich dasteht. Seit der Zeit Pompidous ist es zum Ritual präsidialen Selbstverständnisses geworden, dass sich jedes Staatsoberhaupt mit einem spektakulären Museumsprojekt in das Buch der Geschichte einträgt. Für den Nachfolger de Gaulles war es das Centre Pompidou, für Mitterrand der Ausbau des Louvre zum größten Museum der Welt und für Chirac das von Jean Nouvel entworfene Musée du Quai Branly für die Außereuropäischen Kulturen, von seinem Initiator als Beitrag zur Völkerverständigung gedacht. Auch Präsident Nicolas Sarkozy plant ein Museum, das der Geschichte Frankreichs gewidmet sein soll.

Kunst in den Jahren 1945 bis 1960  /  70 Architektur

Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Frankreich viele Tote zu beklagen, wenn auch nicht in dem dramatischen Umfang wie 1918. Der Verlust baulicher Sub­ stanz hielt sich dagegen in Grenzen, so dass der Wiederaufbau letztlich ein Nebenschauplatz war und nur Hafenstädte betraf wie etwa Le Havre oder Royan. Am Wiederaufbau von Le Havre war Perret maßgeblich beteiligt. In diesen Jahren war Le Corbusier die bestimmende Gestalt in der französischen Architektur. Mit der Unité d’habitation (1945 – 52) in Marseille entstand ein großer Komplex, der deshalb neue Maßstäbe setzte, weil hier zum ersten Mal neben dem Wohnraum für ca. 1600 Menschen auch die für das Leben erforderlichen Einrichtungen der Infrastruktur mit berücksichtigt wurden. Die Appartements sind zweigeschossig angelegt, eine Verlebendigung, die der Hebung der Lebensqualität dient. Mit dem Blick auf das Werk und die Biographie Le Corbusiers drängt sich ein Vergleich zu Andrea Palladio auf, dem Vollender der italienischen Renaissance-Architektur. Dieser war zunächst mit seinen Villen zu Ruhm gelangt, um sich in späteren Jahren in Venedig ganz der Kirchenbaukunst zu verschreiben. Ähnlich Le Corbusier, der sich gegen

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40  Ronchamp, Wallfahrtskirche (Le Corbusier)

Ende eines schaffensreichen Architektenlebens im Bereich des profanen Bauens der Aufgabe der Sakralarchitektur zuwandte. Weltweite Berühmtheit erlangte die 1950 – 55 nach seinen Plänen in Ronchamp errichtete Wallfahrtskirche ­Nôtre-Dame-du-Haut (in der Landschaft Franche-Comté im französischen Jura). Hier sieht man einen ganz anderen Corbusier. Anstelle gerader Linien und strenger Geometrie ist alles, Wände und selbst die Bedachung, in schwingende Formen gebracht. Das Dominikanerkloster La Tourette (1957 – 60) in Eveux nahe Lyon zeigt ihn dagegen wieder als den Anhänger nüchterner Strukturen.   Architektur hat, wenn wir von den Bauten Le Corbusiers absehen, in den 50er und 60er Jahren keine große Rolle gespielt. In dieser Zeit boomten im französischen Geistesleben vielmehr Literatur, Philosophie und der gesellschafts­ kritische Film. Schlagzeilen machten die Existentialisten Sartre und Camus,

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die Nihilisten Beckett und Ionesco, die Vertreter des Nouveau Roman Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute und nicht zuletzt die Cineasten Chabrol und Truffaut. Malerei: Figürlichkeit und Abstraktion

In der französischen Malerei der Nachkriegszeit setzt sich der Stilpluralismus weiter fort. Hatte schon in den Jahrzehnten zuvor eine Multiplikation der Stile, Richtungen und Auffassungen stattgefunden, sehen wir nun ein Stakkato meist kurzlebiger Ismen, die parallel nebeneinander bestanden. Inmitten dieser verwirrenden Vielfalt kann man dennoch eine grundsätzliche Unterscheidung treffen. Ein Teil der Künstler blieb der Gegenständlichkeit verbunden, während andere den Weg der Abstraktion weiter verfolgten. In die Reihe der Erstgenannten gehören die längst zu Weltruhm gelangten Picasso und Matisse, ferner Bonnard, Léger und Braque. Zu ihnen gesellte sich auch Balthus (1908 – 2001), der eigentlich Balthazar Klossowski de Rola hieß. Seine dem Surrealismus, auch ein wenig der Naiven Malerei nahe stehenden Arbeiten wurden erst nach dem Krieg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Künstler, die in ihren Werken auf die geometrische Abstraktion setzten, gründeten 1946 den Salon des Réalités Nouvelles. Hier fanden sich die früheren Mitglieder der Gruppen Cercle et Carré und Abstraction-Création wieder zusammen. Bei Licht betrachtet gehen alle Richtungen der Abstraktion in Frankreich auf den Kubismus zurück. Einige Künstler hatten bereits 1941 gemeinsam unter dem Namen der „Vingt peintres de tradition française­“ in Paris ausgestellt. Die Führungsfiguren waren Jean Bazaine (1904 – 2001) und Alfred Manessier (1911 – 1993). In ähnlicher Richtung gehen die Werke von Maurice Estève (1904 – 2001), Jean Le Moal (1909 – 2007), Roger Bissière (1888 – 1964), Maria Elena Vieira da Silva (1908 – 1992) und Nicolas de Staël (1914 – 1955). Hier erscheint die Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion fließend. Jean Fautrier (1898 – 1964) verarbeitete u. a. in seiner Serie „Les Otages“ („Die Geiseln“) das Trauma des Zweiten Weltkrieges. Seine Arbeiten bewegen sich auf der Grenze zwischen Malerei und Skulptur, indem er plastisches Material mit Farbe kombiniert auf Leinwände aufbrachte. Art Brut

Vielfältig waren die Brüche mit den Traditionen. Als besonders radikal will der Weg erscheinen, den Jean Dubuffet (1901 – 1985) einschlug. Er verwarf den ganzen offiziellen Kunstbetrieb. Seit 1945 sammelte Dubuffet Werke von Dilettanten, Geisteskranken und Kindern. Deren spontaner und unreflektierter

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Arbeitsweise fühlte er sich verbunden. Seiner Sammlung, die der Künstler dem Museum in Lausanne vermachte, gab er den Namen „Art Brut“ (rohe Kunst). Art Brut wurde zum Titel einer Kunstrichtung des 20. Jh., dessen Hauptvertreter Dubuffet selbst ist. Einen ähnlichen Kurs steuerte die 1948 in Paris zusammengefundene internationale Vereinigung COBRA, die sich für eine expressive Kunst jenseits der Grenzen des Intellekts einsetzte. Der Name der Gruppe, die sich nach wenigen Jahren wieder auflöste, setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Städte Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam zusammen, aus denen ihre Mitglieder stammten. Informel

Seit etwa 1950 verästelt sich der Stammbaum künstlerischer Formen und Wege in eine nahezu unüberschaubare Vielfalt. Man liest lyrische Abstraktion, Tachismus, Action Painting. Da erweist es sich als hilfreich, dass Michel Tapié 1951 den Terminus des „Informel“ geprägt hat, der als Sammelbegriff verschiedener Stilrichtungen der ungegenständlichen Kunst fungiert. Unter dem Titel „Signifiante de l‘Informel“ finden sich Werke von Georges Mathieu (geb. 1921), Henri Michaux (1899 – 1984), Fautrier und Dubuffet. Als weitere Künstler des Informel nennen wir Pierre Soulages (geb. 1919), die deutschstämmigen Wols (eigentlich Alfred Otto Wolfgang Schulze, 1913 – 1951) und Hans Hartung (1904 – 1989), der Ungar Simon Hantaï (1922 – 2008) sowie der Frankokanadier Jean-Paul Riopelle (1923 – 2002). So unterschiedlich ihre Werke auch sind, erkennt man dennoch einige Gemeinsamkeiten. Viele Bilder artikulieren sich in Chiffren und besitzen kalligrafischen Charakter. Daneben gibt es Künstler, die mit pastosen Materialien experimentierten oder die den Vorgang des Malens zum Bestandteil eines Kunstwerkes machten. Im Amerika dieser Zeit entstand der abstrakte Expressionismus Jackson Pollocks, Willem de Koonings und Mark Rothkos. Mit diesen und weiteren Persönlichkeiten nabelte sich die amerikanische Kunst endgültig von Europa ab, mehr noch, damals hat New York Paris als Welthauptstadt der Kunst abgelöst. Nouveau Réalisme

Die Anwesenheit Duchamps in den Vereinigten Staaten war mitverantwortlich für den dortigen Neo-Dada, vertreten durch Robert Rauschenberg und Jasper Johns. Auf einer ähnlichen Linie lagen in Frankreich Vertreter des Nouveau Réalisme, einer der vitalsten Erscheinungen in der französischen Kunst der Nachkriegszeit. Die Gruppe dieses Namens hatte der Kunstkritiker Pierre Restany 1960 in Paris gegründet. Zu ihr gehörten die Künstler Arman (1928 – 2005), François Dufrêne (1930 – 1982), Raymond Hains (1926 – 2005), Yves Klein

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(1928 – 1962), Martial Raysse (geb. 1936), Daniel Spoerri (geb. 1930), Jean Tinguely (1925 – 1991) und Jacques de la Villeglé (geb. 1926). Dazu kamen später César (1921 – 1998), Christo (geb. 1935), Gérard Deschamps (geb. 1937), Mimmo Rotella (1918 – 2006) und Niki de Saint-Phalle (1930 – 2002). Auch hier kann man nicht von einem Stil sprechen, dafür sind die Werke zu unterschiedlich. Was aber die Künstler miteinander verband, war ihre Einstellung. Es ging ihnen darum, Kunst stärker mit der Wirklichkeit zu verbinden, und das taten sie durch die Verwendung alltäglicher Gegenstände, die sie in ihren Collagen und Assemblagen verwendeten. Bevorzugt fanden Konsumgüter Eingang in die Ateliers, so auch bei Arman, der Skulpturen aus der Addition teils identischer, teils unterschiedlicher Objekte schuf. Tinguely verwendete für seine von Motoren angetriebenen Skulpturen Gegenstände, die er auf Schrottplätzen, auf dem Sperrmüll und in Trödelläden fand. Einige der Nouveaux Réalistes zerstörten Gegenstände, um daraus Kunstwerke zu kreieren. Arman zerschnitt, demolierte und verbrannte Objekte, um die Überbleibsel auszustellen. César formte Autowracks in der Presse zu Skulpturen. Die „Affichisten“ – Dufrêne, Villeglé, Rotella und Hains – stellten Collagen aus zerrissenen Plakaten her. Mit ihren „Schießbildern“ produzierte Niki de SaintPhalle interaktive Kunst: Sie schoss nicht nur selbst, sondern animierte auch das Publikum dazu, auf ihre Bilder zu zielen. Die Projektile durchschlugen eine Gipsschicht, unter der sich flüssige Farbe befand. Yves Klein benutzte mit Vorliebe das von ihm selbst kreierte Blau IKB (International Klein Blue) für monochrome Gemälde, Skulpturen und Körperabdrücke. In seinen Action-Spectacles, so nannten die Nouveaux Réalistes ihre Inszenierungen, dirigierte Klein unbekleidete Frauen, sich mit IKB zu färben, um dann ihre Körper auf Papiere zu drücken, die an Wänden und Böden befestigt waren. Untermalt wurde eine solche Aktion von einem Streichorchester, das über 20 Minuten denselben Ton hielt. Klein ging nicht nur mit ungewöhnlichen Techniken und Materialien (Pigmenten, Schwämmen, Feuer) neue Wege, sondern wir kennen den extremen Fall der Präsentation leerer Galerieräume. Damit wurde er zum Vorreiter der Minimal- und Concept Art. Pop- und Op-Art

Raysse ist einer der Vertreter der europäischen Pop-Art in den 60er Jahren. Kennzeichnend für diese ist ihre kritische Haltung gegenüber der Konsumgesellschaft. Zu dieser Kunstrichtung gehört auch Alain Jacquet (1939 – 2008), der bevorzugt mit Siebdruck arbeitete. Der Künstler hat mehrere Variationen zu dem berühmten „Frühstück im Freien“ von Manet fotografisch nachgestellt und diese als Siebrucke weiterverarbeitet.

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Victor Vasarely (1908 – 1997) stellte sich in die Tradition der geo­metrischen Abstraktion, die er weiterführte. Seine großformatigen Bilder sind mit ihren geometrischen Mustern und leuchtenden Farben, die als Kippfiguren vom Betrachter unterschiedlich – mal konvex, mal konkav – wahrgenommen werden, eine Spielart der Op-Art (Abkürzung von Optical Art). Skulptur

Im Bereich der Skulptur waren bereits vor dem Zusammenschluss der Nouveaux Réalistes (1960) Künstlerpersönlichkeiten aktiv, die maßgebend die Moderne mitgeprägt haben. Aber auch für die Bildhauerei gilt, dass sich keine Stilrichtungen bildeten, sondern dass sich jeder Künstler in einer ganz persönlichen Sprache ausdrückte. Einige von ihnen waren schon vor dem Krieg in Erscheinung getreten. Giacomettis Skulpturen verloren an Volumen, seit sich der Bildhauer 1935 vom Surrealismus abgewandt hatte. Sie wurden dünner, feingliedriger und – nach einer Phase des Miniaturformats – beinahe lebensgroß. Auch Germaine Richier (1904 – 1959), die wie Giacometti aus dem Atelier Bourdelles hervorgegangen war, beschäftigte sich in ihren Bronzefiguren mit der Wechselwirkung von Raum und Material. Étienne-Martin (eigentlich Martin Etienne, 1913 – 1995) experimentierte mit Materialkompositionen, in die er bevorzugt Textilien, Schnüre und Taue einbezog. Alexander Calder (1898 – 1976) ist bekannt für seine fragilen Mobiles, die er aus Metall und anderen Stoffen schuf. Fotografie

In der französischen Fotografie der Nachkriegszeit wurde die Dokumentarfotografie wurde groß geschrieben. Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004), der 1947 zu den Gründungsmitgliedern der Agentur Magnum Photos gehörte. Sein Credo war „der entscheidende Augenblick“, in dem ein Fotograf seinen Auslöser zu betätigen habe. Er selbst hat das Momenthafte perfekt gebannt, darüber hinaus sind seine Bilder von vollendeter Ästhetik. Größte Eindringlichkeit erreichte er mit seiner Serie von Schwarz-Weiß-Aufnahmen der letzten Lebenstage Mahatma Gandhis und der Feierlichkeiten zu seinem Tod, die 1948 in der amerikanischen Zeitschrift „Life“ publiziert wurde. Ein anderer französischer Magnum-Fotograf war Marc Riboud (geb. 1923), der u. a. dank seiner Fotoreportagen aus Asien zu Bekanntheit gelangte. Robert­ Doisneau (1912 – 1994), der auch als Werbe- und Modefotograf tätig war, machte sich einen Namen mit Straßenszenen aus Paris. Mit Vorliebe richtete er sein Objektiv auf einfache Leute, die er feinfühlig, zum Teil h­ umorvoll und oft mit einem Hauch von Melancholie in seinen Fotografien festhielt.

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Kunst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Bildende Kunst

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ie Politisierung und die damit verbundene gesellschaftskritische Haltung vieler Künstler der 60er Jahre hat der fortschreitenden Individualisierung eine zusätzliche Dynamik verliehen. In der Zeit nach 1970 verabschieden sich Stilund Epochennamen aus der Kunstgeschichte. Hinzu kommt die Auffächerung der Ausdrucksmöglichkeiten, denn neben die herkömmlichen Gattungen treten technische Möglichkeiten in Form von Video und Internet; ein völlig neues Feld haben die Installationen eröffnet. Da wir es entsprechend nicht mehr mit Werken in einem traditionellen Sinne zu tun haben, ringen auch die Kunsthistoriker um adäquate Begriffe. So spricht man neuerdings in bestimmten Zusammenhängen von Gesten und Positionen. Wir müssen uns hier darauf beschränken, die wichtigsten Persönlichkeiten und die mit ihnen verbundenen Positionen zu benennen. 1967 und 1969 bildeten sich zwei Gruppen mit der Zielsetzung, Materialität zu thematisieren und Werke hervorzubringen, die mit keinerlei inhaltlichen Vorstellungen einhergehen sollten: BMPT und Supports  /  Surfaces. Die Buchstaben BMPT stehen für die Künstler Daniel Buren (geb. 1938), Olivier Mosset (geb. 1944), Michel Parmentier (1938 – 2000) und Niele Toroni (geb. 1937). Ihre Ausstellungen wurden von Aktionen und Manifesten begleitet. Sie verwendeten ungerahmte Leinwände und reduzieren die Malerei auf Grundelemente wie Streifen, Kreise und Linien. So sollte auch die Frage nach der Urheberschaft verwischt werden. Schon im Jahr 1968 gingen diese Künstler wegen Meinungsverschiedenheiten auseinander. Von dieser Gruppe ist Buren der konsequenteste und deshalb vielleicht auch der bekannteste. Sein Grundelement sind abwechselnde weiße und farbige Streifen aus unterschiedlichen Materialien. Der Künstler hat sowohl zwei- als auch dreidimensionale Objekte geschaffen. Eine seiner größten Installationen sind die gestreiften „Säulen“ (1986), 260 an der Zahl, im Park des Palais Royal in Paris.  Die erste Ausstellung der Gruppe Supports  /  Surfaces fand im Jahr 1969 statt, der Name tauchte aber erst ein Jahr später auf. Zu diesem eher lockeren Zusammenschluss gehörten Künstler wie Claude Viallat (geb. 1936), Daniel Dezeuse (geb. 1942) und Toni Grand (1935 – 2005). Wie der Name (Bildträger  /  Bildflächen) treffend besagt, standen Fragen der Materialität im Mittelpunkt ihres Interesses. Unterschiedliche politische Ansichten ließen die Gruppe schon nach zwei Jahren wieder zerbröckeln.

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41  Daniel Buren, Die Säulen im Park des Palais Royal in Paris

Dann traten Künstler auf den Plan, die ein historisches Interesse auszeichnet. Es geht aber nicht um Geschichte im herkömmlichen Sinne. Unterschiedliche Objekte sollen Vergangenheit vergegenwärtigen. 1974 prägte Günther Metken dafür den Begriff der Spurensicherung, den er der Kriminalistik entlieh. In Frankreich sind es mehrere Künstler, die in dieser Richtung arbeiten: Christian Boltans­ ki (geb. 1944), Sophie Calle (geb. 1953), Jean Le Gac (geb. 1936), Paul-Armand Gette (geb. 1927), Anne und Patrick Poirier (beide geb. 1942). Ein Beispiel ist der französische Pavillon der Biennale in Venedig 2011, den Boltanski mit einer Installation gestaltet hat. Dort zeigte er ein Laufband mit Babyfotos, das in unregelmäßigen Abständen anhielt, so dass der Blick des Besuchers auf einzelne Fotos gelenkt wurde. Gleichzeitig erschienen auf einem Anzeiger aktuelle Zahlen zur weltweiten Geburten- und Sterberate. Neben diesen Installationen hat auch die Malerei ihre Gültigkeit nicht verloren. Die Abstraktion lebt in Ölgemälden von Soulages und Eugène Leroy

Kunst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts

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(1910 – 2000) weiter, die dank ihres pastosen Farbauftrags eine reliefartige Oberfläche besitzen. Zu den vielversprechenden Künstlern einer jüngeren Generation gehört u. a. Tatiana Trouvé (geb. 1968), die 2007 den angesehenen Marcel-Duchamp-Preis erhielt. Sie macht aus Metall und Leder fantasievolle Installationen. Auffallende Persönlichkeiten im Bereich der Fotografie sind Bettina Rheims (geb. 1952) und das Paar Pierre et Gilles (Pierre Commoy, geb. 1950, und Gilles Blanchard, geb. 1953), die fotografische Inszenierungen, überwiegend erotischen Inhalts, zu ihrem Markenzeichen gemacht haben. Architektur

Für die Baukunst im Zeitraum von etwa 1970 bis in das frühe 21. Jh. ist der Begriff der Postmodernen Architektur gebräuchlich geworden. Deren Vertreter lösten sich vom Funktionalismus vorangegangener Jahrzehnte und gingen auf ihrer Suche nach neuen ästhetischen Lösungen dazu über, freier mit Bauformen und Materialien zu spielen. Dabei scheute man sich nicht, wieder Anleihen aus früheren Epochen zu machen. Am Beginn der Postmoderne steht als Beispiel der High-Tech-Architektur das Centre Pompidou (1971 – 77) im Herzen von Paris, das die Architekten Renzo Piano (geb. 1937) und Richard Rogers (geb. 1933) entworfen haben. Sie gewannen den Wettbewerb mit einem Entwurf, der sich nach seiner Realisierung den Vergleich mit einer Erdölraffinerie gefallen lassen musste. Tatsächlich besitzt das Gebäude selbst heute noch eine gewöhnungsbedürftige Erscheinung. Die Architekten verzichteten auf eine Fassade, stattdessen wird das Innenleben eines Großbaus sichtbar. Da die bunt lackierten Versorgungsleitungen nach außen verlegt sind, hat man die Innenräume von diesem Ballast befreit. So ist ein Gebäude entstanden, dessen Erscheinung den Eindruck von Dynamik und Flexibilität vermittelt. Besonders die zuletzt genannte Eigenschaft muss das Centre Pompidou als multifunktionale Einrichtung leisten, denn in dem Gebäude ist nicht nur das Musée d’Art Moderne eingerichtet, sondern es befinden sich darin eine Bibliothek, Säle für kulturelle Veranstaltungen und das Forschungszentrum für elektronische Musik. Schon in den 60er Jahren entstand im Westen von Paris mit La Défense ein völlig neuer Stadtteil und mit ihm Frankreichs erste Wolkenkratzer. Sofort waren wieder die Kritiker auf dem Plan, die darin Zeichen der Dekadenz sehen wollten. Das hat den Elan der Auftraggeber und ihrer Architekten nicht bremsen können. Der ersten Generation nüchterner Türme folgten in den 70er, 80er und 90er Jahren eine zweite und dritte Generation, deren Bauten nicht nur gefälliger erscheinen, sondern deren Konstruktion erstmalig ökologischen Gesichtspunkten Rechnung trägt. Der Verbrauch an Energie und die damit verbundenen Kosten

Die Kunst im 20. Jahrhundert

194

wurden drastisch gesenkt. Doch erst 1989 wurde La Défense in einen sinnfälligen optischen Bezug zum Stadtkern von Paris gebracht. Anlässlich der 200-Jahr-Feier der Revolution hat der Däne Johan Otto von Spreckelsen (1929 – 1987) den Monumentalbau Grande Arche errichtet. Er erscheint wie ein ins Gigantische gesteigerter, stilisierter Triumphbogen, und als solcher bildet er mit dem Arc de Carusel und dem Arc de Triomphe eine Achse; zugleich soll man die Durchsicht, die das Gebäude erlaubt, als Blick in das 21. Jh. verstehen. Da La Défense als reines Büro- und Geschäftsviertel zu veröden drohte, begann man bald nach der Jahrtausendwende mit der Planung neuer Hochhäuser, in denen auch großzügig Wohnraum entstehen sollte. Allein, die Krisenzeit um das Jahr 2010 herum hat dazu geführt, dass sich viele Investoren von dem Vorhaben zurückgezogen haben, und ambitionierte Pläne sind wieder in den Schubladen verschwunden. Zu den zahlreichen ehrgeizigen Bauprojekten, die in den letzten Jahrzehnten aufgeführt wurden, gehören auch überraschende Beispiele des sozialen Wohnungsbaus in Paris, so z. B. der Häuserkomplex (1979) in der Rue des Hautes-Formes (13. Arr.) von Christian de Portzamparc (geb. 1944) und die Bebauung rund um die Place de Catalogne (1985) von Ricardo Bofill (geb. 1939). Angesichts ihrer hochherrschaftlichen Fassaden, deren Dekorationselemente der Architekt aus dem Formenschatz der Renaissance geschöpft hat, möchte man nicht glauben, dass sich in diesen Häusern 270 Sozialwohnungen befinden. Die Ära Mitterrand hat neben dem oben beschriebenen Grand Arche weitere Repräsentationsbauten hervorgebracht: Das Finanzministerium (1988, Architekten: Paul Chemetov, geb. 1928 und Borja Huidobro, geb. 1936), das jetzt das östliche Eingangstor zu Paris bildet; die Bastille-Oper (1990) des Kanadiers Carlos Ott (geb. 1946) mit ihrer weit schwingenden Fassade; und die vier Türme der neuen Bibliothèque Nationale (1996, Architekt: Dominique Perrault, geb. 1953), die ebenso ästhetisch wie unpraktisch sind, da die Bücher in verglasten Hochhäusern aufbewahrt werden, während man die Leser in den Keller verbannt hat. Da der innerstädtische Bereich von Paris dicht bebaut ist, sind fast alle grö­ ßeren Projekte in den Randgebieten der Metropole entstanden, so auch die Cité de la Musique, die zwischen 1984 und 1995 nach Entwürfen von Portzamparc auf dem ehemaligen Schlachthofgelände La Villette im Nordosten von Paris errichtet wurde. La Villette war damit noch nicht fertig gestellt. 2010 fand die Grundsteinlegung zur Neuen Philharmonie statt. Das Bauwerk des Architekten Jean Nouvel (geb. 1945) schichtet sich aus ineinander verschachtelten Raumkörpern auf. Man erkennt eine gewisse Verwandtschaft mit dem berühmten Guggenheim-Museum Frank Gehrys in Bilbao. Der Architekt selbst hat die bewegte Silhouette der Philharmonie mit der Nachbarschaft zu den Hügeln im nahe ge-

Kunst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts

195

42  Paris, Musée du Quai Branly (Jean Nouvel)

legenen Parc des Buttes Chaumont erklärt, auf die sie wie ein Reflex erscheinen soll. Jean Nouvel ist die zentrale Gestalt der französischen Architektur in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. und der beiden ersten des 21. Jh. Zu seinen ersten großen Aufträgen gehörte in Paris das Institut du Monde Arabe (1987), weitere Meilensteine auf seinem Weg waren die Fondation Cartier (1994) und das Musée du Quai Branly (2006). Mal setzte er auf viel Glas und Transparenz (Fondation Cartier), dann wieder auf Geschlossenheit (Musée du Quai Branly). Besonders das zuletzt genannte Beispiel verdeutlicht, dass mit Nouvel ein neues Zeitalter der Baukunst begonnen hat. Nennen wir es hier unkonventionell Ökoarchitektur. Hier geht es nicht nur um Fragen effektiver Dämmung, der Reduzierung des Energieverbrauches etc.; gemeint ist vielmehr, dass die Natur als integrativer Bestandteil in die Konzeption einbezogen wird. So steht das 200 m lange Gebäude dieses Museums auf Stelzen über einer Parkanlage (entworfen von Gilles Clément), in der überwiegend exotische Pflanzen wuchern, als hätten sie sich dort selbst ausgesät. An das Museum grenzt das von Patrick Blanc (geb. 1953) mitentworfene Verwaltungsgebäude, dessen der Seine zugewandte Fassade

Die Kunst im 20. Jahrhundert

196

gänzlich von wildem Wein und anderen Kletter- bzw. Hängepflanzen übergrünt ist. Nouvels größtes Projekt ist die Bebauung der Ile Seguin, eine Insel im Westen von Paris, die 2011 begann.  Die hier beschriebenen Bauten belegen ganz klar, dass Paris nach wie vor die wichtigste Rolle spielt. Daneben ist nicht zu übersehen, wie segensreich sich die Dezentralisation auf Frankreich ausgewirkt hat. Groß angelegte Altstadtsanierungen haben ganze Ortschaften zu neuem Leben erweckt. Wir erwähnen Sarlat, Lyon und Bordeaux als besonders gelungene Beispiele. Desgleichen sind seit etwa 1980 in vielen Städten der Provinz markante Bauten namhafter Architekten entstanden wie z. B. die Médiathèque in Nîmes von Norman Foster oder das Futuroscope bei Poitiers. Hinzu kommen jene Projekte, die die Museumslandschaft bereichert haben: das Kunstmuseum in Grenoble (1994) mit der umfangreichsten Sammlung neuester Kunst nach den Museen in Paris, das Archäologische Museum in Arles (1995) und das neue Centre Pompidou (2010) in Metz. So nimmt Frankreich in der aktuellen Gegenwart zunehmend wieder jenes Bild vielfältiger Erscheinungen an, die das Land zuletzt in der Epoche der Romanik besaß.

Literatur Vor- und Frühgeschichte, Antike, Zeit der Karolinger

Chauvet, Jean-Marie u. a.: Grotte Chauvet bei Vallon-Pont-d’Arc, Sigmaringen 2001 Chevallier, Raymond: Römische Provence. Die Provinz Gallia Narbonensis, Zürich 1982 Clottes, Jean und Courtin, Jean: Grotte Cosquer bei Marseille, Sigmaringen 1995 Hubert, Jean u. a.: Die Kunst der Karolinger (Universum der Kunst), München 1969 Laudage, Johannes u. a.: Die Zeit der Karolinger, Darmstadt 2006 Lorblanchet, Michel: Höhlenmalerei, Sigmaringen 1997 Wohlmayr, Wolfgang: Die römische Kunst, Darmstadt 2011 Romanik

Aubert, Marcel: Romanische Kathedralen und Klöster in Frankreich, Wiesbaden o. J. Demus, Otto: Romanische Wandmalerei, München 1992 Droste, Thorsten: Romanische Kunst in Frankreich, Köln 1992 Messerer, Wilhelm: Romanische Plastik in Frankreich, Köln 1964 Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich, Darmstadt 1984 Schapiro, Meyer: Romanische Kunst. Ausgewählte Schriften, zuletzt Köln 1987 Im französischen Verlag Editions Zodiaque sind zur Kunst der Romanik in den verschiedenen französischen Landschaften mehr als 40 Bände erschienen; einige davon liegen in deutscher Übersetzung vor.

Literatur

198

Gotik und Spätgotik

Binding, Günther: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350, Darmstadt 2000 Droste, Thorsten: Burgund. Kernland des europäischen Mittelalters, München 2001 Duby, Georges: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980 – 1420, Frankfurt 1985 Hartmann-Virnich, Andreas: Was ist Romanik? Geschichte, Formen und Technik des romanischen Kirchenbaus, Darmstadt 2004 Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (1923), Stuttgart 122006 Jantzen, Hans: Kunst der Gotik, Hamburg 1957 Kimpel, Dieter  /  Suckale, Robert: Die gotische Architektur in Frankreich 1130 – 1270, München 1985 Sauerländer, Willibald: Gotische Skulptur in Frankreich 1140 – 1270, München 1970 Sedlmayr, Hans: Die Entstehung der Kathedrale, Graz 1976 Simson, Otto von: Die gotische Kathedrale, Darmstadt 1972 Renaissance, Barock und Rokoko

Arasse, Daniel  /  Tönnesmann, Andreas: Der europäische Manierismus 1520 –  1610 (Universum der Kunst), München 1997 Günther, Hubertus: Was ist Renaissance. Eine Charakteristik der Architektur zu Beginn der Neuzeit, Darmstadt 2009 Harbison, Craig: Eine Welt im Umbruch. Renaissance in Deutschland, Frankreich, Flandern und den Niederlanden, Köln 1995 Hoppe, Stephan: Was ist Barock? Architektur und Städtebau Europas 1580 –  1770, Darmstadt 2003 Schultz, Uwe: Versailles. Die Sonne Frankreichs, München 2002 19. Jahrhundert

Dorn, Roland: Décoration. Vincent van Goghs Werkreihe für das Gelbe Haus in Arles, Hildesheim  /  Zürich  /  New York 1990 Feist, Peter H.: Der Impressionismus in Frankreich (Malerei des Impressionismus, 1860 – 1920, Bd. 1), Köln 1996 Keller, Harald: Französische Impressionisten (Hrsg. von Elisabeth Herget und Wilhelm Schlink), Frankfurt a. M.  /  Leipzig 1993

199

Rewald, John: Die Geschichte des Impressionismus. Schicksal und Werk der Maler einer großen Epoche der Kunst, Köln 1965 Rewald, John: Von van Gogh bis Gauguin. Die Geschichte des Nachimpressionismus, Köln 1967 Toman, Rolf (Hrsg.): Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei und Zeichnung, 1750 – 1848, Köln 2000 Von Houdon bis Rodin. Französische Plastik des 19. Jahrhunderts, Ausst. Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Heidelberg 2007 Wolf, Norbert: Klassizismus und Romantik (Kunst-Epochen, Bd. 9), Stuttgart 2002 Wolf, Norbert: 19. Jahrhundert (Kunst-Epochen, Bd. 10), Stuttgart 2002 20. Jahrhundert

Lieb, Stefanie: Was ist Jugendstil. Eine Analyse der Jugendstilarchitektur 1890 – 1910 Miller, Judith: Möbel. Die große Enzyklopädie. Vom Barock bis zur Gegenwart, Starnberg 2006 Molderings, Herbert: Die Moderne der Fotografie, Hamburg 2008 Nouveau Réalisme – Revolution des Alltäglichen, Ausst. Kat. Sprengel Museum Hannover, Ostfildern 2007 Partsch, Susanna: 20. Jahrhundert I (Kunst-Epochen, Bd. 11), Stuttgart 2002 Reisser, Ulrich & Wolf, Norbert: 20. Jahrhundert II (Kunst-Epochen, Bd. 12), Stuttgart 2008 Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, 2. ergänzte Aufl., München 2010 Syring, Marie Luise: Kunst in Frankreich seit 1966: zerborstene Sprache, zersprengte Form, Köln 1986 Walther, Ingo F. (Hrsg.): Kunst des 20. Jahrhunderts, 2 Bde. (1998), Köln 2005  

Register

200

Register Künstlerregister Abadie, Paul  146 Abate, Niccolò dell‘ (auch: dell‘Abbate) 110 Abbott, Berenice  177 Archipenko, Alexander  177 Arman (Armand Fernandez)  188, 189 Arp, Hans ( Jean)  180, 181 Atget, Eugène  177 Baltard, Victor  163 Balthus (Balthazar Klossowski de Rola)  187 Baumeister, Willy  181 Bazaine, Jean  187 Bazille, Frédéric  150, 152 Belly, Léon  162 Bernard, Emile  158 Bissière, Roger  187 Blanc, Patrick  195 Bofill, Ricardo  194 Boltanski, Christian  192 Bonnard, Pierre  159, 160, 166, 187 Bosio, François-Joseph  142 Bouchardon, Edme  133 Boucher, François  130 – 132, 134 Boudin, Eugène  150 Bouguereau, William-Adolphe  147, 160 Boulogne, Valentin de  122 Bourdelle, Emile Antoine  176, 190 Bracquemond, Marie  155 Brancusi, Constantin  176 Braque, Georges  156, 170 – 172, 187

Brassaï (Gyula Halász)  183 Brébion, Maximilien  129 Breton, André  179 Buñuel, Luis  180 Buren, Daniel  191, 192 Cabanel, Alexandre  147, 160 Caillebotte, Gustave  155 Calder, Alexander  190 Calle, Sophie  192 Camoin, Charles  169 Caravaggio (Michelangelo Merisi)  122, 123 Caron, Antoine  111 Carpeaux, Jean-Baptiste  147 Cartier-Bresson, Henri  190 Cassatt, Mary  155 César (César Baldaccini)  189 Cézanne, Paul  132, 150, 153, 155, 156, 158, 159, 169, 170 Chagall, Marc  181 Chalgrin, Jean-François-Thérèse  134, 139 Chambiges, Pierre  106 Champaigne, Philippe de  123 Chardin, Jean-Baptiste Siméon  124, 132 Chareau, Pierre  178, 182 Chassériau, Théodore  142 Chaudet, Antoine-Denis  142 Chemetov, Paul  194 Chinard, Joseph  142 Christo 189 Claudel, Camille  165 Clément, Gilles  195

Künstlerregister

201

Clouet, François  110 Clouet, Jean  110 Colombe, Michel  112 Colonna, Edouard  169 Cordier, Charles  162 Cormont, Renaud de  77 Cormont, Thomas de  77 Corot, Camille  124, 148, 152 Courbet, Gustave  138, 145, 147 – 151, 155, 164, 166 Couture, Thomas  147 d‘Honnecourt, Villard  79 d‘Orbais, Jean  75 Dalì, Salvador  179, 180 Dalou, Aimé-Jules  164 Daubigny, Charles-François  148 Daumier, Honoré  150 David, Jacques-Louis  134, 135, 140 De Chirico, Giorgio  179 Degas, Edgar  150, 152 – 155, 160, 166 Delacroix, Eugène  142, 143, 150, 161 Delaunay, Robert  172, 181 Delaunay-Terk, Sonia  172, 181 Delorme, Philibert  106, 113 Denis, Maurice  159 Derain, André  169 Deschamps, Gérard  189 Deschamps, Jean  79 Dezeuse, Daniel  191 Diaz de la Peña, Narcisse  148 Doisneau, Robert  190 Dongen, Kees van  170 Dubuffet, Jean  187, 188 Duchamp, Marcel  180, 188 Dufrêne, François  188, 189 Dufy, Raoul  170 Dupré, Jules  148 Dutert, Ferdinand  163

Eiffel, Gustave  163 Ernst, Max  180 Estève, Maurice  187 Étienne-Martin (Martin Etienne)  190 Eyck, Jan van  95, 109 Falconet, Etienne-Maurice  133 Fautrier, Jean  187, 188 Feure, Georges de  169 Fiorentino, Rosso  110 Fontaine, Pierre-Fran­çois-Léo­nard  140 Fontana, Lucio  181 Fouquet, Jean  109 Fragonard, Jean-Honoré  132, 134 Fréminet, Martin  111 Froment, Nicolas  96, 97 Fromentin, Eugène  162 Gabo, Naum  181 Gabriel, Jacques-Ange  130 Gac, Jean Le  192 Gaillard, Eugène  169 Gallé, Emile  169 Garnier, Charles  140, 146, 163 Gauguin, Paul  158 – 161, 169 Gehry, Frank  194 Gelduinus, Bernardus  45 Géricault, Théodore  143 Gérôme, Jean Léon  147, 162 Gette, Paul-Armand  192 Giacometti, Alberto  180, 190 Giovanetti, Matteo  96 Girard, Dominique  126 Gleyres, Charles  150 Gogh, Vincent van  153, 155 – 159, 169 Gonzalès, Eva  155 Goujon, Jean  113 Grand, Toni  191 Greuze, Jean-Baptiste  135

Register

202

Gris, Juan  172 Gros, Antoine-Jean  142 Guillaumet, Gustave  162 Guimard, Hector  168, 169 Hains, Raymond  188, 189 Hantaï, Simon  188 Hardouin-Mansart, Jules  117, 121 Hartung, Hans  188 Haussmann, Baron Georges-Eugène 146 Henri, Florence  183 Herbin, Auguste  181 Houdon, Jean-Antoine  136, 142 Huidobro, Borja  194 Huy, Rainer von  67 Ingres, Jean Auguste Dominique  140 – 142, 147, 161 Jacquet, Alain  189 Jongkind, Johan Barthold  150 Kandinsky, Wassily  181 Kertész, André  183 Kisling, Moïse  181 Klein, Yves  188, 189 Krull, Germaine  183 Kupka, František  181 La Tour, Georges de  124 Labille-Guiard, Adélaїde  136 Labrouste, Henri  163 Laloux, Victor  163 Laurens, Henry  177, 182 Le Corbusier (Charles-Edouard ­Jeanneret)  185, 186 Le Gray, Gustave  166 Le Lorrain, Robert  133 Le Loup, Jean  75 Le Moal, Jean  187 Le Nain, Louis, Antoine und Mathieu 124 Le Nôtre, André  126 Le Sueur, Eustache  122

Le Veau, Louis  117, 118 Lebrun, Charles  122 Ledoux, Claude-Nicolas  134 Léger, Fernand  172, 187 Lemoyne, Jean-Baptiste  133 Leonardo da Vinci  101 Leroy, Eugène  192 Lescots, Pierre  106 Lipchitz, Jacques  177, 182 Lorrain, Claude (Claude Gelée)  121 – 124, 135 Louis, Victor  130, 140 Lurçat, André  178 Luzarches, Robert de  77 Magritte, René  180 Maillol, Aristide  176 Majorelle, Louis  169 Mallet-Stevens, Robert  178 Manessier, Alfred  187 Manet, Edouard  145, 149 – 151, 155, 162, 189 Manguin, Henri-Charles  169 Mansart, François  121 Marquet, Albert  169 Martini, Simone  96 Masson, André  180 Mathieu, Georges  188 Matisse, Henri  156, 160, 169, 173 – 176, 187 Meister Gislebertus  32, 48 Meister von Flémalle  95 Metzinger, Jean  172 Michaux, Henri  188 Millet, Jean-François  124, 148, 149 Miró, Joan  180 Modigliani, Amadeo  181 Mondrian, Piet  181 Monet, Claude  150 – 152, 154, 158 Moreau, Gustave  161, 169, 173

Künstlerregister

203

Morisot, Berthe  155 Mosset, Olivier  191 Nadar (Gaspard-Félix ­Tournachon)  152, 166 Nouvel, Jean  185, 194 – 196 Ott, Carlos  194 Pajou, Augustin  142 Palladio, Andrea  134, 185 Parmentier, Michel  191 Pascin, Jules  181 Percier, Charles  140 Perrault, Dominique  194 Perret, Auguste  168, 178, 185 Pevsner, Antoine  181 Piano, Renzo  193 Picabia, Francis  172, 180 Picasso, Pablo  144, 156, 161, 169, 170, 172 – 176, 187 Pierre et Gilles (Pierre Commoy und Gilles Blanchard)  193 Pigalle, Jean-Baptiste  133 Pilon, Germain  113 Pisano, Giovanni  89 Pissarro, Camille  150, 152 – 154, 156, 158 Poirier, Anne und Patrick  192 Portzamparc, Christian de  194 Poussin, Nicolas  121 – 123 Pradier, James  142 Préault, Auguste  144 Primaticcio, Francesco  110 Prud‘hon, Pierre-Paul  142 Puvis de Chavannes, Pierre  161 Quarton, Enguerrand  96, 97 Ray, Man  180, 183 Raymond, Jean-Arnaud  139 Raysse, Martial  189 Redon, Odilon  161, 179 Régnier, Nicolas  122 Reims, Gaucher de  75

Renoir, Pierre-Auguste  132, 150, 152, 153 Restany, Pierre  188 Rheims, Bettina  193 Riboud, Marc  190 Richier, Germaine  190 Richier, Ligier  112 Rigaud, Hyacinthe  124, 125 Riopelle, Jean-Paul  188 Robert, Hubert  135 Rodin, Auguste  144, 164, 165, 176 Rogers, Richard  193 Rondelet, Jean-Baptiste  129 Rotella, Mimmo  189 Rouault, Georges  169, 170 Rousseau, Henri  160 Rousseau, Théodore  148 Rudes, François  144 Ruhlmann, Emile-Jacques  182 Saint-Phalle, Niki de  189 Sclua 34 Serlio, Sebastiano  79, 101, 109 Sérusier, Paul  159 Seurat, Georges  158 Signac, Paul  158 Sisley, Alfred  150, 152 – 154, 158 Sluter, Claus  94, 95, 109, 112 Soissons, Bernhard de  75 Soufflot, Jacques-Germain  129, 130 Soulages, Pierre  188, 192 Soutine, Chaim  181 Spoerri, Daniel  189 Spreckelsen, Johan Otto von  194 Staël, Nicolas de  187 Taeuber-Arp, Sophie  181 Tanguy, Yves  180 Tinguely, Jean  189 Toroni, Niele  191 Torres-Garcia, Joaquin  181 Toulouse-Lautrec, Henri de  160

Register

204

Trouvé, Tatiana  193 Vallatton, Félix  159 Vantongerloo, Georges  181 Vasarely, Victor  190 Vauban, Sébastien Le Prestre Marquis de  120, 126 Velde, Henry van de  168 Vernet, Joseph  135 Viallat, Claude  191 Vieira da Silva, Maria Elena  187 Vigée-Lebrun, Elisabeth-Louise  136 Vignon, Claude  122

Vignon, Pierre Alexandre  139 Villeglé, Jacques de la  189 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel  69, 90, 146 Vlaminck, Maurice de  169 Vuillard, Edouard  159, 160 Wailly, Charles de  134 Watteau, Antoine  130 – 132 Weyden, Roger van der  95, 109 Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze) 188 Zadkine, Ossip  177, 182

Ortsregister Abri du Cap-Blanc  8 Agde 11 Aiguebelle 42 Aix-en-Provence  15, 96, 97, 156 Albi 79 Amboise  101, 105, 106 Amiens  58, 60, 76 – 80, 86 – 88, 90, 91, 163 Ancy-le-Franc  101, 105 Anet  106, 113 Angoulême  36, 41, 49 Antibes 11 Anzy-le-Duc 28 Arles  13, 20, 38, 45, 156, 158, 196 Arles-sur-Tech 44 Auch  20, 98, 102 Aulnay  37, 48 Autun  14, 32, 45, 47 – 49 Auvers 157 Auxerre  16, 79 Avignon  95 – 97 Azay-le-Rideau 103 Barnenez 11 Bayonne 79 Beaucaire 38

Beaugency 43 Beaulieu-sur-Dordogne  49, 83 Beaune  95, 98 Beauvais  59, 80 – 82 Bernay 23 Berzé-la-Ville  52, 53 Besançon 120 Beynac 91 Blois  103, 104 Bordeaux  11, 20, 130, 140, 145, 196 Bourges  61, 79 Bouvines 57 Brantôme  36, 37 Briançon 120 Brou  93, 102 Caen  23, 62 Cahors  20, 36, 49 Cambrai 80 Carcassonne 91 Carennac 98 Carnac 10 Carpentras 95 Chambord  103, 104 Champmol  94, 95

Ortsregister

205

Chantilly 106 Charlieu  45, 47 Chartres  59, 60, 63, 69 – 72, 75, 76, 78, 80, 83, 85 – 88, 144 Châteaumeillant 29 Châtel-Montagne 34 Châtillon-sur-Seine 112 Chaumont 104 Chauvet 9 Chauvigny  37, 91 Chenonceaux  103 – 105, 107 Chinon 91 Cîteaux  42, 112 Clermont-Ferrand  26, 35, 48, 79 Cluny  19, 25, 28 – 30, 32, 33, 42, 52, 62 Collioure 170 Colombey-les-Deux-Eglises 184 Combarelles 8 Condom 102 Conques  20, 39, 48, 49, 51 Cosquer 9 Crest 43 Cruas 54 Die  13, 54 Dijon  25, 28, 44, 79, 94, 95, 102, 109 Dourdan 44 Eveux 186 Fécamp 28 Fenioux 48 Fontainebleau  81, 106, 109, 110, 147 Font-de-Gaume 8 Fontenay  42, 43 Fontevraud 36 Fréjus 15 Ganagobie 54 Germigny-des-Prés 16 Giverny 152

Grenoble 196 Grignan 107 Issoire  35, 48 Jaca 47 Jumièges 23 La Charité-sur-Loire  20, 30 La Garde-Adhémar  38 La Rochelle  115, 120, 162 Lanquais 107 Laon  67, 69, 74, 75, 80, 85 Lascaux  8, 9 Lastours 91 Lautenbach 39 Le Havre  185 Le Puy  20, 35, 37 Le Raincy  178 Le Thor  38 Le Thoronet  42 Les Eyzies  8 Les Milandes  107 Lescar  34, 54 Lessay 24 Limoges  20, 39, 51 Losse 107 Loudun 43 Lyon  109, 113, 130, 186, 196 Maison-Laffitte 117 Marne 167 Marseille  9, 11, 12, 185 Meaux 80 Melle 37 Metz  16, 101, 196 Moissac  20, 45, 47 – 49, 59 Monbazillac 107 Mont St-Michel  19 Montignac 8 Montmajour 38 Moulins 98 Mozat 48 Nancy  95, 168, 169

Register

206

Narbonne  12, 79 Neuilly 180 Neuvy-Saint-Sépulcre 41 Nevers  20, 25, 26, 34 Nîmes  11, 13, 38, 196 Niort 44 Nizza 11 Noirmoûtier 25 Noyon  60, 69 Orange  13, 14 Orcival  35, 51 Paray-le-Monial  30, 31 Paris Arc de Triomphe  139, 144, 194 Bastille  127, 133, 194 Bibliothèque Nationale  52, 80, 194 Bibliothèque Ste-Geneviève  163 Centre Pompidou  113, 176, 180, 181, 185, 193 Cité de la Musique  194 Ecole Militaire  129, 130 Eiffelturm  163, 172 Elysée-Palast 129 Finanzministerium   194 Fondation Cartier  195 Fontaine des Innocents  113 Grande Arche  194 Hôtel Carnavalet  109, 113 Hôtel des Invalides  121, 129 Hôtel de Rohan  133 Hôtel de Sens  109 Hôtel de Sully  120 Ile Seguin  196 Institut du Monde Arabe  195 La Défense  193, 194 La Villette  134, 194 Louvre  16, 96, 106, 109 – 113, 118, 123 – 125, 130 – 133, 135, 136, 140 – 143, 146, 185

Markthallen (Les Halles)  163 Musée de l‘Armée  140 Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris  182 Musée Marmottan  151 Musée National du Moyen-Age 90 Musée d‘Orsay  142, 148, 149, 152 – 155, 160, 162 – 164 Musée du Quai Branly  185, 195 Musée Rodin  164, 165 Neue Philharmonie  194 Nôtre-Dame, Kathedrale  61, 63, 67 – 69, 71, 72, 88, 90, 91 Nôtre-Dame-du-Travail 164 Opéra Garnier  130, 140, 146, 147, 163 Orangerie (Musée de l‘Orangerie)  152 Palais Bourbon  128 Palais de Chaillot  178 Palais de Luxembourg  120 Palais des Machines  163 Palais Royal  191, 192 Pantheon  129, 130, 163 Place de Catalogne  194 Place de la Concorde  129, 130, 161 Place Vendôme  119, 120 Place des Victoires  119, 142 Place des Vosges (Place Royale)  119 Pont Neuf  119 Sacre-Cœur  145, 146 St-Augustin 163 St-Etienne-du-Mont 114 St-Eustache  93, 102 St-Germain-l‘Auxerrois 93 St-Germain-des-Prés 71 St-Gervais 120

Ortsregister

207

St-Louis 120 St-Philippe-du-Roule 134 St-Roch 133 Sainte-Chapelle  77, 81, 82, 88, 163 Ste-Madeleine 139 Théâtre de l‘Odeon  134 Théâtre des Champs-Elysées  168 Thermen, römische  13 Pech-Merle 8 Périgueux  20, 36 Perpignan 79 Pézenas 109 Plaimpied 45 Poissy 178 Poitiers  15, 20, 37, 49, 79, 91, 196 Pons 43 Pont-à-Mousson 98 Pont-Aven   158 Reims  16, 59, 61, 72 – 76, 78 – 80, 87 – 90, 112 Rieux-Minervois 41 Riez 15 Ronchamp 186 Rosheim 39 Royan 185 Royaumont 81 Saintes  14, 48 Saintes-Maries-de-la-Mer 38 Saint-Rémy-de-Provence 157 Sarlat 196 Sélestat 39 Sénanque  42, 43 Sens 84 Silvacane  42, 43 Simiane-la-Rotonde 44 Soissons 69 Solesmes 112 Somme 167

Sorde-l’Abbaye 54 Souillac  36, 45, 49 St-Denis  51, 59, 62, 64 – 66, 70, 72, 81 – 83, 113, 146 St-Genis-des-Fontaines 44 St-Germain-en-Laye 106 St-Gilles  20, 45, 48 – 50, 63, 98 St-Martin-du-Canigou  17, 33, 34 St-Michel-d‘Entraygues 41 St-Michel-de-Cuxa 33 St-Mihiel 112 St-Nectaire  35, 48 St-Paul-Trois-Châteaux  38, 54 St-Quentin 79 Straßburg  52, 55, 79, 133 St-Rémy de-Provence  14 St-Restitut 38 St-Savin-sur-Gartempe  37, 51 St-Sever  29, 52 Tonnerre 98 Toul 101 Toulouse  11, 14, 20, 39, 40, 45, 47, 49, 91, 98 Tournus  23, 25, 27, 44, 54, 62 Tours  15, 16, 20, 26, 39, 110 Trémolat 36 Troyes 79 Uzerche 37 Vaison-la-Romaine 38 Vallauris 175 Vaux-le-Vicomte  117, 118, 126 Vence 174 Verdun  15, 39, 101, 167 Versailles 116 – 118, 122, 126, 129, 145 Vézelay  20, 28, 30, 45 – 49, 63 Vichy 168 Vienne 14 Villandry  107, 108 Villeneuve-lès-Avignon  96, 97

Abbildungsnachweis

208

Abbildungsnachweis Archiv für Kunst und Geschichte (AKG), Berlin: Abb. 11, 22, 34, 35, 36, 37, 39 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  André Held: Abb. 24, 31, 33 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Bildarchiv Monheim: Abb. 10, 12, 21, 40 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Erich Lessing: Abb. 19, 28, 30, 38 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Hervé Champollion: Abb. 26 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  IAM  /  World History Archive: Abb. 25 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Joseph Martin: Abb. 13, 23, 41 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Laurent Lecat: Abb. 32 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Maurice Babey: Abb. 27, 29 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Robert O‘Dea: Abb. 42 Archiv für Kunst und Geschichte (AKG)  /  Stefan Drechsel: Abb. 14 bpk: Abb. 1 Droste, Hilja: Abb. 4, 5, 7, 15, 20 Droste, Thorsten: Abb. 2, 3, 6, 8, 9, 17, 18 Picture-Alliance  /  Jean Bernard: Abb. 16