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German Pages 268 [270] Year 2022
Kempowski-Jahrbuch
KempowskiJahrbuch Für das Kempowski-Archiv-Rostock. Ein bürgerliches Haus e.V., die Kempowski Stiftung Haus Kreienhoop und den Lehrstuhl für Neuere und neueste deutsche Literatur der Universität Rostock Herausgegeben von Lutz Hagestedt, Carolin Krüger, Katrin Möller-Funck und Stephan Lesker
Band 1 2022
ISBN 978-3-11-078401-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078408-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078411-4 ISSN 2751-4323 Library of Congress Control Number: 2022946180 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Bernhard Springer, „Im Kreidestaub“, 2022, 65 x 90 cm, Acryl & Sprühlack auf Wellpappe/Leinwand, nach einer Aufnahme von Lars Lohrisch aus dem Jahre 1980. Entwurf der Einbandgestaltung von Ricardo Ulbricht. Satz: Ricardo Ulbricht Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort der Herausgeber VII
Teil A: Aus dem Archiv Georg Klein Sandtrinker 3
Teil B: Mark und Bein Geleitwort der Herausgeber zu Mark und Bein Die Ästhetik des Teils-Teils 11 Torsten Voß Zwischen Vertrautheit und Fremdheit – Die Heimatnarrative des Jonathan Fabrizius 23 Carolin Krüger Gegen den Strich gebürstet – Phraseologismen und ihre Funktionen in Walter Kempowskis Mark und Bein 47 Stephan Lesker »Wie ein Kugelblitz fuhr Helligkeit in sein Gehirn.« – Die Ostpreußenfahrt des Jonathan Fabrizius als Traumaverarbeitung 87 Lutz Hagestedt Einkommen und Auskommen – Intrinsische Veredelungsprozesse in Mark und Bein 107 Volker Ladenthin Memoria der Grausamkeit: Walter Kempowskis Episode Mark und Bein 135
Teil C: Varia Aus der Erinnerung von Lars Lohrisch Ein erfahrener Regisseur 179
Gerhard Henschel »Die Wahrheit war interessanter als das, was man sich ausdenken kann.« – Gespräch mit Walter Kempowski in Nartum, 24. April 2007 181 Ralf Georg Bogner »Auf dem Gedankenstrich«? – Die Kritik eines Leseabends von Walter Kempowski in der Berliner tageszeitung vom 28. März 1992 201
Teil D: Spatien – Kempowski im Kontext Katrin Möller-Funck/Stephan Lesker Mehr als ein »Tonsurfilm«. Kempowskis »langer Abschied« von Rostock – dokumentiert von einem Kamerateam 209
Teil E: Literaturbericht Manfred Dierks Der überzeitliche Kempowski – Bemerkungen zum Kempowski-Handbuch 227
Teil F: Kempowski-Projekte Ralf Salomon Schöne Aussicht – Borwinstraße 233 Personenregister 257
Vorwort der Herausgeber »Was gibt es Neues?« Mit dieser Frage eröffnete der Lehrer Walter Kempowski täglich seinen Unterricht. Er ließ sich von seinen Schützlingen erzählen, was sie am Vortag so erlebt hatten, und machte dann daraus eine seiner berühmten Tafelgeschichten.1 Das erzählerische Prinzip, aus einem Stichwort oder einer Beobachtung eine kurze Erzählung zu machen, hat Kempowski in seinem Lehrer Böckelmann und dessen Tafelgeschichten vorgeführt. Eine dieser Vignetten trägt den Titel Kempowski. »Wie heißen man noch die Bücher, die er geschrieben hat?«, wird dort gefragt. Und es wird empfohlen: »Vielleicht lest ihr sie mal, sie sind gar nicht so schlecht.«2 Auch der erste Band unseres Kempowski-Jahrbuches fällt unter die Kategorie »Was gibt es Neues?« Und würde man dereinst eine ähnliche Empfehlung aussprechen, wie Herr Böckelmann es für die Texte Kempowskis tut, wären wir nicht unzufrieden. Doch der Reihe nach. Seit 2004 erscheint in unregelmäßiger Folge unter dem Titel Die Spatien eine Schriftenreihe des Kempowski-Archivs-Rostock. Schon mit der ersten Nummer wurde dieses Periodikum ein wichtiges Sammelbecken der Kempowski- Forschung, denn es erschienen nicht nur wissenschaftliche Aufsätze zum Kempowski-Kosmos, sondern auch Quellentexte. So wurden die Abschriften der Lebenserinnerungen Margarethe und Robert Kempowskis hier publiziert. Nach seiner Haftentlassung 1956 befragte Walter Kempowski seine Mutter und seinen Bruder, hielt ihre Erzählungen auf Tonband fest und nutzte diese Aufzeichnungen als Quelle für das, was später seine Deutsche Chronik werden sollte. Diese Zeugnisse wurden durch die akribische Arbeit des Kempowski-Archivs erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Pläne, aus diesen Spatien ein Jahrbuch zu formen, existierten schon länger und werden nun endlich in die Tat umgesetzt. Der Gedanke der Spatien wird jedoch weitergeführt: Neben wissenschaftlichen Aufsätzen soll jedes Jahr auch ein »Fundstück aus dem Archiv« vorgestellt und kommentiert werden. Diese Rubrik wird das Jahrbuch eröffnen, und wir sind sehr froh, dass wir für den Auftakt Georg Klein gewinnen konnten.
1 Vgl. dazu: Kempowski der Schulmeister. Beschrieben von Michael Neumann. Fotografiert von Lars Lohrisch. Braunschweig: Westermann 1980. 2 Walter Kempowski: Herrn Böckelmanns schönste Tafelgeschichten nach dem ABC geordnet und wiederum illustriert von Roswitha Quadflieg. Hamburg: Knaus 1983, S. 64. https://doi.org/10.1515/9783110784084-203
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Vorwort der Herausgeber
Ganz verloren soll der Titel Spatien (Zwischenräume) dann auch nicht sein: In jeder Lieferung wird es eine Rubrik dieses Namens geben, die »Kempowski im Kontext« beleuchten soll. Gewidmet ist dieser Teil des Jahrbuches den »Zwischenräumen« seines Werkes, also den Nebenschauplätzen und Beitexten: den Bildbänden, zu denen er Vorworte, Aufsätze oder Fotos beisteuerte, Zeitungsartikel etc. Hier geht es uns darum, zu zeigen, wie Kempowski sich zu dem jeweiligen Projekt stellte, wie er das endgültige Resultat bewertete, wie das Verhältnis zu den jeweils Verantwortlichen war usw. Den Anfang macht die Filmdokumentation von Kempowskis erstem Rostock-Besuch nach der »Wende«. Neu ist, dass wir in jedem Band gezielt ein spezielles Thema resp. ein eigenes Werk Kempowskis in den Vordergrund rücken wollen. Wir beginnen nicht zufällig mit der 1992 erschienenen Erzählung Mark und Bein. »›Mark und Bein‹ durch die politische Entwicklung ziemlich problematisch. Wer interessiert sich jetzt noch für eine Reise nach Polen? Alle wollen doch in die DDR.« Diese Einschätzung vertraute Walter Kempowski seinem Tagebuch am 14. März 1990 an.3 Er ahnte voraus, welches Schicksal seine als »Episode« betitelte Erzählung ereilen sollte. Die Rezeption blieb bis auf wenige Ausnahmen zunächst spärlich. Besprochen wurde das Buch eher beiläufig und oberflächlich. So las man in der FAZ bspw., der Haupteinwand gegen das Buch sei, dass Kempowski »zu Polen, zu den Polen« nichts einfiele.4 Im Handelsblatt war von »verschwiemelte[r] Langatmigkeit«, die dieses Buch ausmache, die Rede.5 Wissenschaftliche Stimmen sprachen dann allerdings doch relativ schnell von den Potentialen der Erzählung: Die »satirisch angelegte Selbstenthüllung der Figuren« müsse erkannt werden, schrieb Dietmar Pertsch bereits 1996 in seiner Studie Deutsch-polnische Begegnungen im Spiegel der Literatur.6 Es ist in der Tat bemerkenswert, dass diese Selbst-
3 Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006, S. 151. 4 W. Ross: Umsonst. Walter Kempowski in Polen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 97, 25.4.1992, Beilage »Bilder der Zeiten« unpag. 5 Wolf Scheller: Walter Kempowskis »Mark und Bein«. Mit Klischees wohlvertraut. In: Handelsblatt 112, 12./13.6.1992, S. G5. 6 Dietmar Pertsch: Deutsch-polnische Begegnungen im Spiegel der Literatur. Eine kleine Literaturgeschichte zum Verhältnis von Deutschen und Polen in Werken deutschsprachiger Erzähler des 20. Jahrhunderts über die heute in Polen gelegenen, einstmals deutschen Gebiete Ost- und Westpreussen, Danzig, Hinterpommern und Schlesien. Über Erzählungen und Romane von Horst Bienek, Johannes Bobrowski, Christine Brückner, Gustav Freytag, Günter Grass, Ursula Höntsch, Walter Kempowski, Siegfried Lenz, Leonie Ossowski, Rotraut Schöne, August Scholtis, Arno Surminski und Ernst Wiechert. Berlin: Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung und Schulentwicklung 1996 (Beiträge zur Information und Dokumentation), S. 43.
Vorwort der Herausgeber
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enthüllung der Figuren nicht zu einer lebhafteren Rezeption geführt hat. Da wäre bspw. Anita Winkelvoss, die von Konzentrationslagern nichts mehr hören will, weil sie damit in der Schule bereits geelendet worden sei. Da wäre Hansi Strohtmeyer der mit seiner forschen, ja zuweilen pietätlosen Art Anstoß erregt. Überhaupt ist Mark und Bein voll von provokanten Szenen und Figuren, die Anstoß erregen sollen. Die »Episode« ist alles andere als politisch korrekt angelegt: Sie kann als Versuch über die Grausamkeit gelten und muss als solcher die Rezeptionsgemeinde herausfordern. Dieser Herausforderung haben sich die Beiträgerinnen und Beiträger unseres ersten Kempowski-Jahrbuchs gestellt. Die am Thema des Jahrbuches orientierten Beiträge werden jeweils das Gros der Texte ausmachen. Aber wir wollen natürlich auch anderen Themen der KempowskiForschung Raum lassen und haben darum eine Rubrik »Varia« eingerichtet, die Platz für Aufsätze abseits des Hauptthemas bietet. Wir bedanken uns herzlich bei Gerhard Henschel, der uns für den ersten Band ein unpubliziertes Interview mit Kempowski zur Verfügung gestellt hat. Es datiert aus dem Jahr 2007, dem Todesjahr unseres Autors. Es hat somit einen immensen Quellenwert, stellt es doch eine Art Werkrückschau des Schriftstellers dar, die einige neue Perspektiven eröffnet. Zu einem Jahrbuch gehört auch immer ein Bericht über aktuelle Forschungsliteratur. Manfred Dierks, ein langjähriger Weggefährte Kempowskis, hat für diesen Band seine Gedanken zum Kempowski-Handbuch beigesteuert. Eines unserer Anliegen mit diesem Jahrbuch ist es des Weiteren, über aktuelle Projekte rund um Kempowski zu informieren. Wir berichten in diesem Band von den Kempowski-Tagen 2021, die unter dem Thema Sichtachsen. Die Stadt als Schauplatz und Inhalt verschiedene thematisch orientierte Stadtrundgänge in Rostock anboten. Einer dieser Rundgänge führte die Teilnehmenden in die sogenannte Kröpeliner-Tor-Vorstadt – den Stadtteil also, in den es Walter Kempowskis Eltern in der Zwischenkriegszeit verschlagen hat. Die Entstehung des vorliegenden ersten Bandes wäre ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. Wir danken dem De Gruyter Verlag für die Aufnahme und Betreuung unseres Projektes. Der Fotograf Lars Lohrisch steuerte das Titelbild bei, das Bernhard Springer künstlerisch bearbeitet hat. Ricardo Ulbricht hat Satz und Korrektur des Bandes besorgt. Wir werden es ihnen lohnen im späteren Leben, einstweilen besten Dank! Carolin Krüger, Katrin Möller-Funck, Lutz Hagestedt und Stephan Lesker Rostock, August 2022
Teil A: Aus dem Archiv
Georg Klein
Sandtrinker Beizeiten, also ganz früh am Morgen, noch bevor der Horizont Wasser und Himmel beruhigend deutlich scheidet, ziehen meine neuen Freunde über den Strand. Dass die Beiden und ich uns dort kennenlernen durften, ist einem Mangel zu verdanken. Um meinen Schlaf war es chronisch miserabel bestellt. Nach stundenlangem, elendem Herumwälzen, nach unnütz selbstquälerischem Gegrübel floh ich aus dem Bett und marschierte ans Meer, in der Hoffnung, mich dort, zügig ausschreitend, derart zu erschöpfen, dass es irgendwann zu einem erneuten Müdewerden und mit etwas Glück zu einem oberflächlichen Dösen in einem der taufeuchten Strandkörbe reichen würde.
Abb. 1: Bierseidel mit Sand von der Frischen Nehrung, gesammelt und aufbewahrt von Walter Kempowski. Standort: Haus Kreienhoop, Nartum. Foto: Joachim Kloock. »Jonathan bückte sich und nahm ein wenig Sand und schüttete ihn in Marias Medizinfläschchen. Ein Kriminalinstitut hätte vielleicht mikroskopische Splitter seines Vaters ausmachen können zwischen den winzigen braunen, schwarzen und quarzenen Steinchen.« (Mark und Bein)
Als ich die Beiden, die meine Freunde werden sollten, zum ersten Mal aus dunstiger Ferne auf mich zukommen sah, verschmolzen mir ihre Gestalten und der Umriss ihres Gefährts zunächst zu einer irritierenden Einheit. Langsam wuchs sich das Verwischt-Massige dann zu etwas Doppelköpfigem aus, und schließlich https://doi.org/10.1515/9783110784084-001
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Georg Klein
löste sich eine Gestalt aus dem Gesamtbild, um, separat geworden, ein Stück beiseite zu treten, sich zu bücken und etwas aufzunehmen, was offensichtlich nicht am Strand liegen bleiben sollte. Nachdem ich wenig später sicher erfasst hatte, dass da zwei Männer an einer Art Deichsel zogen, erstaunte mich vor allem die Schlichtheit, ja Primitivität des Fahrzeugs. Es besteht aus einem recht großen Drahtkorb, montiert auf einen Unterbau aus Aluminiumstreben, rechts und links ein gut kniehohes Rad, die Reifen so breit, dass diese ihr Profil auch bei gefülltem Korb nicht allzu tief in den Sand prägen. Es dauerte, bis wir drei uns näher kennenlernten. Anfangs war es bei einem Blickwechsel und einem freundlichen Nicken geblieben, dann kam es zu einem meinerseits mehr gemurmelten, denn gerufenen »Guten Morgen!«, und eines Tages blieb ich einfach stehen und wartete, ob die beiden dies ebenfalls tun würden. Und wirklich: Wenige Schritte vor mir hielten sie inne und ließen die Querstrebe der Deichsel sinken. »Und? Heute schon etwas Besonderes gefunden?«, hörte ich mich sagen und genierte mich umgehend für diese Frage, als wäre sie trivial und zudringlich zugleich, als würde ich, wie es mir leider oft genug passiert, den richtigen Ton, die in dergleichen Momenten angebrachte Geläufigkeit, erneut verfehlen. Seit ich schlimm schlecht schlief, seit mir zuletzt Nacht auf Nacht nur noch eine einzige Stunde, allerhöchstens eineinhalb Stunden lückenlosen Schlummers gelangen, hoffte ich in einem paradoxen Optimismus, irgendein Umstand, der aus heiterem Himmel in mein Leben träte, könnte das Blatt wieder wenden und mich, als wechsle die Zeit ihre Richtung, erneut zu einem machen, der sich nicht um eine erquickliche Nachtruhe sorgen müsste. Um dieser fast abergläubisch innigen Erwartung eine Gelegenheit zu schaffen, hatte ich das Angebot eines Freundes angenommen, seine Ferienwohnung an der See zu nutzen. Hier am Wasser, hier in der salzgesättigten Luft sollte sich wieder regeln, was mir Jahre, ja Jahrzehnte lang nicht einmal als eine gnädig geregelte Ordnung, als ein allnächtliches Geschenk bewusst gewesen war. »Und? Heute schon etwas Besonderes gefunden?« Noch hatten mir die beiden hierauf nicht geantwortet. Aber jetzt nickten sie immerhin, seltsam gleichzeitig und merkwürdig verzögert, als hätte es in ihren Köpfen eine synchrone Spanne gebraucht, um meine Frage nach dem besonderen Fund zu bedenken. »Ja,« und dann »Ja, doch«, erwiderten sie nun verspätet und ließen sogar noch ein »Ja, heute schon!« folgen. Und im selben Moment waren ihre Ober körper bereits über den Behälter gebeugt, welchen sie mir eben noch einträchtig still entgegengezogen hatten.
Sandtrinker
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Bei unserem bisherigen Aneinander-Vorübergehen war mein Blick stets auch über die Fracht ihres Gefährts geglitten. Sie bestand aus einem Sammelsurium jener Artefakte, welche an die Küste gespült werden, nachdem man sie draußen als unnütz geworden über Bord geworfen hat. Müll sind diese Dinge, mehr oder weniger kaputtes Zeug, zum Teil aus Holz, zum Teil aus Kunststoff. Als Abfall werden sie jeden Morgen vom Strand gesammelt, aber schmutzig schienen sie mir dennoch nicht. Denn Licht und Salz und Sand haben ihre Oberflächen einem besonderen Bleichen und Schmirgeln und damit fast einer Art Reinigung unterworfen. Sauberkeit kann unter freiem Himmel zu einem schwierigen Begriff werden. In geschlossenen Innenräumen geht es an, von besenrein, von gründlich gesaugt oder Rundum-feucht-Gewischt zu reden. Die Wohnung, die mir mein Freund überlassen hat, wird einmal in der Woche von einer Reinigungskraft in einen Zustand versetzt, den man piccobello sauber nennen kann. Und wie in meinen eigenen vier Wänden im Binnenland achtete ich auch als Gast am Meer von Anfang an penibel darauf, nicht unnötig Schmutz über die Schwelle zu tragen. Aber gerade der Sand nimmt seine eigenen Schlupfwege. Gleich während der ersten der hiesigen, leidergottes weiterhin schlafarmen Nächte, war mir nach dem Zähneputzen ein fühlbares Körnchen Strandsand im Mund verblieben und hatte sich erst nach einigem Speicheln, nach Zungenspitzenherumschieben und nervösem Schlucken schlussendlich Richtung Kehlkopf und in die Speiseröhre hinab manövrieren lassen. Nun, wo ich neben meine zukünftigen Freunde getreten war und abwartete, was sie mir als jenen besonderen Fund, nach dem ich erfolgreich gefragt hatte, präsentieren wollten, fiel mir auf, bei wie vielen der aufgesammelten Objekte es sich um Behälter handelte: Ein Eimer und ein Eimerchen, Kanister, sogar ein löchriger Topf und zahlreiche Flaschen aus Plastik. Vierhändig hatten sich die Beiden inzwischen in die Tiefe des Drahtkorbs gegraben, und vierhändig, als wäre eine besondere Behutsamkeit vonnöten, hoben sie ins morgendliche Licht, was ich gleich mit dem ersten Hinschauen als ein spezielles Behältnis bestimmen konnte. Dinge zu benennen ist meist bequemer als sie zu beschreiben. Zumindest nimmt die Bezeichnung durch ein einziges Wort die zweitkürzeste Wegstrecke hin zu einem Gegenstand. Nur das bloße Vorzeigen des fraglichen Dings ist noch direkter, weil es kein einziges Wort braucht, um die jeweilige Sache in die Wirklichkeit eines gemeinsamen Wahrnehmens zu vermitteln. »Schlummertrunk gefällig?« Einer der beiden hatte mich dies gefragt, während ich noch stumm den Humpen aus Glas bestaunte, der in der Tat ein besonderes Fundstück vorstellte. Der Klappdeckel, der ihn verschloss, schien irgendwie festgeklebt oder eingespannt, vielleicht klemmte sein Scharnier. Nur so war zu erklären, dass genug
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Luft im Gefäß eingeschlossen geblieben war, um den Seidel wie eine Boje eigener Art Richtung Strand torkeln zu lassen. »Schlummertrunk gefällig?« Gleich einem Geschenk hatte ich das Ding aus den Händen meiner Freunde in Empfang genommen und konnte, als ich seine gläserne Wandung gegen den hell gewordenen Himmel hielt, gut erkennen, dass der nicht einmal fingernagelhohe Bodensatz, den es enthielt, aus hellen und dunklen, aus zum Teil nahezu weißen, zum Teil ganz schwarzen Sandkörnchen bestand. Ein gepflegter Strand, einer, der frühmorgens abgegangen wird, um das Angeschwemmte aufzusammeln, kann wenig später, im vormittäglichen Sonnenlicht wie kaum ein anderes Gelände den trügerischen Eindruck erwecken, seine Oberfläche wäre sauber, ja in gewisser Weise sogar rein. Welcher Strandgänger würde dieser Täuschung nicht ab und an liebend gerne erliegen. Es ist nicht übertrieben, von Schönheit zu sprechen. Ja, ein derart blendend leerer Strand vermag sich vor uns zu erstrecken, als begänne mit ihm die Welt. »Schlummertrunk gefällig?« Als der Deckel des Humpens hochsprang, machte sein Scharnier ein seltsam wohlig seufzendes Geräusch. Ich sank in die Hocke und drückte den Rand des Gefäßes kurz ins Wasser, um seinen Inhalt frisch zu befeuchten. Ich spürte den Blick meiner beiden Freunde, während ich den Seidel schwenkte, so lange, so gründlich, bis ich seinen Inhalt in kreisende Bewegung versetzt hatte und mich der schaumige Strudel ein Fleckchen des gläsernen Grundes sehen ließ. Aufgestanden nahm ich einen ersten kleinen Schluck. Und dann ließ ich, die Augen geschlossen, den Rest folgen, wohl wissend, dass er aus nicht viel mehr als uraltem, durch und durch schmutzigem, innig verdrecktem, salzig geschmacklosem Sand bestand. Mittlerweile schlafe ich schon deutlich besser. Aus der einzigen kümmerlichen Stunde, die mir zuletzt vergönnt gewesen war, sind nach und nach zwei, in den letzten Tagen sogar annähernd drei Stunden geworden. Womöglich kann einer wie ich, ein allmählich Genesender, sogar im Gehen schlafen. Es gibt etwas, das hierfür spricht. Seit ich meinen Humpen mit einem Stück Schnur, welches ebenfalls vom Strand stammt, an meinen Gürtel geknotet trage, unterlaufen mir Absenzen, Bewusstseinslücken, die unterschiedlich lange Wegstücke verschlucken, ohne dass es mir gelänge, sie in irgendein Erinnern zurückzurufen. Nicht selten fällt auch das obligatorische Erscheinen meiner Freunde just in eine dieser bildlos gewordenen Passagen. Obwohl wir uns begegnet sein müssen, kann ich mich dann nicht entsinnen, sie getroffen zu haben. Ich bedauere dies, vermag es aber nicht willentlich zu ändern. Was da fehlt, was sich immerhin noch als eine Art Leerstelle bemerkbar macht, bleibt unentsinnbar verloren.
Sandtrinker
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»Kann einer wie ich im Gehen schlafen?« Erneut beschäftigt mich diese Frage. Ich habe sie mir gerade, flott marschierend und allmählich müde werdend, selber, als würde ich meine Stimme hören wollen, halblaut gestellt. Ich blinzle. In der Ferne kann ich meine beiden Freunde und ihr Gefährt als einen dunklen Klumpen, wie eine Verdichtung des Dunstes erkennen. Sie kommen. Meine Finger lösen den Bändel. Meine Rechte umschließt den Henkel meines Seidels. »Habt Ihr etwas Besonderes gefunden?« »Ja. Ja doch, mein Lieber. Ja, heute schon.« »Freunde, kann einer wie ich im Gehen schlafen?« »Warum nicht. Warum soll dir das nicht möglich sein. Schlummertrunk gefällig?«
Teil B: Mark und Bein
Die Ästhetik des Teils-Teils Geleitwort der Herausgeber zu Mark und Bein Eine der vielleicht härtesten Debatten, die nach 1945 über Literatur geführt wurden, verdanken wir Theodor W. Adorno, der – Stichwort »Lyrik nach Auschwitz« – die These vertrat, dass die deutschen Dichter infolge des Holocaust ihre Unschuld verloren hätten: Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.1
Nicht ganz so folgenreich, aber ähnlich rigoros bedachte Adorno »Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans« (1954): »es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt.«2 Adorno verurteilte vor allem den »Gestus kunstgewerblicher Imitation«, dessen sich der moderne Stifter-Epigone bediene – als beredtes Beschweigen des Holocaust: Er machte der Lüge sich schuldig, der Welt mit einer Liebe sich zu überlassen, die voraussetzt, daß die Welt sinnvoll ist, und endete beim unerträglichen Kitsch vom Schlage der Heimatkunst. 3
Adornos Essay, der hier Platons klassische ›Dichterkritik‹ aufgreift, aber den Topos der »Lüge« in die Zwillingsformel von »Kitsch« und »Heimatkunst« fasst, hat damit bei vielen Deutschen einen Nerv getroffen, aber nicht nur Zustimmung geerntet. Denn ursprünglich für den RIAS Berlin konzipiert, brüskierte sein Vortrag auch den Nachkriegsleser: »Vorstellungen wie die, daß einer sich hinsetzt und ›ein gutes Buch liest‹, sind archaisch.«4 Archaisch und geschichtsvergessen. Thomas Mann hatte den Finger in dieselbe Wunde gelegt, als er 1945 in seinem »Brief nach Deutschland« bekannte, dass er die »naive Unmittelbarkeit des Wiederanknüpfens, so, als seien diese 12 Jahre garnicht gewesen«, nicht ertragen könne:
1 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. Zitiert nach: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, hg. von Petra Kiedaisch. Stuttgart: Reclam 1995 (Reclams UniversalBibliothek, 9363), S. 27–49, hier S. 49. 2 Theodor W. Adorno: Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans. Erstdruck in Akzente. Jg. 1 (1954) H. 5, S. 410–416. Veränderter Nachdruck unter dem Titel »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« in: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1958, S. 61–72, hier S. 61. 3 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 62. 4 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 63. https://doi.org/10.1515/9783110784084-002
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Geleitwort der Herausgeber zu Mark und Bein Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 45 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.5
Solche Bücher gehörten »eingestampft«, weil sie den ›Zivilisationsbruch‹ ignorierten und ein »beängstigendes Land« als Heimat verklärten.6 Weil sie »KulturPropaganda« für das ›Dritte Reich‹ gemacht hätten: Ein Kapellmeister, der, von Hitler entsandt, in Zürich, Paris oder Budapest Beethoven dirigierte, machte sich einer obszönen Lüge schuldig – unter dem Vorwande, er sei ein Musiker und mache Musik, das sei alles. Lüge aber vor allem schon war diese Musik auch zu Hause.7
Musik als Politikum – aus Kempowskis Adorno-Phase und -Emphase wissen wir, wie sehr ihn solche Überlegungen geradezu elektrisierten: Literatur: Adorno, »Kritik des Musikanten«, ein selten klarer Aufsatz, treffende Kritik an der Singbewegung. Mir wird so vieles klar, was ich bisher immer unbewußt abgelehnt habe!8
Kempowski, der sich drastisch zu dieser Form der Kulturkritik äußerte (Adorno »schlug ein wie eine Bombe«9), ging entsprechend auf Distanz zum Heimatbegriff und verurteilte alle Deutschtümelei: »Stimmen der Dichter«, zuerst Anna Seghers, kaum zu verstehen, eine Foltersache aus dem »Siebten Kreuz«. [...] Danach der unerträgliche Carossa mit einem Brunnengedicht, mit besonnter Stimme las er. Und so etwas bietet er seinen Hörern im Jahr 1947! Ein besonders ekelhafter Fall von Verdrängung.10
Die Verdrängung, von der hier die Rede ist, wird schon durch Kempowskis bewusst paradoxe Charakterisierung der Lesung Carossas deutlich, der ausgerechnet mit »besonnter Stimme« ein Brunnengedicht vorgetragen habe, das höchstwahrscheinlich mit den Worten »Lösch aus dein Licht und schlaf!« beginnt
5 Thomas Mann: Brief nach Deutschland [Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe]. In: Ders.: Essays VI. 1945–1950. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Herbert Lehnert. Frankfurt/M.: S. Fischer 2009, S. 72–82, hier S. 76. 6 Mann: Brief nach Deutschland, S. 76. 7 Mann: Brief nach Deutschland, S. 77. 8 Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970, hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 204. 9 Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 206. 10 Walter Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. München: Knaus 1990, S. 609 (Eintrag vom 17.12.1983).
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und in dessen Fortgang allenfalls vom »Sternenschimmer«, nicht aber von Sonnenschein gesprochen wird:11 Die Performanz passt nicht zum Text. Dichter wie Carossa haben sich, so Kempowskis Vorwurf, in Beschaulichkeit eingerichtet. Der Schriftsteller gleicht hier ein wenig dem träumerischen Kind Boteros, das durch Adornos Erkenntnisblitz aus seiner Apathie und Anamnesis gerissen wird. So kann dann ein Prozess der Selbstbesinnung in Gang kommen und seine eigene Dynamik entwickeln. Aber war nicht schon die Deutsche Chronik Selbstbesinnung gewesen, Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld und Scham, dem Maß des Schreckens der historischen Hypothek angemessen? Wie es scheint, kann die Sühne zur Schuld nicht ins Maß gesetzt werden: Genug ist hier niemals genug. Zumal hier auch noch der Vorwurf auf Kempowski lastet, die eigene Familie zerstört zu haben. Trifft dieser Vorwurf nicht auch Jonathan Fabrizius, dessen Mutter bei seiner Geburt »draufgegangen« ist? In den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang seiner Adorno-Lektüren fallen bei Kempowski heftige Träume von Vater und Mutter: Traum: Mein Vater und ich haben uns eng umschlungen. Endlich ist er zurückgekehrt. »Denke dir«, sage ich, »ich habe so oft geträumt von dir. Und immer war es, als machtest du mir Vorwürfe, als sei ich vor dir schuldig geworden!« Vater lachte befreit oder befreiend auf und beruhigte mich, es sei ja jetzt alles vorbei.12
Roman nach Auschwitz Liest man vor diesem Hintergrund den kleinen Roman Mark und Bein, dann möchte man fast den Eindruck gewinnen, dass Adornos Ästhetik ihm Pate gestanden habe. Belegen lässt sich nur, dass vielfältige Adorno-Lektüren Kempowski fortan begleitet haben, und dass prominente Texte wie etwa die Minima Moralia zu Zeiten der Entstehung des Echolots, als Kempowski zeitgleich an Mark und Bein arbeitete, erneut ins Blickfeld des Schriftstellers gerieten: In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er
11 Hans Carossa: Der alte Brunnen. In: Zeichen der Zeit. Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden. Band 4. Verwandlung der Wirklichkeit, hg. von Walther Killy. Frankfurt a. M./Hamburg: S. Fischer 1958, S. 184. 12 Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 206.
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Geleitwort der Herausgeber zu Mark und Bein sich niederläßt, wohl fühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.13
Nichts könnte die Heimatlosigkeit des Jonathan Fabrizius besser illustrieren als dieses Adorno-Zitat aus den 1944/45 »geschriebenen Aufzeichnungen« der Minima Moralia,14 und es ist auffällig, dass dieser »unbehauste Mensch« (Hans Egon Holthusen) in sehr karger Weise wohnlich eingerichtet ist, es genügt ihm im Grunde genommen ein altes, schadhaftes Rossharrsofa nebst Beistelltisch. Charakteristisch für Jonathan ist dabei auch, dass er sich nicht mit Produkten seines Onkels einrichtet, die er umsonst haben könnte. Dass er diesbezüglich überhaupt Minimalist ist, anders als sein Autor, der auch das Wohnen zur Kunst erhob und sich eine ebenso funktionale wie prachtvolle Atmosphäre zu schaffen wusste, die gewiss kostspielig war und durch immer neue (Bau-)Vorhaben auch besondere Herausforderungen stipulierte. Im Unterschied dazu macht Jonathan kein Gewese um eine ›Einrichtung‹, in der er dann ›sitzen‹ könnte. Wie es scheint, ist ihm auch Geld nicht sonderlich wichtig. Er hat mit seinen 43 Jahren noch keine Familie gegründet, kein Haus gebaut (»Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr«) und keine wirtschaftliche Unabhängigkeit erworben. Er wird vom Onkel alimentiert und spekuliert auf dessen – nicht unbeträchtliches – Erbe. Womit sich der scheinbar bedürfnislose Jonathan aber sehr wohl umgibt, das sind ebenjene Papiere, Bücher, Unterlagen, von denen Adorno spricht, die ihm Heimat kompensieren sollen und, zumindest gedanklich, einen tiefen Konnex zu seiner Herkunft haben: Allein der Gedanke an seine Arbeit über die »nordischen Göttinnen«, prunkvolle Sakralbauten der Backsteingotik, erfüllt ihn mit Wollust.15 Die Marienkirche in Danzig ist sein Ideal: ein Bild seiner Sehnsucht in die ostpreußische Heimat. Gleichzeitig aber auch ein Ausdruck des »Nachteils, geboren zu sein« (E. M. Cioran), nämlich als unbewusster Wunsch, in den mütterlichen Leib zurückzukehren, denn Kirchen sind bei Kempowski oftmals als Urgrund des Lebens intoniert. Hier wird der Zeugungsvorgang eingeleitet, fungiert das Kirchenschiff als Uterus, erfolgen Initiationsriten und Konstruktionen einer übersinnlichen Realität, werden Mythen vom Paradies und vom Sündenfall entworfen und wieder verworfen, hier beginnt alle Metaphysik, alle Innen(er)for-
13 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin/ Frankfurt/M.: Suhrkamp 1951, S. 152. Zitiert auch bei Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989. München: Knaus 2001, S. 578 [20.12.1989]. 14 Walter Kempowski: Alkor 2001, S. 578 [20.12.1989]. 15 Vgl. Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992, S. 206. – Im Folgenden zitiert als MuB mit der entsprechenden Seitenzahl.
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schung, um in die Außenwelt zurückgespiegelt zu werden. Alles Spekulative, das den Menschen umtreibt, sein Woher und sein Wozu, scheint hier seine Heimstatt zu haben, und so ist es nur folgerichtig, dass hier auch am Ende der Tote abgelegt wird, um auf dem Gottesacker begraben zu werden. Formal gesehen war der angehende Romancier Kempowski wie alle anderen Schriftsteller und wie Jonathan Fabrizius – gemäß der Doktrin Adornos – entwurzelt und heimatlos, und zwar topographisch ebenso wie topologisch, und es bedurfte vielfältiger Lektüren, Anregungen und Entdeckungen, um zu einem eigenen Personalstil zu finden. Schon seine Erstleser konnten beobachten, wie im »Haftbericht« ebenso wie im Zeitbild der Deutschen Chronik die »spezifische literarische Form des bürgerlichen Zeitalters«16 zugleich referenzialisiert und aufgehoben wurde.17 Mark und Bein fällt zwar nicht mehr unter diese formale »Rebellion«18 der Rastertechnik der Rupturen und Zäsuren und der Fragmentierung der Wirklichkeit in der Arno-Schmidt-Nachfolge, denn seit Erscheinen der Hundstage (1988) hatte Kempowski eine neue Haltung zum Erzählerischen gewonnen; geblieben ist jedoch sein Hang zu »längere[n] Gedankenspiele[n]« sowie die Skepsis gegenüber dem »realistischen Erbe« des Romans, soweit dieser bloß Lüge und Täuschung ist und nur »die Fassade reproduziert« – diese, Adorno zufolge, »allverbreitete biographische Schundliteratur«,19 die sich hermetisch gegen das Grauen verschließt, ist »ein Zersetzungsprodukt der Romanform selber«.20 Wie schon der Titel dieser »Episode« signalisiert, geht es um Mark und Bein, um Oberfläche und Tiefe.21 Der Begriff ›Bein‹, mithin der Knochen, ist dabei allerdings nicht prima facie mit der Oberfläche gleichzusetzen, denn das Bein liegt seinerseits schon in einer Tiefe. Die Haut wäre hier das Äquivalent zur Oberfläche: Etwas
16 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 62. 17 Bedeutende Rezeptionszeugnisse dieses ›ganz frühen Kempowski‹ verdanken wir Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Fritz J. Raddatz und Peter Rühmkorf. Vgl. bspw. Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 344–347 (»Gutachten zu walter kempowski« von Hans Magnus Enzensberger). 18 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 62. 19 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 63. 20 Adorno: Noten zur Literatur I 1958, S. 63. 21 Vgl. den Eintrag in Grimms Wörterbuch: »mark und bein bezeichnet das innerste, die innerste kraft: das ist mir durch mark und bein gegangen; das dringt durch mark und bein; denn das wort gottes ist lebendig und kräftig, und durchdringet auch mark und bein. Ebr. 4, 12«. Bd. 1, Sp. 1385 (Stichwort »Bein«).
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muss einem erst unter die Haut gehen, bevor es auch durch Mark und Bein dringen kann. Gleichwohl deutet der Titel hier an, dass eine Tiefenstruktur (Bein) selbst noch eine Tiefenstruktur haben kann (Mark). Wer demnach glaubt, etwas gründlich durchdrungen zu haben, hinter die Fassade gekommen zu sein, geht fehl. Die wahre Tiefe, die wahre Erkenntnis muss dem Menschen verschlossen bleiben. So geht es auch Jonathan: Er und der Leser meinen zunächst, die Polenfahrt würde eine Suche nach der Mutter mit sich bringen. Das Erweckungserlebnis in Rosenau (und eine Nachfrage Hansi Strohtmeyers) führen dann aber erst auf sein tiefer liegendes Trauma: den Verlust des Vaters; aber auch damit ist es nicht getan, denn hinter diesem individuellen Trauma steht die Schuld der Deutschen, in die sich auch Jonathans Familie verstrickt hat. Und vor der Frage »Wer hat die Schuld?« muss Jonathan dann kapitulieren, denn es fehlt die Bezugsgröße: »Wer trägt die Schuld woran?«, und die Absenz und das Ausbleiben des Gemeinten verlagert die Frage auf die Ebene eines umfassenderen Seinsverständnisses. Die Frage bleibt offen, die Antwort muss offenbleiben, die Suche geht weiter. Alle Figuren, die Jonathan auf seiner Suche begleiten, sind so angelegt, dass sie zunächst ein wenig ›naiv‹ wirken, dann aber auch ihre Komplexität offenbaren. Neben Adorno und Arno Schmidt spielt Gottfried Benns Ästhetik mit wörtlichen Anklängen in diese Prosa hinein: »Jonathan mußte an Sezierschnitte denken, in der Pathologie, die man mit einem Skalpell in einen schieren weißen Frauenleib legt.« (MuB 24) Wo andere nur die Oberfläche wahrnehmen, schaut Jonathan in die Tiefe (soweit sie ihm zugänglich ist), in den »ungeordnet strudelnden Gedankenstrom« eines »Menschenkindes«, das aus dem Gleichgewicht geraten ist und sich in Schuldvorstellungen verstrickt hat. Dazu passt, dass auch der Rezipient in der Lektüre das Gleichgewicht verlieren kann, dergestalt, dass sich in Jonathan die eigene Perspektive und die Erzählerstimme mischen, die mit ihren ›schwarzen Gedanken‹ oft genug Anstoß erregen würde, würden diese nicht nur gedacht, sondern auch offen artikuliert. Für den Leser, an den sie letztlich adressiert sind, mag diese Unterscheidung weitgehend ohne Belang sein, denn so oder so muss er sich zu ihnen verhalten: Er mag konzedieren, dass Erzähler und Figur fraglos nicht ineinszusetzen sind, wie beide sich auch mit der Autorposition nicht decken dürften. Sie interagieren dergestalt, dass sie das, was sie sich als Gedachtes zurechnen lassen müssen, nicht wechselseitig ankreiden. Weder Jonathan noch der Erzähler haben ein Gesinnungsmandat, um das eigene oder fremde Erleben und Handeln zu taxieren und ggf. zu sanktionieren. Auch ist es dem Leser freigestellt, daran Anstoß zu nehmen oder nicht: wir werden nicht, wie bei manchen Erzählern üblich, ideologisch in Beschlag genommen, sondern sind aufgefordert, mit den Figuren Geduld zu üben, sie nicht vorschnell in ein Raster zu stecken, sondern uns von ihrer Ent-
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wicklungsfähigkeit leiten zu lassen. Unsere Geduld wird dahingehend belohnt, dass das Rallye-Trio, das Kempowski ins Zentrum seines Romans gestellt hat, eine ›geheime Komplexität‹ ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur offenbart. Die Frische Nehrung, auf der es auch seinen Vater »erwischt« hat, hat Kempowski gelernt, sich zu öffnen und gleichzeitig die durch das ›Dritte Reich‹ korrumpierte bürgerliche Bonhomie zu desillusionieren. Daher die äußerste Lakonie, ja Kargheit in der Darstellung des großen Kindes, dem die schöne Mutter nie den Gute-Nacht-Kuß geben konnte, weil sie schon bei seiner Geburt verstarb. Deshalb das Botero-Kind als Sehnsuchtsmotiv über dem Sofa, dem Kunsthandel einst abgetrotzt und monatlich abgestottert. Heute unbezahlbar, vom hohen, auch emotionalen Wert ganz zu schweigen. Das verdeutlicht auch die Schlusseinstellung: Ulla ist fort, Jonathans Botero ist von der Wand genommen, der Nagel, an dem das Bild hing, wurde herausgerissen, das Loch »ausgemehlt« (MuB 237): Ein Bild für die lediglich kosmetische Behandlung einer Wunde, die keine Heilung bringt, aber verdeckt; oder ein Bild dafür, dass Schuld letztlich nicht zu tilgen ist. Der rhetorisch geschickt komponierte Roman gehört zu den Gelenkstellen und Scharnierstücken zwischen der Deutschen Chronik und dem Echolot. Er entwirft eine Ästhetik des »Teils-Teils«: Teils ruft er Topoi der schon geläufigen Kempowski-Suada ab, teils greift er erzählerisch und motivisch neue Aspekte auf. Mark und Bein kann, auch thematisch, als Roman der Verlorenheit und Zerrissenheit gelten. Denn als hätte er sich in einem Übergangszimmer eingerichtet, durchlebt Jonathan, merkwürdig ziel- und antriebslos, eine verspätete Transitionsphase. Während sein Oheim, ein Vertreter der Aufbaugeneration, die Haltung des »Handelns« gewählt hat, hat sich Jonathan für die Haltung des »Wartens« entschieden, »eines zögernden Geöffnetseins«.22 Jonathan ist quasi auf Empfang geschaltet, ein wacher Zeitgenosse, bei dem sich flüchtigste Sinneseindrücke festsetzen und verwandeln können: Seine Netzhaut gab das Bild frei, das er am Nachmittag von den drei Menschen in ihrer kleinen Wohnung empfangen hatte, die geblümte Tapete, das Bettzeug auf dem Sofa und natürlich auch das Knie. Und es zeigte sich, daß das Bild noch intakt war, es würde sich ins Symbolische verdichten und die Zeiten überdauern. (MuB 141)
Er selbst will, wie es scheint, dem häuslichen Wohnen in seiner Doppelfunktion – als Raum der Initimität nach innen, als repräsentative Bürgerlichkeit nach außen –, kein modernes Nachspiel liefern. Im Gegensatz zu seinem Autor lebt er
22 Siegfried Kracauer: Ornament der Masse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963, S. 116.
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einer improvisierten Nachkriegsgesellschaft gemäß. Das schließt nicht aus, dass sich bei ihm nicht doch auch das eine oder andere Attribut bürgerlicher Eliten fände. Wenn Benn dichtete »In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs« (»Teils – Teils«), so kann Jonathan auf seinen Botero verweisen – Botero an der Wand und Stragulo auf dem Boden. Wenn Benn fortfährt: »… wurde auch kein Chopin gespielt«, so gehören genau solche Versatzstücke eines untergegangenen Niveaumilieus bei Jonathan und Ulla zum guten Ton: Beethoven, Chopin, Debussy und Mozart. Besser als jede andere Musik schickt sich Beethovens ›Kriegskonzert‹ in Es-Dur Nr. 5, sein letztes vollendetes Klavierkonzert, in diese Wohnung verteilter Räume und getrennter Lebensentwürfe. Dass Jonathan dem Häuslichen in bürgerlicher Beschaulichkeit gleichwohl zugeneigt ist, steht außer Frage und ist durch den frühen Verlust der Eltern motiviert. Sein Autor aber lässt diese Idylle – nicht nur durch den Rekurs auf Benn – nicht mehr gelten. Der Verweis auf das Knie in obigem Zitat spielt dabei eine bedeutende Rolle. In Polen lernt Jonathan erstmals ein allerdings nur vermeintlich idyllisches Familienleben kennen: Eine alte Frau bittet ihn, in Deutschland Medizin für ihre psychisch kranke Tochter zu besorgen. Er verlebt einen Nachmittag im Kreise der Familie, deren Wohnung für ihn zu einer Art Sehnsuchtsort wird, dessen Bild auch in der Erinnerung für ihn intakt bleibt, wobei das Knie der Tochter immer wieder Erwähnung findet: »Das vorgeschobene Knie unter der Decke, dieser fleischene Globus: War es nicht ein Signal gewesen: Komm wieder?« (MuB 218) Die Erkrankung der jungen Frau wird in den Hintergrund gedrängt: »Ein Knie hatte sie unter der Decke vorgeschoben. Jonathan sah das nackte Knie nur eine hundertstel Sekunde lang, und es war wunderschön.« (MuB 134) Durch den wiederholten Rekurs auf das Knie akzentuiert Kempowski die Wahrnehmungsweise seines Protagonisten, die eben (noch) nicht hinter die Fassade der bürgerlichen Idylle zu sehen vermag. Ein Morgenstern-Gedicht wird dafür Pate gestanden haben: Ein Knie geht einsam durch die Welt. »Es ist ein Knie, sonst nichts« heißt es im Schlussvers der ersten Strophe. Die grausame Wahrheit entpuppt sich in der zweiten Strophe: »Im Kriege ward einmal ein Mann / erschossen um und um / Das Knie allein blieb unverletzt – / als wärs ein Heiligtum.«23 Das Ungeheuerliche wird zu Beginn des Gedichtes »zu einer harmlosen, trivialen
23 Christian Morgenstern: Das Knie. In: Ders.: Sämtliche Gedichte. Sonderausgabe zum 100. Todestag nach der Stuttgarter Ausgabe der Werke und Briefe. Band 3. Humoristische Lyrik, hg. von Maurice Cureau. Stuttgart: Urachhaus 2013, S. 68. – Mit der letzten Zeile spielt Morgenstern sicher auf Uhlands Gedicht Der gute Kamerad an (»als wär’s ein Stück von mir«). Hier ist das Knie des getöteten Soldaten eben kein Stück von ihm mehr, denn es führt ein Eigenleben. Als Heiligtum, ja als Reliquie, gemahnt es an den Tod desjenigen, zu dem es einst gehörte.
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Tatsache heruntergespielt.«24 Äquivalent schiebt sich das Knie des Mädchens in Jonathans Erinnerung immer wieder vor das schwere Schicksal, das die junge Frau tragen muss. Das Knie – und sonst nichts – bleibt übrig: vom toten Soldaten und von der Erinnerung an den Nachmittag bei der polnischen Familie gleichermaßen.25 Es fungiert bei Morgenstern wie Kempowski als »Beweisstück[] des Unheils«, das mit ihm verbunden ist.26 Auch bei Benn finden sich solche »Beweisstücke des Unheils«. Wenn er schreibt: »der Garten in polnischem Besitz / die Gräber teils-teils«, so trifft dies in anderer Weise auch auf Jonathans Eltern zu: die Mutter liegt im – jetzt polnischen – Rosenau begraben, der Vater blieb unbestattet: was der Tiefflieger von ihm übrig ließ, war »für Sarginhalte ohne Belang«. Was den Überlebenden und Nachgeborenen »noch eine Weile« erinnerlich bleibt, holt sich Jonathan aktiv zurück, angeleitet und wie ferngesteuert von Menschen, die Anteil an seinem Schicksal nehmen, die er fasziniert: »›Er mag sein, wie er will‹, sagten diese Leute, ›aber irgendwie ... ich weiß es nicht ... ‹« (MuB 10). Die Stimmungslage des Phänotyps, seine Melancholie und sein klarer Blick – »Das Beste an ihm waren seine Augen« (MuB 10) – weisen jene Zwischenstellung aus, in der wir Jonathan Fabrizius antreffen und die Michael Rutschky für die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts als »Erfahrungshunger« und für die achtziger Jahre als »Wartezeit« beschrieben hat: »Diese Sehnsucht; diese Langeweile; diese leeren Zeiten, die irgendwann in andere leere Zeiten übergehen...«27 Rutschky verweist in seinem »Sittenbild« auf Siegfried Kracauers Essay Die Wartenden, die »wachen Sinnes ihre Zeit« durchlebten, aber »ihr eigentliches inneres Sein« vergessen hätten: [Sie] wähnen sich frei von der Last, die sie heimlich beschwert. Wenn sie sich aber dann von der Oberfläche in den Mittelpunkt ihres Wesens zurückziehen, befällt sie eine tiefe Traurigkeit, die dem Wissen um ihr Eingebanntsein in eine bestimmte geistige Situation entwächst und am Ende sämtliche Wesensschichten überwuchert. Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht.28
24 Dieter Wellershoff: Persiflage und Groteske. Zu den Galgenliedern von Christian Morgenstern. In: Walter Kempowski (Hg.): Ein Knie geht einsam durch die Welt. Mein liebstes Morgenstern-Gedicht. München/Zürich: Piper 1989, S. 128–132, hier S. 131. 25 Vgl. Wellershoff: Persiflage und Groteske 1989, S. 131. 26 Wellershoff: Persiflage und Groteske 1989, S. 132. 27 Michael Rutschky: Wartezeit. Ein Sittenbild. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983, S. 227. 28 Kracauer: Die Wartenden. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 (st, 371), S. 106–119, hier S. 106.
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Zu solch metaphysischen Lesarten tendiert Kempowski nicht, ganz im Gegenteil: Er verknüpft in seinem Roman Schicksalsfäden, ohne Schicksalsgemeinschaften zu bilden. Die Menschen, die Jonathan in seinem Erweckungserlebnis auf kurze Zeit begleiten, wirken eher wie Katalysatoren auf ihn ein: Kaum sind sie in sein Leben getreten, kaum haben sie etwas ausgelöst in ihm, sind sie auch schon wieder verschwunden. Große Bedeutsamkeit wird den Momente sinnlicher Evidenz, die sie stiften, nicht beigemessen – ohnehin wüsste man sich nicht zu erklären, was sie bedeuten. Daher auch das »ausgemehlte« Loch in der Wand: die Wunde ist allenfalls abgedeckt. Das Trauma ist nicht überwunden, eine etwaige Schuld ist keinesfalls abgetragen. Aber sie wird vielleicht als Symptom einer von Gott verlassenen Welt fassbar. Wenn Jonathan dies begreift, begeht er auch den Weg einer Theologia crucis. Er macht die »Qual der Kreatur« zu seiner Qual: »Das heißt dann wirklich […] ›sein Kreuz auf sich nehmen‹ in der Nachfolge dessen, der seine göttliche Identität aufgab und seine wahre Identität im Kreuz fand.«29 Jonathan schlug mit der Faust auf die Lehne, und es hämmerte in seinem Gehirn: Alles umsonst! ALLES UMSONST! Und er meinte damit nicht den Tod seiner Mutter und nicht den des Vaters, der »ins Gras hatte beißen müssen«, nicht die Schlafcouchen, die sein Onkel fabrizierte, sondern die Qual der Kreatur, das an den Pfahl gehenkte Fleisch, das Kalb, das er gesehen hatte, gefesselt und geknebelt, den Verschlag in der Marienburg zur Marter vorbereitet, den schlurfenden Zug der Menschen unter einem verdammenden Himmel. (MuB 202–203)
Diese Szene verdeutlicht, dass Jonathan sein Leid und das Leid in der Welt angenommen hat – wenn auch unter seelischen Qualen. Somit befindet er sich auch auf dem Weg der Theologia crucis, die die Identifizierung mit dem Leid des Gekreuzigten in den Mittelpunkt stellt: Die Identifizierung mit dem Gekreuzigten entfremdet den Glaubenden von den Religionen und den Ideologien der Entfremdung, von der »Religion der Angst« und von den Ideologien der Rache. Christliche Theologie findet ihre Relevanz in der durchdachten und praktizierten Hoffnung auf das Reich des Gekreuzigten, indem sie an den »Leiden dieser Zeit« leidet und den Schrei der gequälten Kreatur zu ihrem eigenen Schrei nach Gott und Freiheit macht. Jesus war Torheit für die Weisen und ein Ärgernis für die Frommen und ein Störenfried für die Mächtigen. Darum wurde er gekreuzigt. Wer sich mit ihm identifiziert, dem ist diese Welt »gekreuzigt«, wie Paulus sagt. Er wird der Weisheit, Frömmigkeit und Machtpolitik seiner Gesellschaft entfremdet.30
29 Jürgen Moltmann: Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie. München: Kaiser 21973, S. 21. 30 Moltmann: Der gekreuzigte Gott 1983, S. 29.
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Genau in diese Entfremdung entlässt Kempowski seinen Protagonisten; und es ist in diesem Zusammenhang sicher kein Zufall, dass in Albert Schindeloes Wohnung (von dem Jonathan den Botero einst erstand) ein Altar steht, an dem der Gekreuzigte fehlt. (Vgl. MuB 47) Auch dort könnten die Löcher der Nägel noch sichtbar gewesen sein – ob sie nun »ausgemehlt« wurden oder nicht. Am Ende geht es Kempowski mit Jonathan um psychische Gesundheit, die der Autor in seiner Figur repräsentiert sieht, stellvertretend vielleicht für den immerwährenden eigenen psychischen Gesundungsprozess, den er durch seine Werkstiftung eingeleitet hat. Das Verfahren zielt aber auch über den eigenen Horizont hinaus: Der Autor wird hier zum »Arzt der Kultur« (Nietzsche), der zu heilen versucht, was Wiedergutmachung, Lastenausgleich, Sühneopfer nicht zu heilen vermochten. Es muss allerdings beim Versuch bleiben, denn es entspricht der Condition humaine der Moderne, dass wir – ähnlich wie Samuel Becketts Figuren Estragon und Wladimir – nicht erfahren, worauf wir warten, worauf unsere Existenz hinausläuft, bis sie ›gelichtet‹ wird. Kempowski hat mit Jonathan Fabrizius einen ›gemischten Charakter‹ mit einer ›durchwachsenen‹ Merkmalscharakteristik erschaffen. Er ist durchaus kein ›positiver Held‹, der unsere ganze Sympathie auf sich zöge, sondern eine in sich problematische, dissonante Person, deren Defizite wir ›aushalten‹ müssen.
Torsten Voß
Zwischen Vertrautheit und Fremdheit Die Heimatnarrative des Jonathan Fabrizius
Vorab Man sollte sich nichts vormachen: Der Heimatbegriff birgt in einem auf Globalisierung, Effizienz, Anpassung und Neoliberalismus ausgerichteten Denken das Tonikum der Rückständigkeit und des Provinzialismus in sich. Er steht der Forderung nach permanenter und karrierebedingter Mobilität entgegen. Zudem ist er aufgrund des Nationalismusverdachts – politisch gesehen – ausgesprochen negativ besetzt. Dabei haben sozialwissenschaftliche Forschungen ergeben, dass sich die als Flexibilität getarnte Ort- und Bindungslosigkeit kaum mit menschlichen Grundbedürfnissen verträgt. »Heimat« bedeutet einerseits weniger, andererseits auch mehr als Nation oder gar Staat. Sie impliziert Vertrautheit und Gewohnheit und damit auch Sicherheit. Seit Edgar Reitz’ bekanntem Filmprojekt Heimat (von 1981 bis 2006), das übrigens von Walter Kempowski nicht sehr geschätzt wurde, sind folgende Fragen vermehrt Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Erörterung: Ist Heimat bloß eine Fiktion? Kann sie als anthropologische Konstante oder gar als Axiom gelten? Auf alle Fälle verbindet sie sich mit Erinnerungen! Und wo etwas erinnerlich ist, da wird auch fantasiert, imaginiert und vor allem erzählt. »Heimat« wird selbst zum Narrativ. Und es scheint ein Faktum zu sein, dass vor allem eine verlorene oder vergangene Heimat besonders plastisch in der Erinnerung – und damit in der Erzählung – gestaltet werden kann. Sei es, dass man von ihr durch Alter bzw. Generation getrennt ist (wie Jonathan Fabrizius), sei es, dass man sie freiwillig oder gezwungenermaßen (Vertreibung, bspw. aus Schlesien oder Ostpreußen) verlassen hat (wie Horst Bienek, Christine Brückner, Siegfried Lenz, Ernst Wiechert).1 Auch für Geflüchtete, Übersiedler, Vertriebene resp. Ausgereiste aus der SBZ/DDR sind Heimatnarrative von immenser Bedeutung (Uwe Johnson, Walter Kempowski).2
1 Auch für Walter Kempowski, der selbst nicht das Schicksal der Vertriebenen teilen musste, spielt dieses Thema eine gewichtige Rolle, wie sich in Mark und Bein, Alles umsonst und auch in Fuga furiosa zeigt. 2 »Übersiedler« war in der DDR der Terminus technicus für die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten. Die »Ausreise« (und nicht: Republikflucht) nahm Uwe Johnson für sich in Anspruch. https://doi.org/10.1515/9783110784084-003
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Je verlorener die »Heimat« ist, desto intensiver kann diese Erinnerung an das Nicht-Mehr erdacht oder auch erzählt und vielleicht sogar – wenngleich mit Wehmut – aus dem Geiste der Memoria und der Fantasie wieder rekonstruiert werden und damit eine kompensatorische Funktion gegenüber dem Ungenügen an der Realität erfüllen. Der Zusammenhang zwischen Heimatliteratur und autobiographischem Schreiben und den damit verbundenen Fiktionalisierungsstrategien wird dabei ebenfalls zu berücksichtigen sein. Ein Beispiel: Die Räume, die oft mit Heimat verbunden werden, vor allem von den Flüchtlings- und Vertriebenen-Generationen, speisen sich oft aus der Erinnerung und damit auch der Verklärung, das heißt, sie gehorchen Fiktionalisierungsprozessen. Mit »Schlesien« lässt sich zum Beispiel historisch und kulturell sehr viel assoziieren: Im kollektiven Gedächtnis steht es für eine verlorene Heimat, eine vielseitige Kultur- und Naturlandschaft, für unwiederbringliche Verluste, aber auch für den Beginn des Zweiten Weltkriegs durch den fingierten Überfall auf den Nachrichtensender Gleiwitz und schlussendlich auch für das Menschheitstrauma Auschwitz. In kulturanthropologischer Hinsicht versteht sich Heimat nicht nur in der Ontologie des Wohnens à la Heidegger3, sondern auch in den Arbeiten Hermann Bausingers und der Phänomenologie Bernhard Waldenfelsʼ als Axiom und als eine – von logischer Beweisführung unabhängige – Grundgegebenheit des Daseins.4 Der Verlust von Heimat und dessen Bewältigung wird damit zur existenziell relevanten Lebensaufgabe und zu einem Thema bei Autoren wie Walter Kempowski. Dieser beispielsweise betitelt sein Tagebuch von 1991 über die Rückkehr in die Vaterstadt mit dem regional und historisch gebundenen Dialektwort Hamit – warum wohl?5 Konnte das Verlorene und auch nach der Wende niemals mehr
Wohingegen Kempowski die Auffassung vertrat, dass er weder in der SBZ noch in der DDR gelebt habe – denn er »saß« ja in Bautzen »ein« und war in die Bundesrepublik »entlassen« worden. 3 Vgl. Martin Heidegger: Bauen – Wohnen – Denken. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze: Pfullingen: Neske 1954, S. 145–162. 4 Hermann Bausinger/Klaus Köstlin (Hgg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. Neumünster: Wachholtz 1980; Horst Bienek (Hg.): Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München/Wien: Hanser 1985; Norbert Mecklenburg: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: Iudicium 1987; Elisabeth Moosmann (Hg.): Heimat. Sehnsucht nach Identität. Berlin (West): Ästhetik und Kommunikation 1980; Karina Berger: Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950’s to the Present. Oxford u. a.: Lang 2015; Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (stw, 545). 5 Der Autor selbst gibt darauf eine Antwort: »Heimat – ein altmodisches, diskreditiertes Wort […] Setzen wir das Wort ›Hamit‹ an die Stelle des abgegriffenen Wortes ›Heimat‹.« Vgl. Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006, S. 8 (Eintrag vom 1.1.1990).
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Einholbare nicht anders ausgedrückt werden als mit einer regional oder (sprach-) historisch gebundenen Vokabel? Wahrscheinlich nicht! Heimat pendelt zwischen unmittelbarsten Erfahrungen wie denen der frühesten Kindheit und ist zugleich aufgrund ihrer Verhaftung in den Prozessen der Erinnerung stets auch Erzählung und damit Konstrukt bzw. Resultat der Imagination. Daher könnte man die These aufstellen, dass ›Heimat‹ weniger an den Ort oder die Region gebunden ist, als an die Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen. Denn letztere lassen ›Heimat‹ erst entstehen bzw. zu einem Projekt der Imagination und damit plastisch werden.
Heimat ist Familie Eine zweite These, die hier erwähnt werden muss, leitet sich konkret aus der Ereignisfolge von Mark und Bein her. Dort findet Jonathan Fabrizius, Kempowskis Protagonist, seine Heimat und sein Zuhause in einer fremden polnischen Familie in Danzig. Zwar nur für einen Wimpernschlag der Geschichte, doch wird ihn das verändern. Heimat ist also dort, wo die Familie ist, die man sich wünscht. In seinem Tagebucheintrag vom 1. Januar 1990 verweist Kempowski auf die Mundart der Erzgebirgler, um sein Titelwort »Hamit« einzuführen. Und in der Tat verweist das Interaktive Wörterbuch der erzgebirgischen Mundart auf die Schreibung »Haamit« (Lautung {dǝ Hāmit}) sowie auf ein Wort des böhmischen Volksdichters Anton Günther: »Vergaß dei Haamit net.«6 Verzeichnet ist der Terminus auch im Lexer und in anderen Mittelhochdeutschen Wörterbüchern: »Maria ist ein hâmît vor dem êwigen tôde.«7 Gerade dieser Hinweis auf den Hortus conclusus ist für Mark und Bein von zentraler Relevanz, denn Maria [Kuschinski] ist ja quasi Jonathans neue Frau und Lebenszielfrau, nachdem er Ulla gedanklich abgelegt hat.8 Folgerichtig heißt es dort: »Als wäre er angekommen, so kam es ihm vor.«9 Und später noch einmal: »Er bedauerte es, daß er nicht noch zu den Kuschinskis gehen konnte, den Abend im Familienkreis [!] ausklingen lassen...«10 Es gelangt dann
6 Vgl. Interaktives Wörterbuch der erzgebirgischen Mundart (https://www.erzgebirgisch.de/). Dort das Lemma »Haamit« (https://www.erzgebirgisch.de/h.liste). Letzter Zugriff am 30.5.2022. – Geläufig ist auch die Schreibung »Vergass dei Hamit net!« Sie ist auf Lied-Ansichtskarten Anton Günthers weit verbreitet. 7 Vgl. Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller. Bd. I: A–L. Leipzig: Hirzel 1854, Sp. 626b. 8 Die erotischen Offerten der Winkelvoss wird Jonathan noch ausschlagen. 9 Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Goldmann 1992, S. 125. 10 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 142.
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jenes »Bild« auf seine Netzhaut, »das er am Nachmittag von den drei Menschen in ihrer kleinen Wohnung empfangen [!] hatte«, und es zeigt sich, »daß das Bild noch intakt war, es würde sich ins Symbolische verdichten und die Zeiten überdauern.«11 Dies zitieren, heißt den Umstand benennen, dass Jonathan seine Heimat in der Fremde findet – und sie sogleich wieder verliert, wie es der Conditio humana entspricht. Dieser erhabene Augenblick der Marienverehrung kann eben nicht von Dauer sein, und dennoch löst er etwas Grundlegendes in Jonathan aus: der kühle Grausamkeitensammler, der Fabrizius bislang war, öffnet sich für das Leiden der Kreatur.12 Folgt man dem Motto, welches Walter Kempowski einigen Romanen seiner sogenannten Deutschen Chronik vorangestellt hat, nämlich das bekannte »Alles frei erfunden!«, sind die eigenen Werke keine reine Autobiographie oder Chronik, sondern immer auch literarische Fiktion13 und Anverwandlung des bereits Fingierten, im obigen Beispiel der christlichen Ikonographie, denn an Marias Seite lebt auch das schöne Kind, ihr Bruder. Er ist von vollkommener Schönheit, wie man sie nur selten sieht – und plötzlich versteht man auch, was Jonathan mit symbolischer Verdichtung meinen könnte, denn hier wird eine beiläufige Begegnung zeichenhaft überhöht und mit der prominentesten Erzählung des christ lichen Abendlandes verknüpft. Kempowski ist ein ideenreicher Erzähler: Der Autor muss mit Aspekten des Fingierens und des Narrativierens arbeiten, um Erinnerungspraxis zu betreiben oder ihre Prozessualität zu vermitteln, nach dem Motto: Erinnern – wie geht das? Die Aufgabe der Narration ist in diesem Fall die konstruktive (Wieder-)Herstellung von Erfahrungen und Erlebnissen, die ereignishaft waren und daher vor allem als signifikante und appellative Bilder im Gedächtnis haften geblieben sind. Oder es sind topologische Bilder, dies vor allem, die erst noch für ein (trans-)kulturelles Register erschlossen respektive transzendiert werden müssen: »Und es zeigte sich, daß das Bild noch intakt war, es würde sich ins Symbolische verdichten und die Zeiten überdauern.«14 Um solche Effekte in einen Diskurs der Mittelbarkeit, also der Medialität transferieren zu können, bedarf es tropologischer und rhetorischer Apparate, welche eben diese memorierten Bilder ausdrücken und für den
11 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 142. 12 Der Kuschinski-Strang ist von großer Intensität. Ob Kempowski dabei auch an die psychisch kranke Hildegard gedacht hat, von der die »Aufzeichnungen« der späten sechziger Jahre erzählen, in »Wenn das man gut geht«? Darf man das fragen? 13 Vgl. zu dieser Problematik: Stephan Lesker/Torsten Voß (Hgg.): Effekte der Mehrdeutigkeit: Konvergenzen des (autobiographischen) Erzählens zwischen Fakt und Fiktion bei Walter Kempowski. Rostock: Redieck & Schade 2019 (Spatien, 7). 14 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 142.
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schreibenden Erinnernden transportfähig, aber auch für dessen Leser rezipierbar machen. Die Produktion eben dieser Bildartikulationen ist als eigenständiger kreativer Akt begreifbar, der es auch nach Ansicht der Autobiographie-Theorie Philippe Lejeunes völlig ausschließt, die Kultivierung von Fiktionen oder zumindest von Stilparametern zu vermeiden.15 Letzteres wäre für einen Autor, der sein Erlebnis symbolisch transzendieren wollte, auch gar nicht erstrebenswert. Im Gegenteil, er muss es nachgerade darauf anlegen, dass er in den kulturell-stilistischen Kanon einrückt: Kempowski ist dies längst gelungen. Ähnlich wie bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus16 hat man dem Autor, gerade mit Blick auf den Heimatdiskurs, bisweilen relativierende oder gar revanchistische Motivationen als Schreibanlass unterstellt und bis in die Gestaltung der Szenarien, Textcollagen und Figuren hinein zu attestieren versucht. Der Einschätzung von Gerrit Bartels zufolge hing das womöglich damit zusammen, dass »er sich in seinen Büchern durchaus humorig mit den Themen Heimat, Vertreibung und Flucht der Deutschen auseinandergesetzt hatte.«17 Hat Kempowski also mit der Komik das falsche Register gezogen? Gerhard Henschel widerspricht und resümiert diesen marginalisierenden Fehlschluss des Feuilletons wie folgt: Zur Strafe für seine Widerborstigkeit fand Kempowski 1980 in einem dreibändigen, für Erstsemester fabrizierten Aufriß der Geschichte der deutschen Literatur nur in einem Nebensatz Erwähnung, und zwar ausgerechnet in einem elf Seiten langen, zum Ruhme von Günter Grass verfaßten Essay: Der Anteil »von erlebter Geschichte und atmosphärisch erinnerter Region«, hebe, wie dort zu erfahren war, die »Danziger Trilogie« von Grass »qualitativ von späteren Versuchen anderer Autoren ab, etwa vom Zettelkasten-Historismus Walter Kempowskis.«18
15 Neben dem Hauptwerk: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (Aesthetica/edition suhrkamp, 189; Neue Folge, 896), sei auch verwiesen auf die vor einigen Jahren auf Deutsch erschienene Aufsatzsammlung von Philippe Lejeune: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, hg. von Lutz Hagestedt. Aus dem Französischen von Jens Hagestedt. München: belleville 2014 (Reihe Theo rie und Praxis der Interpretation, 11). Der Band stellt einen Querschnitt durch die gesamte literarische Autobiographie- und Tagebuchforschung des französischen Literaturwissenschaftlers dar. 16 Allen voran: Klaus Köhler: Alles in Butter. Wie Walter Kempowski, Bernhard Schlink und Martin Walser den Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 17 Gerrit Bartels: »Walter Kempowski. Der Geschichtstaucher«. In: Der Tagesspiegel (6. 10. 2007); https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/nachruf-walter-kempowski-der-geschichtstaucher/1061240.html. Letzter Zugriff am 19.7.2022. 18 Gerhard Henschel: Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski. München: dtv 2009 (dtv premium), S. 36. – Henschel nimmt dort Bezug auf Hanspeter Brode/Jochen Vogt: Günter Grass. In: Erhard Schütz u. a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Bundesrepublik und DDR. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980, S. 118–129, hier: S. 121.
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Das Missing Link von Komik und Historismus wird etwa durch Erzählweisen wie die Friedrich Torbergs hergestellt, der mit seinen anekdotischen Panoramen humoristische »Grundbücher« der k.u.k.-Monarchie, der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus geschaffen hat.19 Der entsprechende Lexikonpassus benennt das poetologische, erzählerische und wohl auch persönliche Anliegen Kempowskis, wenn es um das Narrativ ›Heimat‹ geht, erweist seinen schuldigen Respekt aber nur dem ideologisch abgesicherten und damit sakrosankten Günter Grass »mit seinem marktkonformen Rebellentum«.20 Ein diese Polemik entkräftendes Beispiel für Kempowskis Poetik des Sammelns und damit verbundenen synchronen Erzählens findet sich auch in Mark und Bein: »›Was? Flüchtlinge?‹ hatte die Reedersgattin im Februar 1945 gesagt. ›Nein, die können wir nicht aufnehmen‹, und drei Tage später hatten sie dann selbst nach Westen humpeln müssen.«21 Kempowskis Poetik der »atmosphärisch erinnerte[n] Region« besteht demnach darin, genau das festzuhalten, was außerhalb des modernen Literaturbetriebs und auch der Epistemologien der Geschichtsschreibung steht: Keine Experimente, keine Political Correctness-Themen bzw. -Formulierungen, keine konforme und feuilletonistisch abgesicherte bzw. im literarischen Feld arrivierte und damit sakrosankt gewordene Revolutionsprosa à la Günter Grass. Stattdessen herrscht ein anderes Anliegen vor, das sich auch in einer selbstreflexiven und stiltheoretischen Selbstaussage des Romanprotagonisten, Journalisten und damit auch Autors Jonathan Fabrizius in Mark und Bein manifestiert, sich also als Selbstdarstellung des eigenen Schreibverfahrens darbietet: »[U]nd denselben Ton würde er in seinem Artikel anschlagen müssen. Im Prinzip anekdotisch, jedoch gegen den Strich gebürstet. Aber nicht zu doll!«22 Nach Karina Berger kann der Roman Mark and Bein wie folgt gelesen werden: [A]n early postunification example of a literary reflection on the way in which West Germany has remembered German wartime suffering, and flight and expulsion in particular. […] Mark and Bein is a complex, if short, novel that addresses many topics, not least the difficult and, ultimately, failed relationship between the protagonist and his girlfriend, as well as Jonathan’s psychological »journey« and subsequent maturation upon confronting his past.23
19 Vgl. dazu David Axmann: Das Vorleben der Tante Jolesch. In: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Lieferung 2, hg. von Klaus Kastberger und Kurt Neumann. Wien: Zsolnay 2013, S. 183–189. 20 Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 92. 21 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 113. 22 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 161. 23 Berger: Heimat, Loss and Identity 2015, S. 116–117.
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Erweitern lässt sich diese These vom Reisenarrativ, wenn man das Modell des Bildungsromans berücksichtigt, dem zufolge sich Fabrizius Heimat, Familie und damit auch Vergangenheit und Zukunft erschreibt. Darin liegt nach Berger auch das Ziel des Romans und der Reise des Protagonisten in seiner (verspäteten) Transitionsphase: »Mark and Bein, therefore, may be seen as an attempt to represent Germans wartime suffering without succumbing to political correctness on the one hand, or revisionism.«24 Von beidem, sprich von den durch 1968 geprägten und im Konformismus sich ausagierenden Revolutionären einerseits und den nostalgischen Landsmannschaften andererseits distanzieren sich Protagonist und Erzähler und streben mit der persönlichen Reise, Queste, Suche etc. eine Entpolitisierung und Entideologisierung des gesamten Unterfangens an, um die persönlichen, anthropologischen und psychologischen Tiefen des Heimat- und Fluchtkomplexes stärker hervortreten zu lassen, ein Anliegen also, das für Kempowski und seine Fokussierung auf Schicksale und Erlebnisse endemisch zu sein scheint.25 Das ist womöglich nicht primär die Aufgabe des Historikers, wohl aber die des Schriftstellers, der ›hinter‹ die Geschichte schaut, indem er Geschichten erzählt bzw. zu Wort kommen lässt:
24 Berger: Heimat, Loss and Identity 2015, S. 122. – Zum Terminus des »Bildungsromans« und der »Transitionsphase« vgl. Michael Titzmann: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen. In: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hgg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1984 (Sprache und Geschichte, 9), S. 100–120. Titzmann spricht daher von »Initiationsroman« (S. 101). 25 Das führte nach Henschel aber auch zur gesonderten Stellung Kempowskis im literarischen Feld, auch durch die Zuweisungen der Kritikergemeinde: So ergibt die Zusammenfassung eines Großteils der pejorativen Kritiken an Kempowski durch Henschel: »Im Klartext: Kempowski behindert mit seinen Romanen die historisch-objektive Erkenntnis der Geschichte. Das war im Grunde nichts anderes als ein Klassenbucheintrag: Kempowski, stört den Unterricht.« Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 53. – Genau das will er aber auch, denn Kempowski hat eine andere Herangehensweise, auch in epistemologischer Hinsicht, gegenüber der Geschichte. Er will sie atmosphärisch erfahrbar machen und nicht bilanzieren oder gar mit einer Ideologie überziehen. Das Gegenteil von all diesen Einwürfen und Hausfrauenanweisungen im ideologiekritischen Gewand ist der Fall. Kempowski macht Geschichte lebendig und schreibt, als sei er selbst in den Quellen, ja er schreibt Quellen. Nicht objektiv, sondern eher faktisch-authentisch qua Narration. Er erzählt diese und lässt sie im narrativen Verlauf Stück für Stück entstehen bzw. rekonstruieren, so auch in Mark und Bein. Dort wird die Gebundenheit der Historie und der Geschichtsschreibung an ein Narrativ – hier ist es neben der Heimat auch die Reise – überdeutlich.
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Torsten Voß »Guck mal den da!« sagte Jonathan und zeigte auf einen Mann in Demonstrantenkleidung, dessen Kleinkind auf seinem Rücken eine Kommunardenmütze trug. »Was dem wohl in fünfzig Jahren beim Psychiater für frühe Kindheitserinnerungen kommen!« Auch Ulla entdeckte Komisches. »Studien treiben« nannten sie das, und dabei rückten sie innerlich wieder etwas zusammen, die Masurensache, der Scheck und der Blumenstrauß meldeten sich zuckend, konnten dann aber doch noch zurückgehalten werden.26
Solch ein geschickt angebrachter Wiedererkennungseffekt mit Verweischarakter auf andere Kempowski-Bücher27 gehört zu den textübergreifenden Isotopien der Kempowskiʼschen Werkstiftung. Kosmologie und versteckt-offenbare Zusammenhänge der Narrative, gerade mit Blick auf eine gemeinsame und ihnen zu Grunde liegenden Poetik, dürfen als die eigentliche Heimat bezeichnet werden, die auf diese Weise zu einer vom Autor bzw. Leser herzustellenden Konstellation wird. – Anekdotisch, aber nicht zu doll! – wäre vielleicht das dahinterstehende Erzählverfahren?
Das narrative Grundgerüst Die Frage, wie der Schriftsteller Walter Kempowski zu Mark und Bein und von Rostock nach Ostpreußen komme, ist keine verkehrstechnische, sondern eine werkbiographische. Da es gilt, Mark und Bein nicht nur mit dem anthropologisch und ästhetisch relevanten Heimatkomplex, sondern auch mit größeren Werkzusammenhängen und Schaffensperioden zu vernetzen, soll zunächst produktionsästhetischen, poetologischen und entstehungstechnischen Aspekten der Reise des Jonathan Fabrizius nachgegangen werden. Im Vordergrund steht der Stellenwert Ostpreußens und des Mark und Bein-Projekts für die Werk-Genese, bevor das Augenmerk den Heimatnarrativen des Protagonisten gelten soll. Die thematische Nähe des Romans zu den Quellenbeständen des Echolots lässt dabei auf eine intentionale Parallelaktion beider Werkkomplexe schließen. Und in der Tat finden sich im das Echolot begleitenden Werktagebuch Culpa Hinweise auf verschiedene temporäre, stoffliche und thematische
26 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 36. 27 Das hängt auch damit zusammen, dass die Aufforderung »Studien treiben« in den Romanen der Deutschen Chronik stets auch die Brüder Walter und Robert angeleitet und motiviert hat, Menschen zu beobachten. Kempowski übernimmt diesen sozio-narrativen Imperativ aus der Kempowski-Saga, wo die Brüder ihr Beobachtungs-Projekt sowohl bei den sonntäglichen Spaziergängen in Rostock in Tadellöser & Wolff als auch während des langjährigen Aufenthalts im Gefängnis in Bautzen nach 1946 im Fortsetzungsroman Ein Kapitel für sich betrieben haben.
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Überschneidungen sowie Einblicke in die Planungsphasen und die Poetik des Romans.28 Vom 31. August bis zum 6. September 1987 registriert das Tagebuch eine »Polentour« des Autors: Er bereist quasi die Orte, die sein späterer Protagonist ebenfalls ansteuern wird. So wird bereits am 2. September im masurischen Sensburg das narrative Grundgerüst entworfen: Während der Polentour ist mir die Idee zu einem neuen Buch gekommen. 1. Die Rallye-Vorbereitung als einleitender, allmählich in den Hintergrund tretender Haupterzählstrang 2. Das Flüchtlingselend parallel zur Route als zweiten Erzählstrang. Allmählich zunehmend (Anmerkung: Vieles davon taucht dann in »Alles umsonst« erst auf) 3. Der Wunsch, das Grab des Vaters zu suchen, allmählich verstärkt 4. Das KZ Stutthof und die übers Haff auf die Nehrung strömenden Flüchtlinge. Das Grab des Vaters (als Lösung).29
Damit sind die Etappen der Exkursion benannt, aber auch eine Art Matrix, vor der es die eigentlichen Textbeobachtungen zu machen gilt, die letztendlich – aufgrund der spezifischen Etappen und ihrer Nähe zum Initiationserlebnis30 für den
28 Epitextuelles Begleitmaterial zu Mark und Bein findet sich dagegen vor allem in: Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. München: Knaus 2009. – So findet sich auf S. 456 ein kompletter Verlaufsplan zur Entstehungsgeschichte des Romans, inklusive einiger Motive des Autors für die Textproduktion wie zum Beispiel: »Vaters Tod noch ›unerfüllt‹.« Hier soll sich wohl die Episode von 1992 mit einer existentiellen und narrativen Leerstelle beschäftigen, die in Romanen der Deutschen Chronik, vor allem in Uns gehtʼs ja noch gold, mit dem Kriegstod von Vater Karl Kempowski aufgetan wurde. Der Werkzusammenhang bei Kempowski behauptet sich also auch an diesem Beispiel und wird auch in Somnia immer wieder als Katalysator für die eigene Produktivität verhandelt. So heißt es im Eintrag vom 20. Mai 1991: »Im übrigen, Vater wäre heute 93 geworden. Seit 46 Jahren tot. [...] 1944 habe ich ihn zuletzt gesehen. Ein Vierteljahr später traf ihn die Bombe. – Sonderbare Einzelheiten wurden mitgeteilt über seine letzten Tage. Auf einem Benzinfaß sei er übers Haff gerudert. [...] – Sein Tod – was hätte er nach dem Krieg machen sollen? Firma im Eimer, Schiffe untergegangen. Hätte er Finanzbeamter werden sollen? Eine solche Biographie läßt sich nicht zu Ende schreiben, das ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten«. (Kempowski: Somnia 2009, S. 186) – Bei Jonathan Fabrizius kommt noch eine weitere unbekannte X-Stelle mit hinzu. Er hat seinen Vater noch nicht einmal realiter kennenlernen können, weiß über ihn nur durch Aufzeichnungsmedien wie Fotografien und Erzählungen Bescheid. Das heißt, der Protagonist aus Mark und Bein radikalisiert noch einmal die Situation des Tagebuch-Ichs aus Somnia und legitimiert damit überdeutlich die Dringlichkeit des auktorialen Anliegens, Antworten zu finden bzw. eine Geschichte zu ihrem Ende bringen zu wollen. 29 Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum »Echolot«. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2007, S. 111–112 (Eintrag vom 2.9.1987). 30 Zu deren kulturanthropologischen Stellenwert vgl. Titzmann: Wissen und Sprache 1984 sowie den Klassiker von Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerikanischen von Karl Koehne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.
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Protagonisten – in das traditionelle Motiv einer Selbstfindung oder zumindest einer kondensierten Bewegung in das (bisher und im journalistischen Alltag vernachlässigte) Selbst des Protagonisten münden. Während die ersten vier Punkte »des Grundgerüsts« den Aufbau und die Chronologie des Romanprojekts betreffen, enthält der fünfte Punkt (außerhalb der Zählung) die resümierende (Voraus-) Deutung der strukturellen Divergenz, die der ostpreußische Raum in Vergangenheit und Gegenwart darbietet, nämlich das Aufeinanderprallen von Exodus und Introitus, von Auszug und Einfahrt unter völlig unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen, die sich auch auf die Narrative des Reisens auswirken: »Interessant die Gegenbewegungen: Rallye-Leute und Flüchtlinge. Grausamkeiten der Russen und Polen – Stutthof.«31 Nach seiner Rückkehr vermerkt nämlich Kempowski in Nartum am 13. September 1987: »Die Polenfahrt hat mich auf eine gute Idee gebracht: Fahrt mit dem Rennsportler kombinieren mit Fluchtbeschreibungen und Suche nach Vaters Grab.«32 Ein kommerzielles Unterfangen, denn die avisierte Heimatsuche des Protagonisten und die Fluchtbewegung aus der Heimat werden an ein und demselben Raum festgemacht, der dadurch einem Kulminationspunkt unterschiedlicher Narrative gleicht. Auch Jonathan Fabrizius wird damit den entgegengesetzten Weg seiner Vorfahren gehen, nämlich hin zum Ursprung, was zu den wesentlichsten Bewegungsrichtungen und auch Begehren der Figuren in Kempowskis Werk, aber auch beim eigenen Tagebuch-Ich gehört, soweit es um die Komplettierung der eigenen Erzählung geht. Dem Tagebuchverfasser ist diese Mehrsträngigkeit, die sich an den Orten des Reise-Narrativs Ostpreußen entwickelt, durchaus bewusst. Fast zwei Jahre später notiert er am 7. Januar 1989: »Das neue Buch (M/B) entfaltet sich wie ein Fächer. Es ist spannend und angstmachend zugleich.«33 Man sollte an dieser Stelle bereits hinzufügen, dass der Fächer in der modernen Dichtung als Metapher untrennbar mit der Entfaltung der Einbildungskraft und mit kreativer Potenzialität verbunden ist, so auch in Stéphane Mallarmés poetologischem Gedicht Eventail (also Der Fächer) von 1884.34
31 Kempowski: Culpa 2007, S. 112 (Eintrag vom 2.9.1987). 32 Kempowski: Culpa 2007, S. 113 (Eintrag vom 13.9.1987). 33 Kempowski: Culpa 2007, S. 128 (Eintrag vom 7.1.1989). 34 Dort heißt es: »Wie mit sonst nichts um zu sprechen / als Himmel hinan einem Schlag / der künftige Vers wird brechen / aus dem sehr köstlichen Hag, // Schwinge, die Zügel verhangen, / soll dieser Fächer, ist’s er, / durch den Leuchten ein Spiegel empfangen / irgend hell hinter Dir […]« Stéphane Mallarmé: Gedichte. Französisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Frauke Bünde und Bettina Rommel. Gerlingen: Lambert
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Medialisierungen des Vergangenen Ähnlich wie im Tagebuch zum Echolot bildet auch die Vorbereitung der Reise nach Ostpreußen eine Matrix für das spätere Narrativ, sprich den Versuch ein Schema zu konstruieren, an welchem sich das Reise-Narrativ orientieren kann: Jonathan suchte den Ort Rosenau, sein Finger fuhr die Straße entlang: Hier war es passiert: Hier hatte er das Licht der Welt erblickt, auf Kosten seiner Mutter. Hier, in der Kirche dieses Dorfes war sie niedergelegt worden, und dann auf dem Kirchhof verscharrt, vielleicht an der Mauer, unter einem Goldregenstrauch, die junge Frau. Ein einziges Foto gab es noch von ihr, Olympiade 1936, es hatte die Flucht überlebt: ein junges Mädchen in BDM-Uniform, die Baskenmütze schräg auf dem Ohr. Mit einem Reißbrettstift hatte Jonathan es an die Wand geheftet. – Das letzte Bild seines Vaters, ein junger Deutsche-Wehrmacht-Leutnant mit Dienstmütze in Feldausführung, lag in einer Mappe, in der auch Jonathans Geburts urkunde lag sowie die Police seiner Fahrrad-Versicherung.35
Damit ist die Marschroute benannt und sind zwei Devotionalien bzw. traditionelle Speicher der Erinnerung ins Spiel gebracht. Der Reisende stellt sich die Ausrüstung zusammen, bevor er seine Queste, seine Suche antritt. Dabei orientiert er sich an den Umgangsformen mit der Vergangenheit aus seinem unmittelbaren Umfeld, so auch seiner Nachbarin, einer Generalswitwe und ihrer Bilderalben: Diese bilden bekanntlich und auch hier einen Zusammenprall von mimetischer Abbildung (Fotografie) und Imagination von Vorstellungsräumen, durch das Medium ausgelöst: »Auf dem Schreibtisch der Generalin lag ein altes Fotoalbum in verschossenen grünen Samt eingebunden, mit Messingecken und -schnallen. Das ließ sich die Generalin reichen, und sie blätterte darin und erklärte Jonathan, der herantreten mußte, die Bilder: Das Eselsgespann vor dem weiß getünchten Wohnhaus, weinberankt, ihre Schwestern in Matrosenkleidchen, der Vater mit Hindenburg zusammen bei der Jagd.«36 Und wie reagiert der quasi heimatlose Jonathan auf all diese Medialisierungen des Vergangenen? »Jonathan sah es mit Verwunderung. In ihm quoll Sehnsucht auf nach einer Zeit, in der weiße Gutshäuser über goldenen Ährenfeldern gestanden hatten, und ein junger Offizier
Schneider 1993, S. 98. – Zwischen luzider Klarheit und Verschwimmen im Numinosen ist hier die Wahrnehmung angesiedelt, die sich auf die schweifenden Bewegungen des Fächers durch den lyrischen Sprecher konzentriert. Hier könnte sich durchaus eine Analogie zu den widersprüchlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Begegnungen auf der Reise des Jonathan Fabrizius ergeben. Die Momente höchster Erkenntnis teilen sich also mit in einem Verwischen und Relativieren herkömmlicher Wahrnehmungsmodalitäten. 35 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 25. 36 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 71.
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kommt geritten, und er wird erwartet am Tor…«37 Jonathan verwechselt bzw. überblendet Heimat mit ostelbischer Topik von Junkertum und Großgrund besitzern, wie sie nostalgisch tradiert werden. Kolportierte Bilder werden zu imaginären Rückzugs- und Sehnsuchtsorten, die nicht frei von Ironie präsentiert werden können. Das ist auch Jonathans Problematik, die Karina Berger wie folgt auf den Punkt bringt: Jonathan does not have any first-hand-memories; much is imagined by the protagonist, prompted by photos, maps and other sources – a trend that is also detectable in other, more recent works about the Nazi past, and which of course may also be seen as a reference to Echolot. Jonathan imagines the treks and the bombardment by Russian fighter planes.38
Aber genau diese Imaginationen forcieren auch die auf Empirie und Authentizität zurückgreifenden Heimaterzählungen: Erinnern ist Imaginieren bzw. sich etwas vorstellen und davon erzählen! Bei Jonathan ergibt sich diese Kolportage-Imagination aus der simplen Tatsache, dass sie völlig an die Medialitäten, ja an die Aufzeichnungsmedien der Erinnerung gebunden ist und nicht aus der Empirie eigener Erfahrungshorizonte heraus rekonstruiert werden kann. Anlässlich der bildungsbürgerlichen Veranstaltung eines abendlichen Konzertbesuchs, auf dem mehrere Generationen des Niveaumilieus anzutreffen sind, schleicht sich bei Fabrizius die latente Bewusstwerdung (s)einer Mangelsituation ein. Heimat, Kultur und Abendland erscheinen dort als große, durch klassische Musik ausgelöste Imaginationen: [G]reise Menschen mit Hörgerät, die an ihr Elternhaus dachten: Die Mutter, ach ja, wie schön sie doch gewesen war, und der Vater hatte neben ihr am Klavier gestanden – chant sans parole – und hatte die Seiten umgeschlagen. All diesen Menschen floß die geschmolzene Musik in vorgeformte, aufnahmebereite Bahnen … »Abendland«, dachte Jonathan, »dies ist das Abendland.« Er hoffte, daß die Menschen, die links und rechts von ihm saßen, es merkten, daß auch er zum Abendland gehörte.39
Die Geburt der Heimat aus dem Geiste der Musik! Sie weckt Assoziationen und Erinnerungen, fusioniert mit einem bildungsbürgerlichen, so gut wie vergessenen
37 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 71. 38 Berger: Heimat, Loss and Identity 2015, S. 123. 39 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 76. – Die Vorstellung eines idealtypischen Niveau milieus – (tendenziell) ältere Menschen mit höherer Bildung, die Konzerte, Theater und Ausstellungen besuchen, jeweils mit hochkulturellem Einschlag – verdankt sich Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M., New York: Campus 1993, S. 283–291.
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Wertehorizont oder Habitat und stellt auch fiktive Bilder von Heimat her. Jonathan orientiert sich dabei an den Imaginationsprozessen, die er aus Gesprächen seiner Umgebung abschöpft. Doch sie sind nur mit der Sehnsucht und nicht der Möglichkeit zur Konkretisation gekoppelt. Heimat und Kindheit sind dabei als Suche nach dem Verlorenen oder niemals Gehabten zu verstehen und nehmen damit utopische Dimension an: Es ist alles aus, alles umsonst! Die Versuche einer Wiederherstellung oder Neuschaffung semantischer Räume der Ich-Individuation, die eigentlich auch Jonathan beschäftigen, werden von Henschel nach Kempowskis Entlassung aus dem Gefängnis präzise benannt: In Bautzen konnte Kempowski davon nur träumen, und wenn er selbst ›in gewisser Weise Kind bleiben‹ wollte, dann wahrscheinlich auch aus Sehnsucht nach der verlorenen Knabenzeit, die dem Häftling paradiesisch erscheinen mußte. Die aufgezwungene Gesellschaft ausgewachsener Männer mit all ihren schlechten Gerüchen und groben Manieren verstärkte zweifellos das Bedürfnis, noch einmal Kind unter Kindern zu sein.40
Ist das nicht analog zu setzen, mit der Suche nach Heimat in Mark und Bein oder auch im Tagebuchband Hamit? Geht es dabei nicht um die Ausfüllung ›identitärer‹ Leerstellen als anthropologischem Grundbedürfnis? Dasjenige nun zu erleben, was man nur vom Erzählen her kennt und das sich in Jonathans Ausführungen über die Konzertbesucher niederschlägt? Doch das Erleben dieser Glücksmomente scheint eben an die jeweiligen Alters- und Entwicklungsstufen gebunden zu sein. Sind diese vergangen oder nie erlebt worden, ergibt sich Tragik: Das war das Dilemma: Der Häftling, der sich in den kindlichen Stand der Unschuld zurückwünschte, gehörte selbst zu den Männern, die einander im Zuchthaus buchstäblich stanken, und für ihn konnte auch in der Freiheit kein Weg mehr zurück in den Sandkasten führen.41
Einige literarische Ausnahmen wären Peter Pan oder der durch einen Treppensturz mental niemals der Kindheit eines Zehnjährigen entwachsene Greis Ludchen Bock aus Wilhelm Raabes Letztwerk Altershausen (1899–1902). Handicap und Idyll bedingen sich dort beinahe und auf ironische Weise gegenseitig.42
40 Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 129. 41 Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 129–130. 42 Vgl. dazu unter anderem: Torsten Voß: Narrative des Alters. Wilhelm Raabes Altershausen. Erzählerische Kompensationsstrategien des Zeit- und Präsenzverlustes. In: Dirk Göttsche/UlfMichael Schneider (Hgg.): Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Anlässlich des 100. Todestages. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 215–230.
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Suche nach Heimat, Familie und Identität Immer wieder ergibt sich daher bei Jonathan als Konsequenz der Wunsch, der Auseinandersetzung mit der für ihn fiktiven Heimat und ihrer identitätsstiftenden Bedeutung auszuweichen: Ohne Schwammdrüber läßt sich das Leben nicht ertragen, dachte er, und er sah seinen Onkel die tote Mutter in die Kirche tragen, jene Frau, die draufgegangen war, die man nicht einmal statistisch erfaßt hatte, die nur als Schnappschuß überdauerte und auch nur dann und wann.43
Dieses Tabula rasa-Konzept erscheint hier als vergeblicher Wunsch, der eigenen Identität oder der Sehnsucht nach einer solchen, räumlich gebundenen Herkunft eigenen Seins entfliehen zu können, ein Momentum, das Karina Berger in ihrer Monographie über den Heimatverlust und das Fluchtmotiv in der Literatur der letzten sechzig Jahre so überzeugend rekonstruiert hat.44 Wie sieht vor diesem Hintergrund der bereits in Culpa aufgestellten Matrix des Reisenarrativs die eigentliche Einlösung der strukturellen Vorgaben des Autors und ihrer Entsprechungen in Jonathans Reise durch Ostpreußen aus? Ein spatiales Korrelat erfahren das vorherige Studium der Karte und die imaginativen Vorstellungsbilder in den ersten Etappen der Reise noch nicht, wohl aber werden die eigene Geburt und die ersten Lebensmomente als Schöpfungsmythos vorgetragen: Sein Onkel kam ihm in den Sinn, er sah den schweren Wagen, von zwei Pferden gezogen, über die vereiste Straße knirschen, und oben auf dem Wagen die Bauersfrau, die ihn gesäugt hatte. Mit bloßer Brust sah er sie, triumphierend als Mutter Erde. – Meine Mutter ist draufgegangen, dachte er, und ihm kam das in diesem Augenblick weniger erwähnenswert vor. Wie viele Mütter hier wohl draufgegangen waren, damals.45
Somit artikuliert sich die Bauersfrau als Melange aus Erdmutter Gaya und Jungfrau Maria, angelehnt auch an Pietà-Darstellungen – damit das große Leid und die Tugenden der Schmerzensmutter und der Barmherzigkeit verkörpernd.46
43 Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 101. 44 Vgl. Berger: Heimat, Loss and Identity 2015. – Auch nicht uninteressant in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Julian Tietz: Der persönliche Leidensvorsprung. Grausamkeit und Schuld in Walter Kempowskis Mark und Bein. In: Spatien 5 (2015), S. 65–74. 45 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 152. 46 Dass solche Lektüren von Kempowski-Texten möglich sind, dokumentieren die verdienstvollen Arbeiten von Gita Leber: »Die Spiegelung Gottes«. Walter Kempowski theologisch gelesen.
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Wobei die Gottesmutter in diesem Roman zwiefach besetzt ist – sie markiert auch den Hortus conclusus der Heimat, des in der Familie Angekommenen. Der entsprechende Passus steht im zehnten Kapitel: Fabrizius ist auf der Straße angesprochen worden und hat sich bei Frau Kuschinski zum Kaffee eingeladen. In deren Wohnung fühlt er sich, trotz widriger Umstände, sofort heimisch: »Als wäre er angekommen, so kam es ihm vor.«47 Ein Déjà-vu-Erlebnis verknüpft die Gegenwartserfahrung mit einem Kindheitserlebnis: Jonathan erfaßte das alles mit einem Blick, es brannte sich ihm in das Netzhautgedächtnis ein. Er setzte sich in einen der Blumensessel, zupfte an seiner Fliege und dachte: Hier bleib ich jetzt erst mal ʼne Weile sitzen. […] Das Bettzeug auf dem Sofa: Als er Mumps gehabt hatte, da hatte er im Arbeitszimmer seines Onkels liegen dürfen.48
Die Begegnung mit Maria Kuschinski, der psychisch erkrankten Tochter und Schmerzensfrau, beschäftigt ihn lebhaft: Jonathan erfuhr, daß Maria immer so sonderbare Gedanken im Kopf habe – das Fahrrad, drüben, auf der andern Straßenseite! –, die gingen nicht weg, bissen sich fest, rotierten immerfort, Gedanken von Teufeln und Weltuntergang … Und während die Mutter davon sprach, lag Maria da und hörte sich das an und horchte in sich hinein, was die Unterwelt dazu sagt. Ihr Körper zeichnete sich unter der Decke ab, das hochstehende Becken und die kleinen Schultern, und sie hatte die Decke bis unters Kinn gezogen, sich eingemummelt, das kurze Löckchenhaar, nicht eben frisch gewaschen, und auf dem Tisch Pillenröhrchen, wie sie herumliegen, wenn ein Selbstmörder gefunden wird.49
Schon als Kind war sie immer »so nachdenklich« und sah den »Weltuntergang in jeder Form.«50 »[Z]wanghafte Gedanken«51 sind wie eine Heimsuchung über sie gekommen, und Hoffnung wird in »eine Medizin« gesetzt, »die helfen würde, den ungeordnet strudelnden Gedankenstrom im Gehirn dieses Menschenkindes zu glätten.«52 Maria hat einen kleinen Bruder, Tadzio-haft schön, geradezu eine Offenbarung an Schönheit, »wie man es selten zu sehen kriegt«.53 Diesem Kind
Berlin: EB-Verlag 2011 (Texte zur Wirtschafts- und Sozialethik, 9) und Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen: Wallstein 2012 (Göttinger Studien zur Generationsforschung, 9). 47 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 125. 48 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 125. 49 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 127–128. 50 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 131. 51 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 130. 52 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 132. 53 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 134.
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wendet sich Jonathan zu, ähnlich, wie sich die Schriftgelehrten dem zwölfjährigen Jesus im Tempel zugewandt hatten.54 Noch die Konfrontation mit dem Sterbeort der Mutter in Rosenau artikuliert sich als beinahe mystische Initiation und wird damit zur eigentlichen Klimax der »Polentour«. Kempowski inszeniert Jonathans Erfahrung als Epiphanie und orientiert sich dabei an einer Metaphorik des Erhabenen, die von Pseudo-Longinus bis zu Walter Benjamin Lichterscheinungen als nicht benennbare Begegnung mit dem mystischen Nu begreift: Als Jonathan sich den Abhang hinuntertastete, rutschte er aus und schlug mit dem Hinterkopf auf. Wie ein Kugelblitz fuhr Helligkeit in sein Gehirn. Er war einen Augenblick benommen, jetzt hatte sich etwas geändert! dachte er. Dieser Keulenschlag hatte die Gedanken- und Bildpartikel seines Gehirns für Sekunden zu Sternen und Klanglinien formiert, unentschlüsselbar und doch bedeutsam.55
Das ist demgemäß kein epistemologisch zu verortendes Heureka-Erlebnis, sondern eher als Bewusstwerdung zu verstehen, dass etwas geschieht und eintritt und sich im Jetzt vollzieht. In Anlehnung an die französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und Gaston Bachelard lässt sich auf eine »affektive Dimension der Raumwahrnehmung« verweisen, »durch die ein Subjekt zur Welt in Beziehung tritt«.56 Das widerfährt Jonathan auf dem Kirchhof in Form eines visionär und epiphan erzeugten Sturzes. Gerade eine solche Episode verteidigt […] ein weiteres Mal die subjektive Erfahrungsdimension gegen die Ansprüche einer Theorie des Verstandes, ohne dass die Einbeziehung des Körpers sich in Umkehrung dem Einfluss einer ›objektivierenden‹ Wissenschaft ergeben würde.57
Genau das wird gezielt auktorial durch das Unmittelbarkeitserlebnis jenseits aller Planbarkeit verdeutlicht und behauptet sich gegenüber jedem feuilletonistischen Relativismus. Vielleicht aber ist für den sich als entwurzelt wahrnehmenden Journalisten Fabrizius so etwas wie Heimat nur in derlei Jetzt-Momenten erfahrbar, und eben nicht benennbar, sondern steht insofern außerhalb der journalistischen Profes-
54 Lk 2, 41 ff. 55 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 201. 56 Anna-Lena Hermelingmeier: Wahrnehmung von Heimat und Exil. Am Beispiel von Texten deutschsprachiger Exilautorinnen und -autoren des 20. Jahrhunderts. München: edition text + kritik 2015, S. 43. 57 Hermelingmeier: Wahrnehmung 2015, S. 42–43.
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sion, alles bezeichnen und kommentieren zu können.58 Hier ist dieser durch Mark und Bein gehende Moment buchstäblich erreicht, wo diese vielgerühmte Tätigkeit nicht mehr greift und Jonathan diesen Moment auch nicht vermitteln kann oder will: Ganz allmählich löste sich die Starre. Gott sei Dank hatte es niemand gesehen, die andern gingen vorn herum, denen war dieser Weg zu abenteuerlich gewesen. Jonathan schämte sich, daß er hier mit seinen dreiundvierzig Jahren ausgerutscht war und hingefallen.59
Heimaterfahrung als Geburtsstunde des Schriftstellers Also immer noch diese Geburt des Selbst aus den Modalitäten der Wahrnehmung der Anderen. So kann kein Heimatgefühl aufkommen, sondern lediglich die stark reflektierte Konstruktion einer Ich-Erfahrung aus einer vom Selbst mitbetriebenen Entfremdung. Diese Unteilbarkeit der Heimat mit anderen und auch die Unmöglichkeit einer Kompensation des nie Dagewesenen und nur über Modi des Fingierens (durch Fotografien, Erzählungen etc.) konstruierten Narrativs, zeigt sich auch in Jonathans Umgang mit Hansi Strohtmeyers Vorschlag, die Todesstätte des Vaters aufzusuchen: »Weißt du was?« sagte Hansi Strohtmeyer, »wenn wir hier schon nicht reinkommen [ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, T.V.], dann fahren wir wenigstens zu deinem Vater.« Das könne er nicht verlangen, sagte Jonathan, und er war ganz ablehnend, warum die alten Geschichten wieder aufrühren, und: war es nicht schon viel zu spät? Würden sie das Flugzeug noch kriegen? […] Und Jonathan wollte da nicht hin, aber er wurde nicht gefragt. Hans Strohtmeyer ließ sich nicht abbringen von seiner Idee, die ihm schon in der Nacht gekommen war.60
58 Bereits Franz Werfel sah diesen Beruf kritisch. In seinen »Theologumena« schreibt er: »Der Journalist ist ein Extravertierter, der alles weiß, was geschrieben steht, obwohl er nichts gelesen hat. Der Literat ist ein Introvertierter, der nichts weiß, was geschrieben steht, obwohl er alles gelesen hat.« Franz Werfel: »Leben heißt, sich mitteilen«. Betrachtungen, Reden, Aphorismen. Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Knut Beck. Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 273. 59 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 201. 60 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 226.
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Muss hier ein Fluchtverhalten bei Jonathan konstatiert werden? Auf diese Weise wird die Suche nach der Heimat jedenfalls gerade nicht zur Selbstsuche, da sie dem Ich von anderen externen Faktoren aufoktroyiert wird. Und wie begegnen sich Vater und Sohn? Jonathan mußte sich zwingen, an den Deutsche-Wehrmacht-Leutnant zu denken, der sein Vater gewesen war, Mütze in Feldausführung, mit Kniff, Breeches. Ein fremder Mann und doch ganz nah und doch da, wieder da. Eine harte, unrasierte Wange an seiner Wange, und den Koffer mit Tagebüchern und Briefen, der in Bad Zwischenahn bei Onkel Edwin auf dem Dachboden stand – bis heute nicht geöffnet. Ein Toter war sein Vater, der es mitkriegte, daß man hier und jetzt seine letzten Erdensekunden aufsammelte, ein Toter, der sich drüben nun erhob aus dem warmen Schlamm – so lange gelegen, so lange geschlafen ... eine Seele, die jetzt herüberguckte, ob man sie meint? Was hatte er zu schaffen mit diesem jungen Mann da unten, dem der Seewind die Haare nach vorn wirft, der jetzt geradewegs auf jene Stelle zuschreitet, auf der es damals geschehen war, wo der Blitz ihm den Kopf abgerissen hatte und die Gliedmaßen atomisiert.61
Über die Blitzmetapher und die Longue durée des Todes erfolgt der Analogieschluss zwischen Jonathan und seinem Vater. Mystische Nu-Erfahrung sowie ein Bild aus Psalm 69,3 (»Ich bin in tiefem Schlamm versunken«) sind reiner Vollzug von etwas Besonderem: »Sohn warst du und Vater zugleich.«62 Und beide kriegten quasi etwas an den Kopf! Wichtig ist hier auch der Versuch des Nachvollzugs über die Wahl einer Perspektive, eines Blicks auf die Landschaft, also eine Art Imitatio Papae?63 [U]nd Jonathan stellte sich mit dem Rücken zu dem Bunker, und er sah nun das, was sein Vater in den letzten Stunden seines Lebens gesehen hatte. Er schickte seinen Blick bis zu den Rauchfahnen am Horizont, und wenn dieser Blick etwa Materielles gewesen wäre, eine Taube vielleicht, dann hätte er zurückkommen können als ein Echo. Alle Blicke, von dieser Stelle ausgesandt, hätten in diesem Augenblick zurückkommen können […]. Alle Gleichgültigkeiten wären zurückgekommen, alle Hoffnungen, alle Verzweiflungen – als ein Windstoß von verblaßten Bildern.64
61 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 229–230. 62 Walter Kempowski: Langmut. Gedichte. München: Knaus 2009, S. 29. 63 In diesem Fall wäre Papae, mit Kempowskis Kalauern gesprochen, eben nicht »pupe« und schon gar nicht »völlig piepenhagen«. Die Bonmots reichen nicht mehr aus, um die Leerstelle mit Sinnangeboten zu kompensieren. 64 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 231.
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Die Flüchtigkeit immaterieller Bilder wird hier überdeutlich hervorgehoben. Was bleibt substanziell fassbar zwecks der Veranschaulichung von Heimat? Der Autor behilft sich mit einem Gemeinplatz touristischer Praxis: Jonathan bückte sich und nahm ein wenig Sand und schüttete ihn in Marias Medizinfläschchen. Ein Kriminalinstitut hätte vielleicht mikroskopische Splitter seines Vaters ausmachen können zwischen den winzigen braunen, schwarzen und quarzenen Steinchen. Und das war das Ende der Zeremonie.65
Diese Nüchternheit reibt sich sowohl mit der sakralen wie auch mit der pathetischen Überhöhung der Suche nach Heimat, Familie und Identität durch den posthum zu Wort kommenden gefallenen Offiziersvater: ›Es war mein Sohn, der nach mir gesucht hat‹, flüsterte er seinen Kameraden zu, und die sagten es weiter: ›Sein Sohn hat nach ihm gesucht.‹ Und Jonathan dachte: ›Meine Mutter ist auf der Flucht draufgegangen, und meinen Vater hat es auf der Nehrung erwischt.‹ Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.66
Das Zitat aus Jesaja 43, 1 gibt dem suchenden Sohn wie dem alttestamentarischen Propheten die Möglichkeit zur Orientierung, impliziert aber zugleich die Unhintergehbarkeit des Gebundenseins an eine übergeordnete Vaterschaft. Der Stempel personaler Identität ist gesetzt worden, wohingegen Selbstgewissheit in der realen Welt, der Lebenswelt »Hamburg«, durch Ullas Auszug am Ende der Episode verloren geht. Zwischen einem lakonischen
65 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 231–232. – Das findet sich laut Henschel auch deckungsgleich in Kempowskis Verhaltensweisen anlässlich seines Besuchs in Rostock um 1990: »Aus der Marienkirche nahm er Mörtelsplitter nach Nartum mit, und er gab seiner Novellenfigur Jonathan Fabrizius Gedanken, die ihn selber beschäftigten.« Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 159. Bis hin zum Abfüllen von Sand vom Ostseestrand (wo sein alter Herr als Offizier gefallen ist, hier die Frische, dort die Kurische Nehrung) geht es auch Fabrizius nach Einschätzung von Henschel darum, »den eigenen Geist am Ende aller Tage in die Hände seines Schöpfers befehlen zu können und von ihm aus der Verantwortung entlassen und erlöst zu werden. Danach verlangt es auch den glücklosen Lebenskünstler Jonathan Fabrizius, als er nach den sterblichen Überresten seines Vaters sucht, der bei einem Bombentreffer auf einen Bunker an der Ostseeküste den Tod gefunden haben soll. […] Mit diesem Bibelzitat [gemeint ist Jesaja 43, 1 ff., T.V.] schließt das vorletzte Kapitel in ›Mark und Bein‹. Die Größe der Verheißung, auf die Kempowski hier angespielt hat, gibt sich erst im vollständigen Vers des Propheten Jesaja zu erkennen: ›Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.‹« Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 176–177. 66 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 232.
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»Gleichviel«67 und einem irritiert fragenden »Was das nun wieder zu bedeuten hatte?«68 bewegt sich Fabrizius in dieser finalen Situation hin und her, einer typischen Leerstelle innerhalb der Werke Kempowskis, angelegt zwischen der Akzeptanz des Gegebenen und dem Sondieren weiterer möglicher Begründungen dafür. Zugleich bestätigt es die Unvermittelbarkeit von Heimat einem Dritten gegenüber, hier nun plastisch und spatial vorgeführt durch die leere Wohnung, welche die Unmöglichkeit von Kommunikation überhaupt widerspiegelt: Wem sollte er nun von seinen ostpreußischen Tagen erzählen? Von seinen Vergangenheitserlebnissen, daß es nicht ungefährlich ist, sich mit Sachen zu beschäftigen, die man besser ad acta legt. […] Er dachte an Rosenau und an die Friedhofsmauer, und daß er gestürzt war, der helle Schlag auf seinen Hinterkopf, und er sah ein endloses Hintereinander von Türen, die sich ganz allmählich schlossen.69
Und dennoch stehen die Türen der Lesenden und Diskutierenden mal wieder offen, sodass wir hier – vermutlich – die Geburtsstunde des Schriftstellers Jonathan Fabrizius erleben. Denn auch der Schriftsteller weiß nicht, wem er was erzählen soll: Er tut es einfach, und das Publikum wird sich schon finden.
Gewinn und Verlust der Heimat Große Teile von Kempowskis Werk setzen sich mit der Bedeutung der Vergangenheit, also auch der verlorenen und nicht mehr restituierbaren Heimat für die Gegenwart, ja für das gegenwärtige Erleben auseinander.70 Das Erlebnis wird vom Heimatsuchenden und Heimat Erschreibenden als Resignation bilanziert, wenn er in seinem Hamit-Tagebuch gegen Ende des Jahres 1990 nach seinen Rostock-Besuchen nurmehr festhalten kann: »Heimat können wir abhaken. Geblieben ist das Heimweh.«71 Dahinter offenbart sich eine Reminiszenz gegenüber der unerreichbaren romanti-
67 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 237. 68 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 238. 69 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 237. 70 Vgl. dazu den vorzüglichen Aufsatz von Anna-Marie Humbert/Kevin Kempke: Heimat und Neubeginn. Die Wiedervereinigung in Tagebüchern von Walter Kempowski und Günter Grass. In: Philipp Böttcher/Kai Sina (Hgg.): Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck – Poetik – Werkstrategie. München: edition text+kritik 2014, S. 160–176. 71 Kempowski: Hamit 1990, S. 416 (Eintrag vom 31.12.1990).
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schen Utopie von einem Goldenen Zeitalter, da eigentlich nur durch die Sehnsucht nach eben einer solchen Utopie, nicht aber durch Restitution von etwas erfahren werden kann.72 Für den, der seine Heimat verlassen hat, ist sie (wenn überhaupt) nur momenthaft bzw. epiphan erlebbar. Es handelt sich dann um eine Erfahrung, die nicht geteilt und kultiviert werden kann, wie an Jonathans Zusammenbruch vor der Kirche in Rosenau deutlich geworden ist. Das impliziert ein Heimaterleben ex negativo, welches jedoch von existenziellen Intensitätserfahrungen begleitet ist. Denn was könnte intensiver erlebt werden, als die unstillbare Sehnsucht? Dementsprechend widersprüchlich betrachtet der Tagebuchautor Kempowski die Vergangenheit. Sie ist für ihn »ein zernarbtes, aber noch ziemlich intaktes Gemäuer, das ich gerne immer wieder durchforsche, wenn man mich in Ruhe läßt.«73 Dieses Gemäuer der Vergangenheit bringt der Chronist auch mit sich und der eigenen Biographie in Einklang, mit den ihm entzogenen Lebens- und damit auch Raumabschnitten, denn wie es Anna-Lena Hermelingmeier in ihrer aussagekräftigen Monographie zum Heimatkomplex herausstellt, bedingt beides einander und formt eine Einheit.74 Insofern verwundert es nicht, dass Kempowski den Dreharbeiten eines ihn während seines Rostock-Besuchs begleitenden Fernsehteams sehr skeptisch gegenübersteht: Es ist schon tragisch: mit Akribie einen Film vorbereiten und drehen, von dem man schon vorher weiß, daß er genau das zeigen wird, was man nicht meint, und daß das herausgeschnitten wird, was einem am Herzen liegt. Die Geduld der Techniker, das Produzieren von Einfällen, alles umsonst, ja sogar schädlich, denn die Kraft für das Wesentliche geht dadurch verloren. Was hier entsteht, ist nicht einmal eine Metapher. Das Erinnern funktioniert doch ganz anders.75
72 Vgl. Humbert/Kempke: Heimat und Neubeginn, 2014, S. 170: »Ganz im Sinne der Romantik bleibt das eigentliche Ziel unerreichbar, sodass einzig die ständige Aktualisierung des Heimwehgefühls als Voraussicht auf eine kommende Erlösung übrigbleibt.« Schön gesagt, denn diese tritt niemals ein! So wird deutlich, dass die durch die Wende ermöglichte Rückkehr nach Rostock nicht die von ihm erhoffte ›Heilung‹ bringt. Diese Erkenntnis aber ist das Resultat seiner versuchten literarischen Annäherung an die Heimat, bei der das Ziel der Wiederherstellung eines unbelasteten Heimatgefühls nie erreicht werden kann. Es bleibt das prozesshafte und permanente Gefühl des Heimwehs, wie es im Tagebuch Hamit vorgeführt wird. (Humbert/Kempke: Heimat und Neubeginn 2014, S. 175) – Aber genau das ist für den Schriftsteller auch der Katalysator des eigentlichen Schreibprozesses. Er schreibt sich in die Sehnsucht hinein und hält sie durch seine Praxis der Memoria und den Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit aufrecht, ohne sie stillen zu können. 73 Kempowski: Hamit 2011, S. 61 (Eintrag vom 16.1.1990). 74 Hermelingmeier: Wahrnehmung 2015. 75 Kempowski: Hamit 2011, S. 62 (Eintrag vom 16.1.1990). Vgl. dazu den Beitrag von Katrin Möller-Funck und Stephan Lesker in diesem Band.
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Hier wird sich wieder mit dem Verhältnis von öffentlichem Anspruch und intimen Erleben auseinandergesetzt. Nicht einmal das uneigentliche Sprechen der Metapher funktioniert innerhalb der hier referierten medialen Berichterstattung, um sich dem privaten Erinnerungskomplex anzunähern. Dazu bemerkt Volker Ladenthin: Kempowski beschreibt, dass das Filmteam gerade das zu Zeigende nicht zeigt, dass es nicht gelingt, eine Metapher für das zu Zeigende zu bilden. [...] Und so wird nichts gezeigt, was nicht vorher schon feststeht. Das Paradox von Abbildern ohne Realität.76
Implizit wird damit auch Jonathans Arbeitsweise erfasst, der, einem lukrativen Schreibauftrag folgend, sich auf seiner Reise die niemals erlebte Heimat als ein Abbild ohne Realität zu erschreiben sucht. Vielleicht dispensiert ihn das von aller Ideologisierung des Heimatbegriffs, zumal Erleben ›über‹ aller Begrifflichkeit steht. Nach Anna-Lena Hermelingmeier (und Hermann Bausinger) verhält sich »die Dekonstruktion der ideologischen Aufladung des ›Heimat‹-Begriffs« äquivalent zu seiner »Rückführung auf das subjektive Moment und seine Lebenswirklichkeit. ›Heimat‹ wird zur unmittelbaren Erfahrungswirklichkeit erklärt«77, was nicht nur Jonathans Erfahrungspotentiale liberalisiert und emanzipiert, sondern auch die Literatur, die davon handelt: Literatur fungiert als Katalysator der mystischepiphanen Begebenheit auf dem Kirchhof zu Rosenau. Somit wird die Heimaterfahrung zu einem speziellen Modus ästhetischen Erlebens von Zuständen, jenseits von Revisionismus und den Ansprüchen politischer Sauber- bzw. Wendemäntel, worin ein auktoriales Hauptanliegen des Erzählers Kempowski auch über Mark und Bein hinaus zu postulieren wäre. Heimat liegt bei Kempowski vielleicht im Wiedererkennen des gesamten Werkzyklus und der Werkbiographie auch jenseits dieser Episode begründet, als transtextuelles, aber dem Werk inkludiertes Wiedererkennen, das sich bei der Lektüre von Mark und Bein ergibt. Das Schreiben und die Lektüre stellen die Heimat über die Genese eines Gesamtkosmos her. Das bestätigt auch Kempowski selbst in der 2007 erfolgten Kommentierung seines Tagebuchs Somnia, wo es heißt: »Er schiebt sich sacht an Alles umsonst heran. Zusammen mit Echolot und Trompeten ein Zeichen, daß das Thema für mich noch lange nicht erledigt ist.«78 Der Hinweis auf den noch 2006 publizierten und desillusionierenden Vertriebenenroman Alles umsonst und das dort erzählte Schicksal der Gutsbesitzerfamilie von Globig beweist die Langlebigkeit und Unabgeschlossenheit von Thema und Narrativ, die ebenso ›offen‹ bleiben muss wie die Suche nach der Heimat.
76 Volker Ladenthin: Gestalt und Gestaltung. Zu Walter Kempowskis Adaption der Gattung Tagebuch. In: Böttcher/Sina (Hgg.): Walter Kempowskis Tagebücher 2014, S. 54–73, hier S. 66. 77 Hermelingmeier: Wahrnehmung 2015, S. 41. 78 Kempowski: Somnia 2009, S. 439 (Eintrag vom 31.10.1991).
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Carolin Krüger
Gegen den Strich gebürstet Phraseologismen und ihre Funktionen in Walter Kempowskis Mark und Bein
1 Von Floskeln, Klischees und Redensartlichem – festgefügte Wortverbindungen als typischer Bestandteil des Kempowski-Stils Der vorliegende Aufsatz ist als Beitrag zur Kempowski-Forschung vonseiten der Sprachwissenschaft zu verstehen. Er stellt ein besonderes, für Kempowskis Texte als typisch angesehenes sprachliches Phänomen in den Mittelpunkt und fragt nach seinen Funktionen für Alltagskommunikation, literarische Texte und speziell für Kempowskis Roman Mark und Bein. Einen linguistisch geprägten Zugang zu Kempowskis Werk hat bereits HansWerner Eroms in mehreren Aufsätzen nahegelegt. Darin widmet er sich mit den Mitteln des linguistischen Teilgebietes der Stilistik Kempowskis Werk und stellt wesentliche sprachliche Formen, die Kempowskis Stil bestimmen, heraus. Dazu gehören verschiedene Frageformen als besondere, in erzählenden Texten nicht unbedingt erwartbare Satzmodi, der Gebrauch von Konjunktiv und Passiv sowie der gehäufte Einsatz von – wie er sie nennt – »Floskeln und Redensarten«.1 Bei Letzteren befindet man sich nach linguistischer Terminologie im Bereich der Phraseologie. Auf Eroms’ wenige Befunde zum Phraseologismengebrauch bei Kempowski wird einzugehen sein, sie müssen allerdings erweitert und auf Mark und Bein bezogen werden – ein Roman, den Eroms bei seinen Betrachtungen nicht explizit berücksichtigt hat. Hilfreich ist dabei die verdienstvolle Untersuchung von Andreas Nolte2 aus parömiologischer Perspektive. Ich werde zunächst grundlegende, von der Linguistik angenommene Eigenschaften von Phraseologismen erklären und sehr kurz zwei typologische Sondergruppen vorstellen, die für Kempowskis Werk ausgesprochen bedeutsam sind.
1 Hans-Werner Eroms: Finden statt erfinden. Walter Kempowskis sprachliche Erinnerungs arbeit. In: Spatien 5 (2011), S. 119–139, hier S. 129. 2 Andreas Nolte: »Man muss auf seiner Sprache spielen wie auf einem Instrument«. Sprich wörter und Redensartliches bei Walter Kempowski. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. https://doi.org/10.1515/9783110784084-004
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Carolin Krüger
Dann werde ich auf kommunikative und textuelle Funktionen von Phraseologismen eingehen, um anschließend anhand von etlichen Beispielen die Funktionen der Phraseologismen in Mark und Bein zu erläutern. Diese Funktionen sind teilweise auch auf literarische Texte anderer Autoren übertragbar (so etwa Phraseologismen als Sprachportrait und Figurencharakterisierung oder als Zeit- und Kulturportrait), teilweise sind sie spezifisch für Kempowskis Werk (phraseologische Leitmotive, Effekte der Ironie und des Schreckens, intertextuelle Signale). Anders als bei Eroms ist hier keine Integration der Stilmittel in ein grundlegendes Gestaltungsprinzip, nach dem sich Kempowskis Texte lesen oder deuten lassen, intendiert (vgl. das Fraktalprinzip bei Eroms).3 Das ist, wenn man einen eingegrenzten sprachlich-stilistischen Aspekt wie den der Phraseologie herausgreift, auch schwerlich möglich. Allerdings möchte ich zeigen, dass bereits ein so kleiner, abgezirkelter Bereich aufschlussreiche Beobachtungen erbringen kann. Phraseologismen sind in erzählenden Texten durchaus erwartbar. Sie sind im allgemeinen Sprachgebrauch allgegenwärtig; die meisten Sprecher greifen ständig und unbewusst auf sie zurück, weil Phraseologismen als lexikalische Einheiten wie ein einzelnes Wort schnell aus dem mentalen Lexikon abrufbar sind. In literarischen Texten, die nicht wie unsere alltäglichen Sprachbeiträge zufällig und ohne Mühe entstehen, sondern die bewusst, oftmals jedes Wort abwägend, gestaltet werden, treten sie auch auf, aber nicht mehr oder weniger zufällig, sondern intentional, d. h. mit besonderen Wirkabsichten. Gerade in Texten von Walter Kempowski sind Phraseologismen häufig und haben spezifische Funktionen. Dass Phraseologismen bei Kempowski eine wichtige Rolle spielen, ist in der Linguistik schon verschiedentlich aufgefallen. Nicht nur Eroms zählt »Floskeln und Redensarten« zu den Bestandteilen eines Individualstils bei Kempowski. Interessanterweise nutzen linguistische Werke zur Phraseologie Kempowskis Romane als Teil ihres Korpus bzw. greifen zur Erläuterung einzelner Punkte gerne auf Beispiele aus seinen Romanen zurück. So wird einem der Grundlagenwerke in diesem Bereich, dem Handbuch der Phraseologie, nicht nur ein Phraseologismus vorangestellt, dessen Herkunft nicht auf einen einzelnen Sprecher zurückführbar ist (»Alles für die Katz!«),4 sondern auch das Motto, das Kempowski für seinen Roman Tadellöser & Wolff gewählt hat (»Alles frei erfunden!«).5 Im Handbuch selbst gehen die Autoren dann auf die stark phraseologische Familiensprache der Kempowskis der Deutschen Chronik ein, charakte-
3 Eroms: Finden statt erfinden 2011, S. 130. 4 Harald Burger/Annelies Buhofer/Ambros Sialm: Handbuch der Phraseologie. Berlin/New York: De Gruyter 1982, S. V. 5 Burger/Buhofer/Sialm: Handbuch der Phraseologie 1982, S. V.
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risieren sie als Gruppensprache, die der »Bindung nach innen und [dem] Schutz nach außen«6 diene. Damit nutzen die Autoren hier Kempowskis Texte, v. a. Tadellöser & Wolff, als Belegreservoir für authentische Sprachhandlungen; auf die spezifischen Funktionen, die die Phraseologismen für den literarischen Text erfüllen, gehen sie allerdings nicht näher ein. Auch Harald Burger betrachtet in seinem Standardwerk Phraseologie entsprechende Textstellen aus Kempowskis Deutscher Chronik. Er deutet die durch Phraseologismen realisierten Sprachhandlungen zum einen handlungsimmanent, z. B. wenn er den Sprichwortgebrauch der Figuren innerhalb der erzählten Episoden als argumentativ charakterisiert,7 zum anderen beschreibt er aber auch, was der Einsatz der Phraseologismen für den Text leistet, z. B.: »Gleichzeitig wird durch die Sprichwörter die Sprech- und Denkweise des Bürgertums in den Anfängen der Nazi-Zeit charakterisiert«.8 Der Band der bekannten Duden-Reihe, der unter dem Titel Redewendungen häufig gebrauchte Phraseologismen aufführt, nutzt als Belegkorpus nicht nur zahlreiche Zeitungen, sondern auch verschiedene belletristische Texte und Sachtexte, u. a. auch Kempowski-Romane (Aus großer Zeit, Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold, Ein Kapitel für sich). Ein Beispiel-Artikel: Unter dem Lemma »einen Pik auf jmdn. haben« findet sich als Beleg: »Dänen und Schweden, das sei schon immer Hieb und Stich gewesen… Die Norweger… ihrerseits hätten einen Pik auf die Dänen (Kempowski, Tadellöser 272)«9 und so ist das an zahlreichen weiteren Stellen dieses Bandes. Auch der Band Zitate und Aussprüche der DudenReihe führt zumindest »Gut dem Dinge« als Lemma auf 10 und unterstützt damit das beobachtete Phänomen, dass Phraseologismen aus Kempowskis Romanen ihren Weg in die Alltagssprache gefunden haben (siehe Autorphraseologismen). Offenbar gilt Kempowskis Werk auch Linguisten mittlerweile als Fundgrube für Phraseologismen aller Art. Wichtiger für eine nicht nur linguistische Erforschung von Kempowskis Texten wäre es aber, seine Romane nicht als Belegkorpus zu nutzen, sondern herauszuarbeiten, mit welchen Funktionen die Phraseologismen darin eingesetzt werden und diesen Einsatz auch für die Textdeutung zu nutzen. Ein entsprechender Versuch soll im vorliegenden Aufsatz unternommen werden.
6 Burger/Buhofer/Sialm: Handbuch der Phraseologie 1982, S. 131. 7 Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 5., neu bearbeitete Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2015, S. 123. 8 Burger: Phraseologie 2015, S. 123. 9 Duden: Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, hg. von der Dudenredaktion, 4., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: Duden 2013, S. 570. 10 Duden: Zitate und Aussprüche, hg. von der Dudenredaktion. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Duden 2017, S. 235.
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2 Charakteristika von Phraseologismen Phraseologismen werden zahlreiche Eigenschaften zugeschrieben. Dabei geht man von zwei Kerneigenschaften aus, damit überhaupt von einem Phraseologismus die Rede sein kann. Das erste Charakteristikum, die sogenannte Polylexikalität, ist relativ offensichtlich: Ein Phraseologismus ist ein Wortgruppenlexem, d. h. er besteht zwangsläufig aus mehr als einem Wort. Die Untergrenze ist also relativ unproblematisch. Die Obergrenze im Umfang von Phraseologismen wurde gerade zu Beginn der linguistischen Phraseologieforschung kontrovers diskutiert. Mittlerweile ist eine weite Auffassung etabliert: [D]er Satz gilt als die obere Grenze phraseologischer Wortverbindungen. Kleine Texte, die mehr als einen Satz umfassen, also Sprüche, Gedichte, Gebete usw., können einen Status haben, der demjenigen der Phraseme vergleichbar ist, wenn sie nicht nur von einzelnen Personen auswendig gelernt werden, sondern zum Sprachbesitz größerer Gruppen, u. U. ganzer Generationen gehören.11
Auch bei Kempowski gibt es solche phraseologismenähnlichen Phänomene, die in den Romanen der Deutschen Chronik tatsächlich zum Sprachbesitz einer bestimmten Generation und einer bestimmten Schicht gehören. Beispielsweise kann der Wahlspruch der Familie de Bonsac (»Bonum bono, dem Guten das Gute«)12 als ein solches Phänomen gedeutet werden. Der individuelle Wahlspruch mag außerhalb der Familie nicht bekannt sein, aber das generelle Existieren eines solches Familienspruches, der auch auf Familienwappen etc. abgebildet wird, verweist auf eine schichtenspezifische, (groß-)bürgerliche Praxis. Weiterhin verwendet Kempowski zahlreiche Zitate aus Gedichten, Liedtexten etc., die stark zeittypisch sind und Angehörigen bestimmter Generationen bekannt sein dürften, z. B. »Wildgänse rauschen durch die Nacht« von Walter Flex (TW 65) oder das Lied »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn«, gesungen von Zarah Leander (TW 289). Auch solche phraseologismenähnlichen Phänomene werden sehr bewusst, mit einer bestimmten Absicht vom Autor eingesetzt, und zwar mit Absichten, die den Funktionen ähnlich sind, die die tatsächlichen Phraseologismen bei Kempowski haben. Zur zweiten Kerneigenschaft von Phraseologismen: Es handelt sich um Kombinationen von Wörtern, die nicht nur für einen einmaligen Zweck so zusam-
11 Burger: Phraseologie 2015, S. 15. 12 Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Penguin 2016, S. 12, im Folgenden zitiert mit der Sigle TW und der entsprechenden Seitenzahl.
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mengestellt wurden; das Syntagma tritt so, in dieser Form und Reihenfolge von Wörtern, häufiger in der Kommunikation auf. Dies wird als Stabilität oder Festigkeit bezeichnet. Die Sprachgemeinschaft kennt den Phraseologismus in genau dieser Kombination von Wörtern und er ist – ähnlich wie ein einzelnes Wort – gebräuchlich.13 Die einem Einzelwort vergleichbare Gebräuchlichkeit heißt: Wenn jemand einen Phraseologismus hört oder liest, versteht er ihn – ohne auf die potentielle wörtliche Bedeutung zurückgreifen zu müssen – unmittelbar in der phraseologischen Bedeutung; und wenn jemand ein Objekt oder einen Sachverhalt benennen […] will, steht ihm dafür […] der Phraseologismus in der gleichen Weise zur Verfügung, wie ihm u. U. ein Wort zur Verfügung steht.14
Festigkeit/Stabilität ist psycholinguistisch, strukturell und pragmatisch begründbar. Psycholinguistisch ist der Phraseologismus wie ein Einzelwort als Einheit gespeichert und wird komplett abgerufen,15 strukturell weisen Phraseologismen morphosyntaktische Irregularitäten und semantische Restriktionen auf,16 einige von ihnen sind pragmatisch auf bestimmte Kommunikationssituationen bzw. sprachliche Handlungen festgelegt.17 Die Semantik von Phraseologismen ist oftmals besonders, was in obigem Zitat bereits durch die Gegenüberstellung von phraseologischer und wörtlicher Bedeutung erwähnt wurde. Es ist möglich, dass ein Phraseologismus eine wörtliche Bedeutung hat, die wie bei einer freien Wortgruppe nach dem Kompositionalitätsprinzip die Summe der Bedeutungen der einzelnen beteiligten Wörter darstellt. Vor allem aber hat der Phraseologismus eine phraseologische Bedeutung (alltagssprachlich auch als übertragene Bedeutung bekannt), d. h. die Bedeutung, die die Sprachgemeinschaft von einem Phraseologismus kennt. Ein einfaches Beispiel: Bei dem Phraseologismus »die Flinte ins Korn werfen« ist es nicht völlig undenkbar, dass jemand tatsächlich eine Waffe in ein Weizenfeld o. Ä. wirft (= wörtliche Bedeutung), die phraseologische Bedeutung ist aber so etwas wie ›aufgeben‹, ›etwas nicht weitermachen, weiterverfolgen‹. Lexikalische Einheiten, die polylexikalisch und fest/stabil sind, sollen im weiteren Sinne als Phraseologismen gelten. Soll eine lexikalische Einheit zu Phraseologismen im engeren Sinne gehören, dann muss eine dritte Eigenschaft vorliegen, die sogenannte Idiomatizität, die sich auf das oben beschriebene Verhältnis
13 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 16. 14 Burger: Phraseologie 2015, S. 16. 15 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 17. 16 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 20. 17 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 29.
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zwischen wörtlicher und phraseologischer Bedeutung bezieht. Ein Phraseologismus gilt als idiomatisch, wenn eine Diskrepanz zwischen der wörtlichen und der phraseologischen Lesart besteht, so wie beim bereits angeführten Beispiel »die Flinte ins Korn werfen«. Bei voll-idiomatischen Phraseologismen besteht keine Möglichkeit, aus der wörtlichen die phraseologische Bedeutung abzuleiten; man muss die phraseologische Bedeutung irgendwann einmal gelernt haben. Idiomatizität ist eine graduelle Frage, einige Phraseologismen sind stärker idiomatisch, andere weniger, wieder andere sind nicht-idiomatische Phraseologismen, bei denen keine Diskrepanz zwischen wörtlicher und phraseologischer Bedeutung besteht. In meiner Betrachtung habe ich Phraseologismen im weiteren Sinne berücksichtigt, d. h. nicht alle meiner Beispiele weisen auch Idiomatizität auf. Neben diesen Kerneigenschaften, die letztendlich bestimmen, was als Phraseologismus gelten kann und was nicht, werden diesen Wortschatzeinheiten in der Phraseologie traditionell noch weitere Eigenschaften zugewiesen, die allerdings nicht auf alle Phraseologismen in gleichem Maße zutreffen. Hervorzuheben ist dabei die Expressivität. Sie meint in der Phraseologie einen sog. »konnotativen Mehrwert«,18 d. h. Phraseologismen sind im Vergleich zu einer nicht-phraseologischen Formulierung oftmals besonders »gehaltvoll«. Sie haben die Kapazität, Vorstellungen zu evozieren, die z. B. mit dem häufig enthaltenen sprachlichen Bild zusammenhängen. Auch erlaubt die gleichzeitige Aktualisierung der wörtlichen und der phraseologischen Bedeutung gerade in literarischen Kontexten ein reizvolles Spiel mit Bedeutungsebenen. Darüber hinaus weisen Phraseologismen einen »pragmatischen Mehrwert«19 auf: Neben den offensichtlichen sprachlichen Handlungen, die man mit ihnen ausführt (wie z. B. das Referieren), können zugleich bewertende Handlungen vollzogen werden, d. h. Phraseologismen enthalten ein semantisch-pragmatisches Potential zum Ausdruck von Bewertungen bzw. Sprechereinstellungen. Dabei sollen die negativen Bewertungen überwiegen; es gibt also mehr Phraseologismen, mit denen man etwas/jemanden – oft auch nur indirekt – negativ bewerten kann.20 Auch Wolfgang Eismann stellt fest, dass insbesondere Texte, »in deren Sprache eine Bewertung oder subjektive Einschätzung zum Ausdruck kommt«,21 eine hohe Anzahl an Phraseologismen aufweisen.
18 Burger: Phraseologie 2015, S. 82. 19 Burger: Phraseologie 2015, S. 83. 20 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 83. 21 Wolfgang Eismann: Phraseme in literarischen Texten. In: Harald Burger/Gerold Ungeheuer/ Herbert Ernst Wiegand (Hgg.): Phraseologie. Ein internationales Handbuch. Band 1. Berlin/New York: De Gruyter 2007, S. 316–329, hier S. 316.
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Dieser konnotative bzw. pragmatische Mehrwert liegt selbstverständlich nicht einfach vor, sondern ist vom Verwendungskontext des jeweiligen Phraseologismus abhängig; dieser »aktiviert« erst einen eventuellen Mehrwert.22 Schmale spricht in diesem Zusammenhang von einem »Expressivitätspotential«.23 Generell ist der Kontext relevant für die Effekte von Phraseologismen, wie dies die Betrachtung der Beispiele aus Mark & Bein noch verdeutlichen wird. Phraseologismen können – wie auch die nicht-phraseologischen Wortschatzeinheiten – auf besondere Art und Weise markiert sein, so u. a. stilistisch (z. B. als umgangssprachlich, salopp oder sogar derb oder gehoben), regional, sozial, historisch. Das sind Aspekte, die für Phraseologismen bei Kempowski sehr relevant sind, weil sie zum einen zu einer Schibboleth-Funktion führen (bestimmte Phraseologismen werden zum Erkennungszeichen für sie verwendende Sprecher/Figuren) und zum anderen im Zusammenspiel mit dem Kontext besondere Effekte ergeben, die noch zu diskutieren sein werden.
3 Geflügelte Worte und Autorphraseologismen – zwei besondere Arten von Wortverbindungen An dieser Stelle muss darauf verzichtet werden, eine umfassende linguistische Typologie der Phraseologismen vorzustellen; dazu sei auf Burger24 verwiesen. In diesem Abschnitt sollen lediglich zwei besondere Gruppen Erwähnung finden, die auch bei Kempowski vorkommen und für sein Werk relevant sind: die geflügelten Worte und die Autorphraseologismen. Der Terminus »geflügelte Worte« stammt vom deutschen Lehrer Georg Büchmann, der 1864 unter dem Titel Der Zitatenschatz des deutschen Volkes eine erste Sammlung geflügelter Worte herausgegeben hat, die schnell ein bildungsbürgerlicher Klassiker wurde und bis heute immer wieder aufgelegt wird. Es handelt sich um Zitate, die im allgemeinen Gebrauch sind. Georg Büchmann hatte ursprünglich v. a. Phraseologismen aus der Bibel, der Antike und der europäischen, v. a. der deutschen, Literatur im Blick. Diese Konzeption gilt heute als überholt; auch Zitate z. B. aus Filmen und anderen nicht-literarischen
22 Vgl. Eismann: Phraseme 2007, S. 316. 23 Günter Schmale: Ist ein idiomatischer Ausdruck immer expressiv? Korpusbasierte und fragebogengestützte Beobachtungen zu einer verbreiteten Prämisse. In: Yearbook of Phraseology (2010), H. 1, S. 97–124, hier S. 100. 24 Burger: Phraseologie 2015, S. 33–58.
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sprachlichen Bereichen gelten heute als geflügelte Worte.25 Der Erfolg des Büchmann im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erklärt sich aus dem hohen Stellenwert, der Bildung im Bürgertum zukam. Linke konstatiert eine »intensive Sprach- und Kommunikationskultur«,26 die sich in einer Salon- und Briefkultur wie auch im Bildungszitat manifestierte. Der Büchmann ermöglichte dabei das mühelose Zitieren »literarischer Bildungsflitter«,27 ohne dass man das jeweilige Werk tatsächlich gelesen haben musste. Durch diese »sprachlichen Bildungsbelege«28 konnte die soziale Zugehörigkeit zum (Bildungs-)Bürgertum demonstriert werden. Was geflügelte Worte zu einer besonderen Klasse von Phraseologismen macht, ist, dass es eine identifizierbare Quelle gibt, die den meisten Sprechern auch durchaus bekannt ist, wobei dieses Bewusstsein natürlich u. a. vom Bildungsgrad und vom Allgemeinwissen abhängig ist. Die Herkunft ist zumindest bestimmbar,29 was bei der Mehrheit der anderen Phraseologismen nicht der Fall ist. Zu erwähnen bleibt als besondere Gruppe noch die der Autorphraseologismen. Diese sind nur eingeschränkt dem phraseologischen Bereich zuzurechnen, denn sie sind nur begrenzt gebräuchlich. Innerhalb eines literarischen Werkes können Phraseologismen im Sinne von Redewendungen und Sprichwörtern auftreten, die an das Werk gebunden sind und nicht Allgemeingut werden müssen. Sie müssen also – anders als die geflügelten Worte – nicht allgemein gebräuchlich werden, sondern verbleiben im Grunde in der Welt des Werkes. Es handelt sich also um polylexikalische, feste Wendungen, die innerhalb des Textes mehrfach auftreten, somit innerhalb des Textes fest werden und nur innerhalb dieses Textes einen konkreten Sinn haben.30 Solche Autorphraseologismen werden als feste Wendungen natürlich vom Autor des Werkes geschaffen In Kempowskis Romanen, insbesondere in den Romanen der Deutschen Chronik, sind die geflügelten Worte und auch die Autorphraseologismen besonders prominent, erstere aufgrund der Darstellung einer bürgerlichen Familie mit dem entsprechenden Bildungshintergrund, der in Form von klassischen geflü-
25 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 49. 26 Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, S. 55. 27 Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band 3. Berlin/New York: De Gruyter 1999, S. 381. 28 Carolin Krüger: Phraseologismen als Zeit- und Kulturdokumente – der Büchmann im Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49 (2019), H. 2, S. 259–278, hier S. 261. 29 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 49. 30 Vgl. Burger: Phraseologie 2015, S. 49.
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gelten Worten den Figuren in den Mund gelegt wird. Sascha Feuchert stellt fest, dass der aufmerksame Leser bei Kempowski »auch immer die ganze bildungsbürgerliche Tradition wiederfinden [wird]«.31 Stefanie Stockhorst formuliert in diesem Zusammenhang, dass die Deutsche Chronik »gleichsam ein textförmiges Museum bürgerlicher Kultur im historischen Kontext [erschaffe]«.32 Das ständige Verwenden geflügelter Worte aus dem klassischen Bildungskanon dient nicht nur der Verortung von Figuren und Handlungen innerhalb einer bürgerlichen Lebenswelt; es lässt sich inhaltlich auch als Hinweis auf den Untergang ebendieser Lebenswelt interpretieren: »Bevor das Bildungsbürgertum in der deutschen Katastrophe untergeht, ist es bereits seines Wesens entkleidet, es besteht nur noch aus Ritualen und Resten, lebt quasi als Zitat fort«.33 Darüber hinaus verweist Feuchert auf einen funktionalisierten Gebrauch von geflügelten Worten in den Romanen der Deutschen Chronik durch Abweichungen vom tatsächlichen Zitat, wodurch es semantisch aufgeladen wird.34 Inkorrekt zitierte geflügelte Worte verweisen an verschiedenen Stellen auf inhaltliche Aspekte, deuten z. B. voraus oder legen Interpretationen nahe. So wird in Tadellöser & Wolff beispielsweise das sogenannte Logenlied des Vaters mit den beiden ersten Versen zitiert, allerdings als »Wie sie so sanft ruhn, / alle die Toten« (TW 10) statt korrekt »Wie sie so sanft ruhen / alle die Seligen«.35 Dies kann als Hinweis auf den frühen Tod des Vaters verstanden werden.36 An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf das oben erwähnte Beispiel des Liedtextes von Bruno Balz, gesungen von Zarah Leander, eingehen: Kempowski zitiert den Text abweichend: Statt »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn« liest man in Tadellöser & Wolff »Ich weiß, es muß einmal ein Wunder geschehn« (TW 289). Statt der Gewissheit, die im Original-Text zum Ausdruck gebracht wird, drückt das Modalverb »müssen« eine
31 Sascha Feuchert: Vermischte Nachrichten und der intertextuelle Pakt. Zu einer zentralen Strategie Walter Kempowskis. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 139–151, hier S. 140. 32 Stefanie Stockhorst: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 423–442, hier S. 438. 33 Martin Ebel: »Frühlingsrauschen, aus und vorbei.« Klassische Musik in der »Deutschen Chronik«. In: Carla Damiano/Jörg Drews/Doris Plöschberger (Hgg.): »Was das nun wieder soll?« Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Göttingen: Wallstein 2005, S. 35–46, hier S. 44. 34 Vgl. Feuchert: Nachrichten 2010, S. 144. 35 Vgl. Feuchert: Nachrichten 2010, S. 145. 36 Vgl. Feuchert: Nachrichten 2010, S. 145.
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Notwendigkeit aus – gewissermaßen eine Hoffnung, ein Beschwören, aber eben keine tatsächliche Gewissheit. Eventuell ist dies als Kommentar zur tatsächlichen Gemütslage der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt zu werten, die eine andere als die offiziell propagierte war. Andererseits verdankt sich der verstärkte Einsatz von geflügelten Worten auch der Absicht des Zeitportraits, sodass für die dargestellte Zeit typische Liedzeilen, Werbeslogans etc. gebracht werden, die zumindest für die Zeit der Handlung als geflügelte Worte gelten können. Die Autorphraseologismen kommen v. a. durch das besondere Familien idiom der Kempowskis in den Romanen der Deutschen Chronik zum Tragen: Diese Wendungen sind also zunächst nur im Familienkreis und damit innerhalb des Romans Phraseologismen. Beispiele sind zu zahlreich, um sie hier umfangreicher darzustellen, erwähnt seien lediglich »Klare Sache und damit hopp«, »Gut dem Dinge«, »Wie isses nun bloß möglich« und noch viele mehr. Kai Sina legt als Funktion des Familienidioms nahe, dass diese sprachlichen Rituale die zeitliche und identitäre Einheit der Familie bestärken und damit der »Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung«37 dienen. »Auf diese Weise spricht nur diese Familie, und jede Wiederholung einer jener Phrasen bezeugt den Familienmitgliedern, einem nach außen abgegrenzten ›Wir‹ anzugehören.«38 Allerdings existiert auch bei Kempowski das gut dokumentierte Phänomen, dass eigentliche Autorphraseologismen auch außerhalb der Romanwelt Wiederaufnahme finden und von einem viel größeren Nutzerkreis verwendet werden, womit sie genau genommen ihren Status als Autorphraseologismen verlieren und zu »gewöhnlichen« Phraseologismen bzw. bei vorhandenem Wissen um den Urheber zu geflügelten Worten werden. Letztendlich ist es »der Usus, der Phraseme zu Phrasemen macht, doch wäre auch vorstellbar, dass Schriftsteller diese schaffen und dann in Umlauf bringen«.39 Dies ist sicherlich in Kempowskis Fall bei einzelnen (ursprünglichen) Autorphraseologismen geschehen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass in Kempowskis Werk neben dem Familienidiom der Kempowskis zahlreiche Phraseologismen auftreten, die keine Autorphraseologismen sind. Nolte bemängelt zu Recht die starke Fokussierung bei der Untersuchung von Floskeln oder Redewendungen bei Kempowski auf die »Familiensprache«.40 Wenn es um Phraseologismen oder phraseologismenähnliche Phänomene bei Kempowski geht,
37 Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen: Wallstein 2012 (Göttinger Studien zur Generationsforschung, 9), S. 186. 38 Sina: Sühnewerk, S. 186–187. 39 Eismann: Phraseme 2007, S. 320. 40 Nolte: Sprache 2019, S. 27.
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werden bisher fast ausschließlich die immer wiederkehrenden Autorphraseologismen in den Romanen der Deutschen Chronik analysiert. Seltener sind Arbeiten wie die von Nolte, der stattdessen die traditionellen Sprichwörter und Redensarten betrachtet. Auch diese haben spezifische Funktionen und sollen hier neben geflügelten Worten und Autorphraseologismen in ihrem Auftreten im Text Mark und Bein Erwähnung finden.
4 Funktionen von Phraseologismen in Texten Phraseologismen sind in jeglicher Art von Text polyfunktional. Kühn charakterisiert sie als »kompakte Zeichen, mit denen ein Sprecher/Schreiber referieren, prädizieren und/oder illokutive Handlungen durchführen [kann] und gleichzeitig gegenüber den nicht-phraseologischen Entsprechungen ein Bündel weiterer evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen usw. ausdrücken kann«.41 Phraseologismen können also sehr viele Funktionen haben: Man kann sich mit ihnen auf etwas beziehen, kann also benennen, man kann (besonders mit den satzwertigen) auch Aussagen über etwas machen und man kann ganz verschiedene sprachliche Handlungen mit ihnen ausführen. Darüber hinaus drücken sie auch noch mehr aus, als es mit einer nicht-phraseologischen Ausdrucksweise möglich wäre. In literarischen, insbesondere in erzählenden Texten müssen bei der Betrachtung der Funktionalität von Phraseologismen zwei Ebenen berücksichtigt werden: Zum einen haben Phraseologismen innerhalb des Erzählkonstrukts Funktionen. Damit können sie in der Figurenrede sämtliche Funktionen haben, die sie auch in der natürlichen Kommunikation haben können, z. B. argumentative oder evaluative Funktion. So können Phraseologismen, insbesondere Sprichwörter, in Argumentationen als Schlussregeln eingesetzt werden. Burger weist in diesem Zusammenhang auf eine Textstelle in Schöne Aussicht hin,42 in der die Figur Karl Kempowski ein Sprichwort als Rechtfertigung für die körperliche Züchtigung seines Sohnes nutzt:
41 Peter Kühn: Pragmatische Phraseologie: Konsequenzen für die Phraseographie und Phraseodidaktik. In: Barbara Sandig (Hg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung. Bochum: Brockmeyer 1994, S. 411–428, hier S. 420. 42 Burger: Phraseologie 2015, S. 121.
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Carolin Krüger Er hat von seinem Vater auch Schläge gekriegt, sagt Karl, so ist das nun mal. Damals, als er auf Schlittschuhen die vereiste Warnow hinabgelaufen ist. Jungedi! Da hat’s aber was gesetzt. Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wenn man das unterläßt als Vater, dann landen die Kinder eines Tages womöglich im Zuchthaus. […] Nein, das steht ja schon in der Bibel: »Wen Gott liebt, den züchtigt er«, und weil Karl seinen Sohn liebt, haut er ihn.43
Aufgrund ihres konnotativen Mehrwerts sind Phraseologismen besonders geeignet, Wertungen auszudrücken, sie manchmal auch nur mitschwingen zu lassen (»die sei vom Stamme Nimm« [TW 122], »Das sei schon eine Crux mit uns« [TW 75], »Stünde man mit Tante Silbi besser, dann hätte man die ja auch nehmen können. In der Not frißt der Teufel Fliegen« [TW 355]). Darüber hinaus gelten Phraseologismen als »verständigungsökonomisch«.44 Kommunikation kann durch sie effizienter gemacht, die Ausdrucksweise rationalisiert werden. Sie sind gebräuchlich, und das in vielen Phraseologismen enthaltene Bild ist oft besonders eindrücklich und einleuchtend. Anschaulich und vertraut, bieten Phraseologismen die Möglichkeit der kognitiven Entlastung. Einige Phraseologismen, sogenannte Routineformeln, haben eine kommunikationssteuernde und gesprächsstrukturierende Funktion, man kann mit ihnen z. B. ein Gespräch eröffnen und schließen. Außerdem demonstriert man mit Routineformeln Nähe- oder Distanzbeziehungen; beispielsweise sind Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln unterschiedlich, je nachdem, wie nah die Gesprächspartner einander stehen. Das ist natürlich nicht nur in alltäglicher Kommunikation der Fall, sondern auch innerhalb der erzählten Welt in einem literarischen Text. Ebenso können Phraseologismen sowohl im Alltag als auch im literarischen Text eine soziale Konnotation aufweisen: Der Gebrauch bestimmter Phraseologismen kann eine Art der Selbstdarstellung sein. Der Sprecher demonstriert, zu welcher sozialen Gruppe er gehört bzw. gehören will, welches Bild er von sich hat und wie er sich anderen gegenüber präsentieren möchte. Das gilt sowohl für reale Sprecher als auch für Figuren im literarischen Text, wobei letztere natürlich nach dem Autorwillen gestaltet sind. In Bezug auf diese Ebene funktionieren Phraseologismen in literarischen Texten nicht anders als in nicht-literarischen, mündlichen oder schriftlichen Texten. Zu berücksichtigen ist aber auch eine andere Ebene: Es ist bei Phraseologismen in literarischen Texten unbedingt zu fragen, was ihr Einsatz für den
43 Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981/1997, S. 155, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. 44 Ulrike Preußer: Phraseologismen in literarischen Texten. In: Csaba Földes/Jan Wirrer (Hgg.): Phraseologismen als Gegenstand sprach- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren 2004, S. 267–285, hier S. 268.
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Text selbst leistet, insbesondere im Vergleich zu einer ebenso möglichen nichtphraseologischen Ausdrucksweise. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf dieser Ebene. Dabei sind die festzustellenden Funktionen andere als diejenigen auf der Textweltebene. Häufig beobachtete Funktionen sind v. a. die charakterisierende und sprachkritische.45 So können Figuren durch eine phraseologische Beschreibung von außen, v. a. aber durch den Phraseologismengebrauch in der eigenen Figurenrede charakterisiert werden.46 Durch im weitesten Sinne sprachspielerische Umformungen phraseologischen Materials kann Sprach- und/oder Gesellschaftskritik geübt werden.47 Diese Funktionen sind auch relevant für Kem powskis Roman Mark und Bein, es kommen aber weitere wichtige Funktionen hinzu, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.
5 Funktionen von Phraseologismen in Walter Kempowskis Mark und Bein 5.1 Phraseologische Leitmotive Insbesondere durch die zu betrachtenden Phraseologismen in den Unterkapiteln 5.1 und 5.2 soll verdeutlicht werden, dass Phraseologismen in literarischen Texten auch daraufhin untersucht werden sollten, was sie für die Textaussagen bzw. für etwaige Interpretationsansätze zu leisten vermögen. Ulrike Preußer demonstriert anhand von Arno Schmidts Nobodaddy’s Kinder, wie ertragreich eine – wie sie sie nennt – »kontextsensitive«48 Untersuchung von Phraseologismen im literarischen Text sein kann, welche Assoziationsspielräume Phraseologismen eröffnen können, die für die Textinterpretation relevant sind. Preußer ist zuzustimmen, wenn sie anmahnt, dass die analysierten Phraseologismen an die Intention bzw. die grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung des Werkes rückgekoppelt werden sollten.49 Das bedeutet, dass sich für die Funktionalität von Phraseologismen im literarischen Text nicht in erster Linie allgemeine Funktionen wie das Herstellen
45 Vgl. Preußer: Phraseologismen 2004, S. 268–269. 46 Vgl. Wolfgang Fleischer: Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig: Bibliographisches Institut 1982, S. 228–229. 47 Vgl. Fleischer: Phraseologie 1982, S. 230–231. 48 Ulrike Preußer: Aufbruch aus dem beschädigten Leben. Die Verwendung von Phraseologismen im literarischen Text am Beispiel von Arno Schmidts Nobodaddy’s Kinder. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 16. 49 Preußer: Aufbruch 2007, S. 36.
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von Textkohärenz o. Ä. ergeben, sondern für den einzelnen Text spezifische Funktionen. So können Phraseologismen, die ja – wie die gesamten sprachlichen Gestaltungsmittel – vom Autor bewusst ausgewählt wurden, die Textinterpretation stützen bzw. auf zentrale Themen und Aussagen des Textes hindeuten. Dies ist auch in Kempowskis Roman Mark und Bein in verschiedener Hinsicht der Fall. Zunächst soll in diesem Zusammenhang der Blick auf Leitmotive in Form von Phraseologismen gelenkt werden. Das Phänomen des wiederholten Auftretens von bestimmten Phraseologismen, die den Text gliedern, zentrale Handlungselemente repräsentieren oder als Symbole auf Textthemen und -aussagen verweisen, ist – nicht nur bei Kempowski – häufig. Für Eroms wird es z. B. in einem der wiederholten Sprüche der Mutter in den Romanen der Deutschen Chronik, »Ja, ich weiß es noch wie heute«, realisiert, durch den er »das Leitmotiv des Autors, die Erinnerungsarbeit, zur Sprache gebracht«50 sieht. Nolte bietet einen Überblick über mögliche leitmotivische Funktionen verschiedener Phraseologismen in Kempowskis Gesamtwerk.51 Eismann erwähnt phraseologische Leitmotive in Dramen- und Prosatexten verschiedener Autoren.52 In Kempowskis Mark und Bein können drei Phraseologismen (einer davon ist nur eingeschränkt phraseologisch) als leitmotivische Verweise auf zentrale Themen des Textes verstanden werden: »Wer hat die Schuld«, »etwas gegen den Strich bürsten« sowie »Mark und Bein« – der phraseologische Titel selbst. Zum einen tritt im Roman immer wieder die Frage »Wer hat die Schuld?« auf. Es handelt sich nicht um einen Phraseologismus im eigentlichen Sinne. Das Syntagma ließe sich allenfalls im Umfeld von geflügelten Worten verorten, da es eine bestimmbare Quelle gibt: In der Matthäuspassion von Bach existiert die Formulierung »Was ist die Schuld, in was für Missetaten bist du geraten?«53 Kempowski stellt seine Frage »Wer hat die Schuld?« selbst in den Kontext der Matthäuspassion, indem er an einer Stelle umfangreicher zitiert: »Wer hat die Schuld, in was für Missetaten sind wir geraten?«54 Dies legt nahe, dass »Wer hat die Schuld« nicht als (selbst-kreierter) Autorphraseologismus gemeint ist, sondern als Zitat aus dem Text der Matthäuspassion. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Frage die nötige Verbreitung bzw. Gebräuchlichkeit besitzt, um als geflügeltes Wort gelten zu können – in der aktuellen Auflage des Büchmann ist sie jedenfalls
50 Eroms: Finden statt erfinden 2011, S. 129. 51 Vgl. Nolte: Sprache 2019, S. 90–93. 52 Eismann: Phraseme 2007, S. 325–326. 53 Imre Pothárn: Bach Matthäuspassion (BWV 244) Textbuch. http://opera.stanford.edu/iu/ bachlib/BWV244.HTM. Letzter Zugriff am 6.9.2022. 54 Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Penguin 2019, S. 131, im Folgenden zitiert mit der Sigle MuB und der entsprechenden Seitenzahl.
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nicht zu finden. Nicht zweifelhaft ist jedoch, dass dieses Zitat ein ganz wesentliches Thema des Romans (und auch von Kempowskis Gesamtwerk) enthält – das Thema Schuld. Nach Sina lassen sich bei Kempowski drei Dimensionen von Schuld beschreiben: eine »individuell-biographische«,55 die sich auf Kempowskis von ihm so wahrgenommene Schuld an der Zerstörung seiner Familie durch die Inhaftierung der eigenen Person, der Mutter und des Bruders bezieht, eine »kollektivhistorische«56 Schuld im Kontext des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs sowie eine »anthropologisch-religiöse«57 Schuld des zwangsläufig schuldigen, »sündenfälligen« Menschen an sich (Erbschuld). Alle drei Dimensionen von Schuld sind in Mark und Bein in höchstem Maße relevant: Der Protagonist Jonathan Fabrizius fühlt sich auf einer individuell-biographischen Ebene schuldig, da seine Mutter bei seiner Geburt starb. Diese persönliche Schuld wird auch in den Formulierungen verdeutlicht: »Seine Mutter sei auf der Flucht ›abhanden gekommen‹, so könne man wohl sagen, also ›draufgegangen‹ oder besser gesagt: an seiner Geburt verblutet …« (MuB 67).58 Die Wahl der Präposition (statt »bei« »an«) verstärkt den Eindruck der Geburt als Todesursache.59 Darüber hinaus ist die Reise eines Deutschen nach Polen in einer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast selbstverständlich mit der kollektiv-historischen Schuld der Deutschen im Nationalsozialismus verbunden. Diese Assoziation wird noch dadurch verstärkt, dass Jonathans Vater als Soldat im Zweiten Weltkrieg auf der Frischen Nehrung starb; für Jonathan ist der Weltkrieg mit seinen Auswirkungen also zwangsläufig präsent. Außerdem wird in zahlreichen Situationen im Text das Ringen um den Umgang mit dieser kollektiv-historischen Schuld (und vor allem Kempowskis Kritik an diesem Umgang) deutlich. Eine grundlegende anthropologisch-reli giöse Schuld des Menschen wird ebenso nahegelegt und gerade in »Wer hat die Schuld, in was für Missetaten sind wir geraten?« mit einer kollektiv-historischen Schuld verquickt. Die Grausamkeiten, die Menschen einander zufügen, und die Leiden, die Menschen dadurch zu erdulden haben, sind einerseits im Kontext der deutsch-polnischen Geschichte anzusiedeln, können andererseits aber auch als allgemein-menschliche Konstanten verstanden werden. Letzteres ist der Fall, wenn die anthropologisch-religiöse Lesart von Schuld im Mittelpunkt steht, der
55 Kai Sina: Schuld. In: Carla Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020, S. 336–344, hier S. 336. 56 Sina: Schuld 2020, S. 336. 57 Sina: Schuld 2020, S. 336. 58 Wenn nicht anders erwähnt, stammen alle Hervorhebungen in Zitaten von mir – C. K. 59 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stephan Lesker in diesem Band.
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Mensch als schuldig qua Geburt und gewissermaßen zum Büßen (und damit Leiden) verdammt gilt. Das Leiden scheint die Schuld allerdings auch nicht fortzunehmen: Alles umsonst! ALLES UMSONST! Und er meinte damit nicht den Tod seiner Mutter und nicht den des Vaters, der »ins Gras hatte beißen müssen«, nicht die Schlafcouchen, die sein Onkel fabrizierte, sondern die Qual der Kreatur, das an den Pfahl gehenkte Fleisch, das Kalb, das er gesehen hatte, gefesselt und geknebelt, den Verschlag in der Marienburg zur Marter vorbereitet, den schlurfenden Zug der Menschen unter einem verdammenden Himmel. Es ist alles umsonst! dachte er immer und immer wieder. Und: Wer hat die Schuld? (MuB 203–204)
Der Kontext legt nahe, dass Schuld und Leiden hier tatsächlich »größer« gedacht zu werden scheinen, nicht persönlich oder historisch verortet. Dennoch wird durch Kempowskis Verwendung des Zitates auch eine Anbindung an eine konkrete historische Schuld denkbar. Kempowski hat hier – wie so häufig – das Zitat leicht verändert. In der Matthäuspassion ist der Wortlaut »Was ist die Schuld, in was für Missetaten bist du geraten?«,60 wobei mit »du« Jesus Christus angesprochen wird, der gekreuzigt werden soll. Im ursprünglichen Kontext wird mit diesem Satz danach gefragt, was der Grund für dieses »scharf[e] Urteil«61 ist. Kempowski ersetzt »du« durch »wir« – der Fokus wird verschoben von dem (in naher Zukunft) leidenden Jesus zu den leidenden und wiederum auch Leiden zufügenden Menschen. Wenn man »wir« auf eine konkrete historische Ebene bezieht, könnte sich das Pronomen auch kollektiv auf die Deutschen und damit auf ihre kollektiv-historische Schuld beziehen. Letzterer Aspekt kommt auch durch den Ersatz von »Was ist« durch »Wer hat« zum Ausdruck – eine stärkere Betonung des »Täter«-Aspekts. Diese Frage (»Wer hat die Schuld?«) ist auf einer anthropologisch-religiösen Ebene gar nicht oder relativ ungenau zu beantworten mit »der schuldige, sündige Mensch«. In Bezug auf eine konkrete historische Schuld wäre sie jedoch beantwortbar – mit allen Komplikationen, die sich im Umgang damit (Stichwort Vergangenheitsbewältigung) ergeben. Die Bezugsebene für die Schuld wird in der Frage »Wer hat die Schuld?« grundsätzlich offengelassen, sodass verschiedene Deutungen denkbar sind und verschiedene Aspekte von Schuld in diesem einen Satz zusammengeführt werden können. Damit bildet sich in dieser kleinen Zelle bereits ab, was im gesamten Buch verhandelt wird – persönliche, historisch-kollektive und religiös-anthropologische Schuld. Ein weiteres Syntagma, das im Gegensatz zum ersten, ausführlicher besprochenen, eindeutig als phraseologisch zu bezeichnen ist, tritt ebenfalls leitmoti-
60 Pothárn: Matthäuspassion. 61 Pothárn: Matthäuspassion.
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visch an verschiedenen Stellen des Textes auf: »etwas gegen den Strich bürsten«. Der Phraseologismus bedeutet »etwas ganz anders als bisher [und dadurch richtiger] darstellen«.62 Das verwendete Bild betont den Aspekt des »Anders-alsgewohnt«: Die gewohnte Lage der Haare wird durch das Bürsten in eine andere Richtung verändert. In der Handlung ist der Phraseologismus zunächst in einer Aufforderung an Jonathan Fabrizius enthalten; es ist ein ausgesprochen vager Hinweis darauf, wie er seinen Beitrag über die Reise gestalten soll: »Jonathan solle die Polenreise gegen den Strich bürsten, ließ er [der Chef der Santubara-Werke] bestellen« (MuB 90). Zu vermuten ist, dass Jonathans Auftraggeber ihn mit dem Phraseologismus dazu anregen möchte, die Rallye durch das sozialistische Polen attraktiver darzustellen, so dass sich die nachfolgenden Motorjournalisten nicht etwa von »dieser gottverlassenen Gegend« (MuB 24) abschrecken lassen, in der sie sich von der Qualität der Achtzylinder aus den Santubara-Werken überzeugen sollen. An anderer Stelle wird dieser Hinweis von anderen, z. B. Frau Winkelvoss, wiederholt: »Frau Winkelvoss gab Jonathan die Ermahnung, recht schön alles aufzuschreiben, was ihm vor die Flinte kommt, und dann gegen den Strich zu bürsten« (MuB 115). Weder der Chef der Santubara-Werke noch Frau Winkelvoss scheinen genauer zu wissen, wie ein Autor arbeitet oder was und wie Jonathan schreiben soll, man flüchtet sich stattdessen in den semantisch vagen Phraseologismus. Danach findet Jonathan immer wieder Gelegenheiten, bei denen ein Gegen-den-Strich-Bürsten möglich wäre, was allerdings wiederholt ironisiert wird. Interessant ist, dass dieser Phraseologismus auf einer Meta-Ebene funktioniert – er bildet sozusagen ein Scharnier zwischen der textimmanenten Handlung und dem Text (sowie seinem Autor) selbst: In der Handlung soll Jonathan seinen Text gegen den Strich bürsten; dies wird erzählt in einem Text, mit dem der Autor Kempowski selbst etwas gegen den Strich bürstet, nämlich die zeitgenössischen Umgangsweisen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bzw. entsprechende erinnerungspolitische Diskurse. Er wendet sich einerseits gegen die Abkehr von der Vergangenheit und die Abwehr der Auseinandersetzung damit, andererseits aber auch gegen »Klischees und Rituale der Vergangenheitsbewältigung«,63 die »immer nur ein Schuldeingeständnis
62 Duden Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim [u. a.]: Duden 1992, S. 701. 63 Sabine Kyora: Vergangenheitsbewältigung. In: Damiano/Grünes/Feuchert (Hgg.): WalterKempowski-Handbuch 2020, S. 369–380, hier S. 370.
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verlang[en], ohne sich der Frage nach Verantwortlichkeit wirklich auszusetzen«.64 Sein Protagonist Jonathan sieht die Notwendigkeit der persönlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit zunächst nicht (»›Ich bin hier in Hamburg und habe mein Auskommen‹, dachte Jonathan. ›Was geht mich Ostpreußen an?‹« [MuB 26]), begibt sich dann aber nicht nur auf eine Reise nach Polen, sondern auch auf eine Reise zu den eigenen Wurzeln, die wiederum mit der deutschen Vergangenheit verknüpft sind. Betont wird die individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Notwendigkeit des Erinnerns, der »Bewahrung des Vergangenen«.65 Nur so kann es – auf einer persönlichen Ebene – vielleicht Erlösung geben. An Jonathans Geschichte »entfaltet Kempowski sein großes Lebensthema: die Suche nach den und nach dem Verlorenen – gegen das Vergessen«.66 Auch den Titel »Mark und Bein« kann man in den Umkreis von phraseologischen Leitmotiven stellen. Er stammt als geflügeltes Wort aus einer Bibelstelle, die dem Roman auch vorangestellt wird (Hebr 4,12), ist aber ebenso Teil eines Phraseologismus, der sich wahrscheinlich aus dieser Bibelstelle heraus entwickelt hat, aber mittlerweile auch ohne Bezug auf diese verwendet wird: »jmdm. durch Mark und Bein gehen/dringen/fahren«. Der Phraseologismus hat in seiner phraseologischen und wörtlichen Lesart ein hohes vorausdeutendes Potential. Die phraseologische Lesart kann so umschrieben werden: »Diese Wendung geht […] davon aus, daß die Knochen (Bein) und das Knochenmark das Innerste des menschlichen Körpers sind. Mark und Bein stehen bildlich für die innerste, am tiefsten gehende Empfindung, zu der der Mensch fähig ist«.67 Diese Lesart deutet darauf hin, dass es wahrscheinlich um etwas gehen wird, das an die innersten, tiefsten Empfindungen eines Menschen rühren wird. Der zunächst an der Polenreise uninteressierte Jonathan, der sich in Hamburg gemütlich eingerichtet hatte, wird durch die Konfrontation mit der Vergangenheit seiner Familie zutiefst erschüttert. Allerdings ist die wörtliche Bedeutung der im Phraseologismus enthaltenen Wörter ebenfalls aufschlussreich. Es geht um Knochen bzw. Knochenmark, den Körper, Leiblichkeit und damit Abstammung und Familie. Gleichzeitig drängt sich der Gedanke an Jonathans toten Vater auf, dessen Knochen (oder »(Ge-)Beine«) auf der Frischen Nehrung geblieben sind, von wo Jonathan schließlich Sand mitnimmt: »Ein Kriminalinstitut hätte viel-
64 Kyora: Vergangenheitsbewältigung 2020, S. 379. 65 Julian Tietz: Der persönliche Leidensvorsprung. Grausamkeit und Schuld in Walter Kempowskis Mark und Bein. In: Spatien 5 (2011), S. 65–74, hier S. 74. 66 Gita Leber: Religion. In: Damiano/Grünes/Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 320–331, hier S. 331. 67 Duden Redewendungen 1992, S. 477.
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leicht mikroskopische Splitter seines Vaters ausmachen können zwischen den winzigen, braunen, schwarzen und quarzenen Steinchen« (MuB 231). Den Bezug zum toten Vater und Jonathans Suche nach dem Verlorenen, seiner Herkunft und damit seiner Identität, betont auch Leber in ihrer Betrachtung des vorangestellten Zitates aus dem Hebräer-Brief. Darin »wird Jesus als derjenige gedeutet, der keine (leiblichen) Eltern hat«,68 aber von Gott als Kind angenommen wird. Die Verbindung zu Jonathan, der sich als Waise am Ende des Textes doch angenommen fühlt (nicht nur durch seinen toten Vater, sondern auch durch »den Vater« schlechthin, nämlich Gott), ist offensichtlich. Buchtitel sind – nicht nur bei Kempowski – oft phraseologisch. Für einen Gebrauch in Titeln sind Phraseologismen durch ihre Ambiguität (phraseologische und wörtliche Lesart existieren parallel und bieten vielseitige Anknüpfungspunkte im Text), Vielschichtigkeit und Expressivität besonders geeignet.69 Bei Kempowski wird ihre phraseologische Bedeutung durch die Romanhandlung häufig ironisiert oder »gegen den Strich gebürstet«, so z. B. bei Titeln wie »Schöne Aussicht« oder »Heile Welt«. Im Roman Schöne Aussicht geht es um die Familie Kempowski in der Zeit der Weimarer Republik, eine »schöne Aussicht« im Sinne eines guten Ausblicks auf das Kommende besteht nicht. Heile Welt spielt in den frühen 1960er Jahren auf dem Land in der alten BRD und zeigt eine Welt, die sich als keineswegs heil erweist. Bei »Mark und Bein« scheint mir eine solche Ironisierung nicht der Fall zu sein. In »Mark und Bein«, »Wer hat die Schuld?« und »etwas gegen den Strich bürsten« manifestieren sich zentrale Themen des Textes: persönliche und kollektiv-historische Schuld, der gesellschaftspolitische Umgang mit der Schuld, die Suche nach Verlorenem und der eigenen Identität sowie die tiefe Erschütterung, die mit diesen Themen verbunden ist.
68 Gita Leber: »Die Spiegelung Gottes«. Walter Kempowski theologisch gelesen. Berlin: EB- Verlag Dr. Brandt 2011 (Texte zur Wirtschafts- und Sozialethik, 9), S. 96. 69 Vgl. Ulrike Richter-Vapaatalo: Da hatte das Pferd die Nüstern voll. Gebrauch und Funktion von Phraseologismen im Kinderbuch. Frankfurt/M.: Lang 2007, S. 96.
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5.2 Stilistische Effekte und semantische Aufladung von Phraseologismen im Kontext Viele Phraseologismen sind, wie oben bereits erwähnt, u. a. stilistisch konnotiert, so dass sie auch die Funktion haben, eine gewisse Kommunikationsmodalität (z. B. »scherzend« oder »feierlich«) zu etablieren: Wenn z. B. Phraseologismen verwendet werden, die salopp konnotiert sind, etabliert das die Modalität »informell« – was mit dem, das inhaltlich ausgesagt wird oder mit dem direkten Kontext durchaus in einem Gegensatz stehen kann, komische oder sonstige auffällige Effekte ergeben kann. So entstehen oftmals ironische oder sogar erschreckende Effekte durch einen Gegensatz zwischen der Konnotation des Phraseologismus und dem Kontext. Solche Effekte sind auch in Mark und Bein zu beobachten. Die Effekte sind hier nicht zufällig; sie unterstützen Textaussagen. Daneben gibt es Phraseologismen, die diese Effekte nicht auslösen, die aber dennoch im Kontext besonders semantisch aufgeladen sind, bzw. – wie Feuchert für Zitate bei Kempowski feststellt – spezielle Funktionen im Rahmen des Erzählkonstrukts haben70 und die damit Interpretationsansätze für den Text unterstützen können; auch diese sollen in diesem Kapitel betrachtet werden. Zunächst zu einigen Beispielen, deren stilistische Konnotation zusammen mit dem Kontext besondere Effekte ergibt. Auffällig ist die Häufigkeit von Phraseologismen mit salopper Konnotation, die aber in einem dramatischen oder sonstwie schwerwiegenden thematischen Kontext stehen. So wird z. B. der Tod der Eltern von Jonathan mit Phraseologismen kommentiert, die umgangssprachlich-salopp oder sogar derb konnotiert sind: »›meinen Vater hat es auf der Frischen Nehrung erwischt‹« (MuB 21), »des Vaters, der ›ins Gras hatte beißen müssen‹« (MuB 203), »Seine Mutter sei auf der Flucht ›abhanden gekommen‹« (MuB 67). Die Figur Jonathan will sich nicht auf Sentimentalität einlassen und wählt eine bewusst grausame Formulierung, was »ihm vor seinen Freunden einen Leidensvorsprung sicherte, der nicht zu übertreffen war« (MuB 21). Die derb-saloppen Phraseologismen verdeutlichen Jonathans zu Beginn nicht vorhandene Bereitschaft, sich mit der eigenen Geschichte (und auch der kollektiven deutschen Geschichte) auseinanderzusetzen. Seine anfängliche Abwehrhaltung wird während der Polenreise nach und nach aufgebrochen. Auch in einem anderen Kontext wirken die eingesetzten salopp konnotierten Phraseologismen unsensibel bis unpassend: Beim Abflug nach Polen denkt sich Jonathan Folgendes: »Nun würde man sich unter fremde Hoheit begeben, Gast sein, also den Mund halten müssen, statt auftrumpfen zu dürfen: einen Weltkrieg
70 Feuchert: Nachrichten 2010, S. 144.
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angezettelt, Juden ermordet und in Holland den Leuten die Fahrräder weggenommen – da hatte man verdammt schlechte Karten« (MuB 94). Auch bei anderen Textstellen wird der schwerwiegende Kontext, nämlich die nationalsozialistische Vergangenheit, die Jonathan in Polen ständig präsent ist, kontrastiert mit teilweise umgangssprachlich-salopp konnotierten Phraseologismen. Insbesondere ist dies in der Episode evident, in der es um einen eventuellen Besuch des KZ Stutthof geht: »Ach nein, das führt zu weit«, sagte Frau Winkelvoss, die um den halben Erdball geflogen war, um sich ein Kind zu besorgen. Sie habe einen Lehrer gehabt, der habe von morgens bis abends von diesen Judensachen erzählt, immer diese schrecklichen Bilder gezeigt, jahrelang, also, ihr Bedarf sei gedeckt. […] Und Jonathan saß verdammt in der Zwickmühle: Maria suchen oder sich das KZ ansehen? Ihm war sehr nach Maria zumute, aber das KZ so ohne weiteres schießen zu lassen, das konnte er nicht riskieren. […] es mußte also in den sauren Apfel gebissen werden. An Stutthof führte kein Weg vorbei. […] Was nun käme, würde kein Zuckerschlecken sein. (MuB 220–2212)
Hier wird auf den rein touristischen Zugang zum KZ-Besuch hingewiesen und auch – wie an vielen anderen Stellen – der Widerwille verdeutlicht, sich mit dem KZ – und somit mit der kollektiv-historischen Schuld der Deutschen – tatsächlich zu befassen. Die Reisegruppe um Jonathan kann das KZ dann doch nicht besuchen, denn es »›hatte zu‹. ›Heute geschlossen‹, stand an der Tür. Irgendwie Gott sei Dank, dachten die beiden Männer« (MuB 224). Auch hier wirkt die Formulierung »hat zu« seltsam unpassend, so, als ob das Konzentrationslager ein beliebiger touristischer Ort sei. Sie verweist einerseits auf die innere Abwehr der Reisenden, sich der Vergangenheit zu stellen, andererseits auch auf die umstrittene Problematik des Gedenktourismus im Zusammenhang mit Konzentrationslagern. Die Erleichterung von Jonathan und Hansi Strohtmeyer, das Lager nicht ansehen zu müssen, wird durch einen phraseologischen Stoßseufzer ausgedrückt. Der Widerwille gegenüber einer Beschäftigung mit der kollektiv-historischen Schuld und ihren Auswirkungen wird auch an anderer Stelle mit salopp konnotierten Phraseologismen gezeigt. Jonathans Zeitungshändler stammt aus Ostpreußen, möchte darüber aber zunächst nicht mit Jonathan sprechen: »Der winkt ab. Ne-ne, davon wolle er nichts wissen. Da Schwamm drüber!« (MuB 54) In einer Buchhandlung kauft Jonathan eine fünfbändige »Dokumentation der Vertreibung«, die »wie sauer Bier angeboten wurde« (MuB 57), bevor Jonathan sie erwirbt. Der Phraseologismus verdeutlicht mit seinem eindrücklichen Bild, wie groß der Widerwille gegenüber diesem Thema ist. Die umgangssprachlich-saloppen Phraseologismen, die im Zusammenhang mit der kollektiv-historischen Schuld deplatziert wirken, weisen in dreierlei Hinsicht Funktionalität auf: Innerhalb des Erzählkonstrukts werden sie häufig
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Figuren in den Mund (oder in die Gedanken) gelegt, wodurch der Eindruck einer medialen Mündlichkeit erweckt wird – es wirkt so, als ob der Leser tatsächlichen Personen in zwanglosen Unterhaltungen zuhört, selbst z. B. Teil der Reisegruppe um Jonathan wird. Somit kann auch die Nachgestaltung gesprochener Alltagskommunikation eine Funktion von Phraseologismen in literarischen Texten sein.71 Darüber hinaus kann der Kontrast zwischen den saloppen Phraseologismen und dem Schuld-Kontext, wie oben demonstriert, Textaussagen unterstützen und in Verbindung mit Interpretationsansätzen gebracht werden. Schließlich etabliert der Effekt eine Metaebene: Kempowski als Autor tut hier das, was Jonathan für seinen Artikel über die Polenreise nahegelegt wurde: Er »bürstet« mit diesen saloppen Formulierungen selbst »etwas gegen den Strich« (siehe oben). Das Ringen um den »richtigen« Umgang mit der NS-Vergangenheit, aber auch um das »richtige« Sprechen darüber manifestiert sich hier. Bewusst grenzt sich Kempowski von einzelnen Interessengruppen und ihrem Umgang mit der Vergangenheit ab und setzt sich – phraseologisch gesprochen – zwischen alle Stühle. Geradezu genüsslich führt er in der Episode der Marienburg-Besichtigung sowohl die Landsmannschaft als auch die »sozialistische« Bremer Schülergruppe mit ihren Vorurteilen und ideologisch geprägten Denkweisen vor: Die landsmannschaftlichen Herrschaften, die sich gelegentlich bedeutsame Blicke zuwarfen oder unterdrückt lachten, weil ihnen gewisse Einzelheiten doch ein bißchen sehr weit hergeholt erschienen, wußten, daß die Burg nach dem Wiederaufbau noch einmal abgebrannt war, 1959. Das rieben sie der Frau unter die Nase. […] Mit den Künsten der polnischen Elektriker sei es wohl nicht weit her? (MuB 167)
Die polnische Fremdenführerin erzählt daraufhin davon, wie die Deutschen 1410 einen litauischen Herzog als Geisel nehmen wollten, dann aber erfolglos in ihrem Erpressungsversuch blieben. »Dies gefiel den Bremer Rosa-Luxemburg-Leuten sehr, sie freuten sich ganz kolossal, dass sich die Deutschen da mal ordentlich in den Finger geschnitten hatten! Im übrigen traten sie an die Führerin heran und entschuldigten sich für die Frechheit der alten revanchistischen Säcke, die hier das polnische Handwerk herabsetzten« (MuB 168). Kempowski ironisiert hier – nicht zuletzt mithilfe der Phraseologismen – beide Positionen: eine erinnerungsselige und manchmal fast apologetische sowie eine sich als »links« verstehende, »politisch korrekte«. Kempowski greift in seinen Texten oftmals Klischees und Rituale der Vergangenheitsbewältigung auf, die sich in den öffentlichen Debatten und in der literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus herausbilden.
71 Vgl. Fleischer: Phraseologie 1982, S. 229.
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Häufig unterlaufen seine Texte genau diese Klischees, um auf die Komplexität der historischen Situation aufmerksam zu machen, aber auch, um sie als Flucht vor der eigenen Verantwortung zu entlarven.72
Genau dies scheint mir auch in Mark und Bein evident zu sein. Unabhängig von stilistisch konnotierten Phraseologismen, die zusammen mit ihrem Kontext bestimmte Effekte auslösen, finden sich im Text zahlreiche Phraseologismen, die auf unterschiedliche Weise Verbindungen zu zentralen Textthemen aufweisen und damit Interpretationsansätze stützen können. Immer wieder verwendet Kempowski Phraseologismen, deren wörtliche Bedeutungen in einem inhaltlichen Zusammenhang zum Thema Grausamkeit und Gewalt bzw. Erleiden von Gewalt stehen. Dazu einige Beispiele: »Sie schossen sich gerade aufeinander ein« (MuB 30), »und Ilse Koch, die KZ-Bestie – Frauen! Wehe wenn sie losgelassen! […] bei denen beiße man auf Granit« (MuB 86), »Letzte Kleininsekten liefen um ihr Leben« (MuB 88), »dieses Kind, das seine Gesichtszüge nicht in der Gewalt hat« (MuB 92), »recht schön alles aufzuschreiben, was ihm vor die Flinte kommt« (MuB 115), »Herr Schmidt stoße erst später zu ihnen, sagte sie, das wär’ ja ein ganz schöner Schlag ins Kontor!« (MuB 145), »Mord und Totschlag« (MuB 177, 53), »Herr Schmidt werde in Danzig zu ihnen stoßen« (MuB 191), »Und er hatte ins Schwarze getroffen!« (MuB 19), »würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen« (MuB 26), »eine Variante des Sprichwortes ›Quäle nie ein Tier zum Scherz …‹« (MuB 31). Mit anderen Phraseologismen werden Grausamkeiten bzw. der Umgang damit kommentiert. Besonders die Reaktionen Ullas, der Freundin Jonathans, die eine Ausstellung zu diesem Thema mitkuratiert, werden durch die verwendeten Phraseologismen auf besondere Weise dargestellt: »Ulla verschlang die [Abbildung der] Zersägung mit den Augen« (MuB 19). Die Intensität von Ullas Begeisterung für die Abbildung verdeutlicht der Phraseologismus einschlägiger, als es durch eine nichtphraseologische Formulierung möglich wäre. »Albert Schindeloe gab allerhand Froschquälereien zum besten, als Junge sei man eben so … Und Ulla Bakkre de Vaera wußte von Maikäfer-Köpfereien zu berichten« (MuB 46). Hier werden Grausamkeiten zur Unterhaltung vorgetragen. Dieser Aspekt des Unterhaltsamen würde wiederum bei einer nicht-phraseologischen Formulierung fehlen. Ulla besitzt auch eine Sachkartei, in der sie Abbildungen von Grausamkeiten archiviert, z. B. »Neger in Südafrika mit angezündeten Autoreifen um den Hals. Auf die Neger war das Augenmerk schon mal zu richten, denn eine künstlerische Objektivierung dieser Lynchspezialität stand zu erwarten« (MuB 16). Die Phraseologismen wirken hier
72 Kyora: Vergangenheitsbewältigung 2020, S. 370.
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distanzierend; sie verdeutlichen eine menschliche Empathielosigkeit, die selbst schon fast grausam ist und die es unwahrscheinlich macht, dass das Ziel der Ausstellung (»Abscheu wecken und darüber hinaus die energische Bereitschaft, dergleichen nie wieder zuzulassen auf der Welt« [MuB 16–17]) erreicht werden kann. Dieses Ziel wird mithilfe des geflügelten Wortes, das Goethe Mephisto sagen lässt (»Ich bin ein Teil von jener Kraft, / die stets das Böse will und stets das Gute schafft« [MuB 17]) besonders prägnant ausgedrückt. Andere Phraseologismen betonen in ihrem Kontext die ständige Bereitschaft zur Grausamkeit, die Freude am Leiden anderer, was als allgemeinmenschliche Eigenschaft erscheint: »Auch das Fernsehen war gekommen, […]: Vielleicht hatte man Glück und ein Unfall ereignete sich mit hoffentlich recht vielen Toten« (MuB 36–37), »Menschen, die […] inbrünstig hoffen, daß es die Stepanskaja an diesem Abend erwischen würde« (MuB 77), »zwanzig Jahre lang Tonleitern üben, […] und nun in Kürze ins Gras beißen müssen?« (MuB 80). In zahlreichen Kontexten verstärken Phraseologismen textuelle Aussagen: Beispielsweise wird Jonathans persönliche Schuld mithilfe zweier nebeneinandergestellter Phraseologismen sehr eindrücklich zugespitzt: »Hier hatte er das Licht der Welt erblickt, auf Kosten seiner Mutter« (MuB 25). Statt von seiner leiblichen Mutter wird Jonathan als Neugeborener von einer Bauersfrau gestillt, »›Mich hat Mutter Erde gesäugt‹, dachte er ab und zu« (MuB 21) und später: »Mit bloßer Brust sah er sie, triumphierend, als Mutter Erde« (MuB 152). Einerseits präsentiert sich Jonathan, der ja verwaist ist, als Kind der Natur – gewissermaßen das weibliche und nicht-religiöse Pendant zu Gott-Vater (dazu siehe oben); möglicherweise zieht Jonathan daraus für sich einen Trost, so dass er weniger alleingelassen erscheint. Andererseits wird durch den Phraseologismus ein Bezug zur Heimat hergestellt; im direkten Kontext geht es dann auch um Jonathans Geburtsort Rosenau. Das Thema der verlorenen Heimat wird durch Phraseologismen immer wieder eingeführt – auch in Kontexten, in denen es vordergründig nicht darum geht. So erscheinen die Phraseologismen als eine Möglichkeit, Textthemen refrainartig einzubeziehen – bestimmte Themen überschatten sozusagen alle Handlungselemente, sie sind immer da: In seinem Treppenhaus betrachtet Jonathan Stellen, in denen allegorische Darstellungen der vier Himmelsrichtungen vorgesehen waren. In diese Betrachtungen wird das plattdeutsche Sprichwort »›ob Ost, ob West, to Hus is am best‹« (MuB 53) eingeschoben. Jonathan fühlt sich in Hamburg durchaus zu Hause, unternimmt dann aber eine Reise zu seinem Geburtstort im ehemaligen Ostpreußen, das wiederum geradezu emblematisch für den Verlust von Heimat steht. Der Abschied von der Heimat wird an anderer Stelle durch den ersten Vers des bekannten Volkslieds »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus …« (MuB 99) thematisiert. Auch das Volkslied »An der Saale
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hellem Strande« (MuB 157), in dem Burgen an der Saale (aber auch wieder ein Abschied) erwähnt werden, wird zitiert. Mit »Näher, mein Gott zu dir!« (MuB 100) erwähnt Kempowski einen weiteren Liedtext, diesmal aus einem christlichen Choral. Sehr bekannt ist dieser Choral dafür, dass er angeblich beim Untergang der Titanic das letzte von der Kapelle dargebotene Lied gewesen sein soll. Mit dieser Assoziation spielt Kempowski, indem er es in Beziehung setzt zum Untergang von Flüchtlingsschiffen: »Und der russische Kommandant hatte gerufen: Los! und es gab einen Bums, und das Schiff legte sich auf die Seite, mit Promenadendeck, Schwimmbad und Mahagoni-Speisesaal, die Schüsseln rutschen zu Boden und die Bestecke, und da wurde kein Choral gespielt! Näher, mein Gott zu dir!« (MuB 100) Die harsche Realität der Flüchtenden wird anschließend als Kontrast zu der romantisch verklärten Titanic-Katastrophe aufgebaut. An zwei Stellen zitiert Kempowskis die aus Ostpreußen stammende Dichterin Agnes Miegel: »Doch die Pest ist des Nachts gekommen / Mit den Elchen über das Haff geschwommen« (MuB 25), »Noch denke ich manche Stunde / Jener Tage am Ostseestrand, / Wenn in den grauen Schluchten / Jeder Baum in Blüte stand« (MuB 140). Die Zitate stammen aus Die Frauen von Nidden bzw. Mainacht. Anders als die zuvor erwähnten Liedzeilen kann hier nicht von geflügelten Worten die Rede sein. Die zitierten Gedicht- bzw. Balladenzeilen können allenfalls im Umfeld von tatsächlichen Phraseologismen verortet werden. Dennoch manifestieren sich auch in ihnen zentrale Textthemen: Ostpreußen, der Verlust der Heimat, und im Falle der Frauen von Nidden das Erleiden eines schweren Schicksals, vor dem Gott die Menschen nicht bewahrt, das Verschwinden von ganzen Orten und das Gefühl, von Gott vergessen zu sein. Der Assoziationsspielraum, den diese zitierten Zeilen eröffnen, ist gewaltig. Dazu trägt zusätzlich das Wissen um die Autorin der Zeilen bei: Agnes Miegel galt als leidenschaftliche Ostpreußin, aber auch als Anhängerin des Nationalsozialismus. Nach 1945 distanzierte sie sich nie öffentlich; stattdessen wurde sie zu einer Identifikationsfigur für aus Ostpreußen Vertriebene.73 Nach anfänglichen Würdigungen Miegels in der Bundesrepublik setzte zum Ende des 20. Jahrhunderts ein Umdenken in ihrer Bewertung ein; Straßen wurden umbenannt, Denkmäler abgebaut. Damit sind durch die Verfasserin der zitierten Zeilen auch die Aspekte des Nationalsozialismus und der kollektiv-historischen Schuld indirekt präsent. Linguistisch interessant ist, wie das Zitat aus Die Frauen von Nidden im Text verankert wird: In einem Atlas sucht Jonathan die Kurische Nehrung, assoziiert dazu dann Bilder aus alten Erdkundebüchern. Diese Bilder wiederum lassen sich mithilfe von Wörtern versprachlichen, die in der Ballade von Miegel präsent sind: »Bilder aus alten Erdkundebüchern fielen
73 Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos. München: Pantheon 2007, S. 371.
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ihm ein: Wanderdünen, Elche. Ein Fischer, der auf seinem umgedrehten Boot sitzt und ein Netz flickt. Bernsteintagebau« (MuB 24–25). Und dann folgt das Zitat. Jonathans Erinnerungen an Bilder evozieren quasi ein ganzes semantisches Netz, dessen lexikalische Füllungen auch in Miegels Text präsent sind. Mit anderen geflügelten Worten werden die Vater-Sohn-Problematik und der Aspekt der Schuld – auch mit einer Erweiterung in den religiösen Bereich – betont: In einem alten Haus in seinem Heimatort Rosenau macht Jonathan Station: »Die Kinder standen in der Tür und starrten Jonathan an, der sich ein bißchen vorkam wie auf dem Fritz-von-Uhde-Bild: ›Unser täglich Brot gib uns heute‹« (MuB 198). Auf dem erwähnten Gemälde steht Jesus in einer ärmlichen Stube, und ebenso ärmlich aussehende Menschen bereiten den Tisch zur Mahlzeit vor. Der eigentliche Titel des Gemäldes ist Das Tischgebet. Das Bild ist auch bekannt unter dem Titel Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, was zur Darstellung (und dem eigentlichen Titel) sehr gut passt. Bei Kempowski findet sich an dieser Stelle aber ein geflügeltes Wort aus einem anderen Gebet, dem Vaterunser. Veränderungen an Zitaten bzw. hier Veränderungen des Kontextes sind bei Kem powski in der Regel nicht zufällig, sondern funktional für die Textaussage. Das ist auch hier anzunehmen: Statt der Zeile aus dem Tischgebet nutzt Kempowski eine aus dem Vaterunser – und zwar eine Zeile, deren Fortsetzung wohlbekannt ist: »Und vergib uns unsere Schuld / wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«. Zum einen ist die Verbindung zum Schuldthema offensichtlich, zum anderen findet sich wiederum der Bezug zum Vater: Jonathans leiblicher Vater ist zwar tot, aber hier tritt Gott sozusagen an die Stelle des Vaters. Wenn Jonathan sich so vorkommt wie auf dem Fritz-von-Uhde-Bild, in dem eben Jesus in die kärgliche Welt armer Leute eintritt, wird er implizit mit Jesus gleichgesetzt, der Gottes Sohn ist und keines leiblichen Vaters bedarf. Auch an anderer Stelle findet sich diese Gleichsetzung Jonathans mit Jesus: »Er sammelte sich zusammen und tastete hinaus, um sich drüben, tief aufseufzend auf sein schönes Sofa zu werfen. Et in Sion habitatio ejus!« (MuB 49–50) »In Frieden ward sein Ort / und seine Wohnung auf dem Zion« stammt aus einem Psalm bzw. einem Text eines Liedes, das zur katholischen Karfreitagsliturgie gehört. Der Text bezieht sich auf Jesus. Das Zitat verbindet Jonathan, der sich in der erzählten Situation zufrieden und friedlich in seiner Wohnung befindet, wiederum mit ihm. Durch die Herkunft aus der Karfreitagsliturgie kann hier nicht nur die Frage des (fehlenden) Vaters, sondern wieder ebenso die Frage einer religiös-anthropologischen Schuld (siehe oben) assoziiert werden. Auffällig sind im Text weiterhin die geflügelten Worte aus Goethes Faust. Neben dem schon erwähnten Mephisto-Ausspruch verbindet Kempowski das Medizinfläschchen, das er von Frau Kuschinski bekommt, mit dem Giftfläschchen im Faust: »o komm herab, du einzige Phiole« (MuB 131). Auch an anderer
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Stelle verbindet Kempowski seinen Text mit Goethes: Als Jonathan sich fragt, ob die Reise nach Polen ein Risiko für ihn sein könnte, zitiert Kempowski: »Du wirst in dieser Stunde mehr gewinnen, / als in der Tage Einerlei« (MuB 51). Das Zitat beantwortet Jonathans Frage und deutet voraus: Er wird durch die Reise für ihn Erschütterndes erleben und nicht mehr als derselbe zurückkehren. Der häufige Bezug zu Goethes Faust erhebt das Thema Schuld zum Menschheitsthema: Das ständige menschliche Streben, das immer wieder zu Katastrophen, zu Grausamkeiten und Leid führt, das Mephistophelische am Menschen, ist allgegenwärtig. Als Kontrast zu den schwerwiegenden Themen, mit denen die Polenreise letztendlich verknüpft wird, kann man den (leicht abgewandelten) Phraseologismus »nach Lust und Laune« werten, der im Schreiben der Santubara-Werke enthalten war: »Man bewundere schon seit geraumer Zeit seine unbestechliche Feder, schrieb ein Herr Wendland von der Presseabteilung der Autofabrik, ob Jonathan nicht Lust und Laune habe, mal nach Ostpreußen zu fahren?« (MuB 23)
5.3 Phraseologismen als Sprachportraits und zur Figurencharakterisierung Eine wichtige Funktion von Phraseologismen bei Kempowski – vor allem in den Romanen der Deutschen Chronik, aber auch in Mark und Bein – ist, dass sie zum »Sprachportrait«74 der jeweiligen Figur und damit zur Figurencharakteristik beitragen. Gleichzeitig geben die genutzten Phraseologismen und ihre Konnota tionen häufig Aufschluss über die Art der Beziehung zwischen den Figuren. Die Eigenschaftszuschreibungen mittels Phraseologismen erfolgen einerseits durch phraseologisch geprägte Beschreibungen der Figuren durch andere oder den Erzähler, andererseits durch Phraseologismen in der Figurenrede der betroffenen Figur selbst.75 Etliche Phraseologismen verdeutlichen Jonathans zu Beginn noch eher materiellen Gründe, an der Reise nach Polen teilzunehmen: »Danzig würde er brauchen können für seinen Essay über die Backsteingotik« (MuB 25), »Die Marienkirche war eine von den Riesen im Norden, die ihm noch in seiner Sammlung fehlte« (Mub 25–26), »Wenn er den Auftrag annähme, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und den bekannten Veredelungsvorgang in
74 Fleischer: Phraseologie 1982, S. 228. 75 Vgl. Preußer: Phraseologismen 2004, S. 269.
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Gang setzen: Geld verdienen und damit Kenntnisse erwerben, die später dann wiederum zu Geld zu machen sind« (MuB 26). Auch die Argumente gegen eine Teilnahme an der Fahrt werden phraseologisch dargelegt: »›Ich bin hier in Hamburg und habe mein Auskommen‹, dachte Jonathan. ›Was geht mich Ostpreußen an?‹« (MuB 26). Wie Jonathan von anderen Figuren gesehen wird, machen ebenfalls Phraseologismen deutlich: »›Er mag sein, wie er will‹, sagten diese Leute, ›aber irgendwie … ich weiß es nicht …‹« (MuB 10). Frau Winkelvoss und Hansi Strohtmeyer schätzen Jonathan als lebensfernen, etwas schrulligen Künstlertyp ein: »Die hatten schon gedacht, dieser Literat, um Gottes willen, der schafft das nicht, der kriegt die Kurve nicht« (MuB 89), »Jonathan rief denn nun doch: ›Halt!‹ Die beiden schraken zusammen: Was das nun wieder soll« (MuB 196). Als die Reisegruppe Jonathans Geburtsort Rosenau erreicht hat und Jonathan eine Art Zusammenbruch erlebt, wobei gewissermaßen Visionen aller drei oben erwähnter Ebenen der Schuld auf ihn einströmen, werden Phraseologismen genutzt, um sein Gefühlsleben eindrücklicher zu beschreiben: »Er fühlte sich unbeteiligt und war doch ganz bei der Sache, er war ›außer‹ sich und doch im Bilde« (MuB 203). Bereits zuvor gibt es immer wieder Situationen, in denen Jonathan von dem gesamten Schuld-Panorama und seinen Auswirkungen bestürmt wird. Beim Besuch bei Frau Kuschinski und ihrer kranken Tochter wird ihm – wie so häufig im Text – die Frage »Wer hat die Schuld?« gestellt. Er versucht, sich aus der Situation zu retten: »Jonathan überlegte, ob es nicht ein Sprichwort gibt, das er jetzt zitieren könnte: ›Gut und Geld – erhält die Welt‹, oder so ähnlich, gewiß gab es ein Sprichwort, in dem sich die Volksweisheit des Abendlandes komprimierte, mit dem man böse Gedanken mit einfachen Mitteln würde bannen können« (MuB 130). Hier wird seine Hilflosigkeit angesichts der Armut und der schwierigen Lebensumstände der Menschen in Polen deutlich. Ein – letztlich fiktives – Sprichwort wird da auch keine Abhilfe schaffen können; das Abendland mit seinen Volksweisheiten bietet keine Orientierung bei der Konfrontation mit den Auswirkungen von Schuld. Dass die Beziehung zwischen Jonathan und Ulla nicht auf sehr solidem Grund steht, zeigen ebenso Phraseologismen. Beide äußern sich eher abfällig übereinander bzw. denken nicht besonders liebevoll voneinander: [Ulla] trat hinter ihn und wendete die Zettel auf seinem Tisch um, was er da für einen Blödsinn aufzuschreiben hat. Gebärmutter? Das Kirchenschiff mutet wie eine Gebärmutter an? Also, das sei doch wohl so ziemlich das Letzte… Türkenhosen trug sie und eine offene Männerweste über der Bluse. Fehlt bloß noch ein Turban, dachte Jonathan, als er sie so sah. (MuB 27)
Später heißt es:
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Man kann nicht gerade sagen, daß sich die beiden gut unterhalten hätten. Die Notwendigkeit, nett sein zu müssen an diesem Tag, führte zu beiderseitigen Ungeschicklichkeiten: »Damals hast du behauptet, daß…«, wurde gesagt oder: »Kannst du nicht mal von was anderem reden? Hast du noch immer nicht gerafft, daß mir das auf den Geist geht?« (MuB 29)
und »Strahlend zu der Liebsten eilen, den Brief in der Hand – so stellte er sich das Zusammensein mit seiner Freundin vor. Das war zwischen ihnen nicht drin« (Mub 30). Phraseologismen wie »›Schön für dich!‹« (MuB 51) und »›Du mußt es ja wissen…‹« (MuB 51) zeigen eine gewisse Gleichgültigkeit in dieser Beziehung. Ulla liest Jonathans Tagebuch: »sein Tagebuch hatte sie lange nicht gelesen, das würde sie sich zu Gemüte führen« (Mub 82); der Phraseologismus bedeutet »etwas Gutes mit Genuss essen oder trinken«76 und verweist darauf, dass Ulla den Vertrauensbruch genießt. »›Na denn gute Nacht‹, sagten die beiden zueinander, als sie wieder zu Hause waren, und jeder ging in sein Zimmer« (MuB 48). In erster Linie handelt es sich hier natürlich um einen Abschiedsgruß, aber phraseologisch wird dieser Formulierung auch eine negative Wertung eines Sachverhalts zugeschrieben. Dies kann als Vorausdeutung auf das Ende ihrer Beziehung (das ja tatsächlich eintritt) verstanden werden. Ab und an wird im Text mit Phraseologismen, ihrer wörtlichen und ihrer phraseologischen Lesart gespielt. Dies ist auch im Kontext der Beziehung zwischen Ulla und Jonathan der Fall. So sei Ulla »lieb auf den ersten Blick und fest auf den zweiten« (MuB 14). Das Spiel mit dem Phraseologismus »auf den ersten Blick« weist darauf hin, dass die Lebensgefährtin Ulla etwas anders ist, als man zunächst annehmen würde, dass ihre äußerliche Freundlichkeit täuscht. »Drei Jahre hielt sie es nun schon bei ihm aus (wie sie es ausdrückte), obwohl eigentlich er es war, der hier was auszuhalten hatte« (MuB 18). Auch hier wird verdeutlicht, dass die Beziehung belastet ist und es wenig Aussicht auf ihr Fortbestehen gibt. Der aus Ostpreußen stammenden Generalin, die Jonathan besucht, wird ein besonderer, stilistisch und sozial konnotierter Phraseologismus in den Mund (bzw. in die Gedanken) gelegt: »daß der junge Mann, der ja schon längst einmal hätte kommen können, ihr nun, an einem Mittwoch um elf Uhr fünfzehn, ganz comme il faut, einen Besuch machte« (MuB 66–67). Sie wird dadurch als Angehörige einer höheren Schicht und einer untergegangenen Welt dargestellt. Jonathan stellt sich darauf ein und nutzt ihr gegenüber stilistisch gehoben konnotierte Phraseologismen (»er erkundigte sich nach dem werten Befinden der Generalin, die sieben Kindern mehr oder weniger problemlos das Leben geschenkt hatte« [MuB 67]), redet sie auch beinahe mit der gehobenen und veralteten Routine formel »gnädige Frau« (MuB 68) an.
76 Duden Redewendungen 2013, S. 265.
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Hansi Strohtmeyer wird mithilfe der Phraseologismen, die ihm in den Mund gelegt werden oder die seine Gedanken wiedergeben sollen, als ausgesprochen pragmatisch, wenig sensibel und eher handfest charakterisiert: »Hansi Strohtmeyer, der gar nicht so ohne war. Mehr sein als scheinen – wie hatte er den bloß für einen Fahrer halten können?« (MuB 144) Die Verhältnisse in Polen beurteilt er so: »›Hat kein’ Zweck‹, sagte Hansi Strohtmeyer, der das beobachtet hatte. ›Die kommen hier zu nichts…‹« (MuB 158), »Wenn er bedenke, sagte er, wie freundlich er sein Lebtag zu Polen gewesen sei, wenn er die in Deutschland getroffen habe – immer den Weg gezeigt usw. Die könnten ihn jetzt mal am Hobel blasen!« (MuB 171). Bei dieser Figur werden eher salopp oder umgangssprachlich konnotierte Phraseologismen verwendet: »›Datt helpt ja nu nix‹, sagte Hansi Strohtmeyer, als der Staub sich gelegt hatte, ›nu müssen wir uns auf die Socken machen‹« (MuB 177), »Hansi kam auch bald, der sagte: ›Allens klor!‹« (MuB 187), »Was die hier mit Tourismus machen könnten! Sagte Hansi Strohtmeyer, die könnten ja Geld scheffeln! Ohne sich die Hände dreckig zu machen! Die Werft in Danzig könnten sie sich dafür an den Hut stecken!« (MuB 223–224). Das Bild, das die verwendeten Phraseologismen von Anita Winkelvoss zeichnen, ist das einer pragmatischen, etwas anstrengenden, politisch korrekten Frau, die tatsächlich keine hohe Meinung von Polen hat, dies aber versteckt. Die Unbequemlichkeiten für die Touristen aus dem Westen werden von ihr phraseologisch relativiert: Der Fernseher im Hotel ist nur schwarz/weiß, aber: »s/w war irgendwie progressiv sogar. ›Farbe‹ hat man ja bis obenhin« (MuB 111). Dass man auf ein Ferngespräch zwei Stunden warten müsse, »sei schließlich kein Beinbruch« (MuB 110), dass das Rührei mit Dosenmilch angemacht war, sei »besser als gar nichts« (MuB 146). Frau Winkelvoss legt vordergründig Wert auf politische Korrektheit: »Frau Winkelvoss verbat es sich nochmals, daß von Zigeunerinnen geredet wurde, ›Zigeunerinnen‹ gebe es ihres Wissens in Polen überhaupt nicht« (MuB 138), »dann wollte sie von Jonathan gern wissen, ob das denn unbedingt nötig sei, die Marienburg, sie meine, ob das heute noch jemanden interessiert? Eine Burg? Von Militarismus habe schließlich jeder die Nase voll« (MuB 146), »es war im übrigen ein dreckiger Storch, er hatte einen grauen ungepflegten Bauch, ein polnischer Storch also, wie Strohtmeyer scherzte, was sich Frau Winkelvoss verbat« (MuB 153). Tatsächlich denkt Frau Winkelvoss jedoch, dass man organisatorisch und in Sachen Effektivität bei den Polen »ordentlich Dampf« (MuB 136) machen müsste, was eine gewisse Verlogenheit in ihrer politischen Korrektheit offenlegt. Wirklich auseinandersetzen möchte sie sich mit nationalsozialistischen Verbrechen in Polen auch nicht, ihr Widerwillen, das KZ Stutthof zu besuchen, ist offensichtlich: »Sie habe einen Lehrer gehabt, der habe von morgens bis abends von diesen Judensachen erzählt, immer diese schrecklichen Bilder gezeigt, jahrelang, also, ihr Bedarf sei gedeckt« (MuB 220).
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Der gemeinsame Freund von Jonathan und Ulla, Albert Schindeloe, sei »in der Jugendzeit ja auch kein Kind von Traurigkeit gewesen« (MuB 46). Gleichzeitig sieht er sich als außergewöhnlich und weltgewandt; diese Selbstwahrnehmung wird für den Leser jedoch mithilfe von Phraseologismen ironisiert: »Die fade Blödheit der Endsilbe [seines Namens], die ihn nun schon sein Lebtag begleitete, machte ihm zu schaffen« (MuB 43). Der humorige Effekt entsteht dadurch, dass es ja eigentlich etwas völlig Unerhebliches ist, das aber Albert Schindeloe sehr bewegt, weil es an seinem Selbstbild als außergewöhnliche Persönlichkeit kratzt. Das Spiel mit Phraseologismen trägt auch bei der Darstellung der anderen Gäste im Hotel sowie des Hotelpersonals zu einem witzigen Effekt bei: In der Landsmannschaft »waren im übrigen nette Damen, ›Muttis‹ und auch ›Omas‹, die allesamt brav im Leben standen. Den Herren sah man an, daß auch sie im Leben standen, obwohl der eine oder andere schon an der Grenze war« (MuB 144). Ebenso zum Hotelpersonal: »bedienen taten sie nicht gern, wenn’s unbedingt sein mußte, gaben sie sich einen Ruck. […] der Westgast ist König, hatte es geheißen, der bringt uns die Devisen, mit denen wir unsern sozialistischen Staat aufbauen. Also, einen Ruck nach dem andern gaben sie sich« (MuB 144).
5.4 Phraseologismen als Zeit- und Kulturportraits Phraseologismen können Erfahrungen oder Überzeugungen transportieren. Sie tradieren das, was Generationen vor uns über die Welt herausgefunden haben oder welcher Überzeugung sie waren. Damit hängt zusammen, dass Phraseologismen als »Kulturzeichen«77 bezeichnet werden, d. h. dass »phraseologische Ausdrücke als Reflex gesellschaftlicher Erfahrungen [gelten], sie geben in komprimierter Form Werthaltungen und Deutungssysteme einer Sprachgemeinschaft wieder«.78 Dies gilt besonders für satzwertige Phraseologismen, mit denen Aussagen getroffen werden können. Aber auch Phraseologismen, die keine vollständigen Sätze oder Satzäquivalente sind, können sozusagen als sprachliche Konserven kultur- und zeitspezifische Wertungen, Klischees, Vorurteile und Stereotype usw. transportieren. »It has been observed that different kinds of cultural phenomena can have linguistic consequences. Phrasemes tend to absorb and accumulate cultural elements; permanent use of the phrasemes hands these elements
77 Heinz-Helmut Lüger: Satzwertige Phraseologismen. Eine pragmalinguistische Untersuchung. Wien: Ed. Praesens 1999, S. 57. 78 Lüger: Satzwertige Phraseologismen 1999, S. 58.
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down and includes them into the cultural memory«.79 Das kulturelle Gedächtnis im Assmann’schen Sinne ist eine Erscheinungsform des kollektiven Gedächtnisses. »Kulturelles Gedächtnis entsteht immer da, wo bestimmte Ereignisse von einer Gemeinschaft als dauerhaft bewahrenswert eingestuft und entsprechende Verfahren zu ihrer Sicherung festgelegt werden«.80 Diese Sicherungsverfahren umfassen z. B. das Einspeisen der Inhalte in schriftliche, bildliche oder digitale Archive. In einem weiteren Sinne können Phraseologismen als Speichermedien für kulturelle Elemente gesehen werden, wie Piirainen dies nahelegt. Preußer erwähnt eine »archivierende Funktion«,81 die »in den Text eingearbeitete Zitate und Geflügelte Worte, aber auch Slogans und andere an Aktualität bzw. Zeitgeist orientierte Phraseologismen«82 haben können. Schmidt spricht von einem »Formulierungserbe«,83 d. h. von »epochenabhängigen Formulierungen«,84 die z. B. auf die Zeit des Kaiserreichs oder des Nationalsozialismus verweisen. Die Funktion der Phraseologismen als Zeit- bzw. Kulturportrait und damit Kulturzeichen ist in anderen Werken von Kempowski, v. a. in den Romanen der Deutschen Chronik, viel deutlicher ausgeprägt. Die Deutsche Chronik gilt als »Archiv der deutschen Lebenswirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«,85 als »textförmiges Museum bürgerlicher Kultur im historischen Kontext«.86 Sie ist aber auch – vielleicht sogar in erster Linie – ein Spracharchiv: Zeit- und gruppenspezifische Redeweisen werden als Indizien für entsprechende Denkweisen vorgestellt. Zu diesen Redeweisen gehören natürlich v. a. Phraseologismen. Allerdings gibt es auch in Mark und Bein solche Momente: Der Text enthält Phraseologismen, die zeit- bzw. kulturspezifisch auf die Zeit der Handlung verweisen – das sind die späten 1980er Jahre. Aufgrund des thematischen Aspekts der kollektiv-historischen Schuld und der langen deutsch-polnischen Geschichte lassen sich auch immer wieder Phraseologismen finden, die v. a. aus dem Nationalsozialismus stammen. Wiederum andere Phraseologismen verdeutlichen im
79 Elisabeth Piirainen: Phrasemes from a cultural semiotic perspective. In: Harald Burger/ Gerold Ungeheuer/Herbert Ernst Wiegand (Hgg.): Phraseologie. Ein internationales Handbuch. Berlin/New York: De Gruyter 2007, S. 208–219, hier S. 217. 80 Nicolas Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Hamburg: Junius 2013, S. 64–65. 81 Preußer: Phraseologismen 2004, S. 276. 82 Preußer: Phraseologismen 2004, S. 276. 83 Hartmut Schmidt: Traditionen des Formulierens: Apposition, Triade, Alliteration, Variation. In: Heidrun Kämper/Hartmut Schmidt (Hgg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte – Zeitgeschichte. Berlin: De Gruyter 1998, S. 86–117, hier S. 101. 84 Schmidt: Traditionen 1998, S. 101. 85 Sina: Sühnewerk 2012, S. 207. 86 Stockhorst: Befindlichkeiten 2010, S. 438.
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Kontext Bewertungen oder Überzeugungen, die man als zeittypische Denkweisen für die erzählte Zeit sehen kann. Als typisch für die erzählte Zeit kann man phraseologismenähnliche Slogans wie »AKW – nee!« (MuB 29) einschätzen, die die Anti-Atomkraftbewegung der 1980er Jahre reflektieren. Als ebenso zeittypisch kann der »kalte Krieger« gelten: »da hätten ihn die Leute ja ohne weiteres für einen kalten Krieger gehalten« (MuB 57). »Friede, Freude, Eierkuchen war angesagt, wenn’s um die Nachbarn im Osten ging« (MuB 53): Hier sind das Bewertende und der Einsatz gerade dieses Phraseologismus in diesem Zusammenhang das Kulturzeichen; der Phraseologismus selbst stammt natürlich nicht aus dieser Zeit. Zur Vorbereitung seiner Reise besucht Jonathan eine Spezialbuchhandlung für Karten: »Jonathan ließ sich von einem Herrn Hofer Ostpreußen-Karten vorlegen – ›Z. Zt. unter polnischer Verwaltung‹ –, mit Wappen links und rechts« (MuB 57). Die Formulierung »zur Zeit« (nach heutiger Rechtschreibung kein Phraseologismus mehr, sondern ein Wort) betont die Problematik der Anerkennung der deutschen Ostgrenze und des damit verbundenen endgültigen Verlustes der ehemals deutschen Gebiete im Osten. Als Jonathan auf dem Weg nach Polen über die Ostsee fliegt, »kam [ihm] der Slogan in den Sinn: Die Ostsee ist das Meer des Friedens« (MuB 97). Der Slogan war das Motto der Ostseewoche, die bis 1975 von der DDR veranstaltet wurde. Wieder hat Kempowski die ursprüngliche Formulierung leicht abgewandelt: Eigentlich lautete sie »Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein«. Bei Kempowski wird daraus eine assertive Behauptung. Dies ist in seinem Text kontextuell nötig, da er nach dem Zitieren des Slogans eine ironisch-absurde Szenerie anschließt, in der er die angebliche Friedensliebe der DDR-Regierung kontrastiert mit Hinweisen auf Vorfälle in schwedischen Hoheitsgewässern, in denen diese von sowjetischen U-Booten widerrechtlich infiltriert wurden, sowie der tatsächlichen militärischen Aufrüstung der DDR. Phraseologismen aus der Zeit des Nationalsozialismus werden ebenfalls verwendet, womit auf die Problematik der Vergangenheitsbewältigung angespielt wird. Immer wieder sind die einzelnen Erlebnisse Jonathans Anlass für ihn, sie in Beziehung zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu setzen. Mithilfe nationalsozialistischer Slogans wird beispielsweise eine Art szenisches Bild evoziert, als man auf dem Flughafen Danzig ankommt: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Kniebolo [Ernst Jüngers Chiffre für Hitler], eine Fliegerkappe auf dem Kopf, steigt aus seiner Ju 52, die Lederpeitsche in der Hand, und alle Schulkinder schreiben einen Aufsatz: ›Der Führer über Deutschland‹« (MuB 104). Es ist ein prototypisches Bild, das hier aufgerufen wird, ein Bild, das man – gefühlt – schon sehr oft gesehen hat, und dazu wird durch den Slogan auch prototypische Sprache aus dieser Zeit verwendet. Es scheint sogar die passende Musik zu diesem Bild zu hören zu sein: »An
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die Maschinen, an die Maschinen! / Kamerad, da gibt es kein Zurück!« (MuB 104) Kempowski zitiert hier Zeilen aus dem Lied Rot scheint die Sonne, das auch als Fallschirmjägerlied bekannt ist und aus dem Nationalsozialismus stammt. Ähnlich ikonisch ist folgende Szene, die Jonathan in den Straßen von Sopot in den Sinn kommt: »Und die Straße, wo Hitler damals durchgefahren war? Blumen über Blumen? Wir grüßen unsern Führer, Sieg Heil?« (MuB 114). Die Phraseologismen – hier insbesondere geflügelte Worte – verweisen immer wieder an verschiedenen Stellen auf die deutsch-polnische Geschichte, aber auch die deutsche Schuld im Nationalsozialismus: Zur Vorbereitung auf die Reise liest Jonathan historische Abhandlungen, u. a. zur Schlacht von Tannenberg im 15. Jahrhundert und der von Hindenburg propagandistisch so genannten von 1914: »von den Deutschen Rittern verloren und 1914 von Hindenburg so glorreich gewonnen – ›der hat die Scharte wieder ausgewetzt …‹« (MuB 52). Der Ausspruch Hindenburgs bzw. dann über Hindenburg betont die lange historische Verbundenheit, aber auch die Idee der deutschen Ansprüche auf Gebiete im Osten – eine Idee, die in einigen deutschen Kreisen zur Zeit der Handlung von Kempowskis Roman noch immer bestand. Ähnlich geht Kempowski vor, als Jonathan über die Zugehörigkeit der Stadt Szczecin zu Polen nachdenkt: »das hatten sich die Polen in die Tasche gesteckt, das lag ja eigentlich diesseits der Oder. Vielleicht rächte sich das eines Tages? Vielleicht mußten da eines Tages wieder Koffer gepackt werden und ›binnen einer Stunde‹ alles geräumt?« (MuB 101–102). Drei Wörter reichen hier, um Bilder der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Stadt zu evozieren. Während der Besichtigung der so genannten Wolfsschanze, eines von Hitlers Hauptquartieren im Zweiten Weltkrieg, »sah [Jonathan] die Bunker wie Steinsetzungen, zwischen denen sich in den letzten Tagen der Menschheit, im Rot der untergehenden Sonne, die letzten Überlebenden versammelten« (MuB 214). Die letzten Tage der Menschheit ist der Titel einer Tragödie von Karl Kraus, die sich auf den Ersten Weltkrieg bezieht, collageartig mit vielen Zitaten aus von Kraus gesammelten Dokumenten gestaltet ist (ein Prinzip, das Kempowski später im Echolot noch weiterführen wird) und mit der Auslöschung der Menschheit endet. Das geflügelte Wort verbindet einerseits die beiden Weltkriege miteinander, bringt andererseits auch wieder eine anthropologische Ebene ins Spiel, einen Blick auf die Menschheit an sich, die sich durch ständiges gegenseitiges Zufügen von Gewalt und Auslösen von Leid womöglich irgendwann selbst auslöschen wird. Dieser pessimistische Blick auf die Menschen wird gestützt durch die kontextuelle Einbettung der Parole »Nie wieder Krieg« (MuB 65 und 213). Die erste Textstelle rahmt die Parole so, dass sie auf einem Antikriegs-Plakat »auf dem Klo« (MuB 65) eines Lokals in Hamburg zu finden ist. Allerdings wird das Plakat gleich nach der Parole diskreditiert, da das ebenfalls abgebildete Foto als falsch gelten
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müsse. Sehr viel später taucht die Parole wieder auf, als die kleine Reisegruppe um Jonathan die »Wolfsschanze« besucht: »NIE WIEDER KRIEG! Große MahnBildtafeln rechts und links des Weges forderten zum Besuch einer didaktisch aufbereiteten Tonbildschau auf, doch Jonathan verzichtete auf Belehrung, er strebte dem originären Erlebnis zu« (MuB 213). Der Belehrung und der – durch Großbuchstaben besonders dringlich wirkenden – Mahnung wird hier kein großer Eindruck und keine tiefere Wirkung zugetraut.
5.5 Phraseologismen als intertextuelle Signale Eine letzte Besonderheit im Phraseologismengebrauch Kempowskis bleibt zu erwähnen: Wie auch Figuren in verschiedenen Romanen von Kempowski wiederaufgenommen werden, so gibt es Phraseologismen, die in mehreren KempowskiTexten auftreten. Eroms stellt dies bereits für die figurentypischen Phraseologismen und phraseologismenähnlichen Phänomene fest,87 die romanübergreifend Verwendung finden, weil letztendlich natürlich die Figuren romanübergreifend (in allen Romanen der Deutschen Chronik) auftreten. Aber es gibt auch unabhängig von den phraseologischen Schibboleths der Figuren Phraseologismen, die in mehreren Kempowski-Texten auftreten, diese inhaltlich miteinander verknüpfen und damit intertextuelle Signale darstellen. Diese Wiederaufnahmen von Phraseologismen involvieren auch den Roman Mark und Bein. Am auffälligsten ist sicherlich, dass in diesem Roman an wichtiger Stelle die Formulierung »Alles umsonst!« auftritt, die natürlich einem späteren Roman Kempowskis den Titel gibt, aber auch in Schöne Aussicht und Uns geht’s ja noch gold zu finden ist.88 »Alles umsonst« kann als eine Art Autorphraseologismus gesehen werden. Es handelt sich um eine feste Wendung, die in Kempowskis Romanen mehrfach auftritt und innerhalb der Texte bestimmte Bedeutungen und Assoziationspotentiale entfaltet. Sie ist zwar angelehnt an Martin Luthers Choral Aus tiefer Not schrei ich zu dir,89 es handelt sich aber nicht um ein wörtliches Zitat (»Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, / die Sünde zu vergeben; / es ist doch unser Tun umsonst / auch in dem besten Leben«90). Insofern kann nicht von einem geflü-
87 Hans-Werner Eroms: Sprache. In: Damiano/Grünes/Feuchert (Hgg.): Walter-KempowskiHandbuch 2020, S. 344–355, hier S. 349. 88 Vgl. Nolte: Sprache 2019, S. 93. 89 Leber: Religion 2020, S. 328. 90 Leber: Spiegelung 2011, S. 139–140.
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gelten Wort ausgegangen werden. Die Wendung ist so zentral für die Betrachtung der Themen Schuld, Verlust der Heimat/Familie und Umgang mit der Vergangenheit, dass Kempowski offenbar sogar überlegte, »sein Gesamtwerk mit dieser […] Floskel zu betiteln, wodurch das Gesamtwerk als eine mögliche Antwort auf die Schuldfrage gelten könnte«.91 Auch die sinngemäße Herkunft aus dem LutherChoral legt nahe, dass »Alles umsonst« ausdrückt, wie unzureichend menschliche Handlungen sind, um Schuld wiedergutzumachen – es bleibt letztendlich nur die Hoffnung auf Vergebung durch Gott. Weitere Autorphraseologismen verbinden Mark und Bein auf aufschlussreiche Weise mit anderen Werken von Kempowski. In Mark und Bein stellt sich Jonathan vor, wie es gewesen wäre, wenn man ihn als Neugeborenen auf der Flucht aus Ostpreußen zurückgelassen hätte unter der Annahme, dass er nicht überlebensfähig gewesen wäre: »›Der stirbt ja doch …‹« (MuB 165). Es handelt sich um eine leichte Abwandlung eines Ausspruchs, der auch in Aus großer Zeit auftaucht (»›Der fällt ja doch …‹« ).92 Damit wird der erwartete Tod von Karl Kempowski kommentiert, der sich freiwillig zum Ersten Weltkrieg gemeldet hatte. Karls Mutter gibt seine Anzüge weg und erklärt dies mit dem Ausspruch. Als Gemeinsamkeit der beiden Textstellen kann man z. B. feststellen, dass in beiden Kontexten die Familie jemanden zurücklässt – im wörtlichen Sinne in Mark und Bein und übertragen in Aus großer Zeit. Es gibt weitere inhaltliche Verbindungslinien: Karl Kempowski ist in der Deutschen Chronik Walter Kempowskis Vater; es ist in Aus großer Zeit also die Vaterfigur, deren Tod erwartet wird (der dann erst am Ende des Zweiten Weltkrieges eintritt), in Mark und Bein ist es der Tod des Sohnes, der erwartet wird. Auch hier wird wieder eine Verbindung zwischen Vater und Sohn fokussiert. Deutlich ist ebenso wiederum das Thema des Verlusts der Familie. An anderer Stelle nimmt Kempowski die Formulierung »Studien treiben« wieder auf. In Ein Kapitel für sich handelt es sich dabei um eine Aufforderung Roberts an seinen Bruder Walter, die Haft zu nutzen: Mein Bruder stieß mich an: »Mensch! Walter! Lemuren! Lauter Lemuren.« Ob ich all die Typen sähe? Und ob ich den da drüben, den mit dem komischen Kopf, ob ich den da auch sähe? Wie auf einem Auswandererschiff kam ihm das vor, wo auch so alles übereinander hockt. »Studien treiben, Walter, Studien treiben! Das kommt ja nie wieder«.93
91 Julian Tietz: Mark und Bein. Eine Episode (1992). In: Damiano/Grünes/Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 68–72, hier S. 72. 92 Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. München: Knaus 2017, S. 306. 93 Walter Kempowski: Ein Kapitel für sich. Roman. München: Knaus 1999, S. 165.
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In Mark und Bein beobachten Ulla und Jonathan Demonstranten (»ehrenwerte Menschen, die sich ein Gewissen um die Verpestung der Atmosphäre machten« [MuB 36]), die sie ähnlich fasziniert-distanziert als Merkwürdigkeit betrachten wie Robert im Gefängnis die Mitinsassen, die teilweise aus ganz anderen als den bürgerlichen Kreisen der Kempowskis stammten. Kein Autorphraseologismus, aber ebenfalls häufig in Kempowskis Romanen zu finden ist »Schwamm drüber« – in der Regel als Indikator für die mangelnde Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit bzw. einer individuellen oder kollektivhistorischen Schuld auseinanderzusetzen. Für Mark und Bein wurde dies oben bereits erwähnt. Besonders eindrücklich wird »Schwamm drüber« auch in Alles umsonst eingesetzt: »Spät in der Nacht senkte man doch die Stimme bis hin zum Gewisper: Von Juden wurde geredet. ›Das rächt sich …‹ ›Ich halte nichts von diesen Brüdern, aber …‹ ›Naja, Schwamm drüber …‹«.94 Hier wird deutlich, dass man während des Nationalsozialismus zwar ahnte, was mit Juden passierte, sich aber nicht damit befassen wollte. An anderer Stelle heißt es in Alles umsonst: »Nach dem Krieg, wenn alles ausgestanden war, dann mal wieder nach Italien fahren. Und Georgenhof? Das Gut wieder in Schuß bringen und Schwamm drüber. – Diese Judensache? Auch darüber würde Gras wachsen« (AU 308–309). Das saloppe Wegwischen von Schuld und das unreflektierte Weitermachen, das »Schwamm drüber« signalisiert, wird schließlich ein drittes Mal in Alles umsonst verwendet, diesmal wird es in Frage gestellt: »Das Tantchen war tot, ausgelöscht, als hätte man eine Decke glattgezogen. Die Decke ist strammgezogen worden, dachte Peter. Schwamm drüber?« (AU 330) Nun hat der Krieg unmittelbar persönliche Auswirkungen auf eine Figur und das Wegwischen und Weitermachen wird schwieriger. Auch in zahlreichen anderen Werken Kempowskis tritt diese Wendung auf.95 In ihr manifestiert sich im Grunde ein Gedanke, den nach dem Zweiten Weltkrieg viele Deutsche teilten, gegen den sich Kempowski mit seinen Texten aber vehement verwahrte. Zahlreiche geflügelte Worte treten nicht nur in Mark und Bein auf. Zwei Beispiele sollen dies demonstrieren. Der Liedtext »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus …« signalisiert nicht nur in Mark und Bein den Verlust der Heimat bzw. den Abschied von dieser aufgrund eines Krieges. In Aus großer Zeit wird der Liedtext zitiert, als Karl Kempowski in den Ersten Weltkrieg zieht (AgrZ 293). In Schöne Aussicht begleitet das Lied das Auslaufen der Fähre von Rostock nach Dänemark, unmittelbar daran schließt sich eine Reflexion von Karl und seiner
94 Walter Kempowski: Alles umsonst. Roman. München: Knaus 2006, S. 232, im Folgenden zitiert mit der Sigle AU und der entsprechenden Seitenzahl. 95 Vgl. Nolte: Sprache 2019, S. 419–421.
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Frau Grethe an: »Ach, Frieden ist doch schöner als Krieg. Obwohl, wenn man den Krieg [den Ersten Weltkrieg] gewonnen hätte, wäre der Frieden noch schöner gewesen« (SchA 156). In Mark und Bein besucht Jonathan ein Klavierkonzert. Andere Gäste sind u. a. »greise Menschen mit Hörgerät, die an ihr Elternhaus dachten: Die Mutter, ach ja, wie schön sie doch gewesen war, und der Vater hatte neben ihr am Klavier gestanden – chant sans parole – und hatte die Seiten umgeschlagen« (MuB 76). In Tadellöser & Wolff ist es Kempowskis Mutter selbst, die das Stück von Tschaikowski (eigentlich Chants sans paroles) anspricht (»so ein schönes Lied« [TW 291]). In diesem Roman wird Grethe Kempowski zum Prototyp der bürgerlichen Frau, die am Klavier die Kultur des Abendlandes bewahrt und möchte, dass auch ihr Sohn das Klavierspielen lernt. In Mark und Bein wird diese Erinnerung anderen Menschen zugedacht – zwangsläufig, da Jonathan ja keine Erinnerungen an seine Mutter haben kann. Die Aussage bleibt aber dieselbe.
6 Schlussbetrachtungen Für Walter Kempowskis Sprachverwendung sind Phraseologismen und phraseologismenähnliche Phänomene konstitutiv. Obwohl in anderen seiner Werke weitaus mehr Phraseologisches zu finden ist, konnte doch die Vielfalt ihrer Funktionen auch in Mark und Bein gezeigt werden. Dabei handelt es sich teilweise um allgemeinere Funktionen, die auch für andere Autoren und Werke gelten können, so z. B. Phraseologismen zur Figuren- und zur Zeitcharakteristik. Teilweise sind es aber auch spezifischere Funktionen: So können Phraseologismen für das untersuchte Werk aufschlussreiche Deutungsspielräume eröffnen, wie bei der Betrachtung der stilistischen Effekte und semantischen Aufladungen von Phraseologismen im Kontext demonstriert wurde. Insofern ist Preußer zuzustimmen, wenn sie konstatiert, dass die Untersuchung von Phraseologismen in literarischen Texten »differenziertere Interpretationsansätze über Detailanalysen eröffnen [kann]«.96 Literarische Texte sollten nicht ausschließlich als »Fundgrube« für Phraseologismen gebraucht, sondern als komponierte, ästhetische Objekte gesehen werden, deren sprachliche Gestaltung (inklusive der phraseologischen Einheiten) bewusst vorgenommen wurde und für die Textdeutung von Wichtigkeit ist.
96 Preußer: Aufbruch 2007, S. 37.
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»Wie ein Kugelblitz fuhr Helligkeit in sein Gehirn.« Die Ostpreußenfahrt des Jonathan Fabrizius als Traumaverarbeitung »Wer an den Erfahrungen der Kindheit nicht gewachsen ist, der läuft Gefahr, ein Leben lang auf der Stelle zu treten.«1 Dieser Satz der Psychotherapeutin Jo Eckart beschreibt treffend, was ich im Folgenden darstellen möchte. Kempowskis Mark und Bein erzählt eine zentrale Episode aus dem Leben des Journalisten Jonathan Fabrizius, dessen psychische Gesundheit durch ein erschütterndes Ereignis nachhaltig beeinflusst wurde: Seine Mutter ist auf der Flucht aus Ostpreußen bei seiner Geburt gestorben. Ihre Leiche wurde in einer Kirche abgelegt. Für ein Begräbnis blieb keine Zeit. Inwieweit dieses Ereignis seine Adoleszenz tatsächlich geprägt hat, erfahren wir allerdings nicht. Es gibt nur spärliche Hinweise auf die Umstände, in denen Jonathan aufwuchs. Seine Kindheit muss trotz allem behütet gewesen sein: Der Onkel kümmerte sich offenbar rührend um seinen Neffen. Er ließ ihn bspw. auf einer Bettstatt in seinem Arbeitszimmer liegen, als Jonathan krank war.2 Offenbar wollte er ihn nicht aus den Augen lassen. Auch in der Erzählgegenwart muss der wohlhabende Edwin noch für das Fortkommen seines Schützlings sorgen: Jonathans finanzielle Existenz ist durch regelmäßige Wechsel gesichert, die ihm der Inhaber einer gut gehenden Möbelfabrik sendet. Es ist also nicht ersichtlich, dass der Verlust der Mutter und auch der Tod des Vaters größere Spuren bei Jonathan hinterlassen haben. Im Gegenteil: Er versteht es, diesen »Leidensvorsprung« bei seinen Freunden und Bekannten geschickt auszuspielen. (MuB 21) Sieht man genau hin, erkennt man jedoch in dieser Ausnutzung seiner Kindheitsgeschichte einen Hinweis auf misslungene oder gar fehlende Trauerarbeit. Jonathan benutzt immer dieselben lakonischen, feststehenden, stereotyp wiederholten Wendungen: Seine Mutter sei bei seiner Geburt »draufgegangen« und seinen Vater habe es »erwischt«. (MuB 21 und passim) Dies deutet für mich eben doch darauf hin, dass Jonathans Vergangenheit
1 Jo Eckart: Trauma. Verstehen und Heilen. Salzburg: ecowin 2016, S. 135. 2 Vgl. Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992, S. 58. – Im Folgenden zitiert mit der Sigle MuB und der entsprechenden Seite. https://doi.org/10.1515/9783110784084-005
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nicht verarbeitet ist, er konnte nicht um seine Mutter trauern. Er hat diese Episode seines Lebens nur »unzulänglich kritisch durchdrungen«, wie es Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer wegweisenden Studie Die Unfähigkeit zu trauern formulieren.3 Ich werde im Folgenden versuchen, Jonathans Ostpreußen-Fahrt als Art der Traumaverarbeitung und als Anstoß seiner Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit zu lesen. Hierbei gilt es, ein bestimmtes Vorgehen zu verfolgen. Zunächst muss ich nachweisen, dass der Text Hinweise darauf gibt, dass Jonathan den Verlust der Mutter überhaupt als traumatische Erfahrung und als belastendes Ereignis empfindet. Gibt es bspw. Symptome, die nach Freud als Niederschlag eines solchen affektvollen Erlebnisses verstanden werden können?4 Danach muss gezeigt werden, dass die Reise nach Ostpreußen Züge einer (psychoanalytischen) Behandlung trägt, bei der der Behandelte auf die Vergangenheit zurückgeführt wird. Dieses Zurückführen wird dabei von Freud als der wesentliche Teil der psychoanalytischen Arbeit konzeptualisiert.5 In einem letzten Schritt werde ich dann versuchen, die Folgen der Ostpreußen-Fahrt für Jonathan darzustellen. Hat sie zu einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit geführt? Hat sie etwas an seinem Leben geändert? Meine These lautet wie folgt: Mark und Bein konzeptualisiert Jonathan als zwar durchaus resiliente Persönlichkeit, die eine schwere Belastung in der Kindheit (das Aufwachsen ohne Eltern) bewältigt zu haben scheint, und ihre Folgen für sein weiteres Leben abgemildert hat.6 Allerdings gibt es auch deutliche Hinweise, dass Jonathan keinen angemessenen Umgang mit seiner Vergangenheit pflegt7 und die Ostpreußen-Reise einen wichtigen Impuls hierzu darstellt.
3 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Mit einem Nachwort der Autoren zur unveränderten Neuausgabe. München: Piper 221991 (Serie Piper, 168), S. 8. 4 Vgl. Sigmund Freud: Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen gehalten zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass. September 1909. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Achter Band. Werke aus den Jahren 1909–1913, hg. von Anna Freud et al. Frankfurt/M.: Fischer 71978, S. 1–60, hier S. 9. – Diese Werkausgabe wird im Folgenden mit dem Kürzel GW, dem entsprechenden Band und der jeweiligen Seitenzahl angegeben. 5 Vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. GW 10, S. 125–136, hier S. 131. 6 Vgl. Insa Fooken/Jürgen Zinnecker: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Trauma und Resilienz. Chancen und Risiken lebensgeschichtlicher Bewältigung von belasteten Kindheiten. Weinheim/München: Juventa 2007 (Kinder des Weltkrieges), S. 7–14, hier S. 7. 7 Vgl. Karina Berger: Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950s to the Present. Oxford u. a.: Peter Lang 2014 (Studies in Modern German and Austrian Literature, 2), S. 118: »So far, Jonathan has taken little interest in the former eastern provinces, nor has he properly dealt with his past.«
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Trauma oder nicht? Suchen wir zunächst nach Indizien, die darauf hindeuten, dass Jonathan in seinem gegenwärtigen Zustand Belastungen aufweist, die auf ein Trauma hindeuten. Definieren wir aber erst noch den Begriff ›Trauma‹ – soweit das dem Literaturwissenschaftler in diesem Rahmen überhaupt geboten ist. Umgangssprachlich würde man ein belastendes Ereignis darunter verstehen. Es stellt einen Einschnitt in das Leben dar, wird vom Individuum als existenzielle Bedrohung empfunden, in der herkömmliche Bewältigungsmechanismen versagen.8 Hier, so scheint es, könnte ich meine Überlegungen abbrechen, denn es ließe sich einwenden, dass Jonathan die für ihn traumatische Situation (Flucht und Tod der Mutter) gar nicht bewusst erleben konnte. Als damals Neugeborenes wird er selbst keine Erinnerung mehr an das Ereignis haben. Was er davon erfahren hat, stammt wahrscheinlich aus Erzählungen seines Onkels, aber darüber gibt der Text leider kaum Informationen. Nun möchte ich mich damit aber nicht zufriedengeben und suche darum nach einer genaueren Definition des Begriffes ›Trauma‹, die ich im Lexikon Psychologie finde. Dort liest man: »In der Psychologie stellt der Begriff eine nachträgliche Bewertung einer belastenden Lebenserfahrung dar […], die den Betroffenen in der jeweiligen Situation völlig überfordert. Erst anhand der entstandenen psychischen Störung […] wird davon gesprochen, dass eine Lebenserfahrung für eine bestimmte Person ›traumatisch‹ war.«9 Auch hier heißt es zwar, dass der Betroffene eine völlige Überforderung erlebt, was für Jonathan nicht zutreffen kann. Bemerkenswert sind jedoch die Formulierung »nachträgliche Bewertung einer belastenden Lebenserfahrung« und der Aspekt, dass man offenbar erst dann von einer traumatischen Erfahrung spricht, wenn sich eine psychische Störung herausbildet. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass Jonathan durch die Erzählungen des Onkels eine indirekte oder sekundäre Traumatisierung10 erfahren hat. Er hat das Geschehen zwar nicht selbst bewusst erlebt, es betrifft ihn jedoch unmittelbar, da er mit dessen Folgen tagtäglich in seiner Adoleszenz konfrontiert wird. Dies muss allerdings Spekulation bleiben, da sich aus dem Wenigen, was der Text von Jonathans Kindheit erzählt, nur auf ein relativ sorgloses Aufwachsen schließen lässt. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als im Text nach Hinweisen auf eine Belastungsstörung Jonathans zu suchen, die auf sein Trauma
8 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 18. 9 Stefanie Rösch: Trauma. In: Lexikon Psychologie. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan und Gunna Wendt. Stuttgart: Reclam 2005, S. 326–328, hier S. 326. 10 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 27.
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hinweisen könnten, denn nach der eingangs zitierten Psychologin Jo Eckart kann auch eine schwere Geburt ein Trauma sein, von dem das Kind betroffen ist.11 Eine posttraumatische Belastungsstörung ist durch »sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das T.[rauma], oder Erinnerungslücken, durch Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, übersteigerte Wachsamkeit, Konzentrationsstörungen, durch Vermeidungsverhalten, emotionale Taubheit und im Kindesalter z. B. durch ständiges Nachspielen der traumatischen Situation« gekennzeichnet.12 Wenn wir diesem Merkmalskatalog folgen, lässt sich eine Vielzahl von Textbelegen finden, die einem der genannten Aspekte entsprechen. Zu beachten ist aber, dass es noch viele andere Symptome geben kann. Neben den sich aufdrängenden belastenden Erinnerungen ist es auch möglich, dass sich Betroffene gar nicht mehr bewusst an das Trauma erinnert und bestimmte Reaktionen, die auf eine traumatische Erfahrung hindeuten, erst durch sogenannte Trigger (bspw. ein Geräusch, ein Geruch oder ein Gegenstand) ausgelöst werden.13 Zu Beginn meiner Suche nach Textbefunden möchte ich den zu Beginn zitierten Satz von Jo Eckart aufgreifen, nach dem derjenige in seiner Entwicklung stehenbleibt, der die Erfahrungen seiner Kindheit nicht verarbeitet hat. Die Art und Weise, wie Jonathans Leben am Anfang der Erzählung beschrieben wird, lässt genau darauf schließen: Er habe zwar »allerhand studiert« (MuB 10), heißt es, was er aber nun mit der »Veredelung seiner Ganglien« (MuB 11) anfangen sollte, weiß er nicht. Er verdient seinen Unterhalt mit Gelegenheitsschreibereien für Magazine und Zeitschriften. Da dies zur Sicherung seines Lebensunterhalts jedoch bei Weitem nicht ausreicht, muss ihn sein Onkel finanziell unterstützen. Mit nunmehr 43 Jahren ist er finanziell und beruflich immer noch von Edwin abhängig. Überspitzt könnte man formulieren, dass sich in dieser Hinsicht seit seiner Geburt nichts verändert hat. In diesem Aspekt seines Lebens ist Jonathan in seiner Entwicklung stehen geblieben. Interessanter ist für mich hier jedoch, dass wir schon auf den ersten Seiten damit konfrontiert werden, dass Jonathan ein wichtiges Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweist, nämlich die übersteigerte Wachsamkeit: »Das beste an ihm waren seine Augen. Ohne durch Mikroschielen oder astigmatische Krümmungen behindert zu sein, weder kurz- noch weitsichtig, registrierte er alles, was ihm begegnete.« (MuB 10) Physiologisch ist er mit einem perfekten optischen Wahrnehmungsapparat ausgestattet, kann seine Beobachtungen aber offenbar
11 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 20. 12 Rösch: Trauma 2005, S. 326–327. 13 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 216.
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nicht kanalisieren oder auf einen konkreten Aspekt lenken. Er nimmt einfach alles wahr. Auch ein zweites Symptom findet sich: Jonathan wird unausgesetzt von Gedanken an den Tod der Mutter heimgesucht, die sich ihm – meist durch einen Reiz ausgelöst – aufdrängen, wie bspw. in der folgenden Szene, als er, angeregt durch das Reise-Angebot der Santubara-Werke, eine Landkarte Ostpreußens betrachtet: Jonathan suchte den Ort Rosenau, sein Finger fuhr die Straße entlang: Hier war es passiert: Hier hatte er das Licht der Welt erblickt, auf Kosten seiner Mutter. Hier, in der Kirche dieses Dorfes war sie niedergelegt worden, und dann auf dem Kirchhof verscharrt, vielleicht an der Mauer, unter einem Goldregenstrauch, die junge Frau. (MuB 25)14
Diese Reminiszenzen werden meist in eher lakonischem Ton und ohne erkennbare Regungen dargestellt. An dem Wort »verscharren« lässt sich an dieser Stelle jedoch ablesen, dass Jonathan sich des unwürdigen Begräbnisses seiner Mutter bewusst ist. In der Formulierung »auf Kosten seiner Mutter« ist so etwas wie Schuldgefühl erkennbar. Auch den Goldregen imaginiert Jonathan nicht zufällig: Als Pflanze ist er zwar schön anzusehen, aber sehr giftig und für Kinder bei Genuss der bohnenartigen (und damit Harmlosigkeit vortäuschenden) Früchte tödlich.15 Neben der Pflanze ruft der Begriff ›Goldregen‹ aber auch den DanaëMythos auf: König Akrisios ist prophezeit worden, dass er durch die Hand seines Enkels den Tod finden würde. Um das zu verhindern, sperrt er seine Tochter Danaë ein. Wir wissen, dass so etwas für den Göttervater Zeus/Jupiter, der natürlich hinter Danaë her ist, kein Hindernis darstellt. In Gestalt eines Goldregens dringt er durch das Dach des Gemachs seiner Angebeteten, macht ein schnelles Ende mit deren Jungfräulichkeit und zeugt mit ihr den Halbgott Perseus. Ob Kempowski hier bewusst die Motivik der verlorenen Unschuld, der Vereinigung von Himmel (Zeus/Goldregen) und Erde (Danaë) in seinen Text hineinschreibt, kann natürlich nicht letztgültig entschieden werden und die Textstelle bleibt
14 Auch Marek Jaroszewski merkt an, dass das Angebot des Autoherstellers in Jonathan eine psychische Entwicklung auslöst: »Vor der Ostpreußenfahrt sah er [Jonathan] sich vor allem als Opfer. Er kannte die Geschichte seiner Eltern von Onkel Edwin, der ihn erzog. Der Onkel bewahrte auch Briefe und Tagebücher von Jonathans Vater auf. Doch der Held las nie darin. Er verdrängte die Tragödie seiner Eltern und hatte zu ihnen gar keine Beziehung. Erst durch die Reisevorbereitungen und den Aufenthalt in Polnisch-Ostpreußen kommt Jonathan ihnen näher.« Marek Jaroszewski: Danzig und Ostpreußen in Walter Kempowskis »Mark und Bein«. In: Ders. (Hg.): 1000 Jahre Danzig in der deutschen Literatur. Danzig: Inst. Filologii Germańskiej 1998 (Studia Germanica Gedanensia, 5), S. 233–247, hier S. 234. 15 Vgl. [Art.] Goldregen. In: Fritz Schade/Harald Jockusch: Betörend, berauschend, tödlich. Giftpflanzen in unserer Umgebung. Wiesbaden: Springer 32018, S. 83–86, hier S. 83.
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auch verständlich, wenn man den Goldregen nur so sieht, wie ihn sich Jonathan imaginiert – nämlich als Pflanze. Wenn man solchen Anspielungen jedoch exegetisch nachgeht, kann sich mitunter ein noch größeres Bedeutungsspektrum eröffnen, das für Kempowskis Werk produktions- wie rezeptionsästhetisch von großer Relevanz ist, wie der Autor selbst betont: Niemand entschlüssele »kontinuierlich den murmelnden Kommentar des Unbewußten«. Aber: »Irgendwann einmal am hellichten Tag stutzt der Mensch. Die Tür, die ansonsten zugesperrt ist, öffnet sich knarrend, und das sonderbar belebte Schattenreich lädt zur Besichtigung ein. Das geht auch dem Autor so.«16 Und auch Jonathan Fabrizius wird es bei seiner Traumaverarbeitung in Ostpreußen so gehen, denn seine Reminiszenzen treten bereits gehäuft auf, als das Angebot der Santubara-Werke ins Haus flattert: Von Seite 20–29 in meiner Ausgabe (also im zweiten und dritten Kapitel) zähle ich sechs solcher Erinnerungsbilder: Jonathan »erinnert« sich, dass er bei »eisigem Wind und scharfem Eisregen« (MuB 20) geboren wurde, dass sein Onkel keinen Einlass fand, als er mit der Gebärenden um Unterkunft bat (MuB 21), er stellt sich vor, wie seine Mutter auf die Stufen der Kirche gelegt wird, der Saum ihres Kleides blutbefleckt (MuB 26), er sieht »Kinder, deren Mutter nicht als Leiche in einer Kirche abgelegt worden war« (MuB 27) und schließlich erblickt er in den Schiffen auf der Elbe etwas Mütterliches. Er stellt sich vor, »daß er in einer Kiste läge, in Heu gebettet, und würde von einem Kran in den Laderaum hinabgelassen. Dieser Gedanke war ihm angenehm.« (MuB 29) Diese Szene lässt sich unschwer als Wunsch, wieder in den mütterlichen Leib zu gelangen, interpretieren, kann aber auch als Zeugungsbild verstanden werden: Der Kran als männlicher Phallus legt das Kind in den als Uterus konzeptualisierten Schiffsladeraum: Zeugung von oben, Empfängnis unten – eine ähnliche Semantisierung des Raumes wie im DanaëMythos also. Aus diesen Beispielen lässt sich bereits ablesen, dass Jonathan keinesfalls unbelastet ist, obwohl er die traumatische Situation nur in einem frühkindlichen Stadium erlebt und somit nicht bewusst wahrgenommen hat. Dies ist aber kein Grund zu vermuten, dass Jonathans Geburt kein traumatisches Potential hat: In der Psychologie spricht man mittlerweile sogar von pränatalen Traumen.17 Das Forschungsfeld der Epigenetik stellt heraus, dass Traumen in Form von veränderten
16 Walter Kempowski: Das Ruderboot. Ein Beispiel für die Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß. In: Seiltanz auf festen Versesfüßen. Neun Autoren in der Marburger Universität, hg. vom Präsidenten der Philipps-Universität. Marburg: Hitzeroth 1987 (Marburger Literaturtage, 2), S. 43–56, hier S. 44. 17 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 153.
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Genstrukturen an Nachkommen weitergegeben werden können.18 Gene formen nicht nur die äußeren Erscheinungen des Lebens, sie sind offenbar auch von außen beeinflussbar.19 Es ist also zulässig und am Text begründbar, anzunehmen, dass Jonathan durch den Tod seiner Mutter und die Umstände, unter denen sie umgekommen ist, belastet ist, auch wenn er die Geschehnisse selbst nicht bewusst wahrgenommen hat. Seine Belastung rührt vor allem daher, dass er sich nicht adäquat damit auseinandergesetzt hat, keine Trauerarbeit leisten konnte. An einer der wenigen Szenen, die aus Jonathans Kindheit berichtet werden, wird dies besonders deutlich. Albert Schindeloe gab allerhand Froschquälereien zum besten, als Junge sei man eben so … Und Ulla Bakkre de Vaera wußte von Maikäfer-Köpfereien zu berichten, den Kopf mit dem Finger wegschnippen; und sie lachte dazu, was sie aber sofort einstellte, da ihr erstorbener Zahn sichtbar wurde. Jonathan hatte so etwas nie getan. Der hatte immer nur seinen Teddybären verprügelt, und dabei war ihm warm geworden in der Hose. (MuB 46)
Konfrontiert mit angeblich »normalem« jugendlichen Verhalten, taucht bei Jonathan eine Erinnerung auf, in der er seine Aggressionen an einem Plüschtier auslässt. Er übt seine Gewalt immerhin nicht – wie die anderen Kinder – an lebendigen Kreaturen aus, sondern an einem Plüschtier. Andererseits ist der Teddybär oftmals ein individualisiertes Objekt kindlicher Zuneigung. Jonathans Verhalten ist zwar keine Tierquälerei, es zeugt aber auch nicht von psychischer Gesundheit. Ferner scheint der Junge (das Lebensalter, aus dem diese Erinnerung stammt, erfahren wir leider nicht) so etwas wie sexuelle Befriedigung aus der Misshandlung seines Stofftieres zu gewinnen. Jonathans Handeln kann als entstellter Ausdruck eines verdrängten affektvollen Erlebnisses verstanden werden.
18 Vgl. Jens-Michael Wüstl: Traumakinder. Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt. Köln: Bastei Lübbe 2017, S. 18. 19 Die beiden amerikanischen Biologen Alan Herbert und Alexander Rich prägten den Begriff des Ribotypen, der die jeweilige Ansammlung von RNS-Molekülen in einer Zelle bezeichnet. Der Ribotyp ist eine »mittlere Instanz« zwischen Genotyp und Phänotyp. »Jeder Ribotyp kann einen Phänotyp festlegen, auf den die natürliche Selektion wirkt. Die Information fließt gewöhnlich von den Genen zu den Erscheinungen, wie es die Molekularbiologie ermittelt hat. Es kann aber auch den umgekehrten Weg geben, zum Beispiel dann, wenn äußere Ereignisse oder zelluläre Stoffe die Stabilität von RNS-Molekülen beeinflussen und somit den Ribotyp verändern. Es gibt Hinweise, dass erfolgreiche Ribotypen in DNS-Form gespeichert werden […]. Insgesamt kann in diesem Modell der Phänotyp über den Ribotyp den Genotyp erreichen und mit zur Evolution der höheren Lebensformen beitragen, die alle Zellen mit Zellkern besitzen.« Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München: Ullstein 2001, S. 256.
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Das Verdrängte besteht nach Sigmund Freud dabei unbewusst weiter und schafft sich Bahn, indem es eine Ersatzbildung in das Bewusste schickt.20 Ich bin leider nicht befähigt, eine erschöpfende Analyse dieses Verhaltens vorzunehmen, wie es Freud bspw. in brillanter Weise mit einer Kindheitserinnerung Leonardo Da Vincis tut.21 Es soll mir genügen, festzuhalten, dass auch dieses kindliche Verhalten ein Anzeichen für die traumatische Belastung Jonathans ist. Auch wenn es den Anschein hat, Jonathan führe ein normales, relativ sorgloses und unbelastetes Leben, macht der Text doch deutlich, dass ihn seine Vergangenheit bedrückt. Auch in seiner Beziehung zu Ulla, zu der er offenbar ein gestörtes Verhältnis hat, wird dies klar: Er ist für sie nur ein Lustobjekt, das man herbeirufen kann, wenn man des nachts von der Libido übermannt wird. Nach abgeschlossenem Geschlechtsakt schickt man es dann wieder weg. Jonathan beweist zwar einerseits Empathie für Ulla: Er bringt ihr Geschenke mit, die zu ihren Interessen passen. Andererseits findet der Erzähler befremdliche Worte für Jonathans Umgang mit seiner um einiges jüngeren Lebensgefährtin: »Die Peinlichkeit der kleinen Zeremonie [Ullas Geburtstag] überspielte Jonathan durch angelernte Ungeschicklichkeiten sowie dadurch, daß er die Freundin mit der Rechten zwar irgendwie liebkoste – Toten drückt man so die Augen zu [!]–, mit der Linken jedoch den Frühstückstisch deckte und die Eier aufstellte.« (MuB 19) Jonathan selbst empfindet den Geschlechtsakt mit Ulla eher als lästige Pflicht, zu der man sich herablässt und dann doch ein wenig Lustgewinn daraus ziehen kann: »Er haßte es, daß er sich ihr dreimal pro Woche hingeben mußte.« (MuB 49) All die hier aufgeführten Textbelege weisen also darauf hin, dass Jonathan in seiner Lebensführung durch etwas beeinträchtigt wird. Schauen wir uns seine unausgesetzten Reminiszenzen an, ist der Schluss, dass es sich dabei um die Umstände des Todes seiner Mutter handeln muss, meiner Meinung nach nicht von der Hand zu weisen, Erinnerungen oder Vorstellungen vom Tod des Vaters fehlen dagegen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fast völlig. Auch dies könnte auf eine traumatische Belastung hinweisen.
20 Freud: Über Psychoanalyse 1978, S. 25. 21 Vgl. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung Leonardo Da Vincis. GW 8, S. 127–211.
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Die Ostpreußen-Fahrt als Therapie? Wie bereits erwähnt, ist nach Freud die Rückführung auf die Vergangenheit ein wesentlicher Teil der Therapie. Jonathans Ostpreußen-Fahrt ist deshalb geradezu prädestiniert für einen therapeutischen Ansatz, da sie ihn nicht nur in der Erinnerung, sondern auch geographisch-real in seine Vergangenheit führt. Schon das Angebot der Santubara-Werke führt dazu, dass sich Jonathan erstmals mit seiner Vergangenheit und dem Begriff ›Heimat‹ auseinandersetzt. Er bestreitet zwar noch, dass Ostpreußen seine Heimat ist und sieht eher Bad Zwischenahn in dieser Rolle. Dennoch setzt er sich in der Folge wahrscheinlich erstmals mit Themen wie Flucht oder Heimat auseinander, was dann zu einer weiteren wichtigen Erfahrung führt: Er beginnt, eine Wahrnehmung dafür zu entwickeln, dass offenbar viele Menschen vom Fluchtschicksal betroffen sind: »Seit Jonathan darauf achtete, schien es ihm, als sei ganz Hamburg von Vertriebenen und Flüchtlingen bevölkert.« (MuB 52) Es lässt sich zweierlei beobachten: Einerseits ist Jonathan hier in der Lage, seine Wahrnehmung zu kanalisieren. Das Symptom der sich auf alles richtenden übersteigerten Wachsamkeit verändert sich: Er registriert offenbar nicht mehr einfach alles, was ihm begegnet (wie es noch zu Beginn der Erzählung heißt), sondern richtet seine Wahrnehmung auf einen ganz bestimmten Aspekt. Andererseits büßt er nun seinen »Leidensvorsprung« ein. Er erfährt, dass sein Schicksal nicht einzigartig ist, sondern dass Zehntausende es teilen. Jonathan beginnt gezielt, Leute nach ihrer Fluchtgeschichte zu befragen und begegnet dabei auch Einzelpersonen, deren Erfahrungen ähnlich leidvoll sind, wie die seinen. Die »Horrorgeschichten« des Zeitungshändlers scheinen Jonathan derart zu erschüttern, dass sie eine weitere Reminiszenz an den Tod seiner Mutter hervorrufen: … und während er [der Zeitungshändler] seine Erlebnisse nicht ohne Sinn für Dramatik darbot, stieg in Jonathan ein Bild auf von seinem Onkel Edwin, die tote Mutter auf den Armen, wie er in die Kirche tritt, und irgendwie bricht Sonne ein durch ein Buntglasfenster, schräg von oben. (MuB 55)
Die Sonne hat an dieser Stelle natürlich symbolischen Charakter. Das einbrechende Sonnenlicht kann dergestalt verstanden werden, dass hier auch erstmals für Jonathan Licht auf seine Vergangenheit fällt. Angeregt durch die Planungen der Ostpreußenfahrt erfährt Jonathan dann erstmals auch ein gewisses Ordnungsgefühl: Nachdem er das Angebot des Auto-Herstellers angenommen hat, nimmt er Ulla kaum noch wahr, und auch in ihren Augen wird er immer kleiner und kleiner. Daran schließt sich die folgende Bemerkung des Erzählers an: »Er starrte vor sich hin, und er hatte den Eindruck, nicht er war es, der nachdachte, sondern es dachte nach in ihm: Wie in einer Tabletten-Abfüllmaschine wurde in seinem Gehirn Ordnung geschaffen.« (MuB 61) Wo Ordnung geschaf-
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fen werden muss, herrscht Unordnung. Dieses neue Gefühl äußert sich dann auch in seinem Zugang zum Tod seiner Mutter: In seiner Unterhaltung mit der Generalin benutzt er erstmals nicht nur das standardisierte »draufgegangen«, sondern variiert seine Ausdrucksweise und versucht somit, den Tod seiner Mutter wohl erstmals sprachlich zu bewältigen: »Seine Mutter sei auf der Flucht ›abhanden gekommen‹, so könne man wohl sagen, also ›draufgegangen‹ oder besser gesagt: an seiner Geburt verblutet.« (MuB 67) Bemerkenswert ist die mit jedem neuen Ausdruck zunehmende Präzision: »abhanden gekommen« schließt allgemein auch ein, dass die Familie die Mutter im Chaos des Trecks einfach aus den Augen verloren haben könnte, »draufgegangen« ist präziser und weist auf den Tod hin und »bei seiner Geburt verblutet« benennt schließlich die konkrete Todesursache. Die Ostpreußen-Fahrt regt also schon vor ihrem Beginn mentale Prozesse an: Jonathan setzt sich erstmals kritisch mit seiner Vergangenheit auseinander. Die Fahrt selber wird ihre Wirkung auf Fabrizius auch nicht verfehlen, was die Generalin bereits zu ahnen scheint: »Fahren Sie ruhig nach Ostpreußen, Herr Fabrizius, […] das wird eine Reise, die Sie nie vergessen werden.« (MuB 72) Wie wir gesehen haben, resultieren Jonathans Belastungen daher, dass er sich nicht adäquat mit seiner Vergangenheit und dem Trauma seiner Geburt auseinandergesetzt hat. Warum aber war ihm das bisher nicht möglich? Die Psychologen Klaus und Karin Grossmann liefern eine Antwort: »Die Fähigkeit zu adaptiven konstruktiven Auseinandersetzungen ist ohne Zweifel eine Folge von Bindungssicherheit.«22 Jonathan führt in seinem Leben offenbar keine Beziehung, die man als gelungene Bindung bezeichnen könnte: Das Verhältnis zu Ulla ist, wie gesehen, belastet, um die Gunst Albert Schindeloes konkurriert er mit seiner Freundin und auch der Onkel bietet, über seine finanzielle Unterstützung hinaus, keine (emotionale) Sicherheit. Jonathan befragt Edwin vor seiner Reise nicht, da von ihm nur »Uraltstorys« zu erwarten seien. (MuB 59) Auf der Ostpreußen-Fahrt jedoch geht er wenigstens eine gelungene Bindung zu einer Person ein, zu der er dann auch offenbar großes Vertrauen aufbaut, wie ich noch zeigen werde. Bei der Verarbeitung seines Traumas durch das Zurückführen auf seine Vergangenheit bekommt Jonathan zwei Helferfiguren an die Seite gestellt: Anita Winkelvoss und Hansi Strohtmeyer, den Jonathan zunächst nur für einen »Fahrer«, also einen Erfüllungsgehilfen ohne weitergehende Kompetenzen, hält, was allgemeine Verwunderung auslöst. Alle anderen scheinen schon zu wissen, dass
22 Klaus E. Grossmann/Karin Grossmann: Der Beitrag der Bindungstheorie zur Bewältigungsforschung. In: Fooken/Zinnecker: Trauma und Resilienz 2007, S. 131–146, hier S. 133.
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Strohtmeyer nicht bloß ein gewöhnlicher Fahrzeugführer ist, und auch Jonathan wird dies noch erfahren. Ich möchte im Folgenden drei Schlüsselszenen betrachten, die darauf hindeuten, dass Jonathan in Ostpreußen einen neuen Zugang zu seiner und auch der gesamtdeutschen Vergangenheit gewinnt und damit der Grundstein für eine adäquate, kritische und konstruktive Auseinandersetzung gelegt wird. Die erste dieser Szenen beginnt wie folgt: Jonathan erfaßte das alles mit einem Blick, es brannte sich ihm in das Netzhautgedächtnis ein. Er setzte sich in einen der Blumensessel, zupfte an seiner Fliege und dachte: Hier bleib ich jetzt erstmal ’ne Weile sitzen. Als wäre er angekommen, so kam es ihm vor. Das Bettzeug auf dem Sofa: Als er Mumps gehabt hatte, da hatte er im Arbeitszimmer seines Onkels liegen dürfen. (MuB 124)
Der Kontext dieser Szene ist Folgender: Jonathan wurde von einer älteren Polin gebeten, nach seiner Rückkehr in die BRD Medizin für ihre kranke Tochter zu beschaffen und hat sich daraufhin selbst bei dieser Frau zum Kaffee eingeladen, wo er auch auf ihre offenbar unter Wahnvorstellungen leidende Tochter trifft. Nicht nur die Frau erinnert ihn an seine Mutter (ihm fällt sofort ein, dass beide etwa gleich alt sind), auch die Szenerie in der Wohnung löst bei ihm eine (diesmal eher schöne) Kindheitserinnerung aus. Es ist also kein Wunder, dass er sich angekommen fühlt und sich einige Seiten später sogar wünscht, den Abend »im Familienkreis« (MuB 141) verbringen zu können. Jonathan wird hier mit etwas konfrontiert, was er selbst nicht kennt: Eine liebende und sorgende Mutter kümmert sich rührend um ihre kranke Tochter und den jüngeren Sohn. So gut Jonathans Onkel auch seinen an Mumps erkrankten Neffen betreute, die Pflege einer liebenden Mutter konnte er nicht ersetzen. Dies scheint Jonathan hier deutlich zu werden, was durch sein Gefühl des Angekommen-Seins und durch seine Sehnsucht nach dem »Familienkreis« am Abend verdeutlicht wird. Ferner wird Jonathan hier seinerseits mit einer psychischen Krankheit konfrontiert, die man als Folge einer Traumatisierung betrachten kann. Wie sich herausstellt, ist der Vater des polnischen Mädchens offenbar bei einem Unfall ums Leben gekommen: Er geriet unter einen mit Baumstämmen beladenen Laster (MuB 130). Fabrizius kommt hier also mit einem Ereignis in Berührung, das auch ihm widerfahren ist: der Verlust des Vaters. Die Wahnvorstellungen der Tochter (ein Fahrrad draußen vor dem Fenster muss etwas bedeuten, jemand horcht an der Tür, ein Mann rempelt den Bruder an: hat der vielleicht eine Schirmmütze getragen?) können als Ausdruck dieses Traumas gewertet werden. (Derjenige der an der Tür horcht, ist vielleicht eine Ersatzbildung für den Vater, der sehen will, wie es seiner Familie geht.) Die Frage »Wer hat die Schuld?«, die das Mädchen dann an Jonathan richtet, ist symptomatisch für den Zustand beider. Einerseits kann diese Frage natürlich als Ansatz
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einer Theodizee-Problematik gesehen werden, andererseits hat sie für Jonathan auch eine ganz individuelle Bedeutung.23 Aus der Wortwahl bei den Erinnerungen an seine Mutter (auf ihre Kosten das Licht der Welt erblickt, die Mutter an seiner Geburt verblutet [nicht »bei« seiner Geburt]) lässt darauf schließen, dass Jonathan durchaus so etwas wie Schuld empfindet. Die Frage des Mädchens ist ein erster Impuls, sich auch damit kritisch und konstruktiv auseinanderzusetzen. Gleichzeitig führt ihn diese Begegnung aber auch auf seinen Vater: Zur Erinnerung: Hinsichtlich der Mutter werden sich aufdrängende Erinnerungsbilder geschildert. Ausgelöst durch verschiedenste Impulse stellt Jonathan sich immer wieder vor, wie seine Mutter in die Kirche von Rosenau gebracht wird. Reminiszenzen an den Vater gibt es bis hierhin keine. Auch dies könnte auf ein Trauma hindeuten: Der Vaterverlust ist von Jonathan bis dato verdrängt worden. Die beiden nächsten Szenen, die ich betrachten möchte, führen Jonathan dann Schritt für Schritt auf seinen Vater. Dabei spielen die beiden erwähnten Helferfiguren eine gewichtige Rolle. Schon auf der Fahrt mit Hansi Strohtmeyer und Anita Winkelvoss kommt ihm der Tod seiner Mutter auf einmal weniger erwähnenswert vor: »Wie viele Mütter hier wohl draufgegangen waren, damals.« (MuB 151) Etwas später wird er dann allerdings auf schmerzhafte Art damit konfrontiert. Ohne es bewusst zu beabsichtigen, bringt Jonathan Strohtmeyer dazu, genau in Rosenau zu halten. Diese Szene erinnert sehr an das von Sigmund Freud geschilderte Arzt/Patienten-Verhältnis während einer psychoanalytischen Behandlung. Freud schreibt: Wir lassen also den Kranken reden, was er will, und halten an der Voraussetzung fest, daß ihm nichts anderes einfallen kann, als was in indirekter Weise von dem gesuchten Komplex abhängt. […] Dieses Material von Einfällen, welche der Kranke geringschätzig von sich weist, wenn er unter dem Einflusse des Widerstandes anstatt unter dem des Arztes steht, stellt für den Psychoanalytiker gleichsam das Erz dar, dem er mit Hilfe von einfachen Deutungskünsten seinen Gehalt an wertvollem Metall entzieht.24
Strohtmeyer sitzt am Steuer und lenkt Jonathan also genau dahin, wo es ihn unbewusst hinzieht. Der »Fahrer« versteht es dann auch, Jonathans Einfall,
23 Und natürlich ist hier auch die »Deutsche Schuld« an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gemeint. »Einige Stationen der Reise gewinnen für Jonathan dadurch besondere Bedeutung, dass die dort erlebbare Geschichte und die Konfrontation mit damit verbundener Grausamkeit seine Auseinandersetzung mit der Schuld voranbringt und bestimmt.« Julian Tietz hebt besonders die Marienburg, die Wolfsschanze und das KZ Stutthof hervor. Julian Tietz: Der persönliche Leidensvorsprung. Grausamkeit und Schuld in Walter Kempowskis Mark und Bein. In: Die Spatien 5 (2015), S. 65–74, hier S. 71. 24 Freud: Über Psychoanalyse 1978, S. 30–31.
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genau am Todesort seiner Mutter zu halten, das »wertvolle Metall« zu entziehen, wie wir gleich noch sehen werden. In Rosenau durchlebt Jonathan die traumatische Situation auf der Flucht seiner Familie nun erneut und zum ersten Mal auch bewusst. Dabei wird diese Begebenheit vom Text als Erkenntnismoment konzeptualisiert: Nach seinem Sturz über einen Abhang im Kirchhof »fuhr Helligkeit in sein Gehirn [wie ein Kugelblitz]«.25 (MuB 200) In den folgenden Momenten weist Jonathan klassische Symptome auf, wie sie auch bei Menschen in traumatischen Situationen zu finden sind: Schockstarre (»Jonathan war einen Augenblick benommen […]. Ganz allmählich löste sich die Starre.« [MuB 202]) und Dissoziation (in der traumatischen Situation werden keine Gefühle mehr empfunden26 – »Eine Art Lebensbenommenheit hatte sich seiner bemächtigt. Er vermißte in sich ein starkes Gefühl, das es ihm ermöglicht hätte, das, was sich hier ereignet hatte, auch mimisch auszudrücken. Er fühlte sich unbeteiligt und war doch ganz bei der Sache, er war ›außer‹ sich und doch im Bilde.« [MuB 202])27 Trotz der Unfähigkeit, etwas zu
25 Zu Jonathans Sturz in Rosenau vgl. auch den Beitrag von Torsten Voß in diesem Band, der Jonathans Erlebnis »als nicht benennbare Begegnung mit dem mystischen Nu begreift.« Vgl. dazu auch eine Arbeit von Kai Behrens, in der solch ein Erkenntnisereignis rhetorisch eher als Dekonstruktion gefasst werden würde: »Das mystische Nu, von dem Benjamin (Gesammelte Schriften, Band I, 1, Frankfurt am Main 1991, S. 342) spricht, gerät bei Paul de Man zum ›negativen Augenblicksprozeß, der schnell, plötzlich, in einem Nu geschieht‹.« Kai Behrens: Ästhetische Obliviologie. Zur Theoriegeschichte des Vergessens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 476), S. 243. Behrens bezieht sich hier augenscheinlich auf Karl Heinz Bohrer, der in zahlreichen Publikationen seit den 1980er Jahren zum »Augenblick des ästhetischen Scheins« gearbeitet hat; Bohrer radikalisiert den »negativen Augenblicksprozeß«, die sogenannte »Plötzlichkeit«, als Momentum des je schon Gewesen-Seins und als Bewusstwerdung einer Paradoxie – des ›Zugleich‹ von ›flüchtiger‹ Devianz und ›nachhaltiger‹ Präsenz. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981 (edition suhrkamp, 1958). Ders.: Ästhetische Negativität. München/Wien: Hanser 2002. 26 Vgl. Eckart: Trauma 2016, S. 66. 27 Das Motiv des »Außer sich Seins« in einer belastenden Situation wendet Kempowski auch bereits bei der Schilderung seiner Verhaftung in seinem Erstling Im Block an. Vgl. dazu: Stephan Lesker: »Ich war drei Schritt hinter mir«. Der Blick des Anderen und seine Bedeutung für die Selbstkonfigurierung in Walter Kempowskis Im Block. In: Effekte der Mehrdeutigkeit. Kempowski-Lektüren zwischen Autobiographie, Historiographie und Roman, hg. von Stephan Lesker und Torsten Voß in Zusammenarbeit mit dem Kempowski-Archiv-Rostock. Rostock: Redieck & Schade 2020 (Spatien, 7), S. 88–113, hier S. 90–91. Und (mit Bezug zu Mark und Bein): Ders.: Der Kopfmensch und sein Körper. Weltenwanderer bei Ernst Augustin und Walter Kempowski – mit einem Seitenblick auf Flammarion. In: Lutz Hagestedt (Hg.): »Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben«. Ernst Augustin zum Gedächtnis. München: C. H. Beck 2022, S. 78–98, hier S. 91.
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empfinden, weiß Jonathan jedoch: »[J]etzt hat sich etwas geändert.« Aber was? Der Zugang zum Tod seiner Mutter kann es nicht sein, denn nach wie vor ist er nicht in der Lage, das Trauma anders als mit dem Wort »draufgegangen« auszudrücken. Frau Winkelvoss kann ihm dabei dann auch nicht helfen, aber sie holt ihn wenigstens aus der Situation wieder ins Leben zurück, indem sie ihn, gleich einer Therapeutin, die ihren Patienten aus einer Hypnose erwachen lässt, anruft: »Als Frau Winkelvoss von der Straße rief: Hallo! ob er da träumt oder wie? riß er sich los und ging hinüber zu den anderen.« (MuB 201) Darüber hinaus kann sie allerdings nichts für ihn tun, was schon einige Seiten vorher symbolhaft beschrieben wird: Im Auto verwehrt ihre Kopfstütze Jonathan den Blick nach vorn! (MuB 148) Sie versteht nicht, was mit Jonathan passiert ist, sondern ergeht sich nur in inhaltsleeren Phrasen: Die Sache auf dem Friedhof sei ihm wohl ziemlich nahegegangen? fragte Frau Winkelvoss. Sie habe ihn da so stehen sehen, habe gedacht, Was steht er da, was steht er da? und da habe sie gewußt: Jetzt muß ich ihn ansprechen, sonst passiert noch was. Am liebsten hätte sie ihn fotografiert – das wäre doch eine schöne Erinnerung gewesen. (MuB 204)
Dass Jonathan sich in diesem Moment gerade an etwas erinnert, das alles andere als schön ist und ihm daher eine Fotografie dieses Momentes auch nicht angenehm sein kann, scheint sie nicht zu begreifen. Sie wiederholt die gleichen Sätze etwas später noch einmal. Wer Jonathan allerdings helfen kann, ist Hansi Strohtmeyer, der »Fahrer«. Er spürt, dass es nicht die Mutter ist, die Jonathan sucht. Er hat es verstanden, aus seiner Beobachtung des Journalisten das wertvolle Metall zu ziehen. Mit nur einer Frage, trocken und direkt wie immer, löst er einen Gefühlsausbruch bei Jonathan aus. Den ersten (und einzigen) in der gesamten Erzählung. Die Frage lautet schlicht »Und dein Vater?« und erst sie ließ Jonathan aufschluchzen. Er faßte sich an den Kopf und konnte sich gerade noch ins Auto retten, einen jungen Leutnant in Reithosen sah er vor sich, einen »Deutsche-Wehrmacht-Leutnant«, mit silbernem Verwundetenabzeichen. Er sah ihn am Strand der Nehrung stehen, mit dem Feldstecher die See absuchen – »Wann kommen sie uns holen?« – und hinter ihm klapperten die Flüchtlingstrecks von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Jonathan schlug mit der Faust auf die Lehne und es hämmerte in seinem Gehirn: Alles umsonst! ALLES UMSONST! Und er meinte damit nicht den Tod seiner Mutter und nicht den des Vaters, der »ins Gras hatte beißen müssen«, nicht die Schlafcouchen, die sein Onkel fabrizierte, sondern die Qual der Kreatur, das an den Pfahl gehenkte Fleisch, das Kalb, das er gesehen hatte, gefesselt und geknebelt, den Verschlag in der Marienburg zur Marter vorbereitet, den schlurfenden Zug der Menschen unter einem verdammenden Himmel. Es ist alles umsonst! dachte er immer und immer wieder. Und: Wer hat die Schuld? (MuB 202–203.)
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Diesen Passus habe ich in seiner ganzen Länge zitiert, weil derart viele Aspekte enthalten sind, dass ich auf die meisten leider nur andeutungsweise eingehen kann. Zum einen scheint Jonathan erstmals Trauer über sein Schicksal zu empfinden. Er äußert bisher nicht zum Ausdruck gekommene Gefühle bezüglich des Todes seines Vaters und stellt ihn sich erstmals auch bildlich vor. Später folgen noch zwei weitere Reminiszenzen. Es wird also klar, dass nicht die Mutter es ist, die er sucht, es ist der Vater, und Strohtmeyer weiß das ganz genau. Die Helligkeit, die in Jonathans Gehirn schoss, betrifft aber auch das unermessliche Leid der Flüchtlingstrecks, das ihn hier zu belasten scheint und Teil seiner Trauer wird. Die wiederholte Wendung »Alles umsonst« bezieht sich auf die Lebensqual und das Bemühen, mit den erlittenen Leiden fertig zu werden. Sie zu vergessen ist unmöglich. Man muss sich mit ihnen kritisch (also auch in Verbindung mit der Schuldfrage) auseinandersetzen. Der erste Schritt zur Beschäftigung mit der eigenen und der gesamtdeutschen Vergangenheit ist für Jonathan getan: Er trauert in dieser Szene erstmals auch sichtbar um das Verlorene und dies ist der Auslöser für eine weitere Auseinandersetzung. Hansi Strohtmeyer, der den ersten Impuls gegeben hat, wird Jonathan auch bei einem zweiten Schritt begleiten. Im Text wird Strohtmeyer als herausragende Persönlichkeit konzeptualisiert: Er ist es, der Schwierigkeiten mit Polizisten regelt, er versteht es, mit polnischen Kellnerinnen so umzugehen, dass sie einen auch bedienen, er organisiert ein neues Auto, als der fahrbare Untersatz der drei Reisenden gestohlen wird, und er scheut sich in seiner direkten, forschen, manchmal ungehobelten und – ja – auch verletzenden Art nicht, Menschen auf etwas Schmerzhaftes hinzuweisen: »Dann hast Du also jahrelang die Pille gespart?«, fragt er Anita Winkelvoss, als sie von ihrer Unfruchtbarkeit erzählt. (MuB 171) Bezüglich des »Fahrers« revidiert Jonathan seine anfängliche Einschätzung dann auch sehr bald: »Hansi Strohtmeyer, der gar nicht so ohne war. Mehr sein als scheinen – wie hatte er den bloß für einen Fahrer halten können?« (MuB 143) Im Verlauf der Ostpreußen-Reise nimmt dieser Stohtmeyer eine stetig wachsende Rolle ein – auch für Jonathan. Zu Beginn hält er sich noch eher im Hintergrund und steht »fast schüchtern« neben der offen und forsch auftretenden Anita Winkelvoss. (MuB 89) Er beweist aber bald, dass er die Dinge immer unter Kontrolle behält und wird für Jonathan zu einer wichtigen Bezugsperson. Als Anita Winkelvoss von zwei angetrunkenen Polen beinahe vergewaltigt wird, denkt Jonathan sofort an Flucht, während Strohtmeyer die Situation entschärft, aber nicht verhindern kann, dass die Polen das Auto stehlen. Bei der nächsten Konfliktsituation versucht Fabrizius, das Verhalten des berühmten Rennfahrers nachzuahmen: »Und er versuchte es so zu machen wie Hansi Strohtmeyer es mit den Männern im Wald versucht hatte, die Differenzen zu versachlichen, aber das verfing nicht.« (MuB 187) Der rohe Rennfahrer nimmt also so
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etwas wie eine Vorbildfunktion für Jonathan ein und trägt vielleicht sogar väterliche Züge. Er ist es dann auch, der Jonathan dazu nötigt, den Ort aufzusuchen, an dem sein Vater gestorben ist. Eine geplante Besichtigung des KZ Stutthof scheitert, da die Gedenkstätte für eine ungarische Abordnung reserviert ist. Schon auf dem Weg dahin ahnen beide, dass ihnen etwas Wichtiges bevorsteht: »Sie waren ziemlich wortkarg. Was nun käme, würde kein Zuckerschlecken sein.« (MuB 221) Als beide also feststellen, dass die Gedenkstätte geschlossen hat, schlägt Strohtmeyer vor: »Weißt du was? […] wenn wir hier schon nicht reinkommen, dann fahren wir wenigstens zu deinem Vater.« (MuB 225) Er stößt dabei auf Ablehnung, lässt sich davon aber nicht beirren und führt, gleich einem Therapeuten, den Kranken gegen alle Widerstände zielsicher auf seine Vergangenheit zurück: »Jonathan wollte da nicht hin, aber er wurde nicht gefragt. Hansi Strohtmeyer ließ sich nicht abbringen von seiner Idee, die ihm schon in der Nacht gekommen war.« (MuB 225) Auch als sie auf der Frischen Nehrung angekommen sind, und Jonathan mehrmals die Suche abbrechen will, gibt Strohtmeyer nicht nach. Er »ließ Jonathan vor sich herlaufen, wie einen Wünschelrutengänger, er beobachtete ihn aufmerksam, daß er nicht etwa ausbricht und womöglich sagt: ›Weißt du, das hat hier keinen Zweck…‹ […] Er verfolgte Jonathan, um ihn zu zwingen, nicht abzulassen vom Suchen.« (MuB 227 f.) Und einzig wegen Strohtmeyers Hart näckigkeit fühlt sich der Vater auf der anderen Seite, im Totenreich, angesprochen. Er bekommt es mit, dass sein Sohn nach ihm sucht.28 Selbst wenn Jonathan nun einen Fund vortäuschen würde, würde Strohtmeyer nicht nachlassen: »das hätte [er] nicht akzeptiert. Der wurde aufmerksamer mit jeder Minute, der wollte es jetzt wissen, ganz genau.« (MuB 229) Er begleitet Jonathan gegen alle Widerstände zu der Stelle, an der sein Vater gestorben ist. Dort angekommen vollzieht Fabrizius ein Trauerritual: Er füllt das Medizinfläschchen des kranken polnischen Mädchens mit Sand, in dem vielleicht noch mikroskopische Teilchen seines Vaters auffindbar wären. (MuB 230) Die Szene hat versöhnlichen Charakter: Der Vater kann zurücksinken, nachdem er seinen Kameraden berichtet hat, dass sein Sohn nach ihm gesucht habe. Der letzte Satz des Kapitels »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« (MuB 231) stammt aus dem Propheten Jesaja:
28 In Kempowskis Tagebuch Alkor findet sich eine ähnliche Szene. Eine Frau bietet Kempowski die Erinnerungen ihres Großvaters für sein Archiv an, hat aber Bedenken, ob dies wegen des Datenschutzes überhaupt zulässig sei. Kempowski notiert dazu: »Menschen, die sich selbst nicht über den Weg trauen. Und dabei hat sich der Urgroßvater drüben bereits aufgerichtet in seinem Schlammbett und hat gesagt: Hört ihr?! Man verlangt nach mir.« – Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989. München: Knaus 22001, S. 497 (6.11.1989).
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Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. (Jes 43, 1–4)
Dies klingt nach Aussöhnung. Die bei Kempowski nicht mitzitierte (aber mitzudenkende) Wendung »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst«, deutet darauf hin, dass Jonathan von seiner Vergangenheit befreit ist. Sein Vater kann nun in Frieden ruhen. So einfach ist es allerdings nicht, denn Jonathan fällt sofort wieder in das alte Muster zurück, den Tod seiner Eltern mit vorgefertigten Phrasen zu beschreiben: »Und Jonathan dachte: ›Meine Mutter ist auf der Flucht draufgegangen, und meinen Vater hat es auf der Frischen Nehrung erwischt.‹« Hat die Reise also keinen Einfluss auf seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehabt? Es scheint fast so, denn nach der Verabschiedung von Hansi Strohtmeyer leugnet er, dass dieser Mann überhaupt eine Wirkung auf ihn gehabt habe: »Es ist eine Episode gewesen, dachte er. Solche Menschen gibt es wie Sand am Meer … Und ›es hat keinen Zweck‹ sagte er leise.« (MuB 233) Der Text gibt hier jedoch ein anderes Urteil ab. Die Szene auf der Frischen Nehrung und auch die Tatsache, dass Jonathan in bestimmten Situationen das Verhalten des Rennprofis nachahmt, widersprechen seiner Einschätzung. Auch die Phrase »wie Sand am Meer« hat hier nicht ihre übliche Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, was Jonathan im Medizinfläschchen mit sich führt: nichts weiter nämlich als Sand vom Meer, der für ihn aber eine immense Bedeutung hat. Strohtmeyer hat einen großen Einfluss auf Jonathans Verhalten. Dessen Leugnung deutet jedoch auf Widerstände gegen die auf der Reise gewonnenen Erkenntnisse hin, die noch nicht ganz aufgelöst wurden.29 Bei seiner Rückkehr sieht sich Jonathan neuen Lebensumständen ausgesetzt: Ulla hat ihn verlassen und dabei offenbar ein Botero-Bild von der Wand genommen, den Nagel herausgerissen und das Loch »ausgemehlt«. »Was das nun wieder zu bedeuten hatte?« Was Jonathan sich wahrscheinlich nicht zugestehen will, ist, dass der Tod seiner Eltern sein jetziges Leben in irgendeiner Form beeinflusst. Dabei stellen sich
29 Insofern kann Jaroszewski nicht ganz zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass Jonathans Verhältnis zu seinen Eltern nach der Ostpreußenfahrt »endgültig geklärt« wäre und dadurch in seinem Leben »ein Kapitel abgeschlossen« werde. Vgl. Jaroszewski: Danzig und Ostpreußen 1998, S. 235.
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jedoch immer wieder Reminiszenzen ein, die ihn auf den Tod seiner Mutter und später auch auf das Sterben seines Vaters zurückführen. Die Reise nach Ostpreußen ist also insofern als Traumaverarbeitung zu betrachten, als Jonathan sich seiner Vergangenheit stellt und sie durcharbeitet. Die Art und Weise, wie sich Jonathan seiner Vergangenheit nähert, trägt dabei Züge einer Traumatherapie, bei der Hansi Strohtmeyer die Rolle des Behandelnden einnimmt, der den Kranken auf den Grund seiner Psyche führt. Dabei erfüllt Jonathans »Behandlung« die von Freud umschriebenen zwei Grundbedingungen, ohne die eine Analyse nicht erfolgen darf:30 1. Der Kranke muss durch Vorbereitung selbst in die Nähe des von ihm Verdrängten kommen. Dies lässt Strohtmeyer zu, indem er sich von Jonathan zunächst nach Rosenau zum Sterbeort seiner Mutter führen lässt und es dort versteht, durch eine gezielte Nachfrage eine Trauerreaktion auszulösen. 2. Der Behandelte muss eine Gefühlsbeziehung zum Arzt aufbauen, die ihm eine erneute Flucht unmöglich macht. Eine direkte Gefühlsbeziehung kann man zwar nicht ausmachen, aber es ist zu konstatieren, dass Strohtmeyer in Ansätzen so etwas wie eine Vaterrolle einnimmt. Jonathan orientiert sich an dessen Verhalten und tut in entscheidenden Situationen, was Strohtmeyer von ihm verlangt, auch wenn Fabrizius später einen Einfluss leugnet. Immer wieder weist Mark und Bein auch auf das kollektive Trauma der Flucht hin: Die Geflüchteten und Vertriebenen sind zusätzlich zum eigentlichen Fluchttrauma auch noch damit belastet, dass ihr Schicksal im Vergleich zu den Schandtaten des NS-Regimes eher marginalisiert wurde. Trauer darüber zu äußern, war nicht unbedingt erwünscht. Der Text plädiert dagegen für eine ganzheitliche Betrachtung der Kriegsschrecken und nutzt dabei Jonathans beginnende Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit als Folie: Nichts darf verschwiegen werden, auch wenn es durch Schlimmeres scheinbar in den Schatten gestellt wird. Angesichts von ein paar dürren Ästen, die sinnloserweise an den Bunker Hitlers gelehnt sind, um das Umstürzen zu verhindern, stellt Jonathan bedauernd fest, dass die Menschheit über Geschichte hinweggeht, »vielleicht sogar leichten Herzens.« (MuB 215) Und eben dagegen wendet sich das Werk Walter Kempowskis.
30 Vgl. Sigmund Freud: Über »wilde« Psychoanalyse, GW 8, S. 117–125, hier S. 123 f.
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Einkommen und Auskommen Intrinsische Veredelungsprozesse in Mark und Bein In seinem berühmten Gedicht vom »Satzbau« reflektiert Gottfried Benn die Entstehungsbedingungen von Kunst: »Warum drücken wir etwas aus?« Diese Grundsatzfrage, so Benn einige Verse weiter, sei »[ü]berwältigend unbeantwortbar!« Honoraraussicht ist es nicht, viele verhungern darüber. Nein, es ist ein Antrieb in der Hand, ferngesteuert, eine Gehirnanlage, vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier, auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus, er wird vorübergehen.1
Das unermüdliche, fast zwanghafte Produzieren wahrer ›Kunstschaffender‹, sei es mit Verdienstmöglichkeit verbunden oder nicht, beschäftigt auch Kempowskis Protagonisten Jonathan Fabrizius. Dessen Schaffensdrang begründet sich nicht bloß »motivationell«, wie Benn sagen würde, sondern wird subkutan-intrinsisch zur »Veredelung seiner Ganglien«2 unwillkürlich ausgelöst. Von diesem Arkanum der Kunst, so Benn, ein Faust-Wort zitierend, sei nur in den »höchsten Sphären« etwas erfahrbar: »Die wenigen, die was davon erkannt« – (Goethe) –, können oder dürfen es nicht weitergeben.3 Daher stellt sich die Frage, ob Kempowskis flott-gefällige ›Edelfeder‹ namens Jonathan nicht auch unter die »Wenigen« fällt, die Benn als Seinesgleichen »erkannt« und »anerkannt« hat. Denn Benns Gedicht legt die Latte hoch, wenn es den Pluralis modestiae bemüht, um den eng umzirkelten Kreis jener zu bestimmen, die seiner elitären Kunsterwartung entsprechen.
1 Gottfried Benn: Satzbau. In: Ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hrsg. von Bruno Hillebrand. Limitierte Sonderausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2006 (Fischer Taschenbuch, 17149), S. 370. 2 Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Goldmann 1992 (G, 1290), S. 11. 3 Benn: Satzbau 2006, S. 370. – Benn zitiert hier Vers 590 aus »Faust I«: »Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? // Die wenigen, die was davon erkannt, // Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, // Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, // Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.« https://doi.org/10.1515/9783110784084-006
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Benns Gedicht vom »Satzbau« gehört in den Kontext seiner berühmten Marburger Rede Probleme der Lyrik (1951), in der er die Gelegenheitsschriftstellerei der Allzuvielen, die da Gedichte bosseln, die in Tageszeitungen intarsiert werden, weil Redakteure glauben, dass Zeitungsleser Vergnügen daran finden könnten, scharf von ›absoluter‹ Poesie trennt, zu der nur die ›Wenigen‹ befähigt seien.4 Diese Wenigen sind quasi ferngesteuert, sie ›müssen‹ produzieren, ob sie wollen oder nicht, und die Allermeisten gefährden sich dadurch, dass sie weder ohne Kunst noch mit ihr beziehungsweise durch sie ›existieren‹ können. Es sei eine »Hirnlage«, behauptet Benn, die dafür verantwortlich sei, ein zwanghafter Zustand der Nerven (halb obszön, halb fachärztlich-nüchtern als »formaler Priapismus« apostrophiert), und damit eine Dekadenzerscheinung, wie sie – spätestens seit Morgue5 – mit der Moderne verknüpft wird: als Verfallsphänomen einer Hochkultur, die im ›Dritten Reich‹ zu Grabe getragen worden sei, jener totalen und totalitären Grablege des Zivilisatorischen: »Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab, / damit wollen wir uns nicht befassen, / das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet.« So Benn in Anspielung auf Freud und auf dessen kulturkritische Schrift Totem und Tabu.6 Weil man sich nach dem Holocaust mit den Grundbedingungen der Condition humaine nicht mehr beschäftigen könne, so verstehe ich Benn – denn sie sind durch das ›Angerichtete‹ (Botho Strauß) fundamental infragegestellt worden –, und weil man auch Adornos Postulat nicht folgen könne, »Lyrik nach Auschwitz« als überhaupt Unmögliches und Barbarisches auszusetzen, betreibt man wieder ›Nervenkunst‹, muss man auf die »Hirnstammkomponente« und auf das Formale der Kunst, das Grundsätzliche der Sprache zurückgehen.7 Wo aber stehen in diesem Beziehungsgeflecht und in dieser Debatte um Adornos Verbotsästhetik Jonathan Fabrizius, und wo sein Autor? Zweifellos auf der Seite Gottfried Benns. Dies wird nirgendwo so auffällig wie in jener nächt lichen Tagebuchnotiz, die Kempowski seinem Band Sirius anvertraut hat:
4 Vgl. dazu Lutz Hagestedt: Anschauliches Denken mit starker Hirnstammkomponente. Gottfried Benns poetische Artistik und assoziative Poetik. In: Nikolas Buck/Jill Thielsen (Hgg.): Selbstreferenz in der Kunst. Formen und Funktionen einer ästhetischen Konstante. Festschrift für Claus-Michael Ort. Baden-Baden: Ergon 2020 (Literatur – Kultur – Theorie, 29), S. 291–313. 5 Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte. Berlin-Wilmersdorf: A. R. Meyer 1912. 6 Benn: Satzbau 2006, S. 370. – Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Leipzig/Wien: Heller 1913. 7 Vgl. dazu Botho Strauß: Literatur als Erkenntnis? Reflexionen aus dem beschädigten Leben der Postaufklärung. In: Weimarer Beiträge 40 (1994) H. 2, S. 266–281. – Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam 1995 (Reclams Universal- Bibliothek, 9363).
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»Stimmen der Dichter«, zuerst Anna Seghers, kaum zu verstehen, eine Foltersache aus dem »Siebten Kreuz«. Ich weiß nicht, ob eine so genaue Schilderung der Prozedur nicht auf ein besonderes Interesse schließen läßt? – Danach der unerträgliche Carossa mit einem Brunnengedicht, mit besonnter Stimme las er. Und so etwas bietet er seinen Hörern im Jahr 1947! Ein besonders ekelhafter Fall von Verdrängung.8
Als Zumutung lehnt Kempowski das betuliche, gravitätische Dichteramt ab, das sich in besonnter Beschaulichkeit übt, als habe es den Holocaust nicht gegeben. Wie genialisch nehmen sich dagegen Benn und Brecht, Celan und Lasker-Schüler aus! Sie schreiben mit Hirnstammkomponente und mit »formale[m] Priapismus«, und sie thematisieren das Hässliche, das Prosaische dieser Welt, der sie trockenste Lakonie oder farbigste Wörterpracht abgewinnen, gerade weil sie den Holocaust nicht leugnen und verdrängen können. Der ›biologistische‹ Zug seiner Dichtungstheorie und Dichtungspraxis hat Benn einsamen Dichterruhm eingetragen. Ein leiser Reflex dessen ist noch bei Jonathan Fabrizius spürbar, indem er studiert, sich Kenntnisse erwirbt, Artikel und Essays verfasst und sie veräußert: Wenn er den Auftrag annähme, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und den bekannten Veredelungsvorgang in Gang setzen: Geld verdienen und damit Kenntnisse erwerben, die später dann wiederum zu Geld zu machen sind.9
Jonathan setzt hier, ähnlich wie Benn, zwei »ganz verschiedene Evolutionen« zueinander in Beziehung, eine »biologische« und eine »kulturelle«.10 Anders als Benn jedoch formuliert Jonathan Honorarerwartungen, wenn er von Evolution spricht, denn am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles –, obwohl er vom monatlichen Wechsel eines Oheims auskömmlich leben könnte. Nahezu frugalbedürfnislos bewohnt Jonathan ein Zimmer zur Untermiete, dessen Einrichtung im Wesentlichen aus einem alten Rosshaarsofa besteht – keine Matratzengruft zwar, aber doch ein uterushafter Rückzugsraum. Kleingeschlafen und fade lebt Jonathan seinem Alltag, nur dann und wann zur Begattung seiner toxisch-morbiden Freundin Ulla herbeigepfiffen (die inzestuöse Lesart übergehe ich hier), der
8 Walter Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. München: Knaus 1990, S. 609 (Eintrag vom 17.12.1983). – Kempowskis (zustimmende) Adorno-Lektüren sind in seinem Tagebuch dokumentiert. Vgl. ders.: Wenn das man gut geht. Aufzeichnungen 1956–1970, hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012. 9 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 26. 10 Der Gedankengang verdankt sich Karl R. Popper und John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. Mit 66 Abbildungen. Von den Verfassern durchgesehene Übersetzung aus dem Englischen von Angela Hartung (Eccles-Teile) und Willy Hochkeppel (Popperteile). München: Piper 1982, S. 543.
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er pflichtschuldigst, jedoch ohne eigenen Antrieb obliegt. Jonathan teilt sich mit Ulla in die Leidenschaft, Grausamkeiten zu sammeln, gemäß der Art und Weise, ›wie die Alten den Tod gebildet‹, so als sei die Qual der Kreatur bloß darstellendes Spiel, aus dem Kapital zu schlagen wäre.
»Organisieren können die Polen eben nicht« Ästhetisch gesehen, können Kempowskis Bücher nicht über einen Kamm geschoren werden. In Mark und Bein öffnet sich die karge, durch Rupturen und Zäsuren charakterisierte Rastertechnik der Deutschen Chronik für eine etwas opulentere Ausstattungsprosa, die auch stärker ›durcherzählt‹ ist. Die Textblöcke verschwinden, Kapitel reifen zur »farbenreichen und wirkungsvoll arrangierten« Atmosphäre heran; gleichzeitig bleibt das Typologische der Deutschen Chronik erhalten, das ihm »zum treffenden Bild einer ganzen Geschichtsepoche« geriet.11 Wo Kempowski mit seinen Büchern weltanschaulich steht, ist ebenfalls nicht einfach zu bestimmen, augenscheinlich weder rechts noch links. Während das eine politische Extrem weltbeglückenden (revolutionären) Ideen utopischen Charakters nachjagt, huldigt das andere dem Popanz der (verlorenen) Volksgemeinschaft, deren Integrität durch Rasse, Raum und nationales Recht definiert und zu restituieren sei – der damaligen (›alten‹) Bundesrepublik (als einem ›Rumpfstaat‹ vor der grundgesetzlich gebotenen ›Wiedervereinigung‹) macht sie den Vorwurf, dieses ›völkische‹ Ziel aus den Augen verloren zu haben. Die Textposition von Mark und Bein konstatiert, nüchtern und klar, wie ›die Menschen‹ faktisch in jenem Nachkriegs-Staatsgebilde zurechtkommen, dem ihre Geringschätzung gilt – denn es lebt sich komfortabel und freiheitlich unter dem Status quo: Man wird nicht groß in Anspruch genommen vom Gemein wesen, und jeder Einzelne sieht sich selbst dazu emanzipiert, Ziele zu verfolgen und Tätigkeiten zu entfalten – oder aber es sein zu lassen und nach eigener Façon selig zu werden. Der Bundesbürger lebt befriedet dahin: Die weltpolitische Lage verlangt nach einer europäischen ›Sicherheitsarchitektur‹ des ›relativen Gleichgewichts‹ der Kräfte und schließt Grenzverschiebungen im Herzen des Kontinents kategorisch aus. Dafür steht wirtschaftspolitisch der »Lastenausgleich«, der in der Nachkriegszeit verlorenes Hab und Gut (vor allem der Bombenopfer)
11 So Heinrich Vormweg: Prosa in der Bundesrepublik seit 1945. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945. Die Literatur der Bundesrepu blik I, hg. von Dieter Lattmann. Aktualisierte Auflage. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1980, S. 167–420, hier S. 385.
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entschädigen und Millionen Kriegsflüchtlinge eingliedern sollte. Nicht wenige profitierten davon und prosperierten, wie Kempowski am Beispiel der Generalswitwe demonstriert: »Merkwürdig«, dachte Jonathan, die hat nun schon vierzig Jahre lang Pension bezogen, von Lastenausgleich ganz zu schweigen ... Und wie viele Generalinnen gibt es, die auch alle Pension beziehen. Daß die Volkswirtschaft das hergibt! – Aber dann überlegte er, daß auch andere Menschen Renten und Pensionen beziehen und daß die Empfänger dieser Renten und Pensionen ja schließlich das Geld auch ausgeben. Sie kauften davon Zigaretten zum Beispiel, Kaffee, Tauchsieder, und davon bezahlten die Kaufleute ihren Angestellten Löhne und Gehälter, die dann ihrerseits Zigaretten und Kaffee kauften und sich eine neue Stereoanlage hinstellten. Wer ist am Ende der Dumme? dachte Jonathan, und er verhedderte sich in seinen Gedanken.12
Das praktizierte Ausgleichsmodell der »ausgebeuteten Leistungsgesellschaft« (Reinhard Hörstel) funktioniert bewundernswert: Die »Generalinnen« können so genügsam leben, weil man sie lässt und weil sie sich diese Freiheit, Opferrenten zu beziehen und sich selbst genug zu sein, von niemandem absprechen lassen – zumal es liberaler ›Staatsmentalität‹ entspricht, sich in die Belange anderer, ›des Bürgers und der Bürgerin‹, nicht übermäßig einzumischen.13 Diese Unabhängigkeit im Sinne eines Laissez faire hat sich auch Jonathan erworben, sie ist als Zeichen demokratischer Gesittung ein Beispiel dafür, wie sich die Welt aushalten lässt: Im Grunde genommen lebt Jonathan eine ›realistische Utopie‹, die einer Volkswirtschaft, die sich erkennbar auch zu einer wohlhabenden Erbengemeinschaft herangebildet hat, gar nicht schlecht ansteht. Und man muss verstehen und würdigen, dass für diese Wohlhabenheit kein Nachtwächter-, sondern ein Fürsorgestaat verantwortlich ist, der auch jene alimentiert, die ihn abschaffen wollen: die, einem bekannten Bonmot zufolge, »alles bestreiten, nur nicht ihren Lebensunterhalt« – seien es bremische Abiturienten oder völkische Reichsbürger.14 Diese Toleranz entspricht der Liberalität und Generosität des Staates,
12 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 72–73. 13 Vgl. Reinhard Hörstel: Die ausgebeutete Leistungsgesellschaft. In: Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag am 29. Januar 1974, hg. von Ernst Forsthoff und Reinhard Hörstel. Frankfurt/M.: Athenäum 1974, S. 67–115. Hörstel unternimmt in seinem Beitrag den »Versuch einer Grenzbestimmung für das zulässige Maß öffentlich rechtlicher Belastungen natürlicher und juristischer Personen« (S. 67). Ausbeuter ist hier also der Fiskus, der seine Bürger übermäßig besteuert. 14 Die Formulierung, die sowohl Helmut Schmidt als auch Helmut Kohl zugeschrieben wird, dürfte aus dem Umfeld des konservativen Soziologen Helmut Schelsky stammen. Vgl. ders.: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1975.
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seiner Stärke und Verwundbarkeit auch, die hier mit Gleichmut betrachtet wird – obwohl es sich vielleicht lohnte, für ihn einzutreten. Das aber tun Intellektuelle gewöhnlich nicht, sie lassen sich nicht in Anspruch nehmen und übernehmen prinzipiell keine Verantwortung für das Gemeinwesen.15 Auch bei Kempowski setzen sich Intellektuelle gern ins Unrecht, wenn sie über ihr Land herziehen. Für die Schattenwirtschaft des Ostblocks hingegen, die sich im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) organisiert, sind sie des Lobes voll. Zugleich demonstriert der Roman, wie wenig Wertschätzung eine liberaldemokratisch verfasste Ordnung erfährt, die anscheinend bloß langweilig-funktionstüchtig ist, Aspekte »Politischer Romantik« (Carl Schmitt) aber vermissen lässt.16 Anita Winkelvoss, als Medienfrau quasi das weibliche Pendant zu Günter Grass, tut sich mit dem Jargon der altbundesrepublikanischen Linken hervor, wenn sie über das ›Gemeinwesen‹ der »Be-Är-De«17 ablästert und im gleichen Atemzuge die polnische Mangelwirtschaft romantisch verklärt, deren Attribute (»Benzingutscheine«18) sie geradezu feiert (»Ich findʼ das toll«19) oder als Erscheinungen des Regellosen (»Organisieren können die Polen eben nicht«20) rechtfertigt: »Frau Winkelvoss fand es fabelhaft, wie die Leute sich hier gegenseitig helfen. Sowas gäbʼs im Westen nicht!«21 Knappe Ressourcen gelten ihr »ürgendwie« als soziale Errungenschaft, und sie wird für ihre lustigen Fehleinschätzungen als »kleine Ulknudel«22 betrachtet. Doch hat Kempowski mit ihr keine eindimen sionale Figur erschaffen, denn die Winkelvoss ist nicht bloß ulkig, sondern auch Mutter (genauer: Adoptivmutter) mit Potenzial, die beeindruckend Existenzielles zu erzählen hat: »Die Art ihres Vortrags unterschied sich von dem, was sie sonst so von sich gab.«23 Es ist nachgerade erstaunlich, wie uns Kempowski sein Personal vor Augen stellt und entwickelt: Als Stereotype zunächst, doch trotzt er dem Gemeinplatz Dimensionen und Perspektiven ab, die der Leser kaum für möglich gehalten hätte. So nimmt die Reiseleiterin ihren Aufschwung zur virtuosen,
15 So jedenfalls deutet Arnold Gehlen in seiner Anthropologie die Rolle des Intellektuellen. Vgl. ders.: Einblicke, hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt/M.: Klostermann 1978 (ArnoldGehlen-Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 237–347 (»Intellektuellenkritik«). 16 Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin: Duncker & Humblot 1968 (Nachdruck der 2. Auflage von 1925). 17 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 138. 18 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 105. 19 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 107. 20 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 107. 21 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 109. 22 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 108. 23 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 172.
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glänzend strukturierten Erzählerin, als sie ihrer Adoptionsgeschichte in mehreren Etappen die Zügel schießen lässt: Die »Erlebnis- und Leidkomponente«24 tritt hervor, ist aber bereits zum Repertoirestück der eigenen Lebensgeschichte geronnen. Aus der Erlebnisrede wurde Wiedergebrauchsrede, eine Vorstufe der Literatur als der strukturierten, erzählökonomisch optimierten und dramatisch geschürzten, beinahe schon poetisch transzendierten Realität von einst. Auch ein Veredelungsprozess, zumal die Winkelvoss ihr Erzählstück auf die ›Hohe Kante‹ legen kann. Dem gewieften Journalisten Jonathan fällt sogleich auf, dass diese Adoptionsgeschichte durch eine Schule der Geläufigkeit gegangen ist, die vom bloßen Substrat des Erlebten wegführt und auch die Person des Erzählers plausibilisieren hilft, und zwar stärker, als alle Dokumente dies vermöchten. Anita Winkelvoss gehört zu den (weiblichen) Erzählerfiguren in Kempowskis Œuvre, die sich »zurechtsetzen«, wenn sie zu ihrer Lebensbeichte anheben – sie stellen zumeist den mütterlichen Typus dar, bei dem der Mann die Flucht ergreift, sobald die Suada anhebt. Flucht ist ihm hier nicht möglich, denn eingepfercht in den »etwas engen«25 Fond der Santubara-Limousine, von Tabakschwaden umwölkt, muss Jonathan ausharren. Und er ist bald gefesselt von Anitas rhetorisch glanzvoller Erzählweise, die auch den ökonomischen Aspekt hervorkehrt. Selbst unfruchtbar, aber vom Kinderwunsch beseelt, lässt sie sich auf das Wagnis ein, einen brasilianischen Säugling an Kindes statt anzunehmen, ohne Kosten und Mühen zu scheuen: »Alles in allem zehntausend Mark habe es gekostet – mindestens!«26 Ihr »Adoptionsbericht[]«27, dies wird deutlich, gehört zum »Fundus«28 ihrer großen Passionsgeschichte, die mit unerfüllter Sexualität und bewältigter Scham zugleich korreliert ist. Zum demütigenden »Nachweis, daß man selbst keine Kinder kriegen könne«, gehört auch, dass man sich vor den »Behörden«29 und Institutionen ›nackig‹ macht: »Dauernd sei die Frau vom Fürsorgeamt dagewesen, Einkommen, Gesundheit, politisches[!] Führungszeugnis, Ahnen bis zum Urgroßvater.«30 Der deutschen Gründlichkeit, die an die Forderung nach dem unseligen ›Ahnenpass‹ im Nationalsozialismus gemahnt, entspricht das korrupte Gebaren der vor Ort Involvierten: »Dies Bakschisch-Geben: Jedem Richter und jedem Rechtsanwalt eine Hundertdollarnote in die Hand
24 Vormweg: Prosa in der Bundesrepublik 1980, S. 384. 25 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 172. 26 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 154. 27 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 172. 28 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 191. 29 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 207. 30 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 196.
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drücken …«.31 Die Brasilianer nehmen es von den Sterblichen, und das Wohlstandsgefälle Europa–Südamerika wird in den »Ameisenhaufen von Armut«32 erfahrbar, die Anita mit ihrem Fiat Uno passieren muss. Und schließlich das Elend des »Waisenhauses«33 und die erneut quälenden Behördengänge: »Fotografieren, Paßamt, Sozialamt, Gericht, alles noch mal retour …«.34 Mit Demütigungen aller Art verknüpft sich der hohe finanzielle Aufwand einer Adoption.
»Geld verdienen und damit Kenntnisse erwerben« Von dem, was Jonathan Fabrizius als Journalist verdient, könnte er kaum leben – ein Mutterbruder schießt ihm monatlich das Notwendige zu. Seit der Oheim auf der Flucht aus Ostpreußen den Treckwagen gefahren hatte, in dessen Stroh sich Jonathans hochschwangere Mutter in Schmerzenswehen gewälzt hatte, bevor sie dann gestorben war, fühlt er sich für den Neffen verantwortlich. Mit der burschikosen Passionsblume Ulla an seiner Seite bewohnt Jonathan zwei bescheidene Zimmer zur Untermiete bei der oben thematisierten Generalin, einem »mumifizierten Backfisch«, der seit vierzig Jahren Witwenrente bezieht und dem Staat noch lange feucht was husten wird.35 Auch Jonathan ist quasi ein solcher »Parasit« (im Sinne Michel Serres’36), genießt er doch noch den Studentenstatus, obgleich er nur pro forma noch eingeschrieben ist – der Vergünstigungen wegen, die sich daraus ableiten lassen.37 Immerhin: Vom Kunststudium ist ihm ein intrinsisches Interesse an gotischen Backsteinkirchen des Nordens geblieben – bis auf St. Marien in Danzig hat er sie schon fast alle besucht: Die Marienkirche war eine von den Riesen im Norden, die ihm noch in seiner Sammlung fehlte. Lübeck, Wismar, Stralsund, diese Städte hatte er sich angesehen, mit ihren mittel alterlichen Kolossen, […] aber von Danzig war keine sinnliche Anschauung vorhanden, sie in einem Essay zu beschreiben, damit würde er sich schwertun.38
31 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 206. 32 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 206. 33 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 206. 34 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 207. 35 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 14: »Hin und wieder war feuchter Husten zu vernehmen, von dem sie sich in den Küchenausguß hinein befreite.« 36 Vgl. Michel Serres: Der Parasit. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 11. 37 Vgl. dazu Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 166. 38 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 25–26.
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Und St. Marien in Rostock? Nun winkt ihm ein gutbezahlter Auftrag, der ihn nach Polen und auch nach Danzig führen wird – damit kann er den »bekannten Veredelungsvorgang« fortsetzen: »Geld verdienen und damit Kenntnisse erwerben, die später dann wiederum zu Geld zu machen sind.«39 Er kann mit »seine[r] unbestechliche[n] Feder« etwas verfassen, das gelesen und »bewunder[t]« werden wird: einen von seinen »Zeitungsartikeln« von »Schmiß« und »Diktion« – und zwar gegen Honorar, das auch noch verhandelbar ist.40 Diesem Aushandeln selbst gilt sein Interesse: Fünftausend Mark plus Spesen, über die es sich auch noch reden ließe ... Ob er die Kosten für Karten und Bücher erstattet bekäme? Das interessierte ihn.41
Jonathan besitzt nicht viel, und er strebt auch nicht groß nach materiellen Gütern: Ihm geht es bei seinen »Ganglien«42 um Erleuchtung, sprich um die »Klarheit und Wahrheit«,43 die über ihn kommt, wenn er sich mit geistigen Dingen beschäftigt.44 Was also anfangen? Den Auftrag annehmen und die »Deutsche[n] Ostgebiete unter fremder Verwaltung«45 bereisen, nach Rosenau fahren, wo die Mutter starb und er selbst geboren wurde?46 Die Frische Nehrung erkunden, »auf der es seinen Vater erwischt hatte«47, der Wehrmachtssoldat gewesen war? Beides kommt zunächst nicht aufs Tapet, sondern liegt außerhalb aller Erwägungen. Gleichwohl bildet es für Jonathan das Zentrum dieser »Episode«, und das wird ihn im wahrsten Sinne des Wortes umhauen.48 Mark und Bein ist ein gutes Beispiel dafür, dass die oft an Literatur gestellte Inhaltsfrage so einfach nicht beantwortet werden kann, auch nicht im Œuvre Kempowskis. Oder wer würde auf die Frage nach dem sogenannten »Inhalt« dieser vielschichtigen Prosa antworten, dass es ihr um politische Romantik oder um Geld ginge? Oder um die Mentalität der Nachkriegsdeutschen? Oder um Restitutionsansprüche? Und dennoch spielen Wirtschaft und Kommunikationen über Wirtschaft immer mit hinein, wenn Kempowskis Personal so dahinlebt, dahinplappert oder sich »in seinen Gedanken« verheddert. Will sagen, dass Fragen von Besitz und
39 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 26. 40 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 11 und 23. 41 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 60. 42 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 11. 43 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 11. 44 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 11. 45 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 24. 46 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 20. 47 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 21. 48 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 234.
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Eigentum, Gewinn und Verlust, von Preisen und Zahlungen, von Leistungen und Gegenleistungen ständig thematisch sind – nicht nur in diesem Buche Kempowskis (sondern in beinahe jedem), aber bevorzugt in diesem. Zahlungen und Zahlungsmittel, wirtschaftliches Handeln und geldwertes Verhalten, zum Beispiel in Form von Arbeit, sind elementare und ständig thematisierte Funktionen der dargestellten Welt von Mark und Bein. Über sie wird fortwährend nachgedacht, und der Austausch darüber nimmt einerseits Materielles, andererseits Psychisches in Anspruch.49 Daher behaupte ich: Würde der Aspekt der Wirtschaft fehlen, dann fehlte das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West, dann fehlte das Geld als Medium der Kommunikation über Gewinn und Verlust, über Veredelung und Verrohung, dann hätte Mark und Bein ein anderes spezifisches Gewicht. Die Kapitalsortentheorie Pierre Bourdieus könnte dies veranschaulichen. Eine Klammer zwischen der historischen Ereignisgeschichte der dargestellten Welt und der Handlungsgegenwart bildet Onkel Erwin, Jahrgang 1902 und zur Handlungsgegenwart 86 Jahre alt. Er tritt in der dargestellten Welt nicht auf, sondern wird bloß erwähnt und zitiert. Er lebt als erfolgreicher Unternehmer in Bad Zwischenahn und hat für seinen Neffen Jonathan Verantwortung übernommen, seit er im Februar 1945 jenen Treckwagen mit seiner Schwester, der hochschwangeren Mutter Jonathans, gefahren hatte: »Vergebens hatte er an die Türen von Bauernhäusern geklopft, als die Wehen einsetzten, und so war sie dann eben gestorben.«50 Da auch Jonathans Vater im Krieg geblieben ist, hat sich der Oheim des Neugeborenen angenommen – und nun, 43 Jahre später, unterstützt er den Neffen noch immer und hat ihn zu seinem Erben eingesetzt.51 Zu Handlungsbeginn hat er ihm einen »Scheck über zweihundert Mark« geschickt und damit den »Vorschlag« verbunden, mit dieser Barschaft am Geburtstag der Freundin »irgend etwas Sinnvolles anzufangen«.52 Der Oheim hat mit seinem Geldsegen keine »Auflage« im Sinne einer Handlungsanweisung verbunden, etwa dergestalt, dass Jonathan seine Ulla zum Essen ausführen solle, sondern er hat es Jonathan freigestellt, was er damit anfangen wolle: »Ver wickelte Gefühle hinderten Jonathan« denn auch daran, dem Geburtstagskind, »den Scheck zu zeigen«.53 Er sackt das Geld ein und gibt es für eigene Zwecke aus. Man sieht: Eine abstrakte Zuwendung wie diese »kappt kommunikativ mögliche
49 Formuliert in Anlehnung an Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1988, S. 14. 50 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 21. 51 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 238. 52 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 20. 53 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 20.
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Bindungen«, wenn ihre »erwartungsbildende Bedeutung« enttäuscht, unterlaufen oder abgeschwächt wird.54 In dieser motivationalen Ambivalenz und sozialen Indifferenz wird zweierlei deutlich: Indem der Oheim den Neffen finanziell ertüchtigt, verschafft er ihm geldwerte Handlungsoptionen; er unterstellt – in der sprachlich vagesten Form –, dass mit seiner Zuwendung außer der Reihe der Ehrentag Ullas gefeiert werden möge, dass aus der Möglichkeit eine auf Intimität und Partnerschaft zielende Wirklichkeit werden würde: ein Geburtstagsgeschenk, ein kultiviertes Abendessen zu zweit oder etwas dergleichen. Der Onkel konditioniert seine Gabe jedoch nicht, er stellt es frei, wie darüber verfügt werden soll, und der Neffe muss ihm über den Einsatz der Mittel auch keine Rechenschaft ablegen. Für das soziale Setting als Grundvoraussetzung des Romans ist es von zentraler Relevanz, dass die vage Bestimmung des Geldes als Investition in die Beziehung zu Ulla von Jonathan abgeblockt wird: Lieber zweigt er das Geld ab und investiert es in Bücher und Kartenwerke, die ihn bei seinen kulturhistorischen Recherchen in Ostpreußen unterstützen sollen. Diese auffällige, tendenziell missbräuchliche Verwendung des Barschecks deutet im übrigen schon an, dass sich sein Verhältnis mit Ulla erschöpft hat und vor dem Aus steht, zumal sich Ulla beim beruflich ehrgeizigeren und augenscheinlich erfolgreicheren Ausstellungmacher, dem »stattlichen Dr. Kranstöver«55, schadlos zu halten gedenkt: Ihr winken eine Festanstellung, eine Reise nach Südfrankreich und eine »Mansardenwohnung«.56 Dieser Partnerschaft also, die an ihr Ende gekommen ist, noch Geld nachzuwerfen, wäre daher vergebliche Liebesmühʼ: Beim Gedanken an Ulla regt sich nichts mehr in Jonathan – und dies wird vom Text auch so bestätigt. Jonathan erwirbt stattdessen Bücher, Kartenmaterial, Autographen, und so halten es alle autornahen Protagonisten Kempowskis. Freilich, ob das Geld, das er beim Antiquar lässt, gut angelegt ist, sei dahingestellt: Denn am Ende nützt ihm die historische Karte ehemaliger deutscher Ostgebiete bei seiner Identitätsfindung kaum. Trotz allem Kartenstudium im Fond der Santubara-Limousine wird Jonathan von der ›geheimen Teleologie‹ der Reiseroute, die ihn punktgenau in seinen Geburtsort Rosenau führt, nachgerade überrascht,57 und es wird auch nicht
54 Die Argumentation verdankt sich Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1988, S. 18. 55 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 81. 56 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 83. 57 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 200. – Der Terminus der »geheimen Teleologie« geht auf Marianne Wünsch zurück. Vgl. dies.: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die system immanente Relation der Kategorien »Literatur« und »Realität«. Probleme und Lösungen. Stuttgart et al.: Kohlhammer 1975 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 37), S. 236.
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»seine[] alte[] Karte«58 sein, die ihn nach Kahlberg an der Frischen Nehrung geleitet, wo sein Vater im April 1945 »umgekommen«59 ist, sondern es ist Hansi Strohtmeyer, der über seine Schicksalswege wie ein Engel der Geschichte wacht und ihn auf die Fährte seines Vaters führt: Als ›sozialer Kompass‹ entwickelt dieser Rennfahrer menschliche Qualitäten in höchster Konsequenz – ein weiteres Beispiel für Kempowskis Kunst, sein Personal spannungsvoll anzulegen und auszugestalten. Gleichwohl ist der materielle Besitz der historischen Kartenwerke, von Dokumentationen über Flucht und Vertreibung, von handgeschriebenen Erinnerungen einer Königsbergerin, die Jonathan sich für den Barscheck des Oheims zulegt, als haptisches Zeugnis eines ideellen Erbes nicht zu unterschätzen. Denn was die einen verloren haben, hat er gewonnen: er hält Zeugnisse der Vergangenheit in Händen, die ihn mit persönlichem Hintergrund ausstatten. Dies erfolgt zwar so abstrakt, dass er daraus keine Ansprüche ableiten kann, und das will er auch gar nicht, aber doch konkret genug, dass er sich mit Einbildungskraft eine Herkunftslegende daraus bilden kann: »Was du ererbt von deinen Vätern hast / Erwirb es um es zu besitzen.«60 Die Polenreise dient daher, im Einklang mit seinem Studium Nordischer Kathedralen, einer ›Wiedergeburt zu neuem Leben‹.61 Dieser Geburtsvorgang wird als sogenannte »Sturzgeburt« sogar in Szene gesetzt, als Jonathan vor jener kleinen Kapelle ausgleitet, in der seine verstorbene Mutter »abgelegt« worden war. Dem entspricht genau auch der Erkenntnisblitz, der ihn erleuchtet, als er mit dem Kopf aufschlägt und benommen liegenbleibt. Sein langjähriges Studium der Backstein-Kathedralen, die er gezielt aufsucht und mit einem Uterus vergleicht – farblich mag das stimmen –, entspricht dabei dem Freudʼschen »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (1914) als psychischer Selbsttherapierung infolge des bei der Geburt erlittenen Traumas.62 Kempowski muss sich hier nicht weiter erklären, dieser Vorgang erklärt
58 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 222. 59 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 229. 60 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Teil I, Nacht. Verse 682–683. Zitiert nach ders.: dass.: Texte, hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, 114), S. 43. 61 Das Modell der »Wiedergeburt zu neuem Leben« verdankt sich ebenfalls Marianne Wünsch. Vgl. dies.: Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In dies.: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur, hg. von Lutz Hagestedt und Petra Porto. München: belleville 2012 (Reihe Theorie und Praxis der Interpretation, 10), S. 81–118. 62 Vgl. Jean Laplanche/Jean-Baptiste Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Emma Moersch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 123–124. (Stichwort: »Durcharbeitung, Durcharbeiten«).
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sich selbst und ist im kulturellen Wissen verankert. Verankert ist aber auch die Aversion gegen solche Lesarten geheimer Regungen des Innerpsychischen, wie Ullas Reaktion belegt: Es fehlt ihr entschieden an Empathie für seinen Seelenzustand. Und Materielles kann solchen Mangel nicht kompensieren. Vielleicht, aber unwahrscheinlich, wäre Ulla, die Jonathan dreimal die Woche begattete, etwas länger geblieben, wenn er den Barscheck des Onkels dieser toxischen Beziehung nachgeschossen hätte. Aber Kempowski will uns im Gegenteil einen Reifungsprozess anschaulich vor Augen führen, der Jonathan am Ende plausibel aus Ullas Fängen befreit und ihn mit seiner Herkunft und Identität versöhnt. So oder ähnlich lässt sich das Schlusskapitel dieser »Episode« interpretieren, zumal man in Rechnung stellen muss, dass Ullas Verschwinden aus Jonathans Leben nicht Bedauern auslöst, sondern Gleichmut und Pragmatik zeitigt: Jonathan führt sich selbst zurück auf die Ziele, die er sich einst gesteckt hatte. Seine Autorschaft wird künftig nicht bloß Kalligraphie sein, sondern an Substanz gewinnen.
»Das mühsam bewahrte sozialistische Gleichgewicht« In meinem ersten Beispiel hatte Geld eine soziale Komponente – eine Rückbindung an den Oheim, die Klärung der Beziehung zu Ulla, die Hinwendung zur intrinsisch motivierten Bestimmung: die Veredelung der Ganglien durch geistige Arbeit. Mein zweites Beispiel möchte die Aufmerksamkeit auf makro-ökonomische Aspekte lenken, die für Kempowskis Erzählung konstitutiv sind. Die Handlungsgegenwart im August 1988 kennt in Mitteleuropa noch zwei Wirtschaftssysteme, die miteinander konkurrieren: die Marktwirtschaft in Westeuropa, die Planwirtschaft in Osteuropa. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs hat man beide Systeme in ein mühsam bewahrtes Kräfteverhältnis zu setzen versucht, ein durch Atomwaffen gesichertes »Gleichgewicht des Schreckens«.63 Realiter jedoch ist durch planwirtschaftliche Dysfunktionalität und Ineffizienz im Ostblock längst ein, auch internes, ›sozialistisches Ungleichgewicht‹ eingetreten, dessen kaum vorstellbares Ausmaß aber erst jenseits des Ereignishorizonts dieser »Episode« ermessen werden kann.64 Gleichwohl sind die ostreisenden ›Wessis‹
63 Der Terminus technicus, der als Ausdruck des Kalten Krieges die Nachkriegszeit überschattete, hat sogar in die Lyrik Einzug gehalten. Vgl. Gisela Andreae-Weimann: Vom Gleichgewicht des Schreckens. Gedichte 1961–1981. Rinteln: Bösendahl 1981. 64 Vgl. dazu den Sammelband von Günther Heydemann und Karl-Heinz Paqué (Hgg.): Plan-
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in Kempowskis Erzählung bereits gewarnt, ihr per Valuta mit eingeführtes Wohlstandsgefälle nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen. Vom wirtschaftlichen Erfolg beziehungsweise Misserfolg dieser beiden Systeme erfahren wir durch Anita Winkelvoss, die für den Santubara-Konzern Öffentlichkeitsarbeit macht und die Polen-Exkursion organisiert – ein Betätigungsfeld, das in dieser Weise wohl nur in einem marktwirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen denkbar ist. Die ›Polentour‹ als Marketingstrategie, um Luxuslimousinen vor den zerfallenden Kulissen »deutscher Ostgebiete unter polnischer Verwaltung« abzulichten, das ist ein genialer oder perfider Plan des, soll man sagen, »Spätkapitalismus«?65 Es handelt sich jedenfalls, auch wenn man sich diese Lesart kommunistischer Geschichtsphilosophie nicht zueigen machen möchte, um ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, weshalb die SantubaraWerke ihr Exkursionsteam gleich auch mit zwei Limousinen ausgestattet haben: Es könnte ja eine davon unterwegs verlorengehen, schließlich ist man in einem Land unterwegs, wo ein solcher Fuhrpark Begehrlichkeiten wecken dürfte. Diese Eventualität möglichen Eigentumsentzugs ist noch nicht einmal gedanklich apostrophiert, da ist sie auch schon eingetreten – eine der beiden Limousinen wird vor den Augen des Exkursionsteams entführt, sodass die Drei nun mit einem hinfälligen fahrbaren Untersatz osteuropäischer Provenienz Vorlieb nehmen müssen. Der sogenannte ›Spätkapitalismus‹ wäre aber nicht der, der er ist, wenn er Verluste nicht einkalkulieren würde. Dies trägt wohl dazu bei, ihn seinen Gegnern als unsozial erscheinen zu lassen, und das ist es womöglich auch, was die politische Linke mit dem konträren Wirtschaftssystem des Sozialismus liebäugeln lässt. Denn eine Mangelwirtschaft erfordert persönliche Interaktion, und Teilhabe, weil sich soziale Not nur gemeinschaftlich kompensieren lässt: Während die Notgemeinschaft des Ostblocks Nestwärme vorspiegelt, bietet der Kapitalismus nichts als soziale Kälte. Und während im Osten gemeinsame Werte beschworen werden (müssen), auf die man sich angeblich verständigt hat, stellt es der Westen jedem Einzelnen frei, sich solcher »Suggestion rechtzeitig zu entziehen«.66 Anita Winkelvoss jedenfalls, die politisch irgendwie unausgegoren
wirtschaft – Privatisierung – Marktwirtschaft. Wirtschaftsordnung und -entwicklung in der SBZ/ DDR und in den Neuen Bundesländern 1945–1994. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 63). 65 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 90 und passim. – Der Terminus »Spätkapitalismus« ist hier als polemischer, gleichwohl partiell ›geglaubter‹ Kampfbegriff aufzufassen, den die westeuropäische Linke vom osteuropäischen Ideenstifter willfährig übernommen hat und noch heute kritiklos im Munde führt. 66 Ich entlehne hier ein Argumentationsmuster Niklas Luhmanns. Vgl. ders.: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. von Dieter Lenzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 123.
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»links« steht, erliegt dieser Suggestion und findet die sprichwörtliche polnische Wirtschaft putzig: »Organisieren können die Polen eben nicht«, sagt sie: »Ich findʼ das toll.«67 Ist das Nachsicht oder Naivität? Dem Leser wie dem Exkursionsteam begegnet im Osten eine chaotische Planwirtschaft, die – gemessen an westlichen Standards – rückschrittlich-ineffizient ist und die für das Wohlstandsgefälle in Zentraleuropa mitverantwortlich zeichnet. Für Anita Winkelvoss mit ihrer Emphase für Entwicklungsländer scheint dieses Ungenügen – im Vergleich zur westdeutschen Perfektibilität – sehr viel Charme zu haben. Sie gedenkt sogar, davon zu profitieren: Da die polnische Währung nicht frei kompatibel ist, ist Winkelvoss bereit, »konspirativ den Schwarzkurs«68 zu bedienen und – was sie aber nicht durchschaut – dadurch »das mühsam bewahrte sozialistische Gleichgewicht [zu] stören.«69 An vielen ihrer Äußerungen wird deutlich, dass im Reisegebiet Mangelwirtschaft herrscht, die mittels Valuta verschärft wird. Dazu trägt Anita bei, insofern sie wirtschaftliche Zusammenhänge kaum durchschaut und Notlagen forciert. So begeistert sie sich beispielsweise für »Benzingutscheine«, die sie als »Benzinbons« missversteht, mittels derer man den sozial schlechter gestellten Arbeitern subventionierten Sprit verschaffen könne. Im Gegenzuge könne man »Fabrikbesitzern und Bonzen«70 etwas mehr für die gleiche Menge »abknöpfen«71. Dieser faktischen Rationierung knapper Güter, die die Kriegsgeneration noch leidvoll in Gestalt von Bezugsmarken in Erinnerung hat, wird von Winkelvoss als System sozialen Ausgleichs interpretiert, um das Wohlstandsgefälle in Polen zu bekämpfen – als staatliche Maßnahme zur Stabilisierung von Preisen zugunsten oder zuungunsten bestimmter Einkommensgruppen empfiehlt Winkelvoss sie zur Einführung auch in Deutschland.72 Die als ›weltfremd‹ überzeichnete Santubara-Mitarbeiterin sympathisiert generell mit dem ›anderen‹ Wirtschaftssystem der sozialistischen Staatengemeinschaft – sogar die polnischen Geldscheine seien »ürgendwie toll«. Auch fand sie es »ürgendwie urig«, daß man auf ein Ferngespräch zwei Stunden warten muß, nicht wie in der Scheiß-Bundesrepublik, wo alles funktioniert und wo man gehetzt wird wie sonst was.73
67 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 107. 68 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 106. 69 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 105. 70 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 106. 71 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 106. 72 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 106. 73 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 110.
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»Fabelhaft, wie die Leute sich hier gegenseitig helfen«, ruft die Winkelvoss emphatisch aus, ohne die Vorzüge des Westens im Blick zu behalten, denn immerhin scheint ihr Arbeitgeber, der international agierende Automobilkonzern Santubara mit dem mutmaßlich ›sprechenden Namen‹ (anagrammatisch etwa »braune Saat«), eine Firmenkultur mit attraktiven Arbeitskonditionen entwickelt zu haben – eine ›Kippfigur‹ auch er? So paradox es auch sein mag – in Kempowskis Buch wird gezielt der Gegensatz zwischen der eiskalten Mechanik der Marktwirtschaft, in der alles wie am Schnürchen zu klappen hat, und der Improvisationskultur des sozialistischen Wettbewerbs beschworen: »Sowas gäbʼs im Westen nicht!«74 Deutlich wird hier erneut, dass eine Notgemeinschaft kompensatorisch überbrückt, was ihr mangelt, wohingegen man im Überfluss des Westens lediglich Zahlungen tätigen muss, um das Gewünschte zu bekommen. Soziale Interaktion lässt sich dadurch auf ein Minimum beschränken oder aber als Unternehmenskultur ›mitverkaufen‹ – Letzteres kann sich der Santubara-Konzern augenscheinlich auch leisten: sein »Jahresumsatz« ist »erheblich größer« als das Bruttosozialprodukt »ganz Polens«.75 Die Winkelvoss aber verwechselt die aus der Not geborene gegenseitige Hilfestellung mit Nestwärme und Freundschaft, ja Intimität, wohingegen ihre rosa Brille ausblendet, dass die so fabelhaften »Leute« gezwungen sind, unter der Knute eines politischen Systems, das sich durch Mangelwirtschaft kompromittiert, Ausgleich zu suchen. Zur Unfreiheit und Unmündigkeit des kommunistischen Jochs kommen die Entbehrungen, die Osteuropäer zu kompensieren haben.
Sowohl Mangel als auch Luxus Entspricht dem Westen eine Freiheit durch Konsum, so entspricht dem Osten eine Freiheit durch Verzicht.76 Eine asymmetrische Opposition: Man kann im Osten nur dadurch die höchste Freiheit erzielen, dass man sich den Marktgesetzen entzieht und in die Röhre kuckt, die das Westfernsehen bietet (sofern man nicht im Tal der Ahnungslosen lebt). Günter Gaus hat diese spezifische Besonderheit des Ostens für die DDR als »Nischen-Gesellschaft«77 beschrieben, und es bedeutet ein
74 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 109. 75 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 110. 76 Vgl. dazu Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1988, S. 53. 77 Vgl. Günter Gaus: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983.
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reduziertes Leben aber keine Sozialromantik, wenn man sich im Mangel einrichten muss: Ein bitterer und entbehrungsreicher Weg sozialer Selbstausgrenzung war das.78 Nicht nur Anita Winkelvoss mit ihren unausgegorenen Sympathien für das letztlich korrupte Wirtschaftssystem des Ostblocks macht sich Gedanken über makroökonomische Konditionierung – auch Protagonist Jonathan Fabrizius denkt laufend über Wirtschaft und Gesellschaft nach. Einmal besucht er sogar seine Vermieterin, die Generalin, die als junge Frau aus Ostpreußen fliehen musste, die aber – dank der weisen Voraussicht ihres Ehemannes – beinahe das gesamte bewegliche Hab und Gut in den Westen nach Hamburg retten konnte. Der Verlust ihres übrigen Besitzes, des Landbesitzes in Ostpreußen, wurde im Zuge des »Lastenausgleichs« reguliert. Jonathan fragt sich nun, wie oben schon vernommen, wie eine »Volkswirtschaft« funktionieren solle, in der Kompensationsleistungen historisch unerhörten Ausmaßes finanziert werden müssten.79 Die Generalin, so scheint es, arbeitet nicht und trägt zur Volkswirtschaft nichts bei. Allerdings hat sie als Mutter von sieben leidlich gut ausgebildeten, überwiegend erfolgreichen Kindern – Kaufleute, Bankiers und eine Industriekauffrau darunter – mittelbar durchaus an der Prosperität der Bundesrepublik ihren Anteil. Dieser Beitrag, den Frauen leisten – durch die Forderung nach einer Mütterrente und anderen Versorgungsleistungen mittlerweile aufs Tapet gebracht –, kann in seiner gesamtwirtschaftlichen Bedeutung nur schwer taxiert werden. Das siebte Kind der Generalin, ein Sonnyboy aus Kalifornien, der gelegentlich noch auf ihre Unterstützung angewiesen ist, ähnelt dem »parasitären« Jonathan, insofern er auf Kosten anderer lebt, wiewohl er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen könnte.80 Auch Jonathan nimmt ja soziale Vergünstigungen in Anspruch, die ihm nicht zustehen, und ohne ›soziales Netz‹ käme er finanziell wohl nicht zurecht. Solch eine Existenzweise lässt sich ökonomisch als Mangel, aber auch als Luxus beschreiben. Ein Mangel liegt vor, wenn man konstatiert, dass der Parasit keine großen Sprünge machen kann. Jonathan wohnt mit seinen 43 Jahren noch immer zur Untermiete, und die Ausstattung seiner Studentenbude wirkt geradezu kärglich: nicht einmal ein Bücherregal leistet er sich neben seinem schadhaften Sofa und seinem einfachen Waschtisch, und solch ein Waschtisch liegt weit unter den Standards westdeutschen Nachkriegswoh-
78 Vgl. dazu Olaf Reis: Nischen im Wandel. Zur Transformation von Familien und Generationen familien in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018 (Forschung Psychosozial). 79 Der entsprechende Passus (Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 72–73) wurde oben bereits zitiert und diskutiert. 80 Vgl. dazu Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1988, S. 212.
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nens, wo ein eigenes Bad mit fließend warmem und kaltem Wasser fast überall die Regel war. Als Luxus hingegen lässt sich seine Existenzweise beschreiben, wenn man konzediert, dass er ganz und gar seinen Neigungen leben kann und darin vom Oheim alimentiert wird. Jonathan arbeitet in einem Bereich – »freier« Journalismus – mit prekären Arbeitsbedingungen. Als freier Mitarbeiter von Printmedien ist er von Aufträgen abhängig, die er selbst aquirieren muss, und von Zahlungen, die unregelmäßig und nach Auftragslage erfolgen, oft aber auch ausbleiben. Offenbar aber hat sich der freie Autor und Journalist einen Namen gemacht, sodass unverhofft eine lukrative Lohnschreiberei winkt. Und durch die Offerte der SantubaraWerke werden Erwartungen geweckt und Handlungen antizipiert, die vorher nicht da waren: Jonathan hätte sonst andere Prioritäten gesetzt, er wäre vielleicht nach Italien oder Spanien gefahren, das konnte er sich vorstellen. Aber Polen? Nein. Durch das Angebot einer bezahlten Masuren-Expedition zur Vorbereitung einer Rallye mit Bericht für das hauseigene Motorjournal wird bei ihm, Jonathan, überhaupt erst Interesse geweckt für etwas, das vorher weder nachgefragt war noch Notwendigkeit erkennen ließ. Als Lockmittel fungiert Geld in einem genau bestimmbaren Rahmen: nicht zuviel und nicht zuwenig. Die ausgesetzte Honorarsumme erscheint Jonathan stattlich und erwägenswert genug, um die Offerte annehmen zu können, vor allem aber als verhandelbar, und genau das reizt ihn. Nun sind Autorenhonorare nicht unbedingt leicht zu bemessen: Bietet man zu wenig, so kommt dies einer Kränkung gleich; bietet man zuviel, so verdirbt man die Preise. Die Santubara-Werke agieren daher sowohl geschickt als auch geschäftsmäßig, wenn sie ihre Vorstellung über ein ihrer Ansicht nach angemessenes Honorar an Jonathan kommunizieren und zugleich einen finanziellen Spielraum durchblicken lassen, als Form eines gewissen Entgegenkommens, sollte sich der Autor zur Mitarbeit entschließen können. Hier ist also ein Rahmen mit begrenzten Möglichkeiten und überschaubaren Variablen gesteckt: Jonathan wird nicht das Doppelte fordern, falls er einschlagen möchte. Und er wird den Spielraum nutzen, den die Firma erkennen lässt – über Spesen lässt sich immer reden. Im Endeffekt muss das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen, und ideal wäre es, wenn beim Zustandekommen des Deals beide Seiten damit zufrieden sein könnten, was sie erreicht haben. Dies kann sogar dann der Fall sein, wenn der Kapitalgeber seine Zuwendung als Geschenk versteht, als Sinecure beispielsweise, aus der keine Leistung des Autors folgt oder folgen muss. Freilich: Irgendetwas erwartet derjenige, der die Zahlung auslöst, letztlich doch, und der Autor tut gut daran, mit Texten nicht zu geizen – oder auch mit Anwesenheit, Anteilnahme und dem Einsatz von entsprechendem sozialen Kapital. Über Zahlungen nimmt ein Autor teil am Wirtschaftsleben – für die
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ökonomische Basis seiner Autorschaft sind sie elementar wichtige Ereignisse.81 Einkünfte aus Arbeit scheinen bei Jonathan eher selten zu sein und noch seltener aus seiner Passion für nordische Kirchen zu resultieren. Ein Großteil der Zahlungen, die ihn erreichen, sind daher Alimentierungen. Durch das Angebot des Santubara-Konzerns öffnet sich für ihn ein Fenster: Er kann damit Geld verdienen und eigene Ziele verfolgen.
Der Marktwert von Kunst Auch Ulla scheint mit Honoraren nicht reich gesegnet zu sein. Zudem hat sie noch nicht die Anstellung gefunden, die ihren Ansprüchen genügt und ihren Begabungen entspricht. Immerhin ist sie akademisch ausgebildete Kunsthistorikerin, und daher glaubt sie sich unter ihrem Marktwert beschäftigt und vergütet. Überdies war nicht ihre fachliche Eignung Grund und Ursache für ihre Anstellung, sondern eine Äußerlichkeit. Der Marktwert einer Kunsthistorikerin ist schwer zu taxieren, zumal sich mit ihrer Tätigkeit auch symbolisches Kapital verknüpft: Anerkennung für gelungene Ausstellungen beispielsweise. Um dieses Kapital wird Ulla bislang betrogen – andere dürfen sich im Glanz des Erfolges sonnen, den sie durch ihre Zuarbeit mit errungen hat. Doch der Arbeitsmarkt für Kunsthistoriker ist klein und umkämpft: Für die Dienstleistung und Expertise eines Kurators sind faktisch mehr Persönlichkeiten befähigt, als benötigt werden. Daher muss man sich, bevor man Ausstellungen kuratieren oder mit der documenta Millionen versenken darf, auf vielfältige Weise bewährt haben. In unserem Beispiel schafft die Kunsthistorikerin Material für eine Ausstellung heran, die ein anderer kuratiert, der über entsprechende Erfahrungen und eine Festanstellung verfügt. Ullas Chef wird in einer Weise steuerlich veranlagt, von der sie nur träumen kann: Soviel verdient sie im ganzen Jahr nicht, und das muss erwartungsgemäß kompensiert werden. Da geht es beispielsweise um die Inanspruchnahme beziehungsweise Absetzbarkeit einer Dienstwohnung: Nebeninteressen und Hintergedanken bei der Verfolgung ihrer Ziele werden spürbar. Kempowski entwirft hier das Porträt einer Frau, deren Verhältnis zur Kunst und ihren Gegenständen nicht über jeden Zweifel erhaben ist: Denn Ulla gewinnt
81 Wenn ich eine biographische Anmerkung zu Kempowskis eigener Autorschaft und ihrer Honorierung einflechten darf: Im Tagebuch wird der Autor oft um Beiträge gebeten, ohne dass flankierend eine Honorierung in Aussicht gestellt würde – aber für lau kann ein Autor nicht arbeiten, und daher erscheint es ihm auch ungehörig, derlei Ansinnen sine pecunia vorzutragen.
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kein unmittelbares, kein absolutes oder passioniertes Verhältnis zu ihrem Beruf und zum Ausstellungsgegenstand, für den sie sammelnd und Ideen spendend tätig ist. Ein anderer, ein kompetenterer muss das Material bändigen, das ausgestellt werden soll, und das ist letztlich ein Mann. Darin gleichen sich viele der in Mark und Bein dargestellten Männer: Sie haben sich in leidenschaftlicher Weise eine nicht einholbare Kompetenz angeeignet, die pekuniär nicht aufzuwiegen ist – gleichviel, ob man an den Rennfahrer denkt, an den Ausstellungsmacher oder an den Journalisten. Auch beim Antiquitätenhändler Albert Schindeloe erfolgen Zahlungen nicht so flott und üppig, wie er sich das wünschen würde. Seine Ladenhüter lösen kein Begehren bei seiner Kundschaft aus, er muss versuchen, eine andere Klientel für sie zu erschließen. Einen Botero hat er vor Jahren an Jonathan unter Wert verkauft, ein unvorteilhaftes Geschäft, das ihn nun reut. Er spekuliert darauf, dereinst wieder in den Besitz des Bildes zu gelangen, um bei einem Weiterverkauf einen weit höheren Erlös erzielen zu können. Seine Bonität ist immerhin so gut, dass Albert Schindeloe sich auch eigene Sammelgebiete leisten kann. Doch bewegliche Güter, die nicht mehr bewegt werden (vulgo: keine Zahlungen auslösen), sind der Ökonomie (dem Wirtschaftskreislauf) entzogen und geraten in Vergessenheit: sie sind totes Kapital. Jonathans Botero jedoch weckt noch immer und immer wieder aufs Neue Begehrlichkeit – ob er verhandelbar ist, bleibt zwischen Schindeloe und Jonathan ungeklärt und schwebend: ohne Not wird sich Jonathan von diesem modernen Klassiker, der ein Kind (!) darstellt, nicht trennen, und ohne Not wird Albert kein Angebot unterbreiten, das man nicht ablehnen kann. Da beide miteinander befreundet sind, kommen auch Rücksichtnahmen in Betracht, die ein erneutes Botero-Geschäft zwischen ihnen als unwahrscheinlich erscheinen lassen: Denn gegebenenfalls würde Schindeloe seinen Schnitt machen wollen, ohne jedoch den Freund übervorteilen zu dürfen. Schindeloe kann allenfalls darauf setzen, dass Jonathan des Boteros überdrüssig wird, dass der tatsächliche Wert des Gemäldes ihm verborgen bleibt und dass der Händler den gegebenenfalls erzielten Gewinn vor Jonathan verbergen kann. Doch dazu wird es nach Lage der Dinge nicht kommen – Jonathan kann die (auch emotionale!) Bedeutung seines Botero bereits ermessen: das Porträt stellt einen Wert dar, den man so leicht nicht aus der Hand gibt. Dieser Wert ist ein Beleg für die Kommerzialisierung der Kunst, die wir lange schon kennen: Kunst gewinnt, wenn sie wahrgenommen wird, einen ästhetischen und einen monetären Aspekt, und auch hässliche Kunst kann finanziell erfolgreich sein, wie uns die Bildhauer Markus Lüpertz und Alfred Hrdlicka belegen. Zur Kommerzialisierung der Kunst gehört die Kommerzialisierung der Kultur.82 Kulturelle Einrichtungen müssen sich am Markt behaupten, sonst
82 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1989, S. 36.
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werden sie eingespart und abgewickelt. Dr. Kranstöver, Ullas Chef, vertritt den Typus des kulturell erfolgreichen Kulturmanagers, dem genau dies gelingt. Über eine belastbare Kunsttheorie verfügt er zwar nicht, wenn er etwa behauptet, dass »Grausamkeit eine speziell männliche Domäne«83 sei: Da wird er vorgeführt, aber nicht für voll genommen. Gleichwohl kann er als erfolgreicher Ausstellungsmacher gelten, der mit seinen Konzeptionen »Furore« gemacht hat.84 Er verfolgt seine Ziele strategisch und konsequent, wie es scheint, konsequenter jedenfalls als Jonathan, der, insofern er attraktive Offerten auch liegenlässt, partiell als »Aussteiger«85 gewertet werden kann, der die Segnungen und Vergünstigungen des Erziehungs- und Bildungssystems in Anspruch nimmt, aber die Orientierung auf einen akademischen Abschluss und eine Karriere aus den Augen verloren hat, ebenso wie sein zeitweiliges Forschungsinteresse an den norddeutschen Backsteinkathedralen. Er bezahlt dies mit seiner nicht gefestigten Existenz und Persönlichkeit. Inwieweit er seine Elternlosigkeit als Entschuldigungsgrund für diese ›Unreife‹ in Anspruch nehmen kann, lässt der Text freilich offen.86 Das 20. Jahrhundert zeitigt nicht wenige aufgelöste Sozialstrukturen, zerstörte Familienverbünde: Die Väter und Söhne an der Front geblieben, die Frauen und Kinder im Bombenkrieg umgekommen, aus den Ostgebieten vertrieben, in den Konzentrationslagern vergast. Unter lauter Verbliebenen und Entwurzelten fällt es schwer, neue Bindungen zu knüpfen. Auch ökonomisch bedeutet das Kriegsende einen schwierigen Neuanfang. Jonathans Oheim gelingt er: Sein Unternehmen behauptet sich am Markt, und die Arbeiter tragen Jonathan auf ihren Schultern. Eine Ersatzfamilie aber stiftet der Onkel nicht.
83 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 85. 84 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 85. 85 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1989, S. 38. 86 Indirekt ist diese Frage durch die präsupponierte Anthropologie der dargestellten Welt zu beantworten: Im 19. Jahrhundert, im Realismus, gehören wirtschaftlicher Erfolg und Familie noch zusammen. Eine intakte Herkunftsfamilie, ein glückendes Liebeswerben und die Stiftung einer eigenen Fortpflanzungsfamilie basieren auf ökonomischer Solidität. Davon kündet der Bildungsroman – oder auch nicht. Goethes Protagonist Werther hat den erforderlichen familialen Hintergrund und Rückhalt, scheitert aber in seinem Liebesbegehren. Wilhelm Leonhard jedoch, Tiecks junger Tischlermeister, erlangt als Handwerker bürgerliche Reputation, Ehefrau und Kindersegen (wenn auch über den Umweg einer zweiten Bildungsreise, dem schon im Mittelalter geläufigen »doppelten Kursus«). Vgl. dazu Dagmar Hirschberg: Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs ›Parzival‹. Die Funktion von erzählter Szene und Station für den doppelten Kursus. Göppingen: Kümmerle 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik).
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Die anstößige Topik dargestellter Ökonomie Kempowskis Narrativ macht des öfteren deutlich, dass allem Ökonomischen etwas latent Anstößiges anhaftet. Wertschätzung kann in Geringschätzung umschlagen – und umgekehrt: Worte wie das mundartliche »verhökern«87 machen dies deutlich. Auch die wundersame Geldverminderung, die Hansi Strohtmeyer seitens der ›Zigeunerinnen‹ erfährt, gehört in diesen semantischen Raum potenzieller Grenz- und Normverletzungen: Permanent scheint es, als ob Geld ›schmutzig‹ sei und sein Einsatz unvorteilhaft (das wäre bei Tauschgeschäften weit eher der Fall), zumal Wechselkursen etwas Willkürliches und Unmoralisches eignet, sowohl den staatlich festgesetzten (Valuta), wie auch den auf dem Schwarzmarkt erzielten, und zwar hauptsächlich deshalb, weil hier eine Asymmetrie der Wirtschaftsleistung, des Gegenwertes, des Vergleichswertes zu beobachten ist. Der Umstand, dass ›der Pole‹ das Wohlstandsgefälle Europas durch Diebstahl (bevorzugt von Automobilen) auszugleichen sucht, gehört ebenfalls zur anstößigen Topik des Romans. Diese Form illegitimen Besitzwechsels ist insofern angezeigt (und pragmatisch), als Zahlungsbereitschaft in einer fehlgesteuerten Welt tendenziell ins Ungewisse führt – ob überhaupt etwas und wenn ja, was für Geld zu bekommen ist, lässt sich mit dem Wort »Gegenwert« nur vage umschreiben, solange die Landeswährung nicht frei konvertierbar ist. Auf dem Schwarzmarkt erbringt der Złoty nur einen Bruchteil dessen, was er nach offiziellem Wechselkurs wert sein soll, weshalb es fraglich erscheint, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, Valuta in ihn zu investieren. Jonathans Anstoß, stattdessen Fünf-Mark-Stücke mit sich zu führen, erweist sich als richtig: Sie sind die sinnlich erfahrbare ›harte‹ Währung und stechen die verdächtigen Geldbündel der Schwarzhändler aus. Die forcierte Anstößigkeit des Erzählens nimmt niemanden aus: nicht die ewig-gestrigen Landsmannschaften, die sich im Gastland provozierend gebärden, nicht die Bremischen Schüler, die auf ›links‹ gebürstet sind, nicht den sozial deklassierten polnischen Ex-General, der – insofern eine Spiegelfigur Kem powskis – wegen Geheimnisverrats/Spionage einsaß. In jeder Figur/Person tun sich Abgründe auf, nirgendwo erscheint der ›strahlende Held‹ des Trivialromans, der Gerechtigkeit übt, indem er die Strukturen der Welt ins Lot bringen könnte und würde. Im Gegenteil: das Prinzip der (Selbst-)Legitimation wirtschaftlichen Handelns ist hier ebenso fundamental infrage gestellt wie Legalität überhaupt. Was in Europa geschieht, sieht sich schon durch historische Hypothek unter Vorbehalt gestellt: Wer die Schuld hat, wer schuldig geworden ist, wer sich belastet
87 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 123.
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hat, kann keine Forderungen erheben und bleibt auf ewig Schuldner. Von einem christlichen Standpunkt aus gesehen, betrifft das einen jeden: die Last der Erbsünde steht nicht zur Disposition, wie das Beispiel Jonathans illustriert, der ohne eigenes Zutun die Bürde zu tragen hat, dass seine Mutter bei seiner Geburt »draufgegangen« ist. Und wer Deutscher oder Pole ist, hat keine Ansprüche zu stellen, weil er durch historische Schuld darin gehemmt ist, und das betrifft den Einzelnen ebenso wie das Kollektiv. Entsprechend erzählt Mark und Bein niemals vom ›Ausgleich‹ einer Schuld im Sinne einer offenen Rechnung, sondern immer von Schuldvermehrung, sei es im Privaten, sei es gegenüber der Gemeinschaft, und zwar moralisch ebenso wie pekuniär. Indem man lebt, wird und macht man sich schuldig und vergrößert die kollektive und individuelle Schuld. Das mag sich im einzelnen qualitativ und quantitativ unterscheiden, das Prinzip aber wird dadurch nicht infrage gestellt. Was jedoch zählt, ist die Bereitschaft zur Sühne, der allein eine Erlösungs- und Versöhnungsperspektive innewohnt. Davon sind die selbstgewissen Bremer Abiturienten aber ebensoweit entfernt wie die heimatvertriebenen Landsmannschaften, die auf Kompensation und Restitution des Verlorenen aus sind. Die Berechnung im Kleinen (und im Privaten), der Unterschleif im Großen (und gegenüber dem Fiskus) kann von gleicher Tragweite sein und zerstörerisch wirken oder aber – im Gegenteil – als sportives Element in die Bilanz grundsätzlich bereits mit eingepreist sein. So, wie der Staat mit dem Steuersünder ›rechnet‹, so spekuliert auch der, der gibt und bekommt und der darüber, wenn vielleicht auch auf unklare Weise, Buch führt. Das mag im katholischen Polen mit seiner Sonderstellung der Religion noch eine größere Rolle spielen als im ganz und gar säkularisierten und konfessionell gespaltenen Westen, wo es kaum noch gelingt, zwischen den Amtskirchen und den Gemeinden Bindungskräfte zu entwickeln, die weltanschaulich und ökonomisch belastbar wären. Eine Gewerkschaftsbewegung wie die Solidarność, die nicht nur ein politisches Mandat für die Umgestaltung der Planwirtschaft zu erringen weiß, sondern dafür auch religiöse Ressourcen in Anspruch nimmt, wäre ja im Westen undenkbar. Schuld und Sühne tangieren in Polen alle Funktionssysteme der Gesellschaft, während es in Westdeutschland darauf anzukommen scheint, eine Entschuldigung allein durch Politik und Wirtschaft zu betreiben. Was Kultur und Gesellschaft, Schule und Erziehung dazu beitragen können, steht auf einem anderen Blatt – Schriftsteller wie Walter Kempowski versuchen, es zu beschreiben. Wer die Schuld hat, wer sie zuweist, wer sie einräumt – oder wer beschuldigt wird, wer Schuld auf sich nimmt und abzutragen sucht, macht die gleiche Erfahrung: Wirtschaftsoperationen stehen ebenso wie Moralitäten, wie kulturelle und historische Verbindlichkeiten unter diesem Zeichen des NegativSaldos, das niemand jemals ausgleichen kann. Wer tätig ist, macht sich schuldig
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ebenso wie der, der untätig ist: Der Autor, der sein Werk bilanziert, muss dies ebenso erkennen wie der Leser, dessen Rezeption ausbleibt oder zu kurz greift (was sie letztlich immer tut) – es ist zum Verzweifeln, mag auch die einzelne Erkenntnis beglückend sein. Die ›polnische Wirtschaft‹, die hier sprichwörtlich inszeniert wird, illustriert beispielhaft die Rückständigkeit der RGW-Staaten; der »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« erweist sich als transnationale Notgemeinschaft, in der man sich wechselseitig ›helfen‹ muss, weil die Planwirtschaft seit langem hinter den Erwartungen bleibt, weil Ziele zurückgesteckt werden müssen, der industrielle Bestand auf Verschleiß gefahren wird, die Städte und ihre Infrastruktur verrotten und der Umweltfrevel durch Raubbau und Verschmutzung immer größere Dimensionen annimmt. Da es auch nie geglückt ist, ein funktionierendes Rechtssystem zu etablieren, erweisen sich staatliche Regulationsversuche als kontraproduktiv. Die moderne Wegelagerei durch die polnische Exekutive, der die Santubara-Crew ausgesetzt ist, steht dafür beispielhaft ein. Hansi Strohtmeyers Frage »Darfst du das?«88 bringt es auf den Punkt: Hier wird Unzulässiges gegen einen herbeigeredeten ›Klassenfeind‹ systematisch betrieben und muss von den Reisenden mit ›eingepreist‹ werden. Auch die polnische Gewerkschaft Solidarność, der im Roman bereits das Denkmal gesetzt ist,89 hat bezüglich staatlicher Korruption und ihrer Bekämpfung nichts ausrichten können: Das Reiseland Polen erscheint vielen in vielerlei Hinsicht als abwegig – wie soll man die mangelnde Infrastruktur für Motorjournalisten im Luxussegment plausibilisieren? Das »Gebetbuch«90 der Schlaglöcher, das Anita Winkelvoss zu führen hat, benennt die zweifelhaften Reiseziele (darunter das KZ Stutthof) der noch zu planenden »Rallye«.91 Gemeinplätze sollen hinterfragt, stilistisch geglättet, literarisch geadelt oder ästhetisch verbrämt werden: Am Ende soll das Fell leuchten. Ein Veredelungsvorgang schwebt auch dem Santubara-Konzern vor, dem das Fadenscheinige seines Exkursionsangebotes für Rallyefahrer, die ein Automobil der Firma vor der Kulisse von ›Lost Places‹ bewerben sollen, nicht entgangen sein dürfte. Fabrizius hat durch seine Darstellungskunst Interesse an seiner stilistischen Bravour geweckt, und die Santubara-Werke haben durch ihr Honorarangebot ihr Interesse an seiner Autorschaft bekundet. Sie haben ihre Offerte klug
88 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 195. 89 Vgl. Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 113. 90 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 151. 91 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 128.
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formuliert – und damit die »Ablehnungswahrscheinlichkeit«92 bei ihrem Auftragsnehmer minimiert. Jonathan kommt ins Grübeln, ob er fahren solle oder nicht, zumal er eigene Ziele mit der Reise verfolgen könnte, darunter sein Ziel, die ihm noch fehlenden nordischen Göttinnen aufzusuchen und zu beschreiben: für eine Artikelserie über gotische Kathedralen des Ostseeraumes. Einen Abnehmer dafür hat er noch nicht an Land ziehen können, das Interesse in den Redaktionen daran, die er mit seiner flotten Schreibe bediente, war allenfalls verhalten. Indem er aber sein Terrain sondiert und arrondiert und das Register der zur Anschaulichkeit zu führenden Kirchenporträts komplettiert, kann er – vielleicht – auch seiner eigenen Zielstellung zum Erfolg verhelfen: Welches Reisemagazin könnte es sich leisten, eine solche Perlenkette aus Kenntnis und Neigung, kultureller Relevanz und stilistischer Bravour abzulehnen? Will die Merian-Redaktion die Konkurrenz damit glänzen sehen? Man sieht, diese so profane und doch auch würdige Offerte von Automobilisten kann in der weiteren Betrachtung etwas auslösen. Es kommen andere, geldwerte Aufmerksamkeiten hinzu, darunter diverse Annehmlichkeiten – eine Reisedecke, ein Begleitfahrzeug mit Technikern an Bord, ein Fahrer von internationalem Renommé, eine erfahrene Reisebegleiterin, Ansprechpersonen vor Ort –, vom Hand- und Taschengeld ganz zu schweigen. Man sieht diesem Treiben teils vergnügt, teils skeptisch zu, wie es Kem powskis Manier entspricht, der hier auch den Aspekt der ›Käuflichkeit‹ der Autorschaft anklingen lässt. Es will ja nicht jedem in den Kopf, dass Unternehmen profitabel arbeiten, um ihre Produkte loszuschlagen und ihre Umsätze wie Erträge zu steigern. Gerade im Kulturbetrieb, wo Bücher als Handelsware kursieren und Autoren Honorare verlangen, darf Geld nicht im Fokus stehen, weil Geldkritik zum Hautgout des Künstlers gehört, wohingegen es für viele nicht in Frage kommt, ihre künstlerische Kreativität quasi fremdbestimmt, als Handelswert, einzusetzen, auch wenn man leben muss von seiner Kunst. Hier endet für viele ihre Unabhängigkeit, wenn sie dem Markt und seinen Gesetzen keinen Tribut zollen wollen, und sie nehmen Geldnöte dafür in Kauf. Dabei ist das Santubara-Angebot für Jonathan ja durchaus freibleibend, er kann es ablehnen oder annehmen – oder auch nachverhandeln (was in der Offerte bereits angelegt ist und von ihm wohl auch ausgeschöpft werden wird). Man gewinnt hier nicht den Eindruck eines raubatzigen, unsensiblen Kapitalismus, denn der Konzern will Jonathan keineswegs an sich binden. Ganz ähnlich scheint Jonathans Oheim zu handeln: Er verschafft seinem Neffen durch monatliche Zuwendungen und Extrazahlungen jene persönliche Freiheit und Unabhängigkeit, die Fabri-
92 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft 1988, S. 68.
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zius zum Leben braucht – um jene Ganglien ›fabrizieren‹ zu können, die seiner Anlage zur »Veredelung« seiner Welt entsprechen. Jonathans Oheim verstrickt seinen Neffen in keinerlei Abhängigkeiten, sondern verzichtet durch die Wahl seiner Mittel auf Einflussnahme; äußerst abgeschwächt ist auch die »erwartungsbildende Bedeutung« seines Geburtstagsschecks: Jonathan mag das Geld einsetzen, um seine Beziehung zu Ulla zu festigen – oder sie zu kappen.93 Die allenfalls diskreten Steuerungsversuche des Onkels beeinträchtigen den Neffen in keiner Weise, wie auch das Geschäftsgebaren von Jonathans Onkel ein angenehmes zu sein scheint – es gibt dort ein familiäres Betriebsklima, soweit man es beurteilen kann, und dem Firmeneigner und seinen Mitarbeitern geht es augenscheinlich prächtig. Sie halten sich mit einigen Erfolgsmodellen unter ihren Möbeln, die einfachsten Ansprüchen genügen, schon sehr lange am Markt, wovon solide Bilanzen künden. Dies wäre nicht der Fall, wenn sich diese Produkte beim Kunden nicht auch bewähren würden – und solche Produkte gibt es ja auch anderswo (man denke an die IKEA-Klassiker, die weder in der Herstellung noch im Verkauf viel kosten dürfen und dennoch eine lange Lebensdauer haben). Beinahe im gleichen Atemzuge wird wirtschaftliches Handeln im sogenannten Kapitalismus als kalt-rational und funktionalistisch denunziert, zumal es keine sonstigen Abhängigkeiten emotionaler oder persönlicher Art mitlaufen lässt: hier werden keine psychischen Zustände oder aus dem Tauschhandel erzielte Verbindlichkeiten auf die ›Hohe Kante‹ des ›Menschlichen‹ gelegt und bei Bedarf abgerufen, sondern hier erfolgen einfach Zahlungen, die sich im Zahlungsvorgang erschöpfen und zu keinen weiteren sozialen Anschlussoperationen ermuntern. Gesellschaftliche Teilhabe orientiert sich weitgehend und ohne Umweg über persönliche Beziehungen in einer schlichten Kosten-NutzenRechnung. Das hat definitiv Vorteile, denn man kann darin eine Befreiung und Freisetzung der Person von unerwünschten Begleiterscheinungen des eigenen Handelns sehen, und so sollte man es wohl auch einschätzen – das scheint mir Textposition zu sein. Das Wirtschaftssystem des Westens ist nicht zuletzt deshalb freiheitlich und erfolgreich, weil es die beteiligten Parteiungen emanzipiert, nach Maßgabe ihrer Wünsche und Ziele zu operieren, ohne dass sie sich dem Gutdünken und Wohlwollen anderer unterwerfen müssten. Ein weiterer Freiheitsaspekt kommt noch hinzu: Die D-Mark ist ein valides Zahlungsmittel, das zu beliebigen Zwecken einsetzbar ist – und man kann damit Wertstellungen sehr abstrakt vornehmen, ohne flankierende subsidiäre Maßnahmen mitzudenken, sodass nicht für jedermann sichtbar wird, wofür man Zahlungen leistet. In einer teilweise auf Tauschgeschäften basierenden Marktordnung hingegen lässt
93 Ich entlehne den Gedanken bei Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 18.
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sich oftmals verräterisch leicht nachvollziehen, wessen jemand bedarf und wofür er seine Mittel einsetzt. Das macht ihn durchschaubar und sozial kontrollierbar. Der Konsument im Sozialismus bürdet sich – über die reine Zuwendung von Geldern hinaus – Verpflichtungen auf und handelt sich Abhängigkeiten ein, die ihn gesellschaftlich, persönlich, gedanklich, emotional über Gebühr in Anspruch nehmen; und das ist durchaus nicht jedermanns Sache, zumal dann nicht, wenn man seine Beweggründe und Ziele camouflieren möchte oder muss. Die bei Anita Winkelvoss positiv konnotierte, angebliche ›Hilfsbereitschaft‹ im sozialistischen Polen beschönigt in Wahrheit die implizite Aufkündigung von Autonomie, die für den Einzelnen damit verbunden sein kann, dass er sich auf verdeckten Tauschund Schwarzmarkthandel sowie dubiose Dreiecksgeschäfte, auf ineffiziente Vorratshaltung und auf Hamsterkäufe etcetera einlassen muss, wenn er nicht Mangel leiden will. Damit ist der Nötigung und Kujonierung Tür und Tor geöffnet: So erzählt man sich von Trabi-Fahrern in der DDR, dass sie ihre Garagenkomplexe zu Ersatzteillagern umgewandelt hätten, um im Bedarfsfall eine Auspuffanlage gegen eine Lichtmaschine oder ein Pfund Spargel eintauschen zu können. Ürgendwie nicht so toll, oder?
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Memoria der Grausamkeit: Walter Kempowskis Episode Mark und Bein Ein Sujet wie das in Walter Kempowskis Erzählung Mark und Bein aus dem Jahre 19921 muss man in der west-deutschen Gegenwartsliteratur der 1980er und 1990er Jahre ein wenig suchen: Ein fiktionaler Text, der in der Zeit des Kalten Krieges spielt, nach 1968 und vor dem Mauerfall, in einer Region jenseits der Flüsse Oder und Neiße lokalisiert (die hier gewählte, komplizierte Ausdrucksweise wird sich gleich erklären). Es mochte bis 1989 Reportagen und wissenschaftliche Berichte gegeben haben, Erinnerungen, historische Romane (über die Zeiten bis 1945) und themenbezogene Sachbücher (beliebt etwa zur Backsteingotik an der Norddeutschen Küste) – aber nicht so sehr viele Gegenwartserzählungen2 über eine Zeit in einer Region, deren Benennung bereits ein Politikum war: Polen, Ostdeutschland, verlorene oder wiedergewonnene Gebiete, Heimat oder, wie sich Walter Kempowski anfangs aus der Affäre zieht, indem er seinen Protagonisten Jonathan Fabrizius einen zufällig vorhandenen »Iro-Weltatlas« von 1961 zitieren lässt: »Deutsche Ostgebiete unter fremder Verwaltung« (MuB 24). Eine Region »mitten in Europa« und doch vom öffentlichen Bewusstsein vieler Menschen in der Bundesrepublik Deutschland so weit entfernt wie Afrika oder die
1 Zitiert wird nach der Erstausgabe: Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992, im Folgenden zitiert mit der Sigle MuB und der entsprechenden Seitenzahl. Alle Hervorhebungen in Zitaten sind von mir, V. L., es sei denn, es wird anders erwähnt. 2 »[D]enn wer fährt heute schon nach Ostpreußen« (MuB 91) heißt es im Text. An anderen zeitgenössischen deutschen Autoren, die zu diesem Thema publiziert haben, werden indirekt erwähnt: Arno Schmidt (Fabrizius, die Hauptperson, macht »längere Gedankenspiele« [MuB 13], seine Mutter hatte nur als »Schnappschuß überdauer[t]« [MuB 101] – also im Medium jener »Schnappschußtechnik«, die Kempowski gerne hervorhebt und selbst nutzt; [Walter Kempowski: Arno Schmidt. In: Walter Kempowski: Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere, hg. von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2011, S. 213]); Uwe Johnson (vgl. die Anspielung »Babendererde« [MuB 44] – der Name der Freundin Fabrizius’ [Ulla Bakkre de Vaera] – sei diesem analog.) Namentlich erwähnt wird Günter Grass (MuB 137), indirekt Siegfried Lenz (»Heimatmuseum« [MuB 225]), »die Vergangenheitsbewältigung im Vertriebenenmilieu« (also der auch in Mark und Bein beschriebenen Landsmannschaften) (Walter Kempowski: Siegfried Lenz. In: Ders.: Umgang mit Größen 2011, S. 156.) Heranzuziehen wären, weil sie von Kempowski in den Tagebüchern erwähnt werden, Horst Bienek oder Arno Surminski. Zu ergänzen ist der thematisch sehr verwandte Roman Polski Blues von Janosch, in dem Qual und Leiden Leitmotive sind: »Kann es denn sein, daß Gott die leiden läßt, die er auserwählt?« (Janosch: Polski Blues. München: Goldmann 1991, S. 118). https://doi.org/10.1515/9783110784084-007
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Antarktis (so der Klappentext auf der Rückseite der Originalausgabe). Später im Text werden diese Sprachreglungen thematisiert, wenn zu lesen ist, man wolle »nach Polen fahren, das heißt, ja eigentlich nach Ostpreußen, also in ›deutsche Lande‹« (MuB 91). Aber dies formuliert die unreflektiert sprechende Anita Winkelvoss, die meist nicht weiß, was sie mit dem sagt, was sie ausspricht. Genau diese Region, deren Namen keiner mehr kennen und nennen will,3 in der englischen Ausgabe als »Homeland«4 bezeichnet, ist Ort der Handlung jener Erzählung, die Walter Kempowski als »Episode« bezeichnet.5 Er beginnt den aktiven Schreibprozess Anfang Januar 1991,6 also nach der politischen Auflösung jener Umstände, die diese Reise zu einem Politikum machten. Zuvor liegt die Planungs- und Sammelphase.
1 Die Diskursumstände 1.1 Eine Region als Politikum Zuordnung und Bezeichnung der Region waren nach 1949 (und auch noch 1992) ein immer extrem kontrovers behandeltes Politikum, hoch von Emotionen und Ansprüchen besetzt. Auf der einen Seite vertraten besonders die Vertriebenenverbände (und mit ihr die CDU) die Position: »Ein deutscher Osten ohne Ostpreußen und Danzig, mit Landabtretungen in Schlesien zugunsten Polens und der Tschechoslowakei ist undenkbar.«7 Auf der anderen Seite berichtete der Schweizer Kulturkritiker Hans Zbinden aus Polen:
3 Marion Gräfin Dönhoff: Namen, die keiner mehr nennt: Ostpreußen – Menschen u. Geschichte. Düsseldorf/Köln: Diederichs 1962. 4 Walter Kempowski: Homeland. Translated from the German by Charlotte Collins. London: Granta 2019. 5 Im Tagebuch (Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006, S. 52) zitiert er Marie Luise Kaschnitz, die von einem »Roman […] mit vielen kleineren, voneinander unabhängigen Episoden« spricht – also eine Reihung, bei der das Prinzip der Reihung nicht benannt wird: So lässt sich die ›Zweite Chronik‹ Kempowskis durchaus charakterisieren. 6 Kempowski: Hamit 2006, S. 399. Die »Episode« Mark und Bein steht im Kontext der Arbeit am »Echolot«-Projekt (ebd. S. 412); vgl. auch: »Morgens an M/B, 5. Kapitel. Nachmittags am ›Echolot‹«. (Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. München: Knaus 2008, S. 81). 7 Herbert von Dirksen: Die Frage der deutschen Ostgrenze. Vermutungen über ihre Behandlung auf der Londoner Konferenz. In: Das Ostpreußenblatt 1 (1950) Folge 3 vom 5.5.1950. S. 82.
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Ja, man gewinnt den Eindruck, daß einer aufrichtigen Verständigung und Zusammenarbeit zwischen dem freien Deutschland und Polen nichts Ernstes mehr im Wege stünde, wenn einmal die Bundesrepublik sich entschlösse, aus freien Stücken und ohne Bedingung die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen – das heißt, ohne diese Anerkennung, die eine Conditio sine qua non aller polnischen Politik bildet, zum Gegenstand eines politischen Handels oder eines »Austauschgeschäfts« machen zu wollen.8
Vermittlungen waren unerwünscht, Polarisierungen das Ergebnis: Mit einer Denkschrift über »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«, die vorletzte Woche veröffentlicht wurde, versucht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) »eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes hineinzubringen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten«. Das Memorandum […] spricht sich unter anderem dafür aus, »in der Zukunft das Lebensrecht des polnischen Volkes zu respektieren und ihm den Raum zu lassen, dessen es zu seiner Entfaltung bedarf«. Bei den Vertriebenenverbänden und Landsmannschaften stieß die Denkschrift auf heftigen Protest. Der Bund der Vertriebenen (BdV) bezeichnete sie in einer ersten Stellungnahme als Mißbrauch der kirchlichen Autorität.9
In der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel (22. Oktober 1969 bis 13. Dezember 1972 und 15. Dezember 1972 bis 6. Mai 1974) wurde die erwähnte Conditio sine qua non anerkannt, die längst Realität geworden war: »Es gibt für Polen kein Grenzproblem«,10 wird Władysław Gomułka (1905–1982) zitiert, der zeitweilige Parteichef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), stellvertretender Ministerpräsident und Chef des polnischen Ministerstwo Ziem Odzyskanych (Ministerium für die wiedergewonnenen Gebiete). Zu erinnern ist der Kniefall Willy Brandts vom 7.12.1970 am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos bei seinem Staatsbesuch in Polens Hauptstadt, ein Symbol der Schuldeinsicht, die zum neuen Selbstverständnis der bundesdeutschen Regierung11
8 Hans Zbinden: Polen blickt nach Westen. Eindrücke einer Reise im Jahre 1965. In: Ders.: Polen einst und jetzt. Reisen und Wanderungen 1932/1933/1939/1965. Frauenfeld/Stuttgart: Verlag Huber 1969, S. 147–148. 9 N.N: Polen aus Schlesien nach Frankreich? In: Der Spiegel 18 (1965) H. 44. 26. Oktober 1965, S. 47–51. 10 Hansjakob Stehle: Osteuropa und die Deutschen. In: Heinrich Albertz/Dietrich Goldschmidt (Hgg.): Konsequenzen oder Thesen, Analysen und Dokumente zur Deutschlandpolitik. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1969, S. 77–87, hier S. 80. 11 »Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.« Hermann Schreiber: Ein Stück Heimkehr. In: Der Spiegel 23 (1970). Nr. 51. 14. Dezember 1970, S. 29–30.
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(und nur von dieser BRD soll – angesichts des vorliegenden Textes – gesprochen werden) gehören sollte. Für die Vertriebenenverbände hingegen stellte der geopolitische Ist-Zustand weiterhin ein Unrecht dar; sie bemühten sich, ihren Anspruch auf Heimat und Revision zu bewahren, z. B. in Zeitungen der Landsmannschaften und bei den jährlichen Treffen, von denen die Medien berichteten. Das Ostpreußenblatt titelte am 1. Juni 1985: »Deutschlandtreffen 1985: Rechtlich besteht Deutschland fort. 125.000 Ostpreußen bekannten sich in Düsseldorf erneut machtvoll zu Heimat und Recht«12 – was umgehend zu der Entgegnung führte, dass die Ursachen für Flucht und Vertreibung zu benennen seien, nämlich der deutsche Angriff auf Polen und die Sowjetunion, der dann geführte Vernichtungskrieg (auch gegen die Bevölkerung) und der Holocaust. Die Deutschen selbst trügen die Schuld an der Vertreibung. Ein die gesamte Öffentlichkeit beschäftigender Konflikt war dies, dessen laute Polemik kaum Zwischentöne tolerierte: »Keine deutsche Regierung wird je in der Lage sein, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen«, in den Friedensverträgen muß »das Recht auf die Heimat aller Menschen Berücksichtigung« finden, schrieb der große Staatsmann Adenauer acht Jahre nach dem Krieg – damals noch ohne Bündnis – an Eisenhower. Und heute?
Und: Der Bundespräsident hat zu Weihnachten viele Ostdeutsche und viele Deutsche, die möglichst viel von Deutschland erhalten wollen, tief verletzt. Er hat nicht zwischen ihrem Streben und dem der Polen einen ausgewogenen Ausgleich, sondern polnischen nationalstaatlichen Maximalzielen das Wort geredet. Ohne ein Wort für die Ostdeutschen überging er, was Vaclav Havel als unmoralisches Unrecht verurteilte, ebenso 800 Jahre ostdeutscher Geschichte und ihr Recht auf die Heimat. Die Unruhe der Unrechtsfolgen, Not und Unsicherheit lasten weiterhin auf allen Menschen in der Heimat, dauerhafte Ruhe ist nur nach konstruktivem Ausgleich bei gemeinsamem Wiederaufbau, nicht aber nach einem unglaubwürdigen totalen Verzicht möglich. Der Bundespräsident hat kein in der Verfassung verankertes Recht, selbstherrlich »nach dem Willen von uns Deutschen« über die Zukunft Deutschlands und der Heimat der Ostdeutschen zu entscheiden. Er kann nicht friedensvertragliche Regelungen vorwegnehmen. Solche Erklärungen verpflichten nicht völkerrechtlich, sind aber schädlich und gegenüber den Ostdeutschen achtlos und lieblos. Die Oder-Neiße-Linie ist in keinem völkerrechtlich gültigen Akt als Grenze festgelegt, sondern nur in den von Anfang an nichtigen Geheimabkommen zwischen Stalin und dem Lubliner Komitee vom 27. Juli 1944. Viele Völker und wir brauchen die Überwindung der fortdauernden Unrechtsfolgen dieses und der Geheimabkommen von 1939. Der Bundespräsident muß nach dem Grundge-
12 N. N.: Deutschlandtreffen 1985: Rechtlich besteht Deutschland fort. In: Das Ostpreußenblatt 36 (1985) Folge 22 vom 1.6.1985. S. 1.
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setz und den die Staatsorgane bindenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts alle Positiven ganz Deutschlands bis zu frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen wahren.13 (So im Original.)
Die Versuche differenzierender Stellungnahmen wurden vergröbernd beantwortet und dem einen oder dem anderen Lager zugeordnet – und dementsprechend publizistisch behandelt: Eine statisch-polemische Konstellation. Ohne Vermittlungschancen. Verhärtete Positionen. All diese Positionierungen und Aktualitäten sind 30 Jahre später zu erinnern; man muss sie mitbedenken, wenn man Kempowskis Text liest, der in diese Stimmungslage hineingeschrieben wurde. Der Text selbst greift – wie noch zu zeigen ist – diese damals nahezu täglich präsenten Konstellationen auf und verhält sich zu ihnen.
1.2 Literatur in der konfligierenden Gesellschaft Wie wäre Anfang der 1990er Jahre angesichts einer solch publizistisch und emotional aufgeladenen Situation ein Text außerhalb von politischer Rede der einen oder anderen Partei, außerhalb von Reportage oder Wissenschaft, von Erinnerung, historischem Roman oder Sachbuch über die nicht vergehende Vergangenheit und die vergangenheitsbestimmte Gegenwart zu schreiben, ohne die Vergangenheit zu verdrängen, ohne Schuld zu verharmlosen, ohne die Rechtsansprüche aller Beteiligten zu missachten? Wie sollte ein literarischer Text möglich sein, der sich nicht (vorab oder leicht erkennbar) positionierte und dieser oder jener Position zuzuordnen wäre?14 Oder ließe sich eine Position finden, die der Gerechtigkeit ihr Recht lässt, ohne dass vorab zu bestimmen wäre, welches Recht und wessen Gerechtigkeit bemüht werden? Kann die Literatur das Politische dieser Konstellation durchbrechen und einen ästhetischen Gesichtspunkt entwickeln, der weder Partei ergreift noch neutral bleibt? Der differenziert, aber nicht indifferent ist? War nicht jeder Hinweis auf eine neue Sichtweise die Abkehr von jenem Konsens eines Eingeständnisses von Schuld – oder Verzicht auf die Anerkennung
13 B. V.: Das Recht muß respektiert werden. BdV-Präsident Dr. Czaja widerspricht Bundespräsident von Weizsäcker. In: Das Ostpreußenblatt 41 (1990). Folge 1 vom 6.1.1990, S. 2. (https://archiv. preussische-allgemeine.de/1990/1990_01_06_01.pdf). Letzter Zugriff am 19.7.2022. 14 Das ist von vielen Autoren so empfunden und wohl auch erlebt worden: »Nicht allen Deutschen kann man diese Schrift geben! […] Einige werden nur herauslesen, was sie gern lesen möchten.« Arno Surminski: Polninken oder Eine deutsche Liebe [1984]. Zit.: Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Verlag 1987, S. 72.
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von Recht? Ließe sich Kempowskis »Episode« als Revision von Vergangenheitsbewältigung lesen?15
1.3 Das unglückliche Bewusstsein als Literatur Oder gibt es ein Konzept von Literatur, nach dem sie alle ideologischen und politischen Positionen hinter sich lasse, unterlaufe oder aufhebe, zugleich aber dem Anspruch der Gerechtigkeit umfassend Rechnung trage? Bot sich zum Beispiel nicht in Hans Mayers damals viel diskutiertem Konzept des Unglücklichen Bewußtseins (1986) ein solches Verständnis an? Anlässlich des Versuchs, die Differenz von philosophischen und literarischen Intentionen zu benennen, stieß Hans Mayer auf den Begriff des Leidens und den des Konkreten. Spezifikum aller Literatur (vielleicht sogar aller Kunst) sei es, dem Leid Ausdruck zu geben. Die Wissenschaften und allen voran die Philosophie betrachte das Leid abstrakt, unter Vernachlässigung des einzelnen Menschen und seines konkreten Leids. Die Literatur hingegen mache das Leid konkret; sie zeige den Aufschrei des Einzelnen, den Pfahl in seinem Fleische: »Was gelitten wurde, hatte der Erzähler […] aufgeschrieben.«16 Unterlief der Begriff des Leidens nicht alles Ideologische und war Spezifikum der Literatur – jenseits aller Politik? Und bestand das Unglück liche Bewusstsein nicht darin, an der Differenz zwischen Anspruch und Verwirklichung unglücklich zu werden und zu leiden, am Scheitern der Ideale, an der Nichteinlösung von Versprechen und Hoffnungen, an dem »ungelösten Gegensatz zwischen Humanisierung des Denkens und Fühlens auf der einen, wachsender Entmenschlichung der gesellschaftlichen Praxis auf der anderen Seite«17 – an der »entzweigebrochen[en] Wirklichkeit«?18 Könnte allerdings eine solche Sichtweise nicht dazu führen, die Differenz zwischen Täter und Opfer, zwischen Schuldigem und Unschuldigen dahingehend einzuebnen, dass dem Täter ein dem Opfer gleichberechtigtes Leid zugestanden wird? Hieße das nicht, das Unrecht, das der eine erfuhr, dadurch aufzurechnen,
15 Karina Berger: ›Gegen den Strich‹. The Early Representation of German Wartime Suffering in Walter Kempowski’s Mark und Bein. In: German Life and Letters 62 (2009), H. 2, S. 206–219. 16 Hans Mayer: Ernst Bloch oder die Selbstbegegnung. In: Hans Mayer: Augenblicke. Ein Lesebuch, hg. von Wolfgang Hofer und Hans Dieter Zimmermann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 61–77, hier S. 77. 17 Hans Mayer: Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 12. 18 Mayer: Bewußtsein 1986, S. 12.
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dass auch dem Täter nicht wohl gewesen sei in seiner Täterrolle? War das nicht genau jene Revision, die zu befürchten war: Auch die Täter hätten gelitten? War die Schuld nicht das zentrale Thema für den Umgang mit dem Sujet?
1.4 Ursachen und Folgen: Die Frage nach der Schuld Bereits 1946 hatte Karl Jaspers zu diesen Fragen Stellung genommen: In der Tat ist das Unheil apokalyptisch. Alle klagen, und mit Recht: Die dem KZ entronnen sind oder der Verfolgung und die sich des grauenhaften Leidens erinnern. Die ihre Liebsten auf grausamste Weise verloren haben. Die Millionen Evakuierter und Flüchtlinge, die auf der Wanderschaft ohne Hoffnung leben. Die vielen Mitläufer der [NS-]Partei, die nun ausgeschieden werden und in Not geraten. Die Amerikaner und die anderen Alliierten, die Jahre ihres Lebens drangaben und Millionen Tote hatten. Die europäischen Völker, die unter der Terrorherrschaft der nationalsozialistischen Deutschen gepeinigt wurden. Die deutschen Emigranten, die in fremder Sprachumgebung unter schwierigsten Umständen leben müssen. Alle, alle. Die Klagen werden überall zu Anklagen. Aber gegen wen? Schließlich aller gegen alle.19
Der letzte Satz und die Aufzählung verdeutlichen das Problem: Gerade, weil Leid subjektiv empfunden wird, entzieht es sich der moralischen Diskussion, die aber erst und allein Unrecht als Unrecht zu erkennen und benennen vermag. Das Leiden eines Täters entschuldigt doch nicht seine Taten und exkulpiert ihn. Dass auch Mitglieder der nationalsozialistischen Institutionen ihre Familienangehörigen verloren hatten und daran litten, stellt sie doch nicht mit den Opfern gleich, denen sie Leid zugefügt haben. Jaspers fährt fort: In diesem furchtbaren Weltzustand, der zur Zeit die Not in Deutschland zur vergleichsweise größten macht, darf man den Zusammenhang des Ganzen nicht vergessen. Die Schuldfrage weist immer wieder darauf hin. In der Aufzählung der Klagenden habe ich die mannigfachen Gruppen nebeneinandergestellt in der Absicht, man möge sogleich das Ungemäße darin fühlen. Die Not ist als Not, als Daseinszerstörung wohl einer Art, aber sie ist wesensverschieden durch den Zusammenhang, in dem sie steht und durch die Stelle in ihm, der sie zugehört. Es ist ungerecht, alle auf gleiche Weise für unschuldig zu erklären. Im Ganzen bleibt bestehen, daß wir Deutschen, so sehr wir jetzt in die größte Not unter den Völkern geraten sind, auch für den Gang der Dinge bis 1945 die größte Verantwortung tragen.20
19 Karl Jaspers: Die Schuldfrage [1946]/Für Völkermord gibt es keine Verjährung [1965]. München: Piper 1979, S. 81. 20 Jaspers: Schuldfrage 1946/1979, S. 81–82.
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Zwar hatte Karl Jaspers die grobe These einer Kollektivschuld aller Deutschen differenziert: Es könne keine Kollektiv-Schuld der Deutschen in dem Sinne geben, dass auch Nicht-Täter für die Verbrechen der Täter zu bestrafen seien; man müsse unterscheiden zwischen mitschuldig und mitverantwortlich. Jaspers differenzierte daher Schuld in die kriminelle Schuld, die sich auf nachweisbare Verstöße gegen geltendes Recht bezieht; die moralische Schuld in Differenz zur Gesetzestreue (»Befehlsnotstand«), sodass das positive Recht noch einmal moralisch bewertet werden muss; die politische Mitschuld an politischen Handlungen, an denen der Einzelne durch seine Staatsbürgerschaft eine (demokratische) Mitverantwortung trägt; die metaphysische Schuld aus der menschlichen Mitverantwortung jedes Einzelnen für alle Ungerechtigkeiten in Vergangenheit und Gegenwart. Es kann aber keine Entlastung jener Art geben, dass im Leid jene Grunderfahrung aller Menschen gesehen wird, die nicht mehr nach den Urhebern dieses Leids fragt. Nach Ursache und Folge. Etwas mehr als zehn Jahre nach diesen – kaum verarbeiteten21 – Überlegungen bestätigt Theodor W. Adorno indirekt22 Jaspers’ Position: Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte. In der Aufstellung solcher Kalküle, der Eile, durch Gegenvorwürfe von der Selbstbesinnung sich zu dispensieren, liegt vorweg etwas Unmenschliches, und Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell überdies Coventry und Rotterdam hieß, sind kaum vergleichbar mit der administrativen Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen. Auch diese Unschuld, das Allereinfachste und Plausibelste, wird abgestritten. Das Unmaß des Verübten schlägt diesem noch zur Rechtfertigung an: so etwas, tröstet sich das schlaffe Bewußtsein, könne doch nicht geschehen sein, wenn die Opfer nicht irgendwelche Veranlassung gegeben hätten, und dies vage »irgendwelche« mag dann nach Belieben fortwuchern. Verblendung setzt sich hinweg über das schreiende Mißverhältnis zwischen höchst fiktiver Schuld und höchst realer Strafe. […] Die Idiotie alles dessen ist wirklich
21 M. S.: Karl Jaspers: Die Schuldfrage. In: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hgg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript 2015, S. 49–51. 22 Theodor W. Adorno hatte Karl Jaspers im Jargon der Eigentlichkeit (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964 [edition suhrkamp, 91]) vehement einer naiven Affirmation und einer vom Religiösen gelösten Bindungstheorie geziehen: »Im Lob der Positivität sind alle des Jargons Kundigen von Jaspers abwärts miteinander einig. […] Dennoch hat er’s mit der Religion, gleichviel welcher, wofern sie nur einmal vorhanden ist, da sie die benötigte Bindung gewähre oder sei, unbekümmert um ihre Vereinbarkeit mit der Vorstellung ungegängelter Philosophie, die Jaspers sich wie ein Vorrecht reserviert.« (S. 22) Gleichwohl lässt sich die Ähnlichkeit vieler Positionen, wie sich zeigen wird, kaum übersehen; mit Jaspers sollte Heidegger getroffen werden.
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Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten, einer Wunde, obwohl der Gedanke an Wunden eher den Opfern gelten sollte.23
Aber auch diese Position war für Adorno keine letzte; auch diese Position setzte er in dialektischen Bezug zu einer anderen: Denn die apokalyptische (Jaspers), weil perpetuierende und daher ziellose Aufeinanderfolge des Schreckens bewirke, dass dann »des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll«.24 Walter Kempowski kannte Adornos Texte, wie die Tagebücher zeigen. Angesichts dieser politisch, moralisch und ethisch hochkomplexen Situation schien es einfacher, zu schweigen, das Thema zu umgehen, als sich ihm auszusetzen – denn dies war mit der Gefahr verbunden, falsch verstanden und einer der genannten Positionen zugeordnet zu werden oder aber die Komplexität der Situation nicht beachtet und die gegenwärtige Situation unterkomplex bearbeitet zu haben. Walter Kempowski wagt sich an ein Thema, bei der jede Stellungnahme als Parteinahme für eine umstrittene Position gewertet wird.25
2 Kempowskis Ansatz: Die Anlage der Episode Wie ist es möglich, in einem literarischen Text unter Beachtung der politischmoralischen Konstellationen etwas zu benennen, was zugleich gerecht berichtet wie nicht verrechnet wird, was die Schuldigen schuldig nennt und die Opfer erinnert, ohne in ein allgemein Menschliches zu verfallen, nach dem alle am Krieg gelitten hätten und jeder irgendwie Schuld sei? In der Episode Mark und Bein versucht Walter Kempowski eine Möglichkeit auszuloten. Der Text besteht aus drei Zeit-, Handlungs- und Personeneinheiten: In der ersten Einheit werden die Lebensumstände der zentralen Gestalt Jonathan Fabrizius in Hamburg geschildert (Kap. 1–7/8, S. 9–87/103), eingeschlossen als Übergangskapitel ein Treffen am Flugplatz (Kap. 8, S. 88–103). Die zweite Einheit umfasst eine Erkundungsreise in Polen (Kap. 9–18, S. 104–231). In der dritten
23 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971 (suhrkamp taschenbuch, 11), S. 10–28, hier S. 11–12. 24 Adorno: Aufarbeitung 1970, S. 10. 25 Über den Bezug Kempowski-Jaspers vgl. Johannes Gerhardus Cronje: Vom Umgang mit der Schuld. Zu Walter Kempowskis Romanen Tadellöser und Wolff (1971) und Uns geht’s ja noch gold (1972). Stellenbosch 2009 Masterarbeit (https://scholar.sun.ac.za/bitstream/handle/10019.1/2173/ cronje_ungang_2009.pdf?sequence=1&isAllowed=y). Letzter Zugriff am 19.7.2022.
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Einheit wird, sehr kurz, die Wiederankunft in Hamburg (Kap. 19, S. 232–237) thematisiert. Die Schilderung der Reise beansprucht mit der Hälfte der Kapitel nur etwas mehr als die Hälfte des Textes.
2.1 Die Leseanweisung Wie so oft in Kempowskis Texten beginnt auch diese Episode mit einer Leseanweisung. Dem Leser wird jenes Verfahren vorgestellt, mit dem der Text zu lesen sei, wenn man ihn denn so verstehen will, wie er vom Autor (nicht vom Erzähler) gemeint ist. Folgen wir also dem Text: Im zweiten Wort des Textes wird »Hamburg« als erster Schauplatz der Handlung angegeben, und in den Sätzen danach die »Isestraße«, die dem Kempowski-Leser bereits aus dem zweiten Band der Deutschen Chronik bekannt ist, der den ironischen Titel Schöne Aussicht (1981) trägt. Bekannt ist dem Kempowski-Leser die Straße auch aus dem Roman Hundstage (1988), dem Beginn einer zweiten Chronik. Häuser ständen dort, wurde in beiden Texten berichtet, mit »Ausblick vorne auf die Hochbahn und hinten raus zum Isekanal«,26 »alte Häuser mit märchenhafte[n] Wohnunge[n]«.27 Auch in Mark und Bein gibt es eine Wohnung in ruhiger Traumlage mit Ausblick und schöner Aussicht inmitten der lärmenden Großstadt: Jonathan »äußerte […] die Ansicht, daß es wundervoll sei, hier, in der Isestraße zu wohnen.« (MuB 68) Wundervoll? Märchenhaft? Wirklich? Der schöne Traum ist gestört, kaum merklich, aber dennoch. Denn der Kanal, auf den man aus der märchenhaften Wohnung blickt, ist in Wirklichkeit ein »trüber« Seitenarm der Alster, auf dem nun auch noch Touristen stören, die »mit Tretbooten umherfahren« (MuB 10). Dieser winzige Riss im Traumbild erweist sich als Anlageprinzip des gesamten ersten Abschnitts. Nichts ist bei genauerem Hinsehen so, wie es scheint; nichts ist, wie es vorgibt zu sein. Die Isestraße wird zum Modell und zum Symbol der trügerischen Idylle: Die Häuser mögen »herrschaftlich gebaut« sein, eine »triumphierende Jahreszahl am Giebel« tragen, sie mögen an »Paris, London oder Mailand« erinnern – aber im Unterschied zu diesen Städten mit ihren Prachtbauten ist hier in Hamburg nur »noch« (MuB 9) ein einzelner Straßenzug »stehengeblieben«. Dieses letzte Wort steht als einziges des Abschnitts in Parenthese. Es scheint also bedeutsam zu sein. Das Idyll ist kein Idyll und kann auch kein Idyll sein, weil man ihm jenes Schreckliche »noch« ansieht, seine Zufälligkeit, das Partiku-
26 Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 435. 27 Walter Kempowski: Hundstage. Roman. München/Hamburg: Knaus 1988, S. 386.
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lare und Partielle: Denn »[r]ringsumher [waren] Feuersturm, Explosionen und Verschüttungen« (MuB 9) gewesen. Es zeigt sich, dass der gesamte Erzähleingang genau dieser Ambivalenz detailliert nachgeht – so, wie es schon beim Blick aus dem Wohnhaus vorgeführt wurde. Die Stille der Straße ist trügerisch, denn es »donnert alle fünf Minuten die Hochbahn über stählerne Schienenträger« (MuB 9–10); die Flächen unter der Hochbahn scheinen frei zu sein, aber in Wirklichkeit werden sie von Autos verstellt,28 die nur dem Wochenmarkt weichen. Aber wenigstens »noch« die Idylle des »Bauernmarktes« (MuB 10) inmitten großstädtischer Betriebsamkeit? Nein, denn auf ihm werden keine lokalen Produkte von (hiesigen) Bauern angeboten, sondern »Schwarzwälder« Brot und »unreife Südfrüchte«. Und die Tiere dort sind keine Tiere in einer »heilen Welt« (MuB 87), sondern »Schlachtgeflügel« (MuB 10), »zu Tode gequäl[t]« (MuB 40). Alles ist Täuschung, wenn man nur richtig hinsieht. Nichts ist so, wie es vorgibt zu sein – wenn man nur richtig schaut. Man sieht es der Isestraße zuerst nicht an – aber das genau ist das Skandalon, der Schmerz: Diese Heile Welt der Isestraße ist bei genauerer Betrachtung wie ein Fremdkörper in der rundherum zerstörten Stadt, und selbst das Heile ist auch in sich nicht mehr heil. Und so reimt es sich: »Isestraße – miese Straße – fiese Straße.« (MuB 206). Eine bekannte Hamburger Redewendung, wer sie ausspricht, bleibt unklar, die aber hier eine ganz neue Bedeutung bekommt. Der einzige Grund dafür, warum das Scheinidyll überhaupt noch vorhanden ist, stehengeblieben wie ein Museum, ein Mahnmal, ein Denkmal, ein Symbol eben, ist – der Zufall: »Die Isestraße wäre nicht ›stehengeblieben‹ im Krieg, wenn die Bombenschützen der alliierten Luftflotten eine hundertstel Sekunde früher oder später auf den Auslöseknopf gedrückt hätten.« (MuB 9) Und die Stadt wäre noch weiter zerstört worden, »wenn sich das hätte machen lassen« (MuB 10) – wenn es dazu die rechtlichen und technischen Möglichkeiten gegeben hätte. Das Überleben ist ein einziger Zufall, es gibt keine sinnvolle Erklärung für das Leben. Die Überlebenden können nicht stolz auf etwas sein, sie haben nichts bewegt – sie sind lediglich »stehengeblieben«. Der erste Abschnitt des ersten Kapitels gibt die Perspektive und die Betrachtungsweise an: Nichts mehr scheint mit sich selbst in Übereinstimmung zu sein. Gibt es überhaupt etwas, was es selbst ist? Diese Frage leitet den auslotenden
28 Die intendierte negative Konnotation lässt sich aus dem Schreibprozess belegen: »Die Menge der in Hamburg herumstehenden Autos ist enorm. An diesem ›Individualverkehr‹ muß unsere Welt kaputtgehen.« (Kempowski: Hamit 2006, S. 352.)
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Blick des Erzählers auf die Isestraße.29 Die Frage ist, ob dieses Deutungsmuster nur auf Hamburg und die Isestraße zutrifft – oder auch auf andere Regionen, z. B. auch auf jene Regionen, die als »gottverlass[en]« (MuB 24) bezeichnet werden. Ist mit dieser Einleitung die Zufälligkeit einer Straße, einer Stadt oder eines Landes beschrieben – oder zeigt sich hier vielleicht der Zustand der Welt insgesamt? Ist die Welt das, was sie zu sein vorgibt, gar nicht? Was ist die Welt dann? Die Antwort ist zu ahnen: Am Beginn des Kapitels 10 (auf die Seite genau in der Mitte des Gesamttextes) wird an einem Gebäude der Stadt Danzig/Gdańsk exakt das beschrieben, was an der Isestraße in Hamburg zu beschreiben war: Die »Giebel mit frühlingshaften Ranken und einer triumphierenden Jahreszahl«, die »Wände des Treppenhauses waren gefliest«, die »ehemals herrschaftlichen Aufzüge« in dem »stehengebliebenen Altbau« (alle Zitate MuB 123 bzw. MuB 9) – alles ist »ähnlichen Musters wie in der Isestraße in Hamburg« (MuB 127). Und auch in Danzig/Gdańsk wurde um dieses erhaltene Haus herum alles zerstört, von Deutschen zerstört. Waren die Bomberpiloten über Hamburg die Strafe für die Schuld der Deutschen vor Danzig/Gdańsk (»Ein Drittel der Bevölkerung ausgerottet und alle Städte zerstört« [MuB 145])? Gilt demnach für die Welt, was für eine Figur gilt: Sie »war überraschend leicht: Sie war hohl« (MuB 62)? Oder wäre es doch nicht so schlimm, wenn alles Ersatz ist, solange die Idee erhalten bliebe? »Jedes einzelne Teil zwar schon ausgewechselt, im ganzen aber eben doch original.« (MuB 38) Kempowski bezieht sich hier auf das Theseus-Paradoxon30 und die Frage, ob ein Gegenstand noch er selbst oder mit sich identisch sei, wenn all seine Bestandteile ausgewechselt wurden. Wie dem auch sei: Das Lesemodell des ersten Kapitels, das die Nichtidentität der Welt aufspürt, erhebt ubiquitären Anspruch: So, wie in der Isestraße in Hamburg wahrgenommen wurde – so soll nunmehr die ganze Welt betrachtet, erfahren werden.
29 Und der Leser darf erwarten, dass der Erzähler dieses Deutungsmuster beibehält, was auch immer ihm begegnen wird: Die Geschichte hat keinen Sinn; was als Geschichte bezeichnet wird, ist Zufall, abhängig von einer »hundertstel Sekunde« – und wer einen Sinn in die Geschichte hineindeutet, wer das eigene Idyll kultiviert, kann dies nur, wenn er den Zufall ringsherum vernachlässigt oder vergisst. Aber das wäre … inhuman. Erinnerung hat den Sinn, dieses ringsherum völlig Zerstörte im Gedächtnis zu behalten, jedes noch so liebenswürdige Idyll als zwar verständlich aber zufällig, unverdient und trügerisch aufzudecken, als Selbsttäuschung. 30 Plutarch: Theseus. In: Ders.: Lebensbeschreibungen. Gesamtausgabe. Bd. I. Mit einer Einleitung von Otto Seel. München: Goldmann 1964, S. 30–61, hier S. 47.
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2.2 Anlage der Erzählperspektive/Multiperspektivität Der Erzähler stellt sich selbst nicht vor, sondern erscheint nur im Sprechen. Er ist eine Haltung, die beschreibt und gelegentlich kommentiert. Der Erzähler ist überall, sogar in dem, was gar nicht sein kann, etwa bei der zentralen Person des Textes, bei Fabrizius: Der »wußte alles, auch das, was er [sein Onkel] ihm noch nicht erzählt hatte.« (MuB 59) Oder wenn der Erzähler eine »ziemlich theoretische Ansicht« kolportiert, die die Protagonisten jedoch »nur vertraten, wenn sie unter sich waren.« (MuB 66) Der Erzähler ist keine Person, sondern ein Prinzip. Ein Prinzip, das die Protagonisten einsetzt, um sich Welt aneignen zu können. Er übernimmt Innenperspektiven zahlreicher Personen (»und er stellte sich vor«, MuB 164), er zitiert Verstorbene (»flüsterte er seinen Kameraden zu, und die sagten es weiter: ›Sein Sohn hat nach ihm gesucht.‹«, MuB 231), er berichtet aus der Perspektive von Tieren (»Die Fische aber, im Wasser, kämpften schwer atmend gegen ihre Metastasen an«, MuB 39) und schließlich selbst aus dem Bewusstsein der Dinge: »[D]iese Scheune hatte alles überlebt« (MuB 196) – heißt es, und nicht »alles überstanden«, wie zu erwarten gewesen wäre: Ein Ding als Lebewesen. Oder: »›Diese Ziegel könnten mehr als ich erzählen…‹« (MuB 159). Oder: »[D]ie Schreie der Opfer hafteten noch in den Wipfeln« (MuB 172), in Anspielung auf Wanderers Nachtlied (Ein Gleiches) von J. W. Goethe, der allerdings in allen Wipfeln »kaum einen Hauch« spürte.
2.3 Die Hauptperson: Das »Man« Ein Gegenstand dieses identitätslosen Erzählens ist etwas nicht genau zu Fassendes, ein Komplex stillschweigender Weltdeutung, den das Erzählen zur Sprache bringt, ein sozialer Konsens, der wie eine klebrige Masse auf allem lastet und alles so belässt, wie es ist: »Friede, Freude, Eierkuchen war angesagt, wenns um die Nachbarn im Osten ging.« (MuB 53) Der Leser spürt, was »angesagt« ist, weiß aber nicht, wer es ist, der da etwas sagt. Der Erzähler versucht im grammatisch falschen Singular des Man eines Konstrukts dessen habhaft zu werden, was gemeinhin gilt. Es ist nie ganz in einer Person, und doch zugleich in allen. Es ist die heimliche Hauptperson der Episode: Das »Man« des kollektiven Bewusstseins. Die Reaktionen und Urteile der Akteure in diesem Konsensgeschehen sind vorhersehbar, bekannt, und sie sind ausgrenzend: »Daß er dieses Werk nicht offen mit sich herumtragen konnte […], das war ihm klar, da hätten ihn die Leute ja ohne weiteres für einen kalten Krieger gehalten.« (MuB 57) / »Wenn sie das nicht täte, dann käme man ihr am Ende mit der Gleichberechtigung!« (MuB 86) Zahllos
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sind die Sätze, die dieses allgegenwärtige »Man« ansprechen: »Einst hatte man die Sittenstrenge des Ordens gerühmt« (MuB 155). Oder: »Dieses Lokal war eine Oase, da konnte man sich Istanbul getrost sparen …« (MuB 45): Dieser mit drei Punkten endende Satz gibt nicht allein den unausgesprochenen aber latenten inneren Monolog eines der Protagonisten wieder, die in diesem Lokal sitzen; vielmehr bedienen sich die Gäste bei ihrem nur scheinbar individuellen Sprechen jener kollektiven Befindlichkeit, die auch, aber nicht nur, aus ihnen spricht. Die anderen Verfahren, die das Unpersönliche des »Man« zur Sprache bringen können, sind das Passiv und der Konjunktiv der indirekten Rede: Es »wurde gewispert«, dass etwas »gewesen sei« (MuB 107). Um die Verfassung dieses »Man« geht es dem Erzähler. Eine personenlose Physiognomie sucht er zu umreißen; das »Man« ist spürbar, aber ohne Masse und Gestalt. Mächtig, aber ohne Gewalt. Keine Person vertritt es ganz, keine Institution ist dafür zuständig – und doch ist dieses »Man« in allem. Es ist der stillschweigende, machtvolle Konsens, der sich nicht stören lässt, der schon vorher weiß, wie etwas zu verstehen und zu bewerten ist. Ein Allgemeines, das nie richtig zu greifen ist und doch von allen Besitz ergriffen hat. Es liegt in der Phrasenhaftigkeit des Alltags offen zu Tage. Frau Winkelvoss vor allem wird es artikulieren.
2.4 Der Protagonist als Medium Das Lesemodell des Erzählers braucht ein Medium. Es braucht ein Medium, das die Welt sucht und prüft. In Bloomsday ’97 (1997) wird Kempowski dieses Medium in einem Fernsehzuschauer mit Fernbedienung gefunden haben: Kempowski nimmt den Bildungsanspruch des Bildungsfernsehens ernst und zeichnet nur auf, was dieses Medium selbst sagt. So wie Karl Kraus nur zitieren musste, um die Presse sich selbst entlarven zu lassen, zitiert Kempowski das, was er hört, nur um im Prozess der Verschriftlichung des Gesprochenen am Einzelnen den Zustand des Ganzen zu zeigen. Im Schriftbild wird die Selbstzerstörung des Bild-Mediums deutlich. (In Mark und Bein wird diese Kritik vorweggenommen: Die Medien sprechen das erwähnte schweigende Allgemeine aus, und dann »würde man zu hören bekommen, was man über dieses Ereignis zu denken hat.« [MuB 39] Hier zeigt sich die Bemächtigung der Medien durch das »Man«.) Der Autor muss nur verfremdend zitieren und neu zusammenstellen, und nimmt schon dadurch einer Sache den Schein, mit dem sie sich umgibt. Bereits in Mark und Bein verfährt Kempowski so. Die Hamburger Erfahrung in der Welt auszuloten, das ist das Wahrnehmungsmodell des Textes: Aus dem Fernsehzuschauer, der von Augenblick zu Augenblick, von Begebenheit zu Begebenheit zappt, ist Jonathan Fabrizius geworden, und statt des Bildungsfernsehens ist
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die Bildungsreise als Medium gewählt, auf der aus der Nähe betrachtet und näher geprüft werden kann. Die Hauptperson ist von Beruf Journalist/Reiseschriftsteller (MuB 176, MuB 210), 43 Jahre alt, ein »Sonderling« (MuB 210), ein »Autor, der vergeblich das zu vollbringen suchte«,31 was anderen Autoren gelang. Ihm zugeordnet sind die Kunsthistorikerin Ulla Bakkre de Vaera in Hamburg, und die etwas naive, schrecklich patente und unbedacht daher plappernde Anita Winkelvoss, sowie der grob-pragmatische Rennfahrer Hansi Strohtmeyer, die beide Fabrizius auf seiner Polenreise begleiten. Der Sonderling – nicht aber Außenseiter32 – Jonathan Fabrizius ist das Zentrum, an dem sich die Ereignisse und Begebenheiten wie Eisenspäne an einem Magnetkern sammeln. Seine Blicke erheischen Antworten. Er selbst will nichts. Statt des Fernsehers, der die Welt zeigt, ist das Auge gewählt, das die Welt sucht: »Das beste an ihm waren seine Augen« (MuB 10). Fabrizius ist das Auge zur Welt. Interesselos: »Ich bin hier in Hamburg und habe mein Auskommen […]. Was geht mich Ostpreußen an?« (MuB 26). Das ist die richtige Frage: Was geht ihn etwas an? Sine ira et studio, die ambitionierte Leidenschaftslosigkeit. Fabrizius »verfügte über eine intakte Schulbildung« (MuB 148) und ist daher nur ein trostloser Nachfahre Fausts: »Jonathan hatte allerhand studiert, Germanistik, Geschichte, Psychologie und Kunst« (MuB 10) – »und da saß er nun«, so die Kontrafraktur des Faust-Monologs, »mit seiner Klarheit und Wahrheit, und er sah sich um […]. Wozu sollte sie [die »Veredelung seiner Ganglien«] ihm taugen?« (MuB 11) Der arme Tor ist nach seinem Studium genau so klug als wie zuvor. Das Studium hatte keinen Nutzen und keinen erkennbaren Sinn: »Was sollte er beginnen mit der Veredelung seiner Ganglien?« (MuB 11) Dass es so ist, wie es ist, liegt am Stufengang dieser Studien, der sich allein schon an einer Adverbvariation in nur einem einzigen Satz ablesen lässt: Hinein, hinauf, hinaus, hinweg (MuB 10–11). »Hinein« ins Wissen, den »Aufstieg« in dem Wissen bis an den Endpunkt, dann »über« das Wissen »hinaus« – aber schließlich nicht, wie die klassische Bildungstheorie seit Meister Eckhart oder Heinrich Seuse es vorsah, zurück in die Welt – sondern »hinweg« ins Nichts (MuB 11). Die Anspielung ist überdeutlich: »Entbilden, einbilden und überbilden bezeichnen […] den Stufengang«33 der humanistischen Bildungsidee, in dem das Subjekt sich von
31 Über Fabrizius, bereits in: Kempowski: Hundstage 1988, S. 280. Auch hier der Bruch in der Person. 32 Vgl. zur Unterscheidung Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 22–23. 33 Winfried Böhm: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. München: Beck 2004 (Beck’sche Reihe, 2353), S. 43.
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sich selbst entfremdet, um sich, im Gang durch die Welt, verändert wiederzufinden. Dieser vierte Schritt führt bei Fabrizius jedoch ins Nichts. Der geschulte Ungebildete, der gelehrte Nichtsnutz, der ungebildete Gelehrte, ausgestattet mit zweckfreier Schreibkompetenz, mit interesselosem Wohlgefallen (aus »reinem Interesse« [MuB 76] heißt es in Kant’scher Diktion, als Interesse an der Sache, das keine Ab-Sichten hat) – das hat sich bei ihm nach dem Durchlaufen der üblichen Bildungsgänge eingestellt. Und so sagen die Leute über ihn: »›Er mag sein, wie er will […] aber irgendwie … ich weiß es nicht …‹« (MuB 10) Das aber ist die beste Voraussetzung, um für den Erzähler die Welt vorurteilsfrei wahrnehmen zu können. Und genau diese Art der Weltaneignung beherrscht Jonathan Fabrizius: Denn seine Augen sorgen für eine unvoreingenommene Wahrnehmung, sein Blick ist ohne Absicht: »[W]eder kurz- noch weitsichtig, registrierte er alles, was ihm begegnete.« (MuB 10) Er nimmt nicht Partei, er »wusch sich die Hände«, allerdings nicht in Unschuld (Matthäus 27, 24), sondern »wie ein Chirurg« (MuB 26), der die sichtbare Hülle des Körpers aufschneidet, um das bisher unsichtbare Innenleben anzusehen. Dieser leidenschaftslose Blick ist keine Empirie, nicht die Berichterstattung eines Augenzeugen in einer Reportage, sondern die Zusammenführung von Begriff und Anschauung, Anspruch und Wirklichkeit, von Intention und Realisation: So mag es der »Augenmensch« nicht, wenn er von einem seiner Themen »keine sinnliche Anschauung« hat. Er benötigt sie. Wozu? Und nun kommt eine jener vielen sprachlichen Feinheiten, die die leicht klingende Prosa Kempowskis so besonders machen: Keinesfalls ist die sinnliche Anschauung das eigentliche Ziel seiner Arbeit, vielmehr muss sie »vorhanden« sein, um »sie in einem Essay zu beschreiben« (MuB 26). Nicht das Angeschaute wird beschrieben, sondern die Anschauung, das innere Erleben anlässlich eines Angeschauten.34 Zu erwarten sind von Fabrizius keine Reportagen über Gesehenes, sondern Berichte über seine Empfindungen beim Anschauen, also »Vergangenheitserlebniss[e]« (MuB 236). Er steht für den interesselosen Blick durch das Scheinbare: Mit dieser Perspektive will der Erzähler die Welt erkunden, um zu prüfen, ob sie insgesamt so brüchig ist, wie es sich an der Isestraße mit leichter Hand nachweisen ließ. Der Erzähler führt sein Medium, das kenntnisreich und aufgeschlossen ist, in die Welt. Als interesseloses Medium will es nichts von der Welt; es hat keine
34 In einem Notat bemerkt Kempowski, dass er scheitert, wenn er versucht, das Angeschaute, und nicht die Anschauung, zu beschreiben: »Ich habe den Gegenstand fest vor Augen, die treffenden Formulierungen kommen herbei, ich knalle sie aufs Papier, und doch wackelt die Sache [...] Der ganz feste Griff fehlt […].« (Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970, hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 386.)
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Erkenntnisabsichten, sondern nur eine sensible Wahrnehmung. Es nimmt im (eingangs geschilderten) Wettstreit der weltanschaulichen Positionierungen keine Stellung ein. Es ist jemand und ist zugleich doch ein Niemand; in ihm spricht etwas – ja, die Dinge sprechen in ihm. In ihm spricht die Welt, so, wie sie sich ihm darstellt, als Anblick und Anspruch. Er ordnet sich nach dem, was ihm mit dieser Art des Blicks widerfährt: »Er starrte vor sich hin, und er hatte den Eindruck, nicht er war es, der nachdachte, sondern es dachte nach in ihm. […] [I]n seinem Gehirn [wurde] Ordnung geschaffen.« (MuB 61) Etwas zu finden, wonach man nicht sucht: Hier werden mehrfach pädagogische Prinzipien bemüht, und dies sogar explizit: Jonathan lehnt, so mag’s zuerst scheinen, die bestallten Pädagogen ab, von denen er zwar unterrichtet, nicht aber gebildet wurde. Er verzichtet zum Beispiel auf eine »didaktisch aufbereitet[e] Tonbildschau« (MuB 212). Der Erzähler überlässt Frau Winkelvoss die Erklärung hierfür. Sie bemerkt allerdings nicht, was sie mit dem sagt, worüber sie lamentiert, die Paradoxie nämlich, wenn Schulunterricht versucht, Betroffenheit zu wecken oder zu verordnen: »Sie habe einen Lehrer gehabt, der habe von morgens bis abends von diesen Judensachen erzählt, immer diese schrecklichen Bilder gezeigt, jahrelang, also, ihr Bedarf sei gedeckt.« (MuB 219) Diese Art der pädagogischen Intervention, die die Kinder mit kollektiver Gesinnung beherrschen will, missachtet deren Autonomie. Eine solche Pädagogik muss scheitern, weil sie das Gegenteil von dem zur Folge haben wird, was sie bewirken will: Leidenschaft für die Menschen. Der Bedarf an weiterer Bildung sei gedeckt, eine euphemistische Redewendung des Alltags, die dezent das völlige Desinteresse bekundet. Jonathan, der interessenlos Interessierte, will nicht aus Kalkül (und sei es dem »Man« noch so gesinnungstreu) betroffen gemacht werden, er »verzichtete auf Belehrung, er strebte dem originären Erlebnis zu« (MuB 212). Hier fällt ein Fachbegriff aus der Volksschulpädagogik der 1950er Jahre, vertreten von dem Lernpsychologen Heinrich Roth (1906–1983). Seine Beobachtung war, dass Lerninhalte durch die damals übliche Didaktisierung und Moralisierung gerade von dem entfremdet werden, was die Bedeutung ausmacht, auf Grund derer sie in den Lehrplan aufgenommen worden waren. Aus Leben werde (Lern-)Stoff. In der »originalen Begegnung« (wie Roth sein Verfahren nennt) wird der Unterrichtsgegenstand didaktisch gerade nicht entfremdet aufbereitet (also interessegerichtet reduziert), sondern in seiner problemlösenden Sinnfälligkeit, dem »eigentlichen Wesensgehalt«35, gelernt. Es ist das interesselose Interesse an dem So-Sein eines
35 Vgl. die Textauswahl: Walter Jungmann/Kerstin Huber (Hgg.): Heinrich Roth – ›moderne‹ Pädagogik als Wissenschaft. Weinheim/München: Juventa Verlag 2008 (Pädagogische Klassiker des 20. Jahrhunderts), S. 148. Dort eine knappe Übersicht.
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Sachverhaltes, an der immanenten Zweckmäßigkeit der Sache, eine absichtslose und selbsttätige Aneignung, die weder auf akute und zufällige Betroffenheiten beim Lernenden noch auf lebensweltliche Anwendung oder kulturelle Moralisierung schaut. Insofern soll der Gegenstand künftig absichts-los gelehrt werden. Der Lernende verlässt seine zufällige Interessenlage (er ent-bildet sich, wie es bei Eckhart oder Seuse – siehe oben – hieß, er gerät außer sich), und widmet sich ganz dem Gegenstand, der in seiner ihm selbst zukommenden Bedeutung erfahren wird (er bildet sich in ihn ein). Der Gegenstand soll aus seinem eigenen Grund verstanden werden. So wird, ganz von der Sache her, die Lernsituation zu einem fruchtbaren Moment, zum Exemplarischen (wie es in der pädagogischen Fachsprache heißt), zu einem »Bild« (MuB 141) also, an dem alles deutlich wird, was die Bedeutung des Gegenstandes ausmacht: Das Bild »würde sich ins Symbolische verdichten und die Zeiten überdauern« (MuB 141) – ein Verfahren, das Frau Winkelvoss falsch und wiederum zugleich unfreiwillig richtig als »Anschauungsunterricht« (MuB 213) bezeichnet. Es geht nicht (wie sie meint) um das (optische) Anschauen, sondern um die (in der Fachsprache mit dem Wort gemeinte) Anschaulichkeit, die sinnstiftende Erkenntnis des Gegenstands. Der Unterricht spinnt einen langen, dünnen, weichen Faden; den der Glockenschlag zerreißt und wieder knüpft; der in jedem Augenblick die eigene Geistesbewegung des Lehrlings bindet, und, indem er sich nach seinem Zeitmaß abwickelt, ihr Tempo verwirrt, ihren Sprüngen nicht folgt und ihrem Ausruhen nicht Zeit läßt. Wie anders die Anschauung! Sie legt eine breite, weite Fläche auf einmal hin; der Blick, vom ersten Staunen zurückgekommen, teilt, verbindet, läuft hin und wider, verweilt, ruht, erhebt sich von neuem, – es kommt die Betastung, es kommen die übrigen Sinne hinzu, es sammeln sich die Gedanken, die Versuche beginnen, daraus gehen neue Gestalten hervor und wecken neue Gedanken, – überall ist freies und volles Leben, überall Genuß der dargebotenen Fülle! Diese Fülle und dieses Darbieten ohne Anspruch und Zwang, wie will es der Unterricht erreichen!36
Soweit der Klassiker zu diesem Thema, Johann Friedrich Herbart. In diesem Sinn stellt Fabrizius etwas her, er verdichtet, er komprimiert, sodass sein Name nicht zufällig mit dem lateinischen Verbum fabricare (herstellen, bilden) korreliert: In einer Reflexion über die Namen der Hauptpersonen, die der Erzähler an einer Stelle konzentriert (MuB 43–44) durchführt, heißt es: »[D]enn was bedeute Fabricius denn anderes als Schmidt?« (MuB 43) Er schmiedet, er ver-
36 Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Pädagogik. In: Ders.: Joh. Friedr. Herbarts Pädagogische Schriften, hg. von Dr. F. Bartholomäi. Bd. I. Langensalza: Verlag von Hermann Beyer & Söhne 1896, S. 1–278, hier S. 167–168.
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dichtet Augenblicke zu »magischen« (MuB 132), zu (wie der »große Pädagoge«37 Friedrich Copei [1902–1945] es nannte) fruchtbaren »Momenten« (MuB 132–133)38 – also zu Augenblicken, in denen komplexe Zusammenhänge auf einmal erkannt werden. Das Allgemeine wird an einem Einzelfall zum Besonderen. Zum Symbol. Im fruchtbaren Moment erklärt sich der Gegenstand dem, der ihn verstehen will, von selbst – was übrigens Frau Winkelvoss, trotz ihrer Oberflächlichkeit, an Fabrizius bemerkt: Sie hatte Fabrizius in einem solchen »Moment«, in dem er den Tod seiner Mutter in all der Tragik plötzlich verstand, »da stehen sehen, wie angenagelt, und da habe sie gedacht: Den mußt du jetzt sofort rufen, sonst passiert was, sie habe es gespürt, daß etwas Besonderes um ihn gewesen sei.« (MuB 211) In diesem ganz speziellen Sinne ist Fabrizius fähig, die Magie und damit Bedeutsamkeit von Momenten für das Leben zu erkennen, ohne die Erkenntnis in penetrante Gesinnung umzuwandeln: »Er fühlte sich unbeteiligt und war doch ganz bei der Sache, er war ›außer‹ sich und doch im Bilde.« (MuB 202) (Ganz anders als Frau Winkelvoss, die ihn am falschen Ort auf die falsche Weise zum falschen Thema »über Sizilien belehren« [MuB 213] will.)
2.5 Fabrizius’ Fahrt Der Erzähler schickt den subtil aufnehmenden Fabrizius los, um etwas zu finden, wonach er gar nicht gesucht hat: Eine kleine Weltenreise in eine Region, räumlich ganz nah und gedanklich doch so fern wie die Antarktis. Keine Irrfahrt allerdings, keine Odyssee wird beschrieben, nach der ein Held Abenteuer besteht und zurückkehrt in eine Heimat, in die wohl geordnete Welt. (Jonathans Rückkehr ist das genaue Gegenteil. Er kommt in die Auflösung seiner Vergangenheit zurück, in seine Wohnung, seine Welt: »Sie war leer!« [MuB 234]) Die »Episode« ist kein »Auszug des Helden, der Abenteuer suchen […] will«,39 kein »Panorama der […] Gesellschaft und des menschlichen Lebens«40 aus naivem Idealismus eines Helden, der eigenhändig gegen Windmühlenflügel kämpfen oder jeman-
37 Kempowski: Somnia 1991, S. 37. 38 Zu weiteren pädagogischen Bezugsautoren Kempowskis vgl. Volker Ladenthin: Pädagogik. In: Carla Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020, S. 297–312. 39 Walter Kempowski: Miguel de Cervantes Saavedra. In: Ders.: Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere, hg. von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2011, S. 58–60, hier S. 59. 40 Kempowski: Saavedra 2011, S. 60.
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den »befreien will«.41 Sondern geschrieben wurde nur eine »Episode«, jene Text sorte, die »zwischen die Chorgesänge«42 im altgriechischen Drama eingeschoben war, eine Nebenhandlung beinhaltend, eine für den weiteren Verlauf des Lebens scheinbar unbedeutende Begebenheit, eine Exkursion, die allerdings das Leben ändern wird. Und so lautet der letzte Satz im Buch, in ironischer Offenheit: »Was das nun wieder zu bedeuten hatte?« (MuB 237) – ironisch, weil am Anfang zu lesen war: Das »wird eine Reise, die Sie nie vergessen werden.« (MuB 72) Zunächst einmal: Nicht Fabrizius will diese Fahrt, sondern sie wird ihm angeboten. Er ist völlig interesselos, ja sogar desinteressiert: »Jonathans erste Reaktion war nein!« (MuB 24) Aber dann denkt er nach und revidiert sein Urteil (»Oder doch?«, MuB 24), aber nicht aus Interesse an der Sache, sondern weil er einen Hintergedanken hat: Er würde »zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen« (MuB 26), nämlich Geld verdienen und dabei Wissen über etwas sammeln, das ihn kunstgeschichtlich und beruflich interessiert, Materialien und Anschauungen über die Backsteingotik, die er für einen Aufsatz verwenden könnte, mit dem er wiederum Geld verdienen kann. Der Sponsor der Reise aber will etwas anderes; er lobt, was auch den Erzähler eingenommen hat, nämlich Fabrizius’ »unbestechliche Feder«. (MuB 23) Er schreibe nicht tendenziös, nicht aus Absicht über eine Sache; vielmehr sei er bekannt für seine »einfühlsamen Text[e]« (MuB 23). »Er sei in allem gänzlich frei« (MuB 24). (Das ist der Grundsatz aller modernen Kunsttheorie.) Er solle prüfen, »ob vielleicht was Sehenswertes in der Gegend herumsteht« (MuB 23) – und hier fällt der alte Begriff aus der Ideologie der Bildungsreise: Das Sehenswerte, die Sehenswürdigkeit. Was aber ist des Sehens wert? Woran bemisst sich der Wert des Gesehenen? Gibt es einen Kanon, dem zu entnehmen, eine Skala, an der abzulesen ist, was es wert ist, betrachtet und beschrieben, also ein Erlebnis und anschaulich zu werden? Der wendige Herr Wendland zumindest kennt keine solchen Normvorgaben, er ist ratlos: »Gutsschlösser vielleicht, […] irgendwie« (MuB 23) – das Gängige halt, aber ihm ist klar, dass ein solcher Auftrag eine Zumutung wäre für eine unbestechliche EdelFeder wie Jonathan: das übliche Irgendwie zu bedienen. Daher will er ihn auch nicht auf eine Rundreise schicken, die das Gewöhnliche wiederholt und abschildert, sondern auf eine »Probetour«. Es geht um ein Geschmacksurteil, ganz im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts, eine Urteilsform also, die die Regeln der Beurteilung erst im Vollzug findet. Fabrizius soll »kulturell mal abschmecken« (MuB 23), was er findet. Etwas abzuschmecken heißt, nach dem Richtigen erst noch zu suchen; das Angerichtete zu prüfen und nunmehr zu einem Gericht zu
41 Kempowski: Saavedra 2011, S. 59. 42 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner Verlag 1969, S. 221.
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machen, zu verdichten. Fabrizieren. Erwartet wird ein Text, der das Widerfahrene nicht einfach an Üblichem bemisst, der nachprüft, ob etwas Erwartetes auch vorhanden ist – also eine Art Reiseführer. Derer gibt es genug, und sie langweilen, weil schon vorab geklärt ist, was in ihnen stehen wird: Das noch Unbekannte an allgemein akzeptierten Gesinnungen gemessen, um auch das letzte noch Fremde dem Gerede und den Konventionen der üblichen Perspektiven gleichzumachen. Fabrizius hat verstanden. Er beginnt denn auch sogleich die Welt anzuschauen, allerdings auf seine Art, und sein erster Fund und damit Befund lautet: Die Welt ist »sonderbar und widernatürlich« (MuB 24). Er schaut etwas so Banales an wie einen alten Reiseatlas, und sofort fällt ihm, der unvoreingenommen sehen kann, etwas auf (»sonderbar«, MuB 24). Etwas fällt ihm auf, weil dieses Etwas nicht seiner ihm eigenen Natur entspricht, also »widernatürlich« (MuB 24) ist – gegen die eigene Natur/Intention. Die »Natur einer Sache«, damit meint der philosophische Sprachgebrauch das »Wesen« einer Sache, ihren Selbstzweck, ihre Eigentlichkeit oder ihren Eigensinn: Das Originäre. Es gibt keine fremden Maßstäbe, so wie es beim Geschmacksurteil keine fremden Maßstäbe gibt: Die Speise muss so schmecken, wie sie »eigentlich« (das Wort kommt in Mark und Bein mindestens 24-mal vor) von sich aus schmecken soll, sie soll ihren Eigengeschmack haben, ihren eigentlichen, naturgemäßen und originalen Geschmack. An diesem immanenten Telos seiner selbst beurteilt, stellt Fabrizius fest, dass etwas nicht dem Eigensinn entspricht, nicht stimmig ist, weil es nicht so ist, wie es vorgibt zu sein. In diesem Beispiel, in diesem Exempel des Iro-Weltatlas’ ist es die Grenzziehung auf einer fast dreißig Jahre alten Landkarte, eine Grenzziehung, die nicht jener Art von Grenzziehung ähnelt, die aus Europa bekannt ist, an Flussläufen oder Gebirgszügen entlang. Diese kleine, rein ästhetische Verstörung ist genug Anlass, nach ihrem Grund zu fragen. Hier wird das Modell ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Erkenntnis bei der originalen Begegnung mit einem authentischen Gegenstand beschrieben. Eine Art von Wahrnehmung und Erkenntnis, die sich von allen anderen Arten der Wahrnehmung und Erkenntnis unterscheidet. Sie unterscheidet sich vom Alltagswissen, weil es dessen Konventionen und Üblichkeiten nicht übernimmt, sondern erst dann beginnt, wenn die Konventionen und Gewohnheiten gestört werden. Und diese Art von Wahrnehmung und Erkenntnis unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Erklärungsmodell, weil es keinen vorab geklärten Begriff hat und ausgehend von dem Begriff und einer Fragestellung an die Wirklichkeit herangeht. Das ästhetische Modell hingehen beginnt in der Anschauung und lässt sich ein auf das Angeschaute, es lässt sich affizieren, freilich nicht in bloßer Betrachtung, sondern im Modus reflektierender Anschauung. Die originale Begegnung mit einem Relikt aus der Vergangenheit, hier ein Atlas, wird zum »Anschauungsunterricht« (MuB 213). Das meint, dass es die Identität der Dinge
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und Sachverhalte mit sich selbst, die Einlösung des eigenen Anspruchs zum Ausgangspunkt nimmt für eine Reflexion. Diese Art von Reflexionen betreibt Fabrizius gerne, gerne auch zusammen mit seiner Freundin, die diese Art der hermeneutisch-kritischen Analysen von Berufs wegen gelernt hat und ausübt: Sie entdecken dabei und dadurch »Komisches. ›Studien treiben‹, nannten sie das.« (MuB 36) Zuerst muss der eigene Anspruch des Objekts herausgefunden werden und dann eine Reflexion erfolgen, ob dieser Anspruch eingelöst wird, wie er eingelöst wird, und, wenn er nicht eingelöst wird, was der Grund hierfür ist. Die ästhetisch geschulte Wahrnehmung prüft die Dinge oder Widerfahrnisse auf ihre innere, von ihnen selbst gewollte Stimmigkeit – nicht um etwas zu bewerten, zu besitzen oder zu etwas zu nutzen. Sondern allein dazu, Dinge oder Widerfahrnisse an sich selbst zu reflektieren, um ästhetisch zu urteilen. Um ein Geschmacksurteil zu fällen. Und diejenigen Dinge oder Widerfahrnisse sind auffällig, die nicht mit sich stimmig, sondern eben »komisch« (MuB 36) sind, »komisch und furchtbar zugleich« (MuB 33). Komisch ist, was dem eigenen Anspruch nicht entspricht. Furchtbar ist das Komische, wenn es zum Leiden führt.43 Es ist eine besondere Art von ästhetischer Erfahrung, die die Erzählung durchführt: Die Wahrnehmung einer Straße und das Urteil, ob die von ihr selbst erhobenen Ansprüche denn von ihr selbst erfüllt werden. Am eigenen Anspruch zu reflektieren, was die Erkenntnis des Anspruchs ebenso voraussetzt wie einen Reflexionsakt. Die gesamte Episode gestaltet sich aus dieser ästhetisch reflektierenden Erkundung eines vorgeschlagenen, also zufälligen Gegenstandes. Und aus dem Zutrauen: Das »wird eine Reise, die Sie nie vergessen werden« (MuB 72). Ein Stück Memoria also. So wird diese Reise durch die Gegenwart zu einer Reise in die nicht vergehen könnende Vergangenheit. Allenthalben verquicken sich Geschichte und Gegenwart, verweisen aufeinander. Besucht werden die bekannten Orte, von Danzig/ Gdańsk bis zur Marienburg, die sogenannte »Wolfsschanze« Hitlers – nur Stutthoff (»An Stutthof führte kein Weg vorbei.« MuB 220), das Konzentrationslager, kann nicht besucht werden. Es ist notwendig und doch zugleich verschlossen. Der Leser wird vorbereitet, auf den Weg gebracht und vom Erzähler und seinem Medium durch die Welt geführt.
43 Im Tagebuch (Somnia 1991, S. 190) spricht Kempowski von der »groteske[n] Wirkung«, die er durch die Konfrontation des Widersprüchlichen erreichen wolle.
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3 Grausamkeit, Schuld und Memoria 3.1 Leiden – oder Grausamkeit? Worauf stößt Jonathan Fabrizius bei seiner Erkundung? Es ist, von Beginn an, die Grausamkeit – das zentrale Thema des Buches. Der Erzähler spürt mit ihm (und dem Museumsvorhaben seiner Freundin: Die Grausamkeit in der Kunst) Grausamkeiten in allen Variationen auf:44 Im aktuellen Umgang der Menschen miteinander, in der Vergangenheit, im Alltag, in der Kunst, im Umgang mit Kultur und Kulturen, mit der natürlichen Umwelt und den Tieren: Die »Zeugnisse von Grausamkeiten waren ja zahlreicher als man dachte!« (MuB 74) (Hier ist es wieder, jenes »Man« des kollektiven Bewusstseins.): »Grausamkeit? das Thema war ja uferlos.« (MuB 74). Zentrale Aspekte werden genannt, Bekanntes, oft Diskutiertes, aber auch »Seitenaspekte der Grausamkeit, […] spezielle Untaten in der heilen Welt« (MuB 87). Man sei so »sensibel«, dass man »sogar sprachliche Entgleisungen für ›grausam‹« (MuB 82) halten könne. Aber warum die Grausamkeit? Kempowski dreht mit diesem Thema die eingangs erwähnte Perspektive um, dass Literatur sich dem Leiden zu widmen habe. Er fragt nicht nach den Folgen, auch nicht nach den genannten Unrechtsfolgen, dem Leid also, das apokalyptisch, grenzenlos oder ubiquitär war, sondern er sucht nach den Ursachen, vielleicht sogar nach der Ursache. Der Zustand des trügerischen Idylls in der Isestraße zum Beispiel ist durch besondere Ursachen herbeigeführt worden. Die Stadt wurde von »Bombenschützen« (MuB 9) im Zweiten Weltkrieg zerstört – aber nicht genug: »Spekulantentum und Renovierungssucht« (MuB 9) haben das, was »stehengeblieben war«, weiter zerstört, und ein Letztes geschah durch Diebstahl, bei dem alles geraubt wurde, was sich irgendwie rauben ließ. Krieg, Gewinnsucht, mangelndes Verständnis für den Wert des Überlieferten und schlichter, krimineller Egoismus – dies sind jene Mächte, die aus dem, was eine schöne heile Welt sein könnte, eine trügerische Idylle gemacht haben. Der Text entfaltet an diesem Thema seine in der Exposition vorgeführte »komische und furchtbare« (MuB 33) Betrachtungsweise, deren Ausführung im Einzelnen hier nicht nachvollzogen werden muss, weil sie sich unübersehbar auf jeder Seite findet: Immer wieder ist es das Verfahren, nach Formen und Fällen von Grausamkeit in dem zu suchen, was sich als so selbstverständlich darstellt. In dem bereits
44 Vgl. Volker Ladenthin: Grausamkeit? – das Thema ist ja uferlos [zu: Walter Kempowski: Mark und Bein. München 1992]. In: neue deutsche literatur 40 (1992) H. 8 (August) S. 133–136.
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am Anfang fallenden Terminus des »Schlachtgeflügels« (MuB 10) ist dieses Verfahren angekündigt, auf ein Wort gebracht und durchgeführt: Mit dem Terminus sind Lebewesen gemeint, die nur deshalb am Leben gehalten werden, damit man sie schlachten kann. Das ist die allesumfassende Metapher für die Grausamkeit.45 Die Menschen als solch Schlachtvieh,46 diese Grausamkeit, die ihnen widerfährt, sie zeigt sich überall und jenseits aller weltanschaulicher Grenzen. Es möchte scheinen, als habe Kempowski in der Grausamkeit etwas benannt, was ideologisch nicht verfügbar gemacht werden kann. Gewalt mag berechtigt sein, sie kann gerechtfertigt, sie kann – etwa als Tyrannenmord, Widerstand, Verteidigung – diskursiv verhandelt, kann angeklagt oder verteidigt werden: für die einen ist der Attentäter »Held«, für die anderen »Verräter« (MuB 209). Es gibt gute Gründe, Gewalt zu rechtfertigen – oder abzulehnen. Die Grausamkeit aber kann nicht gerechtfertigt werden. Der Bezug zu Adorno ist unüberhörbar: Hatte Adorno gesagt: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung«, so heißt es im Text: Die (pädagogisch motivierte) Ausstellung über die Grausamkeit in der bildenden Kunst sollte »Abscheu wecken und darüber hinaus die energische Bereitschaft, dergleichen nie wieder zuzulassen auf der Welt.« (MuB 16–17) In Mark und Bein macht Kempowski jenen Satz Adornos konkret, der lautete: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«47 Und Kempowski verweist auf etwas, was als Grenze zu benennen ist, die er nicht überschreiten darf: »damit sich Unrecht und Grausamkeit nie wiederholt auf dieser Welt.« (MuB 85) An anderer Stelle hatte Adorno geschrieben: Diese Maxime gehe »so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.«48 Kempowski nimmt diesen Satz ernst, indem er
45 Anhand der Tagebücher aus der Entstehungsphase von Mark und Bein (1990) lässt sich die Konnotation der Metapher nachvollziehen: »Wir essen die Tiere jedenfalls auf. / Kalbfleisch. Lammfleisch. Daß man sich nicht schämt?« (Kempowski: Hamit 2006, S. 179). 46 Noch einmal Janosch: Polski Blues 1991, S. 118: »Der Mensch frißt das Tier, das soll so in Ordnung sein, gut also. Für das Tier ist es schlecht. Für die gesamte Schöpfung ist der Mensch wie eine Pest, der Krebs dieser Welt, er lebt von und für die Zerstörung.« 47 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975. S. 358. 48 Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971 (suhrkamp taschenbuch, 11). S. 88–104, hier S. 88.
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ausspricht, was mit »Auschwitz« gemeint ist: Es sei die Grausamkeit, die zu dem Grauen der Vernichtungslager geführt habe. Adorno hatte geschrieben: »Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.«49 Das Grauen wird durch Grausamkeit ausgelöst. So wird die Grausamkeit zum Thema, das keiner Rechtfertigung bedarf. Aber wie kann diese Grausamkeit dargestellt werden? Unterliegt ihre Beschreibung etwa nicht selbst jener kollektiv beherrschenden Tendenz zum Nicht-Identischen, das im ersten Abschnitt dargestellt wurde und unter Ubiquitätsverdacht stand? Die Wissenschaft jedenfalls, jenes kalkulierende Bewusstsein und die damit verbundene Regulation von Begriffen, lässt die Grausamkeit nicht in ihrer Bedeutung erkennen: Es werden »sauber angelegte Grausamkeitsmappen« hergestellt, in denen man aber nur »blättert« (MuB 74). Es entsteht eine »Grausamkeitskartei« (MuB 235), die man immer neu ordnen kann: Aber gleich fragt sich, ob ihre »Pedanterie« »nicht auch eine Form von Grausamkeit sei« und zwar »ganz schön grausam« (MuB 87). Die Darstellung der Grausamkeit dient hier der Karriere und der Eitelkeit: »Und dann zum Endspurt ansetzen: Das Einführungsessay schreiben für die Ausstellung über die Grausamkeit, sein achtes großes Werk.« (MuB 82, [Hervorhebung im Original]) Das Wort »Grausamkeit« fällt auf S. 15 des Textes zuerst eher beiläufig. Es scheint zufällig, dass sich die Lebensgefährtin des Hauptprotagonisten mit der Grausamkeit beschäftigt, denn sie, die Nebenfigur, ist es, die eine Ausstellung zum Thema »Grausamkeit in der bildenden Kunst« (MuB 16) plant; ein Thema wie andere auch: Medizin in der bildenden Kunst, Musik in der bildenden Kunst, Erziehung in der bildenden Kunst, Mobilität in der bildenden Kunst – immer werden Begriffe aus der Alltagswelt genommen, beliebig fast und endlos zu reihen, deren Darstellungen dann diesem vorab definierten Begriff unterstellt werden. Man weiß, was Medizin, Musik, Erziehung oder Mobilität ist, und sucht daraufhin nach Illustrationen dieses Begriffs. Die Kunst wird zur Illustration eines vorangestellten Begriffs genutzt; sie kann diesen Begriff illuminieren, historisieren, perspektivieren; sie kann ihn liquide machen. Aber sie bleibt ihm letztlich nach- und damit untergeordnet. Ein Kunstobjekt wird schließlich nur deshalb in eine solche themenzentrierte Ausstellung geholt, wenn und weil es sich dem vorausgesetzten Begriff und seinem Umfang fügt. Unterordnet. Diese Kunst ist begriffsreguliert. Sie ist Objekt. In diesem Fall wird die Kunst nach Beispielen durchforstet, die zum Begriff der Grausamkeit passen: »Eine Grausamkeitensammlung, die keinen Aspekt menschlicher Infernalität unberücksichtigt ließ.« (MuB 16)
49 Adorno: Negative Dialektik 1975, S. 364.
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Dieser Logik sich unterzuordnen hieße aber, die Kunst zum Diener der Begriffe zu degradieren. Hieße, die Kunst genau in jene Art kollektiver Verhandlungen des anonymen »Man« zu holen, das sie von außen betrachten sollte, reflektieren, nicht widerspiegeln müsste. Begriffsregulierte Kunst aber wird so zum Teil, ja zum Bestandteil jenes Diskurses, dessen Hohlheit und Nichtidentität sie doch aufdecken könnte. Sie wird zum Beleg statt zum Ärgernis. Sie ist nicht »komisch« (MuB 33), sondern affirmativ. Die Kunst dem Begriff unterzuordnen hieße, sie zu domestizieren. Nichts enthielte sie, was nicht auch der Begriff enthält und vorgibt. Das »Man« regulierte auch die Kunst. Wozu aber dann Kunst? Der Begriff als Erkenntnisinstrument mag – ganz analog zu Karl Poppers Konzept der wissenschaftlichen Perspektive gedacht – notwendig sein, um einen Scheinwerfer in die dunkle Vergangenheit zu richten, der das beleuchtet, was ohne ihn nicht gefunden worden wäre; der aber auch nur entdecken lässt, was in seinen Lichtstrahl gerät. Der Scheinwerfer selbst wird durch das, was er anstrahlt und erkennen lässt, nicht verändert. Damit aber unterläge die Kunst den geltenden Diskursregeln, weil der Begriff, dem sie sich subsumiert, aus diesen Diskursregeln konstituiert wird. Im konkreten Falle: Wer über Grausamkeit berichtet, kann nur über das berichten, was vorab als Grausamkeit bezeichnet wurde. Und noch weiter gedacht: Wer über die genannte Region schreibt, bewegt sich bereits bei der Wortwahl zur Beschreibung dieser Absicht im weltanschaulich bestimmten Gefüge, nimmt immer Partei innerhalb der Interessenskonflikte der aktuellen und historischen Diskurse. Noch bevor ein Autor zu schreiben beginnt, wird er, was auch immer er schreiben mag, fest verortet. Dann jedoch ist Literatur sinnlos, weil sie die Perpetuierung genau jener Ideologie betreibt, die den Missstand hervorgebracht hat und kollektiv verfestigt. Wer etwas Neues schreiben will, wer Literatur als etwas Nicht-Vereinnehmbares schaffen will, muss anders verfahren. Er kann nicht einem vorausgesetzten Begriff zuarbeiten. (»Alles, was man tut und treibt, haben alle andern Menschen schon vorher getan. Im gewöhnlichen Leben ist das ja nicht weiter schlimm, im Gegenteil, aber auf künstlerischem Gebiet ist der Gedanke doch bedrückend.«)50 Wer literarisch schreiben will, mag von einer Fragestellung oder einem Begriff ausgehen, aber nicht, um sie zu beantworten oder um ihn zu bebildern, sondern vielleicht um beides aufzulösen, um etwas zu finden, was der Frage oder dem Begrifflichen nicht in den Blick gerät. Dann erst und dann allein, wenn Kunst die soziale Konstruktion von Wirklichkeit durchbricht, jenes mächtige »Man«, würde sie eine Berechtigung haben. Dieses Ansinnen auf Unverfügbarkeit aber entspricht nicht den konventionellen Erwartungen an Kunst, wie es das »Man« (hier
50 Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 406.
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als »sie« bezeichnet) mit aller Macht einfordert: »Sie erlangen Sinn, Übersetzbarkeit. […] also einen Nutzeffekt. […] [Wir] sind doch nicht verpflichtet, Rezepte für Lebenshaltung beispielsweise oder Ansichten über Politik (Wiedervereinigung!) in Kunstpapier einzuwickeln.«51 Und so zeigt die Episode, dass die Grausamkeit, um deren Darstellung es ihr doch ging, selbst vereinnahmt wurde von dem, was sie möglich machte: Vom begrifflichen, kalkulierenden »Man«. Es werden »sauber angelegte Grausamkeitsmappen« hergestellt, in denen man aber beim Es-Dur-Klavierkonzert (einem weiteren Leitmotiv) »blättert« (MuB 74) (so, wie von KZ-Kommandanten berichtet wird, dass sie zur Entspannung klassische Musik hörten). Das Grausame wird als Glücksfall für den eigenen Erfolg angesehen: »Vielleicht hatte man Glück und ein Unfall ereignete sich mit hoffentlich recht vielen Toten« (MuB 37), mutmaßt der Erzähler über das kollektive Denken (»man«) der Fernsehmacher. Hinzu kommt, dass die Grausamkeit moralisiert wird: Sie bekommt einen Zweck, nämlich den, »Gutes zu wecken« (MuB 17). Das Leiden erscheint nachträglich gerechtfertigt, weil man hofft, dass es durch seine Präsentation moralisch affiziert und so künftig verhindert werde. Das Leid wird funktionalisiert. Die Qual eines Menschen soll Mitleid erregen; sie wird zur wohlfeilen Werbung für Humanität genutzt, und damit wird sie inhuman, weil die Steigerung der Qual die Wirkung intensiviert. Das Opfer wird zudem noch einmal erniedrigt, weil seine Erniedrigung reproduziert werden muss, um für einen guten Zweck herhalten zu können. Die falsche Person, ein Schaumschläger als Museumsdirektor, der sein sexuelles Interesse an Fabrizius’ Freundin unter dem Anschein ihrer beruflichen Förderung versteckt, sagt dann das Richtige – oder doch nicht: »Dieses so wichtige, erschreckende Wort [grausam] […] werde bei uns ins Triviale gezogen und entwertet.« (MuB 82) Der zentrale und wertvolle Begriff wird in dem Moment, in dem man sich seiner bemächtigt, trivial und wertlos; er wird gerade durch seine diskursive Wertschätzung entwertet. Aber auch die Kunst ist grausam. Sie ästhetisiert das Leid des Einzelnen. Ulla, die Freundin des Helden, lässt sich in ihrem professionellen Bewusstsein längst nicht mehr von der Kunst affizieren: »All diese schrecklichen Bilder […] beeindruckten Ulla nicht im geringsten, sie betrachtete an ihnen eher das Formale […], die Diagonalen zum Beispiel.« (MuB 16) So hatte sie es »in ihrem Studium gelernt« (MuB 16) – also in einer jener Bildungsinstitutionen, die doch die Wiederkehr von Auschwitz, die Wiederkehr der Grausamkeit verhindern sollten – aber genau hier und bei diesen Themen versagt hatten.
51 Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 405–406.
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Die »künstlerische Objektivierung« (MuB 16) nimmt dem subjektiven Leid gerade das, was es als Gegenstand der Kunst bestimmen sollte: Die Subjektivität, die Einmaligkeit, die Konkretheit, den Schmerz: »Wer vergießt denn Tränen angesichts einer Kopie?«52 Die Darstellung von Leid in der Kunst im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit wird zur Gewöhnung, zum Spektakel, zum Geschäft, ja schließlich zum sadistischen Lustgewinn. Auch die bisherige Kunst hatte sich nicht des Leids angenommen, da auch sie das Dargestellte unter dem Gebot der Darstellungsweise von sich entfremdete, objektivierte oder ästhetisierte: Wie drückt man den Schmerz des »Gekreuzigten« am schönsten aus (MuB 74)? Die Kunst verzweckt die Leiden der Menschen zum gruselig-schönen Schein. Angesichts eines Dokumentarberichts über die Hinrichtung von Widerstandskämpfern reflektiert Jonathan: »Schließlich hatten die Kameramänner doch wohl auch bei diesem Film die ästhetischen Gesetze ihrer Arbeit angewandt, Nahaufnahme, Zoom und Schwenk?« (MuB 215) Und so entsteht ein Paradox: Ein Text ist über ein Thema zu schreiben, über das man keinen Text schreiben kann, weil die formalen und ästhetischen Regeln des Schreibens (der Stil) den Gegenstand, den er dazustellen vorgibt, von sich selbst enthebt: Damit ist die paradoxe Ausgangslage der Episode beschrieben. Sie will ein Text über Grausamkeit in einer Situation sein, in der man keine Texte mehr über Grausamkeit schreiben kann. Wie ist das Problem zu lösen – ohne zu schweigen und jetzt allein durch das Schweigen grausam zu werden? Und ein weiteres Problem: Kann man so über »die« Grausamkeit schreiben, dass man den Grund für das grausame Handeln außer Acht und unbewertet lässt? Ist die Darstellung, wonach Grausamkeit ubiquitär sei, nicht jene Art von Weltsicht, vor der Jaspers gewarnt hatte? Muss man nicht fragen, wer Schuld ist an dieser Grausamkeit?
3.2 Ursachen und Schuld Immerzu erfahren Fabrizius und damit die Leser von historischem Grauen. Ursache für das Grauen ist die unfassliche und unerklärliche Grausamkeit der Menschen – das große Thema des Buches. Aber mischt sich dieses Thema nicht mit der Frage nach dem Grund von Grausamkeit, mit der Frage nach Ursache und Wirkung, nach Schuld und Sühne, wie sie von Karl Jaspers angesprochen wurde? Kann man von »der Grausamkeit« sprechen, ohne zwischen Opfer und
52 Kempowski: Hamit 2006, S. 361.
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Täter zu differenzieren? Und lässt sich die Grausamkeit nicht rechtfertigen, oder wenigstens erklären, indem auf die Ursache, eine frühere Grausamkeit verwiesen wird, die dem Täter zuvor widerfuhr? Wer hat die Schuld? Wo liegt die jeweilige Ursache?: Wo liegt die Anfangsursache? Die Rede über die Schuld ist für den Erzähler allerdings ähnlich oberflächlich und achtlos geworden wie jene über die Grausamkeit. Ja, die Rede über die Schuld wird gedankenlos auch von dem ubiquitären »Man« geführt; die Schuldfrage gehört zum kollektiven Jargon und ist zur Phrase verfestigt: So gibt der (betrügerische) Antiquitätenhändler Albert Schindeloe »die Schuld […] dem Scheiß-Staat, der für Raketen Milliarden ausgibt und dauernd die Renten kürzt« (MuB 64). Die Rede von der Schuld des anderen entlastet von der eigenen Verantwortung und lenkt vom eigenen Schuldigwerden ab. Und sie trägt Unwahres in die Welt. Die im Jargon des »Man« übliche Rechtfertigung von Grausamkeit durch den Verweis, dass die jetzigen Opfer dieser Grausamkeit sie doch durch frühere Taten selbst verschuldet oder provoziert hätten, lässt sich mehrfach aufzeigen: Wiederholt werden Aktionen als Reaktionen, Ursachen als Wirkungen dargestellt (vgl. MuB 94 u. 95): »Hätte er dem Alten sagen sollen, daß die Deutschen selbst schuld sind, daß sie vertrieben wurden? […] Und dann die Sache mit den Juden!« (MuB 196–197) Aber hilft die Frage nach der Schuld, Grausamkeiten zu erklären oder gar zu rechtfertigen? Oder würde die Suche nach einem Schuldigen den Urheber von neuer Grausamkeit exkulpieren? Kann es, so also erneut die Frage, einen Grund für Grausamkeit geben? Einen dann wahrhaft Schuldigen? Kann eine erlittene Grausamkeit eine Rechtfertigung von neuer Grausamkeit abgeben? Dort, wo verbrecherische Handlungen einzelnen Personen zugeschrieben werden können, muss der Schuldige (der Täter) benannt und bestraft werden. Aber Schuld lässt sich nicht verallgemeinern. Und sie lässt sich nicht als Rechtfertigung für Grausamkeit gegen den schuldig Gewordenen anführen. Dieser Satz gilt auch dann, wenn der Grausame zuvor selbst Opfer von Grausamkeiten war. Was er tut, bleibt grausam. Grausamkeit kann nicht moralisch sein; und ihre Unmoralität muss nicht begründet werden. Eine sprachliche Feinheit illuminiert diesen Zusammenhang: Beim Räsonieren darüber, welche Untaten auf welche Untaten gefolgt seien, ist ein Zitat zu finden, das keinen Urheber erkennen lässt, also auch jenem kollektiven Bewusstsein, dem »Man« zugeschrieben werden kann: »-›der hat die Scharte wieder ausgewetzt …‹« (MuB 52) Das Bild nimmt jenes Zitat von Adorno auf, der von der Unmöglichkeit des Aufrechnens der Schuld und dem Abgelten von Schuld gesprochen hatte.53 Der Erzähler verfolgt die Metaphorik, in der das von
53 Adorno: Aufarbeitung 1970, S. 10.
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Adorno Angesprochene vom »Man« umgangssprachlich gefasst wird, indem er das gleiche Wort einen Abschnitt später wieder verwendet – und es dabei in seiner Logik entfaltet. Da arbeitet beim »Schlachter die Verkäuferin […] mit einem ausgewetzten Messer« (MuB 52): »Eine Scharte auswetzen« bedeutet, eine Klinge wieder verwendbar zu machen für ihre grausige Arbeit, nämlich »das Fett vom Fleisch« (MuB 52) abzutrennen. Die Aufgabe des Schlachters (zu erinnern ist das Wort des »Schlachtgeflügels«, MuB 10). Nur wer die Absicht hat, ein Messer weiterhin zu nutzen, muss die Scharte »auswetzen«. Es geht der Diskussion um die Aufrechnung von Schuld nicht um Schuld und Wiedergutmachung, sondern darum, etwas wieder zum Einsatz zu bringen, um gedankenlos weiter zu machen. Wer von »Auswetzen« der Schuld und Scharte spricht, will ein verletzendes und verwundendes Gerät wieder funktional machen, die ursächliche Tat wird zur Exkulpation der eigenen Missetat genutzt, ein grausiger Reigen ohne Ende. Eine Grausamkeit ist auch dann nicht zu rechtfertigen, wenn der, dem sie widerfährt, zuvor schuldig geworden war. Grausamkeit lässt sich nicht über die Schuld verrechnen. Der Gedanke der »ausgleichende[n] Gerechtigkeit« (MuB 137) (den die flotte Frau Winkelvoss vorträgt), spricht den Opfern Hohn und ist nur eine neue Grausamkeit: Frau Winkelvoss »wunderte sich, daß alle Polen so freundlich sind. Zu uns Deutschen! Was wir denen angetan haben! Ein Drittel der Bevölkerung ausgerottet und alle Städte zerstört?« (MuB 144–145). Die Eigenexkulpierung der Tätergruppe verniedlicht die Mentalität der ehemaligen Opfer zur Folklore. Sie werden von den neuen und neuartigen »Herrenmenschen« (MuB 108) in ihrem »Palastauto« (MuB 108) als lustiges Völkchen diffamiert, das die erfahrene Grausamkeit den Tätern nicht nachträgt und nicht auswetzen will. Das verwundert Frau Winkelvoss mit ihrem Konzept der »ausgleichenden Gerechtigkeit«. Schuld und Grausamkeit sind keine gegeneinander verrechenbaren Größen. Der Schuldige ist und bleibt schuldig; er kann sich nicht exkulpieren, nicht durch die Benennung der Gegenschuld, und auch nicht durch die verwunderliche Freundlichkeit des ehemaligen Opfers, die ihm nach dem Unfasslichen entgegengebracht wird. Und die Schuld trifft alle Schuldigen gleich. Aber auch die Grausamkeit, die ein ehemaliges Opfer ausübt, ist Grausamkeit, an der es, wenn es sie ausübt, schuldig wird. Es gibt keine Entschuldung für Grausamkeit. Schon gar keine Entschuldigung. Im Tagebuch reflektiert Kempowski das Ergebnis dieses Gedankens: Als er erfährt, dass Lech Wałęsa »die Juden ›um Verzeihung bittet‹« notiert er weiter: »Verzeihungen sind für eine Mark fuffzig aus jedem Automaten zu ziehen.«54
54 Kempowski: Somnia 1991, S. 187.
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Aber das »Man« handelt noch unverantwortlicher: Es nutzt die (phrasenhaft gewordene) Entschuldigung als Tauschmittel: »Der Landsmannschaftsführer setzte die polnische Kassiererin davon in Kenntnis, daß sie alle es zutiefst bedauerten, daß Deutsche ihrem Vaterland so viel Schlimmes angetan hätten, und (!) er braucht eine Sammelkarte für sechsunddreißig Erwachsene und drei Kinder. Ob es da eine Verbilligung gibt?« (MuB 208) Nein, möchte man auf diese bestenfalls gedankenlose Frage antworten, für Schuld gibt es keine Verbilligung. Sie hat immer den gleichen Preis, ohne Rabatt; sie ist unverrechenbar und bleibt bestehen, ohne Verjährung. Es gibt die Schuld der Schuldigen, und die bleibt erinnert. Sie ist nicht verrechen- oder entschuldbar. Aber sie ist kein Geltungsgrund für neue Grausamkeit. Auch die Grausamkeit ist nicht verrechenbar. Sie bleibt unbegründbar, unverstehbar, unerklärlich; sie ist nicht wissenschaftlich aufzuarbeiten und damit abzuhaken, zu rechtfertigen, politisch zu nutzen – oder zu ästhetisieren. In diesem Sinn ist der Verweis auf Schuld eine rechtliche Frage. Die Frage der Schuld hat im Rechtssystem ihren wichtigen und unverzichtbaren Platz. Der Literatur aber geht es um etwas anderes. Sie soll nicht teilhaben am Diskurs des »Man«. Auch nicht an seinem phrasenhaften Diskurs über Schuld und ausgleichende Gerechtigkeit. Der Literatur könnte es vielmehr darum gehen, dasjenige nicht zu vergessen, das aus der Grausamkeit entsteht: Das Grauen (das für sich spricht und keinen Zweck erhalten darf). Und so betrachtet, gibt es niemanden, der frei ist von Schuld. Niemanden, der sich moralisch über die anderen erheben und sich freisprechen kann von Schuld. Und dann wird der Text explizit – und doch wieder nicht, weil es sich um Figurenrede handelt: »›Wer hat die Schuld?‹« (MuB 128, 132 u. 151), fragt mehrfach ein wahrnehmungsgestörtes und offensichtlich psychisch krankes Mädchen mit dem biblischen Namen Maria, in einem »ungeordnet strudelnden Gedankenstrom« (MuB 131).55 Eine Reinkarnation der biblischen Maria, die – der katholischen Theologie zur Folge – »als einzige frei von der Erbsünde«56 ist. Sie, die der Erzählung nach ohne Schuld ist, darf die Frage stellen, weil sie sich durch die Frage selbst nicht exkulpieren muss. Und plötzlich wird ein Lied zitiert, auch wieder, ohne dass dem Leser klar wird, vom wem es kommt. Es stellt sich ein:
55 Eine kleine Verbeugung vor James Joyce. Vgl. unten Anm. 58. 56 Julian Tietz: ›In was für Missetaten sind wir geraten?‹ Schuld und Religion bei Walter Kempowski. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M. A.) der Universität Hamburg. Hamburg 2011, S. 21. (https://www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/ forschung/publikationen/downloads/ma-arbeit-julian-tietz.pdf). Letzter Zugriff am 19.7.2022.
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»Wer hat die Schuld, in was für Missetaten sind wir geraten?« (MuB 130)
Julian Tietz schreibt: Dieser Frage voran steht im hier zitierten Lied von Johann Heermann: »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen / Daß man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?« Die Antwort im Lied lautet zwei Strophen später: »Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; / Ich, mein Herr Jesu, habe das verschuldet, was du erduldet.« Durch die nicht zitierte, aber implizite Antwort wird wiederum auf die nicht zu bestimmende Weltschuld Bezug genommen.57
Denn würde man nach dem jeweiligen gültigen Grund für das Schuldigwerden fragen, wo wäre dann zu beginnen? Gäbe es irgendwo einen Anfang der Grausamkeit, der sich nicht wieder durch die Nennung eines Grundes exkulpieren könnte? »Einen Welt-Schuld-Verursacher wird man nicht finden können« (MuB 128), stellt Fabrizius fest. Die Geschichte kennt keinen Anfang, die Grausamkeit hat keinen historischen Grund. So bleibt die Frage: »Wer hat die Schuld?« (MuB 128) – dies fragt sich auch Fabrizius in den Worten des wahrnehmungsgestörten polnischen Mädchens. Diese Frage würde jedoch im Allgemeinen enden. Weil alle irgendwie schuldig sind, sind alle entschuldigt? Aber Jonathan denkt, dass »er es nicht dulden [konnte], daß man die Dinge so verallgemeinerte, er mußte dagegenhalten.« (MuB 128) Mit der Frage nach den Unrechtsfolgen und Grausamkeitsursachen ist der Befund dieser allumfassenden Grausamkeit nicht erledigt. Grausames bleibt grausam. Schuld bleibt Schuld. Die Rede von dem sich immer wieder erzeugenden Schuldigwerden, »diesem eliptoiden Kreislauf des Guten und Bösen« (MuB 116), endete in einem Nichts. Es gibt keinen Grund. Und so artikuliert die Episode diesen Gedanken der Vergeblichkeit: »Der Weg zum Himmel ist ›zu‹, dachte er.« (MuB 116): »Es ist alles umsonst! dachte er immer und immer wieder.« (MuB 203) Und am Ende der Episode heißt es: »Und ›es hat keinen Zweck‹, sagte er leise« (MuB 233). Aber wozu dann diese Erkenntnis, wenn es nur dieses Nichts gibt, und keinen letzten guten Sinn? Kann die Empörung über die Grausamkeit aus diesem Nichts kommen? Bedarf sie nicht einer Erwartung des Anderen, der Hoffnung, dass es anders sein könnte und es daher sinnvoll ist, die Grausamkeit anzuklagen.58 Was
57 Tietz: Missetaten 2011, S. 22 58 »Die Liebe als Gegenstück?« (MuB 83) – aber wohl mit Absicht trägt dieser Satz ein Fragezeichen. Zugleich bekennt Kempowski, dass ihn »[b]esonders die letzten Sätze« »immer bewegt« hätten, »weil sie auch etwas mit meiner eigenen Arbeit am ›Echolot‹ zu tun haben: ›Aber ich weiß, daß so ein Gefühl Liebe sein muß: an alle denken, die jemals waren, zurück zum Anbeginn
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ist das Ziel von Jonathans »Dagegenhalten«? Er will nicht Schuld und Gegenschuld aufrechnen, er will die Geschichte nicht »gegen den Strich bürsten« (z. B. MuB 90, 134, 162, 210–211 u. ö.), um Täter und Opfer gleichzustellen, sondern um… ?
3.3 Memoria »Nicht zu viel Geschichte […]. Bitte nicht zu viel Geschichte« (MuB 139), sagt ein »Propagandamensch« (MuB 139), und macht so Propaganda für einen wesentlichen Komplex in der Mentalität des »Man«, für die Geschichtslosigkeit und das Vergessen: »[D]ie Deutschen werden schon dafür sorgen, daß alles in Vergessenheit gerät.«59 Nichts wird übrigbleiben von dem, was Fabrizius in Hamburg und Polen noch sieht. »[W]etten, daß das alles abgerissen wird?« (MuB 36) Was übriggeblieben ist, hat dies dem Zufall zu verdanken. Die Episode Mark und Bein beschreibt eine geschichtslos werdende Welt: »Vielleicht war das Größte längst verloren, und man begnügte sich mit Abklatsch?« (MuB 116) Übrig geblieben ist jener »Kulturschrott« (MuB 47),60 der sich bei Trödelhändlern findet. Von dem niemand mehr nichts Genaues wissen möchte: »Ne-ne, davon wolle er nichts wissen. Da Schwamm drüber!« (MuB 54) Mit dieser populären Redewendung ist jene Mentalität angesprochen, die Adorno, mit exakt diesem Sprachbild, schon Ende der 50er Jahre als das falsche Bewusstsein des »Man« beschrieben hatte: »Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. [Es ist der] Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein […].«61 Das Vergessen ist kulturübergreifend und zugleich Grund dafür, dass versäumt wird, aus der grausamen Vergangenheit zu lernen, und zwar so zu lernen, dass sie sich nicht wiederholen soll: Man kennt die Vergangenheit nicht mehr. Nur noch ihren Tauschwert bei der wechselseitigen Entschuldung. Beim Auswetzen von Scharten. Das ist kein nur deutsches Problem. Über das »Man« in Polen heißt es: »Die haben keine Ahnung, daß da früher mal Deutsche gelebt haben.« (MuB 91)
der Zeit. […] Diese gediegene Welt, die sie errichtet und bewohnt haben, schwindet und löst sich auf.‹« (Walter Kempowski: James Joyce. In: Ders.: Umgang mit Größen. Meine Lieblingsdichter – und andere, hg. von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2011. S. 134–135.) 59 Kempowski: Somnia 1991, S. 193. 60 Vgl. Adorno: »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.« (Negative Dialektik 1975, S. 357). 61 Adorno: Aufarbeitung 1970, S. 10.
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Es gibt Erinnerungen, aber sie werden zum flüchtigen ästhetischen Genuss, etwa bei einem Konzert, bei dem man »sich erinnerte an längst vergessene Erinnerungen« (MuB 79) Die Erinnerung wird von ihrer Bedeutung befreit und feiert nur sich selbst. Und die, die sich um die Erinnerung bemühen, bemühen sich nur beiläufig um sie – oder gar nicht ernsthaft: »Wie schade, daß sich heute niemand mehr für diese Geschichten interessiert. Er selbst [Fabrizius] interessierte sich auch nicht dafür« (MuB 72). Zu Recht vielleicht? »Ohne Schwamm-darüber läßt sich das Leben nicht ertragen, dachte« (MuB 101) Jonathan. Er denkt dies bezogen auf die Lebensgeschichte seiner Mutter, die bei seiner Geburt starb; eine lebenslange Hypothek. Das ist vielleicht die wirkliche Grausamkeit menschlicher Existenz: Adorno hat diese Doppelgesichtigkeit als kollektive Mentalität in ihrer Tragik benannt: »Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist.«62 Wozu die Erinnerung? Und wieder gibt es keine Antwort, aber zum zweiten Mal wird Münchhausen angesprochen,63 jener Mann, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen vermochte. Und der die Weltkugel (zu der die Kanonenkugel im Kästner-Film wurde) beherrscht wie ein Reiter sein zugerittenes Pferd und »zwischen den Knien hält.« (MuB 129) Aber nicht diese Stellen aus den Erzählungen des Schwindlers werden hier zitiert, sondern jene Episode, in der er berichtet, dass der Schnee sehr hoch gelegen habe und er, Münchhausen, sein Pferd »an den Wetterhahn des Kirchturms gebunden«64 habe. Aber weder der Kirchturm noch der Wetterhahn auf ihm gaben oder geben Orientierung: »Gott vergaß uns, er ließ uns verderben.« lautet ein nicht zitierter Vers65 des von Fabrizius erinnerten Gedichts (MuB 130) Die Frauen von Nidden von Agnes Miegel.
62 Adorno: Aufarbeitung 1970, S. 10. Auch hier ist die Nähe zu Jaspers erstaunlich, den er doch vehement kritisiert hatte: »Jaspers aber schreibt ungeniert: ›Wahrhaft kann in der Welt nur bleiben, wer aus einem Positiven lebt, das er in jedem Fall nur durch Bindung hat.‹« Adorno: Jargon 1964, S. 22. Adorno zitiert hier allerdings aus Jaspers Buch Die geistige Situation der Zeit aus dem Jahr 1931, also eine Erfahrungsbeschreibung vor Auschwitz. 63 Zuvor (S. 66) die Anspielung auf Münchhausens Anekdote, in der sich Wölfe in die einen Schlitten ziehenden Pferde verbeißen und statt ihrer den Schlitten ziehen. 64 Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt. Frankfurt/M.: Insel 1976 (insel taschenbuch, 207), S. 5. 65 Vgl. Tietz: Missetaten 2011, S. 20, der die Motive, Quellen und metaphorischen Bezüge herausgearbeitet hat.
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Gibt es keine Verantwortung mehr, wenn es keinen Gott mehr gibt? Wozu Erinnern? Für Kempowski ist die Memoria die einzige Antwort auf diese Frage: »›Aufschreiben für allezeit‹« (MuB 184) wird eine Quelle namenlos zitiert, die aber in der Assonanz erkennbar ist.66 Es gilt, das Geschehene »ins Wort zu erlösen«.67 Die Memoria tritt an Gottes Stelle und gibt den Opfern ihre zu verblassen drohende Geschichte zurück, gibt ihnen einen »Namen« (MuB 231) – und damit ihre Würde. Die Memoria nennt die Namen wieder. Die nun nicht mehr Namenlosen erfahren die ihnen gebührende Gerechtigkeit, die einzige, die ihnen noch widerfahren kann;68 sie werden gesucht und erinnert: »›Es war mein Sohn, der nach mir gesucht hat‹, flüsterte er seinen Kameraden zu,69 und die sagten es weiter: ›Sein Sohn hat nach ihm gesucht.‹« (MuB 231) Erinnerung heißt, etwas beim Namen rufen, zur Sprache bringen, ins Wort erlösen. Wenn überhaupt noch (nach dem Tode Gottes) so etwas wie Erlösung gedacht werden kann (»Der Weg zum Himmel ist ›zu‹, dachte er«, MuB 116), dann ist dies die Erlösung in authentische Sprache und die sie beinhaltende Memoria. Die Worte selbst sind Memoria. Das richtige Wort zu benutzen, ist kein psycho-linguistisch zu beschreibender Wortfindungsprozess, sondern die Verantwortung gegenüber der Geschichte. Dichterisches Sprechen ist keine subsumierende Rede unter Begriffen, sondern das Gegenteil: Die Auflösung von Begriff und Subsumtion. Eine Erinnerung, die den Menschen jene Identität mit sich selbst wiedergibt, die man ihnen nahm, als sie zu »Opfern von …« wurden, zu Platzhaltern für die bekannten und wohlfeilen Begriffe des »Man«: Feind, Freund, Vaterland, Kommunismus, Nationalismus, Fortschritt, Wachstum, Solidarität … Sie sollen ihr Selbst zurückerhalten, also das, was die Namensphilosophie dem Namen als Kraft zuschreibt: Die Identität von Begriff und Erscheinung. Ein Name lässt sich nicht erklären oder definieren, er verleiht dem Träger etwas, das nur ihm zukommt und ihn völlig erfasst: »Ich
66 Lew Kopelew: Aufbewahren für alle Zeit! Autobiographie. Nachw. v. Heinrich Böll [Autoris. Übers. aus d. Russ. von Heddy Pross-Weerth u. Heinz-Dieter Mendel]. Hamburg: Hoffmann und Campe 1976. – Das Buch berichtet, aus sowjetischer Sicht, über die Schrecken beim Einmarsch der sowjetischen Truppen. Vgl. Kempowski: Somnia 1991, S. 218. Aufschlussreich die Verschiebung von »aufbewahren« zu »aufschreiben« – Kempowski legt den Akzent darauf, dass erst noch aufgeschrieben werden müsse, was dann aufbewahrt werden kann. Bevor es aufbewahrt werden kann, muss es zur Sprache gebracht werden: »Grauenhafte Einzelheiten, amtlich festgehalten für den St. Nimmerleinstag.« (MuB 174) 67 Diese Formulierung wählte Kempowski stets, wenn er es unternahm, die Bedeutung seines Schreibens zu erläutern. Erst das zur Sprache kommen, die Erlösung ins Wort, werde der Welt gerecht. 68 Vgl. Adorno: Aufarbeitung 1970, S. 12: »[…] die Zerstörung von Erinnerung. Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.« 69 Wie im Gleichnis (Lk 15,31) der Vater (= Gott) zu seinem verlorenen Sohn.
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habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« (MuB 231) Erst im Namen wird der Andere als Anderer und Eigener erkannt: »Wer gesucht wird, ist nicht verloren« (MuB 164). Die Memoria kann dasjenige identifizieren, das die Wirklichkeit verdeckt oder zerstört, sie ist die »originäre« (MuB 212) Begegnung, in der Ereignis und Name zusammenkommen. Die Memoria kann »komisch« (MuB 36) sein, wenn sie das Missverhältnis von Anspruch und Einlösung bemerkt und benennt; sie kann zur Erlösung werden, wenn sie auf ihren suchenden Blick die »Hoffnungsblicke […], Verzweiflung […] ja die Gleichgültigkeit« zurückkommen sieht. Hier ist die Memoria »komisch und furchtbar zugleich« (MuB 33). (Zu erinnern ist, dass »komisch« vom Erzähler nicht im Sinne von »witzig«, »lächerlich« oder »humorvoll« benutzt wird, sondern die Reaktionen auf Beobachtungen benennt, in denen der selbstgewählte Anspruch nicht eingelöst wird.) Das ist die Anlage des Buches, dieses Dagegenhalten der Memoria als Haltung in einem Unternehmen, das »er noch nie gemacht« hatte und das er zudem »sinnlos fände« (MuB 127). Die immer wieder von gedankenlosen Begleitern hervorgebrachte Aufforderung, Geschichte »gegen den Strich zu bürsten«, ist falsch, weil sie sie austilgt. Es geht nicht um die Umwertung aktueller Werte, nicht ihre Entwertung kann das Ziel sein, sondern es geht um das erinnernde »Dagegenhalten« angesichts eines Mainstreams (»man«, »sie«), der alles zu vergessen, alles einzuebnen, alles gleichzumachen sucht – selbst die Grausamkeit. Dessen letzte Grausamkeit es ist, die Grausamkeiten zu vergessen oder durch die Frage nach einer Ursache zu verrechnen. Kempowski entwickelt mit der Memoria ein Lesemodell für die Literatur und die Wirklichkeit. Er hat ein poetisches Prinzip gefunden, das sich den sozial regulierten und den regulierenden Diskursen entzieht, ohne dabei moralisch indifferent zu sein, weil es einen neuen Gegenstand schafft, »wie eine Gottheit sich seine Welt selbst«70 baut, der nicht in den sozialen Diskursen funktionalisiert werden kann. In einem Bild zeigt sich dies: Kempowski lässt zwei der sozial üblichen Deutungsmuster beim Umgang mit der Vergangenheit, also der eingangs geschilderten polarisierenden Diskurse, aufeinanderprallen, wenn nämlich die »Landsmannschaft« von Vertriebenen (»Durchschnittsalter siebenundsechzigeinhalb«, MuB 158) an der Marienburg mit einer »Abordnung des sozialistischen Schülerausschusses der Gesamtschule ›Rosa Luxemburg‹« (MuB 158) aus Bremen zusammentrifft (MuB 158–168): Beide Gruppen kultivieren ihre Sichtweisen, suchen nach Bestätigungen und Belegen für ihre Vorurteile –, beide entdecken durchaus etwas, was es zu bedenken gilt; aber indem sie es ihren Vorurteilen subsumieren, begegnen sie nicht der Wirklichkeit in ihrer originären Gestalt,
70 Kempowski: Wenn das man gut geht 2012, S. 405.
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sondern verarbeiten sie reduziert und perspektivisch: »Das war ja ausgezeichnet! Typisch deutsch! / Die Landsmannschaft war nicht so begeistert« (MuB 162). Es findet kein Dialog statt; die Standpunkte bleiben einander fremd. Der Ansatz, sich der Grausamkeit erleidenden Menschen zu erinnern, ohne nach dem Zweck der Erinnerung zu fragen, ist selbstevident. Er kann nicht begründet werden, weil bereits der Versuch einer zweckhaften Begründung Zeichen von Amoralität wäre. Was grausam ist, weiß jeder. Das muss man nicht erklären. Und es ist kein Grund denkbar, grausam zu sein. Das diskursive Ordnungssystem, das Grausamkeiten als verständliche »Reaktionen auf …« erklärt und rechtfertigt, wird durch die Episode, die durch Mark und Bein geht, völlig durcheinandergewirbelt. Aber es entsteht kein Pluralismus, nach dem auch die Täter gelitten hätten und die Opfer selbst zu Tätern würden. Dieser auf Schuldverrechnung zielenden Konzeption der moralischen und rechtlichen Herausforderung stellt sich der Text nicht, und zwar deshalb, wie man (mit Jaspers) argumentieren kann, weil rechtliche und moralische Fragen auch rechtlich und moralisch beantwortet werden müssen, nicht aber ästhetisch.71 Literatur hat weder die Aufgabe der Sinnstiftung noch ist sie eine (womöglich bessere) moralische Institution als die Moral und das ihr folgende Recht. Es hieße, den Opfern Unrecht tun, wenn sich ihnen nicht der Rechtsweg als Wiedergutmachung anböte, sondern die Gestaltung ihres Leids in einer zur Einfühlung und Erschütterung auffordernden Kunst. Wenn ihr Leid zum Motiv der Kunst würde. Zum Event eines Kunstvereins. Die Literatur kann kein Unrecht wieder gut machen – und sie darf es auch nicht wollen. Denn dieses Wollen, diese Art der Wiedergutmachung wäre wohlfeiler Trost. Letztlich diente er dem (ästhetischen) Genuss. Unrecht kann nur durch Recht wiederhergestellt werden; einem Geschädigten steht Entschädigung zu, nicht aber als Trost die Verdoppelung seines Leids in der Kunst. Unmoral kann man nicht durch Literatur begegnen, sondern nur durch Moral. Für die aber ist der ethische Diskurs zuständig, nicht der ästhetische. Die Kunst hat dann die Aufgabe, dasjenige in Sprache zu bringen, das weder von der Wissenschaft noch von der Ethik oder dem Rechtssystem aufgegriffen werden kann.
71 Auch bei Janosch (Polski Blues 1991, S. 118) die ironische Wendung: »Vielleicht also sagen dem oder den göttlichen Wesen […] die Seelen besser zu, je mehr sie gequält werden? Sagen doch die Dichter und Propheten, welche der Wahrheit bekanntlich näher sind als der normale Sterbliche: ›Wen Gott liebt, den läßt er leiden.‹«
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3.4 Memoria als Echolot Am Ende scheint ein Paradox zu bleiben: Ist nicht die Darstellung der Grausamkeit einer Ästhetisierung der Grausamkeit auch ein Prozess der Ästhetisierung, der weiterhin die Verzweckung des individuellen Leids zur moralischen Belehrung betreibt?72 Kann Fiktionalität, wenn sie das Letzte alles Unmenschlichen, die Unhintergehbarkeit der Grausamkeit, thematisiert, dieser ihrer Aufgabe über die direkte Darstellung gerecht werden? Und bliebe, falls man diese Frage mit »Nein!« beantwortet, dann nicht eine Kunst übrig, die nur noch weltfrei spiele – was inhuman wäre: Angesichts der Qualen der Menschen könne man nicht mehr mit gutem Gewissen z. B. eine Musik hören, die nichts als Kunst sein will – oder zumindest könne man sie nicht mehr zweckfrei hören. In einem erinnerten Bild hängt Fabrizius diesem Kunstverständnis nach: »[…] und aus den geöffneten Fenstern kämen jene Klänge, die eben jetzt zu hören waren, Klänge, die man heutigentags eigentlich nicht mehr guten Gewissens sich anhören konnte« (MuB 76–77). So müsse auch die zweckfrei gedachte absolute Musik anders gehört werden, als dass man sie in ihrer Zweckfreiheit genieße: Vielleicht so, dass in der immer wieder neu zu erweisenden Unmöglichkeit des Spiels und der Unfähigkeit spielen zu können, sich der Zustand der Welt offenlegt, ohne benannt zu werden. Kempowski zeigt diese Zerstörung der Kultur oder die durch die Geschichte Zerstörten angesichts eines der berühmtesten Stücke absoluter Musik: Beethovens Fünfter Symphonie.73 Sie lebt nur fragmentiert; geblieben von ihr sind Scherben, Bruchstücke, Erinnerungen an die »Kultur […], die […] noch übrig war« (MuB 184) – wie es in Mark und Bein heißt. Oder aber es bliebe eine Kunst, die die Inhumanität durch die Aufbewahrung der Folgen oder Ursachen des Grauens archiviert, aber nicht mehr diese Inhumanität selbst gestaltete. In Mark und Bein sucht Kempowski nach einer neuen Literatur, das lässt sich an den zeitgleichen Tagebüchern aufzeigen: »Dies alles läuft auf eine Befreiung der Literatur hinaus. Auf die Überführung in eine andere Dimension«,74 heißt es. In der Deutschen Chronik hatte Kempowski, was ihm oft zum Vorwurf gemacht wird, nicht das Grauen des nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzugs gegen alles, was anders und human ist, aufgezeigt, sondern
72 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. Suhrkamp 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2), S. 80: »Aber Häßliches: Grausamkeit in ihr ist nicht nur ein Dargestelltes. Ihr eigener Gestus hat […] ein Grausames. In den Formen wird Grausamkeit zur Imagination.« 73 Carla Damiano: Beethovens Fünfte. In: Dies./Grünes/Feuchert (Hgg.): Walter-KempowskiHandbuch 2020, S. 203–207. 74 Kempowski: Hamit 2006, S. 52.
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in den Mentalitäten und letztlich in einer die Wirklichkeit verstellenden Phrasenhaftigkeit des Alltags die Ursachen zur Sprache gebracht (»Gut dem Dinge«, sagt der Vater, »tadellos«, als alles schon ganz schlecht war in der Zeit von Tadellöser & Wolff). In den Tagebüchern ist es das Aufspüren jenes personal oder institutionell nicht habhaftbar zu machenden, wenngleich politisch und sozial wirkmächtigen »sie«, eine immaterielle Macht, in der Kempowski die Ursache für ein neues Verhängnis nach dem Zufall des Überlebens aufspürt.75 Das Grauen selbst ist undarstellbar, obwohl es dargestellt werden muss, um nicht vergessen zu werden. Aber jede Fiktionalisierung der Grausamkeit funktionalisiert das Grauen, auch dann, wenn die Fiktionalisierung eine neue Art der Grausamkeit darstellen will: »Er hatte keine Lust, sich die gräßlichen Sachen anzuhören, die nun zur Sprache kommen würden.« (MuB 33) Diesem Paradox stellt sich Mark und Bein – als Werk zwischen der Deutschen Chronik und dem Echolot-Projekt. Im Echolot-Projekt dokumentiert Kempowski die Folgen der Grausamkeit,76 nämlich in den Worten der Täter oder der Opfer. In Mark und Bein werden nicht nur die Methoden der Befragungsbände, sondern auch das Echolot-Projekt erläutert: Jonathan, an dem das beste seine Augen waren (MuB 10), »schickte seinen Blick« (MuB 230) an den Horizont. Und »wenn dieser Blick etwas Materielles gewesen wäre […], dann hätte er zurückkommen können als ein Echo.« (MuB 230) Jonathan ist das Echolot, mit dem die Blicke ausgeschickt werden und zurückkommen, jetzt aber versehen mit dem, was sie erblickt haben: »Alle Gleichgültigkeiten wären zurückgekommen, alle Hoffnungen, alle Verzweiflungen« (MuB 230). Die Suche des Echolots moralisiert nicht, es sei denn, dass das Blicken selbst die Moral sei. Die Moral der Literatur liegt nicht im Bewerten, sondern im Erlösen, allerdings im gerechten Erlösen in Sprache, nicht im verzweckenden Recherchieren. »Alle Blicke […] hätten in diesem Augenblick [in diesem fruchtbaren Moment – V. L.] zurückkommen können« (230) – das ist der magische Moment der Memoria, die in die Vergangenheit blickt, um auf das Echo zu warten, auf den »Windstoß von verblaßten Bildern« (MuB 230).
75 Volker Ladenthin: ›sie‹. Über eine zentrale Kategorie in Walter Kempowskis diskursivem Denken ...und seiner Ästhetik (im Druck). 76 Eckehard Czucka: Das Echolot. In: Damiano/Grünes/Feuchert (Hgg.): Walter-KempowskiHandbuch 2020, S. 84–119.
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Teil C: Varia
Aus der Erinnerung von Lars Lohrisch
Ein erfahrener Regisseur
Schulbücher für die Oberstufe hatte ich schon illustriert: Themen wie Außen seiter, Taschengeld und Aufklärung. Aber der Auftrag, unter der Regie des bekannten und äußerst erfolgreichen Schriftstellers Walter Kempowski zu arbeiten, der war schon eine Überraschung, Ehre und Herausforderung zugleich. Viele Leser seiner Bücher kannten die wunderbaren Verfilmungen einiger seiner Bücher, wussten aber sicherlich nicht, dass er zu der Zeit (1979) noch als Pädagoge, als Lehrer, die ABC-Schützen an der Mittelpunktschule in Zeven unterrichtete. Ich sollte Herrn Kempowski in seinem letzten Schuljahr fotografisch begleiten. Allerdings waren die Bedingungen für meine Arbeit durch einen fensterlosen Klassenraum etwas erschwert. Herr Kempowski war ein erfahrener ›Regisseur‹, der sein Konzept aus der Dorfschule in Nartum, seinem Wohnort, mitbrachte. Dies wollte er sozusagen in die ›Neuzeit‹, nach Zeven, umsetzen. – Teilweise erschien es antiquiert. Doch er wusste genau, welche lebendigen Fotos und welche Aufgaben und Lehrmittel in seinem »Schulmeister«-Buch erscheinen sollten. Für den Pädagogen Kempowski war das Projekt auch nicht so einfach, da er die Kinder »mitnehmen« musste, lehren und gleichzeitig sein Buch im Auge behalten. Das gelang »spielend«. Die Zusammenarbeit verlief harmonisch und zügig. Ich habe ihn in seiner »Arbeit« bewundert! Wie er das Vertrauen der Schulanfänger erwarb, damit sie zusammenfanden, sich wohlfühlten, wie er für Abwechslung in und außerhalb der Schule sorgte, wie er sie anspornte und auf sie einging. Herrlich fand ich die alten Matratzen in der Ecke des Klassenzimmers zum Austoben, wenn die Aufmerksamkeit nachließ. Für die Kinder schien der Unterricht mehr ein Erlebnis als Schulpflicht gewesen zu sein. Für mich war das Jahr mit Walter Kempowski ein außergewöhnliches, wenn ich auch nur circa 15 Mal in der Klasse war. Es hat sehr viel Spaß gemacht – es war nicht nur Arbeit. Ich war sehr überrascht, welche und wie viel verschiedene Lehrmethoden zum Ziel führen und die Kinder auch noch begeistern können. Es war ebenfalls spannend, die unterschiedliche Entwicklung der Kinder mitzuerleben. Privat hatte ich Herrn Kempowski kaum erlebt. Allerdings gehörte es auch zum Unterricht, sein Zuhause kennen zu lernen. Er zeigte und erklärte den Kindern zahlreiche Objekte aus seiner Vergangenheit in den lichtdurchfluteten https://doi.org/10.1515/9783110784084-008
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großen Glasvitrinen, die er teilweise selbst gefertigt hatte. Danach durften sie selbständig alle Räume erkunden. Als wir allein waren, gestattete er mir, ein paar Fotos von ihm zu machen: am Flügel, am Bücherregal und in seinem Pavillon, mit freiem Blick auf die Wiesen und Weiden – begeistert war er allerdings nicht: Die Fliegen lenkten ihn dann auf dem Sofa sehr ab, die Fliegenklatsche war immer zur Hand. Es vergingen einige Monate, als mich sehr überraschend ›mein Regisseur‹ anrief. Er sprach eine Einladung aus: in sein Haus zum Pressetermin für die Vorstellung des Buchs Kempowski, der Schulmeister zu kommen. Ich war sehr erfreut und sagte sofort zu. – Dann folgte – zögerlich – eine Anmerkung: er wage seine Bitte kaum auszusprechen. Er hätte nämlich gern, dass ich bei diesem Event ein paar Pressefotos »schieße«; es sei ihm fast peinlich, denn er würde einen eingeladenen Gast, seinen Zahnarzt, ja auch nicht bitten, zwischendurch bei ihm mal einen Zahn zu »kontrollieren«. Die Zusammenarbeit mit Herrn Kempowski war die beeindruckendste in meinem Berufsleben.
Gerhard Henschel
»Die Wahrheit war interessanter als das, was man sich ausdenken kann.« Gespräch mit Walter Kempowski in Nartum, 24. April 2007 WK (auf das Aufnahmegerät deutend): Die werden immer kleiner, die Dinger. Schließlich nur noch wie so ’n Hosenknopf, nicht? Wie so zu Zeiten von James Bond. – Tja, mein Lieber, sehen Sie, jetzt sind wir mal wieder zusammen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Endlos, nicht? Sie haben inzwischen ein paar schöne Bücher geschrieben ... GH: Ich wollte Sie heute befragen über die Zeit nach der Haftentlassung ... WK: Das ist die entscheidende Zeit. GH: Was mich daran interessiert: Die Lektüre im Gefängnis war ja sehr begrenzt ... WK: Einerseits begrenzt, aber andererseits durch einen sonderbaren Glückszufall sehr ... wie sagt man ... wie heißt das Wort ... hochwertig. Ich hab’ da mal eine Liste gemacht. Also, in Bautzen existierte die alte Gefängnisbibliothek noch, die irgendwann um die Jahrhundertwende, aus Kaisers Zeiten noch, das war ja eine Militärstrafanstalt gewesen, noch aufbewahrt worden war. Und die war sehr hochwertig. Und nun hatte irgendein Volkspolizist, ein Offizier, die Idee: Nun, wenn wir hier nun schon so viele Bücher haben, können wir die ja mal durchkucken, ob wir die nicht ausgeben können. Bis ins Jahr 1951, glaube ich, habe ich keine Zeile gelesen. Ich glaube, 1950 kriegten wir eine Zeitung pro Saal, und die wurde immer vorgelesen. Das war die National-Zeitung, die war ganz gut, da gab’s manchmal so Romanfortsetzungen, zum Beispiel von Arnold Zweig, Die Stadt Anatol. Inzwischen habe ich das Buch wiedergelesen und finde es, also, entsetzlich. Aber wenn man so gar nichts hat, ist es eben doch schön. Diese Bibliothek, die man dort vorfand, wurde von einem Häftling, der Freimaurer war, durchgesehen, und siehe da, es fanden sich eine Menge Bücher, die für uns ...
Anm. d. Red.: Um die tatsächlich gefallenen Äußerungen nicht zu verfälschen, präsentieren wir das Gespräch in der originalen Transkriptionsfassung, die Gerhard Henschel nach seiner Tonbandaufzeichnung angefertigt hat. Einzig die Rechtschreibung haben wir angepasst. https://doi.org/10.1515/9783110784084-009
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aber wir waren, ich kann die Zahl nicht genau angeben, bitte sehen Sie mir das nach – zwischen 3000 und 8000 Häftlinge waren ja da verteilt. Das ist ja wie bei Christus, bei der Brotvermehrung ... Also welche Bücher nun: Da war hochwertiges religiöses Schrifttum, zum Beispiel Wellhausen, ein ausgezeichneter Religionsphilosoph, dann Harnack, auch ein Theologieprofessor, und beide, muss ich sagen, haben mich sehr gefesselt. Man hatte die Bücher immer nur kurze Zeit, vierhundert Mann pro Saal waren wir, da wurden zwanzig Bücher reingegeben für eine Woche, dann musste man denn wie ein Wahnsinniger lesen, aber diese theologische Literatur, die wollte keiner. Darunter waren auch das Purgatorium von Dante und eine Bibel mit Apokryphen. Dann ein herrliches Buch, das mich bis heute noch beschäftigt, Die Heiligen Zeichen von Romano Guardini, das blieb dort irgendwie, weil das der Pastor mitgebracht hatte. Das habe ich mir neulich wiederbeschafft. Aber wie das immer dann so ist, war ich arg enttäuscht von der Oberflächlichkeit des Buches. Aber damals hat es mich unglaublich beeinflusst. »Heilige Zeichen« bedeutete Kelch, Kreuz ..., und seitdem habe ich einen Hang zur katholischen Kirche. So eine Art Stimmungskatholik bin ich, wenn ich das mal so ausdrücken darf, ich kuck’ mir gerne die Messe an oder singe Gregorianik beziehungsweise höre mir die an, also, Stimmungskatholik bin ich geworden und nicht ein Überzeugungsprotestant. Also, Harnack und der kluge Wellhausen haben es nicht vermocht, mich rüberzuziehen. Und dann waren natürlich die Klassiker vertreten, Homer und Goethe, und der gesamte Shakespeare war vorhanden. Und ich glaube, ich habe fast alle Königsdramen gelesen. Ich kann mich genau erinnern an King Lear, Heinrich VI., Richard III. Besonderen Eindruck hat auf mich König Lear gemacht, Hamlet war mir zu kompliziert. König Lear steht bei mir in der gesamten Literatur an oberster Stelle. Ein unglaubliches Drama. Dann gab es so Bücher, gemäßigte DDR-Literatur, zum Beispiel eine Biographie über Vogler, eine DDR-Biographie, die war ganz interessant ... und dann lässt mein Gedächtnis schon nach. Ich glaube, in einem Tagebuch sind die Bücher notiert.1 Es waren alles in allem vielleicht dreißig Bücher, die ich in acht Jahren gelesen hatte. Später war ich Besitzer eines Neuen Testaments. Das hat mir natürlich unglaublich geholfen, nicht aus Glaubensgründen, sondern einfach weil die Kenntnis der Bibel meiner Ansicht nach unerlässlich für einen Schriftsteller ist. Sie können da anderer Meinung sein, aber ich verstehe nicht, wie Menschen, die Romane schreiben oder Lyrik betreiben, die Bibel nicht kennen. Das ist mir unverständlich. Aber das ist ’ne Sache, darüber kann man streiten.
1 Anm. d. Red.: Vgl. Walter Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. Mit 245 Abbildungen. München: Knaus 1990, S. 87 (4. März 1983).
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GH: Sie haben einmal gesagt, dass der Weltekel oder Hass überwogen habe nach der Haftentlassung. Hatten Sie das Bedürfnis zu lesen? WK: Das Bedürfnis ja, aber nicht die Fähigkeit, zusammenhängende Bücher zu lesen. Die las man im Zuchthaus anders, viel langsamer, und mir fiel es schwer, zusammenhängende, längere Texte zu lesen. Ich habe dann angefangen mit Arno Schmidt. GH: Wie sind Sie darauf gekommen? WK: Das lag in der Buchhandlung, und ich blätter’ durch und sah so lauter kleine Schnappschüsse. Und da habe ich also, von meinem kümmerlichen Stipendium, den Leviathan gekauft, Brand’s Haide als erstes, glaub’ ich, dann die Gelehrten republik, und diese drei Bücher habe ich in Göttingen gelesen. Nachdem ich mich an der Universität eingeschrieben hatte, bin ich Student gewesen, theoretisch, bin aber nur selten hingegangen, weil ich mich nicht entscheiden konnte, und hatte mich gleichzeitig in der Pädagogischen Hochschule eingetragen, weil ich glaubte, den Anforderungen eines Universitätsstudiums nicht genügen zu können. Ich war ja noch Schüler, als ich entlassen wurde. Ich musste ja noch das Abitur nachmachen. Das heißt, ein ganzes Jahr habe ich geochst aufs Abitur hin. Das habe ich gemacht als Zweitbester. Ist das nicht schön? Auch mein Examen an der PH habe ich »sehr gut« gemacht. Das war ja auch alles Kinderkram, ein wahnsinnig leichtes Studium. Ich habe nebenher alles Mögliche andere gemacht. Nicht gearbeitet, überhaupt keinen Schlag, aber gelesen. Da habe ich mich in der Psychologie festgebissen. Es hat mich interessiert im Studium einerseits die Landpädagogik, das ist die deutsche Tradition der von Kerschensteiner her rührenden, ich möchte fast sagen: demokratischen Reformschule, die führt über Kerschensteiner, der sich auf anderem Gebiete leider schwer schuldig gemacht hatte. Er war für Euthanasie, aber um die Jahrhundertwende, da war das unter anderen Vorzeichen. Das war die Zeit, als die Hebammen die Missgeburten gleich wegschmissen. Die Landschule hat mich sehr interessiert, weil ich nicht in die Stadt wollte. Ich wollte aufs Land. Und da habe ich die ganzen Reformpädagogen intensivst studiert. Meine Studentenbibliothek ist noch hier. Und Psychologie. Pädagogik hat mich komischerweise nicht interessiert. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass in der Pädagogik leeres Stroh gedroschen wird. Alle haben sehr hochtrabende Ziele, und wenn man dann vor der Klasse steht, haut alles irgendwie nicht hin. Aber die praktische Pädagogik, die Reformpädagogik, diese unglaublich segensreiche Erfindung der zwanziger Jahre, die dann von den Nazis zertreten wurde, das war ja ein Segen für die Menschheit. Und ich habe dann, als ich selbst
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Lehrer wurde, versucht, diesen Schultyp hier auf dem Lande in der Schule und später auch als Dozent durchzuziehen und zu propagieren. GH: Von den Psychologen ... WK: Komischerweise fing ich mit Adler an, dann die Traumdeutung von Freud, das Buch ist auch noch hier mit Datumszeichen, Sie können sich davon überzeugen, und Jung. Ich habe alles, was von Jung zu kriegen war, gelesen. Und als ich Examen machte in Psychologie, musste mich die Dozentin richtiggehend rausschieben aus dem Raum, weil ich so voll war davon. Das interessierte mich unglaublich, bis heute eigentlich. Jetzt hat es nachgelassen. Das waren diese drei Säulen im Grunde: Wellhausen, Harnack und die Bibel; Shakespeare, dann die Nachkriegslektüre, Arno Schmidt, und die Psychologen. Das ist das Fundament, auf dem ich aufgebaut habe, und ich finde, es ist kein schlechtes. Kafka wollen wir nicht vergessen. Der hat auch immer diese kleinen Absätze in seinen Erzählungen gehabt, die konnte ich gut lesen. Dann geriet ich an Galsworthy, die Forsyte-Saga, die gab’s billig zu kaufen, der Band fünf Mark, die kaufte ich mir immer, und die ganze Forsyte-Saga habe ich gelesen, weil es mich faszinierte, wie der da die Familiengeschichte bis in letzte Winkel ... und den Erfolg haben Sie dann ja: Der Mut, so was selbst zu machen, rührt daher, von dem Galsworthy. GH: War da auch schon der Plan erwacht? WK: Ja, das war schon früher im Zuchthaus Bautzen. Weil ich da ja mit meinem Bruder zusammensaß, und da wir ja keine Lektüre hatten oder kaum, haben wir uns meistens was erzählt und eigentlich immer nur von früher, weil wir unser Elternhaus als ein besonders skurriles und merkwürdiges und originelles empfanden. Die Nachbarkameraden, mit denen wir da zusammensaßen, die haben abends sich immer dahingesetzt und zugehört, wenn wir von früher erzählten. Und da reifte in mir schon der Gedanke, das wär’ doch eigentlich eine tolle Sache, da einen Roman draus zu schreiben. Das habe ich auch mit einem Studenten besprochen, der hieß Natonek, den Namen müssen Sie notieren. Das war der Sohn eines sächsischen Dichters, der, ich glaube, Jude war, »Halbjude«, der in die Staaten emigrierte, aber den Sohn, den ließ er hier, und der hat hier ziemlich gelitten. Er war ein wahnsinnig kluger Mensch. Er war Studentenführer der Leipziger Studentenschaft, nach dem Krieg. Er warnte mich immer: »Das ist ja dann ein Schlüsselroman, das musst du bedenken! Schlüsselroman und so weiter, das geht eigentlich nicht! Man muss mit der Phantasie arbeiten!« Der war also genau
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gegensätzlicher Ansicht wie ich. Ich meinte, sozusagen, die Wirklichkeit der Realität zu erfinden, indem man sie so genau ankuckt, dass man sie ins Unwirkliche, oder ins Typische, besser gesagt, umdreht. Was Sie ja auch gemacht haben in dem Kindheitsroman. Das heißt, nur die Realität zu bieten, dazu ist man ja nicht bedeutsam genug. Da müsste mein Vater vielleicht irgendein Widerstandskämpfer gewesen sein oder so, aber er war ja nur ein ganz einfacher Bürger. Ich hatte dann noch einen anderen Grund, diese Schriftstellerkarriere anzupeilen, weil meine Eltern in den frühen dreißiger Jahren einen Schriftsteller als Untermieter aufgenommen hatten – Geld war knapp, nicht? –, und das ist Walter Görlitz gewesen, der später in der Welt den Griff in die Geschichte jahrelang, jahrzehntelang geschrieben hat. Ich glaube, damals, als Sie zu uns kamen ein-, zweimal oder so, war es auch mehr die Atmosphäre eines Schriftstellerhauses, was Sie angemacht hat, nicht so sehr, was ich geschrieben habe, das haben Sie vielleicht auch gelesen, das weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht, aber der Atem einer Schriftstellerwerkstatt – wie wohnt so’n Mensch, wie arbeitet der, was ist das für ein herrliches Leben im Grunde –, das war es, was Sie gereizt hat, glaub’ ich. GH: 1984 war ich das erste Mal hier und noch ganz Kempowski-unkundig. WK: Und dann später noch mal was länger, glaub’ ich, nicht? Vierzehn Tage oder so. GH: Ja. WK: Und dann dieser Görlitz eben, in der allgemeinen bürgerlichen Armut der dreißiger Jahre entfaltete er da bei uns ein gewisses Wohlleben, aß Möweneier und Kaviar und hatte ein Reitpferd. Ich besaß ja an sich nie die Neigung zu diesen Sport allüren. Meine Mutter musste da immer saubermachen. Ich war vier Jahre alt und ging denn da immer mit rein, wenn er das Haus verließ und zur Universität ging oder sonstwohin. Und dann habe ich da immer seine Manuskripte liegen sehen. Dieses reinliche Tun und dieser gewisse Wohlstand ... Der hatte immer so schöne englische Zeitschriften in damaliger Zeit, Anfang der Nazizeit, so wie später dann in Deutschland Du – oder wie hießen diese Zeitungen, diese guten, gediegenen Zeitschriften? Du, ich glaub’, das war ’ne gute Zeitschrift. Jedenfalls, da gab es so einige, und die hatte er da so rumliegen, ich habe damit rumgespielt. Und er hatte so schöne Handschuhe, weiß ich noch, aus so ’nem besonderen Leder, und eine phantastische Aktentasche. Und viele Sachen schmiss er einfach weg, weil die angeblich nicht funktionierten, so Füllfederhalter. Und ich: alles rausgeholt. Die Aktentasche schmiss er eines Tages auch weg. Die hat mein Vater dann requiriert. Bis zum Schluss trug er die noch. Aber nun kommt’s: Wir hatten zwei Untermie-
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ter, das eine war Walter Görlitz, von dem ich wirklich sehr viel gelernt habe, aber mehr atmosphärisch letztlich; gelesen fast gar nix. Und der hat all seine Bücher bei uns geschrieben. Der kam immer, klopfte bei meinen Eltern an die Tür: »Darf ich mal ’n Augenblick stören, Herr Kempowski? Ich möchte Ihnen gerne mein neues Buch dedizieren.« Sie müssen mal die Titel durchgehen. Googeln können Sie die alle, lesen tun Sie die bloß nicht. Er hat fast nur Biographien geschrieben. Das ist natürlich wieder interessant. Und nun kam’s. Meine Eltern besaßen zwei Fremdenzimmer, das eine war das eigentliche Kabinettchen meiner Mutter, in dem sie früher, vor der Krise, Briefe schrieb und Wiechert las, so als junge Ehefrau. Und das andere war oben auf dem Boden, und das, Sie wissen das alles längst, das vermieteten wir an die Souffleuse des Theaters. Damals hießen die nicht Souffleusen, sondern Einhelferinnen, das war der deutsche Ausdruck dafür. Einhelferin. Da gibt’s sogar ’n Foto, und von Görlitz natürlich auch. Und diese Einhelferin hatte sich in mich verkuckt. Sie hatte zwar selbst auch eine Tochter, aber die war schon längst erwachsen. Und sie: dick und ’n bißchen schwabbelig, wie so ’ne lustige Alte – Schauspielerin. Ich glaube, manchmal spielte sie auch. Und die hatte sich in mich verkuckt und lieh mich ab und zu aus. Das heißt, ich war damals drei, vier, höchstens fünf, und dann legte ich mich oben bei ihr auf das Bett, und dann hörte ich zu, wie sie den Schauspielern [unverständlich]. Ich kann mich genau an Don Carlos erinnern. Ich will nicht jetzt übertreiben, also, diesen berühmten Satz, »Geben Sie Gedankenfreiheit«, sicher nicht, aber so der Ton, wissen Sie, dieses Hochgestochene der Schiller’schen Diktion. Wie sie das mit denen dann da einübte. Und manchmal nahm sie mich auch mit ins Kaffeehaus, Café Herbst bei der Marienkirche in Rostock, und da gab’s dann Zitronenröllchen und Kakao, und seitdem habe ich meine Liebe zum Kaffeehaus entdeckt. Richtig schöne gibt’s ja jetzt kaum noch, Kaffeehäuser. Tja, die Frau, sie hat dann den Ehrgeiz gehabt, mich auch auf die Bühne zu bringen. Da wurde das Weihnachtsmärchen gespielt, und zwar Daumesdick, glaub’ ich, hieß das, oder Der Däumling. Und ich sollte unbedingt den Däumling spielen. Und nun verlässt mich mein Gedächtnis: Einerseits meine ich, auf der Bühne gestanden zu haben, und tatsächlich diese winzige Rolle da – wir waren zehn Jungs, und die wurden alle der Reihe nach aufgestellt, und ich war der letzte, das war eben der Witz irgendwie, und andererseits aber habe ich aus meinen frühen Aufzeichnungen gesehen, dass ich mich geweigert habe. Also, es kann ja sein, dass ich ’ne Generalprobe da mal mitgemacht habe. Ich erinnere mich, dass ich da in dem Schaukasten saß und [unverständlich]. Aber scheinbar habe ich eine Rolle als Schauspieler damals nicht angefangen und auch nicht abgebrochen. So war das. Dann kam ich raus, und durch diese lange Haftzeit – die drängt natürlich dazu, jemandem das erzählen zu wollen. Aber in der Zeit, in den fünfziger Jahren, hörte natürlich niemand zu, weil jeder seine eigene Vergangenheit hatte. Der eine
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war ausgebombt, die andere Kriegerwitwe, der dritte die Söhne verloren, Flüchtling, Vertriebener, du lieber Himmel, was war das alles. Nazi gewesen, Land verloren, das war ja auch für die Leute bitter, nicht? In Göttingen, mein Wirt, das war ein ganz lieber Kerl, der hat da auch prompt seine Pension verloren. Kriegte sie aber später wieder. Na ja, kurz und gut: Es wollte niemand zuhören. GH: Das ist etwas, was man auch bemerkt, wenn man Biographien liest von Juden, die Konzentrationslager überlebt haben ... WK: Nicht aus Schuldgefühlen, das glaube ich nicht so sehr, sondern weil die einfach die Schnauze voll hatten. Sehen Sie mal, die Städte damals waren ja noch alle voll Trümmer. Das ging ja noch bis, als ich entlassen wurde, ’56 lag Hamburg noch zum Teil in Trümmern. Damals noch. Im Gegensatz zu manchen Schreibern, Autoren oder Journalisten heute bin ich der Meinung, dass es nicht so sehr war das Versteckenwollen, Sich-schuldig-Fühlen oder so, sondern einfach: Sie hatten’s satt, das Thema. Alle. Und eins stimmt ja nun ganz bestimmt nicht: Dass damals keine Bücher über diese Zeit erschienen. Wenn Sie mal das Erscheinungsdatum der wichtigsten Bücher über die KZs und die Judenvernichtung ankucken, dann werden Sie staunen: Die meisten sind in den vierziger Jahren erschienen. GH: Mitscherlich, Medizin ohne Menschlichkeit, kam, glaube ich, ’47 heraus; Kogon, Der SS-Staat ... WK: Kogon, auch ziemlich früh. So, das wäre das Thema. – Dann habe ich mich eben hingesetzt und habe nicht geschrieben, sondern habe das fortgesetzt, was ich in Bautzen angefangen hatte, nämlich recherchiert. Das ist jetzt ganz wichtig zu wissen. Denn Tadellöser & Wolff oder den Block habe ich erst viel später angefangen. Ich hab’ zuerst recherchiert. Denn ich hatte immer die Angst – wir besaßen ja keine Fotos mehr von meinen Eltern oder so was, ganz wenige nur. Unsere Wohnung war geplündert worden von den Nachbarn nach unserer Verhaftung. Und mein Wille, irgendwie dies wiederherzustellen oder irgendwas an Land zu ziehen, was mir Auskunft gab auch über meine Schuld, meine persönliche Schuld, wie es dazu kommen kann, dass ein persönlich doch an sich von Natur aus gutartiger Mensch so schuldig werden kann ... und deshalb habe ich also sämtliche Verwandten aufgetan, die noch – damals – jung waren! Heute denkt man, das waren alles Neunzigjährige. Ja, Menschenskind, die waren so alt wie wir beide! Sie waren damals alle fünfzig, höchstens sechzig, also absolut noch im Oberstübchen gut! Die haben mir auch alle sehr nett geantwortet. Und diese ganze sogenannte »Vorchronik« gibt’s in Berlin einzusehen. Das sind fünfzig Bände. Ich habe sogar den Betriebsteilhaber meines Vaters interviewt, den Prokuristen hab’ ich noch erwischt, Pastoren aus
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der damaligen Zeit, die mit meiner Mutter Seelsorge betrieben hatten, die riesige Verwandtschaft meiner Mutter ... Und dann, durch Glückszufälle [unverständlich] diese Flüchtlingszeitung, die ja sehr segensreich war, dann tatsächlich sogar das Geburtshaus meines Ururgroßvaters, in Abbildung. Ist das nicht ’n Ding? Ich zeig’s Ihnen nachher. Das ist nun ganz wichtig zu wissen, dass das Fundament zuerst gelegt wurde. Ich habe da Funde gemacht, die ich nie für möglich gehalten hatte. Jetzt hat mich neulich aus Cuxhaven ein Journalist angesprochen, ich hätte mal erzählt von einem Cuxhavener [Tagebuch?]. In der Tat, denn ein anderer Urgroß vater von mir war in Cuxhaven Arzt. Die Linien spalten sich ja: Das eine ist Ost preußen, und das andere ist Hamburg. Die Hamburger Verwandtschaft ist riesig, und die Überlieferungen sind gewaltig, und die Ostpreußen, deren Überlieferungen sind etwas spärlicher, aber durch einige glückliche Funde ausreichend, sodass ich diese ganze Lebensgeschichte rekonstruieren konnte in den Büchern Aus großer Zeit und Schöne Aussicht. Die größte Entdeckung machte ich in Bautzen selbst. Mein Bruder und ich wurden mal verlegt, ab und zu mischten die Russen diese riesigen – es waren ja acht [Zellen?] à vierhundert Mann, stellen Sie sich das bloß mal vor, was das für Menschenmassen waren – mischten sie halt durcheinander. Ein Durcheinander! Und ein Höllenlärm war da immer! Bei der Gelegenheit kriegte man mal andere Typen zu sehen: »Mensch, bist du hier aus Rostock!« Und denn die Russen, die schlugen dazwischen, weil sie ja nicht organisieren konnten, nicht. Na, und da kam man auf ’n neuen Saal, und da kommt einer auf mich zu und sagt: »Kempowski, euer Vater ist in Ostpreußen gefallen. Ja, allerdings! Und ich war sein Feldwebel. Ich war dabei.« Nun stellen Sie sich das mal vor. So was Verrücktes kann man doch gar nicht denken. Der war Kommunist übrigens, mochte meinen Vater auch nicht besonders gerne. Er erzählte dann allerhand Negatives, was mir besonders lieb war, weil ich ja meinen Vater nicht vergotten wollte, sondern gerade ihn als Mensch in dieser Ausnahmesituation darstellen wollte. Das ist alles in der »Vorchronik« drin, die dann später vielleicht als Werk ... die ist gut ausformuliert, alles Korrektur gelesen, alles fix und fertig mit Fotos versehen – die könnte später mal so als Werkausgabe am St.-Nimmerleinstag ... GH: ... in der historisch-kritischen Gesamtausgabe ... WK: Da kann man genau sehen: Wo hat er was her? Hat er geschummelt oder nicht? Ich hab’ meist nicht geschummelt, denn die Wahrheit war interessanter als das, was man sich ausdenken kann. GH: Und die war zunächst für die Familie geschrieben?
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WK: »Familienchronik«. Die hatte ich dann, aus finanziellen Gründen auch, weil, das hat ja ’ne Menge Geld gekostet, allein die ganzen Fotos abzufotografieren, und ich hab’ dann dreißig Exemplare hergestellt von dieser »Vorchronik« im engeren Sinn der ersten sechs Bände, glaube ich, die andern ufern dann auch aus. Und die habe ich dann an die Verwandtschaft verscheuert, Stück zwanzig Mark. Da hieß es denn, Walter Kempowski will an uns Geld verdienen. Und dann haben sie später angegeben damit, am Familientag, als ob sie das selbst rausgefunden hätten. Aber das ist egal. Jedenfalls, das Material – Sie kennen das ja von Ihren Recherchen für diese beiden großen Bücher, die Sie geschrieben haben – wächst unter den Händen, das wächst einem zu. Heute ist ’ne andere Situation, heute haben wir nicht diesen Trümmerkrieg hinter uns. Das heißt, es sind Dachstühle nicht abgebrannt – doch! Natürlich, bei Ihrem ersten Buch ja selbstverständlich auch. Da ist ja auch viel weg gewesen. GH: Was verloren ging auf der Flucht natürlich. WK: Was so ’n richtiger Germanist ist – die sind manchmal ja ganz froh, dass Ludwig der Fromme die ganzen Bücher hat aufbrennen lassen. Sonst hätte es ja kein Ende. Das stille Jahrhundert wäre dann doch sehr belebt gewesen ... GH: Der Kontakt zu Rowohlt, wie kam der zustande? WK: Dies ist jetzt das ganze erste Kapitel, sozusagen, wonach Sie gefragt haben, der sogenannte Bildungsweg, und der lief eigentlich ziemlich glücklich, im schönen Göttingen, ich weiß nicht, ob Sie Göttingen kennen ... GH: Ich habe da auch zwei Jahre gewohnt. WK: Ach, richtig, ja. Im Sommer, und die schöne Jugendzeit ... ich war zwar schon an die 30, glaub’ ich, 27, 28 war ich, 30, ja. Aber das war wunderschön. Es ist halt so ähnlich wie bei Fritz Reuter in Hanne Nüte un de lütte Pudel: »Ich würde doch nach Jena gehen«, ruft der Pastor dem jungen Studenten zu, der aber nicht nach Jena geht, natürlich, sondern sein eigenes Leben aufbauen will. Und nicht da studieren, wo der Alte studiert hat. Na, das war das. Ich hab’ damals ja dann den Lehrerberuf gewählt. Man könnte vielleicht denken, wegen der Ferien. Das stimmt so nicht. Ich hab’ da auch dran gedacht. Mir fiel es zuerst sogar sehr schwer, den Anfangsunterricht zu geben, weil ich ganz andere Vorstellungen hatte von Unterricht mit Kindern, als mir hier von der Schulbehörde vorgegeben wurde. Aber so nach anderthalb Jahren, der zweite Jahrgang, der dritte Jahrgang – eigentlich richtig erst nach fünf Jahren hier in
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Nartum, da platzte die Knospe, da hab’ ich richtig losgelegt. Später dann auch in Zeven. Da habe ich versucht, die Landschule, dieses Idealbild der guten deutschen humanen Landschule in die Stadt zu übertragen. In Zeven hab’ ich einfach gesagt: »Die Klasse ist mir zu klein. Haben Sie nicht einen Kellerraum hier?« Und dann hab’ ich die Keller inspiziert, und da hab’ ich festgestellt, dass sie einen riesigen Kellerraum hatten. Ich sag: »Da möchte ich unterrichten.« Waren bloß so schmale Fenster. Und das haben die mir tatsächlich gestattet. Das steht ja alles im Schulmeisterbuch drin. Das kennen Sie ja. Da ging es dann. Da ließ sich das verwirklichen. War ’ne sehr schöne Zeit, nur leider, das wird immer vergessen, war meine Frau ja [zwölf?] Jahre schwer geisteskrank. Da nahm man oft, wenn man morgens in die Schule ging, die Kinder untern Arm. Mit in die Klasse genommen, weil man Angst haben musste, dass sie mit dem Messer auf die Kinder losgeht. Furchtbar. Das war ’ne finstere Zeit. Zumal die damals direkt auf die Bautzenzeit folgte. Bautzen ist vor mir eingerahmt durch Wiesbaden, diese drei Monate, herrlich, und Göttingen. Beides wie so kleine Trostpreise. Der eine ein sehr kleiner, wo ich die Amis kennenlernte in ihrer großzügigen, freiheitlich-angenehmen Art. Nur, die Schwarzen mussten auf den Lastwagen fahren, durften nicht in den Omnibus rein. In Wiesbaden. Die hatten ein Extraklo, stellen Sie sich das mal vor. Was das für Zeiten gewesen sind. Da haben wir doch sehr gekuckt. Aber es hat uns nicht zur Opposition angeregt, dazu war die Zeit viel zu kurz. Von Dezember bis März war ich nur da. Aber die amerikanische Bibliothek, mein Herr! Nach dieser furchtbaren Russen-Einengung, nur dieser sozialistische Scheißdreck da ... Die elterliche Bibliothek, davor hat man ja irgendwie so ’ne Scheu, komischerweise. Warum hat man die Bücher nicht gelesen? Und da plötzlich: Gesprächsrunden, Englisch aufgefrischt, plötzlich konnte man sich mit Amis unterhalten, und die amerikanischen Zeitungen, Life und wie die alle hießen, Esquire ... das war schön. Dann das große Malheur, aus einem fehlgeleiteten – Drews hat es als einziger sprachlich richtig ausgedrückt –, aus einem albernen Vaterlandsgedanken heraus, so hat er das ausgedrückt in einer Laudatio.2 Die Formulierung kommt der Sache am nächsten. Heiß fürs deut-
2 Anm. d. Red.: Vgl. Jörg Drews: Die Dämonen reizen und sich dann blitzschnell umdrehen. Laudatio auf Walter Kempowski bei der Übergabe des Thomas-Mann-Preises am 7. August 2005 im Scharbausaal der Stadtbibliothek. In: Die Spatien 3 (2005), S. 15–30, hier S. 16: »Dann ist da bei Walter Kempowski das Unglück eines achtjährigen Gefängnisaufenthaltes, weil er 1947/48 sich aber nun wirklich gar nicht in der Welt auskannte, obendrein seelisch verwahrlost war und so hochherzig wie albern glaubte, etwas gegen die Demontage Deutschlands tun zu müssen; das gehört eigentlich eher in die Abteilung Deutsches Chaos zwischen 1945 und 1949, und die Fortführung der russischen Gefängnisstrafe durch die DDR bis 1956 ist ja eigentlich auch ein Akt inhumaner Dämlichkeit.«
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sche Vaterland, womit ich natürlich nicht die Nazis meinte natürlich, sondern meine Marienkirche. Ach ja, die musikalische Erziehung, die müssen wir nachholen noch. Die Marienkirche und meine Eltern und das Elternhaus, Demokratie, meinte ich damit, und die wurde abgewürgt. Und deshalb diese merkwürdige Tat von mir da, die heute natürlich keiner mehr versteht. Obwohl, wenn man heute das Thema Beutekunst anschneidet, dann wird’s auf einmal aktuell! Das ist ja nix and’res. Ich bin der Meinung, ganz unter uns gesagt, man soll die Beutekunst ruhig da drüben lassen. Die deutschen Museen haben in ihren Magazinen derartig viele Gemälde, die sie nie zeigen. Von Ludwig Richter haben Sie, glaub’ ich, im letzten Jahr seit hundert Jahren zum ersten Mal eine Gesamtausstellung gemacht. Nun stellen Sie sich das mal vor. Was ist das für ein Land? Nur immer diesen modernen Dreck hier, diesen Scheißdreck, diese Minimal Art ... Ja. Und da habe ich das eben getan, weil ich sah, dass von Demokratie, von Freiheit, von Erlösung in dem Sinne gar keine Rede sein konnte, sondern auf unserm Tisch, da lagen ja die Frachtbriefe, und da stand eben drin, dass die nicht nur große Fabriken in Sachsen abgebaut haben, sondern sogar in unserer Straße so ’nem kleinen hochgearbeiteten Drucker, wissen Sie, der hatte sich mit Fleiß eine kleine Druckmaschine schließlich angeschafft und druckte so Visitenkarten und Briefpapier, war ein ganz einfacher Mann: Dem haben sie sogar die Drucktiegel rausgenommen, mit den Schriften, die sie gar nicht gebrauchen konnten. Ich seh’ den Mann da noch stehen. Die mussten sogar die Häuserwand aufbrechen, weil sie die Maschine nicht durch die Tür kriegten, nicht wahr ... Rücksichtslos. Und von deutschen Kriegsgefangenen weiß ich, dass ein Großteil dieser Sachen auf den Kais der Häfen in Petersburg und sonstwo verrottet ist. Na gut. Das empfand ich als große Ungerechtigkeit. Und wenn Sie Zeuge sind ... Ich hatte das ja nun von meinem christlichen Elternhaus: Du musst immer die Wahrheit sagen und dich einsetzen für das Gute. Mein dänischer Schwager, der ja bei uns gewohnt hatte, der hatte mir das recht eindringlich vor Augen geführt, wie schlimm die Deutschen sind, dass sie sich ducken lassen von Hitler, und man müsse doch gegenanarbeiten. Ja, nu’ hab’ ich’s getan, und derartig dilettantisch, dass es mich und meinen Bruder und meine Mutter und alles vollkommen zerstört hat. Und diese Tat, sozusagen, die mir nach der Haftzeit von den Behörden als Schuld angelastet wurde, nicht als Verdienst ... Ich denk’ doch, ich bin ’n Held? In Bautzen haben wir das immer gedacht. Da hieß es immer, der hat wirklich was gemacht. Die andern haben alle irgendwas erzählt, nicht, die meisten hatten gar nix gemacht und haben die dicken Entschädigungen eingestrichen oder Stipendien. Na gut. Ich kriegte also nichts. »Da sieh du zu«, wie es so schön heißt. Vor allen Dingen natürlich familiär – meinen Schwiegereltern gegenüber war das außerordentlich peinlich, weil ich jetzt auf einmal als Krimineller dastand. Ich wollte
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aber Beamter werden. Plötzlich schutzlos – die Hüllen fielen – stand ich da. Alles abschlägig beschieden, nicht mal ’n Flüchtlingsausweis kriegte ich. Gor nicks. Und dann habe ich mich da so durchgewieselt. Meistens geschieht ja irgendein Wunder. Eines Nachmittags – ich war grad bei meiner Mutter in Hamburg und klagte ihr mein Leid, dieser armen Frau, die wirklich genug am Stecken hatte –, da klingelt’s, da kommt ein uns unbekannter Herr und sagt: »Entschuldigen Sie, ich bin von der Sozialbehörde. Ich hab’ durch Zufall erfahren von Ihrem Pech«, und so weiter. »Ich möchte Ihnen helfen.« Stellen Sie sich mal vor, das passierte. »Ich weiß einen Ausweg. Sie sind doch Halbwaise«, sagt’ er zu mir. »Ihr Vater ist doch gefallen.« Dann hat er mir als Halbwaise ein Stipendium verschafft, stellen Sie sich das mal vor. Da konnte ich dann den Rest meines Studiums mit rumbringen. Und als ich dann fertigstudiert hatte und das Examen gemacht hatte, habe ich ihm einen schönen Dankesbrief geschrieben. Aber so was gab es eben auch. Seit dieser Zeit habe ich eine Abneigung gegen die SPD, die damals diese ganzen Flüchtlingsstellen besetzt hielt, und obwohl meine Freunde aus Bautzen denen persönlich auf die Bude gerückt sind und immer wieder: »Das können Sie doch nicht machen« und so weiter – hohnlachend! Das hätten sie doch auf ihre eigene Kappe nehmen können, ohne weiteres. [Die haben] mir das ganze Leben versaut, das ganze Leben, bis heute. Ist wirklich wahr. Denn das Gefühl der Ungerechtigkeit lässt mich bis heute nicht los. Das hat sich ja dann fortgesetzt, darüber brauchen wir jetzt nicht zu sprechen, in den sechziger Jahren, das haben Sie ja verfolgt – siebziger, achtziger Jahren –, bis zu der Verleihung des Konrad-AdenauerPreises, 1981 oder wann das war. Nee, ’82 kriegte ich zwischendrin plötzlich den Kriegsblindenpreis, weil Drews mir den verschafft hatte, und bis dahin: nix. Gestern las ich so’n Aufsatz über die Villa Massimo. Hätte mir auch gutgetan. Und Ihnen wahrscheinlich auch, nicht? [Raunend:] »Kempowski ...« Schluss mit dem Thema. Ich wollt’ nur mal sagen, mit dieser Hypothek kam man nun raus, und dieses ganze Suchen nach biographischen Zeugnissen ... und ... ich wollte einfach auch meinen Schwiegereltern zeigen, dass ich kein hergelaufener Lump war, sondern dass meine Eltern, wenigstens mütterlicherseits ... der eine war Hauptpastor in der Michaeliskirche gewesen, und meine Mutter war mal Elise Averdieck vorgestellt worden, was in Rotenburg ganz bedeutsam ist, weil die Anstalten nämlich von Elise Averdieck gegründet worden waren, hähähä! Und das hattense nicht gedacht. Hat aber alles nichts genützt. Mein Schwiegervater hat nie irgendwas gesagt, aber meine Schwiegermutter hat mich doch sehr geärgert, das muss ich wirklich sagen. Unnötig. Man hätte mir das Leben damals leichter machen können. Wo man doch sowieso schuldbeladen [war], und dann wurde diese Schuld sozusagen noch behördlich bestätigt. Als ich eingestellt worden bin, da hab’ ich zum Schulrat gesagt: »Ich möchte Sie mal privat sprechen.« Ich sag’, so und so ist das. Sagt der [flüsternd]: »Erzählen Sie
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es niemandem.« Das gab’s auch. Er hat’s auch auf seine Kappe genommen. Sonst hätt’ ich auch kein Beamter werden können. Ich war ja vorbestraft. Stellen Sie sich das mal vor. Nach fünfzehn Jahren dann hab’ ich meine Frau nachts geweckt. Ich sag: »So. Jetzt ist es verjährt.« Als dritte Bildungssäule müssten wir noch, damit wir das Thema abschließen können, die Musik nehmen, sonst fehlt Ihnen da was. Wenn Sie das überhaupt alles wissen wollen und gebrauchen können. Ich denke, das gehört dazu. Die musikalische Erziehung – Sie haben ja auch Klavierunterricht gehabt, wie man lesen konnte – [war] nicht so verkehrt. Ich sag immer, wenn Kinder selbst ans Klavier gehen und rumklimpern, dann soll man ihnen Klavierunterricht geben lassen. Wenn sie aber an einem Instrument vorübergehen und niemals selbst klimpern, ja? Dann ist der Naturtrieb nicht da, dann soll man das Geld lieber sparen. Das hat sich bei unsern Kindern auch bewahrheitet. Na ja, [ich hatte] Klavierunterricht bei einer sehr guten Lehrerin, Fräulein Abel. Ich habe sie im Tadellöser & Wolff etwas schlecht gemacht, weil sie ganz unpädagogisch vorging. Bei Fräulein Abel hab’ ich denn Bekanntschaft mit Bach gemacht. Und ich war irgendwie ein eidetisches Talent. Wir sind gekommen bis zu den zweistimmigen Inventionen. Ich konnte die immer gleich auswendig. Sie sagt: »Kuck hin, kuck hin, und unten, Fingersatz!« Bach lag mir so, das war meine zweite Haut, sozusagen, bis heute. Mozart, das war mir als Junge immer zu ... irgendwie ... ich hatte keine Beziehung zu dieser Wiener Musik da. Bach, das war, wissen Sie, dieses Marschieren, wie Adorno das bezeichnet – er weiß wohl, warum die deutsche Jugend für Bach war, wegen des Marschierens, nicht? Wie er so da Bach gegen seine Liebhaber verteidigt in der Schrift. Also, das war’s nicht, sondern mich hat einerseits die Einfachheit seiner Kompositionen und auf der andern Seite diese unwahrscheinliche Großräumigkeit bis heute immer noch nicht losgelassen. Ich machte dann die Bekanntschaft dieses blinden Organisten in St. Marien, ich bin da immer hingegangen, damals war ich so 14 vielleicht, 13, 14, hab’ dem immer Zigarren von meinem Vater mitgebracht, und dann hat er mir den Unterschied zwischen Klavierspielen und Orgel beigebracht, wie man registriert, Pedal, ohne hinzukucken. Ich will nicht sagen, dass ich bei dem das Orgelspielen gelernt habe, aber ich habe immerhin doch zwanzig, dreißig Stunden bei dem gehabt. Und bei der Intensität mit einem blinden Mann in dieser riesigen Kirche und [an] dieser herrlichen Orgel, und wie er das interessant immer schattieren konnte, das hat mich doch unglaublich beeindruckt. Und nach dem Knast musste ich als Lehrer ein Musikinstrument lernen. Da hab’ ich Orgelstunden genommen, bis zu einem gewissen Grade, bis ich plötzlich darauf kam, dass ich mich bloß nicht in ein Dorf mit Kirche versetzen lassen darf, weil jeder Sonntag ... da hab’ ich sofort abgebrochen. Sofort. Hat mir einer geflüstert. Der hat gesagt: »Mensch, bist du denn wahnsinnig geworden?«
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Und dann, um diese dritte Säule sozusagen noch zu vervollständigen, die unglaubliche Chance, ausgerechnet in Bautzen in einen Chor einzutreten, der illegal war. Bei diesen 400-Mann-Sälen, da hatte die VP vollkommen die Übersicht verloren [unverständlich]. Und dann haben wir uns da so in die Ecke gesetzt und haben gesungen und vierstimmige Sätze ausprobiert. Und schließlich kriegte die Anstaltsleitung davon Wind, dass da gesungen wurde, auch in andern Sälen, und sagte dann: »Warum machen wir das denn nicht offiziell? Ziehen Sie doch in ’ne Kirche.« Wir fielen natürlich aus allen Wolken. Inzwischen war nämlich der Pastor, ein SED-Mitglied, ich glaub’, der war sogar ZK-Mitglied, Pastor Mund, der kam von der andern Seite sozusagen und hat das gestützt und hat wohl die Sache initiiert. Jedenfalls wurden wir alle verlegt, mit Sack und Pack, alle freiwillig: »Wer will mit zum Kirchenchor?« Und dann meldeten sich Studenten, Lehrer, so richtig die Knast-Crème-de-la-Crème, nicht? Und ich mit meinem guten Freund Nahmmacher auch, den ich zufällig dort wiedergefunden hatte, ehemals HitlerJunge der strammsten Sorte und jetzt friedlicher Mensch. Und dann wurden wir in eine Zelle gesperrt, mit fuffzig Mann in eine Zelle, stellen Sie sich das mal vor. Das kann sich heute kein Mensch mehr vorstellen. Und in der Zelle musste man essen, schlafen, scheißen, einmal pro Tag halbes Stündchen Spaziergang, und singen. Und der Pope, der Pastor, brachte uns Noten mit. Leider zu wenig, wir hätten viel mehr leisten können. Und wir schrieben immer alles um für Männerchor und sangen dann. Ich hatte im Konservatorium in Rostock Harmonielehre-Unterricht gehabt. Bisschen. Nicht sehr viel. Mir fiel das sehr leicht, dies Umschreiben, ich habe denen dabei geholfen dann. Und im Januar ’54, da schlug das Schicksal zu. Am fuffzehnten Januar, glaub’ ich, ’54. Da kam ’ne Riesenentlassung. Da wurde die Hälfte aller Häftlinge entlassen. Nicht nur in Bautzen, sondern auch in Hoheneck, meine Mutter kam frei, alle Freunde gingen. Und ich blieb da. Das war’n Schlag, kann ich Ihnen sagen. Aber es wurde gemildert dadurch, dass dieser Chor noch existierte, auch halbiert. Statt 48 Mann oder wie viel wir da waren, waren wir nur noch 24. Aber immerhin, 24, ganz gute Leute dabei. Dann saßen wir da trübe auf den Pritschen und sagten: »Was machen wir jetzt?« Patronentaschen nähen für die ungarische Armee, wollen Sie das gerne? Ich nicht. Ich sag: »Wir machen weiter.« Aber wer ist der Chorleiter? Wir hatten da so’n Chorvater, einen älteren Mann, der war Kolonialwarenhändler von Beruf. Der hatte komischerweise die Strippen. Dann hatten wir auch ’n katholischen Priester da, und ’n evangelischen. Dann bin ich zu dem Kolonialwarenhändler da hingegangen und hab gesagt: »Weißt du was? Ich könnte es.« Irgendwie hatte ich plötzlich das Zutrauen: »Ich könnte den Chor leiten.« Ich war der Jüngste, damals. Dann hat der so ungläubig gekuckt, und ich seh noch den Priester, wie der so [unverständlich]. Das war der evangelische. Der sagt: »Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, wir müssen’s versuchen.« Und o Wunder, ich entdeckte meine Fähigkeiten in der
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Menschenführung sozusagen. Ich kam mit diesen zum Teil sehr alten Männern wunderbar klar. Die Noten so umzuschreiben, viele waren umgeschrieben, fiel mir äußerst leicht, und ich konnte Blattsingen. Und dann habe ich den Chor zwei herrliche Jahre geführt und hab’ ihn auch noch auffüllen können. Ich bin einfach runtergelatscht zu dem Büro da und hab’ gesagt: »Mit 24 Mann können wir nicht singen.« – »Ja, dann suchen Sie sich doch andere.« Dann bin ich von Zelle zu Zelle gegangen mit einem Wachtmeister und hab gefragt: »Will hier einer zum Kirchenchor?« Merkwürdigerweise blieben die Leute lieber in der Zelle sitzen, als dass sie zu uns kamen. Eigenartig, nicht? Kirchenchor, das stieß die ab. Aber ein paar gute Sänger, so zehn vielleicht, kriegte ich dann. Dann kamen noch aus irgendwelchen Winkeln, krochen da noch Leute an. Aber schließlich, 34 waren wir dann. Ein paar waren dabei, die überhaupt nicht singen konnten. Das waren Freunde von mir. Ich sag: »Ehe du hier verrottest hier auf der Zelle, hol ich dich, wenn du dich ein bisschen nützlich machst.« Dann wischten die. Die Sänger waren dagegen. Ich sagte: »Ihr müsst aber auch ’n bisschen menschlich sein. Was soll der arme Kerl denn auf der Zelle sitzen?« Der saß da schon seit anderthalb Jahren. Und dann haben wir eben gesungen, und die Programme sind alle erhalten, und das war wunderbar. Also, diese Tätigkeit, die musikalische, die von den Eltern begünstigt worden war durch frühen Unterricht, und jetzt durch Zufall einem gewissen Höhepunkt zugeführt, hat dann später, das ist dann ’n anderes Thema, dazu geführt, dass ich in meinem Echolot beispielsweise fugenähnliche Systematiken angewandt habe. Und auch die andern Bücher sind – das ist so, komischerweise, noch gar nicht gesehen worden – nach musikalischen Gesichtspunkten aufgebaut und oft sehr sorgfältig auch in den Tonarten abschattiert. Das [sind] alles Sachen, das können Sie später mal raussuchen. Wer suchet, wird finden! Aber diese musikalische Entwicklung, das war ’n besonderes Glück, aber ich musste wohl ’n bisschen begabt gewesen sein, denn mein Bruder hatte auch Klavierunterricht gehabt, und er hat auch nicht mitgesungen. GH: Dann würde ich ja sagen, dass das Göttingen-Kapitel in Herzlich willkommen in Dur ist ... WK: So kann man sagen. »In Göttingen schien die Sonne«, was? Ja. Dieses dritte Buch ist ja wie ein Triptychon gebaut. Das ist eigentlich ein dreiteiliger ... drei Romane sind das. Da ist einmal Hamburg, dieses Elend, nicht anerkannt zu werden. Zweitens das Wechseln der Rolle, dass ich nun auf einmal bei den schwererziehbaren Kindern als Aufseher lande. Da wird Bautzen umgedreht. Und schließlich, als letztes dann, der dritte Teil, als letztes dann, das Studium. Ich wollte nämlich, so wie ich Ein Kapitel für sich in den Stimmungen verdoppelt und verdreifacht habe, so wollte ich der ganzen Chronik einen großen Schluss verpassen, der die große
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Chronik auffängt. So war das gedacht, wie so ein dreiteiliges Triptychon. Hat funktioniert übrigens. Aber das Buch kennt kein Mensch, komischerweise. GH: Stellen Sie das bei Lesungen fest? WK: Die meisten kennen nur Tadellöser & Wolf, Uns geht’s ja noch gold und allenfalls Ein Kapitel für sich. Den Weg zurück haben die meisten nicht mitgemacht. Oder jedenfalls sehr viele nicht. Kann man nicht erklären. Ich halte das Aus großer Zeit für mindestens genauso gut. Schöne Aussicht ist mir vielleicht ’n bisschen entglitten. Das weiß man nicht so, das ist ja auch ein Riesenstoff. Dann hatte ich eine Krise nach Schöne Aussicht. Ich wusste nicht, wie ich weitermachen sollte, und da fiel mir dies Herzlich willkommen ein. GH: In dem Buch von Dierks werden Sie zitiert: Für die Zeit nach 1963 seien Sie nicht mehr zuständig. Das hat sich dann ja aber gewandelt ... WK: Das ist dann in der sogenannten »Zweiten Chronik« [unverständlich]. Sowtschick mischt sich dann doch noch ein. Aber damals hat man das ... GH: ’81, glaube ich. WK: Ja. Wann fing ich da mit dem Echolot an ... Ich glaube, ich habe ’86 zum ersten Mal einen Computer gekauft. ’86 war ich in Amerika gewesen, hab’ das gesehen, dass die da alle mit Computern arbeiten und hier kein Mensch. Ich sag’, was ist das denn? Da war Professor Keele, der meine ganze Deutsche Chronik, wie’s so heißt, auf einem sogenannten Muttergerät konkordiert hat. Sieben Bände, zusammen fast achttausend Seiten. Und da hab’ ich gedacht: »Das geht? Das geht! Das kann man machen!« Und da hatte ich auf einmal ein solches Verlangen nach diesem Hilfsgerät, dass ich mir dann hier sofort einen angeschafft hab. Ich glaube, es war ’86. Weiß nicht genau. Für damalige Verhältnisse sehr früh. GH: Und wahrscheinlich sehr teuer. WK: Es ging eigentlich. 1500 Mark kostete das Gerät, glaube ich, wenn ich mich recht erinnere. Die Rechnungen sind sicher noch da, also wenn Sie später ’ne Biographie machen wollen, können Sie das nachkucken. Ich habe meine ganzen Steuerakten alle in Berlin. Jeden Buchkauf können Sie genauestens nachkontrollieren. So, jetzt sind wir bis zu einem gewissen Ende gekommen. Das andere wäre vielleicht ein Thema für eine andere Sitzung, wenn Sie noch weitermachen wollen.
»Die Wahrheit war interessanter...« – Gespräch mit Walter Kempowski
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Ich war einfach zu nahe dran, wissen Sie. Und jetzt, das neue Buch, was ich im Augenblick schreibe, das heißt Kleine Liebe zu Trompeten, das spielt im Jahr 2007. Ist das nicht zum Totlachen? Wie ich diese ... Schildkrötenlauf ... wie ich da die Schildkröte einhole ... wie heißt der Kerl noch, aus der antiken Sage ... so hab’ ich die Nazizeit hinter mir gelassen, und die schwirrt so richtig ab ... allerdings nicht in Alles umsonst. Da hab’ ich noch mal wieder ein Thema ... Und Mark und Bein. Die beiden Bücher gehören eigentlich zusammen. Mark und Bein und Alles umsonst ist ... Kriegsbuch. Und gegen das, was ich jetzt schreibe ... und Sowtschick ... Letzte Grüße spielt in den achtziger Jahren ... Ja, man gewöhnt sich ja an neue Zeiten auch, nicht? Es hat sich ja vieles verändert. Auch zum Positiven. Ich muss sagen, so ganz im allgemeinen lebe ich ganz gerne. Und wenn jetzt die letzte Stunde naht – die Ärzte sagen mal so, mal so; neulich hat einer von drei Monaten gesprochen, das wäre im Juli der Fall, und dann hat ein anderer von einem halben Jahr geredet, wenn ich die Chemo mache. Die mach’ ich aber nicht. Also, da muss ich mich jetzt ’n bisschen beeilen, den letzten Roman, die Kleine Liebe zu Trompeten macht mir unglaublichen Spaß, aber ich merke, das innere Tempo, wissen Sie, wie das mich anheizt, das ist, glaub’ ich, so ein Ehrgeiz. Ich hab’ keine Angst vorm Tod, im Gegenteil. Nicht dass ich mich drüber freue, aber ich hab’ so lange Strecken ... und so viel ... meine Produktion, meine sogenannte Produktion ist so ergiebig gewesen, dass ich einfach – Sie sind ja nicht fürs Vaterland, lieber Herr, aber mir hat das was bedeutet, als Köhler mich besucht hat. Rau erst, als SPD-Mann, und als Köhler deshalb, weil ich damals nicht anerkannt worden bin. So lange brennt die Lunte. Soll man nicht denken, wenn man ’nen Menschen kränkt, wie lange das nachwirkt. Das war damals, 1957, vor fünfzig Jahren. Und da kommt er hier völlig unerwartet her, und Köhler auch, und hat das hier gesehen, auch mein Archiv, dieses Riesending, und hat mir dann ja sogar ’n schönen Orden verpasst. Und diese Verleihung des Ordens, da lacht ja mancher drüber. Für mich war das mehr. Das war für mich wie ’ne Art Wiedergutmachung. Köhler ist ja ein ganz ordentlicher Mann. Wie Rau ja auch. Die SPD insgesamt, da will ich nichts mit zu tun haben. Ich muss sagen, wenn einer mir sagt, »Ich bin ja auch SPD«, das ist mir ganz egal. Das ist mir sogar so egal, wie wenn einer mir sagt: »Ich war ja auch in der SED.« Na, da sag ich: »Und?« Ist ja lange her, nicht. Irgendwie muss man doch mal wieder zurande kommen. Kunert neulich, nicht, der war ja auch in der SED. Ich sag, das interessiert mich doch überhaupt gar nicht. Ob da nu’ einer Stasi-Akten geschrieben hat ... wer weiß denn, in welcher furchtbaren Notlage der Mensch gesessen hat. Es ist ’ne Schweinerei, natürlich, und man fragt sich, ob man mit dem Mann nun unbedingt näher verkehren möchte, aber will ausgerechnet ich dem das vorhalten? Ich? Wo ich das Schlimmste gemacht hab, was ’n Mensch überhaupt machen kann? Nee. Man muss immer doch auch ’ne Chance haben zum Weitermachen, finde ich. Die muss man ’nem Menschen geben. Und wenn die heute immer so reden:
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»Nach ’45 waren ja an sämtlichen Gerichten nur Nazis« und so weiter, nicht: Erst mal stimmt das nicht so ganz, es war örtlich sehr verschieden, und woher hätten sie denn die Richter kriegen sollen? Drüben haben sie die Straßenbahnschaffner genommen, und was dabei rausgekommen ist, haben wir ja gesehen. Da saßen Tausende, ich weiß nicht, wie viel das mit den andern Lagern zusammen waren – saßen Tausende im Lager, die nichts gemacht hatten. Oder jedenfalls fast nix. Bei manchen wusste man das nicht so recht. Hat mich auch nicht interessiert. Aber ich finde ... da gibt’s so’n Schriftsteller, der wohnt bei Berlin, der hat ganz gute Bücher geschrieben, der heißt ... über den Mauerfall hinweg hat der noch Berichte an die Stasi geschrieben. GH: Meinen Sie Mathias Wedel? WK: Nein. Ein Spanier ist das, ’n Halbspanier. Der heißt [Anm. d. Red: Fritz Rudolf Fries alias IM Pedro Hagen], das weiß alle Welt, das steht doch überall in jedem Buch drin. Ist auch egal. Jedenfalls, das ist nun natürlich ein Fall, da muss man sagen, der muss hier irgendwie nicht ganz dicht gewesen sein. Oder ’n überzeugter Kommunist. Ja, da kann man dann aber auch nix machen. Wenn einer nun zu sehr daran geglaubt hat, dann war das ja fast ’ne Pflicht, die andern anzuzeigen. Jetzt kommt der berühmte Zirkelschlag zu den Nazis, nicht? Diese Schweinereien, die da passiert sind ... Aber es gab doch auch immer Stimmen, die gesagt haben: Es geht so nicht. Auch in der DDR drüben. Stalin hatte schon ganz recht, dass er die ganzen Kirchen abreißen ließ. Ulbricht, der hat das Schloss abgerissen. [Unverständlich.] So hat er alle die Leute gegen sich aufgebracht. Und die Kirchen hat er stehenlassen, die herrlichsten Versammlungsräume, die man sich überhaupt denken kann. Plötzlich traten sie alle in die Kirche wieder ein. Das sind alles Sachen, die nicht richtig druckfähig sind, aber, ehrlich gesagt, bin ich immer ... »Siehe, ich mache alles neu« ... man muss allen Menschen die Gelegenheit geben – wir als Menschen – [zum] neuen Anfang. Was sie zuhause im Bett dann für Träume haben und hin- und hergeschmissen werden, das wissen wir ja noch gar nicht. Alles in allem muss man sagen (das ist jetzt ’n bisschen revolutionär): Die ganzen Stasi-Akten – ich weiß nicht, wie viel Hunderte von Kilometern das sind – sind das größte literarische Ereignis der Weltliteratur. In einigen Jahren, Jahrzehnten vielleicht, wird man sagen: »Donnerwetter, dass die das aufbewahrt haben!« So ähnlich wie die Hexenprozesse, wissen Sie? Die werden ja auch nicht studiert, weil wir nun unbedingt wissen wollen, was die da für Martern erduldet haben, sondern ob sie das Brot vorher in ’n Backofen schoben oder hinterher oder linksrum und rechtsrum, also selbst so ’ne Sitten und Gebräuche oder so was kriegt man da raus.
»Die Wahrheit war interessanter...« – Gespräch mit Walter Kempowski
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GH: Ein Freund von mir hat seine Stasi-Akte eingesehen, der ist ungefähr so alt wie ich, und er hat als Sechzehnjähriger eine Brieffreundin im Westen gehabt und hat ihr Liebesgedichte geschickt, und die Stasi hat alles aufbewahrt ... WK: Sehen Sie, da sitzt es. GH: Er hat die verzweifelten Versuche der Staatssicherheit, die Liebesgedichte dieses Sechzehnjährigen zu interpretieren ... WK: Das ist gut, das gefällt mir. GH: Ja, aber ein Staat, der, der so was tut, der hat verloren. WK: Ja. Aber wenn wir auch die ganze [unverständlich]. Jeder Handwerker hat doch mehr Intelligenz gehabt als diese Typen, die da als Stasi-Offiziere rumliefen nachher ... Die haben doch, dieser unglaubliche Aderlass, wie viel Millionen waren das ... das war doch furchtbar. Was ich nicht vertragen kann, ist so ... die muss man ja nun nicht unbedingt lesen, so Leute wie Stephan Hermlin und Leute, die damals publiziert haben und sich nicht geschämt haben ... Der Volker Braun zum Beispiel, nicht? Hacks! Da kann man das schwer unterscheiden, ob das eigentlich Überzeugungskommunisten waren oder was die eigentlich dazu gebracht hat. Oder auch der Kirsch, Rainer Kirsch, auch ... so, so JugendweiheGedichte geschrieben. Das ist ’ne Sache, die geht doch wohl ’n Schritt zu weit. Geht mich ja auch nichts an. Nur, ich will mit denen nichts zu tun haben. Zumal, wenn die mich angreifen, wissen Sie? Wenn die mich in Ruhe ließen, dann wär’ ja alles in Ordnung. Ich bin heut’ noch nicht Mitglied der Akademie der Künste und Wissenschaften. Die sitzen da alle drin, stellen Sie sich mal vor. Und ich krieg’ jetzt da diese Riesen-Ausstellung. Ich überleg’ mir, ob ich das in der Rede auch sage. Und das Allersonderbarste ist ja, dass ich nicht mal Mitglied dieses Instituts bin. Das wissen die gar nicht. Trautwein hab ich’s mal gesagt. Ich sage: »Das ist doch eigentlich erstaunlich, nicht?« Deshalb sind ja Sarah Kirsch und der aus München, wie heißt er ... Seltsame Wege, Kunze ... und Kunert ... sind da ja alle damals ausgetreten, als die da en bloc ... durch Jens, dieses Schwein. Das ist ja ’ne richtige Sau. Der hat mal gesagt [unverständlich], das sind alles so Sachen, die ich mir natürlich gemerkt habe: »Wissen Sie, Kempowski, ich nehme es Ihnen übel, dass Sie in der Welt publiziert haben.« Und das hab’ ich nu’ gerade nicht. Nie! Schon aus Angst nicht. Ich wollte mich nicht in diese Ecke stellen lassen, wissen Sie, das war diese Zeit eben um die sechziger, siebziger Jahre, und dann hab’ ich ihm über ... Jens, wie heißt der andere ... Jens ... über Jens bestellen lassen, schönen Gruß, aber ich hätte niemals, nichts, in der Welt publiziert.
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Gerhard Henschel
(Selbst heute ganz selten, weil die ja inzwischen wieder links ist.) Na gut, und da hat er geschrieben, einen wahnsinnigen Satz, dass ich nicht in der Welt publiziert hab, das nimmt er mir übel, weil ich mich da versteckt hätte. Können Sie sich so eine Rabulistik vorstellen? Das war in der Zeit, wo Jens längst Riesengeschichten in der Welt publiziert hat. Das kann man doch alles nachlesen. Dem hat er das nicht übelgenommen. Na ja. Das ist ’n anderes Thema. Das ist das Thema Boykott. Das können wir ein andermal anreißen, wenn wir das überhaupt machen wollen. An sich ist das das Wichtigste, weil mich das angetrieben hat. GH: Aber dafür werden Ihre Romane länger halten als die von Walter Jens. WK: Ist sehr nett, dass Sie das sagen. Ich glaube das auch. GH: Haben Sie die gelesen mal, die frühen Romane von Jens? WK: Nein. GH: Das ist ziemlich grauenhaft. WK: Ich hab’ mal ’ne Markus-Evangeliums-Auslegung gelesen, die war ganz gut. GH: Ja, da mag er beschlagen sein ... WK: Ich hab’ ihn eigentlich auch nur einmal gesehen, kurz, da hat er in Rostock sich unser kleines Archiv da angekuckt, wo da die Gefängnispuppe und die Gefängnistür und meine Knastbilder hängen, und da war das so, als ob ihm das zum ersten ... »Was, Kempowski war in Bautzen? Das ist ja ’n Ding, das wusst’ ich ja überhaupt gar nicht«, hat er da gesagt. Stellen Sie sich das mal vor. So, mein Lieber! Woran arbeiten Sie jetzt? GH: Ich setze jetzt den Kindheitsroman fort mit dem Jugendroman. WK: Ah, da komm ich dann ja auch drin vor! GH: Nicht ganz, der geht bis 1981 ... WK: Wie schade! Vielleicht können Sie als letzten Satz ... »Und dann lernte ich Kempowski kennen, da wurde alles anders.«
Ralf Georg Bogner
»Auf dem Gedankenstrich«? Die Kritik eines Leseabends von Walter Kempowski in der Berliner tageszeitung vom 28. März 1992 Am 28. März 1992 erscheint in der Ausgabe 3668 der tageszeitung unter dem Titel Auf dem Gedankenstrich ein etwa 80 Zeilen langer Bericht über eine Lesung von Walter Kempowski im noblen Bremer Kulturhaus Stadtwaage aus dessen soeben erschienenem Roman Mark und Bein: Auf dem Gedankenstrich Walter Kempowski las in der Stadtwaage aus dem neuen Roman »Mark und Bein« CLAKS Mein Gott, was für ein Abend. Der gesamte mittlere Mittelstand hat seinen Schottenrock und den guten Peek&Cloppenburg-Pullover angezogen und läßt sich im Prachtsaal der Stadtwaage von Sätzen ergreifen, die haben die Butter nicht auf dem Brot verdient. Au, könnte glatt von Kempowski sein, ein Autor, der eigentlich keine müde Zeile verdient. Schließlich ist man gestraft genug vom Zuhören und von dieser Stimme, die klingt, als wenn ein Wolf erst Schmirgelpapier und dann Kreide gefressen hätte. Und ausgerechnet von Kempowskis Erleben leben zu müssen ist für notorische Beobachterinnen bitter. Aber ohne sein Publikum kein Dichter. Also achten wir auf einen, der gesundes Volksempfinden auf den Gedankenstrich schickt. Walter Kempowski, Dorfschullehrer mit Bautzen-Vergangenheit, der ’71 mit dem ersten Band seiner »Deutschen Chronik«, »Tadellöser&Wolff«, buchclub-berühmt und zum chronischen deutschen Chronisten wurde, hat ein neues Buch geschrieben: »Mark und Bein«. Ein Protagonist Jonathan, Zeitungsschreiber, soll, kurzgefaßt, einen Rallye-Führer durch »Ostpreußen« schreiben. Polen, Sie erinnern sich, »also eigentlich deutsche Lande«. Ein Unterfangen, das uns munter plaudertönend mit »einfältigen« Polen konfrontiert, schlammgeborgenen Wehrmacht-Soldaten und Wehrmachtsautos, die an der »Weichsel ihr Letztes gaben«, wo noch »deutsche Häuschen deutsche Veranden« hatten. (Ist nicht spätestens seit Theweleit bekannt, daß das auktoriale Zusammenbringen von Schlamm und Mann besser unterbliebe, will mann sich nicht zu sehr in seine Männerphantasie blicken lassen?) Gespickt ist dieses armselige Handlungsskelett mit quergestreiften Strickröcken einer Ulla, »in deren Gesicht das Leben sich nicht gesetzt hatte«, die liebkost wird, »als würde man Toten die Augen zudrücken«. Am besten gefallen haben mir allerdings die »Küsse wie feurige Geldstücke«. Ach, lodernde Münzen! Da jault die Vorstellungskraft und legt die Ohren an. Unser Jonathan düst also gen rohem Osten, wo er sich unwohl, weil als »Gast fühlt« und alle wieder finden, man habe »Juden ermordet und Holländern Fahrräder geklaut«; wo polnische Babies rosa Teddies lieben und Kaukasier ranzige Butter. Polinnen sind im Prinzip nicht schlecht, wenn sie bloß nicht »so auseinandergehen würden nach drei Jahren«! Drei! Dafür geben sich Polen in Hamburg reichlich forsch — aber zuhause keine neue Fähre bauen können!! Gottseidank ist ja das KZ geschlossen, das man in den Rallyeführer aufnehmen will – hätten einen die Museums führer bloß wieder »ausgelümmelt« (oder war’s angelümmelt?), eben wegen der Morde. Zum https://doi.org/10.1515/9783110784084-010
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Schluß kommt raus, daß irgendein Vater, womöglich der Kempowski’sche selber, im Ostseesande als Stäubchen unauffindbar ist. Vors Signieren und den zu stürmenden Büchertisch ordert der Autor vom anwesenden Volke noch Todesnachrichts-Briefe von der Front und auch sonst Kriegs-Aufzeichnungen aller Art für seine Materialiensammlung in Nartum. Die braucht er, um dem Volk zu Hause aufs Maul schauen zu können. Zum Dank »signiert er auch Taschenbücher«. Eine Dame entschuldigt sich für die Abgegriffenheit ihres Büchleins, was bei manchen Büchern ja wirklich verwerflich ist. Der Herr neben mir findet, daß »das was war hier heute abend«, vermutet Autobiographisches und war auch schon in Kempowskis Geburtshaus in Rostock. Daß es das gibt!1
Der Artikel stammt von einer Journalistin, die unter dem Kürzel CLAKS in dem Berliner Organ zwischen 1989 und 1994 ungefähr 120 Beiträge primär feuilletonistisch-kritischer Natur und vorwiegend zu kulturellen Ereignissen in der Hansestadt publiziert. Der unter Einsatz zahlreicher rhetorischer Techniken und mit etlichen Sprachspielen durchwirkte Bericht beginnt mit dem affektiven Ausruf »Mein Gott, was für ein Abend«, und CLAKS hebt auf diese Weise keineswegs zu einem Lob der Veranstaltung an, sondern zu einem scharfen Verriss. Die Polemik richtet sich gleich gegen mehrere Angriffsziele. Zu Beginn wendet sich die Kritikerin erst einmal dem Publikum, dem »gesamte[n] mittlere[n] Mittelstand«, zu. Dessen Mitglieder hätten sich für den Abend in dem »Prachtsaal« ihren »Schottenrock«, also offenbar ein Tweed-Jackett, und »den guten Peek&Cloppenburg-Pullover« angezogen. CLAKS stößt sich also an der Bürgerlichkeit der Veranstaltung und ihrer Besucher. Das repetitive Wortspiel mit dem »mittlere[n] Mittelstand« scheint hierbei darauf abzuheben, dass das Publikum sich nicht aus mutmaßlich höheren bürgerlichen Kreisen und dem Patriziat rekrutiere. Dementsprechend spottet sie gegen Ende des Artikels des Weiteren darüber, dass dem Autor zum Signieren auch Taschenbücher und sogar ein sehr abgegriffenes Exemplar eines Kempowski-Textes vorgelegt worden seien. Die Kritikerin urteilt mithin über den Leseabend und sein Publikum aus einer deutlich anti-bildungsbürgerlichen Haltung heraus. Sie hat einer Veranstaltung beigewohnt, deren sonstige Besucher sie verachtet. Nun erwartet man von einer Journalistin, die für die tageszeitung schreibt, auch kaum etwas anderes. Auf der anderen Seite stellt sich schon die Frage, was dabei dann herauskommen kann, wenn nicht eine vorhersehbare Erregung – eben über einen bürgerlichen Leseabend und dessen einschlägige Gäste. Eines zumindest ist dabei herausgekommen, nämlich ein als eine Art Schmerzensgeld empfundenes Honorar, wie CLAKS voller Selbstmitleid ausruft: »[A]usgerechnet von Kempowskis Erleben leben zu müssen ist für notorische Beobachterinnen bitter.« Aus diesem schweren Stoß-
1 Erstdruck in: taz am Wochenende Nr. 3688 vom 28.3.1992, S. 31.
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seufzer erschließt sich, nebenbei bemerkt, das Geschlecht der Verfasserin. Dass dieselbe und das Publikum in der Stadtwaage ideologisch und ästhetisch einfach nicht zusammenpassen und sich aneinander reiben müssen, zeigt sich im Artikel später auch noch beim Spott über einen Herrn, der mit einer mündlichen Äußerung der Veranstaltung eine gewisse Bedeutsamkeit zuschreibt und von seinem Besuch von Kempowskis Geburtshaus in Rostock erzählt. Das zweite Angriffsziel der Polemik nach den Zuhörern stellt der Autor selbst dar, »ein Autor, der«, wie es in der zwölften Zeile ohne nähere Begründung heißt, »eigentlich keine müde Zeile verdient«. Nun ist ›eigentlich‹ ein eigenartiges Wort, weil es hier darauf verweist, dass man auf etwas auch gut verzichten könnte. CLAKS enthält sich aber keineswegs weiterer Äußerungen, sondern mokiert sich noch mehr als sechzig weitere, keineswegs »müde« Zeilen lang über den Leseabend. Aber wie gesagt: Die Verfasserin muss ja auch von etwas »leben«. Den Autor Walter Kempowski charakterisiert sie, anders als das Publikum, nicht über dessen Bekleidung, sondern durch seine Stimme, »die klingt, als wenn ein Wolf erst Schmirgelpapier und dann Kreide gefressen hätte«. Das ist eine auf den ersten Blick durchaus treffende Beschreibung des Sprechorgans des Schriftstellers. Die darin enthaltene Anspielung auf die bekannte Märchenfigur der Brüder Grimm bleibt allerdings bei genauerem Hinsehen unklar: Inwiefern ist Kempowski ein Wolf, der Kreide gefressen hat? Wer sind die sieben Geißlein, als deren Mutter er sich mit der sanften Stimme ausgibt? Frisst der Autor fast sein Publikum auf, nur nicht ein Geißlein, also CLAKS, die sich nicht verschlingen lässt? Und rettet diese Heroin später die aufgefressenen sechs Geißlein, und zwar durch ihren Verriss, nach dessen Lektüre das Publikum seinen Irrtum erkennt? Da passt bei gründ lichem Nachdenken einiges nicht so recht zusammen. Kempowski mit der Kreidestimme ist doch bloß ein kurzzeitig aufflackernder, recht schaler Kalauer. Ein auch nur elementares Vorwissen über den Schriftsteller scheint die Kritikerin bei den Lesern der tageszeitung nicht voraussetzen zu dürfen, da sie einige grundlegende Informationen über ihn mitteilen zu müssen glaubt. Sie tut dies freilich stark eingefärbt. Er sei eben ein »Dorfschullehrer« und »buchclubberühmt« – eine Anspielung auf den Lizenz-Vertrieb einiger seiner Bücher in der Deutschen Buch-Gemeinschaft und später im Bertelsmann-Club. Erneut wird hier die anti-bürgerliche Haltung der Kritikerin mit ihrer Verachtung für Kempowskis Brotberuf im Staatsdienst und eine biedere und kapitalistische Institution wie eine Buchgemeinschaft deutlich greifbar. Der Autor sei auf diesem Wege »zum chronischen deutschen Chronisten« geworden. In dem neuerlichen repetitiven Wortspiel schwingt unfehlbar der Begriff einer chronischen Krankheit mit, womit der große schriftstellerische Erfolg Kempowskis indirekt zu einem chronischen Leiden der Deutschen erklärt wird. Mit besonderem Abscheu äußert CLAKS sich über Kempowskis übliche Aufforderung an das Publikum nach der Lesung, ihm
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Materialien für seine diversen semi-dokumentarischen und dokumentarischen Projekte wie das Echolot oder das Archiv für unpublizierte Autobiographien zuzusenden. »[D]er Autor […] ordert […] vom anwesenden Volke noch Todesnachrichts-Briefe von der Front und auch sonst Kriegs-Aufzeichnungen aller Art für seine Materialsammlung in Nartum. Die braucht er, um dem Volk zu Hause aufs Maul schauen zu können.« Das dritte und wichtigste Angriffsziel der Kritikerin neben Publikum und Autor ist natürlich das bei der Veranstaltung präsentierte neue Buch Kempowskis, das zur anti-kapitalistisch motivierten Empörung von CLAKS nach der Lesung auf einem »Büchertisch« käuflich zu erwerben ist. Der Inhalt von Mark und Bein wird ganz kurz und verknappt und nicht gänzlich falsch wiedergegeben, um sodann die Bewertung »armselige[s] Handlungsskelett« verpasst zu bekommen. Diese Einschätzung ist von bestimmten ästhetischen Positionen her zweifellos völlig legitim. Allerdings ist gerade in der Spätmoderne die negative Beurteilung eines Erzähltextes aufgrund der nur sehr wenig spannungs- und wendungsreichen Handlung durchaus eine recht auffällige, um nicht zu sagen wenig konsensfähige Haltung: Wie viele Klassiker der neueren Literatur zeichnen sich gerade durch Handlungsarmut aus! CLAKS kritisiert, so scheint es, alles Mögliche und Unmögliche an dem Abend und an dem Text, weil sie die gesamte Veranstaltung samt Autor, Publikum und Buch so unerträglich findet. Dafür lassen sich durchaus weitere und tiefere Gründe ausfindig machen. Aufschlussreich ist eine Nebenbemerkung der Kritikerin. Anlässlich der Wiedergabe des »armselige[n]« Inhalts des Textes, in dem auch an Wehrmachtssoldaten erinnert wird, die in Ostpreußen im Schlamm steckengeblieben sind, rügt CLAKS den Autor, dass einem Schriftsteller doch »seit Theweleit bekannt« sein müsste, »daß das auktoriale Zusammenbringen von Schlamm und Mann besser unterbliebe, will man sich nicht zu sehr in seine Männerphantasie blicken lassen.« Im Kern geht es also um einen Konflikt zwischen äußerst unterschiedlichen, ja unvereinbaren ästhetischen Positionen. Auf der einen Seite steht dabei Kempowskis eher dokumentarisches, eher deskriptives, aus der Fülle der sinnlichen Wahrnehmungen schöpfendes Schreiben, auf der anderen Seite eine an rezenten kulturtheoretischen Debatten orientierte, tendenziell normative Poetik. Kem powski wäre niemals willens gewesen, seine Texte den Forderungen irgendeiner aktuellen poetologischen Schrift eines Theoretikers zu unterwerfen, und CLAKS muss das als die Ignoranz des spätkapitalistischen Bourgeois verstehen und verachten. Hinzu kommt, dass der Schriftsteller sich, wie in vielen anderen seiner Texte, nicht irgendein beliebiges Sujet, sondern die Reise von drei Deutschen mittleren Alters im Jahr 1988 in das ehemalige Ostpreußen wählt. Sie erleben dabei etliche Polen alles andere denn gastfreundlich und gesittet, geben selbst jedoch auch
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mancherlei im Gespräch von sich, das politisch nicht gerade korrekt oder auch nur moralisch einigermaßen anständig ist. Und damit kommen wir wieder zu Kempowski zurück, dem es, wie bereits gesehen, CLAKS gar so sehr verübelt, dass er dem »Volk […] aufs Maul schauen« möchte. Kempowski gestaltet nicht durch deutsch-polnische Versöhnungsvereine instruierte Völkerfreunde, sondern er begleitet in seinem Roman drei ziemlich durchschnittliche, nicht sonderlich intelligente, relativ ungebildete, kaum weltläufige Deutsche auf einer Reise, die sie aus vorwiegend kommerziellen Zwecken für eine Autofirma unternehmen. Natürlich kann der Protagonist Jonathan Fabrizius die Orte besuchen, an denen seine Mutter und sein Vater ums Leben gekommen sind. Doch letztlich ist der Eindruck dieser Erlebnisse nicht über die Maßen stark und prägend. Vielmehr erfahren wir als Leser in erlebter Rede in geradezu hämmernder Wiederholung immer wieder, dass die fünftausend Mark Honorar zuzüglich Spesen für ihn einfach zu verlockend gewesen seien, um den Auftrag abzulehnen. Kempowski stellt nicht Deutsche dar, wie sie aufgrund der tragischen deutsch-polnischen Geschichte gemäß irgendwelchen hehren politischen Idealen sein sollten. Er modelliert mittelmäßige Deutsche, die mit wirtschaftlichen Interessen nach Polen reisen und dabei sehr gemischte Erfahrungen machen und allerlei reden und tun, das man nicht unbedingt goutieren muss bzw. kann. CLAKS hätte auch schreiben können, er schaut diesen deutschen Reisenden »aufs Maul«, und das findet sie aufgrund der tragischen deutsch-polnischen Geschichte anstößig, ja unerträglich. Kempowski hat mit dieser spezifischen Darstellung einer Polen-Reise gewiss provoziert, und die Kritik einer Journalistin der tageszeitung daran ist verständlich und legitim. Bis zu einem gewissen Grad liegt darin freilich doch eine Ungerechtigkeit. Denn Kempowski erzählt zwar »auktorial«, aber mit überaus hohen Anteilen an direkter, indirekter und erlebter Rede. Die Kritikerin weist in ihrem Verriss nicht ausreichend deutlich darauf hin, dass es sich bei etlichen, wirklich unappetitlichen Aussagen nicht um auktoriale Kommentare des Erzählers, sondern um Figurenrede handelt. Besonders abgestoßen ist CLAKS von dem Satz: »Die Polinnen sollen ja wunderhübsch sein, aber drei Jahre später gehen sie aus dem Leim.« Hier gibt der Erzähler Figurenrede vor dem Abflug der drei Reisenden wieder, nicht seine Sicht der Dinge. Selbst wenn die Kritikerin diese Differenz begriffen haben sollte, lässt sie sie nicht gelten. Eine solche Aussage darf man einfach nicht tätigen, so wie ein männlicher Autor nach Theweleit eben nicht mehr von Schlamm schreiben darf. Tut er das wie Kempowski dennoch, ist er ein Schriftsteller, der, wie CLAKS sarkastisch dekretiert, »gesundes Volks empfinden auf den Gedankenstrich schickt.« So erklärt sich auch die anfangs etwas kryptische Überschrift des Artikels Auf dem Gedankenstrich. Kempowski prostituiert sich, indem er seine Figuren politisch Unkorrektes äußern lässt.
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Fragwürdig ist das deswegen, weil die Figuren in Mark und Bein allesamt alles andere denn positives Identifikationspotential aufweisen. Jonathan Fabrizius ist ein verbummelter Student, der sich mit 43 Jahren noch immer von seinem reichen Onkel aushalten lässt, von einem Opus Magnum über die norddeutsche Backsteingotik fabuliert, das er nie schreiben wird, und in das Bett seiner Freundin zu sexuellen Handlungen eilt, wenn sie ihm zu beliebigen Tages- oder Nachzeiten wie einem Hund mit zwei Fingern pfeift. Genauso erbärmlich sind alle anderen Figuren des Textes. Gleiches gilt für die Rallye. Die drei Reisenden kommen sich unglaublich individuell bei ihrer Unternehmung vor und bemerken gar nicht, dass sie an allen ihren Stationen, in sämtlichen Hotels und Restaurants auf eine Busladung voller deutscher Urlauber treffen, die exakt dieselbe Tour hinter sich bringen. Anders gesagt: Wer die teilweise beinahe grotesken Aspekte an den Figuren und an der Handlung des Romans übersieht oder ausblendet, verkennt seine unleugbar starken satirischen Züge. Hier reisen eben ein paar ziemlich bescheuerte Deutsche nach Ostpreußen und machen sich dabei einigermaßen lächerlich. Das ist Satire im besten Sinne als literarische Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Begibt sich ein Autor damit wirklich auf den »Gedankenstrich«? Und hat das Heinrich Mann mit dem Untertan auch bereits getan?
Teil D: Spatien – Kempowski im Kontext
Katrin Möller-Funck/Stephan Lesker
Mehr als ein »Tonsurfilm« Kempowskis »langer Abschied« von Rostock – dokumentiert von einem Kamerateam Schwarzbild. Der Eingang von Kempowskis »Haus Kreienhoop« wird eingeblendet. Filmfachleute nennen das einen »Establishing-Shot«. Normalerweise dient eine solche Einstellung dazu, den Ort der Handlung zu etablieren. Hier hingegen markiert sie einen Aufbruch. Es erklingt Kempowskis Stimme aus dem Off: Hier ist unser Zuhause. Und doch gehen meine Gedanken hinüber ins ferne, fremde Rostock. Alles, was ich in den vielen Jahren geschrieben habe, handelt von dieser Stadt. Im Januar war der Weg plötzlich frei, ich durfte »einreisen«, wie das genannt wird, nahm also Abschied von Zuhause, um nach Hause zu fahren.1
So beginnt die ZDF-Dokumentation aus der Reihe Ganz persönlich, die Walter Kempowski auf seiner Reise nach Rostock im Januar 1990 begleitete. Zu dieser Dokumentation erschien im selben Jahr auch ein Bildband. Schon in den ersten Sätzen, die Kempowski spricht, wird Rostock als sein Sehnsuchtsort dargestellt. Die semantische Opposition von »Zuhause« (Nartum) und »nach Hause« (Heimat, Rostock) kann darauf hindeuten, dass das »Zuhause« eben doch nur ein Notbehelf ist, so schön es Kempowski dort auch hat und so sehr er es auch zu schätzen weiß. Sein Heimatort Rostock ist ihm durch die Zeitläufte in der Nachkriegszeit, die Haft in Bautzen und im Kalten Krieg abhandengekommen – er ist ihm fremd geworden. Eine Rückkehr ist nur besuchsweise, nicht aber auf Dauer möglich. Umso wichtiger ist ihm dieser erste Besuch nach 15 Jahren.2 Umso mehr muss ihm auch die filmische Darstellung seines Besuches am Herzen gelegen haben. Die Frage wäre also zu stellen, inwieweit Kempowski –
1 »Ganz persönlich«. Walter Kempowski in Rostock, ZDF 1990, 0:00–0:27 Minuten. 2 Im Mai 1975 durfte Kempowski Rostock schon einmal besuchen. Vier Tage Aufenthalt wurden ihm gewährt, an der Grenze wurde ihm sein Roman Tadellöser & Wolff abgenommen. Als »Feind des Sozialismus« war ihm ab 1981 dann jede weitere Einreise verboten. Mit dem Zusammenbruch der DDR war dieses Verbot dann obsolet geworden. Zum Eindruck, den Kempowski 1975 von seiner Heimatstadt gewonnen hatte, bemerkt Biograph Dirk Hempel: »Einmal, ganz zu Anfang, schien er überwältigt, erschüttert zu sein. Aber er fing sich und ging durch Rostock wie durch ein Museum.« Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. ³München: btb 2007 (btb, 73208), S. 150. https://doi.org/10.1515/9783110784084-011
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jenseits seiner Wortbeiträge – Einfluss auf die Produktion hatte. Wie war es um die Kommunikation mit der Aufnahmeleiterin, der Filmcrew und dem gesamten Produktionsteam bestellt? Kempowski war als Autor für seine emphatische, teils offensiv betriebene Werk politik bekannt. Schon in der bereits zitierten ersten Sprechspur wird dies deutlich: Alles, was er über die Jahre geschrieben habe, handele von Rostock. Das soll nach Obsession klingen, stimmt jedoch (bereits 1990) nur bedingt. Zwar erscheinen die beiden letzten großen Werkgruppen (das Echolot und die sogenannte »Zweite Chronik«), die sich von einem bestimmenden Rostock-Bezug lösen, erst noch. Die Hundstage, Herr Böckelmann mit seinen Tafelgeschichten, die Hörspiele; all dies ist aber bereits veröffentlicht. Im Begleitbuch ist diese Ungenauigkeit dann auch korrigiert: »Fast alles« heißt es dort.3 Aber vielleicht verdankt sich die Abnabelung Kempowskis von seiner Heimatstadt in seinem Spätwerk ja zu einem kleinen Teil dem Rostock-Besuch. Folgt man seinen Tagebüchern, empfand er durch den Realitätsschock, den der Anblick seiner verfallenden Heimatstadt in ihm ausgelöst haben muss, ein immenses Gefühl der Sinnlosigkeit seines Schaffens, wenn, ja, wenn nicht noch etwas Großes folgen würde. Am 18. Januar beim Besuch des Café Herbst (»Silbi? Herbst!«, klingt es den Kempowski-Fans im Ohr4) vermerkt das Tagebuch Hamit: Ausgeleert, angewidert, beschämt, traurig. Der Wunsch, endlich mit Rostock Schluß zu machen. Die Arbeit an dem Augustenstraße-Ausschnitt des Films liegt wie ein düsterer dreckiger Alp auf mir. Als hätte ich mich durch das Nachspielen der Vergangenheit beschmutzt. Ist nun ein für allemal Schluß? Schluß. Schluß. Schluß. – Abschließend ist zu sagen, daß meine ganze Arbeit unnötig war, das, was sie jetzt »Die Deutsche Chronik« nennen, ist mißglückt. Von Herzen gern möchte ich alles ungeschehen machen. Da bleibt nur noch das »Echolot« als einziger Trost. Ohne das »Echolot« würde meine »Chronik« noch sinnloser sein.5
3 Walter Kempowski: In Rostock. Aus der Reihe »Ganz persönlich«. Beschreibungen in Zusammenarbeit mit dem ZDF mit 40 Fotos von Erhard Pansegrau und einer Karte. Freiburg/Br.: Eulen Verlag 1990, S. 6. 4 Das Cafè Herbst ist die bevorzugte Wahl von Walters Großvater Robert William Kempowski, wenn es um süße Gaumenfreuden geht. Mit seinem charakteristischen Ausruf beauftragt er seine Tochter, mal bei Herbst »anzuwecken« (wie es im Kempowski-Jargon heißt) und sich ein paar Kuchen kommen zu lassen: »Dann sprang sie auf und klingelte Café Herbst an, und nach ’ner halben Stunde kam einer mit’m Fahrrad, ein Bursche, und der brachte eine Platte mit Kuchen: Mohrenköpfe oder Zitronenschnitten. Herrlich locker und viel schöner als heute.« Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. Hamburg: Knaus 1978, S. 88. 5 Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006, S. 68–69 (18.1.1990).
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Es scheint demnach nicht nur der Anblick Rostocks und besonders der Zustand seines früheren Kinderzimmers in der Augustenstraße, das nun als Umkleideraum für die Arbeiter einer Getränkefabrik dient, gewesen zu sein, der diese Desillusion auslöste, sondern auch die Art und Weise, wie Kempowski vor der Kamera agierte oder agieren musste: »Als hätte ich mich durch das Nachspielen der Vergangenheit beschmutzt.« Dieses »Nachspielen«: Inwieweit kam es von ihm, wo und wie fügte er sich in die Vorschläge der Filmcrew, wie kommentierte er die Vorgehensweise des Produktionsteams? Im ersten Teil des Beitrages soll diesen Fragen nachgegangen werden. Der zweite Teil wird sich kurz mit den Texten und Bildern des Begleitbuches auseinandersetzen, besonders dort, wo Kempowski Passagen aus seinen Romanen einarbeitet.
»Es wird ein Tonsurfilm werden« – Rostock zwischen Dreh- und Erinnerungsort Kempowskis Tagebuch Hamit zeichnet nicht nur den Rostock-Besuch akribisch nach, es ist auch ein Dokument nachträglicher Stilisierung. Kempowskis Heimat schwankt dort zwischen zwei Extremen: Einerseits sucht der Autor, gemeinsam mit seinen Begleitern und dem Filmteam, die Orte auf, die mit Kindheitserinnerungen aufgeladen sind und die ihn schmerzlich an den Verlust seiner Heimat erinnern müssen. Andererseits fungieren diese Orte auch als Drehorte und müssen als solche in Szene gesetzt werden. Diese Ambivalenz ist im Tagebuch permanent zu spüren. Am deutlichsten jedoch kann man sie in einer Szene des Films beobachten: Als Kempowski das Filmteam – die Kamera im Rücken – in sein ehemaliges Zimmer führt, dreht er sich kurz um, nickt wortlos und sinkt auf einen der Stühle nieder.6 Die Erinnerung scheint ihn zu übermannen, als könne er sie nicht ertragen. Der verwahrloste Zustand des Raumes wird sein Übriges dazugetan haben. Erst nach einer kurzen Pause spricht Kempowski weiter. In dieser Szene äußert sich der Stellenwert des Erinnerungsortes Rostock für den Schriftsteller, der seine Persönlichkeit und seine Autorschaft mit Rostock topisch verknüpfte. Die Erkenntnis, dass es diesen Ort nicht mehr gibt, dass seine Wohnung nun ein Aufenthalts- und Umkleideraum für Fabrikarbeiter ist, liegt in der angesprochenen Szene unmittelbar vor uns.
6 »Ganz persönlich«. Walter Kempowski in Rostock, ZDF 1990, 26:02–26:24 Minuten.
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Um es mit Uwe Johnson zu sagen: »Wo ich her bin das gibt es nicht mehr« (Gesine Cresspahl).7 Allerdings ist dieser Schock – wenigstens teilweise – inszeniert, denn auch bei seinem Besuch 1975 hat Kempowski die Wohnung seiner Eltern besichtigt, und auch schon damals war sie der Getränkefabrik zugehörig. Noch dazu ist der Besuch mit dem Filmteam Mitte Januar 1990 bereits der zweite Besuch in diesem Jahr: Vom 2.–7. Januar reiste Kempowski mit seinem Bruder in die alte Heimat; und bereits auf dieser Reise besahen sich beide ihre ehemalige Wohnung in der Augustenstraße: Unterm Fenster, wo mein Bett gestanden hat, ist noch die kleine Leiste zu sehen, auf der ich, während meiner Krankheit in Ruhe gelassen, mit Märklin-Autos spielte und Hinrichtungen an Halma-Steinen vornahm. Es ist noch der Originalanstrich, cremegelb, und oben auf der breiten Fensterbank, von der aus ich damals die Klingelschlitten beobachtete, lag – es ist fast peinlich zu sagen – ein vertrockneter Schmetterling. Für wen halte ich das alles fest? Es ist der Erinnerungsschock, der registriert werden muß.8
Kempowski weiß also zum Zeitpunkt des Filmdrehs bereits, was aus der Wohnung geworden ist und stellt 1975 nüchtern fest: »Hier waren keine Rätsel mehr zu lösen.«9 Der Erinnerungsschock, der aus der Filmszene zu sprechen scheint, ist bereits mehrfach empfunden und wird hier für die Kamera wirkungsvoll in Szene gesetzt. Gänzlich inszeniert ist diese Einstellung freilich nicht, denn Kempowskis Erzählungen vor der Kamera mögen doch dazu beigetragen haben, im Vergegenwärtigen der Vergangenheit Trauer auszulösen. Noch dazu musste hier ein Zeitzeuge seine Kindheit gewissermaßen nachspielen: Indem er dem Zuschauer, als Kontrast zu den Filmbildern, die verfallenen und verwahrlosten Räume zeigt und ihnen Bilder eines gutbürgerlichen Haushaltes vor das innere Auge stellte. Und als wäre das nicht genug, blendet der Film noch Szenen aus Fechners Fernseherfolg Tadellöser & Wolf ein. Rostock mag ein Sehnsuchtsort Kempowskis sein. Gleichzeitig ist es aber auch ein Schmerzensort, eine Obsession eben, von der er nicht loskommt, aber
7 Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Ausgabe in einem Band. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000 (st, 3220), S. 349. – Wie aus dem Briefwechsel Walter Kempowskis mit Uwe Johnson hervorgeht, wollte er seinen zweiten Roman »Langer Abschied« nennen – (»von der alten Lebensweise nämlich«). Vgl: Walter Kempowski: Brief an Uwe Johnson vom 26.1.1972. Faksimiliert wiedergegeben in: Ders./Uwe Johnson: »Kaum beweisbare Ähnlichkeiten«. Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Falke und Gesine Treptow. Berlin: Transit 2006, S. 47 f. 8 Kempowski: Hamit 2006, S. 30 (5.1.1990). 9 Walter Kempowski: Erstes Wiedersehen mit Rostock. Akademie der Künste. Walter-Kempowski Archiv, Signatur: Kempowski 2453.
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doch freikommen möchte – er will endlich »Schluss machen« damit. Die angesprochene Szene, in der Kempowski in seinem ehemaligen Zimmer ermattet oder resigniert auf einen Stuhl sinkt, dürfte weniger dem Erinnerungsschock geschuldet sein, als vielmehr dem Bewusstsein, nie mit Rostock abschließen zu können: Immer wieder wird er auf dieses Thema zurückgestoßen – sei es durch eigene Obsession, sei es durch die literarische Öffentlichkeit. Diese Erkenntnis ist es, die ihn in dieser Szene zu übermannen scheint. Der Schock wirkt authentisch, dürfte aber einen ganz anderen Grund haben, als der Zuschauer vermuten kann. Inwieweit die Einstellungen im Elternhaus so geplant waren, lässt sich anhand des Filmes nicht entscheiden. Sagen lässt sich aber, dass Kempowski die Ästhetik der gewählten Kameraführung ablehnte, als Perspektive, die dem Protagonisten im Rücken folgt. »Es wird ein Tonsurfilm werden«, bemängelte er, »denn es kam dahin, daß ich ununterbrochen ins Bild gehen mußte, damit die Kamera mir folgen konnte, was von vorne ja noch geht. Aber von hinten? Die Haare!«10 Offenbar gestaltete sich das Miteinander vor Ort also als konfliktträchtig, und das Tagebuch bezeugt (überzeichnet), dass Kempowski beim Produktionsteam seine eigenen Vorstellungen nicht durchsetzen konnte, was entscheidend zu seiner Desillusionierung beigetragen haben dürfte.
»Wird nun die Heimat vermarktet?« – Die Dreharbeiten Schon der Tagebucheintrag vom 16. Januar, dem Auftakt der Rostock-Reise mit dem Filmteam, offenbart einen Misston: »Wird nun die Heimat vermarktet?«11 fragt Kempowski dort. Weshalb aber diese Besorgnis? Muss man nicht einräumen, dass auch die Romane der Deutschen Chronik und die Fechner-Verfilmungen Kempowskis Geburtsort und seine Herkunftsfamilie verwertet haben? Die Befürchtung, die der Autor hier hegt, hat offenbar nichts mit der Darstellung der Heimat in literarischen und filmischen Erzeugnissen zu tun, mit denen die Macher ja Geld verdienen müssen. Vielmehr entspringt seine Besorgnis der Ohnmachtserfahrung, hinsichtlich der Art und Weise der Darstellung nicht mitreden zu dürfen – was bei den Fechner-Produktionen ja noch der Fall gewesen war: Kempowski war sowohl am Drehbuch als auch bei der Umsetzung am Set beteiligt.
10 Kempowski: Hamit 2006, S. 79 (20.1.1990). 11 Kempowski: Hamit 2006, S. 60 (16.1.1990).
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Hier jedoch scheinen seine Mitwirkungsmöglichkeiten von vornherein in Frage zu stehen: Es beginnt zwiespältig. Ich habe natürlich meine eigenen Vorstellungen von dem Film, schließlich dreht es sich um mein Leben und meine Arbeit, und da bin ich doch nicht gerade inkompetent. Meine Vorschläge bergen jedoch ein Risiko in sich, das ich dem Produzenten nicht zumuten kann, der arbeitet auf sein eigenes. Außerdem geht von ihm die Initiative zu dem Film aus, er hat den Plan bei der Sendeanstalt durchgedrückt, und er trägt die Verantwortung. Da heißt’s also willfährig sein bis hin zur guten Miene. Was nun entsteht, ist ein wahrscheinlich hübscher, aber eher konventioneller Film, also genau das, was von mir erwartet wird, eine Art Illustrierte, die »Damals« heißt.12
Der Autor befürchtet eine platte, nostalgische, erinnerungsselige Inszenierung, und nur in diesem Sinne spricht er von Vermarktung: »Mit Nostalgie haben wir nichts zu schaffen gehabt in all den Jahren.«13 Ihn besorgt, dass ihn das Missverständnis in der Rezeption seiner Deutschen Chronik wieder einholen könnte, denn allzu oft wurden seine Romane als erinnerungsselige Vergangenheitsverklärung gelesen.14 Die Tagebauchaufzeichnungen stützen unsere These, der zufolge es nicht der Erinnerungsschock gewesen sei, den Kempowski im ehemaligen Kinderzimmer verspürte, sondern die Zumutung, im Nachspielen-Müssen seiner Kindheit um deren »Geheimnis« gebracht zu werden: Dieses Filmunternehmen meint eine Erinnerung, die mir, wenn ich denn mit ihr konfrontiert werde, selbst gar nichts bedeutet. Rostock, Augustenstraße: sie sehen mir ins Gesicht, ob ein Zucken des Mundes seelische Erregung verrät. »Was denken Sie, wenn Sie jetzt vor Ihrer alten Wohnung stehen?« Ganz was anderes, ihr lieben Leute, ganz was anderes.15
Dies Andere will Kempowski nicht preisgeben, und so greifen im Laufe der Reise Desillusionierung und auch Empörung über das Filmteam um sich. In seinem
12 Kempowski: Hamit 2006, S. 60–61 (16.1.1990). 13 Kempowski: Hamit 2006, S. 61 (16.1.1990). 14 Vgl. dazu u. a.: Stefanie Stockhorst, die diesem Rezeptionsphänomen auf den Grund geht: Kempowskis »beträchtlich ästhetisierte[] Vergangenheitsbilder[]« ließen sich »mit kollektiven Erinnerungen zur Deckung bringen« und haben auf diese Weise »den erstaunlichen Wiedererkennungswert der Textfolge maßgeblich begünstigt.« Stefanie Stockhorst: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Vergangenheitsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 423–442, hier S. 424–425. 15 Kempowski: Hamit 2006, S. 61 (16.1.1990).
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(nachträglich stilisierten) Tagebuch kehrt Kempowskis dies schon am ersten Tag deutlich hervor: Das Unternehmen und die Menschen, die daran beteiligt sind, kommen ihm »fragwürdig« vor, man würde sich gar nicht für ihn selbst interessieren, sondern nur für seine Rolle als Dichterdarsteller. Kurz: Er solle so agieren, wie die Leute sich einen Schriftsteller vorstellten, letztlich würde nur »Mumpitz« dabei herauskommen.16 Warum also bricht er das Unternehmen nicht ab? Weil er auf die Herstellung dieses »Mumpitz«-Films angewiesen sei: »[S]onst nimmt man uns nicht wahr.«17 In seiner alten Wohnung beklagt Kempowski die »Perversität, die Erinnerungen exhibitionistisch vor der Kamera zur Schau stellen« zu müssen, und nur die Gefühle, die immerhin noch »tatsächlich« vorhanden und auch stark genug seien, könnten »die Umstände vergessen« machen. Immerhin werde doch nicht das Erinnerte dokumentiert, sondern das Erinnern.18 Das klingt beinahe versöhnlich und lässt auf das Resultat hoffen. Doch konfrontiert Kempowski die Filmcrew auch hier mit ihrem Unverständnis, wenn sie ihn ermahnt, beim Anblick der Wohnung nicht zu erschrecken, Haltung zu bewahren. Offenbar weiß niemand, dass er Anfang Januar bereits hier gewesen ist: »In den vierzehn Tagen seit unserm ersten Besuch hat sich vieles verändert. Was? Wir selbst sind anders geworden.«19 Mit der Wohnung selbst ist in den zwei Wochen nichts groß geschehen. Aber die Einstellung des Besuchers scheint eine andere geworden zu sein. Unmittelbar nach dem Dreh in der Augustenstraße hält Kempowski im Tagebuch fest, wie angewidert er vom »Nachspielen der Vergangenheit« sei. Und genau dieses Nachstellen von »Nostalgie« ist es, was das Fernsehteam immer wieder von ihm gefordert zu haben scheint. Damit aber hatte er »nichts zu schaffen gehabt in all den Jahren.« Gut, dass ihn sowohl ein Fotograf als auch seine Mitarbeiterin Simone Neteler begleiten: »Ich wäre der Geschäftsmäßigkeit der beiden Damen [vom Produktionsteam – KMF/SL] sonst doch ausgeliefert.« Ihren Höhepunkt erreicht Kempowskis Abscheu beim Dreh der Marienkirche. Einmal mehr dringt er mit seinen Vorschlägen nicht durch, ist der Inszenierungsidee des Filmteams ausgeliefert. Der regelrecht angewiderte Tonfall des Diariums mag nachträgliche Stilisierung sein. Vor Ort wird der Schriftsteller aber nicht weniger empört gewesen sein, und seinem Ärger in ähnlich drastischer Art und Weise Luft gemacht haben:
16 Vgl.: Kempowski: Hamit 2006, S. 62 (15.1.1990). 17 Kempowski: Hamit 2006, S. 62 (15.1.1990). 18 Kempowski: Hamit 2006, S. 67 (17.1.1990). 19 Kempowski: Hamit 2006, S. 67 (17.1.1990).
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16 Uhr, Irritationen: Nachdem wir die Aufnahmen in der Marienkirche einigermaßen elegant hingekriegt haben, wobei ich der Chefin meine reizenden Kleinigkeiten geradezu aufprügeln mußte, hieß es plötzlich: Und jetzt dreh’n wir vom Hochhaus aus die ganze Stadt. Diesen Einfall hielt die Dame wohl für besonders genial. Aber, erstens: Was habe ich mit dem Hochhaus zu tun, für das ein altes Postgebäude abgerissen wurde? Zweitens: Es gehört sich nicht, die Marienkirche von oben zu filmen! Sie ist dazu gebaut, daß Menschen zu ihr aufschauen! Nichts zu machen, wir stiegen alle hinauf, störten dort einen Kunstmaler, der auf bessere Zeiten wartete. Ah, Kempowski. Kein Gespräch möglich. Eine Art Verstockung herrschte hier vor. Aus dem neunten Stockwerk wirkt die Kirche wie ein Modell. Durch dieses Bubenstück ging uns wertvolle Zeit verloren. Mich brauchten sie dabei nicht. Hätte ich mich wie ein Wasserspeier über die Brüstung lehnen sollen? Runterkotzen?20
Da Kempowski dann bei weiteren Drehorten »der Kragen platzt«, kommt es zum Beinahe-Zerwürfnis, und er muss fortan gute Miene zum bösen Spiel machen: »Heute früh mit gespielter guter Laune die ödesten T/W-Einstellungen, Wiederkäuung von Erlebnissen, die längst zu Ende gedacht sind.«21 Hamit zeugt also davon, dass Kempowski nicht viel Einfluss hatte auf das, was gedreht werden sollte, und auch nicht auf die Art und Weise, wie gedreht wurde.22 Zu fragen ist nun allerdings, ob die Zeitzeugen ein anderes Bild des RostockBesuches zeichnen. Begleitet wurde Kempowski nicht nur von dem Kamerateam, sondern auch vom Fotografen Siegfried Wittenburg, seiner Mitarbeiterin Simone Neteler und (für einen Drehtag) auch vom Rostocker »Fotografiker« Gerhard Weber.
»Variationen über Misskommunikation« – Zeitzeugeneindrücke Ein Fotograf erschien im Hotel, bietet seine Dienste an. Ich sage: »Sie können uns gerne bei den Dreharbeiten begleiten.« Er: »Ich denke, Sie brauchen mich?« Ich: »Sie haben doch gefragt, ob sie fotografieren dürfen.« Er: »Ja, wollen Sie denn nicht fotografiert werden?« Ich: »Ich sage doch, daß Sie uns…« Es war klar, der Mann will Bilder von mir machen und hinterher verkaufen, dagegen habe ich gar nichts. Wieso versteht er mich nicht, wieso begreife ich nicht, was er eigentlich will?23
20 Kempowski: Hamit 2006, S. 72 (18.1.1990). 21 Kempowski: Hamit 2006, S. 76 (19.1.1990). 22 Vgl. dazu auch Kempowski: Hamit 2006, S. 79 (20.1.1990). 23 Kempowski: Hamit 2006, S. 64 (16.1.1990).
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Diese Begegnung mit Siegfried Wittenburg fügt sich in die Ästhetisierungsstrategie der Dreharbeiten per Tagebuch ein, in dem von Beginn an Misstöne in der Kommunikation der Akteure vorherrschen – da darf das Verhältnis Wittenburg/ Kempowski keine Ausnahme bilden. In Wittenburgs Erinnerungen hingegen klingt das Ganze etwas anders. Bei Kempowski taucht er unangekündigt auf – in Wahrheit hat er vorher brieflich angefragt, ob er den Autor begleiten dürfe. Als Antwort erhielt er ein kurzes Telegramm: »Treffpunkt übermorgen 10.00 Foyer Hotel Warnow.«24 Von solchen Friktionen vernimmt man bei Wittenburg nichts. Er ist vielmehr vom Entgegenkommen des Schriftstellers angetan: »Ich ging hin, mit Kamera, Stativ und einigen Orwo-Filmen. Kempowski hatte gerade sein Frühstück im Interhotel beendet und begrüßte mich. Er war fast einen Kopf kleiner als ich und wirkte schmächtig. Er sagte: ›Sie behalten alle Rechte an den Fotos, die Sie anfertigen.‹ Es war das erste Mal, dass jemand so etwas zu mir sagte. Und es war das erste professionelle Geschäft, das ich abwickelte.«25 Auch Wittenburg schildert die Dreharbeiten in der Augustenstraße. Von Erinnerungsschock und Desillusionierung hat er allerdings nichts wahrgenommen – die einzige Reaktion, die Wittenburg uns übermittelt, ist eher lakonisch: »Das war unsere Wohnung«, soll Kempowski nur gesagt haben, »[n]un haben sie ein Klo daraus gemacht.«26 Das entspricht eher dem Gestus, den wir von Kempowski kennen. Was Wittenburg weiterhin vom Wohnungsdreh berichtet, wirkt hingegen geschäftsmäßig: Das Filmteam arbeitet mit dem Schriftsteller, der Wittenburg den Ausblick zeigt und ihn bittet, den Anstrich des Fensterrahmens abzulichten, der immer noch original sei. Zwischendurch diktiert Kempowski »seiner Assistentin seine Gedanken«.27 Man sieht einmal mehr, dass auch die Tagebücher bewusst vom Autor stilisiert und gestaltet sind. Einerseits, was den Rostock-Besuch und die Filmarbeit anbetrifft: Die Empörung, die Kempowski über die Gängelung durch das Kamerateam empfunden haben mag, wird im Tagebuch ins Extrem gesteigert. Andererseits sind seine Einträge ins Diarium auch erzählerisch innovativ gestaltet: »Variationen über Misskommunikation« könnte man diesen Teil seiner Aufzeich-
24 Siegfried Wittenburg: »Fotografieren Sie das mal!« 1990 kehrte Walter Kempowski in seine Heimatstadt Rostock zurück, wo ihn die Sowjetunion 42 Jahre zuvor verhaftet hatte. In: Spiegel Geschichte. https://www.spiegel.de/geschichte/walter-kempowski-besucht-1990-seine-heimatstadt-rostock-a-1012737.html (letzter Zugriff am 18.5.2022). 25 Wittenburg: »Fotografieren Sie das mal!« 26 Wittenburg: »Fotografieren Sie das mal!« 27 Wittenburg: »Fotografieren Sie das mal!«
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nungen auch nennen. Wittenburgs Erinnerungen bilden eine Kontrastfolie dazu, die allerdings sehr kursorisch ausfällt.28 »Assistentin« Simone Neteler folgt der Ästhetisierung Kempowskis in Teilen: Gestern Dreh in der Augustenstraße: Walter hatte für einen kurzen Augenblick Tränen in den Augen. Verloren stand er oben in der Mansarde, saß dann gedankenversunken an einem dort stehenden Tischchen, auf dem – wie vergessen – zwei leere Bierflaschen und ein voller Aschenbecher standen. Auf dem Fußboden ausgetretene Zigarettenkippen. Traurig. Heute sank die Stimmung absolut unter den Gefrierpunkt. Das Team ließ uns am ehemaligen Geschäftshaus am Hafen warten, weil es Rostock unbedingt noch »von oben« filmen wollte. (Walter: »Für dieses idiotische Hochhaus wurde die Alte Post abgerissen!«)29
Netelers Darstellung orientiert sich partiell an Kempowskis Aufzeichnungen, die zwar nichts von Tränen in den Augen verraten, aber doch von Gefühlen sprechen, die sich beim Anblick der Wohnung nach wie vor einstellten. Die Bierflaschen und der volle Aschenbecher bilden das prägende Sujet der Szenerie: Sie sind im Film zu sehen und werden sowohl von Neteler als auch von Wittenburg erwähnt – Kempowski jedoch übergeht dieses Bild. Ebenfalls erwähnt Neteler, dass die Filmcrew Rostock von oben filmen wollte, was ja (in Bezug auf die Marienkirche) bei Kempowski große Empörung auslöste – zumal man ihn im Regen warten ließ. Unter den Zeitzeugen äußert sich einzig Gerhard Weber positiv (wenn auch nur kurz) über die Arbeit des Filmteams: Auf meinen morgendlichen Wegen traf ich im Januar 1990 Siegfried Wittenburg, der mich einlud, ihn ins Hotel Warnow zu begleiten, um Walter Kempowski zu treffen. Dieser war sehr zugänglich und meinte: »Kommen Sie doch mit.« Und so kam es, dass ich bei den Dreharbeiten in der Marienkirche dabei war. Und die ganze Zeit dachte ich: »Unglaublich! Nun bin ich hier mit Walter Kempowski in Rostock in der Marienkirche.« Die Bilder von den Aufnahmen vor einer Grabkammer in der Kirche habe ich bis heute vor den Augen. Sehr schöne Einstellungen.30
Webers Erinnerungen lassen von Misstönen nichts ahnen. Die Einstellungen, die die Filmcrew in der Marienkirche drehte,31 werden von ihm sogar explizit
28 Gerne hätten wir auch einen Erfahrungsbericht der Produktionsleiterin eingeholt, konnten sie aber leider nicht erreichen. 29 Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum »Echolot«. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2005, S. 149. 30 Gerhard Weber in einem persönlichen Gespräch mit Katrin Möller-Funck am 13.5.2022. 31 »Ganz persönlich«. Walter Kempowski in Rostock, ZDF 1990, 12:07–12:52 Minuten.
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gelobt. Die Szenen in der Kirche sind am Tag nach der Arbeit in der Augustenstraße entstanden – dort war Weber noch nicht zugegen. Kempowski jedenfalls verliert über den Dreh in der Kirche kaum ein Wort: »Heute früh Arbeit in der Marienkirche.«32 Allerdings ist auch hier, der rhetorischen Strategie folgend, von Misstönen zwischen Autor und Filmcrew die Rede. Wieder einmal zeigt sich die »Chefin«, wie Kempowski die Produktionsleiterin despektierlich nennt, von seinen Ausführungen brüskiert. Ob sie aber als bewusste Provokation seitens Kempowskis verstanden werden müssen, die nichts Anderes auslösen können als Unverständnis, sei dahingestellt, denn sie sind, wie jeder Kempowski-Leser weiß, Repertoirstücke seiner oft gewöhnungsbedürftigen Vorstellungswelt: »[I]ch hielt der Chefin einen Vortrag über die Marienkirche als Gebärmutter, das Querschiff als Scheide, die Orgel als himmlisches Jerusalem, aus dem wir kommen und in das wir uns zurücksehnen. Daß mich das bewegt, sagte ich.«33 Eine solche Gleichsetzung der Kirche mit weiblichen Genital- und Fortpflanzungsorganen kann, so sie die Hörer unvorbereitet trifft und nicht argumentativ hergeleitet wird, nur Befremden oder – wie in diesem Fall – einen raschen Themenwechsel des Gesprächspartners auslösen. In einer Szene aus Mark und Bein scheint Kempowski diese Begebenheit literarisch zu verarbeiten: Jonathans Freundin Ulla reagiert nämlich ähnlich unverständig auf die Gebärmutter-These und ist irritiert darüber, was ihr Freund »da für einen Blödsinn aufzuschreiben hat. Gebärmutter? Das Kirchenschiff mutet wie eine Gebärmutter an? Also das sei doch so ziemlich das Letzte…«34 Die rhetorische Strategie der Tagebuch- und der Mark und Bein-Passage sind ähnlich: Erst wird, in Ullas Fall, Empörung dargestellt, im Falle der Produktionsleiterin ein schneller Themenwechsel; danach wird sogleich das Kleidungsverhalten der beiden Damen referiert – und zwar in abwertender Absicht: Von der Produktionsleiterin heißt es: »Sie stelzte mit ihren Husarenstiefeln durch die Gegend: peinlich. Pelzjacke mit Plustertuch.«35 Von Ulla lesen wir: »Türkenhosen trug sie und eine offene Männerweste über der Bluse.« In Gestalt der Anita Winkelvoss kommt dann beides zusammen: »Sie war von einer volantreichen Bluse und duftigen Tüchern eingehüllt, wozu sie juchtene Landsknechtstiefel mit goldenen Schnallen trug.«36
32 Kempowski: Hamit 2006, S. 71 (18.1.1990). 33 Kempowski: Hamit 2006, S. 72 (18.1.1990). 34 Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992, S. 27. 35 Kempowski: Hamit 2006, S. 73 (18.1.1990). 36 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 89.
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Kempowskis Tagebücher zeugen von einem immensen Gestaltungs- und Ästhetisierungswillen autobiographischer Erfahrungen. Das gilt für die Schilderung der Dreharbeiten zur Dokumentation des Rostock-Besuches im Besonderen, haben wir es hier doch mit einem Thema zu tun, das unseren Autor lebenslang beschäftigt hat. Das »Nachspielen der eigenen Vergangenheit« jedoch, zu dem er sich genötigt sah, ließ ihm alle seine bisherige Arbeit als sinnlos erscheinen, denn Nostalgisches lag ihm in all seinem Schaffen fern. Dennoch arbeitete er auch am später erschienenen Begleitbuch zum Film mit – und so wie er das »Gebärmutter-Erlebnis« in der Marienkirche in seiner Erzählung Mark und Bein literarisch repräsentiert, so schreibt er in das Begleitbuch Spuren seiner Romane hinein. Damit trägt er dem Gedanken Rechnung, dass sein gesamtes Schaffen einem einheitlichen Werkkonzept folge und somit für ihn alles in seiner Arbeit zu seinem Gesamtwerk gehöre.
»Ganz persönlich« – das Begleitbuch, das Tagebuch und Mark und Bein Am 13.3.1990 wird eine Anbahnung des Buches zum Film in Kempowskis unveröffentlichten Tagebüchern erstmals erwähnt: Ein Gespräch mit »Herr[n] Gläser wegen des Rostock-Buches«, ist dort verzeichnet.37 Es kann vermutet werden, dass Kempowski an dessen Entstehung mit Ausnahme eines Lektorats und einer Ergänzung der Bildbegleittexte nicht weiter beteiligt war. Die Fotos steuerte zum Großteil der freie Fotograf Erhard Pansegrau bei. Es handelt sich demnach um Fotos, die nicht während der Dreharbeiten entstanden sind, denn Pansegrau war nicht dabei gewesen. Und so ist Kempowski dann auch nur auf einem einzigen Foto zu sehen, das ihn aus dem Fenster des ehemaligen Kontors seines Vaters und Großvaters steigend zeigt. Dieses Foto ist vom Produktionsteam des Films aufgenommen worden.38 Siegfried Wittenburg steuerte zwei im Sepia-Ton gehaltene Aufnahmen von Kempowskis Wohnhaus und von seinem Jugendzimmer im Dachgeschoss bei. Solche Bilder wird Pansegrau nicht in seinem Portfolio gehabt haben, konzentrieren sich seine Fotos doch auf Sehenswürdigkeiten, Sichtachsen oder Landschaftseindrücke in und um Rostock. Die drei genannten
37 Walter Kempowski: Tagebuch 16.1.–19.3.1990. Akademie der Künste. Walter-KempowskiArchiv, Signatur Kempowski 1955. 38 Walter Kempowski: In Rostock 1990, S. 34 oben.
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Fotos sind die einzigen im Buch, bei dem der Kempowski-Kosmos den RostockBezug überlagert. Der Begleittext entspricht zu großen Teilen der Sprechspur des Films. An einigen wenigen Stellen hat Kempowski jedoch Passagen aus seinen Romanen eingeflochten, von denen eine hier zitiert werden soll. Es handelt sich um einen Passus aus dem Roman Aus großer Zeit. Im Prolog betrachtet der Haupterzähler drei Bilder von Rostock, die über seinem Schreibtisch hängen. Besonders die Marienkirche kommt dabei immer wieder in den Blick, und ihre astronomische Uhr wird als Besonderheit hervorgehoben: Ein hölzerner Mann (es ist Julius Cäsar) zeigt mit einem Stab das Datum an. Allhier sieht man zu aller Frist, wie lang der Tag von Stunde ist. Seit 1472 tut er es, und bis zum Jahre 2047 wird er es noch tun: wenn nichts dazwischenkommt. Oben über dem meterhohen Zifferblatt ziehen die zwölf Apostel auf einem Rundgang hinter einander her, nach den Schlägen des Läutewerks: Nun danket alle Gott. Blaue und rote Gewänder tragen sie, die sind in Gold gefaßt. Der Judas kommt als letzter angeruckt, ihm knallt es die Paradiespforte vor die Nase.39
Im Film-Begleitbuch heißt es zum Vergleich: Zu jedem Sonntagsspaziergang gehörte die Besichtigung der astronomischen Uhr, mit ihren Sonnenauf- und Sonnenuntergängen: Ein hölzerner Mann (es ist Julius Cäsar) zeigt mit einem Stab das Datum an. Seit 1472 tut er es, und bis zum Jahre 2047 wird er es noch tun: wenn nichts dazwischenkommt. Um zwölf Uhr versammeln sich die Touristen auch heute noch vor diesem mechanischen Wunderwerk. Über dem meterhohen Zifferblatt ziehen die zwölf Apostel auf einem Rundgang hinter einander her, nach den Schlägen des Läutewerks: Nun danket alle Gott. Blaue und rote Gewänder tragen sie, die sind in Gold gefaßt. Der Judas kommt als letzter angeruckt, ihm knallt es die Paradiespforte vor die Nase.40
Die hier zugunsten der Faszination, die von der Uhr auch heute noch ausgeht, getilgten Verse »Allhier sieht man zu aller Frist, / wie lang der Tag von Stunde ist.« stehen auf der gegenüberliegenden Seite unter einer Detailaufnahme der astronomischen Uhr. Mit dieser Inkludierung von Romanpassagen aus der Deutschen Chronik in das Buch In Rostock wird nicht nur die Bedeutung der Hansestadt unterstrichen. Es ist nämlich der handlungschronologisch erste Roman der Chronik, den Kempowski hier anzitiert. Somit suggeriert er, dass mit diesem Rostock-Besuch auch seine Deutsche Chronik zu einem Abschluss gekommen sei – und unterstreicht das
39 Kempowski: Aus großer Zeit 1978, S. 10. 40 Kempowski: In Rostock 1990, S. 26.
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eingangs erwähnte Stoßgebet, dass nun endlich Schluss mit Rostock sein möge. Darüber hinaus – und das ist zentral für Kempowskis Werkpolitik – stiftet er Kontinuitäten innerhalb seines Œuvres, die weit über fiktionale Kontexte hinausgehen.41 Solche Verschränkungen sind zahlreich: Auf die Darstellung der Produktionsleiterin haben wir bereits hingewiesen. Sie wird als Komplementärfigur aus Realität und Fiktion gebildet. Eine weitere Filiation zwischen Mark und Bein und den Texten und Diarien rund um die Rostock-Dokumentation stellt das Klavierkonzert der »Stepanskaja« dar, die trotz ihres »tückischen Herzfehlers« kräftig in die Tasten greift:42 »Eines der Stücke, die Frau Stepanskaja spielte, hieß: »Die versunkene Kathedrale«,43 und manch ein Konzertbesucher mag hoffen, dass die Virtuosin mit dieser Etüde erst »aufsteige« und dann, noch »während des Spiels« sterbend zusammensinke.44 Kempowski nun imaginiert seine erste Lesung in Rostock mit einer ähnlichen Motivik von Erhebung und Zusammenbruch. Der entsprechende Passus aus der Reihe »Ganz persönlich« lautet: Während ich an meinen Rostocker Romanen arbeitete, habe ich manchmal gedacht: Wie wird es sein, wenn du da drüben zum erstenmal aus deinen Büchern liest? Ich stellte mir das äußerst triumphal vor: Da werden die Fanfaren blasen! Unter dem gleißenden Licht von Fernsehscheinwerfern wirst du eintreten in den Fürstensaal des Rathauses, wirst dich mit einem goldenen Füllfederhalter in ein goldenes Buch eintragen, und dann wirst du mit leiser Stimme zu lesen anfangen und – umkippen! Du wirst es nicht ertragen, es wird dich hinwegspülen, Weinkrampf, herbeistürzende Veranstalter…45
Erwähnung finden hier auch die »nordischen Schwestern«, über die Jonathan Fabrizius schreiben möchte, die »gewaltigen nordischen Backsteinkirchen«46 des Ostseeraumes zwischen Lübeck, Wismar, Rostock und Danzig. Rostock behielt selbstredend seine Faszination für Kempowski und blieb mit Wehmut verbunden. Mit der elterlichen Wohnung widerfuhr ihm »etwas sehr Sonderbares«:
41 Vgl. dazu: Stephan Lesker: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae (Dr. phil.) der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock: Universitätsbibliothek der Universität Rostock 2021, S. 196. 42 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 79. 43 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 79. 44 Kempowski: Mark und Bein 1992, S. 79–80. 45 Kempowski: In Rostock 1990, S. 6. 46 Kempowski: In Rostock 1990, S. 22.
Mehr als ein »Tonsurfilm«
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An der Etagentür stand groß und deutlich MÄNNER. Die in der Nachbarschaft liegende Brausefabrik hatte ein Klo aus unserer Wohnung gemacht. Warum auch nicht! Nichts dagegen zu sagen, im Gegenteil! So etwas wirkt abkühlend, ernüchternd, entmelancholisierend. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können, mir, der ich, familienbedingt, leicht nasse Augen kriege.47
Der Wunsch nach Rückkehr ist mit der Einrichtung des Kempowski-Archivs Rostock wenigstens symbolisch erfüllt worden. Und auch wenn Kempowski den Wunsch hegte, irgendwann mit Rostock abschließen zu können, so waren und blieben seine Erinnerungsorte für ihn und sein Werk von existenzieller Bedeutung. Dies gilt für Bautzen wie für Rostock, und auch wenn er den Anspruch hegte, ihnen sachlich-nüchtern begegnen zu wollen, ahnt er doch, dass dies nicht möglich sein wird – spätestens dann nicht, wenn er sie besucht. Am 17.3.1990 schreibt er in sein Tagebuch: »Morgen fahren wir nach Bautzen, ohne Emotionen. Sie werden sich dort schon einstellen.«48
47 Kempowski: In Rostock 1990, S. 36. 48 Walter Kempowski: Tagebuch 16.1.–19.3.1990. Akademie der Künste. Walter-KempowskiArchiv, Signatur Kempowski 1955.
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Katrin Möller-Funck/Stephan Lesker
Literaturverzeichnis »Ganz persönlich«. Walter Kempowski in Rostock, ZDF 1990. Hempel, Dirk: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. ³München: btb 2007 (btb, 73208). Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Ausgabe in einem Band. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000 (st, 3220). Kempowski, Walter: Aus großer Zeit. Roman. Hamburg: Knaus 1978. Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum »Echolot«. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2005. Kempowski, Walter: Erstes Wiedersehen mit Rostock. Akademie der Künste. Walter-Kempowski Archiv, Signatur: Kempowski 2453. Kempowski, Walter: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006. Kempowski, Walter: In Rostock. Aus der Reihe »Ganz persönlich«. Beschreibungen in Zusammenarbeit mit dem ZDF mit 40 Fotos von Erhard Pansegrau und einer Karte. Freiburg/Br.: Eulen Verlag 1990. Kempowski, Walter/Johnson, Uwe: »Kaum beweisbare Ähnlichkeiten«. Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Falke und Gesine Treptow. Berlin: Transit 2006. Kempowski, Walter: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992. Kempowski, Walter: Tagebuch 16.1.–19.3.1990. Akademie der Künste. Walter-KempowskiArchiv, Signatur Kempowski 1955. Lesker, Stephan: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae (Dr. phil.) der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock: Universitäts bibliothek der Universität Rostock 2021. Stockhorst, Stefanie: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Vergangenheitsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 423–442. Wittenburg, Siegfried: »Fotografieren Sie das mal!« 1990 kehrte Walter Kempowski in seine Heimatstadt Rostock zurück, wo ihn die Sowjetunion 42 Jahre zuvor verhaftet hatte. In: Spiegel Geschichte. https://www.spiegel.de/geschichte/walter-kempowski-besucht1990-seine-heimatstadt-rostock-a-1012737.html. Letzter Zugriff am 19.7.2022.
Teil E: Literaturbericht
Manfred Dierks
Der überzeitliche Kempowski Bemerkungen zum Kempowski-Handbuch Mit dem 2020 erschienenen Kempowski-Handbuch erlangen Autor und Werk endgültig eine Statur, deren historischer Umfang und aktuelle Wirksamkeit der kulturellen Öffentlichkeit überhaupt noch nicht bewusst ist: Es gibt jetzt – neben der literaturpflegerischen Befassung mit den Romanen der Deutschen Chronik und dem Echolot in Universität, Schule und Feuilleton – eine Kempowski-Gesellschaft mit Sitz in Gießen, in Rostock ein Kempowski-Archiv und im Nartumer »Haus Kreienhoop« die von Familie und Kommunen unterhaltene KempowskiStiftung mit ihren regelmäßigen Veranstaltungen. In Hamburg wird alle zwei Jahre der nach Walter Kempowski benannte Förderpreis für Kurzgeschichten vergeben. Ebenfalls alle zwei Jahre verleiht das Land Niedersachsen den mit 20.000 € dotierten Walter-Kempowski-Preis für biografische Literatur. Die Berliner Akademie der Künste schließlich macht die vom Autor selbst angelegten großen Materialarchive zu den Romanen und den Befragungsbüchern zugänglich. Endlich ist Kempowski auch ein Forschungsschwerpunkt der Rostocker Germanistik, die das hier vorliegende Jahrbuch mitträgt. Diese Aufzählung soll deutlich machen: Autor und Werk sind weitaus mehr als eine untergegangene Zeitinsel im literarischen Archipel der ersten Bundes republik, auf die sich das damalige aussterbende Bürgertum gerettet hatte, betrauert oder gehöhnt von seinen rechten und linken Nachbarn. Schon die psychische und literarische Schubkraft, die hinter diesem Werk tätig war und sich völlig auf eigene Hand ihre Darstellungstechniken entwarf, ist von überzeit lichem Interesse. Es handelt sich dabei ja um einen artistischen, immer auf seine Reproduktion angewiesenen Selbstentwurf – von scheinnaiven Erinnerungsnotaten (Tadellöser & Wolff) über die reformpädagogischen Verklärungen des Lehrerdaseins und seiner Schulgeschichten (Unser Herr Böckelmann) bis hin zu den genial arrangierten Kollektivprotokollen der Echolot-Bände.1
1 Der Autor hatte, als er 1975 mit Walter Kempowski persönlich bekannt wurde, schon längere Zeit am Zürcher Nachlass Thomas Manns gearbeitet. Doch den Gesprächen mit dem auf sich selbst sehr neugierigen Kempowski und dem Einblick in dessen private Tagebücher verdankte er am Ende weit mehr analytische Einsichten in den literarischen Schaffensprozess als dem Altmeister. Und dies trotz und gerade wegen aller Selbst- und Fremdtäuschungen, die bei solchen Eigenauskünften dazugehören. https://doi.org/10.1515/9783110784084-012
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Manfred Dierks
Hier bildet sich ein Autor an vergehenden soziokulturellen Mustern des deutschen Mittelschichtbürgertums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus und sichert damit seine eigene gegenwärtige Existenz – insofern ist es antiquarisch und liefert ein Zeugnis für die Kulturgeschichte. Indem Kempowski aber seine psychosoziale und künstlerische Lebensmöglichkeit aus der stützenden und formenden Kraft solcher Muster selbst dann noch beziehen kann, wenn sie historisch »überholt« sind, erweist er eine ihnen innewohnende überzeit liche Potenz. Nicht weniger als Thomas Mann ist Kempowski ein Bürger-Darsteller, dem die Schöpferkraft aus seiner Rolle zuwächst. Insofern hat sein Werk Zukunftspotential. Zukunftspotential – inwiefern und für wen? Seit dem Beginn des UkraineKriegs wird klar und deutlich, dass der weltpolitische Kulturfahrplan des europäisch fundierten »Westens« nicht aufgeht. Das kulturkapitalistische Konzept einer alle Staatsgrenzen überspringenden und vor allem funktionalistischen »Globalisierung«, der eine sie überwölbende neue Kultur schon irgendwann zufallen würde, geht nicht auf. Es scheitert am Widerstand eurasischer Länder, fast aller islamisch geprägter Staaten und nicht zuletzt an populistischen Gegenbewegungen im Westen selbst (»Trumpism«). Um welche Werte es diesem Widerstand geht, wird etwa drastisch deutlich, wenn der russische Präsident Putin antiwestliche Kulturkritik übt und man aus seinem Mund die Stimme eines seiner ideologischen Vordenker, Alexander Dugins, »the Russian Spengler«, hört: Es geht dann um eine (irgendwie) konsistente Nationalkultur und ihre Abgrenzungen, um ein stabiles Konzept von Ehe und Familie, um eine biologisch fundierte Geschlechtstheorie und um die Orientierungskraft von Tradition. Die Diskussion zu diesem Globalisierungsdilemma hat im Westen mit Macht eingesetzt. Eine Meinungs dominante stellt sich schon heraus: Der Westen möge bei seinen Leisten bleiben. Und es sind diese Leisten, die Kempowskis Werk heute auch zukunftsdienlich machen. Wenn man so will, stellt das in seinem Œuvre agierende »Bürgertum« die Vergreisung einer erfolgreichen deutschen Kulturphase dar: verschuldet, erstarrt, verkauzt. Im Prinzip aber: nicht falsch. Nur die Ausprägungen in der realen Lebenswelt müssen sich ändern – etwa der Zuschnitt der Familie. Es handelt sich um Entelechien der westlichen Kultur – sie bewahren ihre ursprüngliche Kraft. Das hat sich im bürgerlichen Rollenspiel Kempowskis für ihn und dann auch für sein Publikum bewährt. Es macht auch die heutige Wirksamkeit seines Werkes aus, wie sie sich in dessen oben beschriebener Potenz im Kulturbetrieb ausdrückt. Das Walter-Kempowski-Handbuch stellt Werk und Autor in zuverlässigen Zusammenhang und macht jedes wichtige Detail rasch greifbar. Es ist offensichtlich Ergebnis einer genauen und zähen Koordination zwischen den einzelnen Beiträgen und sichert so ein einleuchtendes Gesamtbild – eine beträchtliche Leis-
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tung angesichts der zu durchdringenden, heterogenen Riesenmengen an Texten und Daten. Überhaupt haben wir hier auch ein benutzerfreundliches Nachschlagewerk, das die Navigation über mehrere Register erleichtert. Dass immer Desiderate übrig bleiben, liegt in der Natur eines solchen Projekts und sichert die Relevanz des Autors und die Lebhaftigkeit der wissenschaftlichen Diskussionen: So würde es sich lohnen, die Kempowski-Rezeption auf dem Hintergrund der linken Politisierungswelle im Gefolge von »’68« zu analysieren. Man wird ideologische, sprachgebundene und auch institutionelle Strategien detailliert beschreiben können, wie sie derzeit in ähnlicher Form von der intellektuellen »woke«-Generation »neu« entwickelt und eingesetzt werden. Man wird andererseits auch genau zeigen können, wie gewitzt der als konservativ geltende, aber liberal eingestellte Kempowski auf dieser politischen Welle zu reiten vermochte – persönliche Allianzen schmiedete (mit der niedersächsischen FDP, mit dem konservativen SPD-Flügel in Hannover, mit einflussreichen Literatur didaktikern), für sich auf eigene Hand Medienpolitik (mit einflussreichen Ver tretern von Spiegel und Zeit) betrieb usw. Am Ende war er Lehrbeauftragter an der linken Reformuniversität Oldenburg und hatte auch per Sonderregelung seine Volksschullehrerpension gesichert – was seine Existenz als freier Schriftsteller stabilisieren sollte. Auch derlei gehört zum Verhältnis von Literatur und Politik.
Teil F: Kempowski-Projekte
Ralf Salomon
Schöne Aussicht – Borwinstraße »Die Borwinstraße in Rostock…«1 – mit dieser geographischen Punktlandung ließ Walter Kempowski seinen Roman Schöne Aussicht beginnen. Besser könnte der Romantitel nicht zum Thema der letzten Kempowski-Tage im zurückliegenden Jahr 2021 passen. Unter dem Motto »Sichtachsen. Die Stadt als Schauplatz und Inhalt« haben thematische Stadtrundgänge Zeit und Funktion von urbanen Räumen für die Kunst und Literatur ausgeleuchtet. So geriet die Borwinstraße in den Fokus der Betrachtung.
Abb. 1: Straßenschild »Borwinstraße«. Foto: Ralf Salomon.
Sie liegt in der »Werftgegend« (SchA 11) und unterschied sich früher nicht nur in der Form, sondern auch in der Funktion erheblich von dem bürgerlichen Milieu, in dem die Familie Kempowski beheimatet war. Diese Werftgegend wurde von der
1 Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981, S. 11, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783110784084-013
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Ralf Salomon
feinen Gesellschaft übel beleumundet. Der nicht ganz freiwillige Aufenthalt der jungen Eheleute Margarethe und Karl-Georg Kempowski währte nur knapp ein Dutzend Monate. Dieser Stippvisite der bürgerlichen Kempowskis in einem für sie untypischen Milieu wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. Das großbürgerlich erzogene Paar tauchte in eine proletarische Welt ein, die ihm fremd war. Neid und Missgunst der Nachbarschaft rieben sich an den Ansprüchen der Hamburger Kaufmannstochter und des Sohnes eines Rostocker Reeders. Wie Heinrich Zille mit seinen Karikaturen vom Berliner Milieu, so zeichnete Walter Kempowski mit seinen bildhaften Beschreibungen verbal ein Panorama der Rostocker Stadtlandschaft und der Menschen, die darin agierten. Im Roman Schöne Aussicht beschrieb der Autor sehr anschaulich die Milieus von Mietskasernen und Villen im Rostock der 1920er Jahre. Die Tatsache, dass die jungen Eheleute Margarethe und KarlGeorg Kempowski vor genau einhundert Jahren in der Borwinstraße wohnten, ist ein Grund mehr, diesen Schauplatz näher zu betrachten. Unscheinbare Ecken und Details des so ganz alltäglichen Lebens in seiner geliebten und schmerzlich vermissten Heimatstadt Rostock nahm Walter Kempowski mit besonderem Inte resse in den Fokus seiner Betrachtungen. Er war als Spurensucher unterwegs, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Seine genauen Beschreibungen erwecken beim Lesen die Orte, Dinge und Vorgänge aus längst vergangener Zeit wieder zum Leben. Kempowskis Erzählungen folgen dem Pfad der Zeit und mäandern dabei um Orte und Personen. Mit zusätzlichen Erklärungen und ausgewählten Zitaten aus Romanen von Walter Kempowski lädt dieser Text dazu ein, gedanklich dem Pfad vom Margaretenplatz in Rostock, die Borwinstraße entlang, bis zur ehemaligen Wohnung der Kempowskis zu folgen. »Drei Bilder von Rostock hängen über meinem Schreibtisch. Eine Radierung, ein Öldruck und ein Photo«.2 Walter Kempowski zählt akribisch auf und zeichnet damit zugleich ein Motiv von seinem Arbeitsplatz. Mit dieser szenischen Beschreibung eröffnet er sogleich den Blick auf das Panorama seiner Familiengeschichte, die er mit mehreren Bänden zur Deutschen Chronik heranwachsen ließ. Über die Bildbeschreibungen nähert sich der Schriftsteller in großen Schritten der langen Geschichte der Hansestadt Rostock. Er schreibt von den Türmen und Toren, von Handwerkern und Händlern. Aus der bunten Menge der geschäftigen Einwohner taucht plötzlich die Person Robert William Kempowski auf. Herr Kempowski kam aus Königsberg und residiert nun als erfolgreicher Schiffsreeder in einer eigenen Villa in der vornehmen Steintor-Vorstadt; die darauffolgende Erzählung lotet die Höhen und Tiefen der Familiengeschichte aus.
2 Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. München: Knaus 1978, S. 7.
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Abb. 2: Ölgemälde, Rostock von Westen, Georg Friedrich Kersting, 1809. Eigentümer: Kulturhistorisches Museum Rostock. Inv.-Nr. KHMR M1.
Auf meinem Schreibtisch liegt gerade nur ein Bild von Rostock. Es zeigt die ländliche Idylle westlich vor Rostock und das Kröpeliner Tor, hinter dem sich die Kirchtürme der Stadt in den Himmel recken. Der Maler Georg Friedrich Kersting arrangierte im Jahr 1809 auf seinem Ölbild im Vordergrund einen Reiter, der in aller Ruhe Pferde aus einem Teich trinken lässt. Links und rechts stehen weiß getünchte Bauernkaten. Die Perspektive richtet sich seitlich auf die künstlich und schnurgerade angelegten Wallanlagen. Im Zentrum des Bildes stehen die unscheinbaren Toreinfahrten, aber die Öffnungen sind durch die Wallanlagen verdeckt. Ein Blick in die Stadt ist so nicht möglich. Von der Stadt Rostock sind nur Dächer und Türme zu sehen. Die landseitige Fassade des Stadttores präsentiert trutzigen Bürgerstolz, aber der eigentliche Eingang bleibt dem Blick des Bildbetrachters verborgen. Die gewählte Perspektive vermittelt mit dem seitlichen Blick auf den Eingang zur Stadt eine vorsichtige Annäherung. Es ist »Franzosenzeit«. Napoleonische Truppen haben das Land und die Stadt besetzt. Die Sichtachse des Bildes zielt nicht direkt durch das Vortor auf das stolze Kröpeliner Tor, obwohl sich ein weites Feld davor befindet. Die Bildsprache lässt erkennen, dass
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von dieser Position weder der freie Blick durch die Tore noch der ungehinderte Zugang in die Stadt möglich ist. Der Handel ist stark eingeschränkt und drückt auf die Lebensader der Stadt. Knapp einhundert Jahre später hat die Gründerzeit auch »Mecklenburg, des Reiches unbekanntes Land«3 erreicht. Geschäftstüchtige Leute wie Robert William Kempowski kurbelten mit ihren Unternehmungen die Wirtschaft an. Neue Firmen und Fabriken entstanden und die Stadt wuchs schnell über ihre Grenzen hinaus. In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts war die ländliche Idylle vor dem Kröpeliner Tor einer neuen Industrie-Vorstadt gewichen. Im Deutschen Reich hatte sich seit seiner Gründung im Jahr 1871 die Einwohnerzahl bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 verdoppelt. Dank der gesunkenen Kindersterblichkeit stieg die Einwohnerzahl von 42 auf 84 Millionen. Auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten wanderten viele Menschen vom Lande in die Städte. Innerhalb der Stadtmauern führte dies zu sehr beengten Wohnverhältnissen und die Städte dehnten sich schnell über ihre bisherigen Stadtmauern aus. Die Vorstädte entstanden. Rostocks mittelalterlicher Stadtkern ist geographisch im Norden von der Warnow begrenzt, in östlicher Richtung verhinderte sumpfiges Gelände die Stadterweiterung. So wuchsen im Süden vor dem Steintor und im Westen vor dem Kröpeliner Tor zwei Vorstädte. Die ehrwürdigen Stadttore hatten ihre Funktion zum Schutz der Stadt verloren. Diese repräsentativen Tore waren enge Durchlässe durch die alten Stadtmauern. Seit dem Mittelalter verteilten sich von dort aus die Wege strahlenförmig ins weite Land. An den Rändern der Wege entstanden Häuser und Grundstücksgrenzen. Aus den Wegen wurden Straßen; aus der ländlichen Idylle wuchsen die Vorstädte und die Tore prägten ihre Namen. Ein Blick auf den aktuellen Stadtplan zeigt, wie sich vor dem Kröpeliner Tor die strahlenförmige Ausbreitung der Straßenverläufe im Wesentlichen bis heute erhalten hat. Beim zweiten Blick auf den Stadtplan lassen sich unterschiedliche geometrische Muster erkennen. Innerhalb des ovalen Ringes der Stadtmauer entstand der mittelalterliche Stadtkern organisch und mit gekrümmten Straßenzügen. Mit der Entstehung der Vorstädte entwickelte sich eine planvolle Stadtgestaltung. Für die Steintor-Vorstadt wurden die Straßen als repräsentative Sichtachsen nach ästhetischen Gründen mit hohem Anspruch an Gestaltung und Ausstattung angelegt. Das Radialstadtmuster war hier Vorbild bei der Straßenplanung. Innerhalb eines imaginären Halbkreises streben Straßenachsen auf den neuen Hauptbahnhof als Mittelpunkt zu. Von der Hauptstraße zweigen symmetrisch Nebenstraßen ab und
3 Walter Görlitz: Mecklenburg, des Reiches unbekanntes Land. Rostock: Carl Hinstorffs Verlag 1941.
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unterteilen die trapezförmigen Flächen. Die so entstandenen dreiecksförmigen Grundstücke boten viel Platz für die extravaganten und freistehenden Villen. Im Westen von Rostock siedelten sich zahlreiche Großbetriebe von der Brauerei bis zur Werft in der Nähe zur Warnow an. Der Verlauf der Landstraßen zielte von Westen kommend auf das Kröpeliner Tor und hatte keilförmige Flächen geschaffen. Mit der anfänglichen Blockrandbebauung entstanden hier enge und verwinkelte Hinterhöfe. Um dem Missstand entgegenzuwirken, entstand im Kern der westlichen Vorstadt das rechtwinklige Straßenmuster. Während in New York das Zentrum Manhattan nach diesem Muster mit einem Dutzend Avenues und fast 200 Streets bebaut wurde, beschränkte sich die Erweiterung der Rostocker Westvorstadt in dieser Phase auf drei Längs- und vier Querstraßen. Der Wohnungsbau für die Arbeitskräfte wurde hier nach sehr rationalen Maßstäben organisiert und durch Akkordarbeit realisiert. In geschlossener Blockbauweise entstanden bald die charakteristischen Straßenzüge mit den vielen nebeneinanderliegenden und mehrgeschossigen Wohnhäusern. Die Fassaden waren mit kleinen Details liebevoll verziert, aber dahinter verbargen sich sehr einfache und gleichförmige Wohnungen. In der Regel wohnte der Hauseigentümer auch selbst im Haus und vermietete die anderen Wohnungen. Oft unterhielten die Hauseigentümer kleine Gewerbebetriebe wie z. B. einen Tabak- oder Einkaufsladen, Bäckerei, Fleischerei, Glaserei, Tischlerei, Schlosserei, Sattlerei, usw. Die Kröpeliner-Tor-Vorstadt wuchs zum Hort der Arbeit. Hier wohnten und arbeiteten hauptsächlich dienstleistende Menschen. Im Kern der Steintor-Vorstadt waren handwerkliche Gewerbebetriebe nicht erlaubt. Hier entstanden die großzügigen Villen im Auftrag von leitenden Persönlichkeiten. Die Stadtplanung ist auch Spiegel der Gesellschaft. Der Vergleich der zwei Vorstädte zeigt auch heute noch deutlich die geographische und soziale Trennung von zwei unterschiedlichen Vorstadt-Lebenswelten. Walter Kempowski widmet in seinem Roman Schöne Aussicht die ersten vier Kapitel dem Milieu der Dienstleute in der Borwinstraße und der Werftgegend. Die folgenden Kapitel schildern das Familienleben im bürgerlichen Milieu der Steintor-Vorstadt. Aber auch das Leben der Oberschicht verlief nicht sorgenfrei, wie am Beispiel des Reeders Robert William Kempowski in seiner repräsentativen Villa im Kreise der etablierten Steintor-Vorstadt-Bewohner zu erfahren ist. Die beiden Milieus standen sich nicht direkt feindlich gegenüber, aber sie hielten beiderseits voneinander Abstand und pflegten ihren Argwohn. Für die jungen Eheleute Karl-Georg und Margarethe aus gutem Hause wurde der Einzug in die Welt der Borwinstraße zu einer kleinen Herausforderung. Aus der Richtung vom Kröpeliner Tor kommend, führt der Barnstorfer Weg gen Westen mitten in die Vorstadt hinein und endet an der Margaretenstraße. An dieser Stelle geht das überlieferte strahlenförmige Wegenetz in das künstlich
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und rechtwinklig angelegte Straßennetz über. Daher weitet sich hier die Fläche zwischen den Häuserfronten. Der heutige Straßenverlauf der Margaretenstraße führt – um den so erst nach 1990 geschaffenen – Margaretenplatz herum und verschleiert hier für den Fußgänger augenscheinlich den Übergang zur geradlinigen und rechtwinkligen Straßenführung. Allein die Fassaden der Wohnblöcke der westlichen Seite der Margaretenstraße sind erkennbar nach einer Linie ausgerichtet und bilden den Anfang der geschlossenen Blockrandbebauung auf rechteckigen Grundstücken. Von der Mitte des Margaretenplatzes aus bietet die Sichtachse durch den Barnstorfer Weg einen Blick auf das Kröpeliner Tor. Im Sommer verdecken die Straßenbäume diese »schöne Aussicht«.
Abb. 3: Schöne Aussicht vom Margaretenplatz auf das Kröpeliner Tor. Foto: Ralf Salomon.
Am nördlichen Ende des Margaretenplatzes mündet die Borwinstraße ein, die in Kempowskis Roman zum literarischen Schauplatz wird. Die junge Ehefrau von Karl-Georg mag es amüsiert haben, dass diese Straße ihren Namen trägt. Benannt wurde die Straße aber 1890 nach der dänischen Königin Margarete, die der Erzählung nach um 1270 das Kloster zum Heiligen Kreuz stiftete und mit Sicherheit 1282 in Rostock verstarb. Die glückliche Fügung wollte es, dass
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sich in einem der Gebäude des ehemaligen Klosters seit 1993 das KempowskiArchiv befindet. Hier schließt sich wieder der Kreis zur Familie Kempowski, denn in diesem Archiv lagern die mündlich überlieferten Erinnerungen von Walter Kempowskis Mutter Margarethe. Er hatte ab 1959 seine Mutter gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, befragte sie auch gezielt und zeichnete die Gespräche zur Dokumentation auf Tonband auf.4 Die Transkriptionen wurden zu einer grundlegenden Informationsquelle für seine Romane. Über die Zeit in der Borwinstraße erzählte Margarethe Kempowski relativ wenig, dafür sind die Beschreibungen der einzelnen Szenerien umso treffender und fanden direkten Eingang in den Roman Schöne Aussicht. Zu jener Zeit galten bei Historikern die Zeitzeugenbefragungen wegen ihrer subjektiven Sichtweisen als unwissenschaftlich. Heute ist die Zeitzeugenbefragung ein eigener Zweig der Geschichtswissenschaft. Nun verstand sich Walter Kempowski nicht als Historiker, sondern als Romancier; er schrieb keine Sachbücher, sondern Romane. Seine akribische Suche nach Relikten aus jener Zeit diente seinen detaillierten Beschreibungen von scheinbar profanen Einzelheiten. Das verleiht seinen Erzählungen über die Vergangenheit eine enorme Authentizität und Glaubwürdigkeit. Die Verwendung von gedruckten Quellen ist aber auch kein Garant für die objektive Wahrheit. Zur Einleitung seines Romans schreibt Kempowski: »Die Borwinstraße in Rostock hat ihren Namen von Borwin II., einem Wendenfürsten. Im 13. Jahrhundert sorgte er dafür, daß ›Rostock viele ansehnliche Gebäude erhielt‹, wie in einer Chronik steht.« (SchA 15) Auf welche Chronik Kempowski sich hier bezieht, bleibt ungenannt. Borwin II. war von 1219 bis 1226 Herr von Rostock und der Sohn von Borwin I., der »am Johannistag 1218 das Stadtrecht für Rostock« bestätigte, wie es heute (!) als Information am Straßenschild zu lesen ist. Walter Kempowski war bei seinen Nachforschungen der Wahrheit schon sehr nahegekommen, aber er bezieht sich hier scheinbar auf eine unpassende Quelle. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass dem in Niedersachsen lebenden Autor durch die deutsche Teilung der Zugang zu den Archiven in Rostock verwehrt war. Kempowskis Roman Schöne Aussicht wurde 1981 veröffentlicht. Für seine Recherchen konnte er die im gleichen Jahr erschienene Publikation des Rostocker Stadtarchivs Rostocker Straßennamen von A-Z noch nicht nutzen. Dort ist nachzulesen, dass die Borwinstraße im Jahr 1890 nach dem Fürsten Borwin I.
4 Literarisches Lesebuch Walter Kempowski, hg. von Carolin Krüger und Katrin Möller-Funck. Rostock: Kempowski Archiv Rostock, ein bürgerliches Haus e.V. 2017 (Literarisches Lesebuch Walter Kempowski), S. 11.
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benannt wurde, der Rostock »auf dem Höhengelände um den heutigen Alten Markt, am 24. Juni den Gebrauch des lübischen Stadtrechts« bestätigte.5 Kempowski lenkt mit der Erklärung des Straßennamens sofort den Blick auf die Borwinstraße und stellt verbal den Fokus schärfer: Die Borwinstraße ist allerdings keinesfalls ansehnlich, sie ist eine sogenannte Arbeiterstraße und liegt in der Werftgegend. Sie grenzt an die Niklotstraße, die auch nach einem Wendenfürsten benannt wurde, nach Niklot dem Kind. In ihr wohnen ebenfalls Arbeiter, die tagsüber in der Werft hämmern und sägen, was zu hören ist; Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende. (SchA 11)
Ohne es zu merken, befindet sich der Leser gedanklich schon mitten im Milieu der Werftgegend und die folgenden Beschreibungen vervollständigen das Bild: »In diesem Stadtteil sind die Häuser durchweg viergeschossig. Eins ist wie das andere: Straßenbäume decken die Armseligkeit notdürftig zu.« (SchA 11) Mit wenigen Worten wird der Schauplatz treffend beschrieben und beim Leser entsteht eine geradezu plastische Vorstellung des Straßenzuges im Kopf. Kempowski nennt mit den Straßennamen die geographischen Koordinaten und beschreibt die Szenerie der Hintergrundhandlung. In Gedanken und auf dem Stadtplan lässt sich der Ort genau lokalisieren – dort, wo Borwinstraße und Niklotstraße nahezu zusammentreffen. Es ist Sommer, denn die Straßenbäume können nur, wie beschrieben, »belaubt« die »Armseligkeit« (SchA 11) bedecken. In der Vorstellung rauschen die Blätter im Wind und von der Werft tönen die Geräusche der Arbeit herüber. Der Schauplatz wird mit einer Klangkulisse umhüllt. Kempowskis Erzählung dringt tiefer in die Ereignisse ein und »zeichnet« eine lebendige Straßenszene mit Hunden und spielenden Kindern, wie sie überall stattfinden könnte. Unmittelbar anschließend werden die Details der Heiligen-Geist-Kirche beschrieben, »die inmitten der Häuser steht. […] Glasierte Ziegel wurden verwendet, und mit Zierrat wurde nicht gespart.« (SchA 12) Die Vorstellung des Lesers wird in den Innenraum gelenkt und die Bemühungen und Probleme des Pfarrers Straatmann werden genau geschildert. »Oft sitzen verweinte Frauen in seinem Arbeitszimmer, und ständig hat er einen Schüler bei sich, den er weiterbringen will.« (SchA 12) Kempowski lässt mit seinen Beschreibungen den Leser noch weiter eintauchen in die Lebenswelt der Borwinstraße: »In jedem sechsten Haus ist das Parterre zu einem Kolonialwarenladen ausgebaut, dessen Besitzer von den Menschen lebt, die hier wohnen. An den Ecken der Häuserblocks befinden sich Kneipen oder Friseure oder Zigarettenläden.« (SchA 11)
5 Stadtarchiv Rostock (Hg.): Rostocker Straßennamen von A-Z, Rostock: Stadtarchiv 1981 (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Rostock, Sonderheft 5), S. 24.
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Abb. 4: Fassadenwerbung Kolonialwaren. Foto: Ralf Salomon.
Der Zufall will es, dass sich am Eckhaus Borwinstraße Nummer eins die originale Fassade mit der Aufschrift erhalten hat, die heute noch von einem eben jener Kolonialwareneinkaufsgeschäfte kündet. Längst sind die kleinen Eckläden verschwunden und die Fassaden der Nachbarschaft mit bunten Farben übertüncht, aber an diesem speziellen erhaltenen Ort ist eine kleine visuelle Zeitreise möglich. Die alte Fassade vermittelt dem vorübergehenden Spaziergänger den Anblick einer längst vergangenen Zeit. Kolonien gibt es heute nicht mehr und Kolonialwaren werden nun Südfrüchte genannt. Kempowski hat auf geniale Weise die Nähe von Arbeit und Wohnen beschrieben. In dieser Werftgegend gibt es nicht nur Arbeiter, sondern auch Unternehmer. Sie führen ein kleines Unternehmen, selbständig und eigenverantwortlich. Die Unternehmer fühlen sich als Eigentümer auch verantwortlich für ihre Häuser und wohnen mit ihren Mietern zusammen unter einem Dach. Aus dieser Symbiose lässt sich Kempowskis etwas sarkastische Beschreibung deuten über »diesen Stadtteil, in der Werftgegend also, in dem die Bewohner auf spiegelblanke Treppenhäuser Wert legen – auf jedem Treppenabsatz steht ein Gummibaum.« (SchA 12)
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Abb. 5: Treppenhaus in der Borwinstraße. Foto: Ralf Salomon.
Diese Beschreibung scheint dem Autor sehr wichtig gewesen zu sein. Schon im drei Jahre zuvor erschienenen Roman Aus großer Zeit schrieb Kempowski von den Häusern, in denen die Menschen den Ehrgeiz haben, das Treppenhaus blitzblank zu bohnern: auf jedem Treppenabsatz einen Gummibaum. Aber so richtig arm, wie diese Leute da, die da die Fäuste ballen und durch den Drahtzaun spucken, so arm wie diese Leute da, sind die Menschen in der Werftgegend nicht.6
Diese Menschen führten offenbar ein einfaches, aber auskömmliches Leben.
6 Kempowski: Aus großer Zeit 1978, S. 130 (Hervorhebungen im Original).
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Die Erzählung folgt nicht dem Straßenverlauf. Aber dem Verlauf der Straße folgend, wird das Haus Borwinstraße Nummer sechs zum nächsten Schauplatz. Der Schriftsteller Kempowski verknüpft geschickt die Beschreibungen des Milieus mit den fiktiven Gedanken seines Vaters Karl-Georg. Der ist im Roman auf dem Heimweg von der Kneipe »Zur Deutschen Fahne«, die es tatsächlich am Doberaner Platz gab und im Roman am nahegelegenen Schröderplatz angesiedelt wurde. (»Alles frei erfunden.« [SchA 4]) Dort trifft sich ein Stammtisch ehemaliger Weltkriegsoffiziere, die über den vertanen Sieg vom November 1918 räsonieren. In dieser Runde ist nicht der richtige Platz, wo der fronterfahrene Karl-Georg seine Gedanken »hat loswerden können«. Karl geht den Rest des Weges allein – wer wohnt schon in der Borwinstraße? Vor den Toren der Stadt? [...] Die Glocke der Heilig-Geist-Kirche schlägt elf […]. Da drüben ist noch Licht im vierten Stock […]. Dort drüben Hausnummer 6: »Karl-Georg Kompewski, Angestellter«, so steht es im Adressbuch. Ein Druckfehler also: das ist wieder einmal typisch. (SchA 48–49)
In der Realität gibt es jedoch diesen Eintrag nicht – weder mit noch ohne Druckfehler.
Abb. 6: Borwinstraße. Foto: Ralf Salomon.
Auf dem Foto ist in der Mitte der Borwinstraße die Heiligen-Geist-Kirche und hinter dem Straßenbaum auf der rechten Seite das Haus Nummer sechs zu sehen. Kem-
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powski beschreibt einen realen Ort und mit dem Gedanken an das Adressbuch eine glaubwürdige Quelle. Mit einer tüchtigen Portion Selbstironie wird aber auch auf die Fehlerhaftigkeit selbst offizieller Druckausgaben verwiesen. In den Rostocker Adressbüchern vom Anfang der zwanziger Jahre taucht der Name Kempowski (oder ähnlich) in keiner Verbindung mit der Borwinstraße auf. In der Ausgabe Jahrgang 1922 wird allein Robert [William] Kempowski, Kaufmann und Alleininhaber der Firma Otto Wiggers, Stephanstraße 11 genannt.7 Die Familie Kempowski wollte hier nicht etwa den Einzug in die »Werftgegend« verschweigen. Die Rostocker Adressbücher wurden derzeit nur alle zwei Jahre veröffentlicht und inzwischen wohnten die Eheleute Karl-Georg und Margarethe bereits in der Steintor-Vorstadt. Walter Kempowski lässt den Leser durch die Augen seines Vaters blicken und seinen Gedanken folgen. Einer Kamerafahrt gleich schweift der Blick beim Haus Nummer sechs vom Dach bis nach »ganz unten«. Wie in einem Puppenhaus wird die Sicht hinter die Fassade frei. Nach und nach werden die einzelnen Wohnungen betrachtet. Von Etage zur Etage absteigend, sinkt das Ansehen der Bewohner mit all ihren Freuden, Gedanken, Problemen und menschlichen Abgründen. Das Haus ist real. Der Vergleich mit Adressbüchern zeigt: Die Bewohner sind fiktiv. Weder Namen noch Berufsnennungen stimmen überein. (»Alles frei erfunden.« [SchA 4]) Kempowski beschreibt an den Beispielen einzelner Schicksale die Höhen und Tiefen des wahren Lebens. Wie überall in der Welt befanden sich auch hier sowie damals wie heute Himmel und Hölle zusammen unter einem Dach. Und wie schrieb Kempowski über die Häuser: »Eines ist wie das andere.« (SchA 11) In der Borwinstraße reiht sich ein Mietshaus an das Andere. An der ersten Kreuzung befindet sich heute noch ein Ecklokal. Es ist einer der zahlreichen Gewerbebetriebe, die typisch sind für die Kröpeliner-Tor-Vorstadt und seit der Gründerzeit die Bedürfnisse der Anwohner befriedigen. Ein großes Anliegen von Walter Kempowski war die Spurensuche. Das Ende der deutschen Teilung eröffnete ihm den freien Zugang in seine geliebte Heimatstadt Rostock. In der Form eines Tagebuches mit dem Titel Hamit veröffentlicht der Autor seine Erlebnisse im Rostock der unmittelbaren Nachwendezeit im Jahr 1990. In diesem Buch ist eine Reihe von Detailfotos aus der Kröpeliner-Tor-Vorstadt aus jener Zeit abgedruckt, ohne dass Kempowski darüber ein Wort notiert. Die Bilder erzählen ihre ganz eigene Geschichte über die ruinierte und dem Verfall preisgegebene Vorstadt. Waren diese vereinzelten Bilder ein Statement ohne Worte von Kempowski? Der untergegangene Arbeiter- und Bauernstaat hatte das »Arbeiterviertel« der »Werftgegend« und das Villen-Viertel gleichermaßen dem Verfall preisgegeben.
7 Rostocker Adreß-Buch 1922. Rostock: Boldt 1922, S. 162.
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Im Hamit-Tagebuch zeigt ein Foto das Haus Borwinstraße Ecke Fritz-ReuterStraße mit der Nummer 68.8 Der Putz bröckelt und die verblassenden Farben geben übertünchte Firmenwerbung preis. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung war in der Nachwendezeit noch das Wort »Bierverlag« zu erkennen. Die Mangelwirtschaft der DDR hatte ungewollt die Erinnerung an die liberale Gründerzeit konserviert. Über das ganze Viertel hatte sich in den DDR-Jahrzehnten ein morbider Charme gelegt, der im krassen Widerspruch zum staatlich propagierten Ziel einer fortschrittlich-voranschreitenden Gesellschaft stand. Dieser morbide Charme wich nach 1990 allmählich im Prozess der Umgestaltung Ostdeutschlands zu »blühenden Landschaften«. Mit den bunten Fassaden gingen aber leider auch die historischen Fassadenaufschriften bis auf ganz wenige Ausnahmen verloren. Kempowski nahm bei seinen Besuchen 1990 in Rostock die Spuren der Vergangenheit auf. Die Fotos in Hamit wurden zu eigenständigen Zeitzeugnissen aus jenen Jahren und zeigen unter anderem auch Details aus der Borwinstraße.
Abb. 7: Kasernentor. Foto: Ralf Salomon.
8 Vgl. Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006, S. 130.
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Die zweite Kreuzung offenbart eine auf optische Wirkung angelegte Sichtachse. Die Budapester Straße hieß ursprünglich Kasernenstraße und führt direkt auf das Portal der ehemaligen Füsilier-Kaserne zu. (Füsiliere waren im 19. Jahrhundert einfache Soldaten, die mit einem Gewehr ausgestattet waren.) Durch die modernen Glastüren geht heute der Blick geradezu durch das Gebäude hindurch – direkt auf den ehemaligen Exerzierplatz. Die Kaserne entstand einige Jahrzehnte vor den sogenannten Mietskasernen der Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Das Gebäude entstand parallel zur alten Doberaner Chaussee, und die damals neu angelegte Kasernenstraße bildete im rechten Winkel die direkte Verbindung. Durch die Architektur im Kaiserreich wurde hier der Weg in die Kaserne zum »Ziel« und in der umgekehrten Richtung verlängerte die Straße die Wirkung des Militärs in die zivile Lebenswelt. Kempowski lässt diesbezüglich seine Romanfigur Karl-Georg denken: »Mit dem Spazierstock lassen sich Gewehrgriffe üben. […] Gelernt ist gelernt. […] Auch fechten lässt sich mit dem Spazierstock: Avancieren, passadieren, retirieren.« (SchA 48–49) Das Kasernengebäude und der Straßenverlauf sind präzise aufeinander abgestimmt und bilden ein Zusammenspiel von rationalen Plänen und emotionaler Wirkung. Unter dem Eindruck von rechtwinkliger Ausrichtung und Präzision im Verlauf der ehemaligen Kasernenstraße fällt der Blick noch einmal zurück zum Anfang der Borwinstraße. Erst aus dieser Perspektive fällt auf, dass sich das Kirchengebäude nicht dieser rationalen Anordnung und Logik fügt, obwohl es wenige Jahre nach (!) der Bebauung dieses Viertels entstand. Das Kirchenportal liegt nicht mittig zur Sichtachse der Borwinstraße. Der Grund für die Platzierung ist religiöser Natur, denn seit jeher wurden die Kirchenschiffe mit dem Altar nach Osten ausgerichtet. »Ex oriente lux. – Aus dem Osten kommt das Licht.« Dort geht sprichwörtlich die Sonne auf. Das Wort »Orientierung« wurde davon abgeleitet. Bei der Betrachtung des Schauplatzes Borwinstraße zeigt sich heute noch, wer zu seiner Entstehungszeit die »Orientierung« im Leben gab. Über die Rationalität der quadratischen Planung dominierte dennoch die Kirche mit ihren überlieferten Glaubensgrundsätzen. Die Kirche und das Militär bildeten die zwei starken Stützen des Wilhelminischen Kaiserreichs. »Tempi passati. – Die Zeit vergeht.« An der nächsten Ecke mündet die Gellertstraße in die Borwinstraße ein. Hier wurde zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Grundstücksspekulation auf die Spitze getrieben. Das ursprüngliche Karree an der Borwinstraße wurde nochmals durch die Gellert- und Hansastraße geteilt und so entstand hier punktuell die höchste Wohndichte Rostocks. Die Bauherren verzichteten auf die Vorgärten. Schon damals schrieben die Zeitgenossen (ab-)wertend vom »Arbeiter-Viertel« und »Miethskasernen mit zahlreichen
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Wohnungen.«9 Statistisch gesehen, lag die Wohndichte in der Westvorstadt mit 58 m² Grundfläche pro Person nur wenig unter dem Gesamtdurchschnitt der Stadt von 62 m² pro Einwohner, dies aber nur, weil die Grundfläche in der Steintor-Vorstadt mit 140 m² pro Person überproportional hoch ausfiel und die Durchschnittswerte der Altstadt mit 33 m² und der Neustadt mit 38 m² pro Person um das Vierfache übertraf. Die Wohndichte war demnach in der Altstadt am höchsten. Das Verhältnis von Häusern zur Bodenfläche war in der Steintor-Vorstadt ähnlich wie in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt, aber in der Westvorstadt lebte die dreifache Anzahl an Menschen. Statistisch berechnet, lebten in jedem Rostocker Stadtteil 3,9 Personen in einem Haushalt.10 Obwohl heute beispielsweise in einem modernen Hochhaus sehr viel mehr Menschen in einem Haus wohnen, ist doch die Wohndichte pro Flächenmeter in diesem an die Borwinstraße grenzenden Karree mit Gellert- und Hansastraße am höchsten, da bei den modernen Hochhäusern die Abstandsflächen zu den Nachbarhäusern größer sind. In seinem Tagebuch Hamit über das Jahr 1990 dokumentiert Kempowski auch alte Firmenreklamen auf den grauen Hausfassaden direkt neben der Einmündung der Gellertstraße. Ein Detailfoto zeigt ein Stück Hauswand mit einer verblichenen Aufschrift auf ergrautem Grund. In schlichten schwarzen Buchstaben steht dort geschrieben »Tischlerei W. Schulz«.11 Auf der gegenüberliegenden Seite warb Friseur-Salon Schwart mit einer schwungvolleren Linienführung auf dem Häusersockel.12 Heute ist von diesen Aufschriften nichts mehr zu sehen. Sie sind ebenso verschwunden wie die verwitterte Aufschrift des ehemaligen Bauunternehmens »Ullerich & Schwerdtfeger, Fernruf 1865.«13 Aus den abgedruckten Fotos allein sind die Orte nicht erkennbar, aber in den alten Adressbüchern ist nachzulesen, dass die Werbung für die Tischlerei an der Hauswand Borwinstraße Nummer 15 stand und Wilhelm Schulz der Eigentümer des Hauses war. Der Bauunternehmer Fritz Schwerdtfeger war Eigentümer von Nummer 15a und Franz Ullerich zählte das Haus Nummer 16 zu seinem Besitz.14
9 Festschrift der XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege gewidmet von der Stadt Rostock. Rostock: Raths- und Universitätsbuchdruckerei von Adler’s Erben 1901, S. 124. 10 Festschrift 1901, S. 124. 11 Kempowski: Hamit 2006, S. 126. 12 Kempowski: Hamit 2006, S. 277. 13 Kempowski: Hamit 2006, S. 310. 14 Rostocker Adreß-Buch 1920. II. Teil. Rostock: Boldt 1920, S. 17.
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Wie Walter Kempowski es mit einem Foto in Hamit dokumentiert, konnte man 1990 noch von »Ullerich & Schwerdtfeger« an der Hauswand lesen. Das Foto zeigt nur einen kleinen Ausschnitt. Der abgebröckelte Putz gibt stellenweise das Mauerwerk frei. Ein Lüftungselement der Gasheizung ist halb zu sehen und ebenso ein altes Kastenfenster mit Fensterhaken und Fahnenhalter. Die Fensterflügel sind nur einfach verglast und dahinter hängt eine ordentliche Gardine. Hier verdeckt kein belaubter Baum die Armseligkeit. Die markanten Teile auf dem Foto von der Gasheizung über Fenster und Fassade wurden bei der Sanierung in den neunziger Jahren verändert. Die ehemals außen liegenden Elektroleitungen am Sims wurden nach innen verlegt. Ein Blick ins Adressbuch gibt wieder eine Orientierung und der erhaltene Sims unter der neuen Farbe verrät heute eindeutig den Ort an der aktuellen Hausnummer 18, den jenes Foto von 1990 abbildet. Die unterschiedliche Nummerierung mag den aufmerksamen Leser irritieren und erschwerte Walter Kempowski die Orientierung auf der Suche nach dem Wohnhaus seiner Eltern in der Borwinstraße zusätzlich. Aus den Erzählungen seiner Mutter war zu erfahren, dass der Hauswirt »Fründt« hieß.15 Aus Antiquariaten hatte sich Walter Kempowski eine Sammlung Rostocker Adressbücher zugelegt, die heute zu den Ausstellungsstücken des Kempowski-Archivs zählen. Im Rostocker Adressbuch von 1922 konnte er lesen, dass Postschaffner Friedrich Fründt der Eigentümer des Hauses Borwinstraße 16a war.16 Fründt hatte das Haus Karl Krohn abgekauft, der selbst schon vor dem Verkauf in der Nachbarschaft im Haus Am Kabutzenhof 10 wohnte. Friedrich Fründt war durch Kauf und Einzug ein neuer Nachbar von dem schon erwähnten Tischlermeister Schulz und den Bauunternehmern Ullerich und Schwerdtfeger geworden. Zu jener Zeit wechselten die Besitzer der Häuser mitunter im Jahrestakt. Im Adressbuch von 1949 wird Friedrich Fründt als Eigentümer des Hauses Nummer 20 genannt.17 Er hat aber nicht das Haus gewechselt, sondern bekam bei einer neuen Zählung eine neue Hausnummer, weil alle a-Nummern gestrichen wurden. Durch die Adressbücher konnte Walter Kempowski das Wohnhaus seiner Eltern in der Borwinstraße eindeutig identifizieren. Die Platzierung des Detail fotos vom Straßenschild »Borwinstraße« ganz an den Anfang vor die ersten
15 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I). In: Die Spatien 1 (2004), S. 28–55, hier S. 39. 16 Rostocker Adreß-Buch 1922, S. 18. 17 Rostocker Adreßbuch 1949/50. Rostock: Landes-Druckerei, Zweigwerk Rostock II 1949, II. Teil, S. 14.
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Worte seines Hamit-Tagebuchs von 1990 unterstreicht die Bedeutung dieses Ortes für ihn.18 Es war ein Wohnort seiner Eltern und ist ein Schauplatz seiner Erzählungen. Kempowski gab diese Stelle nicht mit Worten preis, weil sich die Ereignisse auch in jedem anderen Haus hätten abspielen können. Durch die Kombination der Recherchen in den Aufzeichnungen der Mutter, den Adressbüchern und der Spurensuche vor Ort ließ sich dieser Schauplatz genau lokalisieren. Das alte Straßenschild »Borwinstraße« befindet sich noch heute an derselben Hausecke, aber die alte auf die Wand gemalte Werbung für Eier, Butter, Käse und Schinken verschwand unter dem modernen Farbanstrich. Walter Kempowski nennt den Hauswirt in seinem Roman abweichend von der Realität »Schlossermeister Franz.« (SchA 13) Der habe im Weltkrieg 14/18 an der Front seinem Leutnant das Leben gerettet. Kempowskis Mutter schilderte ihrem Sohn in ihren Lebenserinnerungen in den 1960er Jahren eine etwas weniger dramatische Geschichte. Der Hauswirt war Soldat gewesen und »hatte seinen Hauptmann aus der Gefangenschaft gerettet, und der hatte ihm dafür 7.000 Mark vermacht. Im Wohnzimmer des Hauswirtes stand auf einer Staffelei das Bild von dem Hauptmann. Fründt hieß der Wirt.«19 Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Schriftsteller Walter Kempowski in seiner künstlerischen Freiheit Wahrheit und Fiktion miteinander verwob. Mit seiner ihm eigenen Collagetechnik verknüpfte und dokumentierte er Lebenswelten und Bilder, wie sie in keinem Sachbuch zu finden sind. Nicht zufällig stellte Kempowski seinem Roman die Sätze voran: »Alles frei erfunden, auch die Namen. Ähnlichkeiten sind zufällig.« (SchA 4) Der Einzug der Eltern in die Borwinstraße wird von Walter Kempowski nicht genau datiert. Sein Roman Aus großer Zeit schließt mit dem Kriegsende im November 1918 und die Erzählung wird in Schöne Aussicht ohne genaue zeitliche Angaben mit dem Einzug in die Borwinstraße fortgesetzt. Aus den Erzählungen der Mutter ist zu erfahren, dass Karl-Georg aus dem Krieg heimkehrte und gar keine zivile Berufsausbildung hatte. Im Lübecker Kontor sollte er Erfahrungen sammeln. Er wohnte dort in einer Villa in der Kronsforder Allee vor dem Mühlentor. In der Lübecker Geschäftsstelle kam es zu Zerwürfnissen und Karl kam »zum Herbst ins väterliche Geschäft«20 nach Rostock zurück.
18 Kempowski: Hamit 2006, S. 6. 19 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39. 20 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 38.
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»Der Umzug nach Rostock kam durch Tausch zustande.«21 In die Lübecker Wohnung zog Luise Schwerdtfeger.22 Ob sie verwand war mit dem Bauunternehmer in der Borwinstraße, konnte nicht ergründet werden. Die Familie Kempowski besaß selbst drei Villen in Rostock. Aber das »Haus in der Goethestraße wurde von fremden Leuten bewohnt und die wurden vom Wohnungsamt nicht rausgesetzt. 1922 war das.«23 Walter Kempowski fügt dieser Szene seine ganz eigene Ironie hinzu: »Eigentlich ja unerhört.« (SchA 13) Dennoch lautet sein Tenor, die jungen Eheleute hätten durch guten Leumund bei der Wohnungsvergabe noch Glück gehabt. (SchA 12–13)
Abb. 8: Wohnhaus in der Borwinstraße. Foto: Ralf Salomon.
21 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 38–39. 22 Adreßbuch (Einwohnerbuch) der freien und Hansestadt Lübeck mit der eingemeindeten Stadt Travemünde und den umliegenden Ortschaften (mit Stadtplan). Lübeck: Max Schmidt 1923, S. 753. 23 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39.
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Margarethe Kempowski erzählte über die Ankunft in der Borwinstraße: »Als wir einzogen, da stellten die Arbeiter all die Möbel auf die Treppe, weil das alles gar nicht in die Wohnung ging. Alles stand voll. Die Arbeiter murrten schon, weil sie nicht weiterkonnten. Die Schwiegermutter wollte mir kalte Kartoffeln bringen… «24 Walter Kempowski übernimmt den Beginn der Einzugsszene nahezu wörtlich in seinen Roman. Das schwierige Verhältnis zur Schwiegermutter lässt er hingegen weg und schreibt dafür vom Unverständnis der neuen Nachbarn. »Die Nachbarsfrauen, die gerade vom Milchmann kamen, stießen mit dem Fuß gegen die Stühle: ›Wotau brucken Se denn all de Stöhl? Wullt Se hier een Kino uppmåken?‹« (SchaA 15) Kempowski führt nach seiner Fantasie die szenische Beschreibung sehr anschaulich fort: »Sogar im Vorgarten hatten die Möbel gestanden, auf dem kümmerlichen Rasen, neben dem von Hunden totgepinkelten Fliederbusch: die Garderobe, der Wäscheschrank, die Nähmaschine und der Flügel. Oben auf dem Flügel gar Karls alte Kinderfestung…« (SchA 15) Der Schriftsteller Kempowski beschreibt hier den gutsituierten Hausrat seiner Eltern und die kümmerliche Gegend, an deren Häuserwänden Bauunternehmer und Kolonialwarenhändler für ihre Dienste warben. Im Eckladen, der mit Butter und Schinken warb, hatten die Kempowskis sehr wahrscheinlich die Waren des täglichen Bedarfs eingekauft. Die Wandaufschriften, an denen Karl-Georg und Margarethe Kempowski vor einhundert Jahren täglich vorbei gingen, verblassten mit den Jahren. Ihr Sohn bewahrte diese Details Jahrzehnte später mit seinen Abbildungen in seinem Hamit-Tagebuch. Die Fassaden und Wohnstuben bilden die Kulisse für die Handlungen der Figuren und ihr Handeln wird beim Lesen zum lebendigen Inhalt der Erzählungen. Aus den kurzen Erinnerungen von Margarethe Kempowski zur Szenerie Borwinstraße entfaltet Walter Kempowski nach vielen zusätzlichen Recherchen einen anschaulichen Ausschnitt der Familiengeschichte in vier Kapiteln. Mit großem Erzähltalent werden auf 125 Seiten einzelne Bilder zu einem Panorama der Borwinstraße zusammengefügt. Mit seiner Collagetechnik verwebt er Informationen aus öffentlichen Stadtplänen oder Adressbüchern, privaten Erzählungen und eigene Gedanken zu einer Familienchronik, in der viele Menschen Ähnlichkeiten aus ihrem eigenen Leben wiederfinden können. Bahnhofs-, Parkund Lindenstraßen mag es in vielen deutschen Städten geben. Aber eine Borwinstraße gibt es den Recherchen zufolge nur einmal. Einzigartig ist auch der Name Kröpeliner-Tor-Vorstadt, aber in Entstehung, Form und Funktion gleicht sie vielen anderen Vorstädten aus der Gründerzeit.
24 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39.
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Margarethe Kempowski überlieferte mit den Worten ihres Schwiegervaters die Sicht der Steintor-Vorstädter auf diese »Puffgegend. Jungejungedi, wo seid ihr hingeraten, das sind ja lauter Nutten, die da wohnen.«25 Aus eigenem Erleben relativierte sie dieses Urteil, denn »so schlimm war das gar nicht.«26 Im Roman inszeniert Walter Kempowski die Szenerie sehr eindrücklich: Als Robert William Kempowski erfährt, daß sein Sohn in der Borwinstraße gelandet ist, ruft er ins Telefon: »Jungedi! Borwinstraße! Das ist ja ’ne Puffgegend, da wohnen doch lauter Nutten…?« Er haut den Hörer auf und fragt Sodemann, den Prokuristen, ob er weiß, wo sein Sohn gelandet ist? (SchA 13)
Beim Kränzchen im vornehmen Salon fragen sich die Damen: »Borwinstraße? Wie weit sind wir gesunken?« (SchA 14) Durch Wiederholung im Text hebt Kempowski das Entsetzen hervor. Bald weiß es dann die ganze Stadt: […] daß Karl Kempowski mit seiner entzückenden kleinen Frau in einer Gegend gelandet ist, in der noch Pumpen vor den Häusern stehen, die quietschen, wenn man sie schwengelt. Waschfrauen oder Dienstmädchen bezieht man aus dieser Gegend, von der man nur weiß, daß sie vor dem Kröpeliner Tor liegt, und zwar in der Nähe der Werft. (SchA 14)
Kempowski illustriert den Argwohn der Leute aus der Werftgegend. Sie grüßen kaum, sind unfreundlich »und gehässig«. (SchA 16) Margarethe berichtete offen und selbstkritisch über ihre Erlebnisse mit ihren Nachbarn: Die über uns, das war ein Pack. Die schütteten mir immer dreckiges, fettiges Wasser oder faule Kartoffeln in die offenen Küchenfenster. Daran hatte Großmutter aber auch sehr viel Schuld. Ich hatte sie extra gebeten, sie sollte nicht mit ihrem Wagen vorfahren. Das tat sie natürlich doch. Die hatten einen riesen, riesen Sechssitzer; der nahm so ungefähr das ganze Haus ein. Uns zum Ärger tat sie das natürlich doch.27
Walter Kempowski fügt in seinem Roman noch hinzu, dass Unbekannte die Wäsche beim Trocknen im Hof mit Dreck beworfen hatten und »auf das blankgeputzte Messing-Türschild gespuckt« (SchA 16) worden war. Kempowski bringt mit einem Satz den Argwohn der Nachbarn auf den Punkt: »Diese Kapitalisten haben hier nichts zu suchen, die sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst.« (SchA 16) Abneigung herrscht auf beiden Seiten.
25 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39. 26 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39. 27 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39.
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Im Rückblick urteilte die Mutter über die Wohnung: »Drei winzig kleine Zimmer. […] Es war urgemütlich, kann ich nicht anders sagen.«28 Im Roman wurde die Wohnung plastisch ausgemalt: Es ist eine kleine Wohnung, und es ist eng. Wenn einer auf den Lokus will, so wird gescherzt, dann müssen alle erst ins Eßzimmer treten und den durchlassen … Aber sie hat Sonne. Eine kleine, aber sonnige Wohnung ist es. Drei Zimmer: Im winzigen Wohnzimmer stehen die grünen Polstermöbel, Karls Schreibtisch und der Bücherschrank. Hier ist sogar noch eine Ecke frei für Grethes Biedermeier-Sekretär. Im Schlafzimmer befinden sich im wesentlichen die beiden großen Ehebetten mit je einem Zierkissen obendrauf. Waschen tut man sich an einem Waschtisch mit Schüssel und Krug. […] Das Eßzimmer mit Eßtisch und den vielen Stühlen, mit dem riesigen Büfett und der ›Anrichte‹ ist das vollste der drei Zimmer. Da ist ja schon fast komisch. (SchA 14–15)
Weitere detaillierte Beschreibungen vervollkommnen in verstreut folgenden Textpassagen die Vorstellung der Wohnidylle: Wandbilder und einen Rauchtisch. Hier liegen Zigarren der Marke »Loeser und Wolff«, die Karl zu gerne »Tadellöser & Wolff« nennt. (SchA 37) Am Klavier findet Karl sein seelisches Gleichgewicht wieder. Die Kissen bekommen vom Hausmädchen einen Knickschlag und auf dem frisch gewischten Büfett stehen Vasen. Ein Kanarienvogel trällert. In der Bibliothek steht die schöngeistige Literatur von Margarethe auf der linken Seite und Karls Kriegsliteratur befindet sich rechts davon. Über den Betten hängen zwei Gasleuchten. Man hat es schön und ist zufrieden. »Die Standuhr tickt ernst und regelmäßig – ›bick-back‹.« (SchA 37) Von der Wohnung gibt es keine durchgehende Beschreibung. Der Autor musste seine eigene Vorstellungsfähigkeit bemühen. In der durch einzelne Handlungen unterbrochenen Abfolge von Beschreibungen einzelner Details entsteht erst allmählich das Abbild vom Innern der Wohnung. Die Wohnung wird im Roman für Karl und Margarethe zu einer Insel der Harmonie, während um sie herum Neid und Streit das Zusammenleben der Menschen erschweren. Die Nachbarn sind garstig. Eheleute streiten und auch der Hauswirt Fründt hat seine Makel. Karl nimmt alles mit Humor: »Frühstück ist doch die beste Jahreszeit, mein Grethelein.« (SchA 17) Er geht zur Arbeit in die väterliche Firma, aber in der Wirtschaftskrise gibt es nur unbehaglich wenig zu tun. Seine Frau Margarethe »denkt an ihr Elternhaus in Wandsbek […] Sie rührt in der Tasse und seufzt. Aber auch nicht immer war es schön, fällt ihr ein, Butter oder Marmelade […] Grethe sucht sich zu beschäftigen, aber am Ende sitzt sie dann doch da,
28 Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I) 2004, S. 39.
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wie in einer Möbelhandlung…« (SchA 17–18 – Hervorhebung im Original) Walter Kempowski verdeutlicht hier eindrücklich die Gefühlslage seiner Mutter. Sie war nicht in diesem Milieu angekommen, geschweige denn heimisch geworden. So blieb die Zeit in der Werftgegend für sie wie für viele andere damals wie heute nur eine temporäre Übergangsstation – in dem Transitviertel Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Unter jedem Dach ein Ach – so lautet ein Sprichwort. Die Harmonie zwischen Karl und Margarethe wurde nicht nur von den Nachbarn der Borwinstraße bedrängt. Das Verhältnis zwischen Karl und seinen Eltern war seit seiner Kindheit unterkühlt. Margarethe konnte in dieser Zeit keine Sympathie bei ihrer Schwiegermutter finden. Das besserte sich auch nicht mit ihrem Umzug in die standesgemäße Steintor-Vorstadt. Hinter der schönen Fassade der großen Villa von Reeder Robert William Kempowski herrschte auch nicht immer Harmonie und Eintracht. Auch hier gab es Familienzwistigkeiten und Fehden ebenso wie im Arbeiterviertel – nur eben auf einem anderen Niveau. In der Werftgegend boten die räumliche Enge und der Mangel an Brot und Bildung häufiges Konfliktpotential. In der vornehmen Steintor-Vorstadt erwuchs der Streit häufig aus finanziellen und privaten Spekulationen, Selbstüberschätzung, Standesdünkel und Überheblichkeit. Das ist ebenfalls im Roman Schöne Aussicht zu erfahren, denn das fünfte Kapitel beginnt mit dem Umzug von Karl-Georg und Margarethe Kempowski im Frühjahr 1922 in die noble Adresse in der Steintor-Vorstadt. Im Rostocker Adressbuch von 1924 ist denn auch zu lesen von »Kempowski, Carl-Georg, Kaufmann, Alexandrinenstraße 81, Fernruf 1583.«29 Die Straße wurde benannt zu Ehren der Großherzogin Alexandrine, die eine Schwester von Kaiser Wilhelm I. gewesen war. Kempowskis bewohnten nun »fünf Zimmer im ersten Stock, Zimmer von wilhelminischen Ausmaßen, und die Nachbarn sind angenehm. Im zweiten Stock wohnt eine Studienrätin für Französisch, die schüttet keinerlei Abwaschwasser aus dem Fenster…« (SchA 139) Die Erinnerungen bleiben. Mit dem Umzug in die Alexandrinenstraße endete die kurze Episode der Eltern Kempowskis in der »Werftgegend«. Für uns heute ist es ein Glücksfall, denn durch die Veröffentlichungen von Walter Kempowski hat die Borwinstraße als Schauplatz mit Inhalt Eingang in die Weltliteratur gefunden.
29 Rostocker Adreß-Buch. Rostock: Boldt 1924, S. 147.
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Literaturverzeichnis Adreßbuch (Einwohnerbuch) der freien und Hansestadt Lübeck mit der eingemeindeten Stadt Travemünde und den umliegenden Ortschaften (mit Stadtplan). Lübeck: Max Schmidt 1923. Festschrift der XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege gewidmet von der Stadt Rostock. Rostock: Raths- und Universitätsbuchdruckerei von Adler’s Erben 1901. Görlitz, Walter: Mecklenburg, des Reiches unbekanntes Land. Rostock: Carl Hinstorffs Verlag 1941. Kempowski, Walter: Aus großer Zeit. Roman. München: Knaus 1978. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981. Kempowski, Walter: Hamit. Tagebuch 1990. München: Knaus 2006. Lebenserinnerungen Margarethe Kempowski (Teil I). In: Die Spatien 1 (2004), S. 28–55. Literarisches Lesebuch Walter Kempowski, hg. von Carolin Krüger und Katrin Möller-Funck. Rostock: Kempowski Archiv Rostock, ein bürgerliches Haus e.V. 2017 (Literarisches Lesebuch Walter Kempowski). Rostocker Adreß-Buch 1920. Rostock: Boldt 1920. Rostocker Adreß-Buch 1922. Rostock: Boldt 1922. Rostocker Adreß-Buch 1924, Rostock: Boldt 1924. Rostocker Adreßbuch 1949/50. Rostock: Landes-Druckerei, Zweigwerk Rostock II 1949 Rostocker Straßennamen von A-Z, hg. vom Stadtarchiv Rostock. Rostock: Stadtarchiv 1981 (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Rostock, Sonderheft 5).
Personenregister Adenauer, Konrad 138 Adler, Alfred 184 Adorno, Theodor W. 11–16, 108, 142, 143, 158, 159, 163, 164, 167–169, 172, 193 Alexandrine von Preußen 254 Alighieri, Dante 182 Assmann, Jan 78 Averdieck, Elise 192 Bachelard, Gaston 38 Bach, Johann Sebastian 193 Balz, Bruno 55 Barrie, J. M. 35 Bartels, Gerrit 27 Bausinger, Hermann 24, 44 Beckett, Samuel 21 Beethoven, Ludwig van 12, 18, 172 Behrens, Kai 99 Benjamin, Walter 38, 99 Benn, Gottfried 16, 18, 107–109 Berger, Karina 28, 29, 34, 36 Bienek, Horst 23, 135 Bohrer, Karl Heinz 99 Borwin I 239 Borwin II 239 Botero, Fernando 13, 17, 18, 21, 103 Bourdieus, Pierre 116 Brandt, Willy 137, 138 Braun, Volker 199 Brecht, Bertolt 109 Brückner, Christine 23 Büchmann, Georg 53 Bürger, Gottfried August 168 Burger, Harald 49, 53 Carossa, Hans 12, 13 Celan, Paul 109 Chopin, Frédéric 18 Christus, Jesus 38, 62, 65, 72 Cioran, E. M. 14 Copei, Friedrich 153 Czaja, Herbert 139 Debussy, Claude 18 Dierks, Manfred IX Drews, Jörg 190, 192 Dugin, Alexander 228 Eckart, Jo 87, 90 Eisenhower, Dwight D. 138 Eismann, Wolfgang 52, 60 Enzensberger, Hans Magnus 15 Eroms, Hans-Werner 47, 48, 60, 81 Fechner, Eberhard 212, 213 Feuchert, Sascha 55, 66 https://doi.org/10.1515/9783110784084-014
Flex, Walter 50 Freud, Sigmund 88, 94, 95, 98, 104, 108, 118, 184 Fries, Fritz Rudolf 198 Fründt, Friedrich 248, 249 Gainsborough, Thomas 18 Galsworthy, John 184 Gaus, Günter 122 Gehlen, Arnold 112 Gläser, Harald 220 Goethe, Johann Wolfgang von 73, 107, 118, 127, 147, 149, 182 Gomułka, Władysław 137 Görlitz, Walter 185, 186 Grass, Günter 28, 135 Grimm, Jacob 203 Grimm, Wilhelm 203 Grossmann, Karin 96 Grossmann, Klaus 96 Guardini, Romano 182 Hacks, Peter 199 Harnack, Adolf von 182, 184 Have, Vaclav 138 Heermann, Johann 166 Heidegger, Martin 24, 142 Hempel, Dirk 209 Henschel, Gerhard IX, 27, 29, 35, 41 Herbart, Johann Friedrich 152 Herbert, Alan 93 Hermelingmeier, Anna-Lena 43, 44 Hermlin, Stephan 199 Hindenburg, Paul von 80 Hitler, Adolf 12, 79, 156, 158 Holthusen, Hans Egon 14 Homer 182 Hörstel, Reinhard 111 Hrdlicka, Alfred 126 Janosch 135, 158 Jaroszewski, Marek 91, 103 Jaspers, Karl 141–143, 162, 168, 171 Jens, Walter 199, 200 Johnson, Uwe 23, 135, 212 Joyce, James 165, 167 Jung, Carl Gustav 184 Jünger, Ernst 79 Kafka, Franz 184 Kaiser, Joachim 15 Kant, Immanuel 150 Kaschnitz, Marie Luise 136 Kästner, Erich 168 Keele, Alan 196
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Personenregister
Kempowski, Karl-Georg 13, 31, 234, 237, 238, 243, 244, 246, 249, 251, 253, 254 Kempowski, Margarethe VII, 13, 234, 237, 239, 244, 248–252, 254 Kempowski, Robert VII Kempowski, Robert William 234, 236, 237, 244, 252, 254 Kerschensteiner, Georg 183 Kersting, Georg Friedrich 235 Kirsch, Rainer 199 Kirsch, Sarah 199 Klein, Georg VII Kogon, Eugen 187 Köhler, Horst 197 Kohl, Helmut 111 Kopelew, Lew 169 Kracauer, Siegfried 19 Kraus, Karl 80, 148 Krohn, Karl 248 Kühn, Peter 57 Kunert, Günter 197, 199 Kunze, Reiner 199 Lasker-Schüler, Else 109 Leander, Zarah 50, 55 Leber, Gita 65 Lejeune, Philippe 27 Lenz, Siegfried 23, 135 Linke, Angelika 54 Lohrisch, Lars IX Ludwig der Fromme 189 Luhmann, Niklas 120 Luther, Martin 81 Mallarmé, Stéphane 32 Mann, Heinrich 206 Mann, Thomas 11, 12, 227, 228 Man, Paul de 99 Mayer, Hans 140 Meister Eckhart 149, 152 Merleau-Ponty, Maurice 38 Miegel, Agnes 71, 168 Mitscherlich, Alexander 88, 187 Mitscherlich, Margarete 88 Morgenstern, Christian 18 Mozart, Wolfgang Amadeus 18 Mund, Hans-Joachim 194 Nahmmacher, Detlev 194 Natonek, Lutz 184 Neteler, Simone 215–218 Nietzsche, Friedrich 21 Niklot 240 Nolte, Andreas 47, 60 Pansegrau, Erhard 220 Pertsch, Dietmar VIII Piirainen, Elisabeth 78
Plutarch 146 Popper, Karl 160 Preußer, Ulrike 59, 78 Pseudo-Longinus 38 Putin, Wladimir 228 Raabe, Wilhelm 35 Raddatz, Fritz J. 15 Rau, Johannes 197 Reitz, Edgar 23 Reuter, Fritz 189 Rich, Alexander 93 Richter, Ludwig 191, 198 Rösch, Stefanie 89 Roth, Heinrich 151 Rühmkorf, Peter 15 Rutschky, Michael 19 Sambiria, Margarete 238 Scheel, Walter 137 Schelsky, Helmut 111 Schiller, Friedrich 186 Schmidt, Arno 15, 16, 59, 135, 183, 184 Schmidt, Hartmut 78 Schmidt, Helmut 111 Schmitt, Carl 112 Schulz, Wilhelm 247 Schwerdtfeger, Fritz 247 Schwerdtfeger, Luise 250 Seghers, Anna 12 Serres, Michel 114 Seuse, Heinrich 149, 152 Shakespeare, William 182, 184 Sina, Kai 56, 61 Spengler, Oswald 228 Springer, Bernhard IX Stalin, Josef 198 Stockhorst, Stefanie 55 Strauß, Botho 108 Surminski, Arno 135 Terjung-Schmidt, Micha 216, 219 Theweleit, Klaus 201, 204, 205 Tieck, Ludwig 127 Tietz, Julian 98, 166 Torberg, Friedrich 28 Trump, Donald 228 Tschaikowski, Pjotr Iljitsch 84 Uhde, Fritz von 72 Uhland, Ludwig 18 Ulbricht, Walter 198 Ullerich, Franz 247 Vinci, Leonardo Da 94 Vogler, Georg Joseph 182 Voß, Torsten 99 Waldenfels, Bernhard 24 Wałęsa, Lech 164
Personenregister Weber, Gerhard 216, 218 Wedel, Mathias 198 Weizsäcker, Richard von 139 Wellhausen, Julius 182, 184 Werfel, Franz 39 Wiechert, Ernst 23, 186 Wiggers, Otto 244 Wilhelm I 254 Wittenburg, Siegfried 215–218, 220 Wünsch, Marianne 118 Zbinden, Hans 136, 137 Zille, Heinrich 234 Zweig, Arnold 181
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