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German Pages 452 [454] Year 2021
Marian Helm
Kampf um Mittelitalien Roms ungerader Weg zur Großmacht
Franz Steiner Verlag
Hermes | Einzelschrift 122
H ER M ES
H E R M ES Zeitschrift für klassische Philologie Herausgegeben von: Prof. Dr. Hans Beck Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Alte Geschichte, Institut für Epigraphik, Domplatz 20–22, 48143 Münster (verantwortlich für Alte Geschichte) Prof. Dr. Martin Hose Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Sprachund Literaturwissenschaften, Griechische und Lateinische Philologie, Schellingstr. 3 (VG), 80799 München (verantwortlich für Gräzistik) Prof. Dr. Claudia Schindler Universität Hamburg, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Überseering 35, Postverteilerfach 1, 22297 Hamburg (verantwortlich für Latinistik) in Verbindung mit Prof. Dr. Karl-Joachim Hölkeskamp Universität zu Köln, Historisches Institut – Alte Geschichte, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Einzelschrift 122
Kampf um Mittelitalien Roms ungerader Weg zur Großmacht Marian Helm
Franz Steiner Verlag
Umschlagbild: Statue des Hermes / röm. Kopie, Vatikan Quelle: akg-images / Tristan Lafranchis Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Dissertation Ruhr-Universität Bochum 2018 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13113-1 (Print) ISBN 978-3-515-13115-5 (E-Book)
Meiner Mutter gewidmet
Vorwort Diese Publikation ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2018 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommen worden ist. Nachdem diese Arbeit nun getan ist, bleibt die freudige Aufgabe, Lehrern, Kollegen und Freunden zu danken, ohne die das Entstehen dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. An erster Stelle ist hier mein Doktorvater Professor Dr. Bernhard Linke zu nennen, der mir stets ein großartiger akademischer Lehrer und Förderer als auch ein Vorbild im persönlichen Umgang war und ist. Sein rastloses Interesse an der Römischen Republik und die stete Bereitschaft, etablierte Positionen kritisch zu hinterfragen, haben die vorliegende Arbeit maßgeblich geprägt und begleitet. Für seinen Zuspruch und seine große Geduld danke ich ihm sehr. Großen Dank schulde ich zudem meinem Zweitgutachter Professor Dr. Hans Beck, den ich im Rahmen eines Forschungsaufenthalts an der McGill University in Montreal kennen- und schätzen lernen durfte. Seine Expertise, Ermunterung und Hinweise haben mir in einer kritischen Phase der Dissertation die notwendige Kraft gegeben, dieses Projekt zu vollenden. Die Zeit in Montreal bleibt mir eine außergewöhnliche Erinnerung, wofür ich Ihm herzlich danke. Ich schätze mich zudem sehr glücklich, dass Professor Dr. Karl-Joachim Hölkeskamp dem Promotionsthema von Anfang an aufgeschlossen gegenüberstand und mir wichtige Impulse und Hinweise gegeben hat. Für seinen freigiebigen und freundlichen Rat möchte ich ihm ebenfalls danken. Seit meinem Studium hat mir die Abteilung für Alte Geschichte des Bochumer Historischen Instituts eine universitäre Heimat und besondere Atmosphäre geboten. An erster Stelle ist hier Dr. Meret Strothmann zu nennen, die mein Interesse an der Alten Geschichte im Rahmen des Integrierten Proseminars geweckt hat und deren offenes Ohr ich viel zu oft in Beschlag genommen habe. Ihr Vertrauen, ihre Geduld und ihre Freundschaft sind mir ein wertvolles Privileg. Ebenso großer Dank gilt Dr. Sonja Richter, die mir ebenfalls eine wunderbare Mentorin und selbstlose Freundin war und ist. Dies trifft auch auf Dr. Karl-Ludwig Elvers und Professorin Dr. Linda-Marie Günther zu, deren Rat und Lehre mir stets eine große Hilfe waren. Zu danken habe ich insbesondere auch meinen Freunden und Kollegen Dr. Simon Lentzsch (Fribourg), PD Dr. Christoph Michels (Münster) und erneut Dr. Sonja
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Vorwort
Richter, die so freundlich waren, die gesamte Arbeit zu lesen und zu kommentieren. Hierzu sind auch Dr. Jack Schropp (München), Carina Steller und Joelle Bednarz zu erwähnen, die ebenfalls Teile des Textes gelesen und wertvolle Hinweise beigesteuert haben. Die vielen hilfreichen Anregungen zu ganz unterschiedlichen Themen sowie die gemeinsamen interessanten Gespräche und Aktivitäten werden mich immer begleiten. Der Research School der Ruhr-Universität Bochum und ganz besonders Dr. Sarah Gemicioglu schulde ich großen Dank für die großzügige Finanzierung meines sechsmonatigen Forschungsaufenthalts an der McGill University. Während meiner Zeit am dortigen Department of History and Classical Studies bot mir Professor Dr. Michael Fronda jegliche Hilfe an, um meine Studien voranzutreiben und mich in Montreal zurechtzufinden. Für die vielen interessanten Diskussionen, seine Hinweise und Förderung bin ich ihm sehr dankbar. Dies gilt ebenso für Professor Dr. Jeremy Armstrong (Auckland), den ich während eines wundervollen Aufenthalts in Neuseeland kennenlernen durfte. Seine Expertise und Diskussionsfreudigkeit haben den Horizont der Arbeit wesentlich erweitert und laden mich beständig zu einer kritischen Hinterfragung der eigenen Positionen ein. Dr. Saskia Roselaar habe ich ebenfalls für ihr Mentoring und ihre Geduld im Rahmen unserer gemeinsamen Forschungsarbeiten zu danken, die mir unschätzbare Erfahrungen und Einblicke gebracht haben. Den größten Dank verdient jedoch meine Familie, ohne deren bedingungslose Unterstützung diese Arbeit nie zustande gekommen wäre. Meinen Großeltern schulde ich das Interesse und die Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit historischen Themen. Meiner Mutter Cornelia Helm verdanke ich alles, weshalb ihr diese Arbeit gewidmet ist. Darüber hinaus bin ich Alexander Drees, Alexander Jüngst und Philipp Löser für ihre unerschütterliche Freundschaft und Hilfe zu tiefem Dank verpflichtet, ohne die der lange Weg der Promotion noch steiniger ausgefallen wäre. Münster, im März 2021
Marian Helm
Inhaltsverzeichnis 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand zur Frühen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologische Arbeiten zum Aufstieg Roms im 4. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Archäologische Quellen zum Umland der Stadt Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Archäologische Quellen zu den Bauten der Stadt Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Schriftquellen zur Geschichte Roms im 4. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Ebene I – ‚Structural Facts‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Ebene II – Knotenpunkte der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Ebene III – Das Gewebe der Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Das Geschichtswerk des Titus Livius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Erläuterungen zur Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 18 29 32 33 34 37 39 40 43 48 53 56
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
57 59 61 64 70 74 75 79
Zur Vorgeschichte des 4. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚etruskischen Könige‘ des 6. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende der Königsherrschaft im regionalen Kontext Latiums . . . . . . . . . . . . Die sogenannten Ständekämpfe im frühen Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste militärische Erfolge Roms in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts . . . Rahmenbedingungen der res publica zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Patrizier und Plebeier zwischen Ständekampf und Kooperation . . . . . . . . . . 2.5.2 Der gemeinsame Nenner: Krieg – Beute – Landverteilung . . . . . . . . . . . . . . . Sequenz I
3. 3.1 3.2 3.3
Sieg und Niederlage – ein ambivalenter Auftakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Quellenlage zur Eroberung Veiis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der konfliktgeladene Sieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen und Folgen des metus Gallicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Einnahme Roms durch die Kelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 ‚Structural Facts‘ des Kelteneinfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84 86 89 92 94 95
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Inhaltsverzeichnis
3.4 ‚The Etruscan Connection‘ – Versuch einer regionalen Einordnung . . . . . . . . . 98 3.5 Die Organisation des römischen Gebiets in Südetrurien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.5.1 Zur Vorgeschichte der Tribusgründungen auf dem ager Veientanus . . . . . . 103 3.5.2 Die Einrichtung der tribus Arnensis, Tromentina, Stellatina, Sabatina . . . . 104 3.5.3 Raumorganisation und Vorfeldsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.6 Rom nach dem Abzug der Kelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4. Konsolidierung und Konflikte als Folgen des Kelteneinfalls . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Überlieferung der ‚Zwischenjahre‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Rom und seine Nachbarn nach dem Abzug der Kelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Der Kriegsschauplatz Latium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Tusculum – Das erste municipium (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Caere und die tabula Caeritum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Diplomatie statt Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die innenpolitischen Verhältnisse nach dem Kelteneinfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Der Wiederaufbau der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 M. Manlius Capitolinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Zur Überlieferung der Manliana seditio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Unruhe und Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Synthese der außen- und innenpolitischen Entwicklung Roms im ersten Jahrzehnt nach dem Keltensturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 115 117 118 120 125 128 129 130 133 133 137 139
Sequenz II 5. Der Ausgleich der Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.1 Die Quellenlage zu den leges Liciniae Sextiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.2 Der Kampf um die leges Liciniae Sextiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.1 Zehnjährige Auseinandersetzung um die Zulassung der Plebeier zum Konsulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.2 Die kurulische Ädilität und die Umsetzung der ökonomischen Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.2.3 Etablierung eines neuen Führungszirkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.3 Die militärische Lösung der Verteilungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.3.1 Der geplante Krieg – Rom und die Herniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.3.2 Militärische Niederlagen und politische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.4 Individuelle Machtanhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.5 Harmonie durch Ressourcenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.5.1 Die Gründung der tribus Pomptina und Publilia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.5.2 Lokalisierung und Beschaffenheit der neuen tribus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.6 Materieller Ausgleich und politische Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Inhaltsverzeichnis
11
6. Die Oligarchie der Jahre 358 bis 343 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.1 Zwischen patrizischer Reaktion und oligarchischer Verfestigung . . . . . . . . . . . 181 6.2 ‚Mediterranean Anarchy‘ – Die patrizische Reaktion im Kontext der militärischen Konflikte der Jahre 358 bis 343 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.2.1 Der Etruskerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.2.2 Patrizische Reaktion und plebeische Kollaboration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.2.3 Stabilisierung und Machtzuwachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6.2.4 Rom und Latium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.3 Der Erste Samnitenkrieg – Versuch einer Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6.3.1 Kriegsausbruch und Kriegsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 6.3.2 Die seditio von 342 und ihre politischen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 6.4 Eine gescheiterte Unternehmung mit weitreichenden Folgen . . . . . . . . . . . . . . 210 Sequenz III 7. Der Aufstieg Roms zur Regionalmacht in Mittelitalien . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.1 Die Überlieferungslage zum Latinerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.1.1 Die literarische Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.1.2 Siegesmonumente des Latinerkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.2 Definition der Konfliktparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 7.3 Chronologie und Eskalation der Kampfhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 7.3.1 Zum Kriegsausbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.3.2 Die Mär vom großen Sieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 7.3.3 Konsequenzen der Neuinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 7.4 Zur Neuordnung Latiums und Kampaniens im Jahr 338 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 7.4.1 Campania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.4.2 Latium Adiectum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 7.4.3 Latium Vetus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 7.4.4 Divide et impera I – Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7.4.5 Divide et Impera II – Zentralisierung und Hierarchisierung . . . . . . . . . . . . . 241 7.5 Hierarchisierte Integration – Die civitas Romana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 7.5.1 Municipium und civitas sine suffragio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 7.5.2 Kontrolle statt Inkorporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 7.5.3 Municipia, fora, conciliabula und das römische Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . 258 7.5.4 Zum Wirkungsbereich zentraler Orte – Urbs und Umland . . . . . . . . . . . . . . 260 7.6 Die innenpolitische Komponente der römischen Neuordnung Latiums . . . . 263 7.6.1 Zur Problematik der Beuteverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 7.6.2 Die Beschleunigung inneraristokratischer Machtkämpfe (343–339) . . . . . . . 266
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Inhaltsverzeichnis
7.6.3 Beuteverteilung und politisches Prestige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7.6.4 Populare Oligarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 7.7 Die römische Innen- und Außenpolitik nach dem Latinerkrieg . . . . . . . . . . . . . 277 Sequenz IV 8. Der Beginn des Zweiten Samnitenkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 8.1 Die Quellenlage zum Zweiten Samnitenkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 8.2 Eine ungeplante Eskalation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 8.2.1 Die politische Lage in Rom während der ersten Kriegsjahre (327–321) . . . . 287 8.2.2 Zum politischen Dilemma des Samnitenkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 8.3 Die Niederlage bei Caudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 8.3.1 Unruhe unter den ‚Verbündeten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.3.2 Die römische Politik nach Caudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 8.3.3 Eine Epochenwende: Die Einführung der lex Ovinia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 8.4 Desaster bei Lautulae – Ursachen und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8.4.1 Das Pulverfass Latium Adiectum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8.4.2 Offener Aufruhr unter den ‚Verbündeten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Krise und Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Stabilisierung der römischen Position nach Lautulae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Quaestiones Maenianae – Eine politische Hexenjagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Die quaestiones Maenianae im Kontext der Jahre 314 bis 312 . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Koloniegründungen und Abschaffung des nexum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Das Wirken des Appius Claudius Caecus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 9.5.1 Infrastrukturprojekte und ihre politische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 9.5.2 Die Einschreibung der humiles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 9.5.3 Verdoppelung der Legionen im Jahr 311 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 9.5.4 Die umstrittene lectio senatus des Appius Claudius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 9.5.5 Ein integratives Bündnismodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 9.6 Das ‚Roll-back‘ der Etablierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 9.6.1 Zur militärischen Erholung Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 9.6.2 Der Aufstieg des Senats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 9.6.3 Beuteverteilung im großen Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 9.7 Ein Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 10. Einheit durch Zersplitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 10.1 Die Austrocknung populistischer Agitationspotenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 10.1.1 Das unterschätzte Militärtribunat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 10.1.2 Polyzentrische Prestige- und Machtakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Personen
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10.2 Extension der verfügbaren Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 10.2.1 Integrative Fragmentierung als Folge der Ausdehnung des ager Romanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 10.2.2 Die wachsende Bedeutung der Verbündeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 10.3 Kollektive Kontrolle durch selektive Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 11. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 12. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Literarische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Nicht-literarische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 13.1 13.2 13.3
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Begriffe und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
1. Einleitung Die Frühzeit der res publica Romana ist ein ebenso spannendes wie herausforderndes Forschungsfeld der Alten Geschichte, das in verschiedenen Forschungstraditionen unterschiedliche Konjunkturphasen und Gewichtungen erlebt hat. In der Vergangenheit ergaben sich die Frontlinien der Debatte dabei hauptsächlich aus der jeweiligen Positionierung bezüglich der Zuverlässigkeit der literarischen Quellen, deren Qualität für die Zeit vor den Punischen Kriegen nicht ohne Grund kritisch betrachtet und teils sogar komplett bestritten wird.1 Die verhärteten Fronten sind in den letzten zehn Jahren durch bemerkenswerte Fortschritte im Bereich der Archäologie zunehmend in Bewegung geraten und haben zahlreiche internationale Debatten angestoßen, die eine grundlegende Neuinterpretation der Frühen Römischen Republik erlauben. Gerade die Tatsache, dass die archäologischen Funde zentrale Pfeiler der Überlieferung, etwa Ansiedlungen, Koloniegründungen und Baumaßnahmen, im Wesentlichen stützen, zwingt förmlich dazu, die bisherigen Positionen zu überdenken und unter Berücksichtigung sämtlichen Quellenmaterials neu zu bewerten. Im Vorgriff auf die ausführliche Behandlung der Quellenlage zur Frühen Republik lässt sich die Problematik dieses althistorischen Minenfeldes pointiert an einem Schlüsselereignis des 4. Jahrhunderts2 veranschaulichen: Wir befinden uns im TiberTal nördlich von Rom zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, 15 Tage vor den Kalenden des Sextilis, dem 18. Juli. Dem Beobachter erschließt sich ein tiefes, von Gestrüpp und Schilf geprägtes Flussbett, das sich in weiten Schleifen durch das grün gewellte Hügelland zieht, in dem auch das Flüsschen Allia entspringt, das ungefähr am 11. Meilenstein in den Tiber fließt. Östlich davon zieht sich die unbefestigte via Salaria gen Norden, ein ebenso bedeutender Verkehrsweg in das Hinterland der Apennin-Halbinsel wie der Fluss selbst. Hier formiert sich das römische Aufgebot unter Führung von sechs tribuni militum consulari potestate, die rechte Flanke auf einer Anhöhe postiert, von der aus sich die Schlachtlinie zum Tiberufer hin erstreckt. In dieser Stellung erwarten die römischen Bürgersoldaten den Angriff einer unbekannten Völkerschaft, der Kelten.
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Z. B. Alföldi 1963, 123–175; Wiseman 1979a; s. Kapitel 1.4. Alle Jahreszahlen, wenn nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich auf die Zeit vor Christus.
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Der Tag sollte in einer Katastrophe enden und als dies ater, als schwarzer Tag, in die römische Erinnerung eingehen. Unter dem keltischen Ansturm zerbrach die römische Schlachtordnung, wer konnte, suchte sein Heil in der Flucht. Zwei Tage später besetzten die Kelten die Stadt Rom; lediglich auf dem Kapitol soll sich eine römische Besatzung gehalten haben. Am Ende erkaufte man sich den Abzug der Invasoren unter dem Spott ihres Anführers Brennus, der jeglichen Protest bei der Verhandlung über das Lösegeld mit den Worten „Vae Victis – wehe den Besiegten!“3 erstickte. Angesichts dieser Niederlage und der Ereignisse der nächsten Jahre, die einen gescheiterten coup d’État und kurz darauf eine signifikante Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse sahen, hätte sich dem imaginären Beobachter wohl kaum der Eindruck aufgedrängt, dass die militärischen Verlierer dieser Tage im Laufe der nächsten 100 Jahre zur beherrschenden Macht Italiens aufsteigen sollten. Doch genau dies trat ein. Ja, der erfolgreich überwundene Tiefpunkt der römischen Geschichte wurde in der Folge zu einem zentralen Eckpfeiler des kollektiven Gedächtnisses des populus Romanus, der von den eigenen Nehmerqualitäten zu zeugen schien.4 Zugleich verdichten sich in den antiken Zeugnissen zu diesem Vorfall die wesentlichen Probleme der Überlieferung und Forschung zur römischen Frühzeit in prägnanter Weise. Während sich manche Ereignisse tief in das kollektive Gedächtnis und den Kalender der Römer einbrannten und so die schmerzlichen Erinnerungen konservierten, entstanden an anderer Stelle Spielräume für spätere Eingriffe und Umdeutungen. Einerseits konnte so in der imperialen Hochphase des 2. Jahrhunderts behauptet werden, man habe den Kelten das erwähnte Lösegeld doch noch abjagen können.5 Andererseits werden auch die Grenzen der romanozentrischen Geschichtsverzerrung deutlich, denn während das kollektive Gedächtnis der Römer den Kelteneinfall in Form des metus Gallicus tief verinnerlichte und als plötzlich hereinbrechende Naturgewalt verarbeitete, bietet der griechische Geschichtsschreiber Polybios eine nüchternere Darstellung, die das Auftauchen der Kelten in den Kontext größerer Bevölkerungsverschiebungen in der Poebene einordnet.6 Polybios bietet damit nicht nur ein Korrektiv zur römischen Geschichtsschreibung, sondern trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Tiberstadt zu Beginn des 4. Jahrhunderts nur ein Akteur unter vielen war. Die Stadt nahm zu diesem Zeitpunkt zwar eine klare Vormachtstellung in Latium ein, besaß jedoch noch längst keine erdrückende Überlegenheit gegenüber den Nachbarn. Vielmehr bewegte sich die res publica in einem von Multipolarität gekennzeichneten Umfeld, das eine intensive Vernetzung 3 4 5 6
Liv. 5.48.9: rei foedissimae per se adiecta indignitas est: pondera ab Gallis allata iniqua et tribuno recusante additus ab insolente Gallo ponderi gladius, auditaque intoleranda Romanis vox: vae victis! Ebenso Plut. Cam. 28.5. Lentzsch 2019, 75–170. Ausführlich hierzu Kapitel 3. S. etwa Liv. 5.38–49; Plut. Cam. 18–30 zu den Vorgängen des Kelteneinfalls. Bezüglich des Lösegeldes bieten Strab. 5.2.3 und Suet. Tib. 3 andere Varianten. Pol. 2.17–18, vgl. Gruen 2018, 19–23.
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und Interaktion der Städte Etruriens und Latiums aufwies: Caere, erste Seehandelsstadt der Region, fungierte als eine Art Bildungseinrichtung für junge nobiles; in Tarquinia erinnerten die elogia Tarquiniensia an das ruhmreiche Kräftemessen mit Rom und das nahegelegene Tusculum blickte stolz auf eine lange Geschichte der Kooperation zurück. Auch die Kulttätigkeiten in Lavinium und Lanuvium waren auf das Engste mit der Stadt Rom und den Konsuln verknüpft.7 Lokalpolitik und Lokalgeschichte dieser Gemeinwesen waren Teil eines hochkomplexen regionalen Diskursgeflechts, das Rom im Zuge seiner Machtentfaltung neu ausrichten, aber nicht auflösen konnte. Die römische Geschichte des 4. Jahrhunderts wurde also nicht ausschließlich in Rom bestimmt und dokumentiert, sondern auch in den vielen miteinander vernetzten urbanen Zentren Mittelitaliens.8 Die römische Geschichtsschreibung führte die Imperiumsbildung zwar maßgeblich auf tugendhaftes Verhalten und große Persönlichkeiten zurück – versinnbildlicht in Ennius’ berühmter Aussage „Moribus antiquis res stat Romana virisque“, die noch Cicero und Livius teilten – aber auch die italische Vernetzung blieb in diesem Kontext stets präsent.9 Ein nicht unbeträchtlicher Teil der nobiles, die seit dem 4. Jahrhundert im öffentlichen Raum durch ihre Monumente und Bauten vertreten waren und nicht zuletzt mit eigener Feder das Geschichtsbild zu prägen suchten, stammte aus verbündeten Städten oder Regionen und brachte so die eigenen Geschichten mit nach Rom. Den wohl eindrücklichsten Beleg für diesen ‚auswärtigen‘ Teil der römischen Erinnerungstradition bietet der Tusculaner Cato, der in seinen origines auf das lokale Diskursumfeld der italischen Nachbarn Roms verwies und den Aufstieg der Tiberstadt in ein Dickicht von Regional- und Lokalgeschichten einzubetten suchte.10 Diese schon von den Zeitgenossen wahrgenommene ‚vernetzte‘ Qualität der römischen Geschichte ist auch durch neuere archäologische Studien bestätigt worden, womit sich die Option eröffnet, die Schriftquellen vor dem Hintergrund und in Kombination mit den durch Sachquellen greifbaren Entwicklungen des zentralitalischen
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Cornell 1995, 293–326 zu den frühen römischen Außenbeziehungen. Die Bedeutung des mediterranen und italischen Umfelds der Stadt Rom ist zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt: Horden/Purcell 2000, 51–172; Lomas 2004, 2017, 99–261; Eckstein 2006, 176–180; Bourdin 2012, 277–360; Terrenato 2019. S. a. Herring/Lomas 2000; Bradley 2007; Bradley/Farney 2017. Bourdin 2012, 23–24; Fulminante 2014, 7–34; Lomas 2017, 99–121; Bradley 2020, 6–8. Zu Prozessen der Vernetzung und Integration s. die Beiträge in: Keay/Terrenato 2001; Schultz 2006a; Roselaar 2012; die Beiträge von Benefiel und Patterson in Cooley 2016 und zu Mittelitalien Di Fazio u. a. 2016. Für den griechischen Bereich hat Hans Beck die Bedeutung von lokal vernetzten Welten betont (Beck 2020, 1–42) und es ist zu hoffen, dass eine ähnliche Studie auch dem römischen Italien zuteil wird. FRL I Enn. Ann. 5.1 (= August. Civ. 2.21 = Cic. rep. 5.1); Liv. praef. 9: ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit. S. hierzu die Beiträge in Mutschler u. a. 2000. Walter 2004a, 281–284; Farney 2007, 5–26; Cornell FRHist I, 211–213; Isayev 2017, 93–95.
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Einleitung
Umfelds zu untersuchen.11 Die konsequente Verflechtung der römischen Geschichte im Sinne einer „Histoire croisée“ kann dabei zwar nicht den romanozentrischen Zuschnitt der Überlieferung aufheben, wohl aber als Korrektiv und Kontextualisierung dienen. Die von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann geforderte Berücksichtigung von Geschichte als vielfach gebrochenem und verflochtenem Prozess verschiedener Gesellschaften oder Entitäten, die sich permanent ‚überkreuzen‘, gilt insbesondere für das frühe Rom, das intensive Aushandlungsprozesse bezüglich der politischen Ordnung und Zugehörigkeit erlebte, die sich unter dem gleichzeitigen Eindruck permanenter, multilateraler Interaktionen abspielten.12 Das anfangs bemühte Beispiel des ‚Keltensturms‘ verweist dabei exemplarisch auf die Notwendigkeit, die externe Ereignisebene in Verknüpfung mit den innerrömischen Entwicklungen zu betrachten, denn auf die Einnahme der Stadt folgten signifikante politische Auseinandersetzungen, die von M. Manlius Capitolinus bis zur Einigung im Rahmen der leges Liciniae Sextiae reichten. Anstatt diese Vorgänge gesondert vor dem Hintergrund einer vermeintlichen römischen Exzeptionalität zu betrachten, soll der Fokus hier stattdessen auf dem engen und dynamischen Austausch der verschiedenen römischen und nicht-römischen Akteure liegen, die diesen Prozess aktiv gestalteten. Die verknüpfte Analyse der ‚internen‘ politischen Vorgänge in Rom und ‚externer‘ regionaler Verwicklungen soll gleichzeitig das kontingente Zusammenspiel von politischen, militärischen und sozialen Experimenten, Rückschlägen und Erfolgen stärker betonen. In Rom erinnerte man sich schließlich nicht nur an die erfolgreichen Abschnitte der eigenen Geschichte, sondern vor allem auch an die Fehlschläge und deren Ursachen mit erstaunlicher Intensität.13 Die Dynamik dieses ‚trial-and-error‘-Verfahrens sowie die daraus resultierenden Handlungszwänge und -optionen werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als wesentliche Merkmale und Triebfedern des römischen Aufstiegs zur Großmacht herausgestellt. 1.1 Forschungsstand zur Frühen Republik Die gezielte Vernetzung von äußerer und innerer Ereignisebene ist auch deshalb notwendig, weil sowohl die ältere Forschung als auch die neueren Studien zum frühen Rom diese beiden Ebenen größtenteils getrennt voneinander behandeln. Zum Teil liegt dies darin begründet, dass nicht zuletzt die deutsche Forschung die Geschichte
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Dies hat bereits Cornell 1995 unternommen, doch hat die Archäologie seitdem enorme Fortschritte verbuchen können. Einen kurzen Überblick über den aktuellen Stand der archäologischen Untersuchungen bietet Bradley 2020, 24–27. Eine ausführliche Behandlung erfolgt in Kapitel 1.4. Werner/Zimmermann 2002, 2004, 2006. Zu den Niederlagen und ihren Langzeitfolgen s. Lentzsch 2019, Engerbeaud 2019, Stoll 2019.
Forschungsstand zur Frühen Republik
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der Frühen Republik stets unter dem Gesichtspunkt der Konsolidierung der Nobilität sowie der politischen Ordnung und Institutionen betrachtet hat.14 Diesen Weg hat Theodor Mommsens staatsrechtliche Rekonstruktion der republikanischen Geschichte maßgeblich bestimmt. Mommsen behandelte die Frühzeit eher strukturgeschichtlich und konzentrierte sich vor allem auf die gewachsene Rechtsordnung der Römer. Tragende Säulen des von ihm konstruierten Rechtsgebäudes bildeten dabei die Magistratur, der Senat und die Bürgerschaft, wobei der Fokus klar auf den Beamten lag, denen die Lenkungsrolle im Staat zugekommen sei. Gleichzeitig wurde die ‚Einigung‘ Italiens unter römischer Ägide in Anlehnung an die Nationalstaatsbildungen des 19. Jahrhunderts als natürlicher Entwicklungsprozess gesehen, ohne die Interessen und Perspektiven der Nachbarn Roms zu berücksichtigen.15 Mommsens monumentales Werk bestimmte lange Zeit die Debatte, bis Matthias Gelzer eine sozial-historische Strukturanalyse der römischen Oberschicht vorlegte. Gelzer verstand die politische Elite als geschlossene Gruppe, die sich als Amtsadel durch die Bekleidung des Konsulats und die Mitgliedschaft im Senat definiert habe, so dass nur direkte Nachfahren eines Konsuls nobilitären Status beanspruchen konnten.16 Zentral für deren Aufstieg und Position seien vor allem „Nah- und Treuverhältnisse“17 gewesen, die große Teile der Bevölkerung in die Klientelnetzwerke der nobiles eingebunden hätten.18 Friedrich Münzer ging in seinem Werk „Römische Adelsparteien und Adelsfamilien“ einen Schritt weiter, indem er auf der Grundlage ausgezeichneter prosopographischer Kenntnisse Beziehungsnetzwerke innerhalb der römischen Elite rekonstruierte, die hauptsächlich auf Heiratsbündnissen basiert hätten. Solche Heiratsverbindungen wurden als Anzeichen für langfristige Kooperationen zwischen den jeweiligen Fami14
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Dagegen hat die internationale Forschung den herausragenden Einzelpersönlichkeiten größere Aufmerksamkeit geschenkt, s. etwa Forni 1953; Wiseman 1979b; Jaeger 1993; Bruun 2000, Coudry/Späth 2001; Briquel/Thuilier 2001; Humm 2005; Neel 2015a/b; s. aber auch Hölkeskamp/ Stein-Hölkeskamp 2000. Eine Kombination bietet Beck 2005a, 155–394. Mommsen RStR I–III, RG I. Bleicken 1996 und die Beiträge in Nippel/Seidensticker 2005 besprechen den „langen Schatten Mommsens“. Zum Einfluss der italienischen Nationalstaatsbildung s. Mouritsen 1998, 23–37, 2006, passim, 2007, 141–142; Carla-Uhink 2017, 1–10. Zur Einordnung s. Behne 1999, 93–182, Walter 2017a, 107–108. Hölkeskamp 2017a, 25–41 verweist auf die „Distanzierung ohne Distanz“, die eine anhaltende Fixierung auf die vermeintliche Dominanz des Senatsregiments zur Folge hatte. Gelzer 1912. Dagegen Wiseman 1971, 116–130; Develin 1979, 55–57; Bleicken 1981a, 237–242; Brunt 1982, 1–17; Gruen 1991, 251–255; Pani 1997, 127–129; Hölkeskamp 2011, 204–213. Zur Beeinflussung Gelzers durch Münzer s. Hölkeskamp 2017a, 56–60. Gelzer 1912, 68–75. Der von Gelzer angenommenen hohen und umfassenden Bindungskraft der Patronagebeziehungen haben insbesondere Meier 1966, 24–44; Bleicken 1981a, 245–249 und Brunt 1988, 382–443 widersprochen, Hölkeskamp 2004, 12–28, 2010, 34–41 bietet eine prägnante Zusammenfassung der Kritik. S. a. Ganter 2015, 75–142. Zur Wirkung Gelzers s. Afzelius 1945 und die Beiträge in der Festschrift Bleicken/Meier/Strasburger 1977. Strauß 2017, 45–142 hat jüngst die Gemeinsamkeiten von Mommsen und Gelzer stärker hervorgehoben.
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lien angesehen, auf deren Grundlage politische Parteiungen rekonstruiert wurden.19 Münzers „Factionentheorie“ erfuhr in der Forschung entschiedene Ablehnung, doch besteht das Verdienst der Arbeit darin, sowohl den Aufstieg bestimmter plebeischer Familien in die Oberschicht als auch die sehr frühe Ausdifferenzierung politischer Strategien und Ziele der vermeintlich geschlossen agierenden Patrizier sowie auffällige Personenkonstellationen in den Oberämtern beleuchtet zu haben.20 Mit diesen Arbeiten wurde der Fokus damit auf die „verfassungsrechtliche Verankerung“ des politischen Systems in den Institutionen und der Aristokratie gelegt.21 Dieses formal-konstitutionell geprägte Bild einer Adelsrepublik erfuhr mit Christian Meiers „Res Publica Amissa“ eine grundlegende Revision, in der Meier vor allem die Grundbedingungen der Verfassungswirklichkeit der Späten Republik in den Blick nahm. Laut Meier sei die Interaktion der unterschiedlichen politischen Akteure in der Öffentlichkeit von verschiedenen „kontingenzreduzierenden Faktoren“ determiniert gewesen, was maßgeblich die Stabilität des politischen Systems gesichert, langfristig aber zur Unfähigkeit der Entwicklung von Alternativen aus dem System heraus geführt habe.22 Meier verhalf damit einem kulturwissenschaftlichen Ansatz zur Interpretation und Analyse der politischen Kultur der römischen Gesellschaft zum Durchbruch. Hieran schloss sich eine intensive Debatte über die staatliche Grundordnung der res publica Romana an, die durch den äußerst kontrovers beurteilten Generalangriff von Fergus Millar auf die beherrschende Stellung des römischen Adels in den Achtzigerjahren ausgelöst worden war. Millar verneinte die aristokratische Dominanz, da seiner 19
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Münzer 1920, 8–34. Syme 1939 setzte das Model erfolgreich um, wohingegen Schur 1927 und Scullard 1951 eine zunehmend starre Rekonstruktion der Familienstrategien und -bindungen vornahmen. Zur Einordung: Hölkeskamp 2017, 43–72; Walter 2017, 110–112. Die Kritik richtet sich hierbei hauptsächlich gegen eine Überdeterminierung des politischen Handlungsspielraums durch vermeintliche Heiratsallianzen über mehrere Generationen hinweg. Der politische Wert von Heiratsverbindungen wird dadurch aber nicht gemindert, s. zuletzt Massa-Pairault 2001; Patterson 2006, 147–153; Lomas 2004, 204–206, 2012, passim; Beck 2015 sowie Harders 2017. Kritik äußerten Momigliano 1940, 76–78; Gelzer 1962, 186–195 und später Develin 1985, 43–57, 325–328; Hölkeskamp 2001, 92–105, 2004b, 49–53, 2011, XI–XIII, 12–17, 41–61 zusammengefasst in 2017, 43–72; Jehne 2001; s. aber auch Pina Polo 1996, 8–11; David 2000, 26–30; Mouritsen 2017, 15–21. Münzers prosopographische Vorgehensweise ebnete dennoch den Weg für die Erforschung der Machtverhältnisse in der Elite, s. Cassola 1962; Hölkeskamp 2011; Beck 2005a, 117–154; Terrenato 2010, 512. Zur Methodik: Broughton 1972, 250–265; Carney 1973, 164–176; Rilinger 1976, 2–4; Briscoe 1992, 70–83 und Gruen 1996, 216–217; Muccigrosso 1998, 52–66; Heil 2017, 103–107; Hölkeskamp 2017, 58–65. Zur Quellenlage besonders Cornell 2009, 25–27, der eine authentische, deskriptive Schilderung der politischen Kämpfe durch die antiken Autoren annimmt, die seiner Meinung nach keine nachträglichen Veränderungen vornahmen (Ebd. 18: „Livy’s account, so far from containing contradictory extremes, is both consistent and politically neutral“). Für eine umfassende Würdigung Münzers s. die Beiträge in Haake/Harders 2017. Zu der Langlebigkeit dieser Konzepte sowie den Schwierigkeiten der älteren Forschung in der Gründungszeit der Bundesrepublik s. Walter 2009 und 2012, 245–257. Meier 1966. Die Kritik kam vornehmlich aus der englischsprachigen Forschung, s. etwa die Rezension von Brunt 1968. Zuletzt hat Linke 2017b, 2018 für eine stärkere Berücksichtigung der Alternativpotenziale in der Republik geworben, s. a. Eder 2002, 54–56.
Forschungsstand zur Frühen Republik
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Ansicht nach die demokratischen Elemente des politischen Systems überwogen.23 Die überlegenswerten Ansätze einer stärkeren Gewichtung der politischen Rolle der Bürger traten durch Millars forsche Formulierung einer echten demokratischen Ordnung im antiken Sinne, in der das Volk der eigentliche Souverän gewesen sei, bedauerlicherweise völlig in den Hintergrund.24 Trotzdem wurden im Zuge der Auseinandersetzung mit Millars Thesen die Unzulänglichkeiten der bis dato gültigen communis opinio zur politischen Ordnung der res publica deutlich, deren Komplexität sich nicht allein auf staatsrechtliche oder soziale Hierarchien reduzieren ließ. Vor diesem Hintergrund erlangte die Arbeit von Karl-Joachim Hölkeskamp zentrale Bedeutung für die Erforschung der Frühen Republik, die zudem als distinktive Entstehungsphase der Nobilität und der republikanischen Ordnung in den Fokus gerückt wurde.25 Dabei suchte er „die Etablierung dieser classe politique und der spezifischen sozialen und institutionellen Voraussetzungen und Grundlagen ihrer Herrschaft“ zu analysieren und ging von einer deutlich komplexeren und flüssigeren Genese der Nobilität aus als Münzer.26 Die Entstehung der Nobilität habe sich demnach durch einen langen Prozess der plebeischen Gleichberechtigung ausgezeichnet und sei eng mit der Übernahme militärischer Verantwortung und der erfolgreichen Expansion der res publica verbunden gewesen.27 In Anlehnung an Meier geht Hölkeskamp davon aus, dass in diesem Kontext ein gemeinsamer verbindlicher Wertekanon entwickelt worden und der Senat zur zentralen politischen Institution und „Clearing-Stelle“ der Bürgerschaft aufgestiegen sei.28 Oft wird hierbei Hölkeskamps Hinweis auf die inten23
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Zur Begründung führte er die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt des Volkes bei den Wahlen und sämtlichen staatspolitischen Entscheidungen an. Dabei marginalisierte er jedoch die disproportionale und abgestufte Beteiligung der Bürgerschaft an Entscheidungen sowie das mangelnde Initiativ-, Rede- und Diskussionsrecht in den Versammlungen: Millar 1984, 14–19, 1986, passim, 1998, 197–226. Millar beschäftigt sich im Rahmen seiner Rezension (=Millar 1989) von Hölkeskamp 2011 (1. Aufl. 1987) und Raaflaub 2005 (1. Aufl. 1986) auch mit der Frühen Republik und kritisiert hier ebenfalls die einseitige Fokussierung auf die politische Elite. Zustimmung erfuhr Millar durch Lintott 1987, 46–52; auch North 1990, 278 spricht von einer „frozen waste theory“ derjenigen, die den Wahlveranstaltungen jegliche inhaltliche Auseinandersetzung absprechen. Purcell LTUR II (1995), 327–328 hat zudem auf die Vereinnahmung des Forums durch die plebs verwiesen. Zuletzt haben Yakobson 2006, 2010; Courrier 2014; Rosillo- López 2017 und Humm 2018, 54–58 die Rolle des Volkes stärker betont. Für eine Zusammenfassung der Kontroverse mit einem umfassenden Überblick zur Wirkung von Millars Thesen s. Hurlet 2012, vgl. Walter 2017, 196–198. S. Nippel 2001. Hölkeskamp 2011 (1. Auflage 1987). Hölkeskamp 2011, 9. Die militärischen Aufgaben der Nobilität werden in der Dissertation zwar ebenfalls erwähnt, s. Hölkeskamp 2011, 157–159, vor allem aber durch spätere Beiträge abgedeckt: Hölkeskamp 1993, 12–39 sowie 2004, 11–48. Zur Formierung der Nobilität s. a. Bleicken 1981a; Brunt 1982; Goldmann 2002. Einen Überblick über die ältere Forschung bieten Burckhardt 1990 und Hölkeskamp 2006, 360–363, 2020, 13–42. Hölkeskamp 2004, 36–41, 2011, 244–258. Die Überlegungen zur politischen Kultur wurden zunächst im Rahmen der Monographie „Rekonstruktionen einer Republik“ (2004a), 49–72 gebün-
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Einleitung
siven Debatten politischer Inhalte übersehen, die erheblich mit den eher gering ausgeprägten Präferenzdispositionen der Bürgerschaft in späteren Zeiten kontrastieren. Allerdings geht er hierbei von einer weitgehend sekundären Politisierung der plebs durch die plebeischen Eliten aus, die schließlich durch die erfolgreiche Etablierung der patrizisch-plebeischen Nobilität und die Expansionsdividende erlahmt sei.29 Damit verknüpft Hölkeskamp den Abschluss der Entwicklungen der Frühzeit in einem fließenden Übergang mit dem von Meier beschriebenen politischen System der Mittleren und Späten Republik. Gerade angesichts der wichtigen Beobachtung einer graduellen Entwicklung der politischen Ordnung im 4. Jahrhundert erscheint die strukturanalytische Verknüpfung zweier separater Betrachtungen allerdings problematisch, da die externen Rahmenbedingungen, unter denen die jeweiligen politischen Abläufe und Institutionen operierten, grundsätzlich unterschiedlich waren.30 Für die politische Geschichte der Frühen Republik bildet die „Entstehung der Nobilität“ dennoch weiterhin das Standardwerk, das wenige Jahre später durch die Veröffentlichung von Tim Cornells „The Beginnings of Rome“ komplementiert wurde, der den archäologischen Zeugnissen und der gesamtitalischen Geschichte größere Beachtung schenkt.31 Der Untertitel „Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c. 1000–264 BC)“ verweist bereits auf die Berücksichtigung und Verankerung der Genese Roms im Kontext der italischen Halbinsel. Dagegen bleibt die Behandlung der innerrömischen, politischen Entwicklungen eher in bekannten Bahnen, so dass die Ständekämpfe und die Entstehung der Nobilität von Cornell als ausreichende Erklärung für die militärische Aggression und territoriale Ausdehnung Roms angesehen werden.32
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delt. Weitere Beiträge zu diesem Thema sind in den Bänden „Eine politische Kultur in der Krise?“ (2004b); „Libera Res Publica“ (2017) und „Roman Republican Reflections“ (2020) zusammengefasst. Zur Verwendung des Begriffs der politischen Kultur s. Hölkeskamp 2006a, 362–366, 2017, 73–105. Zuletzt wurde neben der aristokratischen Performanz die Rolle der Stadt Rom und der städtischen Bauten, Tempel und Siegesmonumente als Manifestierung der kollektiven Leistung der Nobilität hervorgehoben, s. Hölkeskamp 2001, passim, 2005, 249–271, 2012, 380–414, 2014, 63–70, 2017, 237–309, 2020, 97–209. Hölkeskamp 2011, 62–113. Vgl. Meier 2017, 64–161 zu den negativen Auswirkungen der „Extensivierung der res publica“. Im Vergleich zu früheren Werken von De Sanctis 1956 (zuerst 1907) und De Martino, 1951–55 ist Cornell dagegen durchaus kritisch. Trotz bekennender Skepsis gegenüber Cornells Werk weicht Forsythe 2005 im Kern kaum von dessen Ergebnissen ab, ebenso Lomas 2017. Bradley 2020 repräsentiert eine aktualisierte Fortsetzung des Ansatzes von Cornell, was sich leider auch auf die Vernachlässigung der politischen Entwicklungen und Institutionen der Römischen Republik bezieht. Hölkeskamp und Cornell beleuchten im Grunde zwei Seiten derselben Medaille, ohne dass es allerdings zu einer vernetzten Analyse und Berücksichtigung der Interdependenz der beiden Ebenen gekommen wäre. Zur militärischen Aggression s. Harris 1979, 10–53; Salmon 1982, 40–72; Oakley 1993, 18–28. Zuletzt haben Kay 2014, 21–42, Armstrong 2016b, 117–118 und Tan 2017, 3–39 die wirtschaftlichen Aspekte der erfolgreichen Kriegsführung betont. Die politische Dimension der militärischen Expansion kommt dagegen in der Regel zu kurz, s. etwa Erdkamp 2006, 279–284;
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Gerade die anglo-amerikanische Forschung ist Cornell in vielen Punkten gefolgt und hat zuletzt zahlreiche Publikationen zum prärömischen und römischen Italien, den verschiedenen Regionen und Siedlungsgruppen hervorgebracht.33 In der Folge konnte die römische Geschichte deutlich fundierter in die italische ‚Staatenwelt‘ eingebettet werden, wobei die Vorstellung einer außergewöhnlichen römischen Aggressivität oder Exzeptionalität in Frage gestellt und zudem die erfolgreiche Einbindung italischer Eliten in den römischen Herrschaftsbereich und dessen Netzwerke betont wurde.34 Gerade die stärkere Beachtung der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends hat hier zur Hervorhebung italischer und mediterraner Gemeinsamkeiten und Verbindungen geführt, die im Kontext der Entstehung urbaner Zentren, des Warenaustausches, zunehmender Siedlungsdichte und hoher Mobilität sichtbar werden.35 Diese Studien haben damit zum einen unser Verständnis der Rahmenbedingungen und Netzwerke, die der Entstehung der Republik und ihrer weiteren Geschichte zugrunde lagen, erweitert und zum anderen eine ganze Reihe an neuen Fragen aufgeworfen. Am deutlichsten wird dies an der veränderten Debatte hinsichtlich der politischen Organisation und Machtverhältnisse der res publica. Hatte die ältere Forschung den von den Quellen beschriebenen Ständekampf noch als zentrale Auseinandersetzung um die politische Ordnung angesehen, so betrachtet die neuere Forschung diesen in einem gänzlich anderen Licht. Christopher Smiths Untersuchung „The Roman Clan“ hat hier etwa die Erfassung regionaler Spezifika der latinischen und etruskischen Kultur in den Mittelpunkt gestellt und diese Regionalgeschichten in das Beziehungsgeflecht der Mittelmeerwelt eingebettet.36 In diesem Zusammenhang hätten die großen gentes eine Vormachtstellung eingenommen, die sie durch Privilegien abzusichern suchten, wogegen sich eine heterogene Koalition, die plebs, gebildet habe. Diese Auseinandersetzung um die politische Ordnung der römischen Gesellschaft lasse sich dabei jedoch nicht auf eine binäre Opposition von Patriziern und Plebeiern reduzieren. Insgesamt geht Smith von einer wesentlich schwächeren Rolle und Bindungskraft der Gemeinschaft
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Forsythe 2007a, 33–36. Vgl. dagegen Rosenstein 2007a, 136–143, 2016, 95–97; Armstrong 2016a und die Beiträge in Armstrong/Richardson 2017 sowie in Armstrong/Fronda 2019. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten sind hierzu zahlreiche Publikationen erschienen, etwa die Beiträge in Stek 2013 und Di Fazio u. a. 2014 sowie die bereits genannten Titel in den Anm. 7 und 8 in diesem Kapitel. Dieser Ansatz wurde schon von Alföldi 1963 verfolgt, bes. 193–235. Lomas 1993, 36–53; Eckstein 2006, 118–180; Fronda 2010, 13–52; Terrenato 2019, 146–154. Daneben haben Lomas 2017, 154–237 und Bradley 2020, 192–359 eine systematische Untersuchung von Entwicklungslinien der römischen Frühzeit unter Berücksichtigung der neueren archäologischen Erkenntnisse vorgelegt. Smith 1996. Einen aktuellen Überblick bietet Bradley 2020, 44–83. Zur Urbanisierung zuletzt Fulminante 2013, zur Mobilität und Vernetzung s. Potts 2015, 85–118 und Isayev 2017, passim; vgl. dagegen aber auch Coşkun 2009, 31–155 und 2016, der die weitgehenden Rechte zur Übersiedlung nach Rom für die Frühzeit in Frage stellt. Auch Linke 2013 betont die trennenden Elemente im Bereich der Religion. Smith 2006a. Zur regionalen Einbettung der frührömischen Geschichte s. Smith 1996, 185–202.
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aus, die auch Jeremy Armstrong am Beispiel der privaten Kriegsführung aufzuzeigen versucht hat. Demnach hätten einflussreiche Eliten, gestützt auf ihre weitreichenden Ressourcen und clientes, sowohl das politische Feld als auch die Feldzüge bis in das 3. Jahrhundert hinein bestimmt.37 Das erhöhte Interesse an Eliten und ihren Netzwerken ist dabei auch mit deren höherer Visibilität in den archäologischen Funden zu erklären, die so spektakuläre Spuren wie die Tomba François di Vulci umfassen. Dieser Fokus drängt dabei aber sowohl die archäologisch weniger sichtbare breite Bevölkerung als auch deren Einbindung in und Anforderungen an die Bürgergemeinschaft in den Hintergrund, deren Festschreibung und Stabilisierung den Kern der Überlieferung der Ständekämpfe bildet. Den wohl weitgehendsten Vorstoß in Bezug auf die Dominanz lokaler Eliten, die sich in gewisser Weise die neuen urbanen Räume und damit verbundenen Gemeinschaften zur Beute gemacht hätten, hat jüngst Nicola Terrenato unternommen, der die Vorstellung von klar definierten politischen Einheiten und Gemeinschaften zugunsten einer hochmobilen und bestens vernetzten italischen Elite verworfen hat.38 Terrenato zufolge hätten mediterrane Veränderungen dazu geführt, dass lokale Eliten dominante Führungspositionen in ihren Gemeinschaften einnehmen konnten. Dabei sei es regelmäßig zu Absprachen und Allianzen zwischen ihnen gekommen, die vor allem der Verfolgung privater Ambitionen und Interessen gedient hätten.39 Den römischen Erfolg führt er weniger auf gemeinschaftliche Anstrengungen und politische Kompromisse als vielmehr auf die Verschmelzung von Elitennetzwerken zurück, deren Endergebnis eher einer Föderation italischer Aristokraten als dem Imperium Romanum entspricht. Zwar sind die Argumente für enge romano-italische Kooperationen im Einzelnen überzeugend und für das Funktionieren des späteren römischen Bundesgenossensystems von größtem Interesse, doch ist die Loslösung der Eliten aus dem politischen Verband ‚Stadt‘ höchst bedenklich. Besonders angesichts der vergleichenden Kontextualisierung bleibt offen, warum die jeweiligen italischen Gemeinwesen im Kontrast zu den griechischen poleis keine politischen Loyalitäten erzeugt haben sollen. Der weitgehend als authentisch angesehene erste römisch-karthagische Vertrag spricht ebenso gegen eine solche These wie der systematische Ausbau der politischen Räume der urbs, der im Einklang mit den von den literarischen Quellen berichteten Auseinandersetzungen um die politische Ordnung steht.40 In dieser Hinsicht hat das beeindruckende Werk von Michel Humm „Appius Claudius Caecus. La 37 38
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Armstrong 2016a contra Timpe 1990, s. a. Drogula 2015, 18–44 und Armstrong 2019. In zahlreichen Vorarbeiten hat Terrenato dabei einzelne Aspekte, wie zum Beispiel den Einfluss aristokratischer Netzwerke auf die politischen Verhältnisse und Entscheidungen in den italischen Gemeinwesen thematisiert, s. Terrenato 2005, 2007, 2011, 2014, Augenti/Terrenato 2000, Motta/ Terrenato 2006. Vgl. dagegen die methodologische Kritik von Maschek 2021. Terrenato 2019, 73–108. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Terrenatos Thesen s. Walter 2020 und Maschek 2021; zustimmender dagegen Drogula 2020. Die Literatur zu den ersten römisch-karthagischen Verträ-
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république accomplie“ gezeigt, wie eine akribische Analyse der literarischen Quellen mit der Auswertung des archäologischen Materials kombiniert werden kann. Anders als der Titel suggeriert, handelt es sich hierbei nicht ausschließlich um eine Biographie des Appius Claudius, sondern um eine minutiöse Aufarbeitung und vergleichende Analyse der zahlreichen Handlungs- und Entwicklungsstränge der res publica im Kontext der Samnitenkriege, die von der politischen Organisation der Gemeinschaft über geostrategische Aspekte der Expansion bis zur architektonischen Ausgestaltung der Stadt reichen. Die zwölf Kapitel zollen damit der Komplexität und den verschiedenen Entwicklungslinien der gesellschaftlichen und außenpolitischen Verhältnisse am Ende des 4. Jahrhunderts gebührend Rechnung, etwa der schwierigen Frage der Verleihung des römischen Bürgerrechts an Gruppen, die im Zuge der Expansion unter römische Herrschaft geraten waren.41 Dagegen steht Nicola Terrenatos Monographie, die in dieser Schärfe allerdings ein Ausreißer ist, stellvertretend für die Tendenz der aktuellen Ansätze, die problematischen Fragen von „Staat und Staatlichkeit“ drastisch zu reduzieren. Aufgrund der über viele Jahrhunderte reichenden Fundbelege für eine dominante, reiche Oberschicht wird hier von einer entsprechenden Entwicklung der sozialen Ordnung ausgegangen.42 Dabei werden allerdings Brüche und fundamentale Veränderungen, wie der Übergang von der Monarchie zur Republik oder die Formierung und der Widerstand der plebs in den Ständekämpfen, unter Verweis auf die unzuverlässige Quellenlage stark relativiert.43 Hieraus resultiert eine Rückbesinnung auf Gelzers Vorstellung einer die Gemeinschaft durch Abhängigkeitsverhältnisse kontrollierenden und untereinander vernetzten Oberschicht, die es erlaubt, die konkurrierenden politischen Organisationsansätze von Plebeiern und Patriziern unberücksichtigt zu lassen. Die Vorstellung einer lediglich in Nuancen variierenden aristokratischen Herrschaftsausübung lässt dabei die bereits erwähnte Kritik von Meier, Brunt, Hölkeskamp und anderen außer Acht. Besonders Meiers Argument einer wesentlich veränderten Qualität und gestiegenen Komplexität des Bindungswesens aufgrund der massiven Expansion des ager Romanus, die zu einer Pluralität an vertikalen und horizontalen Verpflichtungen geführt habe, sowie der permanente Wettbewerb der Elite um politische Unterstützung
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gen ist überaus umfangreich, s. nur Werner 1963, 297–368; Ameling 1993, 130–134; Serrati 2006, 114–118; Zimmermann 2009, 4–8; Scardigli 2011. Humm 2005, 229–440; s. hierzu die Würdigung von Bruun 2011. Die Bürgerrechtsverleihung wurde schon von Cels-Saint-Hilaire 1995, 251–283 erörtert, international aber kaum beachtet, s. Richardson 2011. Terrenato 2019, 31–108 sowie ders. 2007, 2011. Vgl. dagegen die Beiträge und Diskussionen in Eder 1990 und Lundgreen 2014; s. a. Hölkeskamp 2004b, 11–104. Diese Veränderungen hat etwa Richard 2015 (1. Aufl. 1978), 435–588 als wesentliche Voraussetzung für die Entstehung und den erfolgreichen Widerstand der plebs gesehen. S. a. Linke 2010a und Linke 2010b, 187–193 zur Entwicklung zentraler Institutionen unter den Königen, die dann von den Plebeiern erneut aufgegriffen wurden. S. a. Walter 2016, 31–34, passim.
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in den Komitien verweisen auf die zunehmende Komplexität des politischen Feldes in Rom, in dem die einfachen Bürger als Teil der Volksversammlungen eine zentrale Rolle einnahmen.44 Skepsis an der postulierten politischen Unmündigkeit der freien Bevölkerung ist allein wegen des überlieferten zähen Widerstands gegen eine Eingliederung in die aristokratischen Abhängigkeitsverhältnisse geboten. Laut Bernhard Linke sei dies die Ursache für die Transformation der familia in einen Herrschaftsverband unter Führung des pater familias gewesen, um ihren Fortbestand durch die Außerkraftsetzung von potenziell existenzgefährdenden Erbteilungen zu garantieren.45 Die daraus resultierende Resilienz der patres familias habe in der Folge die Entwicklung der republikanischen Partizipations- und Integrationsmechanismen begünstigt, die den Führungsanspruch der Aristokraten von der Zustimmung der Bürger abhängig machte.46 Hierbei spielte nicht zuletzt die durchsetzungsstarke Unterstützung der plebs für die tribuni plebis eine entscheidende Rolle, deren Innovationskraft Thibauld Lanfranchi hervorgehoben und dabei auf deren klare Stoßrichtung wider die etablierten Eliten verwiesen hat. Resilienz und Organisationsfähigkeit der plebs trugen wesentlich zur Dynamik der politischen Verhältnisse in Rom bei, die sich in der Formulierung und Diskussion von Alternativen zur bestehenden Ordnung niederschlug.47 Die Kritik an den sehr weitreichenden Thesen Millars hat in diesem Zusammenhang möglicherweise zu stark von der zentralen Rolle der breiten Masse der cives abgelenkt, deren Wahlverhalten sicherlich in vielen Fällen von Beziehungsnetzwerken, Normen und Ritualen bestimmt wurde, andererseits aber auch regelmäßig zu umwälzenden Gesetzesinitiativen führte. Hier ist es notwendig, das Entscheidungsverhalten der Bürger differenziert zu betrachten, da die normalerweise gering ausgeprägten Präferenzdispositionen der Bürgerschaft in Krisenzeiten einer hohen Politisierung wichen.48 Alexander Yakobson hat ersteres auf eine generelle Akzeptanz des aristokratischen Führungsanspruchs durch die Bürgerschaft angesichts der militärischen Erfolge zurückgeführt, gleichzeitig aber auch darauf verwiesen, dass die aristokratische Standesdisziplin im Rahmen des Wettbewerbs und vor allem der Wahlen enormen Belastungen ausgesetzt war.49 Da es keine Alternative zu der Entscheidung des poli44 45 46 47 48 49
Meier 2017, 24–34. Ganter 2015, 86–142 hebt die Reziprozität der Patron-Klient-Verhältnisse hervor, die bereits in den plautinischen Komödien thematisiert wird. Linke 1995, 77–104, passim. S. a. Linke 1998, 128–131. Linke 2006, 74–87, 2009, 350–358, 2010a, 128–142, 2011, passim, 2014a, 30–34, 2014b, passim. Lanfranchi 2015, 257–447; s. auch Eder 2002, der die politischen Spielräume der Volkstribunen in Krisenzeiten betont und Parallelen zur griechischen Staatenwelt zieht. S. Flaig 2003 zur Bindekraft der Rituale, die aber das politische Leben nicht vollständig einschnürten, s. exemplarisch Bleckmann 2002, 192–201 und Linke 2016, 169–170 zu den Reaktionen auf die Niederlage bei Drepana. Yakobson 1999, 20–64, 2010, 300–301. Yakobson widerspricht damit Jehnes Position, der von einem „klar konsensualistischen Element“ in den Wahlen ausgeht: Jehne 2001, 108, 2013a, 149–152, 2013b, 30–32, 2014, 120–126.
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tischen Wettbewerbs durch das Volk gab, blieben die Wahlen die Sollbruchstelle der aristokratischen Standesdisziplin.50 Selbst für die frühe, lediglich in classis und infra classem unterteilte Versammlung trifft dies zu, zumal Struktur und Logik des politischen Systems und des aristokratischen Wettkampfs immer wieder opportunistische Kräfte generierten, die bereit waren, die „popular card“ zu spielen.51 Eine solche Konstellation lag spätestens gegen Ende des 4. Jahrhunderts vor, wie der prominente und gut dokumentierte Aufstieg des Appius Claudius Caecus zeigt. Das Innovationspotenzial der politischen Akteure der Frühen Republik kann hierbei kaum überschätzt werden, da weder eine klare Rangordnung noch fest etablierte Regeln existierten. Hans Becks Studie zu „Karriere und Hierarchie“ der römischen Elite verweist in diesem Kontext darauf, dass sich die Binnenhierarchie der Nobilität erst im Verlauf des 3. Jahrhunderts und schließlich mit der Einführung der lex Villia annalis im Jahr 180 zu einem cursus honorum verfestigte. Damit einhergehend nahm zwar auch die Fluktuation der Newcomer unter den plebeischen Konsuln ab, doch verweist dieser Trend gleichzeitig auf die deutlich höhere interne Dynamik der Aristokratie zu Beginn der Untersuchung, die mit besagtem Claudius einsetzt. Beck demonstriert darüber hinaus die Vorteile der bereits früh etablierten Kerngruppe, die auf familiär begründetem symbolischem Kapital und der eigenen Sozialisation im Rahmen eines sich verfestigenden aristokratischen Wertekanons beruhten.52 Angesichts des Einsetzens gentilizischer Familienaufzeichnungen und zahlreicher bekannter exempla aus dem 4. Jahrhundert ist es gerechtfertigt, gerade die letzten Dekaden des Jahrhunderts als wichtige Phase dieses Hierarchisierungsprozesses zu betrachten, der langfristige Folgen für die Zusammensetzung der politischen Elite haben sollte. Gleichzeitig wird im Rahmen von Becks Ansatz aber auch die Rolle des Volkes aufgewertet, das für die Zuweisung und Anerkennung des symbolischen Kapitals verantwortlich war und damit zwar nicht zum demokratischen Souverän wird, wohl aber zur entscheidenden Instanz für den Wettkampf und das Avancement der nobiles.53
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Nicolet 1980, 208–226, 234–246; Yakobson 1999, 65–84, 2006, 391–398; Vgl. Hölkeskamp 2006a, 372, 2017a, 123–151. Hierzu auch Schlögl 2014, 29–48. Yakobson 2006, 394, 2010, 300–301. North 1990, 285–286 hat für eine Verflechtung von „competitive oligarchy and voting assemblies“ plädiert. Nach Hölkeskamp 2011, 194–203 sei die hohe Dynamik der inhaltlichen Politik des 4. Jahrhunderts mit der Erfüllung der plebeischen Forderungen versiegt; vgl. dagegen aber Eder 2002 und Linke 2011, 2017b. In Anlehnung an Simmel 2013, 324–331 sieht Hölkeskamp 2006a, 377–379 aber durchaus die Möglichkeit, dass ein agonales System durchaus auch deviantes Verhalten und alternative Strategien attraktiv erscheinen lassen konnte, s. a. Hölkeskamp 2017a, 123–161. Beck 2005a, 44–61, s. 114–116 zur zeitlichen Untergliederung des Untersuchungszeitraums. Zur dynamischen Entwicklung der Oberämter s. Momigliano 1969a, 403–417, 1969c, 273–294; Richard 2015, 435–490; Kunkel 1995, 43–45; Stewart 1998, 204–207; Brennan 2000, 86–89; Bunse 2002, 31–34; Smith 2011, 32–39; Tietz 2020. Beck 2005a, 22–28.
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Einleitung
Diese Abhängigkeit von der Unterstützung durch das Volk wurde im Jahr 2000 durch einen Beitrag Cornells unterstrichen, in dem er überzeugend darlegt, dass der Senat in der Frühzeit kein Gremium mit lebenslanger Mitgliedschaft gewesen, sondern von den Konsuln nach Belieben zusammengestellt worden sei. Erst mit der Verabschiedung der lex Ovinia zwischen 338 und 318 wäre demnach die lectio senatus auf die Zensoren übergegangen, die Senatoren in der Folge nur noch bei unschicklichem Verhalten aus dem Senat entfernten.54 Die lange Zeit unterschätzte Brisanz des Beitrags für die Zeit vor der Einführung der lex Ovinia besteht dabei in der Abwesenheit einer langfristigen politischen Perspektive jenseits der Ämter.55 Als Teil des hochgradig agonalen, politischen Systems bildete der Senat eine mäßigende Instanz, in der Konflikte und unterschiedliche Positionen artikuliert und verhandelt werden konnten. Solange die Senatsmitgliedschaft aber prekär und von den jährlich wechselnden Konsuln abhängig war, musste dies die langfristige Stabilisierung von Austauschbeziehungen und die darin enthaltene Möglichkeit der nachgelagerten Kompensation für den punktuellen Interessenverzicht erschweren.56 Folgt man Cornells Thesen, so ergibt sich daraus ein erhebliches Defizit in Bezug auf die konsensualen Elemente der politischen Ordnung Roms, die eine wesentliche Voraussetzung für die weitgehende Absorption der plebeischen Akteure unter Anerkennung ihrer Interessen und Institutionen gebildet haben sollen. In der Konsequenz ergibt sich hieraus auch eine viel stärkere gegenseitige Beeinflussung von inneren und äußeren Entwicklungen in diesem Zeitraum. Gerade die überschaubare Größe des ager Romanus im 4. Jahrhundert lässt auf eine immer noch intakte ‚face-to-face society‘ schließen, in der die Bürger das Zentrum des politischen und öffentlichen Lebens ohne großen Aufwand erreichen konnten und von dessen Entscheidungen direkt betroffen waren. Gleiches galt für die Interaktion mit den Nach-
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Cornell 2000a; zu Inhalt und Wirkung Mitchell 2005, 145–149; Ryan 1998, 143–155, 2001, passim; Elster 2003, 84–87; Richard 2005, 121–122; Jehne 2013b, 25–27; Fest. 290L: Praeteriti senatores quondam in opprobrio non erant, quod, ut reges sibi legebant sublegebantque quos in publico consilio haberent, ita post exactos eos consules quoque et tribuni militum consulari potestate coniunctissimos sibi quosque patriciorum, et deinde plebeiorum, legebant; donec Ovinia tribunicia intervenit, qua sanctum est, ut censores ex omni ordine optimum quemque iurati (MS: curiati, „certainly corrupt“ nach Cornell 2000a, 83) in senatum legerent. Quo factum est ut qui praeteriti essent et loco moti haberentur ignominiosi. Cornell 1995, 369–370, 2000, 75–79 geht zwar von einer Einführung in den Jahren 339 bis 332 aus, jedoch wird generell eine Datierung des Gesetzes auf 312 oder einige Jahre davor favorisiert: Bleicken 1975, 379–380; Ferenczy 1976a, 152–164; Giangricco Pessi 2000, 332–337; Humm 2005, 188–194; Hölkeskamp 2011, 142–147; Jehne 2011, 218–219. Beck 2005a, 78–79 plädiert für das Jahr 318 als terminus ante quem, basierend auf Diod. 20.36.5–6; ebenso Mouritsen 2017, 36–37, der annimmt, die Senatsmitgliedschaft habe sich bereits zuvor weitgehend stabilisiert. Jehne 2011, 228–231 sieht in der gesicherten Mitgliedschaft das Fundament für eine langfristige und kohärente Politik. Alföldi 1967, 261–266; Cornell 1990, 342–344; Richard 2005, 115–118; Hölkeskamp 2011, 190–192; Timmer 2017, 81–104; Lundgreen 2017, 344–348. Sartori 1984, 83–104; Hölkeskamp 2006a, 383; Lundgreen 2011, 277–285; Timmer 2017, 56–80.
Methodik
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barn Roms, die die Lebenswelt der Masse der Bürger viel direkter berühren musste als in späteren Zeiten. 1.2 Methodik Diese Rückkopplung des politischen Feldes an die soziale Ordnung der Bürgerschaft sowie deren hohe Betroffenheit von politischen und militärisch-diplomatischen Entscheidungen gilt es folglich stärker zu berücksichtigen, worunter auch die politische Dimension der räumlichen Expansion und deren Rückwirkungen auf das Zentrum fallen.57 Hierzu wird die vorliegende Untersuchung einen methodischen Ansatz wählen, der auf eine situative und konsequent historisierende Analyse der literarisch überlieferten Ereignisse sowie des archäologischen Materials setzt. Im Wesentlichen soll damit die Rückprojektion von späteren gesellschaftlichen Verhältnisse vermieden und stattdessen die prinzipielle Ergebnisoffenheit der Vorgänge in den Vordergrund gestellt werden. Die angestrebte Verflechtung von inneren und äußeren Entwicklungen soll zudem eine größere Sensibilität für die Dynamik der römischen Geschichte im 4. Jahrhundert ermöglichen. Ereignisse, Entscheidungsprozesse und Akteure werden hierbei vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation und Vorgeschichte gedeutet, wobei auch der potenziellen Kontingenz solcher Situationen Rechnung zu tragen ist. Harriet Flower hat in diesem Kontext auf die Schwierigkeit der Periodisierung der Römischen Republik verwiesen, aus der sich unvermeidlich anachronistische Verzerrungen ergäben.58 Als Gegenentwurf hat Flower eine serielle Abfolge an Republiken vorgeschlagen, der auf die Ablösung monokausaler Erklärungen abzielt. Eine kleinteiligere Abfolge von Republiken bietet laut Flower den Vorteil, die Betrachtung der römischen Geschichte stärker zu verflüssigen, indem den intrinsischen, politischen Debatten und den Folgen der Expansion stärkere Beachtung geschenkt wird. Für die frühe Republik empfiehlt Flower daher eine Unterteilung in eine Proto-Republik, eine 1. republikanische Phase von 451/450 bis 367/366 und eine 2. republikanische Phase von 366 bis 300.59 Kurioserweise nimmt sie damit eine Einteilung vor, die ohnehin der communis opinio entspricht, was aber die Vorteile einer kleinteiligeren Betrachtung von Zeitabschnitten nicht mindert, deren Ereignisse so im jeweiligen situativen Kontext 57
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Zur Soziologie des Raumes ist Simmel 2013 (1. Aufl. 1908), 687–698 nach wie vor grundlegend. Linke 2006, 70–74, passim skizziert die politischen Herausforderungen, die aus der räumlichen Expansion resultierten. Zur Raumorganisation s. die Beiträge in Keay/Terrenato 2001; Rieger 2007; Sisani 2011, passim; Laurence/Cleary/Sears 2011; Capogrossi Colognesi 2014, 92–107; Häussler 2013, 145–180; Stek/Pelgrom 2014; Witcher 2017; Gargola 2017, 83–118. Zur Erfassung der römischen Siedlungsräume s. Choquer 1987; Cavalieri Manasse 2000; Roselaar 2010; Teichmann 2020 sowie Kapitel 1.4.1 unten. Flower 2010, 6. Ebd. 22–23, 33 zur Einteilung.
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und unter dem Eindruck der ‚präsenten Vergangenheit‘ der Akteure interpretiert werden können.60 Flowers relativ knappe Ausführungen werden der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt für eine stärkere Aufsplitterung der römischen Frühzeit in Phasen von ca. 20 bis 25 Jahren dienen. Dies entspricht grob den großen Zäsuren des 4. Jahrhunderts – Eroberung Veiis und Kelteneinfall, leges Liciniae Sextiae, Latinerkrieg, Samnitenkriege und Zensur des Appius Claudius Caecus – sowie den Verschiebungen der erlebten und präsenten Vergangenheit durch das Versterben beziehungsweise Heranwachsen der entsprechenden Generationen. Die überschaubaren und chronologisch aufeinanderfolgenden Untersuchungszeiträume werden mithilfe des Modells der historischen Sequenzen vernetzt erschlossen. Ziel dieses Modells ist es, historische „snapshots“ in „moving pictures“61 zu verwandeln, indem Variablen und Handlungsalternativen vor, während und nach dem untersuchten Ereignis betont werden. Besonders hinsichtlich der politischen Prozesse erlaubt das Modell eine stärkere Kontextualisierung einzelner Entscheidungen und eröffnet die Möglichkeit, den komplexeren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen sowie Kontingenzfaktoren, wie dem anfangs erwähnten Kelteneinfall, Rechnung zu tragen. Zentral ist hierbei die ‚Path Dependence‘, die von einer generellen Beeinflussbarkeit getroffener Entscheidungen ausgeht, die Paul Pierson als „dynamics of selfreinforcing or positive feedback processes in a political system“ bezeichnet hat.62 Ein kritischer Faktor ist die Dauer der erfolgreichen Umsetzung, da Entscheidungen zu einem frühen Zeitpunkt relativ einfach revidiert werden können, sich mit anhaltender Dauer und Bewährung aber zunehmend verfestigen und in der Folge zum Attraktivitätsverlust von anfangs denkbaren Alternativen führen. Positives Feedback führe zudem dazu, dass zukünftige Prozesse und Entscheidungen unter dem Eindruck der erfolgreichen ‚Experimente‘ gestaltet würden.63 Bei verstärkt negativem Feedback konkretisierten sich dagegen die vorherigen Alternativen, die in krisenhaften Situationen
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Raaflaub 2005, 185 verweist auf die dynamische Entwicklung der Ständekämpfe und rät trotz des Titels „Stages in the Conflict of the Orders“ zu einer noch stärkeren Aufschlüsselung: „There seem to have been so many and such fundamental changes that any label designed to cover the whole period (…) is nevertheless bound to be misleading because it creates the unwarranted impression of unity and homogeneity.“ Ungern-Sternberg 1990, 98–100. Pierson 2000, 72. Grundlegend hierfür Pierson 2004 (Zitat S. 10), aufbauend auf seinem Beitrag in den Studies in American Political Development 14 (2000), 72–92. S. a. David 2000, passim; Mahoney/Schensul 2006, 457–461; Sarigil 2015, 221–227. Eine generelle Kritik linearer Modelle bietet Abbott 1988. Aminzade 1992 präsentiert unterschiedliche Konzepte für eine stärker ereignisorientierte historische Soziologie. Pierson 2004, 17–53. „Path-Dependence“ liegt auch den gängigen Rekonstruktionen der Frühen Republik in Bezug auf die Expansion und politische Entwicklung zugrunde, jedoch wurden mögliche Fehlschläge und retardierende Ereignisse bisher zu wenig berücksichtigt; s. etwa Hölkeskamp 2004b, 11–43, 2006a, 377–385; Beck 2005a, 32–44; Linke 2010a, 135–141, 2015, 139–142; Terrenato 2019.
Methodik
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zu veritablen Handlungsoptionen aufsteigen können. Eine „Krise ohne Alternative“64 konnte es in der Frühen Republik nicht geben, da sich ihre innere Ordnung noch im Fluss befand und die überschaubare Größe des Gemeinwesens automatisch eine gemeinschaftliche Bedrohungsfeststellung in Krisensituationen zur Folge hatte. Negatives Feedback musste also gemäß der Path-Dependence-Theorie den Blick für neue Strömungen und die Ausbildung alternativer, gesamtgesellschaftlicher Politik- und Ordnungsentwürfe öffnen.65 Gerade für die Entstehungsphase der republikanischen Ordnung Roms ist dieser Ansatz äußerst attraktiv, da er eine Untersuchung der zunehmenden Stabilität der politischen Ordnung unter gleichzeitiger Anerkennung der dynamischen Veränderungen und kontingenten Faktoren erlaubt.66 Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel der Niederlage von Caudium erläutern. Im Zuge dieses Rückschlags sah man sich in Rom zu einem Frieden gezwungen, der immerhin fünf Jahre lang hielt. In der Zwischenzeit kam es zu großangelegten Bauprojekten und vor allem zur Einrichtung von zwei neuen tribus im östlichen Latium und im Liris-Tal im Jahr 318.67 Gemäß der PathDependence-Theorie sind diese Vorgänge vor dem Hintergrund des Friedensvertrags von 321, der 318 offenbar noch einmal bestätigt wurde, zu interpretieren, nicht jedoch vor dem erneuten Ausbruch des Samnitenkrieges im Jahr 316. Gleichwohl dürfte letzterer und der damit verbundene Einfall der Samniten in die neugegründeten Bürgergebiete die Entscheidung zur Ansiedlung von römischen Bürgern in ein ganz neues Licht gerückt haben, womit auch die 318 gefällten Entscheidungen und damit verbundenen politischen Ambitionen und Strategien einer Neubewertung unterlagen. Zusammengenommen bieten die historischen Sequenzen und die Path-Dependence-Theorie den zusätzlichen Vorteil, dass die bereits angesprochene Verflechtung der römischen Geschichte des 4. Jahrhunderts detaillierter untersucht werden kann, indem ‚Vernetzungen‘ und vor allem deren Entwicklung in seriellen Sequenzen betrachtet werden. Die lebhafte Netzwerkdebatte, die auf Horden und Purcell folgte, hat zweifelsohne die intensive Verflechtung der Mittelmeerwelt aufgezeigt, läuft jedoch Gefahr, auf der Grundlage von langfristigen Handels- und Austauschbeziehungen die Fluktuationen und Brüche zwischen Gemeinschaften zu verdecken, die maßgeblichen 64 65
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Meier 2017, XLIII–XLV und 201–205. Der Tübinger Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ hat aufzeigen können, zu welchen drastischen Reaktionen und Reformen Gesellschaften unter Druck fähig sind, s. hierzu die Beiträge im Journal of Modern European History 15 (2017), besonders Linke 2017b, 24–27. Vgl. Keaveny 2009, 1–9. Tilly 1984, 14: „When things happen within a sequence affects how they happen“. Die Gefahr von langfristigen Erklärungsmodellen der politischen Vorgänge liegt laut Pierson 2004, 103–132 darin begründet, dass die politischen Akteure im Falle von neuen, anfangs noch fluiden Regelungen zunächst ihren eigenen Vorteil verfolgten. Vgl. Ferenczy 1976a, 47–51; Beck 2005a, 62–113; Cornell 2005, 60; Flower 2010, 50–57; Harris 2016, 1–14. Grundlegend hierzu bleibt die „Kritik der traditionellen Gruppierungskonstellation“ bei Hölkeskamp 2011, 41–61. Lentzsch 2019, 171–206.
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Einleitung
Einfluss auf die Ausrichtung der besagten Netzwerke nehmen konnten.68 Die Verwendung von Sequenzen erlaubt dagegen eine konsequente Historisierung der Beziehungsnetzwerke, die gerade durch die massive Expansion Roms unter Druck geraten sein dürften. Innerhalb der Sequenzen kann die Berücksichtigung eines breiteren Kontextes und Quellenmaterials damit auch zu einer verbesserten Abwägung desselben beitragen, indem weitgehend als authentisch akzeptierten Zeugnissen eine höhere Relevanz und folglich ein größeres Gewicht bei der Bestimmung der wesentlichen Ereignisse und Entwicklungen zugestanden wird. Hierzu hat bereits Hölkeskamp im Rahmen seiner Zusammenfassung der Quellenlage zum frührepublikanischen Rom folgende methodische Vorgehensweise vorgegeben: Es muß also immer wieder versucht werden, den materiellen Gehalt einzelner Nachrichten durch die Heranziehung (relativ) sicher zuverlässigen Materials zu überprüfen. (…) Auf der anderen Seite müssen alle Rekonstruktionen der Struktur der res publica um und vor 300 und alle Untersuchungen ihres Wandels von Synthesen vieler einzelner Ergebnisse und (Rück-)Schlüsse ausgehen, die ihrerseits nur auf der sorgfältigen und kritischen Interpretation von Einzelnachrichten beruhen können (…).69
Gemäß dieser Vorgaben eröffnet das Sequenzmodell die Möglichkeit einer stärkeren multi-dimensionalen Berücksichtigung der Überlieferung zu den jeweiligen Zeitabschnitten, indem die von Hölkeskamp geforderte, kritische Untersuchung einzelner Zeugnisse durch eine kontextualisierte Einordnung des Quellenmaterials ergänzt wird. 1.3 Gliederung Die skizzierte methodische Vorgehensweise gibt damit eine chronologische Untersuchung des 4. Jahrhunderts vor. Nach einer knappen Erörterung der durch die Königszeit sowie das 5. Jahrhundert geschaffenen Rahmenbedingungen der res publica Romana im 2. Kapitel folgt die erste Sequenz, die einen Umfang von etwa 25 Jahren hat und sich mit der Eroberung Veiis sowie dem Kelteneinfall im 3. Kapitel beschäftigt. Hierbei wird der Fokus auf die schnelle Abfolge dieser Ereignisse gelegt, die eine stärkere Verknüpfung im Rahmen der Bewertung der langfristigen Folgen nahelegt. Letzteres wird im 4. Kapitel genauer erörtert, in dem der Umsturzversuch des M. Manlius
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S. etwa die Arbeiten von Broadbank 2013; Abulafia 2014 und Schulz 2016, die entgegen Horden/ Purcell 2000 die Fluktuationen in den Vordergrund stellen und die Gestaltungskraft von Akteuren und Gemeinschaften betonen. Hölkeskamp 2011, 16–31 (Zitat 29–30); vgl. Cornell 1995, 1–30; Oakley 1997, 38–72; Forsythe 2005, 59–77; Bradley 2020, 1–34.
Archäologische Arbeiten zum Aufstieg Roms im 4. Jahrhundert
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Capitolinus sowie die innen- wie außenpolitische Lage Roms nach dem Kelteneinfall den Schwerpunkt der Untersuchung bilden. Die erste Sequenz gibt dabei ein durchaus ambivalentes Bild der Geschichte Roms zu Beginn des Jahrhunderts wieder, das sich vor allem durch die enge Verkettung von Sieg und Niederlage und den daraus resultierenden Erschütterungen für die Gemeinschaft auszeichnet. Diese Punkte gilt es zu Beginn der zweiten Sequenz zu berücksichtigen, die sich von der Verabschiedung der leges Liciniae Sextiae im Jahr 367 bis zum Ausbruch des Latinerkrieges im Jahr 341 zieht. Die Folgen der Licinischen Gesetzgebung werden im 5. Kapitel thematisiert, wobei eine Untersuchung der überlieferten politischen und militärischen Handlungen näheren Aufschluss über die konkrete Umsetzung der weniger stark beachteten wirtschaftlichen Forderungen der plebs erlauben soll. Kapitel 6 setzt sich anschließend mit der innen- und außenpolitischen Lage Roms in den Fünfziger- und Vierzigerjahren auseinander, in denen die sogenannte „patrizische Reaktion“ sowie der Aufstieg Roms zur Regionalmacht in Latium erfolgte. Diese Vorgänge leiten direkt in die dritte Sequenz über, deren zentrale Elemente der römische Sieg im Latinerkrieg und die weitgehende Neu- und Unterordnung Latiums sind. Aufgrund der kaum zu überschätzenden Bedeutung dieses Waffenganges, wird zunächst im 7. Kapitel untersucht, wie es zu einer derartigen Eskalation kommen konnte, dass man sich in Rom gezwungen sah, die politischen Verhältnisse grundlegend neuzugestalten. Hierbei werden die unterschiedlichen Maßnahmen und Bündnisverträge, die man den Besiegten aufoktroyierte, in enger Verknüpfung mit den politischen Verhältnissen besprochen. Diese ‚kurze‘ 3. Sequenz geht in enger Verzahnung in die vierte und letzte Sequenz über, die mit dem Zweiten Samnitenkrieg einsetzt, der sowohl die römische Vormachtstellung als auch die Innenpolitik gravierend erschütterte. Kapitel 8 setzt sich in diesem Kontext mit dem Ausbruch der Kämpfe und der Niederlage bei Caudium auseinander und schließt auch die weniger stark beachtete Niederlage bei Lautulae ein, die eine veritable Krise auslöste. Im Anschluss wird im 9. Kapitel erörtert, wie politische und militärische Reformen, die gemeinhin mit dem Zensor Appius Claudius Caecus in Verbindung gebracht wurden, die innen- und außenpolitische Lage stabilisierten und die Grundlage für die weitere, erfolgreiche Expansion der res publica legten. Die langfristigen Konsequenzen dieser Maßnahmen werden noch einmal separat im 10. Kapitel erörtert. Eine Schlussbetrachtung beschließt die vorliegende Untersuchung. 1.4 Archäologische Arbeiten zum Aufstieg Roms im 4. Jahrhundert Die archäologischen Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte haben den Umfang des vorhandenen Quellenmaterials beträchtlich erweitert und erlauben eine umfassende Neubewertung der römischen Geschichte des 4. Jahrhunderts. Dies bedeutet aber nicht, dass sämtliche Debatten der älteren Forschung damit hinfällig wären, da das archäologische Material uns keinen Aufschluss über die politische Organisation der
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jeweiligen Gemeinschaften und ihre Auseinandersetzungen geben kann.70 Eine Analyse der naturräumlichen Gegebenheiten und der siedlungsarchäologischen Befunde verspricht daher vor allem eine breitere Kontextualisierung und umfangreiche Ergänzung der literarischen Quellen. In einem leider nur wenig beachteten Artikel hat Peter Attema schon früh auf die Gefahr einer „oversimplification“ in Bezug auf die archäologischen Funde hingewiesen und für die Kombination von „two sets of disparate data“, den archäologischen Funden und den Schriftquellen, geworben, die aber kaum Widerhall gefunden hat.71 Ein solches Vorgehen ist aber umso wünschenswerter, als das archäologische Material Einblicke in Bereiche bietet, die von den antiken Autoren lediglich en passant und ohne detaillierte Erläuterung der praktischen Umsetzung erwähnt werden. Hier bleibt das Risiko einer Überinterpretation der archäologischen Funde durch den Vergleich mit den literarischen Quellen überschaubar und erlaubt die archäologische Kontextualisierung und kritische Prüfung der überlieferten Schritte der römischen Expansion. 1.4.1 Archäologische Quellen zum Umland der Stadt Rom Wie bereits erwähnt, ist die Erfassung der Veränderungen im mittelitalischen Umfeld der Stadt Rom, die einen strategischen Knotenpunkt zwischen den urbanen Netzwerken Etruriens und Latiums besetzte, von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion der römischen Expansion und ihrer Folgen für die Gemeinschaft. Für Südetrurien hat das „Tiber Valley Project“ der British School at Rome Einblicke und Neubewertungen römischer Verwaltungs-, Administrations- und Ansiedlungspraktiken ermöglicht, die gerade für die frühe und vielleicht bedeutendste Phase der römischen Expansion, der Eroberung Veiis, kaum überschätzt werden können. Nicht zuletzt der archäologisch und literarisch belegte urbane Verfall von Veii sowie Surveys im ager Veientanus liefern wichtige Anhaltspunkte für den Umfang und die Folgen der überlieferten Ansiedlung römischer Bürger in den vier neugegründeten tribus.72 Für die Organisation des ager Romanus und der expandierenden Bürgerschaft sind zudem zahlreiche Einzelstudien des Projekts von Interesse, in denen die Verbindungen zwischen der Stadt Rom und ihrem Hinterland untersucht wurden. Hierbei sticht vor allem die Herausbildung 70
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Pointiert hierzu Linke 1999, 522–524; Mouritsen 2004; Maschek 2021. Umfassender adressiert Laurence 2012, bes. 1–23 die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer interdisziplinären Analyse. S. a. de Ligt 2006, 590–592; Rathbone 2008, 305–307; Fracchia 2013 sowie die Beiträge in Attema/ Schörner 2012. Attema 2000; s. a. Bradley 2020, 33–34 und sein Plädoyer für ein „contextualised understanding of Roman history“. Patterson u. a. 2000; Patterson 2004; Patterson/Di Giuseppe/Witcher 2004; Cascino/Sarcina 2005; Rendeli/Cascino/Sarcina 2009; Goodchild/Witcher 2010, 194–212; Mills/Rajala 2011; Cascino/Di Giuseppe/Patterson 2012.
Archäologische Arbeiten zum Aufstieg Roms im 4. Jahrhundert
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subsidiär organisierter, vom jeweiligen Zentrum abhängiger Siedlungen hervor.73 Die römische Entwicklung steht dabei in der Tradition eines langfristigen Prozesses der Urbanisierung und hierarchischen Konsolidierung der Siedlungslandschaft hin zu dominanten Zentren und abhängigen Sekundärsiedlungen, der bereits mit der orientalisierenden Epoche einsetzte.74 Der römische Anteil hieran wird unter anderem durch Grabungen in Crustumerium erhellt, das erst in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts von Lorenzo Quilici und Stefania Quilici-Gigli lokalisiert werden konnte.75 Neue Ausgrabungen des „The People and the State“-Projekts der Universität Groningen haben hier einen massiven Einbruch der Grabfunde sowie die Anlage konzentrierter Fortifikationen um 500 zutage gefördert.76 Die im siedlungsarchäologischen Befund feststellbaren Veränderungen, insbesondere die Verlagerung der Siedlung in die befestigte Anlage, sind dabei zwar kein eindeutiger Beweis für militärische Konflikte, stimmen aber mit den Aussagen der antiken Autoren überein, wonach Crustumerium zu Beginn der Republik eingenommen und kurz darauf in Form der tribus Crustumina in den ager Romanus inkorporiert worden sei.77 Dieses neue Material zu den ersten Hotspots der frühen römischen Expansion hat außerdem durch die umfassende archäologische Erschließung des pomptinischen Gebiets eine signifikante Erweiterung erfahren. Das „Pontine Region Project“ (PRP) entstand Ende der Achtzigerjahre als Nebenzweig der niederländischen Grabungen in Satricum78 und ist in den folgenden Jahrzehnten um Untersuchungen in den Monti Lepini und in der gesamten pomptinischen Ebene erweitert worden. Für die römischen Ansiedlungen sind besonders die in diesem Rahmen entstandenen Publikationen von Peter Attema, Tymon de Haas und Gijs Tol von Bedeutung, die Spuren römischer centuriatio, Siedlungsstrukturen und regionale Verkehrswege in den Blick nehmen.79 Die sumpfige Gegend südöstlich von Satricum wurde erst durch massive römische Eingriffe urbar gemacht, was eine vergleichsweise eindeutige Datierung und Zuordnung der Funde zur Folge hat. Da dieses Gebiet Schauplatz der Einrichtung der beiden tribus Pomptina und Oufentina sowie der Anlage der via Appia und damit verbundener, weiterer Infrastrukturprojekte und Ansiedlungen war, sind die Ergebnisse des 73
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Taylor 1960, 3–16 und 47–49 zu den tribus auf dem ager Veientanus; Cels-Saint-Hilaire 1995, 141– 145; Linke 2006, 90–94. Zur Bedeutung des Umlands: Witcher 2016, 2017; Terrenato 2011; Morel 2007, 497–503; Terrenato 2011, 2012, 144–161; Goodchild 2013, 199–201. Einen Überblick über die älteren Surveys bietet Launaro 2011, 105–148. Fulminante 2014. Quilici/Quilici-Gigli 1980. Attema u. a. 2014; Willemsen 2014; Attema/Belelli-Marchesini/Nijboer/Seubers/Willemsen 2014; Seubers 2016; Attema/De Haas/Seubers/Tol 2017. Liv. 2.19.2. Laut Plin. nat. 3.68 eine der untergegangenen Städte Latiums. Rieger 2007, 371–382. Gnade 2002. Einen Überblick über die niederländischen Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte bietet Gnade 2019. Attema 1993; Attema/van Leusen 2004; Attema/De Haas/Tol 2011; Haas 2011; Tol 2012. Die zahlreichen Publikationen des Projekts werden an relevanter Stelle en détail besprochen.
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PRP von kaum zu überschätzendem Wert für das Verständnis der frühen römischen Expansion. Form und Umfang römischer Ansiedlungen werden hier ebenso sichtbar wie die Konturen der römischen Außenpolitik, für die der ager Pomptinus über weite Strecken des 4. Jahrhunderts von enormer Bedeutung war. Zudem verweisen Ausmaß und Dauer der Aktivitäten in diesem Gebiet auf ein beachtliches Maß an Planung und Investitionen, die eine ausgeprägte gemeinschaftliche Organisation und zentralstaatliche Institutionen voraussetzen. Komplementiert wurden diese Untersuchungen zu den Ansiedlungen römischer Bürger zuletzt auch durch eine Neubewertung der Koloniededuktionen während der Frühen Republik. Deren Beurteilung stand hier lange im Schatten der Arbeiten von Edward Togo Salmon, der von einer strategischen Anlage und einem einheitlichen Bild der Kolonien auf der Basis der antiken Quellen ausging.80 Diese Vorstellung hat durch die Arbeiten von Tesse Stek und Jeremia Pelgrom eine grundlegende Neubewertung erfahren, die exemplarisch in ihrem Band „Roman Republican Colonization“ erörtert wird. Die beiden Autoren plädieren hier für eine stärkere Differenzierung römischer Koloniegründungen und für die Loslösung von einem Idealbild basierend auf den späteren Koloniededuktionen der Mittleren Republik.81 Diese Ausführungen stützen sich auf Ergebnisse des Projekts „Landscapes of Early Roman Colonization“ der Universiteit Leiden und des Royal Netherlands Institute in Rome, das die non-urbane Besiedlung der Territorien der coloniae Latinae Venusia (291) und Aesernia (264/3) untersucht.82 Zusätzlich wurden jedoch auch die frühen coloniae Latinae priscae sowie die frühesten Koloniegründungen unter römischer Ägide, Cales, Fregellae sowie die anschließenden Deduktionen der Samnitenkriege, in den Blick genommen. Neben diesen für die vorliegende Untersuchung besonders relevanten Projekten hat die archäologische Forschung zudem die unterschiedlichen Gruppen und Völkerschaften des antiken Italiens stärker in den Fokus genommen und deren eigenständige historische Entwicklung betont, die zwar durch die Auseinandersetzung mit Rom beeinflusst aber nicht notwendigerweise determiniert wurde. In der Folge ist eine ganze Reihe von Arbeiten erschienen, die ein detaillierteres Bild der Mächtekonstellationen und machtpolitischen Rahmenbedingungen erlauben, innerhalb derer die römischen Akteure Entscheidungen fällten.83 Zugleich eröffnen sich hier Ansätze für eine multi-
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Salmon 1969. Stek/Pelgrom 2014, s. ebd., 11–34 zu den älteren Ansätzen. Bereits zuvor war auf den Optimierungsbedarf der bis dato vorliegenden Ansätze und Arbeiten verwiesen worden, s. Crawford 1995, 187–192; Fentress 2000, passim; Mouritsen 2004; Bispham 2006, 117–127; Lackner 2008, 215–226. Stek 2009; Stek/Pelgrom 2014; Stek/Burgers 2015; Termeer 2016. Smith 1996; Herring/Lomas 2000; Bradley/Isayev/Riva 2007; Bourdin 2012; Evans 2013; Scopacasa 2014; Aberson/Biella/Di Fazio 2014; Cooley 2016; Farney/Bradley 2017. Besonders Scopacasa 2016, 2019 hat in Bezug auf die Samniten eine sehr kritische Position zur römischen Machtentfaltung und zum Grad der Abhängigkeit der unterworfenen Gruppen eingenommen. Vgl. Stek 2009, 9–16.
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perspektivische Analyse, die aus den weitestgehend romanozentrischen, literarischen Quellen in dieser Form nur selten gewonnen werden kann.84 1.4.2 Archäologische Quellen zu den Bauten der Stadt Rom Neben dem besseren Verständnis der Organisation und Besiedlung des ager Romanus spielen die archäologischen Untersuchungen in der Stadt Rom selbst seit jeher eine große Rolle bei der Bewertung der Entwicklung der res publica, wie zum Beispiel die von italienischen Archäologen entwickelte These des „Grande Roma dei Tarquini“ zeigt.85 Diese interessanten Debatten zu den frühesten Bauphasen Roms spielen für die Fragestellung dieser Arbeit aber nur eine untergeordnete Rolle. Von elementarer Bedeutung ist dagegen die Entstehung zentraler öffentlicher Räume, die vor allem im 6. Jahrhundert auf eine Konsolidierung und wachsende Kohäsion der Bürgerschaft schließen lassen. Hierzu zählen unter anderem die Existenz eines befestigten Platzes auf dem Forum, das Comitium, sowie die Versammlung der Bürgerschaft in Waffen auf dem Campus Martius außerhalb des Pomeriums.86 Die Anlage des im mittelitalischen Vergleich gigantischen Iuppiter Optimus Maximus-Tempels gegen Ende des 6. Jahrhunderts legt beredtes Zeugnis über die herausgehobene Stellung Roms ab und lässt außerdem auf ein fortgeschrittenes Organisationsniveau und einen zentralen Gestaltungswillen schließen, ohne die ein solches Vorhaben kaum umsetzbar gewesen wäre.87 Während das 5. Jahrhundert keine vergleichbare Bautätigkeit erlebte, wartete das 4. Jahrhundert mit einer regen Aktivität auf, die sich unter anderem in der Befestigung der Stadt sowie signifikanten Erweiterungen und Umbauten des Forum Romanum niederschlug. Gerade der Bautätigkeit in den Herzkammern des politischen Lebens kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da solche Areale fundamental für die Konservierung und ständige Aktualisierung kollektiver Erinnerungen waren.88 Diese Überlegungen hat Karl-Joachim Hölkeskamp in zahlreichen Aufsätzen zu einem ‚monumentalen‘ Ansatz ausgebaut, demzufolge Denkmäler und Bauten der 84 85
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Zur romanozentrischen Perspektive s. Mehl 2001, 17–21; Mouritsen 2006, 27–31. Geprägt von Pasquali 1936. Dazu Alföldi 1963, 318–335; Cristofani 1992; Cornell 1995,156–172 und 208–209 mit deutlicher Kritik; Gabba 2000, 235–244; Forsythe 2005, 82–93; Lomas 2017, 143–150. Der entschiedensten Verfechter bleibt Carandini 1997 (dt. Übers. 2002), 2004, 2007, 2011; vgl. Lomas 2017, 143–150. Zur frühen Phase der Besiedlung s. außerdem Ammermann 1990; Ziolkowski 2004; Fulminante 2014, 66–104; Bradley 2020, 138–236. Eine kritische Zusammenfassung bieten Kolb 2002, 57–108 und Wiseman 2013. Smith 1996, 150–184. Zum Comitium: Coarelli 1983a, 119–174; Ammerman 1990, 1996; Amici 2005; Humm 2014, 73–77; Bradley 2020, 151–155. S. a. Russell 2016, 62–71 zur engen Verbindung von Comitium und Forum. Hopkins 2016, 97–125. Hölscher 1998 bezog sich auf die öffentlichen Räume in Griechenland und wandte diese Überlegungen dann auch auf Rom an, Hölscher 2001, 188–202, 2009, 161–169.
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Stadt Rom als Teil eines vielfältigen Beziehungsgeflechts zu betrachten sind. Durch die wechselseitige Bezugnahme kreierte dieses Geflecht ein „milieu mémoire“, eine Erinnerungslandschaft für den populus Romanus.89 Diese Ausführungen spielen zum einen für die Überlieferungstradition eine Rolle, auf die noch einzugehen sein wird, zum anderen aber auch für die Einordnung der politischen Ereignisse, in deren Kontext die besagte Erinnerungslandschaft im Zuge des 4. Jahrhunderts geschaffen wurde.90 Folglich gilt es, die Baumaßnahmen, zum Beispiel die Umgestaltung der Rostra im Jahr 338, mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu korrelieren. Die vorliegenden Publikationen zur Architekturgeschichte der Stadt Rom haben hier zwar schon einen wichtigen Beitrag geleistet, können aber zwangsläufig den historischen Kontext der urbanen Entwicklungen nicht immer vollständig berücksichtigen.91 Dagegen haben neuere Arbeiten die Architektur und Baumaßnahmen der Frühzeit explizit im Kontext der weitreichenden Vernetzung sowie der politischen Verfestigung des römischen Gemeinwesens untersucht.92 John Hopkins’ „Genesis of Roman Architecture“ hat etwa die gleichzeitige Entstehung von „civic monuments“ und einer „much broader power structure and a much more nuanced political system“ im 6. und 5. Jahrhundert hervorgehoben und betont, dass Rom bereits vor der Aufnahme hellenistischer Einflüsse über einen lebendigen Kunst- und Architekturstil verfügte, der sich durch den intensiven Austausch mit den italischen Nachbarn auszeichnete.93 Mit Blick auf den konkreten Untersuchungszeitraum des 4. Jahrhunderts ist hier zudem die Arbeit „Building Mid-Republican Rome“ von Seth Bernard zu nennen, die eine minutiöse Analyse der republikanischen Bauprojekte und vor allem den damit verbundenen Kosten und organisatorischen Herausforderungen bietet. Zwar entfällt der
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Den Auftakt bildete die Betrachtung der engen gegenseitigen Bezüge zwischen Capitol, Comitium und Forum in Hölkeskamp 2001, 122–126. Neben Hölscher bezieht sich das Modell auf die Arbeiten des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz 1973, hierzu Hölkeskamp 2015. Besonders der ‚Schlagabtausch‘ zwischen Hölkeskamp und Wiseman im Rahmen des von Karl Galinsky herausgegebenen Sammelbands „Memoria Romana. Memory in Rome and Rome in Memory“ (= Galinsky 2014) bietet einen guten Überblick über Möglichkeiten und Grenzen des Ansatzes; s. a. Wiseman 1994c, 38–39. Hölkeskamp 2018 erläutert die konkrete Gestaltung und Wirkung des beschriebenen Geschichtsgeflechtes anschaulich am Beispiel der gens Fabia. Zur Definition der Erinnerungsorte s. a. Assmann 1999, 298–342; Walter 2004a, 155–179; Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp 2006, 11–14. Hölkeskamp 2012, 383–397. Vgl. dagegen Wiseman 1998, 38–43. S. etwa Cornell 1986; Kolb 2002 oder jetzt Grandazzi 2019. Eine Methodendiskussion der zunehmenden Arbeiten zur urbs bietet Kolb 2021. Ältere Arbeiten haben die Siegesdenkmäler eher isoliert betrachtet, s. etwa Hölscher 1980 zur Repräsentationskunst, Pietilä-Castren 1987 und Schmuhl 2008 zu Siegesmonumenten sowie Bergemann 1990 und Sehlmeyer 1999, 2000 zu den Ehren- und Reiterstatuen in Rom. Dagegen haben zuletzt Steinby 2012; Russel 2016; Hopkins 2016; Davies 2017a; Bernard 2018 und Patterson 2019 die architektonische Entwicklung der Stadt Rom stärker vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Rahmenbedingungen als auch in Interaktion mit diesen untersucht. Hopkins 2016, 35 und 168.
Die Schriftquellen zur Geschichte Roms im 4. Jahrhundert
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Löwenanteil der Arbeit auf die Errichtung der sogenannten Servianischen Mauer im Zuge des Kelteneinfalls, doch bietet sie darüber hinaus auch weitere anregende Überlegungen zu der Verknüpfung von Bauprojekten und wirtschaftlichen Veränderungen mit der politischen Entwicklung in Rom, etwa in Bezug auf die Zensur und die wachsende städtische Bevölkerung.94 Diese fallstudienartige Untersuchung wird durch den breiter angelegten Überblick von Penelope Davies ergänzt, die eine verschränkte Analyse von „Architecture and Politics“ vornimmt und hierbei architektonische Kontinuitäten und Innovationen vor dem Hintergrund der römischen Expansion und Politik betrachtet.95 1.5 Die Schriftquellen zur Geschichte Roms im 4. Jahrhundert Die Fülle an neuen archäologischen Studien rechtfertigt nicht nur eine erneute Annäherung an die Frühe Republik, sondern macht eine mit den Schriftquellen verknüpfte Untersuchung geradezu notwendig. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die immensen Probleme der Überlieferung zur Königszeit und der ‚Proto-Republik‘ für das 4. Jahrhundert nicht zutreffen, wie die antiken Autoren selbst konstatieren.96 Die Historizität einer ganzen Reihe von Ereignissen wird von kaum jemandem angezweifelt, etwa die Eroberung Roms durch die Gallier, die Öffnung des Konsulats durch die leges Liciniae Sextiae oder der Latinerkrieg. Quantität und Qualität des Quellenmaterials verbessern sich zudem noch einmal signifikant mit dem Einsetzen des Zweiten Samnitenkrieges.97 Außerdem liegt mit Livius’ zweiter Pentade immerhin ein zusam-
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Bernard 2018. Davies 2017a. Liv. 6.1–3: Quae ab condita urbe Roma ad captam eandem Romani sub regibus primum, consulibus deinde ad dictatoribus decemvirisque ac tribunis consularibus gessere, foris bella, domi seditiones, quinque libris exposui, res cum vetustate nimia obscuras, velut quae magno ex intervallo loci vix cernuntur, tum quod rarae per eadem tempora litterae fuere, una custodia fidelis memoriae rerum gestarum, et quod, etiam si quae in commentariis pontificum aliisque publicis privatisque erant monumentis, incensa urbe pleraeque interiere. Clariora deinceps certioraque ab secunda origine velut ab stirpibus laetius feraciusque renatae urbis gesta domi militiaeque exponentur. Auch das Werk des Claudius Quadrigarius setzte mit dem Keltensturm ein (FRH 14 F30 = Gell. 9.14.3, vgl. auch Plut. Num. 1.1), ebenso Pol. 1.6. In der Forschung wurde daher für die Existenz „eines Kernbestandes an historischem Material“ plädiert, auf dessen Grundlage sich plausible Rekonstruktionen vornehmen ließen. Cornell 2005, 53–58, (umgesetzt in Cornell 1989a/b im Rahmen des 7. Bandes der CAH und in Cornell 1995); Oakley 1997, 76–79, 100–102; Beck 2007; Hölkeskamp 2011, 27–28; Rich 2011, 9–13; Bradley 2020, 6–24. Ähnliche Argumente hat zuletzt Walter 2016 für die Königszeit vorgebracht. Vgl. dagegen die Kritik von Wiseman 1979a, 2008, 15–18; Kraus/Woodman 1997, 1–8; Bleicken 2004, 106–111 (mit einem Überblick der skeptischen Positionen), die den Schriftquellen zur römischen Frühzeit beinahe jeden Wert absprechen; s. dagegen wiederum Lendon 2007. Badian 1966, 2–3; Timpe 1972, 949–950; Oakley 1997, 22–23, 39–40; Cornell 2004, 118–120; Beck 2005a, 159–164; Humm 2005, 35–97; Rich 2018, 43–48.
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menhängender Bericht vor, der durch Diodoros und Dionysios weiter ergänzt wird. Dies hat Cornell zu folgender, treffender Einschätzung veranlasst: „It is sometimes said that little is known about early Roman history. Such a statement is however the product of a secondary historical judgement. On the face of it the period is extremely well documented“.98 Es gilt also zunächst die unterschiedlichen Quellenzeugnisse, die belastbare Informationen zur Geschichte der res publica Romana im langen 4. Jahrhundert konserviert haben könnten, einzuordnen und kritisch zu prüfen. Hierzu wird im Folgenden eine Einteilung in drei Ebenen vorgenommen, um zum einen die Transmission historisch relevanter Informationen nachzuzeichnen und zum anderen eine qualitative Gewichtung der verfügbaren Informationen vorzunehmen, die wiederum eine zentrale Rolle bei der Rekonstruktion der politischen Ereignisgeschichte spielen wird.99 1.5.1 Ebene I – ‚Structural Facts‘ Die erste Ebene besteht aus den Zeugnissen und Hinterlassenschaften, die allgemein für authentisch erachtet werden und orientiert sich dabei an Tim Cornells Überlegungen, wonach verschiedene „structural facts“ die Zeit überdauert und den Kern für die spätere Geschichtsschreibung und deren Ausschmückungen, der „narrative superstructure“, gebildet hätten.100 Die eingangs erwähnte Eroberung Roms durch die Kelten stellt ein Beispiel für die Zulässigkeit dieser Annahmen dar, denn ohne Zweifel hatte sich dieses Ereignis, ebenso wie zahlreiche weitere, einschneidende Entwicklungen, tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und blieb durch die räumliche Verankerung in der Topographie der Stadt auf eindrucksvolle Weise in der Gegenwart der späteren Autoren präsent. Bauten auf dem Kapitol und Forum bildeten weitere unverrückbare Zeugnisse der Frühzeit und ‚monumentale Merkinseln‘ der römischen Geschichtskultur, deren historischer Hintergrund damit ebenfalls verankert wurde.101 Dieser Ansatz folgt den Ausführungen Hölkeskamps zur elementaren Bedeutung und Beständigkeit von Erinnerungslandschaften und ergänzt dieses ‚monumentale Gedächtnis‘ der Stadt Rom um die Erinnerungslandschaften der umliegenden und ver-
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Cornell 1986, 67–68. Raaflaub 2005, 5–23 zu den methodischen Problemen, gleichwohl betont Raaflaub 1996, 296–300 ganz klar die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dieser formativen Phase der res publica. S. a. Cornell 2005, 61–67. 100 Cornell 2005 (zuerst 1986), 53–59 zur Unterscheidung von „structural facts“ und „narrative superstructure“. S. hierzu auch Cornell 1995, 1–30. 101 Walter 2004a, 131–143, Zitat 137. Hölkeskamp 2004b, 137–168, Busta Gallica; Coarelli LTUR 1 (1993), 203–204, Walter 2004a, 204–207. Rostra und Siegesmonumente: Davies 2017a, 29–31. Zu den Samnitenkriegen Ebd. 61–65.
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bündeten Städte, die zumindest bis zum Bundesgenossenkrieg ihre kulturelle Eigenständigkeit und Geschichte pflegten.102 Für die historische Einbettung und Strukturierung derartig konservierter Informationen stand den frühen römischen Historiographen in Form der fasti consulares ab 366 eine belastbare Grundlage zur Verfügung.103 Deren Zuverlässigkeit dürfte nicht zuletzt darauf fußen, dass die Konsuln die eponymen Jahresbeamten waren, deren Namen für die Berechnung des bisweilen erratischen Kalenders und für Datierungsfragen unersetzlich waren.104 Weitere belastbare Informationen dürfte die überschaubare Zahl an offiziellen, inschriftlich festgehaltenen Dokumenten beigesteuert haben, etwa die öffentlich einsehbaren Verträge mit Karthago, das foedus Cassianum sowie die enge Kooperation mit dem etruskischen Caere.105 In geringerem Maße dürfte dies auch für 102
Buchet 2015 demonstriert die Verankerung und langfristige Wirkung der latinischen Lokalgeschichten am Beispiel Tiburs. Darüber hinaus erlauben zahlreiche Einzelstudien zu den Städten Latiums deren stärkere Berücksichtigung. S. etwa Brandizzi Vittucci 2000 zu Antium, Gnade 2002 zu Satricum, Martinez-Pinna 2004 zu Tusculum, Di Fazio 2006 zu Fundi und auch Leighton 2004 zum etruskischen Tarquinia. 103 Abweichungen liegen vor allem für das 5. Jahrhundert vor. Im 4. Jahrhundert beschränken sich die Ungenauigkeiten im Wesentlichen auf praenomina, cognomina, die Reihenfolge der Magistrate sowie einzelne Unklarheiten aufgrund der schwierigen Diodoros-Handschriften. Zu den vier Varianten s. Degrassi 1947 (= Insc. It. 13.1). Oakley 1997, 38–57 bietet einen prägnanten Überblick und sieht die fasti consulares als zuverlässig an, während die Überlieferung anderer Magistrate kritisch gesehen wird. Die Kritik von Cic. Brut. 62 multa enim scripta sunt in eis quae facta non sunt, falsi triumphi, plures consulatus, genera etiam falsa et ad plebem transitiones … bezieht sich laut Ridley 1983, 375–381 hauptsächlich auf das 5. Jahrhundert. Zur vorsichtig positiven Bewertung der fasti: Hanell 1946, 65–70, Taylor/Broughton 1949, 3–14; Taylor 1950, 84–95; De Sanctis 1956, 1–17; Frier 1975, 41, 83–85; Drummond 1989b, 173–178; Cornell 1995, 218–223; Forsythe 2005, 151–156; Hölkeskamp 2011, 21, 41–42; Smith 2011, 20–26. Auch der ansonsten skeptische Bleicken geht von der Zuverlässigkeit der fasti ab 366 aus, s. Bleicken 2002, 110–112. Dagegen erachten Werner 1963, 219–294; Wiseman 1979a, 9–26; Rüpke 1995b, 184–202 und Mora 1999 den Wert der fasti für gering, ohne dass diese Thesen sich durchgesetzt hätten, ebenso wenig Walter 2004a, 201. Zu Rüpkes Argumenten s. Feeney 2007, 287 bes. Anm. 25. Rüpke 2012, 86–91 revidiert seine frühere Position zu der Angabe der Konsuln in den fasti Antiates maiores und erachtet eine Nennung der vorangegangenen Konsuln bis zur gallischen Eroberung für möglich. Bezüglich der inhaltlichen Angaben bleibt er von dem fiktionalen Charakter der fasti Capitolini überzeugt, postuliert aber die Authentizität der Auguralfasten, ebd. 46–49. Zum möglichen Inhalt solcher Listen ebd. 95–103. Einen Überblick der älteren Fastenkritik bieten Werner 1963, 219–239, 264–296 und Ridley 1980. Lanfranchi 2015, 34–85 bespricht die jüngere Forschung unter besonderer Berücksichtigung der tribuni plebis. 104 Hanell 1946, 95–117 geht von einer weitgehenden Zuverlässigkeit auch für das 5. Jahrhundert aus, vgl. dagegen Michels 1967, 215–217; Cels-Saint-Hilaire 1995, 157–171; Cornell 1995, 218–223; Feeney 2007, 167–187. Eine wesentliche Rolle kommt der Kalenderreform des Ädilen Cn. Flavius im Jahr 304 zu (besonders Plin. nat. 33.19), s. Hanell 1967, 192–196. 105 Oakley 1997, 34–37. Zum foedus Cassianum: Dion. Hal. ant. Rom. 6.95.2; Liv. 2.33.4; Cic. Balb. 53. Foedus Gabinum: Dion. Hal. ant. Rom. 4.58.4; Varro ling. 5.33; das Bündnis wird zudem auf RIC 12, 363, 411 erwähnt (FOEDUS P. R. CUM GABINIS); s. Bruun 1967. Die Verträge mit Karthago hat Pol. 3.22 selbst begutachtet. Hierzu Werner 1963, 297–309 und Petzold 1999, 436–483 sowie Anm. 40 in diesem Kapitel. Dagegen hat Richardson 2008, 89–93 eine zu starke Synchronisierung der unterschiedlichen Quellenaussagen zu den Verträgen kritisiert. Intensive Handelskontakte sind aber archäologisch nachweisbar: La Rocca 1977; Forsythe 2005, 82–92; Bradley 2020, 197–210.
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die foedera mit den kleineren Nachbarstädten Gabii, Ardea, Capena, Caere und Tusculum zutreffen, die ebenfalls eine Verortung der römischen Expansion, ihrer Ziele und Folgen ermöglichen. Weitere Informationen boten die zahlreichen Kulte, Rituale und Tempel, die Rückschlüsse auf die römische Machtentfaltung und das Verhältnis Roms zu seinen Nachbarn zulassen. In diese Kategorie sind auch die tribus- und Koloniegründungen einzuordnen, deren überlieferte Daten für authentisch gehalten werden.106 Zusammengenommen bilden diese „structural facts“ die Grundlage für spätere antiquarische Studien, die sich im Zuge des 2. Jahrhunderts etabliert hatten und sich unter anderem mit juristischen, politischen, militärischen, chronologischen und kulturhistorischen Themen der römischen Geschichte beschäftigten. Besonders nachdrücklich hat Arnaldo Momigliano auf den Wert der antiquarischen Werke hingewiesen, deren Verfassern es primär um die Erforschung und Untersuchung von Einzelfragen ging.107 Von dem berühmtesten Vertreter der Gattung, M. Terentius Varro, ist lediglich sein agrar wissenschaftliches Werk de re rustica komplett erhalten geblieben, von den übrigen 54 Werken liegen im Fall der de lingua Latina sechs Bücher und zahlreiche Fragmente vor.108 Für den Untersuchungszeitraum von höchstem Interesse ist auch M. Verrius Flaccus, Grammatiker und Tutor der Enkel des Augustus am kaiserlichen Hof, dessen de verborum significatu sich in alphabetischer Reihenfolge mit den römischen Altertümern auseinandersetzte. Unglücklicherweise liegt dieses Werk jedoch nur in einer auf 20 Bücher verkürzten Version des Sextus Pompeius Festus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. vor, deren erste Hälfte schwer beschädigt wurde, aber durch die Epitome des Mönchs Paulus Diaconus ergänzt werden kann.109 In wesentlich besserem Zustand präsentiert sich dagegen die enzyklopädische naturalis historia des C. Plinius Caecilius Secundus (maior) aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., die in 37 Büchern ebenfalls eine Vielzahl an Informationen aufweist.110 Daneben bieten Valerius Maximus’ facta et
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Am eindrucksvollsten sind die berühmten Goldbleche von Pyrgi, s. die Beiträge in Belleli/Xella 2016. S. Momigliano 1963, 99–101 und Rüpke 2012, 139–152 zur rituellen Erinnerung sowie Moser 2019, 109–140. Zu den frühen Kulten Alföldi 1963, 85–100, 296–318; vgl. Linke 2013, 81–86 entgegen der Interpretation Alföldis. Taylor 1960, 1–9; Hölkeskamp 2011, 28. Zu Tribus- und Koloniegründungen s. Boos 2011, 20–24, die sich der Annahme von Oakley 1997, 62 anschließt, wonach diese Daten in Archiven einsehbar waren. Momigliano 1950, 286–292 betont den Wert der systematischen Herangehensweise und rückt die antiquarischen Werke in den Fokus der althistorischen Forschung (s. die Beiträge in Miller 2007). Hierin ist ihm die Forschung gefolgt: Drummond/Ogilvie 1989, 9–11; Rawson 1990; Gabba 1991, 96–98; Cornell 1995, 18–26; Oakley 1997, 33–34; Sehlmeyer 2003, 163–169; Stevenson 2004; Forsythe 2005, 64–66; Bravo 2007; MacRae 2018. Cornell 1995, 19–21; Ridley 2013, 37–41. S. Baier 1999 und Cardauns 2001 für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Varros Wirken. „The result, a combined Paulus-Festus, with occasional additions, is a mess“ wie Cornell 1995, 21 richtig feststellt, bietet aber unschätzbare Einblicke in die frührömischen Institutionen. Eine Einführung bieten Schanz 1979, 361–366 und Pieroni 2004, 9–37. Murphy 2004.
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dicta memorabilia sowie Aulus Gellius’ noctes Atticae zahlreiche Verweise auf älteres antiquarisches Material, ebenso wie die Vergil-Kommentare des spätantiken Grammatikers Servius, die im 9. Jahrhundert n. Chr. substantiell erweitert wurden, sowie der imaginäre Dialog in den Saturnalia des spätantiken Philosophen Macrobius.111 Insgesamt stand und steht also ein durchaus beachtlicher Fundus an Quellen von unterschiedlicher Qualität zur Verfügung, die im Einzelfall detaillierte Informationen liefern können. 1.5.2 Ebene II – Knotenpunkte der Erinnerung Aus der Summe dieser Informationen ergibt sich dennoch nur ein äußerst dürres Gerüst voneinander isolierter und lediglich durch Namensketten verbundener Ereignisse. Vor diesem Hintergrund kommt der Tatsache besondere Bedeutung zu, dass bereits vor dem Einsetzen der ‚offiziellen‘ römischen Geschichtsschreibung mit Fabius Pictor diverse Darstellungen der römischen Frühzeit existierten. Mit dem Aufstieg zur zentralitalischen Regionalmacht in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts korrespondiert ein wachsendes Interesse der (West-)Griechen an Rom – dokumentiert in den Geschichtswerken von Timaios von Tauromenion und Hieronymos von Kardia.112 Letzterer legte als Eröffnung seiner Schilderungen des Pyrrhoskrieges eine kurze archaiologia Roms vor, die neben den Ursprüngen wahrscheinlich auch die wesentlichen Stationen der römischen Machtbildung im 4. Jahrhundert thematisierte.113 Von einer ähnlichen Schwerpunktsetzung darf man bei Timaios ausgehen, dessen (Sikelikai) Historiai größtenteils Ereignisse der Generation seines Vaters und seiner eigenen Lebenszeit bis zum Tod des Agathokles 289 abdeckten, wobei er auch auf Randgebiete der westlichen Mittelmeerwelt einging. Zudem verfasste Timaios ein weiteres Werk zu Pyrrhos, das dessen Feldzüge im Westen behandelt haben dürf-
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Valerius Maximus: Bloomer 1992; Skidmore 1996; Weileder 1998; Albrecht 2004, 852–859; Wiegand 2013, 147–183. Gellius: s. die Beiträge in Holford-Strevens/Vardi 2004, bes. Stevenson 2004, 138–155; Heusch 2011, 49–189. Macrobius: Kaster 2010; s. die Einleitung in Kaster 2011. Dion. Hal. ant. Rom 1.6–7. Die Eroberung Roms wurde laut Plut. Cam. 22.2–3 sowohl von Aristoteles als auch von Herakleides Pontikos festgehalten. Auch Theopompos BNJ 115 F 317 nahm hiervon Kenntnis (= Plin. nat. 3.57, der zudem noch Theophrast erwähnt). Die mythische Frühzeit Roms wurde im frühen 3. Jahrhundert von Diokles von Peparethos BNJ 820 T2 a-b (= FRH 1 F7a) behandelt, den auch Pictor nutzte. Zum wachsenden griechischen Interesse an Rom, s. Momigliano 1977a, passim; Pearson 1987, 30–36 zu den Vorgängern des Timaios; Vattuone 1991, 267–302; Gabba 1991, 1–22; Koptev 2010, 28–33; Baron 2013, 43–52; Manuwald 2015, 166–167; Humm 2016, 89–93; Bradley 2020, 16–18. Jacoby RE 8.2 (1913), 1540–1560. Engel 1972, 120–125; Hornblower 1981, 1–28; Meister 1990, 124– 126; Walter 2011, 30–32.
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te.114 Es ist anzunehmen, dass hierbei zumindest grob die Vorgeschichte der römischen Expansion erwähnt wurde, worauf auch die lang anhaltende Popularität und Autorität des Timaios bezüglich der Geschichte der westlichen Mittelmeerwelt hinweist.115 Eine ungefähre Vorstellung der großen Kriege ist auch in den Büchern XIV bis XX der Universalgeschichte des Diodoros vorhanden, in denen Schlüsselmomente – Veii, Keltensturm, leges Liciniae Sextiae, Latiner- und Samnitenkriege – erwähnt werden, aber auch ansonsten unbekannte oder umstrittene Ereignisse, meist militärischer oder diplomatischer Natur, auftauchen.116 Gerade weil Diodoros seine Beschreibung Roms zugunsten der griechischen Geschichte auf wenige spektakuläre Ereignisse beschränkt, ist die knappe Erwähnung mehrerer militärischer Auseinandersetzungen auffällig.117 Dasselbe gilt für die Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos, deren für den Untersuchungszeitraum relevante Bücher zwar nur fragmentarisch vorliegen, hier 114 115
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Explizit dazu Dion. Hal. ant. Rom. 1.6.1: ἔπειτα Τιμαίου τοῦ Σικελιώτου τὰ μὲν ἀρχαῖα τῶν ἱστοριῶν ἐν ταῖς κοιναῖς ἱστορίαις ἀφηγησαμένου, τοὺς δὲ πρὸς Πύρρον τὸν Ἠπειρώτην πολέμους εἰς ἰδίαν καταχωρίσαντος πραγματείαν. Pearson 1987, 255–259; Vattuone 2002, 178–192. Momigliano 1977a, 53–58; Pearson 1987, 49–51; Meister 1990, 131–137; Timpe 2007a, 34–40; Baron 2009, 17–19, 2013, 30–57 u. 106–111; Walbank 2002, 172–176 nehmen eine Darstellung wesentlicher Ereignisse der römischen Geschichte im Werk des Timaios an, s. a. Anm. 113 in diesem Kapitel. Laut Gellius 11.1.1 schrieb er de rebus populi Romani. Vattuone 1991, 268–273. Baron 2013, 38–42 vermutet zudem, das Werk zu Pyrrhos, das auch von Cic. Fam. 5.12.2 und Pol. 12.4.1 genannt wird, habe sich hauptsächlich mit Rom beschäftigt. Timaios’ Aufenthalt in Lavinium dürfte ihm den römischen Aufstieg vor Augen geführt haben, den er bis zum 1. Punischen Krieg beschrieb, BNJ 566 F 59 (= Dion. Hal. ant. Rom. 1.67.4). Zu seiner Wahrnehmung der römischen Geschichte und späteren Bedeutung s. Meister 1990, 55–56, 2020; Timpe 2007a, 26–31, 53–56; Humm 2016, 99–108. Die detaillierte Biographie des Aristodemos bei Dion. Hal. ant. Rom. 7.2–11 geht auf eine gut informierte griechische Quelle zur Lokalgeschichte zurück, als deren wahrscheinlichster Urheber Timaios gilt, hierzu bereits Cornell 1974, 207, s. a. Lepore 1976, 582–585. Dagegen geht Alföldi 1963, 56–72 von einer in Cumae verfassten Lokalchronik aus, ebenso Gabba 2000, 32–33; Purcell 2003, 30–32. Eine Neuinterpretation hat Gallia 2007, 62–67 vorgenommen, die einen stärkeren römischen Einfluss vermutet. Timaios scheint zudem eine Rolle bei der Synchronisierung der römischen und griechischen Zeitrechnung gespielt zu haben (Pol. 12.1.1), s. Timpe 2007a, 47; Christesen 2007, 277–289; Feeney 2007, 53–54; Baron 2013, 23–28. Meister 1967, 2–14 und Rathmann 2016, 200–241 zu den Quellen von Diodoros, die aber mit Vorsicht zu genießen sind, s. Bleckmann 2017. Ferenczy 1976a, 89–92; Cornell 1995, 3; Grossmann 2009, 84–87 betonen den Quellenwert des Diodoros für das 4. Jahrhundert trotz der spärlichen Behandlung der römischen Geschichte. Zurückhaltender sind dagegen Sacks 1990, 117–119; Oakley 1997, 106–108; Ruschenbusch 2004, 45–46; Forsythe 2005, 68–69. Die Frage nach Diodoros’ Vorlagen lässt sich letztendlich nicht klären, s. nur Cassola 1982, 728–751 mit der Würdigung durch Bandelli 2009, 35–45 sowie Rathmann 2016, 165–200. Eine Übersicht der diplomatischen und militärischen Unternehmungen des frühen Roms bietet Canali de Rossi 2004, 19–144. Diese weichen deutlich von den wenigen ausführlichen Berichten, etwa zum Kelteneinfall (Diod. 14.113–117) ab. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um authentisches Material handelt, zumal die frühesten Quellen zu den Ereignissen des 4. Jahrhunderts ebenfalls auf Kriege verweisen, s. etwa Duris von Samos BNJ 76 F 56a (= Diod. 21.6, wahrscheinlich aus Duris’ Biographie τὰ περὶ Ἀγαθοκλέα entnommen) zur entscheidenden Schlacht bei Sentinum 295. S. hierzu und zu Duris’ Rolle für die römische Geschichtsschreibung die Beiträge von Briquel, Baier und Guittard in Naas/Mahe-Simon 2015. Auch die die elogia Tarquiniensia bei Torelli 1975, 1–102 beziehen sich auf militärische Ereignisse.
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jedoch zum Teil gravierende Unterschiede zu den römischen Berichten aufweisen. Dionysios scheint sich sowohl an antiquarischen Werken als auch an griechischen Vorlagen orientiert zu haben, die besonders im Fall der Belagerung von Neapolis und des damit einhergehenden Beginns des Zweiten Samnitenkrieges eine detaillierte und von den römischen Autoren abweichende Beschreibung liefern.118 In komprimierter Form bietet auch Polybios einen kurzen Überblick über die frühen Etappen des römischen Aufstiegs zur italischen Großmacht.119 Hierbei wird mitunter übersehen, dass er durchaus in der Lage war, diese knappen Angaben weiter zu unterfüttern, etwa im Rahmen der Erwähnung des tumultus Gallicus von 225.120 Laut Timpe ist seine Gliederung auf die Rhomaika des Fabius Pictor zurückzuführen, allerdings verweist Polybios in seiner prokataskeue explizit darauf, dass er an die Werke des Timaios anknüpfen wolle und erwähnt diesen auch im Kontext des erwähnten tumultus Gallicus, was aber Fabius Pictor als Mittelsmann nicht ausschließt.121 Neben den griechischen Autoren ist die Existenz von zeitgenössischen römischen Informationen im Rahmen der annales maximi kontrovers diskutiert worden.122 Die jährlich vom pontifex maximus aufgestellte Tafel dokumentierte wohl hauptsächlich die Tätigkeiten der pontifices und Ereignisse, die auf göttliche Verstimmung zurückgeführt wurden, worunter neben einer verifizierbaren Sonnenfinsternis für den 21. Juni 400 auch dies nefasti und schwere Niederlagen fielen.123 Catos Polemik gegen die Tafeln belegt zwar die Dokumentation recht alltäglicher Probleme, schließt aber einerseits die Erwähnung von Ereignissen größerer Tragweite nicht aus und zeigt andererseits, dass die Aufzeichnungen durchaus Verwendung bei seinen Vorgängern Fabius Pictor und Cincius Alimentus gefunden hatten.124 Spätestens unter dem pontifex maximus 118
Gabba 1991, 93–147; Fromentin 2001, 136–142; Delcourt 2005, 47–70; Bradley 2020, 21–22. Wiater 2014, 33–45 schätzt den historischen Wert der Antiquitates gering ein, was für die Königszeit und das 5. Jahrhundert zutreffen mag. Dagegen hat aber Grossmann 2009, 28–53 überzeugend den Wert der Fragmente zum Ausbruch des 2. Samnitenkrieges hervorgehoben, die eine parallele und in diesem Fall plausiblere Überlieferungstradition wiedergeben. Die schlechte Reputation des Dionysios in der modernen Forschung geht im Wesentlichen auf den einflussreichen RE-Beitrag von Eduard Schwartz (1903) zurück, vgl. dagegen Wiater 2014, 5–13. 119 Pol. 1.6, 2.18–19. 120 Pol. 2.23–24. 121 Timpe 1972, 951–953; Walter 2003b, 137 Anm. 11; Beck 2013, 130–135. Pol. 2.16–19, bes. 2.16.15 zur Kritik an Timaios, hierzu Pearson 1987, 41–42; Vattuone 2002, 184–192; Baron 2009, 6–25, 2013, 58– 88. Zuletzt hat zudem Parmeggiani 2018 die Verbindung zwischen Polybios und den Geschichtsschreibern des 4. Jahrhunderts betont. 122 Umfassend hierzu Frier 1979, bes. 161–178. Cornell FRHist I, 141–159. Die wesentlichen Zeugnisse zu den annales maximi sind Cato FRH 3 F 4.1 (= Gell. 2.28.6), Cic. orat. 2.51–53; Serv. Aen. 1.373; Dion. Hal. ant. Rom. 1.73.1, s. Bucher 1987, 29–36. 123 FRL I Enn. Ann. 5.1 (= Cic. rep. 1.25). Walter 2004a, 204–207; Beck 2007, 261–264; Rüpke 2012, 147–148; Rich 2018, 21–23. 124 Cato FRH 3 F 4.1 (= Gell. 2.28.6): Non lubet scribere, quod in tabula apud pontificem maximum est, quotiens annona cara, quotiens lunae aut solis lumine caligo aut quid obstiterit. Dagegen spricht Dion. Hal. ant. Rom. 1.73.1, von einer regelmäßigen Nutzung der Tafeln. Trotz der Geringschät-
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P. Mucius Scaevola wurden die – in welcher Form auch immer vorhandenen Tafeln – in 80 libri zusammengefasst, wobei die Frage nach dem Inhalt und einer möglichen narrativen Ausfüllung umstritten bleibt.125 Es ist gut möglich, dass hierbei weiteres Archivmaterial berücksichtigt wurde, zum Beispiel das Archiv des Ceres-Tempels.126 Selbst wenn es in diesem Kontext zu einer Expansion der ursprünglichen Informationen gekommen sein sollte, hätten die frühen Geschichtsschreiber mit den nicht editierten Tafeln gearbeitet. Insgesamt ist am ehesten dem von Rich, Beck und Walter vorgeschlagenen Mittelweg zu folgen, wonach die annales maximi wohl nur sporadisch herangezogen worden sind.127 Spektakulärer und für das kollektive Gedächtnis prägender dürften dagegen historische Inhalte gewesen sein, die ab 364 im Kontext der ludi scaenici als Teil der ludi maximi bzw. Romani aufgeführt worden sein könnten.128 Zu Beginn dürften diese Spiele vor allem einen religiösen Charakter gehabt haben, doch hält Wiseman auch die Verwendung historischer Inhalte für plausibel. Dagegen hat Flower zu Recht die miserable Quellengrundlage ins Feld geführt sowie die ephemere Praxis der Aufführung der fabulae praetextae, die eine langfristige Konservierung historisch relevanter Informationen verhindert hätte.129 Obwohl erst mit dem Epos bellum Punicum und der fabula praetexta Clastidium des Kampaners Cn. Naevius die ersten Werke greifbar sind,
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zung Catos verweist das Fragment auf die Existenz von Pontifikalaufzeichnungen für die römische Frühzeit, Rich 2018, 19–22; s. a. Cornell FRHist I, 157 und Beck/Walter FRH I, 32–37. Zu Catos Herausforderung der von Fabius Pictor etablierten Geschichtsschreibung s. Gotter 2003, passim. Frier 1979, 115–135; Cornell FRHist I, 151–156, 2018, 24–27. Liv. 3.55.13, vgl. Zon. 7.15. Zum Ceres-Tempel: Bonniec 1958; Cazanove 1990; Spaeth 1996, 6–11, s. hierzu aber die kritischen Anmerkungen von Ernst 1990, 18–28 und Forsythe 2005, 173–175. Laut Alföldi 1963, 167–168 nahm Cn. Flavius zusätzliches Material in die annales maximi auf. Z. B. Liv. 10.23.1. Ogilvie 1976, 16–19; Timpe 1988, 282–284; Oakley 1997, 24–27; Cornell FRHist I, 156–158, ebenso Beck/Walter FRH I, 36–37 und Hölkeskamp 2011, 24–28 gehen von der Überlieferung einiger relevanter Informationen aus, pointiert Fritz 1950, 34–36. Werner 1963, 38–40 und Cornell 1995, 13–16 sind bezüglich des Informationsgehalts der annales maximi noch zuversichtlicher. Vgl. hierzu Forsythe 1994, 53–73, der entgegen Frier 1979, 179–200 zeigen konnte, dass die Annales bereits im 2. Jahrhundert einsehbar waren. Forsythe 2000, 5–8 vermutet zudem eine Kompilation durch N. Fabius Pictor. Vgl. dagegen Rawson 1971, 158–169. Rüpke 1993, 169–178, 2012, 51–54 plädiert für ein Einsetzen der Aufzeichnungen im Jahr 249 mit Ti. Coruncanius und billigt den commentarii pontificum damit zumindest Kenntnisse bis zum Latinerkrieg zu. Rich 2018, 23–24 führt dies allerdings auf eine Ausweitung der Pontifikalaufzeichnungen im Laufe des 4. Jh. zurück; ebenso Bradley 2020, 10–13. Skeptischer sind dagegen Bucher 1987, 38–39; Walter 2004a, 196–201; Oakley 2005, 479–484. Zuletzt hat Elliot 2013, 23–30 Argumente für eine starke Beeinflussung der von Scaevola zusammengestellten Bücher durch das Werk des Ennius vorgebracht. Bernstein 1998, 119–123. Der ausführliche Bericht dieser Neuerung bei Liv. 7.2 und Val. Max. 2.4.4 könnte auf Varros antiquitates divinae oder de originibus scaenicis zurückgehen; Oakley 1998, 40–48, 776–777; s. a. Suerbaum 2002 84–86, 146–150. Wiseman 1994a, 16–36, 1995, 129–38, 1998, 1–74; Cornell 1995, 11–12; Boyle 2006, 1–10; Ginsberg 2015, 223–227, vgl. dagegen Flower 1995, 189, ebenso Manuwald 2001, 91 (inkl. sämtlicher Fragmente: 131–258); Walter 2004a, 75–83 ist skeptisch hinsichtlich der Konservierung historischer Inhalte, verweist aber auf die politische Sprengkraft der Aufführungen. Eine kategorische Ablehnung erfährt Wisemans Theorie durch Keaveney 2006.
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könnten Wisemans Überlegungen jedoch insofern zutreffen, als die Spiele und Theateraufführungen zentrale historische Ereignisse performativ verarbeiteten und memorierten.130 Mit den beiden fabulae praetextae des L. Accius, Aenadae aut Decius und Brutus, liegen jedenfalls gesicherte Angaben zu Schlüsselereignissen der römischen Geschichte vor, die im Fall des Decius Ereignisse des Latinerkrieges und der Samnitenkriege thematisierten.131 Dieser Tradition blieb auch der Messapier Q. Ennius verhaftet, der zwei verlorene praetextae, Ambracia und Sabinae, verfasste, vor allem aber mit seinen annales das römische ‚Nationalepos‘ vorlegte und enormen Einfluss auf die anschließende römische Geschichtsschreibung nehmen sollte.132 In den Büchern 4 bis 6 behandelt Ennius die Geschichte der Republik bis zu Pyrrhos, wobei sich wohl große Teile des sechsten Buches mit den Taten des Epirotenkönigs beschäftigten. Für seine Darstellung verwendete er offenbar auch Informationen zu Magistraten, Triumphen, Feldzügen und religiösen Vorgängen, um seinen Worten Autorität zu verleihen.133 Selbst wenn diese Details lediglich der Legitimation des Werkes dienten, musste Ennius sie dennoch zunächst aus vorliegenden Quellen extrahieren, zumal er als Peregriner auf den Erwerb von Informationen zur römischen Geschichte angewiesen war. Möglicherweise kam Ennius hierbei seine exzellente Vernetzung in der römischen Oberschicht, die sich in der Lobpreisung prominenter nobiles wie App. Claudius Caecus und M’. Curius Dentatus widerspiegelt, zugute und eröffnete ihm den Zugriff auf offizielle Dokumente und Aufzeichnungen der großen gentes.134 130
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Walter 2004a, 221–229 betont in diesem Kontext die Krisensituation des 2. Punischen Krieges, in der auf frühere Erfolge verwiesen werden musste; s. a. Bernstein 2000. Auch frühere Heldentaten konnten hier aufgegriffen werden, Ginsberg 2015, 227–233. Vgl. Bernstein 1998, 155–157; Manuwald 2001, 128–129, 2011, 22–29. Außerdem scheint gerade Naevius vor politischen Inhalten nicht zurückgeschreckt zu sein (Gell. 17.21.45), Suerbaum 2002, 108–115. Laut Guittard 1984 habe Accius als Vorlage für die livianische Beschreibung der devotio des P. Decius Mus im Latinerkrieg gedient. Boyle 2006, 109–113; Manuwald 2011, 216–224; s. hierzu Kapitel 7.1. Zur Forschungsgeschichte zum römischen Geschichtsdrama s. Manuwald 2001, 9–13; Albrecht 2004, 74–96; Walter 2004a, 74–83. Prinzen 1998, 285–325; Mutschler 2000; Walter 2004a, 258–279. Elliott 2013, 18–23, 38–40 und Kraus 2020 bieten einen aktuellen Überblick des Forschungsstands, s. a. Goldberg/Manuwald 2018, XXI–XXXVIII zu Editionen und Kommentaren. Fisher 2013, 87–126. Fabrizi 2012, 32–39, 119–134 hat die annales eher als Geschichte des Aufstiegs Roms unter teilweiser Verwendung historisch zuverlässiger Materialien interpretiert, vgl. Spielberg 2020, 163–166. Dagegen geht Elliott 2013, 198–232 von massiven Verfälschungen und wenig verwertbarem historischen Material aus. Skutsch RE 5,2 (1905), 2590–2592 zu den Kontakten des Ennius in Rom. In der Regel wird die korrekt überlieferte Sonnenfinsternis bei Cic. rep. 1.25 (= FRL I Enn. Ann. 4.4) als Beweis für die Nutzung der annales maximi angesehen. Dementsprechend hoch wurde der historische Wert des Werks eingeschätzt, Skutsch 1968, 1–2, 9–14; Jocelyn 1972, 1008–1009; O’Neal 1988, 35–39. Bezüglich der Entwicklung des annalistischen Schemas durch Ennius haben Rüpke 1995b, 199–202, Gildenhard 2003, 95, 112–113 und Elliott 2013, 19–73 die Verbindung zwischen den annales und den annales maximi zu widerlegen versucht. Dies bedeutet aber nicht automatisch eine Minderung des historischen Werts, Beck/Walter FRH I, 40–44; Rich 2018, 37–38.
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1.5.3 Ebene III – Das Gewebe der Erinnerungen135 Ennius übte ohne Zweifel einen immensen Einfluss auf die anschließenden Geschichtswerke aus. John Rich hat diesen Sachverhalt mit der stärkeren Berücksichtigung der Rhomaika durch Ennius begründet, dessen Werk damit tief in der römischen Geschichtsschreibung verankert worden sei.136 Fabius Pictor war nach römischer Auffassung der Begründer ihrer Geschichtsschreibung, doch fand er für seine Rhomaika, die er gegen Ende des Zweiten Punischen Krieges verfasste, keineswegs ein Vakuum vor.137 Durch die Auswahl, Aufbereitung und Konzeption seines Stoffes nahm er vielmehr die Rolle eines Archegeten der römischen Geschichtsschreibung ein. Für Pictors Behandlung der frühen Geschichte Roms hat Dieter Timpe eine eher knappe Zusammenfassung der Zeit ab dem Dezemvirat vermutet, die sich an den militärischen Konflikten orientiert habe und dann mit dem 3. Jahrhundert einer ausführlichen Darstellung gewichen sei. In der Konsequenz ergab sich daraus das „Sanduhrmodell“ einer ausführlichen Beschreibung der mythischen Früh-138 und eigenen Lebenszeit, dem die Forschung, trotz Abweichungen in Einzelfragen größtenteils gefolgt ist. Zuletzt haben allerdings Cornell und Bispham im Rahmen der „Fragments of the Roman Historians“ begründete Zweifel an dieser Interpretation angemeldet und auf die Unmöglichkeit einer genauen Einteilung des Werkes auf Basis der Fragmente hingewiesen.139 Daraus ergibt sich zwar die Möglichkeit, dass Pictor den Zeitraum des 4. Jahrhunderts detaillierter beschrieben hat als bisher angenommen, doch muss dies letztendlich Spekulation bleiben. Die von Dionysios bezeugte Kürze der nur summarisch zusammengefassten (κεφαλαιωδῶς) Abschnitte zur römischen Frühzeit unterstützt jedenfalls die Annahme einer Verarbeitung authentischer Vorlagen, da offenbar weder Ausschmückungen noch Erfindungen vorgenommen wurden, um das dürre Informationsgerüst auszufüttern. Gerade für das ausgehende 4. sowie das 3. Jahrhundert darf zudem davon ausgegangen werden, dass der um 270 geborene Fabius Pictor sowohl auf Zeitzeugen als auch auf die zahlreicher werdenden Siegesmonumente und
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Hölkeskamp 2012, 380–414, „Im Gewebe der Geschichte“. Rich 2018, 38–39. Cornell 1986, 68–69; Timpe 1988, 276–284 und Momigliano 1990, 100–101 vermuten außerdem die Verwendung des Timaios. S. a. Dillery 2002, 18–21 zu den griechischen Vorlagen Pictors. SEG 26,1123. Timpe 1972, 948–953, so auch Kierdorf 2002, 403–404 und Beck 2003, 76–78; s. Dion. Hal. ant Rom. 1.6.2 und auch Cic. orat. 2.51–53. Die von Timpe vorgenommene Unterteilung kritisieren Northwood 2007, 102–103 und Cornell FRHist I, 170–173. Rich 2018, 42–48 geht von thematischen Schwerpunkten aus; exemplarisch hierzu FRH 1 F 23. Aufgrund der Verwendung des Griechischen ist auf einen griechischen Adressatenkreises geschlossen worden: Gelzer 1933, 130–142; Momigliano 1990, 88–106; Dillery 2002, 21–23; Kierdorf 2002, 411; Cornell FRHist I, 160–178; Feeney 2016, 173–176.
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Aufzeichnungen dieser Zeit zurückgreifen konnte.140 Damit bleibt Fabius Pictor zeitlich relativ nah an der Geschichte des vorherigen Jahrhunderts, in der die gens Fabia eine respektable Rolle gespielt hatte, die sich auch in der Familientradition niedergeschlagen haben dürfte.141 Jan Assmann hat in diesem Kontext auf die Leistung des kulturellen Gedächtnisses verwiesen, das mittels Ritualen, kulturellen Praktiken, aber auch Bauwerken und Aufzeichnungen in der Lage gewesen sei, Wissen über einen längeren Zeitraum zu konservieren. Fabius Pictor dürfte zudem aufgrund von mündlichen Überlieferungen, die laut der Oral-Tradition-Forschung wesentliche Informationen über die Geschichte der letzten drei Generationen zu bewahren vermochte, zumindest über die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts vergleichsweise gut informiert gewesen sein.142 In relativ fester Form scheint die römische Geschichtserinnerung bereits in der letzten Dekade des 4. Jahrhunderts in einem Selektions- und Aushandlungsprozess kanonisiert worden zu sein, wofür die Öffnung der Priesterämter und auch die Publikation des Kalenders durch Cn. Flavius im Jahr 304 spricht. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die transvectio equitum eingeführt, die eine kollektive Inszenierung der Oberschichtsangehörigen im öffentlichen Raum erlaubte, ebenso wie die ab diesem Zeitpunkt einsetzende Bautätigkeit erfolgreicher nobiles in der Stadt.143 Beide Punkte hätten laut Wolfgang Blösel zu einer Intensivierung der aristokratischen Selbstdarstellung geführt,
140 Frier 1979, 21–22, 274–275. Die deutliche Kritik von Alföldi 1963, 123–175 bezieht sich vornehmlich auf das 5. Jahrhundert. C. Fabius Pictor hatte 304 den Tempel der Salus mit Wandgemälden ausgeschmückt, wahrscheinlich mit historischen Themen, Plin. nat. 35.19, Cic. Tusc. 1.4, Val. Max. 8.14.6. Beck/Walter FRH 1, 55–61; Cornell FRHist I, 161–163. Möglicherweise existierten auch Aufzeichnungen der fetiales, die im 4. Jahrhundert regelmäßig in Erscheinung treten, Turelli 2011, 37–53. Eine Erörterung der Siegesmonumente im Kontext römischer Erinnerungsformen bieten neben den schon erwähnten Arbeiten (Anm. 89 und 92 in diesem Kapitel) Itgenshorst 2005, 89–99; Walter 2004a, 112–121; Muth 2014. Ähnliche Malereien nennen Varro ling. 7.57 für den Tempel des Aesculapius und Fest. 228L für die Tempel des Vortumnus und Consus, in denen die triumphierenden Konsuln dargestellt worden seien. Daneben dürfte Pictor auch über die Keltenkriege und die Geschichte der Kelten informiert gewesen sein, da er in den 230er Jahren selbst gegen Ligurer und Gallier kämpfte (Plin. nat. 10.71; Eutr. 3.5). 141 Cornell FRHist I, 176–178. Dagegen hat Alföldi 1963, 117–147 Pictor eine weitgehende Fälschung der römischen Frühzeit unterstellt, während Momigliano 1977a, 104 zu einer vorsichtig optimistischen Einschätzung tendiert. Burck 1992, 18–20 geht von einer relativ sicheren, aber romfreundlichen Schilderung der Ereignisse aus, um ungünstigen griechischen Darstellungen entgegenzutreten, s. a. Petzold 1999, 458–461; Beck 2003, 79–87. Basierend auf diesen Überlegungen hat Kierdorf 2002, 401–402 vermutet, dass Pictor bereits nach dem 1. Punischen Krieg mit der Arbeit an seiner Monographie begonnen habe. 142 Assmann 2007, 48–49. Grundlegend Halbwachs 1950, 100. Zur ‚oral tradition‘ s. Vansina 1985 und Finnigan 1996. Die Rolle der mündlichen Überlieferung für die römische Geschichtsschreibung thematisieren insbesondere Timpe 1988; Ungern-Sternberg 1988; Burke 1991, 292–295; Flower 2010, 70–74; Rüpke 2012, 139–152. Vgl. dagegen Wiseman 1994b, der den historischen Gehalt mündlicher Überlieferungen geringschätzt. 143 Liv. 9.46.15; Val. Max. 2.2.9; Vir. ill. 82.2; Ampel. 18.6. Zum Zusammenspiel zwischen Prozessionen und urbaner Topographie s. Hölkeskamp 2015, 24–47; Walter 2004a, 118–131.
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in deren Folge die pompa funebris zum etablierten, öffentlichen Ritual geworden sei, in der sich die Taten der gentes und der res publica zu einer glorreichen Erfolgsgeschichte vermischten, wie auch die Familiengräber der Cornelii Scipiones an der Via Appia und der Fabii auf dem Esquilin aus dem 3. Jahrhundert eindrucksvoll zeigen. Folgt man diesen Überlegungen, dann wäre anzunehmen, dass die feste Etablierung der pompa funebris als Mittel der aristokratischen Legitimation und Inszenierung eine Rekonstruktion der politisch erfolgreichen Ahnen erforderte.144 Aufgrund der permanenten nobilitären Konkurrenz dürfte dieser Vorgang einer gegenseitigen Kontrolle durch sämtliche gentes unterlegen haben. Im Kontext des Totengedenkens akkumulierten die großen Familien somit regelrechte Archive, da sowohl die imagines der Verstorbenen mit kurzen tituli aufbewahrt wurden als auch Aufzeichnungen der am Ende einer Prozession zu haltenden laudatio funebris.145 Auch die überlieferten carmina convivalia könnten Ruhmestaten einzelner Familien konserviert haben, wenngleich kaum etwas über die Details, geschweige denn den Inhalt derselben bekannt ist.146 Solche Dokumente waren für das symbolische Kapital einer Familie unerlässlich, da hierdurch die Ruhmestaten der Familienmitglieder präsentiert und aktualisiert wurden, womit ihnen eine wichtige Funktion im Rahmen der internen Hierarchisierung der Nobilität zukam.147 Dementsprechend bemüht werden die Familien gewesen sein, diese Wertanlagen zu konservieren, besonders wenn es um Magistrate aus den ‚epischen‘ Kriegen der Frühzeit wie L. Cornelius Scipio Barbatus ging, auf deren Rolle als ‚Gründerväter‘
144 Blösel 2000, 37–45. Die Wandmalerei der Tomba degli Scudi in Tarquinii spricht für einen Entstehungszeitpunkt im 4. Jahrhundert, s. Steingräber 1985, 349 Nr. 109. Eine Strukturierung der Erinnerung war hierbei alleine aufgrund der wichtigen Funktion für die Hierarchisierung der Nobilität notwendig, Beck 2005b, 84–90. Die memoria der gentes bildete nach Blösel 2003, 53–67 das „Rückgrat der kollektiven Erinnerung in Rom“ (67), so auch Flaig 1995, 114–148; Beck 2005b, 89–90; Hölkeskamp 2011, 221–227, 2017, 218–221; Bradley 2020, 3–4. Flower 1996, 63, 122–126 und Giuliani 2008, 153 vermuten eine Entstehung der pompa funebris gegen Ende des 4. Jahrhunderts. Zur Wirkung Hölkeskamp 2011, 234–236, 2017a, 218–221. Auch die bekannten Grabkammern aus dem frühen 3. Jahrhundert legen dies nahe. Fabiergrab: Coarelli 1973, 200–208, 2011, 156–160; Holliday 2002, 83–91. Scipionengrab: Coarelli 2011, 171–175; Flower 1996, 160–180; Zevi LTUR 4 (1999), 281–285. Für einen Überblick der gentilen Erinnerungspraktiken in der Mittleren Republik s. Itgenshorst 2005, 125–147; Hölkeskamp 2018, passim. 145 Pol. 6.53–54; Plin. nat. 7.139–142 zur laudatio des Jahres 221 für L. Caecilius Metellus. Flower 1996, 97–114,128–184, Walter 2004, 89–109. Hinsichtlich des Einsetzens familiärer Aufzeichnungen verweist Wikander 1993 in seiner Studie zu den Münzmeistern der spätrepublikanischen Zeit auf die Tatsache, dass die Münzbilder sich hauptsächlich auf die Darstellung von Ahnen nach 366 beschränkten. Einen umfassenden Überblick zur Entwicklung der römischen Leichenrede bietet Kierdorf 1980. 146 Cic. Brut. 75, Tusc. 4.4; Dion. Hal. ant. Rom. 1.31.1, 8.62.3. Momigliano 1969b, 313–335; Walter 2004a, 70–75; Wiseman 2008, 236–241; Bradley 2020, 4–8. 147 Beck 2005b, 89. Hierauf wird auch die Verfestigung spezifischer Familiencharakteristika zurückgehen, Richard 1972; Walter 2003a, 258–268, 2004, 411–423; Richardson 2012, 21–56. S. Timpe 1988, 284–286 zur oft unterschätzten Verschmelzung von öffentlichen und privaten Erinnerungsstoffen aufgrund der Verflechtung der großen Familien mit den Geschicken der politischen Gemeinde.
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im Kontext der pompa funebris verwiesen werden konnte. Eine Familienchronologie könnte hierbei durch Familienstammbäume hergestellt worden sein.148 Gewiss wird Fabius Pictor auf die eigenen Familienaufzeichnungen zurückgegriffen haben, was aber weder eine parteiliche Darstellung der Frühzeit bedeuten muss, noch Aufschluss über den Umfang der auf diese Weise gewonnenen Informationen gibt.149 Der Aufbau der Rhomaika lässt zwar nicht darauf schließen, dass er emsig sämtliche Familienarchive durchforstet hat, doch könnten diese eine wichtige Quelle für seine Nachfolger dargestellt haben. Insgesamt lag das Hauptverdienst Pictors in der Zusammenfassung und Konzeption einer Geschichte der römischen Frühzeit, die zentrale Entwicklungslinien definierte und damit Pflöcke einschlug, ohne ein enges Korsett zu schnüren. Hierin folgte ihm auch Cato, der mit seinen origines einen völlig anderen Ansatz entwickelte, der stärker auf die Gründungslegenden der italischen Städte und weniger auf die Taten der römischen nobiles eingeht. Wie Pictor, so hat auch Cato die Ereignisse des langen 4. Jahrhunderts wohl capitulatim im vierten Buch der origines dargestellt und möglicherweise den Galliereinfall schon davor thematisiert.150 Catos hochangesehenes Geschichtswerk, das erste in lateinischer Sprache, folgte dabei einerseits der Gliederung nach Kriegen und zementierte so das von Fabius Pictor verwendete Modell. Andererseits fügte der aus Tusculum stammende Cato die italische Perspektive hinzu, indem er auf die Gründungslegenden und Geschichten der italischen Städte
148 Ansatzweise in CIL 1,6 und den übrigen Inschriften des Scipionengrabs zu fassen, s. Walter 2004a, 116–118: „Die elaborierten Elogien (…) dürften ihren Weg aus den Grabkammern gefunden haben“, s. a. Oakley 1997, 28–33; Beck 2003, 90–91; Wiseman 2008, 7. Stammbäume: Flower 1996, 211–216, vgl. Corbier 2007, 74–78. S. hierzu: Plin. nat. 35.6: stemmata vero lineis discurrebant ad imagines pictas. Die Schränke mit den imagines wurden aber nur zu den Begräbnissen geöffnet. Es dürfte also stemmata im Atrium gegeben haben, die alle Familienmitglieder zeigten, s. Iuv. 8.1–12: Stemmata quid faciunt? quid prodest, Pontice, longo sanguine censeri, pictos ostendere vultus maiorum et stantis in curribus Aemilianos et Curios iam dimidios umerosque minorem Corvinum et Galbam auriculis nasoque carentem, [quis fructus generis tabula iactare capaci Corvinum, posthac multa contingere virga fumosos equitum cum dictatore magistros] si coram Lepidis male vivitur? effigies quo tot bellatorum, si luditur alea pernox ante Numantinos, si dormire incipis ortu luciferi, quo signa duces et castra movebant? Über die Erinnerung an die Ahnen könnten hierbei auch komplexere historische Zusammenhänge memoriert worden sein. S. hierzu Schropp 2017, 708–722 zu den verschiedenen Ebenen der Herausbildung der Gedächtnisgeschichte am Beispiel der Gracchen. Laut Schropp konnte im Rahmen der intensiven Memorierung von Einzelpersonen auch die Erinnerung an weitere, kontemporäre Ereignisse konserviert werden. 149 Exemplarisch hierfür Hölkeskamp 2018, 740–750. Timpe 1972, 953 bestreitet die Parteilichkeit des Autors. Beck/Walter FRH 1, 122 betonen ebenfalls die teils ungünstige Darstellung der Fabii, s. a. Beck 2003, 81–84. Laut Ungern-Sternberg 1988, 245 verhinderte die kollektive Herrschaftsausübung der Nobilität eine einseitige Geschichtsschreibung. Einen Überblick über mögliche positive Verfärbungen der Fabii bietet Richardson 2012, 57–114. 150 Gotter 2003, 129–133, nach dessen Meinung Cato die Waffengänge Roms gegen seine Nachbarn nicht thematisierte, was aber nur schwer mit Cato FRH 3 F 2.28 (= Prisc. Gramm. 4 p. 129H) vereinbar ist. Nach De Libero 1994, 323 ging es vor allem um das Gebiet der Bundesgenossen.
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einging.151 Von Cincius Alimentus, Postumius Albinus und C. Acilius sind dagegen nur sehr wenige Fragmente erhalten geblieben, lediglich Cassius Hemina ist besser bezeugt, dessen Werk sich vor allem auf kultur- und religionsgeschichtliche Nachrichten beschränkte.152 Den Abschluss der frühen Phase bildet L. Calpurnius Piso Frugi, dessen nach 120 verfasstes Werk sieben oder acht Bücher umfasste und sich damit weiterhin an den Standards seiner Vorgänger orientierte.153 Die Königszeit beschreibt Piso in einem Buch und die Frühe Republik bis zum Pyrrhoskrieg in den Büchern 2 bis 3.154 Obwohl die politischen Auseinandersetzungen der Frühzeit unter dem Eindruck der Reformen der Gracchen beschrieben wurden, widmete Piso diesem Abschnitt in Relation zum Gesamtumfang seines Werkes große Aufmerksamkeit.155 Angesichts des bescheidenen Umfangs von maximal acht Büchern und der auffallend häufigen Nennung von Magistraten, inklusive Volkstribunen und Ädilen, ist zu vermuten, dass Piso diese Informationen aus den kurz zuvor veröffentlichten annales maximi gezogen hat.156 Die römische Geschichtsschreibung entwickelte sich im 2. Jahrhundert folglich weiter, doch lässt sich in Bezug auf den Untersuchungszeitraum der Arbeit keine dramatische Abkehr von der kargen Darstellung bei Pictor feststellen, wohl aber eine parallel dazu vorgenommene Erschließung zusätzlicher Materialien etwa durch Cassius Hemina und Calpurnius Piso.157 Der ‚Kern‘ der Überlieferung änderte sich in diesem Zeitraum also nicht; eine signifikante Beobachtung, da die nachfolgenden Autoren eine spektakuläre ‚expansion of the past‘ vornahmen.158 Bereits Cn. Gellius (ca. 120– 100) befasste sich in 30 Büchern mit der Zeit bis Cannae und kam möglicherweise auf insgesamt 97 Bücher in seiner bis 146 reichenden römischen Geschichte.159 Hiermit war der Weg zur Expansion der Vergangenheit durch fiktive Reden, fingierte Schlacht151
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Nep. Cat. 3.3–4. Badian 1966, 7–11; Timpe 2007b, 190–195. Möglicherweise hatten hier bereits der Tarentiner Livius Andronicus (Suet. Gramm. 1.1 semigraecus; Cic. Brut. 72; Gell. 17.21.42), der Kampaner Cn. Naevius (Gell. 1.24.1–2) und der Messapier Q. Ennius (Gell. 17.21.43; Cic. Brut. 72; Hor. Carm. 4.8.20; vgl. Sil. 12.393–397) die Sicht der Peripherie nach Rom gebracht, vgl. Gell. 17.17.1: Quintus Ennius tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret. Fisher 2013, 27–56; Cornell FRHist I, 205–217. Beck/Walter FRH 16, 242–244, Cornell FRHist I, 219–223. Nach Wiseman 1979a, 9–12 der erste Geschichtsschreiber, der ein annalistisches Schema verwendet, vgl. Rich 2011, 15–22, Cornell FRHist I, 235–238. Dagegen Scholz 1994, 64–66. Forsythe 1994, 38–53; Cardinali 1988, 45–55. Zu den Vorteilen des annalisischen Schemas s. Walter 2004a, 345–347. Forsythe 1994, 245–349. Badian 1966, 13–18 und Gabba 1996, 9 nehmen zudem an, dass die Erschütterungen der res publica durch die Gracchi ein erhöhtes Interesse an politischen Vorgängen zur Folge gehabt hätte. Forsythe 1994, 53–73; Suerbaum 2002, 421–425. Vgl. Cornell FRHist I, 222–223, 237–239. Oakley 1997, 72–75. Vgl. Jaeger 2015 zur Bedeutung von Erinnerungsorten für das Werk des Livius. Badian 1966, 11–13; Wiseman 1979a, 19–25; Drummond/Ogilvie 1989, 7–8; Oakley 1997, 72–76. Einen Überblick zur Forschungsdiskussion bezüglich des Werts der römischen Annalistik bietet Walt 1997, 34–75. Cornell FRHist I, 253–255; FRH 10 F 27, die Buchzahl XCVII bei F 30 könnte auf eine verderbte Stelle zurückgehen, dagegen ist XLVIII oder XXVII vorgeschlagen worden, Beck/Walter FRH 18,
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beschreibungen und Gefallenenzahlen, Rückprojektionen, kulturgeschichtliche Exkurse und Erfindungen bereitet, den die jüngere Annalistik beschreiten sollte.160 Diese ist jedoch weder repräsentativ für die Vorgehensweise der frühen römischen Historiker noch lässt sie den Schluss zu, dass es keine belastbare Überlieferung der Frühzeit gegeben hätte. 1.5.4 Das Geschichtswerk des Titus Livius Dennoch bleibt die Frage, inwieweit es zu Verfälschungen durch die Vorgänger des Titus Livius gekommen sein könnte. Immerhin bleibt die erste Dekade seiner ab urbe condita der einzige vollständig erhaltene Bericht zur römischen Geschichte des 4. Jahrhunderts, dessen Qualität mit der Beurteilung der livianischen Vorlagen steht und fällt.161 Hinsichtlich einer bewussten Fälschung, wie sie wohl bei dem bête noire Valerius Antias162 zur Überhöhung der gens Valeria vorkam, hat Stephen Oakley unter Verweis auf die zahlreichen Erwähnungen abweichender oder widersprüchlicher Berichte deutlich gemacht, dass Livius durchaus bemüht war, seine Quellen auf Genauigkeit zu testen, hierbei aber nicht ohne Fehl blieb. Livius selbst ist sich der Unzulänglichkeiten seiner Vorlagen jedenfalls bewusst, wie er regelmäßig betont.163 Zu Beginn seiner 2. Pentade weist er aber auch explizit auf eine verbesserte Überlieferung für das 4. Jahrhundert hin. Dies schlägt sich auch in dem Geschichtswerk des Claudius Quadrigarius nieder, das höchstwahrscheinlich mit der Eroberung Roms durch die Gallier beginnt und von Livius mehrfach herangezogen wurde.164 Quadrigarius beschreibt die Ereignisse des Jahrhunderts bis zum Philinos-Vertrag von 306 in einem Buch und schenkt 347. Dies würde jedoch nichts an der deutlich ausführlicheren Überlieferung der Frühzeit ändern. Suerbaum 2002, 429–430. 160 Cornell 1986, 70–75; Ungern-Sternberg 1988, 251–265, 2005, 75–97; Timpe 1988, 285–286; Petzold 1993, 161–178; Northwood 2000; Walter 2004a, 347–353. 161 Luce 1977, 185–229. Eine detaillierte Diskussion des livianischen Werks würde den Umfang dieser Einleitung und Arbeit bei weitem sprengen. Die beste Bearbeitung des Themas bleibt nach wie vor Oakleys Commentary on Livy (1997–2005). S. a. Wiseman 2008, 24–38; Chaplin/Kraus 2009, Mineo 2006; Pausch 2011 zu den narrativen Strukturen, ebenso Burck 1992. 162 Wiseman 1998, 76–89 und Rich 2005, 145–155 zur Fabrikation. Ebd. 156–157 vermutet allerdings, dass Valerius Antias archivarisches Material für den historischen Kern seiner Darstellung intensiv genutzt haben könnte (s. Cens. 17.8–11) und daher für Livius interessant gewesen sei, s. a. Klotz 1940, 44–47. 163 Die vernichtende Kritik gerade deutscher Althistoriker geht ursprünglich auf Mommsen zurück; s. Nippel 2005, 171–178 zur radikalen Verwerfung der Glaubwürdigkeit der römischen Annalistik durch Mommsen in dem Werk „Römische Geschichte“. Allerdings gab es auch schon früh mit De Sanctis 1956–1960 eine positivere Bewertung der ab urbe condita libri. Inzwischen hat sich eine differenzierte Bewertung durchgesetzt: Walsh 1966, 121–126; Forsythe 1999, 40–51; Stouder 2015, 330–333; Humm 2015, 343–345; Bradley 2020, 19–21. Burck 1992, 50–86 zu den Darstellungsformen. 164 Liv. 6.1.1–3, Oakley 1997, 381–386. Beck/Walter FRH 14, 109–111; Cornell FRHist I, 288–292. Walsh 1966, 123; Kierdorf 2003, 48–51; Forsythe 2007b, 391; Lentzsch 2019, 95.
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militärischen und diplomatischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit, deren Authentizität er offenbar mithilfe der dazugehörigen Siegesmonumente zu verifizieren suchte. Kriege und diplomatische Aktivitäten wurden mitunter inschriftlich festgehalten und fanden auch Eingang in die fasti Capitolini, so dass Recherchen in diesem Bereich die Darstellungen der früheren Geschichtsschreiber um Einzelinformationen erweitert haben könnten.165 Wie in der praefatio verkündet, geht es Livius darum, eine ansprechende Zusammenfassung der bereits vorhandenen Werke anzufertigen. Überdeutlich wird dies im Zuge größerer von Livius behandelter Themenkomplexe, wie etwa den leges Liciniae Sextiae. Den stilistisch aufpolierten Episoden folgen in der Regel kurze Zusammenfassungen, die wohl am ehesten den verfügbaren Informationen entsprechen.166 In derselben Weise scheinen auch die kurzen Erwähnungen von Tribusgründungen, Multprozessen, Tempelweihungen und von das Zinswesen betreffenden Maßnahmen auf die zuverlässigeren Vorlagen der Ebenen I und II zurückzugehen.167 Gerade bei solchen Nachrichten im livianischen Bericht, die knapp und isoliert auftauchen, bei denen kein Fälschungsinteresse erkennbar ist und die keine Funktion innerhalb der literarischen Darstellung einnehmen, kann man von einer authentischen Überlieferung ausgehen.168 Zur Überprüfung sind, wann immer vorhanden, die Parallelüberlieferungen von Dionysios von Halikarnassos und Diodoros sowie abweichende Berichte römischer Historiographen und Antiquare heranzuziehen, die in der Gesamtheit auf eine relativ einheitliche Beschreibung der Geschichte Roms im 4. Jahrhundert verweisen.169 Cornell hat in diesem
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Hierzu Timpe 1988, 273–277. S. a. FRH 14 F 31 (= Serv. Aen. 1.108). S. Forsythe 2007b, 393–395, lediglich F 7–9 und F 85 beschäftigen sich mit innenpolitischen Themen. Vgl. Cornell 1995, 243. „A notable fact about the traditional narratives is that the wars are set within a topographical framework that is both logical and historically plausible“. S. a. Ridley 2013 zu Livius’ Verhältnis zu seinen Vorlagen. Walter 2004a, 148–154 zur Verfügbarkeit von Historienbildern, die wahrscheinlich hauptsächlich solche kriegerischen Erfolge abbildeten. 166 Ogilvie 1976, 18–19. Exemplarisch hierzu Liv. 6.42.9–14 zum Ständekampf, Liv. 7.42.7 zur seditio von 342, Liv. 8.11.2–16 zum Latinerkrieg und Liv. 9.25–26 zu der Krise im 2. Samnitenkrieg. Diese Informationen dürften damit auf das vorhandene Faktengerüst verweisen, vgl. Oakley 1997, 38–72; Forsythe 1999, 52–64 zu Livius’ Umgang mit widersprüchlichen Informationen. 167 Pinsent 1959, 81–85, Rich 2005, 156–157; Forsythe 2005, 69–77; Hölkeskamp 2011, 28–29. Solche Informationen könnte Livius in Licinius Macers libri lintei (eine aufgearbeitete Liste der Magistrate, s. Ogilvie 1958, 40–46, Frier 1975, 87–89, Walt 1997, 75–87; Oakley 1998, 27–28) oder in Pomponius Atticus’ liber annalis (Nep. Att. 18.2) gefunden haben. Zur Kritik der Leinenbücher s. Klotz 1940–41, 295; Werner 1963, 111; Oakley 1997, 27–28. 168 Ein Beispiel hierfür ist die Zerstörung Satricums mit Ausnahme des Mater Matuta-Tempels (Liv. 7.27.8), die archäologisch nachgewiesen werden konnte, Gnade 2007, 74. 169 Diodoros bezog sich auf Vorlagen, die von denen des Livius abweichen, Grossmann 2009, 84–85. Drummond 1978, 562 geht davon aus, dass Diodoros zudem einen unabhängigen Chronographen nutzte. Trotz der Kritik hat das Werk in letzter Zeit eine größere Würdigung erfahren, etwa Meister 1990, 171–181, 2020, 271–277; Rathmann 2016, 307–315. Auch Dionysios bietet für den Untersuchungszeitraum nur wenige verstreute, aber höchst aufschlussreiche Anmerkungen. Die Quali-
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Kontext überzeugend dargelegt, dass weder Fabius Pictor noch spätere Autoren eine carte blanche für eine willkürliche Verfälschung der eigenen Geschichte besaßen, da ausreichend Korrektive zur Entlarvung solcher Versuche zur Verfügung standen.170 Zusätzlich hat Oakley demonstriert, wie die Vorgehensweise der Annalisten auch zur Aufdeckung von späteren Fabrikationen genutzt werden kann, indem übermäßig detailreichen Berichten (zumeist Schlachten und Reden), Dubletten, Anachronismen, der Verwendung standardisierter Motive und vor allem der pro-römischen Tendenz mit Skepsis zu begegnen ist.171 Zieht man die als fiktiv einzuschätzenden Reden, Schlachtenberichte, Exkurse und Moralisierungen ab, schrumpft die zweite Pentade deutlich zusammen und liegt bei maximal drei Büchern.172 Zwar ergibt sich damit immer noch eine Verdreifachung der ursprünglichen Behandlung bei Pictor und Cato, doch verliert das Argument der willkürlichen Verfälschung an Schärfe, da eine solche Erweiterung durch Nachforschungen wie denjenigen des Cassius Hemina, Calpurnius Piso und Claudius Quadrigarius gerechtfertigt gewesen sein könnte.173 Damit läge mit dem livianischen Werk eine Zusammenfassung der vorherigen Arbeiten vor, die Gary Forsythe folgendermaßen bewertet: Livy did not possess the keen analytical intellect as Thucydides, nor was he a shameless fabricator like Valerius Antias. Livy’s real talent lay in his ability to arrange his material skillfully and economically, to construct an artistically pleasing narrative, and to depict individual episodes with great dramatic effect.174
Diese Fähigkeiten reichten aus, um auf dem umkämpften Feld der republikanischen Geschichtsschreibung alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen.
tät dieser Aussage hat Gabba auf die intensive Nutzung antiquarischer Zeugnisse zurückgeführt, Gabba 1991, 96–147. Dionysios war mit dem römischen Antiquar Varro eng befreundet und könnte hierüber wichtige Informationen erhalten haben, s. Linke 1995, 12. Dagegen bezweifelt Poucet 1989, 63–95 eine intensive Rezeption der varronischen Studien durch Dionysios. Zu Cassius Dios Wert für die römische Frühzeit s. Schettino 2006, 61–67. 170 Hierzu prägnant Cornell 1986, bes. 80–85. 171 Oakley 1997, 72–99. Daneben hat Meyer 1972, 970–986 anhand einzelner gut dokumentierter Ereignisse aufzeigen können, dass Livius öfter falsche Zeit-, Orts- oder Personenangaben macht, jedoch keine Ereignisse frei erfindet; s. a. Bredehorn 1968, 48–67, der insgesamt für das 2. Jahrhundert Ungenauigkeiten feststellt, die seiner Meinung nach aber nicht gegen die Glaubwürdigkeit sprechen. Walsh 1966, 126 zur Skepsis gegenüber „Roman chauvinism“. 172 Timpe 2007c, 220–221. 173 Das wohl überzeugendste Plädoyer gegen eine völlige Verfälschung der Frühzeit bietet Cornell 1986, 75–85, s. a. die überarbeitete Neuauflage Cornell 2005, 61–67 mit Ergänzungen. 174 Forsythe 2005, 66. Vgl. Luce 1977, 143–152.
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1.5.5 Erläuterungen zur Chronologie Eine letzte Vorbemerkung betrifft das Problem der Chronologie. In Rom datierte man die Ereignisse auf der Grundlage der fasti consulares bis zur Dedikation des kapitolinischen Jupitertempels und der damit verbundenen Entstehung der Republik sowie den ersten Konsuln zurück und korrelierte diesen Zeitpunkt dann mit der griechischen Zählung nach Olympiaden.175 Im Großen und Ganzen scheint dieses System leidlich funktioniert zu haben. Für den Untersuchungszeitraum ergeben sich lediglich zwei größere Problemfelder, die erstens in der den leges Liciniae Sextiae vorausgehenden ἀναρχία von fünf Jahren (375 bis 371) und zweitens in den sogenannten vier „Diktatorenjahren“ (333, 325, 309 und 301) zutage treten. Beide Phänomene beruhen wahrscheinlich auf fehlenden römischen Eponymenlisten für einen Zeitraum von vier Jahren, die durch die genannten Erweiterungen mit dem griechisch datierten Fixpunkt der gallischen Eroberung Roms auf das Jahr 387/386 synchronisiert werden sollten.176 Die einfachste Variante hierfür war zweifellos die Verwendung der Anarchie, doch gab es mehrere Möglichkeiten der Synchronisierung. So fügte Pomponius Atticus seinem liber annalis um 47 etwa vier Diktatorenjahre hinzu, die laut Drummond der Legitimation der zeitgenössischen Diktatur Caesars dienen sollten.177 Varro hat diese Diktatorenjahre anschließend übernommen, dabei aber auch die vierjährige Anarchie beibehalten, womit die Diskrepanz zu den griechischen Vorlagen überkompensiert wurde, so dass die varronische Chronologie für die Zeit vor 300 beträchtliche zeitliche Verzerrungen aufweist. Diese wogen umso schwerer, da die Arbeiten Varros wahrscheinlich als Vorlage für die fasti Capitolini dienten.178 Die Unzulänglichkeiten der absoluten Chronologie werden allerdings dadurch aufgewogen, dass weder Diodoros noch Livius die Diktatorenjahre verwenden und außerdem die Ereignisse ohnehin im Jahr der entsprechenden eponymen Beamten verortet werden. Dadurch halten sich die Unwuchten in Grenzen, zumal der livianische Bericht, der eine Anarchie von sechs Jahren annimmt, lediglich für die Zeit vor den leges Liciniae Sextiae Probleme aufwirft.179 Für diesen Zeitraum strebt die folgende Untersuchung ohnehin keine jahresabhängige Interpretation der inneren und äußeren Entwicklung an, da der anhaltende Konflikt zwischen Patriziern und Plebeiern sowie die nur vagen Konturen der tribuni militum consulari potestate keine detaillierte Analyse der innenpolitischen Entwicklungen zulassen.
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Plin. nat. 33.19. Umfassend hierzu Werner 1963, 38–215; s. a. Feeney 2007, 88–107. Pol. 1.6.1; Iust. 20.5.1–6. Drummond 1978, 552–553; Forsythe 2005, 369–370; Gallia 2007, 50–67. Drummond 1978, 569–572. Cornell 1995, 399–402; Lomas 2017, 329–330. Bereits zuvor hatte Cato jedoch eine alternative Zählung vorgelegt, deren Genauigkeit Dion. Hal. ant. Rom. 1.74.2 (= FRH 3 F 1.17) rühmt. Liv. 6.35.10; Diod. 15.75.1; Plut. Cam. 39.1. Forsythe 2005, 264.
2. Zur Vorgeschichte des 4. Jahrhunderts Trotz der schwierigen Überlieferungslage zur römischen Geschichte vor dem Kelteneinfall bleibt es unumgänglich, sowohl die Königszeit als auch das 5. Jahrhundert in knapper Form zu erörtern, da hier wesentliche Weichenstellungen für die politische und territoriale Organisation der res publica vorgenommen wurden. Dabei muss die noch fluide Verfassung der Republik im 5. Jahrhundert hervorgehoben werden, die Flower treffend als „proto-republican period […] of unwritten laws and apparently of significant strife in society“ bezeichnet.1 Damit rückt sie die aktiven Aushandlungsprozesse bezüglich der politischen Strukturen und Regeln in den Vordergrund, die sich in der Überlieferung in Form der sogenannten Ständekämpfe zwischen Patriziern und Plebeiern niederschlagen. Diese Verengung verdeckt dabei zwar die äußerst heterogene Zusammensetzung und komplexen Interessenlagen der ‚Plebeier‘ und ‚Patrizier‘, wird aber wohl durchaus korrekt die Frontstellung zwischen einer exklusiven Gruppe reicher, an der Spitze von Familien- und Klientelverbänden stehender Eliten und der übrigen, freien Bevölkerung – inklusive reicher Bürger, die nicht in die Reihen der Patrizier aufgenommen worden waren – wiedergeben.2 Dieser Konflikt prägte die gesamte Frühe Republik bis zur Verabschiedung der lex Hortensia im Jahr 287, wobei Ungern-Sternberg sogar von einer noch längeren Austragung bis in die Zeit des
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Täubler 1985, 15 warb dafür, diese Epoche als Zeit „der allgemeinen Entwicklung und Entfaltung des Staatswesens zu verstehen“. Flower 2010, 48. Cornell 1995, 215–230, 242–286; zuletzt hat Walter 2016 die Möglichkeit einer Annäherung an die Königszeit thematisiert, vgl. Lulof/Smith 2017, 3–11 sowie die Beiträge in Linke/Meier/Strothmann 2010. Zum Ständekampf s. die Beiträge in Raaflaub 2005 sowie in Linke/Meier/Strothmann 2010. Walter 2017b setzt sich ausführlich mit der Konstruktion der Ständekämpfe durch die Autoren der späten Republik auseinander und geht von einer starken Homogenisierungs- und Kategorisierungstendenz aus, die nicht zuletzt auch durch die Erfahrung der Bürgerkriege und die erlebte Spaltung der Gesellschaft bestimmt worden sei; vgl. Cornell 2009, 19–27 zur Interpretation der Frühzeit durch die späteren Autoren. Bereits Ungern-Sternberg 2006a (zuerst 1980), 170–180 hatte auf die spätere Verfärbung hingewiesen. Auch in Griechenland ist eine Vormachtstellung der Aristokratie zu beobachten. Der inneraristokratische Wettkampf ist zwar ausgeprägter, doch stellen Oligarchien und Tyrannenherrschaften durchaus vergleichbare Fälle des politischen Ausschlusses von Teilen der Elite dar: Stein-Hölkeskamp 2015, 186–220, die auch auf die negative Eskalation, beziehungsweise Entscheidung des Wettkampfs durch die Tyrannis eingeht, ebd. 221–255, dies. 2009. S. a. Ulf 2011.
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2. Punischen Krieges hinein ausgeht.3 Unabhängig von der genauen Terminierung des „Ständekampfs“ bleibt festzuhalten, dass die innenpolitischen Auseinandersetzungen durch unterschiedliche Phasen geprägt waren, die keinem einheitlichen Schema folgten. Basierend auf den literarischen Quellen bietet sich dennoch eine grobe Einteilung im Sinne Raaflaubs an, der einen Übergang von „Protection and Defense to Offense and Participation“ seitens der Plebeier sieht.4 Hierbei handelt es sich um den komplizierten und vielteiligen Prolog des 4. Jahrhunderts, bei dessen Betrachtung auch die sich stetig verändernden regionalen Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse miteinbezogen werden müssen. Langzeitveränderungen im mediterranen Raum führten zu einer allgemeinen Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion sowie der Intensivierung von Handelsbeziehungen und der Entstehung urbaner Zentren in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends. Rom unterschied sich in diesen Punkten zunächst nicht wesentlich von seinen Nachbarn und war lediglich ein expandierendes urbanes Zentrum unter vielen.5 Trotz der Gemeinsamkeiten lagen jedoch auch einige einzigartige Charakteristika vor, die sich vor allem aus der geographischen Lage der Stadt ergaben. Bradley hebt zum Beispiel die ungewöhnliche Ortswahl hervor, die nicht auf einem leicht zu verteidigenden Plateau lag, sondern sich über mehrere Hügel erstreckte, die zudem durch Wasserläufe voneinander getrennt waren. Nachteile hinsichtlich der Verteidigungsfähigkeit wurden offenbar zugunsten der strategischen und verkehrsgünstigen Lage in Kauf genommen, die eine Kontrolle des Tiberhandels sowie des Flussübergangs via der Tiberinsel ermöglichte. Hier verbanden sich Verkehrswege ins Inland mit Fluss- und Seehandelswegen, deren Wert durch die Salinen an der Tibermündung noch gesteigert wurde. Die Salzproduktion war für die Viehhaltung im bergigen Hinterland der Apennin-Halbinsel unerlässlich und hinterließ mit der frühesten Hauptverkehrsader, der via Salaria, ein eindrückliches Zeugnis der Bedeutung dieses Produkts.6 Mit dieser hohen wirtschaftlichen Vernetzung dürften auch enge Kontakte zwischen lokalen und benachbarten Eliten einhergegangen sein. Terrenato betont in diesem Zusammenhang zu Recht die hohe Konnektivität der Lage Roms an der Schnittstelle der urbanen Cluster in Etrurien und Latium. Zwar leitet er hieraus relativ weitreichende Folgen ab, etwa die besondere Eignung als „capital of a multicultural empire“, doch schmälert dies nicht den
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Ungern-Sternberg 2005 [zuerst 1986], 323–324, 2006a, passim. Die einschneidende Bedeutung des Gesetzes wurde gleichzeitig von Hölkeskamp 2004 [zuerst 1988], 75–81 relativiert. Raaflaub 2005, 185–210. So auch Cornell 1995, 256–271, 327–344; Bleicken 2004, 20–28; Linke 2010, 126–134; Walter 2017a, 125–126. Cornell 1995, 230–232; Smith 1997, 114–125; Bourdin 2012, 175–276; Terrenato 2019, 74–108. S. Fulminante 2014 zur Siedlungsentwicklung in Latium. S. jetzt Cifani 2021 zur wirtschaftlichen Entwicklung Roms im Kontext mediterraner Veränderungen. Die günstige strategische Lage Roms wird durchgängig anerkannt: Mommsen RG I, 46; Alföldi 1963, 193–199; Pallotino 1991, 71–73; Kolb 2002, 36–41, 102–108; Fulminante 2014, 74–104; Bradley 2020, 138–141.
Die ‚etruskischen Könige‘ des 6. Jahrhunderts
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Kern seiner Beobachtung, wonach die zentrale Lage und der intensive Austausch mit den Nachbarn zu einer größeren Offenheit und Anschlussfähigkeit der römischen Gemeinschaft gegenüber Neuankömmlingen beigetragen haben könnten.7 2.1 Die ‚etruskischen Könige‘ des 6. Jahrhunderts Die von Terrenato, Isayev und anderen angenommene hohe Mobilität der Elite deckt sich dabei durchaus mit der römischen Überlieferung zur Königszeit. Tarquinius Priscus soll ursprünglich Lucumo geheißen haben und ein Sohn des von den Bakchiaden vertriebenen Demaratos von Korinth gewesen sein, den es zunächst nach Tarquinii verschlug, bevor es seinem Sohn gelang, die Königswürde in Rom zu erringen. Sein Nachfolger Servius Tullius wies eine ähnlich abenteuerliche Karriere auf. Obwohl er laut römischer Tradition ein Sklave gewesen sein soll, scheint es sich bei ihm wohl eher um einen etruskischen Warlord gehandelt zu haben, denn kein Geringerer als der Kaiser und interessierte Etruskologe Claudius nannte ihn in einer bekannten Senatsrede Mastarna, der mit den Resten des Heeres von Caeles Vibenna Rom erobert habe. Letztere Version wird auch durch die bekannten Malereien des François-Grabes zu Vulci erhärtet.8 Die hohe Mobilität der Elite schlug sich in diesen Fällen in einem Warlordtum nieder, das auch in den Berichten über Lars Porsenna, Coriolanus oder dem Lapis Satricanus zu fassen ist.9 Auffällig ist in diesem Kontext vor allem die aktive Einflussnahme auf die Geschicke der Stadt durch Akteure etruskischer Provenienz, was aber eher auf die wirtschaftliche Prosperität Etruriens verweist als auf eine bestimmte politische oder militärische Ausrichtung, geschweige denn auf eine einheitliche Strategie der Etrusker. Selbst wenn die drei letzten Könige Roms – Tarquinius Priscus, Servius Tullius und Tarquinius Superbus – möglicherweise etruskischer Abstammung waren, muss dies noch längst nicht als Ausdruck einer etruskischen Machtübernahme gesehen werden. Rom unterhielt enge Beziehungen mit all seinen Nachbarn, unter denen die etruskischen Städte Caere und auch Veii nicht weniger prominent hervorstechen als Praeneste oder Tusculum, weshalb Cornell dafür plädiert hat, Rom als kosmopoli7 8
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Terrenato 2019, 268–269. S. a. Farney 2007, 39–45, 146–164; Hölkeskamp 2011, 176–181; Beck 2015; vgl. Isayev 2017, 108–119. Einen Überblick bieten Cornell 1995, 122–141 und Bradley 2020, 118–131. Zur Herkunftssage der tarquinischen Königsfamilie s. Zevi 2014, 62–70. Die Claudiusrede (ILS 212) lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass die Wandmalereien der Tomba Francois di Vulci (Cristofani 1967; Coarelli 1983b; Buranelli 1987) eine gewaltsame Übernahme durch den späteren Servius Tullius zeigen: Mazzarino 1945, 177; Ogilvie 1976, 62–63, 88; Coarelli 1983b, 43–78; Cornell 1995, 145–150. Eine innovative Interpretation bietet Vernole 2002, 186–198, der vermutet, die Wandmalereien des 4. Jahrhunderts hätten angesichts der Kämpfe gegen die expandierende Tiberstadt frühere Erfolge gegen Rom betonen sollen. Dagegen verweist Forsythe 2005, 103–106 auf den spekulativen Charakter aller Interpretationen. Rawlings 2009a, 102–106; Armstrong 2016a, 87–93; Walter 2016, 21–22. CIL 12, 2832a.
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Zur Vorgeschichte des 4. Jahrhunderts
tischen Ort zu verstehen.10 Gleichwohl scheinen die Siedlung und die potenziell mobilisierbaren Ressourcen für fremde Glücksritter attraktiv genug gewesen zu sein, um sich mithilfe des eigenen militärischen Gefolges dort als Machthaber zu etablieren.11 Zur Verankerung ihrer Herrschaft setzten die reges unter anderem auf die Ausübung der Kultaufsicht und weitreichende sakrale Befugnisse – eine Machtkonzentration, die mit Beginn der Republik bewusst zersplittert wurde – sowie auf vielfältige Maßnahmen zum Ausbau der urbs und der dortigen, gemeinschaftlichen Institutionen. Neben den ersten Großbauprojekten, wie dem Circus Maximus und der Cloaca Maxima, wurde die Bürgerschaft laut der Überlieferung zum ersten Mal unter Servius Tullius in einem census registriert und anschließend in den timokratischen comitia centuriata organisiert.12 Das Verdienst der Könige bestand demzufolge darin, die gemeinschaftlichen Ressourcen der Bürgerschaft erfasst und gebündelt zu haben und damit deren politische Konstituierung vorangetrieben zu haben.13 Die Stärkung der Machtbasis in Rom war auch deshalb notwendig, weil die auswärtigen Kontakte und Netzwerke der Könige nicht dauerhaft als Gegengewicht zu den lokalen Gentiloberhäuptern fungieren konnten. Ohnehin blieb ihr Führungsanspruch prekär, da es nicht gelang, eine Erbmonarchie durchzusetzen. Dementsprechend war die forcierte Zentralisierung ein delikater Balanceakt, der stets mit dem Widerstand der gentes rechnen musste, die durch die Kontrolle bestimmter Landstriche sowie ihre bewaffnete Anhängerschaft über beträchtliche Gewaltmittel verfügten.14 10 11
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Cornell 1995, 151–167. Ausführlich hierzu Isayev 2017, 139–188. Alföldi 1963, 337–341 geht von einem starken etruskischen Einfluss bis in das 5. Jahrhundert hinein aus, vgl. Gjerstad 1961, 69–102. Cornell 1995, 156–172 und Linke 1995, 105–123, 2010b, 188–192 gehen von einer dauerhaften Übernahme Roms durch etruskische condottieri in Anlehnung an die literarische Überlieferung aus, vgl. Armstrong 2013, 64–66, 2016a, 76–128 und Anm. 9 in diesem Kapitel. S. a. Abulafia 2014, 100–118 und Camporeale 2016, 76–82 zum Umfang etruskischer Handelsbeziehungen sowie deren Einbruch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, zu letzterem Lomas 2017, 154–161. Liv. 1.42.5–43.12; Dion. Hal. ant. Rom. 4.15.1–19.4; Cic. Rep. 2.39 (classes) reliquum populum distribuit in quinque classis, senioresque a iunioribus divisit, easque ita disparavit ut suffragia non in multitudinis sed in locupletium potestate essent. Bradley 2020, 155–187 zu den Bauten der Königszeit. Zur Organisation der Bürgerschaft: Rawlings 2009a, 106–112; Ampolo 1988, 218–227; Cornell 1995, 173–197; Richard 2005, 112–115; Forsythe 2005, 108–115 (s. a. Anm. 79 u. 80 in diesem Kapitel). Circus Maximus: Humphrey 1986, 56–131; Ciancio Rossetto LTUR 1 (1993), 272–277. Cloaca Maxima: Quilici 1990, 37–38; Steinby LTUR 1 (1993), 228–290; Hopkins 2007. Zur urbanen Entwicklung unter den Königen s. Kolb 2002, 77–114; Forsythe 2005, 99–100; Ridley 2014, 119–126; Lomas 2017, 143–150. Besonders zuversichtliche Interpretationen des archäologischen Materials der frühesten Geschichte Roms bieten die Arbeiten Carandinis (etwa Carandini 2002 und 2011), die jedoch durchgängig kritisch beurteilt werden, s. etwa Wiseman 2004, 134–148, 2008, 271–292, 2013, 241. Zu den sakralen Funktionen der Könige s. Linke 2009, 347–354, 2010b, passim. Vgl. hierzu die ‚volksfreundliche‘ Darstellung des Servius Tullius in der Überlieferung, Cic. rep. 2.21; Liv. 1.46; Dion. Hal. ant. Rom. 4.9. Eder 1988, 471–474; Torelli 1988c, 257–261; Linke 2010b, 189–190 und besonders 2014b, 76–82; Walter 2016, 24–25; Humm 2018, 25–28. Capogrossi Colognesi 1979, 318–323; Cels-Saint-Hilaire 1995, 129–135; Richard 2005, 112–115; Humm 2006, 44–46; Terrenato 2010, 510, 2011, 233–237; Smith 2006a, 235–250; Armstrong 2016a, 86–93.
Das Ende der Königsherrschaft im regionalen Kontext Latiums
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Die Strategie der Könige beruhte daher lange Zeit auf einer erfolgreichen Verbindung und einem Austarieren der Interessen unterschiedlicher Gruppen, indem einerseits die Stellung der freien, ungebundenen Bürger durch den Ausbau des Zentrums und ihre Miteinbeziehung in dessen Institutionen gestärkt wurde, woraus andererseits auch den ‚Clans‘ Vorteile erwuchsen, da die Zentralisierung eine Steigerung der militärischen Kampfkraft und eine beachtliche Erweiterung des ager Romanus zur Folge hatte. Mit einem Territorium von ca. 800 km2 und einem Heer von 5.000 bis 8.000 Bewaffneten war die Stadt im Laufe des 6. Jahrhunderts zur weitaus größten Gemeinde in Latium aufgestiegen und bot damit den Zugriff auf militärische Mittel und Ressourcen, die in der Region ihresgleichen suchten.15 Die Organisation der Bürgerschaft und die Begründung der regionalen Vormachtstellung Roms waren damit das wesentliche Erbe der Königszeit. 2.2 Das Ende der Königsherrschaft im regionalen Kontext Latiums Obwohl die Zentralisierung allen Teilen des römischen Gemeinwesens kurz- und mittelfristig Vorteile einbrachte, mussten die Agenden der ‚Könige‘ und der ‚Clans‘ langfristig unvereinbar bleiben und in dem Maße kollidieren, in dem sich die Verhältnisse verfestigten. Die zunehmenden Machtansprüche der Könige führten schließlich zu deren Vertreibung in der letzten Dekade des 6. Jahrhunderts, wobei sich anscheinend auch ein Großteil der Bürgerschaft dem Widerstand gegen den letzten König Tarquinius Superbus anschloss.16 Diese Auseinandersetzungen besaßen auch eine regionale Ebene, was nicht zuletzt an der erfolgreichen Etablierung von personalen Netzwerken seitens der Könige gelegen haben dürfte, die in der überlieferten Odyssee der vertriebenen Königsfamilie und ihrer Unterstützung durch mehrere benachbar-
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Beloch 1926, 218 nimmt insgesamt 50.000 Einwohner an, De Martino 1977, 17–18 weniger als 60.000. Flach 1994 geht von 10.000 bis 15.000 männlichen Bürgern aus. Afzelius 1942 geht von einer Bevölkerungsdichte von 60 Personen pro km2 aus, hierbei ist ein Maximum von 80 Personen pro km2 ebenfalls denkbar, doch bezieht sich dies auf sehr fruchtbare Gebiete. Ampolo 1980, 15–30, 1988, 168–175, 233–234 und Cornell 1995, 204–208 nehmen eine Bevölkerungsgröße von 30.000 bis 35.000 an; so auch Forsythe 2007a, 28. Dagegen geht Bradley 2017a, passim, 2020, 210–214 von einer Bevölkerung von 64.000 bis 85.000 aus. Vgl. Martinez-Pinna 2017, 47–63 zur Ausdehnung des römischen Territoriums. Bradleys Argument gegen die Verwendung der carrying capactiy des römischen Territoriums als Höchstgrenze für die Gesamtbevölkerung ist überzeugend, doch scheint seine Kalkulation von bis zu 85.000 Einwohnern zu Beginn der Republik zu hoch. Ein wesentliches Problem besteht darin, dass nicht klar ist, wer in den frühen census-Angaben erfasst wurde. Zu den Problemen der Berechnung s. Raaflaub 2005, 21–22; Bernard 2018, 102–106. Die Fasti Capitolini gehen bis in das Jahr 509 zurück. Pol. 3.22.1–2 und Dion. Hal. ant. Rom. 5.1.1–2 geben das Jahr 508 an. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Problem der Datierung bieten Hanell 1946, 65–70, 95–117; Cornell 1995, 218–223. S. a. Anm. 103 u. 104 in Kapitel 1.
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te etruskische wie auch latinische Städte greifbar wird.17 Die genauen Umstände der folgenden Kämpfe sind kaum noch zu rekonstruieren, doch scheint Rom zwischenzeitlich von dem etruskischen Condottiere Lars Porsenna eingenommen worden zu sein. Womöglich trug erst der koordinierte Widerstand der Latiner zum endgültigen Zusammenbruch der Königsherrschaft in Rom bei, die im Jahr 504 eine Heeresabteilung des Porsenna, unter dem Kommando seines Sohns Arruns, bei Aricia besiegt und damit seinen Abzug aus Rom erzwungen haben sollen.18 Für die weitere Geschichte Roms sind diese außenpolitischen Entwicklungen von mindestens ebenso großem Gewicht wie die Fragen nach der politischen Neuaufstellung zu Beginn der Republik. Immerhin ermutigten diese Kämpfe die Latiner zum weiteren militärischen Vorgehen gegen Rom, das sich aber in der entscheidenden Schlacht am Regillus-See in agro Tusculano (499 oder 496) behaupten konnte.19 Während die römischen Geschichtsschreiber von einem eindeutigen Sieg sprechen, lässt der Bericht des Dionysios von Halikarnassos, der das anschließende foedus Cassianum zwischen Römern und Latinern detailliert beschreibt, eher einen Bündnisvertrag auf Augenhöhe vermuten.20 Damit hätte sich die römische Position in Latium gegenüber der Königszeit jedoch tendenziell verschlechtert, was man angesichts der noch ungeklärten Lage im Inneren vielleicht in Kauf nehmen musste. Womöglich wurde die Kompromisslö17
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Cornell 1995, 216–217; Linke 2010a, 118–121. Unterstützung erfuhr die Königsfamilie durch Caere (Liv. 1.60.2; s. zudem die Tomba delle Iscrizioni, deren Inschriften auf die Präsenz einer gens Tarquinia verweist, Cristofani 1965, bes. Appendix 1; Colonna 2006, passim; Steingräber 2016, 104–105), Veii (Liv. 2.6.1–7.4. Plut. Publ. 9.1 spricht von etruskischer Hilfe), Gabii (Dion. Hal. ant. Rom. 4.85.4), Tarquinii (Liv. 2.6.2–6; Dion. Hal. ant. Rom. 5.3.1), Clusium (Liv. 2.9; Verg. Aen. 8.646–647), Tusculum (Liv. 2.19.7; Dion. Hal. ant. Rom. 5.21.3; Eutr. 1.11; Aug. civ. 3.15); Cumae (Liv. 2.21.5; Zon. 7.12; Cic. Tusc. 3.27). S. a. Cristofani 1992, 127–133 zum Einfluss der etruskischen Kunst auf Rom zu dieser Zeit. Engerbeaud 2020, 57–70 zu den Kämpfen, die auf die Vertreibung der Könige folgten. Porsennas Taten finden sich hauptsächlich in Liv. 2.9–15; Dion. Hal. ant. Rom. 5.21–34 und Plut. Publ. 16–19 die den heroischen Widerstand zelebrieren, jedoch war eine abweichende Tradition bekannt, laut der Porsenna die Stadt eingenommen hatte, Tac. Hist. 3.72; Plin. nat. 34.139. Auch laut Liv. 2.14.5–9 und Dion. Hal. ant. Rom. 5.36 zog sich das geschlagene Heer des Arruns nach Rom zurück. Zu den Auswirkungen des militärischen Erfolges s. Werner 1963, 385–387, 480–482 und Alföldi 1963, 72–84. Einen aktuellen Überblick zur Forschungsgeschichte bietet Ridley 2017, passim. Cato FRH 3 F 2.28. Nach Liv. 2.19–20, 21.3–4 im Jahr 499, nach Dion. Hal. ant. Rom. 6.2–3 im Jahr 496. Nach dem Sieg weihte der dictator Postumius den Dioskuren Castor und Pollux einen Tempel, die zu römischen Gunsten in die Schlacht eingegriffen haben sollen: Liv. 2.20.12, 42.5; Dion. Hal. ant. Rom. 6.13; Cic. nat. 2.2.6; Val. Max. 1.8.1; Plut. Cor. 3.5, Aem. 25.1–3; Frontin. Strat. 1.11.8. s. a. RRC 335/10). Archäologische Untersuchungen bestätigen den Bau des Tempels im frühen 5. Jahrhundert, Gronne 1990, 116. Zur Bedeutung der Schlacht in der späteren römischen Geschichtsschreibung Forsythe 1994, 258–264; Rebeggiani 2013, 54–55, 63–67; Martinez-Pinna 2017, 76–82. Nach Cic. Balb. 53 war der Vertragstext auf einer Bronzetafel hinter der Rostra noch zu seinen Lebzeiten einsehbar. Fest. 166L, 276L; Liv. 2.33.4 erwähnen den Vertrag, während Dion. Hal. ant. Rom. 6.95 eine detailliertere Darstellung des Vertragsinhalts bietet. s. Werner 1963, 443–459 für eine Aufschlüsselung der einzelnen Regelungen. Grundlegend hierzu bleibt Petzold 1999; s. a. Ampolo 1990, 121–123; Forsythe 2005, 185–189; Aigner-Foresti 2005, 88–89.
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sung auch durch das Vordringen oskisch-sabellischer Gruppen in die latinische und kampanische Ebene mit Einsetzen des 5. Jahrhunderts begünstigt. Das Vordringen dieser Gruppen hatte eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse in den von ihnen eroberten Städten, etwa in Capua, zur Folge.21 Auch wenn man hier nicht von Invasionen sprechen kann, handelte es sich dennoch um gewaltsame Konflikte, die man nicht euphemistisch als Ausdruck von Mobilität beschreiben sollte. Die Veränderungen scheinen zumindest von Römern und Latinern als Bedrohung wahrgenommen worden zu sein. Im nördlichen Latium rückten die Aequer nicht nur gegen Praeneste, Tibur und Nomentum, sondern auch regelmäßig auf römisches Gebiet vor.22 Die größere Gefahr scheint jedoch von den Volskern ausgegangen zu sein, die Latium Adiectum und Teile des pomptinischen Gebiets einnehmen konnten. Diese Erfolge scheinen Latiner und Römer zu einem gemeinsamen Vorgehen gezwungen zu haben, denn man bekriegte die Volsker bereits unmittelbar im Anschluss an das foedus Cassianum und erreichte mit den Koloniegründungen von Pometia, Cora, Signia, Velitrae und Norba in den Neunzigerjahren zumindest ein ‚Containment‘, wobei die Abwehranstrengungen durch den Beitritt der Herniker zum römisch-latinischen Bündnis unterstützt wurden.23 Angesichts dieser vielversprechenden Erfolge hätte eine Fortsetzung der Feldzüge im östlichen Latium nahegelegen. Überraschenderweise liegt der Fokus der römischen Überlieferung in den folgenden Jahrzehnten trotz gelegentlicher Einfälle von Aequern und Volskern aber vor allem auf den Kämpfen Roms gegen die benachbarten Städte Veii und Fidenae. Dieser abrupte Wechsel der Kriegsschauplätze ist zumindest erklärungsbedürftig. Unabhängig von kontingenten Entwicklungen an der gemeinsamen Grenze lässt die Rolle der gentes nach der Vertreibung der Könige die Vermutung zu, dass die potenziellen Gewinne von Militäraktionen in dieser Region attraktiver waren 21 22
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Humbert 1978, 59–61; Frederiksen 1984, 136–148; Bourdin 2012, 675–700; Mermati 2018, 403–407. Wahrscheinlich gerieten diese Städte dabei in eine gewisse Abhängigkeit von den Aequern, da sie erst im 4. Jahrhundert wiederauftauchen. De Sanctis 1960, 120 und Alföldi 1963, 385–389 vermuten eine enge Kooperation der betroffenen Latiner mit den Aequern, Cornell 1989a, 285–286 sogar die Einnahme dieser Städte. Vorsichtiger sind dagegen Oakley 1997, 338 „understanding with the Aequi“; Forsythe 2005, 189 „infiltration“; Buchet 2015, 49–51. Zeitgleich mit dem Auftauchen der Aequer ist ein Zurückgehen der attischer Importkeramik zu beobachten: Steingräber 1985, 25; Torelli 1986, 56; Haynes 2000, 63–64. Coleman 1990 verweist auf die eigenwillige Sprachentwicklung in Praeneste, die aber auch auf die enge Verbundenheit mit den Faliskern zurückzuführen sein könnte, vgl. Bourdin 2012, 472–485. Eine umfangreiche Studie zu den Volskern hat jetzt Di Fazio 2020 vorgelegt. Cornell 1989a 284– 294 erläutert die Kämpfe und deren Folgen. Im Jahr 501 fielen Pometia und Cora erneut in latinische Hand (Liv. 2.16.8), nachdem sie 504 entweder abgefallen oder von den Aurunkern erobert worden waren. Daraufhin wurden die latinischen Kolonien Signia (495; Liv. 2.21.7), Velitrae (494; Liv. 2.31.4; Dion. Hal. ant. Rom. 6.42.3–43.1) und Norba (492; Liv. 2.34.6) gegründet. Zur bleibenden Unterscheidung zwischen Latium Vetus und Latium Adiectum s. Farney 2007, 45–49 und Fulminante 2014, 41–44. Die Kämpfe gegen Fidenae im Jahr 498 (Dion. Hal. ant. Rom. 5.60.4) enden dagegen mit der Einverleibung von Teilen des eroberten Gebietes in den ager Romanus. S. Salmon 1969, 40–45 und Martinez-Pinna 2017, 182–206 für einen Überblick der priscae coloniae Latinae. Zum Dreierbündnis mit den Hernikern: Dion. Hal. ant. Rom. 8.69.2; Liv. 2.41.1. Gnade 2017, 463.
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als im pomptinischen Gebiet.24 Bei letzteren handelte es sich schließlich um gemeinsame Aktionen der Latiner, die zur Gründung von coloniae Latinae führten. Dies mag dem Aufbau von Netzwerken zuträglich gewesen sein, doch ist es unwahrscheinlich, dass individuelle gentes ihre territorialen Machtbasen als Teil heterogener Koalitionsaufgebote bedeutend erweitern konnten.25 Die Vorteile der eigenständigen Kriegsführung in der Nachbarschaft Roms werden dagegen an einem konkreten Beispiel offenkundig. Das nördlich von Rom gelegene Crustumerium wurde um 500 erobert, woraufhin es zur Einrichtung einer neuen tribus kam, die auch römische Ansiedler umfasst haben dürfte.26 Die Einverleibung Crustumeriums vergrößerte somit den Einflussbereich und die Ressourcen der römischen Gemeinschaft, wovon die großen gentes in nicht geringem Maße profitiert haben dürften. Da sich die römischen Anstrengungen in der Folge auf das Tibertal fokussierten, ist davon auszugehen, dass damit vor allem römische Partikularinteressen verfolgt wurden.27 2.3 Die sogenannten Ständekämpfe im frühen Rom Diese Umorientierung auf die unmittelbaren Nachbarn muss dabei auch vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in Rom nach der Vertreibung der Könige gesehen werden. Hier war die Lage zunächst äußerst volatil und zeichnete sich durch aristokratische Machtkämpfe aus, in deren Kontext vermeintliche Parteigänger der Königsfamilie exiliert wurden, darunter Tarquinius Collatinus, angeblich erster Konsul neben L. Iunius Brutus.28 In dieser von Konkurrenz geprägten Episode spiegelt sich das Hauptanliegen der einflussreichen Aristokraten, die fortan die Patrizier bil24 25
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Vgl. Oakley 1993, 10–22; Cornell 1989a, 293–298; Armstrong 2016a, 214–231. Liv. 2.53.4: Dum haec ad Veios geruntur, Volsci Aequique in Latino agro posuerant castra populatique fines erant. Eos per se ipsi Latini adsumptis Hernicis sine Romano aut duce aut auxilio castris exuerunt. Salmon 1969, 42–45; vgl. Alföldi 1963, 366–374. Nach Liv. 3.1.7 und Dion. Hal. ant. Rom. 9.59.2 erhielt etwa Antium 467 eine Kolonie, die aus Hernikern, Latinern und Römern bestand und auch Einheimische einschrieb; laut Di Fazio 2020, 47 eine „composizione multietnica“. Dagegen gehen Cornell 1995, 302 und Oakley 1997, 341–344 von einer Beteiligung römischer Magistrate bei den Koloniegründungen aus; s. a. Armstrong 2016a, 218. Zur Einstellung der Koloniededuktionen s. Chiaba 2011, 106–131, bes. 129–131. Crustumerium: Quilici/Quilici Gigli 1980, 285–286; Attema u. a. 2014, 192–193. Tribusgründung: Rieger 2007, 371–379. Diese mögen durchaus mit den Einzelinteressen bestimmter gentes und „Kriegsbanden“ deckungsgleich gewesen sein, CIL 1, 2832. S. Levi 1995, passim; Humbert 1978, 76–81; Hermon 1999b, 853– 867; Armstrong 2016a, 129–182. Liv. 2.2.2–10; Dion. Hal. ant. Rom. 4.76.1, 4.84.5, 5.1.2, 5.9.2–5.12.3; Zon. 7.12.1. Cornell 1995, 223–226; Raaflaub 2005, 201–202. Neben diesen aristokratischen Machtkämpfen kam es zu Kontroversen bezüglich der Weihung des Tempels für Iuppiter Optimus Maximus. Dieser sollte durch die neuen Konsuln Valerius Publicola und M. Horatius Pulvillus eingeweiht werden, wobei Anhänger des Valerius mit aller Macht die Weihung zu hintertreiben versuchten. Liv. 2.8.5–9; Plut. Popl. 14; Zon. 7.12.3–4. Hierzu Linke 2014a, 29–30.
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den sollten, wider, eine allzu starke Zentralgewalt zu vermeiden. Stattdessen setzte man auf eine föderale Organisation, die ein Minimum an militärischer und diplomatischer Handlungsfähigkeit sicherstellten, dabei aber die Autonomie und Herrschaft der gentes in ‚ihren‘ Herrschaftsgebieten unangetastet lassen sollte.29 Die Verfolgung dieses föderalen Organisationsansatzes könnte dabei durch etruskische Vorbilder inspiriert worden sein. Die ohnehin starke Stellung der Aristokraten in Etrurien hatte im Zuge des 5. Jahrhunderts weiter zugenommen und zu einer Konsolidierung der Führungszirkel geführt, die eine weitgehende Kontrolle über die unfreie Bevölkerung ausübten.30 Es ist demzufolge naheliegend, von einer ähnlichen Zielsetzung der Eliten in Rom auszugehen, die zum Teil auch etruskische Verbindungen besaßen.31 Hierin waren sie zumindest partiell erfolgreich, da die Imperiumsträger – unabhängig von der umfangreichen, aber letztendlich nicht zu beantwortenden Diskussion bezüglich der Anzahl und Hierarchie der frühen Oberbeamten – größtenteils aus dem Kreis der patrizischen gentes stammten.32 Die Tatsache, dass die zu Beginn der Republik gegründeten 21 tribus größtenteils Gentilnamen tragen, lässt zudem vermuten, dass die Patri-
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Heuss 1944, 66–70; s. Linke 1995, 143–157 zum föderalen Ansatz der Patrizier. Die Einrichtung der 21 tribus im Jahr 495, von denen der Großteil nach römischen Gentilverbänden benannt ist, zeigt die Verfestigung der politischen und territorialen Herrschaftsansprüche der Patrizier, s: CelsSaint-Hilaire 1995, 63–67; Rieger 2007, 345–464; Armstrong 2016a, 146–163; vgl. dagegen Smith 2006a, 236–239. In gewisser Weise entspricht die überlieferte Zielsetzung der Patrizier dem Bild von Terrenato 2019, der aber die plebeischen Abwehrbemühungen ignoriert. Den langen Kampf der bäuerlichen Mittelschicht um einen unabhängigen Status hat Linke (1998, 2010 passim) anhand des Sonderwegs der sozialen Organisation dargelegt. S. a. Rieger 2007, 414–443. Pallottino 1984, 301–322; Torelli 1988c, 244–247, 1992, 68–74; Colonna 1990, 15–21; Camporeale 2003, 319; Smith 2006a, 158–163; Turfa 2017, 646–647; Lomas 2017, 86; Amann 2017, 186–190. Tagliamonte 2017, 131–132. Laut Plin. nat. 35.157 wurde die Jupiterstatue des Kapitolinischen Tempels von einem gewissen Vulca aus Veii angefertigt. Noch in späterer Zeit wurden junge Aristokraten zur Ausbildung nach Caere gesandt (Liv. 9.36.3). Für die frühen Veturii sind aufgrund einer in Praeneste gefundenen Silberschale mit der Inschrift vetusia ebenfalls etruskische Verbindungen angenommen worden, Alföldi 1963, 192; s. a. Hartmann 2005, 43–65 zu den unterschiedlichen Interpretationen. Monaco 1984, 234; Franciosi 1988, 13–17; Torelli 1988c, 243–252; Forsythe 2005, 117–121; Farney 2007, 125–133; Tagliamonte 2017, 128–131. Zu Verbindungen mit Caere: Sordi 1960, 25–36; Harris 1971, 45–47; Cornell 1995, 320–321. Dagegen steht Adams 2003, 160–162 dieser Überlegung einer starken römisch-etruskischen Verflechtung in der Frühzeit kritisch gegenüber. Harris 1971, 4–40 und Ferenczy 1976a, 92–97 zu den Zeugnissen früher Beziehungen. Ein letztlich nicht zu klärendes Problem, das eine Flut an unterschiedlichen Interpretationen hervorgebracht hat: Mommsen RG I, 244–258; Hanell 1946, 165–168; Werner 1963, 240–263; Ogilvie 1965, 539–541; Alföldi 1967, 261–265; Momigliano 1969a, 399–415, 1969 passim; Rilinger 1978, 252– 256; Bleicken 1981b, 26–43; Heuss 1983, 436–454; Drummond 1989b, 192–195; Sohlberg 1991, 262– 271; Kunkel 1995, 391–398; Stewart 1998, 53–94; Bunse 1998, 44–70, 2001 passim; Forsythe 2005, 150–157; Urso 2005, 123–34; Linke 2010, 136–142; Drogula 2015, 27–34; Armstrong 2016a, 131–136; Richardson 2017, 90–97; Humm 2018, 41–48; Bradley 2020, 131–137. Die ausführliche Forschungsdiskussion fassen Linke 2010, 118–121 und Walter 2017a, 159–164 zusammen. Zu den plebeischen Namen in den frühen fasti s. Ridley 1980, 296; Momigliano 2005, 174–177 lehnt diese Namen komplett ab, wohingegen Forsythe 2005, 156–166 einen differenzierten Vorschlag auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Konsulat und Konsulartribunat macht.
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zier nach der Vertreibung der Könige ihren Einfluss in den Landtribus weiter ausbauten und die dortige Bevölkerung in Abhängigkeitsverhältnisse zu zwingen suchten.33 Dieses Vorhaben traf jedoch auf erbitterten Widerstand und führte zu einem Zusammenschluss derjenigen Bevölkerungsteile, die sich nicht in die umfangreichen, patrizischen Klientelbeziehungen einbinden lassen wollten. Diese sehr heterogene Gruppe sah ihre eigene Autonomie und Freiheit angesichts der patrizischen Bestrebungen dermaßen bedroht, dass sie sich als plebs, die Menge, zusammenfand.34 Schon im Jahr 494 sei es zur ersten secessio plebis gekommen, in der ein signifikanter Teil der Bevölkerung auf den mons sacer auszog und sich dort mit den durch eine lex sacrata geschützten tribuni plebis eine eigene, parallele Vertretung schuf.35 Damit kreierten die Plebeier eine Art Ersatzkönigtum, das sie wirkungsvoll vor den Übergriffen der Patrizier schützen sollte. Dieser intensiv memorierte politische Kraftakt eines Großteils der Bürgerschaft lässt sich nicht in die aktuellen Erklärungsmuster einer weitgehend von der Oberschicht dominierten Gemeinschaft einbetten.36 Ebenso wenig kann der Auszug als Ausdruck der hohen Mobilität in Mittelitalien gesehen werden, da eine Diffu-
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Rieger 2007, 345–468. Ein exklusiver patrizischer Anspruch auf das Ackerland ist besonders von Capogrossi Colognesi 1980, 31–37, 1988, 263–283, 2019, 61–71 vertreten sowie von Hermon 2001, 54–56 und zuletzt von Lanfranchi 2015, 409–418 aufgegriffen worden. S. a. Magdelain 1971, 106–111; Ferenczya 1976, 16–20; Burdese 1985, 54; Linke 1995, 85–92; Cels-Saint-Hilaire 1995, 59–61; Hermon 1999a, 22, 2001, 136–138; Richard 2015, 490–501, 2005, 118–120, 397–402. Skeptischer sind dagegen Smith 2006a, 240–247 und Roselaar 2010, 20–30. Zur Vereinnahmung des Landes durch die Patrizier s. Fest. 289L: patres senatores idea appellati sunti, quia agrorum partes adtribuerant tenuioribus ac si liberis propriis; Cassius Hemina FRH 6 F 20 (= Non. P. 217L) quicumque propter plebitatem agro publico eiecti sunt; s. hierzu den Kommentar von Beck/Walter 2001, 262–263. Darüber verleihen die Berichte zur Aufnahme der gens Claudia im Jahr 504 Aufschluss über die Machtmittel und den Einfluss der gentes: Liv. 2.16.3–5: namque Attius Clausus, cui postea Appio Claudio fuit Romae nomen (…) magna clientium comitatus manu, Romam transfugit. Dion. Hal. ant. Rom. 5.40 nennt in diesem Kontext 5.000 Wehrfähige, Plut. Publ. 21 dagegen 5.000 Familien, Serv. Aen. 7.706 5.000 Klienten und Freunde. Abweichende Überlieferungen verorten die Übersiedlung der Claudii in die Zeit des Romulus (Suet. Tib. 1) oder der Tarquinier (App. reg. 12). Auch für die gens Fabia liegen Detailinformationen im Kontext ihres desaströsen Vorstoßes an die Cremera vor: Liv. 2.48–49; Dion. Hal. ant. Rom. 9.15. Münzer RE 6 (1909), 1877–1880; Timpe 1990, 382–386; Richard 1990, 248–254 passim; Hermon 2001, 56–67 und Richardson 2012, 81–83 setzen sich ausführlich mit der Episode und ihrer Überlieferung auseinander. Forsythe 2005, 171–183 bespricht die zahlreichen Schwierigkeiten der Überlieferung, die auch Walter 2017b thematisiert. Dagegen führt Lanfranchi 2015, 52–66 überzeugende Gründe für die Authentizität der livianischen Angaben an. S. a. De Martino 1972, 337; Drummond 1989b, 216–217; Cornell 1995, 256–258; Richard 2005, 118–120; Humm 2018, 34–36. Laut Momigliano 2005, 173–197 ging der patrizisch-plebeische Gegensatz auf die Königszeit zurück, verweist aber auf die einzigartige und nur schwer zu erklärende Fähigkeit der Plebeier, sich zu Beginn der Republik eine schlagkräftige Organisationsform zu geben; hierzu Linke 2014b, 78–80. S. Mignone 2014 zur Erinnerungslandschaft der secessiones. Eder 1988, 472, 1993 passim; Smith 2012a, 116–121; Humm 2018, 36–37. Cic. rep. 2.58; Liv. 2.32–33; Dion. Hal. ant. Rom. 6.89; Fest. 422L. Zur Organisation der Plebeier: Bleicken 1968, 5–18; De Martino 1972, 334–370; Richard 2015, 547–568; Torelli 1988c, 257–261; Cornell 1995, 256–265; Raaflaub 2005, 191–195; Momigliano 2005, 173–181; Linke 2010, 124–126; Lanfranchi 2015, 52–81.
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sion der Bürgerschaft wohl kaum das Ziel der Plebeier gewesen sein dürfte, zumal der mons sacer immer noch im Zentrum des ager Romanus lag – drei römische Meilen nördlich der Stadt am Zusammenfluss von Tiber und Anio. Folglich ist hier wohl eher von einer politischen Machtdemonstration auszugehen, wofür auch die umgehende Wahl von plebeischen Beamten und die Konstituierung eines eigenen politischen Rahmens sprechen. Insbesondere die Schaffung der tribuni plebis sowie die damit verbundene lex sacrata, die die Grundlage der Durchsetzungskraft des tribunizischen Vetos mithilfe der kollektiven Gewaltandrohung bildete, dabei aber auch sämtliche Plebeier in die Pflicht nahm und damit als Gruppe mit bestimmten Rechten und Verpflichtungen definierte, zeigt den politischen Willen der Beteiligten, ihre eigenen Interessen innerhalb der bestehenden Gemeinschaft zu schützen und durchzusetzen.37 Hierfür spricht auch, dass die urbs ohne Zweifel das Kraftzentrum der plebs bildete, ohne dass sich hieraus eine Reduzierung der Plebeier auf die Stadtbevölkerung ergeben muss. Auch für die ländlichen Teile der Bevölkerung blieb das urbane Zentrum schließlich ein unersetzlicher öffentlicher Organisations- und Kommunikationsraum, in dem politische Zusammengehörigkeit und Willensbildung hergestellt und erlebt wurden.38 In der Folge konfrontierte die Schaffung effektiver plebeischer Institutionen den umfassenden patrizischen Führungsanspruch jedenfalls mit erheblichen Schwierigkeiten, zumal die Plebejer durch die Verweigerung des Militärdienstes, den sogenannten Wehrstreik, über ein weiteres Druckmittel verfügten. Dieses wog umso schwerer, als man gerade zu diesem Zeitpunkt nicht auf den militärischen Beitrag der Plebeier verzichten konnte.39 Während Livius in Buch II den Kampf gegen Veii und den Untergang der Fabier thematisiert, ist Buch III von Abwehrkämpfen gegen Aequer und Volsker geprägt.40 Auffällig sind in diesem Zusammenhang die Prozesse gegen patrizische Befehlshaber sowie Hungersnöte und Seuchen, die aufgrund der detaillierten Nennung von Priesternamen Glaubwürdigkeit beanspruchen dürfen, deren Details und Ausschmückungen dagegen aber kritisch zu bewerten sind. Diese Rückschläge scheinen maßgeblich dazu beigetragen zu haben, den Machtanspruch der Patrizier
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Richard 2015, 539–547; Eder 1990, 21–22; Linke 2010, 122–126; Lanfranchi 257–281. Vgl. hierzu die Verankerung der plebs in der Stadt mittels der ludi plebeii sowie dem Tempel für Ceres, Liber und Libera auf dem Aventin (Dion. Hal. 6.17.2–4), Cornell 1995, 263–265. Richard 2015, 554–559; Armstrong 2016a, 177–181. Kolb 2002, 119–130 zum Verhältnis von Bautätigkeit und politischer Konsolidierung, s. a. Hopkins 2016, 164–171 der die Kontinuität nach der Vertreibung der Könige unterstreicht. Die Argumente von Terrenato 2011 und 2019, 56–63 überzeugen dagegen nur bedingt, da die politische Öffentlichkeit und Selbstständigkeit der urbanen Zentren nicht berücksichtigt wird. Gleichwohl betont Terrenato die notwendige Anpassung der Eliten an die jeweiligen Verhältnisse: „Absolute rulers at home and constrained citizens in council, these men had to juggle the two roles as well as they could to further both their cities and their lineages through a combination of strategies“ (2019, 63). Richard 2005, 118–120. S. a. Armstrong 2016a, 163–171 und Lanfranchi 2015, 146–151, 266–271, die den revolutionären Charakter dieser Vorgänge relativieren. Genauer erläutert in Ogilvie 1965, 390–411, 434–445; Engerbeaud 2020, 110–120.
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zu erschüttern.41 Im Zuge eines weiteren Überfalls auf römisches Gebiet im Jahr 462 wird etwa berichtet, der Volkstribun Terentilius Harsa habe erstmals vergeblich die Einrichtung einer Kommission zur Kodifizierung des Rechts und vor allem der Regelungen bezüglich des imperium der Magistrate gefordert. Vier Jahre später sei es dann zu einer Erhöhung der Anzahl der Volkstribunen auf 10 Amtsträger gekommen.42 Die militärischen Belastungen und die innenpolitischen Auseinandersetzungen scheinen die Gemeinschaft derart gefährdet zu haben, dass die Patrizier den Forderungen der Plebeier schließlich nachgeben mussten. Das resultierende, um 450 herum von einem Dezemvirat verfasste Zwölftafelgesetz wies dann aber hauptsächlich privatrechtliche Regelungen auf und befasste sich in keiner Weise mit Fragen der politischen Verfassung des Gemeinwesens.43 Walter Eder hat in diesem Kontext auf das Zusammenspiel von „aristocracy, crisis, and legislation“ bei frühen Gesetzeskodifikationen hingewiesen, wonach diese hauptsächlich den prekär gewordenen gesellschaftlichen Führungsanspruch der Elite sichern sollten, indem der Gefahr einer möglichen populistischen Tyrannis begegnet wurde. Dem würden die wirtschaftlichen Zugeständnisse der Patrizier entsprechen, zu denen Eder jedoch hinzufügt, dass die schriftliche Fixierung derselben nicht zwangsläufig auch deren Umsetzung bedeuten musste, da „certainty of law“ nicht automatisch zu „equality before the law“ führe. Dagegen hat Linke vor allem die langfristige Bedeutung der Anerkennung der Eigenständigkeit der mittelständischen Bauern und ihres Schutzes vor magistratischer Willkür sowie vor dem Missbrauch sozialer Bindungssysteme hervorgehoben, die Kernanliegen der Plebeier
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Lanfranchi 2015, 463–470. Angeblich war K. Quinctius wegen seiner plebs-feindlichen Handlungen im Jahr 461 verurteilt und ins Exil getrieben worden, Liv. 3.11–14; Dion. Hal. ant. Rom. 10.4–8; Vir. ill. 17.1, vgl. Ogilvie 1965, 411–423. T. Romilius (cos. 455) und C. Veturius (cos. 455) sollen 454 angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt worden sein, Liv. 3.31.2–7; Dion. Hal. ant. Rom. 10.48. Die lex Aternia Tarpeia zur Regulierung der Bußgelder soll in diesem Jahr eingeführt worden sein, Cic. rep. 2.60; Gell. 11.1.2; Fest. 270L; s. a. Plin. nat. 18.11. Im selben Jahr sei auch das plebeische Heiligtum auf dem Aventin aufgewertet worden, dessen Verteilung eine der plebeischen Forderungen gewesen war, s. Liv. 3.32.7.; Dion. Hal. ant. Rom. 10.32. Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten s. Lanfranchi 2015, 405–409. Nach Liv. 3.10.1–3 nahm der Erfolg des Lucretius diesem Antrag den Wind aus den Segeln, dabei verteilte der Konsul lediglich ‚zurückgewonnene Beute‘. Zu den tribuni plebis: Für 494 gibt Liv. 2.33.2 eine Zahl von zwei gewählten und drei kooptierten Volkstribunen an, Dion. Hal. ant. Rom. 6.89.1–2 nennt ebenfalls fünf. Diod. 11.68.8 gibt für 471 dagegen vier Tribunen an. Bezüglich der Erhöhung auf 10 besteht Einigkeit, allerdings liegen unterschiedliche Datierungen vor: nach Liv. 3.30 und Dion. Hal. ant. Rom. 10.30.2 erfolgte sie im Jahr 457; nach Diod. 12.25.2 erst im Jahr 449. Richard 2015, 563–568 hält diese Angaben für zuverlässig; vgl. dagegen De Martino 1972, 349–351. Für eine umfassende Auseinandersetzung mit den Entstehungsumständen des Volkstribunats sowie mit der Überlieferung s. Lanfranchi 2015, 52–78. Für den Untersuchungszeitraum des 4. Jahrhunderts ist jedenfalls von 10 Volkstribunen auszugehen. Cic. leg. 2.59 belegt die verbreitete Kenntnis der Gesetze. Wieacker 1967, 296–320; Flach 2004, 23–33 sowie passim zum Inhalt der Tafeln. Wieacker 1967, 303–310 betont die Reflektion der Wirtschafts- und Sozialverhältnisse, Ferenczy 1976a, 21–22 die Ausführungen zum Privatbesitz, vgl. Raaflaub 2005, 202–203.
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gewesen seien.44 Besonders die Anerkennung der Stellung der patres familias und ihrer Testierfreiheit stärkte deren Stellung innerhalb der Familie, während die Fixierung der Verpflichtungen der patroni sie gegenüber diesen absicherte und einen großen Schritt in Richtung einer stärkeren Reziprozität von Klientelverhältnissen bedeutete.45 Die Zugeständnisse der Patrizier im privatrechtlichen Bereich scheinen dabei auf die Beseitigung des politischen Konfliktpotenzials und die Auflösung der plebeischen Parallelinstitutionen abgezielt zu haben, um die Plebeier so wieder in die Gemeinschaft unter Vorsitz der Patrizier zu integrieren.46 Hieran änderte auch das vermeintlich tyrannische Zweite Dezemvirat wenig, das vor allem durch die patrizische Uneinigkeit auffällt, die zur offenen Unterstützung der plebeischen Gegenbewegung durch namhafte Patrizier wie L. Valerius Potitus und M. Horatius Barbatus führte.47 In der Folge erreichte man offenbar einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss in Bezug auf die Ämter, da die tribuni plebis wiedereingeführt und zugleich das Oberamt in Form der tribuni militum consulari potestate reorganisiert wurde.48 Eders und Linkes Aussagen zu diesem langen Verhandlungsprozess lassen sich m. E. insofern harmonisieren, als die Patrizier sich für weitere 100 Jahre eine weitgehend exklusive Lenkung des Gemeinwesens sichern konnten, dafür aber letztendlich die Statusaufwertung der einfachen Bürger akzeptieren mussten. Letzteres dürfte auch ein größeres Gewicht der ple-
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Linke 2010, 128–134 widerspricht damit Eder 2005, 254 und Manzo 1995, passim. Vgl. Armstrong 2020, passim der die frührepublikanischen Gesetzesinitiativen als Ausdruck eines sich verfestigenden Gemeinwesens und der inhärenten Spannungen eines solchen Prozesses sieht. Hierbei wird jedoch die enge Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen nicht genügend berücksichtigt. Linke 2010, 132–134. Die relevanten Passagen in den Zwölftafeln sind 5.3 Flach (= Dig. 50.16.120) uti legassit super familia sua tutelave suae rei, ita ius esto sowie 8.10 Flach (= Serv. Aen. 6.609) patronus si clienti fraudem fecerit, sacer esto. In diesem Kontext ist auf die immer noch grundlegende Arbeit von Leist 1896 zum altarischen ius civile zu verweisen. Nach Leist 1896, 157–160 entwickelte die römische Gesellschaft in der Frühzeit ein strikt agnatisches Verwandtschafts- und Erbsystem, das die Hausmacht des pater familias in einer schroffen zivilrechtlichen Ordnung festschrieb und die Handlungsfähigkeit der Familie in Stresssituationen gewährleistete, vgl. Linke 1995, 77–85. Eder 2005, 258–259; Raaflaub 2005, 195–197. Nach Linke 2014b, 78–82 bildete die Ablehnung einer allzu starken Zentralgewalt eine breite Schnittmenge zwischen Patriziern und Plebeiern. Ferenczy 1976a, 35. S. a. den Kommentar von Ogilvie 1965, 468–509 und Forsythe 2005, 230–233. Interessant ist der Hinweis, der Senat habe sich in dieser Zeit auf das Land zurückgezogen, Liv. 3.38.12 referunt senatum in agris esse. Liv. 4.6; Dion. Hal. ant. Rom. 11.56, 11.60.5; Pomp. Dig. 1.2.2.25; Zon. 7.19 berichten, das Amt sei auch für Plebeier zugänglich gewesen, allerdings ist deren nachgewiesene Zahl äußerst gering. Trotz der umfangreichen Forschungsdiskussion bleiben die Konsulartribunen „enigmatic“, so jedenfalls Oakley 1997, 367–376. S. a. von Fritz 1950, 37–41; Ogilvie 1965, 539–541; Drummond 1989b, 192–195; Sohlberg 1991, 259–262; Cornell 1995, 334–337; Stewart 1998, 53–94; Brennan 2000, 49–54; Forsythe 2005, 234–239; Urso 2005, 123–134; Drogula 2015, 25–27; Armstrong 2016a, 189–199, 210– 211. Richardson 2017, 92–97, passim fasst die Probleme prägnant zusammen. Meunier 2014 hat eine Identifizierung der tribuni mit den Befehlshabern des latinischen Bundesaufgebots vorgeschlagen, was aber Spekulation bleiben muss.
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beischen Versammlung, des concilium plebis, zur Folge gehabt haben.49 Demnach wäre weniger der heftige Konflikt zwischen patrizischen und plebeischen Positionen als entscheidendes Charakteristikum der Auseinandersetzungen hervorzuheben, sondern vielmehr deren langer Aushandlungsprozess, der in gewisser Weise eine Fortsetzung der Entwicklungen der Königszeit sowie die konsequente Austragung der darin begründeten Gegensätze darstellt. Walter hat hier zuletzt die „binäre Dynamik der soziopolitischen Entwicklung“ betont, die sowohl die Konstituierung des populus Romanus als auch die Einführung von starken zentralen Magistraturen zur Folge hatte.50 Dieser Prozess war mit dem Zwölftafelgesetz aber noch lange nicht abgeschlossen und blieb hinsichtlich seiner weiteren erfolgreichen Umsetzung in nicht unerheblichem Maße von den äußeren Rahmenbedingungen abhängig. 2.4 Erste militärische Erfolge Roms in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts Wie bereits erörtert, spielte neben dem politischen Widerstand der Plebeier auch deren Verweigerung des Militärdienstes eine gewichtige Rolle bei dem Zustandekommen des Zwölftafelgesetzes und der damit verbundenen Reformen. Der militärische Handlungsbedarf wird dabei in der Reorganisation der Oberbeamten deutlich, deren Zahl durch die Einführung des drei- bis sechsköpfigen Kollegiums der tribuni militum consulari potestate wesentlich erhöht wurde.51 Laut Armstrong besaßen diese eine breitere Legitimationsbasis als ihre Vorgänger sowie erweiterte Befugnisse, was eine stärkere Heranziehung und Einbindung der Plebeier in das militärische Aufgebot ermöglicht habe.52 Die Verbesserung der Wehrkraft scheint auch bei der Einrichtung der Zensur 443 eine Rolle gespielt zu haben, die eine genauere Erfassung der Bürgerschaft ermöglichte.53 Ähnliche Motive lagen wahrscheinlich auch bei der 447 eingeführten 49
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Mit der Einführung der zwölf Tafeln wurde der erste, irreversible Schritt zur Anerkennung der plebeischen Institutionen beschritten (Liv. 3.55.3; Dion. Hal. ant. Rom. 11.45.1). Ferenczy 1976a, 34–37; Oakley 1998, 523–525; Hölkeskamp 2004b, 66–73; Raaflaub 2005, 198–203; Linke 2006, 83–87, 2011, 58–61; Smith 2006a, 315–321, 2011, 226–228; Lanfranchi 2015, 293–312. Walter 2016, 24–25; s. a. Linke 2010b, 190–193. Nach Holloway 2008 habe es sich bei den Konsulartribunen um Anführer privater Kriegsbanden gehandelt, die von der späteren Annalistik zu Imperiumsträgern aufgewertet worden seien. Auch Meunier 2011/2014 geht in diese Richtung, wenn er die Konsulartribunen mit latinischen Truppenführern in Verbindung bringt. Obwohl die Bedeutung der privaten Kriegsführung in den letzten Jahren stärker betont wurde (etwa Rawlings 1999, Armstrong 2016a, 2019; Terrenato 2019) scheint mir eine völlige Abkopplung der militärischen Aufgebote und Befehlshaber von ihren politischen Heimatverbänden problematisch. Vielmehr ist hier Armstrong 2016a, 183–232 zu folgen, der von einer zunehmenden Fusion der privaten und gemeinschaftlichen Kriegsführung ausgeht. Armstrong 2016a, 189–203; vgl. Kienast 1975. Liv. 4.8.2; Zon. 7.19; Cic. fam. 9.21.2 und Dig. 1.2.2.17 geben dagegen kein Datum an. Zur militärischen Qualität s. Varro ling 6.86, s. a. Northwood 2008, 265–269. Die Datierung wird in der For-
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Quästur vor, bei der man den Plebeiern noch dadurch entgegenkam, dass die Quästoren von der comitia tributa gewählt wurden.54 Zwar gelang es den Plebeiern somit in vielen Bereichen zumindest ein Mitspracherecht einzufordern, doch sollte darüber nicht vergessen werden, dass die Führung der Heere größtenteils den Patriziern zufiel, die damit auch in erhöhtem Maße von dessen Verstärkung profitierten. Nach der Verabschiedung des Zwölftafelgesetzes weisen die Konflikte mit den römischen Nachbarn eine neue Intensität auf. Bereits unmittelbar nach Einrichtung der tribuni militum consulari potestate erfolgte eine Intervention in Ardea, die zur Übernahme Coriolis und 442 zur Entsendung römischer Kolonisten führte.55 In Livius’ Buch IV überwiegen ab diesem Zeitpunkt die erfolgreichen Militäraktionen und Erweiterungen des ager Romanus: im Jahr 435 sei Fidenae erobert und mit Kolonisten versehen worden, deren erfolgreiche Ansiedlung jedoch erst in zähen Kämpfen durchgesetzt werden konnte. Dasselbe Schicksal erlitt Labici, das im Jahr 418 von Rom erobert wurde und 1.500 Kolonisten erhalten haben soll.56 Die Einzelheiten der Überlieferung sind hier sicherlich diskussionswürdig, doch gibt es keine guten Gründe, grundsätzlich an der berichteten Erweiterung des römischen Gebiets zu zweifeln. Interessanterweise scheinen die römischen Erfolge dabei nicht zu einer Saturierung, sondern eher zu einer Steigerung der Einsatzbereitschaft geführt zu haben. Das eindrücklichste Zeugnis hierfür ist zweifellos die Einführung des stipendium im Jahre 406.57 Selbst wenn man lediglich von einer überschaubaren Aufwandsentschädigung ausgeht, so war diese Innovation dennoch eine bewusste und vor allem zentralstaatlich organisierte Verbesse-
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schung größtenteils akzeptiert, Mommsen RStR 2, 334–335, Suolahti 1963, 26–30; Nicolet 1980, 50– 73; Astin 1982, 176–181 geht zu Beginn von eher irregulären Amtszeiten aus; Kunkel 1995, 391–398; zur frühen Zensur s. Clemente 2016, 451–455 sowie umfassend Humm 2020, passim. Bunse 2001, 154–162 bezweifelt die frühe Kollegialität der Magistratur. Kienast 1975, 98 und Armstrong 2016a, 189–207 betonen die militärischen Anforderungen. Bereits in der Königszeit könnten zwei Quästoren die Verwaltung des aerarium übernommen haben, Tac. Ann. 11.22; Ulp. Dig. 1.13.1; nach Plut. Publ. 12.2–3 mit Beginn der Republik. S. a. Liv. 2.41.11; Dion. Hal. ant. Rom. 5.34.4, 7.63.2, 8.77. Zur Wahl der Quästoren ab 447 s. a. Gell. 13.15.4; Cic. epist. 7.30.1. Die Erhöhung berichtet Liv. 4.43.3–4. Forschungsüberblick bei Kunkel 1995, 510–515. Bei Licinius Macer FRH 17 F14 (= Liv. 4.7.7–12) steht die Reform der Ämter in engem Zusammenhang mit den Vorgängen in Ardea. Nach Frier 1975, 80, passim hat er die Informationen aus dem noch vorhandenen Vertrag mit Ardea sowie den libri lintei gezogen. S. Forsythe 2005, 242–243 zur geographischen Lage und Überlieferung, die auf zeitgenössischen Zeugnissen basiert zu haben scheint; Liv. 4.20. Fidenae: Liv. 4.33–34. Labici: Liv. 4.47.49. Smith 1996, 130–132 und Wilson 2009, 749–750 zu den extensiven cuniculi-Arbeiten in Fidenae im 5. Jahrhundert, vgl. Quilici-Gigli 1990b, 155–156 und Fulminante 2014, 215. S. Roselaar 2010, 28–31 und Armstrong 2016a, 153–157 zur wachsenden Bedeutung von Landeroberungen in diesem Zeitraum. Liv. 4.59.11; Diod. 14.16.5; Plut. Cam. 2. Die Finanzierung erfolgte über das tributum: Liv. 5.20, 10.46, vgl. Varro ling. 5.181–182; Gell. NA. 6.10. Unsere Quellen gehen nicht auf die genauen Formen der Erhebung und möglicherweise Erstattung des tributum ein, die dementsprechend umstritten bleiben: Nicolet 1976, 3–19; 1980, 115–117, 153–169; Boren 1983, 432–433; Rosenstein 2016, 95–97; Armstrong 2016a, 211–214; Tan 2019, 52–54; Pearson 2021, 106–127. Die Datierung auf das Jahr 406 wird inzwischen aber als authentisch angesehen, s. Mersing 2007 mit einem Überblick der älteren Forschung.
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rung der Wehrkraft durch die Erfassung und Bereitstellung zusätzlicher, gemeinschaftlicher Ressourcen für die Kriegsführung.58 Bezeichnenderweise spielten sowohl die zuvor eingeführte Zensur als auch die Quästoren hierbei eine wichtige Rolle, weshalb von einer schrittweisen Einführung auszugehen ist, die im Laufe der Zeit zunehmend formalisiert wurde. Die Festsetzung und Eintreibung von Steuern durch zentral gewählte Beamte – nicht zu vergessen die bereitwillige Zahlung derselben – setzten dabei einen hohen Kohäsions- und Zentralisierungsgrad der Gemeinschaft voraus.59 Die Einbindung und Mobilisierung der Bürgerschaft ging dabei mit ihrer Aufwertung in politischen und militärischen Fragen einher, was im Laufe der Zeit zu einer stärkeren, aktiven Partizipation an den gemeinschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen jenseits der bloßen Blockade führte. Hierfür sprechen auch die erneut auftauchenden Konflikte, die paradoxerweise durch die Erfolge der römischen Innovationen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ausgelöst wurden. Vor allem die übermäßige Vereinnahmung der Beute durch die Patrizier wird dabei als entscheidender Faktor genannt, wobei besonders die erfolgreiche Einverleibung zusätzlicher Landflächen eine Rolle gespielt zu haben scheint. Anders als die bewegliche Beute bargen diese das Potenzial einer dauerhaften Verschiebung der politischen und sozialen Verhältnisse, da eroberte Gebiete entweder an die gentes fallen oder aber für Ansiedlungen römischer Bürger genutzt werden konnten.60 Fidenae und Labicii, die über ein gemeinsames Territorium von etwa 120 km2 verfügten, erhielten zum Beispiel Kolonisten, doch wurden die Gebiete keiner neuen tribus zugeordnet.61 Dies würde dafür sprechen, dass die akquirierten Flächen samt der einheimischen Bevölkerung den bestehenden, von patrizischen gentes kontrollierten tribus zugeschlagen wurden und damit deren Herrschaftsbereich erweiterten.62 Ausdrücklich 58 59
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Mitchell 1990, 162–163. Wahrscheinlich erlaubte das stipendium die Mobilisierung auch weniger vermögender Gruppen, da die Kosten für die Ausrüstung vom Sold abgezogen wurden; Kienast 1975, 89–107; Nicolet 1980, 115–122; Boren 1983, 435–436; Gauthier 2016, 28–42. Nicolet 1980, 162–164 schlägt zwar eine Vorstreckung und anschließende Eintreibung des tributum durch nur oberflächlich bezeugte tribuni aerarii (Varr. ling. 5.181; Gai. Inst. 4.26–27) vor, wogegen Taylor 2021 jedoch überzeugend angeführt hat, dass diese wohl eher für die Eintreibung und die Bereitstellung von flüssigem Kapital zuständig gewesen seien. Pearson 2021, 111–119 erörtert die Bedeutung der tribus für die subsidiäre Finanzierung der Kriegskosten, die ihrer Meinung nach nur dann zum Tragen kam, wenn die Beute diese nicht abdeckte. Drogula 2019, 27–29 spricht von einem Institutionalisierungsschub in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Einen umfassenden Überblick zu den Formen und Auswirkungen des Beutemachens in der römischen Republik bietet Armstrong 2021. Auffällig ist zudem, dass die Siedlung Fidenae offenbar bewusst reduziert wurde, was ebenfalls für die Ausdehnung der patrizischen Territorialansprüche sprechen könnte. Liv. 4.31–34; Flor. 1.12.4 cremati suo igne Fidenates; Macrob. 3.9.13 in antiquitatibus haec oppida inveni devota: Stonios, Fregellas, Gabios, Veios, Fidenas; Hor. Ep. 1.11.7 Gabiis desertior atque / Fidenis vicus. Vgl. Strab. 5.3.2; Cic. leg. Agr. 2.96. Armstrong 2016a, 219–231. Das Territorium von Fidenae wurde der tribus Claudia zugeschlagen, Taylor 1960, 34–37 basierend auf CIL 1, 1709. Crustumerium hatte zwar eine eigene tribus erhalten, s. Rieger 2007, 371–382, aber auch hier kontraktierte das urbane Zentrum im Zuge der Inkorpo-
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wird im Zuge der Eroberung Labicis erwähnt, das Land sei umgehend verteilt worden, um Debatten über Landzuweisungen zu verhindern.63 Möglicherweise versuchten die Befehlshaber durch solche Handlungen auch ihre eigenen Anhänger zu entlohnen, was aber anscheinend nicht mehr im Einklang mit den Erwartungen und Ansprüchen der Gemeinschaft stand. Die handfesten Auswirkungen dieses Interessensgegensatzes erlebte wenige Jahre später der Konsulartribun P. Postumius Albinus, der seinen Soldaten nach der Eroberung von Bolae 414 sowohl Beute als auch Landzuweisungen versagte, woraufhin diese ihn kurzerhand gesteinigt hätten.64 Trotz dieses Vorfalls scheinen die neugeschaffenen tribuni militum consulari potestate und die damit verbundene stärkere Gemeinschaftsebene der Kriegsführung durch die militärische Eingliederung der Plebeier nicht generell in Frage gestellt worden zu sein, da weitere erfolgreiche Kämpfe bei Ferentinum 413, Verrugo und Carventum 410 sowie Artena 404 erwähnt werden.65 Pointiert formuliert war es damit im Zuge des Dezemvirats gelungen, die inneren Spannungen in die gemeinsamen, militärischen Anstrengungen zu kanalisieren. Deren Erfolge sollten aber zu neuen Konflikten in Bezug auf die Beuteverteilung führen. Es kann nicht genug betont werden, dass Plebeier und Patrizier sämtliche auf die kollektive Gewaltmobilisierung abzielenden Maßnahmen relativ reibungslos umsetzten, während für alle anderen Bereiche hitzige und konfliktintensive Debatten berichtet werden.66 Auffällig ist insbesondere die Einführung des stipendium sowie die kollektive Kraftanstrengung der Eroberung Veiis zur Jahrhundertwende. In diesem Bereich konnten Patrizier wie auch Plebeier von einer Einigung offenbar gleichermaßen profitieren, indem erstere Zugriff auf zusätzliche militärische Ressourcen gewannen und letztere eine Zentralisierung der Kriegsführung durchsetzten, an deren Profiten sie nun auch stärkeren Anteil hatten.67 Ein solches Positiv-Summen-Spiel, ermöglicht durch die relative Überlegenheit der römischen Bürgerschaft gegenüber jedem einzelnen der unmittelbaren Nachbarn, stand dabei in deutlichem Kontrast zu den zähen politischen Auseinandersetzungen im Inneren. In diesem Kontext hat Jörg Rüpke die Alternativ-
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ration in den ager Romanus, Amoroso 2000, 263–265; Finocchietti 2010, 89–91; Fulminante 2014, 166–168. Zuletzt hat das Groninger Grabungsprojekt „The People and the State“ einen deutlichen Einbruch der Grabfunde sowie die Anlage konzentrierter Fortifikationen um 500 zutage gefördert. Die im siedlungsarchäologischen Befund feststellbaren Veränderungen belegen eine Verlagerung der Siedlung in die befestigte Anlage und anschließende Kontraktion der Siedlung. Attema u. a. 2014; Willemsen 2014; Attema/Belelli-Marchesini/Nijboer/Seubers/Willemsen 2014; Seubers 2016; Attema/De Haas/Seubers/Tol 2017. Labicii wurde entweder der angrenzenden Pupinia oder Papiria zugeschlagen, Taylor 1960, 79. Liv. 4.47.6–7. Liv. 4.49.8–50.8; Val. Max. 9.8.3. Ferentinum ging an die Herniker, Liv. 4.51.7–8. Wenige Jahre später wurde Carventum bei Praeneste zurückgewonnen, Liv. 4.53. Zur Abfolge der Kriege s. Cornell 1989a, 288–294. Nach Linke 2014a führte die Akzeptanz der patres familias zur subsidiären Gewaltmobilisierung, die eine hohe Einsatzbereitschaft zur Folge hatte. Armstrong 2016a, 231–232.
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losigkeit der Fokussierung politischer Karrieren auf die Heerführung hervorgehoben, da das erhebliche Blockadepotenzial der politischen Ordnung eine Beschäftigung mit innenpolitischen Themen äußerst unattraktiv gemacht hätte. Dagegen habe die Kriegsführung einen eleganten und ertragreichen Ausweg geboten, um die unterschiedlichen Partikularinteressen zu bündeln und einer gemeinsamen Unternehmung zuzuführen.68 Wegweisend für diese Einstellung scheint m. E. die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts gewesen zu sein, die zwar im Vergleich zu späteren Zeiten nur bescheidene Gewinne vorzuweisen hatte, die vor dem Hintergrund der präsenten Erfahrungen der zeitgenössischen Akteure aber einen umso tieferen Eindruck hinterlassen haben dürften. Die erfolgreiche Expansion wird die Potenziale von gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen veranschaulicht haben, von deren Gewinnen sämtliche Beteiligten profitierten und die der Elite darüber hinaus die Chance zur Profilierung weit über den Kreis ihrer eigenen Anhängerschaft hinaus erlaubten. Mit fortschreitendem Erfolg konnten solche Unternehmungen in der immer noch konfliktgeladenen Atmosphäre zu einer gegenseitigen Statusanerkennung der Bürger einerseits und der herausragenden Position der Gentiloberhäupter andererseits führen. 2.5 Rahmenbedingungen der res publica zur Jahrhundertwende Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die erfolgreiche Beilegung bzw. Einfrierung der patrizisch-plebeischen Auseinandersetzung Mitte des 5. Jahrhunderts eine langfristige Anerkennung der Plebeier als gleichwertiger Mitglieder der Gemeinschaft bedeutete, ohne jedoch die genauen Modalitäten ihres neuen Status zu definieren. Stattdessen wurde die Klärung dieser offenen Fragen mit Hilfe einer erfolgreichen Expansion gegen die unmittelbaren Nachbarn vertagt, die Zugewinne für alle Beteiligten versprach. Gleichzeitig musste die anhaltende Integration und Berücksichtigung der Plebeier und ihrer Interessen, wie sie ab der lex Canuleia zu beobachten ist, aber eine schleichende Erosion der patrizischen Exklusivitätsansprüche nach sich ziehen. Insgesamt liegt der vorliegenden Arbeit bei der Betrachtung der römischen Innenpolitik der Frühzeit die Annahme zugrunde, dass die Brisanz des patrizisch-plebeischen „Ständekampfes“ überbewertet worden ist.69 Immerhin war es bereits im Zuge der Zwölftafelgesetzgebung zu einer erfolgreichen und gewinnbringenden Kooperation gekommen, deren genaue Ausgestaltung noch auszuhandeln war, grundsätzlich aber wohl kaum mehr zur Debatte stand. Daraus resultiert m. E. die Notwendigkeit,
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Rüpke 1995a, 216–219. S. a. Harris 1979, 10–40 und Hölkeskamp 1993, passim. Momigliano 1969d, 434–436; Cornell 1995, 242–252; Bleicken 2004, 25. Ungern-Sternberg 1990, 97–101, 2005, 323–324, passim legt eine Verortung als Teil des natürlichen aristokratischen Ringens um Macht und Einfluss nahe. Die Bedeutung des Ständekampfs beruht auf der Fusion von patrizischen und plebeischen Organisationsformen und Blockademitteln.
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den jeweiligen Spannungen und Konkurrenzkämpfen innerhalb der patrizischen und der plebeischen Eliten größere Aufmerksamkeit zu widmen, um hierdurch einen besseren Einblick in die Probleme und Strategien der aus zwei parallel-kompetitiven Feldern hervorgehenden Führungsschicht zu gewinnen. 2.5.1 Patrizier und Plebeier zwischen Ständekampf und Kooperation Im Grunde unterschieden sich die reichen Plebeier kaum von den Patriziern, doch konnten sie ihr Ziel der vollen politischen Teilhabe, inklusive Bekleidung der Ämter, nur in Verbindung mit den wirtschaftlichen Forderungen der Masse der plebs verfolgen. Letztere dürften dabei im Wesentlichen auf die erfolgreiche Inbesitznahme großer Ackerflächen durch die patrizischen gentes zurückgehen. Die Einrichtung der 21 tribus im Jahr 495, von denen der Großteil nach römischen Gentilverbänden benannt wurde, zeigt dabei deutlich die Verfestigung der territorialen Herrschaftsansprüche der Patrizier.70 Deren Position erfuhr laut Gaetano De Sanctis durch die erfolgreiche Abschottung der großen gentes – „la serrata del patriziato“ – als exklusiver Gruppe nach der Vertreibung der Könige eine neue Qualität, da sie hierdurch das politische Feld und die Magistraturen vollständig für sich reklamierten.71 Neben der Kontrolle großer Landstriche und Anhängerschaften spielte die Aneignung der sakralen Funktionen des Königs eine zentrale Rolle bei der kollektiven Herrschaftsausübung der Patrizier. Die Aufteilung der Priesterämter unter ihnen sowie die Behauptung einer privilegierten Kommunikation mit den Göttern in Form der auspicia verlieh dem politischen Führungsanspruch eine religiöse Legitimation. Sollbruchstelle dieser Legitimationsstrategie blieb aber die bewusste Zersplitterung der sakralen Autoritäten, um die Balance zwischen den großen Familien zu wahren.72 Diese Sicherstellung der individuellen, religiösen Privilegien hatte insofern einen Haken, als sich hieraus eine „defizitäre Begründung ihrer eigenen sakralen Überlegenheit auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene“ ergab.73 Der sakrale und politische Einfluss der Patrizier konnte nur kollektiv sein volles Potenzial entfalten, was die Effektivität und Verfügbarkeit der patrizischen 70
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Liv. 2.21.7, vgl. Liv. 1.42.4. Dion. Hal. ant. Rom 4.14. Zur Entstehung weiterhin grundlegend Alföldi 1962, 202–213; Quilici Gigli 1978, 567–575; Cels-Saint-Hilaire 1995, 104–137 inklusive Diskussion der älteren Positionen. Zuletzt umfassend: Rieger 2007, 345–468. Zu der bereits erörterten Vormachtstellung der gentes s. die Anm. 37 bis 40 in Kapitel 1 sowie Anm. 29 u. 33 in diesem Kapitel. De Sanctis 1956 I, 228–230. Die historische Evolution der Gruppe erklärt auch die Prominenz und Aufnahme von nicht-patrizischen Gruppen wie der gens Claudia, hierzu Ferenczy 1976b, 362–364; Cornell 1995, 254–256; Cels-Saint-Hilaire 1995, 59–62 und Anm. 33 in diesem Kapitel. Zur Quellenlage Smith 2006a, 12–64 und 302–307 zur formativen Phase, vgl. Linke 1995, 77–104. Vgl. hierzu Lundgreen 2014. Auspicia: Alföldi 1967, 242–253; nach Bleicken 1981b, 5–21 und Heuss 1983, 399–414 Kern der späteren magistratischen Amtsgewalt. Grundlegend zu den auspicia bleiben Linderski 1986, 1990, 2005; s. a. Mitchell 1990, 64–130; Linke 1995, 149–153, 2012, 30–31 (Zitat); Smith 2006a, 260–268; Humm
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Machtmittel erheblich einschränkte, zumal die Patrizier keineswegs eine homogene Interessensgemeinschaft bildeten. Eine zentrale Rolle für die Aushandlung der inner-patrizischen Interessen scheint in diesem Kontext der Senat eingenommen zu haben, der wohl ursprünglich ein consilium des Königs gewesen war.74 Zusammensetzung und Kompetenzen des frührömischen Senats sind vor allem aufgrund der bereits erwähnten Thesen Cornells zur ad hoc-Zusammensetzung desselben durch die Konsuln von Interesse. Die auf Festus basierende Argumentation ist zwar überzeugend, geht aber m. E. in der Konvertibilität des Senats zu weit.75 Immerhin verweist die Formel patres (et) conscripti auf die automatische Vertretung zumindest eines Teils der Patrizier. Gary Forsythe hat hier überzeugend dargelegt, dass ein Teil der Priesterämter mit einem Senatssitz ex officio verbunden gewesen sei.76 Folgt man diesen Überlegungen zur Verbindung von Priesterämtern und Senatssitzen, dann ergäbe sich hieraus eine statussichere Kerngruppe lebenslänglicher Senatoren, die im 5. und 4. Jahrhundert per definitionem Patrizier waren und wahrscheinlich die Basis für den politischen Einsatz der religiös legitimierten Obstruktionsmittel bis zur Einführung der lex Ogulnia bildeten.77 Durch die Priester ließ sich etwa ein interregnum herbeiführen, in dem die auspicia ad patres redeunt, wodurch die patres das Recht erhielten, interreges für die Dauer von 5 Tagen zu ernennen und ab dem zweiten interrex befugt waren, die Wahlen von kurulischen Beamten zu leiten. Zusätzlich oblag den patres die religiöse Absegnung von Wahlen und Beschlüs-
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2012, 65–73, 81–84; Drogula 2015, 68–81. Von einer stärkeren Zentralgewalt in Form des Senats geht Graeber 2001, 161–164 aus. Zu Beginn möglicherweise 100 patres, s. Liv. 1.8.7; Dion. Hal. ant. Rom. 2.12.1–2; Vell. Pat. 1.8.6; Plut. Rom. 13.1; Fest. 288L; Ov. fast. 3.127. Spätere Erweiterung auf 300 bei Cic. rep. 2.14; Liv. 1.8.7, 2.10–11; Dion. Hal. ant. Rom. 2.47.1–2, 3.29; Plut. Rom. 13.4. Die Ursprünge des Senats bleiben unklar: Willems 1878, 7–88; De Martino 1951, 263–275; Gjerstad 1972, 169–171 zur lediglich beratenden Rolle, vgl. Bleicken 2004, 135–138; Smith 2006a, 252–258. Eine vollständige Erörterung der Forschungsdiskussion bietet Walter 2017a, 183–188. Mommsen RStR III, 835–1251 hat (ausführlich) auf die rein rechtlich gesehen schwache Stellung des Senats verwiesen. Für den Untersuchungszeitraum ist in Anlehnung an Cornell 2000a und Jehne 2011 festzuhalten, dass der Senat sich erst im Laufe des 4. Jahrhunderts zur zentralen Herrschaftsinstitution der Republik entwickelte. Fest. 290L. Forsythe 2005, 167–170 bezieht sich auf den Fall des flamen dialis C. Valerius Flaccus, Liv. 27.8.5– 10; hierzu Linke 2009, 343–345. Mitchell 1990, 64–130, 2005, 133–144, passim geht von einer Versammlung von Priestern aus, doch dürfte die Vorstellung von einer reinen Priesterkaste zu weit gehen. Patrizische Priester scheinen aber zumindest einen Teil des Senats gebildet zu haben, der wohl nicht beliebig ausgetauscht werden konnte, vgl. North 1990b, 535–541; Rüpke 2011, 34–35; Capogrossi Colognessi 2014, 24–31; Lundgreen 2017, 352–356. Möglicherweise saßen die Vertreter der patrizischen gentes in ihrer Rolle als Gentiloberhäupter im Senat, mit der auch die Fürsorge für die Gentilkulte verbunden war; Linke 1995, 92–97; Smith 2006a, 260–268. Momigliano 1969f, 395–402; Ferenczy 1976a, 26–28; Beard 1990, passim; Richard 2005, 238–247; Linke 2014a, 28–30; Humm 2018, 28–32. Hölkeskamp 1988, 66; Linke 2014a, 15–16; Armstrong 2016a, 95–97.
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sen der Volksversammlungen, die erst mit der Erteilung der patrum auctoritas rechtsgültig wurden.78 Die im Senat versammelten patres besaßen also diverse Möglichkeiten, die Wahlen in den comitia centuriata zu beeinflussen. Wie genau diese Versammlung in der Frühzeit aufgebaut war, ist zwar umstritten, doch gibt es m. E. keinen Grund für den Untersuchungszeitraum des langen 4. Jahrhunderts an einer aus 193 Zenturien gebildeten und in mehrere Klassen gegliederten Versammlung zu zweifeln.79 Selbst wenn von einer Einteilung der Bürger in classis und infra classem auszugehen wäre, ergäbe sich daraus keine grundlegende Veränderung für die politischen Abläufe, da sich die classis auch aus unabhängigen plebeischen Bauern zusammengesetzt haben dürfte.80 Der plebeische Einfluss in den comitia centuriata ist demzufolge nicht zu unterschätzen, konnte jedoch durch religiös legitimierte Eingriffe umgangen oder manipuliert werden, indem durch wiederholte Einsetzung außerordentlicher Wahlleiter das Abstimmungsergebnis beeinflusst wurde, wie Rilinger für den Zeitraum von 366 bis 326 gezeigt hat. Ein Patt ergab sich allerdings in dem Moment, in dem das tendenziell unbegrenzte, religiöse Blockadepotenzial auf die ebenso unbegrenzten Blockademittel der Volkstribunen traf.81 Wie bereits erwähnt, zwang diese Situation bereits im 5. Jahrhundert beide Seiten zur Kooperation. Bezeichnend ist hierbei die Auseinandersetzung um das tyrannische zweite Dezemvirat, in dem sich auch Patrizier auf die Seite der Plebeier schlugen, um die Ambitionen ihrer Standesgenossen zu bremsen. Diese heterogene Struktur der Patrizier und auch der Plebeier wird durch den Fokus auf den Ständekampf und die damit einhergehende Vorstellung von zwei monolithischen Interessensblöcken allerdings weitgehend verdeckt. Moderaten Kräften auf beiden Seiten standen aber in bestimmten Situationen durchaus kreative Mittelwege zur Verfügung,
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Cic ad. Brut. 1.5.4, leg. 3.9: auspicia patrum sunto; Liv. 1.32.1 Mortuo Tullo res, ut institutum iam inde ab initio erat, ad patres redierat hique interregem nominaverant; s. a. Liv. 8.17.4; Gell. 13.15.4. Oakley 1998, 20–22; Graeber 2001, 11–50; Hölkeskamp 2011, 62–71, 40; Smith 2006a, 265–266, 273–274; Forsythe 2005, 169–170; Glinister 2006, 18–19; Linke 2009, 354–358; Humm 2012, 65–73. Fest. 6L: nam patres dicuntur qui sunt patricii generis, vgl. Fest. 304L; Liv. 2.1.10–11; Dion. Hal. ant. Rom. 5.13.2. Liv. 1.43; Dion. Hal. ant. Rom. 4.16–20. Der militärische Ursprung ist unumstritten, doch sind der genaue Aufbau sowie die Datierung unklar. Fraccaro 1931, 91–97, 1956, 287–292; Last 1945, 30–48; Sumner 1970, 73–77; Ferenczy 1976a, 30–31; Cornell 1995, 179–190; Erdkamp 2006, 280–282; Forsythe 2007a, 26–28. Armstrong 2016a, 75–86, 203–207 und Smith 2006a, 281–290 betonen das Kräftegleichgewicht zwischen Gentilaufgeboten und gemeinschaftlichen (=plebeischen) Truppenanteilen; vgl. Cornell 1995, 257. Für eine stärkere Abstufung in equites und die fünf Klassen der pedites spricht die zunehmende Verbreitung von kostengünstiger Ausrüstung mit Einsetzen des 4. Jahrhunderts, die auf eine stärkere Mobilisierung und Berücksichtigung breiterer Schichten schließen lässt; s. Sumner 1970, 78; Tomczak 2012, 40–55; Armstrong 2016a, 132–136. Eine gelungene Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der comitia centuriata bietet Rathbone 1993. Fest. 100L; Gell. 6.13. Ogilvie 1965, 538; Richard 2005, 360–378; Forsythe 2007a, 26–33; Sage 2013, 218–220. Rilinger 1976, 20–24, 32. Jahn 1970, 12–13; Develin 2005, 299–301; Kunkel 1995, 276–283; Hölkeskamp 2011, 62–82.
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die im 5. Jahrhundert nicht unwesentlich zu den höchst erfolgreichen Innovationen beigetragen haben dürften. Solchen Optionen gilt es auch für den Untersuchungszeitraum des 4. Jahrhunderts größeres Gewicht beizumessen, insbesondere in der Folge der leges Liciniae Sextiae, die den Plebeiern den prinzipiellen Zugang zu den Oberämtern garantierten und damit ihre Verhandlungsposition entsprechend verbesserten. In gewisser Weise wurde das Kooperationspotenzial hierdurch sogar noch verstärkt, da der patrizisch-plebeische Kampf um den Zugang zu den Oberämtern mit der gesetzlichen Verankerung einer exklusiven patrizischen und plebeischen Konsulatsstelle um die Ebene des gruppeninternen Wettbewerbs um die jeweilige Stelle ergänzt wurde. Unterstützung für den internen Wettbewerb ließ sich dabei am einfachsten in der jeweils anderen Gruppe mobilisieren. Auffällig ist hierbei, dass der komplementäre parallele Wettstreit von Patriziern und Plebeiern im 4. Jahrhundert nicht zu einer Erweiterung der Führungsschicht, sondern zu einer Kontraktion führte.82 Diese verweist darauf, dass die Kooperation mit der jeweils anderen Gruppe in beiden Fällen auch dem Ausschluss der eigenen Mitbewerber diente. Hierbei ist leicht zu übersehen, dass die Patrizier im Falle der Konsulartribunen von der Vermehrung der Amtsträger profitierten und auch später im Zuge der leges Liciniae Sextiae die ihnen zur Verfügung stehenden Ämter und Posten in quantitativer Hinsicht weitgehend unbeschadet bewahren konnten, da sie zunächst einen exklusiven Zugriff auf die Prätur, Diktatur, Zensur sowie die Priesterämter genossen. Dies erlaubte eine relativ breite Vertretung der Patrizier in den Ämtern, was möglicherweise auch mit der Notwendigkeit zusammenhing, eine ausreichend große Ämterstreuung innerhalb der eigenen Gruppe zu garantieren, um die kollektive Kontrolle der wichtigen Priesterkollegien zu wahren.83 Dagegen war der Wettkampf bei den Plebeiern ungemein heftiger. Zwar lässt sich dieser erst nach der Zulassung der Plebeier zum Konsulat fassen, doch veranschaulichen die überlieferten Konsuln der Jahre 358 bis 342 die Problematik recht eindrücklich. Bei 34 verfügbaren Stellen tauchen nur vier plebeische Konsuln auf, allerdings mit häufigen Iterationen84, denen verschiedene Konsuln aus fünf großen patrizischen gentes (Valerii, Fabii, Manlii, Sulpicii, Cornelii) sowie vier weitere patrizische Konsuln gegenüberstanden.85 Trotz der ungleichen Verteilung der Konsulate ist festzuhalten, dass die einzelnen Plebeier M. Popilius und C. Marcius mit jeweils 4 Konsulaten deut82 83 84 85
Rilinger 1978, 273–275. Es entstand somit quasi eine Vorstufe der Kooperation und späteren Komplementarität von Konsens und Konkurrenz der Nobilität, s. Hölkeskamp 2006, 377–385. Smith 2006a, 311–314; Mouritsen 2013, 384–385; besonders Lundgreen 2017, 348–355 in Verbindung mit Linke 2012 passim. M. Popilius Laenas (cos. 356, 354, 350, 348), C. Marcius Rutilus (cos. 357, 352, 344, 342), C. Plautius (cos. 358, 347); C. Poetelius (cos. 346), s. MRR I, 121–133. MRR I, 121–133. Zur Konstellation nach den leges Liciniae Sexiae gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze: Münzer 1920, 8–34; und Fritz 1950, passim gehen von einer eng kooperierenden Gruppe aus; Develin 2005, 302–304 lehnt zwar Überlegungen zu möglichen factiones ab, erkennt
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lich erfolgreicher waren als ihre patrizischen Gegenüber. Hier tritt die Notwendigkeit der bereits angesprochenen stärkeren Binnendifferenzierung der beiden Gruppen deutlich hervor. Im besagten Fall ist anzunehmen, dass die ‚Masse‘ der Plebeier die Konzentration der honores als durchaus vorteilhaft für die eigene Interessensvertretung angesehen hat, während die plebeische Elite diese Exklusivität der Prestigeverteilung eher ambivalent betrachtet haben dürfte.86 Die geschilderten Verhältnisse des 4. Jahrhunderts dürften sich in Ansätzen wohl schon in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts herausgebildet haben, da einzelne Plebeier unter den Konsulartribunen belegt sind und es zudem auch zu Heiratsallianzen zwischen Plebeiern und Patriziern gekommen war.87 Hierbei dürften die herausragenden plebeischen Persönlichkeiten nicht unwesentlich zum Wahlerfolg von mit ihnen kooperierenden Patriziern beigetragen haben, indem sie als Mehrheitsbeschaffer fungierten und als patroni der plebeischen Bevölkerung deren Stimmen mobilisierten und damit wohl auch dafür sorgten, das tribunizische Veto durch Vertretung der plebeischen Interessen zu neutralisieren. Im Gegenzug erhielten sie dafür die Unterstützung der Patrizier, sowohl in den Abstimmungen als auch durch Einsatz ihrer weiterhin vorhandenen Obstruktionsmittel in Krisenmomenten. Die Kooperation könnte dabei auch durch die bereits erörterte Lockerung der Klientelbeziehungen im 4. Jahrhundert weiter vorangetrieben worden sein, da hierdurch neue Wege der politischen Mobilisierung gefunden werden mussten.88 Grundlegend für die erfolgreiche Vereinnahmung des politischen Feldes durch patrizisch-plebeische Gruppierungen blieb dabei die Popularität der plebeischen Vertreter, um das tribunizische Veto zu vermeiden und die plebeischen Stimmen in den comitia centuriata zu mobilisieren. Die Erfüllung der ökonomischen Forderungen der plebs war dabei der politische Preis der patrizischplebeischen Oligarchie.89 2.5.2 Der gemeinsame Nenner: Krieg – Beute – Landverteilung Die ökonomischen Forderungen der plebs gehen ebenfalls auf die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts zurück. Nachdem es den Plebeiern gelungen war, im Zuge der duodecim tabulae ihre Autonomie und Besitzrechte zu sichern, ging man offenbar dazu über, eine gerechtere Aufteilung des Landbesitzes, möglicherweise des ager publicus, zu fordern. Neben den politischen und wirtschaftlichen Vorteilen von Ansiedlungs- und
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aber direkt nach 366 eine auffällige Häufung von wiederkehrenden Personalkonstellationen. S. a. Stewart 1998, 95–136; Hölkeskamp 2011, 62–113. Hölkeskamp 2011, 84–86. Cornell 1995, 335–337. Ganter 2015, 76–142 bietet einen umfassenden Überblick über das früheste vorhandene Material. Rilinger 1978, 265; Harris 1979, 60–62; Hölkeskamp 1993, 2011, 107–109; Develin 2005, 303.
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Verteilungsprogrammen, haben neuere Studien zur frührömischen Agrarwirtschaft auf die Bedeutung von ‚dependency networks‘ verwiesen, in denen Schulden – neben den Forderungen nach Ansiedlungen ein Dauerbrenner plebeischer Politik – vor allem zur Hierarchisierung von sozialen Beziehungen und einem ungleichen Zugriff auf landwirtschaftliche Flächen geführt hätten.90 Im Laufe des 4. Jahrhunderts sei es dann jedoch zu tiefgreifenden Veränderungen gekommen, die unter anderem auf die zusätzliche Verfügbarkeit von Land und die Möglichkeit des Ausbruchs aus Abhängigkeitsverhältnissen zurückgingen.91 Dependency Networks könnten somit die Forderungen der plebs nach Landverteilungen erklären, da man sich nach der Erringung der politischen Anerkennung nun bemüht hätte, eine Gefährdung des eigenen Status durch wirtschaftliche Abhängigkeiten auszuschließen. Die Abwehr beziehungsweise die Zurückdrängung der lokalen aristokratischen Herrschaftsansprüche hing demnach von der erfolgreichen Hinzugewinnung neuer Flächen ab, die der Versorgung von Söhnen und damit auch der Verminderung der potenziellen Risiken von Erbteilungen dienten. Dieser Ansatz würde die breite Unterstützung von Ansiedlungen durch die gesamte Bürgerschaft erklären, da nicht nur mittellose proletarii und verarmte Kleinbauern hieran interessiert waren, sondern auch weite Teile der kleinbäuerlichen Mittelschicht.92 Im Gegenzug bestand bei der Oberschicht – zumindest zu Beginn – die Bestrebung, möglichst große Teile des neugewonnenen Gebiets und vor allem des dortigen ager publicus unter die eigene Kontrolle zu bringen. Ein solches Verhalten musste aber zur massiven Politisierung von Landverteilungen führen, die nicht nur situative Entscheidungen darstellten, sondern auch die Zukunftsperspektiven unbeteiligter römischer Bürger (subjektiv) tangierten und somit eine hohe Mobilisierung garantierten. Folglich wirkten sich Landverteilungen sowohl beschleunigend als auch entschleunigend auf die Dynamiken der römischen Innenpolitik im 4. Jahrhundert aus, wobei die unterschiedlichen Bedingungen, Effekte und langfristigen Konsequenzen jeder einzelnen Landverteilung individuell in den Blick genommen werden müssen. Der Erwerb und die Verteilung von Land in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Rom werden dementsprechend als wesentliche Komponenten der römischen Politik des ausgehenden 5. sowie des 4. Jahrhunderts angesehen. Innerhalb dieses Zeitraums wuchs der ager Romanus in einem beeindruckenden Tempo: Die Eroberung Veiis führte 386 zur Gründung der tribus Stellatina, Tromentina, Arnensis und Sabbatina, der erfolgreiche Krieg gegen die Herniker 358 zur Expansion in das südöstliche Latium mit der Pomptina und Publilia, die erst mit der erfolgreichen Niederwerfung 90 91 92
Capogrossi Colognesi 1980, 31–37; Linke 1995, 77–91; Raaflaub 2005, 191; Smith 2006a, 235–250; Morley 2006, 310–317; Roselaar 2010, 20–24; Lanfranchi 2015, 409–418; Armstrong 2016a, 148–163. Alföldy 1984, 27–36. Damit wurde die schleichende Verschuldung durch zu geringen Landbesitz beseitigt, hierzu Linke 1995, 84–92. Zur Schuldenproblematik im 4. Jahrhundert: Savunen 1993, 143–159; Storchi Marino 1993, 239–250; Pikulska 2002, 165–181; Gabrielli 2003a, 61–91; Forsythe 2005, 216–221; Oakley 2005a, 663–665.
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der Latiner 26 Jahre später, durch die Gründung der Maecia und Scaptia, eine direkte territoriale Anbindung an das römische Kerngebiet erlangten. Mit der Oufentina und Falerna folgten 318 zwei einzigartige Tribusgründungen, da sie als Reaktion auf die Niederlage von Caudium erfolgten, die 299 durch die Gründung der Aniensis und Teretina ergänzt wurden.93 Die letzten Tribusgründungen des Jahres 241, die ein ungekanntes Ausmaß annahmen und letztendlich zur Einstellung weiterer Gründungen führten, werden dagegen nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit sein.94 Bereits die Regelmäßigkeit der Tribusgründungen verweist einerseits auf die erhebliche Bedeutung von Landverteilungen für die römische Gesellschaft, anderseits aber auch auf den außerordentlichen Charakter dieser Vorgänge, die einen massiven Eingriff in die politische und soziale Ordnung der res publica darstellten. Zwar müssen die situativen Kontexte und vor allem auch die räumlichen und geographischen Gegebenheiten der jeweiligen Neugründungen gesondert berücksichtigt werden, dennoch ist es gerechtfertigt, bei den Ansiedlungen von gemeinsamen paradigmatischen Grundlinien auszugehen. Tribusgründungen waren nicht nur territoriale Erweiterungen, sondern sie verschoben massiv die Machtbalance in den comitia tributa, deren Abstimmungsverhalten durch die Hinzunahme von zwei – im Falle des ager Veientanus von vier – tribus verändert wurde. Am deutlichsten wird dies am Beispiel Veiis: Die neugegründeten tribus erhöhten die Gesamtzahl auf 25, immerhin eine Erhöhung um ein Fünftel des Originalbestands.95 Deren Unterstützung kam höchstwahrscheinlich denjenigen Aristokraten zugute, die diese Ansiedlungen überhaupt erst möglich gemacht hatten und befürworteten.96 Lily Ross Taylor hat vor allem die Zensoren als politische Profiteure solcher Ansiedlungen gesehen, in deren Aufgabenbereich die Anfertigung der aktualisierten Bürgerliste sowie die offizielle Konstituierung neuer Stimmbezirke fielen.97 Die positive Rezeption von Ansiedlungsprogrammen, die zur Senkung des demographischen Drucks und der sozialen Spannungen in allen tribus beitrugen, dürfte das Prestige von Vertretern einer solchen Politik auch flächendeckend in den alten tribus gesteigert haben. Neugegründete tribus umfassten laut Schätzungen in der Regel wohl 3.000 bis max. 5.000 männliche Kolonisten, dementsprechend ergaben sich bei
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Noch immer grundlegend zu diesem Thema bleibt Taylor 1960. Rieger 2007 hat zudem ein ausführliches, aber schwer verdauliches Werk zur Entstehungsgeschichte der tribus vorgelegt; s. a. Welwei 2008. Hackl 1972, 155–159. Taylor 1960, 297–318; Hackl 1972, 158; Humm 2006b, 40–50. S. a. Cornell 1995, 377–380. Das Gewicht lag tendenziell höher, da die Abstimmung nach Erreichen der Mehrheit abgebrochen wurde, s. Jehne 2013a, 149–152. Taylor 1960, 297–315. „A fact of prime importance for our understanding of the early Roman economy is the land hunger of the peasantry“, Cornell 1989b, 325, s. a. 323–334. Alföldi 1967, 266–270; Hackl 1972, 148–151; Harris 1979, 60; Hölkeskamp 1993, 30–33; Roselaar 2010, 31–41. Taylor 1960, 17–26; s. a. Hackl 1972, 158; Nicolet 1980, 49–88. Bunse 2001, 150–157.
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einer Gesamtbevölkerung von 30.000 bis 85.000 Personen zu Beginn des 4. Jahrhunderts in jedem Fall enorme politische und soziale Rückwirkungen.98 Die Ansiedlung und der wirtschaftliche Aufstieg von weniger wohlhabenden Kolonisten oder Söhnen von assidui musste auch zu Veränderungen in den comitia centuriata führen.99 Damit verschob sich folglich auch in dieser Versammlung der Wettbewerb zugunsten derjenigen, die Ansiedlungen unterstützt hatten.100 In diesem Kontext ist ein weiterer Faktor nicht zu vernachlässigen, der in dem Verhältnis der konfiszierten Flächen zu der Gesamtbevölkerungsgröße begründet liegt. In den allermeisten Fällen, besonders 386 und 338, entstanden die tribus als Folge einer beträchtlichen Gebietserweiterung, die viel mehr Land zur Verfügung stellte als durch Kolonisten abgedeckt werden konnte. In beiden Fällen kam es daher zur Konversion großer Flächen zu ager publicus, der teils von Kolonisten und teils von der angestammten Bevölkerung, die in den beiden genannten Fällen teilweise eingebürgert wurde, genutzt werden konnte.101 Der Erwerb von ager publicus und potenziellen Klienten begünstigte vor allem reichere Römer. Diese besaßen die notwendigen Mittel, um solche Flächen ohne Starthilfe zu bewirtschaften und dabei ihre Netzwerke auszubauen.102
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S. Anm. 15 in diesem Kapitel zu den unterschiedlichen Positionen. Oakley 2005a, 663–665 geht für eine neue tribus von 3.000 bis 6.000 männlichen Ansiedlern aus, Hantos 1983, 58–59 von 5.000; vgl. dagegen Pelgrom 2012, 37–42 der die Schwierigkeiten solcher Schätzungen erörtert. Die genaue Bevölkerungsgröße ist in diesem Falle nachrangig, da es vor allem um den Umfang neugewonnener Ansiedlungsflächen geht, deren Potenzial sich aus der Relation dieser Gebiete zu dem römischen Siedlungsgebiet ergibt. Vgl. Hin 2013, 290–297 zur Berechnung der Gesamtbevölkerung in Relation zu männlichen cives. Zu sozialen und politischen Folgen von Tribusgründungen s. Taylor 1960, 66–68, 297–301; Hantos 1983, 30–49; Cels-Saint-Hilaire 1995, 316–323; Humm 2006b, 44–58. 99 S. Anm. 79 in diesem Kapitel. Lo Cascio 2016, 153–164 zum Verhältnis zwischen Arm und Reich, s. a. Gabba 1988, 20 und bes. Rathbone 1993, 133–147 zu einer dynamischen Betrachtung der Vermögensvoraussetzungen; vgl. Roselaar 2009, 614–619 zum Status römischer Kolonisten in den coloniae civium Romanorum. Erdkamp 2011, 110–115 nimmt an, dass vor dem Hannibalkrieg hauptsächlich Veteranen Land erhielten, worunter auch die weniger gut betuchten velites und hastati fallen, die immerhin 60 Prozent der Infanteriestärke ausmachten. 100 Brunt 1988, 382–443 widerspricht der Ansicht, das Wahlverhalten in den Komitien sei durch Patronagebeziehungen und Absprachen in der Oberschicht vorstrukturiert gewesen. Zu dieser Diskussion s. Hölkeskamp 2010, 35–41 mit Anmerkungen. In den letzten Jahren hat vor allem Yakobson 1999, 20–64, bes. 48–53 zum Wahlverhalten der unteren Klassen, 2006, 394–396, 2010, 285–293 die Eigenständigkeit der Wähler betont und auf die Wirksamkeit einer volksfreundlichen Politik verwiesen. Vgl. Deniaux 2006, 412–414. 101 Mitchell 1996, 269–270; Roselaar 2010, 41, 289–299; Patterson 2012, 381–387. 102 Ausnahmen könnten direkt an den ager Romanus grenzende Gebiete gebildet haben. Rathbone 2003, 175 sieht den ager publicus nur als Übergangskategorie an, dagegen Roselaar 2010, 84–85. Die aktive Nutzung durch die Oberschicht wird nicht zuletzt durch die zahlreichen Multprozesse und Forderungen nach Nutzungshöchstgrenzen belegt; hierzu: Hinard 1993, 11–24; Kunkel 1995, 490–503; Marengo 1999, 73–84; Piacentin 2018, 106–118.
Sequenz I Mit dem dritten Kapitel wird die erste Untersuchungssequenz eröffnet, die von der Eroberung Veiis bis zum Ausbruch der politischen Konflikte um die leges Liciniae Sextiae in den Siebzigerjahren reicht. Die kleinteiligere Fokussierung auf diesen Zeitraum dient dazu, die weitreichenden Umwälzungen dieser Zeit – die Eroberung Veiis, den Kelteneinfall und seine Folgen, den Umsturzversuch des M. Manlius Capitolinus – in enger Vernetzung und kausaler Abhängigkeit zueinander zu untersuchen. Eine nur summarische Zusammenfassung dieser tiefgreifenden Schockwellen für die Gesellschaft, die innerhalb kürzester Zeit aufeinander folgten, wird kaum der komplexen Lage und vor allem der rasanten Wechselfälle der ersten drei Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts gerecht. Stattdessen wird im Folgenden eine Rekonstruktion unternommen, deren Ziel es ist, die vorliegenden Informationen in eine plausible Gesamtrekonstruktion dieser Zeit einzubetten.
3. Sieg und Niederlage – ein ambivalenter Auftakt Die im vorherigen Kapitel erläuterten Gebietsgewinne Roms im ausgehenden 5. Jahrhundert führten neben der Erweiterung des ager Romanus auch zu einer Eskalation der Kämpfe mit dem etruskischen Veii.1 Die beiden Städte waren bereits früher aufgrund ihrer konkurrierenden Ansprüche im Tibertal regelmäßig aneinandergeraten, wobei es zunächst hauptsächlich um das Gebiet der Septem Pagi und die Salinen an der TiberMündung gegangen war. Mit der endgültigen Unterwerfung von Fidenae veränderten sich die Kräfteverhältnisse allerdings wesentlich zu Roms Gunsten, was sich in einer neuen Qualität der Kriegsführung gegen Veii ab dem Jahr 406 niederschlägt.2 Die überlieferte zehnjährige Dauer der Kämpfe lehnt sich wahrscheinlich an die legendäre Belagerung Troias an, doch stehen Historizität und Ausgang des Krieges außer Frage. Entgegen der diversen schillernden Geschichten zur Belagerung und Eroberung der Stadt, dürfte Veii am Ende wohl schlicht und ergreifend ausgehungert und 396 zur Kapitulation gezwungen worden sein.3 Damit waren die militärischen Aktionen allerdings noch nicht beendet, da die mit Veii verbündeten Falisker und Capenaten 1 2
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Riva 2016, 94–96 sowie die zahlreichen Publikationen des „Tiber Valley Projects“ der British School at Rome, s. Anm. 72 und 73 in Kapitel 1. Die Konkurrenz um diese Gebiete dürfte bereits bei den für die Königszeit überlieferten Zusammenstößen ausschlaggebend gewesen sein: Liv. 1.15.5; 2.13.4; Dion. Hal. ant. Rom. 2.55.5–6; Plut. Rom. 25.5. Weitere frühe Waffengänge berichten Vir. ill. 15; Liv. 2.48.8, 4.20; Dion. Hal. ant. Rom. 9.14; Diod. 11.53.6. Besonders die Niederlage der Fabii an der Cremera hinterließ einen tiefen Eindruck (s. die Gewichtung in Gell. 17.21), s. hierzu Richardson 2012, 65–83. Zur Chronologie der Kämpfe Sordi 1960, 1–16; Harris 1971, 41–44; Ogilvie 1976, 137–147; Cornell 1989a, 294–302, 1995, 309–313; Forsythe 2005, 192–200, 242–251; Ceccarelli 2016, 28–29; Lomas 2017, 205–207. Vgl. Smith 2012b, 5–8 zur archäologisch vergleichbaren Entwicklung der beiden Städte, insbesondere in Bezug auf die Tempelbauten. S. Boitani/Berardinetti Insam 2001, 106–111 zur wirtschaftlichen Bedeutung des Tiberhandels anhand von Keramikfunden. Schiappelli 2012, 330 verweist auf die Abwesenheit sekundärer Siedlungszentren. Dies könnte die Konzentration auf die Erstürmung des Hauptortes in den Quellen erklären. Cornell 1995, 312–313. Die antiken Autoren schildern dagegen eine handstreichartige Eroberung nach langer Belagerung: Liv. 5.19–22; Diod. 14.93.2; Dion. Hal. ant. Rom. 12.11–12; Val. Max. 4.1.2; Plut. Cam. 5; Flor. 1.12. Die Einführung des stipendium (Liv. 4.59–60; Diod. 14.16.5; Plut. Cam. 2.2–3, vgl. Oros. 2.19.1–3) erlaubte es, auch über längere Zeit Streitkräfte im Felde zu belassen; Boren 1983, 432–435, Taylor 2021. Diod. 14.43.5 verweist auf Rückschläge während der Belagerung. Ogilvie 1965, 626–630. Zur Ausschmückung der Belagerung und Einordnung der einzelnen Episoden s. Hubaux 1958, passim.
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den Kampf fortsetzten. Es sollte weitere drei Jahre dauern, bis auch diese Gegner zum Frieden gezwungen werden konnten.4 Die Eroberung des ager Veientanus kann kaum überschätzt werden, da die Einnahme sämtliche vorherigen Erfolge in den Schatten stellte. Der ager Romanus erfuhr einen gewaltigen Zuwachs um etwa 60 Prozent und umfasste damit nun ein Territorium von etwa 1.500 km2 und verfügte nach der Einrichtung der vier neuen tribus über eine geschätzte Bevölkerung von 20.000 bis 40.000 männlichen Bürgern. Nicht ohne Grund wurde die Eroberung Veiis daher als erster großer Schritt auf dem Weg zur italischen Großmacht gesehen.5 Diese Einschätzung trifft zweifelsohne zu, doch verlangt gerade die weitreichende Bedeutung des Ereignisses eine nähere Betrachtung, zumal der Sieg über Veii häufig als additive Vergrößerung des ager Romanus und der römischen Macht verstanden wird, was allerdings die diversen Folgeprobleme außer Acht lässt. Hierzu zählten neben der Aufteilung der Beute auch die Frage nach dem Umgang mit der besiegten einheimischen Bevölkerung sowie deren langfristiger Integration in die römische Gemeinschaft. Diese Punkte bargen eine nicht zu unterschätzende Sprengkraft für die soziale Harmonie der res publica Romana, die in den vorangegangenen Jahrzehnten nur mühsam einen gesellschaftlichen Kompromiss zwischen ihren unterschiedlichen Interessensgruppen errungen hatte.6 In diesem Kontext ist die Singularität des Sieges sowie der daraus resultierenden Maßnahmen zur Organisation der neuen Gebiete hervorzuheben, denn es kam hier zum ersten Mal seit Einführung der Tribusordnung zur Einrichtung von gleich vier neuen tribus. In dieser Größenordnung waren die Gründungen von 387 einzigartig, da in der Folge jeweils nur zwei neue tribus im Zuge von Erweiterungen des ager Romanus geschaffen werden sollten. Gleichzeitig bildete die Einrichtung der Stellatina, Tromentina, Arnensis und Sabatina einen Präzedenzfall für die Organisation neuer Gebiete, bis im Jahr 241 die Zahl der tribus bei 35 eingefroren wurde.7 Damit kommt der Verwendung des ager Veientanus eine überragende Bedeutung zu. Denn hier wurden grundlegende Fragen bezüglich der Organisation und Verteilung der Expansionsdividende verhandelt, die auch den Umgang mit späteren Eroberungen präfigurierten. Bei der Verteilungsfrage dürften wohl kaum die noch nicht absehbaren Langzeitfolgen eine Rolle gespielt haben, sondern vielmehr die situativen Erwartungen sowie
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Liv. 5.24.3, 5.26–27; Plut. Cam. 5.2, 10.5–7; De Lucia Brolli/Tabolli 2013, 267–268; Engerbeaud 2020, 147–149. So etwa Cornell 1989a, 301–302, 1989b 312–313, 1995, 320; Forsythe 2005, 257–258; Serrati 2011, 20; Lomas 2017, 218–219; Bradley 2020, 292–296. Die Probleme einer genauen Einschätzung der Bevölkerung werden in Anm. 15 und 98 in Kapitel 2 erörtert. Hölkeskamp 1993, 31–33, 2004b, 18–29, 2011, 200–203 hat auf die enge Verknüpfung von materieller Bereicherung der Bürgerschaft und politischer Stabilität verwiesen. Linke 2010a, 135–142, 2017, 386–397, 2018, 108–113 hat dieses Verhältnis weiter konkretisiert und die latenten Spannungen von Erfolgen und der damit verbundenen Beuteverteilung unterstrichen. Taylor 1960, 47–68; Hackl 1972, passim; Hantos 1983, 17–46; Cornell 1989c, 402–405.
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die präsenten Erfahrungen der römischen Gemeinschaft, vor deren Hintergrund die Entscheidungen bezüglich des neueroberten Gebietes gefällt wurden. Im Folgenden wird der Fokus daher zunächst auf die Ursachen des römischen Erfolges gerichtet, um daran anschließend die daraus resultierenden Potenziale, Herausforderungen und Lösungsstrategien zu beleuchten. 3.1 Die Quellenlage zur Eroberung Veiis Die Quellenlage zu den Ereignissen der ersten zwei Dekaden des 4. Jahrhunderts stellt sich auf den ersten Blick als umfangreich dar. Plutarchs Camillus-Vita und die erste Hälfte des fünften Buches der ab urbe condita libri des Livius bilden hier die Hauptquellen, die durch längere Berichte bei Diodoros und Dionysios ergänzt werden.8 Allerdings behandeln diese Autoren die Ereignisse hauptsächlich im Rahmen der sagenhaften Figur des M. Furius Camillus.9 Einen historischen Camillus hat es in dieser Form laut communis opinio wohl nie gegeben, doch hat Christer Bruun auf die Existenz eines anderen erfolgreichen Konsulartribunen, L. Furius Medullinus, zu dieser Zeit verwiesen, der sowohl in den Fasten auftaucht als auch mit einem von Aristoteles erwähnten Lucius übereinstimmen könnte.10 M. Furius Camillus scheint damit vor allem als Legende zur Erklärung und Verarbeitung der erschütternden Einnahme der Stadt gedient zu haben.11 Nach Ungern-Sternberg diente die Camillus-Figur der Verknüpfung des großen Sieges von Veii mit der ebenso großen Niederlage gegen die Kelten. Zusammengenommen hätten diese beiden Ereignisse gewissermaßen eine rö-
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Liv. 4.61–5.32; Plut. Cam. 1–14; Dion. Hal. ant. Rom. 12.10–16; Diod. 14.93.2–5; Flor. 1.12; Gell. 17.21.20. Wie bereits Mommsen RStR, 1018 („Die verlogenste aller römischen Legenden, die Camillusfabel“) geht die communis opinio von einer weitgehenden Konstruktion aus, s. etwa Burck 1977; Cornell 1995, 317; Oakley 1997, 376–379; Walter 2000. Vgl. dagegen Bruun 2000, passim, der mit Furius Medullinus einen historischen Anknüpfungspunkt vermutet (s. Anm. 10 unten), ähnlich Alföldi 1963, 356–358. Späth 2001, 342–385 bietet eine sehr ausführliche Untersuchung; s. a. Walter 2004a, 382–407. Williams 2001, 143; Ungern-Sternberg 2006e, 52–53; Richardson 2012, 127–128. Zur Bedeutung des augusteischen Zeitgeistes für die livianische Darstellung s. Feeney 2007, 103–107; Gaertner 2008, passim; Geist 2009, 31–33; Lentzsch 2019, 116–121. Bruun 2000, 57–58 hat in diesem Kontext darauf verwiesen, dass die spätere römische Geschichtsschreibung den zu dieser Zeit aktiven, mehrfachen Konsulartribun L. Furius Medullinus (Cos. 409, Mil. Tr. 407, 405, 398, 397, 395, 394, 391, s. MRR I, 75–93 mit Belegen) als Vorlage nutzte. Plut. Cam. 22.3: Ἀριστοτέλης δὲ ὁ φιλόσοφος τὸ μὲν ἁλῶναι τὴν πόλιν ὑπὸ Κελτῶν ἀκριβῶς δῆλός ἐστιν ἀκηκοώς, τὸν δὲ σώσαντα Λεύκιον εἶναί φησιν ἦν δὲ Μᾶρκος, οὐ Λεύκιος, ὁ Κάμιλλος. Zu weiteren möglichen Kandidaten s. Lentzsch 2019, 83–84 mit Literaturverweisen. Weder Pol. 1.6, 2.18 noch Diod. 14.113–116 erwähnen Camillus. Als dictator taucht Camillus erst in den folgenden Kämpfen gegen die Volsker auf, Diod. 14.117.2. Briquel 2008, 372–379. Die CamillusLegende könnte nach Skutsch 1985, 306, 314–315 auf Ennius (FRL I Enn. Ann. 4.5) zurückgehen, vgl. dagegen Elliott 2013, 272–274; s. a. Walter 2004a, 386–391.
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mische „Stunde Null“12 gebildet und damit die Möglichkeit geboten, Geschichtswerke mit diesem einschneidenden Ereignis beginnen zu lassen, wofür sich etwa Polybios und Claudius Quadrigarius entschieden.13 Damit avancierten die ersten beiden Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts zu einem zentralen Zeitraum der res publica. Camillus wird dabei nicht ohne Grund als zweiter Romulus beschrieben, denn die Heldengeschichte bot das notwendige Vehikel, um historische sowie idealpolitische Vorstellungen zu formulieren und die Einnahme der Stadt so zu einem zweiten Gründungsmythos zu verklären.14 Zwar überlagert die Camillus-Legende die Überlieferung, doch kann die Einbindung der Ereignisse in die Heldengeschichte auch als positiver Vorgang verstanden werden, der es erlaubte, zumindest einen Kernbestand an historischen Informationen im kollektiven Gedächtnis zu verankern.15 Hierzu zählt beispielsweise eine anlässlich des römischen Sieges angefertigte Goldschale, die dem Apollo geweiht und im Schatzhaus der Massilioten in Delphi deponiert wurde, wo sie anhand ihres Sockels auch in späterer Zeit noch identifiziert werden konnte.16 Weitere ‚Gedächtnisstützen‘ existierten in Rom sowie der unmittelbaren Umgebung der Stadt. Veii selbst war ohne weiteres zu erreichen, wobei die günstige und wehrhafte Topographie des Ortes die Erinnerung an die mühselige Belagerung wachgehalten haben dürfte.17 Die ebenfalls in unmittelba12 13
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Ungern-Sternberg 2006b, 130–131. S. a. Gaertner 2008 und Oakley 2015. Hubaux 1958, 70–88, 108–120; Ogilvie 1965, 749; Ungern-Sternberg 2006c, 130–134, 2006e, 51–53 zur Verbindung der Eroberung Veiis mit dem Kelteneinfall zu einer erzählerischen Einheit. Timpe 1972, 951–953 geht davon aus, Pol. 1.6 habe sich an Fabius Pictors Bericht orientiert, eine ähnliche Vorgehensweise scheint Claudius Quadrigarius verfolgt zu haben, hierzu Beck/Walter 2001, 110– 111; Cornell FRHist I, 289–292, s. a. Forsythe 2007b, 391–396. Auch Livius folgte dieser Gliederung, wie die Eröffnung in Liv. 6.1–4 zeigt. Plut. Cam. 1.1, 31.2; Liv. 5.49.7, 7.1.10; Hierzu Täubler 1987, 105–119; Tränkle 1998, 145–165; Walter 2004a, 382–407; Ungern-Sternberg 2006e, passim; Neel 2015, 208–215; Lentzsch 2019, 117–121. Die Ambivalenz des großen Siegers zeigt Linke 2017, 389–391. S. Smith 2012, 1–5 zur Verknüpfung der archäologischen Funde mit den literarischen Quellenzeugnissen. Solche Informationen ließen sich im kollektiven Gedächtnis deutlich besser als Teil einer zusammenhängenden Heldengeschichte konservieren, hierzu Ungern-Sternberg 1988, 261–265; Timpe 1988, 278–284; Späth 1998, 35–56, 2001, 381–387; vgl. Walter 2004, 374–407; Assmann 2007, 52. Diod. 14.93.3–5; Plut. Cam. 8; Liv. 5.25.10, 5.28.1–6. Die Goldschale sei zwar durch Onomarchus im Heiligen Krieg eingeschmolzen worden, jedoch berichtet App. Ital. 8.1, dass der Sockel weiterhin zu sehen gewesen sei; Ogilvie 1976, 157; Cornell 1989a, 299. Angeblich wurde die Gesandtschaft vor den Liparischen Inseln von Piraten überfallen, die die römischen Gesandten aber schnell freiließen (s. Steinby 2007, 45–48). Diod. 14.93.5 verweist darauf, dass die Römer sich noch zu Beginn des 1. Punischen Krieges an diesen Vorfall erinnerten: διόπερ ὁ δῆμος τῶν Ῥωμαίων πυθόμενος τὴν τοῦ Τιμασιθέου καλοκἀγαθίαν, παραχρῆμα αὐτὸν ἐτίμησε δημόσιον δοὺς κατάλυμα, καὶ μετὰ ταῦτ᾽ ἔτεσιν ἑκατὸν τριάκοντα ἑπτὰ τὴν Λιπάραν ἀφελόμενος τῶν Καρχηδονίων τοὺς ἐγγόνους τοῦ Τιμασιθέου τῶν τε εἰσφορῶν ἀτελεῖς ἀφῆκε καὶ ἐλευθέρους ἐποίησεν. Nach Plut. Cam. 8.2–3 sei die Goldschale nur dank Abgaben der römischen Matronen zustande gekommen, ebenso Liv. 5.25.6–10. Es könnte hier aber zu einer Verwechslung mit dem Galliergold gekommen sein, da Liv. 5.50.7 und Diod. 14.116.9 die Abgabe der Matronen ebenfalls in diesem Kontext nennen. Ward-Perkins 1961, 3–20. Veii scheint auch tatsächlich besucht worden zu sein, da spätere Autoren auf die deutliche Diskrepanz zur früheren Größe der Stadt verweisen, etwa Prop. 4.10.9, 4.10.29–30:
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rer Umgebung Roms liegenden Städte Capena, Sutrium und Nepet dienten als weitere Bezugspunkte. Das foedus der Capenaten ging auf deren Kapitulation im Anschluss an die Einnahme Veiis zurück und auch die beiden coloniae Latinae Sutrium und Nepet waren im Rahmen der Neuordnung des ager Veientanus entstanden.18 In Rom selbst erinnerte der Tempel der Iuno Regina auf dem Aventin an den erfolgreichen Feldzug und die vollkommene Auflösung der Gemeinschaft Veiis, die in der evocatio der Gottheit ihren Ausdruck fand.19 In Verbindung mit dem Niedergang des urbanen Zentrums und der Ansiedlung römischer Bürger ist zudem davon auszugehen, dass die tribules der Tromentina, Stellatina, Sabatina und Arnensis die Gründungsumstände ihrer tribus im Sinne einer eigenen Gruppenidentität wachhielten.20 Demnach existierten auch noch in späterer Zeit verschiedene Erinnerungspunkte, die auf die Eroberung Veiis verwiesen, wodurch zumindest einzelne Informationen, wie etwa die Umstände der Tribus- und Koloniegründungen, bewahrt worden sein dürften. In Bezug auf die räumliche Erinnerung ist dies von kaum zu unterschätzender Bedeutung, denn der Sieg über Veii blieb damit in einer eigenen, von der darauffolgenden Eroberung Roms durch die Gallier unabhängigen Erinnerungslandschaft eingebettet.21 Diese Beobachtung ist aus zwei Gründen von Interesse: einerseits wurde die Einnahme von Veii damit als eigenständiger Vorgang memoriert, der zwar mit der Gallierkatastrophe in Verbindung gesetzt, aber nicht davon überlagert wurde. Letzteres zeigt sich besonders eindrücklich im Kontext der überlieferten innenpolitischen Auseinandersetzungen, die auf den Abzug der Kelten folgten. Prominent wird hierbei die Forderung nach einer kompletten Übersiedlung der Bürgerschaft nach Veii erwähnt. Im Grunde handelt es sich hierbei um die Fortsetzung der Diskussionen bezüglich der langfristigen Einverleibung und Verteilung des ager Veientanus, da mit der geforderten Übersiedlung auch die Frage nach der Verwendung und Organisation des neuen Ge-
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nunc intra muros pastoris bucina lenti / Cantat, et in vestris ossibus arva metunt; Flor. 1.12.10–11, Strab. 5.2.9; (municipium Augustum Veiens CIL 11, 3797, 3805, 3808). Ward-Perkins 1961, 145–159; Di Giuseppe 2012b, 359–365. Zu Capena: Bandelli 1988, 512; Taboli/Neri 2017, 569–573. Auch in späterer Zeit scheint diesem frühen foedus gedacht worden zu sein, CIL 11, 3873, 3876a, 3932, 3936. Nach Harris 1971, 85–89 gingen diese auf den von Liv. 5.24.3 beschriebenen Vertrag zurück, vgl. dagegen Turchetti 1995, 92 zur These, das municipium sei erst nach dem Bundesgenossenkrieg eingerichtet worden. Cato kannte Informationen, die auf eine enge Verbindung zwischen Capenates und Veii verwiesen, FRH 3 F 2.19 (= Serv. Aen. 7.697). Humbert 1978, 251–271. Zu Sutrium und Nepet: Del Lungo 2008, 576–579; Martinez-Pinna 2014, 130–134. Eine aktuelle Studie unter Berücksichtigung der neuen archäologischen Funde bietet Rajalla 2016, passim. Liv. 5.22.5–8, 5.23.7, 5.31.3, 5.52.10; Plut. Cam. 6.1–2; Dion. Hal. ant. Rom. 13.3; Val. Max. 1.8.3. Viscogliosi LTUR 3 (1996), 126–128. Der Tempel blieb in Gebrauch und tauchte in späterer Zeit im Kontext von prodigia auf, Liv. 21.62.8; 22.1.17; 31.12.8; s. a. 27.37.7. Richardson 1992, 254–255; Orlin 2002, 15, 62–63. Nach Linke 2014a, 21–24 spiegelte sich in der evocatio auch die sakrale Eigenqualität der römischen Bürger wider, s. a. Linke 2013, 78. Taylor 1960, 300–304; Nicolet 1980, 224–226. Hierzu pointiert Walter 2004a, 189–195. Vgl. Hölkeskamp 2001, 102 mit Anmerkungen.
Der konfliktgeladene Sieg
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biets einherging.22 Die Prägnanz dieses Themas ließ selbst die Camillus-Legende nicht unberührt, was sich in einer interessanten Komposition in den Werken des Livius und Plutarch niederschlägt: einerseits wird der große Erfolg der Einnahme Veiis und die Leistung des Camillus betont, andererseits wird der Feldherr auf das Engste mit negativen Entscheidungen und Ereignissen in Verbindung gebracht. Hierzu gehören die äußerst konfliktgeladene Beuteverteilung, ein überzogener Triumph und nicht zuletzt die Verbannung des Camillus.23 Narratologisch erlaubte dieser Aufbau zwar die opportune Distanzierung der Camillus-Figur von der nahenden Katastrophe des Kelteneinfalls, doch ist es auffällig, dass auch die schillernde Phase nach seiner Rückkehr wieder von der Auseinandersetzung um den ager Veientanus gezeichnet ist. Der indirekte Verweis auf die anhaltende Prominenz des Themas der Landverteilungen spricht hier m. E. für dessen Authentizität, was auch durch die Einrichtung der tribus nach dem Abzug der Kelten untermauert wird. 3.2 Der konfliktgeladene Sieg Das strukturelle Problem der Beuteverteilung wurde demnach von der Kontingenz des Kelteneinfalls zwar kurzfristig verdrängt, aber nicht aufgehoben. Dies ist angesichts des breiten Raumes, den die Beutethematik in der Überlieferung einnimmt, kaum verwunderlich. Bereits die Eroberung Veiis ist hiervon betroffen, da die gesamte Bevölkerung Roms von der bevorstehenden Einnahme unterrichtet und herbeigerufen worden sein soll, um an der Plünderung der Stadt teilzunehmen.24 Trotz dieser breiten Beteiligung habe es im Anschluss aber massive Spannungen gegeben, da sowohl der in die Staatskasse fließende Erlös aus dem Verkauf von Sklaven als auch die Abgabe eines Zehntels der Beute als Weihgabe an die Götter nur gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden konnte.25 Ausgehend von Linkes Überlegungen zur Problematik des großen Sieges für die res publica, spricht die Fülle und Diversität der Streitfälle für die Authentizität der überlieferten Verteilungskonflikte. Allein die gigantische Dimension des Sieges und der Beute barg kaum zu überblickende Langzeitfolgen und lässt Konflikte plausibel erscheinen, da die wirtschaftliche Bereicherung von Individuen oder Gruppen das Potenzial für signifikante Umwälzungen der sozialen und politischen Verhältnisse der Gemeinschaft in sich barg. In diesem Kontext dürfte die nicht 22 23
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Liv. 5.51–54.7; Plut. Cam. 31–32; vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 12.15. Jenkyns 2013, 224–225. Plut. Cam. 7.1–2; Plin. nat. 34.13. Zudem dürfte der Prestigezuwachs des Camillus ein Problem dargestellt haben. Liv. 5.23.6: Iovis Solisque equis aequiperatum dictatorem in religionem etiam trahebant, triumphusque ob eam unam maxime rem clarior quam gratior fuit. Linke 2017a, 389–392 erläutert die enormen Spannungen angesichts der unklaren Beuteverteilung. Liv. 5.19–23; Diod. 14.93.2–3 und Plut. Cam. 6.1 beschreiben dagegen eine reguläre Plünderung durch das römische Heer. Liv. 5.25; Plut. Cam. 7–8.
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allzu lange zurückliegende Einführung des stipendium und tributum, die maßgeblich zum Erfolg der gemeinschaftlichen Anstrengungen beigetragen zu haben scheint, eine Lösung zusätzlich verkompliziert haben, da die traditionellen Formen der Beuteverteilung durch die indirekte Beteiligung der Gemeinschaft in nicht geringem Maße obsolet geworden sein dürften. Die öffentliche Finanzierung der Kampfhandlungen mag bei kleineren Erfolgen keine Rolle gespielt haben, scheint aber angesichts des Ausmaßes der bereitstehenden Ressourcen und deren weitreichenden sozio-politischen Konsequenzen eine intensive Debatte ausgelöst zu haben.26 Stellte schon die Verteilung der portablen Beute laut den antiken Autoren ein signifikantes Problem dar, so eskalierte der innenpolitische Streit vollends bei der Frage nach der Aufteilung der strukturellen Beute des fruchtbaren Ackerlandes.27 Angeblich hätten sich die Patrizier vehement gegen die Forderung gestemmt, das eroberte Land zu verteilen, weshalb vermutet wurde, dass von dieser Seite Ambitionen gehegt wurden, das neue Gebiet unter sich aufzuteilen und die dortige Bevölkerung in ihre Klientelstrukturen einzubinden.28 Ohne die absehbare Gründung neuer tribus, die erst nach dem Abzug der Kelten erfolgen sollte, mussten die Plebeier demnach befürchten, dass der ager Veientanus, wie zuvor schon Fidenae und Labici, auf die angrenzenden tribus aufgeteilt werden würde. Damit wären plebeische Ansiedlungen zwar nicht per se ausgeschlossen gewesen, jedoch hätten die Patrizier ihren Einflussbereich dramatisch ausdehnen und womöglich noch die ansässige, zu diesem Zeitpunkt rechtlose Bevölkerung in ihre Klientelnetzwerke einbinden können.29 Vor dem Hintergrund dieses Szenarios erklärt sich auch das vehemente Echo dieser Auseinandersetzungen in den antiken Berichten, denn eine Vereinnahmung des Territoriums samt der dort ansässigen Bevölkerung hätte den Einfluss der großen gentes beträchtlich gestärkt und 26 27
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Das stipendium war laut Liv. 4.59.11, 5.4.3–7 und Diod. 14.16.5 speziell für die Belagerung Veiis eingeführt worden. Hierzu ausführlich Boren 1983, 428–436; Rosenstein 2016, passim, bes. 95–97. S. a. Tan 2019, 53–54 und Anm. 57 bis 59 in Kapitel 2. Liv. 5.24. Interessant ist hierbei, dass 3.000 Kolonisten in das pomptinische Gebiet entsandt werden sollten, die plebs jedoch nachdrücklich die Ansiedlung auf dem ager Veientanus verlangte. Diesen Entschluss dürfte die Fruchtbarkeit des Gebiets bestärkt haben. Die Stadt war im 5. Jahrhundert eine prosperierende Gemeinde, deren Territorium durch cuniculi gut erschlossen und dicht besiedelt war, Potter 1979, 87; Colonna 1990, 13–20; Barker/Rasmussen 2002, 144–145; Schiappelli 2012, 327–336. Alföldy 1984, 28–29; Armstrong 2016a, 244–253. Nach Cels-Saint-Hilaire 1995, 231–234 wurden diese Strukturen erst durch die erfolgreiche Durchsetzung der plebeischen Forderungen entscheidend geschwächt; s. a. Humm 2018, 80–83. Zur Diskussion der Authentizität der Landproblematik und ihrer Prominenz in den Ständekämpfen als einer späteren Verzerrung unter Eindruck der Gracchi s. Patterson 2006b. Gabba 1988, 20 bietet eine elegante Lösung, indem er darauf verweist, dass sowohl verarmte und von der Schuldknechtschaft bedrohte Plebeier als auch Söhne relativ ungefährdeter Kleinbauern auf Landverteilungen drängten, um ihre Existenz zu sichern, s. Bernard 2016, 324–326 zu den ökonomischen Folgen der Landverteilungen. Smith 2006a, 235–250; Terrenato 2011, passim; Armstrong 2016a, 180. Rendeli nimmt eine starke Rolle der aristokratischen Gruppen in Veii an. Diese Netzwerke wären ohne weiteres anschlussfähig für eine patrizische Übernahme gewesen; Rendeli 2012, 380, vgl. Terrenato 1998, bes. 112–114.
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damit die Möglichkeit einer weitgehenden Nichtbeachtung plebeischer Forderungen geschaffen.30 Dies hätte eine einseitige Bereicherung der Patrizier bedeutet und so die politische Entwicklung aus der Perspektive der Plebeier um hundert Jahre zurückgeworfen. Sowohl die wirtschaftlichen Forderungen der breiten Masse der plebs als auch die politischen Ambitionen der plebeischen Elite, die in einem solchen Fall eine Verschärfung des Gefälles zu den Patriziern befürchten musste, standen hier auf dem Spiel. Laut der Überlieferung setzten die Plebeier diesen Bestrebungen dann auch massiven Widerstand entgegen, wobei oft übersehen wird, dass Livius nicht nur von der Anklage gegen Camillus berichtet, sondern auch erwähnt, die Plebeier seien mit erheblichen Repressalien gegen jeden vorgegangen, der sich dem Antrag zur Verteilung des Ackerlandes entgegenstellte, sogar gegen die eigenen Volkstribunen.31 Letztendlich scheinen sich die Plebeier so zumindest teilweise durchgesetzt zu haben, da es zur Verteilung von Landlosen zu sieben iugera für jeden Bürger sowie zusätzlichen sieben iugera für jedes freie Familienmitglied kam.32 Hierbei handelte es sich um eine unübliche und überaus generöse Größe von Landlosen, die ansonsten nur in den später gegründeten latinischen Kolonien anzutreffen ist und dementsprechend eine gewaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Angesiedelten bedeutete.33 Dies könnte auf die präzedenzlose Dimension des Sieges zurückzuführen sein, die alle bis dato bekannten Formen der Beuteverteilung sprengte. Gleichzeitig ist aber auch zu bemerken, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine neuen tribus erwähnt werden, die laut Livius 30
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Letztendlich bildete dieser Streit auch die Basis für die Verbannung des Camillus: Liv. 5.32.8–9; Plut. Cam. 12–13; Dion. Hal. ant. Rom. 13.5; Val. Max. 5.3.2. Auffällig ist hierbei, dass allein Plutarch die Verbannung explizit in einen Zusammenhang mit der Beuteverteilung setzt, indem er stärker auf den Ankläger eingeht, der Camillus unlautere Bereicherung (ἔγκλημα δὲ κλοπῆς περὶ τὰ Τυρρηνικὰ χρήματα, Plut. Cam. 12.1) vorwirft. Plutarch verweist auch auf den Unmut der Soldaten des Camillus, die unter seinem Kommando angeblich nicht ausreichend entlohnt worden waren. Liv. 5.29 berichtet, die Volkstribunen, die die Patrizier unterstützt hatten, seien zu jeweils 10.000 asses verurteilt worden. Laut Inscr. It. 13.1.100. sei auch der erste Versuch, Konsuln zu wählen, gescheitert [vitio facti abdicaru]nt. Dagegen erwähnt Liv. 5.29.3 nur die Wahl der Konsuln L. Lucretius Flavus und Ser. Sulpicius Camerinus, wobei die Doppelnennung der beiden bei Diod. 14.99.1 und 15.8.1 auf Unregelmäßigkeiten in den Vorlagen verweist. Vgl. Hermon 1994a, 265–271 und CelsSaint-Hilaire 1995, 231–234 zu den Auswirkungen der Ansiedlungen auf den Zusammenhalt der gentes. Diese Probleme waren möglicherweise abzusehen und würden den hartnäckigen Widerstand erklären. Liv. 5.30.8: agri Veientani septena iugera plebi dividerentur, nec patribus familiae tantum, sed ut omnium in domo liberorum capitum ratio haberetur, vellentque in eam spem liberos tollere. Zur Zuverlässigkeit der Angaben s. Roselaar 2010, 54–58; Pelgrom 2012, 86–90. Laut Hermon, 1994b, 502 erhielten 5.000 Bürger Landlose. De Martino 1980, 26–27 geht von 4.400 Personen aus. Da eine Familie von vier Personen mindestens 10 iugera benötigte, stellten 28 iugera in diesem Fall eine beachtliche Größe dar. Dagegen geht. Cornell 1989b, 325–326 von 7 iugera für die gesamte Familie aus. Nicolet 1977, 103 und Hopkins 1978, 21 gehen von mindestens 14 iugera aus; Garnsey 1980, 37; De Neeve 1984, 30, Oakley 1997, 677, Rosenstein 2004, 68–69, Lo Cascio/ Malanima 2005, 21 gehen von 12 iugera aus. In der Regel wird von der Nutzung weiteren Landes, oder der Verdingung als Tagelöhner ausgegangen, Galsterer 1976, 59; Frederiksen 1984, 202.
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erst 386 (varronisch) gegründet worden seien, also erst nach dem Kelteneinfall.34 Ansiedlungen und Tribusgründungen konnten zwar durchaus größere zeitliche Abstände aufweisen, doch zeigt gerade die spätere Aufnahme der einheimischen Bevölkerung in die neuen tribus, dass die politischen und militärischen Rahmenbedingungen der Ansiedlung römischer Bürger vor dem Kelteneinfall und der erst danach erfolgten Tribusgründungen grundsätzlich unterschiedlich waren. Die ersten Ansiedlungen im Kontext der Verbannung des Camillus dürften folglich lediglich ein Teilsieg der Plebeier gewesen sein, da hiermit noch keine Entscheidung über die langfristige und strukturelle Integration des neuen Territoriums in den ager Romanus getroffen worden war. Inwiefern diese Ansiedlungen historisch waren, kann letztendlich nicht genau geklärt werden, doch lassen der lange Aushandlungsprozess sowie die ungewöhnliche Größe der Landlose auf einen authentischen Kern schließen. 3.3 Ursachen und Folgen des metus Gallicus Es kann an dieser Stelle gar nicht genug betont werden, wie sehr dieser Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Gruppen in Rom durch den Kelteneinfall erschüttert wurde. Ihr plötzliches Auftauchen im Jahr 390 (varronisch)35 und die Einnahme Roms waren ein einschneidendes Ereignis, das wie kein anderes die römische Psyche prägen sollte. Allein die über die Jahrhunderte anhaltende Wirkungsmacht des metus Gallicus zeigt, dass dieses Trauma auf einer realen Grundlage fußte.36 Auch die breite Behandlung dieses Ereignisses in den antiken Geschichtswerken, gerade auch die Erwähnung durch zeitgenössische griechische Autoren, spricht für eine einschneidende und überregional registrierte Zäsur.37 Im Folgenden soll der Fokus dabei jedoch nicht auf den breit überlieferten Vorgängen in Rom liegen, etwa den drohenden Vorzeichen oder der mit einer Fülle an exempla ausgestatten Verteidigung des Kapitols, sondern vielmehr auf der Frage, inwiefern der keltische Einfall die politischen Verhältnisse in Rom sowie das regionale Machtgefüge erschütterte. 34 35
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Liv. 6.5.8. Taylor 1960, 48. Die Varronische Chronik liegt mit der Angabe des Jahres 390 wohl falsch, da griechische Autoren des 4. Jahrhunderts die Einnahme Roms mit dem Jahr 387 synchronisierten, s. Pol. 1.6.1; Plut. Cam. 22.1–3; Plin. nat. 3.57. Hierzu Drummond 1978, 569–572; Cornell 1995, 314; Feeney 2007, 88–107; Lomas 2017, 329–333. App. Ill. 1.4; Plut. Mar. 27.5; s. a. Pol. 2.22. Bellen 1985, 1–19; Cornell 1995, 313–319; Grünewald 2001, passim; Williams 2001, 170–182; Eckstein 2006, 131–138. Laut Plut. Cam. 22.2–3 notierten sowohl Aristoteles (Aristot. Fr. 703 Gigon) als auch Herakleides Pontikos (Fr. 102 Wehrli) die Eroberung Roms durch die Kelten; ebenso Theopompos BNJ 115 F 317 (= Plin. nat. 3.57). Liv. 5.32.6–55.5; Dion. Hal. ant. Rom. 13.6–12; Plut. Cam. 14–30; Diod. 14.113.5–117. Schon Fabius Pictor FRH 1 F 23 verstand die Einnahme der Stadt als Zäsur. Für die tiefe Verankerung der Niederlage in der römischen Erinnerungskultur s. Lentzsch 2019, 73–147. Zur Belagerung des Kapitols ausführlich Briquel 2008, 193–248; Lentzsch 2017, passim.
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Diese langfristigen, disruptiven Auswirkungen kommen bei den antiken Autoren kaum zur Sprache, da sie den Fall der Stadt zunächst mit religiösen Fehltritten erklären und dann den Helden Camillus den status quo ante wiederherstellen lassen. Auffällig ist hierbei die weit verbreitete Darstellung, die Kelten seien einer plötzlichen Naturgewalt gleich über die Römer hereingebrochen. In diesem Kontext taucht ein gewisser Arruns aus Clusium auf, der den Galliern jenseits der Alpen Wein gebracht habe, um diese nach Italien zu locken und gegen seine persönlichen Gegner einzusetzen.38 So abrupt wie die Gallier die Alpen und den Apennin auf dem Weg nach Clusium überschreiten, so abrupt wenden sie sich auch gegen Rom, nachdem zu Hilfe gerufene römische Gesandte sich widerrechtlich an den Kämpfen zwischen Etruskern und Galliern beteiligt und dabei einen gallischen Fürsten erschlagen haben sollen.39 Angesichts des frevelhaften Übergriffs der römischen Gesandten hätten sich die Gallier dann dazu entschieden, gegen Rom zu ziehen.40 Der schnelle Vormarsch habe die römische Seite vollkommen überrumpelt; überhastet und ungeordnet sei das römische Aufgebot ausgezogen, um die Gallier an der Allia, am 11. Meilenstein zur Schlacht zu stellen – mit dem bekannten, desaströsen Resultat.41 Ungern-Sternberg hat dieses Narrativ als Teil der Verarbeitung der römischen Niederlage interpretiert, das sich im Laufe der Zeit in allen Erzählungen durchgesetzt habe.42 Allerdings existiert im Kontrast zu der beschriebenen populären und weit verbreiteten Erklärung auch eine wesentlich gelehrtere Position zu dem Auftauchen der Kelten, die sich am deutlichsten bei Polybios findet. Der Kelteneinfall wird bei ihm zunächst nur im Rahmen seiner sehr knappen Zusammenfassung der römischen Kriege im 4. Jahrhundert erwähnt, worauf aber im zweiten Buch eine erstaunlich detaillierte Beschreibung der keltischen Migrationsbewegungen in der Po-Ebene im 5. Jahrhundert folgt.43 Demzufolge seien die Kelten zunächst über die Alpen eingesickert und anschließend von hier aus weiter nach Süden vorgestoßen. Die Eroberung Roms wird von Polybios demzufolge als Teil komplexer Bevölkerungsverschiebungen in Norditalien gesehen, die nicht nur die Tiberstadt, sondern auch viele andere Städte den Streifzügen der Kelten aussetzten. Da weder Arruns von Clusium noch Camillus in diesem Bericht auftauchen und im Rahmen des längeren Exkurses explizit Timaios 38 39 40
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Dion. Hal. ant. Rom. 13.10–12; Liv. 5.33.3–4; Plut. Cam. 15. Übereinstimmend bei Liv. 5.36–37; Dion. Hal. ant. Rom. 13.12, Diod. 14.114; Flor. 1.13.4–7. UngernSternberg 2006a, 116; Richardson 2012, 116–152. Interessant ist hierbei vor allem, dass die Gallier laut Überlieferung äußerst schnell vorrückten und alle auf ihrem Weg liegenden Städte ignorierten, um Rache an Rom zu nehmen. Liv. 5.37.5–6: Ad quorum praetereuntium raptim tumultum cum exterritae urbes ad arma concurrerent fugaque agrestium fieret, Romam se ire magno clamore significabant quacumque ibant, equis virisque longe ac late fuso agmine immensum obtinentes loci. Liv. 5.37–38 betont die römische Konfusion, s. a. Zon. 7.23.3–4. Liv. 5.37.7–38.2. Die Allia entspringt bei den montes Crustumini und mündet circa 16 km vor Rom in den Tiber; heute Fosso della Bettina. Ungern-Sternberg 2006c, 135–138. Pol. 1.6. Lomas 2017, 208.
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von Tauromenion erwähnt wird, sei es auch nur um ihn zu kritisieren, ist anzunehmen, dass Polybios an dieser Stelle auf das Werk des Timaios zurückgegriffen haben könnte. Dessen Historiai Sikelikai behandelten auch die Entwicklungen im westlichen Mittelmeerraum im 4. Jahrhundert, wozu sicherlich auch die Ankunft und Einfälle der Gallier in Italien gehört haben dürften.44 John Williams hat in dieser Hinsicht nachdrücklich auf die in den Details voneinander abweichenden Darstellungen – vor allem auch auf das Fehlen der Camillus-Figur bei Polybios und Diodoros – verwiesen, die für eine zeitgenössische Registrierung und Behandlung der Eroberung Roms durch griechische Autoren spricht.45 3.3.1 Die Einnahme Roms durch die Kelten Bezüglich der wesentlichen Abläufe weisen die unterschiedlichen Überlieferungsstränge der ‚Gallierkatastrophe‘ zwar eine gewisse Diskrepanz in der Ausgestaltung auf, stimmen aber hinsichtlich des Anmarsches und der Herkunft der Angreifer genauso überein wie in der Beschreibung ihres durchschlagenden militärischen Erfolges. Dem Ansturm des keltischen Heeres war das römische Aufgebot nicht gewachsen, das an der Allia geschlagen und zerstreut wurde.46 Nach der Niederlage standen offenbar keine Kräfte mehr zur Verfügung, um die Stadt zu schützen, denn obwohl die Gallier angeblich mehrere Tage abwarteten, bis sie in die Stadt einzogen, vermochten die Römer lediglich das Kapitol zu bemannen und sich dort mit ausreichend Proviant zu verschanzen.47 Allerdings habe man die gewährte Zeit genutzt, um den Großteil der Bevölkerung samt der heiligen Gegenstände zu evakuieren, lediglich die Ältesten sollen in der Stadt verblieben und von den schließlich einziehenden Kelten erschlagen worden
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Pol. 2.18–22, vgl. Dion. Hal. ant. Rom 1.6.1, 1.7.1; Gell. 11.1.1. Da Pol. 2.14–2.35 detailliert auf die Keltenkriege der Römer vor dem Ausbruch des 2. Punischen Krieges eingeht, wurde eine Berücksichtigung von Fabius Pictor ins Spiel gebracht, s. Walbank 1957, 184; Timpe 1972, 938; Beck/Walter 2001, 56, s. a. FRH 1 F 29–30; Walter 2004a, 205–207. Eine ähnliche Darstellung liefert Diod. 14.113.1–3; sogar Liv. 5.33.5, 5.34–35 verweist en passant auf die Geschichte der keltischen Migration, übernimmt dann jedoch die Erzählung über Arruns von Clusium; s. Forsythe 1999, 109–112. Zu der frühesten griechischen Überlieferung s. Anm. 38 in diesem Kapitel sowie Kapitel 1.5.2 mit Anmerkungen. Auch Strab. 5.2.3 bezieht sich auf eine griechische Parallelüberlieferung bezüglich der Wiedererlangung des Goldes durch Truppen aus Caere; Cornell 1989b, 310. Etruskische sowie westgriechische Überlieferungsmöglichkeiten (Philistos und Timaios) sind hier ins Spiel gebracht worden; Sordi 1960, 31–36, 43–49; Harris 1971, 24–25. Zu einer Überlieferung durch Massalia s. Bayet 1954, 170. Die Diskussion hat Williams 2001, 145–148 zusammengefasst und erweitert. Angeblich rettete sich der Großteil der Truppen nach Veii und wehrte in der Folge etruskische Einfälle ab, Liv. 5.38.9, Di Giuseppe 2012b, 359–360 „an outpost of the Roman defence“, s. a. Patterson/ Rendeli 2012, 381. Zur Bedeutung des Kapitols Hölkeskamp 2001, 104–108; Lentzsch 2017, passim.
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sein.48 Daraufhin sei es zur Plünderung der weitgehend verlassenen Stadt und zur Belagerung des Kapitols gekommen, die angeblich mehrere Monate andauerte.49 Aus den vielen narrativen Elementen, die nachträglich in die Erzählung eingewoben wurden, sticht vor allem M. Manlius Capitolinus hervor, der einen Überraschungsangriff der Gallier auf das Kapitol vereitelt und dadurch großen Ruhm erworben habe.50 Dagegen bleibt Camillus über weite Strecken eine Randfigur, auf die sich zwar einzelne Geschichten wie die des Pontius Cominius51 beziehen, die aber bis zum Abzug der Gallier nicht weiter in Erscheinung tritt. Die Abwesenheit des Camillus wird mit seinem Exil begründet, was ihn aber nicht daran hindert, das Kommando über Truppen in Ardea zu übernehmen und gleichzeitig Kontakt zum Senat und den versprengten römischen Truppen herzustellen. Schließlich gelingt es ihm, im letzten Moment in Rom zu erscheinen, um die Verhandlungen zu verhindern und den Galliern das beträchtliche Lösegeld zu entreißen.52 Dieser verdächtig anmutende Husarenstreich widerspricht dabei mehreren konkurrierenden Überlieferungssträngen, die die Rückgewinnung des Goldes verschiedenen Epochen und Akteuren zuweisen.53 Die Quellenlage lässt hier wenig Zweifel daran, dass alle Geschichten von einer späteren Ehrenrettung der römischen Seite durch M. Furius Camillus mehr römischem Wunschdenken als historischer Realität entsprangen.54 3.3.2 ‚Structural Facts‘ des Kelteneinfalls Die spätere Umdeutung der Ereignisse zugunsten einer erfolgreichen Vertreibung der Kelten nach anfänglichen, herben Rückschlägen entstand wahrscheinlich im 2. Jahrhundert und basierte vor allem auf der erfolgreichen Verteidigung des Kapitols und der Wiedererlangung des Lösegelds. Allerdings zeigen die unterschiedlichen Quellenaussagen zur Rückgewinnung des ‚Galliergolds‘ die Schwierigkeiten und Grenzen einer Neufassung der eigenen Geschichte auf. Die späteren, römischen Ehrenrettungs-
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Liv. 5.41.9–10. Liv. 5.43.1–8. Pol. 2.22.3 gibt die Dauer der Belagerung mit sieben Monaten an, so auch Serv. in Aeneid. 8.652 und Varro ling. 6.18. Zur Überlieferung s. Ungern-Sternberg 2006d, 122–126. Liv. 5.47; Plut. Cam. 27; Cic. dom. 101; Diod. 14.116.5–7; Dion. Hal. ant. Rom. 13.7–8; Gell. 17.2.14, 17.2.24. Jaeger 1993, 351–352. Umfassend zur Überlieferungsgeschichte Lentzsch 2019, 85–94. Diod. 14.116.3–4.; Liv. 5.46.7–10; Plut. Cam. 25, mor. 324; Zon. 7.23.6; Frontin. Strat. 3.13.1; Claudius Quadrigarius FRH 14 F 5 (= Gell. 17.2.24). Plut. Cam. 24, 29; Dion. Hal. ant. Rom. 13.9.1–2; Liv. 5.48.8–49.4. Diod. 14.117.7; Strab. 5.2.3; Suet. Tib. 3.2. S. hierzu Anm. 68 in diesem Kapitel. Skutsch 1953, 77–78, 1985, 405–8 und Horsfall 1987, 63–75 vermuten eine vollständige Einnahme Roms inklusive des Kapitols. Skutsch kommt aufgrund von FRL I Enn. ann. 7.14 (= Macrob. 1.4.17–18) zu diesem Schluss und verweist zusätzlich auf Sil. 1.625; 4.150; 6.555; Lucan 5.27 fr.12 Morel; Tertull. Apol. 40.9. Diese Interpretation konnte sich aber nicht durchsetzen. Vgl. dagegen Cornell 1995, 317; Williams 2001, 144–145; Forsythe 2005, 254–257; Lentzsch 2017, 136–138.
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versuche kollidierten hier mit den ‚structural facts‘ der Niederlage, etwa der Verewigung der Flucht des römischen Heeres am 18. Juli (XV Kal. Sextilis) an der Allia, die Eingang in den römischen Kalender fanden. Die Verewigung als dies nefas zog zudem eine jährliche Aktualisierung der kollektiven Erinnerung an die Niederlage nach sich.55 Eine Einbettung und permanente Memorierung der Ereignisse wurde auch durch die Topographie der Stadt und ihrer Umgebung geleistet, in welcher der ‚Aufenthalt‘ der Kelten präsent blieb. An allererster Stelle ist hier das Kapitol zu nennen, Ort des letzten Widerstands der Republik und leuchtendes Beispiel römischer constantia in der Krise.56 Parallel zum Capitol verwies die busta Gallica, ein Ort media in urbe, an dem gallische Gefallene verbrannt worden waren, auf die Anwesenheit der Invasoren innerhalb der Stadtmauern und diente als mahnendes Denkmal der Eroberung Roms.57 Der Ort lag in der Nähe des Capitols, wahrscheinlich beim Forum Boarium und blieb in der römischen Erinnerung sehr präsent, denn im Jahr 227 wurden hier ein gallisches und ein griechisches Paar bei lebendigem Leibe begraben, um göttlichen Schutz angesichts eines drohenden Kelteneinfalls zu erflehen.58 Einen weiteren prominenten Verweis auf die schwere Niederlage bildete der Schrein des Aius Locutius, der auf die religiöse Nachlässigkeit der Römer verwies, die überhaupt erst zu der Katastrophe geführt hatte. Angeblich hatte der Plebeier M. Caedicius nahe des lucus Vestae ein Jahr vor der Katastrophe eine Stimme vernommen, die ihm auftrug, den Senat dazu zu bringen, Mauern und Türme der Stadt instand zu setzen. Diese Warnung beachtete man nicht; erst nach dem Abzug der Gallier wurde nahe der nova via ein Kultplatz errichtet.59 Die Wirkung und Erinnerungsfunktion dieser Orte sollte nicht unterschätzt werden und muss im Kontext des wirkungsmächtigen Furchtmotivs, des metus Gallicus, gesehen werden, der eine langanhaltende Verunsicherung der römischen Gesellschaft
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Dies Alliensis: Liv. 6.1.11; Verg. Aen. 7.717; Tac. hist. 2.91; Varr. ling. 6.32; Lucan. 7.408; Cic. Att. 9.5.2. Ungern-Sternberg 2006d, 116–117; Feeney 2007, 103–107; Lentzsch 2019, 77–80 gehen von der Zuverlässigkeit des dies Alliensis aus, dagegen vermuten Walter 2004a, 204–207, 2006, 43–47 und zuletzt Engerbeaud 2018, passim eine Etablierung des Datums durch spätere Autoren. Hölkeskamp 2001, 104–111; Ungern-Sternberg 2006, 134–135; Hölscher 2006, 81–89; Lentzsch 2017, 138–145. Liv. 22.14.11 zur Lage inmitten der Stadt; s. a. CIL 1, 809. Nach Liv. 5.48.3 verbrannten die Gallier ihre eigenen Gefallenen, während Varro ling. 5.157 von einer Verbrennung durch die siegreichen Römer berichtet, s. a. Plut. Cam. 28.1–2; Sil. 8.641. Ungern-Sternberg 2006d, 124–125; Coarelli LTUR 1 (1993), 203–204. Dagegen geht Hartmann 2010, 434 davon aus, dass keine zuverlässigen Angaben existierten. Sein Verweis auf die unterschiedlichen Traditionen lässt jedoch deren generelle Übereinstimmung hinsichtlich gallischer Gefallener außer Acht. Vgl. Östenberg 2014, 257–261, die auf die generelle Abwesenheit von Niederlagenmonumenten in Rom mit Ausnahme der Eroberung durch die Kelten verweist. Liv. 22.57.4–6; Plut. Marc. 3; Plin. nat. 28.12. Liv. 5.50.5; Plut. Cam. 14, 30.3, mor. 319a; Cic. div. 1.101, 2.69; Varro bei Gell. 16.17; Tert. nat. 2.11. Aronen LTUR 1 (1993), 29. S. umfassend Lentzsch 2019, 133–139 zur räumlichen Verankerung der Erinnerung an den Kelteneinfall.
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belegt. Die tiefe Verwurzelung einer irrationalen Furcht vor Gefahren aus dem barbarischen Norden stand dabei in einer reziproken Verbindung zur Erinnerung an die Katastrophe.60 Hierbei handelte es sich nicht etwa um eine abstrakte Psychose, sondern um eine konkrete Bedrohungsfeststellung, die sich auch unmittelbar in der Einführung des tumultus niederschlug, der eine totale Mobilisierung der militärischen Kräfte der Gemeinschaft vorsah.61 Dieser Ausnahmezustand wurde im 4. Jahrhundert anscheinend gleich mehrmals verhängt. Selbst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, als Rom bereits die Herrschaft über die italische Halbinsel südlich der Poebene errungen hatte, löste die Nachricht von einer Erhebung der norditalischen Kelten panikartige Reaktionen und die Deklaration eines tumultus Gallicus in Rom aus.62 „Konsequenz des Traumas war eben die stehende assoziative Verbindung von Gallier und Furcht, die selbst da noch anzutreffen ist, wo die objektive Situation sie wenig verständlich erscheinen lässt.“63 Auch in der bereits erwähnten Darbringung von Menschenopfern auf dem Forum Boarium ist diese Furcht evident.64 Zusammengenommen hinterließ die Eroberung Roms durch die Kelten zahlreiche Monumente, die eng mit der traumatischen Verunsicherung der Bürgerschaft verbunden waren. Diese beiden Ebenen dürften sich dabei gegenseitig gestützt und verstärkt haben, sodass die Existenz von Überlieferungskernen kaum in Frage zu stellen ist. Simon Lentzsch hat in Bezug auf die Prominenz der Niederlage die Möglichkeit betont, „die Überlieferung von der ‚Gallischen Katastrophe‘ an Schauplätze und ‚Schau-Plätze‘ im Stadtgebiet Roms zu binden“, was neben dem chronologischen Fixpunkt des dies Alliensis weitere Stütz60
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Bellen 1985, passim. Ungern-Sternberg 2006a, 117–126. Rosenberger 2003, 366–368 relativiert das Ausmaß der Gallierfurcht mit Blick auf die Verhältnisse der Bürgerkriegszeit, geht aber nicht auf die überlieferte Prominenz des Furchtmotivs im 3. Jahrhundert ein, für die Pol. 2.21–31 ein eindrückliches Beispiel bietet; so auch Forsythe 2005, 253, 331–332 „genuine fear“. Eine vom Senat konstatierte militärische Notsituation, in der die Obermagistrate befugt waren, ohne förmlichen dilectus ad hoc Aushebungen durchzuführen und die reguläre Abnahme des sacramentum oder Dienstbefreiungen (vacatio) zu ignorieren. Jeder Bürger hatte das sagum, das Kriegskleid, anzulegen und für den Militärdienst bereitzustehen. Cic. Phil. 8.3, 5.31, Font. 46; Dig. 16.3.1.1; 50.17.23. Kunkel 1995, 228–229. In der lex coloniae Genetivae werden Ausnahmen zur Wehrpflicht aufgezählt: nisi tumultus Italici Gallicive causa, s. Crawford 1996, 400. S. a. Lintott 1968, 153–155; Bellen 1985, 9–19; Oakley 1998, 126–128; Ungern-Sternberg 2006c, 136–138; Golden 2013, 43–48. Ein tumultus wird bei Diod. 14.114.1 im Vorfeld der Schlacht an der Allia erwähnt, aber man darf wohl davon ausgehen, dass dieser erst als Folge der Eroberung Roms eingeführt worden war. Livius berichtet von der Anwendung der Generalmobilmachung im Kontext späterer Kelteneinfälle, z. B. Liv. 7.9.6. In einer solchen Situation wurden auch proletarii zu den Waffen gerufen, s. FRL I Enn. Ann. 6.7 (= Gell. 16.10.1–5); Cassius Hemina FRH 6 F 24. Auch noch im 2. Jahrhundert angewandt, s. Liv. 31.2.5–6; 32.26.12. Eckstein 2006, 133–137. Generell zum tumultus: Osthoff 1953, bes. 5–21; Bellen 1985, 10–12; Kunkel 1995, 228–229 samt Belegstellen. Ungern-Sternberg 2006c, 144. Insgesamt schickte man 200.000 Mann ins Feld mit einer weiteren halben Million Mann in Reserve ex formula togatorum, FRH 1 F 30 (= Oros. 4.13.6–7); Pol. 2.24; Plin. nat. 3.138; App. Celt. 2; Liv. Per. 20. Vgl. Taylor 2020, 25–47. Ungern-Sternberg 2006c, 138–139. Noch Cic. Cat. 4.4; Sall. Cat. 40.1–4 und Caes. BG 1.7 können die Gallierfurcht instrumentalisieren.
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pfeiler für das soziale Gedächtnis der Gemeinschaft und Anhaltspunkte für spätere Geschichtsschreiber bot.65 Basis für die herausragende Stellung der Niederlage blieb dabei die Tatsache, dass die Stadt von äußeren Feinden eingenommen worden war und der Gemeinschaft daraus erhebliche Schäden entstanden sein dürften. Hierbei kam es wahrscheinlich auch zu Plünderungen und Zerstörungen, die angebliche Brandschatzung ist dagegen wohl dem Vergleich mit der Einnahme Athens durch die Perser geschuldet.66 Aber auch ohne Brandschatzung und der von Otto Skutsch angenommenen Eroberung des Kapitols dürften die Verluste der Römer auf dem Schlachtfeld sowie die Kampfhandlungen in der Stadt sicherlich verheerend genug gewesen sein.67 In dieser Hinsicht verweisen auch die unterschiedlichen Konstruktionen einer späteren Rückgewinnung des Goldes auf den hohen Preis der Niederlage.68 3.4 ‚The Etruscan Connection‘ – Versuch einer regionalen Einordnung Neben der Diskussion über das Ausmaß der Zerstörungen und die Folgen für die römischen Bürger, auf die noch einzugehen sein wird, haben auch die Folgen des Kelteneinfalls für die regionalen Machtverhältnisse ein breites Interesse gefunden. In Bezug auf die keltische Heerschar liegt dies vor allem an der relativ umfassenden Erwähnung 65 66
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Lentzsch 2019, 165–169. Mineo 2016, 166–172 zum Vergleich mit Athen; Lentzsch 2019, 139–141. Erwähnung des Brandes bei Livius 5.41.10; 5.42.1–2; 6.1.2 und App. Celt. 1. Dagegen verweist Pol. 1.6.1–2 auf die Besetzung der Stadt und eine vertragliche Lösung, ohne einen Brand zu erwähnen. Dionysios von Halikarnassos weiß von keinem Brand, ebenso wenig Diod. 14.115.6, 14.116.8, der lediglich Plünderungen und beschädigte Häuser anführt. Zum archäologischen Befund s. jetzt Delfino 2009, 339–360, 2014, 226–240, der neu entdeckte Brandspuren im Rahmen von Grabungen auf dem Forum Iulium mit dem Kelteneinfall in Verbindung bringt. Bernard 2018, 51–62 präsentiert das archäologische Material in Kombination mit dem Bericht des Livius sowie die Forschungsdiskussion zu den archäologisch bezeugten Brandspuren. S. a. Coarelli 1983a, 137–138; Cornell 1995, 317–320; Oakley 1997, 344–347; Briquel 2008, 162–172; Lomas 2017, 208. Immerhin war die Stadt laut Plut. Cam. 30.1 sieben Monate Jahr lang besetzt worden. Horsfall 1987, 72; Richardson 2012, 132–137; Mineo 2016, 171–174; Lentzsch 2017, 133–136. Die Verluste der Kampfhandlungen lassen sich nur andeuten, da die Truppenangaben unzuverlässig sind: Liv. 5.38; Diod. 14.114.3 gibt eine Heerstärke von 24.000 Mann an; Plut. Cam. 18.4–19.2 spricht von 40.000 Mann, was aus der späteren Kombination zweier typischer konsularischer Heere hervorgegangen sein dürfte. Neben der klassischen Rückgewinnung durch Camillus bei Liv. 5.49.1–7 und Plut. Cam. 29 berichtet Diod. 14.117.5–7 zunächst vom Abzug der Gallier mit dem Lösegeld, danach seien sie jedoch von Camillus und kurz darauf von Truppen aus Caere aufgerieben worden. Diodoros verbindet anscheinend zwei Versionen, denn Strab. 5.2.3 weist die Rückgewinnung der gallischen Beute exklusiv Caere zu, Suet. Tib. 3.2 dagegen den Livii Drusi. Dion. Hal. ant. Rom. 13.9 deutet auf die gleiche Vorlage wie bei Plutarch und Livius hin. Nach Pol. 2.18.3 hätten die Gallier Rom unbescholten verlassen, weshalb Richardson 2012, 129 entgegen der communis opinio vermutet hat, es sei zu keiner Lösegeldzahlung gekommen; die Gallier hätten schlicht und ergreifend die Stadt geplündert.
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verschiedener, mit dem Zug gegen Rom zusammenhängender Informationen, die eine genauere Betrachtung sowie Einordnung in den zeitgenössischen historischen und geo-politischen Kontext erlauben. Einen sehr weitreichenden Erklärungsversuch hat in dieser Hinsicht Marta Sordi vorgelegt, die den Kelteneinfall mit syrakusanischen Ambitionen unter Dionysios I. in Verbindung bringt. Demnach hätte es sich bei den Rom plündernden Galliern um einen Söldnerhaufen gehandelt, der im Auftrag des Tyrannen von Syrakus die bedeutende etruskische Hafenstadt Caere attackieren sollte.69 Diese Deutung beruht vor allem auf den Aussagen von M. Iunanius Iustinus, laut dem die Kelten sich nach der Eroberung Roms nach Süditalien gewandt und sich Dionysios I. angeschlossen hätten, sowie auf der Plünderung von Pyrgi durch eine syrakusanische Flotte im Jahr 384.70 Die These ist durchaus attraktiv, jedoch verweist Iustinus explizit auf die Verwendung der Gallier durch Dionysios im Anschluss an die Eroberung Roms. Dies setzt nicht zwangsläufig eine vorherige Absprache voraus, zumal verschiedentlich berichtet wird, die Kelten seien nach ihrem Zwischenstopp in Rom zunächst weiter umhergestreift.71 Eine großangelegte Zangenoperation unter syrakusanischer Ägide scheint hier weniger wahrscheinlich, vielmehr könnte es sich um eine Gelegenheit gehandelt haben, um im ohnehin traditionellen Rekrutierungsraum der syrakusanischen Machthaber in Süditalien kampfkräftige Söldner anzuwerben. Gegen den vermuteten strategischen Masterplan spricht weiterhin, dass die syrakusanischen Außenposten im nördlichen Adriaraum erst nach dem Kelteneinfall errichtet wurden und Dionysios I. zu diesem Zeitpunkt voll und ganz durch die Kämpfe gegen den Italiotenbund gebunden war.72 Auch das vermeintliche Hauptziel Caere muss zu weiterer Skepsis einladen. Der Überfall des Dionysios auf Pyrgi ging der erneuten Kriegseröffnung gegen Karthago 383 voraus, so dass es sich bei dem Überfall eher um eine ‚Rekapitalisierungsmaßnahme‘ gehandelt haben dürfte, zumal die entsprechenden Quellen vor allem die reiche Beute – angeblich 1.500 Talente – betonen.73 Obwohl demnach wenig für eine von Syrakus orchestrierte Operation spricht, hat Sordis These auf die Notwendigkeit einer Verortung der Einnahme Roms im Rahmen der Verflechtungen und Auseinandersetzungen der italischen Halbinsel verwiesen. In dieser Hinsicht erweist sich die weitestgehend separate Betrachtung der Eroberung Veiis und des Kelteneinfalls als besonders hinderlich, da beide Ereignisse die regionalen Machtverhältnisse in Südetrurien und Latium in kurzer Folge erschütterten. Ein Grund für die Vernachlässigung einer vernetzten Analyse dieser Vorgänge liegt darin, dass die Nichtberücksichtigung angeblicher Hilfegesuche Veiis an die etruskischen 69 70 71 72 73
Sordi 1960, 62–72; Alföldi 1963, 341–343; Cornell 1995, 316. Iust. 20.5.4–6; zu Pyrgi s. Diod. 15.14.3–4, wobei das Leucotheaheiligtum beschädigt wurde, Polyaen. Strat. 5.2.21. Banti 1960, 29; Pallottino 2013, 256; Prayon 1981, 39–53; Turfa 2016, 87–88. Diod. 14.117.5–7; Strab. 5.2.3 sowie Anm. 68 in diesem Kapitel. Hier ließe sich auch FRH 14 F 11 (= Non. p. 770L) einordnen. Alföldi 1963, 358–359. Diod. 14.113.1. Fronda 2015, 393–396. Polyaen. Strat. 5.2.21; Diod. 15.14.4. S. a. Anm. 61 in Kapitel 4.
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Nachbarstädte in der Forschung als Zeichen einer nur gering ausgeprägten Solidarität unter den etruskischen Städten aufgefasst wurde. Gemäß dieser Sichtweise blieb der Konflikt auf die direkte Konfrontation zwischen Rom und Veii beschränkt und endete folgerichtig mit dem römischen Sieg.74 Dagegen zeichnen die Quellen jedoch ein anderes Bild, laut dem sich die benachbarten etruskischen Städte mit zunehmender Verschärfung der Lage durchaus militärisch engagierten. Zusätzlich zu Faliskern und Capenaten griff auch Tarquinii in die finale Phase des Kampfes um Veii ein.75 Nach der Kapitulation von Faliskern und Capenaten machte zudem Volsinii, möglicherweise beunruhigt durch das römische Ausgreifen, gegen Rom mobil.76 Neben Livius erwähnt auch Diodoros diese Kampfhandlungen, die parallel zum Angriff der Kelten auf Rom fortgesetzt wurden. Lediglich als Τυρρηνοὶ bezeichnete Truppen überfielen offenbar den ager Veientanus und drangen bis zu den Salinen vor, was darauf schließen lässt, dass dieser Angriff eine ernsthafte Bedrohung darstellte, die nur mit Mühe von den in Veii gesammelten Resten des an der Allia zersprengten römischen Heeres zurückgeschlagen werden konnte.77 Unabhängig vom Erfolg der etruskischen Operationen zeigt sich hier deutlich der dauerhafte Konflikt, den die römische Übernahme Veiis mit den nächstgelegenen etruskischen Städten, vor allem Tarquinii, Volsinii und vielleicht auch Falerii, ausgelöst hatte.78 Bezeichnend ist hierbei die Tatsache, dass die Kämpfe erst in der Endphase der ‚Belagerung‘ Veiis einsetzten und dann graduell eskalierten.79 Vor dem Hintergrund der überlieferten Eskalation ist zu vermuten, dass die beiden mächtigsten etruskischen Nachbarstädte, Volsinii und Tarquinii, das Ausgrei-
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Liv. 4.25.7, 4.61.2, 5.1, 5.17.6–10; s. a. Dion. Hal. ant. Rom. 6.75; Varro ling. 5.46. Zum Zwölfstädtebund s. Bourdin 2012, 299–321; Tagliamonte 2017, 134–136; Bradley 2020, 265–268. Lucia Brolli/ Tabolli 2013, 268–269 bespricht die Beziehungen der Falisker mit den südetruskischen Städten. S. Stopponi 2012 zum Fanum Voltumnae, ebenso die übrigen Beiträge in dem Band. Turfa 2017, 653–654 verweist auf die Koinzidenz des römischen Angriffs mit dem Auftauchen der Gallier, was eine Reaktion erschwert habe. Liv. 5.16.2–4. Jones 1962, 121–123; Cornell 1989a, 300; Leighton 2004, 138; Eckstein 2006, 127; Ceccarelli 2016, 28–29. Cornell 1995, 313 geht von einer Unterstützung Veiis durch Tarquinii aus; Camporeale 2003, 319–320, 391–393. Liv. 5.31.4–6. Nach Val. Max. 9.1.ext.2 immerhin caput Etruriae; vgl. auch die Bedeutung von Volsinii hinsichtlich der Funktion des Bundesheiligtums, des Fanum Voltumnae: Pallottino 1991, 110–111. Liv. 5.31.5, 6.4.8 zur Rolle von Volsinii und Tarquinii. Das Eingreifen kann als Reaktion auf die Schwächung der vormals aggressiven Tiberstadt interpretiert werden; Eckstein 2006, 65–66. S. Harris 1985 zum Verhältnis der beiden Städte im 4. Jahrhundert. Diod. 14.116.1; Liv. 5.45.4–8. Die Kampfhandlungen rissen nach der Eroberung Veiis nicht ab und dauerten bis in die Achtzigerjahre an, s. Liv. 6.2.8; Oakley 1997, 347–349; Jolivet 2013, 153. Gallische Einfälle nach Etrurien ließen zu dieser Zeit nach, so dass die etruskischen Städte zusätzliche Handlungsfreiheit gewonnen haben könnten; Pallottino 1991, 103–105. Besonders die Ausstattung der Nekropolen, die im 5. Jahrhundert einen Tiefpunkt erreicht hatte, erholte sich zu Beginn des 4. Jahrhunderts deutlich; ebd. 98. s. a. Potter 1979, 92; Neil 2016, 23–25. Zeitgleich mit der römischen Aggression scheinen die Fortifikationen der südetruskischen Städte verstärkt worden zu sein; Torelli 2008, 265–278; Boitani 2008, 135–154; Di Sarcina 2012, 351–352.
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fen Roms, das nach der Unterwerfung Veiis seine aggressive Expansion gegen Falisker und Capenaten fortsetzte, mit Sorge beäugten und sich schließlich zu Gegenmaßnahmen entschlossen. Aus dieser südetruskischen Perspektive betrachtet, lässt sich auch das Auftauchen der Kelten in einem anderen Licht interpretieren. Die Kelten waren den mittelitalischen Völkerschaften zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannt, eine Ausnahme bildeten dagegen die Etrusker.80 Gegen Ende des 5. Jahrhunderts hatten sich die Feindseligkeiten zwischen Etruskern und Kelten abgeschwächt, was sich auch in der Verwendung keltischer Söldner durch etruskische Städte äußerte. Bedenkt man nun das Eingreifen der mächtigen südetruskischen Städte in die Kämpfe gegen Rom, so ist es durchaus vorstellbar, dass man sich auf etruskischer Seite zur Eindämmung des gefährlicher werdenden römischen Machtstrebens in Südetrurien solcher Söldner bediente. Diese These wird in Ansätzen durch die Marschroute der keltischen Heerschar erhärtet, da die Quellen einheitlich davon berichten, dass der Ausgangspunkt der Kelten Clusium gewesen sei.81 Betrachtet man die geographische Lage genauer, so fällt auf, dass Clusium das Clanis-Tal kontrolliert, welches wiederum den natürlichen Verbindungsweg über den Apennin, entweder über den Pass bei Arretium oder das obere Arno-Tal, bildet. Folgt man dem Clanis in südliche Richtung, so mündet dieser zusammen mit dem Pallia in den Tiber.82 Der aus dem Zusammenfluss und mehreren hier zusammenlaufenden Verkehrswegen gebildete Verkehrsknotenpunkt samt Flussübergängen wird wiederum von der Stadt Volsinii kontrolliert.83 Auf dem weiteren Weg stromabwärts hätten die Gallier schließlich das Gebiet von Faliskern und Capenaten passiert. Die Marschroute der Gallier liest sich dementsprechend wie eine Liste derjenigen Städte, die sich der römischen Expansion nach Südetrurien entgegengestellt und Veii unterstützt hatten. Dies spricht damit eher für eine Kontextualisierung des Feldzugs im Rahmen römisch-etruskischer Verwicklungen, die deutlich konkreter vorhanden waren als weitgespannte syrakusanische Ambitionen in Zentralitalien.84 Auch ohne
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Liv. 5.17.6–9: in ea parte Etruriae gentem invisitatam novos accolas Gallos esse, cum quibus nec pax satis fida nec bellum pro certo sit. S. Bourdin 2012, 627–647 zur etruskisch-keltischen Interaktion. Prayon 1996, 55–56. Plin. nat. 34.34 zum anhaltenden Reichtum der etruskischen Städte. Darüber hinaus bedienten sich die Etrusker traditionell der Söldner aus den Gebieten jenseits des Apennins, Pallottino 1991, 101, 108; Wernicke 1991, 111–120; Forsythe 2005, 252. App. Celt. 11.1–4 zur Verbindung zwischen Kelten und Etruskern. Laut Bourdin 2007 habe es sich um eine keltische Gruppe auf der Suche nach Wohnsitzen gehandelt. Banti 1960, 99; Camporeale 2003, 399–400. Clusium war die bedeutendste Stadt Ostetruriens und kontrollierte den Zugang zum Chiana-Tal, das in das Arno- und Tiber-Tal übergeht. Bourdin 2007, 22–24. Camporeale 2003, 390. Auffällig sind zudem die römischen Sicherungsmaßnahmen in den auf den Galliereinfall folgenden Jahren. Die Deduktion der Kolonien Sutrium und Nepet blockierte weniger das Tiber-Tal als vielmehr die Einfallsroute aus Etrurien nördlich des lacus Sabatinus, während das verbündete Cae-
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eine enge Kooperation zwischen Kelten und Etruskern – beide Seiten hätten genauso gut rein opportunistisch die angespannte Lage des römischen Gemeinwesens für sich nutzen können – dürfte das gleichzeitige Auftreten sowie die anhaltende Aggression der etruskischen Städte doch dazu geführt haben, dass die römische Expansion in Südetrurien von einer vielversprechenden Offensive in die Defensive geriet.85 Diese veränderte Gesamtlage gilt es in Verbindung mit der Schwächung der res publica durch die Einnahme der Stadt und die damit verbundenen Verluste und Einbußen bei der Bewertung der Ereignisse der Folgejahre zu bedenken, die sich durch die endgültige Regelung und Organisation des ager Veientanus auszeichneten. Die Kelten waren zwar wieder abgezogen, doch die regionalen Konkurrenten blieben nach wie vor präsent und in Kampfhandlungen gegen Rom verwickelt. Die Atmosphäre, in der diese Maßnahmen stattfanden, unterschied sich damit grundlegend von derjenigen des großen Triumphes über Veii im Jahr 396. 3.5 Die Organisation des römischen Gebiets in Südetrurien Diese rapiden Veränderungen der äußeren und inneren Rahmenbedingungen der res publica dürften eine maßgebliche Rolle bei der endgültigen Entscheidung über die Verwendung des ager Veientanus gespielt haben, die zu diesem Zeitpunkt immer noch ausstand. Obwohl das Thema der Beuteverteilung in den Narrativen der antiken Autoren zu diesem Zeitpunkt in den Hintergrund rückt, bleiben Forderungen in Verbindung mit dem eroberten Gebiet nördlich des Tibers eine zentrale Komponente der Darstellung. Bereits unmittelbar im Anschluss an die Befreiung Roms kam es diesbezüglich zu neuen Konfrontationen: unter Verweis auf die angerichteten Zerstörungen in der Stadt sei die Forderung erhoben worden, nun sogar komplett nach Veii überzusiedeln, da die Stadt keinen Schaden genommen und überdies eine vorzügliche Infrastruktur anzubieten habe. Erneut tritt hierbei Camillus als fatalis dux auf, der die plebs davon abbringt, die Stadt des Romulus und ihrer Väter zu verlassen.86 Zwar ist diese Darstellung im Detail wahrscheinlich eine spätere Konstruktion, doch könnte sich hierin zu-
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re die südliche Route sicherte, vgl. Tab. Peut. 5.3. Lackner 2008, 129–130, 196–197 betont die zügig errichteten und massiven Fortifikationen, die ebenfalls auf die Rolle als Grenzfesten verweisen. Liv. 6.2.2. Harris 1971, 53, 58 warnt vor einer Unterschätzung der militärischen Stärke der Etrusker, ebenso Eckstein 2006, 124: „Warfare between Rome and the individual Etruscan stated lasted for more than two hundred years after the founding of the Republic. This is hardly an indication of the decadence of the politics north of the Tiber“. Vgl. Forsythe 2005, 251. Die Kampfkraft der Etrusker blieb auch in den folgenden Jahrzehnten gefürchtet, Liv. 9.29.2; Diod. 14.117.4, 16.36.4–5; Strab. 5.2.3; Cic. rep. 2.9. s. a. Thuk. 6.103.2. Liv. 5.50.8–55.5; Plut. Cam 31.2–32.3; vgl. Di Sarcina 2012, 349–358.
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mindest die Dynamisierung der innenpolitischen Auseinandersetzungen um das Gebiet von Veii nach der Niederlage gegen die Kelten niedergeschlagen haben.87 3.5.1 Zur Vorgeschichte der Tribusgründungen auf dem ager Veientanus Ein wesentliches Argument für die verknüpfte Betrachtung der Eroberung Veiis und des Kelteneinfalls bildet der Zeitpunkt der Tribusgründungen auf dem ager Veientanus. Sämtliche Quellen stimmen darin überein, dass diese erst nach dem Abzug der Kelten erfolgten. Damit kommt der Interpretation dieses Vorgangs wesentliche Bedeutung bei der Interpretation der innen- und außenpolitischen Verfassung der res publica zu Beginn des 4. Jahrhunderts zu. Die Einrichtung der vier neuen tribus ist hierbei vor allem aufgrund der unklaren Ursprünge dieser territorialen Einheiten von Interesse. Ihre Entstehung scheint auf die Königszeit zurückzugehen, wobei angeblich Romulus die ersten drei tribus gegründet und Servius Tullius diese Maßnahmen erweitert haben soll.88 Die tribus wurden – mit wenigen Ausnahmen89 – hauptsächlich nach den großen gentes benannt, weshalb davon ausgegangen wird, dass hierdurch die territorialen Herrschaftsansprüche der einflussreichen (patrizischen) ‚Clans‘ akzeptiert und garantiert worden seien.90 Aufbauend auf Organisationsmaßnahmen der Königszeit kam es im Zuge der Einführung der Republik zu einer Reform, die dazu führte, dass das gesamte römische Territorium zu Beginn des 5. Jahrhunderts, angeblich im Jahr 495, in insgesamt 21 tribus unterteilt wurde.91 Diese Organisation scheint auf die Verfestigung der patrizischen Herrschaftsansprüche im Rahmen eines eher losen föderalen Organisationsprinzips gezielt zu haben.92 Den
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S. Liv. 6.5.8. Zuletzt hat Linke 2017b, 26–27 auf die erhöhte Bereitschaft zur Entwicklung von Alternativen in Krisensituationen verwiesen. Varro ling. 5.55 ager Romanus primum divisus in partes tres a quo tribus appellata Titiensium, Ramnium, Lucerum. Dion. Hal. ant. Rom. 4.14–15. S. dazu Fest. 468L der berichtet, die sechs Vestalinnen seien aus diesen tribus erwählt worden. Laut Fabius Pictor FRH 1 F 13 richtete Servius Tullius insgesamt 30 tribus ein; Liv. 1.43.13 gibt keine Zahl an, Dion. Hal. 5.14.1, gibt unter Berufung auf Venonnius 35 tribus an; s. Taylor 1960, 3–9; Richard 2005, 397–402. Für eine ausführliche Erörterung der Ursprungsfragen s. Rieger 2007, 231–277. Für die Entwicklung der tribus in historisch gesicherter Zeit ist nach wie vor Taylor 1960 grundlegend. Taylor 1960, 27–35; Alföldi 1962, 203–206; Rieger 2007, 385–390. S. Anm. 33 in Kapitel 2. Hermon 2001, 54 zu Landverteilungen an clientes. David 1996, 130–131 nimmt an, dass Klienten über ihre Patrone Zugriff auf den ager publicus erlangten. Caprosso Colognesi 1988, 263–283 zur exklusiven Nutzung des ager publicus durch die gentes; vgl. Roselaar 2010, 30–37. Taylor 1960, 4–6; Alföldi 1963, 288–318 und Humbert 1978, 49–65. Cels-Saint-Hilaire 1995, 101–128, bespricht die ältere Forschungsdiskussion. Rieger 2007, 345–464. Cels-Sant-Hilaire 1995, 115–124; Smith 2006a, 247; Linke 2010a, 124–132. S. a. Kapitel 2.3.
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großen Familien oblag damit wohl auch die Ausübung der Schätzung und militärischen Mobilisierung der in ihren jeweiligen Bezirken lebenden Bürger.93 Die Tribusreform von 495 betraf auch das kurz zuvor eroberte Gebiet von Crustumerium, das in Form der tribus Clustumina in den ager Romanus inkorporiert wurde. Demnach war eine Organisation neueroberter Gebiete in dieser Form durchaus bekannt, weshalb es umso auffälliger ist, dass sie bei den bereits erörterten weiteren Eroberungen des 5. Jahrhunderts, gerade im Fall von Fidenae und Labici, nicht angewendet wurde. Wie bereits erörtert, scheinen diese territorialen Erweiterungen den bestehenden tribus zugeschlagen worden zu sein, was die Position der dort ansässigen gentes stärkte, die ihren Einflussbereich auf neue Areale und Personengruppen ausweiten konnten.94 3.5.2 Die Einrichtung der tribus Arnensis, Tromentina, Stellatina, Sabatina An dieser Stelle ist erneut die Signifikanz des Zeitpunktes der Gründung in der Folge des Galliersturms zu betonen. Zwar hatten die Plebeier bereits vor diesem Ereignis die Verteilung von Ackerlosen durchgesetzt, doch bildeten erst die Tribusgründungen von 386 den Schlusspunkt der Auseinandersetzung. Betrachtet man zunächst die möglichen Spielräume für Landverteilungen, so wird schnell deutlich, warum diese Frage die Gemüter derartig erregte. Livius berichtet, dass noch am Tag des Sieges beschlossen worden sei, jedem Plebeier sieben iugera sowie weitere sieben iugera pro Kind zuzuteilen.95 Nimmt man für das 396 eroberte Territorium eine Fläche von ca. 600 km2 (240.000 iugera) an, so ergeben sich hieraus 34.285 Landlose zu 7 iugera, die bei einer durchschnittlichen, vierköpfigen Familie immer noch für circa 8.500 Familien ausgereicht hätte.96 Diese beeindruckende Zahl wird allerdings durch den archäologischen Befund eingeschränkt, wonach große Teile dieser Fläche anscheinend weiter im Besitz der ursprünglichen Bevölkerung verblieben, die im Zuge der Tribusgrün-
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Terrenato 2011, 237–243 meint, die römische Ackerflur sei umfassend von der aristokratischen Elite kontrolliert worden. Hierzu auch Linke 1995, 77–92; 2010a, 124; Smith 2006a, 235–250; Terrenato 2010, 510–513; Armstrong 2016a, 214–232. Vgl. hierzu die Regelungen des Zwölftafelgesetzes: Tafel 5.4 Flach: Si intestato moritur, cui suus heres nec escit, adgnatus proximus familiam habeto. 5.5 Flach: Si adgnatus nec escit, gentiles familiam habento (Cic. Inv. 2.50.148; Gai. Inst. 3.17). 5.7A: Si furiosus escit, adgnatum gentiliumque in eo pecuniaque eius potestas esto (Her. 1.13.23; Cic. Inv. 2.50.148, Tusc. 3.5.11). Auch in späterer Zeit noch aktuell, s. Cic. de or. 1.39.176. Gai. inst. 1.155: Quibus testamento (…) tutor datus non sit, iis lege XII [Tabularum] agnati sunt tutores. Liv. 5.30.8. De Martino 1980, 26–27 und Hermon 1994b, 502 gehen von etwa 5.000 Plebeiern aus. Roselaar 2010, 298–299. Vgl. Hantos 1983, 33–37.
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dungen eingebürgert wurde, worauf noch einzugehen sein wird.97 Die entsprechende Reduzierung der frei verfügbaren Fläche hätte aber immer noch genügend Land für die Versorgung von mindestens 2.500 Familien, ergo mindestens 7.500 bis 10.000 Personen, gelassen.98 Ungeachtet der schwierigen Frage nach dem exakten Umfang der römischen Bevölkerung im 5. Jahrhundert, die auf 20.000 bis 40.000 männliche Bürger geschätzt wird, dürfte die Eroberung Veiis umfangreiche Landverteilungen ermöglicht haben.99 Angesichts dieses ‚Überangebots‘ verwundern die massiven Auseinandersetzungen darüber umso mehr. Bedenkt man das Übergewicht der großen gentes und ihre bessere Durchsetzungskraft gegenüber einzelnen Bürgern in den bestehenden tribus, so lässt sich an dieser Stelle vermuten, dass die Frage nach der Verwendung und Organisation des riesigen neuen Territoriums zu einer Grundsatzdebatte führte, zumal die Plebeier keine guten Erfahrungen mit den traditionellen Formen der Integration und Verteilung neugewonnenen Landes gemacht hatten.100 Neben den Vorbehalten der Plebeier dürften auch die Patrizier untereinander in dieser Beziehung geteilter Meinung gewesen sein, da durch eine Ausdehnung der angrenzenden tribus deren Gewicht und das der dort residierenden gentes exorbitant gesteigert worden wäre. Anders als im Falle von Fidenae oder Labici konnte man dieses riesige Territorium nicht einfach den angrenzenden tribus zuschlagen, wenn überhaupt, dann war lediglich eine Ausbeutung durch die Gesamtheit der gentes denkbar. Der Versuch, ein solches Vorhaben umzusetzen, zeigt sich zum einen in dem nur beiläufig erwähnten Antrag, römische Bürger mit Ansiedlungen im pomptinischen Gebiet abzuspeisen, zum anderen in der intensiv memorierten plebeischen Forderung nach einer kompletten Übersiedlung nach Veii als Folge des Kelteneinfalls.101 Die hartnäckige Auseinandersetzung um die Ansiedlung auf dem neueroberten Gebiet mag dabei auf den Versuch der Patrizier zurückzuführen sein, einen Zuzug von Plebeiern
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Patterson 2004, 5–14 geht von einer längeren transformativen Phase aus, s. ausführlich Kapitel 2.5.2 samt Anmerkungen. 98 Oakley 1997, 657. Hierbei handelt es sich um eine sehr konservative Minimalschätzung, die von begrenzten Konfiskationen ausgeht; vgl. Pelgrom 2012, 37–45 sowie Anm. 98 in Kapitel 2. Für die Gesamtbevölkerung wird in der Regel ein Multiplikator von 3,17 angenommen, s. Scheidel 2000, 21–24 mit Anmerkungen. Im Falle neuer Ansiedlungen könnte sogar ein Multiplikator von 3,5 oder höher angebracht sein, Pelgrom 2012, 32. 99 Ward 1990, 5–26 plädiert für eine Gesamtbevölkerung jenseits der 100.000, basierend auf den frühen Zensuszahlen. Er schlussfolgert daraus, dass die Bürgerschaft unter einem hohen demographischen Druck stand, vgl. Coarelli 1988c, 336–339; Armstrong 2016a, 146–148. S. Anm. 15 in Kapitel 2. 100 Capogrossi Colognesi 1988, 273–283; Hermon 2001, 155–162; Humm 2006b, 44–47. Vgl. Moore 1978, 458–505, der am Beispiel der frühneuzeitlichen Arbeiterbewegungen überzeugend darstellt, dass sich Widerstand erst in dem Moment formuliert, in dem einerseits die sozialen Ungleichgewichte besonders deutlich zutage treten und andererseits die Erfolgsaussichten günstig erscheinen mussten. Ersteres war angesichts der Möglichkeit zur Verteilung von 500 bis 600 km2 Ackerland unmittelbar gegeben, letzteres nach den Erschütterungen des Kelteneinfalls. 101 Isayev 2017, 165–167.
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zu verhindern, um stattdessen eine möglichst ungestörte kollektive Herrschaftsausübung der großen Gentilverbände auf dem ager Veientanus zu ermöglichen.102 Damit hätte die Möglichkeit bestanden, die lokale Bevölkerung in die Klientelbeziehungen der Patrizier einzubinden, besonders wenn davon auszugehen ist, dass das gesamte Gebiet im Zuge der Einnahme zu ager publicus wurde, so dass sämtliche Rechte der Veientaner verfielen.103 Diese Diskussionen und Auseinandersetzungen über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse wurden dann jedoch durch die Eroberung der Stadt und die disruptiven Folgen des Galliereinfalls überholt.104 Die militärischen Rückschläge und die angespannte Lage erforderten eine gemeinschaftliche Kraftanstrengung, da der ager Veientanus weiterhin durch etruskische Einfälle gefährdet blieb. An die Stelle der hitzigen Diskussion bezüglich der Verteilung der Beute trat die Notwendigkeit, diese angesichts der plötzlich widrigen Umstände zu behaupten. Aus dieser Perspektive betrachtet kann die Einrichtung der neuen tribus Tromentina, Stellatina, Sabatina und Arnensis zwar durchaus als Erfolg der Plebeier gewertet werden, doch verzichteten im Grunde beide Seiten auf ihre Maximalziele.105 Lily Ross Taylor hat hier überzeugend darauf hingewiesen, dass sich in die neugegründeten tribus auch Patrizier einschrieben, was unter anderem durch den Fall des M. Manlius Capitolinus erhärtet wird.106 Pointiert formuliert erzwang die militärische Niederlage gegen die Kelten somit einen Kompromiss, der allen Beteiligten einen Anteil an der Beute garantierte.
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Capogrossi Colognesi 1988, 288–289; Hermon 2001, 119–123. Ein Beleg hierfür findet sich etwa in der späteren Darstellung der Ereignisse um den Patrizier M. Manlius Capitolinus, der seinen Besitz auf dem ager Veientanus verkaufte, um den (offenbar nicht unerheblichen) Erlös für seine politischen Ziele einzusetzen; Liv. 6.14.10, s. a. 6.18–20. 103 Liv. 6.5 könnte auf ein solches Vorgehen der Patrizier verweisen, s. a. Anm. 33 in Kapitel 2. Ager publicus: Burdese 1985, 48 nimmt an, dass zwei Drittel, etwa 200.000 iugera, konfisziert wurden. Cornell 1995, 329 geht ebenfalls von zwei Dritteln aus, wobei er auf 112–150.000 iugera kommt. De Martino 1980, 26–27 geht von der Wegnahme der Hälfte bis zwei Drittel des Territoriums aus, ca. 122–163.000 iugera. Hermon 2001, 118 nimmt eine Fläche von 270.000 iugera an ager publicus an. S. Roselaar 2010, 298–299. 104 Ziolkowski 1999 versteht die erfolgreiche Durchsetzung der plebeischen Interessen als Ende der clientela. De Ligt 2000, 385–390 sieht in der Landverteilung eine Übergangsphase in der Auflösung der Schuldknechtschaft, in deren Zuge die plebeischen Ansiedler eigenen Besitz erwarben, aber dennoch als „tenants“ von den Patriziern abhängig waren. Nach Hermon 1994b, 502–505 besiegelte die Inbesitznahme des ager Veientanus durch die plebs den Machtverlust der großen gentes; Hermon 1994a, s. a. Bernard 2016, passim. Dagegen Rosenstein 2004, 181–182, eine Zusammenfassung der Debatte bietet Pelgrom 2012, 89. Dagegen bietet Meier 2017, 24–44 eine fluidere Interpretation der Entwicklung des Bindungswesens. 105 Vgl. Humm 2006, 40–48. 106 Taylor 1960, 282–283 kann die Einschreibung patrizischer Familien in die vier neu gegründeten tribus nachweisen, s. a. Toynbee 1965 I, 306–308.
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3.5.3 Raumorganisation und Vorfeldsicherung Diese innenpolitischen Auseinandersetzungen über die langfristige Verwendung des eroberten Gebietes können durch eine breitere Analyse der römischen ‚Nachkriegsordnung‘ in Südetrurien genauer konturiert werden. Hier wurden innerhalb weniger Jahre zahlreiche Maßnahmen getroffen, welche die räumliche Organisation des ager Veientanus, die Ansiedlung römischer Bürger sowie die Integration der besiegten Veientaner, das Verhältnis Roms zu den Gemeinden Capena und Falerii sowie den neuen coloniae Latinae Sutrium und Nepet betrafen.107 Besonders die Deduktion der latinischen Kolonien Sutrium und Nepet im Jahr 383 darf als direkte Reaktion auf den Kelteneinfall und die nachfolgenden militärischen Schwierigkeiten betrachtet werden.108 Hierbei ist zu betonen, dass diese Kolonien als claustra Etruriae, also als Bollwerke gegen etruskische Übergriffe, bekannt waren und dass der archäologische Befund auf einen Ausbau dieser Orte zu stärker befestigten Zentralorten zu Beginn des 4. Jahrhunderts hindeutet.109 Während Sutrium den nordwestlichen Zugang zum ager Veientanus sperrte, trieb Nepet einen Keil zwischen Capena und Falerii.110 Die Bedeutung dieser defensiven Konzeption der beiden Kolonien kann gar nicht genug betont werden; noch zu Plautus’ Zeiten behielt Sutrium ire die sprichwörtliche Bedeutung für die Teilnahme an einem harten Feldzug.111 Beide Plätze waren zudem in den Achtziger- und Siebzigerjahren des Jahrhunderts stark umkämpft und sollten bis ins 3. Jahrhundert die Hauptkriegsschauplätze in sämtlichen Auseinandersetzungen mit den Etruskern bilden.112
107 Liv. 6.2–4 spricht für eine enge Verzahnung; auch im 2. Punischen Krieg nahmen die Quellen des Livius offenbar einen engen Zusammenhang zwischen dem römischen Bürgergebiet auf dem ager Veientanus sowie den Kolonien Sutrium und Nepet an; Liv. 26.34.7–10. Martinez-Pinna 2014, 130–133. 108 Harris 1971, 41–45. Nepet: Liv. 6.21.4; nach Vell. Pat. 1.14.2 allerdings erst 373; Sutrium: Diod. 14.98.5; Vell. 1.14.2; s. a. Liv. 27.9.7; 29.15.5; Diod. 14.117.4. Beide Orte lagen auf von Bächen eingefassten Tuffrücken und wiesen schwer befestigte Mauern und Tore auf; Lackner 2008, 129–130, 196–197. Oakley 1997, 571 steht den Angaben von Velleius skeptisch gegenüber und verweist auf die unsichere Grundlage für eine genaue Datierung der Kolonien. Vgl. dagegen Crawford 1995, 187, der eine Verwendung des Claudius Quadrigarius vermutet. Eine exakte Datierung ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung nachrangig, da Einigkeit besteht, dass die Kolonien erst in der Folge des Kelteneinfalls gegründet wurden. Roselaar 2010, 299. 109 Liv. 9.32.1. Salmon 1969, 43; dagegen interpretiert Oakley 1998, 471–472 Sutrium und Nepet als Bollwerke und nicht als Einfallstore, s. a. Liv. 6.9.4. Nach Rajala 2016, 42–45 prosperierten die Siedlungen in den Jahren 350–250 und verloren danach an Bedeutung. Letzteres fiele folglich mit der sinkenden militärischen Bedeutung der beiden Kolonien im Anschluss an die Unterwerfung Etruriens in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts zusammen. 110 Zur Topographie s. Jones 1962, passim. Camporeale 2003, 301–310; Ceccarelli/Stoddart 2007, 148– 151; Taboli/Neri 2017, 566–567; Marcone 2017, 668. 111 Plaut. Cas. 524. 112 Diod. 14.117.4; Plut. Cam. 33.1; Liv. 6.3, 6.4.1–4, 6.9–10; Zon. 7.23.9. Eckstein 2006, 127. Laut Livius 6.4.3 weihte man Iuppiter als Dank für die Erfolge des Camillus drei Goldschalen, die in späterer Zeit noch im Kapitolstempel zu sehen waren; s. Oakley 1997, 422–423.
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Die Sicherungsfunktion wurde in der Forschung zwar ausreichend gewürdigt, jedoch wurde bisher nicht zufriedenstellend geklärt, welcher Herkunft die hierfür verwendeten Flächen und Kolonisten waren. Da es sich nach Aussage der Quellen um coloniae Latinae handelte, wurde besonders um die Frage gestritten, inwiefern der Latinische Bund, ergo nicht-römische Personen, in diese eingeschrieben wurden.113 Martinez-Pinna hat in diesem Zusammenhang eine attraktive Erklärung ins Spiel gebracht, die davon ausgeht, dass es im Zuge der römischen Eroberung zu Unruhen in Nepet kam, so dass Rom intervenierte und dieses Gemeinwesen als colonia Latina neukonstituierte, was aber eher einer „colonización interna“ entsprach als einer Entsendung von Kolonisten.114 Die Formulierung der libri coloniarum, die colonia sei aus den Stadtbewohnern gebildet worden, ist hier in Kombination mit der überlieferten, von der Oberschicht ausgehenden Unruhe aufschlussreich und spricht für eine Neuordnung der internen Verhältnisse im Sinne Roms.115 Saskia Roselaar hat hier die Möglichkeit der Verwendung von konfiszierten Flächen der Falisker und Capenaten ins Spiel gebracht, die möglicherweise mit den nördlichen Ausläufern des ager Veientanus kombiniert wurden, um das nötige Koloniegebiet zu schaffen. Mit Sicherheit lässt sich letztendlich nur feststellen, dass sich die beiden Kolonien an den nördlichen ager Veientanus anschlossen.116
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Salmon 1953, 128; Toynbee 1965 I, 121, 374 und Alföldi 1965, 396 gehen von einer Gründung durch den Latinischen Bund aus. Humbert 1978, 152 und Cornell 1995, 302 vermuten eine Beteiligung anderer latinischer Gemeinden unter römischer Federführung. Dagegen verweisen De Sanctis 1960 II, 241; Galsterer 1976, 88; Hermon 1999a, 157–159 und Petrucci 2000, 171 auf die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Aktion aufgrund der eskalierenden Konflikte mit den latinischen Nachbarn. Martinez-Pinna 2014, 130, passim. Er bezieht sich hierbei vor allem auf die überlieferte schwierige Lage in Sutrium, das sowohl von den Etruskern bedrängt wurde als auch innere Unruhen erlebte (Liv. 6.9–10), sowie auf die Aussage der libri coloniarum im Corpus Agrimensorum zu Sutrium: Colonia Sutrium ab oppidanis est deducta. S. Del Lungo, 2008, 579–581. Beachte die Formulierung urbs socia für Sutrium bei Liv. 9.32.1. Zuletzt hat Rajala 2016 die Grenzregion untersucht und zeigen können, dass von einer breit angelegten Kolonisierung nicht die Rede sein kann. Stattdessen sei es zur Befestigung von Subzentren gekommen; Rajala 2016, 44: „The town-centred settlement model in the early colonizing phase and the tentative evidence related to the persistence of walled border outposts suggest this at least for Nepi in relation to the Faliscans in the fourth century BC.“ Termeer 2010, 51–52. Termeer 2010, 48. In Sutrium wurden Mauer- und Straßenanlagen neu gegründet, während in Nepet die bestehende Siedlung aufgewertet wurde. Afzelius 1942, 190 geht von insgesamt 320 km2 aus, die auf Belochs Angaben von ca. 30.000 ha beruht. Roselaar 2010, 298–299, schätzt dies als zu hoch ein. In der Tat hätte dies fast drei Fünftel des ager Veientanus umfasst. Beachte die enge Verbindung zwischen dem Friedensvertrag mit den Faliskern und der Deduktion Sutriums bei Diod. 14.98.5.
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Karte 1 Rom und Ager Veientanus. Eigene Darstellung, M. Helm
An dieser Stelle kann Walter Christallers Theorie der zentralen Orte die Vorgänge erhellen. Grundlage der Theorie ist die Annahme, dass kleinere Ortschaften sich an größeren Zentralorten orientieren, was in einer politischen, ökonomischen und auch kulturellen Fixierung auf diese Orte resultiert.117 Da die Quellen äußerst detailliert über die enge Bindung der Capenaten an Veii118 berichten (die Falisker scheinen sich eher an Tarquinii orientiert zu haben, was aber auch eine Folge der Einnahme Veiis gewesen sein kann), ist davon auszugehen, dass auch kleinere Siedlungen wie etwa Nepet Teil dieses Netzwerks waren.119 Dieses regionale Geflecht persönlicher, merkantiler und kultureller Beziehungen muss durch die römische Einnahme Veiis massiv erschüttert worden sein, vor allem weil die römische Seite kein Interesse daran hatte, Veii als konkurrierendes Zentrum zu erhalten.120 In der Folge wird es zu einer Neuausrichtung der 117 118 119
Christaller 1933; hierzu Heinritz 1979, 26–37. S. Cato FRH 3 F2.19 (= Serv. Aen. 7.697 F 48 Peter). Cornell 1995, 313. Ward-Perkins 1968, 69–71 verweist auf die ungewöhnliche Siedlungsstruktur des ager Veientanus, der auf ein einziges Zentrum ausgerichtet war, während der nördliche Bereich und besonders der ager Faliscus von einer Vielzahl kleiner Siedlungen geprägt waren. Zur Verbindung Veiis mit den Capenaten: Serv. Aen. 7. 695; ebenso bei Falerii: Serv. Aen. 8.285. De Lucia Brolli/Tabolli 2013, 268–276; Briquel 2014, 53–60. 120 Literarisch ist dies klar in der hochgradig aufgeladenen Diskussion der Übersiedlung nach Veii memoriert; nachdem dieser Versuch jedoch nicht umgesetzt worden war, zerfiel die urbane Siedlung
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Netzwerke gekommen sein, was Verwerfungen und Konflikte generiert haben dürfte, wie im erwähnten Fall von Nepet. Angesichts der militärischen Schwächung der res publica sowie der anhaltenden Konflikte mit Tarquinii und Volsinii gefährdete dies die Sicherheit des neugewonnenen römischen Territoriums und der neuangesiedelten Bürger.121 Die Zusammenlegung der kleineren Ortschaften an der Peripherie des konfiszierten Territoriums, sowohl zur Pazifizierung als auch zur verteidigungsmäßigen Schwerpunktbildung, schuf somit einen Puffer zu Südetrurien und sekundäre Zentralorte, die als Anknüpfungspunkte für die lokale Bevölkerung dienen konnten. Die Organisation der Grenzorte als coloniae Latinae wäre dann als römischer Rückgriff auf ein vertrautes Kontrollinstrument zu verstehen.122 Auch der Umgang mit Falerii und Capena fügt sich in diese Interpretation der römischen Maßnahmen ein. Beide Städte waren kurz nach Veii unterworfen worden, wurden anders als Veii aber nicht besetzt, sondern erhielten foedera mit Rom. Die genaue Natur dieser Verträge ist unklar, jedoch lässt sich eine deutliche Differenz in ihrer Beständigkeit attestieren. Falerii blieb ein unsicherer Kantonist und orientierte sich offenbar stark an den römischen Gegenspielern Tarquinii und Volsinii, während sich Capena treu an den Vertrag hielt.123 In Anlehnung an Martinez-Pinnas Theorie ergibt sich somit ein relativ stringenter Umgang der römischen Seite mit Capena, Falerii, Sutrium und Nepet, da alle betroffenen Gemeinden ein Vertragsverhältnis mit Rom eingingen, mit dem einzigen Unterschied, dass Sutrium und Nepet zuerst als eigenständige Gemeinden mit dazugehörigem Territorium konstituiert werden mussten.
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anscheinend in rasantem Tempo; Prop. 4.10.27–30; Flor. 1.12.11; Luc. 7.392–396. Liv. 6.4.5 berichtet zudem, römische Bürger, die sich in der Stadt Veii niedergelassen hatten, seien zurückgerufen worden. Ward-Perkins 1962, 52–57, 1968, 145–146. Die evocatio und der Transfer des Iuno Regina-Kults (Liv. 5.22.5–8) mag hier stellvertretend für den Bedeutungsverfall der Stadt zugunsten Roms stehen; Patterson/Rendeli 2012, 381, die aber die Kontinuität in der Fläche trotz der Schwierigkeiten der Erfassung betont. Nepet lief etwa zu den Etruskern über; Liv. 6.9.12–6.10.6, wobei besonders die Hinrichtung der Rädelsführer des Seitenwechsels interessant ist. Ceccarelli/Stoddart 2007, 148–151. Martinez-Pinna 2014, 126–130 sieht ein frühes Beispiel in der Reorganisation von Ardea (445–442). Die Anlage der Kolonien hätte die Verteidigung der nördlichen Grenzregion erleichtert, da die Kolonien ihr eigenes Militär stellten und schwer befestigt waren; Lackner 2008, 215–226. Vgl. Pelgrom 2012, 54–57, die Argumentation zur Zentralortsfunktion der frühen latinischen Kolonien untermauert die These Martinez-Pinnas, Sutrium und Nepet seien als Fixpunkte für den nördlichen ager Veientanus eingerichtet worden. Capena: Liv. 5.8.10–14; 5.16–19; 5.24.3 Ea clades Capenatem populum subegit; pax petentibus data. CIL 11, 3873, 3876a: Capenates f(o)ederati, 3932: municipio Capenae foederato, 3936. Beloch 1926, 446; Jones 1962, 124–125; Harris 1971, 86–89; Baronowski 1988, 174–176; vgl. Simshäuser 1973, 50– 52. Capena blieb eine wichtige Siedlung, erst in der Kaiserzeit erfolgte ein Bedeutungsverlust, s. Keay 2006, 110–116. Dagegen beharrte Falerii stärker auf seiner Eigenständigkeit: Liv. 5.26.3–10; Diod. 14.98.5. Falerii kooperierte in den fünfziger Jahren mit Tarquinii und erhielt einen Waffenstillstandsvertrag, der nach einem weiteren Konflikt 343 in ein foedus umgewandelt wurde; Liv. 7.22.1–4, 7.38.1. Die Stadt lehnte sich im 3. Samnitenkrieg erneut auf (Liv. 10.45) und wurde nach einer letzten, besonders kuriosen Rebellion im Jahr 241 (Pol. 1.65.2, Liv. Per. 20, Zon. 8.18) zerstört.
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Die Interpretation dieser Maßnahmen als Stabilisierungsversuch wird außerdem durch die Errichtung der massiven Quadermauer aus Grotta Oscura Tufa in Rom unterstützt, die sogenannte Servianische Mauer, die keinen Zweifel an den römischen Anstrengungen zur Steigerung der Abwehrkraft lässt.124 Gerade weil diese unterschiedlichen Einzelinformationen in deutlichem Kontrast zum übergreifenden Narrativ der schnellen römischen Erholung durch die ‚Blitzfeldzüge‘ des Camillus stehen, die in der Summe ebenfalls auf die Bredouille der res publica verweisen, sollte der Möglichkeit einer durch den Kelteneinfall wesentlich erschütterten und in der Folge defensiv ausgerichteten römischen Gemeinschaft größeres Gewicht beigemessen werden. Dies eröffnet auch eine andere Perspektive auf die neugegründeten tribus und die Ansiedlung römischer Bürger, deren neue wirtschaftliche Grundlage auch eine Verbesserung ihrer Ausrüstungsmöglichkeiten nach sich ziehen musste.125 In Verbindung mit den erwähnten Defensivmaßnahmen an der Grenze zu den etruskischen Städten hätten diese römischen Bürger zum einen durch ihre permanente Anwesenheit die Sicherung und Kontrolle des ager Veientanus vorangetrieben und zum anderen diejenigen Teile der einheimischen Bevölkerung verdrängen können, die sich zu keinem Arrangement mit den neuen Verhältnissen einlassen wollten. In diesem Kontext ist die nur beiläufig erwähnte Einbürgerung von Teilen der unterworfenen Veientaner, Falisker und Capenaten von zentraler Bedeutung. Gingen ältere Arbeiten noch davon aus, dass nur eine geringe Zahl von ‚Quislingen‘ in die römische Bürgerschaft aufgenommen wurde, so hat die nachgewiesene Kontinuität der etruskischen Besiedlung dieses Bild obsolet gemacht.126 Stattdessen erhielt offenbar ein nicht unbeträchtlicher Teil der angestammten Bevölkerung das römische Bürgerrecht und wurde anschließend in die
124 Ausgrabungen haben frühe Befestigungen an der nördlichen Seite des Palatins entdeckt: Carandini 1997, 578–580, Cifani 2016, passim, s. a. Panei/Orso 2008. Cifani 1998, 396–397 weist dieser Befestigung eine zentrale Rolle bei der Memorierung der Ereignisse im Kontext des Kelteneinfalls zu, die möglicherweise sukzessiv ausgebaut wurde. Die frühen Befestigungen besaßen offenbar nicht dieselbe Qualität wie die zu Beginn des 4. Jahrhunderts errichteten Fortifikationen, Todd 1978, 17; Kolb 2002, 97–101; Cifani 1998, 359–389; Forsythe 2005, 106–108; Armstrong 2016a, 257– 260; Bradley 2020, 174–182. S. a. Frank 1924, 111–124; Säflund 1932, 7–31; Holloway 1994, 91–101. Für eine ausführliche Behandlung und Kontextualisierung des Mauerbaus s. Bernard 2018, 45–117. Vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 9.68.1–4. 125 Erdkamp 2011, 110–111. 126 Belegt durch die anhaltende Verwendung der Schwarzfirniskeramik, Patterson/Rendeli 2012, 381–387. Ogilvie 1976, 156: „There was a change-over on Veientan sites from typically Etruscan Bucchero ware to a black-glazed ware about 410–390 BC. Out of approximately 100 sites from the area that have been investigated, one third have disclosed no black-glazed ware, that is they ceased to be occupied about 410–390 BC.“. Diese freien Flächen hält Roselaar 2010, 41–42, 92–95 für ager publicus, von dessen Nutzung vor allem die Aristokratie profitiert habe. Zwar hat Roth 2007 berechtigte Bedenken gegenüber der Verknüpfung von Keramikfunden und Romanisierung vorgebracht, doch sprechen die Funde im Gebiet von Veii für eine spürbare Veränderung der Verhältnisse im Zug der Eroberung der Stadt contra Terrenato 2019, 114–119; vgl. Cornell 1995, 328–329. Armstrong 2016a, 246–248 betont die Verstärkung der militärischen Kapazitäten Roms durch die Neubürger.
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römischen tribus eingeschrieben.127 Laut Cornell stellte dieser Schritt eine erhebliche Konzession gegenüber den Besiegten dar, die damit politische Rechte ausüben konnten und denen dadurch auch Besitz- und Rechtssicherheit garantiert wurde, weshalb das Hauptinteresse wohl in der Befriedung dieser potenziell unruhigen Gruppe lag. Die Verteilung auf vier tribus verhinderte dabei die Formierung von veientanischen Partikularinteressen in der römischen Politik und dürfte zugleich die Assimilation dieser Neubürger und deren Vermischung mit römischen Ansiedlern begünstigt haben.128 Dieser weitreichende Schritt zur vollberechtigten Integration einer großen Gruppe an Personen in die römische Bürgerschaft dürfte ebenso wie schon der innenpolitische Kompromiss zwischen Plebeiern und Patriziern hinsichtlich des ager Veientanus der kritischen Lage der res publica Rechnung getragen haben. Um den Zugriff auf die gewonnenen Gebiete in der Folge des Kelteneinfalls nicht zu verlieren, war es notwendig geworden, die ursprünglichen Forderungen in Bezug auf deren Verteilung und die neuen Gegebenheiten anzupassen. Der pragmatischen Einbürgerung der kooperationswilligen Bevölkerungsteile kommt dabei eine zentrale Rolle zu, da die wehrfähige Bevölkerung hierdurch beträchtlich verstärkt wurde. Eine zusätzliche Erhärtung erfährt diese Interpretation durch die Tatsache, dass die Einrichtung der neuen tribus bei Livius zeitgleich mit der Weihung des Mars-Tempels erfolgte. Dies verweist klar auf die militärische Komponente der Regelungen und könnte zudem ein Integrationsangebot an die neuaufgenommenen Bürger dargestellt haben, die nun ebenfalls im römischen Heer dienten.129 3.6 Rom nach dem Abzug der Kelten Zu Beginn des Kapitels wurde darauf verwiesen, dass die Betrachtung des außergewöhnlichen Sieges über Veii nicht ohne die Berücksichtigung der Folgen der Einnahme Roms durch die Gallier erfolgen kann. Besonders die Tatsache, dass die endgültige Verteilung der strukturellen Beute des Krieges gegen Veii, des ager Veientanus, über127 128
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Vgl. Tan 2019, 54–57. Liv. 6.4.4, der hier seiner Aussage in 5.22.1, die Bevölkerung sei in Gänze in die Sklaverei verkauft worden, widerspricht. Die Tribusgründung findet erst darauffolgend statt; Liv. 6.5.8. Cornell 1995, 320; Forsythe 2005, 249–250. S. a. Taylor 1960, 48. Archäologische Untersuchungen stützen das Bild von Veränderungen in der Besiedlung des ager Veientanus nach der römischen Eroberung, wobei die einheimische Bevölkerung aber anscheinend nur in kleinem Umfang verdrängt wurde, s. etwa Liverani 1984, 38–45. Patterson/Giuseppe/Witcher 2004, 6–13 führen den Einbruch am Übergang zum 4. Jahrhundert nicht ausschließlich auf den Kampf mit Rom zurück, Patterson 2004, 61–74. Di Giuseppe 2012b, 359–365 hebt die römische Kulttätigkeit hervor. Liv. 6.5.8 Eo anno aedis Martis Gallico bello vota dedicata est a T. Quinctio duumviro sacris faciendis. Tribus quattuor ex novis civibus additae, Stellatina Tromentina Sabatina Arniensis; eaeque viginti quinque tribuum numerum explevere. Vgl. Plut. Cam. 32.4; Vitruv. arch. 1.7. Coarelli LTUR 3 (1996), 223–226. Serrati 2011, 19.
Rom nach dem Abzug der Kelten
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haupt erst nach dem Abzug der Gallier und unter dem Eindruck anhaltender militärischer Konflikte – vor allem gegen die mächtigen südetruskischen Städte – erfolgte, ist kaum zu überschätzen. Der Einfluss dieser Vorgänge auf die endgültige Lösung des Verteilungskampfes in Rom muss hierbei betont werden, da die unterschiedlichen römischen Interessensgruppen erst hierdurch zu einem mehr oder weniger einvernehmlichen Kompromiss gezwungen wurden, der sich durch den Verzicht auf Maximalforderungen auszeichnete. So wurden zwar römische Bürger auf dem ager Veientanus angesiedelt, aber wahrscheinlich nicht in dem ursprünglich geforderten Ausmaß. Hierbei konnten sich anscheinend auch die Patrizier wirtschaftliche Vorteile sichern, womöglich durch den leichteren Zugriff auf zu ager publicus deklarierten Flächen. Angesichts der militärisch schwierigen Lage war der Kompromiss unumgänglich notwendig, um die Interessen beider Gruppen – die Nutzung der eroberten Gebiete – zu realisieren. Anhaltende Auseinandersetzungen im Inneren in Kombination mit der prekären militärischen Situation hätten womöglich zu einem vollständigen Verlust der Möglichkeit hierzu geführt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der plötzliche Umschwung in Bezug auf die Besiegten sowie die Anstrengungen zur Pazifizierung und Sicherung der nördlichen Grenzregion, aus welcher sowohl Kelten als auch Etrusker über Rom hereingebrochen waren. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts scheint weniger der ‚Ständekampf ‘ die Bürgerschaft politisch mobilisiert zu haben, als vielmehr ein Kampf um die Verteilungshoheit, in dessen Zuge alte Privilegien in Frage gestellt wurden.130 Nach der Anerkennung der Plebeier und ihrer Rechte im Zuge der Zwölftafelgesetze scheinen die ökonomischen Konflikte, vor allem in Bezug auf die bestehenden Besitzverhältnisse oder die Verteilung zusätzlicher Ressourcen, der eigentliche Zankapfel gewesen zu sein. Dies soll aber nicht als Reduktion der politischen Auseinandersetzungen auf bloße Verteilungskämpfe verstanden werden, da gerade die plebeische Seite auf die Mobilisierung der Masse der Bürger mittels ökonomischer Forderungen angewiesen war, die von der plebeischen Elite mit ihren eigenen Zielen der vollen politischen Gleichberechtigung verbunden wurden. Dennoch bildeten ökonomische Ziele offenbar das zentrale Objekt und Vehikel der politischen Auseinandersetzungen.
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Walter 2017b, 175–177, passim; s. a. Humm 2018, 79–83.
4. Konsolidierung und Konflikte als Folgen des Kelteneinfalls Der Kelteneinfall hatte das römische Vordringen in Etrurien abrupt gestoppt. Stattdessen sah man sich in Rom gezwungen, die Verteidigung der neugewonnenen Gebiete gegen anhaltende etruskische Übergriffe zu organisieren. Für deren Abwehr war es unabdingbar notwendig, einen breiten Konsens in der Bürgerschaft herzustellen, zumal weitere Belastungen bewältigt werden mussten, die sich zum einen aus der Behebung der durch den Kelteneinfall entstandenen Schäden und zum anderen aus dessen Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in Latium ergaben. Mit Blick auf letztere berichten unsere Quellen übereinstimmend, dass die latinischen Nachbarstädte die Schwächung Roms nutzten, um gegen die Stadt vorzugehen. Im Folgenden werden daher die mittelfristigen innen- und außenpolitischen Folgen der römischen Niederlage in den Blick genommen werden. In der Forschung hat sich in dieser Hinsicht das Bild verfestigt, Rom habe den Einfall der Kelten relativ schnell überwinden und sich daraufhin der Stabilisierung und Wiederherstellung seiner Führungsposition in Latium widmen können.1 Hierin folgt man also weitgehend der Sicht der antiken Quellen, was angesichts der klaren prorömischen Tendenz dieser Darstellungen ein bemerkenswertes Urteil ist. Das größte Manko dieser Position besteht m. E. darin, dass sie ohne eine Begründung der militärischen Neuausrichtung der römischen Gemeinschaft in der Folge des Kelteneinfalls auskommt, die sich nun hauptsächlich mit den latinischen Nachbarn beschäftigte. Veranschaulichen wir uns noch einmal die römische Politik der vorherigen fünfzig Jahre, so war diese von den großen Erfolgen in Südetrurien, beziehungsweise im nördlichen und nordwestlichen Latium geprägt – von Fidenae über Veii bis zur Befriedung von Falerii und Capena –, weshalb eine Fortsetzung der römischen Aktivitäten in dieser
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Cornell 1989b, 311 („evident growth of Roman power“) und 1995, 318–322, s. a. Bandelli 1988, 509– 514. Oakley 1993, 11–12; Bringmann 2002, 36–42; Bleicken 2004, 18–20; Forsythe 2005, 257–259; Rich 2007, 14; Armstrong 2016a, 238–248. Dagegen verweist Raaflaub 2006, 138–139 auf die lange Erholungsdauer.
Zur Überlieferung der ‚Zwischenjahre‘
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Region anzunehmen gewesen wäre, die sich durch ihren natürlichen Reichtum und gutes Ackerland auszeichnete.2 Dies war aber nicht der Fall. Bis weit in den 2. Samnitenkrieg hinein sollte Rom an seiner Nordgrenze in der Defensive verbleiben. Nun ließe sich annehmen, dass der harte Widerstand in Südetrurien zu einem Schwenk auf ertragreichere Ziele in Latium geführt haben könnte, doch trotz der Verlagerung des militärischen Schwerpunkts ließen große Erfolgsmeldungen in dieser Region lange auf sich warten.3 Der nächste erfolgreiche Expansionsschritt erfolgte erst im Jahr 358 mit dem Sieg über die Herniker und der anschließenden Gründung der tribus Pomptina und Publilia. Eine direkte Anknüpfung an die großen, ertragreichen Siegeszüge des späten 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts blieb also sowohl in Südetrurien als auch in Latium aus. Gegen eine zu düstere Einschätzung der römischen Position in den Achtziger- und Siebzigerjahren ließe sich nun einwenden, dass die Berichte zu den militärischen Aktionen in späterer Zeit verfärbt wurden und sich die militärische Lage kaum rekonstruieren lässt. Im Detail mag dies zutreffen, doch bieten gerade die tendenziösen, glorifizierenden Darstellungen der späteren Autoren, die besonders deutlich in den atemberaubenden ‚Blitzkriegen‘ des Camillus hervortreten, hier die Möglichkeit, die außenpolitische Lage der res publica zumindest grob zu konturieren.4 Angesichts der positiven Verklärung der Lage Roms im Anschluss an den Kelteneinfall sind die dem Narrativ einer schnellen Erholung widersprechenden Informationen umso aufschlussreicher. Die antiken Autoren berichten im Kontrast zu den äußeren Erfolgen von massiven Schwierigkeiten und Unruhen der res publica im Inneren, die ihren Ausdruck in dem fehlgeschlagenen Coup d’État des M. Manlius Capitolinus und der daran anschließenden grundlegenden Reform der Oberämter und des politischen Systems durch die leges Liciniae Sextiae finden.5 Zusammengenommen zeichnet sich hier somit ein Bild ab, das auf längerfristige Schwierigkeiten nach dem Kelteneinfall verweist. 4.1 Zur Überlieferung der ‚Zwischenjahre‘ Die eher kursorische Behandlung der Zeit bis zu den leges Liciniae Sextiae durch die Forschung – nota bene 23 Jahre – beruht nicht zuletzt auf der schwierigen Quellenlage für diesen Zeitraum. Als einziger zusammenhängender Bericht steht Livius’ sechstes 2 3 4 5
Camporeale 2003, 56–69; Aigner-Foresti 2003, 13–17; Fulminante 2014, 217–218; Bourdin 2012, 493–494; Terrenato 2019, 36–42 heben die Gemeinsamkeiten und die Verflechtung Südetruriens und des nördlichen Latiums in der Frühzeit hervor. S. etwa Eckstein 2006, 127–129; Harris 1971, 74; Bernard 2018, 67–68. Toynbee 1965 I, 372–377; Stouder 2015, 334 zu den Feldzügen des Camillus; s. a. Cornell 1995 317; Ungern-Sternberg 2006e, passim. Dagegen verweist Lomas 2017, 208–209 auf die Schwierigkeiten, die man aber schnell überwunden hätte. Cels-Saint-Hilaire 1995, 242–249.
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Konsolidierung und Konflikte als Folgen des Kelteneinfalls
Buch zur Verfügung. Dieser Teil der ab urbe condita libri wird von dem Umgang mit den verbündeten, bzw. abgefallenen Nachbarstädten sowie der angespannten ökonomischen Situation großer Teile der Bevölkerung bestimmt.6 Letzteres Thema ist omnipräsent und findet sich auch in der Beschreibung der Feldzüge des Camillus bei Plutarch, der breit überlieferten Erhebung des Manlius sowie im Kontext der politischen Streitigkeiten um die leges Liciniae Sextiae wieder.7 Da letztere eine neue politische Ordnung einläuten, werden sie im anschließenden Kapitel separat erörtert. Dagegen ist die Erhebung des M. Manlius Capitolinus eng mit dem Kelteneinfall verbunden und scheint eine direkte Folge desselben gewesen zu sein. Die breite und in Einzelheiten divergierende Quellengrundlage dient daher als Basis für eine vorsichtige Interpretation der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Rom in den Achtzigerjahren. Anders als bei M. Furius Camillus, dessen Figur auch in dieser Episode auftaucht, dürfte es sich bei M. Manlius Capitolinus um eine historische Person gehandelt haben, deren Geschichte in der Folge allerdings einen intensiven literarischen Ausarbeitungsprozess durchlief.8 Die Überlieferung der Manliana seditio bietet dabei die Chance, im Kontext der Erzählung Rückschlüsse auf die innere Verfasstheit der res publica nach dem Kelteneinfall zu ziehen.9 Die Analyse der inneren Verhältnisse wird dabei mit den Quellenaussagen zu den römischen Militäraktionen der Achtziger- und Siebzigerjahre kombiniert. In diesem Kontext wird auch die Frage nach den diplomatischen Beziehungen zu den Nachbarstädten einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung der zeitgenössischen Machtverhältnisse in Latium leisten. Besonders mithilfe der breiten Rezeption der Verträge mit Caere und Tusculum, die sowohl in den literarischen Quellen auftauchen als auch lokal memoriert wurden, lässt sich hier eine weniger stark romanozentrisch geprägte Perspektive auf die Verhältnisse gewinnen.10 Auf der Grundlage dieser verknüpften Analyse der verstreuten Informationen zur außenpolitischen Lage mit der Überlieferung zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen um Manlius Capitolinus soll im Folgenden die Skizzierung der Entwick-
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Oakley 1997, 344–376. Zur Figur des Camillus und möglichen Vorlagen s. Burck 1977; Oakley 1997, 484–493; Bruun 2000; Späth 2001, 50–56; Walter 2004a, 382–407; Ungern-Sternberg 2006e; Gaertner 2008. Bernard 2018, 49–57 zur Konstruktion wirtschaftlicher Schwierigkeiten durch Livius, die eine notwendige Ausgangslage für die plebeische Agitation um die leges Liciniae Sextiae bilden. Bernards weitere Ausführungen zeigen allerdings deutlich, dass der Bau der Mauer enorme Kraftanstrengungen erforderte. Chassignet 2001, 84–92; Oakley 1997, 483–484. Bleibenden Einfluss hat der Beitrag von Mommsen 1871, 243–256, passim hinterlassen. Obwohl schon die antiken Autoren Manlius im selben Atemzug wie Sp. Cassius (Liv. 2.41; Dion. Hal. ant. Rom. 8.77.2–8.80.1; Diod. 11.37.7; Val. Max. 5.8.2, 6.3.1; Cic. Dom. 101, rep. 2.49, 2.60, Lael. 28, 36) und Sp. Maelius (Liv. 4.12.6–16.3; Dion. Hal. ant. Rom. 12.1–4) nannten, so ist doch die Frage berechtigt, ob die Rahmenbedingungen dieser weit auseinanderliegenden Episoden identisch waren, s. Kaplow 2012, 101–109; Walter 2017a, 39–40. Oakley 1997, 476–493. Cornell 1995, 320–323; Bleicken 2004, 105–116; Terrenato 2019, 119–126.
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lungslinien der res publica in den Jahren 390 bis 367 erfolgen. Ein solches Bild ist absolut notwendig, um die Einführung der leges Liciniae Sextiae, deren einschneidende Reformen die gesamte weitere Entwicklung Roms im 4. Jahrhundert maßgeblich bestimmen sollten, möglichst breit kontextualisieren zu können. 4.2 Rom und seine Nachbarn nach dem Abzug der Kelten Wenden wir uns nun der Lage der res publica nach dem Abzug der Kelten zu, so ist zunächst zu attestieren, dass die militärische Situation weiterhin prekär war, da sich die etruskischen Städte im Norden nach wie vor im Krieg mit Rom befanden.11 Besonders Sutrium und Nepet blieben schwer umkämpft und mussten in den Achtzigerjahren mehrmals freigekämpft werden.12 Erst gegen Ende des Jahrzehnts scheint es der römischen Seite gelungen zu sein, eine erfolgreiche Abwehr zu organisieren und weitere tiefe Einfälle in das eigene Gebiet vorerst zu unterbinden. Neben Südetrurien berichtet Livius außerdem von zwei weiteren, relativ abrupt aufflammenden Kriegsschauplätzen, bei denen es sich um den Korridor südlich der Albanerberge in das pomptinische Gebiet – hier soll unter anderem bei Satricum, ad Maecium und Antium gekämpft worden sein – und den nordöstlichen ager Romanus bei Bola, Labici und Tusculum handelte.13 Ein interessantes Detail, das auf das Ausmaß der Kämpfe schließen lässt, liefert Livius, dem zufolge vier Legionen zu jeweils 4.000 Mann mobilisiert worden seien, um der Bedrohung an mehreren Fronten Herr zu werden. Derart exakte Angaben des Livius zur Heeresstärke römischer Truppen sind für diesen Zeitraum eher selten. Bedenkt man zudem die ungewöhnliche Stärke der Legionen, die mit 4.000 Mann nicht mit späteren Zahlen identisch ist, so erhärtet dies die Annahme, dass seine Vorlagen hier möglicherweise eine militärische Krisensituation in den Achtzigerjahren genauer erwähnt hatten.14 In Anbetracht der zuvor erfolgten Einbürgerung der Veientaner, Capenaten und Falisker sowie der Versorgung römischer Bürger mit Ackerland ist eine
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Es werden zwar Kämpfe gegen Etrusker, Volsker und Aequer erwähnt, doch scheint der Schwerpunkt auf der Abwehr etruskischer Angriffe gelegen zu haben. Liv. 6.2–4.3; Frontin. Strat. 2.4.15; Eutr. 2.1; Oros. 3.3.4; Diod. 14.117; Plut. Cam. 33.1, 34–36. Inscr. ItaI. 13.3, Nr. 61. Nach Liv. 6.4.1–3, konnte Camillus die Etrusker zurückschlagen und weihte drei Goldschalen aus der Beute, die im Kapitolstempel zu begutachten waren. Auf diesen sei zudem der Name des Camillus festgehalten worden, Anm. 112 in Kapitel 3. S. a. Engerbeaud 2020, 177–179. Diod. 14.117.4; Plut. Cam. 35, 37.5 berichtet von der Vernichtung der Kolonisten; vgl. Liv. 6.3, 6.4.8– 11, 6.9. Die Härte der Kämpfe belegt Plin. nat. 7.103, der die Rettung des magister equitum P. Servilius durch M. Manlius Capitolinus für den Etruskerfeldzug des Jahres 389 erwähnt, s. a. Liv. 6.2.6. Möglicherweise gehen die unterschiedlichen Daten bezüglich der Deduktion Nepets auf die Notwendigkeit der Verstärkung der Kolonie zurück; Liv. 6.21.4 (383), Vell. 1.14.2 (373). Liv. 6.2. Oakley 1997, 548 bezweifelt den Rückgriff auf zuverlässige Dokumente, doch stellt sich die Frage, wie Livius auf die ungewöhnliche Legionsstärke kam.
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solche Größenordnung des Aufgebots prinzipiell denkbar, dürfte aber eine Anspannung sämtlicher Kräfte erfordert haben.15 4.2.1 Der Kriegsschauplatz Latium Für eine eher schwierige militärische Gesamtlage spricht dabei auch, dass die Quellen insgesamt das Bild einer römischen Rundumverteidigung zeichnen. Laut Livius ergriffen nicht nur die traditionellen Gegner des 5. Jahrhunderts, Volsker und Aequer, in dieser für Rom ungünstigen Situation die Waffen, sondern auch Teile der Latiner und Herniker.16 Sollten diese Informationen zutreffen, dann erfolgte hier eine signifikante Verschiebung des regionalen Kräftegleichgewichts, da somit das bis dato erfolgreiche Verteidigungsbündnis von Römern, Latinern und Hernikern im Rahmen des erweiterten foedus Cassianum obsolet geworden wäre.17 Die Formulierung ad hoc Latini Hernicique accesserant (6.12.6) lässt dabei allerdings keine Rückschlüsse darauf zu, ob es sich um einen Erhebung sämtlicher Latiner und Herniker gegen Rom handelte. Da Livius in diesem Kontext Circeii und Velitrae explizit erwähnt, scheint eine allgemeine Erhebung gegen Rom m. E. eher unwahrscheinlich, zumal weitere Latinerstädte erst später in die Kampfhandlungen eingreifen. Gleichwohl ist zumindest von einer ernstzunehmenden Herausforderung Roms auszugehen. Die Motive für das Zusammengehen der unterschiedlichen Gruppen bleiben dabei ebenfalls im Dunkeln, doch erscheint ein Aufbäumen der latinischen Nachbarn gegen die wachsende römische Übermacht angesichts der momentanen Schwächung als ein plausibles Szenario.18 Die 15
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Liv. 6.22.8, s. a. 6.2.6; Plut. Cam. 34.1: ἠναγκάσθη καὶ τοὺς οὐκ ἐν ὥρᾳ τῶν πολιτῶν, ἀλλ᾽ ἤδη παρηβηκότας καθοπλίσαι. Bernard 2018, 105–106 und Bradley 2020, 213–214 gehen nach der Inkorporation Veiis von einer Gesamtbevölkerung zwischen 75.000 bis 150.000 Menschen aus, was ungefähr 30.000 Männern im wehrfähigen Alter (17–45) entspräche. Neben der Integration der jüngst Unterworfenen in den Bürgerverband tauchte im 4. Jahrhundert eine neue Bewaffnung auf, die nicht mehr die komplette πανοπλία erforderte, was die Mobilisierung von 16.000 Mann möglich erscheinen lässt, s. Forsythe 2007a, 28–35; Armstrong 2016a, 262–268; Bernard 2018, 64–66. Liv. 6.12.6; 6.21.9; 6.25; 6.32.4. Alföldi 1963, 374–377; Forsythe 2005, 256–258; Martinez-Pinna 2017, 115–122. Liv. 6.12.2–6 wundert sich explizit über die Widerstandskraft der Volsker und führt diese auf deren Kooperation mit den Latinern, wobei nur Circeii und Praeneste genannt werden, und den ‚römischen‘ Siedlern von Velitrae zurück. Für eine derartige Zusammenarbeit s. Gnade 2002, 128–133, 148. Cornell 1989b, 316–319 bewertet die Kämpfe gegen die Nachbarn in Latium dagegen weniger dramatisch. Pol. 2.18 zu einer späteren Erneuerung, ebenso Liv. 6.2.3–4, 6.9.6, 7.12.7. Alföldi 1963, 389; Sherwin-White 1973, 30–31; Cornell 1989b, 310–311; Martinez-Pinna 2017, 123–124; Engerbeaud 2020, 185–187. Liv. 6.6.4–5; 6.7.1; 6.13.7–8. Vgl. Eckstein 2006, 65–72. Alföldi 1963, 404–407, 1977, 355: „eine einzigartige Chance […] Roms gefährliches Übergewicht zu beseitigen“. Auch Cornell 1989b, 317–318 betont die Schwierigkeiten, wohingegen Cornell 1995, 319 aufgrund der Deduktion der Kolonien Sutrium, Nepete, Setia und Satricum von römischen Erfolgen ausgeht. Engerbeaud 2020, 168–170 wertet die Darstellung einer allgemeinen Revolte als spätere Ausschmückung von Kriegen, die sei-
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wechselhaften Kämpfe in der westlichen pomptinischen Ebene gegen die Volsker konzentrierten sich zunächst auf Satricum, wobei die Erfolge aber überschaubar geblieben zu sein scheinen.19 In den nächsten Jahren dürfte sich die Lage weiter verschlechtert haben, da sich auch Circeii, Velitrae und Lanuvium 383 den Volskern anschlossen.20 Neben den Kämpfen im südlichen Latium brachen nach dem Abzug der Kelten gleichzeitig auch Kämpfe östlich von Rom aus, in der Region von Praeneste und Tusculum. Diodoros und Livius berichten übereinstimmend von Angriffen der Volsker und deren Einnahme Bolas, das seit 414 Teil des ager Romanus war, so dass hier durchaus Informationen für eine heikle römische Lage vorliegen.21 Camillus soll dieses Gebiet als dictator noch im selben Jahr zurückgewonnen haben, in dem er gleich mehrfach über Volsker, Aequer und Etrusker triumphiert habe.22 Da bereits 383 ein weiterer Angriff Praenestes erfolgte, dem Tusculum sowie die römischen Siedlungen Gabi und Labicum zum Opfer fielen, ohne dass von einer römischen Reaktion berichtet wird, ist auch hier – gerade wegen des Kontrastes zu den angeblich großartigen Erfolgen des Camillus – von einer eher ungünstigen Entwicklung auszugehen.23 Erst im Jahr 380 gelang es einem römischen Heer, Praeneste vorübergehend zur Räson zu bringen. Bezeichnenderweise führte nicht Camillus, sondern der dictator T. Quinctius Cincinnatus das Kommando, dessen Sieg durch die Weihung einer erbeuteten Jupiterstatue samt Inschrift verewigt wurde, so dass hier von einer zuverlässigen Überliefe-
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ner Meinung nach eher eine Fortsetzung früherer Konflikte waren, hebt aber das erstmalige Auftauchen von Tibur und Praeneste unter den römischen Gegnern hervor. Zu letzteren s. a. Alföldi 1963, 385–391; Engerbeaud 2020, 181–185. Liv. 6.7–8. Die nur von Vell. 1.14.2 bezeugte Gründung Setias im Jahr 383 wird von Livius nicht erwähnt vgl. Lackner 2008, 176–178. Eine Einordnung ist schwierig, da sich sowohl Herniker als auch Kolonisten aus Circeii und Velitrae laut Liv. 6.12 an den Kämpfen gegen Rom beteiligt haben sollen. Liv. 6.21.2. Laut Martinez-Pinna 2017, 118–119 wurde deren Abfall durch römische Begehrlichkeiten in Bezug auf das pomptinische Gebiet ausgelöst. So auch Cornell 1989b, 316–317. Offenbar gelang es erst in den Siebzigerjahren die Lage zu beruhigen. Satricum wurde im Jahr 377 erobert, Liv. 6.32.4–33.5, dabei blieb einzig der Tempel der Mater Matuta von der Brandschatzung verschont. Velitrae wurde 380 vorübergehend unterworfen, Liv. 6.29.6. Erst 371/370 scheinen die Kämpfe tatsächlich beigelegt worden zu sein, Liv. 6.36.1–9; 6.37.12; 6.42.4. Vgl. Diod. 14.102.4. Liv. 6.2.14; Diod. 14.117.4, vgl. Plut. Cam. 37.2. Diese Berichte sind in topographischer Hinsicht plausibel, da Bola und Labici direkt an das feindliche Praeneste grenzten. Angeblich seien die Angreifer durch Camillus vollständig aufgerieben worden; Martinez-Pinna 2004, 162–163. Liv. 6.2.8–4.3; Frontin. Str. 2.4.15; Plut. Cam. 33. 1, 34–36; Eutrop. 2.1; Oros. 3.3.4; Zon. 7.24. Während die Stabilisierung auf dem etruskischen Kriegsschauplatz durch die erwähnte Weihung von Goldschalen erhärtet wird, ist fraglich, ob Camillus daneben auch noch gegen Volsker und Aequer kämpfen konnte. Liv. 6.2.8 berichtet etwa, der Konsulartribun Manlius habe eine defensive Stellung nahe Rom bezogen. Liv. 6.21.9. Die praenestinischen Truppen hätten sich dann nach Süden gewandt, um sich mit Velitrae und den Volskern zu verbünden. Zu der Ausschmückung der Camillus-Feldzüge s. Anm. 4 in diesem Kapitel sowie Engerbeaud 2020, 174–177.
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rung eines durchschlagenden militärischen Erfolges auszugehen ist, der sich aber erst nach mehreren Jahren eingestellt hatte.24 Noch ohne eine detaillierte Bewertung der berichteten Kampfhandlungen vornehmen zu wollen, lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten, dass die ersten Jahre nach dem Abzug der Kelten von zähen und wechselvollen Kämpfen Roms gegen eine große Zahl seiner Nachbarn geprägt waren, die wahrscheinlich durch die Schwächung der römischen Machtposition ausgelöst worden waren.25 Interessanterweise berichtet Livius, es habe sich in vielen Fällen um private Kriegsbanden gehandelt, nicht um reguläre Kontingente der latinischen Städte.26 Diese Information lässt sich nicht verifizieren, könnte aber neben einer versuchten Diskreditierung der Kriegsparteien in den vormals verbündeten Städten auch auf eine Dynamisierung der Beziehungen und Netzwerke in Latium schließen lassen. Aus dieser Perspektive betrachtet hätte die römische Vormachtstellung durch den Kelteneinfall ausreichend Schaden genommen, um auch die Position von romfreundlichen Eliten in ihren jeweiligen Gemeinwesen derart zu erschüttern, dass sich hier Rivalen mit einem antirömischen Kurs durchsetzen konnten.27 4.2.2 Tusculum – Das erste municipium (?) Die Erwähnung von privaten Kriegsbanden erlangt besonders im Fall von Tusculum eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Bürger der Stadt hatten sich 381 angeblich den Volskern angeschlossen und waren den Römern anschließend als Gefangene in
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Cornell 1995, 323; Oakley 1997, 607–609. Der siegreiche dictator T. Quinctius hatte das Kultbild des Iuppiter Imperator aus Praeneste nach Rom verpflanzt und dort in der cella der Minerva zusammen mit einem goldenen Kranz sowie einer Inschrift aufgestellt. Liv. 6.29.8: Iuppiter atque divi omnes hoc dederunt ut T. Quinctius dictator oppida novem caperet; Fest. 498L. Trientem tertium pondo coronam auream dedisse se Iovi donum scripsit T. Quintius dictator cum per novem dies totidem urbes et decimam Praeneste cepisset. Dion. Hal. ant. Rom. 14.5.1. S. a. Diod. 15.47.8; Eutrop. 2.2; Oros. 3.8.5. Der Verweis auf die überführte Statue samt Inschrift und die breite Memorierung des Vorgangs verweisen m. E. auf eine feste historische Grundlage. Man muss hier nicht direkt von reihenweise römischen Niederlagen ausgehen, doch ist Cornell 1995, 319 skeptisch zu begegnen, wonach es keinen Grund gäbe, an den römischen Siegen zu zweifeln. Eine dezidierte Gegenposition zur Einschätzung der Feldzüge der Achtzigerjahre bietet Toynbee 1965 I, 372–377; s. a. Bradley 2020, 300. Der Fokus auf den Heilsbringer Camillus hat den durchaus ambivalenten Beginn von Livius’ Buch VI verdeckt, der nicht nur durch die Abfallbewegungen der verbündeten Völker gekennzeichnet ist, sondern auch durch den Selbstmord des angeklagten Q. Fabius; Liv. 6.1.6–7. Auch bei Plutarch steht die militärische Krise nach dem Abzug der Gallier im Vordergrund; Plut. Cam. 33.1. Liv. 6.17.8. Liv. 6.7.13 leitet aus der Gefangennahme führender Männer eine offizielle Kriegserklärung der betreffenden Städte ab. Vgl. dagegen Armstrong 2016a, 210–211, 265–269 zur Anschlussfähigkeit der römischen Kampfverbände für Verbündete, ähnliche Arrangements dürften auch die Verbündeten untereinander genutzt haben, s. Kent 2012, 17–35. S. a. Rawlings 1996, 81–84 zur Unterscheidung von Kriegern und Soldaten. Vgl. Terrenato 2019, 208–211.
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die Hände gefallen. Aus Sorge vor einem möglichen Abfall der nur einen Tagesmarsch entfernten Stadt hätten die Römer daraufhin Tusculum besetzt, ohne dass ihnen Gegenwehr entgegengeschlagen wäre.28 Da die Tusculaner glaubhaft versichern konnten, dass die gefangengenommenen Kämpfer auf eigene Faust und nicht auf öffentlichen Beschluss gehandelt hatten, entschloss man sich in Rom dazu, Milde walten zu lassen.29 Diese breit tradierte Geschichte ist insofern interessant, als Tusculum im Anschluss an diese Vorfälle zum municipium erhoben worden sein soll; die erste Verleihung eines solchen Rechtsstatus an eine verbündete Stadt in der Geschichte Roms. Die Inkorporation der Tusculaner in den römischen Bürgerverband unter Beibehaltung ihrer eigenen Administration als municipium wird in der Regel als wegweisender und notwendiger Schritt für die weitere territoriale Ausdehnung der res publica Romana gesehen. Die communis opinio ging lange Zeit dahin, das municipium als Schlüssel zur Eroberung Italiens zu sehen, mit dem das notwendige Instrumentarium geschaffen worden sei, um unter Bewahrung der stadtstaatlichen Institutionen eine subsidiäre Herrschaftsorganisation der italischen Halbinsel zu gewährleisten.30 Im konkreten Fall von 381 ist jedoch mit Nachdruck zu betonen, dass es sich bei der ‚Inkorporation‘ Tusculums für lange Zeit um einen Einzelfall handelte. Es ist dementsprechend fragwürdig, diesen Schritt auf Grundlage einer Systematisierung zu interpretieren, die erst vier Jahrzehnte später mit dem römischen Sieg im Latinerkrieg 338 einsetzte.31 Statt dieser Entwicklung vorzugreifen, soll die Eingliederung Tusculums daher zunächst in ihrem situativen historischen Kontext betrachtet werden. Hier drängt sich die Frage auf, warum es ausgerechnet im Jahr 381 zu einer Abkehr Roms von der bis dato erprobten Praxis der Einverleibung besiegter Gemeinden kam. Tusculum war mit seinem Territorium von 50 km2 sicherlich nicht schwieriger zu integrieren als Gabii, Fidenae oder Labici, von der Inkorporation Veiis ganz zu schweigen. Auch geographisch hätte sich eine vollständige Übernahme angeboten, da der ager Romanus dann bis in die Albanerberge gereicht und somit eine natürliche Grenzlinie
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Liv. 6.25–27; Val. Max. 7.3.ext.9; Plut. Cam. 38.3–4; vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 14.6; Zon. 7.24. Martinez-Pinna 2004, 174–175. Liv. 6.26.8; Cic. Planc. 19; Dion. Hal. ant. Rom. 14.6.2–3. Galsterer 1976, 65–69; Humbert 1978, 29–42, 151–161; Cornell 1995, 323–324; Forsythe 2005, 258. Nach Cic. Balb. 31 und Liv. 8.37.12 Teil der tribus Papiria; Taylor 1960, 79–81. Allerdings war nach Cic. Planc. 23 auch schon Labici als municipium eingebürgert worden, vgl. Liv. 4.47.6–7. Die Tendenz späterer Autoren, die Integrationswilligkeit nicht-römischer Gemeinwesen zu überschätzen hat Mouritsen 1998, 2006, 2007 eindrücklich dargelegt. S. Mouritsen 2007, 150–158 für einen Überblick der Forschungsdebatte. Daneben haben die Beiträge in Jehne/Pfeilschifter 2006 zu einer vorsichtigeren Interpretation der Stärke und Intention römischer Integrationseffekte gemahnt, s. etwa Linke 2006, 87–94. Die municipia werden in Kapitel 7 detailliert erörtert. Entgegen der römischen Darstellung wird dieser Schritt von den Tusculanern und den anderen Latinern kaum begrüßt worden sein, s. Liv. 6.33.6–12. Cornell 1989b, 319: „political annihilation of an independent community“, s. a. Cornell 1995, 323; Forsythe 2005, 258; Martinez-Pinna 2017, 119–122.
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erlangt hätte. Ein solches Vorgehen hätte auch angesichts der früheren territorialen Erweiterungen nahegelegen, denn seit der Einnahme und Eingliederung Labicis im Jahr 418 umfasste das römische Gebiet den ager Tusculanus im Westen und Norden, während die Albanerberge die Grenze im Osten und Süden bildeten.32 Zwar müssen diese modernen Erwägungen für die antiken Akteure nicht zwangsläufig von Relevanz gewesen sein, doch bleibt die Frage bestehen, warum die Eingliederung Tusculums weder den vorherigen Präzedenzfällen noch den deutlich später anzutreffenden Modellen voll zu entsprechen scheint. Hier ist zunächst festzustellen, dass Tusculum mit dem berichteten Ausbruch schwerer Kämpfe gegen die Aequer und Volsker von enormer strategischer Bedeutung war, da die Stadt den Algidus-Pass durch die Albanerberge kontrollierte. Bereits im 5. Jahrhundert war dies der militärische Brennpunkt der gemeinsamen, römisch-latinischen Abwehranstrengungen gewesen.33 Vor diesem Hintergrund erlangt das von Livius berichtete Engagement einzelner tusculanischer Gruppen auf Seiten der Feinde Roms erhebliches Gewicht, da dies die potenzielle Gefahr eines Seitenwechsels der gesamten Gemeinde barg. Aus römischer Sicht hätte dies aber den Algidus-Pass und die direkt nach Rom führende via Latina, zu diesem Zeitpunkt die einzige ausgebaute Verkehrsader Latiums, entblößt. Damit wäre nicht nur der ager Romanus bei Labici und Bola gefährdet gewesen, sondern auch das Kerngebiet des ager Romanus antiquus.34 Auch ohne eine defensive ‚grand strategy‘ postulieren zu wollen, darf man den politischen und militärischen Entscheidungsträgern auf römischer Seite wohl zutrauen, sich der Risiken einer unklaren Loyalitätsdisposition Tusculums bewusst gewesen zu sein. Letztendlich scheinen die berichteten römischen Sorgen hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Nachbarstadt aber übertrieben gewesen zu sein, da die Quellen übereinstimmend von einem ungestörten Marsch nach Tusculum berichten.35 In der Folge erhielten die Tusculaner dann das römische Bürgerrecht und wurden damit zum ersten municipium. Nach dem Zeugnis des Livius zogen die römischen Truppen danach schnell wieder ab, ohne eine Garnison zurückzulassen.36
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Tusculum war seit der Eingliederung Labicis und Bolas in den ager Romanus beinahe vollständig von römischem Gebiet eingeschlossen; vgl. Strab. 5.3.12. Martinez-Pinna 2004, 175–178. Cornell 1989a, 285–289. Der Algidus-Pass war ein ständiger Brennpunkt. Für die Authentizität spricht neben der geographischen Lage auch die Memorierung im Kontext des Dezemvirats. Cic. rep. 2.63; Diod. 12.24.4. S. a. Rawlings 2009, 112. Taylor 1960, 35–45. Zur Definition des ager Romanus antiquus s. Alföldi 1962, 201–203; hierzu Smith 2017a, 10–18, der die Forschungsdiskussion detailliert erläutert. Plut. Cam. 38.1 berichtet nur von einer angeblichen Verschwörung, Liv. 6.25.1 spricht von einzelnen Tusculanern auf volskischer Seite, spezifiziert aber, der Gemeinde selbst habe man keine Schuld nachweisen können. Dion. Hal. ant. Rom. 14.6.2–3 berichtet von einer Intensivierung der Beziehungen zwischen Rom und Tusculum. S. a. Val. Max. 7.3.9. Liv. 6.33.6–12; Dion. Hal. ant. Rom. 14.6.2–3; Val. Max. 7.3.ext9. Humbert 1978, 154–156 geht dagegen von einer dauerhaften Besetzung der Stadt aus.
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Die Details dieses römischen Feldzuges sind recht kurios, können aber vielleicht mit Hilfe einer genaueren Betrachtung der angeblichen Bürgerrechtsverleihung, die nicht unerhebliche Probleme aufwirft, weiter erhellt werden.37 Zuallererst ist zu fragen, ob die Tusculani wirklich das römische Bürgerrecht erhielten und vollständig in den römischen Bürgerverband integriert wurden. Erhebliche Zweifel hieran sind vor allem mit Blick auf den späteren Latinerkrieg angebracht, in dem Tusculum sich im Jahr 340 den Latinern in ihrem Kampf gegen Rom anschloss. Zwar wurde die Gemeinde nach dem römischen Sieg 338 als civitas optimo iure reintegriert, doch der genaue Status der Tusculaner war auch 15 Jahre später, im Jahr 323, noch nicht geklärt.38 Diese Punkte verweisen eher auf eine erzwungene Eingliederung im Rahmen des überwältigenden römischen Sieges im Latinerkrieg, die offenbar auf keinen längeren Assimilationsprozess aufbauen konnte. Dementsprechend ist die angebliche frühe Verleihung des römischen Bürgerrechts mit Skepsis zu betrachten, umso mehr als dessen ‚Verleihung‘ aus der Perspektive der derart Beglückten eine eher zweifelhafte Ehre darstellte, da hierdurch die eigenständige politische Identität und Existenz zerstört wurde.39 Ein dermaßen harsches Vorgehen musste den römischen Interessen einer Sicherung Tusculums zuwiderlaufen, vor allem wenn die überwiegende Masse der Einwohner, wie berichtet, eine positive Disposition gegenüber Rom aufwies und keine Notwendigkeit bestand, die neuen Verhältnisse dauerhaft abzusichern. Obwohl Zweifel gegenüber der Existenz des municipium als Begriff oder Rechtseinheit zu Beginn des 4. Jahrhunderts angebracht sind, ist dennoch nicht zu leugnen, dass die antiken Autoren das Verhältnis Tusculums zu Rom ab dem Jahr 381 auf der Grundlage ihrer Erfahrungen bezüglich dieser Institution bewerteten. In diesem Kontext könnte womöglich die Verwendung des Begriffs municipium bei den späteren Autoren einen Hinweis geben. Municipium setzt sich aus den Wörtern munus und capere (bzw. capessere) zusammen und bedeutet damit im wortwörtlichen Sinne nichts anderes als „öffentliche Aufgaben/Pflichten übernehmen“.40 Galsterer meint, diese Verpflichtungen hätten sich zu Beginn ausschließlich auf die militärische Kooperation bezogen und
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Die einzige abweichende Information zur angeblichen Bürgerrechtsverleihung bietet Fest. 155L, der Tusculum als civitas sine suffragio führt, das erst später zum municipium geworden sei. Hierzu Humbert 1978, 157–159; Martinez-Pinna 2003, 175–190. Hantos 1983, 97–99. Vgl. die römischen Kolonien Velitrae und Antium, die sich zur Empörung späterer Autoren regelmäßig gegen Rom erhoben. Bispham 2012, 228 geht dagegen von eher wechselnden Loyalitäten der Antiaten aus. Vgl. hierzu Armstrong 2016a, 218–231. Cornell 2000c, 217 zu Tusculum: „part of the territory of Rome in this wider sense, but in stricty juridical terms it was not part of the ager Romanus“. In der Tat ist nicht klar, ob hier römisches Recht galt, vgl. Cato FRH 3 F2.31 (=Fest. 400L.) Humbert 1972, 232–233. Einen Hinweis bietet die umstrittene Inschrift CIL 14, 212* marco bebio / brix dictatore, die von Dessau als Fälschung angesehen wurde. Dagegen haben zuletzt Gorostidi 2014, 1605–1607 und Martinez-Pinna 2017, 120 die Authentizität der Inschrift verteidigt; vgl. Liv. 3.18.2, 6.26.4; Plin. nat. 7.136. Fest. 127L, 142L; Varro ling. 5.179; Gell. 16.13, Isid. orig. 9.4.21; 15.2; Plaut. Tri. 687. Vgl. Kornemann RE 16 (1933), 573; Pinsent 1954, 158–162; Galsterer 1976, 79–81; Hantos 1983, 94–99.
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plädiert basierend auf den in den Quellen verwendeten Aufzählungen der Gemeindearten für eine erst später einsetzende Ausdifferenzierung des Oberbegriffs municipium zur Erfassung ziviler Bereiche.41 Bei einer nur dürftigen Überlieferung der Beziehungen und Interaktionen zwischen Rom und Tusculum konnten spätere Autoren ein enges Bündnis schnell als ‚Verleihung‘ des Munizipialstatus’ interpretieren. Besonders die Prominenz späterer tusculanischer Familien, wie den Mamilii, Fulvii und Porcii, könnte zusätzlich dazu beigetragen haben, die Rolle Tusculums in der späteren Geschichtsschreibung zu überhöhen.42 Diana Gorostidi hat in diesem Kontext die Erinnerung und die Inszenierung des Aufstiegs der erwähnten tusculanischen nobiles im öffentlichen Raum Tusculums hervorgehoben.43 Die Deklarierung, das erste municipium gewesen zu sein, konnte hierbei als weiterer Teil einer prestigeträchtigen Inszenierung dienen, um die eigene Bedeutung und Loyalität zu unterstreichen. Streng genommen wäre eine derartige Behauptung in Bezug auf eine enge militärische Kooperation nicht einmal völlig falsch gewesen, da ein solches Verhältnis rückblickend klare Analogien zu den späteren Verpflichtungen der municipes aufgewiesen hätte.44 In der Summe sprechen die vorgebrachten Punkte m. E. gegen eine Einbürgerung der Tusculaner im Jahr 381 und stattdessen für eine vertragliche Anbindung an Rom, möglicherweise durch eine simple Erneuerung oder Erweiterung des alten foedus Cassianum, das zu dieser Zeit weitgehend obsolet geworden war.45 Bekräftigt wird diese These durch Livius, der für das Jahr 377 berichtet, Volsker und Latiner hätten Tusculum bis auf die arx erobert, von wo aus die Tusculaner heftigen Widerstand geleistet hätten, bis ein römisches Entsatzheer herangerückt war.46 Vor dem Hintergrund dieser Überlieferung scheint es plausibel, dass die Intervention eine stärkere militärische Bindung der Tusculaner an Rom zum Ziel hatte und diese auch erfolgreich durchsetzen konnte. In Kombination mit der Zusicherung großzügiger Privilegien dürfte das römische Eingreifen auf die Stärkung zuverlässiger und mit römischen Peers vernetzter lokaler 41 42
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Galsterer 1976, 81–82; Sherwin-White 1973, 39, der darauf verweist, dass die Institution sich wandelte, nicht jedoch ihre Bezeichnung. Die enge Verbindung zwischen Rom und Tusculum schlägt sich auch in der Überlieferung zum 5. Jahrhundert nieder, als die beiden Städte sich gegenseitig Hilfe leisteten. Nach Liv. 3.15.4–5 besetzten im Jahr 461 exules servique das Kapitol, woraufhin L. Mamilius, der dictator Tusculums, zu Hilfe geeilt sei. Laut Liv. 3.23 und Dion. Hal. ant. Rom. 9.50.1, 9.55–5, 9.67.1–2, 10.20.1–2 befreiten römischen Truppen Tusculum kurz darauf von den Volskern. Ogilvie 1965, 423–435; MartinezPinna 2004, 136–146. Gorostidi 2013, 183–188. Die Argumente erhalten durch den Nachweis einer starken Präsenz der gens Furia in Tusculum Gewicht; Taylor 1960, 217. Zu den epigraphischen Zeugnissen der Furii s. Goristidi/Diaz 2010, 163–185. Vgl. Martinez-Pinna 2004, 184–199. Mouritsen 2007, 153–155. Nach Liv. 7.12.7–9 angeblich erst 358 erneuert, s. Bandelli 1988, 513; Martinez-Pinna 2017, 119–123. Liv. 6.33.6–12 verweist explizit auf die Verbindung zwischen Rom und Tusculum, quod deserto communi concilio Latinorum non in societatem modo Romanam sed etiam in civitatem se dedissent. Gleichzeitig erwähnt Livius damit ein einheitliches Vorgehen der mit Rom verfeindeten Städte, die aber offensichtlich nicht alle Latiner auf ihre Seite ziehen konnten.
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Eliten gezielt und damit die romfreundlichen Kreise gestärkt haben. Eine derartige bilaterale Verständigung zwischen Rom und Tusculum musste die römischen Sicherheitsbedenken besänftigen und würde auch den überraschend einvernehmlichen Abschluss der Vereinbarungen erklären, die bis 340 halten sollten. 4.2.3 Caere und die tabula Caeritum Die geäußerten Bedenken bezüglich der Verleihung des Munizipialstatus an Tusculum werden auch durch einen vergleichbaren Vorgang im selben Zeitraum unterstützt, den Aulus Gellius als erstmalige Konstituierung eines muncipium sine suffragii iure bezeichnet.47 Es handelt sich hierbei um die etruskische Nachbarstadt Caere, die nach dem Abzug der Kelten angeblich die civitas sine suffragio erhalten haben soll.48 Anlass für das römische Wohlwollen bot die tatkräftige Hilfe, die Caere während des Kelteneinfalls geleistet hatte. Im Zuge der Evakuierung der Stadt waren die römischen Priester und die Vestalischen Jungfrauen hierhin geflohen und hatten die wichtigsten heiligen Gegenstände mit Hilfe des Plebeiers Lucius Albinius in Sicherheit gebracht.49 Möglicherweise hatte Rom der etruskischen Nachbarstadt sogar noch viel mehr zu verdanken, denn Diodoros und Strabon berichten, es seien Truppen aus Caere gewesen, die Teile des keltischen Heeres auf dem Rückweg zerschlagen und dabei die von den Kelten gemachte Beute zurückgewonnen hätten.50 In jeder Hinsicht dürfte die essenzielle Hilfeleistung das enge Verhältnis zwischen den beiden Nachbarstädten weiter vertieft haben.51 47 48
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Gell. 16.13.7. Cornell 1989b, 313–314 betont den Wert der Unterstützung durch Caere; s. a. Sordi 1960, 36–49; Ogilvie 1965, 740; Harris 1971, 45–46. Humbert 1972, 261–268, 1978, 114–129 geht von einer Verleihung der civitas sine suffragio in den Fünfzigerjahren aus, ebenso Brunt 1971, 515–518; SherwinWhite 1973, 53–57 führt die Sonderform auf Vorbehalte gegenüber der Aufnahme einer etruskischen Stadt zurück, was aber nicht überzeugt, da es zeitgleich zur Aufnahme von Veientanern und Faliskern in den römischen Bürgerverband kam, vgl. Humbert 1978, 405–416; Torelli 2000, 153; s. a. Anm. 56 in diesem Kapitel. Zuletzt ist Tan 2019 von einer stärkeren militärischen und ökonomischen Ausbeutung mithilfe der neuen Regelungen ausgegangen, was aber angesichts der römischen Schwächephase nach dem Kelteneinfall höchstens auf einer bilateralen Abmachung beruht haben kann. Liv. 5.40.7–10; Val. Max. 1.1.10; Plut. Cam. 21; Ungern-Sternberg 2006d, 117–120; Linke 2014a, 23 betont die Inkompetenz der römischen Priester in dieser Situation. Diod. 14.117.7; Strab. 5.2.3. Beide Städte pflegten „a long-standing entente“, die sich durch das 5. Jahrhundert bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts zog; Cornell 1995, 316–317, 320–321; Torelli 2016, passim. Neben den guten phönizischen Kontakten wies Caere auch eine frühe und enge Bindung an Rom auf; Camporeale 2003, 294–298. Bereits bei der Vertreibung der Könige spielte die Stadt eine prominente Rolle, da hier die Königsfamilie ihr erstes Exil fand. Liv. 1.60.2. Scullard 1967, 261–262. Liv. 9.36.2–3 berichtet, die jungen römischen Aristokraten seien nach Caere gegangen, um dort litterae zu lernen. S. Harris 1989, 157 und Maras 2015, 218 bezüglich des kulturellen Einflusses Caeres. Gleichzeitig sind frü-
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Als Dank habe Rom Caere außerordentliche Rechte verliehen, wobei sich die verschiedenen Autoren hinsichtlich der konkreten Gestalt derselben abermals uneinig sind. Der ausführlichste Bericht hierzu findet sich bei Aulus Gellius: Municipes ergo sunt cives Romani ex municipiis legibus suis et suo iure utentes, muneris tantum cum populo Romano honorari participes, a quo munere capessendo appellati videntur, nullis aliis necessitatibus neque ulla populi Romani lege adstricti, nisi in quam populus eorum fundus factus est. Primos autem municipes sine suffragii iure Caerites esse factos accepimus concessumque illis, ut civitatis Romanae honorem quidem caperent, sed negotiis tamen atque oneribus vacarent pro sacris bello Gallico receptis custoditisque. Hinc tabulae Caerites appellatae versa vice, in quas censores referri iubebant, quos notae causa suffragiis privabant.52
Der Gellius-Auszug deutet auf die positive Konnotation der Caere zugesprochenen Rechte hin. Allerdings verweist die Befreiung von sämtlichen Verpflichtungen auf das Fehlen wesentlicher Bestandteile der municipia, vor allem in Bezug auf den Heeresdienst und die Zahlung des tributum.53 Die Einschreibung in separate Listen, die tabulae Caerites, erwähnt auch Strabon, der explizit darauf verweist, dass die Caeriten nicht in die Bürgerlisten aufgenommen worden seien, es also zu keiner vollständigen ἰσονομία gekommen sei.54 Anders als Aulus Gellius wählt Livius eine äußerst vorsichtige Formulierung, nach der Caere lediglich das hospitium publicum zugesprochen worden sei.55 Trotz der Unstimmigkeit hinsichtlich der genauen Qualität der Privilegien, verweisen die unterschiedlichen Aussagen zusammengenommen dennoch auf den Abschluss eines vorteilhaften Vertrages zwischen Caere und Rom, der wohl vor allem das Recht auf conubium et commercium und das ius migrationis beinhaltete; Zugeständnisse, die sonst den Latinern vorbehalten waren.56
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he Heiratsbeziehungen der Oberschicht epigraphisch belegt, s. etwa Cristofani 1966, 227 zu den Plautii. Nach Terrenato 2014, 48 habe es sich hierbei um eine Plautia gehandelt, die mit einem Angehörigen der einflussreichen Matuna-Familie verheiratet worden war, s. Blanck/Proietti 1986, 101 und Colonna 1999, 443 zu den Inschriften. Möglicherweise spielte Caere auch in den Kämpfen gegen Veii eine Rolle, um sich der Tolfa-Berge zu bemächtigen, s. Sordi 1960, 16–23; Camporeale 2003, 291–293. Vgl. Bourdin 2012, 489–493 zu Konflikten zwischen Caere und Tarquinii. Gell. 16.13.6–7. Tan 2019, 55–67. Strab. 5.2.3; vgl. Hor. epist. 1.6.62–63. Liv. 5.50.3: cum Caeretibus hospitium publice fieret quod sacra populi Romani ac sacerdotes recepissent beneficioque eius populi non intermissus honos deum immortalium esset. Die jüngere Forschung ist lediglich von einem engen Freundschaftsverhältnis und der Verleihung des hospitium publicum in der Folge des Kelteneinfalls ausgegangen, s. Harris 1971, 45–47; Galsterer 1976, 70–73; Hantos 1983, 92–93; Cornell 1989b, 313–314, 1995, 320–323; Oakley 1998, 199–202; Forsythe 2005, 258–259; Mouritsen 2007, 254; Torelli 2016, 262–265; Terrenato 2019, 120; vgl. Capogrossi Colognesi 1994, passim zu den wirtschaftlichen Vorteilen. Erst im Zuge späterer Konflikte (353 oder 273/272) sei es dann zu dem municipium sine suffragio gekommen, s. Toynbee 1965 I, 410–424. Hierauf könnte auch die Präsenz von Vertretern der gens Claudia (CIE 6213) zurückzuführen sein, s. Humbert 1978, 141–143; Torelli 1988d, 244.
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Bezeichnenderweise reiht sich der mit Caere geschlossene Vertrag in eine Reihe weiterer diplomatischer Aktivitäten Roms in dieser Zeit ein. Laut Iustinus sei es zusätzlich zu einem Vertragsabschluss mit Massilia gekommen, der sich ebenfalls durch die Gewährung gewisser Privilegien, namentlich des hospitium publicum, auszeichnete.57 Im Rahmen dieser diplomatischen Initiativen sind möglicherweise auch einige verstreute Nachrichten zu (gescheiterten) römischen Versuchen einer überseeischen Kolonisation zu verorten.58 So hat etwa Mario Torelli die von Diodoros erwähnte Expedition nach Corsica mit Ziel Aleria als eine gegen Tarquinii gerichtete Aktion interpretiert.59 Diese hauptsächlich maritimen Projekte konnten nur mit tatkräftiger Unterstützung Caeres zustande kommen, da die von Theophrast erwähnte Expedition 25 Schiffe umfasste, eine Anzahl, die Rom zu diesem Zeitpunkt wohl nicht zur Verfügung stand.60 Dagegen war Caere der bedeutendste der etruskischen Handelsstützpunkte mit insgesamt vier Häfen – Fregene, Alsio, Pyrgi, Punico.61 In Südetrurien und Latium gab es keine Hafenanlagen, die hiermit konkurrieren konnten, so dass von einer Interessensgemeinschaft der beiden Städte gegen Tarquinii im Sinne Torellis ausgegangen werden kann.62 Da Rom zu diesem Zeitpunkt weiterhin in Kämpfe gegen
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Iust. 43.5.10, s. a. Plut. Cam. 8 laut dem Rom das Schatzhaus der Massilioten in Delphi nutzte; Sordi 1960, 111–113. Patterson 2016b, 43–46 zur Reziprozität und Egalität der Beziehungen. S. a. Bourdin 2012, 569–574 zur Bedeutung des hospitium publicum für die Integration Fremder. Diod. 15.27.4 zum Versuch einer Koloniegründung auf Sardinien im Jahr 386. Steinby 2007, 48. Eine bei Theophr. plant. 5.8.2 erwähnte Expedition nach Corsica ist ebenfalls in diesem Kontext anzusiedeln. Vgl. Momigliano 1969e, 355–361; Cornell 1995, 321–322; Armstrong 2016a, 250–251. Torelli 1988d, 242–244. Dagegen Mitchell 1971, 640–641, der das Vorhaben auf die Zeit zwischen 348 und 306 datieren möchte. Thiel 1946, 19–20 geht davon aus, dass die Unternehmung erst nach 311 stattgefunden haben kann. Vor diesem Hintergrund kann Torellis These (vgl. Sordi 1960, 113– 118) die größere Plausibilität beanspruchen. Vgl. Steinby 2007, 60–65. Erst 311 sollte Rom es fertigbringen, eine Flotte von 20 Schiffen permanent zu unterhalten. Sprenger 1977, 21 und Camporeale 2003, 287, 294 zur Vormachtstellung Caeres zur See. Die Stadt pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu Karthago (Ferron 1972, 189–216), was neben der Benennung des Hafens Punico auch durch den Fund der Goldbleche von Pyrgi, die eine Weihung an Uni-Astarte auf Etruskisch und Phönikisch-Punisch enthalten, bestätigt wird. Torelli 1988d, 212–220 verweist auf die lange Tradition der etruskisch-karthagischen Kooperation seit 540 (Arist. Pol. 3.9.1280a), so auch Pallotino 1991, 59–93. Arist. Pol. 3.5.10 verweist nach Scardigli 2011, 28 auf die vorrangige Rolle Caeres bei den frühen Abkommen zwischen Karthagern und Etruskern, ebd. 29: „There seems to have been particularly close contact between Carthage and the Etruscan town of Caere (Cerveteri) as one of the harbours there appears on the Peutinger Table as Punicum (Santa Marinella): probably this was a Carthaginian colony founded for trade purposes and perhaps even for demographic reasons.“ Einen Eindruck von Reichtum und Macht vermitteln die Informationen zum Überfall des Dionysios auf Pyrgi, der angeblich über 1.000 Talente erbeuten konnte; Diod. 15.14.3–4, Polyaen. 5.2.21; Arist. Oecon. 2.1349b; Aelian var. hist. 1.20; Strab 5.2.8; Serv. Aen. 10.184. Heurgon 1973, 183–186, Campbell 2012, 310–318. Zumal Caere laut Strab. 5.2.3 angeblich Piraterie unterbunden habe, vgl. Hdt. 1.166. Antium galt dagegen als ‚Seeräubernest‘, s. Bispham 2012, 228–230; Di Fazio 2020, 47. Vgl. auch die Bedeutung des Tibers als Handelsstrom; Strab. 5.3.7. Angesichts mangelnder sicherer Ankerplätze könnten die Hafenanlagen von Caere auch als Umschlagplatz für Getreidelieferungen nach Rom gedient haben, s. Momigliano 1969e, 331–349 zu
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Tarquinii an seiner neuen Nordgrenze verstrickt war, könnte die Information bei Diodoros auch auf römische Bemühungen verweisen, über Bündnispartner zusätzlichen Druck auf seine etruskischen Gegner auszuüben. Angesichts der gegenseitigen Hilfeleistung der beiden Städte ist davon auszugehen, dass der Vertrag mit Caere auf Augenhöhe erfolgte und nicht als Ausdruck römischer Dominanz gesehen werden kann. Schließlich ist schwer vorstellbar, dass die gebeutelten Römer ihrer Dankbarkeit ausgerechnet durch die Zerstörung der politischen Unabhängigkeit Caeres Ausdruck verleihen wollten.63 Das berichtete römische Engagement sowie die maritimen Expeditionen in Zusammenarbeit mit Caere lassen dagegen eher die Verfolgung handfester Interessen vermuten, die womöglich auch die Hoffnung auf militärische Unterstützung in der schwierigen Situation nach dem Kelteneinfall umfassten.64 Diese Interpretation deckt sich mit der von Livius überlieferten römischen Dankbarkeit ob der caeretanischen Hilfe, die weitreichende Privilegien zur Folge hatte, welche aus der Retrospektive dann als Gunstbeweise des vermeintlich mächtigen Roms an eine treue Nachbarstadt verstanden worden sein könnten. 4.2.4 Diplomatie statt Bürgerrecht Die antiken Autoren haben bezüglich der vermeintlichen Bürgerrechtsverleihungen an Tusculum und Caere offenbar Informationen vorgefunden, die sie unter Verwendung von ihnen vertrauten Institutionen und Definitionen interpretierten.65 Das Hauptproblem bei der Einordnung der beiden Vorgänge besteht sowohl für antike Historiographen als auch für Althistoriker darin, die angeblichen Bürgerrechtsverleihungen in einen größeren Kontext einbetten zu wollen. Hierbei wird übersehen, dass dieser größere Kontext erst nach dem Latinerkrieg 338 entstand, während in der gut 40 Jahre langen Zwischenzeit keine weiteren ‚Bürgerrechtsverleihungen‘ oder Inkorporationen in den Bürgerverband stattfanden. Dementsprechend scheint es wenig zielführend, diese beiden Vorgänge im Rahmen der späteren systematischen Formen römischer Herrschaftsintegration zu interpretieren. Stattdessen sind die beiden relativ nah beieinander liegenden Vorgänge als Ausdruck der spezifischen, historischen und regionalen Situation in den Achtzigerjahren und den damit verbundenen Bemühungen Roms in der Folge des Abzugs der Kelten zu betrachten.
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Hungersnöten und der Notwendigkeit der überseeischen Versorgung. Dagegen skeptisch, aber hinsichtlich der schwierigen Versorgungslage zustimmend, Ungern-Sternberg 2006b, 107–112. Harris 1971, 46; Rosenstein 2007b, 232–233. Hölkeskamp 2011, 74; Terrenato 2019, 119–120. Durch das Bündnis mit Rom wäre Caere nur noch im Norden von Einfällen Tarquiniis bedroht gewesen, s. Camporeale 2003, 297–298. Besonders deutlich wird dies im Bericht des Aulus Gellius zu Caere, während ausgerechnet der viel gescholtene Livius eine wesentlich vorsichtigere Formulierung wählt; s. Anm. 55 in diesem Kapitel sowie Cornell 1989b, 314.
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Aus dieser Perspektive betrachtet lassen sich die überlieferten Vorgänge als ein durchaus kohärentes Bemühen um die Loyalität wichtiger Verbündeter interpretieren, wobei Rom hier nicht etwa in der Rolle einer die Regeln diktierenden Hegemonialmacht auftritt, sondern vielmehr die erschütterten regionalen Netzwerke und Bindungen zu stabilisieren suchte. In Bezug auf die überlieferten Erhebungen zahlreicher Nachbarstädte ist dabei anzunehmen, dass nicht sämtliche Nachbarn sofort über die geschwächte Stadt am Tiber herfielen, sondern einige stattdessen die Chance ergriffen, eine vertiefte und privilegierte Partnerschaft anzustreben.66 Eine Neuaushandlung der regionalen Machtverhältnisse musste nicht zwangsläufig sämtlichen Latinerstädten erstrebenswert erscheinen, sondern konnte in manchen vielleicht sogar als Bedrohung der eigenen Position wahrgenommen werden.67 Solche komplexen, von Multipolarität gekennzeichneten Machtkonstellationen dürften aber kaum mit dem späteren Bild einer mediterranen Supermacht und der damit verbundenen Vorstellung von der schnellen Erholung Roms kompatibel gewesen sein, die eher mit den Heldentaten des Camillus zusammenpassten.68 Es ist daher anzunehmen, dass die römischen Stabilisierungsanstrengungen und Bemühungen um Verbündete in diesem Zeitraum von den späteren Autoren nachträglich in grandiose und wohlwollende Akte der Bürgerrechtsverleihung und der Aufnahme treuer Freunde in das Imperium Romanum verwandelt wurden, was eher ihren zeitgenössischen Werten und Erwartungen entsprach.69 4.3 Die innenpolitischen Verhältnisse nach dem Kelteneinfall Folgt man den obigen Ausführungen zur relativ hohen militärischen Belastung Roms in der zweiten Dekade des 4. Jahrhunderts, stellt sich automatisch auch die Frage nach den Auswirkungen einer solchen Krisensituation auf die römische Bürgerschaft. Neben der Notwendigkeit, angesichts eines ‚Mehrfrontenkriegs‘ eine hohe Mobilisierungsrate zu gewährleisten, ist im Rahmen dieser Fragestellung auf den engen Zusammenhang zwischen langanhaltenden, intensiven Militäraktionen und den wirtschaftlichen Belastungen für die Männer und Material stellende Bevölkerung einzugehen. Gewissermaßen startete Rom in dieser Hinsicht bereits mit einem erheblichen Defizit, da der Kelteneinfall weder den militärischen noch ökonomischen Kapazitäten der Bürgerschaft zuträglich gewesen sein dürfte. Vor dem Hintergrund dieser reduzierten 66 67 68 69
Sordi 1960, 46–49; Harris 1971, 46; Toynbee 1965 I, 411–418; vgl. Fronda 2010, 50–52; Torelli 2016, 263–265; Terrenato 2019, 119. S. Eckstein 2006, 181–243; Fronda 2010, 280–288 wobei einzuschränken ist, dass sich ihre Modelle auf einen weiträumigeren Bereich, Mittelitalien beziehungsweise die italische Halbinsel, beziehen. Oakley 1997, 399–425. Cornell 1995, 317 vermutet, der Camillus-Mythos habe die essenzielle Unterstützung durch Caere überschatten sollen.
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Leistungsfähigkeit mussten aber sowohl die durch den Kelteneinfall entstandenen Schäden beseitigt als auch die Verteidigungsbereitschaft angesichts der vielfältigen Herausforderungen aufrechterhalten werden. 4.3.1 Der Wiederaufbau der Stadt Auch wenn das Ausmaß der durch die Kelten verursachten Zerstörungen umstritten ist, erforderte die Wiederherstellung der in Mitleidenschaft gezogenen privaten und öffentlichen Bauten der Stadt sicher in großem Umfang Arbeitskräfte und Finanzmittel.70 Selbst überschaubare Schäden dürften signifikante Zusatzkosten verursacht haben, wobei der Bau der ‚Servianischen Mauer‘ der wohl eindrücklichste archäologische Beleg für die enormen Anstrengungen der Gemeinschaft nach dem Abzug der Invasoren ist. Zusätzlich zu diesem gigantischen Unterfangen berichten unsere Quellen allerdings vor allem von notwendigen Reparaturen an Privatbehausungen, so dass die Schäden nicht unbeträchtlich gewesen sein dürften. Livius betont neben der Bautätigkeit zur Wiederherstellung der Häuser der Bürger zudem die Fertigstellung der Stützmauer am Kapitolshügel, die noch in seiner Zeit zu sehen war.71 Für diese ersten Reparatur- und Wiederherstellungsmaßnahmen in der Stadt sollen dabei auch öffentliche Gelder verwendet worden sein, doch scheint es unwahrscheinlich, dass die Stadt, wie berichtet, innerhalb eines Jahres instandgesetzt werden konnte, vielmehr dürften sich die ersten Arbeiten auf die Behebung der größten Schäden beschränkt haben. Mit dem Bau der Servianischen Mauer begann man laut Livius erst 378, doch könnte es bereits vorher zu notdürftigen Ausbesserungen der königszeitlichen Befestigungen gekommen sein, die dann einer grundlegenden Neugestaltung und Verstärkung unterworfen wurden.72 Eine Berechnung der Kosten dieses Mammutprojekts ist schwierig, doch vermutet Cornell, dass die Arbeiten mindestens 5 Millionen Arbeitsstunden er-
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Liv. 6.31.4; Diod. 14.116.8–9. Einen Überblick der älteren Forschung bieten Briquel 2008, 34 und Delfino 2009, 340. Die von den Quellen behauptete weitgehende Zerstörung der Stadt wird dabei in der Regel angezweifelt auch vom zuletzt erschienen, umfangreichen Werk Bernards zur römischen Baupolitik im 4. Jahrhundert; Bernard 2018, 47. Vgl. Anm. 66 u. 67 in Kapitel 3. Liv. 6.4.12; Plut. Cam. 31. Zu den hastigen Instandsetzungsmaßnahmen s. Kolb 2002, 140–141. Die Stützmauer wurde möglicherweise im Rahmen erster Befestigungsmaßnahmen errichtet, die sich zunächst auf das Kapitol beschränkten. Mazzei 1998, 13–34; Bernard 2012, 25–26. Davies 2013, 442– 443 betont die Konzentration römischer Bautätigkeit auf die Instandsetzung der Befestigungen, die auch 353 noch nicht vollständig abgeschlossen war. S. Anm. 124 in Kapitel 3. Liv. 6.32.1, 7.20.9. Kolb 2002, 97–101 mit überzeugenden Argumenten gegen eine frühere Datierung. Holloway 1994, 91–101; Forsythe 2005, 106–107; Davies 2017a, 35–37; Bernard 2018, 79–80 sowie 107 zur notwendigen Vorbereitungszeit, die mindestens 3 bis 4 Jahre für die Beschaffung des Materials betragen haben dürfte. Zur militärischen Einordnung der Ereignisse s. Armstrong 2016a, 257–260.
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fordert haben müssen, wobei unklar ist, woher die Arbeitskraft stammte.73 Die wohl umfangreichste Kostenanalyse hat jüngst Seth Bernard vorgestellt, der dabei sämtliche Faktoren, inklusive indirekter Kosten wie der Versorgung der Arbeitskräfte, berücksichtigt hat. Bernard kommt hierbei auf 6.803.059 „person-days (PD)“, was der Tatsache Rechnung trägt, dass die Baumaßnahmen Arbeitskräfte über die eigentliche Arbeitszeit hinaus band.74 Da er davon ausgeht, dass ein Großteil der Arbeiten von der männlichen Bürgerschaft verrichtet wurde, kalkuliert er für eine geschätzte Bevölkerung von 75.000 bis 150.000 Einwohnern eine Belastung von 123 bis 246 Arbeitstagen pro Kopf. In Kombination mit dem livianischen Bericht, der als einziger detailliert auf die Bautätigkeit eingeht, argumentiert Bernard, dass es sich bei den erbrachten Arbeitsleistungen um „forced labor“ gehandelt habe, was seiner Meinung nach auch durch die Hinweise auf Rampen erhärtet wird, die anders als Kräne auf den Masseneinsatz ungelernter Arbeiter schließen lassen.75 Besonders weniger vermögende Schichten hätten demnach unter der Heranziehung zu den Arbeiten im Rahmen eines Corvée-Systems gelitten, da Familien mit kleineren Landstellen darauf angewiesen waren, ihr Einkommen durch zusätzliche Tätigkeiten aufzubessern. Diese Problematik sei durch die Anforderungen des Mauerbaus, der vor allem in der trockenen Sommerzeit zu erfolgen hatte, noch weiter verschärft worden, da sowohl der mitunter einträgliche Militärdienst, idealiter samt Plünderungen, als auch landwirtschaftliche Arbeiten normalerweise in dieses Zeitfenster fielen. Insgesamt kommt Bernard zu dem Schluss, dass der Bau der neuen Befestigungen unabhängig von möglichen Verheerungen in der Stadt eine gigantische Herausforderung darstellte, die überdies in einer Situation finanziert werden musste, in der reiche Beutezüge eher die Ausnahme blieben.76 Auch wenn die Ursache für die ökonomischen Belastungen der römischen Bevölkerung damit eine andere ist als der von Livius beschriebene Brand, so wird dessen Beschreibung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der breiten Bevölkerung in der Folge des Kelteneinfalls durch die archäologischen Befunde und die damit verbundenen Informationen doch weitgehend gestützt. Dies ist gerade in Kombination mit den anhaltenden militärischen Konflikten von Interesse, da die vorhandenen Ressourcen für die Wiederherstellung der Stadt laut Livius schnell an ihre Grenzen stießen und zu wachsendem Unmut führten. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der livianische Bericht für das Jahr 387, wonach die Tribunen den Vorschlag weiterer Landverteilungen vor das Volk gebracht hätten, das hierfür aber nur wenig Begeisterung aufgebracht habe, da es mit dem Wiederaufbau beschäftigt und die Mittel der plebs erschöpft gewesen seien.77 In den Folgejahren verschärfte sich die wirtschaftliche Lage allem An-
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Cornell 1995, 331. Bernard 2018, 75–117, Kalkulation: 98. Bernard 2018, 108–114. Bernard 2018, 66–68, 117. Liv. 6.5.5, 6.11.9. Vgl. Cornell 1995, 330.
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schein nach weiter; Ausdruck der ökonomischen Schwierigkeiten und der zunehmenden Unzufriedenheit war der vermeintliche Coup d’État des M. Manlius Capitolinus (385/384), auf den es noch genauer einzugehen gilt. Als entscheidender Faktor für die Popularität des Manlius wird dabei neben seinen Heldentaten gegen die Gallier seine Parteinahme für die unter der wachsenden Schuldenlast leidende plebs hervorgehoben.78 Die Schuldenthematik blieb auch nach der Überwindung der Manliana seditio ein bestimmendes Thema, was für die Existenz und Überlieferung eines strukturellen Problems jenseits der Manlius-Narrative spricht.79 Überraschend ist hierbei die Frequenz mit der unsere Quellen auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu sprechen kommen, wenn auch meist recht wortkarg: im Jahr 380 beklagten die Volkstribunen die Ruinierung der Bürgerschaft durch die Oberschicht und kurz darauf musste die Durchführung eines census aufgegeben werden, da die aufgeheizte Atmosphäre ein solches Unterfangen unmöglich gemacht hatte.80 Ein weiterer Versuch, den census im Jahr 378 durchzuführen, scheiterte ebenfalls, wobei die plebs bei dieser Gelegenheit außerdem noch die Entrichtung des tributum verweigerte. Da in diesem Jahr mit dem Bau an den neuen Befestigungsanlagen begonnen worden sein soll, ist von einem Zusammenhang auszugehen.81 Angesichts der zusätzlichen Verpflichtungen für die Errichtung der Stadtbefestigungen waren die Plebeier anscheinend nicht geneigt, diese Last zusätzlich zu den Militärabgaben des tributum zu übernehmen.82 Im Zuge des Wiederaufbaus kam es demnach zu einer übermäßigen Belastung der Plebeier zugunsten der Kreditgeber, so dass man weniger das Bauprogramm an sich, sondern wohl eher die konkrete und aus plebeischer Sicht unfaire Umsetzung kritisierte.83 Die unbestrittene Durchführung der Baumaßnahmen, fassbar in der Servianischen Mauer, lässt auf eine komplexe Gemengelage der innenpolitischen Auseinandersetzung schließen. Gegen die livianische Interpretation derselben als eines politischen
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Oakley 1993, 20–21; Savunen 1993, 145–146; Cels-Saint-Hilaire 1995, 242–249. Savunen 1993, 146–147. Zur Schuldenproblematik s. Anm. 92 in Kapitel 2. Liv. 6.27.4–6. Von den beiden Zensoren C. Sulpicius Camerinus und Sp. Postumius Regillensis verstarb letzterer im Amt, daraufhin kam es zu heftigen Streitigkeiten hinsichtlich der Durchführung des census. Eine Durchführung hätte bei hoher Verschuldung, die von den Plebeiern beklagt wird, wahrscheinlich Auswirkungen auf die Zusammensetzung der comitia centuriata gehabt. Liv. 6.27.6: fugere senatum testes tabulas publicas census cuiusque, quia nolint conspici summam aeris alienis, quae indicatura sit demersam partem a parte civitatis. Der Streit sei schließlich so weit eskaliert, dass die Bürger den Militärdienst verweigert hätten. Cornell 1995, 331 wird richtig liegen, wenn er die Schuldenthematik als Wurzel der Unzufriedenheit ausmacht. Oakley 1993, 20. Liv. 6.31.2–4. Der Unmut hing möglicherweise mit dem berichteten Beginn der Arbeit an der Servianischen Mauer zusammen, die enorme Kosten verursachte und die Lage der plebs weiter verschärfte, s. Liv. 6.32.1–3. Liv. 6.31.4: in qua trepidatione tantum afuit ut civilia certamina terror externus cohiberet, ut contra eo violentior potestas tribunicia impediendo dilectu esset, donec condiciones impositae patribus ne quis, quoad bellatum esset, tributum daret aut ius de pecunia credita diceret. Offensichtlich war man also nicht bereit, das tributum im Voraus zu entrichten. Bernard 2018,112–114.
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Konflikts entlang plebeischer und patrizischer Interessens- und Standeslinien sowie der damit verbundenen stereotypen Verhaltensweisen spricht besonders deutlich der Fall des M. Manlius Capitolinus, da sich ausgerechnet ein Patrizier der Schuldenproblematik annahm.84 Es bietet sich daher an, diesen besonderen und von den antiken Autoren breit behandelten Fall genauer in den Blick zu nehmen. 4.3.2 M. Manlius Capitolinus Den zahlreichen antiken Zeugnissen zu M. Manlius kommt dabei eine zentrale Rolle in Bezug auf die Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Lage in Rom nach dem Kelteneinfall zu, da die Berichte über seine Aktivitäten eine Bündelung unterschiedlicher Überlieferungsstränge aufweisen. Manlius erscheint dabei als heldenhafter Verteidiger der plebs, wobei die desolate wirtschaftliche Lage der Plebeier in sämtlichen Darstellungen einheitlich als Ursache des Aufruhrs genannt wird.85 4.3.2.1 Zur Überlieferung der Manliana seditio Die breite Behandlung der Taten des M. Manlius Capitolinus durch die antiken Autoren hängt zum einen damit zusammen, dass Manlius eine wichtige Rolle bei der Verteidigung des Kapitols zugeschrieben wurde, die seine Popularität in der Bevölkerung begründete, zum anderen mit seiner Gegnerschaft zu Camillus, die ihn schließlich vom Retter des Gemeinwesens zum „Staatsfeind Nummer Eins“ werden ließ.86 Laut Mary Jaeger lässt sich diese plötzliche Volte des Charakters von Capitolinus am deutlichsten im livianischen Werk aufzeigen, das als einziges beide Episoden detailliert beschreibt.87 Der Versuch, diese zu vereinen, habe zu einer „shabbily construc-
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Den Zusammenschluss der Plebeier und die Schaffung eines Ersatzkönigtums in Form der tribuni plebis hat Eder in mehreren Beiträgen (1988, 465–475; 1990, 12–32; 1993, 97–127; 2002, 54–56) besprochen. Eder 2005, 247–248, 258 sieht in diesem Kontext aber auch die Gefahr eines Umsturzes im Falle einer Ignorierung der Interessen der Bevölkerung. Vgl. Linke 2017a, 390–391. Oakley 1997, 489–492: „Manlius must in some way have tried to subvert the constitution, and an attempt at tyranny seems very plausible; and it is also possible that he was supported by impoverished plebeians.“, vgl. Chaplin 2000, 83–85. Hierbei ist auch die Vorgeschichte und anhaltende Auseinandersetzung um die Verteilung des ager Veientanus zu bedenken, s. Kapitel 3. Liv. 6.18–20; Val. Max. 6.3.1; Plut. Cam. 36.6–7; Claudius Quadrigarius FRH 14 F7 (= Gell. NA. 17.2.14), Gell. NA. 17.21.24; App. It. 9; Vir. ill. 24; Zon. 7.24; Diod. 15.35.3. Plin. nat. 7.103; FRH 14 F 7 sowie Cass. Dio. 7 Fr. 26 betonen die militärischen Verdienste des Capitolinus. Neel 2015a, 233–235 interpretiert den späteren Wandel auch als bewusstes Spiegelbild zu Camillus. Liv. 5.47, 6.14–20. Dagegen bietet Plut. Cam. 36 nur eine kurze Beschreibung samt Verurteilung des Capitolinus.
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ted“ Geschichte geführt, die zuvorderst die nur mühsam geglätteten Übergänge ihrer unterschiedlichen Elemente im Werk des Livius hervortreten lasse.88 Gerade die Brüche verweisen dabei aber auch auf die Existenz konkurrierender Interpretationen, die eine spätere Umdeutung und Neufassung der Vorgänge erschwert zu haben scheinen, da die Transformation des Manlius offenbar einige Probleme verursachte und keine einfache Verdammung seiner Person zuließ.89 Das früheste Zeugnis zu Manlius Capitolinus bei Claudius Quadrigarius lässt jedenfalls keine klare Positionierung in Bezug auf den kontroversen Patrizier erkennen, sondern fällt relativ neutral aus, gleiches gilt für das spätere Zeugnis Ciceros. Zwar wird die Manlius-Episode im Kontext berechtigter Hauszerstörungen erwähnt, doch werden gleichzeitig seine Verdienste um die res publica genannt.90 Von der grundsätzlichen Historizität der seditio ist aufgrund der intensiven Memorierung auszugehen.91 Letztere dürfte sich dabei auch auf die Verankerung der Episode in der Erinnerungslandschaft der urbs und innerhalb der gens Manlia gestützt haben: Zum einen diente sein abgerissenes Haus auf dem Kapitol als Mahnmal des gescheiterten Umsturzes, zum anderen sollte nach ihm nie wieder ein Marcus unter den Manlii auftauchen, was laut der Überlieferung auf die damnatio memoriae durch die eigene gens zurückging.92
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Jaeger 1993, 351–352; s. a. Forsythe 2005, 259–262 zu den zahlreichen späteren annalistischen Ausschmückungen. Jaeger 1993, 357–360; Cornell 1995, 331; Oakley 1997, 481; Chassignet 2001, 93–94; Smith 2006b, 56–62; Linke 2017, 390–391. Die Probleme werden abschließend deutlich, da Livius eindeutig auf die erzürnten Götter verweist; Liv. 6.20.15–16. Neel 2015b, 231–232 zeigt zudem, dass Manlius Capitolinus aus der Reihe der ‚drei Tyrannen‘ herausfällt. FRHist 14 F 7: Manlius, quem Capitolium servasse a Gallis supra ostendi, cuiusque operam cum M. Furio dictatore apud Gallos cum prime fortem atque ex superabilem res publica sensit, is et genere et vi et virtute bellica nemini concedebat. Beck/Walter 2004, 115–116. Cic. Dom. 101: M. Manlius cum ab ascensu Capitoli Gallorum impetum reppulisset, non fuit contentus benefici sui gloria; regnum adpetisse est iudicatus; ergo eius domum eversam duobus lucis convestitam videtis. Lintott 1970, 23 führt den Kern der Überlieferung auf die Pontifikalannalen zurück. Neel 2015b, 218 sieht in Livius’ Narrativ die endgültige Verhedderung von früheren pro- und anti-Manlianischen Positionen. S. Oakley 1997, 486–492, der hier Wiseman 1979b, 48–49 folgt. Zur domus: Cic. Dom. 101; Liv. 6.20.13; Val. Max. 6.3.1; Plut. Cam. 36.7. Roller 2010, 128–131, passim erörtert die Zerstörung von Privathäusern angeblicher Tyrannen. Hierdurch seien in symbolischer Form Prestige und Macht der Staatsfeinde vernichtet worden. Zum praenomen Marcus: Liv. 6.20.14; Gell. NA. 9.2.11. Beides bei Quint. 3.7.20; Cass. Dio. 7 Fr. 26.1; vgl. Suet. Tib. 1; Tac. Ann. 3.17.8. Tatsächlich brachte die gens Manlia in der Folge keinen Marcus mehr hervor. Nach Flower 2006, 49 spricht dies für die Authentizität der Episode, in dem sie ein „major event“ sieht, ebenso Forsythe 2005, 261. Vgl. dagegen Cornell 1989b, 331: „The surviving accounts of this obscure event are unreliable and highly elaborated rhetorical narratives.“ Dennoch geht Cornell 1995, 330–331, wie auch Forsythe 2005, 261–262, von der Authentizität des Fundaments der Geschichte, den drückenden Schulden, aus. Zum Haus des Manlius und dem dort erbauten Tempel der Iuno Moneta s. Giannelli LTUR 3 (1995), 123–125; Ziolkowski 1992, 71–73; Oakley 1997, 566–567. Hinsichtlich der widersprüchlichen Daten zur Weihung des Tempels durch M. Furius Camillus nach Val. Max. 1.8.3 (oder später nach Liv. 7.28.4–6) argumentieren Meadows/Williams 2001, 31–32 für das frühere Datum.
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Die Quellen stimmen überdies hinsichtlich des Ausmaßes und der Bedingungen des Umsturzes überein, der vor allem aufgrund des Ansehens und der volksfreundlichen Taten des Capitolinus gefährliche Ausmaße angenommen und erst nach vielerlei Schwierigkeiten mit dem Tod des Manlius geendet haben soll. Gespalten ist dagegen das Urteil über die Ursachen sowie die Qualität der Erhebung. Livius verweist etwa auf die Schuldenproblematik in Rom sowie die Aktivitäten des Manlius, der nicht weniger als 400 Personen private Darlehen ohne Zinsen aus seinem eigenen Besitz zur Verfügung gestellt und diese so vor der Schuldknechtschaft bewahrt haben soll.93 Hierbei wird explizit darauf verwiesen, dass Manlius diese Mittel durch den Verkauf seines Besitzes auf dem ager Veientanus zusammengebracht habe. Es kommt also zu einer demonstrativen Abgrenzung gegenüber seinen Standesgenossen und zur Distanzierung von möglichen patrizischen Privilegien oder Vorteilsnahmen im Rahmen der Verteilung des eroberten veientinischen Gebietes.94 Laut Livius und Plutarch sei Capitolinus zudem in den carcer geführt worden, um seine Fehler einzusehen, was jedoch nicht fruchtete, da er seine Agitation umgehend wiederaufnahm, sobald er auf freiem Fuß war.95 Damit wird klar vermittelt, dass der vormalige Verteidiger des Capitols selbst für sein Schicksal verantwortlich war, da er die Warnungen ignorierte und auf seinem eigensinnigen – oder aber verantwortungsvollen – Kurs beharrte, womit er auf eine Stufe mit Sp. Cassius und Sp. Maelius gestellt wird.96 Dennoch weist auch seine erneute Anklage Ungereimtheiten auf, denn das versammelte Volk habe die Verurteilung des Capitolinus vehement vereitelt. Erst am nächsten Tag, als man die Gerichtssitzung an einen Ort verlegt hatte, von dem aus man das Kapitol nicht erblicken konnte, sei es zur Urteilsverkündung gekommen, woraufhin die Volkstribunen Capitolinus vom Tarpeium saxum gestürzt hätten.97 Deutlich negativer ist dagegen die Berichterstattung der griechischen Geschichtsschreiber, die nicht nur die versuchte Etablierung einer τυραννίς attestieren, sondern 93 94
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Liv. 6.14, 6.20.6. Walter 2004a, 394 zu spätrepublikanischen Motiven in dieser Darstellung. Liv. 6.14.10. Diese Zusatzinformation gehört zu den Teilen des Narrativs, die Livius die größten Schwierigkeiten bereiteten. Oakley 1997, 523: „In Veienti is a curious piece of invented detail, since one would not expect the caput patrimonii of an aristocrat with so distinguished an ancestry to be on the newly acquired territory of Veii.“ Dies lässt allerdings die gentilizischen Bestrebungen außer Acht, sich im Laufe der frühen Expansion Roms neue Gebiete und Klientel zu sichern. Geht man also von einer bewussten Erwähnung aus, so stellt dieses Detail eine Verbindung zu der umstrittenen Verteilung des ager Veientanus her. Hierbei ist App. It. 9.2 zu beachten, laut dem M. Manlius den Verkauf von ager publicus gefordert habe, um damit die Schulden zu begleichen. S. a. CelsSaint-Hilaire 1995, 242–247. Liv. 6.16.4–17.6; Plut. Cam. 36.3–4. Liv. 6.17.1–2, 6.18.3–4; Mommsen sah Capitolinus als einen von mehrere affectatores regni der Frühzeit, Mommsen 1871, 228–280; Lintott 1999, 35–36. Jüngst hat Neel 2015b, 225–231 die Polyvalenz der Charaktere unterstrichen, die erst durch Cicero ihre republikfeindliche Ausprägung erhalten hätten. Liou-Gille 1996, 161–197; Smith 2006b, 50–56. Plut. Cam. 36.5; Liv. 6.20.12; Dion. Hal. ant. Rom. 14.4.1. Hierzu Wiseman 1979b, 49–50, passim; Oakley 1998, 486–492.
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auch die Gewaltanwendung beider Seiten betonen, vor allem die gewaltsame Besetzung des Kapitols durch Manlius und seiner Anhänger.98 Auch Livius scheint diesen Kern in der Überlieferung vorgefunden zu haben, da er von einer Manliana seditio spricht, was eine deutlich heftigere Auseinandersetzung implizieren würde, als die von ihm geschilderte.99 Abgesehen von der Form der Gewaltanwendung sind beide Versionen insofern kompatibel, als es sich bei den Sklaven, die laut Cassius Dio/Zonaras unter seiner Führung das Capitol besetzt hätten, wahrscheinlich um die von Livius erwähnten nexi handelte, also verschuldete römische Bürger, die sich gegen ihre faktische Versklavung zur Wehr setzten.100 Appian berichtet zudem, Manlius habe nicht nur die Schuldner befreit, wie von Livius berichtet, sondern darüber hinaus eine grundlegende Neuregelung der Besitzverhältnisse angestrebt. Folgt man Appian, so hatte Manlius sogar einen Kompromissvorschlag vorgebracht, der vorsah, entweder sämtliche Schulden zu erlassen oder aber das noch nicht verteilte Land zu verkaufen und damit die Schulden auf Staatskosten zu begleichen.101 Bei dem nicht verteilten Land konnte es sich hierbei nur um den ager Veientanus handeln, genauer um den dortigen ager publicus, der anscheinend auch nach der Gründung der tribus noch vorhanden war.102 Hieraus würde sich auch erklären, warum es so schwierig war, gegen Manlius vorzugehen. Weniger die mahnende Wirkung des Kapitols als vielmehr der Aufruhr und die Forderungen der verschuldeten Bevölkerung dürften eine öffentliche Verurteilung des Manlius erschwert haben. Während in der Forschung vor allem der Konflikt zwischen Manlius und Camillus als antagonistische Gegenüberstellung von unterschiedlichen Werten verstanden worden ist, haben die Auseinandersetzungen in der Stadt nur geringe Beachtung gefunden. Gerade die gewaltsamere Variante eines versuchten Umsturzes lässt Zweifel an dem gloriosen Start der zweiten Gründung Roms aufkommen, die Livius nur mühsam bereinigen kann und in ein geordnetes Verfahren zu transformieren versucht. Dagegen machen die knapperen Darstellungen von Diodoros, Valerius Maximus und Dionysios keinen Hehl daraus, dass Manlius schlicht und ergreifend erschlagen wurde.103 Auch
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Diod. 15.35.3 verweist auf die gewaltsame Beseitigung des Manlius: ἅμα δὲ τούτοις πραττομένοις κατὰ τὴν Ἰταλίαν ἐν τῇ Ῥώμῃ Μάρκος Μάνλιος ἐπιβαλόμενος τυραννίδι καὶ κρατηθεὶς ἀνῃρέθη. Plut. Cam. 36 und Zon. 7.23.10 sprechen von gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Forum und in letzterem Fall auch von der Besetzung des Kapitols, s. a. Liv. 6.19.1: secessione in domum privatam plebis. Vgl. Lintott 1970, 23, der dies für möglich hält, gleichzeitig aber auch eine starke Beeinflussung durch die Konflikte der späten Republik annimmt. Die Verwendung des Begriffs τυραννίς impliziere demnach die Anwendung von Gewalt, vgl. Pol. 2.59.6. 99 Liv. 6.18.1. 100 Liv. 6.20.6. Zu den nexi s. a. Varro ling. 7.105; Fest. 165L. Kaser 1983, 100; Manthe 2000, 26–28. Forsythe 2005, 259–262 bespricht die offensichtlichen spätrepublikanischen Färbungen, ohne jedoch den Kern der Schuldenproblematik in Frage zu stellen; ebenso Cornell 1995, 330–333. 101 App. It. 9. 102 Roselaar 2010, 41–44. 103 Diod. 15.35.3; Val. Max. 6.3.1.
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die abweichende Darstellung bei Cassius Dio/Zonaras belegt, dass sich die Festnahme und Verurteilung des Capitolinus deutlich schwieriger und gewaltsamer vollzogen, als Livius und Plutarch eingestehen möchten. In Anlehnung an Jaclyn Neel ist damit festzuhalten, dass der Umsturz des M. Manlius Capitolinus einen ungewöhnlichen Vorgang darstellte, der sich nicht einfach in eine Reihe mit den Erhebungen des Sp. Cassius und Sp. Maelius im 5. Jahrhundert stellen lässt.104 4.3.2.2 Unruhe und Verurteilung In Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung genügt es, die einhellige Aussage sämtlicher Quellen bezüglich der schwerwiegenden und wohl auch gewaltsamen Verwerfungen in der römischen Gesellschaft hervorzuheben. So unterschiedlich die Überlieferungsstränge auch sein mögen, verweisen sie doch einstimmig auf die Tatsache, dass sich ein Mitglied der Oberschicht des grassierenden Unmuts der Bevölkerung angenommen hatte und hierdurch zur Gefahr für die aristokratische Herrschaftsordnung wurde.105 Neben dem Einblick in die prekäre wirtschaftliche Situation eines Großteils der wohl vor allem mittelständischen Bauern gewährt die Manlius-Episode eine Momentaufnahme der politischen Konstellation in Rom unmittelbar nach dem Kelteneinfall. Hierbei ist es zunächst überraschend, dass ausgerechnet ein patrizischer Aristokrat sich der Probleme breiter Bevölkerungsschichten annahm. Offenbar hatten aber sowohl die Patrizier als auch die plebeische Elite deutlich an Reputation eingebüßt, so dass sich Raum zur individuellen Profilierung bot, den Manlius aufgrund seiner Verdienste um die Verteidigung des Kapitols zu nutzen suchte.106 Hierzu passt die Aufwendung des eigenen Besitzes zur Auslösung der von der Schuldknechtschaft betroffenen Plebeier, um die eigene Gefolgschaft zu erweitern.107 Besonders auffällig ist das Fehlen der Volkstribune im Rahmen der Agitation des Manlius, die noch kurz zuvor äußerst heftig gegen die wachsende Verschuldung und die Nicht-Berücksichtigung
104 Neel 2015b, 224: „Closer examination of the appearance of these figures in the late Republic and early Empire indicates that the triad of Spurius Cassius, Spurius Maelius and Manlius Capitolinus is in fact illusory.“ 105 Nach Yakobson 2006, 394, die „popular card“, s. a. 2010, 300–301. 106 Jaeger 1993, 360; Cels-Saint-Hilaire 1995, 242–243; vgl. Bleicken 2004, 24–25; Hölkeskamp 2011, 39–40. 107 Liv. 6.14.10 spricht von caput patrimonii, wobei dieses Erbe auf dem ager Veientanus verortet war, so dass fraglich ist, inwiefern hier von einem ererbten Besitz gesprochen werden kann. Besonders dieser Akt scheint die Unterstützung der plebs gewonnen zu haben; Plut. Cam. 36.3; Cels-SaintHilaire 1995, 242–247. Taylor 1960, 282–284 verweist auf patrizische Namen in den neuen tribus, s. a. Cornell 1995, 329; Roselaar 2010, 89–90 sowie Anm. 27 bis 30 in Kapitel 3. S. auch Liv. 6.20.2 bezüglich der Nachricht, dass weder Patrizier noch Familienangehörige dem Manlius beistanden.
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Konsolidierung und Konflikte als Folgen des Kelteneinfalls
plebeischer Interessen gewettert hatten. Auch als die Freilassung des Manlius gefordert wurde, nennt Livius die Volkstribune nicht, vielmehr sei der Unmut auf voces exprobrantium multitudini zurückzuführen gewesen.108 Eine entscheidende Rolle kommt ihnen lediglich bei der Exekution des Manlius zu, bei deren Herbeiführung sie offenbar mit den Patriziern kooperierten.109 Entgegen dem Narrativ der Ständekämpfe fällt damit auf, dass im Rahmen der Berichte zu M. Manlius Capitolinus kaum gravierende Unterschiede zwischen den Patriziern und der plebeischen Elite, inklusive der Volkstribune, erwähnt werden. Diese auffällige Abwesenheit des ansonsten omnipräsenten patrizisch-plebeischen Gegensatzes könnte auf eine durchaus einheitliche Position von Patriziern und plebeischer Elite in dieser Situation hindeuten, die sich durch die gemeinsame Sorge vor einer Alleinherrschaft oder zumindest einem erdrückenden Machtgewinn des Manlius ausgezeichnet haben dürfte.110 Besonders die Schwierigkeiten und die ungewöhnlichen Maßnahmen zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Stadt veranschaulichen das Ausmaß, in dem der Unmut der Bürger die Legitimation der traditionellen, plebeischen wie patrizischen Eliten in Frage zu stellen drohte.111 Die drastische Todesstrafe und der Sturz vom Tarpeium saxum verweisen ebenfalls auf die Brisanz des Vorgangs und auf die Ambivalenz der Verurteilung, die ja vor allem darauf beruhte, dass Manlius sich der schwierigen Situation seiner Mitbürger angenommen hatte.112 Für die extreme Besorgnis der Oberschicht angesichts dieser Vorgänge spricht außerdem deren gemeinsames Bestreben, eine Wiederholung des Vorfalls nach bestem Vermögen zu vermeiden, indem etwa das Haus des Manlius auf dem Capitol zerstört und es Patriziern verboten wurde, dort zu wohnen. Insgesamt gesehen blieb die Manlius-Episode eine schmerzliche Erfahrung, da der große Held und Verteidiger des Kapitols ums Leben gebracht wurde, obwohl er sich eigentlich für die Rechte seiner geschundenen Mitbürger eingesetzt hatte. Diese Am108 Diese wagen angeblich nicht einzugreifen, als Manlius in den carcer geführt wird, sind aber ebenso wenig präsent, als der Unmut der Bevölkerung zu seiner Freilassung führt. Plut. Cam. 36.4; Dion. Hal. ant. Rom. 14.4.1: τότε μὲν οὖν συμπαθήσαντες ἀφῆκαν αὐτόν, ὕστερον δὲ κατὰ κρημνοῦ ἐρρίφη; Liv. 6.15.11: audiebantur itaque propalam voces exprobrantium multitudini, quod defensores suos semper in praecipitem locum favore tollat, deinde in ipso discrimine periculi destituat. Zur merkwürdigen Absenz der Volkstribunen s. a. Lanfranchi 2015, 477–480. 109 Oakley 1997, 486–489 bespricht die unterschiedlichen Überlieferungsstränge, deren älteste Bestandteile, z. B. Plut. Cam. 36.5–7, auf eine Anklage des Manlius vor der plebs schließen lassen; s. a. Lanfranchi 2015, 477–482. 110 Linke 2010a, 135–141; s. a. 2011, 52–57 zum explosiven Widerstands- und Reformpotenzial. Flower 2006, 45–47. 111 Beck 2005a, 45. Liv 6.4.12–13 verweist auf den Versuch, den Forderungen durch eine Koloniegründung in Satricum (389) entgegenzukommen, diese Kolonie wurde aber bereits kurz darauf aufgerieben; Liv. 6.22.3–5. 112 Die Hinrichtung erinnert an das Schicksal des Sp. Cassius (Liv. 2.41; Val. Max. 5.8.2; Diod. 11.37.7; Plin. nat. 34.15), der gleichermaßen von Patriziern und Plebeiern verurteilt, vom Tarpeischen Felsen gestürzt wurde, Dion. Hal. ant. Rom. 8.69–80; vgl. Flower 2006, 44–50.
Synthese der außen- und innenpolitischen Entwicklung Roms
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bivalenz tritt am deutlichsten bei Livius zutage, der von einer kurz darauf einsetzenden Seuche zu berichten weiß und diese in deutlicher Form als Unmutsäußerung der Götter in Reaktion auf die unrühmliche Beseitigung des Manlius interpretiert.113 4.4 Synthese der außen- und innenpolitischen Entwicklung Roms im ersten Jahrzehnt nach dem Keltensturm Zusammenfassend betrachtet, präsentiert sich die vermeintlich schnelle „Roman Recovery“114 somit als ein längerer und schmerzhafter Prozess, der die Achtziger- und Siebzigerjahre des Jahrhunderts maßgeblich prägte. Die in diesem Kapitel vorgenommene Rekonstruktion der Ereignisse kann im Detail angefochten werden, dennoch bleiben die Zweifel an den bisherigen Erklärungsansätzen einer relativ zügigen römischen Erholung im Anschluss an die Eroberung Roms zahlreich und in der Summe substanziell. Trotz römischer Siegesmeldungen wurde oft genug auf römischem Territorium gekämpft. Neben diesen nicht unbedingt auf Erfolge verweisenden Meldungen tritt zudem klar hervor, dass auf römischer Seite signifikante Anstrengungen unternommen wurden, um ausreichend Truppen auszuheben und die Verteidigungsanlagen der Stadt zu verstärken, was nicht unbedingt auf einen einseitigen Verlauf der Kampfhandlungen schließen lässt. In dieser Hinsicht konnte die Kontextualisierung der römischen Verträge mit Caere und Tusculum aufzeigen, dass spätere Autoren diese mit gewissen Schwierigkeiten den ihnen bekannten Bündnis- und Vertragskategorien zuordneten. Vor dem Hintergrund einer eher prekären Gesamtlage der res publica Romana gewinnen diese diplomatischen Initiativen dagegen eine wesentlich plausiblere Stoßrichtung, die darauf abzielte, die Beziehungen zu wichtigen Verbündeten enger zu gestalten. Diese eher zurückhaltende Bewertung der römischen Machtposition wird auch durch die Manliana seditio bestätigt, deren Überlieferung zum einen erhebliche soziale Verwerfungen erkennen lässt, zum anderen den Autoritätsverlust der plebeischen und patrizischen Eliten attestiert, die sich angesichts der populistischen Strategie des Manlius nur durch ein gemeinsames Vorgehen behaupten konnten. Allerdings waren weder die schlechte wirtschaftliche Lage noch die angeschlagene Position der politischen Eliten mit dem Tod des Manlius plötzlich verschwunden und es verwundert nicht, dass bereits wenige Jahre darauf die nächsten Agitatoren mit einem breiter aufgestellten Programm Reformen einforderten. Vorweggreifend ist die Verschwägerung der bei diesen späteren Reformen führenden Licinii mit der gens Manlia, die eine Kontinuität der plebeischen Forderungen in der römischen Politik
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Liv. 6.20.15–16. Der von Cornell 1989b gewählte Titel seines 7. Kapitels der CAH 7.2.
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andeutet, von größtem Interesse.115 Die nur in Konturen wahrnehmbaren Entwicklungen der ‚Zwischenjahre‘ bilden folglich eine wichtige, aber unterschätzte Übergangszeit, in der sich Konflikte verdichteten, die im Zuge der beeindruckenden Siegesserie zwischen 423 und 396 eingeschlummert waren.
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Liv. 6.39.4: propinqua cognatione. Münzer 1920, 13.
Sequenz II Die zweite Sequenz der vorliegenden Untersuchung wird durch die leges Liciniae Sextiae eingeläutet. Dieses Reformpaket dürfte maßgeblich aus den Langzeitfolgen der wirtschaftlichen Belastungen sowie einer Erosion des alleinigen Führungsanspruchs der Patrizier nach den Erschütterungen durch den Kelteneinfall hervorgegangen sein. Im Vergleich zu der in Sequenz I noch prekären militärischen Lage begegnet uns ab den Sechzigerjahren des 4. Jahrhunderts eine revitalisierte römische Außenpolitik, was auf einen generellen Erfolg der Reformen schließen lässt. Allerdings blieb die Geschichte Roms in den Sechziger- bis Vierzigerjahren wechselhaft und warnt damit vor einer zu linearen Interpretation der innenpolitischen Konsolidierung, da Rom auch weiterhin Spielball kontingenter Ereignisse blieb.
5. Der Ausgleich der Stände Nach der Erörterung des unrühmlichen Endes des Manlius leitet Livius zügig zu dem nächsten Großereignis über, das mit Fug und Recht als zentrales Erbe der Frühen Republik gelten kann: die Verabschiedung der leges Liciniae Sextiae. Zentrales Element derselben bildete die Neuordnung der Oberämter, in deren Kontext die tribuni militum consulari potestate von zwei consules abgelöst wurden und eine dieser Stellen auch Plebeiern offenstand.1 Bereits der erste römische Geschichtsschreiber Fabius Pictor nahm dieses Ereignis als Epochenwende wahr: Quapropter tum primum ex plebe alter consul factus est duo et vicesimo anno post Romam Galli ceperunt.2
Das livianische Werk hebt die Verabschiedung der Gesetze ebenfalls in besonderer Form hervor, indem zu Beginn des siebenten Buches mit dem Amtsantritt der Konsuln L. Aemilius Mamercinus und L. Sextius auch der Tod des legendären M. Furius Camillus verkündet wird.3 Parallel zu dem implizierten Umbruch betont Livius aber auch Kontinuitätslinien, da etwa die Kelten mitten in der Darstellung der leges Liciniae Sextiae auftauchen und damit an die andauernde Gefährdung der res publica erinnern.4
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S. etwa v. Fritz 1950, 42–44; De Sanctis 1960 II, 202–209; Pinsent 1975, 62–69; Ferenczy 1976a, 47–52; Cornell 1995, 333–341; Kunkel 1995, 294–390; Bunse 1998, 182–201; Lintott 1999, 36–39; Bleicken 2004, 130–133; Develin 2005, 293; Forsythe 2005, 262–267; Beck 2005a, 44–51; Smith 2011, 24–39; Hölkeskamp 2017a, 129–139. Trotz kritischer Beurteilungen der Überlieferung der einzelnen Maßnahmen besteht im Kern kein Zweifel am Ergebnis des Ständeausgleichs, der den Zugang der Plebeier zum Konsulat, die Schaffung der Prätur und kurulischen Ädilität sowie die versuchte Lösung wirtschaftlicher Missstände umfasste. FRH 1 F 23 (= Gell. 5.4.3) = FRHist 1 F 31, s. a. Cornell FRH I, 47–49 sowie Beck 2005a, 45–46. Liv. 7.1: annus hic erit insignis novi hominis consulatu, insignis novis duobus magistratibus, praetura et curuli aedilitate, hos sibi patricii quaesivere honores pro concesso plebi altero consulatu. Beck/Walter 2001, 119–120. Liv. 6.42.4–8. Allerdings vermutet Livius selbst eine Verwechslung mit dem Sieg des L. Furius 349, Liv. 6.42.6: pluribus auctoribus magis adducor, ut credam decem haud minus post annos ea acta, hoc autem anno in Albano agro cum Gallis dictatore M. Furio signa conlata. Die Gefahr dürfte jedoch weiterhin real gewesen sein, möglicherweise handelte es sich bei dem berichteten Zwischenfall lediglich um einen keltischen Streifzug. Laut Pol. 2.18.6 erfolgte der nächste große Einfall der Kelten 30 Jahre nach der Eroberung der Stadt, so auch Claudius Quadrigarius F 14 F 10a/10b (= Liv. 6.42.5 und Gell. 9.13.4–19). App. Celt. 1.1–6 verweist auf mehrere Kelteneinfälle, allerdings ist die Chro-
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Daneben setzt sich auch die plebeische Agitation für eine Erleichterung der Schulden und eine gerechtere Regelung der Landverteilungen fort, die bereits nach der Eroberung Veiis und im Fall des Manlius Capitolinus eine Rolle gespielt hatten. Diese Details müssen nicht notwendigerweise als authentische Informationen angesehen werden, doch ist festzustellen, dass die antiken Autoren die erfolgreiche Verabschiedung der Gesetze zwar als Meilenstein, aber noch lange nicht als endgültige Lösung der strukturellen Probleme verstehen. Auf dieser Mischung aus Neuanfang und Kontinuation wird im Folgenden der Fokus liegen, um zu untersuchen, unter welchen Rahmenbedingungen und Handlungszwängen die neue politische Ordnung anfangs operierte. 5.1 Die Quellenlage zu den leges Liciniae Sextiae Der Konsulat war von grundlegender Relevanz für das politische System und die politische Elite der Republik, weshalb es nicht verwundert, dass die Einrichtung des Amtes im Jahre 367/366, inklusive der Öffnung für plebeische Kandidaten, von diversen Autoren erwähnt wird.5 Bereits zu Beginn der römischen Geschichtsschreibung bildeten offenbar der Kelteneinfall sowie die leges Liciniae Sextiae zwei wesentliche Fixpunkte, die von späteren Autoren aufgenommen wurden. Pictors Verweis auf die gut zwei Jahrzehnte zurückliegende Eroberung der urbs durch die Kelten bildete dabei offenbar den Auftakt für die Beschreibung einer neuen Phase der Geschichte der res publica.6 Die breite Rezeption der leges Liciniae Sextiae mag auf die Rolle der Konsuln als eponyme Jahresbeamte zurückgehen, die eine durchgängige Liste produzierte, die spätere Autoren bis ins Jahr 366 zurückverfolgen konnten. Während größtenteils schemenhafte Amtsträger oder aber halb-mythische Persönlichkeiten, wie Cincinnatus oder Camillus, die Überlieferung für den Zeitraum vor dem Epochenjahr 367/366 kenn-
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nologie nicht völlig klar. Den stärksten Eindruck scheinen die Kelteneinfälle von 361 (abgewehrt durch den dictator T. Quinctius) und 349 (abgewehrt durch den Konsul L. Furius) hinterlassen zu haben; vgl. Alföldi 1963, 355–365. Das Auftauchen der Gallier im Kontext der leges Liciniae Sextiae sieht Oakley 1997, 716–720 als dramaturgisches Stilmittel an, da ein Großteil der narrativen Elemente in dem Bericht für das Jahr 361 wiederauftaucht. Fabius Pictor FRH 1 F 23 kann das Jahr präzise verorten und verweist darauf, dass nun primum ex plebe alter consul factus est. Liv. 6.35.5, 6.37–42, 7.1; Val. Max. 8.6.3; Plut. Cam. 42; Diod. 15.82.1; Gell. 17.21.27; Vir. ill. 20.1–2; Zon. 7.29; Dion. Hal. ant. Rom. 14.12; Inscr. It. 13.1.32: L. Sextius Sex. F. N. n. Sextin(us) Lateran(us) primus e plebe. Flach 1994, 294–297; Walter 1999, 673–677. Zur Zäsur von 367/366 s. von Fritz 1950, 36–43; Stewart 1998, 103; Bleicken 2004, 26–27; Cornell 1995, 333–340; Hölkeskamp 2004b, 20–25; Forsythe 2005, 268–270; Beck 2011, 82–83; Drogula 2015, 182–193. Armstrong 2017, 129–130 verweist auf die relativ zuverlässige Überlieferung zu den militärischen Veränderungen. Vgl. auch den Kommentar von Oakley 1998, 29–47 zu der detaillierten Beschreibung der Geschehnisse durch Livius. Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet Walter 2017a, 124–124, 159–162.
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zeichnen, lässt sich mit Einführung des Konsulats eine deutlich stärkere Konturierung der Obermagistrate und ihres politischen wie militärischen Handelns erkennen. Dies dürfte auf knappe Informationen im Rahmen der fasti consulares zurückgehen, die zwar auch nicht vor Verfälschungen geschützt waren, deren Inhalt in der Regel aber als zuverlässig angesehen wird.7 Die Listen lassen sich somit als Indikator für die Machtverteilung innerhalb der Oberschicht sowie den Erfolg oder Misserfolg bestimmter Personen nutzen. Besonders Iterationen und wiederholt auftretende Paarungen sowie die Anwesenheit beziehungsweise Abwesenheit von bestimmten Namen und Familien erlauben hier eine Rekonstruktion des innersten Kreises der Aristokratie.8 Höchstwahrscheinlich sind auch die frühen Prätoren als Teil dieser politischen Spitze zu verstehen, doch sind Angaben zu diesen Magistraten im Gegensatz zu den eponymen Konsuln für das 4. Jahrhundert nur äußerst spärlich vorhanden. Die erst im letzten Drittel des Jahrhunderts langsam zunehmende Visibilität der Prätoren spricht hier m. E. gegen eine weitgehende Gleichstellung mit den Konsuln.9 Neben Informationen zur Zusammensetzung der politischen Elite dürften die ab 366 verfügbaren Fasten rudimentäre Kenntnisse der militärischen Auseinandersetzungen konserviert haben, da eine zentrale Kompetenz der Konsuln in der Führung des militärischen Aufgebots lag.10 Hieraus ergab sich ein sehr grobmaschiges Überlieferungsgewebe, dass Jörg Rüpke mit dem Begriff „Proto-Geschichte“ beschrieben hat.11 Dies fasst die Quellenproblematik treffend zusammen, da diese „Proto-Geschichte“ zwar beliebig erweitert und ausgefüllt werden konnte, aber nicht an den ‚structural facts‘ vorbeikam.12 Eine we-
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Fritz 1950, 36–43; Cassola 1988, 462–465; Cornell 1995, 17; Bleicken 2004, 25–28, 130–133; Forsythe 2005, 155–170; Smith 2011, 23–27; Hölkeskamp 2011, 29. S. a. Anm. 103 u. 104 in Kapitel 1. Hölkeskamp 2011, 42 und 2017, 62–71 warnt vor einer zu starken Fixierung auf feste Adelsparteien, s. auch die Diskussion in Anm. 19 u. 20 in Kapitel 1. Zu den frühen Prätoren s. Develin 1979, 16–18. Bunse 1998, 155–173 geht von drei gleichberechtigten Imperiumsträgern aus, dagegen hat von Fritz 1950, 42 eine striktere Trennung vertreten, so auch Brennan 2000, 71–72; s. a. Beck 2005a, 63–65; Drogula 2015, 183–188. Drogula 2015, 185–192 hält eine dramatische Zäsur im Jahr 367/366 für unwahrscheinlich und geht von einer Umstrukturierung der Oberämter durch die Einführung der Konsuln und des Prätors aus, vgl. Brennan 2000, 58–64. S. a. Stewart 1998, 53–94; Bunse 1998, 44–61, 155–173; Urso 2005, 160–162; Richardson 2008b, 338– 340. Zuletzt hat Richardson 2017, 94–97 eine Verwechslung von Konsulartribunen und Konsuln durch spätere Autoren untersucht. Zu den militärischen Kompetenzen: Armstrong 2016a, 272–279. Bezüglich der überlieferten Informationen ist Hanell 1946, 65–70 äußerst optimistisch. Zurückhaltender aber generell positiv: Taylor/Broughton 1949, 3–14; Taylor 1950, 84–95; De Sanctis 1956, 1–17; Drummond 1989b, 173–178, Frier 1975, 41; 83–85; Cels-Saint-Hilaire 1995, 157–174; Cornell 1995, 218–223; Feeney 2007, 167–187. Die extreme Fastenkritik von Mora 1999 hat sich dagegen nicht durchsetzen können. Ausführlich hierzu Anm. 103 in Kapitel 1. Rüpke 2012, 103. Cornell 1986, 73 zu „structural facts“, ebenso 2005, 61. Dem folgt Timpe 1996, 278–280. Vgl. dagegen Ungern-Sternberg 1988, 242. Die Kritik wird in der Rezension von Forsythe 1997 zusammengefasst, ebenso Forsythe 2005, 4–5, 59–77.
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sentliche Stabilisierung erfuhr diese Protogeschichte durch die Inszenierung der eigenen Ahnen im Rahmen der pompa funebris, deren Einsetzen Blösel auf das Ende des 4. Jahrhunderts datiert.13 Da man kaum bei Null beginnen konnte, dürften die in der Politik vertretenen gentes mithilfe ihrer eigenen Aufzeichnungen und den Jahreslisten die Geschichte Roms, beziehungsweise seiner Oberbeamten, ab 366 rekonstruiert haben, um die jeweiligen Verdienste um die res publica zu betonen.14 Gerade der Wettbewerb der gentes untereinander dürfte hier ein wichtiges Korrektiv gegen Verfälschungen gewesen sein. In diesem Kontext könnten auch die Pontifikalaufzeichnungen eine Rolle gespielt haben, um konkurrierende Ansprüche zurückzuweisen oder eigene zu untermauern.15 Diese Bemühungen um eine Klärung der politischen Würden und eine nachträgliche Sicherung des daraus resultierenden symbolischen Kapitals könnte auch erklären, warum die entsprechenden Inhalte der leges Liciniae Sextiae, also die lex Licinia Sextia de decemviris sacris faciundis zu den Priestern und besonders die lex Licinia Sextia de consule plebeio, eine derartig große Rolle in der Überlieferung einnehmen. Zusätzlich dürften die späteren senatorischen Autoren diesem Themenbereich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen besonders große Aufmerksamkeit gezollt haben. Eine weitere wichtige Rolle bei der Konservierung der Ereignisse für die Nachwelt dürfte einmal mehr die Erinnerungslandschaft der Stadt Rom gespielt haben, da an der Westseite des Forum Romanum angesichts der Einigung ein Concordia-Tempel errichtet worden sein soll.16 Concordia tritt hier zum ersten Mal in Erscheinung und ihr Tempel – mit direktem Blick auf die Herzkammer des politischen Zentrums – erinnerte auch in späterer Zeit noch an den Ausgleich der Bürgerschaft.17 Eine öffentli-
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Blösel 2003, 56; Hölkeskamp 2017, 189–309; s. a. Richardson 2017, 96: „The politics and power that may have been most relevant to the earliest consular fasti may have been those of the later fourth and third centuries BC, that is, in the period following the emergence of Rome’s office-holding nobility.“ S. a. Anm. 144 bis 148 in Kapitel 1. Frier 1979, 139–145. Nicht zufällig kam es im Jahr 304 auch zur Veröffentlichung des Kalenders durch Cn. Flavius, der sich zudem um eine genaue Berechnung der jüngeren Vergangenheit der res publica bemühte. Cels-Saint-Hilaire 1995, 283–286; Humm 2005, 494–455. Blösel 2003, 53–67: die memoria der gentes musste aufgrund ihrer Hierarchisierungsfunktion für die Oberschicht stabil sein, Beck 2005b, 89–90. Wikander 1993 zu den spätrepublikanischen Münzmeistern, deren Münzbilder sich hauptsächlich auf Ahnen nach 366 beschränkten. Ov. fast. 1.637–644; Plut. Cam. 42.4 schreiben die Errichtung dem Camillus zu, allerdings sind die Zeugnisse zu diesem frühen Tempel problematisch, eine Dedikation durch Camillus ist unwahrscheinlich: Momigliano 1942, 115–117; Ziolkowski 1992, 22–24; Humm 2015, 356–357; Bernard 2018, 69–70. Dagegen geht Cornell 2000b, 44 von einer frühen Gründung aus. Im Zuge der Kämpfe um die leges Liciniae Sextiae bei Liv. 6.35–42 wird jedenfalls keine Tempelweihung erwähnt. S. a. Serv. Aen. 2.116. In späteren Zeiten beherbergte der Tempel zahlreiche erbeutete Skulpturen: Plin. nat. 34.73, 34.80, 34.89–90, 36.196. Ferroni LTUR 1 (1993), 316–320. Concordia als Gottheit taucht erst ab diesem Zeitpunkt auf; Bailey 1932, 136; Kolb 2002, 169 und Humm 2005, 622–624, vermuten eine enge Verknüpfung mit der Idee der homonoia. Zwar spricht einiges dafür, die Einführung des Concordia-Kultes mit der Ädilität des Cn. Flavius in Bezug zu setzen, der sich an dem Beispiel des Timoleon in Syrakus orientiert haben könnte, doch schließt dies die Existenz eines früheren Tempels für Concordia
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che Memorierung der leges Liciniae Sextiae könnte zudem im Rahmen der ludi Romani erfolgt sein, die im Zuge der Neuordnung der Ämter den aediles curules übertragen worden waren. Den Spielen wurde Livius zufolge noch im Jahr 367 ein weiterer Tag hinzugefügt und die Qualität durch die Erweiterung um die ludi scaenici 364 deutlich angehoben.18 Gerade die alljährliche Abhaltung der Spiele dürfte die Ursprünge der spektakulären ludi scaenici konserviert haben. Hierauf verweisen nicht zuletzt die erstaunlichen Detailkenntnisse späterer Autoren bezüglich dieser Spiele sowie die Fähigkeit zur genauen Erläuterung ihrer Entstehungsgeschichte.19 Gerade die Veranstalter der jährlichen Spiele dürften ein Interesse daran gehabt haben, auf Tradition und Entstehungsgeschichte derselben einzugehen, um dadurch auch ihr eigenes Prestige zu heben. Die vom Forum ausgehende feierliche pompa, die im Circus Maximus endete, wo die Spiele nach Opfern stattfanden, bot zudem reichlich Raum für deren Verankerung und Lokalisierung im kollektiven und monumentalen Gedächtnis der Stadt Rom und seiner Bevölkerung.20 In diesem Rahmen erklärt sich möglicherweise auch die nur kurze Erwähnung der neugeschaffenen kurulischen Ädilität im Zuge der lex Furia de aedilibus curulibus, die unter anderem für die Ausrichtung der Spiele verantwortlich waren.21 Die Einführung dieses Amtes hat sowohl in den Quellen als auch in der Forschung nur geringe Aufmerksamkeit auf sich gezogen, bleiben die Ädilen doch ebenso wie die Prätoren bis ins 3. Jahrhundert weitgehend unter dem Radar der Überlieferung.22 Umso bemerkenswerter ist die relativ prominente Erwähnung der kurulischen Ädilen in den Jahren 367 und 364 sowie die Tatsache, dass der patrizische Exklusivanspruch auf die Magistratur innerhalb kürzester Zeit gebrochen wurde. Das
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nicht aus, s. Wissowa 1912, 328; Radke 1965, 94; Theriault 1996, 179–180; Curti 2000, 80–82; Clark 2008, 31–37; Hölkeskamp 2011, 239. Nach Muth 2014, 299–301 ist der Bau eines Tempels im Rahmen der Forumsgeschichte eher in der Mitte des 4. Jahrhunderts zu verorten, s. hierzu auch Muths Einschätzung im Rahmen des Projektes „Digitales Forum Romanum“ der Humboldt Universität zu Berlin. Smith 2015, 368–369 verweist dagegen auf den späteren Neubau des Tempels durch den Consul L. Opimius nach seinem Sieg über C. Gracchus und dessen Anhänger. Diese kontroverse Maßnahme nach der Ermordung römischer Bürger dürfte jedoch eher dazu gedient haben, die Kontraste zu früheren Bezügen zu schärfen und zu konservieren, Linke 2015, 63–64. Liv. 6.42.12–14, 7.2.3; vgl. Aug. civ. 2.8; Oros. 3.4.5. Die detaillierte Beschreibung der neu eingeführten ludi scaenici bei Liv. 7.2 und Val. Max. 2.4.4 (s. a. Tert. spect. 5.5 Hor. epist. 2.1.139–176) könnte auf Varros antiquitates divinae oder de originibus scaenicis zurückgehen, der offenbar in der Lage war, die genauen Umstände der Einführung zu recherchieren. Wiseman 1993, 13; Bernstein 1998, 119–129; Oakley 1998, 40–48, 776–778; s. a. Suerbaum 2002, 84–86, 146–150. Dion. Hal. ant. Rom. 7.72–73. Der religiöse Ursprung der Spiele (Liv. 7.2.2–3: inter alia caelestis irae placamina, ebenso Val. Max. 2.4.4 und Aug. civ. 2.8) macht einen Verweis auf die Ursachen der Einführung wahrscheinlich: Cic. leg. 2.22: ludis publicis … popularem laetitiam et cantu et fidibus et tibiis moderanto eamque cum divom honore iungunto; vgl. Cens. 12.2; Fest. 109L. Wiseman 2011, 281–285. Liv. 6.42.14; Lyd. mag. 1.38. Develin 1979, 21–24; Becker 2017, 120–123, der auch einen Überblick zur aktuellen Forschungs- und Quellenlage bietet: ebd. 18–34. Die kurulische Ädilität hat jüngst durch die Monographien von Daguet-Gagey 2015 und Becker 2017 größere Aufmerksamkeit erhalten.
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Beispiel der ludi Romani und aediles curules unterstreicht dabei die Aussagen der antiken Autoren, welche die Zäsur der leges Liciniae Sextiae nicht als eine ausschließlich um das Oberamt geführte Auseinandersetzung verstehen, sondern als grundlegende Reform mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen.23 5.2 Der Kampf um die leges Liciniae Sextiae Rückblickend musste dagegen die Einführung des Konsulats als überlagerndes Motiv und Erbe der Gesetze wahrgenommen werden. Diese Schwerpunktsetzung gilt es zu berücksichtigen, da die politischen Reformen lediglich einen Punkt der plebeischen Forderungen ausmachten. Im Gegensatz zur plebeischen Elite dürfte die breite Masse der plebs ein größeres Interesse an der Neuregelung der Schulden sowie der Landnutzung gehabt haben, das in der lex Licinia Sextia de aere alieno und der lex Licinia Sextia de modo agrorum zum Vorschein kommt.24 Angesichts der bereits erörterten prekären Lage der Bürgerschaft in den Siebziger- und Achtzigerjahren erscheint es daher angebracht, eine stärkere Verknüpfung der politischen und wirtschaftlichen Forderungen vorzunehmen und dabei die Umsetzung derselben in den Blick zu nehmen, da mit der Verabschiedung der Gesetze nicht automatisch eine Lösung der Probleme einherging. 5.2.1 Zehnjährige Auseinandersetzung um die Zulassung der Plebeier zum Konsulat Die vorangegangenen Auseinandersetzungen um die Verabschiedung der Gesetze findet in den Quellen, wie bereits gesagt, breite Beachtung. Plutarch und Zonaras bieten eine kurze aber anschauliche Zusammenfassung des Streits, während Livius diesen in den abschließenden Kapiteln 34 bis 42 seines sechsten Buches ausführlich behandelt und mit Reden und anderen narrativen Elementen ausschmückt.25 Besonders die Konfrontation zwischen Patriziern und Plebeiern ist hierbei bemerkenswert, die neben Camillus auch ein Mitglied der Claudii – Appius Claudius, Enkel des berüchtigten Dezemvirn – mit einer Rede gegen die plebs zu Wort kommen lässt.26 Angesichts der kunstvollen livianischen Schilderung des Konflikts, der hierbei auf verschiedene 23 24 25 26
Raaflaub 2005, 203; Lanfranchi 2015, 433–447. De Martino 1979, 183–193; Flach 1994, 280–297; Cornell 1995, 330–340; Hermon 2001, 155–170; Forsythe 2005, 261–267. Vgl. Linke 2011, 52–53. Develin 1986, 295–297; Oakley 1997, 695–712. Liv. 6.40–41. Neben der Aberkennung der religiösen Eignung der Plebeier aufgrund mangelnder auspicia stellt die Rede aber eine klare Absage gegen den Führungsanspruch der Tarquinii tribuni dar. Zur Einordnung dieses wohl nachträglich inkorporierten staatsrechtlichen Diskurses s. Linke 2014, 13–14.
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Elemente, wie die Töchter des M. Fabius Ambustus sowie die Figuren des M. Furius Camillus und des App. Claudius, zurückgreift, stellt das abschließende Kapitel des Konflikts eine Anomalie dar. Im Kontrast zu den vorherigen Ausführungen mangelt es diesem Kapitel an einer schmuckvollen Darstellung, da die Ereignisse lediglich stichpunktartig und lose vernetzt geschildert werden.27 Dies ist umso bemerkenswerter als dieses Kapitel gleichzeitig auch das sechste Buch abschließt. Auffällig ist zunächst der Verweis auf die Wiederwahl von tribuni militum consulari potestate, nachdem die Plebeier den Zugang zu den decemviri sacris faciundis errungen hatten, woraufhin alle Forderungen nach der Ernennung plebeischer Konsuln für den Moment ad acta gelegt worden seien.28 Laut der Überlieferung lag das Hauptinteresse der plebs bei der Verabschiedung der leges Liciniae Sextiae auf einer Verringerung der Zinslast29 und der Begrenzung des Besitzes – wahrscheinlich ging es hier um Obergrenzen zur Nutzung von ager publicus – auf angeblich 500 iugera pro Person.30 Nicht
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Liv. 6.42.9–14. Zum Aufbau s. Oakley 1997, 645–652, 651: „In sum, as we find so often, though the details of L.’s account are highly implausible, the outlines often seem quite credible or (at the very least) cannot shown to have been invented“. Liv. 6.42.1–3. Zudem berichtet Liv. 6.39, die plebs sei kurz in Versuchung geraten, die Forderung nach der Öffnung des Konsulats im Austausch für ökonomische Zugeständnisse fallen zu lassen. Vgl. Oakley 1997, 649–654. Savunen 1993, 147–149; Oakley 1997, 659–661; Gabrielli 2003a, 128; Lanfranchi 2015, 442–443; Bernard 2018, 66–69. Zur Obergrenze: Liv. 6.35.5; Varro rust. 1.2.9; Val. Max. 8.6.3; Colum. 1.3.11; Plut. Cam. 39.5–6; Plin. nat. 18.17; Vell. 2.6.3; Gell. 20.1.23. Nach Tibiletti 1948, 216, 228–229 sei die Obergrenze von 500 iugera erst später eingeführt worden, so auch Oakley 1997, 654–659, da ein Besitz in dieser Größenordnung für die Frühzeit als zu hoch angesehen wird. Die Regelung wird daher auf ein von Cato FRH 3 F 5.3 (= Gell. 6.3.37) für das Jahr 167 erwähntes, wahrscheinlich kurz zuvor erlassenes Gesetz bezogen, das vermutlich identisch ist mit der bei App. civ. 1.33 ohne nähere Datierung angeführten lex, die noch weitere Bestimmungen enthielt. Von dieser Annahme gehen auch Bringmann 1986, 51–66 und Flach 1990, 31–33, 1994, 285–294 aus. Beide versteifen sich aber darauf, dass die „Armen“ von den Reformen nicht hätten profitieren können, wogegen Linke 1995, 158–159 und Momigliano 2005, 178–181 zu Recht eingewandt haben, dass die Schlagkraft der Plebeier vor allem aus dem Zusammenspiel von plebeischen Eliten, Mittelschicht und verarmten Bürgern resultierte. Rathbone 2003, 149–150 verweist zudem darauf, dass die Nutzung als Weideland durch reiche Bürger deutlich mehr Fläche verschlang als die Subsistenzwirtschaft der einfachen Bürger. Die Erwähnung durch Cato spricht ebenfalls nicht zwangsläufig gegen die frühere Einführung. Schließlich war der ager publicus durch die Eroberung des ager Veientanus deutlich vergrößert worden, so dass mit dem Gesetz möglicherweise einer übermäßigen Bereicherung Einzelner ein Riegel vorgeschoben werden sollte; Cornell 1989b, 325–329, der auf die Notwendigkeit der Nutzung von ager publicus für Plebeier verweist, ebenso Forsythe 2005, 265–266. S. hierzu Capogrossi Colognesi 1988, 289; Hermon 2001, 143–170, Lanfranchi 2015, 433–438, Humm 2018, 79–83, die die Regelung von 366 als Durchsetzung der plebeischen Nutzung von okkupiertem Land verstehen. Vgl. Hölkeskamp 2011, Anm. 177. Für eine ausgiebige Thematisierung der Forschungsdiskussion s. a. Roselaar 2010, 95–109. Zu potenziellen Problemen dieser Interpretation s. Pelgrom 2012, 86–90. Zuletzt haben Goodchild/Witcher 2010, 194–198 darauf verwiesen, dass frühe Subsistenzwirtschaft in der angenommenen Form nicht ausreicht, um eine durchschnittliche Familie zu ernähren. In der Frühzeit ist daher von einer stärkeren Nutzung von ager publicus auszugehen, die von Goodchild/Witcher modifizierten höheren Ertragsraten und die stärkere wirtschaftliche Vernetzung der Produktion
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die Ansiedlung in neuen Gebieten, sondern die Umverteilung und gerechtere Nutzung des verfügbaren Landes bildete den Fokus der plebeischen Agenda.31 Darauf folgt dann jedoch relativ abrupt eine Kehrtwende, unterbrochen von einer kurzen Erwähnung erfolgreich abgewehrter Kelten durch Camillus, in deren Folge Livius die Zulassung der Plebeier zum Konsulat in knapper Form verkündet: Vixdum perfunctum eum bello atrocior domi seditio excepit, et per ingentia certamina dictator senatusque victus, ut rogationes tribuniciae acciperentur; et comitia consulum adversa nobilitate habita, quibus L. Sextius de plebe primus consul factus. – Liv. 6.42.9–10.
Im Grunde fasst diese Aussage die vorangegangenen, literarisch verfeinerten Ausführungen zu den Auseinandersetzungen um die leges Liciniae Sextiae treffend zusammen.32 Die Vermutung liegt nahe, dass hier ein Blick auf die eigentliche Informationsgrundlage des Livius gewonnen werden kann, die wohl auf einige dürre Notizen, möglicherweise in Form der annales maximi, zurückging.33 Die Benennung der plebeischen Erfolge in Kapitel 42 ist jedenfalls inhaltlich deutlich substantieller, wenn auch etwas zusammenhangloser, als die Auseinandersetzungen im Zuge des langen Kampfes der Plebeier gegen die Patrizier, den Livius entlang der zehn Volkstribunate des Licinius und Sextius strukturiert. Dagegen verweist Diodoros ebenfalls auf einen länger schwelenden Konflikt zwischen den verschiedenen politischen Akteuren, die denen bei Livius entsprechen. Diodoros muss hierbei auf eine Vorlage zurückgegriffen haben, die zumindest die eponymen Beamten kannte und über den politischen Konflikt in Rom informiert war.34 Letzterer brach laut Diodoros im Jahr 372/1 aus und wird von ihm als στάσις bezeichnet.35 Obwohl im Folgejahr Konsulartribunen gewählt wurden, weist sein Bericht eine weitere Eskalation auf, da für das Jahr 370/369 ἀναρχία διά τινας πολιτικὰς στάσεις konstatiert wird.36 Damit besteht ein gewisser Widerspruch zu Livius, nach dem das tribunizische Veto die Wahl von Magistraten für einen Zeitraum von fünf Jahren verhindert hätte.37 Anschließend verschwimmt der genaue Verlauf des innenpolitischen Streits in der livianischen Darstellung, bricht dann aber im achten
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sind eher für die mittlere Republik anzunehmen, s. Witcher 2016, 474–476. Terrenato 2012, 147–148 zur Zunahme mittlerer und kleiner Landgüter im selben Zeitraum. Burdese 1952, 52; Alföldy 1984, 29; Lanfranchi 2015, 438. Vgl. Hölkeskamp 2011, 28. Auch Claudius Quadrigarius FRH 14 F10a-b scheint die Einführung des Konsulats erwähnt zu haben, da Livius auf die falsch datierte Heldengeschichte um den Zweikampf des T. Manlius Torquatus im Kontext des Jahres 367 eingeht. Die Synchronisierung mit den athenischen Archonten weist die bekannte Diskrepanz zur varronischen Chronologie aufgrund der fehlenden Diktatorenjahre auf. S. Drummond 1978. Diod. 15.82.1 berichtet, dass im Jahr des Archon Charikleides (363/62) Konsuln in Rom gewählt worden seien. Diod. 15.61.1 ἐπ᾽ ἄρχοντος δ᾽ Ἀθήνησι Λυσιστράτου παρὰ Ῥωμαίοις ἐγένετο στάσις. Diod. 15.75.1 ἐπ᾽ ἄρχοντος δ᾽ Ἀθήνησι Πολυζήλου κατὰ μὲν τὴν Ῥώμην ἀναρχία διά τινας πολιτικὰς στάσεις ἐγένετο. Dieses Jahr sieht Oakley als einziges ohne Magistrate, Oakley 1997, 647–650. Liv. 6.35.10.
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Amtsjahr von Licinius und Sextius erneut aus und stimmt mit der finalen Konfrontation bei Diodoros überein. Der Vergleich der beiden Traditionen verweist vor allem auf die Tatsache, dass Livius den Konflikt um die leges Liciniae Sextiae bewusst als eine zehnjährige Einheit gestaltet hat, während Diodoros von einer Eskalation der politischen Krise um 372 bis 369 berichtet, deren Beilegung durch die Wahl von L. Sextius und L. Aemilius Mamercus im Jahr 367 erfolgte. 5.2.2 Die kurulische Ädilität und die Umsetzung der ökonomischen Forderungen Die politischen Forderungen bezüglich der Zulassung zum Konsulat wurden somit direkt realisiert, wohingegen die wirtschaftlichen Forderungen, die hauptsächlich für die hohe Mobilisierung der Plebeier verantwortlich gewesen sein dürften, größere Anstrengungen hinsichtlich ihrer konkreten Umsetzung erforderten.38 Es ist anzunehmen, dass diese Punkte sich dementsprechend nicht nur im Kontext der Durchsetzung der eigentlichen Gesetze, sondern vor allem auch in den anschließenden Handlungen der politischen Akteure niederschlugen. Dementsprechend auffällig ist der Mangel an Initiativen in der Folge der leges Liciniae Sextiae, denn erst in den Fünfzigerjahren werden Bemühungen in diesem Bereich fassbar. Offenbar blieb es zunächst bei einem Kompromiss zur Tilgung der bestehenden Schulden zu einem festgesetzten Zinssatz, der lediglich eine einmalige Behebung der zum Zeitpunkt des Plebiszits aufgelaufenen Schuldenlast bewirkte, ohne die grundsätzlichen Probleme der Neuverschuldung und der hohen Zinsen dauerhaft zu regeln.39 Die Frage der Landnutzung muss im Kontext dieser Problematik betrachtet werden, denn solange es nicht gelang, den plebeischen Forderungen nach einer gerechten Verteilung des ager publicus zum Durchbruch zu verhelfen, barg die unzureichende wirtschaftliche Basis plebeischer Familien das Risiko einer erneuten Verschuldung von Teilen der Bevölkerung. Trotz sukzessiver Bemühungen um die Erleichterung der 38
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Gell. 17.21.27; Val. Max. 8.6.3. Liv. 6.35.1 ist hier sehr präzise in der Benennung der Ursachen: occasio videbatur rerum novandarum propter ingentem vim aeris alieni, cuius levamen mali plebes nisi suis in summo imperio locatis nullum speraret: accingendum ad eam cogitationem esse. Dabei hat stets die Behandlung der politischen Forderungen die größte Aufmerksamkeit und übereinstimmende Anerkennung gefunden, was durch die Abstempelung der Regelungen zum Agrarbesitz als Anachronismus noch verstärkt wurde, s. etwa Heuss 2003, 27: „Die politische Seite der patrizisch-plebeischen Auseinandersetzung bildete, wenn vielleicht auch nicht von Anfang an, so doch mit Fortschreiten der Entwicklung, immer mehr die Dominante“. Handfeste wirtschaftliche Interessen und Forderungen machen dagegen Savunen 1993, 146–148; Oakley 1993, 20; Cornell 1995, 334–340; Hölkeskamp 2011, 61; Lanfranchi 2015, 441–445 geltend. S. a. Pikulska 2002, 172–182 zu den Folgen der Verschuldung für ärmere Bürger, deren wirtschaftliche Grundlage ohnehin prekär war. Liv. 6.35.1–6. Oakley 1993, 18–22; Cornell 1989b, 323–334; 1995, 330–333; Scullard 1991, 116; Hölkeskamp 2011, 96; Beringer 1961, 144 sieht hier eine dauerhafte Lösung, vgl. Savunen 1993, 151–152.
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Schuldenlast sollte dieses Thema erst mit dem 2. Samnitenkrieg und der großangelegten Versorgung von römischen Bürgern mit Land verschwinden.40 Folgt man nun der Annahme, dass 367 neben der Öffnung des Konsulats auch die Klärung der Schulden sowie eine Begrenzung der Landnahme durch die Oberschicht eine prominente Rolle eingenommen hatten, so ist davon auszugehen, dass konkrete Maßnahmen erforderlich waren, um diese Forderungen durchzusetzen. Den wohl berühmtesten Beleg für die Zurückhaltung sowohl der patrizischen als auch plebeischen Oberschicht in diesen Fragen sowie den anhaltenden Druck seitens der plebs bildet der Fall des C. Licinius Stolo, der zu Beginn der Fünfzigerjahre aufgrund seines eigenen Gesetzes angeklagt und verurteilt worden sein soll.41 Federführend sei hierbei der kurulische Ädil M. Popilius Laenas gewesen. Diese Information lädt dazu ein, die neueingeführte kurulische Ädilität im größeren Kontext der ökonomischen Forderungen der plebs zu betrachten. Hierbei ist vor allem der Unterschied zwischen den aediles plebis und den aediles curules zu betonen. Die Aufgaben der ersteren bestanden vor allem in der Pflege der plebeischen Spiele und Tempel, auch in späteren Jahrhunderten treten sie hauptsächlich in diesem Kontext in Erscheinung.42 Dieser spezielle plebeische Bezug schlägt sich auch in ihrer Wahl durch das concilium plebis unter Vorsitz der Volkstribunen nieder, während die aediles curules in den comitia tributa, meistens unter Vorsitz eines Konsuls, gewählt wurden.43 Bereits Mommsens Staatsrecht hat diese Unterscheidung betont und die Geschichte der Ädilität in eine frühe, plebeische Phase bis 367/366 und ein daran anschließendes Nebeneinander der kurulischen und plebeischen Ädilität bei gleichzeitiger Ausformung der Aufgabenbereiche unterteilt.44 Dagegen hebt Anne Daguet-Gagey die Ungleichheit der beiden Magistraturen hervor, da die aediles plebis streng genommen keine Beamten des gesamten populus Romanus waren und in Analogie zu den tribuni plebis betrachtet werden müssen.45 Ihre plebeische Sonderstellung erklärt auch das deutlich höhere Prestige der aediles curules. Diese wurden vom gesamten Volk gewählt und verfügten über die Insignien der sella curulis
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Savunen 1993, 148–156; Cornell 1995, 380–390. Liv. 7.16.9; Val. Max. 8.6.3; s. a. Dion. Hal. ant. Rom. 14.12. Daguet-Gagey 2015, 44–48; Piacentini 2018, 106–118, die allerdings nur die Zeit ab dem 2. Samnitenkrieg in den Blick nimmt. Zu den Multprozessen: Varro ling. 5.177: multa ea pecunia quae a magistratu dicta, ut exigi posset ob peccatum; Fest. 142L: Multam … M. Varro ait poenam esse, sed pecuniarum. Dion. Hal. ant. Rom. 6.90, 9.43, 9.49; Liv. 2.56.2–3; Plut. Mar. 5.1. Bleicken, 1995, 107; Becker 2017, 153–159. Zum Wahlvorsitz: Cic. Planc. 49. Mommsen RStR II, 470–522. Daguet -Gagey 2015, 12–30. Kunkel 1995, 474–477. Liv. 3.31; Dion. Hal. ant. Rom. 10.48. Soltau 1882, 19 u. 25–26 sieht die aediles plebis hier als den tribuni plebis untergeordnet an, vgl. dagegen Sabbatucci 1954 und Le Bonniec 1958, 355–357, die die religiösen Pflichten für die plebeische Sondergemeinde betonen, s. a. Mommsen RStR II, 470–480.
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und der toga praetexta sowie über das ius edicendi; zudem bildete dieses Amt die erste Stufe des cursus honorum.46 Damit unterschieden sich die plebeische und kurulische Ädilität aber auch hinsichtlich ihrer Vollmachten.47 Ein anfängliches Übergewicht der kurulischen Ädilen spiegelt sich dabei in ihrer viel größeren Prominenz ab 366 wider. Während sie regelmäßig durch Gerichtsprozesse auf sich aufmerksam machen, werden plebeische Ädilen in diesem Kontext erst für das Jahr 296 erwähnt.48 Diese späte Erwähnung lässt m. E. keine Rückschlüsse auf die vorangegangen 70 Jahre zu, da es erst im Zuge des 2. Samnitenkrieges, spätestens mit dem plebiscitum Ogulnium, zu einer erneuten Zäsur in der römischen Ämterordnung kam, die womöglich auch zu einer Aufwertung der plebeischen Ädilität führte.49 Es bleibt also zunächst die Beobachtung, dass für die Zeit zwi-
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Daguet-Gagey 2015, 120–197; Becker 2017, 159–167. Vgl. Mommsen RStR II, 480–489. Dagegen nimmt Kunkel 1995, 474–480 eine weitgehende Egalität an. Soltau 1882, 18–19 betont die Bedeutung der kurulischen Ädilen und deren ius edicendi, s. Zon. 7.15; Dion. Hal. ant. Rom. 6.90. Kunkel 1995, 489–504. In diesem Jahr wurden Multprozesse durchgeführt, die der Finanzierung der ludi plebeii dienten; Liv. 10.23.13. Piacenti 2018, 107. Dagegen waren die kurulischen Ädilen seit 366 aktiv, so verurteilte M. Popilius Laenas als kurulischer Ädil C. Licinius Stolo auf Grundlage seines eigenen Gesetzes (Liv. 7.16.9; Diod. 16.28.1; Dion. Hal. ant. Rom. 14.12; Cic. Brut. 56). Nach Liv. 7.28.9 kam es 344 zu einem nicht näher erläutertem ädilizischen Vorgehen gegen feneratores; aufgrund des patrizischen Interregnums ist von aediles curules auszugehen. Für das Jahr 331 berichtet Liv. 8.18.8, Q. Fabius Maximus sei gegen Giftmischer eingeschritten. Zwei Jahre später verklagte C. Valerius (cos. 331) den M. Flavius crimine stupratae matris familiae (Liv. 8.22.2–4; Val. Max. 8.1.abs.7). App. Claudius Caecus bekleidete die Ädilität gleich zweimal (CIL 12, 192 = CIL 11, 1827; Inscr. It. 13.3, Nr. 12; Ovid. Fast. 6.663). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts muss auch der berüchtigte L. Postumius Megellus die kurulische Ädilität bekleidet haben, da er im Jahr 307 aus Multgeldern die aedes Victoriae errichtete, Liv. 10.33.9. Wenige Jahre später, 304, machte der kurulische Ädil Cn. Flavius auf sich aufmerksam, indem er u. a. einen Schrein für Concordia errichtete. Die Ädilen für das Jahr 299 sind umstritten, doch berichtet Liv. 10.9.10–13 (= Macer FRH 17 F 20 und Tubero FRH 18 F 8), Q. Fabius Maximus und L. Papirius Cursor hätten auf den Konsulat verzichtet und seien stattdessen zu Ädilen gewählt worden. Da es sich bei den erwähnten Personen um Patrizier handelte, können diese nur die kurulische Ädilität innegehabt haben. Für den Neuaufsteiger M. Popilius Laenas wird dagegen explizit von der Bekleidung der kurulischen Ädilität berichtet, ebenso für die plebeischen Ogulnii 297, die Multgelder für Weihegeschenke und den Ausbau der Infrastruktur nutzten, Liv. 10.23.11–12. In diesem Jahr führten erstmals auch plebeische Ädilen Multprozesse durch, Liv. 10.23.13. Interessanterweise stehen die plebeischen Ädilen in einem klaren Wettstreit zu den kurulischen Ädilen, da sie Goldschalen im Ceres-Tempel aufstellten, nachdem die aediles curules u. a. Silbergefäße in der cella Jupiters niedergelegt sowie eine Bronzestatue der Romulus und Remus säugenden Wölfin aufgestellt hatten. Für einen vollständigen Überblick vgl. die fasti aedilici bei Seidel 1908. Eine Auflistung der wichtigsten Episoden samt Zeugnissen bietet Daguet-Gagey 2015, 169–175. Daguet-Gagey 2015, 48 führt die Egalisierung der plebeischen und kurulischen Ädilität auf die lex Hortensia zurück, mit der die Entscheidungen des concilium plebis qualitativ den übrigen Versammlungen angeglichen wurden. Hölkeskamp 1988, 66–67. Ab dem Jahr 297 bietet Piacentin 2018 einen guten Überblick über die unterschiedliche aber insgesamt ausgeglichene weitere Geschichte und Verbindung zwischen patrizischer und plebeischer Ädilität.
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schen 367 und 297 ausschließlich Inhaber der kurulischen Ädilität bekannt sind.50 Ihre Erwähnung in diesem Zeitraum bezieht sich dabei häufig auf Aktionen, die gegen die Oberschicht gerichtet sind. Hierbei handelt es sich um Gerichtsprozesse gegen den Missbrauch von ager publicus oder um die Verfolgung von Straftaten, die zur Zahlung von Multgeldern führten und zur Finanzierung öffentlicher Bauten genutzt wurden.51 Die Quellenaussagen widersprechen hier sowohl der Vorstellung von einer rein ‚verwaltungstechnischen Maßnahme‘ als auch einer bloßen Doppelung der Ädilität zum Ausgleich der Ständeinteressen.52 Gerade letzteres wäre schließlich durch zwei patrizische und zwei plebeische Ädilen gewährleistet gewesen und scheint zunächst auch angestrebt worden zu sein, da zunächst ein exklusiver Anspruch der Patrizier auf die Bekleidung der Magistratur bestand. Dieser hatte aber weniger als zwei Jahre Bestand, was zum einen auf die Bedeutung der damit verbundenen Aufgaben und Kompetenzen und zum anderen auf grundsätzliche Unterschiede zur plebeischen Ädilität verweist. Ansonsten hätte es schließlich keinen Grund gegeben, das Gleichgewicht von jeweils zwei patrizischen und plebeischen Ädilen in Frage zu stellen.53 Damit stellt sich zwingend die Frage nach den Motiven dieser Öffnung. Betrachtet man die kurulische Ädilität zunächst im situativen Kontext ihrer Einführung, so lässt sich das Amt zum einen als Antwort auf die gewachsene Bedeutung der Spiele, die eine hervorragende Möglichkeit zur Umwerbung der Wähler boten, zum anderen als Bestrebung zur Regulierung der Nutzung des ager publicus verstehen.54 Gerade die 50
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366 bekleideten die beiden Patrizier Cn. Quinctius Capitolinus und P. Cornelius Scipio das neue Amt, Liv. 7.1.2. M. Popilius Laenas ist 364 der erste bezeugte Plebeier (cos. 358, aedilis c. 357); s. Fest. 436L …. unc ludi, scenicos / s primum fecisse C. / alium, M. Popilium M. / ediles, memoriae / historici in Kombination mit Liv. 7.2 und Val. Max. 2.4.4. Der nächste bekannte Fall ist M. Valerius Corvus (cos. 348, 346, aedilis c. 345) der einundzwanzigmal kurulische Ämter bekleidete, basierend auf Plin. nat. 7.157, s. MRR I, 132. Beck 2005a, 169 Anm. 56 geht daher von zwei Amtszeiten als Ädil aus. Q. Fabius Maximus Rullianus bekleidete die Ädilität als erstes Amt (aedilis 331, cos. 322 MRR I, 143), dagegen übte C. Valerius die Ädilität wohl erst nach seinem Konsulat aus (cos. 331, aedilis 329). App. Claudius Caecus nutzte die Ädilität sowohl vor als auch nach seinem politischen Durchbruch (aedilis 313, CIL 12, 192; Inscr. It. 13.3.79; Ovid. fast. 6.66, cos. 307, aedilis 305). L. Postumius Megellus machte sich ebenfalls vor seinem Konsulat als Ädil einen Namen durch mehrere Multprozesse (aedilis 307, cos. 305). Mit Ausnahme der Wahl von 299 (Fabius Maximus und Papirius Cursor) scheint die Ämterlaufbahn mit Beginn des 3. Jahrhundert stabiler zu werden, da keine Konsulare unter den aediles curules auftauchen. Williamson 2014, 181–184 sieht dies als Folge der zunehmenden juristischen Regelung der inneren Konfliktfelder. Contra Becker 2017, 123–136 samt Literatur. Liv. 6.42.12–14, 7.1.2. Daguet-Gagey 2015, 30–35, 41–48. Develin 1979, 24 verweist auf das massive plebeische Übergewicht von 6 zu 2 in den Zyklen von zwei Jahren, basierend auf der Annahme, dass die beiden Magistraturen identische Möglichkeiten boten. Lintott 1999, 129 vermutet, dass die Öffnung des Amtes ursprünglich nicht vorgesehen war. Zu den Spielen: Bernstein 1998, 227–312; Brennan 2000, 63–65. Im Kontext der Eindämmung des Missbrauchs von ager publicus lässt sich vielleicht auch das cognomen des C. Licinius Stolo erklären: „Wurzelschoß“, nach Varro rust. 1.2.9 und Plin. nat. 17.7 jemand, der wilden Trieben zu Leibe rückt.
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überlieferten Multprozesse der Ädilen gegen Großgrund- und Viehbesitzer widersprechen hier für das 4. Jahrhundert der Annahme, es habe sich bei der kurulischen Ädilität um ein rein auf die urbs beschränktes Amt gehandelt.55 Die Prozesse betrafen schließlich einen Bereich, der außerhalb der Stadt und damit außerhalb des Zugriffs der Volkstribunen – und wahrscheinlich auch der plebeischen Ädilen – lag.56 In Kombination mit der Schuldknechtschaft, deren Ursachen auf das engste mit dem Zugriff auf Ackerflächen verbunden waren, bildete dieses Thema den zentralen Bestandteil der plebeischen Forderungen, die offenbar durch die Einsetzung der kurulischen Ädilen in Angriff genommen werden sollte.57 Möglicherweise ist in diesem Kontext auch die Einführung der Prätur samt ihrer Gerichtsfunktion zu verstehen.58 Im Vergleich zum Konsulat haben diese Ämter zwar deutlich weniger Aufmerksamkeit erregt und sind daher weniger gut bezeugt, doch legen die vorhandenen Zeugnisse eine Verortung der neueingeführten Ämter im Kontext der wirtschaftlichen Forderungen der plebs nahe.59 5.2.3 Etablierung eines neuen Führungszirkels Offensichtlich wurden die plebeischen Forderungen von einem Teil der Patrizier mitgetragen, die sich als Gegenleistung aber zunächst den Zugriff auf die zuständigen Magistraturen der kurulischen Ädilität und der Prätur sicherten.60 Solche patrizischplebeischen Kooperationen waren dabei nichts revolutionär Neues und tauchen bereits im 5. Jahrhundert auf, scheinen aber im Rahmen der beschriebenen Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts an Durchschlagskraft gewonnen zu haben. Die ‚progressiven‘ Patrizier erkannten offenbar einen politischen Vorteil in der
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So Becker 2017, 139. Vgl. die Anklagen der Ädilen gegen die widerrechtliche Aneignung von ager publicus außerhalb von Rom: Liv. 10.13.14, 10.23.13, 10.47.3 sowie die bereits erwähnte Verurteilung des C. Licinius Stolo. Bauman 1974, 245–264 hat auf die außerordentliche Qualität der Einführung der kurulischen Ädilität in Bezug auf Strafdelikte politischer Natur verwiesen, vgl. Liv. 6.38.9 zur Verurteilung des M. Furius Camillus aufgrund seiner Opposition zu den leges Liciniae Sextiae. Lintott 1999, 131–133 zur Oberaufsicht der Ädilen über die Infrastruktur der Stadt, nach Daguet-Gagey 2015, 335–451 war dies aber eine spätere Entwicklung. Stewart 1998, 134–136 sieht eine Verbindung zwischen der Prätur und der plebeischen Agitation zur Schuldenreduzierung: „Plebeian political initiatives and the praetorian imperium met on the issue of debt.“, 134; s. a. Hermon 2001, 170. Die früheren Ansichten bezüglich einer stärkeren Fokussierung des Prätors auf die Rechtsprechung, etwa De Martino 1972, 420–429, sind zurückgewiesen worden, s. nur Brennan 2000, 61–64; Beck 2005a, 64–66; Bergk 2011, 65–72. Vgl. Hölkeskamp 2011, 107–108. Dagegen Hölkeskamp 2011, 39: „Die patrizische Führung hatte versagt, so daß der schon nicht mehr unumstrittene Monopolanspruch weiter an Legitimität einbüßte …“. S. a. Develin 2005, passim; Armstrong 2016a, 275. Es ist zusätzlich davon auszugehen, dass die patrizischen Falken nicht mehr in der Lage waren, die eigene Gruppe zusammenzuhalten, hierzu Linderski 2005, 228–230.
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Allianz mit den aufstrebenden Plebeiern und möglicherweise auch die Notwendigkeit von Reformen angesichts der Missstände und der Unzufriedenheit.61 Die Einführung der neuen Ämter und Regelungen führte aber nicht über Nacht zur Schaffung stabiler Verhältnisse, sondern zunächst zur Entstehung von Handlungsspielräumen und zum Austesten der noch nicht verfestigten Regeln. Der Konsulat bildete im Rahmen dieser Entwicklung die wesentliche Institution mit politischer Gestaltungskraft.62 Da Iterationsverbote erst nach und nach durchgesetzt wurden und die Zusammensetzung des Senats nach Cornell in beträchtlichem Umfang von den Konsuln gestaltet werden konnte, musste dem Oberamt eine überragende Bedeutung zukommen, zumal es selbst unter Berücksichtigung der Prätur zu einer zahlenmäßigen Reduktion der Imperiumsträger im Vergleich zu den tribuni militum consulari potestate gekommen war. Die verhältnismäßig hohe Machtkonzentration in den Händen der Konsuln, dürfte diesen einen erheblichen Spielraum zur Durchsetzung politischer Ziele geboten haben. Dies deckt sich mit den Überlegungen Hölkeskamps zur intensiven, inhaltlich aufgeladenen Politik als Charakteristikum der Frühen Republik.63 In diesem Zusammenhang sollten die Auswirkungen der gesetzlichen Verankerung einer exklusiven patrizischen und plebeischen Konsulatsstelle nicht unterschätzt werden, da hierdurch der Wettbewerb der nobiles in die jeweiligen Gruppen der Patrizier und Plebeier zurückverlagert wurde. Um sich im Rahmen des komplementären parallelen Wettstreits um die ‚eigene‘ Stelle durchzusetzen, dürfte es nahegelegen haben, Allianzen mit den Bewerbern um die andere Stelle zu schließen, was sich besonders zu Beginn in ‚Pärchenbildungen‘ und ‚Geschlechternestern‘ niederschlägt.64 Auffällig ist in diesem Kontext, dass die vorliegenden Informationen zu den Amtsträgern keine Erweiterung der Führungsschicht, sondern eine Kontraktion anzeigen. Wiederkehrende
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Cassola 1988, 462–464; Hölkeskamp 2011, 74–75: „Ein derartiges Zusammengehen scheint sich zwischen 366 und 356 zwischen Aemilius, Servilius und Sulpicius einerseits und Sextius, den beiden Licinii und Genucii andererseits und dann zwischen den Patriziern M. Fabius und Cn. Manlius und den Plebeiern C. Poetelius, M. Popilius, C. Plautius und C. Marcius ergeben zu haben.“ Yakobson 2010, 285: „precisely by assuming that the popularis politicians’ motives were often largely opportunistic that we can best appreciate the people’s clout in Republican politics“. Eine enge Kooperation der ersten Konsuln der Sechzigerjahre wird allgemein angenommen, s. etwa Staveley 1983, 52–54; Develin 1985, 176–179; Cornell 1989, 344–345; Stewart 1998, 151–59; Forsythe 2005, 269–270. Beck 2005a, 29–30, 2011, 81–90; s. a. Pina Polo 2011, 97–115. Vgl. Kapitel 1, S. 8 mit Anmerkungen. MRR I, 114–121; so schon Münzer 1920, 10–21; Cornell 1995, 343; Stewart 1998, 155–163; dagegen Develin 1985, 176–177, der die Annahme einer factio ablehnt, aber eine Kooperation aus politischem Kalkül heraus für möglich hält, s. a. ders. 2005, 303: „Nothing of a factional nature can sensibly be made of the evidence. What we do see is the possibility that some plebeians at least might work with patricians to assuage popular anger, yet all plebeians might unite against patrician attempts to return to a monopoly of the consulship.“, s. a. Hölkeskamp 2011, 42–49. Bernardi 1946 sah die leges Liciniae Sextiae vor allem als Verbot gegen zwei patrizische Konsuln, was eine Kooperation erzwang.
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Konsuln müssen es demnach geschafft haben, einerseits ausreichend starke Koalitionen zu schmieden und andererseits ausreichend Unterstützung in der Volksversammlung für sich zu mobilisieren, insbesondere in der erwartungsgeladenen Zeit nach den leges Liciniae Sextiae. Das uns vorliegende Bild der Fasten präsentiert jedenfalls eine klare Machtkonzentration in der vergleichsweise überschaubaren Gruppe der patrizisch-plebeischen Amtsträger.65 Aus dieser Perspektive betrachtet fällt vor allem die dramatische Zäsur in der Zusammensetzung der Magistrate ab 367 auf, die sowohl plebeische als auch patrizische Beamte betrifft: Mit Ausnahme des Licinius, der bereits zuvor das Konsulartribunat bekleidet hatte, waren die plebeischen Konsuln erwartungsgemäß ‚Newcomer‘, doch setzten sich auch die patrizischen Konsuln aus Personen zusammen, die zuvor keine große politische Rolle gespielt hatten.66 Ausnahmen bilden hier L. Aemilius Mamercus (trib. mil. 377),67 C. Sulpicius Peticus (trib. mil. 380)68 und die Zensoren des Jahres 363, M. Fabius Ambustus (trib. mil. 381 und 369) und L. Furius Medullinus (trib. mil. 381 und 370)69, wobei diese sich schon vor dem Beginn der Auseinandersetzung 376 durch eine moderate Politik des Ausgleichs ausgezeichnet hatten.70 Neben der ‚plebs-freundlichen‘ Haltung dieser Patrizier ist auch die berichtete Verschwägerung der Hauptakteure von Interesse: die beiden Töchter des Q. Fabius Ambustus waren mit Ser. Sulpicius und C. Licinius Stolo verheiratet.71 Da die Sulpicii in der Folge der Wiedereinführung des Konsulats mehrmals in den fasti consulares auftauchen, darf man mit großer Sicherheit ihre Kooperation bei der Umsetzung des Reformpakets
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Rilinger 1978, 273–275. Es entstand somit quasi eine Vorstufe der Kooperation und späteren Komplementarität von Konsens und Konkurrenz der Nobilität, s. Hölkeskamp 2006, 377–385. Liv. 6.39.4 zu Licinius’ Konsulartribunat. Ein jüngerer Verwandter des erfolgreichen L. Aemilius Mamercinus (Trib. Mil. 391, 387, 383, 382, 380). Möglicherweise hatten sich die Aemilii in der Auseinandersetzung um das tributum und die Schuldenfrage 380 (Liv. 6.27, s. a. 6.31.4) auf die plebeische Seite geschlagen und in der Folge an Einfluss verloren. Das einsame Konsulartribunat des L. Aemilius Mamercus am Vorabend der Licinisch- Sextischen Agitation ist für sich selbst genommen nicht sehr aussagekräftig, angesichts des gemeinsamen Konsulats mit L. Sextius 366 darf man hier aber eine Verbindung, zumindest aber einen moderaten Patrizier vermuten. Develin 1979, 32–36, zu der Zuordnung der einzelnen Aemilii in diesem Zeitraum s. Klebs RE 1 (1894), 569–570. Der außerordentlich erfolgreiche Patrizier C. Sulpicius Peticus, der Kollege des C. Licinius Stolo in dessen erstem Konsulat 365, erlebte in seiner einzigen Amtszeit als tribunus militum consulari potestate im Jahr 380 ebenfalls die plebeische Verweigerung des tributum (Liv. 6.27.3–4; Diod. 15.50.1). Da er erst 366 wieder in Erscheinung tritt, könnte auch er sich durch eine moderate Position ausgezeichnet haben. s. Münzer RE 4.1 (1931), 817–820; Hölkeskamp 2011, 42–44; 49. Das Amt bleibt bis in die Fünfzigerjahre eine rein patrizische Domäne, die nur ausgewählten und verdienten Persönlichkeiten offenstand, wobei auffällt, dass auch hier die patrizischen (!) Profiteure der leges Liciniae Sextiae den census durchführten. S. Inscr. It. 13.1.34–45, 104, 401–404. MRR I, 114–122. Liv. 6.34.5–11. Cass. Dio 7 Frg. 29; Zon. 7.24. Zur Diskussion der Rolle der Fabia Minor s. Kraus 1991. S. a. Develin 1986, 302; Kowalewski 2002, 138–143.
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annehmen.72 Licinius soll zudem eng mit einem Cornelius verwandt gewesen sein.73 Die Heiratsverbindungen untermauerten dabei die sehr gute Vernetzung des neuen Führungszirkels und nahmen im Streit um die plebeischen Forderungen eine durchaus prominente Rolle ein: Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung wurde der konfrontationsbereite dictator Furius Camillus abberufen und stattdessen P. Manlius zum dictator ernannt. Dieser erhob C. Licinius als ersten Plebeier zu seinem magister equitum, wobei er patrizischer Kritik damit begegnete, dass Licinius ihm propinqua cognatione verbunden sei.74 Hölkeskamp hat angesichts dieser patrizisch-plebeischen Heiratsverbindungen auf die Komplexität der Gruppenkonstellationen innerhalb der römischen Elite verwiesen, der weder eine simple Einteilung in Patrizier und Plebeier noch Münzers Einteilung in eine Aemilisch-Servilische und eine Fabisch-Manlische Partei gerecht wird.75 Zumindest die politische Dividende der Kooperation zwischen einigen Plebeiern und Patriziern steht außer Frage: Sechs patrizische Konsuln bekleideten jeweils bis auf C. Fabius wiederholt den Konsulat in den Jahren 366 bis 356.76 Der Eindruck des plebeischen Erfolges darf folglich nicht den Blick auf die Partikularinteressen der beteiligten Akteure verstellen, die im Falle der angesprochenen Patrizier enormes individuelles politisches Kapital aus der Einigung von 367 schlugen.77 Im direkten Vergleich mit ihren plebeischen Amtskollegen war die Konzentration der Ämter bei diesen Patriziern höher und stabiler, wobei davon auszugehen ist, dass dieses Ungleichgewicht noch stärker ausfiel, da die Bekleidung der neu eingeführten Prätur bis 337 ausschließlich Patriziern vorbehalten blieb.78 Dementsprechend waren einige Patrizier höchst erfolg-
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Hölkeskamp 2011, 49. MRR I, 116–119 zu den Sulpicii. Liv. 5.12.12. Münzer 1920, 13. Anders als die narrativ ausgeschmückte Diktatur des Camillus bleibt die Amtszeit von Manlius und Licinius ein Enigma, sie werden allerdings mit der Beruhigung der inneren Unruhen kreditiert. Liv. 6.39.1–4; Fast. Cap. ([--Ca]pitolinus seditionis sedandae et rei gerendae causa) Cass. Dio. 7 Fr. 29; Plut. Cam. 39.5. S. a. Hartfield 1982, 365. Hölkeskamp 2011, 53 gegen Münzer 1920, 13–15. Stewart 1998, 152. L. Aemilius Mamercus (366, 363); Q. Servilius Ahala (365, 362); C. Sulpicius Peticus (364; 361); M. Fabius Ambustus (360, 356); Cn. Manlius Capitolinus (359, 357), C. Fabius (358). Damit bekleideten die Fabii insgesamt drei Konsulate, Cornell 1989b, 344. Münzer 1920, 11–12 meinte, in der Regelung ein ausgeklügeltes Arrangement erkennen zu können. Insofern stellt die Ablösung der patrizischen ‚Oligarchie‘ durch eine patrizisch-plebeische Gruppierung keine quantitativ breitere, sondern lediglich eine qualitative Veränderung der Zusammensetzung des Oberamtes dar, wodurch der Konkurrenzdruck in den jeweiligen Gruppen zunahm. Vgl. Develin 1979, 49, 2005, 302–304; Yakobson 2006, 386–387; Hölkeskamp 2011, 84–86; Oakley 2014, 20–21. Cornell 1995, 342: „disappearing patrician gentes include the Horatii, Lucretii, Menenii, Verginii, Cloelii, and Geganii […] One could add the Sergii and the Julii who came in from the cold only at the end of the Republic.“ Gleiches lässt sich für weitere alte Patriziergeschlechter wie den Claudii und Papirii feststellen. Liv. 6.42.11. Develin 1985, 177 weist der Prätur eine wesentliche Rolle bei der Pazifizierung innerpatrizischer Streitigkeiten zu, da die patrizische Ämterzahl damit stabil blieb. Brennan 2000, 62–65 verweist auf die Gleichrangigkeit und die Kompensation der Patrizier für die Abgabe einer Konsu-
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reich darin, ihre Privilegien zu schützen, verblieben doch am Ende des Tages zwei der drei Oberämter in ihrer Hand.79 Damit zeichnet sich hier ein gemeinsames Vorgehen von aufstrebenden Patriziern und Plebeiern gestützt auf die Forderungen großer Teile des populus ab. Angesichts der Tatsache, dass die erfolgreichen Akteure der leges Liciniae Sextiae sich vor allem aufgrund der Vertretung plebeischer Forderungen nach politischer Gleichberechtigung und Verbesserung ihrer ökonomischen Lage profilieren konnten, darf man davon ausgehen, dass die Zustimmung der Wählerschaft auch in der Folge eine wesentliche Rolle spielte. Geht man in diesem Kontext von einem erweiterten Handlungsspielraum der neuen Imperiumsträger aus, so müsste man im Umkehrschluss auch annehmen, dass der Erwartungsdruck gegenüber diesen seitens der sie wählenden Bürger zunahm, zumal die politischen und wirtschaftlichen Forderungen derselben die veränderten Bedingungen überhaupt erst herbeigeführt hatten. Wahlen waren aber bereits zuvor abgehalten worden, so dass der qualitative Unterschied ab 366 in der gesetzlich verankerten Zulassung der Plebeier zum Konsulat und dem damit verbundenen Verzicht der Patrizier auf ihre Blockademittel beruhte.80 Einmal zugelassen, konnten die vormals praktizierten Exklusionsstrategien aber ebenso gut von den neu hinzugekommenen Plebeiern und den mit ihnen verbündeten Patriziern genutzt werden, um sich mittels der Kontrolle der Oberämter dauerhafte Vorteile im politischen Wettbewerb zu sichern. Zuletzt hat Mouritsen noch einmal überzeugend die Möglichkeiten für eine ‚oligarchische‘ Politik innerhalb des römischen politischen Systems zusammengefasst.81 Obwohl er klar einschränkt, der populus sei letztendlich souverän und Quelle jeglicher Legitimation, wird dennoch von einer eher schwach ausgeprägten
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latsstelle. Eine Unterordnung der Prätur unter den Konsulat ist erst in der Folge des 1. Punischen Krieges und der Einführung des praetor peregrinus erfolgt, so dass man eher von einem dreistelligen Oberamt auszugehen hat: das imperium des Prätors machte ihn de facto collega consulis, s. Messalla in Gell. 13.15.4. Bunse 2002, 43 betont aber die minor potestas im Vergleich zu den Konsuln, auch wenn er wie die consules in den comitia centuriata gewählt wurde, Liv. 8.32.2–3; Gell. 13.15.6. Der praetor peregrinus wurde wohl 244 eingeführt, s. Liv. Per. 19; Lyd. mag. 1.38; Digest 1.2.2.2. Brennan 2000, 94–95; Bergk 2015, 62–71. Zwar profitierten auch hier einzelne Geschlechter überproportional während andere untergingen, doch scheint der Wettkampf innerhalb der Patrizier zunächst weniger dramatisch gewesen zu sein als bei den Plebeiern; Develin 1985, 183–186. Ein Grund für die patrizische Dominanz könnte in ihrem exklusiven Anspruch auf die auspicia begründet liegen, laut Linderski 1990 wurde der Zugang der Plebeier und die Kontinuität der auspicia durch die patrizische Konsulatsstelle gesichert, s. a. Develin 2005, 300, Bunse 2005, 17–19; Lanfranchi 2015, 320–325. Mitchell 1990, 64–130 betont die sakralen Privilegien und Priestertümer der Patrizier im Zusammenhang mit dem Senat, ebenso Bunse 2005, 17–21. Graeber 2001, 88–94 wiederum betont die Kompetenzen des Senats in Form der patrum auctoritas. Dagegen sieht Armstrong 2016a, 231–232 eher die militärische Kompetenz der Patrizier und ihre Rolle als Führer persönlicher Aufgebote als ausschlaggebend für ihren Erfolg in der ursprünglich als Heeresversammlung kreierten comitia centuriata an. Mouritsen 2014, bes. 148–155. S. hierzu den Überblick und die Kritik von Millar 2002, 138–156 sowie jetzt Hölkeskamp 2020, 13–29.
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Handlungsdisposition ausgegangen, was die Kontrolle durch die Versammlungsleiter ermöglicht habe.82 Letzteres trifft für die Frühe Republik mit ihrer inhaltlich aufgeladenen Politik jedoch nur in geringem Maße zu, so dass der Einschränkung von Yakobson zu folgen ist, es habe zwar Möglichkeiten zur Etablierung oligarchischer Strukturen gegeben, doch seien diese in erheblichem Maße von der Gunst und den Interessen des Wahlvolkes abhängig gewesen.83 Für das neukonstituierte politische Feld in den Sechzigerjahren des 4. Jahrhunderts bietet sich eine Zusammenführung der beiden Positionen an, da wir eine durch die fasti consulares klar belegte, kleine oligarchische Gruppe beobachten können, die sich mithilfe einer ‚populistischen‘ Politik an die Macht gekämpft hatte. Dort angelangt, hatte diese Gruppe nur geringe Schwierigkeiten, ihren politischen Partnern und Verbündeten in den Versammlungen eine günstige Ausgangsposition zu verschaffen, da die umfangreichen Kompetenzen des Wahlleiters die selektive Rahmung des Wahlprozesses erlaubte.84 Der Reiz des Konsulats dürfte dabei in der Verfügung über die gemeinschaftlichen Ressourcen, nicht zuletzt über das militärische Aufgebot, bestanden haben. Eine solche Position wies den Konsuln die entscheidende Rolle bei der Verteilung von Ressourcen innerhalb der Bürgerschaft zu und erlaubte ihnen dabei, ihre eigenen Netzwerke und clientelae zu pflegen. Terrenato hat in diesem Kontext auf die Verfolgung von Familienagenden durch die Konsuln mithilfe der gemeinschaftlichen Mittel hingewiesen, die es auch ermöglicht habe, überregionale Beziehungen aufzubauen.85 Auch wenn die in diesem Kontext postulierte Loslösung der Kriegsführung von den Präferenzen und Erwartungen der Bürgerschaft problematisch ist, liegt Terrenato in der Feststellung bedeutender Handlungsspielräume seitens der Konsuln aber sicherlich richtig. Notwendige Voraussetzung und Bedingung für die Ausübung
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Zu den weitreichenden Kompetenzen der die Versammlungen leitenden Magistrate s. Rilinger 1976, 63–91, 143–151; Kunkel 1995, 71–86; Stewart 1998, 139–158; Lintott 1999, 40–60; MorsteinMarx 2004, 40–41; Bleicken 2004, 177–179; Hölkeskamp 2011, 62–67. Hall 1964, 269–273 macht vor allem den Wahlprozess sowie die Erfassung der Bürger in Wahleinheiten für die Manipulationsanfälligkeit verantwortlich. Yakobson 2004, 8, 2006, 394. Nur so ließen sich die Versuche der massiven Beeinflussung überhaupt erklären; Ders. 2010. Auch Beck 2005a, 41–42 verweist auf die potenzielle Dynamik der Volksversammlungen: „[…]Spannungsfeld zwischen der Stabilität des Wahlprinzips und seiner inneren Dynamik aufmerksam gemacht werden“. Vgl. Tatum 2009, 220–225, Hölkeskamp 2004b, 268–269; s. a. Hopkins/Burton 1983, 44–45. Hölkeskamp 2011, 96–106 verweist auf die dynamische bis volatile Lage nach der Einigung von 367/66, die sich vor allem aus der Politisierung der Bürgerschaft ergab und mit konkreten Forderungen aufwartete. Rilinger 1976, bes. 52; Jahn 1970, 64–67. Vgl. Jehne 1995, 3–4 zum Einfluss des Patronagesystems auf die Wahlversammlungen. In gewisser Weise kreierte das Versprechen der Umsetzung der plebeischen Forderungen ein Vorschuss-Patronageverhältnis. Zu dem Wahlvorgang s. Staveley 1972, 160–181 sowie 191–216, zu möglichen Manipulationen Lintott 1999, 43–49, 61–64. Stewart 1998, 155 „Electoral procedure had no formal definition in the fourth century and facilitated collaboration among would-be colleagues“. Terrenato 2014, passim, 2019, 155–193.
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des Konsulats blieb dabei aber die Rückendeckung durch einen signifikanten Teil der Wählerschaft.86 Die Verfolgung einer volksfreundlichen Politik wurde damit zum entscheidenden Kriterium des Wahlerfolges. 5.3 Die militärische Lösung der Verteilungsfrage Die Reformen und die neue Konstellation der Sechzigerjahre führten zu einer Machtkonzentration im Rahmen der wenigen patrizischen und plebeischen Konsuln, die allem Anschein nach eine enge Kooperation eingegangen waren. Bei den Plebeiern wechselten sich zunächst die Licinii und Genucii in der Bekleidung des Konsulats ab, während die mit den Licinii verschwägerten M. Fabius Ambustus und C. Sulpicius Peticus eine führende Rolle unter den Patriziern einnahmen. Diese Gruppe sollte von 366 bis 359 erfolgreich die Oberämter dominieren, wobei anzunehmen ist, dass gerade die Notwendigkeit der politischen Umsetzung des verabschiedeten Gesetzespakets die ungewöhnliche Konstellation an der Spitze der res publica Romana ermöglichte.87 Diese These wird durch das Ausbleiben militärischer Operationen in den Jahren 366 bis 362 unterstrichen, was impliziert, dass die Konsuln in der Stadt Rom anwesend waren.88 Trotz der vermeintlichen Ruhe vor äußeren Konflikten weist dieser Zeitraum auch eine militärische Dimension auf, da es im Kontext der Neuordnung der Oberämter zur erstmaligen Wahl von tribuni militum durch das Volk im Jahr 362 kam.89 5.3.1 Der geplante Krieg – Rom und die Herniker Die militärischen Aktivitäten dieser Jahre scheinen vor allem die Reorganisation und den Ausbau des Bürgeraufgebots betroffen zu haben. Nach der communis opinio sei es als Folge der leges Liciniae Sextiae zur Teilung der legio gekommen, so dass jeder Konsul eine Hälfte des Heeres kommandierte und die Legion zur taktischen Einheit
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Yakobson 2006, 387–388. Münzer 1920, 10–13; Toynbee 1965 I, 321–323; Develin 2005, 301–303; Stewart 1998, 153. Cornell 1995, 324. Abgesehen von gelegentlichen keltischen Überfällen war die militärische Lage stabil. Satricum war im Jahr 377 pazifiziert worden (Liv. 6.32.4–33.5) und Velitrae 380 (Liv. 6.29.6; Plut. Cam. 42.1) sowie 371/370 (Liv. 6.36.1–9; 6.37.12; 6.42.4), vgl. Diod. 14.102.4. Sohlberg 1991, 261–262, 268; Clark 2016 argumentiert, tribuni militum seien im späteren klassischen Sinne erst 311 gewählt worden. Allerdings muss dies nicht zwangsläufig ausschließen, dass Liv. 7.5.9 Bezug auf eine frühere militärische Reorganisation nimmt, in deren Zuge die Plebeier ein größeres Mitspracherecht bei der Auswahl der Offizier erlangten. So z. B. Kromayer/Veith 1963, 261–277; Brizzi 2002, 31–37; Armstrong 2016a, 248; s. a. Anm. 100 in diesem Kapitel. Feeney 2010 verweist auf die enge Verbindung des Militärtribunats mit der gens Manlia, s. Claudius Quadrigarius FRH 14 10a/b (= Liv. 6.42.5; Gell. 9.13.4–19) = FRHist 24 F6; vgl. Anm. 119 in diesem Kapitel.
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wurde.90 Im Vergleich zu dem Aufbau der Armee unter den tribuni militum consulari potestate könnte sich daraus eine stärkere Konzentration der militärischen Kräfte in zwei Einheiten ergeben haben, die wahrscheinlich auch zahlenmäßig verstärkt wurden. Dies dürfte teils durch die Erfassung und Eingliederung der Neubürger von 386, teils durch die Heranziehung von Mittel- und Leichtbewaffneten aus den Reihen der Plebeier erreicht worden sein.91 Folglich stellt sich hier die Frage nach der Mobilisierungsbereitschaft dieser Bürger, die im Gegensatz zu der schweren Infanterie, deren Militärdienst zudem mit klaren politischen Privilegien in den comitia centuriata verbunden war, ein größeres persönliches Risiko auf dem Schlachtfeld eingingen, da sie über eine höchstens mittelmäßige Ausrüstung verfügten.92 Geht man davon aus, dass die Reorganisation und Aufstockung mit der Einführung des Konsulats 367 erfolgte, so ist eine längere Erfassung und Reorganisation des Aufgebots anzunehmen. Da sich die neuinstallierte plebeisch-patrizische Elite zu diesem Zeitpunkt keinen militärischen Handlungszwängen ausgesetzt sah, waren die Voraussetzungen dafür gegeben.93 Die Einführung der Wahl der Militärtribunen durch das 90
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Fraccaro 1931, 91–97. Lyd. Mag. 39.25, 40.3 spricht von 12 tribuni militum kurz nach der Einführung des Konsulats und nennt zudem den praetor und die kurulischen Ädilen. Pinsent 1975, 58–60 geht in diesem Kontext von einer Verstärkung der Legionsstärke aus, ebenso Last 1945, 42; Keppie 1987, 19; Drummond 1989b, 165; Forsythe 2007a, 35; Sage 2013, 220. Sumner 1970, 71–72 geht von einer Verdopplung unter Reduktion der Kampfstärke der Legion aus. Armstrong 2016a, 246–248 hat in der Aufstockung eine durchgreifende Reform zur Mobilisierung des durch den ager Veientanus vergrößerten Gebiets gesehen, die im Kontext der Konsulatseinführung stattgefunden habe, s. a. Armstrong 2017, 140–145; Sage 2013, 217–218. Die römische Legion entfernte sich damit schrittweise von der Hopliten-Kampfweise. Toynbee 1965 I, 505–518 für eine traditionellere Einschätzung, während Armstrong 2016a, 111–128 die Hoplitenausrüstung eher im Kontext mobiler ‚Kriegsbanden‘ verortet. Losgelöst von dieser Diskussion dürfte eine lockere Kampfform und weniger kostenintensive Ausrüstung eine stärkere Mobilisierung von Plebeiern erlaubt haben, s. Armstrong 2016a, 256–268, bes. 264 und die Egalisierung der Kriegsführung bei Kienast 1975, 103–109. Sage 2013, 222–223 vermutet, dass es im Zuge der Erweiterung zur Formierung der hastati aus Leichtbewaffneten kam, die Aufgaben in der Hauptkampflinie übernehmen konnten. Zhmodikov 2000 und Sabin 2000 haben die Bewertung der Kampfweise der römischen Legion grundlegend verändert, indem sie die Bedeutung des Wurfgefechts in den Vordergrund gerückt haben. Der Großteil der Leichtbewaffneten dürfte dabei aus den weniger wohlhabenden Schichten rekrutiert worden sein, s. hierzu Quesada Sanz 2006, 7–8; Taylor 2014, bes. 116–117. Laut Armstrong 2016a, 260–269 wurden die Grundlagen hierfür Mitte des 4. Jahrhunderts geschaffen. Nach Varro ling. 5.116, wurde das Kettenhemd von den Kelten übernommen. Allerdings führt Pol. 6.23.14 aus, dass loricae nur von denjenigen getragen wurden, deren Besitz auf über 10.000 Drachmen geschätzt worden war, während bei den hastati οἱ πολλοὶ den Pectorale, trugen, s. a. Liv. 1.43; Dion. Hal. ant. Rom. 4.16–18. Zu den variierenden Risiken und Gewinnaussichten der unterschiedlichen Truppentypen der Legion s. Helm 2019. Dies entspricht Hölkeskamps These von der konstruktiven Pazifizierung der inneren Auseinandersetzungen durch die äußere Bedrohung, deren Nachlassen im Umkehrschluss eine Intensivierung der inneren Konflikte nach sich ziehen konnte; vgl. Hölkeskamp 2011, 74. Eine von Liv. 7.2.1 erwähnte pestilentia, die zu dem dritten Lectisternium und der Einführung der ludi scaenici führte, was für die Authentizität der Seuche spräche, könnte zur anfänglichen militärischen Passivität beigetragen haben.
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Volk im Jahr 362 wäre dann als Schlusspunkt dieses Vorgangs anzusehen.94 Die Wahl von immerhin 12 Vertretern dürfte hierbei der stärkeren Berücksichtigung der Bürgerschaft sowie der aktiven Bürgersoldaten gedient haben, um den Einfluss der Kommandeure gegenüber sozial schwächeren Truppenteilen in Grenzen zu halten.95 Möglicherweise sollte hiermit auch eine stärkere Kontrolle bei der gemeinschaftlichen Verteilung der Beute durch vom Feldherrn unabhängige Repräsentanten geschaffen werden.96 Es ist davon auszugehen, dass die stärkere Mobilisierung der Bürgerschaft konkreten Zielen diente. Dieser Verdacht wird durch Livius erhärtet, der schon unmittelbar nach Einführung des Konsulats Gerüchte über eine Hernicorum defectio erwähnt, ohne jedoch konkret zu werden.97 Diese ‚Gerüchte‘ spitzten sich in den Folgejahren zu, bis schließlich 362 der Krieg von römischer Seite offiziell eröffnet wurde. Eine Erklärung hierfür steht aus, denn die Herniker waren weder im Zuge der Schwächung Roms durch den Kelteneinfall sonderlich aufgefallen noch waren sie ein direkter Nachbar.98 In Rom selbst scheint der geplante Waffengang Anlass zum Streit gegeben zu haben. Warfen die Plebeier den Patriziern zunächst noch eine Verschleppung des Krieges vor, so wehrten sich die Volkstribunen im Jahr 363 einstimmig gegen die Aushebungen des (patrizischen) Diktators L. Manlius Imperiosus, mit denen er auf eigene Faust einen Feldzug unternehmen wollte; erst im nächsten Jahr erfolgte die offizielle Kriegserklä-
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Liv. 7.5.9. Zur Historizität dieser ersten Einführung s. Taylor 1960, 136; Lintott 1999, 139; Beck 2005a, 40; Forsythe 2005, 304. Besonders die Geschichte des T. Manlius Torquatus und dessen Zweikampf mit einem keltischen Krieger ist mit der Einführung des Militärtribunats verbunden, Claudius Quadrigarius FRH 14 F10a/b (= Liv. 6.42.5 und Gell. 9.13.4–19); Cic. Fin. 1.23.34; Liv. 7.9.6–10.14; Val. Max. 3.2.6. S. aber Oakley 1985, 393–394, Beck/Walter 2001, 119–120 und Clark 2016, 277–289, die die Authentizität der Geschichte ablehnen. Jedoch sollte die Notwendigkeit der militärischen Profilierung der Oberschicht nicht unterschätzt werden, wie die Leichenrede des Caecilius Metellus aus dem 3. Jahrhundert deutlich macht: Plin. nat. 7.140: voluisse enim primarium bellatorem esse, optimum oratorem, fortissimum imperatorem, vgl. Pol. 6.19.3: πολιτικὴν δὲ λαβεῖν ἀρχὴν οὐκ ἔξεστιν οὐδενὶ πρότερον, ἐὰν μὴ δέκα στρατείας ἐνιαυσίους ᾖ τετελεκώς. Oakley 1985, 393–396; McCall 2002, 69–72; Rosenstein 2007a, 136–138. Die Einführung des Militärtribunats könnte auch eine Reaktion auf die im selben Jahr erfolgte Niederlage des militärisch inkompetenten L. Genucius gewesen sein. In Kombination ergeben sich jedenfalls mehrere militärische Ereignisse, die mit den Konsuln des Jahres 362 verknüpft waren und auf die Einführung des Militärtribunats rekurrierten, weshalb davon auszugehen ist, dass es sich um ein historisches Ereignis handelte, das als Anknüpfungspunkt für weitere Überlieferungen diente. Vgl. Feeney 2010, 209–210. Vgl. Armstrong 2017, 136–145; Helm 2019, 110–114. Der spätere Bericht von Pol. 6.33–34, 37.1 betont die Fürsorgefunktion und republikanische Organisation der tribuni militum. S. hierzu den 2021 erscheinenden Sammelband „Spoils in the Roman Republic“ von Helm/Roselaar. Liv. 7.1.3. Vgl. Martinez-Pinna 2017, 120–123. Oakley 2014, 23–24. Nach dem Beitritt der Herniker zum römisch-latinischen Bündnis scheinen sie den Löwenanteil der Gewinne östlich der Albanerberge erhalten zu haben. Vgl. Liv. 3.22.4 zur Zusammenstellung der kombinierten Streitkräfte und Dion. Hal. ant. Rom. 9.59.2 zur Deduktion einer gemischten Kolonie nach Antium, wobei sowohl Römer, Latiner und Herniker angesiedelt wurden. 413 wurde das eingenommene Ferentinum an die Herniker übergeben, Liv. 4.51.7–8.
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rung.99 Es ist wohl schwerlich ein Zufall, wenn im selben Jahr zum ersten Mal die Militärtribunen vom Volk gewählt wurden, weshalb vermutet werden darf, dass es bei den Auseinandersetzungen weniger um die prinzipielle Legitimation des Waffenganges ging, sondern vielmehr um die Frage, wer die Kommandogewalt in diesem innehaben sollte.100 Zusammengenommen verweist der längere Prolog dieses Konflikts auf einen bewussten und von langer Hand vorbereiteten Krieg seitens der Römer. Die Motivation eines solchen Kriegszuges gegen die größtenteils zuverlässigen Herniker zu einer Zeit, in der die militärische Bedrohungslage eher von den latinischen Nachbarn und gallischen Plünderungszügen ausging, ist allerdings erklärungsbedürftig. Möglicherweise hatten die Herniker die Latiner in den vorangegangenen Kämpfen unterstützt, doch sind die Verweise hierauf äußerst dürftig.101 Ihre direkte Erwähnung im Kontext des Auftretens der neuen patrizisch-plebeischen Oberschicht sowie die Koinzidenz der militärischen Reformen mit dem Ausbruch des Hernikerkrieges lassen eher einen Zusammenhang zwischen den politischen Entwicklungen in Rom und der Eröffnung der Militäraktionen vermuten. Die neuere Forschung hat in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, dass militärische Kooperationen und Bündnisse im frühen Italien vor allem auf persönlichen Beziehungen zwischen den jeweiligen Eliten beruhten, die auf horizontaler Ebene eine bemerkenswerte Mobilität und Vernetzung
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Die Begründungen variieren, allerdings verweisen beide Episoden auf die Bedeutung des Krieges gegen die Herniker, da sich Patrizier und Plebeier gegenseitig bei der Ausführung des Unternehmens behindern. Liv. 7.1.4. Noch deutlicher tritt dies in der Episode um L. Manlius Imperiosus in Erscheinung, da hier alle Volkstribunen die Aushebungen blockieren, Liv. 7.3.9. 100 Liv. 7.6.7. Die Ereignisse dieses Jahres scheinen relativ gut überliefert worden zu sein, was möglicherweise mit den militärischen Neuerungen zusammenhängt, zu denen auch die Tatsache zu rechnen ist, dass L. Genucius (cos. 365: Liv. 7.1.7; Eutr. 2.4; Oros. 3.4.1; Diod. 15.90.1. cos. 362: Liv. 7.4.1; Diod. 16.4.1) als erster Plebeier ein Heer kommandierte. Den größten Einfluss auf die Konservierung der Ereignisse dieses Jahres dürfte aber die stark im kollektiven Gedächtnis verankerte Episode um die exemplarische Zurschaustellung filialer pietas des T. Manlius Torquatus gegenüber seinem Vater L. Manlius Imperiosus bewirkt haben: Cic. off. 3.112; Liv. 7.5; Val. Max. 5.4.3; Sen. benef. 3.37.4; Vir. ill. 28.1–2. Linke 2014b, 82–86. Oakley 1998, 102–104 hält die Angaben dieses Jahres für weitgehend erfunden, doch spricht das Verschwinden der Genucii aus den fasti consulares für den livianischen Bericht. Es ließe sich spekulieren, dass möglicherweise auch die devotio des M. Curtius mit dem Vorfall in Verbindung stand; s. Varro ling. 5.150, der ebenfalls einen Genucius mit einer der drei bekannten Erklärungen für die Herkunft des Ortes in Verbindung bringt: Cornelius et Lutatius scribunt eum locum fulguritum esse et ex. s. c. saeptum esse: id quod factum esset a Curtio consule, cui M. Genucius fuit collega, Curtium appellatum. Zu den Details s. Oakley 1998, 96–99. Gerade weil Varro ling. 5.148–150 verschiedene Überlieferungsvarianten der Entstehung des lacus Curtius auf dem Forum erwähnt (s. a. Liv. 1.12.2–13.5, 7.6.1–6; Dion. Hal. ant. Rom. 2.42.2–6; Plut. Rom. 18.4–6) stellt sich die Frage, warum Livius die Episode für 362 berichtet. Ausführlich zur devotio des Curtius: Engels 2007, 378–381. 101 Lediglich der plötzliche Kriegseintritt Pedums und Tiburs samt gallischer Söldner könnte hierauf hindeuten, kann aber ebenfalls als Reaktion auf das aggressive römische Vorgehen über den Algidus-Pass hinaus zu verstehen sein; Forsythe 2005, 277–278. Cornell 1989b, 321–322.
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aufwiesen.102 Folgt man dieser Logik, so muss der Wechsel in der römischen Oberschicht auch zur Ablösung dieser über längere Zeit etablierten Netzwerke geführt haben. Der abrupte Wechsel in der römischen Außenpolitik ließe sich demnach als Konsequenz der personellen Neuordnung der classe dirigeante nach 366 sehen. Die Tatsache, dass es vier Jahre dauern sollte, bis dieser Krieg ausbrach, mag dabei für die Vorbehalte gegenüber einem solchen Vorgehen seitens der ‚Herniker-Freunde‘ sprechen. Damit gewinnt der Konflikt eine nicht unbeträchtliche Bedeutung für die Bewertung der Agenda der neuen dominanten politischen Gruppe um C. Licinius. Zwar ließe sich einwerfen, dass militärische Unternehmungen ohnehin ein bestimmendes Distinktionsmerkmal der Oberschicht waren, so dass das plebeische Engagement in diesem Bereich wenig verwundert, doch widerspricht der livianische Bericht dieser Kontinuitätsannahme. Gerade die militärischen Reformen und die langfristige Vorbereitung verweisen auf die politische Qualität des Waffenganges gegen die Herniker.103 An dieser Stelle ist auf die Einführung der kurulischen Ädilität und deren anschließende Öffnung für Plebeier zurückzukommen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Forderungen bezüglich der gerechten Landnutzung und -verteilung zusammenhingen. Wie bereits erwähnt, waren die Interessen der involvierten Gesellschaftsgruppen angesichts des drohenden Null-Summen-Spiels möglicher Lösungen nur schwer miteinander zu vereinbaren.104 Diese unterschiedlichen Interessenslagen bildeten für die neue dominante, politische Gruppierung gewissermaßen einen Gordischen Knoten, da sie nur durch deren Umsetzung die eigene politische Dominanz aufrechterhalten konnte, was aber in Teilen den wirtschaftlichen Interessen der Elite, der sie angehörte, zuwiderlief.105 Die imperative Umsetzung einer gerechteren Verteilung des ager publicus angesichts diametral entgegengesetzter Eigeninteressen könnte daher zu einer einvernehmlichen, wenn auch drastischen Lösung geführt haben: der Umwandlung des Null-SummenSpiels in ein Positiv-Summen-Spiel mittels der Akquirierung zusätzlicher externer Ressourcen.106 Diese Politik hatte sich bereits in der Folge der Zwölftafelgesetzgebung
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S. etwa Lomas 2012, passim; Terrenato 2014, 45–53, 2019, 109–193; Kent 2017, 257–260. Normalerweise würde das Prinzip der Annuität einer solchen, vergleichsweise weit vorausschauenden Planung widersprechen, allerdings wurde dieses Prinzip durch die regelrechte Aufteilung des Konsulats in den 60er Jahren samt regelmäßiger Iteration aufgehoben; Münzer 1920, 10–12. Neben dem Konsul L. Genucius (Liv. 7.4.1, 7.6.12; Diod. 16.4.1) scheinen auch weitere Angehörige der ‚centre party‘ (Cornell 1989b, 344) an dem ersten Heereszug 362 beteiligt gewesen zu sein, da C. Sulpicius Peticus das Heer nach der Niederlage gesammelt haben soll, Liv. 7.7.1–3. 104 Zumal sich in ökonomischer Hinsicht eher ein Gegensatz zwischen patrizisch-plebeischer Elite und der breiten Bevölkerung ergab; Cornell 1989b, 340–341. 105 Am deutlichsten in der späteren Verurteilung des C. Licinius Stolo zu erkennen: Liv. 7.16.9: Eodem anno C. Licinius Stolo a M. Popilio Laenate sua lege decem milibus aeris est damnatus, quod mille iugerum agri cum filio possideret emancupandoque filium fraudem legi fecisset. Val. Max. 8.6.3. Plin. nat. 18.17. Dion. Hal. ant. Rom. 14.12.1. Koba 1999, 271. 106 Vgl. Harris 1979, 58–65; Oakley 1993, 21; Cornell 1995, 380–388; Hölkeskamp 2011, 155–161.
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bewährt, wurde dann jedoch durch den Kelteneinfall abrupt beendet. Auffällig ist dabei, dass die Herniker nicht mit den latinischen und etruskischen Gegnern der vorangegangenen Jahre übereinstimmten.107 Offenbar ging man einer Konfrontation an diesen erst kürzlich zur Ruhe gekommenen Fronten aus dem Weg und konzentrierte sich stattdessen auf eine vermeintlich leichtere Beute im pomptinischen Gebiet und im oberen Trerus-Tal.108 Die berichteten umfassenden Kriegsvorbereitungen gegen die Herniker sowie die umgehende Einrichtung von zwei neuen tribus – Pomptina und Publilia – im Jahr 358 stützen diese Annahme.109 Auch die Notwendigkeit, die politische Vormachtstellung der erwähnten patrizisch-plebeischen Gruppierung durch eine plebs-freundliche Politik zu legitimieren, spricht für eine im Wesentlichen politisch induzierte, militärische Expansion.110 5.3.2 Militärische Niederlagen und politische Konsequenzen Die Priorität des Feldzuges gegen die Herniker wird auch anhand der Kommandoübernahme durch den plebeischen Konsul L. Genucius Aventinensis ersichtlich, dem ersten plebeischen Konsul, der ein Heer in die Schlacht führte. Wie bereits erwähnt, gab es bereits vor diesem Feldzug im Jahr 362 dubiose Versuche einer Kriegseröffnung, so dass die Kommandantenwahl kein Zufall gewesen sein dürfte.111 Mit der Ausnahme des L. Sextius (cos. 366) stellten die Genucii abwechselnd mit den Licinii die plebeischen Konsuln der Jahre 366 bis 362.112 Anscheinend beschränkten sich die Fähigkeiten des L. Genucius aber auf den politischen Bereich, da er es fertigbrachte, sein Heer in einen Hinterhalt zu manövrieren. Hierbei erlitten die Römer schwere Verluste und auch der Konsul selbst fiel auf dem Schlachtfeld.113 Zwar gelang es dem Legaten C. Sul-
107 Auch im Verlauf des Hernikerkrieges sollte die Hauptgefahr für Rom eher von den nördlich angrenzenden Städten Pedum und besonders Tibur ausgehen, Oakley 1998, 3–8, 148–175. 108 Die Aussöhnung mit den südlich benachbarten Latinern könnte hierbei die notwendige Ausgangslage für ein Ausgreifen in das pomptinische Gebiet im Süden geliefert haben. Auffällig ist etwa die Unterstützung Roms durch die colonia Latina Signia, Liv. 7.8.6. Cornell 1995, 324 sieht dieses Ausgreifen als Auftakt zur römischen Expansion an. 109 Liv. 7.15.11. Coarelli 1990, 151–153 argumentiert für frühere Versuche der Ansiedlung römischer Kolonisten im pomptinischen Gebiet, die jedoch im Laufe des 5. Jahrhunderts scheiterten. Vgl. hierzu die Verselbstständigung vermeintlich römischer Kolonien, s. dazu Bispham 2006, 167–169. Haas 2011, 6–18 sieht die Ansiedlung römischer Bürger als Teil einer großangelegten römischen Strategie zur Inbesitznahme des pomptinischen Gebiets; Forsythe 2005, 277; Attema/De Haas/Termeer 2014, passim. Zum Motiv des ‚Landhungers‘ der plebs s. Cornell 1989b, 323–334, 1995, 324. 110 S. hierzu Hölkeskamp 2011, 72–74. 111 L. Genucius (cos. 365) bekleidete das Amt erneut mit Q. Servilius Ahala (cos. 365 und 342), der eine respektable militärische Laufbahn vorzuweisen hat. Münzer RE 2.2 (1923), 1772–1773. 112 Münzer 1912, 11. Vgl. Plut. C. Grach. 3.3 der vom hohen Ansehen der Genucii bei der plebs berichtet. 113 Die Authentizität der Darstellung bei Liv. 7.6.8–10 wird dadurch deutlich, dass die gens Genucia nach diesem Rückschlag erst 303 wieder einen Konsul stellte. Münzer, 1920, 21–22. Zur Niederlage
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picius Peticus, die Reste des Heeres zu sammeln und mit der Unterstützung des angesichts der Krise ernannten dictator App. Claudius die Herniker zu schlagen, doch kommt Livius nicht umhin, die erneuten, schweren Verluste des römischen Heeres aufzulisten.114 Die Niederlage und vor allem der Tod des L. Genucius wirkten sich in der Folge auch auf die politischen Verhältnisse in Rom aus. Deutlich wird dies bereits an der Bestellung des App. Claudius zum dictator unter dem expliziten Verweis darauf, dass er ursprünglich gegen das Licinische Gesetz gewesen sei.115 Die Tatsache, dass der Konsul einen Diktator ernennen musste, statt selbst zum Entsatz der römischen Truppen auszurücken, bleibt ominös und könnte auf den durch die Niederlage gewachsenen Einfluss der Gegner der bis dato tonangebenden Gruppe zurückzuführen sein. Mit App. Claudius wurde stattdessen ein dezidierter Gegner und Verlierer der Reformen von 367/66 entsandt – trotz der Bekleidung der Diktatur sollten die Claudii aber bis weit in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts politisch marginalisiert bleiben. Insgesamt verschlechterte sich die Position der plebeischen ‚Gewinner‘ von 367/66, denn die Familie der Genucii verschwand für die nächsten 20 Jahre von der politischen Bühne und sollte erst 303 wieder einen Konsul stellen.116 Dennoch wurden C. Licinius117 und der verdiente C. Sulpicius für das Jahr 361 zu Konsuln gewählt, so dass der Kollateralschaden jenseits der gens Genucia überschaubar geblieben zu sein scheint. Die Außenpolitik hielt in der Folge weitere Herausforderungen bereit, da die von Livius berichteten Erfolge gegen die Herniker, durch den Kriegseintritt der mächtigen Latinerstadt Tibur, die zudem durch gallische Truppen unterstützt wurde, mehr als aufgewogen wurden.118 Die diesen Konflikt betreffenden Nachrichten dürften authentisch sein, da sie Teil der intensiv memorierten Episode um den an David gegen Goliath
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Oakley 1998, 102–104 und Engerbeaud 2017, 159–160, wonach die Bedrohung durch die Herniker zugunsten der Schelte des plebeischen Konsuls überhöht wurde. Grundlage hierfür muss aber eine historische Niederlage des ersten plebeischen Konsuls gebildet haben. Liv. 7.8.7 Nec Romanis incruenta victoria fuit: quarta pars militum amissa et, ubi haud minus iacturae fuit, aliquot equites Romani cecidere. Dies ist eher ungewöhnlich und könnte ebenfalls für eine authentische Überlieferung des spektakulär schlechten Debuts der Plebeier als Heerführer sprechen. Vielleicht war das römische Aufgebot auch nur dank des Eingreifens der Einwohner von Signia gerettet worden, Liv. 7.8.6. Liv. 7.6.12: Ap. Claudium, quia dissuaserat legem, maiore nunc auctoritate eventum reprehensi ab se consilii incusantem, dictatorem consensu patriciorum Servilius consul dicit, dilectusque et iustitium indictum. Hölkeskamp 2011, 87. Laut Liv. 7.9.1: C. Licinius Calvus. Diod. 16.6.1 spricht lediglich von einem C. Licinius, während ansonsten von Stolo die Rede ist: Inscr. It. 13.1.34 ([---- St]olo); Chr. 354 (Stolo et Uetico); Fast. Hyd. (Stollone et Petino). Oakley 1997, 692–693. Liv. 7.11.2–9 während Liv. 7.9.6 einen tumultus Gallicus erwähnt, s. Oakley 1998, 126–127. Forsythe 2005, 277–278 zu den regelmäßigen Einfällen der Kelten in Latium. Nach Alföldi 1963, 361 gab es nur drei Invasionen: 390, 361/360, und 350/349 (Ebd. 362). Ausführlich zur Chronologie der Kelteneinfälle Werner 1963, 78–85, der Alföldi folgt, aber eine synchronisierte Jahreszählung vornimmt, die dementsprechend 4 Jahre abweicht, s. Drummond 1978. S. a. Anm. 120 in diesem Kapitel.
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erinnernden Zweikampf des Militärtribunen T. Manlius Torquatus gegen einen gallischen Krieger waren.119 Unabhängig von dem Ausgang des Duells scheint der Krieg insgesamt eher ungünstig für die Römer verlaufen zu sein, da für das Jahr 360 von schweren Verheerungen im Gebiet von Labici, Tusculum und Alba – also des nordöstlichen ager Romanus – die Rede ist und die Gallier sogar bis in die Nähe der Porta Collina vorgestoßen sein sollen.120 Obwohl der Angriff abgewehrt werden konnte, dürfte diese unerwartete Entwicklung das Vorgehen gegen die Herniker weiter behindert haben.121 In den Details mögen die Berichte über den ungünstigen Verlauf des Hernikerkrieges zwar ausgeschmückt worden sein, doch dürfte der Schlachtentod des ersten, ein Heer führenden plebeischen Konsuls einen ausreichend starken Eindruck hinterlassen haben, um Eingang in zeitgenössische Aufzeichnungen und spätere Geschichtswerke zu finden. Eine skeptische Position zu diesen Ereignissen müsste dagegen erklären, warum die Genucii in der Folge weitgehend von der Bildfläche verschwinden und welches Interesse die spätere Geschichtsschreibung an der Erfindung von Niederlagen gegen die Herniker gehabt haben kann.122 Zudem werden militärische Schwierigkeiten Roms
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Die Bedeutung des T. Manlius Torquatus in Bezug auf römische Idealvorstellungen hat Linke 2014, 82–86 beschrieben, während Clark 2016, 282–284 die Informationen zu den Manlii in den Sechzigerjahren für „tales“ hält. Dagegen geht Oakley 1985, 401–402 von einer ausgeschmückten Überlieferung der authentischen Entstehungsgeschichte des cognomen Torquatus aus; s. a. Bayet/Bloch 1968, 107–118; Neraudeau 1976, 685–694: Lipovsky 1981, 95; Oakley 1998, 113–148; Lampinen 2008, 27–28; Feeney 2010, passim. Chaplin 2015, 110 zur exemplarischen Wirkung, allerdings verwechselt sie die Episoden von 361 und 340, vgl. Rawlings 1996, 86–89 zu gallischen Zweikämpfen. Fest steht jedenfalls, dass die Biographie des T. Manlius Torquatus intensiv rezipiert wurde, so dass in diesem Rahmen möglicherweise auch kontemporäre Ereignisse konserviert und memoriert wurden. Zum Zweikampf: Livy 6.42.5–6, 7.9–10, Gell. 9.13.4–19 (= FRH 14 F 10b); Cic. Tusc. 4.49; Eutrop. 2.5.1; Suet. Cal. 35.1; Val. Max. 3.2.6; Ovid. Fast. 1.601–603; Plin. nat. 33.15; Quintil. Inst. Or. 5.11.10; Flor. 1.13.20; Amm. 24.4.5. Zur Hinrichtung seines eigenen Sohnes: Liv. 8.7; Vir. ill. 28.3; Zon. 7.24; Cic. Fin. 1.23, 34; Flor. 1.14.2. Da es für die gesamte Republik Belege für die Heranziehung der Ahnen durch die Manlii gibt, wobei unter den späteren Beispielen die Rede des T. Manlius Torquatus (cos. 235, 224) nach Cannae (Liv. 23.22.7–9) sowie die Strenge des T. Manlius Torquatus in Val. Max. 5.8.3 herausstechen, ist von einer glaubwürdigen Memorierung der Heldentaten des ‚Stammvaters‘ auszugehen. Vgl. Walter 2003a, 265–273. 120 Liv. 7.11.2–8; Pol. 2.18.2; App. Celt. 1.1–6. Alföldi 1963, 362 hält diesen Kelteneinfall für „not historical“, wohl aber den Triumph des Poetelius. In diesem Kontext verweist Engerbeaud 2020, 168–174 auf die Überbetonung der Keltengefahr durch die antiken Autoren und gesteht den latinischen Städten ein größeres Gewicht zu, ebenso Buchet 2015, 51–59. Demnach wären die nördlichen Latinerstädte der Hauptgegner gewesen, die womöglich ihre militärische Schlagkraft durch den Zuzug keltischer Truppen erhöht hatten; so auch Forsythe 2005, 277. Vgl. Alföldi 1963, 389–391; Cornell 1989b, 321. 121 Dem Konsul Fabius wurde lediglich eine ovatio angesichts seines Sieges gegen die Herniker zugestanden, während Poetelius einen Doppeltriumph über die Gallier und Tiburtiner zelebrierte, Liv. 7.11.8–9; Insc. It. 13.1.68, 540. S. a. Oakley 1998, 148–153. 122 Dagegen geht Engerbeaud 2017, 173–177 von einem gängigen Topos römischer Niederlagen aus. Im Kontext größerer Narrative mag dies zutreffen, doch lässt diese Interpretation den Schlachtentod des Genucius ebenso außer Acht wie die Tatsache, dass der Hernikerkrieg lediglich ein Randthema bildet. Möglicherweise konnten spätere Autoren zudem auf die Lokalgeschichten der Stadt
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auch im Zuge des Auftauchens der mit Tibur verbündeten Kelten deutlich, da sowohl Polybios als auch Claudius Quadrigarius von diesen Kämpfen berichten, was auf einen signifikanten Waffengang schließen lässt.123 Durch den Krieg mit Tibur hatte sich der Kriegsschauplatz aus dem oberen TrerusTal unerwartet auf römisches Gebiet verlagert, was politische Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Bereits für das Jahr 360 war mit C. Poetelius ein neuer Plebeier zum Konsul gewählt worden, während M. Fabius Ambustus die patrizische Stelle bekleidete. Auch auf patrizischer Seite verweisen die fasti consulares in der Folge auf eine Veränderung in der Besetzung des Konsulats, da für die Jahre 360 bis 356 abwechselnd M. Fabius Ambustus sowie Cn. Manlius Capitolinus Imperiosus den Konsulat bekleideten.124 Damit lässt sich zwar eine personelle Veränderung in der patrizischen Führungsriege erkennen, doch scheint diese eher von ‚weicher‘ Natur gewesen zu sein, da im Jahr 360 Q. Servilius Ahala und 358 C. Sulpicius Peticus zum dictator und magister equitum ernannt wurden. Die Beteiligung dieser beiden Vertreter der ersten ‚Entente‘, lässt zum einen die Konzentration auf militärisch erfahrene Befehlshaber erkennen, zum anderen zeigt sie aber auch die stärkere Geschlossenheit der patrizischen gentes.125 5.4 Individuelle Machtanhäufung Hölkeskamp hat zu Recht darauf verwiesen, dass es offenbar einen progressiven Flügel der Patrizier gab, der bereit war, Teilen der plebeischen Forderungen nachzugeben, um dadurch die eigenen Chancen auf die Bekleidung der Ämter zu erhöhen. Dieser Ansicht wurde in den vorherigen Kapiteln beigepflichtet, doch muss an dieser Stelle ein Punkt besonders hervorgehoben werden: es waren zunächst lediglich die Licinii und Genucii, die sich im Zuge der leges Liciniae Sextiae in einer einflussreichen Position befanden und somit den Patriziern auf Augenhöhe begegnen konnten.126 Beide Familien Tibur zurückgreifen, die bei den Dichtern Horaz, Properz und Catull äußerst beliebt war, s. Buchet 2015, 241–252. 123 S. Anm. 4 in diesem Kapitel. 124 Develin 2005, 302; Hölkeskamp 2011, 74–76. Für das Jahr 358 ist nicht völlig klar, ob es sich um einen M. oder C. Fabius Ambustus, vermutlich der Bruder des M. Fabius, handelt, s. Diod. 16.23.1. Broughton MRR I, 120–123. 125 Die patrizischen gentes hatten jedenfalls einen stärkeren gemeinsamen Nenner in der Behauptung des ökonomischen Status quo. Zwar verweisen Beispiele wie die der gens Claudia auf die Existenz von ‚hardlinern‘ (Develin 1985, 176, 178) doch waren diese wenig erfolgreich, so dass sich eine relativ breite Basis von bedingt verhandlungsbereiten Patriziern annehmen lässt; Develin 2005, 299–304; Hölkeskamp 2011, 60–61. Zudem dürfte der inner-patrizische Machtkampf um die Ämter angesichts der relativ komfortablen Anzahl an Posten schwächer ausgefallen sein als bei den Plebeiern, denen mit dem Konsulat lediglich ein Posten zur Verfügung stand. Der Wettkampf unter den Plebeiern wird daher deutlich heftiger gewesen sein. 126 Die Licinii hatten es immerhin geschafft, die plebs im Kampf um die leges Liciniae Sextiae auf eine gemeinsame Linie und auf ihre Anführer einzuschwören. Cornell 1989b, 334–341.
Individuelle Machtanhäufung
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büßten ihr Prestige aber angesichts ausbleibender Erfolge ein, was ihren patrizischen Partnern vielleicht gar nicht ungelegen kam. Man mag bereit gewesen sein, mit den plebeischen Aufsteigern zu kooperieren, doch deren Misserfolge riefen möglicherweise nur wenig Bedauern hervor.127 Hierfür spricht auch die Flexibilität der Patrizier, die sich offenbar ohne größere Probleme mit den nun aufstrebenden Plebeiern, vor allem mit M. Popilius Laenas und C. Marcius Rutilus, arrangierten. Dies war im Rahmen des komplementären Wettstreits kein größeres Problem, da die genaue personelle Besetzung der plebeischen Stelle aus patrizischer Sicht irrelevant sein musste, solange es in Kooperation mit deren Inhabern gelang, die eigene Kontrolle über die patrizischen Positionen zu sichern. Bezeichnend für die Fortsetzung dieser Strategie nach dem ‚Fall‘ der Genucii und Licinii ist die Tatsache, dass in der Krise ausgerechnet M. Fabius Ambustus und die gens Manlia die führende Rolle unter den Patriziern einnahmen. Ersterer hatte bereits bei der Durchsetzung der leges Liciniae Sextiae eine wichtige Rolle gespielt und steht klar für eine Kooperation mit den Plebeiern. In dieser Hinsicht fällt die plötzliche Prominenz des Cn. Manlius Capitolinus Imperiosus auf, bei dem es sich um den Bruder des T. Manlius Torquatus gehandelt haben dürfte, der immerhin für 359 und 357 den Konsulat erreichen und tatkräftig ausüben konnte.128 Die Konzentration der Ämter in den Händen weniger Patrizier, ist folglich erklärungsbedürftig, könnte jedoch gerade in der angesichts des plebeischen Versagens unbestrittenen Militärexpertise der Patrizier begründet gewesen sein.129 Hinzu kommt, dass die Rückschläge scheinbar zu erheblichen Schwierigkeiten in Rom geführt hatten, da Cicero im Kontext der Kämpfe gegen Tibur und die Gallier eine seditio erwähnt, die aber erstickt werden konnte.130
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Develin 2005, 299. Die spärlichen Informationen lassen kein sicheres Urteil zu; Münzer RE 14.1 (1928), 1175–1176. Möglicherweise handelte es sich auch um den Vater L. Manlius Capitolinus Imperiosus, falls es zu einer Verwechslung der praenomina gekommen war; MRR I, 117–122. Die gens Manlia zeichnete sich vor allem durch ihre martialische Tradition aus, s. Oakley 1985, 393–394. In diesem Kontext konnte auch die väterlichen Strenge positiv bewertet werden, s. Val. Max. 5.8.3: uidebat enim se in eo atrio consedisse, in quo imperiosi illius Torquati seueritate conspicua imago posita erat, prudentissimoque uiro succurrebat effigies maiorum [suorum] cum titulis suis idcirco in prima parte aedium poni solere, ut eorum uirtutes posteri non solum legerent, sed etiam imitarentur. Jaeger 1993, 351 und Feeney 2010, passim zu M. Manlius Capitolinus. Clark 2016 280–289 listet die wesentlichen ‚Highlights‘ des 4. Jahrhunderts auf. S. a. Münzer RE 14.1 (1928), 1179–1190. Auch der Rückgriff auf die erprobten Militärs Q. Servilius Ahala und C. Sulpicius Peticus (Sieger über die Gallier 358, was sich auch in einem öffentlichen Monument niederschlug, Liv. 7.15.8; App. Celt. 1; Flor. 1.13.20; kollektiv memoriert durch den Zweikampf des T. Manlius Torquatus) bezeugt die patrizische Kompetenz in diesem Bereich; Armstrong 2016a, 274–278. Dies mag auch die viel diskutierten ausschließlich patrizischen Konsulate der Fünfzigerjahre Jahre erklären; Münzer 1920, 21; Cornell 1989b, 336–337; Develin 1985, 181–183, 2005, 303; s. ausführlich Kapitel 6.2. S. Liv. 7.12.1–4 und Cic. Brut. 56, die sich offenbar auf das erste Konsulat des M. Popilius Laenas beziehen.
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Die erwähnten Schwierigkeiten dürften maßgeblich zum Aufstieg von gänzlich neuen Plebeiern unter die Konsuln der Jahre 360 bis 356 beigetragen haben.131 Die fasti verweisen in diesem Kontext klar auf den Niedergang der ursprünglichen ‚Reformer‘, wobei in diesem Fall neben der bloßen An- oder Abwesenheit in den Magistratslisten noch eine breite Überlieferung zu dem hochkompetitiven Wettstreit der Plebeier untereinander vorliegt. Diese bezieht sich auf den neuen starken Mann M. Popilius Laenas, der nicht nur die seditio im Jahr 359 bereinigte, sondern auch noch die Verurteilung des C. Licinius Stolo zu verantworten hatte.132 Konkret wurde Licinius die Umgehung seines eigenen Ackergesetzes vorgeworfen, da er durch die Emanzipation seines Sohnes versucht haben soll, den Besitz von mehr als 500 iugera Land zu verschleiern – die Revolution fraß ihre Kinder, wie Dionysios von Halikarnassos treffend feststellt.133 Da sein Ankläger M. Popilius Laenas neben C. Marcius Rutilus zur bestimmenden Figur unter den plebeischen Konsularen avancieren sollte, ist es berechtigt, hier einen kausalen Zusammenhang zu vermuten.134 Angesichts der ernüchternden Bilanz der plebeischen Beamten und des notgedrungenen Rückgriffs auf die Expertise erfahrener patrizischer Kommandeure könnte M. Popilius Laneas eine wichtige Rolle in der Besänftigung der plebs gespielt haben, wobei die Verurteilung des C. Licinius Stolo im Interesse aller Beteiligten lag. Der Zeitpunkt der Anklage ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Popilius Laenas ging nicht etwa als Konsul gegen seinen Kontrahenten vor, sondern als kurulischer Ädil im Jahr 357, nachdem im Jahr 358 unter den Konsuln C. Fabius und C. Plautius zentrale Versprechungen in Bezug auf die Landverteilungen und die Schuldenproblematik durch die Einrichtung der Pomptina und
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Es handelt sich hierbei um C. Poetelius Balbus, M. Popilius Laenas, C. Plautius Proculus, C. Marcius Rutilus, M. Popilius Laenas iterum; s. MRR I, 121–123. Hierbei ist auch zu beachten, dass M. Popilius Laenas möglicherweise aus dem neueroberten ager Veientanus stammte. Das cognomen Laenas leitet Cic. Brut. 56 zwar aus der Bezeichnung für Mantel, laena, ab, doch meint Schulze 1966, 83, 186, dass es sich hier um einen ursprünglich etruskischen Namen handelt, der sich zu einem cognomen wandelte, vgl. Weber 1998, 231–232. Das cognomen des C. Marcius Rutilus könnte entweder auf einen rötlichen Schopf (dann aber wohl eher Rufus) oder auf seine Herkunft aus dem Gebiet der Rutuler (Rutulus) verweisen, deren Zentrum die Stadt Ardea war, s. Cato FRH 2 F 28 (= Prisc. Gramm. 4 p. 129 H.): Lucum Dianium in nemore Aricino Egerius Baebius Tusculanus dedicavit dictator Latinus, hi populi communiter: Tusculanus, Aricinus, Lanuvinus, Laurens, Coranus, Tiburtis, Pometinus, Ardeatis Rutulus; ebenso Strab. 5.3.2; Serv. ad Aen. 3.500. Teile dieses Gebiets hatte Rom im 5. Jahrhundert annektiert. Möglicherweise hatten sich die plebeischen Akteure vor allem in den neuen Gebieten etablieren und Unterstützung mobilisieren können, dies bleibt aber letztlich Spekulation. Liv. 7.16.9; Val. Max. 8.6.3. Dies hat schon Münzer 1920, 22 für den Sturz des Geschlechtes verantwortlich gemacht, s. a. Münzer RE 13.1 (1926), 214–215. Dion. Hal. ant. Rom. 14.12.1: Λικίνιος Στόλων, ὁ δεκάκις δημαρχήσας καὶ τοὺς νόμους εἰσηγησάμενος ὑπὲρ ὧν ἡ δεκαετὴς στάσις ἐγένετο, ἁλοὺς ἐν δίκῃ καὶ ὑπὸ τοῦ δήμου καταψηφισθεὶς τίμημα ἀργυρικὸν εἶπεν, ὅτι θηρίον οὐδέν ἐστι δήμου μιαρώτερον, ὃς οὐδὲ τῶν σιτιζόντων ἀπέχεται. M. Popilius Laenas hatte bereits als erster plebeischer aedilis curulis eine wichtige Rolle gespielt (Fest. 436L; vgl. hierzu Val. Max. 2.4.4; Liv. 7.2, 7.17), sich aber anscheinend erst in der Folge der militärischen Schwierigkeiten der Jahre 362 bis 360 durchsetzen und bewähren können.
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Publilia realisiert worden waren.135 Damit verweist der Prozess der Ablösung der ursprünglichen plebeischen Vertreter durch neue, aufstrebende plebeische Akteure vor allem auf die anhaltenden ökonomischen Forderungen und der in diesem Rahmen verabschiedeten Gesetze.136 Die Verurteilung des Licinius Stolo wirkt in diesem Licht wie ein triumphierendes Ausrufungszeichen seiner erfolgreicheren Konkurrenten. 5.5 Harmonie durch Ressourcenverteilung Die im Kontrast zu den Plebeiern relativ stabile Zusammensetzung der patrizischen Führungsriege spricht dabei für die Anpassungsfähigkeit dieser ‚progressiven‘ Patrizier, die möglicherweise gar nicht anders konnten, als mit den neuen plebeischen Interessensvertretern zu kooperieren. Angesichts der erfolglosen Militäroperationen und der berichteten Unzufriedenheit der plebs mussten sie ansonsten fürchten, ähnlich zu enden wie C. Licinius Stolo.137 Ziel und Grundlage der Kooperation dürfte dabei die Fortsetzung der militärischen Operationen gewesen sein, wobei die Patrizier auf erprobte Militärs zurückgriffen und sich auch die neuen plebeischen Akteure als fähige Kommandanten erwiesen.138 Erst dies erlaubte die Überwindung des Widerstands der Herniker im Jahr 358.139 Bezeichnend ist hierbei auch die Lokalisierung der überliefer-
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S. Anm. 107 in diesem Kapitel. Vgl. Yakobson 2010, 301–302. Münzer 1920, 23–25; dagegen lehnt Develin 1985, 179–184, 2005, 301–308 größere Gruppierungen ab, akzeptiert aber den Sturz des C. Licinius Stolo als Einschnitt, der auf plebeische Forderungen zurückzuführen ist, ebenso Hölkeskamp 2011, 96 Anm. 42. Hermon 2001, Popilius wurde offenbar im Zuge der Verurteilung des Licinius Stolo zum Konsul für das Folgejahr gewählt; Liv. 7.17.1; Diod. 16.32.1. Münzer 1920, 23–26 hat zu Recht betont, dass die Aemilii und Servilii mit dem politischen Versagen der Licinii und Genucii ebenfalls aus dem politischen Rampenlicht verschwinden, doch konnten andere Vertreter der ersten Stunde, wie die Fabii und C. Sulpicius Peticus ihren Einfluss festigen; Cornell 1989b, 339–342. Stewart 1998, 154–155. Möglicherweise wurden die erfahrenen patrizischen dictatores genau aus diesem Grund gewählt, um die plebeischen Akteure zu stützen. Liv. 7.11.2–4 berichtet, der dictator Q. Servilius Ahala sei gegen die Gallier entsandt worden, womit er den Aufgabenbereich des Konsuls Poetelius übernahm, was aber anscheinend im Einvernehmen geschah – dictator consulibus in senatu et apud populum magnifice conlaudatis, Liv. 7.11.9. Auch für den plebeischen Konsul des Jahres 358, C. Plautius, wird ein dictator, Sulpicius Peticus, ernannt, Liv. 7.12.9–15.8; Frontin. Str. 2.4.5; App. Celt. 1.1; Eutrop. 2.5.2; Auct. Vir. ill. 28; Oros. 3.6. M. Popilius Laenas scheint dagegen keinen Mentor benötigt zu haben, hatte aber durchaus mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Liv. 7.17.2–5; Diod. 16.36.4; Frontin. Str. 2.4.18. In den meisten Fällen übernahmen die plebeischen Konsuln zusammen mit dem dictator und seinem magister equitum die Verteidigung des ager Romanus gegen Übergriffe der Gallier und Tiburtiner, die Operation auf eigenem Gebiet war angesichts schnell verfügbarer Verstärkungen und geringerem Logistikaufwand sicherlich der einfachere Kriegsschauplatz. Vgl. Armstrong 2016a, 277–278. Hölkeskamp 2011, 92–95 hat zudem auf die Notwendigkeit und gleichzeitige Schwierigkeit der militärischen Profilierung auf plebeischer Seite verwiesen, so auch Münzer 1920, 22. Liv. 7.15.9, 7.15.12.
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ten Entscheidungsschlacht im Raum von Praeneste/Pedum. Die Quellen präsentieren damit eine klare römische Schwerpunktbildung in der Region zwischen Pedum und Ferentinum, die durch die via Latina einen zusammenhängenden Korridor bildet, wo zugleich der endgültige Sieg über die Herniker errungen wurde.140 Da der Sieg relativ breit überliefert wird, besteht wenig Anlass, die Verortung in dieser Gegend in Frage zu stellen.141 Auffällig ist hierbei die hartnäckige Fortsetzung dieses ‚Angriffskriegs‘ angesichts der berichteten Zuspitzung der militärischen Lage im nördlichen Latium und an der Grenze zu den Etruskern zur selben Zeit. Der Kriegseintritt der Etrusker könnte hierbei auf deren Ausnutzung der Schwierigkeiten Roms zurückzuführen sein, um Überfälle auf das Gebiet nördlich des Tibers durchzuführen.142 Dagegen bildeten die Erfolge gegen die Gallier und Herniker einen vorläufigen Schlusspunkt in den Kämpfen gegen diese Völker; die Gallier sollten erst in den Vierzigerjahren erneut auftauchen, während die Herniker bis zum Ende des Zweiten Samnitenkrieges aus dem Blickfeld unserer Quellen verschwinden.143 Die Kämpfe dieser Jahre entfalteten also durchaus Rückwirkungen auf die politischen Entwicklungen in Rom und hatten bis 358 zu folgender Situation geführt: 1. Die erfolgreiche Beendigung des Krieges gegen die Herniker sowie die Vertreibung der Kelten aus Latium. 2. Die Erfüllung der ökonomischen Forderungen durch die Einrichtung zweier neuer tribus sowie (!) die Senkung des Zinssatzes. Diese Maßnahmen stellten die erste bezeugte Umsetzung der wirtschaftlichen Forderungen der leges Liciniae Sextiae dar. 3. Das Aufflammen von Konflikten entlang der Grenze zu den Etruskern, die zur Hauptsorge der Römer in den Fünfzigerjahren werden sollten. Diese Kämpfe werden im anschließenden Kapitel genauer erörtert.
140 Diese Schwerpunktbildung kontrastiert dramatisch mit der römischen Niederlage gegen die Etrusker; Liv. 7.15.9–11; Diod. 16.36.4. Die Hinrichtung der Gefangenen in Tarquinii sowie die römische Vergeltungsmaßnahme 354 dürften für die Authentizität der Passage sprechen und verdeutlichen die Intensität der Kämpfe; Diod. 16.45.8; Liv. 7.19.2–3; Oros. 3.6.3. S. a. Cornell 1989b, 321. Da auch Privernum und Velitrae den Zeitpunkt für Überfälle nutzten, lässt sich eine Konzentration der römischen Truppen bei Praeneste annehmen. 141 Forsythe 2005, 271. 142 Liv. 7.12.5–9; Alföldi 1963, 343–344. 143 Gnade 2017, 571. Hierbei ist zu bedenken, dass die Gallier über einen Zeitraum von vier Jahren, 362 bis 358, kontinuierlich in Erscheinung treten. Neben Liv. 7.9.6–10.8, 12.8–15.8 berichtet auch Pol. 2.18.6 von keltischen Streifzügen zu diesem Zeitpunkt, die bis Alba reichten, s. Frontin. Strat. 2.4.5; Oros. 3.6.2; Eutrop. 2.5.2; Vir. ill. 28. App. Celt. 1.1 bestätigt den bei Liv. 7.15.8 erwähnten Triumph des dictator C. Sulpicius. Hölkeskamp 2011, 59. Zwar mag Livius das Ausmaß des Sieges über die Gallier übertreiben, doch konnte die res publica Romana am Ende des Tages ihre militärischen Ziele gegenüber den Hernikern trotz der Eskalation der Kampfhandlungen erreichen.
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5.5.1 Die Gründung der tribus Pomptina und Publilia Der Sieg über die Herniker wurde noch im selben Jahr durch die Einrichtung der tribus Pomptina und Publilia zementiert. Beide tribus sind relativ schwer zu lokalisieren, wir dürfen erstere aber im pomptinischen Gebiet zwischen Astura und Oufens verorten,144 während die Publilia wohl im oberen Trerus-Tal lag.145 Auf die genaue Umsetzung und Folgen der Ansiedlungen für die römische Gemeinschaft wird im folgenden Abschnitt einzugehen sein; an dieser Stelle soll lediglich noch einmal herausgestellt werden, dass die Möglichkeit der Verteilung von Land in diesen Gebieten ein zentraler Imperativ der römischen Politik nach 367/66 gewesen war. Wollte man aber Land verteilen und Bürger dort ansiedeln, galt es, ein nicht unwesentliches Problem zu überwinden: Weder die Pomptina noch die Publilia scheinen direkt an das römische Bürgergebiet angeschlossen worden zu sein. Zwar war die Publilia über die via Latina leicht zu erreichen, doch lag ein Teil der Strecke im Territorium von Praeneste. Gleiches galt für die Pomptina, da die Route südlich der Albanerberge das Gebiet von Aricia, Lanuvium oder Velitrae durchquerte.146 Es verwundert somit nicht, dass die Sicherung der via Latina gegen die Gallier und Tibur eine zentrale Rolle spielte und dass eine der wichtigsten Schlachten im Gebiet von Praeneste stattfand. Weiterhin wurde die Einrichtung der beiden tribus im Zusammenhang mit einer Erneuerung des foedus Cassianum zwischen Hernikern und Römern gesehen, doch bestehen gute Gründe, auch die Erneuerung des Bündnisses mit den Latinern im selben Jahr als Teil der Neuregelung der Verhältnisse zu verstehen.147 Die Herniker mögen das für die kommenden knapp 50 Jahre stabile Bündnis im Austausch für die Landabtretungen erhalten haben, jedoch bedarf die Einigung mit den Latinern einer Erklärung, zumal ein Teil der latinischen Nachbarn in offener Feindschaft zu Rom verblieb.148 Auch die Formulierung bei Livius, pax Latinis petentibus data, ist verwunderlich, da sich Rom nicht im Kampf mit den latinischen Städten, sondern lediglich mit Tibur und womöglich Praeneste befand.149 Da diese latinischen Gemeinden ihren Widerstand bis 354 fortsetzen sollten, scheint der erwähnte Vertrag, falls authentisch, eine andere Stoßrichtung aufgewiesen zu haben.150 144 Taylor 1960, 51–52; Attema 1993, 13–17, 230–23; de Haas 2010, 3–4, 2011, 266–270, 293–296; Roselaar 2010, 299–300; Teichmann 2020, 33–34, 105–106. 145 Beloch 1926, 265. Taylor 1960, 50–53; Cornell 1989b, 320; Forsythe 2005, 277. 146 Ein oft übersehenes, aber gravierendes Detail. S. aber Frank 1914, 19. 147 Liv. 7.12. Cornell 1989b, 320; Forsythe 2005, 277; Martinez-Pinna 2017, 124–125. 148 Privernum und Tibur verblieben im Kriegszustand, so dass keinesfalls von ‚den Latinern‘ gesprochen werden kann; Smith 2007, 170–172; Bourdin 2012, 143–147, 278–298. In diesem Kontext ist auch darauf zu verweisen, dass stark verstärkte polygonalen Fortifikationen einen wesentlichen Teil der archäologischen Funde ausmachen, s. etwa Boethius 1978, 114–135; Adam 1994, 102–115; Cifani 1998, 2016. 149 Liv. 7.12.7. Cornell 1989b, 321–322. Aufgrund der Lage ist anzunehmen, dass sich Pedum hier anschloss. 150 Diod. 16.45.8 berichtet von einem Waffenstillstand mit Praeneste, s. a. Alföldi 1963, 391.
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Karte 2 Latium 358. Eigene Darstellung, M. Helm
Angesichts der Einrichtung der Pomptina und Publilia ist es naheliegend, dass der erneuerte Vertrag, sofern authentisch, vor allem auf die Wiederherstellung des Bündnisses mit den südlichen Latinerstädten abzielte. Besonders die Kolonien des latinischen Bundes im Volskergebiet, Sora, Cora, Signia und Norba, mussten für den Schutz der römischen Ansiedler gewonnen werden.151 Gleichermaßen musste der ‚latinische Korridor‘ südlich der Albanerberge gesichert werden, um den Zugang ins pomptinische Gebiet zu garantieren.152 Mit der vertraglichen Absicherung stand den Ansiedlungen in den neuen tribus nichts mehr im Weg, womit eine zentrale Forderung der Plebeier endlich erfüllt worden war, indem durch die Gewinnung zusätzlichen Territoriums das drängende Problem der Landverteilung in Angriff genommen werden konnte. Das Ausmaß des Sieges über die Herniker mag dabei unterschätzt worden sein, da es im Folgejahr auch noch zur Festsetzung eines Maximalzinssatzes kam, der auf eine konkrete Linderung der
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Signia hatte die Römer ohnehin gegen die Herniker unterstützt. Attema 1993, 230–233 verweist auf die Bedeutung dieser latinischen Kolonien für die römischen Ansiedlungen. Die plötzlich einsetzende Aggression von Velitrae und vor allem des weit entfernten Privernums dürfte als feindliche Reaktion auf die römischen Ansiedlungs- und Sicherungsbemühungen zu verstehen sein; Liv. 7.15.11. Vgl. Chouqer u. a. 1987, 103.
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Schuldenlast abzielte und somit eine weitere, zentrale wirtschaftliche Forderung der Plebeier erfüllte.153 5.5.2 Lokalisierung und Beschaffenheit der neuen tribus Es bleibt die Frage bestehen, wie die Landverteilungen konkret realisiert wurden. Bereits Smith hat darauf hingewiesen, dass die neuen Gebiete eine „circumvention“ der Ackergesetze darstellten, indem neues Land an römische Bürger verteilt wurde.154 Die Annahme, der Konflikt um die Nutzung des ager publicus sei durch großzügige Landverteilungen gelöst worden, beruht aber mehr auf den späteren großen römischen Deduktionen, die in dieser Form sicherlich nicht erfolgten.155 Ein Blick auf die Organisation der neuen tribus und der darin enthaltenen Ländereien kann hier Aufschluss über die Form der Ansiedlungen in diesen Gebieten geben. Während sich die Lage für die Publilia äußerst schwierig gestaltet, ist der archäologische Befund für das pomptinische Gebiet deutlich besser.156 In diesem Gebiet wurden Anzeichnen der frühen Form der römischen Landvermessung und -aufteilung (scamnatio) gefunden, die vorsichtig in die Mitte des 4. Jahrhunderts datiert werden.157 Vor allem niederländische surveys im Rahmen des ‚Pontine Region Projects‘ haben auf eine erhöhte, agrarwirtschaftliche Nutzung des pomptinischen Gebiets verwiesen, die besonders gegen Ende des 4. Jahrhunderts noch einmal zunahm, deren Beginn aber auf die Fünfzigerjahre des Jahrhunderts datiert wird.158 Diese Zunahme darf als Ausdruck der römischen Ansiedlungen im Rahmen der Tribusgründung gesehen werden, weshalb davon auszugehen ist, dass in diesen beiden Fällen Exklaven von mehreren Tausend (vielleicht 5.000 bis maximal 10.000) Kolonisten samt Familien entstanden,
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Liv. 7.16; vgl. Liv. 27.10.11. Hölkeskamp 2011, 96. Zum Anwachsen sozialer Spannungen in vermeintlich ruhigen Phasen, s. a. Oakley 1993, 18–22; Cornell 1989b, 323–324, 1995, 330–333 u. 393–394. Taylor 1960, 50–54. Chouquer u. a. 1987, 120–121; Schubert 1996, 48–49 und Haas 2011, 265–267 lokalisieren die Publilia zwischen Aletrium, Frusino und Verulae. In dieser Region wurde ein Grid von 19.000 iugera entlang paralleler Nord-Süd Linien entdeckt; Chouqer u. a. 1987, 118–125. Pelgrom 2012, 96–109 fasst die intensive Debatte zwischen der französischen und italienischen Schule hinsichtlich der Interpretation der frühen Vermessungsformen pointiert zusammen. Attema 1993, 230–32 verweist auf die Schwierigkeiten der genauen Erfassung des pomptinischen Gebiets, da vor allem die Centuriation und Infrastrukturmaßnahmen im Zuge des Baus der Via Appia das Bild prägen (Haas 2011, 221–222), während die erste Kolonisation im Zuge der Gründung der Pomptina weniger Spuren hinterlassen hat. Die Landlose im pomptinischen Gebiet wurden offenbar erstmals geometrisch präzise vermessen und den Ansiedlern zugewiesen; Pelgrom 2012, 105, wobei Hinrichs 1974, 49–58 eine frühe Form der Landvermessung per strigas et scamna annimmt. Attema 1993, 113–138, 233–236. Haas 2011, 171–272.
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die viritim, also ohne feste Ortschaft oder Organisation, angesiedelt wurden.159 Attema und de Haas haben dabei überzeugend die Hauptansiedlungszone in dem schmalen Streifen zwischen den paludes Pomptinae und den auslaufenden Hängen der Monti Lepini lokalisiert, der sich nach Westen verbreiterte.160 Insgesamt dürfte dieser Bereich eine nur geringe Fläche an kultivierbarem Land zur Verfügung gestellt haben, während man für die Publilia eine deutlich höhere Ausbeute annehmen darf. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass große Teile des pomptinischen Gebiets zu diesem Zeitpunkt aus Marschland bestanden, welches für die Ackerwirtschaft nur bedingt bis gar nicht geeignet war.161 Dementsprechend müsste man mit Blick auf mögliche Ansiedlungen römischer Bürger diese Region als eher magere Beute betrachten, doch ist dies nur schwer mit der hohen Aufmerksamkeit, der anhaltenden Attraktivität und der nachweisbaren Entwicklung des Gebiets in Einklang zu bringen. In diesem Kontext ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass es nicht Ansiedlungen waren, die die plebs ursprünglich eingefordert hatte, sondern einen gerechten Zugang zum ager publicus. In dieser Hinsicht scheint das pomptinische Gebiet ein noch größeres Rätsel aufzugeben, da Roselaars Studie für diese Region keinen ager publicus lokalisieren kann und daher von einer kompletten Verteilung ausgeht.162 Einen entscheidenden Faktor bildet bei diesen Überlegungen die Frage nach der landwirtschaftlichen Nutzbarkeit des Gebiets, also der Güte des Bodens für die Bewirtschaftung durch sesshafte römische Siedler und der Möglichkeit der Etablierung von Gehöften. Eine solche Konzentration auf eine bestimmte Form der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung, vor allem mit Blick auf Kolonisten, greift in diesem Fall aber zu kurz.163 Bereits Gabba hat klargestellt, dass nicht ausschließlich die ärmsten Schichten der plebs die Verteilung von Ackerland zur eigenen Existenzsicherung forderten, son-
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Hantos 1983, 59–64 zur Größe von Tribusneugründungen. Diese Zahlen sind höchst spekulativ, doch lässt sich anhand der Dimensionen erkennen, dass eine beträchtliche Zahl römischer Siedler hier hätte angesiedelt werden können. Nach Beloch 1926, 620 und Afzelius 1942, 95 ungefähr gleichzusetzen mit dem modernen Territorium zwischen Cisterna, Circeii und Sezze von ca. 680 km2 (= 272.000 iugera). Im 4. Jahrhundert dürfte jedoch ein Großteil dieser Fläche für die Landwirtschaft ungeeignet gewesen sein. Bozza 1939, 166 geht für die tribus Pomptina und Publilia von 40.000 iugera (100 km2) aus, was für 5.714 Kolonisten zu je sieben iugera ausgereicht hätte. Roselaar 2010, 299–300 zieht Bozzas Variante vor. Hölkeskamp 2011, 96 geht von einer niedrigen, aber signifikanten Zahl aus, jedenfalls lehnt er die Maximalangabe von 20.000 Siedlern ab, die Beringer 1961, 144 in Anlehnung an Frank, ESAR I, 32–35 angibt. Die viritanen Assignationen verweisen zudem auf die Notwendigkeit einer Einigung mit den umliegenden latinischen Städten. Vgl. Anm. 98 u. 100 in Kapitel 3 sowie Anm. 98 in Kapitel 2. 160 De Haas 2011, 218–226 erörtert die Zunahme der Besiedlungsdichte gegen Ende des 4. Jahrhunderts, besonders im Untersuchungsraum von Tratturo Canio, ebd. 220–221. Dieses Gebiet ließ sich durch Bewirtschaftung und Instandhaltung bzw. Ausbau der cuniculi ausdehnen und optimieren. 161 Attema 1993, 27–76; s. a. Attema/De Haas/Termeer 2014, 223. 162 Roselaar 2010, 299–300. 163 S. Bispham 2006; Pelgrom 2008; Stek/Pelgrom 2014, die Unterschiede und Entwicklungsschritte der verschiedenen Phasen der römischen Kolonisation hervorgehoben haben.
Harmonie durch Ressourcenverteilung
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dern auch die Söhne der mittelständischen Bauern eine Rolle spielten, die auf keinen Anteil am Erbe hoffen konnten.164 Gerade diese mittleren, in der comitia centuriata einflussreichen Bauernfamilien hatten den plebeischen Forderungen zum Erfolg verholfen.165 Diese Gruppe dürfte sich unter den Kolonisten wiedergefunden haben, die in der für die Landwirtschaft geeigneten pedemontana angesiedelt wurden, wo Spuren früher Limitation vorliegen.166 An diesen landwirtschaftlich kultivierbaren Streifen schloss sich das Marschland an, das sich vom Ende der Ausläufer der Monti Lepini bis zur Küstenlinie erstreckte.167 Obwohl sich das Marschland nicht für die Feldwirtschaft eignete, konnte es durchaus für die Weidewirtschaft genutzt werden, so dass sich hier in späterer Zeit eine gemischte „marsh-economy“168 herausbildete: Kleinere Gehöfte bewirtschafteten in moderatem Rahmen wenige, ausgewählte Flächen und gewannen zusätzliche Ressourcen aus den Sümpfen, während die eigentliche Haupteinkommensquelle die Viehwirtschaft bildete.169 De Haas hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die zunehmende Siedlungsdichte im Zuge der römischen Landverteilung in den Fünfzigerjahren Konflikte mit Privernum provozierte, wobei er neben den Ansiedlungen auch die damit einhergehende Kontrolle über die Transhumanz-Routen als wesentlichen Anlass dafür sieht.170 Allerdings dürften die neuen Kolonisten kaum über das nötige Kapital beziehungsweise Vieh verfügt haben, um das
164 Gabba 1988, 20. 165 Momigliano 2005, 177–180. 166 Die Kritik von Pelgrom 2012 an den frühen Formen der Landvermessung ist berechtigt, s. aber Hinrichs 1978, 23–48 zu frühen Scamnationen und Chouquer u. a. 1987, 98–104. Pelgrom 2012, 117 legt dagegen nahe, dass im Zuge der Ansiedlungen Reklamation und Demarkation Hand in Hand gingen. 167 Haas 2008, 3–4, 9–10. Attema 1993 nimmt seine Einschätzung aufgrund der Studien von La Blanchere 1898 vor, der die pomptinische Ebene vor der Landreklamation durch die Faschisten im Zuge von Mussolinis ‚battaglia del grano‘ in den Jahren 1928–31 beschreibt, die die Topographie der gesamten Region drastisch und dauerhaft veränderte. Das Bild gegen Ende des 19. Jahrhunderts n. Chr. scheint den Verhältnissen zur Mitte des 4. Jahrhunderts zu entsprechen: Maximal ein Viertel der Fläche, und lediglich solche von hoher Bodengüte, wurde mit Getreide bestellt, während der Rest der Viehwirtschaft diente. Attema 1993, 34–35, 51–52, Abb.12. Der kultivierbare Streifen wurde durch den Ausbau der cuniculi in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ausgedehnt; Attema 1993, 60–76. 168 Attema 1993, 51. 169 Attema 1993, 223: „The earliest Republican rural presence lacks the dense and structured pattern of early Republican farmsteads that one would suppose to be associated with a centralised field drainage system.“ Das elaborierte System der cuniculi scheint erst im letzten Drittel des Jahrhunderts in Erscheinung zu treten. Hor. Sat. 1.5, Strab. 5.3.6 und Lucan. 3.85 beschreiben in ihrer Zeit das pomptinische Gebiet als verwilderte Einöde, allerdings wird auch von der weiterhin anhaltenden wirtschaftlichen Aktivität etwa in Forum Appii berichtet. 170 De Haas 2011, 221 vermutet, dass die Ansiedlung römischer Bürger im Raum von Tratturo Canio und südwestlich von Setia auch zur Sicherung der Transhumanzrouten diente. Dies habe die Konflikte mit Privernum verschärft.
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Marschland voll auszuschöpfen geschweige denn in Besitz zu nehmen.171 Anders sähe das Bild aus, wenn wir von einer heterogenen sozialen Zusammensetzung der neuen Kolonisten ausgingen, die etwa Taylor aufgrund der Identifizierung von patrizischen Familien in neuen tribus diskutiert hat.172 Sollten auch Patrizier und reiche Plebeier in den neuen tribus erfasst worden sein, so dürften diese über das nötige Kapital verfügt haben, um die wirtschaftlichen Möglichkeiten des neu akquirierten Gebietes voll auszunutzen, was – unter Berücksichtigung der topographischen Gegebenheiten – auch die Viehwirtschaft miteinschloss.173 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung erscheint die Abwesenheit von ager publicus im pomptinischen Gebiet in einem neuen Licht, denn die Verteilung in großem Stil könnte darauf abgezielt haben, sämtliche Interessensgruppen in Rom zufriedenzustellen, indem auf die Einrichtung von ager publicus verzichtet und das Land als festes Eigentum übertragen wurde.174 Hiermit umging man zudem das Problem der Einflussnahme der großen gentes, deren ökonomische Ressourcen ihnen einen leichteren Zugriff auf den ager publicus ermöglichten und dessen Nutzung damit anderen verwehrten.175 Dieses Vorgehen, das schon im Zuge der Verteilung des ager Veientanus zu Unmut geführt hatte und dessen Beseitigung anschließend einen Kernpunkt der plebeischen Forderungen darstellte, wurde durch die Verteilung unterbunden. Stattdessen bedeutete die Anlage neuer oppida, fora et conciliablua einen vollkommenen Neustart in diesen Regionen, der unterschiedliche Möglichkeiten bereithielt.
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Attema 1993, 234 zu Spuren römischer centuriatio aus dem mittleren 4. Jahrhundert unterhalb der Hänge der Monti Lepini bei Norba und zwischen Cora und Norba, s. a. De Haas 2011, 233–258. Chouquer u. a. 1987, 98–99 verweist auf limites von 12 actus in orthogonaler Anordnung in diesem Bereich, die er mit frühen Ansiedlungen im 4. Jahrhundert in Verbindung bringt. Taylor 1960, 202–205 zu den Claudii, die vor dem Bundesgenossenkrieg bereits in der Palatina, Lemonia, Pollia, Clustumina und Arniensis anzutreffen waren. Nicht umsonst stammt pecunia von pecus, s. Colum. 6 praef. 4; Varro rust. 2.1.11; ling. 5.92; Fest. 220L, 242L; s. a. Gell. 11.1.2; Dion. Hal. ant. Rom. 10.50.1–2. Viehzüchter werden in republikanischer Zeit durchgängig als ‚Gangster‘ dargestellt, die sich widerrechtlich in den Besitz von ager publicus bringen und die einfachen römischen Bauern von deren Nutzung ausschließen. Dieses Bild spiegelt die Vorbehalte von Kleinbauern gegen die Übergriffe und Vorteile reicher Aristokraten wider. Die einzelnen Parzellen wurden zudem genau mit termini versehen, deren Entfernung unter schwerer Strafe stand. Schubert 1996, 43–59. Zu den termini s. Fest. 505L; Dion. Hal. ant. Rom. 2.74.3; Strab. 5.3.2; Plut. Numa 16. Vgl. Behrends 1992, 222–230. Hinrichs 1974, 30 betont die große Beständigkeit der Bezeichnungen der fundi bei den alten römischen Landverteilungen. Der Name des ersten Eigentümers haftete für alle Zeit am Grundstück. Wie bereits gezeigt, stellte dies einen der Kernpunkte der plebeischen Anliegen gegen die Patrizier dar, doch dürfte auch die vermögende plebeische Elite für ein solches Vorgehen in Frage kommen.
Materieller Ausgleich und politische Stabilisierung
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5.6 Materieller Ausgleich und politische Stabilisierung Die Ansiedlungen in dem neuen Gebiet dürften damit eine ökonomische Verbesserung der jeweiligen individuellen Situation bewirkt haben: Kolonisten aus der plebs erhielten eine Existenzsicherung samt Besitzgarantie, befanden sich dafür jedoch auf absehbare Zeit in einem abgelegenen Außenposten. Ein solches Vorgehen stellte dabei auch für die Oberschicht einen Gewinn dar, der noch dadurch erweitert wurde, dass ein Ausgleich für die wirtschaftlichen Interessen der vermögenden Elite durch die Beteiligung an den Landverteilungen beziehungsweise durch besondere Zugriffsmöglichkeiten auf Weideflächen in der Pomptina geschaffen wurde.176 Der wirtschaftliche Gewinn wurde dabei von allen Beteiligten durch die implizite Anerkennung der politischen Machtverhältnisse in Rom erkauft. Die Ansiedlungen stabilisierten jedenfalls die ‚zweite Welle‘ der plebeischen Aufsteiger, unter denen zunächst M. Popilius Laenas herausstach. Die erfolgreiche Karriere des Popilius im Anschluss an die demonstrative und erfolgreiche Umsetzung einer gerechten Landnutzung und -verteilung spricht ebenso wie die erfolgreiche Karriere des C. Marcius Rutilus für das große politische Prestige, das man mithilfe einer volksfreundlichen Politik erwerben konnte. Letzterer gründete seine Karriere etwa auf der Erfüllung der zweiten zentralen, plebeischen Forderung: einer dauerhaften Linderung der Schuldenproblematik. Im Konsulat des Marcius und Cn. Manlius wurde die Zinslast auf 8 und 1/3 Prozent festgesetzt.177 Das entsprechende Gesetz wurde zwar von den tribuni plebis Menenius und Duilius eingebracht, doch scheinen die Konsuln dieses Vorhaben unterstützt zu haben.178 Außerdem dürfte das Vorgehen gegen C. Licinius Stolo abgestimmt gewesen sein, da Cn. Manlius seine beiden Konsulate (cos. 359, 357) zunächst mit M. Popilius Laenas und dann mit eben jenem C. Marcius Rutilus bekleidete.179 Damit stellt das Jahr 358/357 eine klare Zäsur aufgrund der Durchsetzung der materiellen Forderungen von 367/66 und des damit verbundenen Aufstiegs einer neuen Gruppierung von plebeisch-patrizischen Aristokraten dar.
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Attema 1993, 33–35. Liv. 7.16.1; Tac. ann. 6.16. Im gleichen Jahr verwandelte der Konsul Cn. Manlius Imperiosus sein Heerlager bei Sutrium in eine Volksversammlung und ließ seine Soldaten tributim über eine Manumissionsabgabe abstimmen: legem novo exemplo in castris tributim de vicensima eorum, qui manumitterentur, tulit; Liv. 7.16.7. Deren Annahme sorgte für Empörung in Rom, wurde aber nicht widerrufen, s. hierzu Graeber 2001, 48–50; Forsythe 2007a, 35–36; Gargola 2017, 191. Im zweiten Konsulat des C. Marcius wurden die quinqueviri mensarii eingerichtet (Hölkeskamp 2011, 97–100), die mit noch größerer Energie eine Behebung der Schulden betrieben Liv. 7.21.5–8; Gai. inst. 4.23; hierzu Savunen 1993, 148–149; s. a. Rotondi 1966, 224; Frank 1933, 29–30. Da beide Maßnahmen im Amtsjahr des Plebeiers Marcius stattfanden, ist es legitim hier eine Verbindung zu sehen. Stewart 1998, 155. Die Annahme einer politischen Interessensgemeinschaft scheint auch dadurch bestätigt, dass C. Marcius Rutilus als erster plebeischer dictator von dem Konsul M. Popilius Laenas (cos. 356) ernannt wurde; Liv. 7.17.6–9; s. hierzu Eutrop. 2.5; Oros. 3.6.3.
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Der Ausgleich der Stände
Im Zuge dieser Ablösung kam es zwischen 359 und 342 zu einer noch stärkeren Monopolisierung der obersten Magistratur durch ein politisches „Kartell“ von acht Familien.180 Offensichtlich werden hierbei der Machtverlust der altehrwürdigen Geschlechter wie den Cornelii, Furii oder Claudii sowie die geringen Möglichkeiten für aufstrebende plebeische Familien wie den Poetelii, die lediglich einen Konsul pro Generation vorweisen konnten. Neben den militärischen Erfolgen dürfte die Dominanz weniger Familien durch die inhaltliche Befriedigung der Bedürfnisse der plebs zustande gekommen sein, was vor allem in der Tribusgründung von 358 sowie der sukzessiv erfolgenden Erleichterung und Abschaffung der Zins- und Schuldlasten greifbar wird.181
180 Vgl. Hölkeskamp 2011, 43–45. Hölkeskamp lehnt zwar Münzers Konstruktion von Adelsparteien ab, erkennt aber auffällige Regelmäßigkeiten und Parallelen an. 181 C. Marcius Rutilus war vor allem durch das Engagement in der Schuldenfrage erfolgreich. Popillius Laenas verfolgte ebenfalls eine plebsfreundliche Agenda, s. Cic. Brut. 56; Liv. 7.12.4–5. Cornell 1989b, 333–334, 1995, 325; Hölkeskamp 2011, 74–76.
6. Die Oligarchie der Jahre 358 bis 343 Der erfolgreichen Erfüllung der wirtschaftlichen Anliegen folgte auf den ersten Blick ein ‚Roll-back‘ der politischen Errungenschaften der Plebeier in den Fünfziger- und Vierzigerjahren. In den Jahren 355, 354, 353, 351, 349, 345 und 343 bekleideten ausschließlich Patrizier den Konsulat. Diese sogenannte „patrizische Reaktion“ hat in der Forschung zu einer intensiven Diskussion über den Erfolg und die Verbindlichkeit der Ämterteilung zwischen Patriziern und Plebeiern geführt.1 Die einseitige Fokussierung auf die konstitutionellen Auswirkungen der patrizischen Doppelbesetzung verdeckt allerdings die besonderen historischen Rahmenbedingungen dieser Jahre. In diesem Kapitel werden die Entwicklungen der Fünfzigerjahre daher unter dem Aspekt der äußeren Erfolge von 358/57 und deren Auswirkung auf die Innenpolitik betrachtet. Hierbei wird der Fokus auf der dynamischen Entwicklung und Aushandlung der Besetzung der seit den leges Liciniae Sextiae maßgeblichen politischen Institutionen der res publica Romana liegen. 6.1 Zwischen patrizischer Reaktion und oligarchischer Verfestigung Betrachtet man zunächst die fasti consulares für die Jahre 360 bis 343, so lässt sich nur schwer der Eindruck vermeiden, dass es in diesem Zeitraum zu einem signifikanten patrizischen Zurückrollen der plebeischen Ansprüche auf die Bekleidung der Ämter 1
Eine prägnante Zusammenfassung der älteren Forschung bietet Staveley 1954, 208–211. Bernardi 1946, 4–10 und Staveley 1983, 54–55 verweisen auf die Formulierung von Maximalforderungen in den leges Liciniae Sextiae, da die Patrizier de facto vom Wettkampf um eine der Stellen ausgeschlossen wurden. Stewart 1998, 152–153 und Feig Vishnia 2012, 4–7 heben dagegen die flexible Aushandlung der Regeln zu dieser Zeit hervor. Develin 1985, 180–183 vermutet, die Patrizier hätten versucht, den Einfluss der Plebeier gering zu halten, ähnlich Forsythe 2005, 271–273, der einen Zusammenhang mit dem plebiscitum Poetelium de ambitu sieht. Richard 1979, 73–75; Cornell 1995, 337–339; Forsythe 2005, 265–266 und Lanfranchi 2015, 312–320 gehen von einer Öffnung des Konsulats für Plebeier im Jahr 366 aus, die obligatorische Benennung eines Konsuls aus der plebs sei aber erst mit der lex Genucia 342 eingeführt worden. Trotzdem bliebe hier der plebeische Misserfolg nach den relativ erfolgreichen Anfangsjahren zu erklären; Hölkeskamp 2011, 71–74 macht vor allem militärische Notwendigkeiten verantwortlich, vgl. Beck 2005a, 102. Ferenczy 1976a, 50 sieht dagegen die militärische Notlage als Grund für das Scheitern des patrizischen ‚Roll-backs‘ an.
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Die Oligarchie der Jahre 358 bis 343
gekommen war.2 Hauptprofiteure waren hier die vier patrizischen gentes der Valerii, Manlii, Sulpicii und Fabii, die allein 19 Konsulate bekleideten, während 6 weitere auf andere Patrizier und insgesamt 11 auf Plebeier entfielen.3 Auf den ersten Blick spricht diese Auflistung eine deutliche Sprache, jedoch ist die Annahme einer Marginalisierung der Plebeier schon allein aufgrund der außerordentlichen Erfolge des C. Marcius Rutilus bei der Öffnung und Bekleidung der Diktatur und Zensur problematisch.4 Bedenkt man außerdem die jeweils vier plebeischen Konsulate von C. Marcius und M. Popilius, so kommt man zwar auf ein patrizisches Übergewicht, doch sind die Konsulate unter den einzelnen Personen relativ gleichmäßig verteilt. Die Fokussierung auf eine „patrizische“ Dominanz der Oberämter wird also der politischen Situation nicht völlig gerecht, da die Einbrüche in die Zensur und Diktatur just auf dem Höhepunkt des patrizischen Übergewichts erfolgten. Falls die Patrizier tatsächlich eine Exklusion der Plebeier betrieben, so stellt sich die Frage, wie es diesen dennoch gelingen konnte, in zusätzliche patrizische Reservate einzubrechen. Stattdessen ist hier, wie schon in den Sechzigerjahren, von einer Monopolisierung der Oberämter durch eine einflussreiche patrizisch-plebeische Gruppierung auszugehen, die sich allerdings komplizierter gestaltete als etwa von Münzer angenommen.5 Die Voraussetzungen hierfür waren mehr als günstig, da die Forderungen nach Landverteilungen erfüllt sowie greifbare Fortschritte bei der Reduktion der Schuldenproblematik erreicht worden waren. Sämtliche im Konsulat vertretenen Familien hatten sich zudem als militärisch tüchtig erwiesen und neben der Erringung zusätzlichen Territoriums auch in den Auseinandersetzungen mit latinischen Nachbarn und keltischen Scharen bestanden.6 Insofern war die Bilanz dieser Gruppe nicht zu verachten und es ist anzunehmen, dass sich dies auch in ihrer öffentlichen Unterstützung 2 3
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MRR I, 120–133. Neben C. Poetelius (cos. 360, 346) tauchen lediglich zwei Plautii auf (cos. 358 und 347). Valerii (7x): M. Valerius Poplicola (355, 353); P. Valerius Poplicola (352, 350); M. Valerius Corvus (348, 346, 343 und zudem später 335, 300, 299). Manlii (5x): Cn. Manlius Capitolinus Imperiosus (359, 357); T. Manlius Torquatus (347, 344, 340). Sulpicii (6x): C. Sulpicius Peticus (364, 361, 355, 353, 351); Ser. Sulpicius Rufus (345). Fabii (5x): C. Fabius Ambustus (358); M. Fabius Ambustus (360, 356, 354); M. Fabius Dorsuo (345). Für die einzelnen Belege s. MRR I, 120–133. Vgl. Münzer 1920, 26–34; Develin 1985, 179–186; Hölkeskamp 2011, 76–82. M. Popilius Laenas bekleidete den Konsulat regelmäßig (359, 356, 354 unklar, 350, 348); s. a. Ziegler RE 22.1 (1953), 59–60. C. Marcius Rutilus konnte neben einer beachtlichen Anzahl an Konsulaten (357, 352, 344, 342) auch noch als erster Plebeier den Zugang zum Amt des Diktators (356 Liv. 7.17.6–9; Inscr. It. 13.1.68, 540; Eutrop. 2.5; Oros. 3.6.3) und des Zensors (351, Liv. 7.22.6–10) für die Plebeier erstreiten. MRR I, 121–133. Münzer 1920, 26–34; Develin 1985, 43–57; Cornell 1989b, 344–345; Stewart 1998, 153–155; Hölkeskamp 2011, 62–65. Die enge Kooperation zeigt sich etwa in der gemeinsamen Bekleidung des Konsulats 357 und der Zensur 351 durch C. Marcius Rutilus und Cn. Manlius Imperiosus, mit dem auch M. Popilius Laenas 359 den Konsulat gemeinsam ausübte. Develin 2005, 303 erkennt zwar die Konzentration der Ämter an, widerspricht jedoch einer Kooperation der Amtsinhaber, was allerdings auf der Postulierung starker patrizischer und plebeischer Gruppeninteressen beruht. Hölkeskamp 2011, 87–90, 1993, 22.
Zwischen patrizischer Reaktion und oligarchischer Verfestigung
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niederschlug. Zusätzlich zu dem politischen Prestige dürfte auch die Ansiedlung von Bürgern in der Pomptina und Publilia das Protestpotenzial in der Bürgerschaft abgemildert haben. Die Unterstützung der neuangesiedelten Bürger führte hier zu einem doppelten Stabilisierungseffekt. Unabhängig von der genauen Zusammensetzung der comitia centuriata zu diesem Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass der Aufstieg einer signifikanten Zahl von Bürgern in höhere Vermögensklassen die Position der dafür verantwortlichen politischen Akteure festigte. In noch stärkerem Maße darf dies für die comitia tributa sowie das concilium plebis angenommen werden, in denen die zwei neuen tribus die Machtbalance spürbar verschoben.7 Geht man also von einer weitgehend positiven Grunddisposition der römischen Bürgerschaft zu diesem Zeitpunkt aus, so ist die Etablierung einer stark oligarchisch geprägten Herrschaftsgruppe plausibel, die auch Plebeier umfasste. In demselben Maße, in dem die wirtschaftlichen und sozialen Nöte zu einer politischen Mobilisierung geführt hatten, bewirkte die Behebung dieser Missstände eine Demobilisierung der Bürgerschaft.8 In diesem Kontext erklärt sich möglicherweise auch das umstrittene plebiscitum Poetelium de ambitu des Jahres 357, das die Wahlwerbung außerhalb der Stadt Rom unterbinden sollte.9 Dieses Gesetz wurde häufig im Kontext der ambitus-Gesetzgebung der späten Republik interpretiert, die vor allem den Kauf von Stimmen durch die Verteilung von Geldgeschenken unterbinden sollte.10 Dies entspricht jedoch nicht der lapidaren Notiz des Livius, dessen schmale Erwähnung des Vorgangs eine Rückprojektion von späteren ambitus-Regelungen unwahrscheinlich erscheinen lässt.11 Livius erwähnt das Gesetz vielmehr in Verbindung mit der Einrichtung der zwei neuen, relativ weit
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Hölkeskamp 2011, 95–96. S. a. Taylor 1960, 282–283, die davon ausgeht, dass sich auch Patrizier in die neuen tribus einschrieben. Hierbei wäre die dominante politische Fraktion klar im Vorteil gewesen, zumal die einzige Zensur der Fünfzigerjahre im Jahr 351 von C. Marcius und Cn. Manlius ausgeübt wurde, s. Liv. 7.22.6–10. S. Cels-Saint-Hilaire 1995, 316–321 zu den politischen Implikationen der Tribusgründungen sowie Kapitel 5.4. Eder 2002, passim; Yakobson 2006, 394–395. Für die Einführung des Gesetzes liegt lediglich der Bericht des Livius (7.15.12–13) vor, der offenbar von den späteren Gesetzen gegen Wahlbestechungen beeinflusst wurde; Oakley 1998 175–177, s. Beck 2016 zu den späteren Regelungen. Das Gesetz scheint weniger auf Bestechungen, sondern vielmehr auf den Wahlkampf außerhalb der urbs abgezielt zu haben: Lintott 1990, 4–5; Develin 1985, 130–135; Linderski 1995, 110; Cornell 1995, 469 Anm. 33; Nadig 1997, 22–23; Elster 2003, 21. Fascione 1981, passim, 269 zum Zusammenhang mit den Tribusgründungen von 358, vgl. hierzu Hackl 1972, 135–138; Kolodko 2011, 118–122. Zum Hintergrund des Gesetzes: Hölkeskamp 2011, 83–85, der ebenfalls die Kritik an der Überlieferung des Gesetzes zurückweist. Skeptisch bleiben dagegen McDonnell 1986. Elster 2003, 12–14. Zur Bewertung als Korruptionsregelung s. Veyne 1976, 425–426; Linderski 1995, 111–114; Deniaux 1987, 294; Gruen 1991, 255–257; Wallinga 1994, 435–438; Riggsby 1999, 26–27; Yakobson 1999, 22–26; Rosillo López 2010, 16–23, 49–69. Liv. 7.15.11–13: eodem anno duae tribus, Pomptina et Publilia, additae; ludi votivi, quos M. Furius dictator voverat, facti; et de ambitu ab C. Poetelio tribuno plebis auctoribus patribus tum primum ad populum latum est; eaque rogatione novorum maxime hominum ambitionem, qui nundinas et conciliabula obire soliti erant, compressam credebant.
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Die Oligarchie der Jahre 358 bis 343
entfernten tribus und erläutert, dass dadurch vor allem der Eifer ehrgeiziger homines novi gebremst werden sollte. In diesem Kontext lohnt es sich, die von den Konsuln M. Baebius Tamphilus und P. Cornelius Cethegus verabschiedete lex de ambitu des Jahres 181 als Vergleich heranzuziehen.12 Beck hat dieses Gesetz als Reaktion auf die Notwendigkeit einer legislativen Verfestigung von Regeln angesichts der dynamischen Situation im Zuge der Neuordnung der Ämter und der Ämterlaufbahn in den ersten beiden Dekaden des 2. Jahrhunderts interpretiert. Das Gesetz habe vor allem darauf abgezielt, die massiven Veränderungen und Ungleichgewichten ausgesetzte Oberschicht zu stabilisieren, indem durch Einschränkungen der Wahlkampfmöglichkeiten, etwa der finanziellen Aufwendungen, wieder eine relative Statuskohärenz innerhalb der Nobilität hergestellt wurde.13 Zentral ist hierbei die Beschränkung des Wahlkampfs, die vor allem der Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse gedient habe, indem der Einsatz von zusätzlichen Mitteln jenseits des ererbten bzw. erworbenen Prestiges eingeschränkt wurde, was den etablierten Teilen der politischen Elite in die Hände spielte. Eine vergleichbare Situation liegt auch bei dem plebiscitum Poetelium de ambitu vor.14 Die Überlegung Hölkeskamps, wonach die Konzentration der plebeischen Unterstützung auf einige wenige Kandidaten – hauptsächlich M. Popilius Laenas und C. Marcius Rutilus – notwendig gewesen sei, um sich gegen die Patrizier durchzusetzen, stößt allerdings auf Widersprüche. Aufgrund der frappierenden Dominanz einiger weniger, patrizischer gentes ist es fraglich, ob die Patrizier zu diesem Zeitpunkt überhaupt als geschlossene Einheit gegenüber den plebeischen Aufsteigern agierten. Ein Problem der gängigen Rekonstruktion der ‚patrizischen Reaktion‘ ist die Annahme einer hohen internen Solidarisierung und Standesdisziplin der Patrizier und Plebeier.15 Gerade die bereits skizzierte kompetitive Natur des Aufstiegs des M. Popilius Laenas, sprich seine Anklage des C. Licinius, lässt Zweifel an einer umfassenden plebeischen Strategie zur Förderung der eigenen politischen Ambitionen der Plebeier aufkommen. Gleiches gilt für den Volkstribun C. Poetelius selbst, bei dem es sich offenbar um den Konsul des Jahres 360 handelte. Erst die 342 rogierten Plebiszite, die sowohl eine wiederholte
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Liv. 40.19.11: legem de ambitu consules ex auctoritate senatus ad populum tulerunt. Rotondi 1966, 277; Lintott 1990, 5–6; Elster 2003, 339–340. Beck 2016, 139–142, 150. Develin 1985, 130–131, 2005, 303; Hölkeskamp 2011, 84–85. Ferenczy 1976a, 50–51; s. dagegen Develin 1979, 49–52, 1985, 182–184 und Hölkeskamp 2011, 62–71. Trotz dieser Ausführungen werden beide Gruppen nicht mit der notwendigen Differenziertheit betrachtet. Cornell 2009, 17–27 führt dies auf die vereinfachte Darstellung durch die späteren Autoren zurück, die zwar die Vorgänge schilderten, die ihnen zugrundeliegenden Motive aber nicht mehr nachvollziehen konnten. Der patrizisch-plebeische Gegensatz bot hier einen eleganten Ausweg, zumal sich die Darstellungen auf den eventuellen Ausgleich hinbewegten, dessen Folgen auch in späteren Zeiten evident waren.
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Iteration als auch rein patrizische Konsulate verhindern sollten, richteten sich gegen diese ‚Exklusivitätstendenzen‘ innerhalb der jeweiligen Gruppen.16 Unabhängig von den individuellen Ambitionen einzelner Patrizier und Plebeier stellt sich im Rahmen der Ämterverteilung zudem die Frage, mit welcher Intensität die ‚einfachen‘ Plebeier, also die unabhängige ‚Mittelschicht‘ die politischen Anliegen der reichen plebeischen Elite teilten. Immerhin hatte sich ihre wirtschaftliche Situation verbessert, wofür die Verantwortlichen, M. Popilius Laenas und C. Marcius Rutilus, ihre Unterstützung erhielten. Es besteht in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage, warum sich die plebeische Basis an einer patrizischen ‚Überrepräsentation‘ in den Ämtern stören sollte, wenn hierdurch Männer in den Konsulat kamen, die sich um die Gemeinschaft verdient gemacht und Wohltaten an die Bürgerschaft verteilt hatten.17 Solange der plebeische Zugang zu den Ämtern nicht prinzipiell in Frage gestellt wurde, gab es eigentlich keinen Grund, nicht auch volksfreundliche und tüchtige Patrizier zu wählen.18 Dementsprechend muss bei einer gering ausgeprägten Gruppen- oder auch Interessenspräferenz von einem Vorteil für die Amtsinhaber ausgegangen werden, der in diesem Fall durch die Beschränkung der Zugangschancen für plebeische homines novi, deren Wahlkampfagitation durch das plebiscitum Poetelium eingeschränkt worden war, noch verstärkt wurde. Geht man von einer starken Binnenfragmentierung der plebeischen und patrizischen Elite aus, so ergibt sich hieraus eine beidseitige Absicherung der amtierenden Gruppe mit Blick auf plebeische Wähler. ‚Konservative‘ Patrizier dürften bei diesen wenig Unterstützung gefunden haben, während aufstrebende Plebeier – unter den Beschränkungen des Plebiszits – nur geringe Erfolgsaussichten gegen den Widerstand der amtierenden plebeischen Patrone samt ihren progressiven patrizischen Verbündeten besaßen.19 Dies musste umso unwahrscheinlicher erscheinen, je erfolgreicher letztere sich sowohl in der Innen- als auch Außenpolitik bewährten. 16 17
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Hölkeskamp 2011, 84–86. Vgl. Liv. 7.18.8 in der Tendenz wohl zutreffende Notiz für die Wahl der Konsuln des Jahres 354: non desunt tribuni auctores turbarum, sed inter concitatos per se omnes vix duces eminent. Die Wahl ist auch insofern pikant, als Liv. 7.18.10 berichtet, statt M. Fabius Ambustus und T. Quinctius seien der Fabier und M. Popilius Laenas gewählt worden. Gegen die zweite Variante: Diod. 16.40.1; Chr. 354 (Ambusto III et Capitolino); Inscr. It. 13.1.105, 404. Die gens Manlia verfolgte zum Beispiel weiterhin eine plebs-freundliche Politik: Die Einführung der fünfprozentigen Manumissionsabgabe dürfte eher die reiche Oberschicht getroffen haben; Liv. 7.16. Hierzu Oakley 1998, 177–182. Zudem nahm Cn. Manlius Imperiosus als Zensor zusammen mit C. Marcius Rutilus die Einschreibung der Siedler in der Pomptina und Publilia vor. Auch sein Verwandter T. Manlius Torquatus senkte in seinem ersten Konsulat zusammen mit dem ebenfalls erstmalig gewählten C. Plautius den Zinssatz von 8 1/3 auf 4 1/6 Prozent sowie die Tilgungsfrist, Liv. 7.27.3–4. Develin 1985, 181. Die beiden erfolgreichsten Vertreter M. Popilius und C. Marcius kooperierten trotz der patrizischen Dominanz weiterhin mit den Patriziern. Hierzu Develin 1985, 182–183, Stewart 1998, 159–181. Folgt man den Überlegungen von Terrenato 2014, 49–51 zur Integration der Plautii zu diesem Zeitpunkt, so ergibt sich eine noch stärkere Reglementierung und Kontrolle des Zugangs zu den Ämtern durch die etablierten Konsulare.
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6.2 ‚Mediterranean Anarchy‘ – Die patrizische Reaktion im Kontext der militärischen Konflikte der Jahre 358 bis 343 Mit dem Abschluss des Hernikerkrieges wendet sich der livianische Fokus dem südlichen Etrurien zu, das Zeuge eines erneuten Aufflammens militärischer Zusammenstöße zwischen Rom und dem mächtigen Tarquinii wurde.20 Der Krieg wurde durch einen Überfall der Etrusker auf das römische Gebiet im Jahr 359 ausgelöst und sollte erst 352 enden. Besonders der Kriegsausbruch ist interessant, da die römischen Kräfte zu diesem Zeitpunkt im östlichen und nord-östlichen Latium gebunden waren. Der etruskische Überfall, fuit agris terribilior quam urbi laut Livius, lässt dabei einen Plünderungszug im römischen ager Veientanus vermuten.21 Die Vorgänge entsprechen dabei weitestgehend dem Bild anarchischer zwischenstaatlicher Beziehungen, die Arthur Eckstein für Mittelitalien postuliert hat.22 6.2.1 Der Etruskerkrieg In gewisser Weise ist der römisch-etruskische Krieg der Fünfzigerjahre eine Goldgrube der besonderen Art, denn mit den elogia Tarquiniensia wird die literarische Überlieferung an dieser Stelle durch ein einzigartiges epigraphisches Zeugnis ergänzt, das zudem die Ereignisse aus einer nicht-römischen Perspektive widergibt.23 Die elogia stammen aus dem späten 1. Jahrhundert und bildeten die Basis eines Monuments in der Nähe
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Zum Ablauf der Kämpfe: Harris 1971, 46–48; Heurgon 1973, 186; Cornell 1989b, 321; Camporeale 2003, 120; Jolivet 2013, 153–154. Liv. 7.12 berichtet von einem Plünderungszug just zu dem Zeitpunkt, als die Römer gegen Tibur und die Herniker kämpften. Oakley 1998, 10–11. Eckstein 2006, 128–129 geht von einer opportunistischen etruskischen Aggression aus, „Roman historical tradition, which aims at glorifying the city, does not make up stories like this“, ebenso Harris 1971, 47–48 und Oakley 1998, 8–10. Pallottino 2013, 223–227 spricht von einem Machtzuwachs Tarquiniis im Zuge der Vernichtung Veiis, wodurch die Stadt die nötigen Mittel erlangt hätte, um gegen Rom vorzugehen. Ecksteins Anwendung der „International Relations Theory“ ist durchaus kontrovers aufgenommen worden. Hölkeskamp 2009 kritisiert zu Recht die starke Abhängigkeit von Polybios und die fehlende Berücksichtigung der sozio-politischen Besonderheiten der römischen Gesellschaft. Dagegen erhielt Eckstein im anglo-amerikanischen Bereich deutlich größeren Zuspruch, s. etwa Culham 2008; Erskine 2008 und Quilin 2009. Das große Verdienst Eckstein besteht zweifellos darin, den italischen Kontext und das von ‚terrores multi‘ geprägte italische Umfeld Roms stärker zu betonen. In dieser Hinsicht hat seine Monographie durchaus prägende Wirkung entfaltet, s. etwa Terrenato 2019, 28. Zur Inschrift s. Torelli 1975, 25–44, 2019, 93–124 sowie die Kritik an seiner Rekonstruktion des historischen Kontexts durch Cornell 1978, 169–172, ohne die grundlegende Authentizität zu bestreiten; vgl. Cornell 1991, 14 zur Konservierung etruskischer Texte in Caere, Veii und Tarquini. Zur Verankerung lokaler Traditionen in der Antike s. Cornell 1976 für Etrurien; Ungern-Sternberg 1988, 238–239 zu Rom, McAuley 2015, 69–87 zur Situation im hellenistischen Osten und Beck 2017, 40–51, 2020, 8–40 zur Vernetzung lokalen Wissens in Griechenland.
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der Ara della Regina in Tarquinii, das die Taten der illustren Vorfahren der lokalen gens Spurinna zelebriert.24 Die lateinische Inschrift erwähnt unter anderem einen gewissen Aulus Spurinna f. Veltur, der als Prätor in Caere interveniert, einen Sklavenaufstand in Arretium unterdrückt sowie neun latinische Städte eingenommen haben soll.25 Torelli hält die beschriebenen Ereignisse für authentisch und verortet Aulus Spurinna im Kontext des Etruskerkrieges von 359 bis 353.26 Gerade die bereits erörterten engen Beziehungen zwischen Caere und Rom sowie die Vertreibung des Orgulnius durch den etruskischen Angriff, dessen Name mit der späteren gens Ogulnia übereinstimmt, lassen Torellis Lesung m. E. plausibel erscheinen. Demnach wäre der Angriff auf Caere als Teil der Kämpfe gegen Rom zu verstehen, in deren Kontext Tarquinii, beziehungsweise Aulus Spurinna, freundlich gesinnte Kreise in Caere an die Macht brachte.27 Für diese Interpretation spricht auch die geographische Übereinstimmung mit den von Livius beschriebenen Vorgängen, wonach die Kämpfe im ager Veientanus begannen. Gegen die einfallenden Tarquinienser habe der Konsul C. Fabius Ambustus eine schwere Niederlage erlitten, die durch die ungewöhnliche und auch bei Diodoros bezeugte Hinrichtung von 307 römischen Kriegsgefangenen als Opfergabe in Tarquinii erhärtet wird. Es handelt sich hierbei um einen äußerst ungewöhnlichen Vorgang, dem eine historische Basis zugrunde gelegen haben dürfte.28 Dies habe auch die Falisker 24
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Trotz der radikalen Umwälzungen in Etrurien im 1. Jahrhundert scheinen dennoch Teile der traditionellen Oberschicht in ihren Gemeinwesen prominent geblieben zu sein und Prestige aus ihrer langen Lokalgeschichte gezogen zu haben, s. Heurgon 1955 und Cornell 1976. Harris 1971, 29–31 ist zurückhaltender: „But there was some knowledge of the historical Etruscans …“. Harris verweist hier auf Varros Erwähnung von Tuscae Historiae (Cens. 17.6) sowie den Informationen, die sich bei Poseidonios finden. Zuletzt haben Briquel 2016, 29–54 und Cornell 1976, 428–429, 1991, 7–33 die Möglichkeit eines etruskischen Überlieferungsstrangs betont, möglicherweise auf der Basis von Familienarchiven. Torelli 2019 bespricht die Geschichte der gens Spurina umfassend. A(ulus) S[pu]rinna V[elth]ur [is F] / pr(aetor) (ter); orgoln[iu]m Velthurne [---] ensi [---] / caeritum regem imperio expu[lit---]xi[---] / a[rretium]bello servili v[exatum liberavit?] / [La]tinis novem op[pida---]. Nach Torelli 1975, 44. Leighton 2004, 139–141; Engerbeaud 2020, 196–204; Torelli 2019, 115–118. Torelli 1975, 82; ebenso Gabba 1979; Leighton 2004, 139; Terrenato 2019, 100–102; Engerbeaud 2020, 202–203. Dagegen lehnt Cornell 1978 Torellis Einordnung ab und plädiert für eine Datierung vor dem 4. Jahrhundert. Grundlage hierfür ist Torellis Rekonstruktion von Orgoln[iu]m Velturne [---]ensi[---] / Caeritum regem imperio expu[lit---, da die Königswürde in den etruskischen Städten gegen Ende des 5. Jahrhunderts abgeschafft worden sei. Cornells Kritik ist auch angesichts der sehr weitgreifenden Thesen angebracht, die Torelli bezüglich der gens Spurinna entwirft, die aber im Falle der Inschriften der Tomba dell’Orco von Steingräber 2006, 207–209 überzeugend zurückgewiesen wurden. Dennoch ließe sich auf Cornell erwidern, dass die spätrepublikanischen, etruskischen Herausgeber der lateinischen Inschrift lediglich eine griffige und zu diesem Zeitpunkt negativ konnotierte Formulierung für die Vertreibung eines romfreundlichen Amtsträgers verwendeten. Für letzteres könnte der Name Orgolnius sprechen, den auch die ab dem 3. Jahrhundert politisch erfolgreiche gens Ogulnia trägt, s. Farney 2007, 129–130, 146. Forsythe 2005, 344 bringt diese mit Caere in direkte Verbindung. Liv. 7.15.10 und Diod. 16.45.8 belegen die römische Vergeltungsmaßnahme, die in der Hinrichtung etruskischer Kriegsgefangener bestand, Liv. 7.19.3: id pro immolatis in foro Tarquiniensium Romanis poenae hostibus redditum. Vgl. Cornell 1989b, 321: „some reason to believe that this act was an expi-
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dazu veranlasst, auf der Seite Tarquiniis in den Krieg zu ziehen.29 Gegen diese Koalition scheint daraufhin auch der Konsul M. Fabius Ambustus eine Niederlage erlitten zu haben, woraufhin es zu etruskischen Plünderungen bis zu den Salinen gekommen sei.30 Hier wird deutlich, dass sich der Kriegsschauplatz an die Küste verlagert hatte, wobei die römische Seite in der Defensive verblieb. In der Folge kam es zu erneuten Angriffen im Bereich der Salinen unter Beteiligung Caeres im Jahr 353. Trotz der von Livius berichteten römischen Siege wurde noch im gleichen Jahr ein Friedensvertrag mit Caere und im folgenden Jahr mit den Faliskern und Tarquinii abgeschlossen.31 Der livianische Bericht deckt sich also größtenteils mit dem Befund der elogia Tarquiniensia, wonach Aulus Spurinnus in Caere interveniert und mehrere latinische Städte eingenommen hätte. Die ersten Erfolge gegen die Römer könnten die Grundlage für eine Intervention in Caere gewesen sein, die nicht notwendigerweise die Eroberung der Stadt, sondern wohl eher die Unterstützung der anti-römischen Partei vor Ort erreichen sollte.32 Dies wiederum hätte die strategische Lage für Rom deutlich verschärft,
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atory ritual for the dead of Tarquinii, and is to be seen as a form of gladiatorial performance.“ Laut Kyle 1998, 37 erfolgte dies eher aus Rache als aus kultischer Verpflichtung. Eine solche Hinrichtung ist außergewöhnlich und spricht für die historische Authentizität des Ereignisses; Di Fazio 2001, 445–448. Ders. 2018, 337 verweist außerdem darauf, dass zu diesem Zeitpunkt der Tempelbereich der Ara della Regina in Tarquinii ausgebaut und neuausgerichtet wurde (s. Bagnasco-Gianni 2011, 49–50, Torelli 2019, 35–49), was möglicherweise im Kontext der militärischen Operationen erfolgte. Die Hinrichtung hat sich möglicherweise auch in der etruskischen Grabmalerei zu diesem Zeitpunkt niedergeschlagen: hierzu Kyle 1998, 157 zum sarcophagus von Laris Partunu in der 1876 entdeckten Partunu-Grabstätte, deren Seiten eine Amazonomachie und Achilles’ Opferung trojanischer Gefangener zu Ehren des gefallenen Patroklos wiedergeben, Banti 1973, 82–83. Steingräber 2006, 240 und Leighton 2004, 157 vermuten, diese Zeichnungen hätten konkreten Bezug auf die Opferung der römischen Kriegsgefangenen genommen, s. a. Torelli 1981b, 3–6. Die Gründe für die wie auch immer geartete religiöse Opferung der römischen Gefangenen bleiben schleierhaft, da ein solches Vorgehen eher selten war; Cantarella 1991, 386. Hannibal nutzte ähnliche Leichenspiele zur Motivierung seiner Truppen, etwa in Norditalien: Liv. 21.42–3, Pol. 3.62–3; sowie nach Cannae: Diod. 26.14.2; Plin. nat. 8.18, wobei kein einziger Römer überlebte; ebenso Scipio in Cartagena 206, Liv. 41.20.10–13. S. a. App. civ. 1.117 und Flor. 2.8.9 zu den Leichenspielen, die Spartacus seine römischen Gefangenen zu Ehren des gefallenen Krixos aufführen ließ. Da sämtliche dieser ‚Spektakel‘ dazu dienten, die Position des Befehlshabers zu festigen, ließe sich vermuten, dass die Inszenierung derselben in foro Tarquiniensium, der Anerkennung des Befehlshabers (Aulus Spurinna?) durch die Gemeinschaft diente. Liv. 7.16.2. Anscheinend weigerten sich die Falisker, römische Deserteure des Vorjahres auszuliefern, so auch Diod. 16.31.7. Leighton 2004, 139. Camporeale 2003, 120 geht von einer klaren Reaktion der Südetrusker auf das römische Vordringen aus. Liv. 7.17.6. Harris 1971, 47–48; Forsythe 2005, 279. Pfiffig 1966, 34 verweist auf die problematische Überlieferung eines hundertjährigen Waffenstillstands. S. Leighton 2004, 138–141 für einen Überblick der römisch-etruskischen Auseinandersetzungen in diesem Zeitraum. Gillet 2010, 6 plädiert zudem für eine flexiblere Sicht auf Bündnissysteme in der Frühzeit: „The concept of smaller, less official alliances is a great possibility: particularly, I think, a strong southern alliance of Etruscans and Faliscans.“ Torelli 1975, 82–92. Selbst Livius (7.15.10–11) kommt nicht umhin, die römischen Niederlagen einzugestehen, was eher ungewöhnlich ist. Auch Diod. 16.36.4 erwähnt den tiefen etruskischen Einfall. Die ungewöhnliche Notiz von der Hinrichtung römischer Gefangener sowie die kohärente
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da Caere ein kaum zu ersetzender Partner war.33 Die relativ gute Quellenlage erlaubt hier eine rare, detaillierte Momentaufnahme der kriegerischen Auseinandersetzungen. Selbst wenn man diese als Ausdruck der ‚Mediterranean Anarchy‘ nimmt, bleibt festzuhalten, dass die Bürger und damit die Wähler in Rom von ihrer Führungselite erwarteten, die Gemeinschaft angesichts der Bedrohungslage wirksam zu schützen. 6.2.2 Patrizische Reaktion und plebeische Kollaboration Vor dem Hintergrund des relativ gut überlieferten Verlaufs des Etruskerkrieges bietet es sich an, diese Vorgänge mit der römischen Innenpolitik der entsprechenden Jahre zu kontextualisieren, um ein breiteres Bild der spezifischen Bedingungen der ungewöhnlichen Personenkonzentration in den Oberämtern zu gewinnen. Wie bereits erwähnt, hatten die ungenügenden Fortschritte in den Kriegen gegen die Herniker und die nördlichen Latinerstädte, insbesondere die Unfähigkeit der plebeischen Konsuln, zu personellen Konsequenzen geführt, von denen M. Popilius Laenas und C. Marcius Rutilus profitierten. Dagegen war die patrizische Gruppierung weitgehend stabil geblieben, was wahrscheinlich auf die erwiesene militärische Expertise ihrer Mitglieder zurückzuführen ist.34 Den größten Erfolg stellte in diesem Zusammenhang sicherlich der Sieg über Tibur und dessen keltische Verbündete durch den dictator C. Sulpicius Peticus im Jahr 358 dar; die Beute diente unter anderem der Errichtung eines Siegesmonuments auf dem Capitol, das die Erinnerung an die Geschehnisse konserviert haben könnte.35 Zwar erforderte es zwei weitere Feldzüge bis zur Kapitulation Tiburs, doch war die Gefahr in diesem Bereich durch den Sieg des Sulpicius vorerst gebannt.
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Darstellung mit römischen Gegenmaßnahmen im Jahr 354 sprechen für die Authentizität dieser Informationen, Heurgon 1964, 210–211; Oakley 1998, 173; Vgl. Rich 2007, 15–16 zur relativ guten Überlieferung von Kämpfen mit den Etruskern. Sordi 1960, 91–106; Cornell 1989b, 321; Camporeale 2003, 294–295; Torelli 2016, 263–265. Develin 1985, 184. Liv. 7.15.8: auri quoque ex Gallicis spoliis satis magnum pondus saxo quadrato saeptum in Capitolio sacravit. Nach Forsythe 2007b, 395 eine klassische Siegestrophäe, die Claudius Quadrigarius’ Interesse geweckt haben könnte, vgl. Davies 2017a, 30. Der Sieg über die Kelten ist breit überliefert, wobei möglicherweise der Sieg des Sulpicius mit dem Zweikampf des Manlius Torquatus verschmolzen wurde. Nach Pol. 2.18.6 war es aber lediglich ein Abwehrerfolg; Liv. 7.15.8; App. Celt 1.1; Flor. 1.13.20; Frontin. Str. 2.4.5; Eutrop. 2.5.2; Vir. ill. 28; Oros. 3.6.2; s. a. Inscr. It. 13.1.68, 540. Die Bedeutung des Sieges über die Kelten betonen Oakley 1998, 126–128 und Forsythe 2005, 277. Muccioli 1992, 294–298 zum Sieg des Sulpicius. Möglicherweise verweist auch Pol. 2.18.7 auf dieses Ereignis, vorausgesetzt er hätte die Kelteneinfälle von 358 und 349 verwechselt, worauf die Erwähnung der socii hindeutet. Laut Livius stellten diese lediglich im ersten Fall Truppen, während sie sich ab 349 trotz der gallischen Bedrohung im Krieg mit Rom befanden. Dagegen Liv. 7.12.7 zum Jahr 358: sed inter multos terrores solacio fuit pax Latinis petentibus data, et magna vis militum ab his ex foedere vetusto, quod multis intermiserant annis, accepta. Außerdem weist Livius den gallischen Vorstoß nach Alba, den Polybios für 358 erwähnt, dem späteren Einfall von 349 zu, Liv. 7.23.2.
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Der damit verbundene Prestigegewinn aufgrund der ökonomischen Erfüllung der plebeischen Forderungen im Zuge der Realisierung von Ansiedlungen in der Pomptina und Publilia ist bereits erörtert worden, doch wurde hierbei kein Bezug auf den Einfall der Etrusker genommen. Dieser erste Einfall mag noch keine katastrophalen Folgen nach sich gezogen haben, doch dürfte die Niederlage des C. Fabius Ambustus und insbesondere die Opferung der römischen Kriegsgefangenen eine spürbare Reaktion in Rom hervorgerufen haben. Auffällig sind jedenfalls die Konsuln der Folgejahre 357 und 356, in denen zunächst C. Marcius Rutilus mit Cn. Manlius Imperiosus und anschließend M. Popilius Laenas mit M. Fabius Ambustus das Kommando gegen Etrusker und Falisker führten.36 Zu diesem Zeitpunkt ist eine patrizische Reaktion also noch nicht zu erkennen, vielmehr entspricht die Entwicklung der bereits erörterten Annahme einer fest im Sattel sitzenden kleinen plebeisch-patrizischen Gruppe.37 Auch im Jahr 356, als eine weitere Niederlage des M. Fabius Ambustus Plünderungen bis zu den Salinen zur Folge hatte, kam es zu einer Reaktion im Sinne dieser Gruppierung, da der plebeische Konsul Popilius Laenas den C. Marcius Rutilus zum dictator ernannte.38 Damit war Marcius der erste Plebeier, der dieses Notstandsamt bekleidete, das er angeblich gegen harten patrizischen Widerstand erstreiten musste.39 Die Annahme einer anti-plebeischen Haltung in diesem Kontext ist dabei grundlegend für die ‚patrizische Reaktion‘, da in den darauffolgenden drei Jahren ausschließlich patrizische Konsulate auftreten.40 Der angebliche Konflikt zwischen den Patriziern und C. Marcius ist aber zumindest merkwürdig. Die Ernennung eines plebeischen magister equitum etwa – C. Plautius Proculus, der den Hernikerkrieg erfolgreich beendet hatte – verursachte keine Aufregung. Auch militärisch war der dictator erfolgreich, so dass das Volk ihm einen Triumph gewährte.41 Da der patrizische Konsul, der Bruder des glücklosen Konsuls C. Fabius von 358, nicht anwesend war, um die Wahl abzuhalten, sei es dann 356/355 aus Furcht vor einer Wahlleitung des C. Marcius zu einem interregnum gekommen. Betrachtet man allerdings die Liste der patrizischen interreges, so fällt auf, dass es sich hierbei um die bisherigen Partner des Marcius und Popilius handelte, mit denen diese
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Der glücklose C. Fabius Ambustus scheint allerdings ein vorzeitiges Karriereende erlitten zu haben, ohne dass seine Familie daraus Schaden gezogen hätte, s. MRR I, 121–123. Im Jahr 357 riskierte man offenbar wenig, da Liv. 7.16.7 bezüglich der Operationen gegen die Falisker lapidar bemerkt: ab altero consule nihil memorabile gestum. Ebenso Diod. 16.31.7. S. Hölkeskamp 2011, 75 zu den politischen Aktivitäten. Vgl. dagegen Develin 2005, 302–303. Liv. 7.17.6; Diod. 16.36.4. Liv. 7.17.7: id vero patribus indignum videri, etiam dictaturam iam in promiscuo esse. Jahn 1970, 66, dagegen halten Münzer 1920, 31 und Ferenczy 1976a, 49–50 den Widerstand für erfunden, da Marcius’ Karriere keine Frontstellung gegen das Patriziat aufweise. Hölkeskamp 2011, 66 konstatiert die Aufhebung des patrizischen Monopols durch die erfolgreiche Bekleidung. Zum Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen s. Poma 1995, 79–84. MRR I, 124–125. Hölkeskamp 2011, 76–78. Am ausführlichsten dazu Liv. 7.17.8–9; Eutrop. 2.5.2; Oros. 3.6.3. Diod. 16.36.4 könnte aber darauf hinweisen, dass die Angreifer bereits wieder abgezogen waren. Oakley 1998, 185–190.
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auch nach den drei rein patrizischen Konsulaten weiter zusammenarbeiteten.42 Zwar sollte die Dynamik der internen Machtkämpfe nicht unterschätzt werden, doch lässt die anschließende nahtlose Fortsetzung der gemeinsamen Kooperation ein größeres Zerwürfnis eher unwahrscheinlich erscheinen. Eine andere Erklärung wäre dagegen, dass ein plebeischer Kandidat nicht die notwendige Kompetenz in Bezug auf die auspicia besaß, weshalb die Wahlen stets von einem Patrizier geführt worden seien.43 Zweifelsohne waren die auspicia für die Patrizier von hoher Bedeutung und qualifizierten deren Mitglieder für das Amt des interrex, was eine politische Instrumentalisierung des Interregnums sowie der patrizischen Priesterämter erlaubte.44 Inwiefern die auspicia allerdings die Zugangsmöglichkeiten der Plebeier zu den Ämtern mit imperium einschränkten, ist kontrovers diskutiert worden, ohne dass ein endgültiger Konsens hergestellt werden konnte.45 Zuletzt hat Linke darauf hingewiesen, dass die auspicia den Patriziern zwar einen exklusiven Zugang und bis zuletzt eine privilegierte Kommunikation mit den sakralen Mächten gestatteten, doch hat er ebenso deutlich herausgestellt, dass hieraus keineswegs starke Priesterämter erwachsen seien. Die Fragmentierung der sakralen Machtmittel nach der Vertreibung der Könige hatte hier zur Folge, dass diese nur kollektiv zum Einsatz gebracht werden konnten, was einen breiten Konsens unter den Patriziern voraussetzte.46 Von einer solchen kollektiven Ausrichtung ist im Fall des überlieferten interregnum nicht auszugehen, da der Versuch, die Wahlen bereits vom zweiten interrex durchführen zu lassen, scheiterte, woraufhin eine Entscheidung erst durch den achten interrex fiel, was auf eine erhebliche Dauer des interregnum von 8 bis maximal 40 Tagen verweist.47 Da die-
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Liv. 7.17.11: Interreges deinceps Q. Servilius Ahala, M. Fabius, Cn. Manlius, C. Fabius, C. Sulpicius, L. Aemilius, Q. Servilius, M. Fabius Ambustus. Staveley 1954, 196 zu auspicia ad patres redeunt bei Liv. 1.32.1, s. a. Linderski 1990. Cic. leg. 3.8–9 verweist auf eine weitgehende Kontrolle des Wahlprozesses, der aber in der Hand der etablierten patrizischen Akteure blieb, Jahn 1970, 64–67. Vgl. Stewart 1998, 152–153; Walt 1997, 268–271; Hölkeskamp 2011, 75. Cic. Dom. 38. Zur Wirksamkeit von interregna s. Staveley 1954, 200–202; Hölkeskamp 2011, 63–71. Der Verweis auf die auspicia erlaubte zumindest die Monopolisierung der Priestertümer: Mitchell 1990, 62–109, 2005, 130–174. S. a. Momigliano 1963, 118; Ferenczy 1976a, 26–28; Smith 2006a, 260–268; Richard 2015, 232–247; s. a. Anm. 76 bis 78 in Kapitel 2. Erst ab dem 3. Jahrhundert erlangten die Plebeier Zugang zu den Priesterämtern, nie jedoch zum interregnum. Zur Zulassung der Plebeier zu den Priesterkollegien in der lex Ogulnia (Liv. 10.6.1–9.2) Hölkeskamp 1988, passim, 2011, 140–142; Porte 1989, 62; Cornell 1995, 340–344; Elster 2003, 103–106; Forsythe 2005, 320–321; Lundgreen 2017, 348–355. Laut Magdelain 1964 passim, Bleicken 1981b, 5–21, 1998, 302–311 und Heuss 1983, 399–414 waren die auspicia der Kern der späteren magistratischen Amtsgewalt, s. a. Linderski 1990, passim. Bunse 1998, 146–154 geht davon aus, dass die Plebeier das ius auspicii erst im Zuge der Licinischen Gesetze errungen hatten und ihr Anspruch darauf zunächst prekär blieb. Zur Bedeutung der auspicia s. a. Linke 1995, 149–153, 2012, 30–31; Smith 2006a, 258–260; Humm 2012, 65–73, 81–84; Drogula 2015, 68–81. Staveley 1954, 195. Linke 2014a, 45 hebt die geringen Einflussmöglichkeiten der Priester in der Frühzeit hervor. Liv. 7.17.11–12.
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ser interrex die Wahlen durchzuführen hatte, ist davon auszugehen, dass es zu einer intensiven Diskussion der weiteren Vorgehensweise gekommen war, was möglicherweise auf größeren Unmut der nicht an den Oberämtern beteiligten patrizischen gentes verweist. Dementsprechend könnte man in Umkehrung von Rilingers These, die interregna hätten den Patriziern dazu gedient, plebeische Konsuln auszubooten, argumentieren, das interregnum sei vielmehr als Teil des innerpatrizischen Konfliktes zu sehen, in dessen Zuge sich die etablierten Patrizier durchsetzen und die Wahlen durchführen konnten.48 Die Suche nach der genauen Motivation der Beteiligten muss spekulativ bleiben, doch ist der überlieferte, schwierige Deliberationsprozess aufschlussreich. Die Wahl des C. Sulpicius Peticus – eine Art römischer Blücher der Jahrhundertmitte – lässt sich ohne weiteres mit den militärischen Erfordernissen erklären, zumal er als Aufgabenbereich den Krieg gegen die Etrusker erhielt.49 Gänzlich neu auf dem Tableau erscheint dagegen M. Valerius Poplicola, der lediglich einen Streifzug gegen Tibur unternahm.50 Die Valerii waren im Zuge der Licinisch-Sextischen Reformen von der Bildfläche verschwunden, so dass ihr plötzliches Auftauchen überrascht, zumal es ihnen anschließend gelang, sich dauerhaft zu etablieren.51 Der Erfolg der Valerii sowie die anhaltende Prominenz der zuvor erfolgreichen nobiles spricht m. E. dafür, das interregnum für die Wahl der Konsuln von 355 als institutionalisierte ‚Kungelei‘ unter den Patriziern zu verstehen.52 Beide Konsulate des M. Valerius Publicola 355 und 353 wurden zusammen mit C. Sulpicius Peticus absolviert, wobei diese beiden in ihrem zweiten gemeinsamen Konsulat, mit Unterstützung des dictator T. Manlius Torquatus und seines magister equitum A. Cornelius Cossus, einen Friedensvertrag mit Caere zustande brachten. Sulpicius Peticus erzwang in einem weiteren patrizischen Konsulat mit T. Quinctius (351) außerdem noch einen Friedensvertrag mit Tarquinii.53 Die klar auf die Abwehr der 48 49 50 51
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Jahn 1970, 64–68. Nach Rilinger 1976, 46–53 ging es vor allem um die Verhinderung der Leitung der Wahl durch einen Plebeier; Hölkeskamp 2011, 62–65. Hölkeskamp 2011, 87–90. Liv. 7.18.2: Empulum eo anno ex Tiburtibus haud memorando certamine captum. MRR I, 124–133. In der kollektiven Erinnerung konservierte der Fall des M. Valerius Corvus das Ereignis, der eine an T. Manlius Torquatus angelehnte Karriere absolvierte, Oakley 1985, 394. Die gens Valeria kehrte hiermit zurück in die Führungsriege: M. Valerius Poplicola (cos. 355, 353, s. Volkmann RE 8.1 (1955), 177); P. Valerius Poplicola (cos. 352, pr. 350, dict. 344); M. Valerius Corvus, (cos. 348, pr. 347, cos. 346, 343, 335 und angeblich auch 300 und 299, s. Volkmann RE 7.2 (1948), 2413–2418). Staveley 1954, 200–202; Jahn 1970 46–47, 67–68; Rilinger 1976, 19–21. Vgl. Graeber 2001, 11–14. Hölkeskamp 2011, 78–80 zeigt, dass ein Großteil der Wahldiktatoren (T. Manlius 353, 349 (unklar, s. MRR I, 128–129); C. Iulius 352 und L. Furius Camillus 350) aus aufstrebenden, jungen Patriziern bestand, die sich in der Folge etablieren konnten. Auf dieser Grundlage geht er von einem Ausgleich der Patrizier untereinander aus, der auf Kosten einer Beteiligung zusätzlicher Plebeier am Konsulat ging. Liv. 7.22.3; Diod. 16.53.1, s. a. MRR I, 124–125. Zu Caere: Liv. 7.19–20 spricht von einem Friedensvertrag für 100 Jahre, was eine Wiederherstellung des neutralen, möglicherweise auch engen Verhältnisses zwischen Rom und Caere nach der Intervention Tarquiniis bedeutete. S. a. Strab. 5.2.3; Gell. 16.13.7.
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Etrusker ausgerichteten Aktionen der Konsuln dieser Jahre legen eine Erklärung der patrizischen Dominanz mit der militärischen Notlage nahe, was besonders im Fall des C. Sulpicius Peticus und des militärisch erprobten T. Manlius Torquatus deutlich wird. Vertraut man den fasti consulares für diese Jahre, sticht folglich keine ‚patrizische Reaktion‘ heraus, sondern vielmehr die Tatsache, dass ein einziger Patrizier, C. Sulpicius Peticus (cos. 355, 353, 351), eine herausragende Rolle einnahm. Bedenkt man zudem, dass die zweite Stelle in den Jahren 355 und 353 durch M. Valerius Puplicola besetzt wurde, so wird deutlich, dass die ‚patrizische Reaktion‘ nicht nur die Plebeier ausschloss, sondern auch den innerpatrizischen Wettkampf lahmlegte, was in der Forschung bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde.54 Es ließe sich provokant argumentieren, dass die extreme Verengung des Konsulats auf wenige Personen in diesen Jahren überhaupt nur mit Unterstützung prominenter Plebeier zustande kommen konnte.55 Einen Hinweis auf die plebeische Akzeptanz erlaubt die Maßnahme zur Beschränkung des Zinsfußes, die im rein patrizischen Konsulatsjahr 354 erfolgte. Außerdem wird berichtet, dass die Beilegung des Krieges mit Caere ein patrizisches interregnum zur Folge hatte, das zur Wahl des C. Marcius Rutilus zusammen mit P. Valerius Publicola für das Jahr 352 führte. In ihr Amtsjahr fällt eine weitere Maßnahme zur Erleichterung der Schuldenlast mittels der Bestellung der quinqueviri mensarii, die mit öffentlichen Geldern eine Tilgung der Schulden vornahmen.56 Angeblich sei die plebs daraufhin dermaßen zufrieden gewesen, dass niemand Einspruch gegen die Wahl der beiden Patrizier C. Sulpicius und T. Quinctius Poenus erhoben habe.57 In deren Amtsjahr wurden C. Marcius Rutilus und Cn. Manlius Capitolinus Imperiosus zu Zensoren gewählt, womit C. Marcius auch dieses Amt als erster Plebeier bekleidete.58 Sollte er
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Develin 2005, 303. Rilinger 1978, 268–269; Cornell 1989b, 344, 1995, 342–344; Hölkeskamp 2011, 85–86. Es ist fraglich, ob sich die beiden erfolgreichsten Plebeier Popilius und Rutilus als Konsul und Diktator im Jahr 356 dermaßen hätten ausbooten lassen, nachdem sie die Niederlage des Fabius ausgebügelt hatten (Liv. 7.17.7–10). Vor dem zweiten patrizischen Konsulat berichtet Liv. 7.18.8 zudem: non desunt tribuni auctores turbarum, sed inter concitatos per se omnes vix duces eminent. Außerdem ist die Überlieferung für die Konsuln dieses Jahres unklar: in quibusdam annalibus pro T. Quinctio M. Popilium consulem invenio. Liv. 7.18.10, vgl. dagegen Diod. 16.40.1; Chr. 354 (Ambusto III et Capitolino); Inscr. It. 13.1.105, 404. Liv. 7.21.5–8; Gai. inst. 4.23; Tac. Ann. 6.16. Pollera 1983, 447–464; s. a. Rotondi 1966, 224; Frank 1933, 29–30; Cornell 1995, 332–333; Hölkeskamp 2011, 75–76. De Martino 1979, 193–199. Storchi Marino 1993, 216–217 zur Historizität. Liv. 7.22.2–3. Develin 1985, 182. Liv. 7.22.6–10. Auffällig ist an dieser Stelle auch, dass M. Fabius Ambustus erstmals zum dictator comitiorum habendorum causa ernannt wurde, was aber weder den Erfolg des C. Marcius noch die Wahl des M. Popilius Laenas zum Konsul für das 350 verhinderte. Jahn 1970, 68–69; Rilinger 1976, 37–38; Kunkel 1995, 690. C. Marcius Rutilus hatte sich offenbar mit den Patriziern arrangiert, zudem nimmt Savunen 1993, 153 an, dass er in seinem Konsulat zusammen mit Valerius Publicola die Kommission zur Beseitigung der Schulden eingesetzt hatte, was ihm sicherlich breite Unterstützung eintrug.
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in dieser Funktion, wie Hölkeskamp vermutet, die Weiterführung der Maßnahmen zur Zinserleichterung forciert haben, muss man feststellen, dass die einfachen Plebeier und auch die Anhängerschaft der Patrizier unter der sogenannten patrizischen Reaktion eine stringente Politik der Schuldenerleichterung sowie eine kompetente Militärführung erlebten.59 Da im Folgejahr wieder ein gemischtes Konsulat mit M. Popilius Laenas und L. Cornelius Scipio auftaucht, muss festgehalten werden, dass die beiden Plebeier M. Popilius und C. Marcius trotz der patrizischen Reaktion eine beeindruckende Karriere absolvierten.60 Zwar folgen auch in den Vierzigerjahren rein patrizische Konsulate, doch soll an diesem Punkt zunächst ein Zwischenfazit zur eindeutigen patrizischen Dominanz gezogen werden. Hierzu bietet sich die Beilegung des Krieges mit Tarquinii und dessen Verbündeten an, da die Grenze zu den Etruskern bis zum Jahr 311 ruhig bleiben sollte.61 Insgesamt zeigt sich in den Fünfzigerjahren eine Verfestigung der Führungsschicht, die stabile Gruppierungskonstellationen ausbildete, jedoch flexibel genug war, um auf situative Herausforderungen zu reagieren. Gerade die erfolgreiche Integration der Valerii zu einem kritischen Zeitpunkt unterstreicht m. E. diese Flexibilität. Die relativ dominante patrizische Gruppe scheint mit dieser Maßnahme jedenfalls ihre Vorrangstellung bewahrt und gefestigt zu haben.62 Im selben Kontext sind auch die rein patrizischen Konsulatsjahre und die angebliche Zurückdrängung der plebeischen Ansprüche zu sehen, denn M. Popilius und C. Marcius bekleideten eine ebenso hohe, teilweise höhere Anzahl an Konsulaten wie ihre patrizischen Kollegen. Allerdings war die Zahl der in der Führungsschicht vertretenen Plebeier geringer, so dass die proportionale Verteilung in der Kategorie patrizischer und plebeischer Konsulate unausgewogen ausfiel.63 Es ist davon auszugehen, dass die beiden erfolgreichen Plebeier hieran keinen großen Anstoß nahmen, solange sie die gemeinsame Politik mitbestimmen konnten, worauf die Zulassung des C. Marcius zur Diktatur und Zensur verweist.64 Laut Roberta Stewart benahmen sich diese Plebeier nicht anders als die Patrizier, doch pflegten
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Diese Maßnahmen und Erfolge wurden öffentlichkeitswirksam inszeniert, wie etwa die Hinrichtung der etruskischen Kriegsgefangenen medio in foro, Liv. 7.19.3, Diod. 16.45.8. Auch die quinqueviri mensarii nahmen ihre Tätigkeit im politischen Zentrum der Stadt wahr; Liv. 7.21.8. Develin 1985, 183. Oakley 2014, 24. Dem entspricht die Beobachtung, dass die patrizischen Neulinge stets erfahrene Kollegen erhielten, Hölkeskamp 2011, 80–81. Die militärische Absicherung mag hierbei eine ebenso große Rolle gespielt haben, wie die Disziplinierung dieser neuen Gruppenmitglieder durch deutlich prestigeträchtigere Kollegen. M. Valerius Publicola teilte seine beiden Konsulat 355 und 353 etwa mit C. Sulpicius Peticus, dessen magister equitum er bereits 358 gewesen war, s. Volkmann RE 8.1 (1955), 177, der von einer engen Beziehung ausgeht. Bunse 2005, 19–21. Staveley 1954, 108–209. Develin 2005, 302–303. Hölkeskamp 1993, 22 verweist zudem auf das hohe Risiko der Kommandoübernahme durch Plebeier: „They were either condemned to success or doomed to failure.“
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sie weiterhin ihre Basis, was die Senkung der Zinsen sowie die wiederholten Maßnahmen gegen die Schuldenproblematik belegen. Gewissermaßen deckten die plebeischen Mitglieder des ‚Politkartells‘ dieser Jahre die populistische Flanke ab, indem Sie durch die Aufnahme und Umsetzung plebeischer Forderungen das Mobilisierungspotenzial gegen die bestehende Machtkonstellation verminderten.65 6.2.3 Stabilisierung und Machtzuwachs Neben der Konstatierung einer erfolgreich die Oberämter monopolisierenden kleinen patrizisch-plebeischen Gruppe erlaubt die Quellenlage für die Fünfzigerjahre auch einen Blick auf die Verhältnisse jenseits dieser politischen Führungsriege. Auf patrizischer Seite lassen die spärlichen Verweise auf die Prätoren der Jahre 366 bis 341 ein zweitrangiges patrizisches Glied erahnen, dessen Mitglieder es anscheinend nicht bis in die Spitzenpositionen schafften, aber dennoch Einfluss auf und Anteil an den politischen Entscheidungen nahmen.66 Eine ähnliche Konstellation begegnet uns bei den Plebeiern. Besonders deutlich tritt diese im Jahr 352 mit der Einrichtung der quinqueviri mensarii hervor, die unter der Verwendung öffentlicher Gelder Schuldenposten ablösten und damit auf öffentliche Rechnung eine Konsenslösung zwischen Gläubigern und Schuldnern ermöglichten.67 Interessant ist vor allem die Zusammensetzung dieses Gremiums, das keine bekannten Namen aufweist, sondern die Plebeier C. Duilius, Q. Publilius und P. Decius Mus sowie die beiden Patrizier M. Papirius und Ti. Aemilius. Der gesamte Vorgang stand dabei wohl unter der Schirmherrschaft des C. Marcius Rutilus, der 352 Konsul und im Folgejahr Zensor war, so dass man von
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Stewart 1998, 151–159. North 1990, 286 betont die „relationship between competitive oligarchy and voting assemblies“; Ferenczy 1976a, 48–50 zu Kämpfen der Plebeier untereinander, eine Kooperation mit den Patriziern konnte hier der gegenseitigen Absicherung dienen. Hölkeskamp 2011, 74– 90 hat dies bereits treffend auf den Punkt gebracht, interpretiert die Handlungen in letzter Instanz aber stets vor dem Hintergrund eines plebeisch-patrizischen Null-Summen-Spiels, s. besonders 76. Über die Volkstribunen bestand de facto ein ständiges Einfallstor für populistische Agitation, s. Bleicken 1981c, 92 „Seine ursprüngliche Funktion liegt daher in der Führung der Plebeier, insbesondere in der Formulierung des plebeischen politischen Willens und in der Durchsetzung dieses Willens.“ Zu den „schlummernden Potentialen“ Eder 2002, 465–475. Lanfranchi 2015, 312–330. Von den 15 Prätoren sind lediglich vier für die Zeit vor dem Latinerkrieg bekannt: Sp. Furius Camillus (366), P. Valerius Publicola (350), L. Pinarius Natta (349), M. Valerius Corvus (347, s. Plin. nat. 7.157), Ti. Aemilius Mamercinus (341), MRR I, 115–135, die Zuordnung des M. Valerius Corvus auf das Jahr 347 ist umstritten. Brennan 2000, 71–73; Hölkeskamp 2011, 77. Eine Bewertung des Stellenwerts der Prätur für diese Personen ist schwierig, da P. Valerius Publicola das Amt nach seinem Konsulat antrat und sich damit bereits etabliert hatte, während Ti. Aemilius Mamercinus in seinem kurz auf die Prätur folgenden Konsulat vor allem durch seine Rhetorik und Politik gegen das Establishment auffiel. Storchi Marino 1993, 214–239.
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einer engen Verbindung ausgehen kann.68 Hinsichtlich der quinqueviri ist es bezeichnend, dass sämtliche Mitglieder – Patrizier wie Plebeier – ab dem Latinerkrieg äußerst erfolgreiche, aber auch kontroverse Karrieren absolvierten.69 Diese personellen Veränderungen lagen zu diesem Zeitpunkt aber noch mehr als 12 Jahre in der Zukunft, so dass es fraglich ist, inwiefern diese Akteure als willige Unterstützer oder Konkurrenten der etablierten Konsularriege angesehen werden können.70 Es ließe sich an dieser Stelle vermuten, dass die Tilgung der Schulden mit öffentlichen Mitteln eine breitere Repräsentation und Beteiligung der patrizischen und plebeischen Eliten jenseits der engen Führungsriege erforderlich machte, doch bleibt dies Spekulation. Der weitere Befund der fasti consulares für die Vierzigerjahre unterstreicht jedenfalls die anhaltende Vormachtstellung von M. Popilius und C. Marcius, an denen die übrigen Plebeier mit politischen Ambitionen vorerst nicht vorbeikamen.71 Das Unvermögen von Personen aus dem zweiten Glied aufzusteigen mag auch darin begründet gewesen sein, dass die etablierten Familien es geschafft hatten, den überschaubaren Führungszirkel durch gezielte und kontrollierte Erweiterungen zu stabilisieren. Angesichts der militärischen und ökonomischen Erfolge, die die Etablierten errangen, dürfte es zudem wenig Angriffsfläche für ihre Ablösung gegeben haben, erst recht nicht unter den Plebeiern, die zwei einflussreiche und erfolgreiche Vertreter ihrer Interessen in der Führungsriege wussten. Die Stabilisierung und Verfestigung der römischen Position als Regionalmacht wird dabei durch den Abschluss von Verträgen mit den Samniten und Praeneste 35472 sowie mit Karthago 348 deutlich.73 Diese müs68
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Hölkeskamp 2011, 100 vermutet dies aufgrund von Liv. 7.22.6: quia solutio aeris alieni multarum rerum mutaverat dominos, censum agi placuit. Zehnacker 1980, 359–360; Cornell 1989b, 333–334; Storchi Marino 1993, 241–242. Vgl. Silver 2012, 225–226 „suppression of the forces of demand and supply in the credit market“ sowie 234 zu den sozio-ökonomischen Folgen. S. nur MRR I, 134–138. P. Decius Mus (cos. 340) und seine gens wurden zu Prototypen römischer Märtyrer, Q. Publilius Philo und Aemilius bekleiden 339 zusammen den Konsulat als Grundlage ihrer weiteren beeindruckenden Karriere. Die durchaus umtriebigen Plebeier der zweiten Reihe. z. B. die tribuni plebis des Jahres 357 Duilius und Menenius, die gegen Zinswucher vorgehen (unciario faenore, Liv. 7.16.1; Tac. Ann. 6.16) und ebenso die quinqueviri mensarii des Jahres 352 (besonders P. Decius Mus und Q. Publilius Philo (Liv. 7.21.5–8; Gai. Inst. 4.23)) schaffen es bis zum Latinerkrieg nicht in die Ämter mit imperium vorzudringen. Eine Kooperation ist aber nicht völlig auszuschließen, da M. Duilius bereits 357 im Konsulat des C. Marcius und Cn. Manlius als Volkstribun gegen den Zinswucher vorgegangen war, s. oben. Neben den beiden rückte C. Plautius (cos. 347, 341) nach und C. Poetelius bekleidete ein weiteres Mal den Konsulat 360, 346. Beide Familien verschwinden aber in dem Moment, in dem die Vertreter der quinqueviri mensarii die politische Bühne zu dominieren beginnen. Diod. 16.45.8. Liv. 7.19.3–4 führt dies auf die Erfolge gegen die Etrusker zurück: res bello bene gestae, ut Samnites quoque amicitiam peterent, effecerunt. Salmon 1967, 191–193 bietet eine spekulative Rekonstruktion an. Frederiksen 1984, 180 und Grossmann 2009, 19 sehen den Vertrag als authentisch an, ebenso Scopacasa 2015, 125–127; s. a. Cornell 1989b, 323, Forsythe 2005, 277–285. Pol. 3.24.3–13, 3.26.1; Liv. 7.27.2–3; Diod. 16.69.1; Oros. 3.7.1. Forsythe 2005, 279–281; Serrati 2006, 118–120; Eckstein 2010, 419–423 verortet diesen Vertrag im Kontext der turbulenten Lage auf Sizilien in den Vierzigerjahren. Der Erfolg der Römer gegenüber Kelten und griechischen ‚Piraten‘ (Liv. 7.26.13–15) habe ein erhöhtes Interesse der Karthager an Latium nach sich gezogen; s. a. Liv. 7.38.2,
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sen nicht zwangsläufig als Ausdruck eines wachsenden römischen Expansionswunsches gesehen werden, sondern können genauso gut als Sicherung und Bestätigung des neuen Status betrachtet werden, um unerwünschte und schwer kontrollierbare Verwicklungen zu vermeiden.74 Dies ist sowohl für die außen- wie auch innenpolitische Ebene anzunehmen, denn die spezifische Dynamik militärischer Entwicklungen war, anders als die politischen Versammlungen, kaum zu kontrollieren und hatte sich bereits zuvor als ambivalenter Faktor erwiesen. Dies zeigt sich deutlich bei dem einzigen Ausreißer in den fasti consulares der Jahre 360 bis 342, dem Jahr 349, in dem L. Furius Camillus und App. Claudius Crassus Inregillensis den Konsulat bekleideten, in beiden Fällen ein einmaliger Erfolg. Interessanterweise sind ausgerechnet die historischen Rahmenbedingungen des Konsulats dieser beiden ‚Outsider‘ umstritten.75 Den Hintergrund bildete ein weiterer Kelteneinfall im Jahr 350, den der Konsul M. Popilius Laenas zwar stoppen, aber anscheinend nicht vollständig abwehren konnte, so dass diese Aufgabe den Konsuln des darauffolgenden Jahres zufiel.76 Bis hierhin stellten die militärischen Operationen keine Gefährdung der politischen Machtbalance dar, doch änderte sich dies durch zwei unvorhersehbare Ereignisse: Der Konsul Cornelius war bereits kurz nach Amtsantritt aufgrund einer Krankheit ausgefallen. Da auch der Konsul Popilius in der Schlacht eine schwere, aber offenbar nicht lebensgefährliche Wunde erhielt, sah man sich gezwungen, einen
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wo von der Überbringung einer 25-pfündigen Goldkrone während des 1. Samnitenkrieges die Rede ist, die als Weihgeschenk in der cella des Jupitertempels auf dem Kapitol deponiert wurde. Pol. 3.26.1: ἐν τῷ τῶν ἀγορανόμων ταμείῳ. Die Literatur zu den Karthagerverträgen ist äußerst umfangreich, wobei die communis opinio von der Historizität des Vertrags von 348 ausgeht: s. etwa Thiel 1954, 12–29, 129–34; Werner 1963, 341– 355; Toynbee 1965 I, 551–554; Bengtson 1969, 53–55; Mitchell 1971, 633–655; Alföldi 1963, 354–355; Huss 1985, 149–155; Scardigli 1991, 89–127; Oakley 1998, 257–258; Forsythe 2005, 122–124, 279–281; Serrati 2006, 113–134; Steinby 2007, 78–84; Harris 2016, 17–18. Durchgehend wird anhand des Vergleichs der beiden Verträge auf den gewachsenen Einflussbereich Roms verwiesen, wobei Ameling 1993, 132–134 und Zimmermann 2013, 9–12 betonen, dass dieser zweite Vertrag die Latiner wesentlich stärker unter Druck setzte als der erste Vertrag. In diesem Kontext könnte auch die Befestigung des römischen Gebiets vorangetrieben worden sein. Forsythe 2005, 278–279 vermutet etwa, dass die etruskischen Vorstöße zu den Salinen die Grundlage für die Errichtung des Kastells bzw. der colonia von Ostia boten, vgl. Meiggs 1960, 20– 24. Laut Forsythe 2005, 279 würde die prominente Rolle, die C. Marcius Rutilus bei der Vertreibung der Etrusker spielte, möglicherweise auch erklären, warum die späteren Autoren die Kolonie fälschlicherweise mit dem etruskischen König Ancus Marcius in Verbindung setzten (Liv. 1.33.9; Dion. Hal. ant. Rom. 3.44). In diesem Zeitraum fällt zudem auch die Errichtung des Forts von La Giostra, das als weitere Bestätigung des Versuchs der Stabilisierung und Sicherung des römischen Einflussbereichs gesehen werden kann, Moltesen/Brandt 1994, 12, 139–145, insbesondere 157 zum vermuteten Zusammenhang mit der Anlage der Befestigungen von Ostia, s. Alföldi 1963, 349; Bourdin 2012, 507–513. Vgl. Ober 1985 zu ähnlichen Befestigungsanlagen an den Grenzen Attikas. Diod. 16.59.1 führt zum einen M. Aemilius und T. Quinctius an. Dagegen bestätigen die übrigen Quellen Furius und Claudius (Liv. 7.24.11; Cic. Sen. 41; Chr. 354 (Camello et Crasso); Inscr. It. 13.1.34, 106, 406. Das frühe Ableben des Claudius verkomplizierte die Lage weiter; Liv. 7.25.10. App. Celt. 1.2; Liv. 7.24.8–9; Pol. 2.18.7–8.
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dictator comitiorum habendorum causa zu ernennen.77 Hierzu ernannte man L. Furius Camillus zusammen mit P. Cornelius Scipio als magister equitum. Der dictator erfüllte seine Aufgabe anscheinend äußerst energisch und setzte seine eigene Wahl zum Konsul für das Jahr 349 durch, die zweite Stelle gewann App. Claudius Inregillensis. Da beide Patrizier zuvor nicht in Erscheinung getreten waren und offenbar nicht zur tonangebenden Gruppe gehörten, scheint es sich hier um eine Art Handstreich gehandelt zu haben, der die weitreichenden Möglichkeiten der Wahlbeeinflussung durch den Wahlleiter veranschaulicht.78 Angesichts des anstehenden Krieges gegen die Kelten könnte L. Furius Camillus auch das Prestige seiner gens genügend Spielraum für den recht offensiv vorgetragenen Anspruch auf den Konsulat verschafft.79 Was auch immer L. Furius motiviert haben mag, die Entwicklungen in seinem Konsulatsjahr stellten die Machtbalance zugunsten der Etablierten wieder her. Dies lag zum einen darin begründet, dass neben den Kelten eine weitere Bedrohung in Form einer griechischen Flotte auftauchte, die die Küste bedrohte.80 Da der zweite Konsul Claudius nach seinem Amtsantritt verstarb, übertrug Furius dem Prätor L. Pinarius Natta das Kommando an der Küste, anstatt wie üblich einen dictator zu ernennen – angesichts der berichteten Bedrohungslage eine auffällige Zurückhaltung.81 Zwar gelang es dem Konsul, die Gallier zu besiegen und aus Latium zu vertreiben, doch blieb die Lage an der Küste prekär und auch die Latiner legten eine zunehmend feindselige Haltung an den Tag.82 Damit scheint seine Leistung nicht ausgereicht zu haben, um einen Wandel der politischen Machtverhältnisse herbeizuführen, zumal die Lorbeeren seines Sieges eher an M. Valerius Corvus gingen, dessen Familie sich, wie bereits erwähnt, in
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Liv. 7.23.2: Scipione gravi morbo implicito; Liv. 7.24.10: moram triumph vulnus consulis attulit eademque causa dictatoris desiderium senatui fuit, ut esset, qui aegris consulibus comitia haberet. Jahn 1970, 72 lehnt die Selbstrenuntiation des Furius ohne gute Gründe ab. Möglicherweise war sein Vorgehen durch den temporären Ausfall des M. Popilius begünstigt worden. Außerdem scheint ein wesentlicher Exponent der patrizischen Etablierten, C. Sulpicius Peticus, zu diesem Zeitpunkt abgetreten zu sein, s. Münzer RE 4.1 (1931), 817–820. Die Furii verwiesen wiederholt auf ihr Vorrecht, in Kriegen gegen die Kelten das Kommando zu führen. Neben dem legendären M. Furius dürfte vor allem auch der Sieg des Konsuls P. Furius Philus über die Kelten 223 Eindruck hinterlassen haben, den er zusammen mit C. Flaminius errang (Plut. Marc. 4; Inscr. It. 13.1.79). So konnte L. Furius Purpureo im Jahr 200 auf das Vorrecht seiner gens im Kampf gegen die Kelten pochen, Liv. 31.48.12 data fato etiam quodam Furiae genti Gallica bella. Auch die Pragmatia Belli Gallici des Furius Bibaculus (Macr. Sat. 6.1.31–34; Ps.-Acro Sat. 2.5.41) verweisen generell auf die Ansprüche und Autorität der gens Furia in diesem Bereich; s. a. RRC 281. Sordi 1960, 68–72; Cornell 1989b, 321–322; Forsythe 2005, 278. Liv. 7.25.11–13. Da dies die einzig isolierte Erwähnung des Natta bleibt, liegt die Vermutung nahe, Furius habe sich hier eher auf einen weiteren Außenseiter stützen wollen, statt einen dictator zu ernennen und damit seine Machtposition einzubüßen. Zu den Ereignissen des Jahres s. Liv. 7.25.10– 13; FRH 14 F12; App. Celt. 1.2; Dion. Hal. ant. Rom. 15.1.4. Ferenczy 1976a, 79–83 meint in den Verträgen mit Karthagern und Samniten römische Bemühungen zur Eindämmung der Nachbarn zu erkennen. Alföldi 1963, 409–411 hebt ebenfalls den wachsenden Widerstand der Nachbarn hervor.
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den Fünfzigerjahren in das Establishment hineinmanövriert hatte.83 Diese Vermutung wird noch dadurch erhärtet, dass gegen Ende des Jahres T. Manlius Torquatus zum dictator comitiorum habendorum causa ernannte wurde, unter dessen Wahlleitung ausgerechnet der junge Militärtribun Valerius Corvus zusammen mit dem altbekannten und anscheinend wieder genesenen M. Popilius Laenas in das höchste Amt gewählt wurden.84 Da in deren Konsulat ein Abkommen mit Karthago geschlossen wurde und von keinerlei kriegerischen Aktivitäten berichtet wird, lässt sich vermuten, dass das Hauptaugenmerk der politischen Elite auf einer Entschleunigung der volatilen militärischen Dynamik lag. Diesem Bild entsprechen die Aktionen der Konsuln des nächsten Jahres (347); T. Manlius Torquatus und C. Plautius nahmen weitere Zinssenkungen vor und sicherten die Verbindung in das pomptinische Gebiet durch einen erfolgreichen Angriff auf Satricum.85 Damit war der Betriebsunfall des Jahres 350 behoben worden, womit die anhaltende Dominanz der etablierten Gruppe für den Großteil der Vierzigerjahre gesichert war. Diese äußert sich auch in der erfolgreichen Übertragung des Familienprestiges auf Ser. Sulpicius Camerinus Rufus, M. Fabius Durso und M. Valerius Corvus. Dennoch blieb die auf die Verteilung ökonomischer Wohltaten an die Bürger gestützte exklusive Vorherrschaft einiger weniger Familien anfällig für externe Entwicklungen, an denen es der italischen Halbinsel im 4. Jahrhundert nicht mangelte. 6.2.4 Rom und Latium Trotz der Unvorhersehbarkeit militärischer Operationen, besaß die etablierte patrizisch-plebeische Führungsclique dennoch ein Interesse daran, solche unter möglichst weitgehender Risikovermeidung durchzuführen.86 Insgesamt waren die militärischen Bemühungen ab 366 durchaus erfolgreich verlaufen, da die res publica Romana ihr Territorium ausweiten und behaupten konnte, wobei sowohl der Etruskerkrieg als auch die Abwehr der Gallier und der griechischen ‚Piratenflotte‘ auf die verbesserte militärische Leistungsfähigkeit Roms verweisen.87 83
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In dieser Schlacht habe auch der nach dem Vorbild des T. Manlius Torquatus modellierte Zweikampf des M. Valerius Corvus mit einem gallischen Krieger stattgefunden, Dion. Hal. ant. Rom. 15.1; Val. Max. 8.13.1; Liv. 7.26; Zon. 7.25; FRH 14 F 12 (= Gell. 9.11). Auch wenn dies eine auf Valerius Antias zurückgehende Erfindung ist, so ist doch davon auszugehen, dass diese an ein ‚reales‘ Ereignis angedockt wurde. Oakley 1985, 394, 407–408. Liv. 7.26.12; Diod. 16.69.1; Cic. Sen. 60; Zos. 2.4.1–3; Fast. Cap. (l----Va]lerius M. f. M. n. Corvus); Val. Max. 8.13.1; 8.15.5. Plin. nat 7.157; Chr. 354 (Lenas IIII et Corvino); Fast. Hyd. (Corvino et Lenate III). Liv. 7.27; zur anhaltenden Schuldenproblematik s. Savunen 1993, 149. Dagegen scheinen Aufsteiger und Außenseiter eine eher risikoreiche Strategie verfolgt zu haben, Taylor 1960, 53; Oakley 1993, 30–31; Armstrong 2016a, 278. Vgl. Anm. 64 in diesem Kapitel. Cornell 1995, 325; Sage 2013, 222–223; Armstrong 2016a, 279–280. Liv. 7.25.8–9 berichtet die Aushebung von 10 Legionen. Diese Zahl dürfte deutlich über den Möglichkeiten Roms gelegen haben, möglicherweise handelte es sich um ein tumultus-Aufgebot, das nicht den regulären Vorga-
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Die gesteigerte Bedeutung und Machtbasis der res publica wird dabei auch durch die Verträge mit Samniten und Karthagern belegt, die Latium klar als römische Einflusssphäre markieren.88 Es ist anzunehmen, dass die Befriedung des etruskischen Kriegsschauplatzes und die Abwehr der Kelten neue Handlungsspielräume schufen, um römische Interessen in Latium offensiv zu verfolgen. Möglicherweise verstärkten sich nach der Beilegung des Etruskerkrieges auch die Bemühungen um eine ständige Verbindung zu den römischen Kolonisten im pomptinischen Gebiet, in deren Folge der Einfluss über die dazwischen liegenden Latinerstädte zugenommen haben könnte.89 Dies würde die berichteten wachsenden Spannungen mit den Nachbarn erklären, die sich etwa darin äußerten, dass die Latiner sich weigerten, Hilfstruppen zu stellen und stattdessen in einer Versammlung im Hain der Ferentina die römischen Führungsansprüche zurückwiesen.90 Die latinischen Vorbehalte ob der römischen Dominanz werden in den nächsten Jahren nicht abgenommen haben, da ein römisches Heer 346 das von den Volskern wiederbesiedelte Satricum zerstörte und 344 den benachbarten Latinern Opferpflichten auferlegt wurden, die eine klare Hierarchisierung der sakralen Ordnung Latiums zugunsten Roms signalisierten.91 Damit war die römische Einflusssphäre zur Mitte des Jahrzehnts bis nach Latium Adiectum vorgedrungen, wobei die Feldzüge in dieser Region aber hauptsächlich aus kurzfristigen Razzien und Vergeltungsschlägen bestanden haben dürften.92 Der Fokus römischer Aktionen lag weiterhin in Latium Vetus, doch führte der regionale Machtzuwachs im Zuge der Ansiedlungen im pomptinischen Gebiet dazu, dass die res publica nolens volens zum überregionalen ‚Player‘ in Mittelitalien aufstieg.
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ben entsprach. Oakley 1998, 230–232, 234 meint, die Erwähnung verweise auf einen signifikanten Waffengang. Der 2. Karthagervertrag spiegelt die römischen Hegemonialansprüche über die latinischen Städte wider, s. Werner 1963, 348–368; Ferenczy 1976a, 76–83; Alföldi 1963, 409, 111; Ameling 1993, 132– 134; Serrati 2006, 118–120; Scardigli 2011, 32; Zimmermann 2013, 9–12. Hierfür spricht die Verlagerung der Kriegsschauplätze aus dem südlichen Etrurien und dem AnioTal in das pomptinische Gebiet sowie das Liris-Tal. Vgl. Forsythe 2005, 277–281. Liv. 7.25.5. Der Hain der Ferentina diente den latinischen Städten als Versammlungsort für politische Entscheidungen, die sich in der Regel auf ein gemeinsames militärisches Vorgehen bezogen. S. Dion. Hal. ant. Rom. 3.34.3, 4.45; Liv. 1.50. Hierzu Alföldi 1963, 34–39; Martinez-Pinna 2017, 173–175. Werner 1963, 366 nimmt dies als Beleg dafür, „daß die Beziehungen Roms zu seinen latinischen socii wenn nicht gerade ausgesprochen feindlich, so doch aufs äußerste gespannt waren.“ Liv. 7.27. Mit der Verlagerung römischer Militäroperationen in das pomptinische Gebiet und darüber hinaus, mussten die dazwischenliegenden Städte zum Durchmarschgebiet werden; vgl. Alföldi 1963, 405. Da Satricum einen strategisch wichtigen Übergang über die Astura kontrollierte, könnte die Zerstörung der Stadt einen Hinweis auf sich daraus ergebende Konflikte liefern. An dieser Stelle verweist Livius erneut auf die Unversehrtheit des Mater Matuta Tempels, vgl. hierzu Anm. 20 in Kapitel 4 und Linke 2013, 82. Die kurz erwähnte Abwehr eines aurunkischen Plünderungszuges spricht ebenfalls für die dauerhafte militärische Präsenz Roms im pomptinischen Gebiet: Liv. 7.28.1–6. Möglicherweise waren die Pomptina und Publilia betroffen, wofür der im selben Jahr durchgeführte Vergeltungszug gegen Sora spräche.
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Karte 3 Latium und Campania. Eigene Darstellung, M. Helm
6.3 Der Erste Samnitenkrieg – Versuch einer Einordnung Rom bot sich offenbar in zunehmendem Maße als Partner für andere überregionale Akteure an, wie die wachsende Zahl von Abkommen belegt. Dies führte jedoch auch zu einer stärkeren Verwicklung Roms in die Konflikte seiner Nachbarn.93 Konkreter Anlass waren Kämpfe in Kampanien, wo die mit Rom verbündeten Samniten bzw. samnitische Gruppen, die Sidiciner angegriffen hatten, die daraufhin Unterstützung durch Capua erhielten.94 Dennoch gelang es den Samniten, deren Heere zu besiegen, worauf sich Capua, nun selbst Ziel samnitischer Aggression, hilfesuchend an Rom wandte. Angesichts des Vertrages mit den Samniten war man hier zunächst skeptisch,
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Gemäß der IR-Theorie, die Eckstein für Mittelitalien überzeugend geltend machen konnte; Eckstein 2006, 12–36. Beachte aber die Modifizierung von Fronda 2010, 286–287. In Anlehnung an Terrenato 2014, 2019 ließe sich zudem vermuten, dass neben dem römischen Machtzuwachs auch die Stabilität und Kontinuität der römischen Führungsschicht zu einer Konsolidierung und Erweiterung der regionalen und überregionalen Elitennetzwerke beitrug. Zum Problem der genauen Identifizierung der Samniten, ihrer Subgruppen und eventueller politischer Ziele s. Scopacasa 2015, 159–237.
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willigte jedoch nach einer offiziellen deditio Capuas ein, Hilfe zu leisten.95 Der daraus resultierende Erste Samnitenkrieg war laut Livius nach wenigen erfolgreichen, römischen Feldzügen entschieden, was in der Folge den Aufstand von Latinern, Volskern, Sidicinern und Kampanern gegen Rom ausgelöst habe. Die Abfolge der von Livius beschriebenen Ereignisse und ihre Verfärbung durch die Capua betreffenden Ereignisse des Zweiten Punischen Krieges haben zu nicht geringer Skepsis bezüglich ihrer Authentizität geführt.96 Trotz der zweifellos unbefriedigenden Überlieferungslage und der offensichtlichen späteren Verzerrungen tendiert die jüngere Forschung aber dazu, die gänzliche Erfindung dieses ersten Waffenganges zwischen Römern und Samniten abzulehnen.97 Gerade aufgrund der hohen Bedeutung des Krieges für den darauffolgenden Latinerkrieg, der die wesentlichen Grundlagen für die spätere römische Imperiumsbildung schuf, ist es notwendig, eine zugegebenermaßen prekäre Rekonstruktion der Ereignisse zu wagen.98 Basierend auf der Anerkennung der grundsätzlichen Historizität der Ereignisse soll im Folgenden versucht werden, mit Hilfe vergleichsweiser zuverlässiger Informationen hinsichtlich der geopolitischen Rahmenbedingungen und der beteiligten Akteure einen Eindruck vom Ablauf der Ereignisse und der sich daraus ergebenden Konsequenzen zu gewinnen. Für eine kritische Untersuchung steht der Bericht des Livius zur Verfügung, dessen siebentes Buch mit dem Ersten Samnitenkrieg und den damit verbundenen in-
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Frederiksen 1984, 182. Eckstein 2006, 141–144 beschreibt die zum Kriegsausbruch führenden Ereignisse als „typical state actions under a self-help regime“, 144. Zur deditio im Zuge dieser Kämpfe s. Auliard 2006, 148–149; vgl. Tarpin 2016, 191–193, der davon ausgeht, im Zuge der deditio habe sich Rom den Zugriff auf das Land der Besiegten sichern lassen. Terrenato 2019, 126–130 sieht die Intervention im Kontext enger Verbindungen und Beziehungen zwischen kampanischen und römischen Eliten. Zur Überlieferung bezüglich der Samniten s. Scopacasa 2015, 119–125; s. a. Heurgon 1942, 167–168; Walsh 1961, 280. Oakley 1998, 285 verweist auf den großen Anteil an Reden, der für eine problematische Überlieferung spricht, zudem nennt Diod. 16.77.1 lediglich die beiden Konsuln, ohne jedoch Angaben zu den Ereignissen zu machen, was in Kontrast zu der dürren Erwähnung des Latinerkrieges steht, Diod. 16.90.2. Gegen die Authentizität spricht sich Ferenczy 1976a, 84–86 aus. Oakley 1998, 285–286 bezweifelt dagegen lediglich die deditio Capuas, während Forsythe 2005, 284–287 die Nähe zu Thukydides’ Beschreibung des Peloponnesischen Krieges bemerkt. Salmon 1967, 199–200; Heurgon 1970, 167–191; Frederiksen 1984, 180–198, 183: „It is hard to envisage how Livy, or some hypothetical predecessor, could have invented these circumstances ex novo“; so auch Cornell 1995, 345–347; Fronda 2010, 20–21; Burton 2011, 123–125; Scopacasa 2015, 129–130. Eine detaillierte Analyse bietet Grossmann 2009, 19–20, der sich unter Verweis auf die schwierige Überlieferungstradition allerdings hauptsächlich mit den Ereignissen von 327 bis 290 auseinandersetzt. Raaflaub 1993, 277: „The first Samnite War and the Latin War represent a turning point.“ Das Ausgreifen der Römer nach Kampanien und der Konflikt mit den Samniten mag sich auch in dem Bericht niederschlagen, die Römer hätten unter dem Eindruck der Kämpfe gegen die Samniten in Delphi Rat gesucht, und daraufhin Statuen für Pythagoras und Alkibiades auf dem Comitium aufgestellt, Plin. nat. 34.26; Plut. Numa 8.10. Salmon 1967, 200 verortet diesen Vorgang im Kontext des Ersten Samnitenkrieges, da in den späteren Kriegen seiner Meinung nach Alexander als tapferster Grieche genannt worden wäre.
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ternen Schwierigkeiten der römischen Seite endet. Den eigentlichen Friedensvertrag mit den Samniten platziert Livius bewusst zu Beginn des achten Buches, um eine direkte Verbindung zum kurz darauf ausbrechenden Latinerkrieg herzustellen, worauf im anschließenden Kapitel noch einzugehen sein wird. Das zentrale Element des livianischen Narratives bildet die Stadt Capua, die sowohl für die Herbeiführung des Konfliktes zwischen Rom und den Samniten als auch für den Ausbruch des Latinerkrieges eine entscheidende Rolle spielte.99 Während die römischen Feldzüge, oder zumindest deren Details, offenbar annalistische Fiktion waren,100 begegnen uns dennoch einige, wenn auch hochgradig verzerrte und problematische Informationen, auf deren Basis sich eine vorsichtige Rekonstruktion wagen lässt.101 Neben der Bedeutung Capuas spielt vor allem die seditio des römischen Heeres in Kampanien in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.102 Interessanterweise bietet der livianische Bericht an dieser Stelle voneinander abweichende Versionen, die auf unterschiedliche Überlieferungszweige verweisen.103 Eine Analyse dieser Varianten wird dadurch erleichtert, dass ein längeres Fragment des Dionysios von Halikarnassos die seditio ebenfalls ausführlich beschreibt. Möglicherweise bezog sich dieser Bericht auf eine frühere griechische Quelle zur Geschichte Kampaniens im 5. und 4. Jahrhundert104 Beide Berichte bestätigen jedoch die Verwicklung Roms in die kampanischen Streitereien sowie die politischen und militärischen Konsequenzen, die zu spürbaren Verwerfungen in Rom führten. Obwohl Ursachen und Verlauf im Kern deckungsgleich mit dem livianischen Bericht sind, bieten die antiquitates Romanae eine weniger schmeichelhafte Darstellung der Geschehnisse, so dass hier ein Vergleich der beiden Überlieferungen vorgenommen werden kann.
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Oakley 1998, 307–311, 309: „The evidence, moreover, of D. H. and Appian for 342 (38.5–42.7) strongly suggests that evidence for Roman involvement in Campania against the Samnites was found in many annalists.“ 100 Etwa die Geschichte um den Militärtribun Decius, die nach dem Vorbild einer Erzählung Catos (FRH F 3 F 4.7a = Gell. 3.7.1–19) zum Ersten Punischen Krieg entstanden zu sein scheint. Die Episode nutzt Livius, um den Kriegsverlauf substanziell ‚auszufleischen‘, Liv. 7.34–37.1. Hierzu Oakley 1998, 332–334; Forsythe 2005, 288. 101 Frederiksen 1984, 185: „The account is precise and coherent; it is confirmed by later information in Livy’s account.“ 102 Hierzu Poma 1990, passim. 103 Liv. 7.38–42. 104 Dion. Hal. ant. Rom. 15.3. Zur Geschichte Kampaniens in dieser Zeit tauchen immer wieder gut informierte Passagen auf, besonders bei Dionysios. Die detaillierte Biographie des Aristodemos bei Dion. Hal. ant. Rom 7.3–11 geht wohl auf eine griechische Quelle zur Lokalgeschichte zurück, als deren wahrscheinlichster Urheber Timaios gilt, s. Anm. 115 in Kapitel 1.
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6.3.1 Kriegsausbruch und Kriegsverlauf Der Kriegsausbruch selbst wird bei Livius relativ detailliert geschildert, wobei das römische Handeln allerdings in durchschaubarer Form apologetisiert wird.105 Es besteht jedoch kein Anlass dazu, die Involvierung der wesentlichen Regionalmächte als Folge des Angriffs der Samniten auf die Sidiciner, der das Hilfegesuch an Capua auslöste, grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Auseinandersetzungen entsprechen den volatilen Verhältnissen der italischen Halbinsel in der Frühzeit, wobei die Interessenssphäre der Samniten östlich des Liris aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Vertrag mit Rom abgesteckt worden war.106 In diesem Kontext erscheint auch das Hilfeersuchen der Sidiciner an Capua, der regionalen Vormacht in Kampanien107, schlüssig. Capua musste ein Interesse daran haben, den strategisch wichtigen Hauptort der Sidiciner, Teanum Sidicinum, der die via Latina kontrollierte, nicht in feindliche Hände fallen zu lassen.108 Aus kampanischer Sicht bestand zudem die Gefahr, gänzlich von samnitischen Gruppen eingekreist zu werden, die sich bereits in den südlichen Städten Nola und Nuceria festgesetzt hatten und mit denen auch Neapolis verbunden war.109 Hierbei hatte man die Stärke der Samniten aber offenbar unterschätzt. In dieser misslichen Lage wandte man sich an Rom, wobei die angebliche deditio der Capuaner angesichts anfänglicher römischer Weigerungen auf spätere Vorstellungen
105 Scopacasa 2015, 130–134. 106 Leidtragende dieser Aufteilung waren die schwächeren Volksgruppen der Volsker und auch Sidiciner, deren Gebiet hier aufgeteilt wurde. Salmon 1967, 189–196; Cornell 1989c, 359–362; Forsythe 2005, 284; Eckstein 2006, 141–142. Salmon 1967, 209–210 verweist zudem auf die Relevanz der Eisenerzvorkommen in der Region für die Samniten. 107 Liv. 7.31.1: urbs maxima opulentissimaque Italiae, ebenso Liv. 23.11.11; Flor. 1.16.6: caput urbium Capua, quondam inter tres maximas numerata. und Strab. 5.4.10. Frederiksen 1984, 36–41. Da Capua zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz des ager Falernus war, musste das samnitische Ausgreifen auch Implikationen für die Sicherheit des kampanischen Gebiets haben; Fronda 2007, 98–100. Capua griff möglicherweise als Haupt- und treibende Kraft eines ‚Kampanerbundes‘ in den Konflikt ein, s. Salmon 1967, 195; De Sanctis 1960 II, 206; Frederiksen 1984, 140–142; Cornell 1989c, 357–360, 1995, 346–347. Die Herausgabe von beinahe identischen Bronze- und Silberprägungen legt eine enge Verbindung zwischen Capua und seinen ‚Satelliten‘ Atella und Calatia ab 250 nahe, s. Crawford 1985, 62–64; Frederiksen 1984, 242. 108 Zur Lage Teanum Sidicinums, Strab. 5.3.9 οὗτοι δὲ Ὄσκοι, Καμπανῶν ἔθνος ἐκλελοιπός, ὥστε λέγοιτ᾽ ἂν τῆς Καμπανίας καὶ αὕτη, μεγίστη οὖσα τῶν ἐπὶ τῇ Λατίνῃ πόλεων, S. a. Plin. nat. 3.63. Nach der Überschreitung des Liris bei Fregellae folgt die via Latina den nördlichen und östlichen Ausläufern des Roccamonfino, bevor sie bei Casilinum den Volturnus überbrückt, s. Radke RE Supp. 13 (1973), 1487–1490. Vgl. die von Fronda 2010, 117–123 angenommenen Ambitionen Capuas bezüglich Kampaniens. Auch von römischer Seite wurde die strategische Bedeutung dieses verwundbaren Teilstücks der via Latina gesehen, da hier die ersten römischen Kolonien Cales 334 und Fregellae 328 angelegt wurden. Forsythe 2005, 288. 109 Humbert 1978, 170–172; Cerchiai 2014, 301–303; Scopacasa 2019, 57–58. Der Name Nuceria ist oskischer Natur und erscheint auf Münzen als Nuvkrinum Alafaternum (HNI 608); Nuceria könnte ‚neue Stadt‘ bedeuten. Pol. 3.91 und Liv. 9.38.2–3 verweisen auf die Bedeutung der Siedlung, vgl. die Auswertung der Inschriften im Sarno-Tal bei Colonna 1994, 85–99.
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der römisch-kampanischen Beziehungen zurückgehen dürfte.110 Nichtsdestoweniger stellte das Hilfegesuch einen verlockenden Aufruf zur Intervention dar.111 Als Reaktion wurden römische Truppen nach Kampanien entsandt, was zu einem kurzen militärischen Engagement bis 341 führte. Damit ergibt sich als einzig belastbare Information, dass man in Rom auf den kampanischen Hilferuf mit der Entsendung von Truppen reagierte.112 Betrachtet man die Auseinandersetzungen aus dieser Perspektive, so ergeben sich eine ganze Reihe von praktischen Problemen für das militärische Engagement der Römer. Die verschiedenen Autoren, mit Ausnahme der livianischen Glorifizierung, stimmen darin überein, dass die römischen Truppen weitestgehend in Kampanien operierten und eher eine Schutztruppe darstellten, statt weiträumige Offensivoperationen nach Samnium hinein zu unternehmen; zugleich wird von römischen Garnisonen berichtet, die auch den Winter in Kampanien verbracht haben sollen.113 Diese Feldzüge wiesen somit einen äußerst ungewöhnlichen Charakter auf, da das römische Heer wahrscheinlich erstmals in der Geschichte der Republik weit außerhalb des üblichen Operationsradius in Latium agierte.114 Hieraus ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit der Versorgung der römischen Truppen vor Ort, während es zugleich fraglich ist, inwiefern römische Truppen auf verbündetem Gebiet plündern und Beute machen konnten. In diesem Kontext ist die Angabe der antiquitates Romanae aufschlussreich, wonach das Heer vor allem aus ärmeren Soldaten bestanden habe.115 Da sich die schwere Infanterie aus Vermögenden zusammensetzte, ist diese Aussage sicherlich nicht völlig zutreffend, weist aber möglicherweise darauf hin, dass die Truppe aus Freiwilligen bestand und die Verteilung von Beute erwartete. Die überlieferte Meuterei im Heer könnte genau hierauf zurückzuführen sein, zumal Livius berichtet, die unzufriedenen Soldaten hätten anschließend eben solche Plünderungen durchgeführt.116 Unabhängig von dem Groß110 111 112
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Forsythe 2005, 287 zur Rolle der ersten deditio in Bezug auf die Bestrafung Capuas 211. Stone 2013, 28–29: „an invitation to rule“. Vgl. Stouder 2015, 336–337 zur bewussten Darstellung eines solchen defensiven Imperialismus durch Livius. Inwiefern es sich um eine deditio (Liv. 7.31.4) handelt, ist umstritten, doch dürfte man in Rom gewisse Gegenleistungen für die Hilfe erwartet haben. Toynbee 1965 I, 400–401, Salmon 1967, 197; Frederiksen 1984, 184–193; Oakley 1998, 284–306, Fronda, 2010, 20–21 und Scopacasa 2016, 39–40 gehen 343 eher von einem foedus aus. Einen eher kooperativen Erklärungsansatz verfolgt Terrenato 2019, 127–130, der die internen Entscheidungsprozesse in Capua hervorhebt. Liv. 7.32.2; 7.37.4–6; Dion. Hal. ant. Rom. 15.3.2 Der Vorstoß nach Samnium scheint eine unhistorische livianische Glorifizierung der Kämpfe darzustellen, Salmon 1967, 198–200. Zur Überwinterung s. Liv. 7.38.4–7, 7.42.7; App. Sam. 1.1; Zon. 7.25.9. Unabhängig von der annalistischen Darstellung generierte die räumliche Entfernung gänzlich neue Probleme hinsichtlich der Logistik, Mobilisierung und Motivation der Truppen. In diesem Kontext gewinnt die Überwinterung in Kampanien (s. oben) Bedeutung für die Meuterei des römischen Heeres, da die Stationierung Raum und Zeit für die Manifestation von Unzufriedenheit bot. Dion. Hal. ant. Rom. 15.3.3: ἐν οἷς ἦν τὸ πλεῖον μέρος ἀνεστίων καὶ καταχρέων καὶ τὴν οἴκοι πενίαν καὶ ἀγνωσίαν ἀσμένως ἀποδιδρασκόντων. Liv. 7.41.1 beschreibt die Soldaten als miseri cives. Liv. 7.39.7–11. Trotz der plausiblen Bestandteile der Darstellung kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass die gesamte Episode von späteren Autoren stark ausgeschmückt worden ist, s. Poma 1990, passim; Forsythe 2005, 272–276. Harris 1979, 41–68 und Rich 1993, 65–67 haben zwar die Bedeutung
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konflikt, in den die Römer durch ihre Unterstützung aktiv eingriffen, ergibt sich aus den Berichten zu Form und Durchführung der römischen Intervention ein zumindest ungewöhnliches Bild. Geht man davon aus, dass die beteiligten Truppen den Ertrag der Operation als äußerst gering ansahen, so drängt sich die Frage nach dem cui bono auf. Die fasti consulares verweisen darauf, dass die zuvor skizzierte politische Gruppierung das politische Ruder weiterhin fest in der Hand hielt. Die Kriegsführung in Kampanien übernahmen A. Cornelius Cossus und P. Valerius Publicola (343) sowie C. Marcius Rutilus und Q. Servilius Ahala (342).117 Damit wird die Entscheidung für das militärische Engagement in Kampanien wohlüberlegt und bewusst gefallen sein, was auch angesichts ausbleibender Hinweise auf Kriege in Latium bestätigt wird. Vor allem für die etablierten Aristokraten bot der Krieg Gelegenheit zu einer engeren Verbindung mit der kampanischen Elite, was sich in Prestige und materiellen Ressourcen auszahlen konnte.118 Ein größerer (und damit weitaus riskanterer) Konflikt mit den Samniten war wohl nicht gewollt, wofür die relativ schnelle Beilegung des Krieges sowie das Ausbleiben weiterer Konflikte bis in die Zwanzigerjahre spricht.119
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der Ressourcenakquirierung herausgestellt, aber nicht berücksichtigt, dass die Beuteverteilung in der römischen Republik zu keinem Zeitpunkt reguliert war, woraus sicher immer wieder schwerwiegende Konflikte ergaben, hierzu Linke 2017a, 395–397. Gerade in der Frühzeit dürfte Beute aber eine entscheidende Rolle gespielt haben, s. Armstrong 2016b, 114–119. Auch Hölkeskamp 1993, 32–33 betont die Notwendigkeit der Verteilung von Ressourcen unter der Bürgerschaft. In diesem Kontext hat Bleckmann 2016, 83–89 die immer noch chaotische ‚Kriegsfinanzierung‘ zu Beginn des Ersten Punischen Krieges überzeugend dargelegt. Gauthier 2016, 12–68 verweist auf den hohen Improvisationsgrad der römischen Kriegsführung noch im 2. Jahrhundert, dementsprechend ‚flexibel‘ konnte auch die Entlohnung der Soldaten ausfallen; stattfinden musste sie aber. S. a. Messer 1920, 166–171 und passim zu den zahlreichen ‚Meutereien‘ im republikanischen Heer. Zur Beuteverteilung vor Ort s. Coudry 2009, 23–28 und 34–37 zu daraus entstehenden Konflikten. Wenn aber schon die spätere Kriegsführung hochgradig unterreguliert blieb, so ist davon auszugehen, dass die Situation im 4. Jahrhundert noch chaotischer beziehungsweise situationsabhängiger war. MRR I, 132–133. Burton 2011, 124–125; Terrenato 2019, 128–130. Zudem hat Terrenato 2014 ein solches Szenario überzeugend für die Plautii rekonstruiert, in größerer Dimension kann man dieses Verhalten auch für die Intervention in Kampanien annehmen, zu den engen Heiratsbeziehungen zwischen der römischen und kampanischen Elite s. Beck 2015, 65–70 und Farney 2007, 187–190, der aber darauf hinweist, dass diese Verbindungen nicht zwangsläufig bedeuteten, dass die Campani vollständig in die römische Bürgerschaft eintreten wollten. Hierbei ist vornehmlich von einer ad hoc-Reaktion auf externe Entwicklungen auszugehen, Konzepte hinsichtlich einer römischen ‚Grand Strategy‘ oder rivalisierender Expansionsziele setzen eine zu kohärente und langfristig ausgerichtete römische Politik voraus, s. hierzu nur Bleckmann 2002, 76–77 zum Ausbruch des Ersten Punischen Krieges. Burton 2011, 124–125 sieht die Annahme der deditio eher als Versuch den Konflikt durch die Erhöhung des Eskalationspotenzials zu vermeiden. Möglicherweise hatte hierin auch die lange und fiktive Verhandlung, die der livianische Bericht beschreibt, einen historischen Kern; Liv. 7.30–31, vgl. Frederiksen 1984, 184, 191, der von einer Überlieferung durch eine nicht-römische Quelle ausgeht. Der Kriegsverlauf verweist eher auf eine deutliche Überschätzung der römischen Aggression und der Kriegsziele, die nicht mit späteren Fällen vergleichbar sind; Stone 2013, 26–30.
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6.3.2 Die seditio von 342 und ihre politischen Folgen Geht man von der Zulässigkeit dieser Überlegungen bezüglich des römischen Engagements in Kampanien aus, so ist letzteres insgesamt als Erfolg zu werten, da die Kampaner vor weiteren Übergriffen geschützt wurden.120 Die Bewertung dieses Erfolges durch die eigenen Truppen mag angesichts der schwierigen Kampagne und ausbleibender materieller Gewinne aber deutlich differenzierter ausgefallen sein, wofür die im nächsten Jahr ausbrechende Meuterei im Konsulat von C. Marcius und Q. Servilius Ahala spricht.121 Unabhängig von späteren Ausschmückungen bleibt festzuhalten, dass das aufgebrachte Heer in der einen oder anderen Form nach Rom zurückkehrte und die Bürgersoldaten dort den eigenen Forderungen und Beschwerden Gehör verschafften.122 Dieser spezifische, aus den Kampfhandlungen in Kampanien resultierende Kontext der Forderungen muss folglich besondere Berücksichtigung bei der Behandlung der legislativen Verarbeitung des Unmuts durch die kontrovers diskutierte lex Genucia des Jahres 342 finden. Hauptanliegen des Gesetzes war die Erleichterung der Zinslast der Plebeier, die durch den radikalen Schritt der kompletten Zinsabschaffung123 gewährleistet werden sollte, womit die folgenden drei politischen Forderungen verbunden wurden: item aliis plebi scitis cautum, ne quis eundem magistratum intra decem annos caperet neu duos magistratus uno anno gereret utique liceret consules ambos plebeios creari.124 In der Forschung haben diese Forderungen zu verschiedenen Interpretationen geführt, denn das Verbot der Ämterkumulation blieb zwar unbestritten, doch erscheint die Möglichkeit der Besetzung beider Konsulstellen durch die Plebeier abwegig, da es erst 172 dazu kommen sollte. Auch das Iterationsverbot ist problematisch, da die Regelung bereits wenige Jahre später ignoriert wurde.125
120 Die Abwehr der Samniten in Kampanien erlangte durchaus internationale Aufmerksamkeit, denn eine karthagische Gesandtschaft legte angeblich einen 25-pfündigen Goldkranz in der cella des Iuppiter Optimus Maximus nieder; Liv. 7.38.2. 121 S. Poma 1990, 143–146 zu den disziplinarischen Problemen im Heer. Es ist zudem fraglich, ob der von Livius erwähnte Faliskervertrag (Liv. 7.38.1) ein Ausdruck der römischen Stärke, oder vielmehr des Bemühens um Befriedung der nördlichen Nachbarn angesichts der Herausforderungen in Kampanien war. 122 Liv. 7.42.7: adeo nihil praeterquam seditionem fuisse eamque compositam inter antiquos rerum auctores constat. Zum Verlauf und der späteren Ausschmückung s. Poma 1990, 146–154. Develin 1985, 184–185 zur Außenseiterrolle und Agenda des Genucius. Mitchell 1990, 161; Poma 1992, 43–68; Cornell 1995, 337–339; Fascione 2000, 179–209; Beck 2005a, 47–49; Hölkeskamp 2011, 126–140. 123 Liv. 7.42.1: praeter haec invenio apud quosdam L. Genucium tribunum plebis tulisse ad plebem, ne fenerare liceret. Hölkeskamp 2011, 105 geht von einer solchen Umsetzung aus, die dann aber per desuetudinem „durch die normative Kraft der objektiven wirtschaftlichen Realitäten“ aufgehoben worden sei. S. a. Poma 1989, passim; Elster 2003, 40–43; Aubert 2014, 172–173. 124 Liv. 7.42.2. 125 Hölkeskamp 2011, 86, 114–115 betont, dass mit diesen Regelungen noch längst keine endgültige Lösung herbeigeführt worden war, da die Wahlleiterfrage nicht entschärft wurde. Beck 2005a, 96–105 listet zahlreiche spätere Iterationen auf, die er auf militärische Notsituationen zurückführt. Man
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Ist man gewillt, die Einführung dieses Gesetzes als authentisch anzuerkennen, so muss neben der Zinserleichterung im selben Maße der Forderungskatalog der vermeintlichen ‚Meuterer‘ im livianischen Bericht beachtet werden.126 Da es sich um ein Plebiszit handelte, dürfte die Begründung eher auf plebeischer Seite zu suchen sein, wobei die Bezeichnung als lex sacrata auf die alte plebeische Kampfgemeinschaft des 5. Jahrhunderts verweist.127 Es waren zudem nicht die etablierten Plebeier, wie etwa M. Popilius Laenas, die sich den Frust der Bürger zu eigen machten, sondern ein Vertreter der bereits ‚ausrangierten‘ Genucii, der einen umfangreichen Gesetzesentwurf einbrachte. Grundlage und treibende Kraft dahinter blieben aber die von den im Heer dienenden Bürgern vorgebrachten Beschwerden und Proteste, die vor allem auf die ökonomische Gleichberechtigung bei der Beuteverteilung abzielten: – „ne cuius militis scripti nomen nisi ipso volente deleretur“ Diese Forderung betraf anscheinend die Partizipationsmöglichkeiten der einzelnen Bürger an den militärischen Aktionen. Gerade angesichts der neuen Qualität der militärischen Unternehmungen außerhalb Latiums ist diese Forderung aufschlussreich, da es sich um den Versuch handeln könnte, die Einflussmöglichkeiten der Kommandeure durch Entlassung der Soldaten einzuschränken.128 – „additumque legi ne quis, ubi tribunus militum fuisset, postea ordinum ductor esset“ Hier dürfte es ebenfalls um die Interessen der Soldaten gehen, Privilegien im Heer einzuschränken, zumal das von Livius bemühte Beispiel des P. Salonius darauf verweist, dass dessen abwechselnde Bekleidung der Posten des primus pilus und des tribunus militum als ungerechte Postenakkumulation angesehen wurde.129 – „aeque impotens postulatum fuit ut de stipendio equitum – merebant autem triplex ea tempestate – aera demerentur, quod adversati coniurationi fuissent“ Dies ist der deutlichste Hinweis auf die materiellen Forderungen der Soldaten, wobei es anscheinend auch Konflikte zwischen den einfachen, in der Infanterie dienenden Bürgern und der reichen Elite in der Kavallerie gab. Zusammengenommen zielten die Forderungen auf die Verbesserung der Lage der im Heer dienenden Bürger ab, eine Tendenz, die in den Berichten von Cassius Dio/Zo-
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sollte diese Maßnahmen folglich als situative Antwort auf konkrete Probleme verstehen, die angepasst werden konnten, sobald sich die Rahmenbedingungen verschoben. Zumal dieser konfuser ist und nicht dem generellen Ständekampf-topos entspricht, womit er eine höhere Wahrscheinlichkeit auf Authentizität beanspruchen kann. Liv. 7.41.3–7; Oakley 1998, 383– 389. Hölkeskamp 2011, 86 geht von einer Initiative gegen die übermächtigen plebeischen Konsulare aus. S. a. Bergk 2015, 99–100. Vgl. Liv. 7.39.1–6, beschreibt einen Vorgang, in dessen Verlauf kritische Meinungen innerhalb des Heeres durch Entlassungen mundtot gemacht wurden. Forsythe 2005, 274–275 vermutet die Wurzel der späteren klaren, sozialen Distinktion zwischen Militärtribunen und Zenturionen in dieser Forderung.
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naras und Frontinus zu einem rein militärischen Vorfall ohne folgenschwere politische Konsequenzen wird.130 Dagegen verweist die nur für den Beginn der Revolte erhalten gebliebene Darstellung des Dionysios auf die schwierige Lage der Soldaten und den daraus resultierenden Ungehorsam angesichts der ausbleibenden Erfüllung ihrer materiellen Erwartungen.131 Zwar bricht die griechische Version mit den Aktionen der Meuterer in Kampanien ab, doch enthält der Bericht Appians möglicherweise einen weiteren Hinweis, der in stark verkürzter Form beschreibt, wie die Meuterer im Zuge dieser Aktionen nach Rom ziehen und dort ihr Handeln unter Verweis auf die enorme Schuldenlast zu erklären suchen, was auf das Verständnis des dictator M. Valerius Corvus trifft. In der Folge seien dann die Schulden erlassen worden, woraufhin sich der Streit gelegt habe.132 Damit werden hier zwei Themen verbunden, die Livius ganz klar voneinander getrennt behandelt, die eigentliche Meuterei sowie die im Anschluss erfolgende Agitation des L. Genucius. Letzterer forcierte laut Livius die Verabschiedung der lex Genucia, die einerseits das Verbot des Zinswuchers vorsah – wobei es sich um eine stärkere Regulierung gehandelt haben dürfte, da das Zinsgeschäft weiterhin Bestand haben sollte – und andererseits eine wiederholte Bekleidung von Ämtern sowie eine Ämterhäufung verbot. Die genaue Erläuterung des Kontextes dieser Legislation unterbleibt zwar, doch fällt auf, dass Livius hier, ähnlich wie zum Ende des sechsten Buches, die divergierenden, aber essenziellen Informationen im letzten Kapitel aufführt, der von ihm gefolgten Hauptquelle gegenüberstellt und eine klare Position bezieht: quae si omnia concessa sunt plebi, apparet haud parvas vires defectionem habuisse.133 Mit dieser Aussage lassen sich die Ereignisse des Jahres 342 wohl am besten zusammenfassen und vor allem in einen schlüssigen Zusammenhang bringen. Die Unzufriedenheit der in Kampanien eingesetzten Bürgersoldaten machte sich in eindrucksvoller Weise Luft, so dass ihnen gegenüber Zusagen gemacht werden mussten.134 Dadurch entstand eine politisch aufgewühlte Situation in Rom, in der die dominanten politischen Akteure, deren einflussreiche Vertreter Marcius Rutilus, Valerius Corvus und Servilius Ahala unmittelbar involviert waren, in die Defensive gerieten. Vor diesem Hintergrund würde sich auch die anschließende Agitation des tribunus plebis L. Genucius, dessen gens von den genannten nobiles ausgebootet worden war, erklären.135 In bewährter Manier verwob dieser die ökonomischen Forderungen der breiten Masse der Bürger mit den politischen Forderungen derjenigen, die vom politischen Wettbewerb ausgeschlossen worden waren.136 130 131 132 133 134 135 136
Poma 1990, 141. Zon. 7.25; Frontin. 1.9.1; Dion. Hal. ant. Rom. 15.3.6–9. App. Sam. 1.2. Diese Version erwähnt auch Liv. 7.41. Liv. 7.42.2. Poma 1992–93, 43–68; Savunen 1993, 153–154. Gabrielli 2003a, 88–91. Develin 1985, 184. Hölkeskamp 2011, 108–113.
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Gerade die divergierenden Quellenstränge bei gleichzeitiger übereinstimmender Erwähnung der Kernelemente empfehlen eine Verknüpfung und einen kausalen Zusammenhang der beiden Ereignisse. Hier eröffnet sich ein einmaliger Einblick in die Funktionsweise der bisher skizzierten „popularen Oligarchie“, der vor allem die Frage nach dem Nutzen für die Beteiligten und deren Anhänger erhellen kann. Ganz offensichtlich scheint die kontinuierliche Kontrolle der Obermagistratur den Verantwortlichen die Möglichkeit verliehen zu haben, ihre eigene außenpolitische Agenda zu verfolgen und dadurch sowohl ihr ideelles Prestige als auch ihre materiellen Ressourcen zu vergrößern. Gerade im Fall der Meuterei und anhand der in diesem Zuge vorgebrachten Forderungen wird aber auch deutlich, wie die eigenen Anhänger mit lukrativen Posten versorgt werden konnten, etwa im Falle des P. Salonius, um sich in der Folge persönlich zu bereichern.137 Falls diese ungleiche Form der Ressourcenverteilung im Bereich militärischer Kapazitäten auch in Latium praktiziert worden sein sollte, scheinen die erhöhten Anforderungen der Operationen in Kampanien, vor allem die Notwendigkeit der Einrichtung von Winterquartieren, die Toleranz für solche Praktiken drastisch reduziert zu haben.138 Das daraus entstandene Feedback in das politische Zentrum hinein hatte dann möglicherweise einen ähnlichen Effekt bezüglich der Wahrnehmung der politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zur Folge. 6.4 Eine gescheiterte Unternehmung mit weitreichenden Folgen Zum Ersten Samnitenkrieg lässt sich abschließend festhalten, dass die erste römische Intervention außerhalb des vertrauten Operationsradius insgesamt ein Fehlschlag war, da die Gewinne marginal blieben, dafür aber negative Rückwirkungen auf die römische Innenpolitik entstanden.139 Zwar begegnen uns im Folgejahr 341 mit C. Plautius Venox und L. Aemilius zwei nobiles, die mit der führenden Clique in Verbindung gebracht werden können, doch scheinen die vorherigen Ereignisse einen gewissen Eindruck hinterlassen zu haben, da Aemilius mit den Samniten einen Friedensvertrag aushandelte, während Plautius einen Feldzug in das pomptinische Gebiet – gegen die Volsker von Privernum und Antium – unternahm.140 Obwohl Livius den Vertrag als römischen Siegfrieden darstellt, widersprechen seine Angaben zu den samnitisch-
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Liv. 7.41.5–8. Vgl. Armstrong 2016b, 114–118; Helm 2019, 108–109; Terrenato 2019, 167–174 zu den potenziellen Gewinnen. 138 Hölkeskamp 2011, 108–109. 139 Dion. Hal. ant. Rom. 15.4. Salmon 1967, 201–202 zum eher unspektakulären Kriegsverlauf. 140 MRR I, 134. Falls Liv. 8.1.3 agri partes duae ademptae bezüglich Privernum zutrifft, würde dies auch eine Konzentration auf plebeische Forderungen widerspiegeln, vgl. Poma 1990, 147.
Eine gescheiterte Unternehmung mit weitreichenden Folgen
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römischen Abmachungen diesem Bild deutlich, da den Samniten eine carte blanche bezüglich der Sidicini ausgestellt wird: quod ad Sidicinos attineat, nihil intercedi quo minus Samniti populo pacis bellique liberum arbitrium sit.141
Bedenkt man, dass die Sidicini den ursprünglichen Kriegsgrund gebildet hatten, so war der Friedensvertrag für die Samniten überaus vorteilhaft. Zum einen zogen sich die römischen Truppen aus Kampanien und dem Liris-Tal zurück, zum anderen erkannte man die Region als samnitischen Einflussbereich an. Offenbar war man in Rom also zu beträchtlichen Konzessionen bereit, um sich aus den regionalen Verwicklungen herauszuziehen.142 Interessant ist hierbei zudem die Erwähnung des Prätors Ti. Aemilius Mamercinus, der laut Livius die samnitischen Gesandten in Rom empfing.143 Ganz offensichtlich hatte die gens Aemilia in der Folge der Meuterei ihren Einfluss ausbauen können. Gleichzeitig verweisen die Angaben zum Ausgang der seditio sowie die Informationen zur Verlagerung der militärischen Schwerpunkte zurück nach Latium auf den Abzug der römischen Truppen aus Kampanien, das nach den unerfreulichen Vorgängen von 342 zunächst keine weitere römische Unterstützung erhielt.144 Eine solche freiwillige römische Entflechtung von den überregionalen Konflikten war aber zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht mehr möglich, da der Konflikt zwischen Samniten und Kampanern trotz des römischen Rückzuges weiterschwelte. In der Folge sollte Rom als bemerkenswert passiver Akteur wieder in den Strudel der von den Nachbarn determinierten Ereignisse gezogen werden.
Liv. 8.2.1–3: praetor Samnitibus respondit nec, quo minus perpetua cum eis amicitia esset, per populum Romanum stetisse nec contradici quin, quoniam ipsos belli culpa sua contracti taedium ceperit, amicitia de integro reconcilietur. Die vermeintlich siegreiche Kampagne des M. Aemilius Mamercus (cos. 341) zeichnet sich vor allem durch die Abwesenheit von Kampfhandlungen aus, Liv. 8.1.7–8. Oakley 1998, 394. 142 Salmon 1967, 192–194: „the first Samnite War interrupted it [the treaty], but only temporarily“ 193; so auch Alföldi 1963, 411 und Toynbee 1965 I, 128–129. Laut Stone 2013, 26–30 überschätzt die moderne Forschung die römischen Ziele in diesem Konflikt massiv. 143 Prätoren werden im 3. Jahrhundert nur selten erwähnt, dann jedoch in einem militärischen Kontext, so dass Oakley 1998, 394 von einer authentischen Information ausgeht, die konkrete Rede aber für annalistische Fiktion hält. 144 Dion. Hal. ant. Rom. 15.4. Beachte hierbei Rosenberger 2006, 26–32 der auf die Schwierigkeiten bei der Anlage von Garnisonen in besetzten Landstrichen in der Antike verweist. Toynbee 1965 I, 128: „To undertake political commitments and military liabilities on the far side of these disaffected ‚allies‘ had been a rash act on the Romano-Latin alliance’s part, and particularly rash on Rome’s part.“ 141
Sequenz III Die zweite Sequenz zeichnet sich durch eine Stabilisierung der innen- und außenpolitischen Verhältnisse der res publica aus. Im Zuge der leges Liciniae Sextiae kam es mit der Zulassung von Plebeiern zum Konsulat aber nicht zu einer Erweiterung, sondern zu einer Kontraktion der politischen Führungsschicht. Patrizisch-plebeischen Gruppen war es gelungen, eine dauerhaft herausragende Stellung in der Bürgerschaft einzunehmen, indem sie die ökonomischen Forderungen großer Teile der Bürgerschaft erfüllten und so ihre dauerhafte Vereinnahmung der Oberämter legitimierten. Hierzu trugen erfolgreiche Kriege gegen die Herniker und Etrusker wesentlich bei. Erst das militärische Patt und die politische Unruhe des Ersten Samnitenkrieges im Rahmen der lex Genucia scheinen hier wieder Bewegung in die politischen Verhältnisse gebracht zu haben. An dieser Stelle setzt die dritte Sequenz ein, die sich schwerpunktmäßig mit dem Latinerkrieg und seinen Folgen bis zum Ausbruch des Zweiten Samnitenkrieges auseinandersetzt. Der starke Fokus auf den Latinerkrieg und seine Folgen, ergo die Jahre 341 bis 328/327, ist dabei vor allem der überragenden Rolle geschuldet, die der römische Sieg im Jahr 338 für die weitere Imperiumsbildung spielte.1 Langfristig sollte sich hieraus das Bundesgenossensystem entwickeln, doch wird im Folgenden gezeigt, dass eine solche langfristige Perspektive nicht das Handeln der römischen Akteure in den Dreißigerjahren bestimmte, die in einer Umbruchssituation darauf bedacht waren, sich die Unterstützung der Bürgerschaft auf Kosten der Besiegten zu sichern. Hieraus resultierte zunächst kein integratives Bündnissystem, sondern eine auf Ressourcenabschöpfung und Kontrolle der Unterlegenen ausgerichtete römische Herrschaftsordnung.
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Das Jahr 338 wird allgemein als Epochenjahr definiert, s. etwa De Sanctis 1960 II, 267 „Fu questo il momento critico della storia di Roma.“; Bandelli 1988, 512–518; Cornell 1995, 347–352; Bleicken 2004, 33; Forsythe 2005, 289–292; Rich 2008, 51–55; Hölkeskamp 2011, 171–173; Scopacasa 2016, 40–42; Armstrong 2016a, 286–287; Bradley/Hall 2017, 201–202; Lomas 2017, 243–247; MartinezPinna 2017, 116–128.
7. Der Aufstieg Roms zur Regionalmacht in Mittelitalien Den Anlass für den Latinerkrieg bildeten die Folgen und Verwicklungen des Ersten Samnitenkrieges, der mit dem Abschluss eines Friedensvertrages lediglich das römische Engagement gegen die Samniten beendete. Dagegen setzten die Kampaner und Sidiciner den Kampf fort und verbündeten sich aufgrund des römischen Rückzuges nun mit den Aurunkern und Latinern.1 Dieser Koalition gelang es, die Samniten zurückzuschlagen, was auch ihre Position gegenüber römischen Ansprüchen gestärkt haben dürfte.2 Als daraufhin die römische Seite durch ein samnitisches Hilfegesuch in den Konflikt involviert wurde, habe dies laut Livius den Unmut der Latiner zum Überlaufen gebracht und zu einem Entscheidungskampf um die Vormachtstellung in Latium geführt. Der Sieg im Jahr 338 bildete demnach die Grundlage für das Bundesgenossensystem und den weiteren Aufstieg Roms zu einem mediterranen Imperium. Die dieser Interpretation innewohnende Annahme einer langfristigen strategischen Zielsetzung impliziert allerdings auch einen römischen Plan für die anschließende Friedensordnung.3 Bedenkt man aber die sich teils schlagartig verändernden Bündniskonstellationen in den Jahren 343 bis 341 sowie die turbulente politische Lage in Rom, so stellt sich die Frage, ob die Entwicklungen für die Zeitgenossen berechenbar waren oder ob es sich um situativ bedingte Reaktionen handelte. Zur Klärung dieser Frage werden daher im Folgenden zunächst die Motive der verschiedenen Gruppen in 1 2
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Liv. 8.2–3; Auch die fasti triumphales verweisen auf eine Koalition der verschiedenen Gruppen, Inscr. It. 13.1.68, 541: [T.] Manlius L. f. A. n. Imperiosus Torquat(us) a CDXIII co(n)s(ul) III de Latineis, Campaneis, Sidicineis, [A]runceis XV k. Iunias. Eckstein 2006, 176–180. Die Jahre 343 bis 341 können als Paradebeispiel für die von Eckstein formulierte „Mediterranean Anarchy“ gelten. Amstrong 2016a, 285–286 vermutet, der Hauptfeind der Koalition seien die Samniten gewesen. Erst mit der römischen Intervention zugunsten Letzterer sei es 340 zur Eskalation gekommen. Vgl. Eckstein 2006, 141–144 zu den Spannungen in der LirisRegion. Frederiksen 1984, 191. Dies spiegelt sich am deutlichsten in der ausführlichen althistorischen Erörterung der unterschiedlichen Rechtskategorien der Besiegten sowie deren jeweiliger Einordnung in das nun langsam entstehende Bundesgenossensystem wider. Besonders deutlich zu sehen bei Afzelius 1942, Galsterer 1976 und Hantos 1983, aber auch in Cornell 1995, 349–352 und Lomas 2017, 263–272 anzutreffen.
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Latium Vetus, Latium Adiectum und Campania in enger Verbindung mit dem Verlauf der Kämpfe untersucht. Im Anschluss werden dann die 338 von der Siegermacht diktierten Friedensbedingungen und Verträge vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Vorjahre kontextualisiert.4 7.1 Die Überlieferungslage zum Latinerkrieg Bei dem Latinerkrieg handelt es sich um einen für frührömische Verhältnisse relativ ausführlich überlieferten Konflikt, dessen Darstellung in den Quellen aber durch deren zeitgenössische Verhältnisse und Perspektiven verfärbt wurde. Erkennbare Spuren haben hier sowohl der Zweite Punische Krieg als auch der Bundesgenossenkrieg hinterlassen. Ersterer dürfte den Eindruck der frühen römischen Historiker von der gefährlichen Unzuverlässigkeit der Campani geprägt haben, während letzterer die Vorstellung der spätrepublikanischen Autoren von den Motiven und Forderungen der Latini formte.5 Auffällig sind zudem die zahlreichen exempla im Kontext des Latinerkrieges. Diese thematisieren die wichtigsten Normen und Ideale der res publica anhand des vorbildlichen Verhaltens im Dienste Roms, im Bereich der Religion, dem Militär oder der Familie. Auch wenn es sich hierbei um „fine examples of elaboration“ handelt, verweist doch gerade die Fülle an Beispielen auf die Existenz von stabilen Anknüpfungspunkten, die eine narrative Aufladung ausgerechnet dieser Jahre nahegelegt zu haben scheinen.6 Eine nicht unwesentliche Grundlage hierfür dürfte die Verankerung des Sieges auf der urbanen und regionalen Ebene gewesen sein, etwa in Form der rostra oder der feriae Latinae. Die Verzahnung von authentischen Informationen mit den von späteren Ereignissen geprägten Narrativen, die nicht ohne Widersprüche bleibt, bietet die Möglichkeit, eine Unterscheidung zwischen „structural facts“ und „narrative superstructure“ vorzunehmen.7 In der Konsequenz präsentiert sich der La-
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Bei der Bearbeitung dieser Kämpfe ist besonders auf die unterschiedlichen Interessen und Zielsetzungen im jeweiligen situativen Kontext Rücksicht zu nehmen. Allzu oft finden sich pauschale Gruppenzuweisungen sowie Postulierungen vermeintlich langfristiger, strategischer Ziele. Vgl. etwa Salmon 1982, 84 zum Latinerkrieg sowie Cornell 2004 und Grossmann 2009, 25–27 zu den Problemen einer Betrachtung der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als ‚Zeitalter der Samnitenkriege‘, s. a. Pausch 2011, 32–37. Lediglich Diod. 20.101.5 berichtet von einem zusammenhängenden Konflikt im Kontext des Zweiten Samnitenkrieges. Salmon 1982, 40; Oakley 1998, 409–411; Forsythe 2005, 289–290. Ausführlich hierzu Mouritsen 1998; s. a. Anm. 15 u. 84 in Kapitel 1. Oakley 1998, 407–438, Zitat 428; Cornell 1995, 348. S. hierzu Kapitel 1.5.1. Für den Latinerkrieg lässt sich zusätzlich die von Eckstein 2006, 176–180 und Terrenato 2019, 109–112 geforderte ‚Italian Perspective‘ starker berücksichtigen, deren Aktivitäten und Motive auf der Grundlage der berichteten Kampfhandlungen und Friedensbedingungen ansatzweise greifbar werden. Speziell zur Quellenlage zu den feriae Latinae s. Grandazzi 2008, 517–564.
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tinerkrieg als ein fruchtbares Untersuchungsfeld, das eine kleinteilige Betrachtung des Konfliktverlaufes sowie der Perspektiven und Motive der Kriegsgegner in Latium und Kampanien erlaubt. 7.1.1 Die literarische Überlieferung Die ausführliche Darstellung des Latinerkrieges zeichnet sich durch eine äußerst unausgewogene Behandlung der vier Kriegsjahre aus.8 Die livianische Gesamtdarstellung kann hier als repräsentativ gelten: mit 14 Kapiteln machen die Jahre 341 bis 338 ein Drittel des gesamten achten Buches aus, wobei ganze neun Kapitel auf die Ereignisse des Jahres 340 entfallen. Eine prominente Rolle kommt dabei der Veseris-Schlacht zu, die von zahlreichen Autoren erwähnt wird, in den meisten Fällen aber nur als Hintergrund für die devotio des Konsuls Decius sowie die Hinrichtung des jungen Präfekten T. Manlius durch seinen Vater, den Konsul, dient – zwei Narrative, die tief in der römischen Erinnerung verwurzelt waren.9 Diese exempla wurden von römischer Seite bereits früh mit der Schlacht in Kampanien in Verbindung gebracht. So wurde etwa die Selbstopferung des Decius von dem Dichter und Tragiker L. Accius im 2. Jahrhundert aufgegriffen, der die Taten der Decii in seiner praetexta Aeneadae vel Decius verewigte.10 Das Hauptaugenmerk lag zwar auf der zweiten devotio des jüngeren Decius Mus bei Sentinum, doch verweisen die Fragmente 10 und 11 auf die vorherige Erwähnung beziehungsweise generelle Kenntnis der devotio seines Vaters.11 Da die Tragödie die Größe Roms zelebrierte, stellte Accius mit 8 9
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Oakley 1998, 425–428; Forsythe 2005, 289. Die eigentlichen Kämpfe erfolgten in den Jahren 340 bis 338, doch scheint es sinnvoll, das Jahr 341 ebenfalls miteinzubeziehen, in dem sich die Allianz der römischen Gegner bildete und es zu ersten diplomatischen Verwicklungen kam. Cornell 1989c, 361–362. Ausführlich hierzu Oakley 1998, 436–439, 477–486. Allein die breite Überlieferung der eher obskuren devotio des Decius ist bemerkenswert: Liv. 8.6–10; vgl. Liv. 10.28.15–18 zur devotio bei Sentinum; Macr. Sat. 3.9.9–13; Fest. 267L; Auct. Ad. Herenn. 4.57; Cic. div. 2.136, fin. 2.61, Tusc. 1.89, nat. deor. 3.15, sen. 75, off. 3.16, paradox. 1.12, Sest. 48, Rab. Post. 2, Phil. 11.13, 13.27; Val. Max. 1.7.3, 5.6.5; Plin. nat. 22.9; 28.12; Frontin. Strat. 4.5.15; Iuv. 8.254; Plut. Par. Min. 18; Flor. 1.14.3; Cass. Dio 7 Fr. 35; Ampel. 20.6; Vir. ill. 26.4; Zon. 7.26. Rüpke 1990, 156–164 hält die dritte devotio bei Ausculum für erfunden und zweifelt auch an der Authentizität der Fälle von 340 und 295. S. dagegen Ferri 2017, 350–360 zu den devotiones der Decii Mures, deren Überlieferung er für historisch zuverlässig hält; Oakley 1998, 477–486 bleibt neutral und vermutet, der Schlachtentod des Decius habe sich für eine Darstellung als devotio angeboten. Zur Gestaltung s. Manuwald 2001, 199–220; Boyle 2006, 137–142; s. a. Forsythe 1994, 332–333. Skutsch 1985, 353–354 hat vermutet, dass sich Accius hierfür an den annales des Ennius orientiert hat, der in seinem Buch VI die vermeintliche dritte devotio der Decii bei Ausculum behandelt hätte. Dagegen weist Cornell 1987, 516 die entsprechende Passage eher den devotiones von 340 oder 295 zu. Vgl. Fisher 2013, 14–26 zum italischen Einfluss auf die Memorierung der römischen Frühzeit. FRL II Accius F15 (= Non. 98.10) zur Aussage des Decius bei Sentinum: Patrio exemplo et me dicabo atque animam devoro ponerentur. Boyle 2006, 142: „[the play] may even have begun with a genealogical prologue.“ Manuwald 2001, 217.
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den Siegen am Veseris und bei Sentinum sowie den dortigen devotiones der Decii Mures wesentliche Schritte auf dem römischen Weg zur Herrschaft über Italien in den Vordergrund.12 Selbst wenn die erste devotio in der Veseris-Schlacht nur en passant erwähnt wurde, ist doch davon auszugehen, dass das Publikum die Anspielungen verstand und einordnen konnte. Im Repertoire des römischen Theaters hielt sich Accius jedenfalls bis zum Ende der Republik und darüber hinaus, was der Veseris-Schlacht einen prominenten Platz in der römischen Erinnerung und Historiographie sicherte.13 Neben Decius blieb auch der zweite Konsul T. Manlius Torquatus der römischen Nachwelt in lebhafter Erinnerung. Manlius zeichnete sich laut Livius zunächst in den Verhandlungen mit den latinischen Gesandten im Iuppiter Optimus Maximus-Tempel aus, in deren Anschluss er ein bellum pium deklariert haben soll.14 An sein nicht unbedingt konziliantes Auftreten soll sein gleichnamiger Nachkomme T. Manlius Torquatus (cos. 235, 224) im Jahr 216 angesichts des Vorschlags des Sp. Carvilius, den dezimierten Senat mit Latinern zu ergänzen, erinnert haben.15 Noch intensiver scheint man Manlius’ Exekution seines gleichnamigen Sohnes gedacht zu haben, die im Rahmen der sprichwörtlich für extreme Härte gewordenen imperia Manliana sogar Eingang in den breiteren Sprachgebrauch fand.16 Zusammen vereinten Decius und Manlius somit eine erstaunliche Dichte an erinnerungswürdigen exempla auf ihr Amtsjahr, die größtenteils im Kontext der Veseris-Schlacht, dem dramatischen Höhepunkt der Ereignisse, erwähnt werden. 12
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Boyle 2006, 142. Wiseman 1994a, 12, 16–22 und Walter 2004a, 80–84 zum Einfluss solcher Stücke auf die römische Geschichtsschreibung. Gerade die devotiones der Decii könnten eine Brücke zwischen der zuverlässigeren Überlieferung des 3. Jahrhunderts bei Ennius zu den Ereignissen des Latinerkrieges gebildet haben, vgl. Elliott 2013, 213–220 zu Ennius und Livius. Janssen 1981, 380–381 hebt außerdem die Anlehnung an Aeneas hervor. Liv. 10.28 zu Sentinum und Cic. Fin. 2.61, Tusc. 1.89 zu Ausculum, wobei die devotiones der Decii Mures als Ausdruck des römischen Erfolges gesehen werden; s. a. FRL I Enn. ann. 6.12 (= Non. 150.5). Lucius Furius Philus (cos. 136) scheint die devotiones ebenfalls prominent erwähnt zu haben (Macrob. Sat. 3.9.7–11). S. Ginsberg 2015, 218–227 zur engen Verbindung der Tragödie mit dem historischen Drama. Stärk 2002, 165–167; Walter 2004b, 418–420. Historische Grundlage für diese Aufwertung mag die große Koalition aus Teilen der verschiedenen Gruppen Latiums und Kampaniens gewesen sein, die in den späteren Schlachten aufgrund des Ausscheidens der Kampaner nicht wieder auftreten sollte, Toynbee 1965 I, 129 und bes. 180–181; Alföldi 1963, 410–414; Cornell 1989c, 359–365, 1995, 347–352. Liv. 8.6.4–6. Liv. 23.22.7–9. Manlius begegnete dem Vorschlag mit der Drohung, jeden Latiner, den er im Senat anträfe, persönlich zu erschlagen. Die Erwähnung im Kontext des 2. Punischen Krieges lässt eine Tradierung durch die gens Manlia vermuten; Feeney 2010, 205–211. Da die Senatoren dieses Beispiel gelten ließen, scheinen die Vorgänge nicht nur innerhalb der gens, sondern auch im kollektiven römischen Gedächtnis präsent geblieben zu sein. Flower 1996, 160–180; Blösel 2003, 53–67; Walter 2004b, 420–425. Liv. 8.7–8.2; Cic. fin. 2.105, off. 3.112, Sull. 33; Sall. Cat. 52, 80; Dion. Hal. ant. Rom. 8.79.2; Verg. Aen. 6.824–825; Val. Max. 1.7.3, 2.7.6, 5.8.3, 6.4.1, 6.9.1, 9.3.4; Plut. Fab. 9.2, Par. Min. 12; Quintil. inst. Or. 5.11.7; Frontin. Str. 4.1.40–41; Flor. 1.14; App. Samn. 3; Gell. 1.13.7, 9.13.20; Cass. Dio. 7 Fr. 35, 9; Ampel. 18.4; Vir. ill. 28.4; Zon. 7.26. Vgl. Chaplin 2000, 58–62; Lushkov 2015, 46–53.
Die Überlieferungslage zum Latinerkrieg
217
Dagegen raten zwei nur knappe Erwähnungen bei Dionysios und Diodoros zu größerer Vorsicht bezüglich des römischen Fokus’ auf die Veseris-Schlacht: Laut einem längeren Fragment des fünfzehnten Buches der antiquitates Romanae sei der Marsch des römischen Heeres nach Kampanien im Jahr 340 problemlos verlaufen; erst nach der Ankunft habe sich die Situation zusehends verschlechtert, so dass man der Schlacht nicht mehr habe ausweichen können.17 Das Fragment erwähnt zudem die mangelhafte Disziplin im römischen Heer und bricht mit einer vom Konsul Manlius einberufenen Heeresversammlung ab. Diodoros hingegen beschränkt sich in knappen Worten auf die Erwähnung einer Schlacht, in der die Römer den Sieg über Kampaner und Latiner errungen hätten. Diese sei aber nicht südöstlich von Capua geschlagen worden, sondern bei Suessa, was eher der von Livius nur kurz erwähnten zweiten Schlacht zwischen Minturnae und Sinuessa entspricht.18 Eine simple Verwechslung erscheint unwahrscheinlich, da zwar der Triumph des Manlius erwähnt wird, nicht jedoch der Tod seines Sohnes oder seines Kollegen Decius.19 17
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Dion. Hal. ant. Rom. 15.4: ἐνθυμούμενοι δ᾽ ὅτι πολὺ τῆς στρατιᾶς ἐστι τὸ δυσάγωγον καὶ ταῖς ἐπιταγαῖς τῶν ἡγεμόνων ἀπειθές, ὡς ἐν ἄλλαις τε πολλαῖς πείραις ἐδήλωσε καὶ τὰ τελευταῖα ἐν τῇ Καμπανικῇ παραχειμασίᾳ, ἀφ᾽ ἧς εἰς τοσαύτην ἀπόνοιαν ἦλθον αὐτῶν τινες, ὥστε καὶ πόλεσιν ἐπιθέσθαι καὶ τὸν ὕπατον καταλιπεῖν καὶ κατὰ τῆς πατρίδος ὅπλα ἀναλαβεῖν, τούτους ᾤοντο δεῖν πρῶτον ἀποδεῖξαι σωφρονεστέρους, δεινότερον ποιήσαντες αὐτοῖς τὸν ἀπὸ τῶν ἡγεμόνων φόβον ἢ τὸν ἀπὸ τῶν πολεμίων κίνδυνον. Diod. 16.90.2: Ῥωμαῖοι δὲ πρὸς Λατίνους καὶ Καμπανοὺς παραταξάμενοι περὶ πόλιν Σούεσσαν ἐνίκησαν καὶ τῶν ἡττηθέντων μέρος τῆς χώρας ἀφείλοντο. ὁ δὲ κατωρθωκὼς τὴν μάχην Μάλλιος ὁ ὕπατος ἐθριάμβευσεν. Auffällig ist das Fehlen des P. Decius Mus. De Sanctis 1960 II, 262–263 und Salmon 1967, 208 gehen davon aus, dass lediglich diese zweite Schlacht wirklich stattgefunden hat. Dagegen Oakley 1998, 430. Es lässt sich vermuten, dass Dionysios und Diodoros eine griechische Vorlage für die Ereignisse in Kampanien verwendeten, die die römischen exempla nicht erwähnte, s. Frederiksen 1968, 226–227. Cornell 1974, 207 hat überzeugend für die Existenz griechischer Quellen zur Geschichte Kampaniens im 5. und 4. Jahrhundert plädiert, die den späteren römischen Geschichtsschreibern vorgelegen hätten, s. hierzu ausführlich Anm. 115 bis 117 in Kapitel 1. Hornblower 1981, 249–250 hat zudem die Bedeutung des Hieronymos von Kardia für die Erklärung der römischen Expansion hervorgehoben. In Frage käme aber vor allem Timaios von Tauromenion, der neben Sizilien und Süditalien das westliche Mittelmeer insgesamt in den Blick nahm. Während Hieronymos von Kardia und Proxenos, Hofbiograph des Pyrrhos, eher das Bundesgenossensystem ab 338 als Teil des Pyrrhischen Krieges beschrieben haben könnten, ist im Fall des Timaios eine kurze Erörterung der Geschichte und Grundlagen der römischen Vorherrschaft anzunehmen, s. Baron 2013, 17–42. Wenn schon nicht in seinen Sikelikai Historiai, so muss der Latinerkrieg doch zumindest im Kontext seiner PyrrhosBiographie eine Rolle gespielt haben, um Ursprung und Grundlage der römischen Militärmacht zu erläutern, s. Dion. Hal. ant. Rom. 1.6.1; BNJ 566 F7 (= Pol. 12.28.3), F36 (= Pol. 12.4.1); s. a. Cornell 2004, 119. Diese Überlegung wird durch ein Fragment erhärtet, laut dem Timaios Lavinium besucht habe, s. BNJ 566 F59 (= Dion. Hal. ant. Rom. 1.67.4). Dieser Besuch dürfte nach 338 erfolgt sein, so dass Timaios die neue Großmacht und ihre Herrschaftsordnung in den Blick nehmen konnte. Timaios erlebte den Beginn des 1. Punischen Krieges noch, so dass Baron von einem Geburtsdatum um 350 ausgeht. Angesichts der belegten Verbannung durch Agathokles 316 (sowie dem fünfzigjährigen Aufenthalt in Athen (Pol. 12.25.1 = F 34), kann der Besuch in Lavinium in den späten dreißiger oder den zwanziger Jahren des 4. Jahrhunderts angesetzt werden, einem Zeitpunkt, zu dem der römische Herrschaftsanspruch bereits etabliert war; Baron 2013, 18–20. Alföldi 1963, 248–249
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Der Aufstieg Roms zur Regionalmacht in Mittelitalien
Die Diskrepanzen zwischen den römischen und griechischen Aussagen lassen vermuten, dass erstere die Veseris-Schlacht und ihren Ausgang aufgrund der hohen symbolischen Bedeutung der Narrative um die Manlii und die devotio des Decius in den Vordergrund ihrer Darstellung des Latinerkrieges rückten.20 Vielleicht gaben auch die Erfahrungen des Zweiten Punischen Krieges einen zusätzlichen Ausschlag dafür, die Kapitulation Capuas als vorzeitige Entscheidung anzusehen. Dies steht aber im Widerspruch zu Diodoros und den weiteren, allerdings nur sehr knappen livianischen Ausführungen zu anhaltenden schweren Kämpfen in den folgenden zwei Kriegsjahren. 7.1.2 Siegesmonumente des Latinerkrieges Die Schwerpunktsetzung der literarischen Quellen kontrastiert zudem mit den materiellen Hinterlassenschaften des Krieges, die sich hauptsächlich auf den römischen Sieg im Jahr 338 beziehen. Vor allem die erbeuteten rostra betteten den Latinerkrieg in die Erinnerungslandschaft der Stadt ein und prägten fortan das Forum Romanum, den zentralen politischen Ort der res publica Romana. Dabei fällt dieses Siegesmonument vor allem durch seine Exzentrik auf. Wie auch immer die Begründung für die Verwendung der zu diesem Zeitpunkt einzigartigen Beutestücke gelautet haben mag, die Anbringung der Schiffsschnäbel garantierte sicherlich ein gewisses Alleinstellungsmerkmal, das der Bewahrung der damit verbundenen Geschehnisse nicht abträglich sein konnte.21 Gleichzeitig wurde der Erfolg in ebenso spektakulärer Weise in direkten Bezug zu den dafür Verantwortlichen gesetzt, da beide Konsuln C. Maenius und L. Furius Camillus ganz außerordentliche Ehrungen erlangten. Maenius wurde eine Ehrensäule gewidmet, die eine ihn abbildende Statue trug. Zusätzlich würdigte man beide Konsuln mit Reiterstandbildern auf der Rednerbühne. Militärische Erfolge wurden hier erstmals in Denkmälern verherrlicht, die keinem praktischen Zweck dienten.22 Aus der
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nimmt dagegen einen Besuch direkt nach der Verbannung im Jahr 315 an. Zur römischen Präsenz in Lavinium s. Castagnoli 1967, 1–7 zur Verbindung von Aeneas und Lavinium; s. a. Somella 1974, 273–297 sowie Galinsky 1969, 152–155 und 1974, passim zur Grabstätte des Aeneas in Lavinium. Diese Vereinnahmung Laviniums könnte mit dem römischen Sieg über die Latiner, wenigstens aber mit einer hegemonialen Stellung in Latium zusammenhängen; Momigliano 1977a, 54–57. Vgl. Oakley 1998, 428–431. Hölscher 1978, 318–319; Coarelli 1983a, 145–146; Kolb 2002, 146–147; Coarelli LTUR 1 (1993), 309– 314; Hölkeskamp 2001, 111–113. Nach Hölkeskamp 2018, 716 ein „sprechendes Beutestück“. Möglicherweise fand der Sieg über Antium besondere Beachtung, da die Stadt, wie auch das Siegesmonument verdeutlicht, die regionale Seemacht war und bis dato den für Rom wichtigen Handel sowie die Versorgung über die Tibermündung gefährdet hatte; Bispham 2012, 231. Östenberg 2009, 46–47 betont den Unterschied zur späteren columna rostrata des C. Duilius, die tatsächlich auf einen Seesieg zurückging. Coarelli 1985, 39–59, 106–110; Bergemann 1990, 32, Sehlmeyer 1999, 48–53 und Schmuhl 2006, 74–8 zu diesen ersten Reiterstatuen in Rom überhaupt. Liv. 8.13.9: additus triumpho honos, ut statuae equestres eis, rara illa aetate res, in foro ponerentur. Eutr. 2.7; Plin. nat. 34.20.
Die Überlieferungslage zum Latinerkrieg
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Kombination der ungewöhnlichen und neuartigen Siegesmonumente ergibt sich eine klare Eingravierung des Sieges und der siegreichen Konsuln von 338 in das kollektive römische Gedächtnis. Deren Wirksamkeit wurde durch die Bezugnahme späterer columnae rostratae auf die Rostra noch weiter erhöht, wie Plinius’ Gleichsetzung dieses Bauwerks mit der ebenso neuartigen Columna Duilia von 260 verdeutlicht.23 Zusätzlich zu den Monumenten in der urbs erschlossen sich späteren Beobachtern aber auch noch eine ganze Reihe von ‚regionalen Siegesmonumenten‘, die an den römischen Sieg und die politische Neuordnung Latiums erinnerten. Hierbei handelte es sich in erster Linie um die nach Kriegsende ausgehandelten Verträge mit den besiegten Städten. Diese werden etwa im Fall von Tibur und Praeneste greifbar, die als civitates foederatae nach 338 eine Sonderrolle einnahmen, die sich unter anderem in ihrer Funktion als Exilorte niederschlägt.24 Da es auch später noch zu Verwerfungen zwischen diesen Städten und Rom kam, darf angenommen werden, dass der Ausgang des Latinerkrieges als Grundlage der bestehenden Ordnung auch in den lokalen Kontexten präsent blieb.25 Sowohl die urbane als auch regionale erinnerungslandschaftliche Verankerung des römischen Sieges dürfte zumindest grundlegende Informationen über den Verlauf der Kämpfe beziehungsweise deren Ausgang konserviert haben. Die Religionsgemeinschaft von Römern und Latinern bildet in diesem Kontext einen eigenständigen Punkt, der zur intensiven Memorierung dieses letzten Waffengangs zwischen Rom und den prisci Latini beigetragen haben wird. Bereits im livianischen Bericht spielt die unklare Positionierung der sakralen Schutzmächte eine Rolle, da keine Seite die Gunst der Götter exklusiv beanspruchen konnte.26 Linke hat hierbei auf die tiefe Zäsur verwiesen, die der Sieg über die Latiner vor allem im religiösen Bereich bedeutete.27 Die von ihm konstatierte massive Neuordnung der Sakrallandschaft Latiums samt der alljährlichen Kultveranstaltungen, wie etwa den feriae Latinae, sorgte dafür, dass der römische Herrschaftsanspruch nicht nur demonstrativ in Szene gesetzt, sondern
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Sehlmeyer 1999, 117–119; Humm 2009, 120–123. Chioffi LTUR 1 (1993), 309; Liv. 8.14.12; Plin. nat. 34.20; Quint. Inst. Or. 1.12; Serv. Georg. 3.29; Flor. 1.11.10. Pol. 6.14.8; Liv. 3.58.10; 30.45.4; 43.2.10; Ov. fast. 6.665; Ov. Pont. 1.3.82; Val. Max. 5.1.1. ILS 19 = CIL I2, 586. Linke 2013, 81–86. Die Auseinandersetzung um die Unterstützung der Götter zu Beginn des Latinerkrieges kontrastiert eindrücklich mit den klaren religiösen Verhältnissen vor der Schlacht bei Sentinum, Cazanove 2007, 43–44. Fortan mussten die Römer auf sakraler Ebene nie wieder mit Gleichwertigen konkurrieren, selbst im Angesicht großer Fehlschläge stand die Unterstützung der Götter im Rahmen der pax deorum nicht zur Debatte. Wissowa 1912, 389–94; Rosenberger 1998, 21–25; Rüpke 1990, 21, 125: „Friedenszustand zwischen dem römischen Volk und den Göttern“; Linke 2014a, 12–13. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die sakral aufgeladene Erzählung bei Livius, die sich zum einen in der Deklaration eines einzigartigen bellum pium sowie des direkten Eingriffes der Götter im Rahmen der devotio des Konsuls P. Decius Mus niederschlägt; Liv. 8.6, 8.9–10; Frontin. Strat. 4.5.15.
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Der Aufstieg Roms zur Regionalmacht in Mittelitalien
auch regelmäßig aktualisiert wurde.28 Die Teilnahme sämtlicher römischer Magistrate an den feriae Latinae sowie die obligatorischen Antrittsbesuche der Konsuln in Lanuvium und Lavinium, inklusive der jährlichen Erneuerung des foedus mit letzterer Stadt, werden den Sieg nicht nur in Rom, sondern auch in den betroffenen Siedlungen symbolisiert und damit die Erinnerung daran stabilisiert haben. Neben der Aufnahme starker, sakral aufgeladener Narrative in die literarische Darstellung könnte hierin auch ein Grund für die Prominenz der Latiner in den Kampfhandlungen liegen, da die Hierarchisierung und Neuausrichtung der Sakrallandschaft auf Rom ausschließlich latinische Städte betraf.29 Zusammengenommen konfrontiert uns das Quellenmaterial also mit einer auffälligen Dichotomie: während die literarischen Quellen hauptsächlich vom Kriegsausbruch und den Ereignissen des Jahres 340 berichten, verweisen die materiellen Belege des Krieges – Monumente, Feste, Verträge – ausschließlich auf den römischen Sieg im Jahr 338 und die damit verbundenen politischen und sakralen Veränderungen in Latium und Kampanien. Dagegen finden die Ereignisse zwischen der Veseris-Schlacht und dem Kriegsende nur äußerst kursorisch Erwähnung in den Quellen. Paradoxerweise könnte gerade die für die Frühzeit ungewöhnliche Vielfältigkeit des Quellenmaterials es den späteren Geschichtsschreibern erschwert haben, die ihnen vorliegenden Informationen in ein kohärentes Gesamtnarrativ einzuordnen.30 7.2 Definition der Konfliktparteien Diese Schwierigkeiten scheinen sich auch auf die Beschreibung der Konfliktparteien ausgewirkt zu haben. Verschiedene Hinweise auf Aktionen einzelner Städte sowie auf innere Auseinandersetzungen kontrastieren dabei in eklatanter Weise mit den holzschnittartigen Gruppenzuweisungen unserer Quellen. Offensichtlich zerfielen nicht nur die Samniten in Stämme mit nicht immer deckungsgleichen Interessen, auch die Politik der übrigen Akteure unterlag starken Schwankungen aufgrund der jeweiligen internen aristokratischen Auseinandersetzungen und Differenzen.31 Hierdurch war es für spätere Autoren ohne Zweifel schwierig, die volatilen Bündniskonstellationen nachzuvollziehen, die gerade wegen des erstaunlichen renversement des alliances in der 28 29 30 31
Linke 2013, 85–86; vgl. Stek 2013, 345–346. Cornell 1995, 71–72, 294–298 und Bourdin 2012, 278– 289 betonen die politische Bedeutung der ‚Bundesheiligtümer‘. S. a. Alföldi 1963, 29–36 und Smith 2014, 26–28 zu den hegemonialen Aspekten der Ausübung der feriae Latinae durch Rom. Linke 2013, 81–86. Oakley 1998, 408. Fronda 2006, 415–417 zu der volatilen Lage in Apulien im Zweiten Samnitenkrieg und ders. 2007, 86–88 zur Lage in Capua 216. Vgl. Kent 2012b, 80–83 und Terrenato 2014, 52 zum Einfluss einzelner Aristokraten und wechselnden Machtkonstellationen. Terrenato 2019, 127–133 dessen Auflösung des politischen Verbundes Stadt und seiner Bindungskraft aber zu weit geht; s. Kapitel 1, S. 11–13.
Definition der Konfliktparteien
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Folge des bereits erörterten Ersten Samnitenkrieges von erheblichem Interesse sind.32 Ziele und Zusammensetzung der Kriegsparteien sind von zentraler Bedeutung für die Frage, ob die nach 338 von Rom verfügte Friedensordnung langfristigen strategischen Zielen folgte.33 Ausgangspunkt für den Latinerkrieg bildeten die anhaltenden Kämpfe im unteren Liris-Tal, in das erneut samnitische Gruppen vorstießen und damit die Sidicini unter Druck setzten, nachdem die römische Seite den Samniten im Rahmen des Friedensvertrages von 341 freie Hand zugesichert hatte.34 Der samnitische Vorstoß entsprach damit der Situation des Jahres 343 und führte zu ähnlichen Reaktionen, da die Sidiciner erneut von den kampanischen Städten unter Führung Capuas unterstützt wurden und sich außerdem mit den Aurunkern (eigentlich lokale Konkurrenten an der Liris-Mündung) verbündeten.35 Allerdings fiel mit dem römischen Rückzug ein wichtiger Partner der vorherigen Kriegsjahre aus, weshalb man sich offenbar um die Unterstützung nicht näher spezifizierter latinischer Städte bemühte, die den Ausschlag zu Ungunsten der Samniten gab.36 Die genaue Größenordnung der latinischen Unterstützung bleibt unklar, doch scheint es geboten, nicht allgemein von der Gesamtheit der Latiner auszugehen, sondern von einzelnen latinischen Städten. Einen Hinweis für deren Identifizierung bietet Livius, laut dem die zwei führenden praetores der Latiner L. Annius und L. Numisius aus Setia und Circeii stammten. Unter den unmittelbar involvierten Parteien wird auch noch Velitrae erwähnt, zudem wird den Latinern vorgeworfen, sie hätten die benachbarten Volsker aufgewiegelt, womit Antium und Privernum gemeint sein dürften.37 Ein Eingreifen dieser Städte des südöstlichen Latiums gewinnt aufgrund
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Zur erstaunlichen Umkehrung der Allianzen s. Salmon 1967, 207; Cornell 1989c, 360 sowie Anm. 3 in diesem Kapitel. Bezüglich der definitorischen Unschärfe und ausbleibenden Differenzierung von römischen Kriegsgegnern s. Toynbee 1965 I, 129–130; Salmon 1982, 40; Oakley 1998, 429–431; Stouder 2015, 337–338; Martinez-Pinna 2017, 125–128. Die enge Verknüpfung der beiden Konflikte ist nicht nur bei Livius anzutreffen: Pol. 1.6 lässt die Samnitenkriege auf die Unterwerfung der Latiner folgen, so auch App. Sam. 2–3. Dagegen trennt Flor. 1.14 den Latinerkrieg klar von den Konflikten mit den Samniten ab, ebenso Eutr. 2.7. Cass. Dio 7 Fr.35 stellt eine Verbindung zwischen der seditio von 342 und dem Ausbruch des Latinerkrieges her, vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.4. Langfristige Strategien waren angesichts der mangelnden Sicherheits- und Kooperationsperspektiven laut Eckstein 2006, 80–104 nur begrenzt umsetzbar. Dagegen zeigt das Beispiel Veiis das bestimmte Interessenssphären und damit verbundene Ziele durchaus dauerhaft verfolgt werden konnten. Alföldi 1963, 411; Salmon 1967, 206–207, s. a. Scopacasa 2015, 129–133. S. hierzu Kapitel 6.5. Toynbee 1965 I, 128; Cornell 1989c, 360–362. Oakley 1998, 394–395 steht dem Bericht skeptisch gegenüber, da es sich um eine Wiederholung der Ereignisse des Jahres 343 handelt. Dies könnte allerdings auch schlicht die anhaltenden samnitischen Interessen widerspiegeln. Liv. 8.2.2–11. Liv. 8.3.9: Praetores tum duos Latium habebat, L. Annium Setinum et L. Numisium Circeiensem, ambo ex coloniis Romanis, Volsci etiam exciti ad arma erant. Die Wahl von Bundesbeamten war gängige Praxis, Dion. Hal. ant. Rom. 3.34.3; FRH 3 F 2.28; s. a. Alföldi 1963, 47–57. Da Liv. 8.2.8 explizit berichtet, unus ingens exercitus sei duce Latino gegen die Samniten vorgegangen, könnten die beiden erwähnten latinischen praetores die Anführer dieser Koalition gewesen sein; s. a. Dion. Hal. ant.
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ihrer geographischen Lage an Plausibilität, da sie am ehesten militärische Hilfe leisten konnten, entweder über die Route südlich der Monti Lepini und der Monti Aurunci durch den Pass bei Tarracina, oder über die nördliche Route via des Trerus-Tals, das bei Fregellae in das Liris-Tal übergeht. Diese Latinerstädte waren, genauso wie die östlichen Volsker, von den Kämpfen im Liris-Tal am ehesten betroffen, weshalb es fraglich bleiben muss, ob ihr Eingreifen in diesen lokalen Konflikt ein Kräftemessen mit Rom zum Ziel hatte, zumal die Tiberstadt sich gerade erst aus der Region zurückgezogen hatte.38 Es ergibt sich demnach eine Konstellation, in der sich keineswegs sämtliche Städte Latiums zusammengeschlossen hatten, sondern latinische und volskische Städte im pomptinischen Gebiet Truppen zur Unterstützung der Sidicini entsandten.39
Karte 4 Kampanien und Latium Adiectum. Eigene Darstellung, M. Helm
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Rom. 3.34.3 und FRH 3 F 2.28 zu früheren ‚Koalitionsheeren‘. Oakley 1998, 411–413: „These may also be invented (see 3.9 n.); but there are no arguments which compel us to believe this, and the Roman tradition is likely enough to have recorded the names of the Latin leaders in 340“. Zur Geographie s. Arthur 1991, 26. Vgl. dagegen Toynbee 1965 I, 128: „For the Latins the Campanians’ appeal had opened up a prospect of changing the balance between the Latins themselves and Rome in the Latins favour.“ Diese Überlegung könnte sich nach den ersten Erfolgen gegen die Samniten konkretisiert haben. Humbert 1978, 170–171. Vgl. Kent 2017, 257–259.
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Auch der Prolog zum römischen Eingreifen nährt Zweifel an einer direkten und bewussten Konfrontation mit den Latinern, da sich die politisch Verantwortlichen in Rom zunächst durch eine erstaunliche Passivität auszeichneten. Erst nachdem die Samniten die Teilnahme der Latiner und Kampaner am Krieg angeprangert hatten, kam es zu einer diplomatischen Intervention, wobei Livius keinen Zweifel daran lässt, wie wenig man in Rom über die Anfrage erbaut war. Aus der römischen Antwort geht zudem hervor, dass man eine weitere Eskalation tunlichst zu vermeiden suchte: Adversus haec responsum anceps datum, quia fateri pigebat in potestate sua Latinos iam non esse timebantque ne arguendo abalienarent (Liv. 8.2.12).
Das Eingeständnis, es läge nicht in der Macht Roms, den Latinern irgendetwas zu befehlen, ist eine eher ungewöhnliche Präsentation der römisch-latinischen Beziehungen, da Livius ansonsten eine weitgehende Unterordnung der Latiner unter die römische Führungsmacht annimmt.40 Trotz dieser Zurückhaltung in Bezug auf die Latiner habe man den Samniten aber versprochen, wenigstens die Kampaner zur Räson zu bringen, die sich nach ihrer deditio von 343 den römischen Wünschen zu beugen hätten.41 Eine Handhabe gegenüber den Latinern besaß man dagegen nicht. Die Wiedergabe dieser erstaunlich differenzierten Antwort auf das samnitische Ersuchen geht anschließend in der kunstvoll beschriebenen Einbestellung der zehn führenden Männer Latiums und der aus dieser Gesandtschaft resultierenden Kriegserklärung unter.42 Ursache hierfür sei die von dem latinischen Prätor L. Annius vor dem versammelten Senat im Tempel des Iuppiter Optimus Maximus vorgetragene Forderung nach einer gerechten Beteiligung an der römischen Herrschaft gewesen.43 Die Latiner forderten dafür eine der beiden Konsulatsstellen für sich, was allgemeine 40 41 42
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Oakley 1998, 394–395 hält die diplomatischen Aktivitäten aufgrund der vielen direkten Reden für suspekt. Liv. 8.2.13. Liv. 8.3.8: Ceterum Romani, etsi defectio sociorum nominisque Latini haud dubia erat, tamen tamquam de Samnitibus non de se curam agerent, decem principes Latinorum Romam evocaverunt, quibus imperarent quae vellent. Möglicherweise wurde ernsthaft eine Verhandlungslösung gesucht. S. Burton 2011, 123–125. Die Bedeutung der Gesandtschaft für den Konflikt hat Forsythe 1999, 96–98 anhand der sakralen Verknüpfung mit den Kernereignissen im livianischen Bericht hervorgehoben. Diese Forderung taucht allerdings auch im Rahmen der Rebellion Capuas 216 auf, s. Liv. 23.6.6–8; Cic. agr. 2.95; s. a. Vell. 2.15.2 zu den Forderungen der Bundesgenossen im bellum sociale. Fronda 2007, 84 Anm. 4. Obwohl die Rede eher der Situation des Bundesgenossenkrieges entspricht, wird dennoch ein Punkt angesprochen, der möglicherweise bereits in der Frühzeit eine Rolle spielte, nämlich der Vorwurf der Unterjochung der Latiner unter die römische Herrschaft, falls man nun dem römischen Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen gegen die Samniten folgte; Liv. 8.4.3–7; stärker noch 8.5.4: sed quoniam vos, regno impotenti finem ut imponatis, non inducitis in animum. Nach Gabba 1956, 27 eine historisch zutreffende Forderung, s. Oakley 1998, 409–411, der auf die Ähnlichkeiten mit der Zurückweisung der italischen Forderungen bei App. Civ. 1.176 verweist. Besonders Claudius Quadrigarius, Licinius Macer und Valerius Antias könnten Erfahrungen des Bundesgenossenkrieges in ihre Darstellungen des Latinerkrieges eingebracht haben, die Livius dann übernommen hätte; Forsythe 1999, 79.
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Empörung ausgelöst habe, woraufhin es zu gegenseitigen Beschimpfungen gekommen sei.44 Beim Verlassen des Tempels habe Annius dann auch noch den römischen Iuppiter geschmäht, sei aber prompt auf den Tempelstufen gestolpert und besinnungslos aufgeschlagen. Die implizite sakrale Ächtung der Latiner durch die Götter wird in der Folge noch explizit durch den Konsul T. Manlius ausgesprochen: Bene habet; di pium movere bellum. Est caeleste numen; es magne Iuppiter; haud frustra te patrem deum hominumque hac sede sacravimus.45
Damit war der Latinerkrieg eröffnet, der unter Verweis auf das gemeinsame Pantheon von Latinern und Römern sakral aufgeladen wird, hierdurch aber gleichzeitig die Koalition der Kriegsgegner auf die Latiner verengt. 7.3 Chronologie und Eskalation der Kampfhandlungen An dieser Stelle lohnt sich eine genaue Betrachtung der Chronologie der Ereignisse. Besonders das Jahr 341 ist als Scharnier zwischen dem Ersten Samnitenkrieg und dem Latinerkrieg von Bedeutung, für das Livius vom Abschluss eines Friedensvertrages mit den Samniten berichtet, der vermutlich noch vor dem Einsetzen der Feldzugssaison geschlossen wurde. Hierfür spricht, dass römische Truppen in diesem Jahr gegen die Volsker von Antium, Satricum und Privernum im pomptinischen Gebiet kämpften, während die Samniten mit römischer Billigung die Sidiciner bekriegten.46 Erst als letztere sich mit Hilfe von latinischen, kampanischen und aurunkischen Verstärkungen erfolgreich behaupteten und die Samniten Gesandtschaften schickten, wurde Rom wieder in die Ereignisse im Liris-Tal verwickelt und willigte ein, seinen Einfluss geltend zu machen. Zu Beginn des darauffolgenden Jahres, unter den Konsuln P. Decius Mus und T. Manlius Torquatus, kam es dann zur bereits erwähnten Einberufung der decem principes Latinorum, deren Sprecher die beiden praetores L. Annius und L. Numisius waren. Diese tauchen später als Heerführer auf, so dass es sich hier wohl um die 44 45
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Liv. 8.5.4–5. Oakley 1998, 408–424. Forsythe 1999, 79, 96 zum Versuch des Livius, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Liv. 8.6.5, s. a. Liv. 8.6.3: Exanimatum auctores quoniam non omnes sunt, mihi quoque in incerto relictum sit. Vgl. Forsythe 1999, 96–98, laut dem Livius mit dem „accidental fall on the Capitol“ fremdelt. Offenbar lagen verschiedene Aussagen zum Ende des L. Annius vor, wobei auf der einen Seite ein tödliches Ende seines Aufenthalts in Rom stand, während die positive Tradition offenbar lediglich von einer mehr oder weniger schweren Verletzung als Folge seines Sturzes schrieb. Laut Liv. 8.1 kam es zu keinen nennenswerten Kämpfen, stattdessen stehen die Verhandlungen im Vordergrund. Zudem führt der Konsul Aemilius Mamercinus den Siegerbeinamen Privernas, s. Inscr. It. 13.1.107, 408 (qui postea Privernas appellatus est). Im Jahr 329 erhielt er erneut das Kommando im Krieg gegen Privernum, möglicherweise aufgrund seiner zuvor erworbenen Erfolge auf diesem Kriegsschauplatz. Diod. 16.84.1, Chr. 354 (Venno II et Mamerco); Fast. Hyd. (Venoce II et Mamertino).
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Anführer derjenigen Latiner handelte, die sich mit Kampanern, Aurunkern und Sidicinern verbündet hatten. Trotz der Sorge vor einem Zusammengehen von Volskern und Latinern kann von der Koalition des Jahres 341 schwerlich eine existentielle Bedrohung ausgegangen sein.47 Die Gefahr könnte eher in der Kooperation von Latinern, Sidicinern und Kampanern bestanden haben, die immerhin die Samniten erfolgreich zurückgeschlagen hatten und potenziell die römische Vormachtstellung und die Stellung romfreundlicher Eliten in Frage stellen konnten.48 Diese Gruppenkonstellationen sowie längere diplomatische Verhandlungen in den Narrativen spiegeln Spuren jener Komplexität wider, die Oakley für den Ausbruch des Ersten Samnitenkrieges festgestellt hat und die in den Jahren 343 bis 338 nicht verschwunden sein wird. Diese Komplexität der Motive und Gruppenkonstellationen sei jedoch in den romanozentrischen Geschichtswerken komprimiert und reduziert worden.49 Statt von einem Freiheitskrieg gegen die erdrückende römische Hegemonialstellung ist daher wohl eher von einer regionalen Eskalation der Auseinandersetzungen im Liris-Tal auszugehen, der sich die angrenzenden Akteure in der Folge nicht entziehen, deren Dynamik sie aber auch nicht beherrschen konnten.50 7.3.1 Zum Kriegsausbruch In diesem Kontext sind die von Livius geschilderten diplomatischen Aktivitäten des Jahres 341 aufschlussreich, denn erst im Anschluss an das samnitische Hilfegesuch an Rom seien von den Latinern Versammlungen einberufen worden, um weitere Unterstützung zu mobilisieren.51 Dies wiederum habe zur Einbestellung der latinischen Gesandten nach Rom geführt, deren Auftreten die Lage weiter verschärft haben soll.52
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Forsythe 2005, 289; vgl. dagegen Cornell 1989c, 362 der die Kämpfe gegen Privernum und Antium bereits im Kontext des Latinerkriegs verortet, während Livius aber von Absprachen als Folge dieser Ereignisse berichtet. Offenbar bestand in Rom zunächst keine Einigkeit über die angemessene Reaktion darauf, wozu sicherlich die Verwerfungen der just überstandenen seditio einen Beitrag leisteten. Liv. 8.3.4–5 berichtet, die amtierenden Konsuln hätten vorzeitig ihr Amt aufgeben müssen, woraufhin ein interregnum die Wahl der Konsuln für das Jahr 340 regelte, s. a. De Sanctis 1960 II, 261. Zon. 7.26.1; Liv. 8.5.1–6. Toynbee 1965 I, 128–129 vermutet zudem, der unentschiedene Erste Samnitenkrieg hätte die Position Roms beschädigt. Vgl. hierzu die Überlegungen zum Selbstverständnis der Capuaner als Hegemon der Region von Fronda 2007, 96–97. Oakley 1998, 285: „The narrative is compressed, and L. may have simplified what will have been a complex situation[…]“; vgl. Salmon 1967, 202–208; Cornell 1995, 347; Scopacasa 2015, 133. Vgl. Fronda 2010, 17–21 zur Dynamik regionaler Konflikte im ausgehenden 4. Jahrhundert. Die ungeklärten Kräfteverhältnisse könnten auch die Ursache für die längeren, letztendlich aber erfolglosen diplomatischen Bemühungen gewesen sein, von denen Livius berichtet; Oakley 1998, 408–425. Liv. 8.3.1–4. Alföldi 1963, 34–35 geht von einer Zusammenkunft ad caput aquae Ferentinae aus. Im ‚Krisenjahr‘ 349 hatte die Versammlung im Hain der Ferentina die Hilfeleistung abgelehnt (Liv. 7.25.5), 346 sympathisierte man offenbar mit den Volskern (Liv. 7.27.5–6).
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Trotz der von Livius berichteten Kriegserklärung scheint es zunächst bei Meinungsverschiedenheiten und diplomatischen Aktivitäten geblieben zu sein. Das Ausbleiben von Kämpfen in Latium ist in diesem Zusammenhang jedenfalls überraschend, da etwa Setia und Circeii im üblichen römischen Operationsbereich lagen und davon auszugehen wäre, dass sich zumindest ein konsularisches Heer den Gegnern in diesem Gebiet entgegengestellt hätte, allein schon um die römischen Bürger im pomptinischen Gebiet zu schützen.53 Stattdessen wurden beide konsularischen Heere nach Kampanien entsandt, was keine auf die Latiner abzielende Strategie erkennen lässt, wohl aber der von Livius berichteten Antwort des Senats an die samnitische Gesandtschaft entspricht.54 Im Falle der Kampaner lag aus römischer Perspektive eine besondere Bringschuld vor, die aus der deditio beziehungsweise aus dem wie auch immer gearteten foedus von 343 resultierte und die nun mittels einer militärischen Strafexpedition erzwungen werden sollte. Es ist zudem anzunehmen, dass die pro-römischen Eliten in Capua angesichts der neuen Bündnisverhältnisse ins Hintertreffen geraten waren, was einen weiteren Faktor in den Kalkulationen der römischen Verantwortlichen ausgemacht haben könnte. Offenbar nahm man in Rom an, mit einer schnellen und konzertierten militärischen Intervention der pro-römischen Fraktion den Rücken stärken und damit auch die besorgniserregende Koalition aus Latinern, Kampanern, Sidicinern und Aurunkern aushebeln zu können.55 Während Livius in diesem Zusammenhang eine eher abenteuerliche Route des römischen Heeres durch das Gebiet der Marser beschreibt und die Handlung sehr zügig nach Kampanien verlegt, bietet ein längeres Fragment des Dionysios von Halikarnassos einen wesentlich detaillierteren Bericht des römischen Anmarsches.56 Letzterer ist aufgrund seiner geographischen Genauigkeit überzeugender als die livianische
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Streng genommen waren die genannten Anführer des Aufstands eher ‚Kolonial-Latiner‘. Die Prominenz der Latiner unter den Feinden Roms mag auf ihre spätere Bedeutung für das Bundesgenossensystem und ihre Rolle im Bundesgenossenkrieg zurückzuführen sein; s. Mouritsen 1998, 156–165, der die Unterstützung durch die Latiner als ausschlaggebend für den römischen Sieg erachtet. Liv. 8.2.13: Campanos, seu velint seu nolint, quieturos; in foedere Latinos nihil esse quod bellare cum quibus ipsi velint prohibeant. Dies entsprach den samnitischen Forderungen, in deren Zuge man die latinischen Gesandten einbestellt hatte; Liv. 8.2.7, 8.3.1–8, 8.5.1. Die Kampaner mussten diesen gegenüber aber die stärksten Vorbehalte haben, da sie bereits mehrere Waffengänge unter wechselnden Bündniskonstellationen initiiert hatten, um die samnitische Expansion in das mittlere Liris-Tal zu unterbinden. Alföldi 1963, 411; Oakley 1998, 430; s. a. Salmon 1967, 206–207; Frederiksen 1984, 180–207; Cornell 1989c, 362; Terrenato 2019, 129 zu den factiones in Capua. S. Liv. 8.6.8, laut dem die Konsuln per Marsos Paelignosque nach Capua zogen. Dem widerspricht Dion. Hal. ant. Rom. 15.4, der eine Route entlang der via Latina über Casilinum beschreibt (Tab. Peut. 6.3; Strab. 5.3.9). Diese Route scheint auch dahingehend plausibel, als von keiner Beteiligung der Herniker an dem Kampf gegen Rom berichtet wird, so dass der Durchzug durch deren Gebiet weniger Schwierigkeiten bereithielt als die Küstenroute durch das Gebiet der Volsker und Aurunker.
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Route und erwähnt zudem, dass die Konsuln den Weg nach Kampanien unversperrt vorgefunden hätten und unterwegs durch loyale Kräfte verstärkt worden seien.57 Laut Dionysios sei der römische Vormarsch sogar explizit darauf ausgelegt gewesen, prorömische Kräfte zu ermuntern und Gegner einzuschüchtern.58 Aus den vorliegenden Informationen zur Vorgeschichte der Schlacht ergibt sich somit das Bild einer komplizierten Gemengelage in Kampanien. Der konzentrierte römische Vorstoß, die Verstärkung durch lokale Aufgebote auf dem Marsch sowie die ungehinderte Durchquerung der kampanischen Ebene deuten in der Summe eher auf eine römische Machtdemonstration oder Strafexpedition gegenüber den unbotmäßigen Kampanern hin als auf einen gegen die Latiner gerichteten Feldzug.59 7.3.2 Die Mär vom großen Sieg Allerdings scheinen die römischen Erwartungen nicht vollständig in Erfüllung gegangen zu sein. Obwohl die konsularischen Heere den Volturnus ohne Gegenwehr überschreiten konnten, ist es dennoch verwunderlich, dass man nicht die Übergänge in Casilinum nutzte, sondern laut Dionysios eine Brücke errichten musste. Sollte sich das vereinigte Heer aus Kampanern und Latinern bereits zu diesem Zeitpunkt in Kampanien befunden haben, so wäre außerdem anzunehmen, dass man versucht hätte, den römischen Anmarsch an dieser günstigen Linie abzufangen.60 Stattdessen gelang die 57 58 59
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Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.1–3. So bereits De Sanctis 1960 II, 260–262. Allerdings haben Cornell 1989c, 361–362 und Oakley 1998, 429 darauf hingewiesen, dass die antiken Marschrouten nicht notwendigerweise modernen Erwägungen gefolgt sein müssen. S. hierzu auch Frederiksen 1984, 185. Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.2 ἵνα τοῖς μὲν τὰ σφέτερα φρονοῦσι Καμπανοῖς θάρσος ὡς τὰ κράτιστα προῃρημένοις ἐγγένηται, τοῖς δὲ τἀναντία δέος. Terrenato 2019, 129–130. Dies würde auch das weit entfernte Schlachtfeld erklären. Bezüglich seiner Lokalisierung spricht Cic. fin. 1.23, off. 3.112 von pugna ad Veserim bzw. apud Veserim, letztere Formulierung benutzt auch Val. Max. 6.4.1. Deutlicher fallen die Aussagen von Vir. ill. 26 aus: positis apud Veserim fluvium castris und Vir. ill 28: apud Veserim fluvium. Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache geht die moderne Forschung von der Authentizität einer Entscheidungsschlacht in Kampanien aus, ohne dass es allerdings genauere Untersuchungen zu dieser Schlacht gegeben hätte: s. etwa Alföldi 1963, 411–413; Cornell 1989c, 362; Oakley 1998, 429–430. Dagegen haben ältere Arbeiten die Authentizität dieser ersten Schlacht stärker in Zweifel gezogen, z. B. Beloch 1964, 373; De Sanctis 1960 II, 262–263. Salmon 1967, 208 geht von einer einzigen Schlacht nahe Sinuessa aus. Der Versuch, die beiden Schlachten auf einen Irrtum in den Quellen – indem ad Veserim (Liv. 8.8.19) mit Vescia gleichgesetzt wird – zurückzuführen und stattdessen mit der von Diod. 16.90.2 erwähnten Schlacht bei Suessa im unteren Liris-Tal zu identifizieren, ist verlockend, aber angesichts übereinstimmend anderslautender Zeugnisse kaum zu halten. Frederiksen 1984, 185–186 und Cornell 1995, 348 plädieren für zwei Schlachten, was m. E. zu bevorzugen ist, da es offenbar eine breite Erinnerung der Schlacht am Veseris sowie eine spärlichere, dafür aber im Kern informierte Überlieferung der zweiten Schlacht im unteren Liris-Tal gab, s. etwa Liv. 8.11.5–12 sowie die folgenden Ausführungen. Hier überquerte eine strategisch wichtige Brücke den Volturnus, die auch 216 im Krieg gegen Hannibal eine Rolle spielt, Liv. 23.17. Da es sich bei dem Brückenbau um eine Randnotiz handelt ist fraglich, warum Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.1 dies hätte erfinden sollen.
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Flussüberquerung ohne größere Probleme, woraufhin das römische Heer den ager Campanus durchzog und südöstlich von Capua ein Standlager bezog. Die Anlage eines befestigten Lagers sowie die von Dionysios erwähnten Sorgen der Konsuln hinsichtlich der Kampfmoral ihrer Soldaten, sprechen allerdings nicht unbedingt für eine gute Verfassung des römischen Heeres. Auch die eingangs erwähnten populären Narrative um die Manlii und den Konsul Decius unterstützen diese Annahme, denn die Hinrichtung des jungen T. Manlius Torquatus geht letztendlich auf seine Missachtung des Befehls zurück, sämtliche Kampfhandlungen zu vermeiden.61 Die devotio des Decius Mus hingegen beruhte auf dem ungünstigen Schlachtverlauf und führte nicht automatisch zum Sieg, sondern verhinderte lediglich den drohenden Zusammenbruch des linken römischen Flügels. Erst nach schweren Verlusten habe der überlebende Konsul Manlius die Schlacht durch den Einsatz der triarii, der nur in äußerst prekären Situationen erfolgte, entscheiden können.62 Es ist zu bezweifeln, dass die Konsuln bewusst eine derart riskante Konfrontation gesucht hatten. Stattdessen ist wohl Dionysios zu folgen, der eine stetige Verstärkung der feindlichen Kräfte in Kampanien beschreibt, die sich wahrscheinlich aus dem Zuzug der mit den Kampanern verbündeten Städte ergab.63 Da das römische Heer noch im selben Jahr, nun unter alleiniger Führung des Konsuls Manlius im Liris-Tal kämpfen musste, kann es mit dem Zusammenbruch der gegnerischen Koalition nicht allzu weit her gewesen sein.64 Ganz im Gegenteil scheinen die Reihen der römischen Gegner im Zuge der Kämpfe in Kampanien durch zusätzli61
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Liv. 8.6.16: Per haec ne quo errore milites caperentur, edicunt consules ne quis extra ordinem in hostem pugnaret; Dion. Hal. ant Rom. 15.4.2–3; Zon. 7.26.3–5; App. Samn. 3; vgl. Oakley 1998, 436–437. Livius erwähnt, es habe sich bei dem Gegner des jungen Manlius um den Tusculaner Geminus Maecius gehandelt, vielleicht Teil der Verstärkungen, die auf der gegnerischen Seite eingetroffen waren, vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.4–6. Das Dionysios-Fragment bricht vor dem Zweikampf ab, doch dürften das Duell und die Exekution des jungen Manlius dort Beachtung gefunden haben, da sie in Dion. Hal. ant. Rom. 8.79.2 kurz erwähnt werden. Die Beschreibung der Schlacht selbst stützt die Annahme, man habe sich auf römischer Seite nur widerwillig auf diesen Kampf eingelassen: Liv. 8.10.1: procedente deinde certamine cum aliis partibus multitudo superaret Latinorum. Laut Livius hatte die devotio des Decius die Schlacht nicht entschieden, sondern lediglich den drohenden Zusammenbruch des linken römischen Flügels verhindert. Zum Einsatz der triarii: Liv. 8.8.11: res ad triarios redit. Hämischer dagegen Varro ling. 5.89 Agite nunc, subsidite omnes quasi solent triarii. S. a. Dion. Hal. ant. Rom. 8.86.4. S. a. Rawlings 2007, 56; Campbell 2013, 427–430. Laut Janssen 1981, 380–381 war nicht die sakrale Qualität der Selbstopferung entscheidend, sondern vielmehr der heroische Einbruch in die feindliche Schlachtreihe nach dem Beispiel des Aeneas. Vgl. Liv. 8.11.5–10. Da Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.4 und Liv. 8.7.10 von heranrückenden Hilfstruppen sprechen und Livius zumindest einen latinischen Anteil an der Schlacht erwähnt, wenn auch der Großteil der Verluste und daher wohl auch der Truppen aus Kampanern bestanden haben soll (Liv. 8.10.9), ist von einer Verstärkung durch Teile derjenigen Latiner, Volsker und Sidiciner auszugehen, die schon im Vorjahr gemeinsam die Samniten bekämpft hatten. Liv. 8.11.7 lässt den hohen Preis des römischen Sieges in der Rede des Numisius zum Vorschein kommen: funesta duo consulum praetoria, alterum parricidio filii, alterum consulis devoti caede; trucidatum exercitum omnem, caesos hastatos principesque, stragem et ante signa et post signa factam; triarios postremo rem restituisse.
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che Kräfte verstärkt worden zu sein. Laut Livius entschlossen sich etwa die Einwohner Laviniums nach langen Beratungen zum Krieg, nur um beim Auszug aus der Stadt mit der Nachricht des römischen Sieges konfrontiert zu werden, was den einmal gefällten Beschluss aber nicht ins Wanken brachte.65 Folglich hatte der römische Feldzug nach Kampanien nicht zu einer schnellen Entscheidung, sondern zu einer Ausdehnung des Konflikts geführt, zumal es Teilen der feindlichen Truppen gelang, sich nach Minturnae zurückzuziehen und dort neu zu sammeln.66 In stilistischer Hinsicht bricht das die weiteren Kämpfe schildernde elfte Kapitel des achten Buches merklich aus der livianischen Gesamterzählung aus und bietet eine knappe Zusammenfassung von vier an die Veseris-Schlacht anschließenden Ereignissen.67 Zum einen handelt es sich hierbei um das späte Eintreffen der Samniten. Danach wird der erwähnte Übertritt Laviniums geschildert, der eng mit dem zweiten Teil des Kapitels verbunden ist, in dem es um die Reorganisation der latinisch-volskischen Streitkräfte durch Numisius im unteren Liris-Tal geht. Dessen Bemühungen blieben aber letztlich erfolglos, da er auch in einer weiteren Schlacht bei Trifanum unterlag. Livius präzisiert jedoch, dass es sich hierbei um einen Ort zwischen Sinuessa und Minturnae gehandelt habe, also um dieselbe Region, in der auch die von Diodoros erwähnte Schlacht bei Suessa stattgefunden haben soll.68 Da er in diesem Kontext von Landabtretungen der Campani berichtet, die laut Livius nun kapitulierten, liegt der Schluss nahe, dass Diodoros, beziehungsweise seine Quellen, diesen zweiten römischen Sieg beschreiben und als kriegsentscheidend bewerteten.69 In Bezug auf Kampanien traf dies sicherlich zu, nicht jedoch auf Latium. Neben dem Kriegseintritt Laviniums wird noch für das Jahr 340 von einem Angriff der Antiaten auf den ager Romanus berichtet, der wahrscheinlich in Verbindung mit den zuvor in den Krieg eingetretenen Laurentes erfolgte.70 Die genaue Bestimmung der zeitli-
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Liv. 8.11.4. Die namentliche Nennung des Prätors Milonius von Lavinium sowie seines Kommentars dixisse ferunt pro paulula via magnam mercedem esse Romanis solvendam könnte hier auf eine lokal memorierte Episode verweisen, besonders wenn man den aus dem Krieg resultierenden Sonderstatus Laviniums bedenkt. Liv. 8.10.9. Oakley 1998, 506–515. Der Hinweis auf die Unterstützung der geschlagenen Latiner durch Vescia (Liv. 8.11.5) nach der Veseris-Schlacht spricht neben der Erwähnung Minturnaes für eine Fortsetzung des Kampfes in dieser Region. Vescia lag am Nordwesthang des Mons Massicus, (Lucan. 2.425). Der Ortsname hat sich im saltus Vescinus erhalten (Liv. 10.21.8) sowie den montes Vescini und im ager Vescinus (Cic. leg. agr. 2.66). Zur Lokalisierung s. Coarelli 1998, 29–33. Diod. 16.90.2. Liv. 8.11.12–16 erörtert die Kapitulation der Campani nach der Schlacht bei Trifanum. Vgl. Anm. 60 in diesem Kapitel. Livius präzisiert, es habe sich hierbei um den ager Solonius gehandelt, was vor allem in Verbindung mit dem zuvor berichteten Abfall von Lavinium interessant ist, da der ager Solonius an der Grenze zwischen Rom und Lavinium lag, so dass die Antiaten für einen Angriff das Gebiet von Lavinium durchqueren mussten. Ob dieser Vorstoß Ursache oder Folge des Kriegseintritts Laviniums war, bleibt ungeklärt, doch liegt ein kausaler Zusammenhang nahe. Liv. 8.12.2: Antiates in agrum Os-
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chen Abfolge der Ereignisse ist zwar nicht möglich, doch sprechen die Aktionen der beiden Städte dafür, dass sich die ‚Rebellion‘ in Latium noch während der Kämpfe in Kampanien ausbreitete.71 Für einen keineswegs einseitigen Kriegsverlauf spricht in diesem Zusammenhang auch die Überlieferung zum freudlosen Triumph des Konsuls Manlius. Dieser wurde sehr verhalten empfangen und musste für den Rest des Jahres einen dictator ernennen, der die Leitung im Kampf gegen die Latiner übernahm. L. Papirius Crassus unternahm allerdings keine größeren Unternehmungen, sondern führte sein Heer lediglich in das Gebiet von Ardea, die einzige Latinerstadt, die sich nicht dem Kampf gegen Rom anschloss.72 Dies spricht eher für eine vorsichtige, defensive Strategie und eine nach wie vor kritische militärische Lage in Latium, die auch durch die Erwähnung einer römischen Niederlage gegen die Latiner in einem Fragment des Claudius Quadrigarius ansatzweise greifbar wird.73 Bereits Oakley hat aufgrund dieser knappen, widersprüchlichen Berichte vermutet, dass die römischen Siege des Vorjahres keineswegs so entscheidend waren wie von Livius dargestellt.74 Trotzdem reichten die Erfolge aus, um in Kampanien romfreundliche Aristokraten an die Macht zu bringen und Landkonfiskationen im pomptinischen Gebiet und im ager Falernus einzufordern.75 Auf diese ist noch gesondert einzugehen, doch ist es bezeichnend, dass dieses Vorgehen als Grund für die Fortsetzung des Kampfes durch
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tiensem, Ardeatem, Solonium incursiones fecerunt. Zur Lage des ager Solonius s. Fest. 296L: Pomona est in agro Solonio, via Ostiensi ad duodecimum lapied deverticulo a militario octavo, Cic. div. 1.79: in Solonio, qui est campus agri Lanuvini; und FRH 3 F 1.23 (= Macr. Sat. 1.10.16): ait Larentiam metricio quaestu locupletatam post excessum suum populo Romano agros Turacem, Semurium, Lintirium et Solonium reliquisse. Cass. Dio. 7 Fr. 35.4. Vgl. Toynbee 1965 I, 120, der darauf verweist, dass gerade die römischen Erfolge ein Zusammengehen der übrigen Latiner aus Furcht vor der drückenden Übermacht der Tiberstadt befeuert haben könnten. „The expedient of confederation was the answer found by the less successful Latin city-states to Rome’s success in the competition among them for territory.“ Liv. 8.12.1–3; Cic. Fam. 9.21.2. Explizit wird auf die Notwendigkeit der Abwehr der Antiaten verwiesen. Außerdem fällt das Übergewicht der gens Papiria auf, die mit L. Papirius Crassus den dictator und mit L. Papirius Cursor den magister equitum stellte. Entgegen der von Livius angeführten gesundheitlichen Gründe, könnte es sich aber auch um einen Ausdruck der Unzufriedenheit über die Amtsführung des Manlius handeln, s. Vir. Ill. 28.5: Consulatum recusavit, quod diceret neque se populi vitia neque illum severitatem suam posse sufferre. So auch Cass. Dio. 7 Fr. 35.9; Val. Max. 9.3.4. Dies wird noch dadurch erhärtet, dass es sich bei den beiden Papirii um Aufsteiger handelt, die zuvor nicht in den Ämtern auftauchen, vgl. Kroll RE 18.3 (1949), 1035–1036, 1041. Claudius Quadrigarius FRH 14 F 13: ea dum fiunt, Latini subnixo animo ex victoria inerti consilium ineunt (Gell. 17.2.4) = FRHist F 24 F 8. Beck/Walter rechnen die Niederlage dem Latinerkrieg zu. Oakley 1998, 520. Es ist zum Beispiel fraglich, ob die Kapitulation der Laurentes im Jahr 340 als solche gewertet werden kann, da nach der Schlacht von Trifanum von keinerlei Kampfhandlungen mehr berichtet wird. Liv. 8.11.13–16 erwähnt in diesem Kontext zwar Landabtretungen, doch taucht der Vertrag mit den Laurentes im Zusammenhang mit der äußerst vorteilhaften Behandlung der equites Campani auf, so dass hier vielleicht eher von einem Waffenstillstand ausgegangen werden kann, der wiederum gegen eine klare militärische Überlegenheit Roms sprechen würde. Liv. 8.11.15 zur Bevorzugung pro-römischer Aristokraten in Capua und Lavinium.
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die Latiner angeführt wird.76 Die weitere Ausdehnung des römischen Gebietes und Einflusses könnten den Eindruck einer unerträglichen römischen Dominanz auf die Spitze getrieben haben, der sich die Latiner angesichts der nur mühsam errungenen römischen Siege durch ein gemeinsames Vorgehen vielleicht doch noch zu erwehren können glaubten. Mit dem Jahr 339 ergriffen jedenfalls Velitrae, Lanuvium, Pedum, Tibur und Praeneste die Waffen und auch Aricia und Nomentum dürften sich zu diesem Zeitpunkt dem Kampf angeschlossen haben, womit es zur Erhebung ganz Latiums gekommen war. Livius verliert über diese Kämpfe nur wenige Sätze, doch muss die Lage durchaus ernst gewesen sein, da die Konsuln des Jahres 339 ihre Armeen vereinigen mussten, bevor sie mit diesen die Streitkräfte der Latiner in campis Fenectanis schlagen konnten.77 Im Anschluss an den Sieg rückte der Konsul Ti. Aemilius Mamercinus unter Schwierigkeiten gegen Pedum vor, wo sich ihm erneut starke Streitkräfte entgegengestellt haben sollen. Dagegen vermochte es sein Kollege Q. Publilius Philo, die Kapitulation der erschöpften Volsker in Südost-Latium zu erzwingen.78 Noch im Jahr 338 mangelte es nicht an Herausforderungen für die Konsuln C. Maenius und L. Furius Camillus, doch vermochten es die Latiner nicht mehr, ihre Streitkräfte zusammenzuführen. Maenius überraschte an der Astura die südlichen Verbündeten und nahm Antium ein, während Furius maiore mole quamquam aeque prospero eventu die Koalition der nördlichen Städte zerschlug und Pedum erobern konnte.79 Erst dieser Doppelschlag brach den Widerstand in Latium endgültig. 7.3.3 Konsequenzen der Neuinterpretation Die Untersuchung des Konfliktverlaufes zeigt, dass die Kampfhandlungen und deren Beilegung regional und zeitlich variierten. Vor allem mit Blick auf die anschließenden Friedensbedingungen und Verträge ist diese sukzessive Ausdehnung des Konflikts von Bedeutung. Wie erwähnt, scheint die Schlacht am Veseris einen zentralen Platz in der römischen Erinnerung an den Latinerkrieg eingenommen zu haben, dabei aber zu einer Verengung der Überlieferung auf dieses Ereignis geführt zu haben.80 Diese Interpretationen implizieren, dass bereits mit dem Sieg klare Vorstellungen bezüglich der zukünftigen Beziehungen existierten, ohne dass die folgenden zwei Kriegsjahre Einfluss auf die römische Entscheidungsfindung genommen hätten. 76 77 78 79 80
Die erfolglosen militärischen Operationen unter Führung des Diktators L. Papirius Crassus gegen Ende des Jahres 340 könnten den Eindruck römischer Erschöpfung bei den Gegnern bestärkt haben, s. Inscr. It. 13.1.107 sowie Anm. 73 bis 75 in diesem Kapitel. Forsythe 2005, 289 geht angesichts des ansonsten nicht überlieferten Toponyms von der Zuverlässigkeit der Angabe aus, ebenso Oakley 1998, 519–520. Liv. 8.12.6–8. Liv. 8.13.6. S. etwa Toynbee 1965 I, 130–137; Cornell 1989c, 361–363.
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Vor dem Hintergrund der sequenziellen Konfliktanalyse ergibt sich dagegen eine andere Bewertung der von Rom oktroyierten Friedensordnung. Am Beispiel Capuas lässt sich die Problematik einer solchen Interpretation veranschaulichen. Obwohl die Campani eine zentrale Rolle bei der Erhebung gespielt hatten, mussten sie keine drakonischen Strafmaßnahmen erdulden, sondern kamen recht glimpflich davon.81 Die relativ milden Bedingungen erscheinen in einem anderen Licht, falls das Kriegsende zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar war. Es wäre nach dem Sieg in Kampanien also zunächst erforderlich gewesen, die Kampaner mithilfe wohlwollender Friedensbedingungen und der Förderung pro-römischer Kräfte aus dem Krieg herauszuhalten oder sogar für Rom zu gewinnen.82 Eine solche Rücksichtnahme war bei den Latinern und Volskern, die bis zum bitteren Ende kämpften, nicht mehr notwendig. 7.4 Zur Neuordnung Latiums und Kampaniens im Jahr 338 Die Zuverlässigkeit der Überlieferung zur römischen ‚Nachkriegsordnung‘ wird allgemein anerkannt, da die von Rom initiierten Veränderungen bis ins 2. Jahrhundert hinein gültig blieben.83 In der Regel wurden daher vor allem die formalrechtlichen Aspekte in den Blick genommen. Diese Konzentration auf die „rechtlichen Formen des Anschlusses an Rom“ laufen allerdings Gefahr, eine Systematisierung unter dem Eindruck der besser bezeugten späteren Verhältnisse vorzunehmen und so die Herausforderungen und Handlungszwänge zum Zeitpunkt ihrer Genese zu übersehen.84 Hieran trägt die synoptische Darstellung des Livius einen wesentlichen Anteil, die nach Oakley die Ergebnisse des römischen Sieges, die sich erst schrittweise in den Folgejahren ergaben, in einer einzigen Passage am Ende des Jahres 338 zusammenfassend angibt.85 Daher soll der Fokus im Folgenden auf die zeitlichen und regionalen Unterschiede der römischen Regelungen gelegt und zudem eine Einschätzung des Verhältnisses zwischen römischen Bürgern und ihren neuen ‚Verbündeten‘ vorgelegt werden. Hierbei muss sowohl den politischen als auch organisatorischen Herausforderungen Rechnung gezollt werden. Letztere waren angesichts der Expansion des römischen 81
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Humbert 1978, 173–176; Oakley 1998, 513–515. Auch die äußerst generöse Behandlung der 1.600 equites Campani scheint hierauf zu verweisen, die neben einem ansehnlichen vectigal auch die civitas optimo iure erhielten, Liv. 8.11.16. Galsterer 1976, 74–75; Humm 2005, 166–175. Ebenso wenig wurde die lokale Hegemonie Capuas angetastet; ab 250 prägten etwa Capua, Atella und Calatia beinahe identische Bronzemünzen (Frederiksen 1984, 242; Crawford 1985, 62–64). Frederiksen 1968, 6, basierend auf der Annahme, Liv. 8.11.16 beziehe sich hierbei auf militärische Verdienste der equites Campani. Vgl. Dion. Hal. ant. Rom. 15.4.2. Oakley 1998, 538–571. Einen Überblick über die Einschätzung der älteren Forschung zu den (Bündnis-)Folgen des römischen Siegs im Jahr 338 bietet Baltrusch 2008, 149–151, 198–199. Vgl. Galsterer 1976, 2–3; Mouritsen 2006, 28–33 s. Anm. 4 in diesem Kapitel Betrachte zu Liv. 8.13.10–14.12 die Einschätzung von Oakley 1998, 538–540, der besonders den bei Vell. Pat. 1.14.3 beschriebenen langwierigen Prozess der Neuordnung unterstreicht.
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Herrschaftsbereichs enorm. Denn dieser war innerhalb von drei Jahren auf ein Gebiet angewachsen, das sich vom Lacus Sabatinus bis zum Vesuv erstreckte. Leistungsfähige Straßennetze, die Kommunikation und Mobilität entschieden erhöht hätten, waren ein späteres Produkt. Bis zum Bau der via Appia im Jahr 312 verbanden nur die Küstenroute und die rudimentär ausgebaute via Latina das römische Kerngebiet mit Kampanien, die zudem potenziell unsichere Gebiete im Hernikerland und Liris-Tal durchquerten.86 Im Rahmen der Neuordnung Latiums sind wiederum die Ansiedlungen römischer Bürger von Interesse, deren genaue Zahlen allerdings nirgendwo detailliert erläutert werden. Es wird lediglich von Konfiskationen berichtet sowie von der Einrichtung der neuen tribus Maecia und Scaptia im Jahr 332, so dass der Umfang der Ansiedlungen nur ansatzweise mithilfe einer Berechnung der dazu zur Verfügung stehenden Flächen ermittelt werden kann. Die Berechnung der konkreten Ausdehnung der von Rom kontrollierten Gebiete stützt sich dabei auf die Arbeiten von Beloch und Afzelius, die mithilfe von epigraphischen und literarischen Informationen, mittelalterlichen Karten, natürlichen Hindernissen und Centuriationsspuren versucht haben, eine geopolitische Karte des antiken Italiens vorzulegen.87 Bis heute werden ihre Ergebnisse in Bezug auf die ungefähre Größenordnungen der jeweiligen Städte samt Umland im Großen und Ganzen akzeptiert, auch wenn die teils sehr genauen Flächenangaben umstritten sind.88 7.4.1 Campania Ein erheblicher Teil des vergrößerten römischen Machtbereichs ging auf Kosten der unterworfenen Städte Kampaniens. Capua, die bei weitem größte Stadt nach Rom in Italien, hatte nach Kriegsende die civitas sine suffragio erhalten, die anschließend auch
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Salmon 1967, 211; Radke RE Suppl. 13 (1973), 1489–1494; Quilici 1991, 199–202; Coarelli 1998, 49– 51; Laurence 1999, 13–14. Beloch 1964; Afzelius 1942. S. a. Toynbee 1965, 595–597. Dagegen heben Roselaar 2010, 25–41 und Pelgrom 2012, 26–49 die Schwierigkeiten der Bestimmung genauer territorialer Größenordnungen hervor. Die Fragen zur Bevölkerungsdichte sind auf das Engste mit der Interpretation der römischen Zensusergebnisse verbunden, die sich zu einer zähen und vehementen Auseinandersetzung der Vertreter des ‚low‘ und des ‚high count‘ entwickelt hat: Brunt 1971, 54 geht von 36 Personen pro km2 aus; Cornell 1995, 381 folgt Beloch 1964, der je nach Lage von 100 Personen/km2 oder lediglich von 40 Personen/km2 wie auf der Peloponnes ausgeht, ebd. 314. Archäologische Surveys im Suburbium Roms in späterer Zeit verweisen laut Witcher auf eine Bevölkerungsdichte von 42 bis 60 Personen pro km2, Witcher 2005, 126–130. Die Diskussion zwischen ‚High-‘ und ‚Low-Count‘ hat Hin 2013 um einen ‚Middle Count‘ bereichert. Im Grunde lassen sich diese Fragen nicht mit letzter Sicherheit beantworten, weshalb im Folgenden lediglich plausible Relationen hergestellt werden können. S. Pelgrom 2012, 26–49 zu den Schwierigkeiten der Bevölkerungsberechnungen, s. a. Anm. 15 u. 98 in Kapitel 2 sowie Anm. 98 in Kapitel 3.
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den übrigen kampanischen Städten verliehen wurde.89 Zusammen mit dem ager Falernus darf man hier eine Fläche von circa 1.300 km2 annehmen. Damit machten sie mehr als ein Drittel des territorialen Zuwachses des ager Romanus aus, der sich insgesamt von ca. 2.000 km2 auf 4.900 km2 vergrößerte.90 Ein Teil der kampanischen Elite hatte sich, wie erwähnt, loyal zu Rom verhalten, weshalb 1.600 equites Campani bereits 340 in den Genuss der civitas optimo iure sowie eines beträchtliches vectigal gekommen waren.91 Die einzig schmerzhafte Konsequenz der Kapitulation bestand in der Konfiszierung des ager Falernus.92 Allerdings wird hierbei mitunter übersehen, dass der zu ager publicus erklärte ager Falernus weiterhin von den Campani genutzt werden konnte, die ja ab 340 beziehungsweise 338 das römische Bürgerrecht besaßen. Zwar soll das gesamte Gebiet 340 an die römische plebs verteilt worden sein, doch ist es fraglich, inwieweit diese Verteilung tatsächlich realisiert wurde, nachdem der Sieg über die Latiner ungeheure Konfiskationen in Latium einbrachte, die auch genutzt wurden, wie die Einrichtung der Maecia und Scaptia zeigen. Es ließe sich sogar spekulieren, dass es hauptsächlich die ‚römischen‘ equites Campani waren, die von der Verteilung des ager Falernus im Jahr 340 profitierten.93 Eine rigorose Bestrafung der Campani erscheint
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Liv. 8.14.11 erwähnt namentlich Capua, Cumae und Suessula. Nach Vell. Pat. 1.14.3 erfolgte die Verleihung erst im Jahr 334, Liv. 8.17.12; Vell. Pat. 1.14.4. Acerra erhielt diesen Status erst im Jahr 332. Nach Fest. 127L ist Capua in derselben Gruppe zu verorten, vgl. Fest. 122L, 155L. Es ist zudem davon auszugehen, dass auch die ‚Satelliten‘ Capuas – Casilinum, Calatia, Atella, Abella, Sabata – ebenfalls die civitas sine suffragio erhielten; Galsterer 1976, 73–76. Afzelius 1942, 140, 153. Es ist nicht ersichtlich, warum die Aurunker als Teil des ager Romanus geführt werden, da die Eingliederung dieses Gebiets erst im Zweiten Samnitenkrieg erfolgte, so dass diese 625 km2 subtrahiert werden müssen. Heurgon 1973, 324; Terrenato 2019, 130. Frederiksen 1984, 191–193 und Galsterer 1976, 74–75 verweisen auf die ungewöhnliche Verwahrung des Vertrags im Castor und Pollux-Tempel (Liv. 8.11.16: equitibus Campanis civitas Romana data, monumentoque ut esset, aeneam tabulam in aede Castoris Romae fixerunt), die darauf hinweisen könnte, dass hier eine enge Beziehung zwischen der römischen und der kampanischen Elite inszeniert wurde (Frederiksen 1984, 192: „recorded on bronze in the tempel of Castor, and so seems to be hard fact“). Die politische Dominanz der equites Campani hat Frederiksen 1968, 6–7, unterstrichen. Auch die oskischen Wandmalereien in der Region verdeutlichen Reichtum und Dominanz der Gruppe, s. Weege 1909, 103–113 zu den Darstellungen in Capua, die nach Cerchiai 1995, 111–116. das militärische Ethos der Reiterei unterstreichen; Nicolet 1962, 468–507. Zu den Schwierigkeiten der bei Liv. 8.11.16 erwähnten Zahlung (denarios nummos quadingentos quinquagenos) s. Oakley 1998, 512–515; Humm 2005, 168–175 geht von einer römischen Anordnung der Zahlung an loyale Aristokraten aus. Nach Galsterer 1976, 75 als eine steuerliche Angleichung an ihre römischen Standesgenossen zu verstehen, was die Integration in die politische Klasse erlaubte. S. a. Cerchiai 2010, 117–119. Chouquer 1987, 181–191 zur Vermessung, die nach Smith 2017b, 456 eine Verteilung im Zweiten Samnitenkrieg nahelegen, s. a. Tagliamonte 2015, 226–229 zum Umbruch in der Kulttätigkeit der Region zu dieser Zeit, die mit dem römischen Eingreifen zusammenhängen könnte. Vgl. Arthur 1991, 35–54. Laut Liv. 8.11 wurde dieses Gebiet den Kampanern abgenommen, er unterscheidet dabei aber nicht eindeutig zwischen Capua und den Campani. Vgl. Galsterer 1976, 74, Mermati 2017, 408–410. Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff Campani ursprünglich nur die Bewohner der kampanischen Ebene bezeichnete. Antiochos BNJ 555 F7 rechnet das fragliche Gebiet den Ausones/Aurunci zu. Laut Strab. 5.4.3 verweisen andere Autoren außerdem auf die
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jedenfalls fraglich, man darf wohl eher von einer Bevorteilung der romfreundlichen und mit dem römischen Vollbürgerrecht ausgestatteten Eliten ausgehen. Bedenkt man zudem, dass die Bedrohung durch die Samniten die Triebfeder sämtlicher kampanischer Entscheidungen der Vorjahre gewesen war, so sicherte die civitas Romana die Interessen von großen Teilen der kampanischen Elite sowohl in sicherheitspolitischer als auch ökonomischer Hinsicht hinreichend ab, da hiermit auch ein Schutzversprechen Roms einherging.94 Die enge Anbindung an und Verheiratung mit der römischen Elite dürfte die Position der kampanischen Aristokraten innerhalb ihrer Gemeinwesen weiter gestärkt haben, ohne dass sie dabei eine allzu große römische Einflussnahme hätten befürchten müssen, die auch durch die räumliche Distanz erschwert wurde. Ein intensiveres römisches Engagement in Kampanien ist jedenfalls erst im Zuge innerkampanischer Konflikte belegt, in einer Situation, in der die römische Seite offenbar nur zögernd als Schutzmacht der in Kampanien lebenden cives auftrat, worauf später noch genauer einzugehen sein wird.95 Damit blieben die Eingriffe der römischen Sieger auf die Protegierung loyaler Aristokraten beschränkt. Statt einer direkten Kontrolle über das Gebiet, setzte man also auf die lokalen Eliten, die in Abstimmung mit der Hegemonialmacht im Nordwesten weiter ihre eigenen Interessen verfolgen konnten.96 7.4.2 Latium Adiectum Die vorteilhafte Behandlung der kampanischen Städte fällt vor allem im Vergleich mit den nordwestlich anschließenden Sidicini, Aurunci und Volsci auf. Deren Behandlung und Rechtsstatus bleibt weitgehend im Dunkeln, obwohl ihre deditio bereits sehr früh unter dem Konsul T. Manlius erfolgt war.97 Einen Anhaltspunkt für das geringe römische Interesse bietet der Bericht des Livius, wonach die Aurunci 337 aufgrund heftiger
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oskische Landnahme in deren Zuge das Gebiet von den Sidicinern erobert worden sei. In späterer Zeit wurde der ager Falernus dann der Region Campania zugerechnet, woraus sich die Darstellung bei Livius erklären ließe, Strab. 5.4.13; Plin. nat. 3.60–63.; Schol. Iuv. 3.219, Latium et Campania; 226; Serv. Aen. 8.9.564; Pol. 3.91. Frederiksen 1984, 40, spricht von „shifting tessellation of administrative regions“. S. a. Lepore 1976, 582–585. Terrenato 2019, 128–129. S. hierzu die Bemerkung des Diod. 19.76.5, der für das Jahr 314 von der Bestätigung der συμμαχία mit Capua spricht. Sherwin-White 1973, 40–43. Heurgon 1942, 231–242 und Sherwin-White 1973, 43 verweisen auf das Weiterbestehen der angestammten Institutionen. Zudem lässt die Formulierung des Dion. Hal. ant. Rom. 15.5.1 aufhorchen, der die Kampaner, die von den Neapolitanern angegriffen worden waren, als ὑπηκόοι τῆς τῶν Ῥωμαίων ἡγεμονίας bezeichnet. Die unterschiedliche Qualität der inkorporierten Gebiete im Vergleich zu den civitates sine suffragio hat besonders Hantos 1983, 99–121 unterstrichen, deren stark schematisches Modell aber kaum Beachtung gefunden hat. Vgl. Salmon 1982, 44–54. Smith 2017b, 454.
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Angriffe der Sidicini erfolglos um römische Hilfe gebeten hätten.98 Hier bekämpften sich also zwei jüngst von Rom unterworfene Gruppen, ohne dass die römische ‚Zentrale‘ einen dringenden Interventionsbedarf sah. Erst 336 und 335, nachdem die Aurunci bereits schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wurden die Sidicini in zwei Feldzügen niedergeworfen, was nicht unbedingt auf einen besonders schweren Waffengang schließen lässt. Die Kämpfe konzentrierten sich daher wahrscheinlich auf die Sicherung des Korridors nach Kampanien und weniger auf den Schutz der aurunkischen Städte, da unmittelbar nach Kriegsende eine latinische Kolonie nach Cales deduziert wurde, das von strategischer Bedeutung für die Kontrolle der via Latina war.99 Interessanterweise reaktivierte man hier zum ersten Mal seit der Gründung von Sutrium und Nepet die latinische Kolonie als Instrument der Herrschaftssicherung in einem Gebiet, das, wie die spätere Tribusgründung zeigen sollte, ebenso gut für viritane Ansiedlungen geeignet war, worauf aber zu diesem Zeitpunkt verzichtet wurde. Möglicherweise ging es in diesem Fall weniger um die Versorgung von Kolonisten mit Land, sondern um eine Reorganisation der Verwaltungsstrukturen unter Miteinbeziehung der lokalen Bevölkerung.100 Die Koloniegründung musste jedenfalls die regionalen Beziehungs- und Elitennetzwerke im römischen Sinne neuausrichten. Davon abgesehen unternahm man keine weiteren Schritte. Die Sidiciner erhielten wahrscheinlich ein foedus, fielen aber durch den Verlust von Cales fortan als Machtfaktor aus, was aus römischer Sicht nur zur Beruhigung der Region beitragen konnte.101 Ähnliche Überlegungen lagen laut Livius der Verleihung der civitas sine suffragio an Fundi und Formiae im Jahre 338 zugrunde, deren Bedeutung mit der Kontrolle über Liv. 8.15.5: ob ea infensus consulibus senatus, quorum cunctatione proditi socii essent, dictatorem dici iussit. Interessanterweise mussten die beiden Claudii aber wieder abdanken (cum augures vitio creatum videri dixissent, Liv. 8.5.16). 99 Liv. 8.16; Vell. 1.14.3. Zur Sicherung des strategisch wichtigen Gebiets s. Salmon 1969, 55; Frederiksen 1984, 207; Cornell 1989c, 368, 1995, 352; Patterson 2006, 189–218; Lackner 2008, 59–62 betont die komplette Neuanlage der Stadt auf der Vorgängersiedlung sowie die schweren Befestigungen; vgl. Scopacasa 2016, 41. Die Vermessung und Aufteilung des Kolonialgebiets geht auf diesen Zeitraum zurück, ist im Einzelnen – besonders mit Blick auf die Größe der Einheiten – aber umstritten: Chouquer u. a. 1987, 191–195, Schubert 1996, 61–63, La Regina 1999, 9 gehen von einer frühen Anlage unmittelbar nach Entsendung der Kolonie aus. 100 Odegard 1997, 213–224 vermutet, das Entwässerungssystem im Umfeld von Cales habe vor allem fortifikatorischen Zielen gedient. Vgl. Stek 2017, 284–287, der die römischen Koloniegründungen vor allem als wirkungsvolle „nodes in networks of influence“ sieht. Die Besetzung von Cales würde diesem Kalkül entsprechen, da man den Knotenpunkt in der ‚Grauzone‘ des 338 entstandenen römischen Herrschaftsbereichs damit besetzte. Vgl. Chiesa 2011, 65–87. Folgt man zudem Pelgrom 2014, 81 so bewahrte sich Rom die Möglichkeit juristischer Eingriffe, überließ den frühen Kolonisten aber die Nutzung des Kolonialterritoriums. 101 Erst in der Folge entwickelte sich Teanum Sidicinum zum neuen Zentralort der Sidiciner, Strab. 5.3.9; Plin. nat. 3.63. Sirano 2009, 64–70. Smith 2017b, 454–455. Zur wirtschaftlichen Erholung s. Sirano 2007, 2011. Imagines Italicae I.532–533 verweist zudem darauf, dass die Stadt ihre oskischen Wurzeln behielt.
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die Küstenroute und den Pass von Lautulae begründet wird.102 Die Rechtsstatus der übrigen größeren Siedlungen Teanum Sidicinum, Vescia, Minturnae, Ausona und Suessa Aurunca sind dagegen unbekannt.103 Für die unmittelbare Zeit nach dem Friedensschluss von 338 ist daher zu konstatieren, dass die überlieferten römischen Aktionen für Latium Adiectum die Sicherung strategisch wichtiger Verbindungspunkte nach Kampanien betreffen. 7.4.3 Latium Vetus Im Kontrast zu den beiden besprochenen Regionen ist die Überlieferungslage für Latium Vetus deutlich besser und belegt einen tiefgreifenden römischen Gestaltungswillen, der sich in einer umfassenden Neuordnung der Rechtsverhältnisse und Netzwerke der Region niederschlägt. Einschneidende Veränderungen erfuhren vor allem die fortan als prisci Latini bezeichneten Städte der Latiner, mit denen unterschiedlich verfahren wurde: Nomentum, Pedum, Tusculum, Aricia und Lanuvium erhielten das römische Vollbürgerrecht.104 Die beiden mächtigsten latinischen Städte, Tibur und Praeneste, mussten Teile ihres Territoriums abtreten, erhielten aber ebenso wie Lavinium und Cora105 exklusive foedera und bildeten fortan als civitates foederatae eine eigene Rechtskategorie.106 Die latinischen Kolonien Circeii, Norba, Signia und Setia in den Monti Lepini bewahrten ihren Status ebenso wie Ardea, Sutrium und Nepet, die Rom offenbar treu geblieben waren.107
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Liv. 8.14.10. Humbert 1978, 196–197 meint, es handle sich bei Livius Begründung für die Verleihung der civitas sine suffragio an die beiden Städte um einen anachronistischen Irrtum. Er geht dagegen davon aus, die beiden Städte seien in die Kämpfe im Liris-Tal verstrickt gewesen. 103 Anscheinend wurde ein Großteil dieser Siedlungen im Zuge des Aufstands von 314 zerstört und neu angelegt, vgl. Coarelli 1998, 29. Dieselbe Problematik ereignet sich kurz darauf weiter westlich, als 330/329 Privernum und Fundi die nahegelegenen Städte Setia, Norba und Cora überfielen; Liv. 8.19.4–8. Erst in der zweiten Hälfe des Samnitenkrieges kam es zu massiven Sicherungsmaßnahmen in der Region. 104 Humbert 1978, 176–195; Hantos 1983, 50–70; Cornell 1995, 207. Liv. 8.14.2–4; Cic. Balb. 31, Phil. 3.15. 105 ILLRP 60, 111, 573; ILS 5396, 6131. Die beiden Städte tauchen in Festus’ Aufzählung nicht auf, werden von Liv. 26.8.11 aber zur Zeit des 2. Punischen Krieges den municipia zugerechnet. Humbert 1978, 266–271 geht für Lavinium davon aus, dass nur der Kult unter römische Oberaufsicht gestellt wurde, diese Verbindung aber im weiteren Verlauf der Expansion als prestigeträchtige Anbindung an Rom gesehen wurde. Auch nach der Umwandlung in municipia wären diese Verträge gültig geblieben. Baranowski 1988, 176. Zu Cora s. Humbert 1978, 190–191. 106 Galsterer 1976, 87, 88: „Es gab nach diesem Datum also verschiedene Gruppen von Latini.“ Tibur, Praeneste und Velitrae dürften zusammen über ein Territorium von etwa 800 km2 verfügt haben. Beloch 1964, 70 nimmt eine größere Fläche für Tibur und Praeneste an. Dementsprechend ist in diesem Fall eher den Überlegungen von Hantos 1983, 58, und Cornell 1995, 207 zu folgen. 107 Alföldi 1963, 412; Salmon 1982, 51–53. S. aber Coskun 2016a, passim, 2016b, 545–560 und seine pessimistische Bewertung des latinischen Bürgerrechts in der frühen und mittleren Republik. Die Si-
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Von den volskischen Siedlungen soll Velitrae den Status einer civitas sine suffragio erhalten haben, doch wurden außerdem die Mauern der Stadt geschleift, ihr Senat trans tiberim deportiert und große Teile des Gebiets, angeblich zwei Drittel, an römische Siedler verteilt.108 Die Küstenstadt Antium erhielt eine colonia civium Romanorum und musste Land abtreten.109 Allem Anschein nach wurde parallel dazu die Auflösung der städtischen Verwaltungsinstitutionen erzwungen, was in kürzester Zeit schwerwiegende Organisationsprobleme verursachte.110 Angesichts der Behandlung von Antium und Velitrae ist anzunehmen, dass auch das Gebiet von Satricum in der einen oder anderen Form beschlagnahmt wurde.111 Privernum, die größte volskische Siedlung, hatte bereits 341 Gebiete südlich der Stadt abtreten müssen, die zu ager publicus wurden.112 Anders als in den benachbarten Städten Fundi und Formiae kam es hier zu keiner Bürgerrechtsverleihung, so dass zunächst von einem foedus auszugehen ist.113
tuation der Latiner habe sich erst unter dem Druck der latinischen Forderungen im 2. Jahrhundert verbessert, ders. 2016, 68–71. 108 Liv. 8.14.5–7. Die Schleifung der Mauern als auch die Hinrichtung der Rädelsführer spricht kaum für die rechtliche Gleichstellung gegenüber den ‚Altbürgern‘, zu den Konfiskationen s. Liv. 8.1.3. Die Tabula Veliterna (Inscr. It. dialect. 47) verweist zudem auf den Fortbestand der volskischen Sprache und Kultur (Nennung des Vaternamens zwischen Vornamen und Gentilnamen, wie im Umbrischen). 109 Die Übernahme Antiums war vielleicht strategisch bedingt: Liv. 8.14.8 berichtet unter anderem, dass den Antiaten die Seefahrt verboten worden sei. Lackner 2008, 28 „eine der wenigen für die Seefahrt geeigneten Buchten Latiums“, so auch Bispham 2012, 230–234. Vgl. Brandizzi Vittucci 2000, 138–143; Di Fazio 2020, 48–49. 110 Bezeichnenderweise wurden diese erst 317 dadurch gelöst, dass die Antiaten sich die römischen Kolonisten zu patroni nehmen sollten, was eine klare Unterordnung unter die römischen Bürger bedeutete, s. Anm. 194 bis 196 in diesem Kapitel. 111 Attema 1993, 234–236. Satricum verlor zwischen 350–250 an Bevölkerungsdichte. Attema/De Haas/ Tol 2010, 62, Gnade 2017, 471; in Antium ist die Situation schwieriger einzuschätzen, besonders aufgrund der Auflösung der stadtstaatlichen Verwaltung s. Salmon 1969, 75: „This reduced them to a disordered mass of stateless persons, the only organized community at Antium being the Citizen colony […] with only the most rudimentary instruments of administration“. Galsterer 1976, 89 geht von einer Inkorporierung in den ager Romanus aus, ohne den Status der Antiaten zu thematisieren. Dagegen meint Humbert 1978, 187–190, es sei zu einer Aufnahme in die Bürgerschaft gekommen, was aber nicht mit den späteren Schwierigkeiten zu vereinbaren ist, s. Taylor 1960, 319–321 zur unklaren Tribuszugehörigkeit sowie Bandelli 1995, 169–171. Ein weiteres Problem bei der Frage nach der Integration Antiums ergibt sich aus der schwierigen Lokalisierung der colonia civium Romanorum: Hesberg 1985, 137 vermutet eine Anlage der Kolonie in der ehemaligen Siedlung, da sich keine Reste erhalten haben. Brandizzi Vittucci 2000, 138–139 hat dagegen die These aufgestellt, die römische Bürgerkolonie sei getrennt von der eigentlichen Siedlung in Nettuno errichtet worden. Haas 2011, 295 geht von der Ansiedlung der Kolonisten nahe der Stadt aus, betont aber auch die Notwendigkeit, die Hafenanlagen unter Kontrolle zu halten und verweist auf die anhaltende Siedlungsaktivität in Antium selbst (ebd. 189–190). Eine separate Befestigung der römischen Bürger unmittelbar nach der Niederwerfung Antiums scheint hier durchaus plausibel, hätte jedoch negative Auswirkungen auf die Integration der Einheimischen gehabt. 112 Cancellieri 2001, 52–54; Roselaar 2010, 301–303. 113 Dies würde dem generellen Trend entsprechen, größere Gemeinden in Latium nicht einzugemeinden, s. Salmon 1982, 53–54; Hantos 1983, 58–59.
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In Latium Vetus führte der römische Sieg demnach zu wesentlich tiefgreifenderen Veränderungen als in Kampanien oder dem Liris-Tal. Neben rigorosen Eingriffen in die lokalen Verhältnisse der Besiegten, die von einer vollständigen Auflösung selbstständiger Gemeinden, wie im Falle von Pedum, Nomentum, Aricia, Tusculum und Lanuvium, bis zur Oktroyierung verschiedener Rechtsstatus reichten, spielten in Latium Konfiskationen und Ansiedlungen römischer Bürger eine zentrale Rolle. Das beschlagnahmte Gebiet lag hauptsächlich östlich und südöstlich des alten ager Romanus und wurde für die Ansiedlung römischer Bürger genutzt, die 332 in den neugegründeten tribus Maecia und Scaptia erfasst wurden, die auch die Neubürger Lanuviums einschlossen.114 7.4.4 Divide et impera I – Isolierung In Latium ging es offenbar in viel stärkerem Maße darum, römische Interessen durchzusetzen und eine dauerhafte Unterordnung der Nachbarstädte zu erreichen. Diese Annahme wird durch die Berücksichtigung der geographischen Gegebenheiten deutlich, besonders im Fall der fünf vollinkorporierten Gemeinden.115 Die Einverleibung von Aricia und Lanuvium bildete zusammen mit den Konfiskationen in diesem Gebiet die Grundlage für die Gründung der tribus Maecia und Scaptia, die eine Verbindung zu den bis dato isolierten tribus Pomptina und Publilia herstellten; der ager Romanus erstreckte sich nun über die fruchtbarsten Teile der Küstenebene.116 Durch die Arrondierung ergaben sich weitere Nebeneffekte, denn die nicht eingebürgerten Städte Lavinium, Antium und Ardea waren damit von römischem Gebiet umklammert. Ähnliches ist im Falle von Tibur und Praeneste zu beobachten, die jeweils Gebiete abtreten mussten. Gleichzeitig führten die Eingemeindungen von Pedum und Nomentum aber auch dazu, dass zwischen den beiden Städten nun ager Romanus lag, der außerdem Tibur vom westlich gelegenen Tibertal abschnitt.
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Taylor 1960, 53–55; Humm 2005, 409. Da tribus in der Regel aus Altbürgern gegründet wurden, ist davon auszugehen, dass zumindest die Hälfte der neuen tribules aus diesen bestand. Toynbee 1965 I, 134–135 und Hantos 1983, 58–59 gehen von jeweils 5.000 Personen für die neuen tribus aus, ebenso Roselaar 2010, 301 laut der 35.000 iugera für insgesamt 5.000 römische Kolonisten beschlagnahmt worden seien. Die Konfiskationen werden Lanuvium und Aricia getroffen haben, das Gros des beschlagnahmten Territoriums dürfte aber auf Velitrae entfallen sein. Tusculum stellt hier einen schwierigen Sonderfall dar, da es lediglich in seinem Status ‚bestätigt‘ worden sei, doch ist davon auszugehen, dass das vormalige enge Bündnis zu diesem Zeitpunkt in eine volle Eingliederung der Tusculaner verwandelt wurde. Taylor 1960, 55. Quilici 1994, 127–131 zu den Ansiedlungen. Die zunehmende Besiedlungsdichte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts dürfte kaum vor dem Latinerkrieg eingesetzt haben: Attema/Haas/Tol 2010, 61–62; Haas 2011, 191–194.
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Karte 5 Nachkriegsordnung. Eigene Darstellung, M. Helm
Diese Veränderungen komplementieren damit in territorialer Form die römischen Restriktionen bezüglich der Kontakte der Verbündeten untereinander. Den nicht-eingebürgerten Städten wurden die Rechte auf conubia, commercia und concilia entzogen, so dass wirtschaftliche oder politische Vernetzungen wenn nicht unmöglich, so doch zumindest deutlich erschwert waren.117 Cornell hat angemerkt, dass diese Regelung selbst bei rigoroser Umsetzung für die Betroffenen nicht allzu dramatisch ausgefallen sein kann, da die Ausdehnung des ager Romanus dazu führte, dass die meisten Betroffenen nun in der Nachbarschaft römischer Bürger lebten. In Bezug auf den Großteil der Bevölkerung mag dies zutreffen, doch mussten die Beschränkungen die Möglichkeiten der lokalen Eliten zur Vernetzung massiv einschränken. Die exklusiven bilateralen Beziehungen zwischen Rom und den Verbündeten schnürten ein enges Korsett für die Eliteninteraktion, das die römische Elite zum Dreh- und Angelpunkt möglicher Austauschprozesse machte.118 Zwar zeigen spätere Beispiele, dass nicht sämtliche Verbindungen zwischen den verbündeten Städten abbrachen, doch nahmen die Möglich-
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Liv. 8.14. Diese Rechte waren durch das foedus Cassianum garantiert worden, s. Alföldi 1963, 114– 117; Galsterer 1976, 87; laut Cornell 1989c, 366 als „divide and rule“ zu interpretieren. Vgl. Lomas 2017, 267–269. Hölkeskamp 2011, 175–178; Lomas 2017, 266–267.
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keiten deutlich ab und bargen die juristische Grundlage für potenzielle römische Interventionen.119 Das römische Vorgehen in Latium Vetus zeichnete sich demnach einerseits durch eine bewusste Isolierung der Städte und ihrer Eliten aus und andererseits durch die Beschlagnahmung von Ländereien. Im Kleinen wurde diese Politik auch in Campania und Latium Adiectum praktiziert, doch beschränkte man sich hier auf ein Minimum an Maßnahmen, die der Sicherung der Verbindungswege und der Aufrechterhaltung des römischen Einflusses dienten. 7.4.5 Divide et Impera II – Zentralisierung und Hierarchisierung Neben den Eingriffen in die politische Landschaft Latiums wurde auch die Sakrallandschaft einer weitgehenden Neustrukturierung unterworfen. Hierbei ist die Sonderrolle des ager Romanus antiquus zu beachten, der ein sakrales Kerngebiet bildete, dem eine deutlich höhere religiöse Qualität zugeschrieben wurde als dem übrigen ager Romanus.120 Diese Exklusivität blieb auch von den anschließenden Erweiterungen des römischen Territoriums unberührt, was langfristig zu einer Aufwertung des sakralen Kernbereichs und der darin befindlichen urbs führen musste.121 Das bestbezeugte Bei-
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Sherwin-White 1973, 113 vermutet etwa im späteren Fall der Herniker eine temporäre Strafmaßnahme. Eine konsequente Umsetzung der Gesetze lässt sich in der Tat nicht erkennen: vgl. etwa das Bündnis von Privernum und Fundi 330, die gute Vernetzung der exilierten Aristokraten Capuas (Frederiksen 1984, 304–305) oder aber die ‚Verschwörung‘ der 12 latinischen Kolonien 209, Liv. 27.9.1–10.10. Zu Heiraten der italischen Eliten untereinander: Patterson 2006a, 140–143, 2016b, 49–50; Bourdin 2012, 569–574; Lomas 2012, 202–209; Beck 2015, passim. Zu den konkreten Problemen der Umsetzung der Verbote s. Broadhead 2001 am Beispiel des ius migrandi. 120 Alföldi 1962, 194–201 geht von einer Sakralgrenze mit einem Radius von etwa 8 km aus, die sich auf der kombinierten Analyse der Kultfeste der Ambarvalia, Arvalia, Terminalia (6. Meilenstein), der Fortuna Muliebris (vier Meilen von der Stadt entfernt), der Robigalia (5. Meilenstein) und der Abgrenzung durch den ager Gabinus (etwa sechs Meilen von Rom entfernt) sowie der Marsschrein mit der Wolfs-Statuengruppe an der via Appia zwischen Rom und Bovillae befand. Dagegen hat zuletzt Smith 2017a die Rolle der Heiligtümer als Grenzmarkierung in Frage gestellt. Allerdings haben die Untersuchung der römischen Prodigien durch Rosenberger 2005, 235–257 gezeigt, dass prodigia vor allem im römischen Kerngebiet wahrgenommen wurden und es folglich erst im späten 3. Jahrhundert zu einer Erweiterung des sakral relevanten Raumes gekommen zu sein scheint. S. a. Gargola 2017, 90–95. 121 Während der frühen Expansion scheint diese Asymmetrie kein Problem dargestellt zu haben, doch verweist die Einverleibung neuer Gebiete als ager Bolanus, ager Tusculanus, ager Gabinus, ager Labicanus, ager Solonius und ager Veiens auf die klare Unterordnung gegenüber dem urbanen Zentrum, der urbs Roma. Der ager Gabinus verdankt seine Sonderstellung den Besonderheiten der Königszeit (Liv. 1.53–54; Dion Hal. ant. Rom 4.58; Fest. 48L). Nach Varro ling. 5.33 stellte er eine auguralrechtliche Besonderheit zwischen dem ager Romanus und dem ager peregrinus dar, Fest. 287L kennt dagegen nur den ager Romanus, ager peregrinus und ager hostilius; Bruun 1967, 51–66. Die übrigen Fälle, insbesondere die Akquisition Veiis inklusive des anschließenden Verfalls des urbanen Siedlungskerns, verweisen dagegen darauf, dass die politische und sakralrechtliche
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spiel für letzteres bietet die Stadt Veii, die durch die evocatio der Iuno Regina nicht nur ihres zentralen Kultplatzes beraubt, sondern gleichzeitig in eine untergeordnete Rolle gezwungen wurde. Vorgänge außerhalb des ager Romanus antiquus gewannen nur dann an gesamtgesellschaftlicher Relevanz, wenn letztere von den Verantwortlichen im Zentrum festgestellt wurde.122 Laut Linke entwickelten die Römer „im religiösen Bereich also keine integrativen Strategien, sondern betonten gerade zu Beginn der Expansion, als die Folgen besonders intensiv erlebbar waren, zunehmend die Asymmetrie in der sakralen Bedeutung von zentralen und peripheren Gebieten.“123 Demnach bedeutete die Erweiterung des ager Romanus auch die Absorption der jeweiligen sakralen Räume durch das Zentrum, wodurch die neue Hierarchie in Latium in äußerst deutlicher und effektiver Form auch im sakralen Bereich in Szene gesetzt wurde.124 Konkrete Beispiele hierfür finden sich in überraschend großer Zahl: Lanuvium etwa erhielt minutiöse Anweisungen bezüglich der weiteren Ausübung der Kulthandlungen in seinem bedeutenden Iuno Sospita-Heiligtum,125 wobei sich die neue Hierarchie und das römische Selbstverständnis bereits in der Formulierung Lanuvinis civitas data sacraque sua reddita widerspiegeln, die eine klare politische und sakrale Überlegenheit der römischen Seite, aus deren Händen die Einwohner Lanuviums zu diesen Vorteilen überhaupt erst gelangt waren, ausdrückt.126 Cicero berichtet, es sei eine obligato-
Asymmetrie zugunsten Roms die übrigen Ortschaften des ager Romanus in abhängige Sekundärsiedlungen transformierte; Catalano 1978, 493–494. Zur Unterscheidung des ager Romanus und des Gebietes von Tusculum s. Varro rust. 1.14.3–4. Auch das Territorium anderer inkorporierter latinischer und etruskischer Städte behielt seine Bezeichnung nach der ursprünglichen Gemeinde, so z. B. ager Veiens (Fest. 204 L. s. v. obscum; 326 L. s. v. ager Romanus; Liv. 44.18.6); ager Crustuminus (Liv. 41.9.5); ager Veliternus (Liv. 30.38.8); s. a. Liv. 27.37.1–6 u. 28.11.1–7. 122 Alföldi 1962, 194–201; Rosenberger 1998, 38–61; Beard/North/Price 1998, 37–39; Engels 2007, 748–759; Bourdin 2012, 503. 123 Linke 2013, 77. Zudem wird auf die Abwesenheit von zentrifugalen Prozessionen verwiesen. S. a. Linke 2009, 347–356 zur Ablehnung von religiösen Hierarchisierungstendenzen in den republikanischen Gesellschaften der Antike, jedoch war eine Hierarchisierung gegenüber Fremden durchaus möglich. Der römische Sonderweg könnte auch hier aus dem langen Kampf zwischen föderalem und zentralistischem Ansatz hervorgegangen sein, s. Linke 2010. 124 Diese Bestrebungen gab es bereits zuvor: Alföldi 1963, 85–100. S. Green 2007, 10–14 zur Konkurrenz zwischen den Diana-Heiligtümern in Rom und Aricia; Ceccarelli/Marroni 2011, 69–80; Martinez-Pinna 2017, 175–182. Linke hat diesbezüglich auf die rücksichtslose und rigorose Neuausrichtung der Sakrallandschaft auf die Stadt Rom sowie auf ihre starke Hierarchisierung zugunsten römischer Institutionen verwiesen: Linke 2013, passim. Einen guten Überblick über die pan-latinischen Heiligtümer bieten Coarelli 1987; Bourdin 2012, 289–298. S. Ceccarelli/Marroni 2011 zu den einzelnen Heiligtümern. 125 Ceccarelli/Marroni 2011, 226–250 zur Bedeutung Lanuviums für die Sakrallandschaft Latiums, s. hierzu auch Alföldi 1963, 268–278; Coarelli 1987, 141–161; Palmer 1974, 30–32; Chiarucci 1983, 55–58; Martinez-Pinna 2017, 168–173. Zur Lokalisierung auf dem Colle San Lorenzo s. Chiarucci 1983, 166–168; Santi 2010, 33–37. 126 Liv. 8.14.2; Zur anhaltenden Bedeutung des Heiligtums s. Liv. 22.1.18; Cic. nat. deor. 1.82; CIL 14, 2121. RRC 316/1 verweist auf die überregionale Kenntnis der Iuno Sospita. Kragelund 2001, 68; Schultz 2006b, 208–209, s. a. Chiarucci 1982, 284. Die Tatsache, dass die Göttin Iuno Sospita Mater
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rische Handlung der Konsuln bei Amtsantritt gewesen, das Iuno Sospita-Heiligtum aufzusuchen, wodurch es gerade aufgrund der engen Verflechtung mit den zentralen römischen Institutionen in seiner lokalen Selbstständigkeit gemindert wurde.127 Auch die explizite Unterscheidung zwischen den eingebürgerten Einwohnern Lanuviums und den römischen Altbürgern lässt aufhorchen.128 Zwar gab es offenbar die Möglichkeit einer weiteren Kultteilnahme für die Einheimischen, doch wurde die vermeintlich gleichberechtigte Ausübung durch die Anwesenheit der Konsuln implizit hierarchisiert.129 Unmittelbar nach dem römischen Sieg dürfte die gemeinsame Verehrung der Iuno Sospita daher eher als ‚feindliche Übernahme‘ wahrgenommen worden sein.130 Das Phänomen der Hierarchisierung und Vereinnahmung von Kulten durch die römische Zentrale findet sich auch im Fall der feriae Latinae, des alten latinischen Bundesfestes, wieder, die auf dem Albanerberg zelebriert wurden, dem zentralen Kultort Latiums und Sitz des Iuppiter Latiaris.131 Der grobe Ablauf des Festes ist relativ zuverlässig rekonstruierbar: Zentrales Element war wohl schon in der Frühzeit die Opferung eines weißen Stiers, dessen Opferfleisch unter den Kultteilnehmern verteilt
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Regina genannt wurde, verweist auf ihren Status als Schutzherrin Lanuviums, eine Rolle, die nun eng mit dem römischen Zentrum verflochten wurde. Cic. Mur. 90. Linke 2011, 62 meint, dass es weder bei Aristokraten noch Bürgern ein Interesse an der Ausdehnung des gesellschaftlich relevanten Raumes über die Stadt Rom hinaus geben konnte. Die Vereinnahmung des Heiligtums bot dagegen einen Mittelweg der Kontrolle, den Schultz 2006b, 223 als „usurpation and incorporation“ bezeichnet. Orlin 2010, 54–57 verweist auf die Bedeutung des „shared“ Heiligtums, betont jedoch den Unterschied zwischen den Bewohnern Lanuviums und den Römern. Außerdem scheint es nach der römischen Übernahme zu Instandsetzungen und Erweiterungen des Areals gekommen zu sein; Coarelli 1987, 69–73; Attenni 2004, 224. Galsterer 1976, 68–69. Besonders die lokalen Eliten erlebten durch die Abgabe der Kultleitung einen Prestigeverlust, wie Bodei Giglioni 1977, 45–46 für das Diana-Heiligtum in Aricia festhält. Aufgrund der Anbindung an die via Appia scheint dieses im 3. Jahrhundert dann jedoch aufgeblüht zu sein, doch verweist Green 2007, 15–17 auf die Tatsache, dass man hier erst um 300 einen neuen prächtigen Tempel errichtete, der zu großer Berühmtheit gelangen sollte. Linke 2013, 85; Cazanove 2007, 43–44. In Rom wurde die Kontrolle des Heiligtums als Ausdruck der römischen Hegemonie über die latinischen Städte jedenfalls sehr genau wahrgenommen, wie die hektische Senatsaktivität in Krisensituationen, z. B. durch außerordentliche Opfer 217 und Maßnahmen zur Wiederherstellung des Heiligtums im Bundesgenossenkrieg zeigt; Cic. div. 1.4 zum Traum der Caecilia Metella bezüglich des Iuno Sospita-Heiligtums. Kragelund 2001, 64–69; dagegen geht Schultz 2006b, 208–209 von dem urbanen Heiligtum in Rom aus, ohne dabei die Schwierigkeiten dieser Rekonstruktion zu verschweigen. Die enge Verbindung von Stadt und Heiligtum sprechen m. E. gegen die römische Variante; Sil. 8.360–361: Iunonia sedes / Lanuvium; Ov. Fast. 6.60, vgl. die Denariusprägung des Balbus RRC 316/1 mit Cic. Fin. 2.63. Orlin 2010, 123 hat dafür plädiert, die römischen Handlungen als Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen Rom und Lanuvium zu verstehen, die im Endeffekt eine Anerkennung der Latiner und ihrer Kulte als Teil des römischen Herrschaftsbereichs bedeuteten. Zurückhaltender dagegen Hermans 2012, 334–336. Die rituellen Gaben verweisen auf einen Ursprung im 10. bis 8. Jahrhundert. Dem entspricht, dass die Archäologie keine urbane Bebauung feststellen konnte. S. Alföldi 1963, 29–34; Cornell 1995, 71–73; Liou-Gille 1996, 73–97; Grandazzi 2008, 514, 673; Smith 2012c, 270–271, 2014 22–23 verweist trotz des dürftigen archäologischen Befundes auf die überragende Bedeutung des Kultes für die Gemeinden der Latiner.
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wurde und so die Gemeinschaft der populi Albenses konstituierte.132 Spätestens ab 338 weist das gemeinsame Ritual dann jedoch stark hierarchisierende Elemente auf, da die Kultleitung den römischen Konsuln oblag und sämtliche römische Magistrate, inklusive der tribuni plebis, an dem Fest teilnahmen.133 Die Vormachtstellung der römischen Magistrate, aus deren Händen die Teilnehmer das Opferfleisch erhielten sowie die Ungleichheit der Gaben lassen darauf schließen, dass das überlieferte Fest vor allem der Inszenierung und Stabilisierung der römischen Dominanz diente.134 Wie im Fall des Iuno Sospita-Heiligtums sticht die römische Überlegenheit hervor, denn die geballte Anwesenheit der römischen Amtsträger in Kombination mit der Sicht auf den monumentalen Iuppiter Optimus Maximus-Tempel auf dem Kapitol schuf eine direkte Verbindung zum römischen Zentrum. Gleichzeitig lag es in der Logik der politischen und sakralen Neuordnung Latiums, dass Neubürger und Bündner die urbs nicht betraten.135 In diesem Kontext ist auch das separate quotannis post diem decimum Latinarum zu erneuernde Bündnis Roms mit Lavinium zu erwähnen, einem weiteren Ort mit überregionaler Kultbedeutung, die sich in zahlreichen Heiligtümern niederschlug.136 Auch wenn die Laurentes laut Livius keine Strafen zu erdulden hatten, bedeutete die Übernahme der sakralen Aufgaben durch römische Magistrate dennoch einen massiven Eingriff in die lokalen Verhältnisse, der keinen Zweifel daran ließ, wer nun den
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Dion. Hal. ant. Rom. 4.49; Arn. 2.68 zum Opferstier, dieser wurde von Frauen mit Milch besprenkelt: Cic. Att. 1.3.1, div. 1.18; im Anschluss wurde ein großes Opferfeuer entzündet, Luc. 1.550, 5.402. Grandazzi 2008, 585–600; Smith 2012c, 268–274. Auch hier waren die Konsuln zur Durchführung des Festes verpflichtet, Liv. 21–63.5–8; 22.1.6; 44.19.4; Cass. Dio 46.33.4. Zudem verweisen Dion. Hal. ant. Rom. 8.87.6; Cass. Dio 54.29.7 auf die Existenz einer Unterkunft für die Konsuln; zuvor wurde ein Termin für das Ritual festgelegt und verkündet, Liv. 41.16.1–5. Nach dem verfrühten und vermeintlich frevelhaften Aufbruch des Flaminius, ohne dass er die feriae Latinae durchgeführt hatte (Liv. 22.1.6), legte man in der Folge besonderen Wert auf deren Durchführung, s. Liv. 25.12.1. Zur Teilnahme sämtlicher Magistrate s. CIL 6, 1421; Cass. Dio 49.42.1, 53.33.3. Grandazzi 2008, 581–582; Pina Polo 2011, 103–104. S. a. Simon 2011 zur Funktion des Festes für die religiöse Legitimierung der Imperiumsträger. carnem petere: Varro ling. 6.25; Cic. Planc. 23; Dion. Hal. ant. Rom. 4.49.3; s. a. Cic. div. 1.17–18; Arnob. 2.68. Zum Ablauf: Dion. Hal. ant. Rom. 4.49; Cic. Att. 1.3.1, div. 1.18. Cic. Planc. 9.23; Lucan. 3.87; CIL 14, 2231 und Dion. Hal. ant. Rom. 8.87.6 verweisen auf die superiore Position und Machtstellung der römischen Teilnehmer durch ihr stellvertretendes Opfer für die übrigen Anwesenden; hierzu Alföldi 1963, 20–22. Liv. 32.1.9, 37.3.5 zu Beschwerden der Ardeaten bzw. Laurenter, die ihr Opferfleisch nicht erhalten hatten, woraufhin das Fest wiederholt werden musste. In Liv. 41.16.1–2 hatte dagegen der Vertreter Lanuviums im Jahr 176 vergessen für das Wohlergehen der Stadt zu beten, woraufhin das Fest wiederholt werden musste und Lanuvium die Gesamtkosten zu übernehmen hatte. Vgl. Linke 2013, 15. Grandazzi 2008, 591 verweist mittels AE 1964, 115 auf die Nähe von latinas condere zu lustrum condere, was bedeuten würde, dass die Teilnehmer sich von den sakral ‚höherwertigen‘ Römern entsühnen lassen mussten. Die Entzündung eines riesigen Leuchtfeuers nach Beendigung des Festes demonstrierte den umliegenden Gemeinden auch visuell die römische Vormachtstellung, Luc. 1.550; 5.402. Liv. 8.11.15. Ceccarelli/Marroni 2011, 207–225 zur Bedeutung Laviniums für die Sakrallandschaft Latiums.
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Ton angab.137 Die genaue Art des römischen Eingriffs ist umstritten, da die Zuweisung einzelner Gottheiten zu den jeweiligen Heiligtümern, etwa den im Rahmen der Ausgrabungen von Pratica di Mare zu Tage geförderten dreizehn Altären südlich der Stadt, für die Zeit vor 338 schwierig bleibt. Möglicherweise wurden die Penaten erst in der Folge des römischen Sieges als Schutzgötter verehrt.138 Ab 338 beanspruchte Rom jedenfalls die Oberaufsicht und Durchführung der Kommunikation und Verehrung der Ahnengötter der latinischen Städte für sich.139 Es blieb in Lavinium, anders als bei den feriae Latinae, allerdings nicht bei der Vereinnahmung der Kulttätigkeit vor Ort. Stattdessen äußerte sich der römische Herrschaftsanspruch auch in einer konsequenten ‚Trojanisierung‘ der Penaten, denen ausschließlich von den römischen Magistraten Opfer dargebracht wurden, an denen die Bürger Laviniums nicht teilnahmen.140 Der genaue Ablauf dieser Vereinnahmung und Modifikation der lokalen Heiligtümer kann nicht mit vollständiger Sicherheit rekonstruiert werden, doch dürfte Annie Dubordieu richtig liegen, nach der es im Zuge der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zu einschneidenden Veränderungen in der Sakrallandschaft kam, die sich auch in der architektonischen Gestaltung der Heiligtümer spiegeln.141 Die bewusste Neugestaltung der römischen Abstammungslegende mithilfe des Aeneas-Mythos stellt hierbei die deutlichste Abgrenzung von den stammverwandten Latinern dar und schuf die Voraussetzungen für eine ideologische Untermauerung des römischen Herrschaftsanspruches.142 Die
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Val. Max. 1.6.7; Obseq. 24; Macr. Sat. 3.4.11 für den Fall des C. Hostilius Mancinus. Sämtliche Imperiumsträger opferten hier vor ihrem Amtsantritt, Serv. auct. Aen. 2.296, 3.12, 8.664. M. Aemilius Scaurus (cos. 115) wurde wegen versäumter Durchführung des Opfers angeklagt: Ascon. Scaur. 1 p.21 Stangl; vgl. Val. Max. 6.5.5. Pina Polo 2011, 104–108. 138 Die früheste Erwähnung Laviniums als Sitz der Penaten geht auf Timaios BNJ 566 F 59 (= Dion. Hal. ant. Rom. 1.67.4) zurück, der das Heiligtum während seines Besuchs zwischen 338 und 316 gesehen haben muss. Alföldi 1963, 265–271 vermutet in den dreizehn Altären von Anfang an ein Heiligtum für die Penaten, ebenso Cornell 1995, 66. Allerdings wurde das Heiligtum auch mit den Dioskuren (Weinstock 1960, 112–118; Galinsky 1974, 2, 2015, 141–190; Holloway 1994, 134) und Venus (Dubordieu 1989, 254–257 basierend auf Strab. 5.3.5) in Verbindung gebracht, weshalb keine endgültige Aussage getroffen werden kann. 139 North 1976, 11; Alföldi 1963, 31–32; Smith 1996, 220. S. RRC 312/1 mit der Legende D P P für Dei Penates Publici auf dem Avers. Die jährliche Erneuerung des Bündnisses mit Lavinium verweist darauf, dass diesem Vorgang mindestens ebenso hohe Bedeutung zugemessen wurde wie den zeitlich eng damit verbundenen feriae Latinae. Alföldi sieht das Fest als Zugeständnis Roms an, dagegen verweist Linke 2013, 14 zu Recht auf das hierarchisierende Element des Rituals. 140 Varro ling. 5.144: oppidum quod primum conditum in Latio stirpis Romanae, Lavinium: nam ibi dii penates nostri; Ascon. Scaur. 1 p. 21 Stangl: sacra publica populi Romani deum penatium quae Lavini fierent. Zur Vereinnahmung der Penaten durch Rom s. Sordi 1982, 70–74, eine prägnante Zusammenfassung der Problematik bietet Hartmann 2010, 235–242. 141 Dubordieu 1989, 380; Orlin 2010, 51–55 stimmt mit dieser Einschätzung überein, indem er die römischen Aktivitäten in Bezug auf die feriae Latinae und Lavinium auf deren religiöse Bedeutung für den ehemaligen Latinerbund zurückführt; Galinsky 2015, 148–149. 142 Alföldi 1963, 250–265. Zum Aeneas Heroon: Plin. nat. 3.56; Dion. Hal. ant. Rom. 1.64.5. Sommella 1971, 47–74, 1974; Galinsky 1993, 100–102; dagegen vermutet Cornell 1977, 78–83 eine spätere Rekonstruktion. Zur Ausbildung einer religiösen Herrschaftslegitimation s. Cogrossi 1982, 89–98;
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Übernahme der Kultaufsicht und die Aufnahme der Kulthandlungen in die sakralen Obligationen der römischen Magistrate, ohne Inklusion der Lokalbevölkerung geschweige denn weiterer Latiner, sprechen deutlich für die römische Entschlossenheit, die wichtigsten sakralen und politischen Strukturen zu kontrollieren. Bei aller Betonung der integrativen Möglichkeiten, die sich aus der Einverleibung der Kulte ergeben hätten, lässt die urbane Entwicklung Laviniums keinen Zweifel an der Frage, wem die Neuregelung der Sakrallandschaft zugutekam, denn die Stadt büßte in kürzester Zeit an Bedeutung und Größe ein. Die Siedlungskontinuität endete endgültig im 2. Jahrhundert; Lavinium wurde zu einer ‚Geisterstadt‘.143 Pointiert gesagt, traten die Latiner nicht nur ihre politische Autonomie und Teiles ihres Territoriums ab, sondern auch ihre sakralen Güter.144 Aus dieser Perspektive lässt sich auch der Umgang mit den latinischen Nachbarstädten Tibur und Praeneste betrachten.145 In beiden Fällen kam es zu Landabtretungen und in der Folge zum Abschluss von foedera, die erklärungsbedürftig sind. Schließlich hatten die beiden Städte über weite Strecken des 4. Jahrhunderts den Widerstand gegen Rom angeführt, weshalb drastischere Maßnahmen zu erwarten gewesen wären. Zur Beantwortung dieser Frage sind unterschiedliche Ansätze verfolgt worden, deren gemeinsamer Nenner in der Größe der Städte liegt.146 Dagegen verweisen die Beispiele von Velitrae, Fundi, Formiae und später Privernum jedoch auf die prinzipielle Möglichkeit der Inkorporation auch großer Gemeinden als civitates sine suffragio, wobei Velitrae nicht näher oder weiter entfernt lag als Tibur oder Praeneste und zudem sehr gut den Maßnahmenkatalog vorführt, mit dem ein großes Gemeinwesen zurechtgestutzt werden konnte. Der Umgang mit Tibur und Praeneste lässt sich daher vielleicht aus der besonderen sakralen Qualität der beiden Orte ableiten, immerhin verfügten die Städte in der Form des Hercules Victor- und des Fortuna Primigenia-Heiligtums über bedeutende Kulte. Eine Eingliederung der beiden Städte hätte nicht nur zu potenziellen Problemen aufGalinsky 2015, 145–169; s. jetzt Hartmann 2017, 19–22. Dieser Überlegung entspricht die Bautätigkeit, die bald nach dem Vertragsabschluss mit Rom einsetzte und im Falle des Grabs des Aeneas vorhandene Elemente aufgriff und im römischen Sinne neugestaltete; Galinsky 1974. 143 Luc. 7.392–396 rus vacuum; Hartmann 2010, 240–242. 144 Besonders deutlich in der Tatsache, dass mit der deditio auch die termini des fremden Landes verfallen (Liv. 1.38) und der römische pater patratus bei Kriegsbeginn nicht etwa die eigenen, sondern die fremden Grenzen anruft, Gladigow 1992, 186–187; s. a. Whittaker 1997, 18–28, der darauf verweist, dass die limitatio der innergesellschaftlichen Orientierung diente, nicht der Abgrenzung gegenüber Fremden. Vgl. Sherwin-White 1973, 62–67, der aber den konkreten historischen Kontext der Eingliederung zu wenig berücksichtigt. 145 Cora erhielt möglicherweise auch ein foedus, hierzu ist aber wenig bekannt, da sich die Stadt im Latinerkrieg offenbar neutral verhielt; Salmon 1969, 50–52; Humbert 1978, 190–191. 146 Alföldi 1963, 389–391, 417 erkennt die Bedeutung dieser Städte, nimmt aber eine zu frühe und zu einvernehmliche Kooperation an; Hantos 1983, 58–59 sieht die Größe der beiden Städte als entscheidendes Problem. Galsterer 1976, 87; Toynbee 1965 I, 132–133 geht davon aus, dass die unabhängigen Gemeinden aufgrund ihrer exponierten Lage auf Rom angewiesen waren.
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grund ihrer Größe, sondern womöglich auch zur Konstituierung von sakral relevanten Bereichen außerhalb von Rom geführt.147 Einen Hinweis hierauf liefert eine Episode des Jahres 311: den tibicines war es in diesem Jahr verboten worden im Iuppiter-Tempel zu speisen, woraufhin sie die Stadt demonstrativ verließen und nach Tibur zogen. Nur mit einiger Mühe ließen sich die Flötenspieler zu einer Rückkehr nach Rom bewegen; ganz offenbar bot der Auszug nach Tibur die Möglichkeit einer dramatischen Inszenierung ihrer Empörung.148 Auch wenn Livius diese Episode mit einem Stirnrunzeln berichtet, begegnet uns hier schon früh ein Spannungsverhältnis, das bis ins 1. Jahrhundert Bestand haben sollte.149 Zumindest potenziell konnten die beiden Städte den sakralen Führungsanspruch sowie die lediglich in Rom mögliche Kommunikation mit den Göttern in Frage stellen. Das Fortuna-Heiligtum in Praeneste beherbergte schließlich ein hoch angesehenes Orakel, das dem Monopol der römischen Aristokratie bei der Auslegung der sibyllinischen Bücher Konkurrenz machen konnte.150 Nicht umsonst verbot der Senat dem Konsul Q. Lutatius Cerco im Jahr 241, dort Rat einzuholen, und befahl, den überlieferten Traditionen zu folgen statt fremden Kulten.151 Auch Polybios bestätigt eine klare Ausgrenzung, denn die beiden Städte hätten als Exil gedient, eine Funktion, die er ansonsten nur Neapel zuweist. Die Qualität des Rechtsstatus von Tibur und Praeneste unterschied sich also von dem der übrigen Städte in Latium deutlich, die ein solches ius exilium nicht besaßen.152 Anders als im Falle der kleinen, absorbierbaren Städte Lavinium und Lanuvium, könnte die Verbindung aus sakralen und politisch leistungsfähigen Räumen Sorgen bezüglich einer Destabilisierung der fein austarierten sakralen
147 Bereits die evocatio der Iuno Regina hat gezeigt, dass dies nicht im römischen Interesse lag. Auch die Überführung des Iuppiter Imperator aus Praeneste dürfte in diesem Kontext zu sehen sein (Liv. 6.28; Fest. 498L; Diod. 15.47.8) ebenso wie die Ansiedlung des Herkules-Kults an der ara maxima in Rom sowie die zwangsweise Öffnung des Iuno Sospita-Heiligtums in Lanuvium. 148 Liv. 9.30.5–10; Val. Max. 2.5.4; Ov. Fast. 6.657–692. Humm 2005, 469–473; Lanfranchi 2013, 183–186; Buchet 2015, 204–222. 149 De Sanctis 1960 II, 266 hat auf die militärische Stärke der beiden Städte verwiesen, die eine gesonderte Lösung erfordert hätte. Die erhöhte Wachsamkeit schlägt sich in harten Präventivmaßnahmen gegen Praeneste im Pyrrhos-Krieg nieder, Zon. 8.3 Salmon 1982, 54. Auch das senatus consultum de Tiburtibus CIL 12, 586 = ILS 19 (auf das Jahr 159 datiert, s. MRR I, 446) weist die Tiburtiner zurecht und lässt damit wenig Zweifel hinsichtlich der Machtverhältnisse; hierzu Buchet 2015, 91–100. Giuliani 1970, 20–21 sieht in der Inschrift einen Beleg für das faktische Ende des politischen Lebens in Tibur ab 338. Vgl. Mari 1999, 31–55; Coşkun 2009, 117. Die Andersartigkeit von Tibur und Praeneste wird noch von App. civ. 1.65 in Verbindung mit Cinna betont, der sie in Opposition zur bestehenden römischen Ordnung setzt. 150 Strab. 5.3.4; Cic. div. 2.85–87; Liv. 45.44.8–9. 151 Val. Max. epit. 1.3.2. Pietila-Castren 1987, 64. Zur Bedeutung des Heiligtums s. Strab. 5.3.11; Sil. 8.365, Iuv. 5.14.89–90, Cic. div. 2.85–86, Plin. nat. 33.61; Suet. Dom. 15.2, s. a. das umfangreiche Inschriftenmaterial bei Ceccarelli/Marroni 2011, 369–380. 152 Pol. 6.14.8. Laut Walbank 1957, 683 und Sherwin-White 1973, 125–126 war dieses ius exilium eine Ausnahme, da ansonsten keine Notwendigkeit bestand, die drei Städte explizit zu nennen. Salmon 1982, 54–55 nimmt eine eher negative Wirkung an.
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Machtverteilung hervorgerufen haben, so dass man auf eine Einverleibung von Tibur und Praeneste verzichtete und stattdessen auf eine weitgehende Isolierung setzte. Diese Vorsichtsmaßnahmen dürften nicht völlig unbegründet gewesen sein, denn obwohl es sich ab 338 um ager peregrinus mitten in Latium handelte, erfreuten sich die beiden Kultorte auch nach dem römischen Sieg anhaltender Beliebtheit, die ihren Ausdruck in den monumentalen Ausbauten der Tempelanlagen in den folgenden Jahrhunderten fand.153 Es bleibt festzuhalten, dass es in der Folge des Latinerkrieges zu massiven Eingriffen in die Sakrallandschaft Latiums kam. Diese hatten offenbar nicht das Ziel, die neuen Gebiete über gemeinsame Kulte einzubinden, sondern brachten die neuen machtpolitischen Asymmetrien zum Ausdruck.154 7.5 Hierarchisierte Integration – Die civitas Romana Neben der Sakrallandschaft wurde auch die politische Landkarte Latiums im Zuge des römischen Sieges massiv verändert. Die rigorose Reorganisation und Hierarchisierung der regionalen Beziehungen wurde dabei meist im Sinne langfristig angelegter Bündnisstrukturen interpretiert, womit das Jahr 338 zum Ausgangspunkt für das spätere Bundesgenossensystem avanciert.155 Eine wichtige Säule dieser Interpretation bildet die explosionsartige Ausdehnung des ager Romanus, der in nur drei Jahren von etwa 2.000 km2 auf 4.900 km2 anwuchs.156 Unabhängig blieben die übrigen latinischen Kolonien in den Monti Lepini sowie die Aurunker, Sidiciner, Tibur, Praeneste, Ardea, Privernum und Lavinium mit zusammen etwa 2.800 km2, denen unilaterale foedera aufgezwungen wurden. Diese Zahlen besitzen schon aus sich selbst heraus eine gewisse Wirkung, die den weiteren römischen Aufstieg als vorprogrammiert erscheinen lassen. Sie überdecken allerdings auch die Frage nach der langfristigen Befriedung der
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Coarelli 1987, 35–110; Schollmeyer 2008, 140–144, s. a. Abb. 24, 124, 125; Ceccarelli/Marroni 2011, 400–406, 563–564; Buchet 2015, 222–235. In dieser Hinsicht ist Linke 2013 zu folgen, s. aber Schultz 2006a, 1–9 sowie die dort gesammelten Beiträge zum Zusammenspiel der verschiedenen Regionalkulte im römischen Italien. Toynbee 1965 I zum „Roman Commonwealth in Italy“ (Ebd. 84–280), der einen ähnlich bleibenden Eindruck auf die nachfolgenden Forschungen hinterlassen sollte, s. hierzu Curti 2001, 25: „Romanization is a value-laden term but does still capture the essence of a simple truth: the imposition of political rule by one people over others.“ Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet CarlaUhink 2017, 1–10. Die Wirkmächtigkeit dieser Überlegungen schlägt sich dabei am deutlichsten in der Annahme eines römischen ‚Commonwealth‘ im Englischen sowie in dem langen Schatten der von der modernen Nationalstaatswerdung Italiens inspirierten Thesen Mommsens im deutschen Forschungsbereich nieder, denen eine positive Deutung zugrunde liegt, s. Anm. 15 u. 84 in Kapitel 1. Die folgenden Zahlen und Berechnungen beruhen weiterhin auf Beloch 1964 und Afzelius 1942. Die übliche Nennung von 5.500 km2 gründet auf den Berechnungen von Afzelius, der aber aus ungeklärten Gründen die Aurunker zu den cives sine suffragio zählt; Afzelius 1942, 140, 153.
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jüngst Unterworfenen, die nach dieser Rechnung ab 338 keine realistische Chance mehr besaßen, die römische Übermacht herauszufordern. Die Achillesferse dieser Annahme liegt in der fehlenden Differenzierung zwischen römischen ‚Altbürgern‘ und ‚Neubürgern‘, also zwischen den alteingesessenen cives Romani und denjenigen, denen die civitas Romana in unterschiedlicher Form im Zuge des Latinerkrieges aufoktroyiert wurde. Die Verleihung der civitas sine suffragio an die kampanischen Städte, Fundi und Formiae sowie Antium und Velitrae, die zusammen ein Territorium von circa 2.000 km2 umfassten, wird nicht überall einen umgehenden Sinneswandel zu Roms Gunsten ausgelöst haben, erst recht nicht in von römischen Strafmaßnahmen betroffenen Städten wie Velitrae. Beschränkt man sich also auf das römische Kerngebiet und auf die cives optimo iure, erhält das Bild einer massiven römischen Überlegenheit deutliche Risse. Das römische Vollbürgergebiet vergrößerte sich ‚nur‘ um schätzungsweise 800 bis 900 km2 mit einer entsprechenden Verstärkung der römischen Machtmittel und Ressourcen. Damit hätte man es aber statt des üblicherweise angenommenen Verhältnisses von ager Romanus zu ‚verbündetem‘ Territorium von fast 2 zu 1 (= 5.500 km2 ager Romanus zu 2.800 km2 ager socialis) mit einem Verhältnis von grob 1 (cives optimo iure) zu 2/3 (cives sine suffragio, inklusive ager Falernus) zu 1 (foederati) zu tun. Über die exakten Größenangaben lässt sich sicherlich diskutieren, doch verdeutlichen die Relationen, dass die römische ‚Übermacht‘ nach 338 auf einem schmaleren Fundament ruhte als allgemein angenommen.157 Ohne Zweifel war die res publica gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen und verfügte besonders in Form der kampanischen equites und cives sine suffragio über wichtige Verbündete, doch ergab sich hieraus keineswegs eine solch drückende Übermacht, wie sie eine Gleichsetzung von Territorien der cives optimo iure und der cives sine suffragio suggeriert. In anderen Gebieten war die Frage nach dem Umgang mit den Besiegten weit weniger klar und man war auf römischer Seite folglich mit der Frage konfrontiert, wie die eigene Oberhoheit über die frischgebackenen Gefolgsleute dauerhaft sichergestellt werden konnte. 7.5.1 Municipium und civitas sine suffragio Neben den Bündnisverträgen der civitates foederatae und den coloniae Latinae, die ein traditionelles, aber nicht unbedingt bewährtes Mittel der Bindung ehemaliger Kriegs157
Hierauf hat bereits Toynbee 1965 I, 132–144 ohne großen Erfolg hingewiesen. Reine Flächenangaben repräsentieren zwar weder das politische noch militärische Gewicht der betroffenen Gemeinden, doch sind die Voraussetzungen für die Nutzung der Flächen grob vergleichbar. Lediglich die Verbündeten im Raum der Monti Lepini und Monti Aurunci dürften in dieser Hinsicht benachteiligt gewesen sein. Der ager Romanus der Bürger optimo iure betrug demnach ca. 2.800 km2 (inklusive der zwangseingebürgerten Städte Nomentum, Pedum, Tusculum, Lavinium und Aricia mit 300 km2), das Gebiet der cives sine suffragio 1.900 km2 und das der foederati um die 2.800 km2, unter Einbeziehung der loyal verblieben latinischen Kolonien Sutrium und Nepet.
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gegner waren, spielt die innovative und flächendeckende Einführung der civitas sine suffragio und der municipia, also sich selbst verwaltender Siedlungen römischer Bürger, eine entscheidende Rolle. Die ältere Forschung ist lange Zeit davon ausgegangen, dass diese Institutionen ursprünglich auf eine langfristige, wohlwollende Integration abzielten.158 Michel Humbert hat zuerst eine überzeugende Gegenposition vertreten, in der er auf die gewaltsame Unterwerfung sowie die Einseitigkeit der Rechtsverhältnisse zugunsten Roms verwiesen hat.159 Henrik Mouritsen hat zudem argumentiert, dass die Verleihung der civitas sine suffragio keinem ausgeklügelten System folgte, da die jeweiligen Zeitumstände der Verleihungen drastisch variierten. Er geht daher von einer anachronistischen Bezeichnung aus, die im Laufe der Mittleren Republik entstanden sei, nachdem die Eliten der verbündeten Gemeinwesen sich in stärkerem Maße mit der römischen Herrschaft arrangiert hatten und daran zu partizipieren suchten.160 Einigkeit herrscht jedenfalls hinsichtlich der sich verändernden Qualität dieser Einrichtungen, deren Inhaber mit fortschreitender Expansion der res publica und dem Hinzukommen neuer Bündnispartner auf ihre privilegierte Stellung im Vergleich zu letzteren pochen konnten. Diese spätere Aufwertung kann in den Dreißigerjahren des 4. Jahrhunderts aber noch keine Rolle gespielt haben. Für die römischen Maßnahmen wird stattdessen der situative Kontext des Latinerkrieges den entscheidenden Handlungsrahmen gebildet haben. Zwar wird in Bezug auf die municipia angeführt, dass diese sich an der Inkorporation Tusculums im Jahr 381 orientiert hätten, doch ist bereits an anderer Stelle darauf eingegangen worden, dass die
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Mommsen RG I, 795–799; Bernardi 1938, 239–277; Afzelius 1942, 194–196; De Sanctis 1960 II, 422–425; Beloch 1964; Brunt 1969, 121–129; Sherwin-White 1973, 213–214; Bleicken 1975, 193. 159 Humbert 1978, 279–284; Nicolet 1980, 24–30; eine ähnliche skeptische Position hat Oakley 1998, 544–559 übernommen. 160 Mouritsen 2007, 142–147; so auch schon Salmon 1967, 253 und Humbert 1978, 277: „Cet équilibre des droits et des devoirs est la digne parure dont les Romains recouvrirent la réalité plus brutale de leurs conquêtes.“ Auffällig ist die zeitliche und regionale Konzentration der Praxis auf Gemeinden in Campania und Latium zwischen dem Latinerkrieg und dem Pyrrhoskrieg, da die Praxis im 2. Jahrhundert durch die Aufwertung zum vollen Bürgerrecht endgültig beendet wurde, s. Toynbee 1965 I, 403–410; Galsterer 1976, 83; Nicolet 1980, 86, 226; Salmon 1982, 51; Gabba 1989, 216; Staveley 1989, 420–455; David 1996, 37; Bispham 2007, 57. Auf die Problematik einer zu statischen Interpretation hat aber in Ansätzen bereits Sherwin-White 1973, 39–43 verwiesen, laut dem sich die Institutionen wandelten, nicht jedoch ihre Bezeichnung, ebenso Toynbee 1965 I, 205–206: „It is more likely that the inferior status had been intended originally to be permanent, and that it was subsequently discarded from the Roman repertory of constitutional devices because it had been found, by experience, to be unsatisfactory“. Der Begriff der civitas sine suffragio dürfte erst in der Mitte des 3. Jahrhunderts aufgekommen sein, als die überschaubare Zahl der damit beglückten Städte sich zum einen mit der römischen Herrschaft ausgesöhnt hatte, zum anderen eine wachsende Zahl an socii Vertragsverhältnisse mit Rom eingegangen war, die qualitativ minderwertiger waren. Mouritsen 1995, 59–86. Auch Heurgon 1973, 200 und Galsterer 1976, 81 nehmen eine spätere positive Verbrämung anfänglich negativer Institutionen an. Mouritsens Kritik ist insofern angebracht, als diese Einschätzungen sich nicht nennenswert in den Gesamtbewertungen der Institution bei den genannten Autoren niederschlagen.
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Eingliederung Tusculums als municipium zu diesem frühen Zeitpunkt unwahrscheinlich erscheint.161 Selbst wenn es eine solche Regelung gegeben haben sollte, lag diese immerhin zwei Generationen zurück und hatte sich zudem ganz offensichtlich nicht bewährt. Bezüglich der municipia muss zudem, wie bereits erläutert, zwischen der Verleihung der civitas optimo iure an Tusculum, Aricia, Lanuvium, Nomentum und Pedum sowie der civitas sine suffragio an die Campani, Velitrae, Fundi und Formiae unterschieden werden, da sich hieraus unterschiedliche politische Partizipationsmöglichkeiten ergaben. Trotz dieses signifikanten Unterschieds wird für beide Gruppen der Begriff municipia gebraucht, weshalb ihr gemeinsamer Nenner offenbar in der Verpflichtung zu bestimmten Leistungen lag.162 Diese munera bildeten laut Galsterer zu Beginn die „fast einzige Bindung an Rom“, die aber keinem allgemeingültigen Schema folgten.163 James Tan hat diese Argumentation zuletzt weiter zugespitzt und vorgeschlagen, die municipia sowie die Einführung der civitas sine suffragio primär als Maßnahme zur Generierung von zusätzlichen Truppen und tributum im Dienste Roms zu betrachten. Die Besteuerung der jüngst Besiegten bildet in ökonomischer Sicht das dauerhafte Komplement zur einmaligen Ressourcenabschöpfung in Form der Landkonfiskationen.164 Dies würde aber auch bedeuten, dass die Einführung der municipia konsequent von der Frage des römischen Bürgerrechts getrennt werden muss, das lediglich eine nachgelagerte Folge der Verpflichtung der Verbündeten zu bestimmten Leistungen war. Bezeichnenderweise überliefern die Quellen eine klare Differenzierung zwischen ‚Alt-‘ und ‚Neubürgern‘. Bezüglich des bereits erwähnten Heiligtums der Iuno Sospita in Lanuvium – eine der fünf vollinkorporierten Gemeinden – wird etwa zwischen den Lanuvini municipes und dem populus Romanus unterschieden, die gleichberechtigt am Kult teilnehmen sollten.165 Auch für das ebenfalls volleingemeindete Tusculum liegt ein äußerst gut belegtes Zeugnis über die ungleiche Behandlung der Neubürger vor. Im Jahr 323 – ganze 15 Jahre nach Beendigung des Latinerkrieges – soll der tribunus plebis M. Flavius einen Gesetzesantrag in die Volksversammlung eingebracht haben,
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S. etwa Galsterer 1976, 65; Humbert 1978, 151–159; Hantos 1983, 50–53; Frederiksen 1984, 195–196; Cornell 1995, 322–324. S. Kapitel 4.2.2. 162 Hierauf verweist nicht zuletzt die Etymologie von municipium, das sich aus den Wörtern munus und capere bzw. capessere zusammensetzt. Im wortwörtlichen Sinne nichts anderes als „öffentliche Aufgaben/Pflichten übernehmen“; Fest. 127L, 142L; Varro ling. 5.179; Gell. 16.13; Isid. orig. 9.4.21; Plaut. Tri. 687. Vgl. Kornemann RE 16 (1933), 573; Pinsent 1954, 158; Galsterer 1976, 78–80; Humbert 1978, 271–277; Nicolet 1980, 27–28 zu den Verpflichtungen der municipes. S. a. Kapitel 4.2.2 mit Anmerkungen. 163 Den Hernikern von Anagnia wurde zum Beispiel das Recht auf conubium und comercium nach ihrer Kapitulation 306 vorenthalten; Liv. 9.43.22–25. 164 Tan 2019, passim. Rosenstein 2016, 92–93, passim; Taylor 2020, 47–48. Cornell 1989c, 378; Toynbee 1965 I, 208; Bradley 2006, 161, 166. Burton 2011, 13 bezeichnet die Abhängigkeit basierend auf Cic. off. 2.69, Lael. 88–89; Plaut. Trin. 23–25 als größtmögliche Kränkung für die Betroffenen. 165 Liv. 8.14.2: Lanuuinis civitas data sacraque sua reddita, cum eo ut aedes lucusque Sospitae Iunonis communis Lanuuinis municipibus cum populo Romano esset. S. Humbert 1978, 191–193.
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der vorsah, sämtliche männlichen Einwohner Tusculums hinzurichten und Frauen und Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Erstaunlicherweise scheint kein einziger Volkstribun gegen diesen Vorschlag eingeschritten zu sein, da es zu einer regulären Abstimmung kam, in der letztendlich nur die tribus Pollia für den Vorschlag stimmte.166 Laut dem livianischen Bericht waren die Tusculaner während dieses Vorgangs anwesend und warfen sich den abstimmenden tribules flehend zu Füßen, so dass die übrigen tribus mehr aufgrund dieses Trauerspiels als aus Überzeugung gegen die Bestrafung gestimmt hätten.167 Eine solche Behandlung der Tusculaner ist schlichtweg unerhört, da eine Kollektivverurteilung römischer Bürger nach geltendem Recht – auf dessen Durchsetzung gerade die Plebeier in den vorherigen Jahrzehnten vehement hingewirkt hatten – nicht zulässig war.168 Zwar bleiben die genauen Umstände des Ereignisses unklar, doch wurde vermutet, die drakonische Gesetzesvorlage könnte mit dem Konsulat des Tusculaners L. Fulvius Curvus im Folgejahr zu tun gehabt haben, um die ambitionierten Aristokraten der neuen Gemeinden in die Schranken zu weisen. Weder die erfolgreiche Wahl des Fulvius noch das Scheitern der Initiative in der Volksversammlung sollten jedoch darüber hinwegtäuschen, dass der Rechtsstatus der tusculanischen Neubürger auch nach 15 Jahren noch prekär war und von dem Wohlwollen der altrömischen Eliten und Bürger abhing.169 Sextus Pompeius Festus, der im 2. Jahrhundert n. Chr. das Werk de verborum significatione des M. Verrius Flaccus aus dem späten 1. Jahrhundert n. Chr. aufarbeitete und drastisch kürzte, bietet in dieser Hinsicht wertvolle Einblicke in die frühe Geschichte der municipia.170 Das entsprechende Lemma besagt, die Bürger dieser Gemeinden hät-
166 Liv. 8.37.8–12; Val. Max. 9.10.1, s. a. Plin. nat. 7.136 unten. Die Authentizität der Episode wird nicht in Frage gestellt: Taylor 1960, 214, 302; Toynbee 1965 I, 325; Humbert 1978, 158–159; Loreto 1991a, 281–285; Oakley 1998, 761. 167 Liv. 8.37.12: memoriamque eius irae Tusculanis in poenae tam atrocis auctores mansisse patrum aetatem constat nec quemquam ferme ex Pollia tribu candidatum Papiriam ferre solitum. Elster 2003, 75–77. 168 Anscheinend war es den Tusculanern nicht möglich, von dem Provokationsrecht Gebrauch zu machen, weshalb es höchst unwahrscheinlich ist, dass es sich bei ihnen um vollrechtsfähige römische Bürger handelt. Zur provocatio: Martin 1970, 73–76 zur älteren Forschung; Lintott 1972, 233–249, 1999, 97–99; Jehne 2002, 55–74. 169 Münzer 1920, 64–65; Hölkeskamp 2011, 180. Das mangelnde Provokationsrecht impliziert, dass auch der Tusculaner Fulvius kein römischer Vollbürger war, doch ist hier eine Lösung wie in Capua vorstellbar, wo die romfreundlichen Aristokraten die civitas optimo iure erhalten hatten; s. Anm. 92 u. 94 in diesem Kapitel sowie Plin. nat. 7.136: et L. Fulvius inter insignia exempla, Tusculanorum rebellantium consul, eodemque honore, cum transisset, exornatus confestim a populo Romano, qui solus eodem anno, quo fuerat hostis, Romae triumphavit ex iis quorum consul fuerat. Vgl. dagegen Humbert 1978, 279–282, der übersieht, dass die Tusculaner sich nicht in Rom verteidigten, sondern als Schutzflehende auftraten. Der von Humbert beschriebene Prozess der vollen Anerkennung der ‚Neubürger‘ scheint erst nach den Niederlagen des 2. Samnitenkrieges eingesetzt zu haben. 170 Pieroni 2004, 9–37 bietet einen aktuellen Forschungsüberblick. Der aus Praeneste stammende M. Verrius Flaccus war ein überzeugter Traditionalist, der die Ursprünge des municipium sowie die Veränderungen im Laufe der Zeit thematisierte, statt lediglich den Status quo nach dem Bundesgenossenkrieg wiederzugeben, Schanz 1979, 361–365.
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ten dieselben Rechte und Pflichten wie römische Bürger, seien aber nicht dazu berechtigt, an Wahlen teilzunehmen oder sich selbst zur Wahl zu stellen: Fest. 155L: MUNICIPIUM id genus hominum dicitur, qui cum Romam venissent, neque cives Romani essent, participes tamen fuerunt omnium rerum ad munus fungendum una cum Romanis civibus, praeterquam de suffragio ferendo, aut magistratu capiendo; sicut fuerunt Fundani, Formiani, Cumani, Acerrani, Lanuvini, Tusculani, qui post aliquot annos cives Romani effecti sunt. Alio modo, cum id genus hominum definitur, quorum civitatis universa in civitatem Romanam venit, ut Aricini, Caerites, Anagnini. Tertio, cum id genus hominum definitur, qui ad civitatem Romanam ita venerunt, uti municipia essent sua cuiusque civitatis et coloniae, ut Tiburtes, Praenestini, Pisani, Urbinates, Nolani, Bononienses, Placentini, Nepesini, Sutrini, Lucrenses.171
Bemerkenswert ist zudem, dass Tusculum und Lanuvium unter denjenigen Städten geführt werden, die das volle Bürgerrecht erst zu späterer Zeit erhalten hätten, während Aricia zur zweiten Kategorie der vollständig inkorporierten Gemeinden gezählt wird.172 Bedenkt man die bereits angesprochene synoptische Darstellung der Entwicklungen der Dreißigerjahre durch Livius sowie die erörterten Schwierigkeiten der Lanuvini und Tusculani, so gewinnt vor allem die Einschränkung post aliquot annos an Bedeutung, die auf einen späteren Erhalt der römischen Vollbürgerschaft verweist. Im Fall von Fundi und Formiae betrug die Wartezeit allerdings 150 Jahre, so dass offen bleiben muss, ab welchem Zeitpunkt die Einwohner dieser Gemeinden als gleichwertige Mitbürger galten.173 Die Verpflichtungen und fehlenden politischen Rechte ließen die lokale Politik der municipia machtlos gegenüber den Entscheidungen der politischen Zentrale in Rom zurück. Zwar bestand die Möglichkeit, eine enge Kooperation mit den römischen Eliten zu suchen und darüber Eingang in die römische Politik zu finden, doch blieben die Neubürger damit dem Wohlwollen, beziehungsweise der Willkür der altrömischen Elite ausgeliefert.174 Der erörterte Fall der Tusculani ist hierfür ein gutes, aber nicht das einzige Beispiel: Im Jahr 330 überfielen die Fundani unter Führung eines gewissen Vitruvius Vaccus mit Unterstützung der Privernates die benachbarten Städte Setia,
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Fest. 117L präzisiert, dass die municipes sämtliche Aufgaben und Pflichten der römischen Bürger wahrzunehmen hatten, nicht jedoch automatisch dieselben politischen Privilegien besaßen: non licebat magistratum capere … dignitates non capiebant. Fest. 155L; vgl. aber Cic. Phil. 3.15, der Aricia als municipium foederatum und Cic. Balb. 31 zu Verträgen, die Lanuvium und Tusculum vor Verleihung des römischen Bürgerrechts erhalten hätten. Fest. 155L. Da die Vorlage aus der Feder des Verrius Flaccus stammt, darf man ihm ein persönliches Interesse an den Ursprüngen der Munizipalordnung unterstellen, da er im Jahr 60 in Praeneste geboren wurde; Conte 1994, 386–387. Die Frage nach dem Grund für die gewählte Aneinanderreihung der Namen muss offenbleiben. Humbert 1978, 6–43 meint, die beiden Autoren hätten aus der späteren Perspektive versucht, eine chronologische und thematische Zusammenfassung der genannten Gruppen vorzunehmen, die sich aber in dieser Form kaum umsetzen ließ. Vgl. Hölkeskamp 2011, 175–178; Tan 2019, 57–58.
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Norba und Cora im südöstlichen Latium.175 Man könnte diesen Vorgang als Insurrektion oder lokalen Konflikt im Rahmen der sich noch ausbildenden römischen Herrschaft in Latium interpretieren, doch verweist die überraschend gute Überlieferung auf eine tiefere Problematik, die vor allem auf die detaillierte Beschreibung des Vitruvius Vaccus zurückgeht. Dieser besaß laut Livius ein Haus auf dem Palatin, das nach der Beendigung des Krieges niedergerissen wurde, worauf noch Cicero rekurrieren konnte.176 Es darf also angenommen werden, dass Vaccus in engem Kontakt zu römischen nobiles stand (vir non solum domi, sed etiam Romae clarus) und darüber hinaus auch über ein gutes Netzwerk in seiner Heimatregion verfügte.177 Als Bürger Fundis müsste er das römische Bürgerrecht in der einen oder anderen Form besessen haben, worauf auch die ordentliche Hinrichtung sowie die Ausführungen Ciceros schließen lassen, der Vaccus in einem Atemzug mit Sp. Maelius und M. Manlius nennt.178 Auch die aus seinem konfiszierten Besitz vorgenommene Weihung von Bronzescheiben für Semo Sangus, dessen Heiligtum in engem Bezug zum nahen Quirinus-Tempel stand, verweist auf den Treuebruch des Vaccus gegenüber der Bürgerschaft.179 Trotz der vermeintlich guten Kenntnisse der römischen Politik scheint sich Vitruvius Vaccus in seiner Einschätzung der möglichen Handlungsspielräume gehörig geirrt zu haben. Auf die Nachricht der Überfälle hin wurde ein Heer in Marsch gesetzt, woraufhin Fundi umgehend kapitulierte. Livius berichtet zwar, der Konsul Plautius hätte
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Dies entsprach den üblichen Raubzügen und Überfällen der mittelitalischen Staatenwelt, doch hatte anscheinend niemand bedacht, dass sich die Rahmenbedingungen mit dem römischen Sieg von 338 grundsätzlich verändert hatten. Der Konflikt fällt dann auch durch seine Unübersichtlichkeit auf, denn hier überfielen cives sine suffragio (Fundi) zusammen mit römischen foederati (Privernum) benachbarte coloniae Latinae (Setia, Norba) und andere römische foederati (Cora). Liv. 8.19–20 berichtet die Episode, die offenbar auch bei Claudius Quadrigarius erwähnt wurde; FRH 14 F 14. Entweder war man sich nicht darüber im Klaren, dass man hiermit Verbündete angriff, oder man scherte sich schlicht nicht darum. Für erstere Interpretation würde die Reaktion Fundis auf das Eintreffen der (eigentlich zu erwartenden) römischen Interventionsstreitmacht sprechen, die in der sofortigen Kapitulation der Stadt bestand. Privernum harrte dagegen ein weiteres Jahr aus, wurde dann jedoch im Sturm genommen. Es handelt sich hierbei um die prata Vacci, s. Liv. 8.20.7–9; Cic. Dom. 101: In Vacci pratis domus fuit M. Vacci, quae publicata est et eversa ut illius facinus memoria et nomine loci notaretur. Zu ähnlichen Vorgängen s. Roller 2010, 147–148. Terrenato 2014, 50–52, 2019, 178–180 verortet die Episode vor allem im Kampf um Einflusssphären individueller Familien im Rahmen des neuen römischen ‚Commonwealths‘ und betont den Entscheidungsspielraum der lokalen Aristokraten. Cic. Dom. 101, s. oben. Liv. 8.20.7: Vitruvium in carcere adservari iussit, quoad consul redisset, tum verberatum necari … Hier lässt sich ein perduellio Verfahren vermuten, wofür auch die Konfiszierung des Besitzes und die damnatio memoriae spräche. S. Santalucia 1994, 35–48; Kyle 1998, 97–98. Latte 1992, 126–127. Semo Sancus Dius Fidius in Dion. Hal. ant. Rom. 4.58.4 und CIL 6, 30994. Liv. 8.20.8; Dion. Hal. ant. Rom. 9.60.8; Ov. Fast. 6.213; Varro ling. 5.52, 5.66. Wissowa 1912, 153–156 zu Quirinus sowie Roller 2010, 148 mit Anm. 72 zur symbolischen Zerstörung der domus. Vgl. Galsterer 1976, 65 zur Aufbewahrung des mit Gabii geschlossenen Vertrags im Semo Sangus-Tempel (Dion. Hal. ant. Rom. 4.58.3–4). Die Weihung des Besitzes des Vitruvius Vaccus könnte hier einen konkreten Bezug zur Bündnistreue aufgewiesen haben.
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der Stadt verziehen, doch gibt er gleichzeitig eine Variante des Claudius Quadrigarius an, nach der 350 Rädelsführer in Ketten nach Rom gebracht worden seien.180 Da anschließend auch Privernum nach einjähriger Belagerung ein Strafgericht erlitt, ist hier der Version des Quadrigarius und dem harten römischen Vorgehen gegen Rebellen der Vorzug zu geben. Aus römischer Perspektive war es hier offenbar zu einem Bruch der eingegangenen Verpflichtungen gekommen, wobei es keine Rolle spielte, dass die Strafmaßnahmen im Fall von Fundi römische cives (sine suffragio) trafen. Dagegen mochte sich die Situation aus der Perspektive des Vitruvius Vaccus gänzlich anders dargestellt haben, dessen Umzug nach Rom darauf hindeutet, dass hier ein durchaus einflussreiches und vermögendes Mitglied der Elite Fundis im neuen politischen Zentrum aktiv zu werden gedachte.181 Der Vergleich mit L. Fulvius Curvus drängt sich auf, doch besteht der Unterschied darin, dass Vaccus sich nicht auf die Politik in Rom beschränkte, sondern mit deren Rückendeckung offenbar auch seine Position in Fundi ausbauen wollte.182 Möglicherweise hatte er angenommen, mithilfe seiner römischen Verbindungen ungeschoren gegen die nicht-römischen Gruppen in seiner Heimatregion vorgehen zu können, worauf die sofortige Kapitulation Fundis beim Eintreffen der römischen Truppen hinweisen könnte. Das harsche römische Vorgehen lässt dagegen die geringe Toleranz der römischen Elite gegenüber Aufsteigern erkennen, die nicht bereit waren, sich in die etablierte politische Ordnung einzuordnen.183 In dieser Hinsicht war Fulvius Curvus deutlich erfolgreicher und schaffte es bis zum Konsulat, auch wenn der Preis dafür die kollektive Erniedrigung der Tusculaner war. Zusammengenommen illustrieren die Quellenpassagen die Handlungsspielräume und Grenzen der römischen ‚Neubürger‘ in Latium und verdeutlichen die Unterscheidung zwischen den Altbürgern und den Neubürgern, denen zentrale Privilegien der politischen Teilhabe vorenthalten wurden. Besonders die explizit und mehrfach von den Quellen erwähnte Einschränkung der aktiven Teilnahme an den Gesetzes- und 180 Claudius Quadrigarius FRHist 14 F14 (= Liv. 8.19.14); Oakley 1998, 604 gibt der dürren Notiz des Quadrigarius klar den Vorzug. Für die Variante des Quadrigarius spricht das schwere Strafgericht, das Privernum ereilte: Die Befestigungsmauern wurden geschleift und eine Garnison installiert, der gesamte Senat wurde trans tiberim deportiert auf den konfiszierten Ländereien der Senatoren wurden römische Bürger angesiedelt; Roselaar 2010, 303. Privernum musste zumindest zeitweise als urbanes Zentrum ausfallen, was sich auch in der Deduktion der colonia civium Romanorum Tarracina 329 niederschlägt, Liv. 8.21.11; Vell. 1.14.4. Der Zugang zur See mag zu diesem Zeitpunkt die Kommunikation erleichtert haben, Strab. 5.3.6; zur strategischen Lage: Liv. 22.15; Hor. Sat. 1.5.3–26. Hesberg 1985, 137–139, Cancellieri 1990, 70–71. 181 Terrenato 2014, 51: „What Vitruvius’ plan might have been is very difficult to imagine […]. It is on the whole unlikely that he originally intended to break Fundi and Privernum from the Roman alliance, after the Latin war of 338 B. C. had made it very clear that independence in southern Latium was no longer an option.“ 182 MRR I, 149–150. 183 Dies widerspricht auch der Interpretation von Terrenato 2019, 180, wonach Privernum eine begehrte „client citizen community that could cast an influential vote for its patron“ gewesen sei. Cives sine suffragio konnten nicht wählen.
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Wahlversammlungen sowie des passiven Wahlrechts widerspricht dabei, von Einzelfällen wie den equites Campani abgesehen, der Vorstellung einer problemlosen Integration der Neubürger und ihrer Eliten in den römischen Bürgerverband.184 7.5.2 Kontrolle statt Inkorporation Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass der ‚Aufstand‘ des Vaccus von einer civitas sine suffragio ausging und die Bestrafung von Privernum in der Verleihung desselben Rechtsstatus gipfelte.185 Die Maßnahmen werden durch das Festus-Lemma zu den praefecturae weiter erhellt, da Privernum in der Liste derjenigen Städte auftaucht, die Eingriffen von Legaten des praetor urbanus unterworfen waren.186 Der erste Teil des Festus-Eintrags bezieht sich auf die Verwaltung Kampaniens nach dem Zweiten Punischen Krieg, doch enthält der zweite Teil eine Auflistung der Gemeinden außerhalb von Latium Vetus.187 Die Nennung von Privernum zusammen mit Fundi und Formiae ist kontrovers beurteilt worden, da Fundi und Formiae auch unter dem Lemma MUNICIPIUM erwähnt werden.188 Hier wird aber vor allem deren eingeschränktes aktives und passives Wahlrecht betont, was die Aktivität römischer Magistrate vor Ort keineswegs ausschließen muss. Die Eintragung Privernums als praefectura dürfte also auf eine zumindest rudimentäre Kontrolle durch das römische Zentrum, in Form des Prätors, zurückzuführen sein. Diese Praxis sollte sich im weiteren Verlauf der Expansion nicht durchsetzen, doch erwähnen unsere Quellen weitere Beispiele eines direkten Eingreifens der römischen Zentrale in die lokalen Verhältnisse für die ersten Jahrzehnte nach dem Latinerkrieg. Im Jahr 305 etwa wurde Anagnia, das die Samniten unterstützt hatte, unterworfen und erhielt die civitas sine suffragio verliehen, jedoch unter einer gewichtigen Einschränkung: data concilia conubiaque adempta et magistratibus praeterquam sacrorum curatione
184 S. stellvertretend Cornell 1989c, 367–368; Gargola 2017, 88–90; Bradley 2020, 300–304. S. Gell. 16.13.6; Ulp. Dig. 50.1.1. Gerade weil die späteren Autoren aufgrund ihrer zeitgenössischen Erfahrungen das Bild einer erfolgreichen Integration der neuen cives zeichnen, dürfen die verschiedentlich überlieferten Schwierigkeiten in diesem Bereich Glaubwürdigkeit beanspruchen. 185 Laut Humbert 1978, 196–197 hatten die beiden Städte eher den Status von dediticii und Di Fazio 2008, 192–195 nimmt sogar an, dass es erst mit der civitas sine suffragio zur Erfassung und Administration der strategisch wichtigen Region gekommen sei. Nach Liv. 8.20.7 musste Privernum zudem eine Garnison aufnehmen und die Konfiskation weiterer Ländereien sowie die Deportation der gesamten Elite hinnehmen, was negative Auswirkungen auf die Administrationsfähigkeit der Gemeinschaft nach sich ziehen musste. 186 Simshäuser 1973, 85–107; Galsterer 1976, 29–36. 187 Fest. 262L PRAEFECTURA … alterum, in quas ibant, quos praetor urbanus quotannis in quaeque loca miserat legibus, ut Fundos, Formias Caere, Venafrum, Allifas, Privernum, Anagniam, Frusinonem, Reate, Saturniam, Nursiam, Arpinum, aliaque conplura. Simshäuser 1973, 99–102. 188 Fest. 155L; hierzu Oakley 1998, 552–553; Toynbee 1965 I, 235–237; Humbert 1978, 16–41.
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interdictum.189 Damit wurde auch hier die Fähigkeit zur Selbstverwaltung lahmgelegt und Anagnia taucht dementsprechend unter den praefecturae des Festus auf. Salmon hat vermutet, dass eine solche Bestrafung schon 338 das volskische Antium traf, dessen Bewohner die civitas sine suffragio erhielten, deren Verwaltung aber aufgelöst wurde und nur unzureichend durch die kleine colonia civium Romanorum kompensiert werden konnte.190 Daraus entstanden konkrete Schwierigkeiten vor Ort. So haben Surveys im Raum Antium und Satricum einen Rückgang der urbanen Besiedlung festgestellt, wobei Antium sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts wieder erholen konnte.191 Diese Erholung könnte auf das Eingreifen des Jahres 317 zurückgehen, als die Zustände dermaßen unhaltbar geworden waren, dass die Antiaten in Rom dringend um die Entsendung von Präfekten zur Regelung ihrer Angelegenheiten baten, woraufhin man entschied, die Antiaten sollten sich an den römischen Vollbürgern der 338 deduzierten colonia civium Romanorum orientieren und diese zu patroni nehmen, die damit die vollständige Verwaltung und Vertretung der lokalen Interessen übernahmen.192 Ausgangspunkt für den Hilferuf der Antiaten soll die Nachricht gewesen sein, dass im Vorjahr praefecti iure dicundo nach Capua entsandt worden waren, um die inneren Verhältnisse der Stadt neu zu ordnen.193 Hier hatte man diesen Schritt jedoch nicht eingefordert, sondern er muss vielmehr als deutlicher Eingriff in die Verhältnisse vor Ort wahrgenommen worden sein, in dessen Zuge es auch zu personellen Konsequenzen in der Oberschicht kam, auf die im Kontext des Zweiten Samnitenkrieges noch genauer einzugehen sein wird. Während der Vorfall in Capua der einzig konkret belegte Eingriff von praefecti iure dicundo bleibt, stellen die Anfrage der Antiaten sowie die Behandlung
189 Liv. 9.43.24. 190 Sherwin-White 1973, 49–50 zu Anagnia. Der Einfluss der patroni in Antium wird sich bis 317 in Grenzen gehalten haben, da Roselaar 2009, 614–622 vermutet, es habe sich bei diesen vor allem um Bürger der unteren Zensusklassen gehandelt. Boos 22–25 und Lackner 2008, 286–287 zu den schwach ausgeprägten Verwaltungsstrukturen dieser Kolonien. Vgl. dagegen Sherwin-White 1973, 81–84, der die lex Ursonensis 103 als Beleg für die Existenz von lokalen Magistraten in Kolonien sieht, die im Falle von Antium die Verwaltung hätten übernehmen können, s. a. Ruoff-Väänänen 1978, 38–43 und Todisco 2011, 109–132 zu den Magistraten der vici. Salmon 1969, 81, Galsterer 1976, 58 und Oakley 1998, 565–566 halten die Verleihung der civitas optimo iure ebenfalls für möglich, doch wird im Allgemeinen aufgrund der anschließenden Schwierigkeiten angenommen, es habe sich um die civitas sine suffragio gehandelt; s. Bispham 2012, 229. 191 Attema/Haas 2010, 57–62 und Haas 2011, 97–137 stellen für das Hinterland und das Astura-Tal eine zunehmende Besiedlung mit Einzelgehöften fest; s. a. Attema/De Haas/Termeer 2014, 220. 192 Liv. 9.20.10 Et postquam res Capuae stabilitas Romana disciplina fama per socios volgavit, Antiatibus quoque, qui se sine legibus certis, sine magistratibus agere querebantur, dati ab senatu ad iura statuenda ipsius coloniae patroni; nec arma modo sed iura etiam Romana late pollebant. 193 So etwa 317 (Liv. 9.20.5: eodem anno primum praefecti Capuam creari coepti legibus ab L. Furio praetore datis, cum utrumque ipsi pro remedio aegris rebus discordia intestina petissent) und 314 (Liv. 9.26.5, Diod. 19.76.1–5) in Campania. S. zudem Pittia 2002, 186–187 zu der Beschreibung der Kampaner durch Dionysios als Untertanen, nicht Verbündete Roms. Toynbee 1965 I, 245 setzt die praefecti iure dicundo mit den praefecti socium gleich und sieht hier klare Hierarchien, vgl. Hantos 2003, passim. Brandizzi Vittucci 2000, 123–149; Bispham 2012, 232–234.
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von Privernum und Anagnia eng verwandte Fälle römischer Interventionen in die Lokalautonomie dar, die angesichts der Überlieferungslage für die Frühe Republik eine bemerkenswerte Dichte von vier Fällen in 20 Jahren ergeben.194 7.5.3 Municipia, fora, conciliabula und das römische Bürgerrecht Autonomie und Selbstverwaltung der municipia waren folglich relative Größen, die vom Verhältnis zur römischen Zentrale abhängig blieben. Dieses dürfte weniger durch festgeschriebene Regeln als durch Erwartungen und Normen definiert worden und auch von der jeweiligen Aufmerksamkeit der römischen Entscheidungsträger abhängig gewesen sein, denn die oben erwähnten römischen Interventionen in die inneren Verhältnisse der municipia waren allesamt reaktiv erfolgt. Diese Form der römischen Administration entsprach weitgehend der Organisation und Verwaltung des ager Romanus. In der Fläche bildeten fora und conciliabula die Sub-Zentren des populus Romanus, die ihre Verwaltung subsidiär organisierten und auch über eigene lokale Beamte verfügten, aber Weisungen aus dem Zentrum sowie der dort gewählten Beamten Folge zu leisten hatten.195 Die municipia waren eine Erweiterung dieses Systems, die sich weiterhin selbst verwalteten, aber dabei einen engen Korridor der Konformität nicht verlassen durften.196 Diese Unterordnung unter den zentralen politischen und sakralen Raum der Stadt Rom wurde auch bei der Schaffung neuer tribus praktiziert.197 Im Fall der neugegründeten tribus Maecia wählte man nicht Lanuvium, sondern einen obskuren Marktfleck als Hauptsitz der neuen tribus aus.198 Gleichermaßen wurde im Fall der Scaptia verfahren, die zwar große Teile des Territoriums von Velitrae erhielt, aber anscheinend
194 Gargola 2017, 97–99. Zu der juristischen Dimension dieser Eingriffe s. Simshäuser 1973, 86–93, der eine dauerhafte Präsenz aber erst für die Zeit nach der Rückeroberung Capuas im Jahr 211 annimmt, so schon Sherwin-White 1973, 45; s. a. Filippi 2005. Der römische Herrschaftsanspruch spiegelt sich auch in der Formel vos quaeso precorque uti imperium maestatemque p. R. Quiritium duelli domique au[xitis utique semper Latinus obtemperassit] (CIL 6, 32323, II 93–96) in den augusteischen acta der ludi saeculares wieder, die nach Taylor 1934, 108–111 nach dem Latinerkrieg eingeführt worden war. Salmon 1982, 59–62, vgl. Cornwell 2017, 121–125. 195 Fest. 33L, 502L. Hierzu Simshäuser 1973, 102–108; Galsterer 1976, 26–29; Ruoff-Väänänen 1978, 41– 43. S. Sisani 2011, 702–727 für eine umfangreiche Auflistung der literarischen und epigraphischen Belege für die Tätigkeit der vom Prätor entsandten praefecti iure dicundo. Die Rückkopplung dieser Ortschaften an Rom spiegelt sich zum einen in der sakralen Verbindung zum Zentrum, etwa in den termini, wider, zum anderen in der Vernetzung der lokalen Eliten und der Mittelschicht, deren Stimmen bei den Wahlen gebraucht und die dementsprechend umworben wurden. 196 Vgl. etwa CIL 1, 581. 197 Sherwin-White 1973, 74–76; Ruöff-Vanaanen 1978, 45 zu der Rolle der fora für die Verwaltung des umliegenden Landes; s. a. Todisco 2011, 37–51. 198 Laut Fest. 121L nach einem castrum Maecium benannt; das mit Liv. 6.2.8 (ad Maecium) zu identifizieren ist, nec procul a Lanuvio; Taylor 1960, 54. Vgl. Plut. Cam. 34.
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keinen Bezug zur Stadt selbst besaß.199 Es wurde also bewusst darauf verzichtet, die municipia als subsidiäre Zwischenebene der Verwaltung zu nutzen. Stattdessen wurde der Fokus auf eine rudimentäre lokale Selbstverwaltung gelegt, deren Bürger ihre Anliegen nur artikulieren konnten, wenn sie sich in den größeren Stimmeinheiten der comitia centuriata oder tributa in Rom einfanden.200 Hierin liegt das zentrale Problem der municipes begründet, denn diese besaßen keine politische Bindung an das Zentrum. Die Festus-Passagen lassen keinen Zweifel an ihren fehlenden politischen Partizipationsmöglichkeiten. Ohne diese Anbindung konnten die municipia aber ausschließlich der Erfassung und Kontrolle der lokalen Bevölkerung dienen. Janine Cels-Saint-Hilaire hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass die erfolgreiche Verteilung von Ackerland enormes politisches Prestige generieren konnte und so spätestens seit dem Sieg über Veii zu einem Faktor der römischen Innenpolitik geworden war. Hierbei sei es vornehmlich um die Verteilung von Ressourcen an die Bürger gegangen, um dadurch die eigene Position in der politischen Arena zu stärken. Die Absorption kompletter Gemeinden barg dagegen Probleme, da diese zum einen ihre bestehenden Hierarchien und Netzwerke in die römische Bürgerschaft eingebracht hätten und diese Neubürger zum anderen gegebenenfalls als selbstbewusste Akteure mit regionalen Partikularinteressen in der römischen Politik hätten auftreten können.201 Während man solche Risiken im Rahmen von Ansiedlungen und der Erfassung der Siedler durch die Zensoren noch halbwegs beherrschen konnte, mussten vollständige Inkorporationen ganzer Gemeinden die delikate Statik der römischen Versammlungen starken Veränderungen aussetzen.202 Eine solche Entwicklung lag anscheinend nicht im Interesse der römischen Elite, daher stellte die civitas sine suffragio bewusst einen Schwebezustand zwischen Integration und Ausgrenzung her. Zwar verwalteten sie sich selbst, blieben aber subordiniert und konnten keinen Einfluss auf
199 Fest. 464L: S