Judaica 4 3518018310

Herausgegeben von Rolf Tiedemann Inhalt: Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte Alchemie und

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Gershom Scholem

Judaica 4

Bibliothek Suhrkamp

SV

Band 831 der Bibliothek Suhrkamp

Gershom Schölern Judaica 4 Herausgegeben von Rolf Tiedemann

Suhrkamp Verlag

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1984 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Erste Auflage 1984 ISBN 3-518-01831-0

2 3 4 5 - 08 07 06 05 04 03

Inhalt

Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte ............................................... Alchemie und Kabbala

.....................................

Der Nihilismus als religiöses Phänomen

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....

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Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum ..................................

189

Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930

229

Drei Typen jüdischer Frömmigkeit...................

262

Nachweise...........................................................

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Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte

Das wachsende Interesse für das Studium des Hebräi­ schen vom Ende des 15. Jahrhunderts an, vor allem in Italien, England, Holland, Frankreich und Deutsch­ land, hat eine seiner Hauptwurzeln - von dessen Be­ deutung für das Verständnis des hebräischen Urtextes des Alten Testaments abgesehen - in dem Einfluß der von Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) und Johannes Reuchlin (1455-1522) und einigen anderen ins Bewußtsein der Humanisten getretenen Kabbala. Was unter diesem Phänomen der jüdischen Religions­ geschichte damals verstanden wurde, wird sich im Laufe dieser Darlegung klarer herausstellen. Das Thema, das ich mir hier gestellt habe, die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte, ist, um es ehrlich zu sagen, einigermaßen verzwickt. Aber ich möchte doch einiges dazu in kurzer Zusammenfassung sagen. Wie kam es zu dieser Wirkung der Kabbala außerhalb der innerjüdischen Tradition? An ihrem Anfang steht der Schock, den die christliche Gelehrten- und Huma­ nistenwelt erhielt, als der italienische Neuplatoniker Graf Pico della Mirandola - ein Wunderkind im medicaeischen Florenz jener Epoche - alle Gelehrten einlud, Ende 1486 nach Rom zu kommen, um mit ihm über 900 Thesen zu diskutieren, die er im Herbst 1486 in Rom veröffentlichte und in denen ein wichtiges Kapitel von etwa 120 Thesen der Kabbala als der Geheimlehre der Juden gewidmet waren und auch sonst an nicht weni­ gen Stellen auf deren Meinungen Bezug genommen

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wurde. Wie aufregend und aus katholischer Sicht gera­ dezu skandalös mußte unter diesen Sätzen besonders einer wirken, nämlich daß »keine Wissenschaft uns besser von der Gottheit Christi [d. h. der Lehre von der Trinität und der Inkarnation] überzeugen könne als Magie und Kabbala« - also nicht etwa die Wissenschaft, als die sich die katholische Theologie damals verstand! Das war natürlich ein Satz, der in seiner Paradoxalität aufhorchen ließ und dann auch sofort zusammen mit einigen anderen Thesen die Verdammung durch den Papst nach sich zog. Aber auch von diesem Skandalon abgesehen war die Entdeckung, daß es eine jüdische Esoterik gebe, angesichts des gänzlich verzerrten Bil­ des vom Judentum als religiösem Phänomen, welches die Polemiken des späten Mittelalters gaben, eine be­ deutende Überraschung, um nicht zu sagen eine Sensa­ tion. Diese Entdeckung hing an ihrem Ursprung mit dem Suchen nach einer gemeinsamen Urtradition aller gro­ ßen Religionen zusammen, das die platonisch gesinn­ ten Humanisten von Florenz zwischen 1450 und 1500 so nachhaltig beschäftigte, das aber auch bei deutschen Denkern wie Nikolaus von Kues kurz vorher oder etwa um dieselbe Zeit sichtbar wird. Obwohl dieser Kreis sich strikt im Rahmen der Kirche hielt, suchte man doch über ihre Grenzen hinauszublicken und nach einer solchen Uroffenbarung, die sich in verschiedenen Traditionen und deren Symbolen niedergeschlagen habe, Ausschau zu halten. Ein folgenreicher Zusam­ menhang solcher Vorstellungen mit den synkretisti­ schen Bestrebungen der Neuplatoniker am Ausgang der Antike ist dabei evident. Deren Denkart verwies sie darauf, in allen Mythen und Symbolen der Religio­ nen eine gemeinsame Grundlage vorauszusetzen, die

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durch symbolische Interpretation aufgedeckt werden könne. Woher Pico seine kabbalistischen Kenntnisse schöpfte, wissen wir genau. Von 1486 an arbeitete für ihn einige Jahre lang ein ungewöhnlich gelehrter und schnell ar­ beitender jüdischer Konvertit, der ihm in mindestens fünf großen Foliobänden, von denen sich vier im Vati­ kan erhalten haben, eine ganze Bibliothek kabbalisti­ scher Schriften wortwörtlich, oft genug in nicht unbe­ rechtigtem Selbstlob sich ergehend, ins Lateinische übersetzte. Das war die seltsame Persönlichkeit eines sizilianischen Juden, der als Jude Samuel ben Nissim Abulfaradsch hieß, Sohn des Rabbiners von Girgenti, als Katholik aber den Namen Raimondo Guglielmo de Moncada erhielt, den er in Humanistenmanier in Flavius Mithridates verwandelte. Was Pico aus diesem, noch ungehobenen Schatz entnahm, waren viel weni­ ger Darlegungen streng mystischer Natur im Sinne der modernen Definition einer Vereinigung oder gar Einswerdung des Menschen mit Gott als eher theosophi­ sche Lehren über die symbolische Auffassung der Schöpfung überhaupt und der Offenbarung Gottes in der Tora als Manifestation der unendlichen Sinnesfülle des Wortes Gottes, die in den Schriften der Kabbalisten die spezifisch mystischen Elemente überdeckten und manchmal auch verdrängten. Bei Pico und seinen Nachfolgern spiegelte sich das vor allem in der aus der Kabbala übernommenen Theoso­ phie vom inneren, geheimen Leben der Gottheit in ih­ ren zehn sefiroth, ihren zehn Aspekten oder, in anderer Symbolik, den Lichtern, die aus dem verborgenen Un­ endlichen, dem deus absconditus strahlen und in denen sich die zehn schöpferischen Potenzen Gottes manife­ stieren, die alle Schöpfung durchwirken. Dazu trat nun 9

bei Pico die in der Tat von manchen Kabbalisten ver­ tretene Auffassung der Kabbala, die in ihr eine Form der geheimen Urtradition der Menschheit oder Urof­ fenbarung an Adam sah, die nun als eine verborgene Vor-Andeutung des Christentums expliziert wurde. Pico fügte von sich aus die seit ihm weitverbreitete Er­ klärung hinzu, daß im ersten Weltzeitalter Gott sich unter einem aus drei Konsonanten bestehenden Namen den Erzvätern offenbart habe, im zweiten Weltzeitalter der Herrschaft des Gesetzes aber unter dem vierkonsonantigen Namen J, H, V, H, von dem die hebräischeBibel voll ist, im Zeitalter der durch Christus bewirkten Erlösung aber unter dem von ihm konstruierten he­ bräischen Namen Jesu, den er als Entfaltung des vori­ gen mit J, H, S, V, H umschrieb oder deutete. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Worte über die zwei Aspekte sagen, die den esoterischen und mystischen Charakter der Kabbala betreffen. Kabbala — wörtlich »das Empfangen«, nämlich einer Überliefe­ rung - ist weithin eine esoterische Doktrin, eine Ge­ heimlehre. Mystische und esoterische Elemente koexi­ stieren in ihr in einer oft verwirrenden Art. Mystik be­ trifft ja ihrer Natur nach ein Wissen, welches direkt überhaupt nicht kommuniziert werden kann, sondern nur in Symbolen und Metaphern. Esoterisches Wissen dagegen kann seiner Natur nach zwar überliefert wer­ den, aber die, welche es besitzen, dürfen es entweder nicht vermitteln oder wollen es nicht. In diesem Sinne war z. B. die radikale Aufklärung im Mittelalter durch­ aus eine Geheimlehre, weil ihre öffentliche Bekannt­ gabe zweifellos Verfolgung nach sich gezogen hätte. Die öffentliche Vertretung dieses traditionszerstören­ den Charakters der Aufklärung hatte dann in der Tat welthistorisch umwälzenden Charakter. Tatsächlich

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bewahrten kabbalistische Kreise sehr lange Zeit hin­ durch diesen ihren Charakter als Träger einer Geheim­ lehre, auch noch, als die Drucklegung kabbalistischer Werke und damit der Einfluß der Kabbala auf sich mehr und mehr erweiternde Kreise solche Einschrän­ kungen durchbrachen. Aber bestimmte Bezirke unter­ lagen, gerade wo sie im spezifischen Sinne Mystisches betrafen, auch weiterhin mündlicher Unterweisung. Denn wie andere Formen der Mystik gründet sich auch die Kabbala auf das lebendige Bewußtsein des Mystikers vom zwiefachen Aspekt Gottes, nämlich sei­ ner Transzendenz und zugleich doch Immanenz im wahren religiösen Leben, welches ja in jeder seiner Fa­ cetten eine Offenbarung Gottes darstellt, wie sie be­ sonders klar durch Versenkung des Menschen in die Tiefe seines Selbst erlangt wird. Diese streng persönli­ che Seite mystischer Praxis tritt in der kabbalistischen Tradition, soweit sie in der christlichen Welt bekannt wurde, stark zurück, taucht manchmal auch überhaupt nicht auf, gegenüber den objektiven, mitteilbaren Tra­ ditionen der Theosophie. So erklärt sich, daß die Kab­ bala unter den Christen vor allem auf zwei Weisen defi­ niert wurde, einmal als receptio symbolica und erst spä­ ter geradezu als theologia mystica der Juden. Receptio symbolica, d. h. eine unter Symbolen sich versteckende geheime Überlieferung, wie vor allem bei Johannes Reuchlin (1455-1522), für den seine 1490 in Florenz stattfindende Begegnung mit Pico entscheidend wurde. Dieser deutsche Jurist war es, der zuerst im Abendland seine christianisierende Umdeutung der Kabbala in zwei besonderen lateinischen Werken vortrug. Der Einfluß dieser Schriften, De Verbo Mirifico von 1494 und De Arte Cabbalistica von 1517, war außerordent­ lich, obwohl Reuchlin weit weniger über die authenti-

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sehe Literatur der Kabbala wußte als eine sehr kleine Gruppe unter seinen Zeitgenossen. Zwischen 1490 und 1560 entstanden nämlich, vor allem in Italien und Frankreich, eine ganze Anzahl lateinischer Überset­ zungen oder Auszüge sehr wichtiger Texte, die großen Teils sich noch bis heute handschriftlich erhalten ha­ ben, den Zeitgenossen aber fast völlig unbekannt ge­ blieben sind. Wären diese Quellen damals veröffent­ licht worden, hätte die Beschäftigung mit der Kabbala im Abendland vermutlich eine ganz andere Wendung genommen. Wertvolle Studien über die aktuelle Wirkung, die frü­ her gern heruntergespielt wurde, verdanken wir dem tiefschürfenden Werk eines meiner begabtesten Schü­ ler, dem postum erscheinenden Pico della Mirandola’s Encounter with Jewish Mysticism des vor wenigen Jah­ ren verstorbenen Chajim Wirszubski, sowie der ausge­ dehnten Arbeit von François Secret in Paris. Die Annahme, die Kabbalisten seien teils vorchristli­ che, teils unbewußte Zeugen christlicher Wahrheiten gewesen, wurde auch durch von Konvertiten stam­ mende Fälschungen unterstützt, die zuerst ziemliche Verbreitung fanden. Während aber solche Thesen be­ greifliches Mißtrauen in kirchlichen Kreisen weckten, behielten sie doch Anhänger und sogar Weiterentwick­ ler auch unter hochgebildeten Repräsentanten der ka­ tholischen Kirche, ganz zu schweigen von den keines­ wegs einflußlosen Trägern hermetischer Esoterik. Zu letzteren gehörte der ungewöhnlich sprachbegabte, aber extravaganten Vorstellungen eigener Produktion anhängende kabbalistische Enthusiast und Visionär Guillaume Postel (1510-1581), der es sogar unternahm, das aus Spanien stammende Hauptwerk der Kabbala, das aramäisch verfaßte Buch Sohar (Buch des Glanzes),

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von seinen eigenen Spekulationen als Interpretationen durchwachsen, ins Lateinische zu übersetzen, noch be­ vor sein Urtext überhaupt gedruckt wurde. Unter den Kardinalen der Kirche setzte sich Egidio de Viterbo (ca. 1465-1532), der erstaunlich gut Hebräisch konnte, für die neuen Gedanken ein, während sein eine Generation später wirkender Kollege Carlo Boromeo lauten Pro­ test gegen deren Rezeption einlegte. Man kann bei der nun im 16. Jahrhundert stark einset­ zenden christlich-kabbalistischen Literatur, die ihrer­ seits viele Leser fand, von einem Prozeß sprechen, in welchem die Kabbala durch Umdeutungen und, wenn man will, produktive Mißverständnisse einer christia­ nisierenden Transformation unterlag, von der ihre Trä­ ger erhofften, sie würde auch zu Missionszwecken un­ ter den Juden benutzt werden können, womit es frei­ lich nicht sehr viel auf sich hatte. Diese Transformation wird besonders auf drei Gebie­ ten deutlich. Die jüdischen Kabbalisten hatten in Wirk­ lichkeit keinerlei Sympathie für die Lehre von der Tri­ nität, von der Inkarnation Gottes im Messias und für die christliche Auffassung der Natur und der Sendung dieses Messias, die hier in ihre Texte hineingelesen wur­ den und die sie, wenn auch nur außerhalb der Reich­ weite christlicher Aktivitäten, mit Hohn bedachten. Dazu traten aber noch zwei Momente, die nichts mit christlicher Dogmatik zu tun hatten, nämlich das Inter­ esse für die magischen Elemente in der Kabbala sowie der Versuch, die kabbalistische mit der alchemistischen Symbolik zu verbinden. Seit Cornelius Agrippa von Nettesheim in seinem sehr einflußreichen synkretisti­ schen Werk De occulta philosophia (1530) magische Vorstellungen aus der jüdischen Überlieferung über­ haupt und der kabbalistischen im besonderen akzen­ 13

tuierte, konnte eine schon von Pico angeschlagene Saite der Kabbala in immer stärkerer Instrumentierung be­ tont werden. Paradox dagegen, aber dennoch weit ver­ breitet, war die Vermischung mit der Alchemie, deren Symbolwelt in wichtigen Punkten im Widerspruch zu der kabbalistischen steht. Denn Gold stellte bei ihnen keineswegs ein metallisches Symbol des höchsten Stan­ des dar, den unter den Metallen dort vielmehr das Silber behauptete. Und dennoch beherrschte diese Vermi­ schung von Kabbala und Alchemie, und darüber hinaus mit Magie, zwischen 1520 und 1720 große Teile der al­ chemistischen Literatur, am stärksten in dem lateini­ schen Amphitheater der ewigen Sophia des in der Ver­ mischung aller möglichen hermetischen und astrologi­ schen Symbolreihen mit theologischen am weitesten gehenden Arztes Heinrich Kunrath (1609), in den Schriften des englischen Theosophen und Alchemisten Thomas Vaughan (um 1650) und schließlich ihre Krö­ nung findend in Georg von Wellings deutschem Opus Magico-Kabbalisticum von 1719, das auch auf Goethes Schreibtisch lag, als er den Urfaust schrieb. Dieses ver­ breitete Buch hat seine tiefen Spuren besonders in der der Mystik ergebenen deutschen Hochgrad-Freimau­ rerei und im Rosenkreuzertum des 18. Jahrhunderts hinterlassen. Aber fast keiner der bei Welling mit Nachdruck zitierten klangvollen Sätze der »MagoKabbalisten« steht in irgendeinem kabbalistischen Buch. Eine bedeutungsschwere Würdigung des Standes der Kabbala im elisabethanischen England hat vor zwei Jahren die jüngst verstorbene Dame Frances Yates vom Warburg-Institute in London in ihrem letzten Werk The Occult Philosophy in the Elizabethan Age gegeben, in dem die wissenschaftliche Wendung der Erfor­ 14

schung der Kabbala, die in Jerusalem begonnen hat, eine ihrer bisher schönsten Früchte getragen hat. Frei­ lich, einem ihrer kühnsten Versuche vermag ich nicht zuzustimmen, nämlich der von ihr angenommenen Hypothese, derzufolge Shakespeares Kaufmann von Venedig eine chiffrierte Darstellung der christlichen Kabbala des Italieners Francesco Giorgi sei, dessen vielgelesenes Werk De Harmonia Mundi (1525) damals schon längst in einer englischen Übersetzung vorlag. Im 17. Jahrhundert traten zu den älteren Kanälen, durch welche die Kabbala wirkte, neue Entwicklungen hinzu, sowohl von innen her als auch durch das Be­ kanntwerden neuer kabbalistischer Quellen. Von in­ nen spielte dabei die Theosophie Jakob Böhmes eine große Rolle; wurde sie doch sogar von einem jüdischen Kabbalisten noch hundert Jahre später als eine in christlichen Symbolen beschriebene Darstellung des­ selben Bereiches in der Gottheit erklärt, von dem die eigentliche Kabbala handelt. Diese, auch meines Erach­ tens unleugbare, wenn auch von der neueren For­ schung lange übersehene Affinität zu Grundvorstel­ lungen der kabbalistischen Theosophie wurde schon bald sowohl von Freunden als von Gegnern Böhmes erkannt und führte zu einer Amalgamierung beider Symboliken, besonders in den Schriften seines Schülers Abraham von Frankenberg. Von außen steuerte aber das große, 2500 Seiten starke Sammelwerk Kabbala Denudata (1677-1684) erstaun­ lich reiches, neues Material aus authentischen Quellen bei, das 200 Jahre lang und mehr eine zentrale Stellung behauptet hat. Dessen Autor war der christliche Theo­ soph und als Dichter des Liedes »Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte« berühmt gewordene Christian Knorr von Rosenroth, der selber

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- eine ziemliche Ausnahme - bei jüdischen Lehrern ge­ lernt hatte. Er übersetzte zum Teil außerordentlich schwierige Texte aus dem Umkreis des Sohar und vor allem der jüngeren, größtenteils noch ungedruckten Kabbala, die sich erst nach der Zeit Reuchlins und Po­ stels in Safed in Nordgaliläa entwickelt hatte. Dadurch kamen jetzt sehr merkwürdige Spekulationen wie die des Isaak Luria (i 534-1571), des bedeutendsten Kabba­ listen dieser Zeit, zur Kenntnis aller Interessierten und regten damit die Beschäftigung mit dieser Welt mächtig an. Knorrs Werk war eine wahre Fundgrube für die christlichen Theosophen ebenso wie für kritische Ge­ lehrte. Gewiß, das Werk hatte auch viele Mängel, so­ wohl bei Übersetzungen als auch in den Diskussionen, die sie begleiteten; das verhinderte aber nicht seinen weiten, internationalen Einfluß in der Gelehrtenwelt. Knorr hatte auch eine erst kurz vorher 1656 in Amster­ dam erschienene hebräische Übersetzung einer im neu­ platonischen Geiste geschriebenen quasi-philosophi­ schen Darstellung der Kabbala in einer Kurzfassung übersetzt, was aufregende Folgen hatte. Der Autor die­ ses Buches Porta coelorum, des einzigen spanisch ge­ schriebenen kabbalistischen Originalwerkes, war Abra­ ham Herrera, der aus einer kryptojüdischen spanischen Familie stammte und, wieder als Jude, bei einem der wichtigsten Anhänger Lurias seine Einweihung emp­ fangen hatte. Erst durch Knorr wurde die Kabbala nun vollends zur theologia mystica der Juden. Auf das bei Knorr nun zugängliche Werk Herreras berief sich eine, der vorigen Deutung der Kabbala als geheimer Träge­ rin christlicher Ideen genau entgegengesetzte Deutung, die 1699 mit dem Buche des Schwaben Johann Georg Wachter einsetzte, das den schönen Titel trägt DerSpinozismus im Jüdenthümb oder die von dem heutigen

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Jüdenthümb und dessen Geheimen Kabbala vergöt­ terte Welt. Wachters kühne, sachlich freilich unhalt­ bare Thesen haben im 18. Jahrhundert nicht wenig Ein­ fluß auf die philosophische Diskussion über Spinoza ausgeübt. Denn daß die Kabbalisten keineswegs ge­ heime Christen seien, sondern vielmehr verkappte Atheisten - das war schon eine neue These, die sich se­ hen lassen konnte, selbst wenn sie auf Mißverständnis­ sen beruhte und vom Autor selber in einer späteren Publikation widerrufen wurde. Ihrer historischen Wir­ kung hat das keinen Abtrag getan. Daß übrigens Spi­ noza den hebräischen Text von Herreras Buch gelesen hat, scheint mir ausweislich der Formulierungen im er­ sten Teil der Ethik mehr als wahrscheinlich. Während in katholischen Ländern der Einfluß kabbali­ stischer Gedanken, in welcher Form immer, zurück­ ging, haben sie während des 17. und 18. Jahrhunderts in England, Holland und Deutschland eine durch viele Kanäle fließende Wirkung ausgeübt. In England, auch nach dem elisabethanischen Zeitalter sichtbar, z. B. bei John Milton, den Cambridger Platonikern und den zahlreichen englischen Böhmianern, die sich Philadelphians nannten, bis hin auf William Blake, in Holland nach Spinoza durch den sehr aktiven Franziskus Mercurius van Helmont. In Deutschland führt eine unge­ brochene Linie von Knorr von Rosenroth an, verschie­ dene Aspekte der Kabbala diskutierend und zum Teil aufnehmend, über Wachter und Leibniz, über Jakob Brücker, den ersten bedeutenden Geschichtsschreiber der Philosophie in Deutschland, und über den schwä­ bischen Theosophen Friedrich Christian Oetinger ins Vorfeld des deutschen Idealismus, vor allem bei Franz von Baader und Schelling, aber auch bei Hegel, die zweifellos Brücker und Oetinger studiert haben. 17

Bei Schelling kommt vor allem die von Isaak Luria ent­ wickelte Idee des 7.imzum, d. h. der Selbstbeschrän­ kung Gottes, die aller Schöpfung vorausgeht, zu philo­ sophischer Bedeutung. Diese Idee, die innerhalb der Kabbala eine lange und denkwürdige Geschichte hat, besagt, daß die Möglichkeit der Existenz von etwas, das nicht mehr Gott ist, nur gedacht werden kann, wenn solcher Existenz ein Akt der Konzentration und Kontraktion Gottes auf sich selber vorausgeht. Gott muß sich in sich selbst zurückziehen, um eine Schöp­ fung aus sich zu entlassen, aus der zwar seine Substanz verschwunden ist, in dem so entstandenen Vakuum aber eine Spur davon sich erhalten hat. Erst durch den Wiedereintritt eines sich dort entfaltenden Strahls der sich verbergenden Substanz, die in diesen, von Gott aus gesehenen nur punktförmigen, vom Geschöpf aus ge­ sehen unendlichen Raum der Schöpfung eintritt, ent­ wickelt sich eine schöpferische Dialektik zwischen die­ sen beiden, dem formlosen und dem formenden Grund, aus der alle Welt entstand. Die naturalistische Symbolik, die hier benutzt wird, stellt, den Kabbalisten zufolge, ein für uns Sterbliche allein zugängliches Gleichnis eines an sich uns verborgenen Aktes der un­ endlichen Gottheit dar. Damit wurde der Folgerung ausgewichen, daß der so beschriebene Akt in offen­ sichtlichem Widerspruch zu der vom monotheistischen Dogma verlangten Unveränderlichkeit Gottes stünde, ja ans Ketzerische grenze. Damit sind nur einige der Hauptlinien gezeichnet, wel­ che die Stellung der Kabbala im Abendland im Laufe von drei Jahrhunderten bestimmen, ein Thema, das noch Platz für viele Studien offenläßt.

Alchemie und Kabbala

Jugendlicher Mut und vielleicht auch Torheit haben immerhin ihren Lohn. Vor einigen fünfzig Jahren schrieb ich in einer meiner ersten größeren Arbeiten zur Erforschung der Kabbala über das Thema , * das ich nun, etwas belesener und vielleicht auch klüger gewor­ den, so ziemlich gegen Ende meiner Forschungen noch einmal wiederaufnehmen und entwickeln will. Gewiß kann ich dabei in vielem auf jene Jugendarbeit zurück­ greifen, aber die Perspektive, die ich inzwischen ge­ wonnen habe, weicht nicht unwesentlich von der ab, unter der ich damals an die Arbeit ging, von dem vielen neuen Material, das mir nun zur Verfügung steht, ganz zu schweigen.

I Seit die europäische Welt am Ausgang des Mittelalters mit der jüdischen Mystik und Theosophie, der Kab­ bala, bekannt wurde, hat sie im Laufe der Jahrhunderte die mannigfachsten Vorstellungen mit diesem Kom­ plex »Kabbala« verbunden. Der Name der geheim­ nisvollen Disziplin, welche ihre ersten christlichen Vermittler wie Giovanni Pico della Mirándola und Reuchlin als die Hüterin der ältesten und höchsten Mysterienweisheit der Menschheit erklärten und verehr* Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala. Ein Kapitel aus der Geschichte der Mystik, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 69 (192$), S. 13-30 und 93-110.

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ten, wurde ein beliebtes Schlagwort in allen theoso­ phisch und okkultistisch interessierten Kreisen der Re­ naissancewelt und ihrer Nachfolger im Barock. Er wurde eine Art Flagge, unter der - da Kontrolle von den wenigen wirklich der Kabbala Kundigen nicht zu befürchten war-dem Publikum so ungefähr alles ange­ boten werden konnte: von wirklich Jüdischem über schwach judaisierende Meditationen tiefer christlicher Mystiker bis zu den letzten Jahrmarktsprodukten der Geomantie und Kartenwahrsagerei. Der Name Kab­ bala, ehrfurchtsvolle Schauer erregend, deckte alles. Auch die fremdesten Elemente abendländischer Folk­ lore, auch die in irgendeinem Sinne okkultistisch ge­ richteten Naturwissenschaften der Zeit, wie Astrolo­ gie, Alchemie und Naturmagie, wurden »Kabbala«. Und diesen schweren Ballast, der ihren eigenen Inhalt zuzeiten völlig verdeckt hat, führt die Kabbala in der communis opinio bis heute noch mit sich, bei Laien und theosophischen Adepten, im Sprachgebrauch vieler eu­ ropäischer Schriftsteller und sogar Gelehrten. Insbe­ sondere haben noch im 19. Jahrhundert die französi­ schen Theosophen der martinistischen Schule (Eliphas Levi, Papus und viele andere) und in diesem Jahrhun­ dert Scharlatane wie Aleister Crowley und seine Be­ wunderer in England das Menschenmögliche an allge­ meiner Konfusion aller okkulten Disziplinen mit der »heiligen Kabbala« geleistet. Ein großer Teil der Schrif­ ten, auf deren Titelblatt das Wort Kabbala prangt, hat gar nichts oder so gut wie gar nichts mit ihr zu tun. Es bleibt wichtig, diejenigen Elemente, die wirklich hi­ storisch der Kabbala angehören oder mit ihr in Zusam­ menhang stehen, von denen zu scheiden, die erst durch eine außerhalb des Judentums verlaufende Entwick­ lung mit ihr verwirrt worden sind. Dazu gehört mit in

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erster Linie die Beantwortung der Frage nach den Be­ ziehungen zwischen Alchemie und Kabbala. Denn seit mehr als 400 Jahren sind für die christlichen Theoso­ phen und Alchemisten Europas Alchemie und Kabbala weitgehend synonyme Begriffe geworden, und man möchte vermuten, daß hier starke gegenseitige innere Berührungen bestehen. Dieser Frage kritisch nachzu­ gehen, sollen die folgenden Untersuchungen dienen. Bei der wissenschaftlichen Diskussion der systemati­ schen Beziehungen der Alchemie, einer scheinbar auf ein so rein naturwissenschaftliches Ziel wie der Trans­ mutation der Metalle zu Gold gerichteten Bewegung, zur Mystik sind zwei sehr verschiedene Perspektiven wirksam geworden. Die eine betrachtete diese Bezie­ hungen unter rein historischen Gesichtspunkten, wie sie etwa in den großen Werken von Edmund von Lippmann und Lynn Thorndike ihren Ausdruck gefunden haben.1 Demgegenüber machte sich mit wachsendem Nachdruck und Einfluß die Tendenz geltend, weite Provinzen der Alchemie als in Wirklichkeit rein inner­ liche Vorgänge im Menschen selber beschreibend auf­ zufassen. Seit 1850 sind umfassende Versuche in dieser Richtung unternommen worden, die auf der fast durchgängigen symbolischen Deutbarkeit der alchemi­ stischen Prozesse und der Handlungen der Adepten auf das innere »geistliche« Leben des Menschen beruhen. Gegenstand der Alchemie ist hiernach nicht die Ver­ wandlung der Metalle, sondern die des Menschen selbst. Das »philosophische Gold«, das hergestellt wer­ den sollte, ist hiernach die Vollkommenheit der Seele, der Mensch im mystischen Stande der Wiedergeburt 1 Lippmann, Entstehung und Ausbreitung der Alchemie, Band I-II, Berlin ¡919*1931; L. Thorndike, A History of Magie and Experimental Science, Vol. I-V, London 1923 ff.

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oder Erlösung. Zuerst in Irland und Amerika in den Werken der Mrs. Atwood und von E. A. Hitchcock unter Aufwand außerordentlicher Belesenheit entwikkelt, wurde diese Tendenz dann von einem Schüler Freuds, Herbert Silberer, aufgenommen2 und mit Mit­ teln der Psychoanalyse unterbaut. Von Silberer ange­ regt hat dann C. G. Jung diese Auffassung der Alche­ mie in weithin bekannten und einflußreichen Werken entwickelt und im Sinne seiner, besonders auf der Lehre von den Archetypen beruhenden, analytischen Psychologie dargestellt.3 Wann solche nicht chemische, sondern psychische Richtung der Alchemie aufkam, ist bis heute strittig, und ich beabsichtige nicht, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Unleugbar ist, daß schon prophetische Stellen der Bibel, die (wie Jesaja i :2$) die Läuterung Israels je­ ner der Metalle vergleichen, solche Gedankengänge na­ helegen konnten. Bei späteren Alchemisten hat auch der Vergleich Gottes mit dem Feingold im Buche Hiob 22:24-25 eine große Rolle gespielt. Uber diese Frage des Alters der mystischen Umdeutung der Alchemie hat A. E. Waite in seinem einige Jahre vor Jungs Unter­ suchungen erschienenen Werk The Secret Tradition in Alchemy (1927) ausführlich gehandelt, wobei er den 2 Mary Anne Atwood, A Suggestive Inquiry into the Hermetic Mystery, Lon­ don 1850 (Neuausgabe Belfast 1918); Ethan Allan Hitchcock, Remarks upon Alchemy and the Alchemists, Boston 1857; Herbert Silberer, Probleme der My­ stik und ihrer Symbolik, Wien 1914 (Eine englische Übersetzung erschien in New York 1917, Problems of Mysticism and its Symbolism, translated by S. E. Jelliffe). 3 C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944; Die Psychologie der Übertragung, erläutert anhand einer alchemistischen Bilderserie, Zürich 1946; Mysterium Coniunctionis, Untersuchung über die Trennung und Zusammen­ setzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie, Zürich 1955-1956. Vgl. auch Antoine Faivre, Mystische Alchemie und geistige Hermeneutik, »Eranos Jahrbuch 1973« (Bd. 42), S. 323-356.

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. Ausgang des Mittelalters als erste Periode solcher Um­ deutung annimmt. Auf jeden Fall würde ich einräu­ men, daß von einem nicht geringen Teil auch berühm­ ter alchemistischer Schriften speziell der Zeit nach Pa­ racelsus es sehr wahrscheinlich gemacht worden ist, daß sie überhaupt keine chemischen Ziele verfolgen, sondern durchaus als Anweisungen zum mystischen Werk des Menschen an sich selbst gedacht sind. Bei manchen Autoren darf man auch annehmen, daß sie be­ wußt eine Koinzidenz des chemischen und mystischen Prozesses im Sinne hatten, was ich vor allem für die Al­ chemisten im Umkreis des Rosenkreuzertums an­ nehme. Hier haben wir es in allem Wesentlichen ohne Zweifel mit einer mystischen Bewegung zu tun, deren naturwissenschaftliche Tendenzen sich eher als Neben­ produkte ihrer Symbolik und symbolischen Praxis her­ ausstellen. Und gerade in diesen Kreisen hat sich die Identifikation der Kabbala mit Alchemie mit besonde­ rem Nachdruck durchgesetzt.4 Bevor wir die Übergänge verfolgen können, welche von der Kabbala im christlichen Gewände zur Alche­ mie führten, haben wir vor allem die Frage zu beant­ worten: Wie steht die Kabbala in ihren Originalquel­ len, als ein in bestimmten Grundzügen ihrer klassi­ schen Entwicklung - spätestens vom 12. Jahrhundert bis etwa 1600 - mehr oder weniger einheitliches System mystischer Symbolik, zur Alchemie? Wie weit war Al­ chemie unter den Juden auch vor oder parallel mit der Entwicklung der Kabbala verbreitet, so daß sie auf Ausbildung kabbalistischer Symbolik einen Einfluß 4 Wissenschaftlich wertlos ist die Verkehrung aller dieser Verhältnisse bei Eliphas Levi, wonach die Alchemie vielmehr eine Tochter der Kabbala sei; vgl. Der Schlüssel zu den großen Mysterien, nach Henoch, Abraham, Hermes Trismegistos und Salomon, München 1928, S. 208.

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hätte ausüben können? Diese Fragen bedürfen vor al­ lem der Untersuchung. Wie wenig sicheres Wissen auf diesem Gebiet vorhanden war, lehrt die Äußerung ei­ ner so bedeutenden bibliographischen Autorität wie Moritz Steinschneider, der noch 1878 schrieb: »Die Kabbala selbst lehrt meines Wissens nichts von Alche­ mie, obwohl sie andern abergläubischen Disciplinen sich angeschlossen.«5 Noch 1894 schreibt derselbe Au­ tor von einem »Mangel alchemistischer Schriften bei den Juden, der als Vorzug gelten darf«.6 Um dieselbe Zeit machte er auch darauf aufmerksam, daß »die hebräische Literatur merkwürdig wenig Mate­ rial über die magna ars« biete.7 Dazu stimmt, daß in der älteren alchemistischen Literatur in griechischer Spra­ che zwar Juden oder Jüdinnen wie »Maria die Jüdin«, das heißt die Schwester Mosis, in den Schriften des Olympiodor und Zosimos8 erwähnt werden, es sich da­ bei aber, wie überhaupt bei den meisten der in diesen 5 In: Jeschurun, Hrsg, von Kobak, IX (1878) S. 85. 6 In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 38 (1894), S. 42. 7 Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters, Berlin 1893, S. 273. Inzwischen sind die drei instruktiven Artikel über Alchemie in der/ewish Encyclopedia I, S. 328-332 (vonM. Gaster), in der deutschen Enzyclopaedia Judaica II (1928), col. 137-1 $9 (von B. Suler) und in der englischen Encyclope­ dia Judaica, Vol. 2 (1971), col. 342-549 (ebenfalls von Suler, aber redaktionell überarbeitet) erschienen, in denen bis dahin unbekanntes Material verwertet worden ist, vor allem auch durch Beschreibung zweier großer alchemistischer Sammelkodices von Gaster (jetzt im British Museum) und in Berlin, die aus­ schließlich hebräische Übersetzungen arabischer und zum Teil lateinischer Traktate enthalten. 8 Über Maria die Jüdin siehe Lippmann, S. 46, der es für zweifellos erklärt, daß sie wirklich Jüdin war, da ihr ein Ausspruch beigelegt wird: »Berühre den Stein der Philosophen nicht mit deinen Händen, denn du gehörst nicht zu unserem Volke, du bist nicht vom Stamme des Abraham«. Das besagt natürlich gar nichts und kann ebensogut zu den gebräuchlichen Techniken der Pseudepigraphie gehören. Robert Eislers Verteidigung vieler dieser Fiktionen ist gegen­ standslos; vgl. seine Bemerkungen in MGWJ 69 (1925), S. 367.

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Schriften angeführten Quellen um Pseudepigraphisches handelt. Die von manchen Forschern geäußerte Vermutung, daß Zosimos, wohl der berühmteste grie­ chische Alchemist des 4. Jahrhunderts, selber Jude war, hat, soweit ich urteilen kann, nichts für sich.’ Wohl aber kannte im 11. Jahrhundert der spanische Jude Mo­ ses Sefardi, der nach seiner Taufe als Petrus Alphonsi bekannt wurde, ein Buch, das dem Seth, dem Sohne Adams, vom Engel Rasiel offenbart wurde, in dem un­ ter anderem auch die Verwandlung der Elemente und Metalle ineinander beschrieben war.9 1011 Tatsächlich er­ wähnen die klassischen jüdischen Philosophen die Al­ chemie nur flüchtig und oft ablehnend. Jehuda Halevi verwirft die Theorien der »Alchemisten und Pneumatiker«, die in der arabischen Literatur tatsächlich oft ne­ beneinander auftreten. Ihre Experimente hätten sie in die Irre geführt, als sie »das Elementarfeuer auf ihren Waagschalen abmessen zu können glaubten, um daraus beliebige Schöpfungen hervorzubringen und die Stoffe zu verändern«.’’Auch Josef Albo hält nichts von dem 9 J. Ruska, Tabula Smaragdina, Heidelberg 1926, S. 41, der auch eine arabi­ sche Quelle anführt, in der Zosimos direkt »der Hebräer« genannt wird. Die Vorliebe vieler alchemistischer Autoren für Juden als pseudepigraphische Au­ toritäten beweist nicht, wie manchmal behauptet worden ist, daß dem eine reale bedeutende Stellung der Juden in der alten Alchemie entsprochen haben muß. 10 Aus einem verlorenen Buch des Petrus Alphonsi zitiert im 13. Jahrhun­ dert Peter von Cornwall in seiner Disputation gegen den Juden Simon: »est quidem Über apud Judeos de quo Petrus Alphonsi in libro suo quem appeliavit Human um proficuum loquitur discipulo suo querenti ab eo que essent nomina angelorum illorum que invocata valerent ad mutandum ea que ex elementis fiunttnalia etmetalla in alia, itadicens: Hocfacillime potes scire si Übrum quem secreta secretorum appellant valeas invenire, quem sapientes Judei dicunt Seth filio Adam Rasielem angelum revelasse, atque angelorum nomina et dei precipua scripta esse«; vgl. R. W. Hunt, Studies in Mediaeval History presented to F. A. Powicke (1948), S. 151. 11 So im Kusan’III, 23 und 53. Unter den Pneumatikem versteht der Autor die Magier, welche das Pneuma der Sterne hinunterzuziehen versuchen und An-

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falschen Silber, das durch Alchemie, melekheth ha-alkimia, erzeugt wird und bei Schmelzungen sich schließlich als gefälscht erweist.12 Günstiger äußert sich im ii. Jahrhundert der berühmte Moralist Bachja ibn Paquda in seinen Herzenspflichten am Anfang des vier­ ten Kapitels, wo er den Zustand der Ausgeglichenheit der Seele ausführlich mit den Bemühungen des Alche­ misten um das Zustandekommen seines »Werkes« ver­ gleicht15: »Der ganz auf Gott vertraut, ähnelt in Hin­ sicht auf den Seelenfrieden, auf den Mangel an Unruhe über die Dinge des täglichen Lebens, dem Alchemisten, der durch seine Wissenschaft und seine Kunst fähig ist, Silber in Gold, Kupfer und Blei in Silber zu verwan­ deln. Aber der ganz auf Gott vertraut, ist dem Alchemi­ sten gegenüber in großem Vorteil. Der Alchemist be­ darf, um sein Werk zustande zu bringen, andauernd be­ sonderer unentbehrlicher Substanzen, die er weder überall noch immer vorfindet. Der Gottvertrauende ist dagegen immer sicher, seinen Unterhalt zu finden, denn er lebt nicht von Brot allein... Der Alchemist hat Angst um sein Leben; er vertraut sein Geheimnis nieWeisungen dafür gegeben haben. Über diese pneumatische Wissenschaft gibt es eine ganze Literatur, zu der das von mir 1927 herausgegebene und ins Deutsche übersetzte Sefer Ha-Tamar, »Das Buch von der Palme«, gehört, von dessen arabischer Urschrift wir nur noch die hebräische Übersetzung besitzen. 12 Albo im Sefer Ha-iqqarim I, 8. Um dieselbe Zeit äußert sich in Nordafrika auch der wissenschaftlich sehr interessierte Simon ben Zemach Duran (Anfang des 15. Jahrhunderts) in seinem großen philosophischen Werk sehr polemisch über die Bestrebungen der Alchemisten. Vgl. sein magen aboth, Livorno 1785, Bl. 10a. 13 Bahya Ibn Paquda, Introduction aux Devoirs des Cœurs, traduit par André Chouraqui, Paris vor 1950, S. 247-250. Josua ibn Schu'eib zitiert (um 1300) in seinen Homilien draschoth, Krakau 1573, Bl. i4d, eine abweichende Fassung von Bachjas Text, wo ein Wort eines Chassid zitiert wird, daß »das Vertrauen in [oder Hingabe an] Gott die wahre Alchemie« sei. Ich habe die Quelle nicht ge­ funden und nehme an, daß es sich um eine vereinfachende und verfälschende Zusammenfassung der echten Stelle, aus dem Gedächtnis zitiert, handelt.

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mandem an. Der andere aber fürchtet in seinem Gott­ vertrauen keinen Menschen, wie schon der Psalmist [Ps. 56:12] singt.« In diesem Sinn fährt der Autor noch fort, die Nöte und Sorgen des Alchemisten mit der aus­ gewogenen Seelenruhe des Gottvertrauenden zu ver­ gleichen. Von einer Verwerflichkeit des alchemisti­ schen Unternehmens weiß der Autor nichts. Noch bemerkenswerter ist eine Ableitung des Wortes kimija, »Chemie«, aus dem Hebräischen, die sich in arabischen Quellen erhalten hat. Steinschneider führt sie aus Safadi an, E. Wiedemann, dem Steinschneiders Hinweis unbekannt geblieben ist, zitiert sie aus Sachäwi, einem Autor des 14. Jahrhunderts.H Die Chemie heißt so, »weil sie von Gott ist«, ki mijah. Diese Ety­ mologie stammt zweifellos wirklich von Juden. Ein jü­ discher Alchemist ist zuerst mit Sicherheit im 10. Jahr­ hundert in Ägypten nachweisbar14 15, während jüdische Autoren alchemistischer Schriften im Mittelalter sei es auf Irrtum, sei es oft auf Pseudepigraphie beruhen. Das jüdische alchemistische Werk des Zadith ben Hamuel, das bei Berthelot erwähnt wird, gehört in Wirklichkeit einem islamischen Autor Sadiq Muhammad ibn Umail an.16 In der hebräischen Literatur wurde dem Maimonides in seiner Eigenschaft als Arzt und Naturkundigem eine Abhandlung über Alchemie untergeschoben, die sich in mehreren hebräischen Handschriften in ver­ 14 Steinschneider in Kobaks Jeschurun IX, S. 84; Wiedemann, Zur Alchemie bei den Arabern, in »Journal für praktische Chemie« 76 (1907), S. 113, der die Ableitung zweifellos mißverstanden hat und auf Grund einer falschen Lesart in einer Handschrift übersetzt, »denn sie ist wohltätiger als Gott«. Auch Stein­ schneider hat den Sinn der Etymologie nicht erkannt. 15 In einem Responsum des Schemarja ben Elchanan aus Kairawan, vgl. S. Assaf, Responsa Geonica (hebräisch), Jerusalem 1942, S. 115. 16 Vgl. Berthelot, La Chimieau MoyenAge, L, S. 249, und die Richtigstellung in der Orientalistischen Literatur-Zeitung 1928, col. 665.

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schiedenen Versionen als ’iggereth ha-sodoth erhalten hat, in Form eines Briefes an seinen berühmten Schüler Josef ibn Aqnin. Diese Abhandlung existiert auch in ei­ ner lateinischen Übersetzung, angeblich schon aus dem 13. Jahrhundert.17 Als Nicolas Flamel, einer der wenigen, von denen die Mystiker und Alchemisten annehmen, daß ihm die Herstellung des Steins der Weisen gelungen sei, 13 5 7 in Paris angeblich »für billiges Geld« eine auf Papyrus1819 geschriebene Handschrift kaufte, die er nicht verstand, da war es noch nicht etwa ein Kabbalist, sondern ein ge­ taufter jüdischer Arzt, der ihm 1378 in dem Wallfahrts­ ort S. Jago di Campostella die Deutung der Schrift und damit das Geheimnis der Alchemie eröffnete. Diese Schrift soll von einem »Juden Abraham« als Anwei­ sung an seine Volksgenossen verfaßt sein. Die Über­ schrift habe gelautet: »Abraham der Jude, ein Fürst, Priester und Levit, ein Astrolog und Philosoph, wünscht dem durch Gotteszorn unter die Normannen verstreuten jüdischen Volk Glück und Heil.«1’ Schon diese Überschrift erweist in ihren Widersprüchen den fiktiven Charakter dieser Zuschreibung. Jedenfalls ist dieser Bericht typisch dafür, wer in den Augen der mittelalterlichen Alchemisten 17 Über diese Schrift vgl. Steinschneider, Zur pseudepigraphischen Literatur, Berlin 1862, S. 26-27, sowie dessen Hebräische Übersetzungen, S. 765 und 922. In der hebräischen Handschrift der Bodleiana in Oxford, Neubauer-Cowley Vol. II, S. 194, Nr. 2779, befindet sich eine vielleicht ausführlichere Version dieses Textes, deren Ende nicht klar ist. Dort findet sich auch Bl. 20 a ein Rezept zur Herstellung des philosophischen Steins. 18 Zum lateinischen Cortex im Sinne von Papyrus siehe R. Eisler in MGWJ 70 (1926), S. 194, der die Authentizität der Erzählung verteidigen möchte, und meine Antwort, S. 202. 19 Vgl. dazu Eugenius Philalethes (Thomas Vaughan), Magia Adamica, deut­ sche Übersetzung, Leipzig 173$, S. 70*7$, wo die ganze Erzählung ausführlich wiedergegeben ist.

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die Träger ihrer Weisheit unter den Juden waren. Daß in Spanien noch vor der Ausbreitung der Kabbala in jüdischen Kreisen Interesse an alchemistischer Lite­ ratur bestand, nicht weniger als an Schriften über an­ dere Zweige der in der arabischen Literatur gepflegten Geheimwissenschaften, bezeugt die Existenz hebräi­ scher Übersetzungen der zwei Schriften eines Autors, der sich Abu Aflah as-Saraqasti nannte, wobei freilich nicht sicher ist, ob dieser Name eine historische Per­ sönlichkeit meint oder fiktiv ist. Der Beiname kann sich auf einen Autor aus Syracus in Sizilien oder aber aus Sa­ ragossa in Spanien beziehen. Wenn er als Arzt (wie er schreibt) am Hofe des Königs von Saragossa tätig war20, so müßte seine Wirksamkeit in die Zeit vor der Erobe­ rung Saragossas durch die Almoraviden im Jahre 11 io gefallen sein. Die beiden Bücher, die sich unter diesem Namen erhalten haben, sind nur hebräisch vorhanden, obwohl kein Zweifel sein kann, daß ihnen ein arabi­ sches Original zugrunde liegt. Der Autor spricht in be­ tonter Weise als Muslim. Das eine ist das »Buch von der Palme«, ein höchst sonderbarer Traktat über die Theo­ rie und Praxis der »pneumatischen Philosophie«, das heißt der Wissenschaft von der Herabziehung des Pneuma der Sterne durch okkulte Praktiken.21 Das an­ dere Buch handelt über Alchemie, unter dem Titel ’em ha-melech, »die Mutter des Königs«, was (dem Autor 20 So versteht den Beinamen Carlo Alfonso Nallino, Abu Aflah arabo siracusano o saragozzano?, in »Rivista dei studü orientali« 13 (1931-1932), S. 165-171. 21 Dieses Buch habe ich im hebräischen Text und einer deutschen Überset­ zung herausgegeben, Heft I (hebräisch), Jerusalem 1926; Heft II (Überset­ zung), Hannover 1927. Das Buch gehört auch heute noch zu den rätselhaftesten Texten der arabischen okkultistischen Literatur; vgl. jetzt auch S. Pines, »Le Sefer ha-Tamar et les Maggidim des Kabbalistes«, in Hommage ä Georges Vajda, Louvain 1980, S. 333*369.

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nach) eine Bezeichnung für den Stein der Weisen sein sollte. Beide Bücher sind, wie der Stil zeigt, zweifellos vom selben Übersetzer, und nach der französischen Terminologie des alchemistischen Buches stammen die Übersetzungen wohl aus der Provence. Der allgemein­ theoretische Teil des Buches, das sich vollständig erhal­ ten hat22, stimmt großenteils wortwörtlich mit dem ent­ sprechenden im »Buch von der Palme« überein, nur daß als die behandelte Wissenschaft an den betreffen­ den Stellen stets die Alchemie und nicht die Lehre von den pneumatischen »Werken« und Wirkungen be­ zeichnet ist. Der zweite Teil enthält ausführliche alche­ mistische Rezepte chemischer Natur. Es liegen keine Anzeichen dafür vor, daß bis zum Ende des 13. Jahr­ hunderts lateinische alchemistische Texte in jüdischen Kreisen bekannt waren, und man darf mit Sicherheit annehmen, daß alchemistische Überlieferungen bis da­ hin stets auf arabische Quellen zurückgehen. Jehuda ben Salomo Cohen aus Toledo, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine hebräische Enzyklopädie aller Wis­ senschaften verfaßte, in der er sich sehr abfällig über die »große Kunst« der Alchemie äußerte, konnte Arabisch, das zu seiner Zeit von den Juden Toledos nicht nur ge­ sprochen, sondern oft auch noch literarisch verwendet wurde.23 22 Die Handschrift Gaster 19, jetzt im British Museum, ist vollständig, Bl. 3-22. Etwa die Hälfte ist auch in der Handschrift des Britischen Museums Or. 3659 erhalten (im Katalog von G. Margoliouth Nr. 1104), wie auch mehrere Exzerpte in den Collectaneen des Jochanan Allemanno (Hs. Oxford, Cowley Nr. 2234). In Heft I meiner Ausgabe des Sefer ha-tamar, S. 39-50, habe ich Aus­ züge aus diesem Buch publiziert. 23 Der Autor beschwert sich darüber, daß man bei den Gelehrten mehr schlechte Sitten und Betrug findet als bei allen Toren. Denn manche benutzen ihre Weisheit zur Vorspiegelung der Fabrikation von Gold, »was sie die »große Kunst« nennen, die ihnen aber nie gelingen wird, denn das ist unmöglich«; so bei Steinschneider in Kobaks Jeschurun IX, S. 8$.

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Wenn wir nach diesen vorbereitenden Darlegungen über die Verbreitung der Alchemie unter den Juden auf die schon gestellte Frage zurückkommen, wie die Kab­ bala als System mystischer Symbolik zur Alchemie steht, ergibt sich als erstes Resultat eine Antwort, wel­ che man bei den Historikern der Alchemie vergeblich sucht. Das Zentrum aller wie immer verstandenen Alchemie ist die Transmutation der Metalle in Gold als das Höchste und Edelste, das in der Welt existiert. Auch für den My­ stiker unter den Alchemisten ist das Gold Mittelpunkt oder Ziel der »Arbeit«, als Symbol des höchsten mora­ lischen und geistigen Standes. Ohne diese Vorausset­ zung gibt es keine Alchemie. Nun ist aber gerade diese Voraussetzung und Auffassung vom Status des Goldes mit der kabbalistischen Symbolik schwer vereinbar. Denn in der Kabbala ist das Gold gar nicht Symbol des höchsten Standes. Die gesamte kabbalistische Literatur in Hunderten und Aberhunderten von Texten und Symbolverzeichnissen - letztere hundertfach gerade in den Handschriften vorkommend2425 - ist, mit den ganz wenigen, im folgenden ausdrücklich aufgeführten und besprochenen Ausnahmen, darin einstimmig, im Silber das Symbol der rechten Seite, des Männlich-Spendenden, der Gnade und Liebe zu sehen (weiß, Milch), im Gold dagegen das Symbol der Linken, des Weiblichen, der Strenge und des richtenden Urteils (rot, Blut und Wein).1’ Diese Einteilung erscheint zuerst im ältesten 24 Eine Bibliographie solcher »Nomenklaturen der Sefiroth«, wie Steinschnei­ der sie in seinen Schriften zu nennen pflegte, habe ich in Kirjath Sepher X (■934). S. 498-515. gegeben. 25 Der erste hebräische Autor, der auf den Widerspruch zwischen den Kabba­ listen und den »Naturkundigen« in der Wertung von Silber und Gold hinge­ wiesen hat, war der eher »rationalistische Kabbalist« Jacob Emden in seinem kleinen Lexikon kabbalistischer Symbole Zizim u-pherachimt Altona 1768, in

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kabbalistischen Text, den wir besitzen, dem Buch Bahir.2b Mit dieser religionsgeschichtlich freilich durch­ aus auffälligen Symbolik entfällt von vornherein die Möglichkeit, von dem wirklichen, allen gemeinsamen kabbalistischen Grundschema der Welt, und gewiß ge­ rade der inneren, geistigen, theosophischen Welt aus, die Herstellung des Goldes für etwas Wesentliches zu halten. Dazu bedurfte es schon besonderer Umdeutun­ gen und Kunstgriffe. Wie konnte ein Kabbalist sich ge­ rade in der Symbolik des mystischen Weges nach innen das Gold, den höchsten Repräsentanten dessen, was er auf diesem Wege noch zu überwinden hatte: nämlich des din, der Strenge und des richtenden Urteils, als das vorstellen, was er aus sich herauskristallisieren wollte? Zosimos, dessen Alchemie stark ins Mystische schlägt, stellt den Silbermenschen ’aQYUcnivÜQiiMtog als Vorsta­ dium vor den Goldmenschen XQUcravffQüwtog.27 Kab­ balistische Symbolik müßte genau entgegengesetzt sein. So ergibt sich hier ein Widerstreit der Grundmo­ tive, welcher freilich den mystischen Alchemisten, die alle Symboliken über Stock und Stein zu harmonisieren suchen, um so weniger auffallen konnte, als ja nur sehr wenige unter ihnen je authentische kabbalistische Schriften gelesen haben oder auch nur zu lesen im­ stande gewesen wären. Wie gesagt, ist die kabbalisti­ sche Symbolik sehr eigenartig. Überall sonst im Sym­ bolkreis der hellenistisch-abendländischen Welt und vor allem in der Alchemie selbst ist das Männliche rot dem Artikel Sahab. Auf diese Stelle hat schon S. Rubin, Heidentum und Kab­ bala, Wien 1893, S. 89, hingewiesen. 26 Ich zitiere nach der Einteilung meiner Übersetzung des Buches, Leipzig 1923 (Nachdruck Darmstadt 1970). Über das Buch Bahir habe ich ausführlich in meinem Werk Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, S. 29-174, gehandelt. 27 Vgl. Lippmann, S. 81.

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und das Weibliche weiß, wie etwa bei der Bezeichnung gewisser Stoffe in der Alchemie als »Weißes Weib« und »Roter Mann«. Andererseits läßt sich die innerjüdi­ sche, haggadische Entwicklung, die zu so paradoxen mystischen Konzeptionen geführt hat wie der des Weiblichen als Korrelat des richtenden Urteils und der Strenge, unschwer übersehen - eine Untersuchung, die uns hier nicht weiter zu berühren braucht. So ist es denn eine verständliche Tatsache, daß im Ju­ dentum gerade in den kabbalistischen Kreisen nur sehr selten praktische Alchemie getrieben worden ist. Es waren zwei Gebiete, die nicht zueinander paßten und erst relativ spät, wie noch darzulegen sein wird, in Ver­ bindung gebracht wurden. In keinem hebräischen kab­ balistischen Buch oder Manuskript vor 1500 habe ich alchemistische Rezepte, die auf das »große Werk« Be­ zug haben, gefunden. Soweit sich solche Rezepte schon in älteren Handschriften des 14. oder 15. Jahrhunderts finden, haben sie mit Kabbala nichts zu tun und stam­ men aus nichtjüdischem Gut.28 Wenn nun auch die Grundlagen der theoretischen, sy­ stematisch gerichteten, kabbalistischen Mystik den Grundtendenzen der alchemistischen Symbolik wider­ streiten, so haben sich doch, was Einzelheiten der Sym­ bolik und Terminologie der kabbalistischen Schriften angeht, manche alchemistische Elemente unter die Fülle der kabbalistischen Motive und Symbole ge­ mischt. Hier läßt sich ein gewisser Einfluß der Alche­ mie noch nachweisen. Freilich sind gerade diese Ele­ mente kosmologisch-alchemistischer Symbolik der Metalle und anderes vielleicht hierher Gehörige den 28 Solche Stücke finden sich zum Beispiel in der Handschrift Vatican Hebr. 37$, Bl. $3-5$ (italienischen Ursprungs), und München Hebr. 214, Bl. 33 b(aus Spanien).

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Alchemisten des 16.-19. Jahrhunderts nicht aufgefallen und haben in der »christlichen Kabbala« und dem Rosenkreuzertum keinerlei Rolle gespielt. Dagegen sind sie nicht ohne Bedeutung für die Kenntnis der Kanäle, durch welche die späthellenistische Welt auf die jüdi­ sche Mystik des Mittelalters eingewirkt hat. Ein in der systematischen Ausbildung der Kabbala ganz unter den Tisch gefallenes altes Fragment, das die alchemistische Symbolik des Goldes als des Männli­ chen noch bewahrt hat, hat sich im Buch Bahir § 36 erhalten, wo das Stück, mit dem die Kabbalisten seit mindestens 1230 durchaus nichts mehr anzufangen wußten, zwischen zwei die entgegengesetzte, klas­ sisch-kabbalistische Symbolik vertretenden Stücken (§3 5 und §38)steht. »Warumheißt das Gold ant sahab? Weil in ihm drei Prinzipien enthalten sind: das Männli­ che, sakhar, und darauf deutet das T, die Seele, und dar­ auf deutet das n [offenbar das Weibliche, wie der Kon­ sonant he in der Buchstabenmystik der Kabbala stets gedeutet wird]... und 3 beth verbürgt ihren Bestand, wie es [am Anfang der Tora, die mit diesem Buchstaben beginnt] heißt: >durch den Anfang«.« Hier erfüllt das Gold also alles, was die alchemistische Symbolik braucht: es stellt die mystische Vereinigung der höch­ sten, im Kosmos wirkenden Prinzipien dar, die durch das Medium der Schöpfung, die ebensowohl Gottes Schöpfung des Kosmos als die alchemistische Vollen­ dung des »Werkes« sein kann, zustande kommt. Die im Texte des Bahir in diesem Zusammenhang entwickelte Symbolik der »Tochter des Königs«, die die Funktion des beth in einem Gleichnis beschreibt, entspricht - ob nun bewußt oder unbewußt - der Symbolik der materia prima bei den Alchemisten, die ja der Urmaterie, dem Chaos bei der Weltschöpfung Gottes entspricht. 34

Dies ist eine der wenigen Stellen der klassischen kabba­ listischen Literatur, die ganz rein in der Richtung der Alchemie liegt. Aber gerade sie ist schon in den tiqqune sohar, die in Nr. 21 diese Bahirstelle benutzen, da die Deutung des sajin auf das männliche Prinzip für diese Kabbala unannehmbar war, durch eine systematisch zwar weniger herpassende, aber unanstößige Deutung (auf die Zahl sieben, das heißt die sieben Schöpfungs­ tage) ersetzt. Die so sich ergebende Deutung ist zwar unzusammenhängend, aber der alchemistische Unter­ grund scheint noch durch: das Gold als Symbol der höchsten Vollkommenheit der Schöpfung, vom Licht, offenbar dem Urlicht, erfüllt. Der Konflikt, in dem die mystische und die natürliche Schätzung des Goldes in der Kabbala stehen, äußert sich scharf, wenn die Kabbalisten zu erklären suchen, warum das Wertverhältnis von Gold und Silber in der natürlichen, irdischen Welt umgekehrt ist wie das in der geistigen, oberen. Diese Erklärungsversuche pflan­ zen sich von einer klassischen Stelle des Buches Sohar, des Hauptwerks der spanischen Kabbala, das zwischen 1280 und 1285 in Spanien verfaßt wurde, durch viele andere Werke fort. Und war solcherart der Rang des Goldes in der unteren »merkabha« und der von ihr ab­ hängigen sinnlichen Welt immerhin zu retten, so wäre zwar für rein materielle alchemistische Bestrebungen noch Platz gewesen. Einer mystischen, auf die geistige Ordnung der Dinge gerichteten Umdeutung der alche­ mistischen Praxis war damit aber ein um so stärkerer Riegel vorgeschoben. Die erwähnte Soharstelle (II, 197b) besagt: »Komm und sieh, hier [im Verse Ex. 35:5] steht das Gold voran und das Silber danach, weil das die Rechenweise von unten auf [vielleicht auch: in der unteren Welt?] ist.

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Würde er [Moses] aber in der Rechenweise der oberen merkabha zählen wollen, so würde er rechts [d. h. vom Silber an] zu zählen beginnen und danach erst links. Warum? Weil es heißt [Chaggaj 2:8]: >Mein ist das Sil­ ber und mein ist das Gold< - Silber zuerst und danach das Gold.29 In der unteren merkabha aber fängt man mit links an und danach erst [folgt] rechts, wie es heißt [Ex. 35:5]: >Gold, Silber und Kupfer - Gold zuerst und danach das Silber.« Die Stelle ist klar, und das Motiv der umgekehrten Ordnung der oberen und unteren Welt ist in der älteren Kabbala beliebt und mehrfach angewandt. Es kam der späteren Theorie vieler Kabba­ listen des 16. Jahrhunderts entgegen, daß die Schöp­ fung der niederen Welt durch Spiegelung des »reflek­ tierten Lichtes« der Welt der Sefiroth zustande gekom­ men sei. So findet sich dies Motiv bei der Folge der Buchstaben des Alphabets in beiden Welten auf Grund talmudischer Vorstellungen, von da aus auch bei der Theorie der mystischen Gottesnamen und Ephesia Grammata. In diese Linie gehört auch, wie weiter un­ ten zu erwähnen, die Zuordnung des Steins der Weisen zur letzten Sefira, aber die des unedelsten Metalls, des Bleis, zur zweithöchsten im Buche Aesch mezaref, das weiter unten hier zu besprechen ist. Der mögli­ chen gnostisch-antinomistischen Konsequenzen dieser Konzeption waren sich die Kabbalisten wohl nie be­ wußt. Sonst hätte man kaum Werke kursieren lassen, in denen zum Beispiel die in der Tora verbotenen Ehen auf Grund dieses Prinzips in den oberen Welten zwi29 In der Welt der göttlichen Sefiroth, welches die obere Welt ist, ist also dies die Reihenfolge. Der Vers Chaggaj 2:8 ist auch in Bahir der Stichvers für die entsprechenden Gedankengänge zur Symbolik von Gold und Silber. In der he­ bräischen Handschrift Hamburg 232 (in Steinschneiders Katalog 24), Bl. 23 b, schließt dieser Vers ein spanisch-jüdisches alchemistisches Rezept ab.

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. sehen den Sefiroth nicht nur als erlaubt, sondern als ge­ fordert bezeichnet werden.3031 Noch radikaler als diese Soharstelle ist der, denselben Grundgedanken ausführende Passus in dem um 1400 verfaßten pseudepigraphischen Buche Peli’a?', der mit klaren Beispielen aus dem Leben erklärt, das Gold sei deshalb in unserer Welt geachteter, weil wir im Äon des Goldes, der Macht des strengen Gerichts lebten. Er verlegt die richtige, den mystischen Verhältnissen ent­ sprechende Einschätzung in den Äon der Gnade, der dem unseren, unter der Herrschaft der Sefira Chessed stehenden, vorausgegangen sei.32 Eine solche Ausfüh­ rung steht offenkundig im Gegensatz zu alchemisti­ schem Denken. Unklar ist, ob Sohar I, 249b-2joa, unter alchemisti­ schem Einfluß steht. Dort heißt es zuerst, wären nicht die wilden Tiere, die in den Bergen, wo das Gold wächst, hausen, so gäbe es keine Armen unter den Menschen. Dann heißt es weiter, der Einfluß der Sonne lasse das Gold wachsen.33 Andererseits haben gerade 30 So im Buche Temuna zum Buchstaben Schin, Lemberg 1892» Bl. 22 a/b und 62a/b: »was in der einen verboten ist, ist in der anderen erlaubt«. 31 Peli’a, Koretz 1784, BL 16c. 32 Ein anderer Versuch, die Höherschätzung des Goldes in unserer Welt zu er­ klären, weil das Silber zu subtil und damit eher den wenigen spirituell offen sei, während die Menge das härtere, gröbere Gold suche, findet sich in Naftali Bacharach, lemeq hamelech, Amsterdam 1648, Bl. 28d-29a. Noch anders erklärt eines der Häupter der Chabad-Chassidim, R. Baer ben Schneur Salman, dieses Verhältnis, das Silber sei nur einfache Gnade, während das Gold einen Über­ schwang an Gnade dafstelle und daher im Range über dem Silber stände. 33 Dasselbeauch noch II, 236b. Daß die Metalle »wachsen« wie Pflanzen, ent­ spricht nicht nur schon den alexandrinischen Vorstellungen (z. B. bei Silberer, S. 75), sondern auch Theorien, wie sie z. B. von dem arabischen Alchemisten des 12. Jahrhunderts, dessen Schriften unter dem Namen eines Artephius ins Lateinische übersetzt oder so verfaßt wurden, vertreten worden sind. Nach ihm wachsen die Pflanzen aus Wasser und Erde, während die Metalle aus Schwefel und Quecksilber entstehen. Die Hitze der Sonne durchdringt die Erde und verbindet sich mit diesen Elementen in der Bildung des Goldes

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die Gegner der Alchemie aus dieser »natürlichen« Be­ ziehung der Sonne zum Gold ein Argument gegen die Möglichkeit künstlicher Metallverwandlung ge­ schöpft. So sagt Juda ben Salomo aus Toledo: »Die Ge­ lehrten glauben, das Gold entsteht in der Natur wäh­ rend langer Zeitläufte, während die Alchemie das in kurzer Frist erwirken zu können glaube.«34 Etwas an­ ders stellt der Sohar II, 172 a, diesen Einfluß dar, wo unter astrologisch-alchemistischer Inspiration der Ein­ fluß der Sterne auf das »Wachstum« der Metalle be­ sprochen wird, wofür der Autor sich auf ein (fingier­ tes?) »Buch des Königs Salomo über die Wissenschaft von den Edelsteinen« beruft, was sich wohl auf eines der vielen Lapidarien beziehen mag, die im Mittelalter weit verbreitet waren. Vorher wird dort aus einem an­ geblichen »Buch der höheren Wissenschaft der Mor­ genländer«, in dem von magischen Heilmitteln und Edelsteinen gehandelt sein soll, eine verwandte Vor­ stellung angeführt, wonach eine besonders wertvolle Goldart auf den hohen Bergen wachsen soll, wo nur wenig Wasser ist, worüber hier aber gerade die Kome­ ten, nicht die gewöhnlichen Sterne herrschen sol­ len.35 Ein stark alchemistisch beeinflußtes Stück findet sich vor allem im Sohar II, 2jb-24b, wo sich zwar keine al­ chemistischen Behauptungen im engeren Sinne finden, (Encycl. Judaica, englisch, II, col. $44). Die Angabe dort, col. 547, daß Artephius ein getaufter Jude gewesen sei, kein Araber, dürfte nicht stimmen. Über Artephius vgl. auch Waite, S. 111 -112. 34 Vgl. Jeschxrun IX, S. 85. 35 Merkwürdig ist auch die Stelle II, 188 a, wo es im Zusammenhang mit Nachrichten über die heidnische Sonnenanbetung heißt, daß die Sonnenanbe­ ter durch uralte Tradition im Besitz von Kennzeichen an der Sonne seien, durch die sie die Plätze, wo Gold und Perlen existieren, ausfindig machen. Das wird dort ausführlicher geschildert.

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aber ein ganzes System alchemistischer Symbolik ange­ boten wird. Eine wörtlich entsprechende Parallele zu diesem Passus findet sich in den hebräischen Schriften des Moses de Leon, der als Autor des Hauptteils des Sohar zu betrachten ist.36 Ein Vergleich im einzelnen würde zeigen, daß die Priorität auch hier dem zuerst verfaßten pseudoaramäischen Sohar zukommt, den der Autor in seinen später verfaßten hebräischen Schriften dann teils abschreibt, teils paraphrasiert und weiter ausführt. Unter Zugrundelegung des Aristotelischen Schemas über die Beziehungen der vier Elemente zu den vier Qualitäten (warm, kalt, trocken, feucht)37 wird folgende Zuordnung der Elemente zu den Metallen und Himmelsrichtungen entwickelt, für die ich, bei meinen unzureichenden Kenntnissen in der älteren oder jüngeren alchemistischen Literatur, keine exakte Parallele finden38 konnte: 36 Die beiden Stellen stehen im scheqel ha-qodesch, London 1911, S. 118*122, und in dem langen Fragment einer noch unidentifizierten Schrift des Moses de Leon in München Hebr. 47, Bl. 366 ff. und 3 86 ff.; vgl. über diese Schrift meinen Aufsatz in MGWJ (1927), S. 109-123. Der alchemistische Charakter dieser Stelle ist von Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt II (1910), S. 452, erkannt worden; vor ihm schon 1860 von Ignatz Stern in der Zeitschrift BenChananja III, S. 178, wonach »bei den Metallen [im Sohar] ein Stück Alchymie durchschimmert«. 37 Dieses Schema entwickelt Aristoteles, worauf schon A. Jellinek, Beiträge zur Geschichte der Kabbala I (18 51), S. 38, hingewiesen hat, in De generatione et corruptione II, 1-3. Der Sohar muß nicht gerade die 1250 von Moses ibnTibbon beendete Übersetzung benutzt haben, sondern kann ebensogut aus mittel* baren, von Aristoteles gespeisten Quellen geschöpft haben, die für die An* schauungen, um die es sich hier handelt, sehr zahlreich sind. Aristoteles sagt ausdrücklich, daß diese vier Qualitäten bei der Hervorbringung der Metalle wirksam sind. 38 Auch Lippmann und Julius Ruska haben in ihren grundlegenden Werken nichts Derartiges. Die der Kabbala entsprechende Zuordnung des Goldes zum Norden ist sonst alchemistischer Symbolik fremd und stammt aus Hiob 37:22, »Aus dem Norden kommt das Gold«, der im Talmud freilich auf den Nord* wind bezogen wird, der das Gold wohlfeil mache (warum, wird nicht erklärt); vgl. Baba Bathra 25 b.

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»obere Merkabha«

1

primäre Metalle

|

»untere Merkabha«

1

sekundäre Metalle

J

Feuer Norden Gold

Wasser Süden Silber

Wind Osten Kupfer

Erde Westen Eisen

Messing

Blei

Zinn59

Eisen (Stahl?)

Die sekundären Metalle sollen aus den primären durch Verbindung ihres Elementes mit Erde hervorge­ hen. Des langen und breiten werden die Verwandlun­ gen und Beziehungen dieser Gruppe untereinander vorgeführt, durchgehends in auffallend formelhafter Weise. In den beiden Paralleltexten des Moses de Leon wird dazu noch die biblische Symbolik der vier Para­ diesesströme und der zwölf Rinder des ehernen Meeres im Tempel Salomos herangezogen. Freilich ist der eine Text bei Moses de Leon im Druck (und auch in den Handschriften, die ich eingesehen habe) an der betref39 Die Terminologie ist beachtenswert. Für Zinn schreibt der Sohar das alte talmudisch-griechische kassitra (xaao(reQog), welches im Talmud meistens schlechter transkribiert wird. Erklärend fügt unser Sohartext diesem später of­ fenbar nicht mehr geläufigen Wort hinzu: »welches ein niedrigeres [wörtlich: kleineres] Kupfer ist«. Ebenso schreibt auch Moses de Leon a.a.O., S. 122, ohne das alte Wort überhaupt zu nennen, nur nechoscheth tachton, »eine niedrigere Form von Kupfer«. Für Messing schreibt Moses de Leon a.a.O. »gelbes Kup­ fer, Metall der Erde«. Das erste dieser Synonyme stammt aus Esra 8:27. Der Name ist für Messing international und auch im Mittelalter weit verbreitet; vgl. Lippmann, S. 571 ff. Der Sohar gibt eine Definition dieses Metalls als einer gel­ ben Schlacke, die dem Gold ähnlich ist. Die Übersetzung der Stelle bei Jean de Pauly Bd. III, S. 121, ist voller Fehler. Seine Anmerkung dazu in Bd. VI, S. 279, wo in dieser alchemistischen Kosmologie die »heilige Dreieinigkeit« gefunden wird, gibt über die Qualität dieses Übersetzers genügenden Aufschluß. So wie Messing eine Schlacke des Goldes ist, so wird das Blei noch an einer anderen Stelle als ein Abfall oder Metallschmutz des Silbers bezeichnet, in der Fortset­ zung des Soharstücks über Physiognomik, die erst im Sohar Chadasch, Bl. 33 d, gedruckt ist. Hier werden die mystischen Transformationen Adams in die Erz­ väter beschrieben, wobei Adam zu Abraham durch einen Prozeß transformiert wird, in welchem das Silber »einen Schmutz hervorbringt, der nach außen als Blei hervortritt«. Dieselbe Anschauung wiederholt die Rezension der Physio­ gnomik in den Tiqqune Sohar, Nr. 70, Bl. 128 b. Auch der vom selben Autor wie die Tiqqumm verfaßte Soharteil Ra *ja Mehemna kennt III, 124 a, das Blei als »Schmutz« oder Abfall beim Ausschmelzungsprozeß des Silbers.

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fenden Stelle etwas korrupt, läßt sich aber inhaltlich si­ cher korrigieren. Hier findet sich nun eine ausdrückli­ che Erwähnung der Alchemisten: »Das Kupfer ist rot und bringt die Naturen beider [vorher erwähnten Ele­ mente Gold und Silber] hervor, denn die, die das >Werk< kennen, machen aus ihm Silber und Gold.«40 Diese Bezeichnung der Alchemisten 7toiT]Tai, artistae, ist eine hier ins Hebräische übertragene feststehende Formel für das »Werk« im Sinne des »großen Werks« der Alchemie, die in der hebräischen Literatur auch 40 Der hebräische Terminus heißt hier ha-jod'im ba-melakha. Auch in der he­ bräischen Übersetzung des (in Anm. 22 erwähnten) Buches Em ha-Melech hei­ ßen die Alchemisten Ba'ale ha-melakha, Schon D. Chwolson, Die Ssabier und der Ssabismus, St. Petersburg 1856, S. 660, gibt diesen Ausdruck als die Be­ zeichnung neben Ba'ale HaOmanuth * als die technischen Termini der spani­ schen Juden für Alchemisten an, ohne seine Quellen dafür zu nennen. Ein ein­ zelnes Detail der alchemistischen Arbeit heißt Pe'ula, die große Arbeit dagegen Melakha, so daß zum Beispiel am Anfang von Em ha-Melech »die Ausführung des großen Werkes« hebräisch mit Pe'ulath ha Melakha wiedergegeben wird. Der Terminus Melakha in diesem prägnanten Sinn ist auch noch im 16. Jahr­ hundert geläufig, so zum Beispiel bei Moses Cordovero, Pardes Rimmonim, Krakau 1592, Bl. 72 b, und Simon ibn Labi in seinem großen Soharkommentar Kethem Pas, der erst in Livorno 179$ gedruckt wurde, Bl. 44$ a. Das in der Ge­ schichte der Magie bekannte, deutsch und englisch aus verschiedenen Hand­ schriften, angeblich aus einer hebräischen Handschrift von 1387, übersetzte Werk Des Juden Abraham von Worms Buch der wahren Praktik in der uralten göttlichen Magie, das angeblich in Köln 172 5 erschienen sein soll (in Wirklich­ keit wohl erst um 1800), habe ich eine Zeitlang für wirklich jüdischen Ur­ sprungs gehalten; vgl. MGWJ 69, S. 95, und Bibliographia Kabbalistica (1927), S. 2. Diese früher weitverbreitete Meinung habe ich aufgegeben, seitdem ich klare Hinweise auf die Schriften des Pico della Mirandola und dessen Neben­ einanderstellung von Kabbala und Magie nicht nur im Titel, sondern auch im Text des Buches fand. In Wirklichkeit stammt das Buch aus dem 16. Jahrhun­ dert und ist von einem Nichtjuden verfaßt, der aber in der Tat auffällig gute hebräische Kenntnisse verrät. Auch dieser Autor benutzt (IV, 7 - nur im deut­ schen Text!) den Terminus Melakha für Alchemie. Übrigens ist dies das Werk, das in seiner englischen Ausgabe durch S. L. Mathers als The Book of the Secret Magie of Abra-Melin the Mage, as delivered by Abraham the Jew weite Ver­ breitung in okkultistischen Kreisen erlangt hat. Mathers wußte nichts von dem deutschen Original, das noch in vielen, zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zu­ rückgehenden Handschriften erhalten ist.

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sonst Jahrhunderte hindurch gebraucht wurde.41 Ob­ wohl weder Moses de Leon noch die erwähnte Soharstelle ausdrücklich auf die Sefiroth Bezug nehmen, scheint es kaum zweifelhaft, daß den vier Elementen und vier primären Metallen die vier Sefiroth Chessed, Gebhura, Tifereth und Malkhuth entsprechen, also Kupfer die Vereinigung von Gold und Silber in Tife­ reth darstellt und Malkhuth das Eisen. Wenn man von einer Arbeit am mystischen Aufstieg von der untersten Sefira oder von der Purifikation der Metalle ausgeht, so entspricht die unterste Sefira, ließe sich denken, der prima materia, mit der das alchemistische »Werk« be­ ginnt. Kupfer wäre dann das Vorstadium, aus dem Gold und Silber entwickelt werden, respektive in dem sie noch zusammengefaßt enthalten sind. Dies ent­ spricht auch der Deutung des Kupfers an einer anderen Stelle des Sohar II, 138b, wo die in Exod. 25:3 aufgezählten Materialien, die beim Bau der Stiftshütte ge­ braucht werden, Gold, Silber und Kupfer, besprochen werden. Dort heißt es, das (vorwiegend rötliche) Kup­ fer vereinige in sich die Farben, das heißt aber auch die Qualitäten von Silber und Gold, wobei die des Goldes vorherrsche. Dies entspricht genau der eben zitierten Stelle bei Moses de Leon, wo die Alchemisten ja direkt genannt werden.42 Daß das Kupfer in der Tat bei vielen Alchemisten als Vorstadium des Silbers und Goldes galt, ist bekannt, wie denn schon Zosimos die drei Sta­ dien des Kupfermenschleins, Silbermenschen und Goldmenschen in seiner auch später noch viel zitierten alchemistisch-mystischen Vision kennt (Lippmann, 41 Noch im 17. Jahrhundert ist dieser Sprachgebrauch dem Autor des weiter unten zu besprechenden Buches Esch Mezaref geläufig. 42 Die Deutung bei Waite, The Secret Tradition in Alchemy, S. 390, auf Nezach und Hod ist, wie so vieles dort, falsch.

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S. 80). In der Generation nach dem Sohar wird die hier besprochene Stelle II, 23 b ff. manchmal einfach be­ nutzt, es treten aber auch andere Zuordnungen der Me­ talle zu den Himmelsrichtungen und den Sefiroth auf, denen ein vom Sohar ganz abweichendes Schema zu­ grunde liegt.43 Die Farbsymbolik des Goldes teilt sich zwischen Gelb und Rot. In der oben besprochenen Soharstelle II, 171 b, tritt Gelb als Farbe des Goldes auf, wie auch in dem erwähnten Stück bei Moses de Leon im scheqelhaqodesch (S. 120), wo es heißt: »Das Gold entsteht aus und ist verbunden mit dem Geheimnis des Feuers und der Seite des Nordens, denn wenn die natürliche Wärme an Kaltes herankommt, gebiert sie eine Natur, deren Art gelb ist, und das ist das Geheimnis des Gol­ des. Das Silber ist mit dem Geheimnis des Wassers und der Seite des Südens verbunden, denn wenn das Wasser und die Sonne sich miteinander vereinigen, entsteht eine weiße Natur, die das Geheimnis des Silbers ist. Das Kupfer aber ist rot und bringt die Natur der beiden [Gold und Silber] hervor, denn die das >Werk< kennen, vermögen aus ihm die Natur des Silbers und Goldes herauszubringen.« Sonst aber spielt stets Rot die Rolle der Farbe des Gol­ des. Goldsymbolik, wie sie im Sohar sich an mehreren 43 Der um 1300 in Spanien schreibende Kabbalist Josef aus Hamadan in Per­ sien hat diese Soharstelle in seinem Werk über die Stiftshütte, Ms. British Mu­ seum, Margoliouth 464, Bl. 31b, benutzt und mit den acht Kleidern des Ho­ henpriesters in Verbindung gebracht. Aus den acht Kleidern Gottes, die denen des Hohenpriesters entsprechen, kommen die acht Metalle. Der Autor zählt aber wie der Sohar nur sieben auf, wobei er für Messing und Zinn Umschrei­ bungen gebraucht wie: »eine andere [niedere?] Art von Gold« (s. Anm. 39), und »poliertes Kupfer« (dies aus 2. Chron. 4:16). Andere Schemata der Zuord­ nung der Metalle zu den vier Himmelsrichtungen geben Isaak von Akko, me'irath 'enajim, München Hebr. 17, Bl. 27b, sowie, wiederum abweichend, der anonyme Autor von ma'arekhet ha-'elohut, Ferrara 1558, Bl. 223a.

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Stellen findet, beruht vor allem auf einer Stelle im baby­ lonischen Talmud, Joma 44b, die auch verschiedene Parallelen in den Midraschim hat, wo aus der Bibel sie­ ben Arten des Goldes aufgezählt werden.44 Übrigens kennt die erwähnte Talmudstelle schon den Wechsel der Farben des Goldes von Gelb zu Rot. In zweifelloser Anlehnung an alchemistisches Denken wurden diese sieben Goldarten von manchen Kabbalisten mystisch ausgedeutet, so etwa auf den Komplex der sieben unte­ ren Sefiroth. Merkwürdig ist hier eine Stelle in dem Soharstück über Physiognomik II, 73a, das den Sonderti­ tel rasa de rasin, »Geheimnis der Geheimnisse«, führt, der offenkundig dem im Mittelalter weit verbreiteten Titel secretum secretorum eines pseudoaristotelischen Traktates über Politik, in dem auch Physiognomik be­ handelt wurde, entspricht.45 Hier wird die Symbolik der sieben Goldarten für die Schilderung von Davids Gesicht benutzt: »Im Adamsbuch46 habe ich gesehen, daß folgendes steht: die Formen [des Gesichts] des er­ sten Erlösers47 ähnelten dem Monde. Seine Farbe war grünliches Gold in seinem Gesicht, seine Farbe war Ophirgold im Barte, seine Farbe war Sabagold in den 44 Ähnlich auch in dem Midrasch zum Hohen Lied 3:17 und in Bamidbar rabba Sektion 12» in der deutschen Übersetzung von August Wünsche (1885), S. 282. 45 Vgl. dazu Steinschneider, Hebräische Übersetzungen, S. 245-259, und M. Gaster, Studies and Texts, Vol. II (1925), S. 742-813. 46 Die zwanzig Hinweise, die sich im Sohar auf ein solches Adamsbuch fin­ den, haben keinen einheitlichen Charakter. Ob an dieser Stelle ein wirkliches Zitat vorliegt, wofür die sehr formelle Stilisierung sprechen könnte, kann nicht mehr als eine Vermutung sein. Den meisten dieser Zitate schaut der fiktive Cha­ rakter aus jedem Wort, besonders denen über kabbalistische Gebetsmystik. 47 Im allgemeinen wird unter dem ersten Erlöser oder Messias Moses verstan­ den, während die Beziehung auf David eher schon auf entschieden kabbalisti­ sche Symbolik hindeutet. Die Relation Davids zum Monde gehört zum eiser­ nen Fonds der kabbalistischen Symbolik und ist in den Symbolschatz für die letzte Sefira eingegangen, die ja auch »das Reich« (Davids oder Gottes) heißt.

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Augenbrauen, seine Farbe war Parwajimgold in den Wimpern über den Augen, seine Farbe war Sagurgold48 im Haupthaar, seine Farbe war Feingold4’ auf der Brust über dem Herzen, seine Farbe war Tarschischgold auf beiden Armen. Alle diese sieben Arten waren an all je­ nen Orten seiner Behaarung eingezeichnet.« Diese Stelle, die David, obwohl er dem Mond (bei den Alche­ misten dem Silber!) entspricht, in allen sieben Arten des Goldes strahlen läßt, scheint mir bei aller ihrer Un­ durchsichtigkeit doch auffällig und bemerkenswert. Daß die Rothaarigkeit Davids, von der das Buch Sa­ muel erzählt, zur Goldsymbolik drängt, ist einleuch­ tend, und es ist noch merkwürdig genug, daß außer an dieser Stelle solche Goldsymbolik gegen die Mondrela­ tion nirgends aufgekommen ist. Die Tiqqunim ha­ ben dann, kurz nach Abfassung des Hauptteils des Sohar, die sieben Arten von Gold auch auf die Haare übertragen.50 Der Sohar selbst weiß III, 206b, auch noch, daß die Augen Davids aus allen Arten der Far­ ben gewirkt waren und daher auf der Welt kein Auge von solcher Schönheit wie das Davids existiert habe. Zwei völlig entgegengesetzte Deutungen dieser Art, von denen die eine dem klassischen Schema sich einfügt und die sieben Arten des Goldes dem Silber unterord­ net, die zweite dagegen sich in der Tat liest wie eine my48 Diese Goldarten werden in der Bibel genannt, meistens nach ihren geogra­ phischen Ursprungsorten. Das »verschlossene Gold« stammt aus I Könige 6:20, wo es eigentlich gepreßtes oder geplättetes Gold bedeutet. Der Talmud deutet das Beiwort dahin, daß, wenn dies Gold verkauft wird, alle anderen Lä­ den schließen. Von daher war dann der Übergang zur kabbalistischen Deutung als der höchsten, mystischen Goldart leicht. 49 Diese Goldart wird in I Könige io: 18 unter den Bestandteilen des Salomo­ nischen Thrones erwähnt. 50 Tiqqunim Nr. 70, BI. 123 b.

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stische Meditation in alchemistischen Termini, stehen im Sohar direkt hintereinander, als ob der Autor einer geläufigen Deutung eine weit tiefere folgen lassen wollte. So allein läßt sich bei der sonstigen Einheitlich­ keit dieses ganzen Soharstückes diese Folge verstehen, wo die zweite Deutung sich paradoxerweise als Fort­ setzung der ersten gibt, obwohl sie sie aufhebt. Ich lasse diese zweite Stelle in wörtlicher Übersetzung folgen. Um ihre Umdeutung im Sinne der rezipierten Kabbala haben sich die Kommentatoren des Sohar viel Mühe ge­ geben. Knorr von Rosenroth zitiert sie, ohne auf ir­ gendeinen Zusammenhang mit Alchemistischem auf­ merksam zu machen, in seiner Kabbala Denudata I, S. 298. Seine Übersetzung ist, wie sie ohne Erläuterung dasteht, unverständlich, zum Teil auch unrichtig. Die kurze Paraphrasierung der Stelle in der französischen Übersetzung von de Pauly IV, S. 65, ist völlig wertlos. Alles im folgenden in eckigen Klammern Stehende sind natürlich - wie schon vorher - Ergänzungen von mir: »Aber es heißt doch, daß es sieben Arten von Gold gäbe? Und wenn du meinst, da doch Gold die Strenge ist und Silber die Liebe, wie kann da das Gold über ihm [dem Silber] stehen ?51 - so ist dem nicht so. Denn in der Tat steht das Gold höher als alles, aber [nicht das ge­ wöhnliche, natürliche Gold, sondern] es ist dies Gold auf mystische Weise52, und das ist >höheres mystisches GoldGottesfurchtmystischen FreudeStrenge< ist, [nämlich] wenn es aus jener Farbe55 in die blaue, schwarze und rote Farbe übergeht, dann ist es [Gold in der Region der] >harten Strengen Aber das [wahre] Gold gehört der >Freude< zu 53 Die folgende farbenmystische Meditation beschreibt offenbar verschiedene Zustände nicht des natürlichen, sondern des mystischen Goldes in der Seele. Daß sie den Kommentatoren des Sohar viel Kopfzerbrechen gemacht haben, ist ein indirekter Beweis dafür, daß diesen späteren Autoren vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts die mystische Umdeutung und Anwendung alchemistischer Symbole, welche hier so unzweideutig hervortritt, großenteils fremd war. Üb­ rigens steht eine verwandte Homilie über Gold und Silber, wobei Gold auf die höhere Sefira Bina, vielleicht sogar auf Chochma, die obere Sophia, bezogen wird, in dem zwischen 1280 und 1290 verfaßten scha'ar ha-rasim des Todros Abulafia in Toledo, Hs. München Hebr. 209, Bl. 53b. In diesem Buch werden schon einige Stücke aus dem Sohar benutzt. 54 Furcht und Liebe sind die höchsten Zustände der Seele in ihrem Verhältnis zu Gott, wobei die Kabbalisten diese Gottesfurcht der höchsten Stufe auf die Sefira Bina beziehen, die über Chessed, der Sefira der Liebe, steht. In den ge­ druckten Texten fehlt hier die Genitivpartikel (dechiiu statt de-dechilx). 55 Gawwan, hier aber vielleicht wie sehr oft im Sohar einfach in der Bedeu­ tung: Seinsweise, Zustand, Qualität. Der Sinn ist: dasjenige Gold, das dem Stande der Strenge zugebrdnet ist, die klassische Symbolik der Kabbala, ist gar nicht das höchste, mystische Gold, welches vielmehr der höchsten auf dem Wege der Meditation erreichbaren Stufe, der der »Gottesfurcht«, entspricht. Da in der spanischen Kabbala des Sohar und in den Schriften des Moses de Leon dieser oberste Grad in die Sefira Bina verlegt wird, über die hinaus Meditation (im Hebräischen des Moses de Leon hithbonenuth) nicht vorzudringen ver­ mag, die Liebe aber nach Chessed, die auf Bina folgende Sefira, so ergibt sich die These der vorliegenden Explikation über den Stand des wahren Goldes über dem Silber.

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und hat seinen Ort da, wo die Gottesfurcht der Freude aufsteigt und wo die Freude sich erhebt.56 Das Silber aber ist darunter, [dem] Mysterium des rechten Armes [entsprechend], denn das höchste [mystische] Haupt ist ja von >GoldDu bist das Haupt von Gold.< >Seine Brust und seine Arme von Silben [ibid. 2:32; aber deutet auf die] untere [Region]. Wenn aber das >Silber< vollkommen wird, dann ist es im >Gold< enthalten. Und das ist das Geheimnis [des Ver­ ses. Spr. 25:11]: >Goldene Apfel in silbernen Schalem. So ergibt sich, daß [in der wahren Vollendung] das Sil­ ber zu Gold wird57, und dann ist sein Ort vollkommen. Und darum gibt es sieben Arten des Goldes.58 Und [auch] das Kupfer geht aus dem Golde hervor, wenn es zum Schlechteren verändert wird, und das ist der linke Arm, blau ist der linke Schenkel und purpurrot der rechte Schenkel und er ist im linken enthalten... Das >höhere [mystische] Gold< aber ist ein verborgenes Ge­ heimnis und sein Name ist verschlossenes Gold< [nach 56 Hier spielt vielleicht der Gedanke der simcha sehet mizwa hinein, der Freude, die in dem Vollzug der Gebote liegt. Das Tun des Gottesfürchtigen ist freudig und gebiert Freude. 57 Der Gebrauch des Verbums ithhaddar im Sinne von »werden« ist im Sohar sehr häufig und entspricht dem mittelalterlichen Sprachgebrauch des entspre­ chenden hebräischen Verbums. 58 Dies »darum« wird aber erst durch das nun Folgende erklärt. Der Sinn ist: Der Mensch ist aus sieben HauptgHedem konstituiert (vgl. im Buch Bahir §§55, 114 und 116, und so auch oft im Sohar), welche den sieben Sefiroth von Bina bis Jessod entsprechen - so tritt auch hier in den im folgenden weggelasse­ nen Zeilen Byssus als Farbsymbol von Jessod auf - oder aber den sieben Stadien, die der Mensch in seinen Meditationen durchmessen kann. In ihrer Harmonie im Leibe des Urmenschen oder Makroanthropos sind alle Gold, freilich von mehr oder weniger geringem Range. Wer systematisch die geistige Urgestalt des Menschen in sich herstellt, der verwandelt seine Seele, die in den betreffen­ den Regionen durch »Kupfer«, »Silber« usw. dargestellt ist, in Gold, wenner bis zur höchsten Stufe, dem Haupt, d. h. der oben Gottesfurcht genannten Re­ gion Bina vordringt, von der aus erst alle singulären Teile nach der mystischen Anschauung ihren wahren Ort erhalten.

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I. Könige 6:2o]5’, verschlossen und verborgen vor al­ len, und darum heißt es verschlossen, weil es dem Auge verschlossen ist, so daß es keine Macht darüber hat [d. h. es nicht wahrnimmt]; das >untere Gold< aber ist schon eher wahrnehmbar.«59 60 Deutlicher als es in diesem charakteristischen Stück kabbalistischer Theosophie geschieht, haben auch die christlichen und gnostischen Mystiker und Alchemi­ sten das »Gold« in der Seele des Menschen nicht ge­ schildert. Diese Stelle ist die einzige im ganzen Sohar, welche expressis verbis die Metallverwandlung des Sil­ bers zu Gold für mystische Deutungen benutzt, also in der natürlichen Welt als eine Tatsache voraussetzt. Wä­ ren die in dem oben erwähnten Bahirfragment § 36 und hier zum Ausdruck kommenden Tendenzen echt al­ chemistisch gerichteter Symbolik in der Kabbala zum Durchbruch gelangt und nicht vielmehr im großen und ganzen aus ihr eliminiert worden, so würde sich frei­ lich eine wesentliche Verwandtschaft der beiden Strö­ mungen mit Fug behaupten lassen. Der völlige Gegen­ satz dieser Stelle zu der oben besprochenen im Sohar II, 197b, und der ihr entsprechenden Auffassung bedarf keiner weiteren Verdeutlichung. Zum Vergleich mit ähnlichen Schilderungen des »philosophischen Gol59 Diese Soharstelle hat offenkundig Moses de Leon im Sinn, wenn er in scheqel ha-quodesch, S. 46, schreibt: »Sie [die Weisen, gemeint sind die des Sohar, dessen Lehren der Autor in seinen hebräischen Schriften schon als alte Weisheit der Mischnalehrer zu verbreiten sucht] sagen, daß die wertvollste unter allen Goldarten das verschlossene Gold ist, denn dies ist ein Gold, das dem Auge ver­ schlossen und überhaupt Allem verschlossen ist.« 60 Auch dieser Schluß drückt klar aus, daß hier nicht von natürlichen Metallen die Rede ist. Diese ganze, in der Tat nicht einfache Stelle kann auch einen Be­ griff davon geben, welchen Schwierigkeiten Übersetzung und Sinnerklärung der eigentlich kabbalistischen Stücke im Sohar begegnen, wenn man beim prä­ zisen Sinn bleiben will. Kein Wunder, daß gerade diese Stücke in der französi­ schen Übersetzung von de Pauly besonders fehlerhaft sind.

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des« - wie der alchemistische Mystiker eben das nennt, was dem Sohar »mystisches Gold« sahab 'ila’a heißt zitiere ich etwa ein Stück, das in Silberers Buch (S. ioi) aus Isaak Hollandus angeführt wird: »Die Philosophen haben viel von ihrem Blei geschrieben... und ich bin der Meinung, daß dieses saturnine Werk nicht zu ver­ stehen ist von dem gemeinen Blei, sondern von dem Blei der Philosophen. Wisse, mein Kind, daß der Stein, genannt der Stein der Philosophen, aus dem Saturn kommt. Und wisse als eine Wahrheit, daß in dem gan­ zen vegetabilischen Werk [so genannt wegen der Sym­ bolik des Säens und Wachsens] kein größeres Geheim­ nis ist als im Saturn. Denn wir finden selbst im [gemei­ nen] Gold nicht die Vollkommenheit, die im Saturn zu finden ist, denn innerlich [pneumatisch verstanden] ist er gutes Gold. Darin stimmen alle Philosophen über­ ein, und es ist nur notwendig, daß du zuerst alles entfer­ nest, was darin überflüssig ist. Dann, daß du das Innere nach außen wendest, welches die Röte ist: dann wird es gutes Gold sein... All die seltsamen Parabeln, in denen die Philosophen mystisch von einem Stein, einem Mond, einem Ofen, einem Gefäß geredet haben - alles das ist Saturn [d. h., alles das ist vom Menschen geredet]; denn du darfst nichts Fremdes hinzutun, außer was aus ihm selbst entspringt. Es ist keiner auf der Welt so arm, daß er nicht das Werk unternehmen und ausführen könnte.« Die sieben Grade der alchemistischen Reini­ gung, die den so viele mystische Systeme durchziehen­ den Stufen der Kontemplation entsprechen und für ei­ nen inneren Prozeß der Integration stehen, kennt schon Zosimos.61 Daß die alchemistische Redeweise und Symbolik even­ 61 Silberer, S. 190; Lippmann, S. 79-81.

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tuell auch auf einzelne ihr an sich fremde Gebiete der kabbalistischen Symbolik übergegriffen und gewirkt haben mag, ist nicht auszuschließen. Mir sind zwei sol­ che mit großer Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit aus der alchemistischen Terminologie stammende Symbo­ liken aufgefallen, die freilich im Sohar eine ganz andere Entwicklung genommen haben. Die eine betrifft die kurzen mystischen Sätze, die eine Art Hexeneinmaleins zu enthalten scheinen, vor allem im Sohar I, 77a, dann aber auch I, 32b und 72b; II, 12b und 95a; III, 162a: »Eins steigt auf nach der einen Seite, Eins steigt hinab nach der andern Seite, Eins tritt ein in Zwei, Zwei erregt sich zu Drei, Drei tritt ein in Eins usw.« Oder »Zwei sind Eins und Eins ist Drei« - Sätze, deren Wortsinn aus dem Zusammenhang oft unschwer festzustellen und weit weniger aufregend ist, als die pa­ thetische Formulierung vermuten läßt. Aber gerade diese äußere Form interessiert. Die Sätze klingen wie alte Formeln, denen hier eben ein passender Sinn unter­ gelegt wird. Solche Verwendung alter, unverständlich gewordener Formeln läßt sich schon im Buche Bahir nachweisen. In der Tat haben nun gerade in der Alche­ mie Sätze, die diesen hier verzweifelt ähnlich sehen, eine große Rolle gespielt. Ich habe schon gesagt, daß in der ältesten alchemistischen Literatur als große Autori­ tät eine (fiktive) »Maria die Jüdin« auftritt. Ihr wird der folgende, von den Alchemisten des Mittelalters zwar auch nicht mehr verstandene, aber als alchemistisches Mysterienwort62 durch die Jahrhunderte tradierte Satz 62 Solcher Formeln gab es viele. Am berühmtesten ist wohl der Satz: »Natur freut sich der Natur, Natur überwindet die Natur, Natur besiegt die Natur«, den übrigens auch der Kabbalist Josef Gikatila, Zeitgenosse des Sohar, in sei­ nem Kommentar zur Pessach-Haggada, in dem Jerusalemer Druck S. 16, an­ führt (das Buch ist dort fälschlich dem Salomo ibn Adreth zugeschrieben).

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zugeschrieben: »Zwei sind Eins, Drei und Vier sind Eins, Eins wird Zwei, Zwei wird Drei und aus dem Dritten wird das Eine als Viertes.«63 Dieser Satz findet sich auch noch in der ursprünglich arabischen, im Mit­ telalter aber vor allem in lateinischen Versionen weit verbreiteten alchemistischen Turba Philosophorum.M Waite hat in einem seiner frühen Bücher in der literari­ schen Form der Turba als Niederschrift von Reden in einer Versammlung der alten Philosophen eine gewisse Verwandtschaft und mögliche Beziehung zum Sohar finden wollen. Im Sohar nämlich gibt es einen wichti­ gen Teil, der den Titel Idra führt, in welchem eine Ver­ sammlung der (fiktiven) großen Adepten der Kabbala, des Rabbi Simon ben Jochai und seiner Schüler geschil­ dert wird, die der Reihe nach Reden über die mystische Gestalt der Gottheit und deren Geheimnisse halten. Er war dabei freilich von dem alten Irrtum geleitet, daß das pseudoaramäische Wort idra die Bedeutung Versamm­ lung, Synode, habe, der Bedeutung von turba entspre­ chend. Diese Bedeutung des Wortes ist aber geraten, oder besser gesagt, eine späte Erfindung.65 Die zweite Symbolik, die sich im Sohar an vielen Stel­ len findet66 und die ich nachweislich für alchemisti63 Vgl. dazu J. Ruska, Turba Philosophorum, Berlin 1931, S. 241; C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, S. 46. 64 Die Forschung über die Turba ist durch Ruskas Werk und die Studien zu diesem Text in Martin Plessner, Vorsokratische Philosophie und griechische Al­ chemie in arabisch-lateinischer Überlieferung, Wiesbaden 197$, auf ganz neue Grundlagen gestellt worden. 65 Vgl. A. E. Waite, The Doctrine and Literature of the Kabalah, London 1902, S. 460. Den soharitischen Sprachgebrauch des Wortes 'idra hat Jehuda Liebes in seiner Jerusalemer Dissertation »Studien zur Lexicographie des So­ * har (hebräisch, 1977) genau analysiert. 66 I 48 a, $2 a, 62 b, 73 a, 109b, 118 b, 161 b, 193 a, 228 a; II, 24b, 104 a, 148 b, 149 b, 203 a, 224b, 236a-b, 27$ a; III, 51a, 84 b. So auch im Sohar Chadasch zum Hohen Lied (Warschau 1885, in der Pagination identisch mit der in Jerusalem 1953 erschienenen Ausgabe von Ruben Margulies), 58 b, 66b. Der ursprüngli-

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sehen Ursprungs halte, ist jene, mit der das Dämoni­ sche, die Hypertrophie der »linken« Weltseite, als »Schmutz des Goldes«, »Schlacke des Goldes« und »Abfall des Goldes« bezeichnet wird. Hier paßt die klassische kabbalistische Symbolik, welcher Gold das Symbol der linken Seite, der richterlichen Strenge ist, in gewisser Weise zu der alchemistischen, die das »philo­ sophische Gold« aus dem Schmutz und der Verschlacktheit der Metalle in der Natur oder in der Seele (d. h. aus den Seelenzuständen) herausschmilzt. Das Dämonische, das im Fürst der Linken Sammael vor al­ lem repräsentiert ist, ist aus einem hypertrophischen Übermaß der Strenge als ein Abfall oder Schmutz ent­ standen.67 Einer der hier gebrauchten Termini hittukha, wörtlich Ausschmelzung, setzt die Vorstellung eines Schmelzprozesses voraus, bei dem als Abfall die Schlacken oder der Schmutz Zurückbleiben. Hierher gehört auch die lange unerklärt gebliebene Terminolo­ gie, die an vielen Stellen des Sohar von sospitha de-dahaba spricht, welches Wort ausdrücklich als mit hittukha. identisch erklärt wird.68 Dieses Wort, das über ehe Sinn von hittukha als Aufschmelzung ist noch an Stellen wie II, i67bdeutlich: »Der Abfall [des Metalls] entsteht aus der Aufschmelzung«; vgl. dazu auch K. Preis, »Die Medizin im Sohar«, Monatsschrift für Geschichte und Wis­ senschaft des Judentums 72 (1928), S. 170, sowie den Artikel sospitha in der vor­ genannten Arbeit von J. Liebes, S. 336-338. 67 So im Sohar 1,161 b (tossefta) ausdrücklich: »Samael, der aus dem Abfall der übermäßigen Stärke Isaaks hervorgeht«, d. h. aus der Qualität des strengen Ge­ richts, die durch Isaak repräsentiert wird. Vom »Schmutz des strengen Ge­ richts« als dem Ursprung der »anderen Seite« spricht auch I, 74b. 68 II, 224 b und 236 b werden die beiden Begriffe durcheinander erklärt. Be­ merkenswert ist, daß außer an zwei nicht verständlichen Stellen, in denen es sich um mystische Formeln zu handeln scheint, I, 30a und tiqqunim 132b, das Wort stets in Verbindung mit dem Golde vorkommt. Eine sospitha des Silbers oder Kupfers gibt es im Sohar nicht. Vielleicht gab es einen festen alchemisti­ schen Terminus für Goldschmutz? I, 118b sagt sententios: »am Orte wo das Gold seinen Sitz hat, wird der Schlacke sospitha nicht gedacht«, was sich hier auf Isaak [die Strenge] und Ismael bezieht.

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den ganzen Hauptteil des Sohar verbreitet ist, konnte ich vor fünfzig Jahren nicht erklären und erging mich in irrigen Vermutungen. Aber auch Robert Eislers damals geäußerte Vermutung, daß das Wort aus einem angebli­ chen griechischen ouGoiitTT] (nämlich hyle, hebräisch ¡ussipta zu lesen) herzuleiten sei und die putrefactio, die Verwesung oder Fäulnis des Stoffes bedeutet6’, läßt sich, wie so viele seiner anderen in dieses Gebiet schla­ genden Vermutungen, nicht halten, wenn ich seiner Ableitung auch damals zugestimmt habe.69 70 In Wirk­ lichkeit ist der Ausdruck eine der von Moses de Leon künstlich aus talmudischen Worten weiterentwickelten Neubildungen, deren sich im Sohar viele finden. Im Talmud erscheint das Wort kuspa im Sinne von Spreu, Abfall ausgepreßter vegetabilischer Körper, z. B. ta‘anith 24b.71 Daraus ist im Sohar kuspitha geworden, das in verschiedenen Übergängen (z. B. Sohar I, 61 a ksospitha) zu sospitha geworden ist. Nun ist der Ausdruck suhama de-dahaba ein schon in den Schriften der soge­ nannten lauteren Brüder von Basra (10. Jh.) vorkom­ mender alchemistischer Terminus »Schmutz der Me­ talle«.72 Dieser Metallschmutz spielt natürlicherweise in allen alchemistischen Praktiken eine große Rolle. Der Autor des Sohar, der auch Arabisch konnte, hat hier einen geläufigen Terminus übernommen und kab­ balistisch benutzt. Die verschiedenen genannten Sub­ stantive Schmutz, Schlacke, Abfall gehen im Sohar durcheinander und haben alle die gleiche Bedeutung.73 69 Eisler in MGWJ 69 (192 j), S. 365. Eisler konnte aus den griechischen Wör­ terbüchern cnjO0T|ipiUnd siehe, die Engel Gottes steigen auf ihr hinauf und herabdicke Wasser< [die prima materia] sei Kether, das Salz Chokhma, der Schwefel Bina, und die unteren sieben [Sefiroth] repräsentieren die sieben Me­ talle, nämlich: Gedula [Chessed] und Gebhura, Silber und Gold; Tifereth Eisen; Nezach und Hod Zinn und Kupfer; Jessod Blei und Malkhuth würde [in solchem System] das metallische Weibliche und der >Mond der Weisen« sein, wie auch der Acker, in den die Aussaat der geheimen Mineralien ausgeworfen wird und, wie sich versteht, das Goldwasser, wie denn dieser Name in der Tat in Genesis 36:39 auftritt. Aber wisse, mein Sohn, daß hierin solche Mysterien verborgen sind, daß keines Menschen Zunge sie aussprechen kann. Ich aber will nicht weiter [wie es in Psalm 39:2 heißt] >mit mei­ ner Zunge sündigen, sondern will meinen Mund im Zaume Halten«« (so bei Knorr I, S. 116-118). 128 Eine ganz ähnliche Phraseologie finde ich in dem 1650 verfaßten Buch MagiaAdamica des Thomas Vaughan, fast am Ende: » Kennst du nun die erste Ma­ terie, so hast du das Heiligtum der Natur entdeckt; deren Tor öffne nun.« (In der deutschen Übersetzung, Leipzig 1735, S. 155, lautet der Satz nur wenig an­ ders: »Es ist nichts zwischen dir und ihren Schätzen, als die Tür, die in Wahr­ heit muß geöffnet werden.«)

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Ich habe den Eindruck, daß hier nicht viel von der Ein­ leitung fehlen wird und am Ende in der Tat eine Schluß­ formel steht. Zu diesem langen Zitat sind einige Bemer­ kungen angebracht. Sonderbar und schwerlich zu ir­ gendeiner sonst bekannten Sefira-Symbolik oder einer alchemistischen Rangordnung der Metalle passend ist das erste Schema, in dem es ziemlich bunt durcheinan­ dergeht. Daß die höchsten Sefiroth auch Blei und Zinn umfassen, scheint sehr künstlich und kabbalistisch kaum begreiflich. Die vorletzte Sefira Jessod ist hier­ nach das als Metall aufgefaßte Quecksilber, in einem männlichen Aspekt der Sexualsymbolik. Dies ent­ spricht in der Tat einigen Quellen, die ich oben ange­ führt habe.129 Nicht weniger auffallend ist auch die Be­ hauptung von der androgynen Natur des Kupfers, für die ich keinen Beleg aus alchemistischer Literatur ge­ funden habe, wenn sie sich auch aus der Symbolik der beiden kupfernen Tempelsäulen erklären könnte. Die »Medizin der Metalle« ist ein auch sonst bei den Alche­ misten gebrauchter Name für den Stein der Weisen, der offenkundig daher stammt, daß dieser Stein die Kraft hatte, die kranken, das heißt unedlen Metalle in ge­ sunde, das heißt edle zu verwandeln.150 Andererseits liegt ein Widerspruch vor, wenn in dem zweiten 129 Siehe oben Anm. 96. 130 Vgl. bei Silberer, S. 7$. Dieser Terminus wird in der hebräischen Literatur auch schon im 15. Jahrhundert von Simon ben Zemach Duran gebraucht» in sei­ nem Magen Abboth, Livorno 1785, Bl. 10a. Eine andere Symbolik des Esch Maaref für malkhuth ist das »Rote Meer«, aus dem das philosophische Salz, sal sapientiae, gewonnen wird und auf dem die Schiffe Salomos das Gold her­ beiführen (bei Knorr I, S. 346). Nun könnte natürlich die Medizin der Metalle auch die prima materia bedeuten, die ja den Stoff darstellt, aus dem die zur Hei­ lung der Metalle, d. h. zu ihrer Veredlung nötigen Tinkturen gewonnen wer­ den. (Der Ausdruck »Stein der Weisen« selbst kommt in den Exzerpten bei Knorr niemals vor.) Der Autor bezeichnet es an dieser Stelle als ein Mysterium, daß die Metallmedizin die unterste Sphäre, das Blei jedoch - im allgemeinen als das unedelste aller Metalle betrachtet - die nach Kether höchste Sefira

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Schema, das viel einleuchtender scheint, Malkhuth mit offenkundigen Symbolen der prima materia beschrie­ ben wird. Im achten Kapitel der Schrift (bei Knorr I, S. 456, zitiert) wird der Mond der Weisen ausdrücklich als die materia operis bezeichnet. Zugleich wird der Mond dort »als eine zum Weißen führende Medizin« bezeichnet, »weil er den weißenden Glanz von der Sonne empfängt«. Dieses zweite Schema ist vor allem in zwei Hinsichten bemerkenswert. Die Unterscheidung der drei oberen Sefiroth, die selber keine Metalle, son­ dern die Quellwasser der metallischen Dinge seien, von den sieben unteren, die wirklich die sechs Metalle und die materia prima darstellen, dürfte wohl beweisen, daß der Autor schon unter dem Einfluß der von Para­ celsus durchgeführten Neuerung steht, wonach neben Quecksilber und Schwefel das Salz ein solcher Grund­ bestandteil, hier Quellwasser genannt, aller Metalle sei. Das sogenannte »dicke Wasser« ist im 16. und 17. Jahr­ hundert manchmal ein Beiname des Merkur, das heißt des Quecksilbers, manchmal aber des Chaos oder der materia prima, was freilich dasselbe bedeuten kann. Unklar bleibt, wie der Autor sich die Zusammenhänge zwischen der letzten Sefira, die er so eindeutig mit der materia prima der Alchemie gleichsetzt, und der ersten Sefira, die zu den Quellwassern der Metalle gehört, ge­ dacht hat.131 Chokhma vertritt. Das könnte mit der schon erwähnten umgekehrten, spiegel­ bildlichen Rangfolge in unserer und der oberen Welt Zusammenhängen. Es ist aber schwer, hier überhaupt eine klare Rangordnung der Metalle nach der Ord­ nung der Sefiroth aufrechtzuerhalten, sondern alles geht ziemlich wild durch­ einander. 131 Besonders in den Schriften des englischen Theosophen Thomas Vaughan, der unter dem Namen Eugenius Philalethes schrieb, stehen lange Ausführun­ gen über die Gleichsetzung der prima materia mit dem Chaos und dem Queck-

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Zweitens ist in diesem Schema die skurrile Deutung von Genesis 36:39 auf die Purifikation des Quecksil­ bers bemerkenswert. Dieser Vers, der in der Tora die Aufzählung der edomitischen Könige, die noch vor den israelitischen in Edom geherrscht haben, mit der Nen­ nung der Gemahlin des letzten dieser Könige be­ schließt, hat in der Kabbala, wie hier nicht ausgeführt werden kann132, eine lange und sonderbare Geschichte. Die Stelle lautet: »Es starb [der König] Ba'al-Chanan... und an seiner Stelle herrschte Hadar, und der Name sei­ ner Stadt [war] Pa‘u und der Name seiner Frau Mehetabhel, Tochter des Matred, Tochter des Me-Sahabh.« Der letztere Name Me-Sahabh, wörtlich Goldwasser, als zweiter Name des Vaters suggerierte schon früh eine alchemistische Deutung, wie sie Abraham ibn Esra im 12. Jahrhundert in seinem Kommentar zur Stelle weg­ werfend erwähnt: »Einige finden hier eine Andeutung silber sowie mit dem »dicken Wasser«, so z. B. in der MagiaAdamica von 1650 und dem Lumen de Lumine von 1651. Ob diese Symboliken sich schon in dem 1597 erschienenen Buch des deutschen Alchemisten Heinrich Khunrath über das hylische Chaos finden, konnte ich nicht feststellen. Auch ein anderer Be­ griff im Esch Mezaref, der sicher nicht aus jüdischen Quellen stammt, aber auch der Auffassung Picos von Kabbala ganz fremd ist, ist Kabbala naturalis (bei Knorr I, S. 441), der sich ebenfalls in Vaughans Magia Adamica findet. Ich ver­ mute seinen Ursprung bei Paracelsus, aus dessen Schriften der jüdische Autor auch den von ihm aus dem hebräischen Wort für Junglöwe abgeleiteten, bei den christlichen Alchemisten des 16. und 17. Jhs. geläufigen Begriff des Gur für die »Materie der metallischen Medizin«, d. h. die prima materia, entlehnt haben könnte. 132 Im Sohar I, 145 b, heißt es, Rabbi Jochanan ben Sakkai habe über diesen Vus joo kabbalistische Deutungen gegeben; dasselbe auch im Midrasch ham lelam im Sohar Chadasch, Bl. 6d-7a. Eine solche mystische Deutung steht in der Idra rabba im Sohar III, 135b und 142a, und gerade diese hat in der Ge­ schichte der Kabbala eine große Rolle gespielt. Der Vers der Genesis regte du ch die offenkundige Irrelevanz der Bemerkung die Spekulation der Mysti­ ker an. B. Suler vermutet in seinem Artikel Alchemy in der EncyclopaediaJudaica II, col. $43, daß der Name Mehetabel die Alchemisten vielleicht an das griechische metabole für Transmutation erinnert habe. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich.

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auf die, welche Gold aus Kupfer herstellen, und das sind leere Redereien.« Tatsächlich wurde Me-Sahabh um 1400 im Hebräischen als alchemistisches Äquiva­ lent von Goldwasser verwendet.133 Außer dem Autor des Esch-Mezaref hat auch der jüdi­ sche Gelehrte Benjamin Mussaphia, ein damals be­ kannter Arzt und Philologe, in Hamburg 1640 eine la­ teinische Schrift zum Preise der Alchemie veröffent­ licht, die den Titel Mezahab Epistola trägt und von der alchemistischen Deutung dieses Verses, mit der er sich eingehend befaßt, ausgeht. Mezahab sei das aurumpotabile der Alchemisten. Der Autor sucht die Bedeutung der Juden in der Alchemie schon aus der Bibel herzulei­ ten und zieht dazu ziemlich willkürlich eine Anzahl von Bibelstellen und späteren Quellen heran. Dabei be­ nutzt er auch die alchemistische Deutung der Zerstäu­ bung des Goldenen Kalbes, die ein bei christlichen Al­ 133 Diese Erklärung des Namens hat sich aus einer Stelle im Midrasch Bereschith rabba zu Genesis 36:39 entwickelt (Ed. Theodor, S. 999-1000, Par. 83 § 4), sowie einer Parallelstelle im Targum Jeruschalmi I, deren Tendenz aber noch anders gerichtet ist. »Was bedeuten mir Gold und Silber!« soll der reich gewordene Vater ausgerufen haben! Im zweiten Targum Jeruschalmi aber heißt es schon: Matred, der Vater der Mehetabhel, sei ein Goldschmied gewesen, der reich geworden sei etc. Daß Matred geradezu der erste Goldschmied in der Welt gewesen sei, sagt, ohne sich auf den weiteren Namen Me-Sahabh zu bezie­ hen, im 13. Jahrhundert der jemenitische Compilator des Midrasch Haggadol (Ed. Margulies, Jerusalem 1947) I, S. 615. Aus dieser Quelle hat dann der eben­ falls im Jemen 13 27 schreibende Nathanel ibn Jesaja die Vermutung entwickelt, Matred sei ein Alchemist gewesen; vgl. sein arabisch geschriebenes Werk nur az-zulam, »Licht in der Finsternis«, Ed. Josef Kafib» Jerusalem 1957, S. 156. Eine ähnliche Entwicklung des Motivs, nun aber auf den anderen Vatersnamen Me-Sahabh bezogen, setzt eben die Bemerkung bei Abraham ibn Esra voraus. Um 1400 war dann die alchemistische Deutung des Namens auf das »Goldwas­ ser« auch in Europa bekannt, wie der von Steinschneider in seinem Verzeichnis der Hebräischen Handschriften zu Berlin I, Berlin 1878, S. 46, beschriebene, »an Alchemie streifende« Text Melekheth Me-ha-sahabh beweist. Die Angabe B. Sulers (1928), daß Abraham ibn Esra den Passus Exodus 32 :zo über die Zer­ stäubung des Goldenen Kalbes alchemistisch deute, beruht auf einem Mißver­ ständnis.

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chemisten dieser Zeit beliebtes Motiv aufnimmt.134 Ei­ nen Zusammenhang mit dem Esch-Mezaref habe ich nicht gefunden. Der Autor dieses letzteren Buches weicht dem von ihm selbst aufgestellten Schema der Zuordnung der Elemente zu den Sefiroth ab, wenn er mit der Symbolik in die Enge gerät. Die Fremdheit und Aufgepfropftheit des Ganzen tritt dann hervor. So muß er das Zinn auch der Sefira Nezach zuordnen, das Gold besonders auch noch Tifereth, um die Sonnensymbolik der Alchemie aufrechterhalten und das Gold als »voll­ kommensten der Steine« unterbringen zu können. Während die Sonne in der Kabbala an diese Sefira ge­ bunden bleibt, ist das Gold stets dem strengen Gericht zugeordnet. Die Mondsymbolik des Silbers mußte er völlig aufgeben, da diese in der Kabbala stets die letzte Sefira Malkhuth darstellt und sich auf keine Weise auf Chessed beziehen läßt, wohin die Silbersymbolik der Kabbala sich richtet. Jedenfalls nimmt in dem ganzen 134 Die sehr seltene Schrift Mussaphias ist von Johann Jakob Schudt in seinen Jüdischen Merckwürdigkeiten III, Frankfurt 1714, S. 329-339, abgednickt und besprochen worden. Die Schrift enthält keinerlei alchemistisches Material und bezweckte wohl, dem verbreiteten christlichen Schrifttum seiner Zeit über Al­ chemie eine jüdische Panegyrik auf die Alchemie zur Seite zu stellen. Ein um­ fangreicher Kommentar zu Mussaphias Epistel von Johann Ludwig Hannemann erschien 1694 in Frankfurt: Ovum Hermetico-Paracelsico-Trismegistum, id est Commentarius Philosophico-Chemico-Medicus in quandam Epistolam Mezahab dictum de Auro. Ich habe ein Exemplar des sehr alchemiegläubigen, über 400 Seiten dicken Buches im Juli 1927 in London durchblättern können, ohne für jüdische Alchemie wirklich relevantes Material zu finden. Im Zusam­ menhang mit dem bei Mussaphia angeführten Motiv über das alchemistisch verstandene Goldene Kalb ist eine anonyme Schrift merkwürdig, die ich 1938 in Amerika gesehen habe: »Moses Güldenes Kalb / nebst dem magischenAstralischen-Philosophischen-absonderlich dem cabalistischen Feuer / vermit­ telst welchem letzterem Moses / der Mann Gottes / dieses güldene Kalb zu Pul­ ver zermalmet / aufs Wasser gestäubet und den Kindern Israel zu trinken gege­ ben«, Frankfurt am Main 1723. Der Autor beruft sich aber nicht etwa auf die Schrift Mussaphias, sondern benutzt sehr reichlich den ersten Band der Kab­ bala Denudata, um seiner Schrift einen kabbalistischen Anstrich zu geben.

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Schema das Gold in keiner Weise einen übermäßig be­ deutenden Platz ein, da der Autor sich im allgemeinen dieser Symbolik beugt. Er hat also gar keinen Grund, es sonderlich hervorzuheben, und man versteht es, daß er von chemischen Praktiken nur eine genau anführt, und diese lehrt, Silber durch Transmutation zu gewinnen. Der Prozeß, den er detailliert, halb in chemischen Ter­ mini, halb in alchemistischen Symbolen, beschreibt, soll etwa vier Monate in Anspruch nehmen, ist aber nicht durchschaubar. Aus dem dritten Kapitel des Textes zitiert Knorr (I, S. 483-48 5) einen Rabbi Mordechaj in re metallica de argento, den B. Suler als Mordechaj, den Sohn des Leone Modena, erklärt, der Blei zu Silber transmutierte und durch die Alchemie zugrunde ging.135 Falls diese Ver­ mutung zutrifft, die voraussetzen würde, daß Modenas Sohn in der Tat auch Schriften hinterlassen hat, würde unser Text etwa zwischen 1620 und 1660 anzusetzen sein, wäre also Knorr von Rosenroth nicht lange nach seiner Abfassung in die Hände gelangt. Für so späten Ansatz spricht freilich sonst nichts in den vorhandenen Zitaten. Sicher ist nur, daß der Verfasser den Druck des Sohar von Cremona 1560 benutzt hat, da er dessen Pa­ ginierung zitiert.136 Er sei durch diese Stelle (am Ende 135 Siehe den oben angeführten Bericht Leon Modenas in seiner Autobiogra­ phie. Bei der großen Vorliebe Leon Modenas für diesen Sohn würde man er­ warten, daß er von ihm hinterlassene Manuskripte, auch wenn sie alchemisti­ scher Natur waren, erwähnt hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Andererseits be­ steht eine gewisse Verwandtschaft zwischen Modenas Beschreibung des alche­ mistischen Versuches und dem im Esch Mezaref gegebenen Rezept, in dem ebenfalls das Arsen eine Rolle spielt. Ob die Beschreibung der Vergiftung durch Arsendämpfe zu dem Bluterguß im Gehirn, den Modena beschreibt, paßt, vermag ich nicht zu sagen. 136 Bei Knorr I, S. 303, wo diese Soharstelle- außer dort I, 301, wo nur ein all­ gemeiner Hinweis -, die einzige, die ich in diesen Fragmenten gefunden habe, vollständig aus dem 2. Kap. des Esch Mezaref zitiert wird. Eine weitere Ein­ schränkung der Abfassungszeit liegt wahrscheinlich in der Benutzung des

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des Sohar) über die Funktion des wahren Arztes veran­ laßt worden, die Mysterien der Heilung der Kreaturen durch Alchemie in »geheimen Büchern« zu suchen. Ob sich aus der Analyse dieses chemischen Prozesses, des­ sen Herkunft ich in anderen Schriften nicht identifizie­ ren konnte, der aber jedenfalls eine typische Mischung von naturwissenschaftlicher und mystischer Alchemie darstellt, etwas für die Zeitbestimmung über das Ge­ sagte hinaus folgern läßt, kann nur ein Historiker der Alchemie beurteilen. Das hebräische Original des Zi­ tats müßte von Seiten der Terminologie - wenn diese nicht wie oft in solchen Schriften fremdsprachig ist, in unserem Fall wahrscheinlich italienisch - höchst inter­ essant sein. Ich habe es nicht in allen Stücken rekon­ struieren können. Am Schluß seiner Ausführungen fügt Rabbi Mordechaj hinzu: »Vergleiche das Gesagte mit den Schriften des arabischen Philosophen, da er ausführlicher über das Arsen handelt«, welches in der Tat in diesem Prozeß eine wichtige Rolle spielt. Der arabische Philosoph ist nicht etwa Gabir, der lateini­ sche Geber, sondern zweifellos Avicenna, dem eine ziemlich ausführliche Schrift De anima in arte alchymiae untergeschoben wurde, die ausführlich über die »vier Geister« handelt, zu denen auch das Arsen ge­ hört.137 Rabbi Mordechaj dürfte die lateinische Über­ setzung dieses Buches gekannt haben. Daß er Lateinisch konnte, setzt er in seiner Ausführung über den Namen Jupiter voraus, dessen Erwähnung als Name des hebrä­ isch Zedeq genannten Planeten verboten sei, weil dieser gleich zu erwähnenden lateinischen Pseudo-Avicenna, der zuerst in Basel i $70 erschien. Unrichtig ist die Angabe einiger Autoren, unsere Schrift zitiere Moses Cordoveros Pardes Rimmonim. Die betreffende Stelle steht bei Knorr vor ei­ nem Zitat aus dem Esch Mezaref 137 So nach Lippmann, S. 368 und 407.

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Name aus dem heidnischen Kult stamme. Seine Erklä­ rung des Eisens verbindet Kabbala mit Alchemie in der Symbolik: »Dies Metall ist die mittlere Linie, die von ei­ nem Ende zum anderen läuft [in der Kabbala eine Defi­ nition der Sefira Tifereth], Hier ist es jenes Männliche und der Gemahl, ohne den die Jungfrau nicht geschwän­ gert wird. Dies ist die >Sonne der Weisem, ohne welche der Mond ewig im Dunkeln wäre. Wer deren Strahlen kennt, der arbeitet [gleichsam] am hellen Tage; die ande­ ren zappeln in der Nacht.«138 Die alchemistischen Aus­ führungen über das Blei und den Schwefel (S. 185 und 242) habe ich nicht verstanden.139 An einer Stelle (S. 151-152) setzt er die alchemistische Symbolik des grünen, roten und schwarzen Löwen als bekannt voraus. Aus dem chemischen Material kann ich keine Schlüsse auf das genauere Alter der Schrift ziehen, wenn ich von der erwähnten Vermutung absehe, daß der hier ge­ nannte Rabbi Mordechaj der Sohn des Leon Modena sei. Daß die Schrift nicht vor 1560-1570 entstanden sein kann, habe ich schon dargelegt. Der Autor kennt zwar die Wanderung des Alchemisten durch die vier Welten der späteren Kabbala, benutzt aber an keiner Stelle spe­ zifische Anschauungen der lurianischen Kabbala, die vom Anfang des 17. Jahrhunderts an von Italien her sich 138 Bel Knorr I, S. 206. 139 Die Stelle über das Blei lautet in deutscher Übersetzung: »Bei partikulären Transmutationen ist seine schweflige Natur allein nicht von Nutzen; aber nur mit anderen Schwefeln zusammen, insbesondere denen der rötlichen Metalle [d. h. wohl Eisen und Kupfer] reduziert es die »dicken Wasser * [die materia prima\t wenn sie genügend zu »Erde * geworden sind, [und verwandelt sie] in Gold, wie auch in Silber, wenn es durch Quecksilber in die subtile Natur des »dünnen Wassers * überführt wird, was unter anderem auch recht bequem mit Zinn geschehen kann.« Nach S. 345 ist das Blei übrigens auch das Ursalz, salprimordialis. In den Ausführungen über den Schwefel verquickt der Autor durch­ weg Bibelstellen mit den alchemistischen Empfehlungen. Der Alchemist ist hier der, welcher das »Haus der Pfade« betreten hat, an dessen Eingang die Weisheit, d. h. die der Alchemie, ihre Stimme erhebt (nach Prov. 8 :2).

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auszubreiten begann. Es bleibt die Wahl zwischen der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahr­ hunderts. Zur späteren Ansetzung würde die zügellose Anwendung der Gematria, auch in ihren komplizierte­ ren Formen, eher passen, zur früheren freilich die litera­ rische Form des Buches als Anrede an einen Schüler, die von den Kabbalisten später viel weniger gebraucht wird. Für die Zeitbestimmung ist vor allem auch der dritte, astrologisch gerichtete Bestandteil des Buches wichtig. Von allen Metallen nämlich führen die bei Knorr erhal­ tenen Zitate ihre »Kamea« an, das heißt dasjenige Amu­ lett mit magischen Zahlenquadraten einer bestimmten Anzahl von Reihen, welches dem diesem Metall zuge­ ordneten Planeten entspricht.140 Diese letztere, planeta­ rische Zuordnung wird für alle Metalle angeführt und entspricht in der Tat der alten klassischen Relationstafel der Astrologen. Dagegen sind die konkreten Quadrate fast durchweg von den Quadraten verschieden, die in der älteren astrologischen Magie des Mittelalters ange­ geben werden und sich auch in der hebräischen Hand­ schrift München 214, Bl. 145-146 erhalten haben. Im folgenden gebe ich eine Tabeile dieser Zuordnungen, die ich nach der überlieferten Planetenfolge und nicht nach dem kabbalistischen System der Sefiroth ordne: Planet

Reihenzahl des magischen Quadrates

Saturn Jupiter Mars Sonne Venus Merkur Mond

3 4 5 6

7 8 9

Metall

Sefira

Sefira des betr. Metalls bei Vital

Blei Zinn Eisen Gold Kupfer Quecksilber Silber

Chokhma Bina u. Nezah Tifereth Gebhurau.Tifereth Hod Jessod Chessed

Hod Nezach Malkhuth Gebhura Tifereth Jessod Chessed

140 Vgl. I, 271, 304, 359, 443, 625, 677, 684.

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Aus dieser Tabelle folgt klar eines: Diese Symbolik ist nicht in kabbalistischen Kreisen entstanden, in denen zweifellos die Reihenfolge der Sefiroth für die Ord­ nung der Reihenzahlen der Quadrate maßgebend ge­ wesen wäre, sondern offenkundig in astrologischen, welche in einfacher Umkehrung des Näheverhältnisses zur Erde, wie man es damals verstand, die Planeten­ folge zugrunde gelegt haben. Und zwar ist das offen­ kundig mit bewußt systematischer Absicht geschehen. Wie wenig die ganze Reihe sich mit der alten Sefirasymbolik der Kabbala vereinigen läßt, geht schon daraus hervor, daß der Saturn hier der Chokhma zugeordnet werden muß, während z. B. die um 1300 verfaßten Tiqqune Sohar ihn (freilich an einer dunklen Stelle) auf die untersten Sefiroth Jessod oder Malkhuth beziehen.141 Ich glaube aber, daß die Herkunft dieser Planetenamu­ lette klar festgestellt werden kann. Sie sind erst über das seinerzeit weit verbreitete berühmte Werk De occulta philosophia (zuerst vollständig in Köln 1533 erschie­ nen) des Cornelius Agrippa von Nettesheim in einzelne jüdische Kreise eingedrungen, was zu der hier vermute­ ten Zeit der Abfassung des Esch Mezaref paßt. Beson­ ders die Ausgaben in Paris 1567 und Lyon 1600 haben in Italien viele Leser gefunden. Agrippa führt diese ganze Symbolik (mit Ausnahme der Sonne) als erster in genau derselben Form, wie wir sie in unserem Texte finden, in weiteren Kreisen des Abendlandes ein, ob­ wohl sie schon seit dem 14. Jahrhundert dort bekannt war. Er widmet ihr das ganze 22. Kapitel des II. Buches. Er zitiert sie weder von den Arabern, von denen sie vermutlich herstammt, noch von den Kabbalisten, 141 So verstand Jakob Zwi Jolles in seinem Lexikon der kabbalistischen Sym­ bolik Kehillath Ja'akobh (Lemberg 1870), s. v. Schabtai die zwei Stellen in Tiqqun 70, Bl. 121b und 132b über Saturn.

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sondern einfach aus »magischen Büchern«, d. h. wohl aus Handschriften, die mit dem magischen Buch Picatrix Zusammenhängen.142 Hätte er kabbalistische Quel142 Über die magischen Quadrate und die Entlehnung des Systems im Abend­ lande von den Arabern vgl. Aby Warburg, Gesammelte Schriften II (1932), S. 528, sowie die große Arbeit von Wilhelm Ahrens im Islam VII (1916), S. 186-240, speziell S. 197-203, sowie jetzt die wertvollen Materialien in der von Karl A. Nowotny 1967 in Graz herausgegebenen annotierten Faksimile-Aus­ gabe der editio 1533» besonders S. 430-433 und 906-908. Die Zuordnung der Metalle zu den Planeten ist schon alt und von den Arabern aus den griechischen und syrischen Quellen übernommen worden. Diese Quadrate aus Knorr sind Ahrens in seiner verdienstvollen Arbeit Hebräische Amulette mit magischen Zahlenquadraten, Berlin 1916, unbekannt geblieben. Ich halte die meisten der von Ahrens angeführten Amulette für nichtjüdischen Ursprungs, nicht trotz, sondern gerade wegen der meist auffällig unbeholfen und schülerhaft ausge­ führten hebräischen Zahlen. Außerdem darf man vor allem aus den mythologi­ schen, auf jüdischen Amuletten sehr seltenen Abbildungen auf der Reversseite schließen, daß Amulette dieser Art ohne jüdische Vorbilder im Kreise der Naturmagier der Schule Agrippas, die ja alle notdürftig das hebräische Alphabet kannten, angefertigt wurden. Gewiß wurden mythologische Planetenbilder aus nichtjüdischen Quellen auch in jüdischen Schriften beschrieben, wie etwa in dem von Greenup, London 1912, publizierten, aus dem Arabischen über­ setzten Book of the Moon, Sefer ha-Lebhana, oder in der von Gaster edierten hebräischen »Wisdom of the Chaldeans« (in Gasters Studies and Texts III [1925-1928], S. 104-108), aber ohne jeden Zusammenhang mit magischen Zah­ lenquadraten. Zweifellos als jüdischen Ursprungs erweisbare Amulette, die den Anforderungen Agrippas oder des Esch Mezaref entsprechen, habe ich bisher nicht gesehen. In dem reichen Material der Mitteilungen der Gesellschaftfürjü­ dische Volkskunst ist in der ganzen Folge meines Wissens kein einziges derarti­ ges Amulett belegt. Ebensowenig jüdisch sind die von E. B. Pilcher in seinem (Ahrens unbekannt gebliebenen) Aufsatz Two Cabbalistic and planetary Charms in den »Proceedings of the Society of Biblical Archaeology« 28, Lon­ don 1906, S. 110-118, untersuchten Amulette. All diese Autoren unterschätz­ ten die judaisierenden Tendenzen der arabischen und christlichen Magie über­ haupt und speziell die der abendländischen Magie von Agrippa an. Diesen Tendenzen braucht durchaus nicht immer wirklich Jüdisches zu entsprechen. So sind auch Erich Bischoffs, ohne Quellenangaben offenbar aus Knorr und Agrippa entnommenen Ausführungen über unser Problem wissenschaftlich wertlos; vgl. Elemente der Kabbalah II, Berlin 1914, S. 145-158. In jüdischen Quellen der »Praktischen Kabbala« ist nur das Satumquadrat schon vom 15. Jahrhundert an ziemlich verbreitet. Abraham ben Elieser Halevi (ca. 1460-15 30), einer der spanischen Exulanten, kennt es gegen Schwergeburt und hat schon von seinen Lehrern gehört, man müsse die Buchstaben AZe/bis Teth, die im Hebräischen später auch zugleich als Zahlenzeichen für 1-9 verwandt

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len dafür benutzt, so hätte ein Autor wie Agrippa, der auf Kabbalistisches versessen war, gewiß nicht unter­ lassen, in irgendeiner Form darauf hinzuweisen. Die von ihm gezeichneten Planetencharaktere sind den Ju­ den ganz fremd und wohl von Agrippa erfunden (wie Karl Nowotny vermutet).143 Auf jüdischer Seite ist uns im 15 .Jahrhundert vom Vater des berühmten Überset­ zers kabbalistischer und arabischer Schriften Flavius Mithridates (alias Raimundus Moncada144), dem sizilia­ nischen Rabbi Nissim Abul Faradsch, bezeugt, er habe Magie getrieben und ein Sonnenamulett aus Gold und wurden, nach ihrer Abfolge im Alphabet (und nicht etwa nach ihrer Folge auf den Reihen des Quadrats) schreiben; vgl. in den Handschriften Gaster 438, Bl. 13 a und 17 a, wie auch Deinard 124 (jetzt im Jewish Theological Seminary in New York), das mit der Gasterschen Handschrift offenkundig inhaltsgleich ist. Ohne Abraham Halevis Namen kommt es in der Handschrift Gaster 567, Bl. 121 a vor, sowie in Jakob Zemachs, um 1640 in Jerusalem verfaßten Ronu le~ Jaaqobh, Handschrift der Bodleiana, Oxford (Neubauer Nr. 1870, BL 154). Die arabischen Quellen über das Saturnquadrat, welche bis ins zehnte Jahrhun­ dert gehen, sind verzeichnet bei Paul Kraus, Jäbir ibn Hayyän, II, Le Caire 1942, S. 73 (auch hier schon ebenfalls gegen Schwergeburt!), und bei Martin Plessner in seiner deutschen Übersetzung des arabischen >Picatrix«, Das Ziel des Weisen von Pseudo-Magriti, London 1962 (Studies of the Warburg Insti­ tute, Vol. 27), S. 407. 143 Über ein altes christlich-kabbalistisches Jupiteramulett mit dem Quadrat der Summe 34 und einem pseudohebräischen Elabh, »Gottvater« als hebräische Form von Jupiter als Zusammensetzung von Jo plus Pater, sowie dem Engel Jahpiel, der einem Jupiter-Engel entsprechen soll, den es aber in hebräischen Quellen gar nicht gibt, handelt das Heft von Louis Loewe, The York Medal, or The supposed Jewish medal, found in York... in theyear 1829, London 1843. Die Angaben, die ich dort über die »Charaktere« des Jupiter finde, kann ich in den mir zugänglichen Quellen nicht nachweisen, sie sind suspekt. Siehe den Anfang von Anmerkung 142, zu Nowotny. 144 Über Flavius Mithridates, einen ungewöhnlich gelehrten Konvertiten, als Jude wohl Samuel ben Nissim Abul Faradsch, haben wir außer dem Aufsatz von Umberto Cassuto in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland V (1934), S. 230-236, noch verschiedene wichtige Arbeiten von Ch. Wirszubski in den Veröffentlichungen der Israel Academy of Sciences and Humanities und können eine umfassende Analyse seiner kabbalistischen Über­ setzungen in W.’s Werk Giovanni Pico’s Encounter with Jewish Mysticism er­ warten, das nach seinem Ableben zum Druck vorbereitet wird.

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mit dem typischen Bilde des Löwen hergestellt, dessen zweite Seite aber ein magisches Quadrat enthielt, wel­ ches nach der Agrippaschen Tafel, aber auch schon lange vorher in arabischen Quellen, dem Saturn ange­ hört.145 Der Widerspruch zur Systematisierung der Zahlenquadrate nach den Planetenfolgen ist hier klar. Dieser sizilianische, aus Ägypten oder Syrien stam­ mende Rabbi kannte also das spätere Schema noch nicht. Dafür, daß der Autor des Esch Mezaref Arabisch verstand und direkt aus arabischen Quellen geschöpft hätte, spricht nichts. Daß er Lateinisch verstand, habe ich oben dargelegt. Stand er aber unter lateinischem Einfluß, so war dies jedenfalls der des Agrippa, wenn nicht ein noch späterer. Unser Text scheint in der Tat das einzige Buch zu sein, das den Gedanken übernom­ men hat. Da es keinerlei Verbreitung gewonnen und in der jüdischen Literatur selbst keinerlei nachweisbare Spuren hinterlassen hat, darf man sagen, daß es sehr voreilig war, wenn Autoren wie Athanasius Kircher im Ödipus Ägyptiacus, der 1653, also ein Vierteljahrhun­ dert vor der Kabbala Denudata, erschien, und ihm fol145 Siehe dazu M. Steinschneider, Hebräische Bibliographie XX (1880), S. 124-126 (aus einer 1879 erschienenen italienischen Monographie von R. Star­ raba). Dieser Rabbiner, Astrolog und Magier ist auch der Kompilatorderastrologisch-mantischen hebräischen Handschrift München Hebr. 246. Dieselbe Zuordnung der magischen Quadrate zu den Planeten ist, ohne alchemistische Obertöne, auch schon in hebräischen Handschriften vor der Zeit Agrippas be­ legbar, ohne daß die Reihensumme der jeweiligen Quadrate mit der bei Agrippa identisch wäre. In einem streng kabbalistischen Werk findet sich eine derartige Zuordnung, soweit ich sehe, zuerst ausführlich besprochen in dem i$j8 in Jerusalem verfaßten Buch 'Ebhen ha-Schoham (aus Genesis 2 :12) des Josef ben Abraham ibn Sajjah aus Damaskus, wo auch, offenbar aus astrologisch-mantischen Quellen, die Planetenbilder auf dem Revers der nach diesen Vorschriften anzufertigenden Planetentalismane beschrieben werden. In der Handschrift Jerusalem 8° 416, Bl. 86 b erklärt der Autor die »Wissenschaft von den Quadraten« der Planeten für ein großes Geheimnis, das er von seinem (un­ genannten) Lehrer empfangen habe. Von Bl. 120 an bespricht er diese Planeten­ quadrate ausführlich.

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gende spätere diese Planetenamulette als kabbalistisch ausgaben.146 Der Autor unseres Textes selbst führt sie an keiner Stelle als »kabbalistisch« an. Aber nicht nur im Aufriß, sondern auch in den angeführten Muster­ beispielen der betreffenden magischen Quadrate stim­ men Agrippa und der Autor des Esch Mezaref überein - bis auf das Quadrat der Sonne, d. h. des Goldes. Denn hier hat der letztere Autor die Reihensumme 111 durch ein Quadrat der Reihensumme 216 ersetzt, um die Be­ ziehung auf den Löwen, das Symbol der Stärke, der Sefira Gebhura, hervortreten zu lassen. Das hebräische Wort für Löwe, arjeh, hat den Zahlenwert 216. Hier ist also der Sefirasymbolik zuliebe das Agrippasche Schema in einem Detail verändert worden. So haben wir es in dieser Schrift wohl mit einem kabba­ listisch-alchemistischen Synkretismus zu tun, wie er ei­ nem gelehrten italienischen Juden der Zeit zwischen 1570 und 1650 am ersten zuzutrauen ist. Wie schon ge­ sagt, ist von Goldmachen, gemäß der hier herrschenden kabbalistischen Symbolik, weniger die Rede als von all­ gemeiner Metallverwandlung und speziell der Herstel­ lung reinen Silbers aus unreinen und unedlen Metallen. Die verschiedenen kabbalistischen, chemischen und astrologischen Elemente liegen nur schwach und lose verknüpft nebeneinander. Gerade dieser vereinzelte Versuch der Verbindung der drei Kreise zeigt deutli­ cher als alles andere, wie wenig diese miteinander zu tun haben, und besonders, wie schwer die kabbalisti­ sche sich mit der alchemistisch-astrologischen Symbo­ lik zusammenbringen ließ, wenn ihre Harmonisierung 146 Athanasius Kircher hat ausführlich über diese Planetenquadrate in seiner Arithmologia sive de abditis numerorum mysteriis, Rom 1665, gehandelt, aber auch schon in seinem Oedipus Aegyptiacus II, altera pars (Rom 1653), S. 70-78.

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nicht nur, wie wir oben bei Josef Taitatzak gesehen ha­ ben, in einer allgemeinen These, sondern im Detail durchgeführt werden sollte. Gegen das Vorhandensein einer echten kabbalistisch-alchemistischen Tradition und Tendenz unter den Juden spricht dieser eher unbe­ holfene Versuch, eine solche zu schaffen, ebensosehr, wie er meines Erachtens für die Stärke des nichtjü­ dischen Einflusses auf einzelne Kabbalisten zeugen mag, der ja gerade in Italien am ehesten wahrscheinlich ist. Außer Knorr von Rosenroth hat niemand das Buch ge­ kannt. Die Behauptung des Theosophen Wynn West­ cott aus dem Kreis der Madame Blavatsky, das Buch existiere noch in einem hebräischen oder vielmehr aramäisch-chaldäischen Text als besonderer Traktat, ver­ dient keinen Glauben.147 Wo Knorrs Exemplar geblie­ ben ist, kann nicht mehr festgestellt werden; in seinem Nachlaß, von dem nur ein wichtiges Stück seinem Freunde Franciscus Mercurius van Helmont ausgehän­ digt wurde, ist es nicht erhalten. Es ist sicher, daß die Autoren, welche nach Knorr schrieben, das Buch nur aus der Kabbala Denudata kannten. Für Freunde der Alchemie, die das teure lateinische Opus Magnum Knorrs nicht erschwingen konnten, vielleicht auch nicht Lateinisch verstanden, fertigte ein Anonymus, der sich »a lover of Philalethes« nannte, in einem besonde­ ren Buch eine englische Übersetzung der betreffenden Fragmente aus Knorrs Werk an: A Short Enquiry Con­ cerning The Hermetick Art. Address’d to the Studious Therein ...To which is Annexed, A Collection from Kabbala De-nudata, and Translation of the ChymicalCabbalistical Treatise, Intituled Aesch-Mezareph; or, 147 Westcott in dem unten, Anm. 150, zitierten Buch von 1894.

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Purifying Fire. Das Buch erschien 1714 in London. Es enthält sowohl den lateinischen Text der Fragmente als auch deren englische Übersetzung.148 In einem Exem­ plar der Jewish National Library in Jerusalem hat ein zeitgenössischer Besitzer aus der portugiesisch-jüdi­ schen Gemeinde von London namens Daniel ben Josef Cohen de Azevedo notiert, er habe dieses Buch aus der Hand des Verfassers Robert Kellum empfangen.149 Ei­ nen Neudruck dieser Ausgabe, an einigen Stellen ver­ bessert und um Anmerkungen bereichert, veröffent­ lichte der bekannte englische Okkultist Wynn West­ cott unter dem Pseudonym »Sapere Aude«, mit einem Vorwort, in dem er von dem Buche sagt: »The Aesch Mezareph is almost entirely alchymical in its teachings, and is suggestive rather than explanatory in its words. The allegorical method of teaching runs through it, and the similes have to be kept carefully in mind, otherwise confusion will result. Several Alchymic processes are set out, but not in such a way that they could be carried out by a neophyte; any attempt to do so would dis­ cover that something vital was missing at one stage or other.«150 Es ist nicht verwunderlich, daß, da der Text selber nicht mehr voll vorhanden war, nun bald alchemistische 148 Ian MacPhail, Alchemy and the Occult (Katalog der Paul Mellon Collec­ tion in Yale University Library), New Haven 1968, II, S. 514. 149 Der genannte Besitzer hat in dem Exemplar zum Teil spanische, zum Teil hebräische Randbemerkungen gemacht, in deren einer, auf S. 47, er den Namen des Verfassers nennt. Zu einer von dem Anonymus in seiner einleitenden En­ quiry gemachten Bemerkung, daß einer der Meister, der in rabbinischem Wis­ sen wohl bewandert ist, ihm erzählt habe, was der hebräische Name für Taube Jona bedeute und was nicht, bemerkt der Besitzer am Rand (auf hebräisch: ■»Ich, Daniel Cohen, Sohn des Rabbi R. Josef de Azevedo, habe dies dem Autor dieses Buches im Jahre 1714 gesagt, und der Name des Autors ist Robert Kel­ lum.« 150 Westcotts Band erschien als Vol. IV der Sammlung Collectanea Hermetica. 102

Pseudepigraphie einsetzte. Daß diese Schriften alle nicht echt sind, sondern dem 18. Jahrhundert angehö­ ren, folgt schon aus den unmöglichen Behauptungen der Titel. Viele dieser Manuskripte wurden in dem 1786 erschienenen Katalog des Buchhändlers Rudolf Gräffer in Wien zum Kauf angeboten.151 In diesem Katalog wurde ein Kommentar über das aus Knorr genommene Kompendium des Esch Mezaref (mit einem Vorwort) von einem sonst unbekannten Leander de Meere ange­ boten, der bisher nicht wieder aufgetaucht ist. Dort gibt es auch eine »goldene Cabala der Juden wie auch Anweisung der Sephiroth, wie die Verwandlung der Metalle geschehen müsse«, was wohl auf den Titel bei D. Cluver zurückgeht. Die Anmaßungen dieser Titel sind freilich noch nichts gegen jenen mysteriösen Text, den sich J. K. Huysmans, der berühmte Romancier des »Satanismus«, ausgedacht hat. Im 6. Kapitel seines Ro­ mans Là-bas zieht nämlich ein großer Satanist »aus ei­ nem der Regale seiner Bibliothek eine Handschrift her­ vor, die nichts Geringeres war als das Manuskript des Aesch Mezareph, das Buch des Juden Abraham und des Nikolas Flamel, wiederhergestellt, übersetzt und kom­ mentiert durch Eliphas Lévi«. Die geheimnisvolle Handschrift, in der all diese Texte durcheinanderge ­ worfen werden, ist in Wirklichkeit im Supplement zu Eliphas Lévis La clef des grands mystères, Paris 1860 (S. 407ff.) gedruckt und als »wiederaufgefundener« Text des Esch Mezaref zusammenphantasiert, womit sich der große Mystagoge, der noch heute seine Leser findet, als echter Nachfahre der alten alchemistisch­ mystischen Pseudepigraphie erweist. So konnte Knorr auf diese Funktion der Kabbala als 151 Ein Exemplar dieses Heftes habe ich in der Bibliothek der holländischen Freimaurer in Den Haag gesehen.

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mystischer Alchemie schon in einem Vers des lateini­ schen Widmungsgedichts hinweisen, welches er als Er­ klärung des allegorischen Titelkupfers seines Werkes dem Vorwort voranschickte: Alterat abstrusos minerarum in corde meatus »Sie verändert (d. h. verwandelt) dir Erze (Mineralien) verworrene Bahnen im Herzen«, was ja nicht mehr auf gewöhnliche chemische Funktionen der Kabbala bezo­ gen werden kann. Von jüdischer Alchemie nach der Abfassung des Esch Mezaref ist nur wenig bekannt, und noch weniger über eine Verbindung zwischen ihr und kabbalistischen Ideen. Uber Alchemie in Marokko habe ich schon ge­ handelt. Hier und da finden sich alchemistische Re­ zepte zum Goldmachen oder zur »Färbung« von Me­ tallen in späteren Handschriften, vor allem in Kollektaneen sogenannter »praktischer Kabbala«, ein Begriff, der im hebräischen Sprachgebrauch nichts anderes be­ deutet als Magie.152 Noch seltener sind Nachweise über Juden, die der Alchemie oblagen. Sehr zweifelhaft scheint die Authentizität eines Berichtes über einen Adepten in Hamburg namens Benjamin Jesse. Ein An­ onymus, den er aus dem Findelhaus zu sich genommen haben soll, berichtet, Jesse habe in Hamburg so einge­ zogen gelebt, daß ihn niemand gekannt habe. Als er um 1730 im 88. Lebensjahr starb, habe er diesen Pflegesohn mit einem ansehnlichen Legat bedacht, im übrigen aber seinen Nachlaß an zwei Vettern in der Schweiz ver­ macht. Darunter sei auch eine Büchse mit einem ge152 Solche Rezepte stehen z. B. in den Handschriften Jerusalem 8° 87; in der Sammlung Günzburg (in Moskau), Codex 1086 (um etwa 1700) mit dem Titel »Werk der Chemie... zur praktischen Kabbala«, ma *asseh chemia... 'al Kabbala ma'assith; Livorno, in Bernheimers Katalog der Bibliothek der Talmud Tora (191$), Cod. 112, Nr. 8. Ein alchemistisches Rezept ist auch bei Abraham Chamoj, niflaim ma’assekha (1881), Bl. 24b, gedruckt.

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wichtigen scharlachroten Pulver gewesen (dem Stein der Weisen) und vergleichsweise Geringeres, nämlich vier große Kisten mit Goldbarren angefüllt. Kopp, der diesen Bericht gelesen hat, vermutet wohl zu Recht eine fiktive Aufmunterung der Alchemisten, denen bei die­ ser Lektüre wohl das Wasser im Munde zusammenge­ laufen sei.153 Der Bericht habe auch eingehend geschil­ dert, was der Adept an seinem letzten Lebenstag noch alles getan, auch daß er kurz vor seinem Hinscheiden hebräische Psalmen gebetet und ein wenig Malvasier getrunken habe. Auf dem alten jüdischen Friedhof in Hamburg ist kein Benjamin Jesse begraben.154 Eine wirkliche Gestalt ist dagegen Chajim Samuel ben Rafael, seinerzeit weit berühmt als Doctor Falk und noch berühmter unter dem Beinamen »der Baalschem von London«155, der 1782 dort starb. Die vielen zeitge­ nössischen Berichte und Polemiken über ihn lassen sich aus seinen eigenen nachgelassenen Handschriften und dem Tagebuch seines Famulus ergänzen und zum Teil verifizieren.156 Daß er Kabbalist, praktischer Magier und Alchemist zugleich war, dürfte feststehen. Aber 153 Kopp I, S. 95. Auch B. Suler scheint die bei Kopp nicht angegebene Quelle benutzt zu haben, da er den Namen des einen Erben in der Schweiz mitteilt. Es ist sehr unglaubwürdig, daß ein Jude Abraham in der Schweiz um 17)0, der also nur in einem der beiden Judendörfer Endingen oder Legnau gelebt haben könnte, eine solche riesige Erbschaft in Gold gemacht haben könnte, wie sie hier beschrieben ist, ohne daß das Aufsehen gemacht und irgendwelche Folgen gehabt hätte. 154 Ich habe Max Grunwalds Buch Hamburgs deutscheJuden bis 1811 (Ham­ burg 1904), das auf den Grabsteinen der alten Friedhöfe, vor allem des in Ot­ tensen, beruht, daraufhin durchgesehen. 155 Über ihn vgl. H. Adler in den Transactions of the Jewish Historical Society of England, V (1908), S. 148-173, sowie Cecil Roth, Essaysand Portraits inAnglo-Jewish History (1962), S. 139-164. 156 Die Handschriften sind in der Sammlung Adler im Jewish Theological Seminary in New York und in der Bibliothek des Beth-Din von London, des früheren Beth Hamidrasch, erhalten. Vgl. A. Neubauers Catalogue ofthe Hebrew Manuscripts in the Jews’ College, London, Oxford 1886, Nr. 127-130, S. 37.

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gerade über die alchemistische Seite seines Wirkens ha­ ben wir am wenigsten konkretes Material. Jedenfalls besitzen wir aus einer unabhängigen Quelle das Zeug­ nis seines Schülers, des Rabbi Tobiah ben Jehuda aus der Gegend von Krakau, der 1773 dem Hebraisten und Diaristen Ezra Stiles in Yale University erzählte, er sel­ ber habe den »philosophischen Stein« und die Metall­ verwandlung gesehen.157 Daß Stiles’ Gesprächspartner in der Tat aus London kam, wo er solche Praktik eben bei Doctor Falk gesehen haben müßte, ist authentisch. So angesehen der Baalschem von London in nichtjüdi­ schen Kreisen, auch der Aristokratie, war, so umstrit­ ten war sein Ruf unter den Juden, wo ihn nicht nur die dunkle Aura des Magiers, sondern auch seine noch dunklere (vermutlich nicht grundlose) Reputation als Kryptosabbatianer begleitete. Als er aber 1782 starb, rühmte sein Grabstein ihn als »Banner der Tora im Stu­ dium und ihrer Verwirklichung«. Aber der berühmte Jerusalemer Sendbote und hochangesehene Gelehrte Chajim Josef Asoulai äußerte sich 1778 mit größter Empörung über ihn, als ihm in Paris eine der Klientin­ nen des Baalschem, die hochgeborene Marchesa de Croix, zu seinem Preis erzählte, er habe sie, die Nicht­ jüdin, praktische Kabbala gelehrt.158 Wesentlich zwei­ felhafter freilich war in jüdischen Kreisen die Reputa­ tion der anderen drei Männer, von denen wir wissen, daß sie im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Alche­ mie betrieben. Der eine war Jakob Frank, das Haupt der frankistischen Sekte, über den ich an anderen Stel­ len gehandelt habe, von dem wir wissen, daß er sich in Brünn und später in Offenbach ein alchemistisches La157 Siehe Arthur Chiels Aufsatz in Studiesin Jewish Bibltography, History and Literature, in honour of Edward Kiev, New York 1971, S. 85-89. 158 Vgl. Ch.J. D. Asulai, Ma'agalTobh ha-schalem, Jerusalem 1934, S. 124.

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boratorium eingerichtet hatte, und der auch in seinen »Lehrworten« an seine Jünger sich mehrfach auf Al­ chemie bezog.15’ Frank und sein Neffe Moses Dobruschka, an dessen alchemistischen Aktivitäten eben­ falls kein Zweifel sein kann, waren aber nach außen hin katholische Konvertiten. Dobruschka, der nach seiner Taufe als Franz Thomas Edler von Schönfeld in Wien geadelt wurde160, war, mit dem ungetauft gebliebenen Ephraim Josef Hirschfeld zusammen161, unter den Hauptinspiratoren des freimaurerischen Geheimbun­ des der »Brüder St. Johannis des Evangelisten aus Asien in Europa«, die von 1783-1790 in Österreich und Deutschland viel von sich reden machten, nicht zuletzt auch dadurch, daß sie der erste deutschsprachige Frei­ maurerbund waren, der Juden aufnahm.162 Die Or­ densschriften dieser, wie sie allgemein hießen, »Asiati159 Jakob Frank unterhielt ein solches Laboratorium, wie die Dokumentation im 2. Band von Alexander Kraushar, Frank i Frankisci polscy, Krakow 1895, S. 7), beweist. In mehreren Paragraphen der Lehrworte Franks, dem hand­ schriftlich auf polnisch erhaltenen »Buch der Worte des Herrn«, spricht Frank über Alchemie, wie in § 254: »Die ganze Welt sucht und wünscht Gold zu ma­ chen; so wünsche ich, euch zu lauterem Golde zu verwandeln.« Anderes auch in den Paragraphen 1013, 1698 und 1790 (über das Trinken des Goldwassers, das durch die Weisheit der Alchemie Macht und Leben verleiht). Auch von dem Wolf Eibeschütz, Sohn des Rabbi Jonathan Eibeschütz, der es mit den Sabbatianern und Frankisten hielt, berichtet Jakob Emden, daß er schon als junger Mann in Altona 1761 Alchemie trieb; vgl. Emdens Hith'abbequth, Lemberg 1870, Bl. 20. Er soll Kupfer zu Gold verwandelt haben. Jedenfalls sei seine Ta­ sche voll von Dukaten gewesen. 160 Über Dobruschka habe ich eine ausführliche hebräische Untersuchung veröffentlicht: The Career of a Frankist: Moses Dobruschka andhis Metamorphoses, in der Quartalschrift Zion, 3 5, Jerusalem 1970, S. 127-181, deren verbes­ serte und erweiterte französische Bearbeitung Du Frankisme au Jacobinisme: La wie de Moses Dobruska in Paris (Editions du Seuil) als Buch erscheinen wird. 161 Über Hirschfeld siehe meinen Aufsatz im Yearbook of the Leo Baeck In­ stitute VII, London 1962, S. 247-278. Eine größere Monographie über diesen Mann bereite ich auf Grund neuer Studien vor. 162 Vgl. Jakob Katz, Jews and Freemasons, Cambridge 1970, S. 26-53.

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sehen Brüder«, die zum Teil gedruckt sind163, lassen keinen Zweifel über die alchemistischen Tendenzen dieser Gruppe, die nun aber nicht aus der jüdischen kabbalistischen Tradition herzuleiten sind, wie an­ dere wichtige Elemente ihrer Doktrin, sondern mit dem Rosenkreuzertum des späten 18. Jahrhunderts Zusammenhängen, auf das ich am Ende meiner Aus­ führungen zu sprechen komme. Daß diese vier Män­ ner außer ihren eher marginalen alchemistischen Nei­ gungen auch kabbalistische, wohl eher häretisch-kab­ balistische Überzeugungen hatten, kann nicht im Zweifel sein, ebensowenig aber, daß sie, unter jüdi­ scher Perspektive gesehen, nur Randfiguren an den oder schon jenseits der Grenzen der jüdischen Tradi­ tion waren.

III

Diese Untersuchung abschließend, möchte ich auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, wie für die christlichen Theosophen und Alchemisten Europas Al­ chemie und Kabbala weitgehend synonyme Begriffe werden konnten und wie dieser Prozeß der Identifika­ tion der Bereiche seinen literarischen Niederschlag ge­ funden hat. Zum Verständnis dieses Übergangs von der Kabbala zur Alchemie, wie er sich nach 1500, vor allem aber von etwa 1600 an vollzog, scheinen mir zwei Elemente wichtig, welche diesen, wie wir sahen, fragwürdigen 163 Ein großer Teil der Ordensschriften, in denen die Verbindung von Alche­ mie, Theosophie und Kabbala deutlich hervortritt, sind in Berlin 1803 aus dem Nachlaß von Isaak Daniel Itzig von einem Unbekannten, der sich Frater aScrutato nannte, veröffentlicht worden.

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Bedeutungswandel im wesentlichen herbeigeführt ha­ ben. Ich lasse dabei, ohne seinen Einfluß übrigens zu unterschätzen, das dritte Element beiseite, das hier mitgewirkt hat und am nächsten liegt: die Markt­ schreierei. Von ihr gelten Kopps Worte, die er mit Be­ zug auf manche Kategorien alchemistisch-kabbalisti­ scher Werke gebraucht: »Für sie... war die Kabbala nur die Klapper, welche meist schon auf den Titeln in Bewegung gesetzt wurde, um die Aufmerksamkeit des leselustigen... Publikums auf Bücher zu lenken, deren Verfasser von dieser Art von Geheimwissen auch nur in Rücksicht darauf, was und wie es das leisten solle, nichts verstanden.«1M Ob Kopp nun der Meinung war, andere Elemente hätten eine echte Beziehung zwi­ schen der Alchemie und der Kabbala gestiftet, beson­ ders seit dem Erscheinen der Kabbala Denudata, habe ich aus seinen ironisch klingenden Äußerungen nicht mit Gewißheit entnehmen können. Jedenfalls verfol­ gen die nachstehenden Ausführungen eine andere Richtung. Man darf wohl sagen, daß die aufsehenerregende, daher auch pünktlich vom Papst verdammte These Pico della Mirándolas von der Kabbala und der Magie als den »zwei Wissenschaften, die deutlicher als alle anderen die Gottheit Christi beweisen«, am Anfang des Prozes­ ses steht, der solche Identifikation der Kabbala mit an­ deren Disziplinen einleitet. Bei Pico handelte es sich, in Verfolg der Suche des Florentiner Kreises um Marsilio Ficino nach der gemeinsamen Urreligion und Urtradi­ tion der Menschheit, die sich nur in verschiedenen, aber auf dasselbe Ziel ausgerichteten Symbolen äußere, um die Einführung der Kabbala in diese Welt der Symbole. 164 Kopp, II. S. 232.

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Bei ihm und seinen nächsten Nachfolgern wiejohannes Reuchlin, dem Kardinal Egidio da Viterbo, dem Fran­ ziskaner Francisco Giorgio und dem gelehrten Kon­ vertiten Paulus Riccius handelt es sich noch nicht um Alchemie. Aber die zwei Elemente, die, wie ich eben sagte, in dem uns beschäftigenden Ubergangsprozeß wesentlich waren, stammen in der Tat, wenn auch noch nicht in systematisch durchgeführter Form, aus seinen Schriften, nämlich die christliche Umdeutung der Kab­ bala und die Magie, wie er sie verstand. Freilich entfernt sich die natürliche Magie des 16. Jahrhunderts, welche vor allem die occulta philosophia des Agrippa von Net­ tesheim zur Grundlage hat, obwohl diese gleich zu An­ fang Picos Definition der Magie aufnimmt, schon stark von dessen Begriff von Magie, in welchen sie mittelal­ terliche Elemente der Angelologie, Dämonologie und Geisterbeschwörung hineintrug. Agrippa identifi­ zierte, unter dem Einfluß mancher Ausführungen in den zwei der Kabbala gewidmeten Werken Reuchlins165 und bei wohl direkter Kenntnis einiger Stücke aus der »praktischen Kabbala«, in seinem großen Har­ monisierungswerk aller Geheimlehren die Kabbala weitgehend mit Magie, wie er, Agrippa, sie verstand. Er nahm gewisse Elemente der spekulativen Kabbala mit hinüber, wenn sie sich ungefähr seinem okkultistischen System einfügen ließen, wobei mitunter auch ganz fal­ sche Zuordnungen unterliefen, wie z. B. im III. Buch, Kap. io, über die sieben Sefiroth zu den Planeten. Tie­ fere Kenntnisse der kabbalistischen Lehre und Symbo­ lik hat Agrippa nicht gehabt, aber im Zusammen­ schweißen der jüdisch-mittelalterlichen mit der christ­ lichen Angelologie und Dämonologie stand er seinen 165 De Verbo Mirifico, Basel 1494, und De Arte Cabalística, Hagenau 1517.

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Mann. Natursymbolik nach neupythagoreischer Art durfte von jedem gläubigen Jünger seiner Lehren, und an denen fehlte es nicht, mit gutem Gewissen kabbali­ stisch genannt werden. Es kann nicht wundernehmen, daß bald nach Agrippa, also vor allem von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun­ derts an, ein breiter Strom fremder, großenteils aus Ge­ lehrtenspekulation stammender, kosmologischer und kosmogonischer Ideen einbrach und sich des vorhan­ denen Rahmens der Naturmagie in seinem Sinn be­ diente.166 Auf dem Gebiet der Alchemie spiegelt diesen Einfluß der Agrippaschen Richtung vor allem das seit 1615 öfters gedruckte Buch Cabala, Spiegel der Kunst und Natur in Alchymia, wider, dessen »alchemistisch­ kabbalistische« Tafeln mit der jüdischen Kabbala nicht das geringste zu tun haben. Bemerkt sei auch, daß aus dieser Richtung Agrippas der Begriff der Kabbala als Zauberkunst niederster Stufe sich in weiten Kreisen herschreibt. Denn als Agrippas gelehrte Magie in der gelehrten Welt ihren Kredit verlor, drang sie, oft natür­ lich in sehr vereinfachter, ich hätte fast gesagt, brutaler Form, in die unteren Volksschichten ein und hat da­ durch - oft unter dem Prunknamen der Kabbala - in den Zauberbüchern Westeuropas eine hier und da noch heute nicht erloschene Rolle gespielt. Gerade diese Zu­ sammenhänge sind durch die Forschungen über die Faustsage und die Faustzauberbücher aufs lebendigste hervorgetreten.167 Während die Beziehungen der Naturmagie zur Kab166 Dieser Prozeß ist vor allem in dem schon erwähnten Werke Peuckerts, Pansophie (1936), detailliert beschrieben, wozu jetzt noch François Secret, Les kabbalistes chrétiens de la renaissance, Paris 1964, kommt. 167 Siehe vor allem Karl Kiesewetter, Faust in der Geschichte und Tradition (1893), vor allem den 2. Band.

III

bala bei Agrippa sich noch präzise bestimmen lassen und das alchemistische Moment dabei fehlt, vermag ich die Frage nach dem Verhältnis des Paracelsus zu diesem Problemkomplex der Beziehung von Alchemie, Magie und Kabbala nicht auf Grund eigenen Studiums zu be­ antworten. Die keineswegs eindeutige Stellung dieses bedeutendsten Okkultisten des 16. Jahrhunderts zur Kabbala, die er aus Reuchlins und Agrippas Schriften kannte, bedürfte einer besonderen Untersuchung, zu der mir in Jerusalem das nötige Instrumentarium, vor allem die große kritische Ausgabe von Sudhoff, nicht zur Verfügung steht. Die Ausführungen in den zwei großen Werken von Will-Erich Peuckert, Pansophie (1936) und Gabalia (1967), die so eingehend über die Wirkung Agrippas, Paracelsus’ und ihrer Schulen han­ deln, haben mich in der entscheidenden Frage nach der Stellung des Paracelsus selber ratlos gelassen, und ich muß hoffen, daß ein anderer, kritisch gestimmter For­ scher das komplexe Problem angeht. Unvergeßlich ist mir aber der Besuch, den ich mit ei­ nem Freunde vor zwanzig Jahren der wunderbaren mystischen Bibliothek von Oskar Schlag in Zürich ab­ stattete, wo ich aufs ungefähre einen Band der Sudhoffschen Ausgabe des Paracelsus aus dem Schrank zog. Mein Auge fiel direkt auf einen Satz, der mit den Wor­ ten begann: »Der Teufel, großer Cabalist, der er ist...« War das nun, was man einen Zufall nennt?! Erst viel später fand ich, daß Paracelsus zwischen einer teufli­ schen und einer göttlichen Kabbala unterscheidet, von denen er die eine verwirft und die andere in den Him­ mel hebt. Konnten die Alchemisten schon aus der Gleichsetzung der experimentellen Magie mit der Kabbala bei Agrippa und seiner Schule eventuell den Schluß ziehen, daß 112

auch die natürlichen, experimentellen und doch okkul­ ten Prozesse der Alchemie unter den Sammelbegriff Kabbala fielen, so konnten die eher mystisch und theo­ logisch Gestimmten unter ihnen die »christliche Kab­ bala« zur Identifizierung der beiden heterogenen Dis­ ziplinen benutzen. Der Ausdruck »christliche Kab­ bala« für ganz- oder halbkabbalistische Spekulationen christlicher Tendenz wird von ihren oben genannten ersten Vertretern noch nicht gebraucht. Er erscheint zuerst als Titel eines französischen Lehrgedichtes La saincte et trescrestienne cabale, das der Franziskaner Jean Thenaud dem König Franz I. von Frankreich wid­ mete, das aber damals nicht gedruckt und erst in unse­ rer Zeit zum Teil veröffentlicht wurde.168 In den zahl­ reichen gedruckten Texten dieser Richtung aus dem 16. Jahrhundert fehlt sowohl diese Terminologie als übri­ gens auch ihre deutliche Verbindung mit der Alche­ mie. Die entschiedene Vermischung der genannten Ele­ mente tritt mit vollem Nachdruck in dem großen Fo­ lianten des seinerzeit berühmten Alchemisten und My­ stikers Heinrich Khunrath aus Leipzig (i 560-1605) auf, dem 1609 erschienenen Amphitheatrum sapientiae aeternae solius verae, christiano-Cabbalistico, divinomagicum nec non physico-chymicum tertrinuum catholicum, mit dem dieser Identifikationsprozeß sehr nach­ drücklich einsetzt.16’ Der wortreiche Autor schwelgt in der Bilderwelt der von ihm im Titelblatt beschriebenen Disziplinen. Seine Begriffe von dem, was kabbalistisch 168 Vgl. J. L. Blau, The Christian Interpretation of the Cabala in the Renais­ sance, New York 1944, S. 89-98, 121-144. 169 Die gemeinhin verbreitete Ausgabe ist Hanau 1609 erschienen, aber es exi­ stiert schon eine 1608 in Magdeburg herausgekommene. Mir war von dem sel­ tenen Buch nur die 1900 in Paris erschienene französische Übersetzung von Grillot de Givry zugänglich.

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ist, sind offenkundig durch das in Basel 1587 erschie­ nene Sammelwerk des Johann Pistorius, Artis Cabalisticae... Scriptorum Tomus I, bestimmt, einen Folian­ ten von fast tausend Seiten, in welchem zwei authenti­ sche Texte der Kabbala mit christlich-kabbalistischen Schriften Picos, Reuchlins, Paulus Ricius’ und des Franziskaners Archangelus de Burgonovo mit den sei­ nerzeit berühmten Dialogen über die Liebe des Leone Ebreo (Juda Abarbanel) zusammengestellt waren. All dies heterogene Material, das zum Teil gar nichts oder sehr wenig mit der authentischen Kabbala zu tun hat, wird von ihm als kabbalistisch aufgenommen, übri­ gens, soweit ich sehe, ohne seine Quelle je zu nennen. Khunraths Interesse an Alchemie, und zwar vor allem der mystisch verstandenen, war überwältigend und bil­ det schon das Thema seiner dem Hauptwerk vorange­ henden Schriften. In einer von ihnen, die weit verbrei­ tet war, behandelte er das »hylische Chaos« in reicher Symbolik als die prima materia der Alchemie und trug damit nachdrücklich zur Parallelisierung des göttlichen Siebentagewerks der Schöpfung mit dem entspre­ chende Stadien durchlaufenden »großen Werk« der Al­ chemisten bei.170 Die großen allegorischen Kupfer von Khunraths Werk, die schon einige Jahre vorher geson­ dert erschienen, galten in den Kreisen der Alchemisten und Theosophen als eine bedeutende Darstellung des­ sen, was unter Kabbala verstanden wurde.171 Diese 170 Khunraths Schrift, Vom hylischen Chaos, erschien deutsch 1597, lateinisch im nächsten Jahr. Ich habe dieses Werk erst 1978 in Den Haag einsehen können. In dasselbe Gebiet fällt sein posthum veröffentlichtes Werk De Igne Magorum, Straßburg 1608. 171 Diese Kupfer erschienen schon von 1602 an gesondert. Die ebengenannte Erstveröffentlichung von De Igne Magorum von 1608 enthielt als zweiten Zu­ satz auch einen anonymen Bericht eines Cabalisten über die 4 Figuren des gro­ ßen Amphitheatri Khunradi. Ich habe diesen Bericht noch nie gesehen.

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Kupfer waren auch dem berühmten Kabbalisten der lurianischen Schule, Jakob Zemach, unter die Hand ge­ kommen, offenbar noch in seiner krypto-jüdischen, marannischen Periode in Spanien, bevor er in Saloniki offen zum Judentum zurückkehrte. Er macht sich in ei­ ner seiner Schriften, in der er gegen die christliche Kab­ bala als eine völlige Verfälschung polemisiert, über sie lustig. Er nennt Khunrath zwar nicht, seine Beschrei­ bung läßt aber keinen Zweifel an der Identität der von ihm beschriebenen Bilder zu.172 Eher vorsichtig in seiner Beurteilung der Kabbala als Element der Alchemie ist das kurz nach Khunraths Werk erschienene, seinerzeit hoch angesehene Lexicon Alchemiae des Paracelsisten Martin Ruland173, während in den folgenden Jahrzehnten sich bei den mystischen Alchemisten diese Identifizierung als fast selbstver­ ständlich geltend macht. Eine frühere, ungefähr auf die Zeit Khunraths zurückgehende klare Identifizierung der Alchemie mit der Überlieferung der Kabbala findet sich in den Interpolationen des P. Arnauld, die er in seine erste Ausgabe des alchemistischen Libre des fi­ gures hiéroglyphiques des Nikolas Flamel von 1612 ein­ geschmuggelt hat. Bei der Beschreibung der Blätter der angeblichen Papyrushandschrift, die dem Flamel un­ terkam, legt ihm Arnauld den Satz in den Mund, daß, obwohl das Werk der Alchemie hier mit großem Fleiß und Geschick in Figuren vorgestellt sei und daraus klar und verständlich genug erkannt werden könne, doch niemand, ohne sehr gut in ihrer (d. h. der Juden) durch die Tradition fortgepflanzten Kabbala (Cabale tradi172 Ich habeZemachs Polemik gegen diese Kupfer in Kirjath Sepher 27 (1951), S. 108, veröffentlicht. 173 M. Ruland, Lexicon Alchemiae, Frankfurt 1612, S. 295 ff.

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tive) fortgeschritten zu sein und ohne fleißige Durch­ forschung ihrer Bücher sie (die Alchemie) verstehen könne.174 Um dieselbe Zeit stellt auch der Paracelsist Franciscus Kieser, der aber in diesen Jahren auch Kenntnis von un­ veröffentlichten Schriften Khunraths hatte, Kabbala und Alchemie im selben Geiste zusammen. Er veröf­ fentlichte 1606 als eine Art Extrakt der Paracelsischen Lehren eine Cabala chymica, in der es heißt, daß die Magie die Philosophie der Alchemie sei »und dazu ein vorzüglicher Teil der Kabbala«, die er freilich, echt paracelsisch, in eine teuflische und eine vollkommene scheidet, also in eine verworfene und eine, die nichts anderes ist als höchste Vollendung der wahren Philoso­ phie. In demselben Buch erklärt er, ganz wie der Inter­ polator des Flamel und später Thomas Vaughan, es sei »klärlich abzunehmen, daß keiner zur Erlangung des sumni arcani in Ewigkeit wird kommen können, er sei denn zuvor in Magia und Cabala überaus wohl erfah­ ren, sintemal alle diejenigen, so den Lapiden jemals ge­ habt haben, Magi und Cabalisten, wie solches genug­ sam zu beweisen, gewesen sind«.175 Das steht sehr nahe an Khunraths Satz, daß »Kabbala, Magia und Alchymia miteinander verbunden und angewendet werden sollen und müssen«.176 174 Auf diese Interpolation hat François Secret in der Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 35 (1973)» S. 104, hingewiesen, der eine Edition des Livre des figures hiéroglyphiques von Paris 1970, S. 77, zitiert. Über Flamel vgl. auch Waite, The Secret Tradition in Alchemy, S. 137-162. 175 Ich kann den Ursprung der zweiten kabbalistischen Interpolation Arnaulds in diesem Text, die Secret anführt (S. 110), nicht feststellen. Er zitiert et­ was, was »die alten weisen Kabbalisten« in den »Metamorphosen der Schlan­ ge des Mars« geschrieben haben sollen. Was damit gemeint ist, weiß ich nicht. 176 Aus Khunraths De Igne Magorum, neue Aufl., S. 75.

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Die mystische Auffassung der Alchemie fand kurz nach den eben genannten Schriften ihren besonders weithin wirksamen Ausdruck in den von 1614 an er­ schienenen Schriften der sogenannten Rosenkreuzer, vor allem der Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz, als deren Autor heute allgemein der schwäbische Theologe und Theosoph Johann Valen­ tin Andreä (1586-1654) anerkannt ist, der in seinen schwärmerischen Jugendjahren von einer allgemei­ nen Reformation der Christenheit auf mystischem Hintergrund träumte. Es ist für uns gleichgültig, ob eine wirkliche Organisation der Brüderschaft vom Rosenkreuz vor dem 18. Jahrhundert je bestanden hat, aber einige der damaligen Auseinandersetzungen über die von den Grundschriften der Rosenkreuzerei ausgehende Bewegung sind für den Prozeß, den wir hier betrachten, durch ihren nachhaltigen Einfluß bedeutend. Vor allem englische Theosophen, die an diesen Debat­ ten besonders lebhaft teilnahmen, sind für die Durch­ setzung der Identität von christlicher Kabbala, Alche­ mie und Magie in weiteren Kreisen wichtig geworden, vor allem auch durch den gewaltigen Einfluß, den sie auf die späteren Organisationen des Rosenkreuzertums im 18. Jahrhundert ausübten. Ich denke hier in erster Linie an Thomas Vaughan und den etwas älteren Ro­ bert Fludd (1574-1637). Mehrere von Fludds Schriften sind von der Gleichsetzung der kabbalistischen mit der alchemistischen Symbolik durchzogen, wobei freilich die Goldmacherei nur ein materielles Symbol der Transmutation des Menschen selbst zum Stand der Vollkommenheit in Christus ist. In Fludds Traktat »Die goldene Egge der Wahrheit« (um 1625 geschrie­ ben) und seinem letzten großen Buch, der Philosophia

Moysaica177, findet er in einer, in den Quellen freilich ganz anders gerichteten kabbalistischen Symbolik der zwei Erscheinungsformen des Buchstabens Alef die al­ chemistische Transmutation der dunklen materia prima zum hell leuchtenden Stein der Weisen wieder.178 Ein Kabbalist des 13. Jahrhunderts, Jakob Kohen aus Soria, unterschied in seiner Erklärung des hebräischen Alphabets eine dunkle, äußerliche Form der Buchsta­ ben, von ihrer hellen, mystischen Gestalt, die auf dem Pergament der Tora in den weiß gelassenen Räumen zwischen den von der Tinte schwarz konturierten sichtbaren Formen symbolisiert wird. Reuchlin, der diesen Traktat in einer ihm vorliegenden kabbalisti­ schen Handschrift, die wir noch besitzen179, gelesen hat und zitiert, regte Fludd zu der immer wieder in seinen Schriften auftauchenden alchemistischen Umdeutung an. Die Steine auf dem Brustschild des Hohen Priesters, aus denen schon von den Kabbalisten mystisch gedeu­ tete Lichter brachen, die in der Tora Urim we-tummim hießen - das hebräische Urim, dessen ursprüngliche Bedeutung nicht mehr klar ist, konnte leicht als Lichter verstanden werden -, weisen Fludd zufolge auf den Prozeß der Verwandlung der »Steine« hin, der im Stein der Weisen, der eben jenes Urim sei, seine Vollendung finde. So durchsetzten alchemistische Deutungen von 177 Fludds Traktat Truth's Golden Harrow wurde von C. H. Josten in der Vierteljahrsschrift III (1949), S. 91 -150, veröffentlicht. Die Philosophia Moysaica liegt mir in der Ausgabe Gouda 1638 vor. 178 So z. B. in Jostens Traktat, S. 115 und 124, und in der Philosophia Moy­ saica, Bl. 20a, 23 c und noch oft. 179 Vgl. dazu mein Buch Judaica III, Frankfurt 1973, S. 251-252. Jakob Kohens Erklärung der hebräischen Buchstaben habe ich seinerzeit in Madda'ehaJahaduth II, Jerusalem 1927, veröffentlicht, wo die Stelle über die zwei Gestal­ ten des Alef S. 201-202 steht. Reuchlin benutzte dies, ohne übrigens seine Quelle zu identifizieren, in de arte cabalica, Bl. LXIIv (in F. Secrets französi­ scher Übersetzung 1973, S. 249).

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Bibelversen und kabbalistische, wohl stets auf Pistorius zurückgehende Motive, neben vielen anderen Quellen entnommenen Bildern diese Schriften Fludds. Dasselbe läßt sich von den noch im 18. Jahrhundert viel gelesenen Traktaten des Thomas Vaughan sagen, der die beiden Symbolwelten ununterbrochen vermischt und aufeinander bezieht. In seiner Magia Adamica sagt er ausdrücklich, daß die Kabbala der Juden chymisch war und sich in naturgemäßen Veranstaltungen aus­ drückte, wofür er sich freilich als Belegstelle auf das fik­ tive Buch des Juden Abraham bezieht, das den Enthül­ lungen des Nikolaus Flamel zugrunde liege.180 Diese Schriften sind alle 25 bis 50 Jahre vor der Veröffentli­ chung der Kabbala Denudata verfaßt. Es ist nur natür­ lich, daß Autoren dieses Geistes in Knorrs Werk dann die Bestätigung ihrer schon lange vorher gehegten Mei­ nung über die Harmonie, wenn nicht gar Identität zwi­ schen Alchemie und Kabbala finden konnten. Aber noch ein Werk wie das nur zwei Jahre nach dem ersten Band der Kabbala Denudata (mit dem esch mezaref) erschienene Coelum Sephiroticum Hebraeorum des Jo­ hann Christophorus Steeb (Mainz 1679) weiß noch nichts von diesen neuen Entwicklungen, und dersephirotische Himmel ist hier ausschließlich mit den Mitteln beschrieben, die ihm Agrippa und die Sammlung des Pistorius lieferten, mit Medizin und Naturkunde, vor allem aber auch mit Alchemie versetzt. Es ist repräsen­ tativ für den gutgläubig als kabbalistisch angenomme­ nen Geist der Natursymbolik. Ich vermag nicht zu sagen, wann bei den Alchemisten der Gebrauch der ineinander verschachtelten zwei Dreiecke des Hexagramms für die alchemistische Ver180 In der mir vorliegenden deutschen Übersetzung der Magia Adamica Leipzig 1735, S. 70.

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bindung von Feuer und Wasser aufgenommen ist, der durch die aus dem jüdischen Midrasch übernommene Deutung des hebräischen Wortes Himmel, schamajim, als Verbindung von esch Feuer und majim Wasser er­ klärt wurde. Um 1720 jedenfalls war dies eine schon be­ kannte und gern ins Alchemistische gewendete Symbo­ lik. Peuckert führt das Hexagramm in einem Kreis als ein von den Juden benutztes magisches Zeichen an, das sie angeblich in der Nekromantie verwenden, wofür er sich schon auf Paracelsus beruft, aber in den Anmer­ kungen zugibt, daß die betreffende Zeichnung sich nur in einer handschriftlichen Marginalie in einem Exem­ plar der Huserschen Ausgabe des Paracelsus befindet, die er in Breslau benutzt hat.181 Wohl konnte aber diese Zeichnung mit der auch in jüdischen Amuletten, wenn auch keineswegs nur in ihnen, auftretenden magischen Verwendung des Hexagramms als »Siegel Salomos« und später »Schild Davids« Zusammenhängen, über die ich an anderer Stelle ausführlich gehandelt habe.182 Si­ cher war solche jüdische Terminologie des »Davids­ schilds« dem alchemistischen Autor bekannt, der 1724 in Berleburg, einem berühmten Zentrum christlicher 181 Vgl. Peuckert, Pansophie, S. 24$, wo die Zeichnungen des Pentakels und des Hexagramms im Doppelkreis abgebildet sind, von welchen Paracelsus sagt, daß diese Charaktere auch jetzt noch bei einigen Juden »hochverborgen behal­ ten werden. Denn sie vollbringen alles, lösen allen bösen Zauber, sind mächtig gegen den Teufel und mehr wert als alle Figuren, Pentacula, Sigilla Salomonis, weil es der Name des Höchsten ist, den man gebraucht«. Der Widerspruch die­ ses Satzes zu den dort abgebildeten zwei Zeichnungen ist manifest. Daß sie aber in Wirklichkeit gar nicht jüdischen, sondern christlichen Ursprungs sind, ist aus den Inschriften evident. Dem Pentakel ist nicht nur in lateinischen Buchsta­ ben die griechische Bezeichnung des Gottesnamens te-tra-gram-ma-ton, son­ dern auch der Name Jesu in der üblichen älteren Schreibung Jhsus eingeschrie­ ben, und ebenso hat das Hexagramm auf lateinisch die beiden Namen Adonai und Jeova-alles bei Juden offenkundig unmöglich. Über die spätere Zufügung der Zeichnung siehe dort S. $08. 182 Siehe mein Buch Judaica I, Frankfurt 1964, S. 75-118.

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Theosophie, ein Büchlein veröffentlichte, das den Titel führte Naturae naturantis et naturatae Mysterium, das ist Geheimniss der Natur im Schild Davids.'93 Am Schluß dieser Entwicklung stehen zwei süddeut­ sche Theosophen, in deren Schriften Kabbala und Al­ chemie jene innige Verbindung eingegangen sind, de­ ren Entstehung ich hier beschreiben wollte, beides ausgesprochen mystisch gestimmte Geister, die für ihre Theosophie eine möglichst universale Symbolik zu entfalten suchten. Das sind Georg von Wel­ ling (1652-1727) und Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), beides Männer von bedeutendem Einfluß auf ihre und die ihnen nachfolgende Generation. Wel­ lings großes Werk verrät schon in seinem dem Zeit­ geschmack entsprechenden langen Titelblatt ziemlich genau sein Wesen. Vollständig erschien es zuerst 1735 als »Opus Mago-Cabbalisticum et Theosopohicum, darinnen der Ursprung, Natur, Eigenschaften und Ge­ brauch des Saltzes, Schwefels und Mercurii in dreyen Theilen beschrieben, und mit sehr vielen sonderbaren mathematischen, theosophischen, magischen und my­ stischen Materien, auch die Erzeugung der Metalle und Mineralien aus dem Grunde der Natur erweisen wird; samt dem Haupt-Schlüssel des ganzen Wercks und vie­ len curieusen mago-cabbalistischen Figuren. Derne noch beygefüget: Ein Tractätlein von der Göttlichen Weisheit; und ein besonderer Anhang etlicher sehr rarund kostbarer chymischer Piecen«. Dieses Buch lag 1769, als Goethe in den Kreis des Fräulein Susanna von Klettenberg trat, auch auf seinem Schreibtisch, und er hat es in seiner Art in Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 183 Dies Buch wurde 1909 im Katalog 539 (Judaica und Hebraica) des Anti­ quariats Joseph Baer & Co in Frankfurt unter Nummer 817 angeboten. Ich habe bisher kein Exemplar finden können.

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8. Buch gegen Ende beschrieben, ohne daß klar würde, worum es dem Autor eigentlich ging. Diese Absicht war im Grunde schon die des Paracelsus, der sich im Zentrum seiner Bemühungen vorgenommen hatte, die zwei Lichter, das Licht der Gnade und das Licht der Natur, aufeinander zu beziehen und in der Dialektik ihrer Wirksamkeit aufzuzeigen. Wie Welling in seiner Vorrede sagt, ist sein Vorhaben nicht darauf gerichtet, physische Alchemie, »Gold machen zu lehren, sondern unser Absehen gehet auf etwas weit höheres, nemlich, wie die Natur aus Gott und wie Gott in derselben möge gesehen und erkannt werden, und wie ferner aus dieser Erkänntnis der wahre reine Dienst der Creatur als ein schuldiges Dank-Opffer gegen den Schöpfer fließe«. Theosophisch umgedeutete alchemistische Vorstellun­ gen beherrschen den Aufbau und Gedankengang des umfangreichen Buches, aber immer wieder werden sie mit den Gedanken der Mago-Cabbalisten verwoben, wodurch die völlige Amalgamierung dieser beiden Be­ reiche vollzogen wird. Dieser Ausdruck Mago-Cabbala zeigt schon die von Pico eingeführte und seitdem stetig sich entwickelnde Koordinierung von Magie und Kabbala an, die in allen uns hier vorher begegneten Schriften und auch bei Jacob Boehme anzutreffen ist.184 Dabei hat Welling, der zweifellos ein außerordentlich gebildeter und belesener Mann war, auch einige Rück­ stände jüdisch-kabbalistischer Vorstellungen über­ nommen, kannte auch recht gut Knorrs Kabbala Denudata, aber im wesentlichen ist Kabbala bei ihm nicht sehr verschieden von dem, was Paracelsus und seine Schule unter diesem Begriff verstanden, und daher nur 184 Die Stelle bei Boehme steht in den Theosophischen Fragen... von göttli­ cher Offenbarung in der dritten Frage § 34, in der Schieblerschen Edition von 1846, Band 6, S. 602.

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durch Namensgleichheit mit der jüdischen Tradition verbunden. Der grundlegende Mythus, der den Ausgangspunkt seines Werkes (vor allem im ersten Kapitel über das Salz und das Siebentagewerk der Schöpfung) bildet und von vielen späteren übernommen worden ist, ist der kabbalistischen Tradition durchaus fremd. Er ist eine in sich durchaus originelle Variante der aus der jüdischen Apokalyptik (dem Buche Henoch) stammenden und von den Gnostikern weiter ausgebauten Vorstellung von der Revolte Luzifers im Anbeginn der Schöpfung. Mit Recht sind Wellings diesbezügliche Grundgedan­ ken als ein »kosmischer Geschichtsmythos« bezeichnet worden.185 »Im Anfang bestand die Lichtwelt Gottes und der Geister, in deren Zentrum Luzifer als das erste und herrlichste Geschöpf Gottes das Göttliche wider­ spiegelte. Doch Luzifer hemmte durch seinen Willen die Einwirkung des göttlichen Lichtes.« So entstand in seiner Sphäre ein Raum des Chaos, des Finsteren und Schweren, aus welchem Gott das Sonnensystem schuf. Luzifer hatte nämlich, im Bewußtsein und der Wahr­ nehmung der ihn umgebenden Glorie schwelgend, sei­ nen Ursprung vergessen und sich dadurch, durch die Entwicklung eines eigenen Willens, von Gott abgeson­ dert. Nach Gottes Plan sollte Adam statt Luzifer »Bild und Gleichnis Gottes sein und die Erde beherrschen«. Aber im Fall Adams wandte auch er sich von Gott ab, und die Geschichte besteht in dem Kampf zwischen den luziferischen und den göttlichen Gewalten in der Schöpfung und im Menschen selbst. Erst in der Endzeit wird durch Gottes eingreifendes Feuer der Strenge die 185 So Erich Trunz in der Hamburger Goetheausgabe (1955), Band 9, S. 717, dessen ausgezeichneter Rekapitulation, die ich nachgeprüft habe, ich hier fol­

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Welt verwandelt, die Lichtwelt Gottes wiederherge­ stellt und alle Wesen, letzten Endes auch Luzifer selbst, in ihren ursprünglichen harmonischen und vor-dialektischen Zustand zurückversetzt werden. So steht jedes der drei alchemistischen Grundelemente des Paracel­ sus, Salz, Schwefel und Mercur, in besonderer Bezie­ hung zu je einer Epoche der Heilsgeschichte: das Salz zur Lichtwelt Gottes, dem Fall Luzifers und der Welt­ schöpfung der Genesis; der Schwefel zum Lebensbal­ sam aller Kreaturen, aber auch zu dem vernichtenden Feuer, das den Zustand des Menschen nach dem Tode und die Endzeit des Jüngsten Gerichtes bestimmt; der Mercur aber zur Wiederbringung aller Dinge im Aon des neuen Himmels und der neuen Erde. Eine große Rolle spielt dabei für Welling ein von den Mago-Kabbalisten hergeleitetes, jüdisch-haggadisches Element, das nicht notwendigerweise kabbalistisch war. Das hebräische Wort für Himmel, schamajim, wurde nämlich schon im alten Midrasch als Vereini­ gung von Feuer und Wasser, esch und majim, erklärt.196 Diese Etymologie, auch von den jüdischen Kabbalisten übernommen, geriet schon mit Pico und Reuchlin in die christliche Kabbala, wo sie weit verbreitet war. Für Welling vereinigen sich in dem himmlischen »feurigen Wasser«, dem esch-majim, das der Weltschöpfung vor­ angeht, die drei Elemente, was er symbolisch in einem Kreis darstellt, in dem ein Hexagramm eingezeichnet186 186 Vgl. auch oben, S. 120. - Im babylonischen Talmud, Chagiga 12a, wird diese Erklärung aus einer Baraitha (nicht-autoritative Mischna) zitiert. Im Midrasch Bereschith rabba, Sect. 4 § 8 (Ed. Theodor, S. 31) wird sie, wie sehr viele auf das Sechstagewerk bezügliche Äußerungen im Talmud, auf Rabh zu­ rückgeführt, den Hauptvertreter der esotorischen Tradition in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Theodor führt a.a.O. noch weitere Äußerungen dazu sowie Stellen an, die schon einen Konflikt zwischen Feuer und Wasser, der im »Himmel« geschlichtet sei, voraussetzen.

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ist, wie ja bei den Alchemisten die zwei verschieden ge­ richteten Dreiecke in der Tat als Zeichen für die Ele­ mente Wasser und Feuer verwendet wurden. So ge­ langte gerade durch Welling die Figur des jüdischen Davidsschildes, dessen er gar nicht bewußt gewesen zu sein scheint, in viele alchemistische und rosenkreuzerische Schriften des 18. Jahrhunderts als Symbol der Vollendung.187 Natürlich erwähnt Welling auch authentische kabbali­ stische Ideen, wie die Spekulationen über die Sefiroth, durch die die »hebräischen Mago-Cabbalisten« die un­ terschiedlichen Wirkungen der Gottheit zu den Gei­ stern, Engeln und irdischen Kreaturen aufzeigen.188 Aber gerade davon setzt er sich aufs entschiedenste ab. Diese Stelle zeigt, wie wenig sein Buch eine Quelle für die Kenntnis der jüdischen Kabbala sein konnte und wie hier alles ins Christliche (und Alchemistisch-My­ stische) verwandelt worden ist. Er schreibt (S. 208): »Allein, weil wir alle diese ihre Geheimnisse und wun­ derbare Eintheilungen, mit der Wahrheit der Heil. Schrift niemalen zusammen reimen können, in derThat 187 Die Figur des Hexagramms in einem Zirkel findet sich bei Welling (ohne Inschrift und rein alchemistisch gedeutet) auf der ersten Tafel, zu Seite 8, sowie auf der fünften, zu Seite 96. Wellings Spekulationen über Schamajim als das himmlische Feuer, das sich in die Sonne, und das himmlische Wasser, das sich in den Mond als deren Behältnisse ergießt, finden sich gleich am Anfang, S. 6-7, und durchziehen dann das ganze Buch. Suler bemerkt ohne nähere Nachweise (Artikel Alchemie 1928, col. 138), er habe diese Zeichnung in mehreren alche­ mistischen Büchern des 18. Jahrhunderts gefunden. In den Schriften der Rosen­ kreuzer und mystischen Freimaurer, vor allem in den gedruckten Instruktio­ nen der »Asiatischen Brüder«, ist die Figur häufig. In der freimaurerischen Li­ teratur heißt sie dann meistens »Signatstem«. 188 Wenn Welling von Mago-Cabbalisten schlechthin spricht und öfters auch Zitate von ihnen bringt, so sind das, soweit ich nachprüfen konnte, keine authentischen kabbalistischen Sätze. Sie wirken eher als Zitat aus Paracelsischer oder verwandter Literatur. Es wäre interessant, ihre Quellen nach­ zuweisen.

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auch keinen Grund haben, weilen sie [die Juden] die Offenbahrung Göttlicher Majestät Fiat nicht erken­ nen189; als haben wir uns derselben auch gar nicht be­ dienen wollen. Ihre Cabbala ist also beschaffen, daß man, weiß nicht was, daraus erzwingen könnte; wer aber das Neue Testament mit dem Alten in allen Stükken wohl zu vereinigen weiß, derselbe hat die rechte Cabbalam vollkommen erlernet... Die Jüdische Cab­ bala ist nichts, als ein Mißbrauch Göttlicher Namen, fast in allen Stücken.« Man darf sagen, daß mit dieser Deformation oder Transformation, um nicht zu sagen Transmutation, der jüdischen Kabbala in eine rein christliche und damit der alchemistischen Umdeutung wesentlich leichter zugängliche, ein Ende des Prozesses erreicht ist, der uns hier beschäftigt hat. Der Eindruck von Wellings Buch war groß genug, um in den mystischen Entwicklungen der Freimaurerei um 1780 als eine Hauptquelle ihrer Ideen verwendet zu werden. Sowohl die Lehrschriften der Gesellschaft der »Gold- und Rosenkreuzer« als auch die, teilweise aus demselben Kreis hervorgegangenen, sich aber von ihm polemisch stark absetzenden Lehrschriften der »Asiati­ schen Brüder« haben den Luzifermythus Wellings fast wörtlich aufgenommen.190 In den Schriften der »Asiati189 Welling meint mit dem Fiat wohl die nach ihm in Genesis 1:3 angedeutete Gottheit Christi» die die Juden nicht anerkennen. 190 F. Runkel, Geschichte der Freimaurerei in Deutschland II, Berlin 1932, S. 121; zitiert bei Rolf Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe, Mün­ chen 1969, S. 182: »Das Wellingsche vierte Kapitel von der uranfänglichen Welt ist fast wörtlich in die Unterrichtsakten [d. h. Instruktionen] des ersten Grades, der Jünger, verarbeitet.« Diese Instruktionen sind noch vor 1780 geschrieben, $0 daß Hans Heinrich von Ecker und Eckhofen sie in die erste Stufe der Instruktionen für die »Asiatischen Brüder« von 1782 an übernehmen konn­ te. Eine genaue Vergleichung könnte vielleicht durch die Mitteilungen bei B. Beyer, Das Lehrsystem des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer, Leipzig 192$, welches Buch mir nicht zugänglich war, ermöglicht werden.

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sehen Brüder« freilich hat diese pseudokabbalistische Mythologie sich erstaunlich genug mit einer echten kabbalistischen Tradition über die Anfänge der Schöp­ fung, wenn auch einer häretischen, aus dem Kreis der späteren Anhänger Sabbatai Zwis zusammengefun­ den.1’1 Eine authentischere Verbindung jüdischer Kabbala mit einer durchgeführten alchemistisch-mystischen Sym­ bolik christlichen Charakters hat schließlich, in der Ge­ neration nach Welling, der schwäbische Prälat und Theosoph J. Chr. Oetinger aufgenommen, der von der Theologie und Interessen an damals veröffentlichten Auszügen von christlich gedeuteten Stellen des Sohar herkam1’2 und durch einen Frankfurter Kabbalisten, den jung verstorbenen Koppel Hecht1’3, auf Boehme hingewiesen wurde, der die kabbalistische Symbolik selbständig und auf deutliche Weise entwickelt habe.1’4 Ich brauche über dieses Kapitel nicht besonders zu 191 Ich habe dies in meiner deutschen Arbeit über Ephraim Hirschfeld im Year Book VII of the Leo Baeck Institute, London 1962, S. 270-271, sowie in meiner hebräischen Arbeit über Moses Dobruschka (siehe oben Anmerkung 160), S. 141-142, nachgewiesen. 192 Oetinger benutzte vor allem die Sammlung von Gottfried Christoph Som­ mer, Specimen Theologiae Soharicae cum Christiana Amice Convenientis, Gotha 1734. 193 Koppel Hecht starb im Dezember desselben Jahres 1729, in dem ihm im Frühjahr Oetinger Besuche abgestattet hatte. Sein Grabstein bei Markus Horovitz, Die Inschriften des alten Friedhofs der israelitischen Gemeinde zu Frank­ furt (1901), S. 209. 194 Vgl. dazu auch Ernst Benz, Die christliche Kabbala, Zürich 1958, S. 26-30. Daß Hecht ein angesehener und gelehrter Mann in der jüdischen Gemeinde war, geht aus seinem Grabstein deutlich hervor; daß er der bedeutendste Kab­ balist der Gemeinde war, wie Benz schreibt, ist durch nichts erwiesen. Die Ge­ meinde, die durch die sabbatianischen Elemente in ihr und dem benachbarten Mannheim in den 1720er Jahren stark in Unruhe versetzt worden war und im allgemeinen sich kabbalistischen Tendenzen gegenüber sehr reserviert verhielt, beherbergte noch immer eine ganze Zahl von Kabbalisten, an deren Spitze Da­ vid Grünhut stand (gestorben 1723), der auf seinem Grabstein auch ausdrück­ lich als Kabbalist charakterisiert wird (Horovitz, S. 187).

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handeln, da wir jetzt über die Vorgeschichte kabbalisti­ scher Traditionen bei schwäbischen Theologen des 17. Jahrhunderts und über die »kabbalistische und alche­ mistische Symbolik bei Oetinger« zwei ausgezeichnete Arbeiten des in die Sache tief eingedrungenen Friedrich Häussermann besitzen.1’5

195 Häussermanns Arbeiten Pictura Docens und Theologia Emblemática er­ schienen in Blätter für Württembergische Kirchengeschicbte, 66/67. Jahrgang (1966-1967), S. 65-153, und 68/69. Jahrgang (1968-1969), S. 207-346, sowie Jahrgang 1972, S. 71-112. Diese Arbeiten gehören zu den besten, die bisher über christliche Kabbala des 17. und 18. Jahrhunderts vorliegen.

Der Nihilismus als religiöses Phänomen I Vielleicht muß ich um Ihre Nachsicht bitten, wenn ich eine Tagung, die der Diskussion der Normen gewidmet ist, mit einem Vortrag eröffne, der das Thema von einer durchaus negativen Seite einkreist und nicht von den Normen, sondern von ihrem Abbau und ihrer Entwer­ tung spricht. Freilich ist diese Fragestellung, die einmal an den äußersten Rändern der Philosophie und Reli­ gion stand, in unserer Epoche in ihr Zentrum gerückt. Seit Nietzsche im »Willen zur Macht« ausrief, der Ni­ hilismus, »der unheimlichste aller Gäste«, stehe vor der Tür, ist dieser Gast ja eingetreten und hat sich an der Tafel, die aufzuheben er gekommen war, ziemlich breitgemacht. Die profanen Aspekte des Nihilismus sind es, die dem Zeitgenossen am nächsten liegen und von denen viel­ leicht eine Bestimmung dessen, was unter diesem Be­ griff verstanden worden ist, am besten ausgehen wird, auch wenn hier die Frage erörtert werden soll, wie weit der Nihilismus schon lange vor seinem Auftreten in der modernen Welt im Bereiche der Religionsgeschichte selber als wichtiges Phänomen der Grenze sichtbar ge­ worden ist. Der Terminus Nihilismus kam ursprünglich, im philo­ sophischen Sprachgebrauch in Deutschland und Frankreich, in der konservativen Polemik auf, die sich gegen religionskritische Strömungen, gegen den deut­ schen Idealismus oder auch gegen den Geist der radika­ len Aufklärung richtete, noch bevor er um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Rußland aufgegriffen und zu einem 129

internationalen Schlagwort wurde. Der Verfall der al­ ten autoritären, noch auf Offenbarung gegründeten Wertordnungen der Religionen wurde dann, im Ver­ folg jener religionskritischen und philosophischen Strömungen als Nihilismus, als die Folge des Zusam­ menbruchs der religiösen Welt ausgerufen. Er konnte rein geistige, gesellschaftliche und politische Aspekte haben. Wenn wir heute das Wort gebrauchen, denken wir vornehmlich an diese Seiten der Sache. Als der Aus­ druck durch Turgenjews Roman »Väter und Söhne« (1862) berühmt wurde, war er ganz in diesem profanen Bereich angesiedelt. Der Nihilist ist der grundsätzliche Bestreiter jeglicher Autorität, der keinerlei Prinzipien auf Glauben hin annimmt, ganz gleich welche Achtung solches Prinzip umgeben möge. In diesem Zusammen­ hang war, so sonderbar das im Zeitalter der modernen Physik dem Betrachter scheinen mag, der Nihilist der rückhaltlose Bejaher der damaligen Naturwissenschaft, und das antiautoritäre Prinzip schlechthin trat im Ge­ wände des reinen philosophischen Materialismus auf, als dessen letzte Konsequenz. Die Zerstörung aller Au­ torität, die sich nicht an der materialistisch verstande­ nen Naturwissenschaft ausweisen konnte - und welche konnte das schon? -, wurde zur politischen Losung. Die Anarchisten nahmen den Begriff aktiv in ihre Pro­ paganda auf und wurden so für das Bewußtsein weiter Kreise die klassischen Vertreter des Nihilismus, bevor noch Nietzsche, ganz jenseits der politischen Sphäre und im Durchdenken der Implikationen des Zusam­ menbruchs der Überlieferung der autoritären Wertsy­ steme, den Nihilismus als jenen steinernen Gast er­ kannte, der an der Tür unserer Feste wartet. Für die rus­ sischen Nihilisten, die für die Subtilitäten Nietzsches kein Organ mitbrachten und sie eher mit höchstem BQ

Mißtrauen betrachteten, war Nihilismus die Zerstö­ rung aller Institutionen, um herauszufinden, was etwa als guter Fonds in ihnen solcher Zerstörung widersteht, und Bakunin verdankt man die Losung: »Die Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust.« Aber auch der konsequente Kampf für die Freiheit des Individuums gegen tyrannische und heuchlerische Institutionen und zugunsten des freien Zusammenschlusses einander hel­ fend beistehender Gemeinschaften konnte, wie etwa in den Schriften Kropotkins, sich als Nihilismus definie­ ren. Karl Jaspers hat in seiner »Psychologie der Weltan­ schauungen« den Nihilismus als einen Grenzfall des Skeptizismus dargestellt. Es scheint mir zweifelhaft, ob man diesen Analysen folgen kann, aber er hat mit Recht Nachdruck auf die Unterscheidung zweier sehr ver­ schiedener Ausgangspunkte gelegt, die dem Nihilismus seinen Impetus gaben. Nihilismus konnte die Verwer­ fung der Werte und des Sinnes überhaupt bedeuten, so­ fern sie den Menschen nicht als reines Naturwesen ver­ stehen und ihn vielmehr solchem Naturwesen entge­ gensetzen, als ob er über oder außerhalb dieser Natur stünde. Ganz anders konnte ein Nihilismus aus der Verwerfung der Realität entstehen, weil diese Realität, von einer Sicht aus, die Wert und Sinn im Prinzip aner­ kennt und darüber hinaus auch zu kennen glaubt, ver­ nichtungswürdig ist. In diesem Zusammenhang konn­ ten große religiöse Erscheinungen wie der Buddhismus oder Philosophien wie die Schopenhauers als Nihilis­ mus verstanden werden. Dies ist dann aber ein Nihilis­ mus quietistischer Natur, insofern hier nicht Institutio­ nen oder gar die Realität schlechthin im aktiven Auf­ stand, sondern in der Kontemplation und von einem metaphysischen archimedischen Punkt her negiert

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oder auch zerstört werden. Dem quietistischen Nihilis­ mus, dem wir in unsern Darlegungen, freilich in ande­ ren Zusammenhängen noch begegnen werden, steht der Nihilismus der Tat gegenüber. »Er zweifelt nicht mehr, ...sondern er verneint dogmatisch. Was ihm in den Weg kommt, wird mit den Mitteln des Nihilismus zerstört. Was ist, ist nichts wert: was gilt, ist Täu­ schung. Er schwelgt im Zerschlagen. Im Grunde ist es nur ein Unterschied der soziologischen Situation, ob er sich theoretisch, literarisch zerschlagend beschäftigt oder aktiv, praktisch... Es ist dieser Nihilismus das Korrelat zur Verzweiflung. Statt im Punktuellen der Selbstabtötung, des Selbstmords, des negativen Han­ delns gegen sich, wird hier im Versinken ein letzter Halt durch negatives Handeln nach außen gesucht.«1 Die vollendetste Darstellung solcher nihilistischen Ak­ tion aus einem durchdringenden Weltgefühl heraus hat wohl Albert Camus in seinem Drama »Caligula«2 gege­ ben. Lust, Grausamkeit und Zerstörung sind Vollzüge, die der Berufene sich im Aufstand gegen die Verlogen­ heit der Normen leisten darf, ja, die er vollziehen muß. Die Normen sind hier nicht etwa die der bürgerlichen Gesellschaft, wie gern gesagt wird, wenn man sonst von Nihilisten spricht, sondern die der Gesellschaft schlechthin, jeder Gesellschaft. Denn er weiß, daß keine Gesellschaft sich auf die Bejahung des Nihilismus gründen kann. In den profanen Formen des Nihilismus liegen zwei Tendenzen im Widerstreit miteinander: die rein natu­ ralistische, die den Menschen als Naturwesen sieht, 1 Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, S. 265. 2 Der Caligula von Camus geht weit über die eher schwächliche Figur des » Algabal« hinaus, wie sie Stefan George in der Gedichtfolge dieses Titels gezeich­ net hat.

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und die existentialistische, die besagt: da das einzige Wesen des Menschen seine Existenz ist, kann er aus sich machen, was er will. Diese Freiheit, die ihm hier zugeschrieben wird, bezieht sich aber, da der Satz in dieser Fassung natürlich falsch und der Mensch als bio­ logisches Wesen eingeschränkt und unfrei ist, im Grunde nur auf die moralische Ebene. Die Verrenkun­ gen, die nötig waren, um aus dieser Freiheit einen mo­ ralischen und sozialen Imperativ abzuleiten, haben phantastische und unüberzeugende Akrobatik erfor­ dert. Es ist nun aber keineswegs so, daß der Nihilismus erst mit der umgreifenden Säkularisation des gesellschaftli­ chen und geistigen Lebens eingesetzt hat. Er hat in der Religionsgeschichte von jeher eine Rolle gespielt, deren Bedeutung nicht dadurch vermindert wird, daß seine Dokumente nur selten authentisch und unverstellt auf uns gekommen sind. Das hing mit der Natur solcher Lehren zusammen, deren subversiver Charakter die Verfolgung durch die herrschenden Autoritäten her­ vorrief, denen daran gelegen sein mußte, nicht nur die Vertreter solcher Anschauungen physisch auszu­ merzen, sondern auch ihre Ideologien soweit mög­ lich zu unterdrücken. Freilich hing die elitäre Haltung nihilistischer Gruppen nicht nur mit dieser histori­ schen Seite der Sache zusammen, sondern mit der Na­ tur solcher nihilistischen Phänomene. Sie setzen einen Bewußtseinsstand voraus, der dem der Masse, von der er sich abhob, unerreichbar war. Die Erleuchtung über das Unwesen der Dinge, die hier am Ursprung stand, implizierte eine Verkehrung der herrschenden Maßstäbe und Normen. Sie gehört damit, wie man jetzt sagen würde, dem Bereich der »Gegenkultur« an.

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Der Nihilismus, der zuerst gerade als religiöses Phäno­ men faßbar wird, setzte die feste Ausbildung positiver religiöser Strukturen voraus, die Aufstellung von Wertordnungen, die unbedingten Anspruch erhoben. Jene unentwirrbare Vereinigung gesellschaftlicher und das Gesellschaftliche weit übersteigender, sie aber ei­ gentlich erst integrierender Antriebe macht die histori­ sche Durchschlagskraft der Religionen aus. Die unge­ heuren Energien, die in den Aufbau religiöser Struktu­ ren gingen, in denen die Erfahrung der Welt mit der der Transzendenz sich verbinden sollte, ließen keinen Raum für den Abbau dessen, was erst im Prozeß der Kristallisation sich befand. Erst wo solche Prozesse zu voller Ausbildung der in ihnen angelegten Tendenzen gelangt waren, wo positive Offenbarungen höchsten Anspruches, wo Rituale, heilige Handlungen, die aus ihnen flössen, einen festen Rahmen geschaffen hatten, konnten auch Entwicklungen sich geltend machen, die auf deren Abbau hinausliefen. Im großen und ganzen stellt die Religionsgeschichte die Metamorphosen dar, in denen, manchmal langsam, manchmal eruptiv, sich Veränderungen, Umwertungen solcher traditionell verfestigten Systeme vollziehen. An besonderen Kri­ senpunkten tritt aber unter ausgesprochen elitärer Ak­ zentuierung der religiöse Nihilismus auf, mit dem sich die folgenden Darlegungen befassen. Unter diesem Be­ griff verstehe ich nicht einen Nihilismus, der sich auf die Religion erstreckt, sondern einen Nihilismus, der im Namen religiöser Ansprüche und mit religiösem Anspruch auftritt. Er erkennt die religiöse Sphäre an, aber er verneint radikal die Autorität, die sich anmaßt, sie zu kontrollieren. Er geht nicht auf Verfestigung neuer Strukturen an Stelle der alten aus, sondern auf ih­ ren Abbau. Nicht immer, aber oft geschieht das im Na­

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men mystischer Erfahrung. Und das hat seinen guten Grund, der mit der amorphen Natur solcher Erfahrung zusammenhängt. Der Weg des Mystikers führt, wie ich in einem meiner Vorträge hier ausgeführt habe3, zu ei­ nem fortschreitenden Abbau der Strukturen der Erfah­ rungswelt und einem Aufbau mystischer Strukturen, die das Erlöschen der natürlichen Formenwelt auf den verschiedenen Ebenen des Bewußtseins begleiten. Aber diese mystischen Strukturen werden dann bei weiterem Fortschritt auch ihrerseits ins Amorphe ab­ gebaut, sosehr sie auch noch unter Beibehaltung von traditionellen Symbolen aus der Licht- oder Lautwelt bestimmt werden. Die eigentlich mystische Erfahrung übersteigt alle Struktur. In ihrer unendlichen Plastizität kann sie neue gebären oder wiederherstellen; sie kann aber auch, wie im Falle der nihilistischen Mystiker, es bei diesem Abbau bewenden lassen. Denn wo der Mystiker den Abbau aller Gestalt in der mystischen Erfahrung als höchsten Wert realisiert, vermag er auch ihren Abbau in der Beziehung zur äußeren Welt zu vollziehen, und das heißt vor allem den Abbau der Werte und der Autorität, die deren Gültigkeit garan­ tiert.

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Die Phänomene des religiösen Nihilismus, auf die ich hier exemplifizieren werde, sind solche der monothei­ stischen Tradition. Wie das Studium indischer und fernöstlicher Religionen zeigt, fehlt es auch dort kei­ neswegs an parallelen Erscheinungen, wenn auch oft in 3 »Religiöse Autorität und Mystik«, Eranos 26, 19J7, S. 248, sowie in meinem Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 16-17.

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ganz anderen Zusammenhängen, zu deren Durchdrin­ gung ich mich nicht kompetent fühle. In den mir zu­ gänglichen Erscheinungen sind zwei Grundtendenzen auszumachen, die von einander entgegengesetzten Punkten herzukommen scheinen, aber dennoch etwas Gemeinsames haben. Von der einen Seite haben wir es mit der Verneinung des Wertes der Welt und der Schöpfung überhaupt zu tun, mit einem Heraustreten aus ihr, das sich als ihre Überwindung darstellt. Dem steht die Bejahung des göttlichen Charakters der Welt in einem überhöhten Pantheismus gegenüber. Im Sinn der ersten Tendenz ist das «Verweltliche Sein ein gegen­ weltliches Sein, während es im Sinne der zweiten Ten­ denz im weltlichen Sein selber aufgedeckt werden kann. Die erstere Tendenz führte im Gegenschlag zum griechischen Kosmos - und Kosmos heißt ja »Ord­ nung« - und zur jüdischen Schöpfung, zu dem gnosti­ schen Nihilismus, wie ihn am besten Hans Jonas defi­ niert hat. »Die erhabene Einheit von Kosmos und Gott wird aus­ einandergespalten, eine ungeheure... Kluft tut sich auf; Gott und Welt werden einander fremd, werden Gegen­ sätze. Das finstere Licht der Welt ist eigentlich gar kein Licht, hat mit dem wirklichen Licht nichts gemein... Auch das >Leben< hat als weltlich gegebenes nur den äquivokativen Namen eines solchen, ist >sogenanntes Lebern, in Wahrheit aber Tod... Doch der gnostische Nihilismus setzt, im Unterschied etwa vom indischen, für die Welt nicht Indifferenz oder die betonte Wesen­ losigkeit eines Nichts, sondern meint ein Wirkliches und entschieden Gehaltvolles als Gegenstand eines ebenso entschiedenen Hasses... Gott ist das Welt­ fremde, Weltentfremdende, Gegenweltliche. Der gno­ stische Gottesbegriff ist zunächst, viel mehr als der der

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Welt, ein nihilistischer: Gott - das Nichts der Welt.«4 Demgegenüber führte die zweite Tendenz zum mittel­ alterlichen Spiritualismus des »freien Geistes« und sei­ ner Nachfolger bei dem radikalen Flügel der Wieder­ täufer. Gemeinsam ist diesen Tendenzen unübersehbar aber eines: Der Erleuchtete vermag in sich selber etwas zu entdecken, das ihm Kraft gibt, in der Realisierung nihilistischer Haltung das eigentliche Positive zu ver­ wirklichen. In der mystischen Erhebung zu Gott, in der Verwerfung der Scheinwerte und ihrer Normen realisiert er seine wahre Freiheit. Er wird frei durch Transzendierung der Weit und ihres Gesetzes oder um­ gekehrt durch ihre Vergöttlichung, durch die Erkennt­ nis der Einheit seines Selbst mit diesem Göttlichen. In der einen Lesart ist das Selbst das der Welt ganz Fremde, in sie nur Verschlagene, das ihren Normen gerade deswegen negierend gegenübertritt; in der ande­ ren führt gerade die Erkenntnis des göttlichen Charak­ ters aller Dinge zur Verwerfung von Normen, die vielmehr auf ihrer Differenzierung vom Göttlichen be­ ruhten. So wird der Gnostiker zum mystischen Revolutionär. Indem er eine weltvernichtende Moral verwirklicht, bricht er die Herrschaft der Mächte dieser Welt. Hier­ her stammte die spiritualistische Moral der Pneumatiker, die den revolutionären Charakter am sinnfälligsten an sich trägt: »In Gestalt des Libertinismus erweist sich die vollkommenste Auflösung der überlieferten Bin­ dungen menschlichen Verhaltens und der Exzeß eines Freiheitsgefühls, das sich die Zuchtlosigkeit als Selbst­ beweis, ja als Verdienst und Tat anrechnet... Der ganze Gedanke [des Libertinismus] kreist um die Konzeption 4 Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, Göttingen 1934, S. 149-151.

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des Pneuma als des Adelsprivilegs einer neuen Men­ schenart, die weder den Verbindlichkeiten noch auch nur den Kriterien der bisherigen Schöpfungswelt un­ terworfen ist... Der hemmungslose Gebrauch dieser Freiheit ist nicht nur Sache einer negativen Erlaubnis, sondern positive Verwirklichung dieser Freiheit selbst... Die Anarchie des Bruches, der Nihilismus des >Zwischen den Zeiten< füllt die Pause der Gesetzlosig­ keit zwischen den Gesetzen mit der selbstherrlichen Willkür des freigelassenen Ich aus und gefällt sich in Maßlosigkeit und der Heiligung des Frevels... In der Aufkündigung aller Pflichtverhältnisse, die mit der Be­ leidigung der Instanzen [der weltgöttlichen Gewalten] zugleich eine Art Kriegserklärung und schon den täti­ gen Aufstand selbst enthält, offenbart sich die Revolu­ tion ohne alle spekulativen Hüllen. Insofern gehört der Libertinismus ins Zentrum des gnostischen Um­ schwunges.«5 Die innige Verbindung von Nihilismus und Libertinis­ mus ist also in ihrer Natur begründet. Der Aufstand ge­ gen die Gesetze, die der Nihilist gerade ihres Ur­ sprungs wegen verwirft und mit dem er zugleich den Eintritt unter ein höheres Gesetz vollzieht, fand seine nächstliegende und sichtbarste Anwendung auf das Moralgesetz, das zu brechen Verdienst wurde. Nicht immer war dabei das kosmische Gesetz schlechthin Gegenstand der Subversion, dem dann die moralische sich anschloß. Es gibt auch den Aufstand gegen das mo­ ralische Gesetz gerade im Namen des Kosmischen. Das Gegenstück zum Gnostiker ist in den mittelalterli­ chen christlichen Häresien vor allem der Typus, der sich um die Sekte oder, wenn der organisierte Sekten­ 5 Jonas, S. 234.

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charakter der Bewegung zweifelhaft ist, um das Phäno­ men des »freien Geistes« sammelt. Er ist weniger Revo­ lutionär, obwohl es an revolutionären Gesten hier und da nicht gefehlt hat, als vielmehr quietistischer Über­ mensch. Aus diesem seinem Rang heraus setzt er sich über die von den Unerleuchteten, die ihr göttliches We­ sen nicht erkannt haben, erfundenen Normen hinweg. Er wandert aus der Gesellschaft aus, statt sie umzustür­ zen. Die historischen Erscheinungsformen dieser beiden Tendenzen verdienen nähere Betrachtung. In der Geschichte der Gnosis gilt der ägyptische Häresiarch Karpokrates (in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts) als der Klassiker des Nihilismus, als den ihn Irenäus und Clemens von Alexandrien, denen au­ thentische Berichte über seine Lehren und die seines Sohnes vorlagen, zeichnen. Die Kirchenväter stellen ihn in die Nähe von Tendenzen, die sie als Kainiten be­ zeichnen, das heißt als Gnostiker, die in ihrem Auf­ stand gegen das biblische Wertsystem für Kain, den ersten Mörder, eintraten und ihn für den ersten Pro­ pheten des wahren Urgottes hielten, der das von dem Demiurgen geschätzte blutige Opfer verabscheut hat, und die überhaupt die Partei aller derer nahmen, die in den Heiligen Schriften negativ beurteilt werden. Der provozierende Charakter solcher Benennungen, die eine Verherrlichung des Bösen implizieren, liegt auf der Hand. Was Irenäus von Karpokrates wiedergibt, ist eine geschlossene Theorie des religiösen Nihilismus und war, wie Jonas meint, »dazu angetan, einen Schauder vor so viel bewußtem, absichtsvollem Fre­ velmut hervorzurufen. Eine solche Wirkung dürfte freilich nicht nur dem entsetzten Referenten, sondern dem gnostischen Autor selber nicht unlieb gewesen ■39

sein: das Ärgernis ist seit je der Stolz der Rebellen.«6 Nach Karpokrates ist die Welt von inferioren Engeln geschaffen, die viel niedriger stehen als der wahre Gott, der ungezeugte Vater. Jesus sei der Führer im Aufstand gegen den Weltschöpfer gewesen, seine Seele stark und rein geblieben in der Erinnerung an das, was sie bei ih­ rem Aufenthalt bei dem ungezeugten Vater geschaut habe. Dort habe sie eine Kraft umfangen, die sie befä­ higte, den Archonten, die diese Welt beherrschen, zu entfliehen. Alle Seelen, die ihm ähnlich sind, nehmen denselben Weg. Sie gehen durch die Sphären der Ar­ chonten hindurch, befreien sich von ihnen und steigen zu ihrem wahren Ursprung zurück. Sie verachten die Schöpfer und Herrscher dieser Welt. »So sehr haben sie dem Irrsinn die Zügel schießen lassen, daß sie behaup­ ten, es stehe ihnen frei, jede beliebige unfromme und gottlose Handlung zu begehen, denn nur die mensch­ liche Meinung unterscheidet zwischen guten und bösen Werken. Denn die Seelen müssen bei ihren Wanderun­ gen durch die Körper jegliches Leben und jegliches Handeln durchmachen... Ihre Schriften lehren, daß die Seelen von ihrem Abscheiden alles bis auf den letzten Rest durchgemacht haben müssen, damit sie nicht, weil sie ihre Freiheit noch nicht erschöpft hätten, noch ein­ mal in einen Körper eingehen müssen.«7 Erst wenn der 6 Jonas, S. 237. Er schränkt freilich diesen Satz dann ein: »Es mag eine Koket­ terie dann liegen, sich schlimmer zu machen als man im Ernste zu sein wagt;ja, mag sogar die ganze Verwegenheit nur literarisch oder nur doktrinäre Konse­ quenzmacherei gewesen sein... Immer spräche es für eine ganze Epoche, da selbst der Anschein dämonischer Verworfenheit in Verbindung mit dem Heili­ gen und Unbedingten in ihr angestrebt wurde.« (S. 238) Jonas ist dabei, wie es scheint, der bei den Kirchenhistorikern der neueren Zeit beliebten Tendenz er­ legen, von der er sich sonst mit Recht distanziert, nihilistische Phänomene aufs Literarische herunterzuspielen. 7 Irenaeus, adversus Haereses 1,2$. Eine Zusammenstellung und Übersetzung der wichtigsten Quelle über 1 ibertinistische Gnostiker findet sich jetzt bei Wer­ ner Förster, Die Gnosis, 1. Bd., Zürich 1969, S. 400-41$.

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Gnostiker jede Tat verübt hat, die es in der Welt gibt, und gar nichts mehr davon fehle, sei die Seele frei und könne zu jenem Gott gelangen, der über den kosmi­ schen Archonten steht. Wenn die Urheber dieser Welt als »Exponenten finsterer Bosheit« zu betrachten sind, können die sittlichen Ordnungen, die zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft auf dieser Welt dienen, nur im Aufstand des Nihilismus überwunden werden. Clemens von Alexandria berichtet, daß radikaler Kom­ munismus und Libertinismus die Konsequenz dieser Lehren der Karpokatianer waren. Da die Unterschiede von Mein und Dein und der Begriff der Sünde selber erst durch das Gesetz in die Welt gekommen sind, be­ steht die Herstellung des wahren Zustandes in der Auf­ lehnung gegen dieses Gesetz. Die nihilistische Haltung zum Kosmos, den es zu vernichten gilt, findet ihre Konsequenz im Libertinismus, der hier mit einer durchgeführten Lehre von der Seelenwanderung ver­ bunden ist, weil ja all das unendliche Potential der Ta­ ten, die der Mensch verwirklichen müsse, um seine Freiheit zu bestätigen, in einem Lebensablauf gar nicht realisiert werden könne. Während viele andere Gnosti­ ker die Askese als das Mittel empfahlen, sich von der Herrschaft der Materie zu befreien, schreibt der Liber­ tinismus den verwerflichen Taten sakramentale Bedeu­ tung und erlösenden Wert zu. »Nur eine radikal anti­ kosmische Haltung ist der Seele würdig und kann sie aus den Banden der widergöttlichen Welt befreien, und eben darum ist jeder Mangel hieran Verrat am eigenen Wesen und schwere Schuld, für die sie durch erneute Wiedereinkörperungen bestraft wird. In die grundsätz­ liche Mißachtung aller innerweltlichen Ordnungen wird nun auch die Ehe einbezogen, die ebenfalls dazu bestimmt sei, die Menschen der Gewalt der kosmischen

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Mächte zu unterstellen. Dem will der Libertinismus entgegenwirken durch die Weibergemeinschaft und die Zeugung in der freien Liebe, die ihre Bedeutung gerade darin haben, daß sie bewußte Verletzung der natürli­ chen Ordnungen darstellen.«89 Die prinzipielle Verwerfung der Schöpfung konnte aber auch gemildert werden, wie das bei manchen Gno­ stikern geschah. Die Schöpfung als solche, ein Werk des Vatergottes, konnte als gut betrachtet werden, und nur ein Untergott habe das Böse hineingemischt. Von ihm erst stammen die Gebote, deren Übertretung ver­ dienstlich wird. Der »Aufhebung des Gebots«, HortdXuotg Tfjg ¿vroXfjg, wie die Gnostiker diese Proze­ duren nennen, dienen die antinomistischen Praktiken, deren historische Realität immer wieder grundlos be­ stritten worden ist. Epiphanius, der im 4. Jahrhundert einer solchen Sekte, den Phibioniten, zeitweilig ange­ hört hat und bei ihren Kulthandlungen anwesend war, hat uns deren Beschreibung hinterlassen, aus der her­ vorgeht, daß es hier viel weniger um libertinistische Vergnügungen ging als um in sich abstoßende und obszöne Rituale der Revolte, deren Lustgewinn zwei­ felhaft war.’ Daß schon in der ältesten Kirche libertinistische Ten­ denzen eine durchaus reale Rolle spielten, die mit der Aufhebung des Gesetzes durch den Messias und daran­ knüpfende Spekulationen zusammenhingen, ist durch 8 Herbert Liboron, Die Karpokratianische Gnosis, Leipzig 1938, S. 42. Fürdie Quellen vergl. auch Förster, S. 50-56. 9 Über diese Phänomene hat vor allen Leonardt Fendt ausführlich in seiner Monographie Gnostische Mysterien, München 1922, gehandelt. Die Meinung, daß Epiphanius gelogen habe, ist durch nichts zu erweisen. Vielmehr wird sein Zeugnis durch die Polemik gegen solche Rituale, die sich in der Pistis Sophia, Cap. 147, erhalten hat, bestätigt. Vgl. Carl Schmidt, Koptisch-Gnostische Schriften I, Leipzig 1905, S. 251.

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eine ziemlich reiche Dokumentation erwiesen. Die Versuche, sie herunterzuspielen oder hinweg zu inter­ pretieren, werden der Sachlage in vielen Gruppen des Urchristentums nicht gerecht. Die paulinische Polemik gegen die Gnostiker in Korinth, deren Dokumente wir in den Korintherbriefen besitzen, beweist, wie über­ zeugend nachgewiesen worden ist, daß schon damals, in der ersten Generation nach dem Tode Jesu, aus der christlichen Verkündigung libertinistische Folgerun­ gen gezogen wurden.10 Durch die weitreichenden The­ sen von Morton Smith in seinem jüngst erschienenen Werk über ein geheimes Markusevangelium, das in der alexandrinischen Kirche im 2. Jahrhundert umlief, ist die Diskussion dieses Sachverhalts erneut in Fluß ge­ kommen, auch wenn seine These, Jesus selber habe eine esoterische Deutung der Taufe und des damit verbun­ denen Eintritts in das Reich Gottes gelehrt, die libertinischen Charakter gehabt habe, nicht überzeugend scheint.11 Smith neigt, wie schon vor ihm Daniélou,12 zu der Meinung, daß die nihilistischen Thesen des Karpokrates auf jüdisch-häretische und judenchristliche Quellen zurückzuführen seien. Daniélou betrachtet Karpokrates als einen heterodoxen jüdischen Gnosti­ ker, der zu einem ebionitischen Christentum überge­ gangen sei und die in diesen Strömungen angelegten Tendenzen nur aufs äußerste radikalisiert habe. Diese These wäre gewiß faszinierend, um so mehr als sie, wie wir später sehen werden, eine dokumentarisch nur allzuwohl belegte Parallele im späteren Judentum hat, 10 Walter Schmithals, Die Gnosis in Korinth, Göttingen 1956. 11 Morton Smith, Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark, Cam­ bridge Mass. 1973» besonders S. 251-278. 12 Jean Daniélou, Théologie du Judéo-Christianisme, Tournai 1958, S. 97-98.

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dennoch muß ich gestehen, daß ich mich von ihrer Stringenz nicht habe überzeugen können. Jedenfalls bleibt festzuhalten, daß die Weltfeindlichkeit so vieler Gnostiker und der radikale oder gemäßigte Dualismus, der ihre Begründung bildet, dem nihilistischen Auf­ stand als einer radikal-religiösen Haltung einen legiti­ men Rahmen boten, innerhalb dessen sie sich in ver­ schiedenen Weisen entfaltet haben. Wo der Weltschöp­ fer als eine Potenz minderen Ranges, als unwissend, blind und boshaft verworfen wurde, wo er in absoluten oder relativen Gegensatz zum wahren und guten Gott gesetzt wurde, war der Weg zum Nihilismus freigege­ ben. Die Verhöhnung der Zehn Gebote in dem Buch »Uber die Gerechtigkeit« des Epiphanes, des Sohnes des Karpokrates, und die Empfehlung, sie systematisch zu übertreten, war der sichtbarste Ausdruck dieser Haltung. Von ganz anderem Charakter sind die Erscheinungen, die die Ketzerbestreiter des Mittelalters unter dem Na­ men der Sekte der Brüder vom freien Geiste, secta Spiri­ tus libertatis, zusammengefaßt haben und über die unter den neueren Forschern große Meinungsverschieden­ heiten herrschen. Gegenüber der älteren Ansicht, wo­ nach es sich hier um eine sektenmäßig, wenn auch lose organisierte Gruppe handelte, die sich in kontinuierli­ cher Tradition vom 13. bis ins 16. Jahrhundert fortge­ pflanzt hat, neigt die Forschung seit hundert Jahren dazu, den Sektencharakter des »freien Geistes« zu be­ streiten und in ihm vielmehr eine extreme Konsequenz aus ursprünglich ganz verschiedenen Strömungen und Haltungen zu sehen, deren gemeinsamer Charakter eher durch Mißverständnisse zustande gekommen sei. So wahr oder wohlbegründet diese Auffassung vom Gesichtspunkt der streng historischen Einzelanalyse 144

bestimmter Erscheinungen sein dürfte, so wenig wird sie doch unter geistesgeschichtlichen Aspekten allge­ meinerer Art der Situation gerecht. Zu stark sind die manchmal persönlichen, noch stärker aber literarischen Verbindungen, die von einer Gruppe zu anderen gehen und den Formulierungen, die wir an den verschieden­ sten Orten und Zeiten finden, einen bei allen Einzelun­ terschieden doch einheitlichen Charakter gegeben ha­ ben. Auch wo solche Gruppen ganz selbständig ent­ standen sein mögen, kam es bald dazu, daß ihnen Schriftstücke oder mündliches Gerücht, ja auch mehr als das, gute Überlieferung von verwandten Gruppen zukamen. Noch heute ist das Werk von Auguste Jundt, Histoire du panthéisme populaire au moyen âge (Paris 1875), eine sehr lesenswerte und anregende Darstellung dieser Tendenzen, auch wenn inzwischen eine reiche weitere Dokumentation zutage gekommen ist und ein­ dringende Analysen einzelner Erscheinungen und Zu­ sammenfassungen wie die von Gordon Leff in Heresy in the Later Middle Ages (Manchester 1967), die Dis­ kussion weitergeführt und um neue Erkenntnisse be­ reichert haben. Dazu trat dann eine Kontroverse über den sozialen Charakter dieser Erscheinungen, die dem Betrachter ein Licht darüber aufstecken können, wel­ chen Beitrag marxistische Analysen zu wichtigen Phä­ nomenen der Religionsgeschichte zu leisten, oder auch nicht zu leisten, vermögen. Daß die sozialen Ursprünge oder Implikationen nihilistischer Tendenzen von be­ trächtlichem Interesse sind, liegt auf der Hand und ist auch in zahlreichen Hinweisen älterer Untersuchungen keineswegs übersehen worden. Von sozialen Indika­ tionen, wie sie etwa in den Diskussionen Max Webers und Ernst Troeltschs (oder ihrer Schüler) vorliegen, scheint es freilich ein weiter Weg zu den sich als marxi­ 145

stisch vorstellenden Untersuchungen von Macek und Ernst Werner, die in verschiedenen Akzentuierungen Thesen über den Klassencharakter solcher Erscheinun­ gen und ihre Beziehung zum eigentlichen Klassen­ kampf, der ja das Wesen aller geschichtlichen Erschei­ nungen ausmachen soll, vorgetragen und zu begründen versucht haben.13 Die Legitimität solcher Fragestellun­ gen steht leider vorerst in ziemlich trübseligem Gegen­ satz zur Stringenz der in solchen Zusammenhängen vorgebrachten Erörterungen, aus denen der kritische Leser viel über die Magie beliebig wiederholbarer allge­ meiner Sätze über den Klassenkampf in der Geschichte, aber wenig über eine wirklich durchgeführte Begrün­ dung aus der Analyse konkreter Phänomene lernen kann. Während wir über den sozialen Charakter der Kreise, die die Gnosis trugen, trotz aller Bemühungen bisher so gut wie gar nichts wissen, besitzen wir über die Brüder und Schwestern vom freien Geist und die ih­ nen verwandten Erscheinungen nicht wenige Informa­ tionen, die die Frage akut gemacht haben, wo ihr, wie man so gern sagt, »Sitz im Leben« zu suchen sei. Ent­ stammte die Häresie des freien Geistes dem unkirchli­ chen und ungelehrten Laientum und erhielt nur durch gebildete, sich diesen Kreisen anschließende Kleriker und Theologen ihre theoretische Formulierung, oder verhielt es sich umgekehrt so, daß diese Häresien sich in theologisch gebildeten - die Orthodoxen sagten natür­ lich halbgebildeten - Kreisen entwickelten und erst in ihrer elitären Verkündigung auch ganz andere Grup­ 13 Besonders ist hier die Arbeit von M. Erbstösser und E. Werner, Ideologi­ sche Probleme des mittelalterlichen Plebejertums. Die freigeistige Häresie und ihre sozialen Wurzeln, Berlin 1960, zu erwähnen, sowie Ernst Werners Arbeit über die böhmischen Adamiten, Berlin 1959. Die dort diskutierten Arbeiten von J. Macek sind nur auf tschechisch zugänglich.

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pen beeinflußten und an sich zogen? Waren die Ideolo­ gien eines »falschen Bewußtseins« nur Maskierungen sozialer Gegensätze oder boten sie, in ihrer eigenen, durchaus unverstellten, echten Struktur einen will­ kommenen Anlaß, um den sich auch Erscheinungen kristallisieren konnten, die ihre Losungen dann ins Volkstümliche und Grobschlächtige vergröberten? Das sind Fragen, die sich dem Historiker und dem Phänomenologen aufdrängen und in denen das letzte Wort noch nicht gesprochen scheint. Denn auch wenn die letztere Meinung, wie ich glaube, der Beweislage besser entspricht, bleibt immer noch die Frage offen, ob in den Häresiarchen und ihren radikalen Lehren sich nicht auch, auf eine uns noch nicht durchschaubare und von marxistischen Formeln keineswegs beantwortete Weise, in ihrem religiösen Wesen zugleich auch ihr so­ ziales kundgetan hat. Die orthodoxen Bekämpfer solcher Häresien machten gern einen Unterschied zwischen dem, was sie die »fal­ sche Mystik« nannten (und nennen), und der »wah­ ren«, das heißt der durch exakte theologische Bildung und Einsicht gebändigten. Die falsche Mystik, so ging die Polemik über Jahrhunderte, stammte aus der in ih­ rem Ursprung ungenügend reflektierten »Gnade der Beschauung« bei ungebildeten Geistern, die ihrer etwa teilhaftig wurden. Aus solcher Unfähigkeit zur »Un­ terscheidung zwischen wahren und falschen Offenba­ rungen«, um den Titel eines berühmten Traktates des Pariser Kanzlers Johannes Gerson gegen die Anhänger des freien Geistes zu zitieren, seien die irregulären, po­ pulären und subversiven Mißverständnisse der im Ni­ hilismus mündenden Mystik entstanden. Frömmig­ keit, die nicht von Autorität geleitet ist, sei nicht genug. In ihr stecke schon die Schlange des Widerspruchs ge­ 147

gen und des Abbaus der Tradition, die zu vertreten der kirchliche Theologe berufen ist. Zwischen den gnostischen Nihilisten und den mittelal­ terlichen Strömungen des freien Geistes besteht ein fundamentaler Unterschied. Die Gnostiker bezogen ihre Inspiration aus der Verwerfung der Schöpfung; die neuen Ketzer bezogen sie aus ihrer Vergöttlichung. Eine pantheistische Mystik steht an der Quelle all die­ ser Phänomene, und zwar, wie mit Recht gesagt wor­ den ist, eine pantheistisch-quietistische, die sich nur in manchen Gruppen ins Pantheistisch-Revolutionäre verwandelt hat. Der Aufstand, der hier stattfand, war nur in wenigen Grenzfällen aktiver Natur und trat sicht­ bar nach außen. Im großen und ganzen hielt er sich in den Grenzen einer Geheimlehre für die Eingeweihten oder Erleuchteten und konnte, so kühn die Verwerfung aller herrschenden Wertordnungen war, sich im Rah­ men einer quietistischen Haltung zur Welt ausleben. Die historische Dokumentation, über die wir verfügen, zeigt eindeutig die zeitliche Priorität eines quietistischen Antinomismus und Nihilismus vor dessen eher demon­ strativ öffentlichen und aktiven Formen. Im 14. und 15. Jahrhundert bildeten die Anhänger dieser Tendenzen Gruppen, die sich innerhalb der damals weit verbreite­ ten Beginen und Begarden entwickelten oder einniste­ ten. So hießen die Bewegungen von Frauen und Män­ nern, aus Klerikern, Nonnen und Laien gemischt, die das intensive mystische Leben nach den Grundsätzen der französischen Victoriner und der deutschen Mysti­ ker des Dominikanerordens, vor allem des Meister Eckhart, zu verwirklichen suchten. Dabei vermischten sich schon bald Menschen von kirchentreuer Gesin­ nung mit durchaus ketzerisch Gesinnten, für die schon im 13. Jahrhundert Bezeichnungen wie »die hohen 148

Geister«, die »neuen« oder »freien Geister«, die sie sel­ ber auf sich anwandten, in Schwang kamen. Es kann aber kaum einem Zweifel unterliegen, daß diese ketzerischen Bewegungen aus Radikalisierungen fast orthodoxer Thesen und aus pantheistischen Lehren einiger Scholastiker hervorgegangen sind, in denen man mit Recht einen mystischen Materialismus er­ kannt hat. Es waren theologisch tief durchgebildete Kleriker wie Amalrich von Bena und David von Dî­ nant, die am Anfang des 13. Jahrhunderts solchen Pan­ theismus vertraten und deren Lehren von der Kirche von 1210 an mit dem Bann belegt wurden.14 Gott ist überall und in allem. Auch der Mensch ist von göttli­ chem Wesen, und wenn er diese seine Natur erkennt, steht er eo ipso über dem von unerleuchteten Instanzen oder Institutionen gemachten Gesetz. Wo der Geist zu sich selber findet, handelt er unter derselben Freiheit, die dem Schöpfer zukommt, von dem er ja nur selber ein Funken ist. Aus den neuplatonisch-mystischen An­ schauungen, wie sie Johannes Scotus Erigena in seinem Werk De Divisione Naturae vorgetragen hatte, wurden der Pantheismus und mystische Materialismus heraus­ gelesen. Wenn im Grunde alles Gott war, Geist und Materie allzumal, so war die unbeschränkte Souveräni­ tät des sich vergottenden Menschen und damit der Weg zum Nihilismus als der Bestätigung seiner moralischen Souveränität frei. Daß er am Anfang keineswegs plebe­ jischen, sondern elitären Charakter hatte, beweisen die Dokumente, die wir über die ersten Gruppen dieser Art besitzen. Es liegt hier ein Spektrum vor, das von Lehren über die unmittelbare Vereinigung der Seele mit 14 Vgl. dazu vor allem G. Théry, David de Dînant, Étude sur son panthéisme matérialiste, Kain, 1925, und G. C. Capelle, Amaury de Bène, Étude sur son panthéisme formel, Paris 1932.

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Gott zu rein pantheistischen Thesen führen konnte und in dem andererseits menschliche Haltungen vom Quietismus bis zum Chiliasmus, der die Herbeifüh­ rung oder den Anbruch des tausendjährigen Reiches Gottes auf Erden predigte, in sich enthalten konnte. Quietismus bedeutete »die möglichst weitgehende Enthaltung von aller weltlichen Tätigkeit und auch von der die Seele ablenkenden und zerstreuenden Erfüllung der sittlichen und kirchlichen Gebote, ein Zustand, in dem die Seele, sei es in enthusiastischer Umarmung Gottes, sei es in stiller kontemplativer Versenkung mit dem göttlichen Wesen zusammenfließt.«15 Der Chilias­ mus stellte demgegenüber eine eher aktive Tendenz dar, die freilich zwei Seiten hatte: Der Predigt von Ge­ walt und Rache, vor allem der Rache Gottes, stand die von vielen vertretene Lehre von der Wiederbringung aller Dinge (Apokatastasis), der universellen Erlösung aller Wesen und Harmonie der Welten gegenüber. Pan­ theisten und Chiliasten konnten sich in der Erkenntnis von der Nichtigkeit der kirchlichen Lehre von der Hölle treffen. Himmel und Hölle waren für sie keine räumlichen Erstreckungen und Vorgänge, sondern gei­ stige Sphären. Die Hölle ist die Unwissenheit über das wahre Wesen der Dinge, der Himmel oder das Paradies dagegen die Erkenntnis der Wahrheit und der mit ihr verbundene Stand der Seligkeit. Die Vereinigung an sich so verschiedener Tendenzen wie Pantheismus und Chiliasmus konnte diese Mischung, wenn sie einmal auf die herrschenden Zustände angewandt wurde, ex­ plosiv machen. Die damals sehr einflußreiche Lehre des Joachim von Floris über die drei Weltzeitalter gaben dem Chilias15 Ich benutze die Definition von Hermann Haupt in der Realenzyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, j. Aufl., Bd. j, S. 468.

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mus eine besondere Note, ohne ihrer Natur nach ir­ gend etwas mit pantheistischen Lehren zu tun zu ha­ ben. Die trinitarische Gottheit wirkt sich diesen Vor­ stellungen nach in drei Weltaltern aus, deren jedes in seinem Charakter von einer der Personen der Gottheit bestimmt wird. Gott als Vater wirkt im Zeitalter des Gesetzes, wie es im Alten Testament niedergelegt ist. Gott als Sohn wirkt im Zeitalter Christi und der Kir­ che, in den Schriften des Neuen Testaments und den Institutionen, die das Heil der Seele verbürgen. Im Zeitalter des Heiligen Geistes aber wird ein »ewiges Evangelium« den spirituellen Sinn aller früheren Ver­ kündigungen offenbar machen und an die Stelle der herrschenden Institutionen die unmittelbar wirkende Autorität des Heiligen Geistes setzen, in der sich die Freiheit der Kinder Gottes verwirklicht. Schon dies war eine Form, in der die neue Deutung der Lehren der Apokalyptiker vom Tausendjährigen Reich explosiv aufgeladen wurde. Wenn dazu dann jener Pantheismus trat, in dem sich das Materielle und das Geistige von ei­ ner radikalen philosophischen Konzeption her vereini­ gen konnten, so waren die Vorbedingungen für eine Häresie wie die des freien Geistes gegeben. Freilich ver­ warf diese alle äußere Autorität der Kirche und ihrer Lehrer, blieb aber, soweit sie diese Verwerfung dem engen Kreis der Erleuchteten vorbehielt, meistens im Quietismus stecken, der keinen offenen Bruch mit der Kirche notwendig machte. Dennoch war die Reaktion der kirchlichen Autoritäten so scharf, als ob die Grund­ lagen aller Ordnung durch aktive Anarchisten bedroht seien. 250 Jahre lang beweisen immer erneute Feldzüge literarischer und inquisitionaler Natur gegen solche Gruppen in großen Teilen Mittel- und Westeuropas, daß solche Haltungen festen Fuß fassen konnten. Es I5I

spielt dabei keine Rolle, daß ihre Berufung auf Geister wie Meister Eckhart auf Mißverständnissen seiner Schriften beruhte, die durch die versehentliche oder be­ wußte Zuschreibung nicht weniger, oft ganz ins Häre­ tische spielenden Predigten und Schriften auf seinen Namen noch befördert wurden. Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts verfaßte der be­ rühmte Theologe Albert der Große in Augsburg die compilatio de novo spirito, in der 97 Sätze der Häretiker dieser Richtung verdammt werden, die in Schwaben gelehrt wurden. In ihnen herrscht eine unverkennbare Kombination von Pantheismus, Quietismus und Li­ bertinismus, die für den »freien Geist« charakteristisch ist. Die Sätze spiegeln verschiedene Nuancen dieser Kombination wider und gehen nicht auf eine spezifi­ sche Quelle zurück. Neben dem Satz, daß der Mensch und alle Kreaturen Gott seien oder seiner Substanz ent­ stammen, stehen andere, wonach die Seele sich erst aus der Äußerlichkeit in die Innerlichkeit zu wenden habe, um in der Vereinigung mit Gott diesen ihren wahren Charakter zu erfahren. Daß der Mensch den Stand der Sündlosigkeit erreichen kann, in dem er der Gnade nicht mehr bedarf, konnte neben Sätzen stehen wie dem, daß Sünde überhaupt gar nicht existiert, sondern nur von der menschlichen Meinung dazu erklärt wird, oder daß der Mensch Todsünden begehen könne, ohne dabei zu sündigen. Sowenig die Sünde ihn hindert, so­ wenig fördert ihn die Tugend. Der Geist ist allen zu­ gänglich, und es sind seine Impulse, nicht äußerliche Umstände, wie etwa die Existenz von Autoritäten, de­ nen zu folgen ist. Der mit Gott vereinigte Mensch, der »freie Geist«, unterliegt keinen moralischen Beschrän­ kungen und Vorschriften. Daß hieraus bald libertinistische Konsequenzen für das sexuelle Verhalten gezogen

wurden, ist leicht zu verstehen. Sie galten als der sicht­ barste Ausdruck für das Wirken des »Geistes des Herrn, der Freiheit ist«.16 Natürlich liegt die Frage nach der Aufrichtigkeit der Adepten des freien Geistes nahe, die von ihren kirchlichen Verfolgern ebenso nach­ drücklich gestellt wurde, als sie sich der modernen Ent­ larvungspsychologie der Analytiker aufdrängt. »Ein Psychoanalytiker würde versucht sein, den >freien Geist« als eine gigantische sexuelle Neurose zu identifi­ zieren, als eine europaweite Revolte gegen Jahrhun­ derte sexueller Verdrängung und aufgezwungenen Zö­ libates. In solcher Diagnose mag wohl ein Stück Wahr­ heit stecken. Daß es aber nicht die ganze Wahrheit ist, kann aus den verschiedenen Verzweigungen des freien Geistes ersehen werden. Denn dieser war keineswegs ausschließlich auf Sex konzentriert. Er war vor allem eine Weltanschauung, in der das Sexuelle eine bedeu­ tende, aber keine ausschließliche Rolle spielte. Für manche seiner Anhänger stand es im Zentrum, wäh­ rend es für andere nur eine Randerscheinung bilde­ te.«17 Natürlich erhebt sich die Frage: repräsentieren solche Sätze, wie die oben zitierten, die wahre Ansicht der Ad­ epten oder stellen sie, wie so manchmal in der Ketzer­ geschichte, eine verzerrte, mit den Augen des Gegners gesehene Version dar? Die Antwort kann für den auf­ merksamen Leser einiger ausführlicher Berichte von männlichen und weiblichen Anhängern und ehemali­ gen Anhängern des freien Geistes sowie von Traktaten, 16 G. Leff, I, S. 312-315. Der Text der compilatio bei Wilhelm Preger, Ge­ schichte der deutschen Mystik im Mittelalter I, Leipzig 1875, S. 461-471, wozu die Emendationen nach einer besseren Handschrift von H. Haupt in der Zeit­ schrift für Kirchengeschichte VII (1885), S. 556-559 heranzuziehen sind. Vgl. auch Pregers Ausführungen dazu, S. 210-216. 17 Leff I, S. 406.

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die diesen Anschauungen entstammen oder ihnen zu­ mindest sehr nahe stehen, nicht zweifelhaft sein: die Thesen entsprechen wirklich dem, was gelehrt und praktiziert wurde. Das kann ebenso aus dem Traktat »Schwester Katrei«, der fälschlich dem Meister Eckhart zugeschrieben wurde, wie aus den autobiographischen Konfessionen der Beginen in Schweidnitz (1332) und des früheren Begarden Johann von Brünn (um 1440) und den Fragmenten der Brüsseler Visionärin Blömardine (gest. 1336) entnommen werden.18 Die Mystik der geistlichen Armut, in der die Seele sich aller sinnlichen Eindrücke entäußert, um Gott in sich aufzunehmen, schlug bei den Anhängern des freien Geistes in die Be­ jahung der Sinnlichkeit um. Die Notwendigkeit der gu­ ten Werke, der sogenannten Tugenden überhaupt, be­ steht nur für den Unvollkommenen, noch nicht mit Gott Vereinigten. Die vollkommene Freiheit des Gei­ stes impliziert die Freiheit der Sinne. Sätze wie diese, die 1311 auf dem Konzil von Vienne und in einer Bulle des Papstes Clemens V. als häretisch verdammt wur­ den”, tauchen in allen Nachrichten auf, auch den zu­ verlässigsten, die wir über die Bewegung besitzen. Die Verfolgung der Konvente der Beginen und Begarden, die damals einsetzte und mehrfach zu großen Exzessen der kirchlichen Polemik führte und, wenn auch mit großen Unterbrechungen, bis ins späte 15. Jahrhundert fortdauerte, beruhte auf der irrigen Annahme der Iden­ tität des freien Geistes mit dem Beginen- und Begardentum oder der ebenso falschen Annahme, in jedem dieser Konvente bestehe ein esoterischer Kreis von Vollkommenen, in dessen geheime Lehren die jüngeren Angehörigen des Konvents erst nach dem Bestehen ei18 Vgl. dazu die Quellen bei Leif, I, S. 395-397; II, S. 709-740. 19 Über die Bulle des Papstes vgl. Leff, I, S. 314-315.

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ner langen Prüfungszeit eingeweiht würden. Wahr ist aber, daß das hier und da der Fall war und die Beginen­ häuser einen Rahmen für das Wirken solcher Gruppen des freien Geistes bieten konnten, das keineswegs im­ mer nach außen zu dringen brauchte. Der nihilistische Charakter dieser Erscheinung, der durch die quietistischen Doktrinen freilich gemildert wurde, kommt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun­ derts in der Polemik des niederländischen Mystikers Jan van Ruysbroeck, der mit ihren Anhängern zu tun hatte, zum Ausdruck. Wo die Mystik der Kontrolle der kirchlichen Autorität entzogen blieb oder sie durch­ brach, mußte diese wildwachsende und antiautoritäre Mystik als Teufelswerk und Irrsinn erscheinen. Ruys­ broeck spricht von »verruchten und teuflischen Men­ schen, die sich selbst Christus oder Gott nennen und behaupten, sie hätten Himmel und Erde mit ihren eige­ nen Händen geschaffen. Sie behaupten, daß sie der Sa­ kramente weder bedürfen noch Verlangen nach ihnen tragen. Die Anordnungen und Gebräuche der Kirche und die Schriften der Heiligen sind ihnen ein Gespött. Sie betrachten nur ihre eigne abscheuliche Häresie und die wilden Praktiken, denen sie sich ergeben, als voll­ kommen ... In ihrem Irrsinn behaupten sie, daß alle ra­ tionalen Wesen, ob gut, ob schlecht, ob Engel oder Dä­ monen, letzten Endes sich in die eine unterschiedslose, wesen- und willenlose Essenz auflösen, die sie Gott nennen.«20 Der passive Nihilismus dieser Gruppen hatte etwas von der Haltung des Übermenschen an sich, der sich den Werten der herrschenden Lehren und Institutionen nicht unterworfen fühlt. Dem Eingeweihten ist erlaubt, 20 Leif, I, S. 358.

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was dem Außenstehenden, der misera plebs, verboten ist. Die Freiheit von aller Bindung tritt an die Stelle der Askese, wozu auch die ausgesprochene Ablehnung der Verpflichtung des Menschen zur Arbeit paßt, die im­ mer wieder bezeugt ist. Neben das in den Beginen­ oder Begardenhäusern im verborgenen sich entfaltende pantheistische Übermenschentum tritt ein mystisches Vagantentum, das oft genug wohl auch mit Propaganda des passiven Nihilismus verbunden war.21 In marxisti­ schen Analysen ist nicht selten der Propaganda durch ein »Absinken häretischer Philosopheme in das Volks­ bewußtsein« ein natürlicher Pantheismus der Massen entgegengestellt worden, »der auf Grund der ständigen Verbindung des Menschen mit der Natur im Arbeits­ prozeß« entstanden und eine Art volkstümlicher Frei­ geisterei hervorgebracht haben soll.22 Solche allgemei­ nen Sätze oder Behauptungen, wie die von den Zusam­ menhängen des freien Geistes mit Krisenerscheinungen des spätfeudalen Organismus, geben für ein Verständnis dieser Erscheinungen wenig her. Die Widersprüche und Krisen in den historisch faßbaren Gesellschaftssyste­ men liegen in der Natur der Sache und können belie­ big zu jeder Zeit und fast an jedem Ort in Anspruch genommen werden. Die Versuche, solche Zusammen­ hänge konkret und in präzisen Definitionen aufzuwei­ sen, bleiben stets, wenn man sie näher ansieht, in leeren Behauptungen stecken, die durch keine stringente Do­ kumentation oder Beweisführung begründet werden können. Daß bestimmte wirtschaftliche Entwicklun­ 21 E. Werner, in dem Band: Theodora Büttner, Ernst Werner, Circumcellionen und Adamiten, zwei Formen mittelalterlicher Häresie, Berlin 1959, S. 93-117, hat hierfür zahlreiche Belege, vor allem aus dem 14. Jahrhundert zu­ sammengestellt. 22 Werner, S. 96-97.

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gen ebenso bestimmte wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen, ist einleuchtend, beweisbar und auch ohne die Heranziehung marxistischer Kategorien verständlich. In dem Moment, wo es um die Aufzeigung wirtschaft­ licher Determinierung des geistigen und religiösen Le­ bens geht, hapert es stets, wie der Leser solcher Unter­ suchungen immer wieder mit Bestürzung feststellen muß.23 Einen radikalen Umschlag in aktiven Nihilis­ mus haben diese Tendenzen in einer Gruppe extremer Chiliasten in der hussitischen Bewegung erfahren, die unter dem Namen Adamiten bekannt geworden sind. Während frühere Geschichtsschreibung dazu neigte, die Berichte über diese Adamiten, die im Oktober 1421 von Johannes Ziska vernichtet wurden, als tendenziös entstellt zu entwerten, kommt gerade dem marxisti­ schen Historiker Ernst Werner das Verdienst zu, diese Berichte als im großen und ganzen zuverlässig und die Zugehörigkeit der Adamiten zur Richtung des freien Geistes auch gegen Bestreiter im eigenen Lager über­ zeugend nachgewiesen zu haben. Auch wer die marxi­ stischen Voraussetzungen dieses Forschers nicht teilt, wird in seiner Untersuchung einen besonders wertvol­ len Beitrag zur Religionsgeschichte des Nihilismus eh­ ren. Die Adamiten gingen von der auch von anderen An­ hängern des freien Geistes vertretenen These aus, daß 23 Werner, S. 79, zitiert zustimmend den Satz von Marx: »Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebenbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materiali­ stische und daher wissenschaftliche Methode.« Als Behauptung hört sich das sehr schön an; bei der konkreten Anwendung auf Phänomene der Religionsge­ schichte zeigen sich die Sprünge, Lücken, Verfälschungen und Unverantwort­ lichkeiten, ohne die es diese wissenschaftliche Methode nicht schafft. Auch Werner muß sich in seiner wertvollen Arbeit in dieser Hinsicht mit allgemeinen Behauptungen begnügen, die realiter gar nicht durchgeführt werden können.

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der Erleuchtete den paradiesischen Stand des Men­ schen vor dem Fall wiedergewonnen hat. »Daher be­ gannen einige bereits nackt zu gehen, Männer und Frauen. Auch sagten sie, daß alle als Brüder gleich mit ihnen sein sollten, daß es keine Herren gäbe und daß niemand dem anderen untertan sei. Daher nannten sie sich Brüder. Abgaben und Zinsen hörten auf und es gäbe niemanden, der sie dazu zwingen könne. Das neue Zeitalter ist für sie in unmittelbare Nähe gerückt. Es wird eine solche Fülle des Geistes in den Herzen der Gläubigen sein, daß sich keiner vom andern belehren lassen muß, sondern daß nur die Lehre Gottes herr­ schen werde. Daher verbrannten sie die Bücher und zerrissen auch andere nützliche Dinge. Auch sagten sie: es wird eine derartige Liebe in den Menschen sein, daß alle Dinge unter ihnen gemeinsam sein werden, auch die Frauen. Die Söhne und Töchter Gottes müßten frei sein und es dürfe keine Ehe geben, in der sich zwei Personen vermählen.« Wenn sie das Vaterunser bete­ ten, sagten sie: »Vater unser, der Du in uns bist, er­ leuchte uns!« Sie begingen keine Festtage, sondern be­ trachteten einen Tag wie den anderen. Den Himmel nennen sie das Dach über sich und behaupten, daß Gott nicht im Himmel und der Teufel nicht in der Hölle sei, sondern nur in den Menschen das Böse und Gott in den Guten existiere. Sie bezeichneten sich selbst als die Engel des Herrn, die aus dem Reich Got­ tes alle Ärgernis auszutreiben gekommen seien. Sie schonten niemanden, sondern mordeten unterschieds­ los Männer, Weiber und Kinder, zündeten Dörfer und Städte in der Nacht an, während sie am Tage libertinistischen Praktiken huldigten. Ihr Anführer, über dessen Identität es widersprechende Berichte gibt, soll gelehrt haben, alle anderen Menschen seien Skla­ 158

ven, sie aber und ihre Nachkommen seien Freie.24 Solche Anschauungen gingen weit über das hinaus, was selbst von dem kämpferischen Flügel der Hussiten, den Taboriten, im Aufstand gegen die katholische Kirche vertreten werden konnte. Hier sind die Anschauungen des freien Geistes direkt in nihilistische Revolte und ak­ tiven Anarchismus umgeschlagen25, ohne doch ihre di­ rekte Verbindung mit den ursprünglichen Thesen des mystischen Materialismus und Quietismus zu verleug­ nen. Radikale Formen eines solchen Quietismus sind für fast dieselbe Zeit durch zuverlässige Nachrichten über die Gruppe der homines intelligentiae belegt, die 14 ii in Brüssel von der Inquisition aufgespürt wur­ den.26 Die extremen Ansichten, die von einigen, beson­ ders Laien-Mitgliedern der Gruppe vertreten wurden und mit den joachitischen Erwartungen des neuen Weltzeitalters des reinen Geistes verkoppelt waren, enthalten auch schon einen Zug, der in ähnlichen Be­ wegungen auch im Islam und im Judentum auftritt: nämlich die Empfehlung der Verstellung. Den Außen­ stehenden gegenüber, ganz zu schweigen von den kirchlichen Autoritäten, dürfen die anstößigsten Leh­ ren abgeleugnet und verworfen werden, auch wenn sie durchaus der wirklichen Gesinnung der Anhänger ent­ sprachen.27 Die Rechtfertigung der Verstellung er­ laubte zum Beispiel Anhängern radikaler mystischer Häresien im Islam nach außen hin durchaus orthodo­ 24 Die hier verwendeten Berichte bei Werner, S. 79-81. 25 Leff, I, S. 399, behauptet, Werner leugne S. 129 den anarchischen Charakter der Sekte, was aber Werners Ausführungen nicht entspricht, der nur leugnet, daß sie »fanatisierte Wahnwitzige« waren, wie noch in dem Buch von F. G. Heymann, John 2tika and the Hussite Revolution, Princeton 1955» S. 261-264 angenommen wurde. 26 Leff, I, 395-399, und Werner, S. 113-116. 27 Leff, I, S. 397.

xes Verhalten in Tat und Bekenntnis, wenn sie auf diese Weise Verfolgung vermeiden konnten. In den bis heute unentschiedenen Diskussionen über den wahren Cha­ rakter des türkischen Bektaschi-Ordens, der minde­ stens in einigen seiner Gruppen des religiösen Nihilis­ mus angeklagt wurde, spielte die von ihnen empfohlene und geübte Praxis der Takijje, der Simulation, eine große Rolle.28 Noch hundert Jahre und mehr nach den Brüsseler Häretikern bezog der radikalste aller Wieder­ täufer und konsequenteste aller christlichen mysti­ schen Nihilisten, der aus Holland stammende David Joris (1502-1556) die gleiche Position. Wenn wir seinen Anklägern glauben dürfen, und das scheint mir in die­ sem Falle durchaus plausibel, lehrte er, »daß ein gläubi­ ger Davidianer gar wohl möge Esaus Kleider anziehen, Jakob aber im Herzen haben, das ist einen falschen Schein annehmen um allen Religionen in der Welt, wel­ chen Namen sie immer haben, sich äußerlich gleichstel­ len, und also die Welt betrügen, allein seinen Glauben im Herzen verborgen halten und die Seligkeit heimlich von Gott erwarten«.2’ Dies weist auf eine Taktik des re­ ligiösen Nihilismus, die weit von dem Enthusiasmus anderer Gruppen des freien Geistes ablag, die unter La­ chen und Singen ins Feuer der Inquisition gingen.30

28 Vgl. etwa Ignaz Goldziher, Vorlesungen überden Islam, Heidelberg 1910, S. 167. Entgegengesetzte Stellungnahmen über die antinomistischen Geheim­ lehren der Bektaschis sind von Georg Jacob in seinen Arbeiten über die Bektaschis und von John Birge The Bektashi Order (London 1937) vertreten worden, dessen Apologie mir unüberzeugend scheint. 29 Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Schaff­ hausen 1740, Band I, S. 1)87 (Artikel 32). 30 Werner, S. 83.

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III

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Judentum richten, so ist von vornherein das Auftreten antinomistischer und bis ins Nihilistische gehender Tendenzen besonders unerwartet. Stellt doch das historische Ju­ dentum, wie es sich in dem festen Gefüge des Gesetzes der Tora und der Halacha kristallisiert hat, eine Reli­ gionsverfassung von ungewöhnlicher Disziplin und Festigkeit dar, die in jedem Stück auflösenden und die festen Ordnungen abbauenden Bestrebungen sich ent­ gegenstellt. Es konnte Ausbrüche aus solcher Verfesti­ gung geben, die auf eine andere Lesung des positiven Gesetzes gegründet waren, wie etwa im Karäismus, der einmal große Teile des jüdischen Volkes ergriffen hat und nicht auf einer Ablehnung des biblischen Gesetzes beruhte, sondern auf der Verweigerung, die Autorität der talmudischen Tradition anzuerkennen. So bildete sich dort eine eigene Positivität eines strengeren Literalismus heraus, in der für neue Tendenzen noch weniger Platz blieb, nachdem einmal die islamische Theologen­ schule der Mu'taziliten die Grundlage für die karäische Theologie geliefert hatte. Innerhalb des rabbinischen Judentums waren gänzlich neue Entwicklungen auf zwei Weisen möglich: durch eine Umdeutung der Tradition, die, ohne deren Auto­ rität und Gültigkeit anzutasten, sie von innen her ver­ wandelte, wie das in den mystischen Entwicklungen zutage trat, in denen die fixierte Tradition einen Rah­ men bilden konnte, in dem sich ein intensives und auf immer erneuerten Kontakt mit dem Göttlichen ge­ gründetes religiöses Leben durchsetzen konnte. Die zweite Möglichkeit hing dagegen mit dem Messianis­ mus zusammen, einem Faktor, der für das Gefüge des 161

rabbinischen Judentums eher an der Grenze stand und nur selten akute, unmittelbare Bedeutung erhielt, sonst aber mehr auf einer abstrakt-utopischen, im Passiven verharrenden Hoffnung beruhte. Nur bei akuten Aus­ brüchen des Messianismus ergab sich eine Situation, in der von innen her die Frage entstehen konnte und wohl auch mußte, ob und wieweit in einer erlösten Welt die Tradition und Wertordnung eine unerlöste Gültigkeit beanspruchen konnten. Ich habe über diese Situation an dieser Stelle vor mehreren Jahren in einem Vortrag »Uber die Krise der Tradition im jüdischen Messianis­ mus« gehandelt und habe dabei versucht, die Kräfte zu bestimmen, die in solchen Ausbrüchen einen Konflikt unvermeidlich machten und zu häretischen Neubil­ dungen oder aber auch zu sich außerhalb des Rahmens des Judentums bildenden neuen Formen, wie im Chri­ stentum, führen konnten. Ich will heute von den extre­ men Erscheinungen sprechen, die sich der historischen Analyse innerjüdischer Entwicklungen öffnen und die zu jenen gnostischen Phänomenen, von denen ich ein­ gangs gehandelt habe, in bemerkenswerter strukturel­ ler Parallele stehen. Das erstaunliche Phänomen des polnisch-jüdischen Frankismus im 18. Jahrhundert bietet ein klassisches Exempel dafür, wie religiöser Ni­ hilismus selbst in so festem Gefüge wie dem der jüdi­ schen Überlieferung auftreten konnte. Ich rekapituliere ganz kurz den historischen Rahmen, der durch den Sabbatianismus, die große historische Explosion eines akuten Messianismus im Herzen des späteren Judentums gegeben war. 1665-66 riß das Er­ scheinen Sabbatai Zwis aus Smyrna und seines Prophe­ ten Nathan aus Gaza fast die gesamte jüdische Welt in einen messianisch-apokalyptischen Taumel, in wel­ chem der Übergang zu einem neuen Zeitalter der inne­

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ren und äußeren Befreiung sich anzukündigen schien und für viele schon Realitätscharakter annahm. Die dramatischen Entwicklungen dieses Jahres, die ich in meinem Werk über Sabbatai Zwi (1973) beschrieben habe, fanden ihren Höhepunkt in der durchaus uner­ warteten Apostasie des weithin akzeptierten Messias Sabbatai Zwi zum Islam. In der Konfrontation der Gläubigen mit einem historischen Akt, der ihren Er­ wartungen den Todesstoß hätte geben müssen und alles auf den Kopf stellte, was von einem jüdischen Messias zu erhoffen war, brach ein offener und unausweichli­ cher Konflikt aus: zwischen denen, die das Urteil der Geschichte, das ihre Erwartungen so schlagend wider­ legt hatte, annahmen und das Erscheinen des Messias, sei es als teuflische Episode, sei es als versäumte Chance abschrieben, und denen, die den Glauben an die mes­ sianische Sendung Sabbatai Zwis höher stellten als alle äußere Realität und dadurch zu deren Abwertung und Umdeutung veranlaßt wurden. Die Sabbatianer reinterpretierten die alten Schriften im Lichte ihrer neuen Erfahrung, so wie etwa seiner Zeit Paulus das Alte Te­ stament »gegen den Strich« las, um Christus darin wie­ derzufinden. An die Stelle der alten kabbalistischen Überlieferungen des Sohar und der lurianischen Kab­ bala setzten sie eine neue, häretische Kabbala, die sich in den 25 Jahren nach der Apostasie Sabbatai Zwis in den verschiedensten Formen entfaltete, aber stets in der Rechtfertigung des notwendigen, wenn auch nur scheinbaren Abfalls des Messias von seiner wahren Sendung gipfelte. Insofern der Messias als exzeptionelle Grenzgestalt an der Scheide der zwei Äonen stand, am Übergang zwi­ schen der unerlösten und der erlösten Welt, brauchte er nicht als Vorbild für andere zu dienen, im Gegenteil,

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das Ärgernis, das er bot, war vielmehr eine Bestätigung seiner Sendung. Die Gläubigen, die auf seine Wieder­ kehr aus den dunklen Bereichen hofften, in die er in der Apostasie gestiegen war, um die heiligen Funken auch aus der Welt der Völker einzusammeln und zu erheben, konnten die alten Lebensordnungen der Tradition fort­ setzen, wenn auch in der Erwartung ihrer dereinstigen Verwandlung. Im Gegenteil, erhöhte Intensität in der Erfüllung der Tora, ein radikalisiertet Pietismus in tra­ ditionellen Formen zeichnete solche Gruppen gemä­ ßigter oder chassidischer Sabbatianer aus, wie sie vor allem in den 50 Jahren nach Sabbatai Zwis Tod (1676) in der Türkei, Nordafrika, Italien und Polen verbreitet waren. Dem gegenüber bildete sich ein radikaler Flügel der Sabbatianer, die an der naiveren und auf der Hand liegenden Vorstellung festhielten, daß die Handlungen des Messias, der den neuen Äon einleitet, ein Vorbild für die Gläubigen seien und zur Nachahmung ver­ pflichteten. Während die Masse der »Gläubigen«, wie sich die Sabbatianer selber nannten, innerhalb des Ju­ dentums verblieben, wenn sie auch dort in den Unter­ grund getrieben wurden und einen ziemlich losen, sich nicht in festem Rahmen kristallisierenden Zusammen­ halt bewahrten, kam es bei den Radikalen, deren Zen­ trum in Saloniki war, zu folgenreichen Entwicklungen. Hier fand 1683 ein Massenübertritt von Hunderten von Familien, unter der Führung einiger angesehener Rabbinen und des Schwagers von Sabbatai Zwi, statt, die zwar den Islam annahmen und nach außen hin streng befolgten, in ihrer inneren Sektenorganisation aber ei­ nem messianischen Judentum huldigten. Im sefardischen, aus Spanien stammenden Teil der Judenheit spielten die Marranen eine wichtige Rolle, das heißt Ju­ den, die auf der iberischen Halbinsel die Zwangstaufe 164

angenommen hatten und, zum Teil Generationen hin­ durch, nach außen Katholiken waren, nach innen aber mehr oder weniger fragmentarisch dem Judentum in der Theorie und teilweise auch in der Praxis treu blie­ ben. In einem denkwürdigen Rückschlag bildeten die radikalen Sabbatianer eine Art freiwilliger Marranen, die in der Treue zum Messias die Apostasie auf sich nahmen, um dessen mystische Mission unter den Völ­ kern weiterzuführen. Alte kabbalistische Traditionen von einem doppelten Aspekt der Tora erhielten dabei einen neuen, häreti­ schen Sinn. Das Buch Sohar hatte zwischen einer »Tora der Schöpfung«, das heißt einer Tora, wie sie sich der unteren Welt irdischer Geschöpfe darstellt, und einer »Tora der geistigen Welt«, Tora de-aziluth, unterschie­ den, die ursprünglich die Gestalt der Tora in den höch­ sten Welten war, nun aber in dialektischer Umkehrung zur mystisch-messianischen Tora wurde, die mit dem Anbruch des neuen Äons sichtbar geworden sei. Wäh­ rend die alten Kabbalisten keinen Widerspruch zwi­ schen diesen beiden Aspekten der Offenbarung sahen, sondern nur verschiedene Konkretisationen der Offen­ barung auf verschiedenen Ebenen, machten die Sabba­ tianer in einer Wendung zum Antinomismus Gegen­ sätze aus ihnen. Die Tora der Schöpfung wurde für sie identisch mit der Tora im Zeitalter des Exils, während die neue geistige Tora ihre Gestalt in der Erlösung dar­ stellen sollte. Die eine bedingte nun den Widerspruch und die Auflösung der anderen. Während die gemäßig­ ten Sabbatianer von solchem Antinomismus nichts wissen wollten und für sich selbst auf der strikten Be­ folgung des Gesetzes beharrten, erhielt er bei den Radi­ kalen gewissermaßen eine innerjüdische Legitimie­ rung. Für die zum Islam Ubergetretenen brachte schon 165

dieser Akt selbst den Bruch mit dem äußeren Vollzug des Gesetzes mit sich. Dies wurde aber eher als eine Maskierung des eigentlichen messianischen Inhalts an­ gesehen, der in antinomistischen Ritualen der Sektierer verwirklicht wurde. Hier verbanden sich unverkenn­ bar machtvolle religiöse Emotionen mit anarchischen Neigungen, wie sie tief im Menschlichen verborgen lie­ gen. Je stärker die Disziplin war, mit der das rabbinische Judentum solche Impulse gebändigt hatte, desto wilder war ihr Ausbruch im Verfolg des radikalen Mes­ sianismus und seiner Botschaft eines Anbruchs der Freiheit und Erlösung, selbst wenn diese Freiheit sich nur im Untergrund und geheimen bestätigen konnte. So mußte sich hier ein Doppelwesen einnisten, eine Fortsetzung der marranischen Bewußtseinsspaltung zwischen Innen und Außen. In einem Zeitalter, in dem in der geschichtlichen Realität noch immer die dunklen Mächte an der Herrschaft schienen, während doch die Erlösung von innen her schon angebrochen sein sollte, bildete sich in solchem Dualismus notwendigerweise der Boden auch für nihilistische Konsequenzen. Es konnte nicht ausbleiben, daß in manchen Kreisen das Argument hochkam: es bedarf nicht unbedingt des Akts der Apostasie, um den Aufstand gegen die alten Werte zu vollziehen. Das neue, messianische Judentum konnte auch im Gewände des alten, unerlösten Rabbinismus realisiert werden, wenn man bereit war, ihn als ein den Zeitverhältnissen entsprechendes äußeres Ge­ wand zu betrachten, nicht viel anders als alle institutio­ nalisierten Religionen wie Islam oder Christentum. Die Flamme des wahren Glaubens brennt ihrem Wesen nach nur im verborgenen. So bildeten sich neben der geschlossenen Sekte der muslemischen Kryptojuden in Saloniki, die von den Türken Dönmeh genannt wur-

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den, am Anfang des 18. Jahrhunderts auch in den jüdi­ schen Siedlungen in Polen Gruppen, die im Unter­ grund des Ghetto selber einen libertinistischen Antinomismus entwickelten, der mit den gnostischen Phäno­ menen, von denen oben gehandelt worden ist, eine enge strukturelle Verwandtschaft aufweist und uns ein Licht aufstecken kann, wie - im Widerspruch zu heute weit verbreiteten Auffassungen - solche Entwicklungen sich in durchaus organischer Dialektik auch im Herzen des Judentums selber kristallisieren konnten. Man kann die Grundsätze der radikalen Sabbatianer in we­ nigen Sätzen zusammenfassen: 1. Die scheinbare, in der äußeren Realität vollzogene Apostasie des Messias ist in Wirklichkeit der Vollzug einer Sendung in die Bereiche des Widergöttlichen, um es von innen her zu zerstören. 2. Das Außere und Innere fallen in diesem Zeitalter des Überganges auseinander und die Verstellung, die marranische Bewußtseinshaltung, gehört zum Wesen des gläubigen Sabbatianers. 3. Die Aufhebung des Gesetzes der Tora kann seinen wahren Vollzug darstellen. Die messianische Tora der Aziluth wird durch die rituelle, zugleich symbolischen Charakter tragende Übertretung und Aufhebung der überlieferten Formen der Tora bestätigt. 4. Im Zusammenhang damit bildet sich ein mystischer Dualismus heraus, der zwischen der Anerkennung der ersten Ursache aller Dinge als des der ratio erreichbaren Gottes und der Offenbarung des Gottes Israels als dem Träger der wahren Offenbarung, dem Gott der Reli­ gion, unterscheidet. All dies führte sehr bald zur Aufstellung einer sabbatianischen Kabbala, die sich gegenüber der traditionellen, obwohl sie sich vieler ihrer Symbole bediente, durch­

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aus subversiv verhielt. Jeder der hier genannten Sätze mußte von den Verteidigern der jüdischen Tradition als Proklamation eines Aufstands von innen her, als Kon­ stituierung eines völlig verwerflichen und häretischen Sektierertums verstanden werden. Die Literatur dieser Sabbatianer wurde fast ausschließlich handschriftlich verbreitet, und die Propaganda solcher Lehren erfolgte außerdem mündlich in Konventikeln, in denen gelehrte Anhänger und Sendboten es unternahmen, auch die al­ ten Bücher und heiligen Texte im Sinne der neuen Vor­ stellungen zu interpretieren. An Übergängen zwischen den gemäßigten und radikalen Gruppen hat es aber nicht gefehlt. Aus zuverlässigen Zeugnissen wissen wir, daß asketischer Pietismus und antinomistische Prakti­ ken sich auch im selben Individuum zusammenfinden konnten. Angehörige verschiedener sozialer Schichten und nicht weniger verschiedenen rabbinischen Bil­ dungsgrades trafen sich hier. Manche Losungen der Häretiker waren offenkundig weit verbreitet. So wurde etwa der Satz, daß die Aufhebung der Tora ihre wahre Erfüllung sei, mit dem Beispiel vom Samenkorn be­ gründet, das sterben muß, um aufzusprießen. So müs­ sen auch die Handlungen der wahren Gläubigen eine Verwandlung durchmachen, gleichsam verrotten, be­ vor die Erlösung aus ihnen sprießen kann. Und wie das Korn nur im Verborgenen der Erde sich verwandelt, so müssen diese Taten verborgen bleiben, bevor der neue Stand der Tora allgemein sichtbar werden kann. Nicht weniger populär war die blasphemische Benediktion, mit der Akte von manifest antinomistischem und libertinistischem Charakter begleitet wurden. Ein Satz im überlieferten täglichen Morgengebet »Gelobt seist du, Gott, König der Welt, der die Gefangenen befreit« (Mattir Assurim), wurde durch Veränderung eines 168

Buchstabens zu der Losung: »Gelobt seist du Gott, König der Welt, der das Verbotene erlaubt« (Mattirlssurim). So gelangte die libertinistische These von der Heiligkeit der Sünde in diesen Kreisen und zum Entsetzen ihrer Gegner zur Geltung, die durch zwei an sich einander ausschließende, in der Realität aber oft nebeneinander bestehende Begründungen rationalisiert wurde und die an die Losungen des freien Geistes erinnern, die oben analysiert wurden. Einerseits wurde argumen­ tiert: in der erlösten Welt kann es keine Sünde mehr ge­ ben, alles ist heilig und alles ist erlaubt. Es konnte aber auch ganz anders gelehrt werden: worauf es ankommt, ist, die Werte der überlieferten Formen, der »Tora der Schöpfung«, zu negieren, sie durch Übertretung zu entwerten, weil gerade in dem Abwerfen dieser Dinge die Freiheit sich bestätigt. In kabbalistischer Termino­ logie hieß das, die Funken der Heiligkeit den Sphären des Unheiligen vorzuenthalten, die sich ja nicht aus sich selber, sondern nur aus solchen Funken nähren, so daß sie aus Mangel an Nahrung von selber zugrunde gehen oder aber, anders gewendet, diese Sphären des Unheili­ gen und Dämonischen so mit Heiligkeit anzufüllen, daß sie von innen her explodieren. Daß dabei das sexu­ elle Element stark in Erscheinung trat, versteht sich. Zu drastischem Ausdruck kam das in den Lehren derDönmeh in Saloniki, wo sich um 1700 ein extremer Flügel unter der Leitung des Baruchja Russo (als Moslem Os­ man Baba genannt) entwickelte. Er lehrte, daß die Um­ kehrung der Werte, die mit der messianischen Ara ein­ setzt, sich vor allem darin äußere, daß jene 36 Verbote der Tora, auf die die höchste Strafe der »Ausrottung der Seele« gesetzt war (die damit von Israel und Gott abge­ schnitten würde), nur für die »Tora der Schöpfung«,

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die Tora der unerlösten Welt, gelten. Dazu gehören aber, nach dem 19. Kapitel des 3. Buches Mose, vor al­ lem die sexuellen Tabus und Inzestverbote. In der neuen Ara seien diese Verbote nicht nur aufgehoben, sondern würden vielmehr zu Geboten, die dem neuen Weltzustand entsprächen. Wir besitzen ausführliche Rechtfertigungen der daraus folgenden orgiastischen und antinomistischen Praktiken, die erst in den 1960er Jahren in Handschriften der Dönmeh ans Licht gekom­ men sind. Auch in Kreisen, die im Judentum verblie­ ben, fanden solche Vorstellungen Widerhall. Von ei­ nem Hamburger Sabbatianer wird die Äußerung über­ liefert, die Patriarchen seien in die Welt gekommen, um die Sinne in ihrem ursprünglichen Glanz wiederherzu­ stellen, und hätten das für vier von ihnen geleistet. Aber erst Sabbatai Zwi habe den fünften, nämlich den Tast­ sinn, reintegriert, der nach Aristoteles und Maimonides im Grunde eine Schmach für den Menschen sei, nun aber zu Ruhm und Ehre erhoben worden sei, ein Ge­ dankengang, dessen libertinistische Implikationen evi­ dent sind. Die Propaganda der Abrogation der Schöp­ fungs-Tora und ihrer Ersetzung durch eine mystischlibertinistische, die dem neuen Stand entspräche, wurde begreiflicherweise von den Hütern der Überlie­ ferung als totaler Umsturz gewertet und dementspre­ chend bekämpft. In der Tat war der Weg von hier zu ei­ nem konsequenten Nihilismus auf religiöser Grund­ lage nicht weit. Der Träger dieser Wendung im sabbatianischen Unter­ grund war Jakob Frank (1726-1791), zweifellos eine der düstersten Erscheinungen der jüdischen Religions­ geschichte, ein skrupelloser, eigensüchtiger und despo­ tischer Mensch, von dem aber bei aller Korruptheit eine nicht geringe Faszination ausstrahlte, die die radikalen

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Anhänger des Sabbatianismus in Ost- und Mitteleu­ ropa mit sich riß. Frank war ein Nihilist, und sein Nihi­ lismus besaß ein seltenes Maß von Authentizität. Seine primitive Wildheit hat etwas Erschreckendes. Er war nicht nur, an den Maßstäben der jüdischen Bildung sei­ ner Zeit gemessen, ungelehrt, sondern rühmte sich im­ mer wieder gerade dieses Mangels an Bildung. Er stellt nicht etwa einen Mystiker, einen Visionär oder einen Staatsmann als Messias vor, sondern einen Kraftmen­ schen, wenn man so sagen dürfte, einen Athleten-Messias, der sich gerade seiner Ungelehrtheit, seiner aufs Konkrete gerichteten Natur wegen als von Gott er­ wählt oder gar Gott inkarnierend betrachtet. Merk­ würdig bleibt dabei, daß wir hier mit der außerordentli­ chen Erscheinung eines machthungrigen und tyranni­ schen Individuums zu tun haben, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts dennoch völlig in einer mythischen Welt seiner eigenen Konstruktion versunken ist. Es ist höchstwahrscheinlich, daß er selbst aus der Sekte der radikalen Sabbatianer stammte und mit ihren Vorstel­ lungen aufwuchs. Aber erst er hat aus diesen Vorstel­ lungen einen vollständigen Mythos des religiösen Nihi­ lismus gewoben. Seine äußere Laufbahn und Biographie sind wohlbe­ kannt. In Podolien geboren, kam er als Kind nach der Bukowina und Rumänien, wo er etwa zwanzig Jahre verbrachte, als Kaufmann viel herumzog und mit den Kreisen der Sabbatianer, und auch der radikalen Dönmeh, in naher Verbindung stand oder in solche trat. Sendboten der polnischen Sabbatianer erkannten schon früh in ihm einen künftigen potentiellen Führer der Sekte und begleiteten ihn, mindestens von seiner Heirat (1752) an, auf Fahrten nach Saloniki, wo er sich, ohne formell zum Islam überzutreten, unter der Sekte Ba-

ruchjas bewegte, sowie auf einer Pilgerfahrt nach Smyrna, der Heimat Sabbatai Zwis. In diesen Jahren nahm er sowohl die Lehren der libertinistischen Sabbatianer wie auch vieles aus der rumänischen Folklore in sich auf, in der dualistische Überlieferungen der Bogumilen noch immer lebendig waren. Hatten doch die Bogumilen vom n. bis 15. Jahrhundert eine nicht ge­ ringe Rolle auf dem christlichen Balkan gespielt, und selbst als sie im Lauf der Verfolgung ausgerottet oder aber nach der türkischen Eroberung sich dem Islam an­ schlossen, blieb viel von ihren Vorstellungen in stark popularisierter Form in Bulgarien und Rumänien le­ bendig. Als Frank Anfang 1756 aus der Türkei nach Podolien zurückkehrte, wurde er schon als unbestrittener autoritärer Führer und als Reinkarnation Sabbatai Zwis und Baruchjas von den dortigen Sektierern empfangen. Es ist unentschieden, ob er bewußt aus den geheimen Konventikeln des Untergrunds ausbrechen wollte oder nur zufällig bei mystisch-libertinistischen Ritualen mit seinen Anhängern in dem Städtchen Lanskoron über­ rascht wurde. Jedenfalls kam es zu einem großen Skan­ dal und zu einer inquisitorischen Untersuchung gegen die Sabbatianer vor dem rabbinischen Tribunal von Podolien. Frank selber, der zuerst von den polnischen Be­ hörden verhaftet worden war, wurde als türkischer Untertan sehr bald freigelassen und zog sich für drei Jahre nach dem Balkan zurück, wo er meistens in Giurgiu (an der Donau) wohnte und von dort aus die Sekte dirigierte, die nun starken Verfolgungen von Seiten der rabbinischen Autoritäten ausgesetzt war. Sie erklärten sich als »Kontratalmudisten« oder »Sohariten« und verlangten den Schutz des polnischen Thrones und der kirchlichen Behörden gegenüber den talmudistischen Juden und Anerkennung als legitime jüdische Sekte,

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wobei sie natürlich ihre Geheimlehre nicht preisgaben, sondern sich als zum Christentum neigende oder doch damit parallele Gruppe darzustellen suchten. Die Ge­ schichte des dramatischen Auf und Ab in diesen Aus­ einandersetzungen ist hier nicht von Interesse. Jeden­ falls sahen kirchliche Kreise hier Gelegenheit zu einer Massenkonversion der Sektierer zum Katholizismus. Frank selber war inzwischen, um den auch von den tür­ kischen Behörden von jüdischer Seite gegen ihn erho­ benen Anklagen, eine neue Religion einführen zu wol­ len, zu entgehen, in Giurgiu formell zum Islam überge­ treten. Anfang 1759 kehrte er, offenbar aufgrund einer Verabredung, nach Polen zurück und versammelte viele Hunderte seiner Anhänger um sich und predigte ihnen seine neue Fassung des Glaubens, der einen for­ mellen Übertritt zur Kirche involvieren würde, ohne doch Wesentliches an ihrer wirklichen Haltung zu än­ dern. Alle formellen Religionen seien nur Durchgangs­ stadien, die der wahre Gläubige zu passieren habe, wie man Kleider an- oder ablegt, in denen aber der wahre Glaube verborgen gehütet werden müsse. Die Symbole der Kabbalisten, unter denen die Lehren der Sekte bis­ her dargestellt worden seien, sollten durch eine viel ein­ fachere und unmittelbar die Imagination ansprechende Bilderwelt ersetzt werden. Er, Frank, sei der wahre Ja­ kob, der sie auf einen neuen Weg, nämlich den »Weg zu Esau« führen würde. Im Sommer 1759 fand eine große Religionsdisputation zwischen den sogenannten Talmudisten und Kontratalmudisten in Lemberg statt, die mit der Massentaufe einer großen Gruppe von Franks Anhängern endete, zugleich aber, sozusagen unter den Augen der Geistlichkeit, Frank als Führer seiner Gläu­ bigen bestätigte. Erst nach der Taufe wurden sich die Behörden über den wahren Charakter der Gruppe klar,

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von dem sie vorher sich keine Rechenschaft hatten ge­ ben wollen, und Frank wurde dreizehn Jahre lang als Häftling der Kirche auf der Festung Czenstochau fest­ gehalten, bis die Russen Polen eroberten und Frank freiließen. Von da ab lebte er, nach außen hin streng ka­ tholisch, als Haupt der Sekte, sowohl der im Judentum Verbliebenen als der zum Katholizismus Ubergetretenen, in Brünn und später in Offenbach am Main, wo er Ende 1791 starb. Seine Anhänger bildeten in Polen, Schlesien, Böhmen und Mähren eine organisierte Sekte, die sich erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auflöste. Am Ende seines Lebens schrieben Franks Schüler mehr als zweitausend seiner Lehrworte, Erinnerungen und Gleichnisse nieder, die nach seinem Tode redigiert und unter den Anhängern handschriftlich verbreitet wur­ den. Ursprünglich offenbar hebräisch verfaßt, ist dies Werk unter dem Titel »Worte des Herrn«, Slowa Panskie, in polnischer Fassung auf uns gekommen. Es ist unstreitig eine der seltsamsten heiligen Schriften, die je verfaßt wurde, und ein Evangelium des unverstellten Nihilismus. Vor dem Zweiten Weltkrieg existierten noch mehrere vollständige Handschriften in polni­ schen Sammlungen, die in den Stürmen des Zweiten Weltkrieges wahrscheinlich untergegangen sind. Aus­ führliche Auszüge daraus wurden vor achtzig Jahren von Alexander Kraushar in seinem polnischen Werk »Frank i Frankisci polscy« mitgeteilt, und in der Kra­ kauer Universitätsbibliothek ist noch etwas mehr als die Hälfte einer solchen vollständigen Handschrift aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erhal­ ten. Bevor ich den Nihilismus, wie er hier formuliert wird, analysiere, muß ich aber auf einen Punkt zu sprechen 174

kommen, den ich bisher nicht berührt habe. Der ra­ dikale Flügel der Sabbatianer entwickelte nämlich schon sehr früh eine Vorstellung von der Vergottung der Seele des Messias oder einer Art Inkarnation Gottes im Messias, die vielleicht, wenn auch keines­ wegs in dogmatischen Formen, der christlichen Trini­ tätslehre entstammt, vielleicht aber auch ganz von in­ nen her im Schoße der häretischen Kabbala der Sab­ batianer entstanden sein mag. Die Sabbatianer faßten unter dem, aus dem Sohar entnommenen, Stichwort von den »drei Bändern oder Knöpfen des Glaubens« die Vorstellung zusammen, daß noch über allen Sefiroth und Entfaltungen der göttlichen Schöpferkraft drei Potenzen ausgezeichnet waren, die eine Art tri­ nitarischer Verbindung göttlicher Kräfte darstellten. Dies waren der »verborgene Alte« (der deus absconditus), auch Wurzel aller Wurzeln und erste Ursache genannt, die aus ihm entsprungene Konfiguration des Gottes der Offenbarung, genannt Gott Israels, Elohei Jisrael, und seiner weiblichen, in allem Existierenden wirkenden Kraft, der Schechina. Der Gott Israels, auch der heilige König genannt, Malka Kaddischa, wurde von den Sabbatianern in besonders innige Be­ ziehung zur Seele des Messias gesetzt, ja bei manchen wurde Sabbatai Zwi selbst zu einer Inkarnation der Schechina oder aber der Figur des heiligen Königs. Die Anhänger Franks sahen in ihrem Oberhaupt eine erneute Inkarnation dieser Art. Die Literatur der Dönmeh und der späteren Sabbatianer, ja auch noch der letzten Frankisten, hält durchwegs an irgend­ einer Form von Inkarnation der Gottheit fest, obwohl die authentischen, das heißt nicht mit dem Hinblick auf christliche Leser geschriebenen, Texte keinen Zweifel an ihrer entschiedenen Gegnerschaft

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gegen das Christentum und die katholische Kirche als äußere Institution lassen. Als die antisabbatianischen jüdischen Polemiker die Sabbatianer beschuldigten, die Vorstellung von der Gottheit zu verkörperlichen, wa­ ren sie zweifellos im Recht. Nur war, was in den Augen der Orthodoxen der Nachweis einer fundamentalen Schwäche der Häretiker war, für diese selber eine Quelle des Stolzes. In Franks Geist wurde nun aus der sabbatianischen Trinität etwas ganz anderes. Die kab­ balistische Symbolsprache wurde abgeschafft und durch sinnlich einprägsame Bilder ersetzt, in denen bi­ blisches, auf verschlungenen Wegen hierhergelangtes gnostisches Gut und eine gewisse originelle Bildkraft Jakob Franks selber ein merkwürdiges, durchaus nicht sinnloses Ganzes bilden. Franks Lehrworte stützen sich auf Verse der Bibel, auf Aussprüche von Talmud und Midrasch und Stellen aus dem Sohar, ganz wie bei den Rabbinen, nur eben in ihrer Tendenz total auf den Kopf gestellt. Nach Frank ist die sichtbare Welt, tewel, keine Schöp­ fung des guten oder wahren Gottes, denn wäre sie das, so müßte sie ewig und der Mensch unsterblich sein, was durch das Phänomen des Todes in der Welt widerlegt wird. Der wahre Gott, den die Patriarchen und vor al­ lem Jakob gesucht haben, ist bisher völlig verborgen. Dieser wahre Gott ist der geheime Jakob, dessen Wel­ ten allen, außer den »Gläubigen«, das heißt seinen Sek­ tierern, verborgen sind. In diesen Welten ist das Ver­ sprechen eines positiven Inhalts beschlossen, der aber unerreichbar ist. Der wahre Gott ist verdeckt von einer demiurgischen Potenz, die zugleich »der große Bru­ der« und »jener, der vor Gott steht«, heißt, eine kühne Metamorphose des heiligen Königs in der sabbatiani­ schen Trinität. Dieser große Bruder ist natürlich Esau, 176

Jakobs älterer Bruder, der in der Bibel auch Edom heißt. Um ihn erstrecken sich Welten, in denen das Le­ ben und die Freiheit ungebrochen herrschen. Unsere Welt aber ist ein Produkt niederer Mächte, der drei »Götter«, die die Welt beherrschen, Kräfte des Bösen, die den Tod in die Welt gebracht haben und den Weg zum »großen Bruder« und zum »wahren Gott« blokkieren. Diese Welt wird von »unwürdigen Gesetzen« regiert. Daher besteht die eigentliche Aufgabe darin, der Herrschaft dieser Gesetze - aller Gesetze die­ ser Welt - ein Ende zu bereiten, die ja Gesetze des Todes sind und die Würde des Menschen verletzen. Um den Weg zu zeigen, hat der gute Gott Emissäre ge­ schickt, die Patriarchen der Bibel, von denen es heißt, daß sie Brunnen gruben, Moses, dessen Botschaft aber durch jene unwürdigen Gesetze verfälscht wurde, Jesus und auch Sabbatai Zwi und Baruchja, den Lehrer des radikalen Antinomismus in Saloniki. Die göttliche So­ phia, die hier der dritte Teil der Trinität ist und in der die Schechina der Kabbalisten und die Jungfrau der Ka­ tholiken zusammenfließen - hatte Frank doch 13 Jahre in Czenstochau den prononciertesten Kultus der Jung­ frau vor Augen -, suchte sie auf diesem Wege anzulei­ ten, zeigte sich ihnen auch hier und da, aber im großen und ganzen kann auch sie sich in dieser niederträchti­ gen Welt nicht manifestieren. Dadurch verfehlten auch die früheren Führer ihren Weg und brachten nichts Or­ dentliches zustande. Die Welt ist verdunkelt, Israel, das Jakobs Erbe antreten sollte, in der Verbannung arm und verachtet, und am verachtetsten und Verfolgtesten von allen sind die Sabbatianer. »Mein Wunsch aber ist, Euch zum Leben zu führen.« Dieser Weg zum Leben ist aber der des Nihilismus. Er besteht darin, sich von allen Gesetzen, Konventionen und Religionen frei zu 177

machen, durch alle hindurchzugehen und alle zu ver­ werfen. »Denn wir alle müssen in den Abgrund stei­ gen«, in dem alle Gesetze und Religionen vernichtet werden. Die Taufe ist eine der notwendigen Stadien auf diesem Weg. Die Kirche ist eines der Gewänder, in dem sich der wahre Glaube verbergen kann. Noch 30 Jahre nach seiner Taufe sagte Frank: »Christus, von dem Ihr wißt, sagte, er sei gekommen, um die Welt aus den Händen des Teufels zu erlösen; ich aber bin gekom­ men, sie von allen Gesetzen und Gebräuchen zu erlö­ sen, die je existiert haben. Meine Aufgabe ist, dies alles aufzuheben, so daß der gute Gott sich offenbaren kann.« Wer alle Gesetze und Religionen umstürzt, die vom Baum des Todes stammen, der ergreift den Baum des Lebens. Ständig wiederholt er das doppelte Grundmotiv seiner Lehre: Abschaffung aller Werte, positiven Gesetze und Religionen im Namen der Befreiung des Lebens. Der Weg dazu führt durch den Abgrund der Zerstörung. Dieser Begriff des Lebens stellt für Frank ein Schlüssel­ wort dar, in dem sein anarchisches Pathos sich aus­ drückt. Leben ist für ihn nicht die harmonische Ord­ nung der Natur und ihr sanftes Gesetz; er ist kein An­ hänger der Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus. Sein metaphysischer Traum betrifft tiefere Schich­ ten der Seele. Leben ist Freiheit von Bindung und Ge­ setz. Das anarchische Leben ist Gegenstand und Inhalt seiner Utopie, in der ein primitives Streben nach einem gesetzlosen Begriff von Freiheit und von der Promis­ kuität aller Dinge sich ankündigt. Dies anarchische Le­ ben rauscht vor dem »großen Bruder« und erhält bei Frank alle positiven Töne und Obertöne, die dieser Be­ griff sonst in der religiösen Überlieferung, wenn auch in ganz anderem Sinne hat. Hundert Jahre vor Bakunin

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hat Frank die erlösende Macht der Zerstörung ins Zen­ trum seiner Utopie gestellt. Die dunkle Faszination, welche diese Idee für ihn hatte, bricht in unendlichen Variationen durch. So sagt er, in Abwandlung eines talmudischen Epigramms: »Wo immer Adam, der erste Mensch, hindurchkam, wurde eine Stadt gebaut. Aber wo ich gehe, wird alles zerstört. Ich muß zerstören und annihilieren - was ich aber bauen werde, wird ewig ste­ hen.« Von diesem Bauen ist bei ihm aber nicht viel die Rede, denn die Zeit dafür ist noch nicht da. Statt dessen ergreift das Ringen um die Zerstörung, ein echter Nihi­ lismus, alle Schichten unserer Existenz. Der Weg in den Abgrund geht dem nach oben voran. In der jüdischen Überlieferung steht Jakob für den homo religiöses, der den Weg zu Gott sucht oder ihn besitzt. Die Leiter, die Jakob, in dem Frank seinen Urtypus sah, im Traume erblickte, hatte eine Gestalt, in der sich Ab- und Auf­ stieg vereinigten: V. Der Mensch muß sich erniedrigen und degradieren, um aus dem tiefsten Stand in die Frei­ heit des Lebens vorzudringen. Die antinomistischen und orgiastischen Rituale, die Frank mit seinen Anhän­ gern praktizierte und deren detaillierte Beschreibungen in Handschriften seiner Anhänger niedergelegt wur­ den, stellten für ihn Bestätigungen der messianischen Freiheit dessen, was er das »Leben« nennt, dar. Ich habe oben gesagt, daß Gedanken dieser Art, unter dunklen kabbalistischen Symbolen verborgen, schon bei den Sabbatianern in Saloniki und deren Mitläufern in Polen im Schwange waren. Bei Frank erhalten sie ro­ busten und unverstellten Ausdruck. Diese Vorstellung vom Weg in den Abgrund, der der Weg zum Leben ist, hat aber noch einen anderen, ent­ gegengesetzten Aspekt. Gewiß, Frank träumt wie alle Apokalyptiker vom universellen Umsturz, von Krie­

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gen und Revolutionen, ja auch vom Sturz der Kirche, in deren Schoß er selber gerade tausend seiner Anhänger geführt hat. Da ihm der Weg der politischen Aktion versagt ist, betont er vorläufig den moralischen Auf­ stand gegen die herrschenden Wertordnungen. Aber die Vision des Kampfes und der Organisation solchen Kampfes gegen die herrschenden Gewalten begleiten ihn die ganze Zeit. Das Ziel ist die fessellose Freiheit, der Weg aber verlangt strengste Disziplin. So wird Frank, paradox genug, zum ersten Fürsprecher und Lobredner des Soldatentums unter den Juden. Wir dür­ fen nicht vergessen, daß seine Worte sich stets an jüdi­ sche Sektierer richten, die auch in ihren ketzerischsten Anschauungen sich noch immer als Juden fühlten. Die­ sen Gläubigen aus elenden und abseitigen Dörfern und Städtchen Podoliens predigte Frank die notwendige Transformation der Juden zu Soldaten. »Wäret Ihr wirklich von der Rasse Davids, würdet Ihr nicht am Studium der Gesetze hocken, sondern würdet Waffen verlangen.« Ein zugleich mystischer und realistischer Militarismus, der von »Millionen jüdischer Elitetrup­ pen« träumt, durchzieht viele seiner Aussprüche. Die Soldaten können sich nicht aussuchen, auf welchem Wege sie die Festung, die sie berennen, erobern sollen. »Wenn nötig, müssen sie auch durch die schmutzigsten Abwässer hindurchgehen.« Der Überschwang der Utopie der Gesetzlosigkeit wird ausgeglichen durch die Begeisterung für die Disziplin der Soldaten, die ih­ rem Führer auch auf den gefährlichsten und verloren­ sten Wegen folgen. Ihre Sache ist es, dem General zu folgen, und Generäle, sagt Frank, »dürfen keine Reli­ gion haben«, ein denkwürdiges Epigramm von wahr­ haft nihilistischer Logik. Frank glorifiziert also gerade die beiden Haltungen, die der Wirklichkeit eines osteu­

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ropäischen Juden eine Generation vor der Französi­ schen Revolution am fremdesten sind und die von ihm zu einer paradoxen Einheit gebracht werden: die Frei­ heit des anarchischen Lebens als Ideal und die Disziplin des Soldaten als Weg. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dieser militärischen Ideologie und den jüdi­ schen Erwartungen Franks, die er noch innerhalb sei­ ner Vision des Ausbruchs aus den alten Grenzen der Überlieferung beibehielt. Er war das, was man in der Sprache der modernen Zionisten einen Territorialisten nannte. Zwischen 1759 und 1790 erhofft er, sei es in günstigen politischen Situationen, sei es in den kata­ strophalen Umbrüchen der messianischen Endkämpfe, ein Territorium für seine Anhänger und die zu ihnen stoßenden Massen der Juden zu erlangen, und zwar nicht im Lande Israel, sondern in Polen. Noch in den Verhandlungen, die ihrem Übertritt zur katholischen Kirche vorangingen, schlugen die Führer der Franki­ sten in einem damals gedruckten und in vielen Sprachen verbreiteten Memorandum an den König von Polen eine geschlossene Ansiedlung der Sekte in einem Terri­ torium östlich von Lemberg vor, wo sie ganz unnihili­ stisch und aufklärerisch formuliert sich der Umschich­ tung auf produktive Berufe widmen wollten. Zugleich verlangten sie dort Freiheit, im Rahmen ihrer »soharitischen« Überzeugungen zu leben, die in einem juden­ christlich drapierten Gewand dargestellt wurden, ohne ihre wirklichen, mystisch-nihilistischen preiszuge­ ben. Der Weg in den Abgrund, mit allen seinen Gefahren, Zweideutigkeiten und Verheißungen führt in Franks Bildersprache den Namen: der Weg zu Esau. So wie Ja­ kob, wie oben gesagt, der homo religiosus ist, so ist Esau oder Edom in der jüdischen Überlieferung der Reprä­ 181

sentant des diesseitigen Lebens, der Gewalt und des Genusses. Im rabbinischen mittelalterlichen Judentum war aber Edom zugleich der weitverbreitete Deckname für die katholische Kirche, die ihrer Haltung zum Ju­ dentum nach von den Juden nur als feindliche und ne­ gative Macht erfahren werden konnte. In der Umwer­ tung aller Werte der jüdischen Überlieferung, die der Nihilismus der Frankisten propagierte, verkoppelte sich die historische Erfahrung des polnischen Juden mit einer intensiven Sehnsucht gerade nach der Welt, die ihm versagt war. In Kapitel 3 3 der Genesis wird erzählt, daß Jakob seinem Bruder Esau bei ihrer Begegnung versprochen habe, zu ihm nach seinem Wohnsitz zu kommen, ohne daß die Bibel je erwähnt, daß er wirk­ lich dorthin gegangen sei. Dieser »Weg zu Esau« oder Edom ist es nun, der nach Frank das entscheidende Sta­ dium der Erlösung bildet, der Weg, den am Ende der Tage er selber, als der wahre Jakob, den Gläubigen zeigt. Es ist zugleich der Weg zum historischen Esau, das heißt zur nichtjüdischen weltlichen Umgebung, der Welt der handfesten Realität, und zum mystischen Esau, jenem großen Bruder, der vor Gott steht, dem Ort, wo alle Gesetze versinken und das Leben herrscht. Der Weg dahin wird durch die äußere Annahme der »Religion Edoms«, dath Edom, ebenso symbolisiert wie verdeckt, denn nicht der Glaube der Kirche ist das Ziel, sondern, wie es bei Frank mit einem hebräischen Wortspiel heißt, da'ath edom ha-kedoscha, die Gnosis Edoms, die der eigentliche und verborgene Inhalt der Offenbarung ist, die die Gläubigen auf diesem Wege oder an ihrem Ziel erfahren. Hier tritt ein weiteres Schlüsselwort Franks in seine Rechte: Der wahre Gläubige, der der wahre Nihilist ist, steht unter der »Last des Schweigens«. Massa duma ist 182

die Überschrift einer Audition Jesajas (21:11), in der eine Stimme aus Se‘ir, dem Wohnsitz Edoms, den Pro­ pheten anruft. Was diese Worte im Kontext Jesajas be­ deuten, etwa »Orakel über Edom« oder ähnliches, ist strittig, aber wörtlich konnte dieses Stichwort als »Last des Schweigens« übersetzt werden. Die alte marranische Forderung der radikalen Sabbatianer, daß der Gläubige nicht als das erscheinen dürfe, was er wirklich ist, erhielt bei Frank,vielleicht aus dem Kreis der Dönmeh übernommen, eine neue Fassung. Die Archonten dieser Welt verlegen den Weg zu Esau, dem großen Bruder. Keiner hat es bisher geschafft, an ihnen vorbei­ zukommen, auch Jesus nicht, noch Sabbatai Zwi. Um die Widerstände dieser Gewalten zu überwinden, die für Frank auch die herrschenden Religionen des Islam und Christentums sind, ist das »vollständige Schwei­ gen« erforderlich, ja die Simulation - das Schweigen des Soldaten und die Verstellung dessen, der auf eine ge­ fährliche Sendung ins feindliche Lager geht. Die Last des Schweigens liegt auf allen, die Franks Weg gehen wollen. An extremen, ja brutalen Formulierungen die­ ses Weges fehlt es nicht. »Es ist eine Sache, Gott zu die­ nen, und eine ganz andere, dem Weg zu folgen, den ich eingeschlagen habe.« »Wenn jemand eine Festung er­ obern will, so geht das nicht, indem er eine Rede hält, sondern er muß selber mit all seinen Kräften dort hin­ gehen, und so müssen auch wir unsern Weg schwei­ gend machen.« »Was das Herz weiß, darf es dem Munde nicht mitteilen.« »Hier werden keine Gelehrten gebraucht, hier geht es um die Last des Schweigens.« »Unsre Väter haben geredet und geredet, aber was ha­ ben sie vollbracht? Wir aber stehen unter der Last des Schweigens: wir müssen hier ganz ruhig sein und das Notwendige auf uns nehmen, und das ist der Grund,

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warum wir von einer Last reden.« »Wenn jemand von einem Ort zu einem andern geht, soll er den Mund hal­ ten. Es ist wie beim Bogenschießen: je länger man den Atem anhalten kann, desto weiter fliegt der Pfeil.« »Als ich in Lemberg zur Taufe ging, sagte ich zu Euch: bis hier! [d. h., bisher haben wir geredet]. Von jetzt an gilt massa duma\ Legt Euch ein Schloß vor den Mund.« Das bedeutete also: wir reden zwar von der Religion Edoms und verstehen darunter den Außenstehenden gegenüber die katholische Kirche, aber wir schweigen über unsern wirklichen Glauben, den Weg zu Esau und alles, was er impliziert. Der biblische Esau war nach Frank nur ein Vorhang, der den Eingang aus den inne­ ren Gemächern des Königs verdeckt. So auch sind alle Geschichten Jakobs als Vorbedeutungen für die Ereig­ nisse der letzten Tage zu verstehen. Als Jakob an den Brunnen kam, den Abraham und Isaak gebohrt hatten, und den Stein wegzuwälzen vermochte, der ihn be­ deckte, das heißt die schwere Last der rabbinischen Überlieferung, die die lebendigen Wasser, die in diesem Brunnen sprudeln, verdeckt, da fand er Rahel, die nichts anderes ist als die Jungfrau und die Schechina, die göttliche Sophia - »sie, der wir alle nachjagen«, die in ihrer Hand das Elixier des Lebens hält. Sie ist die hei­ lige Schlange, die das Paradies bewacht, »und jener, der [in einem kabbalistischen Werk] die Frage aufwarf: was hat die Schlange im Paradies zu suchen? hat nichts ver­ standen«. Denn diese Schlange ist nichts anderes als der Messias selber - die hebräischen Worte für Schlange und Messias haben den gleichen Zahlenwert. Bisher habt Ihr geglaubt, sagt Frank, daß der Messias männ­ lich sein würde, aber das ist längst vorbei. Der Messias der letzten Tage, dem wir nachjagen, wird eine Frau sein, die Inkarnation der Schechina und der Sophia. Es

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scheint, daß die Frankisten zeitweise in Eva Frank (1752-1816), derTochter ihres Führers, solchePräfiguration des weiblichen Messias verehrt haben. Die Gläubigen haben sich auf den Weg zu Esau auf­ gemacht, der durch den Abgrund und das Schweigen führt, aber sie sind noch nicht dort angelangt. Das ver­ borgene Licht der Erlösung wird zuerst inmitten der Sektierer strahlen, die das Privileg genießen, als Solda­ ten im übertragenen und wörtlichen Sinn den Kampf um sie zu führen. Wenn wir uns zurückrufen, was ein­ gangs dieser Ausführungen über die nihilistische Gnosis gesagt wurde, so möchte es angesichts des Frankschen Mythos des religiösen Nihilismus viel eher scheinen, daß wir hier mit einem Antinomismus gnostischer Na­ tur aus dem zweiten Jahrhundert zu tun haben als mit einer Lehre, die tatsächlich am Vorabend der Französi­ schen Revolution im Kreise polnischer Juden gelehrt und geglaubt wurde. Weder der Meister noch seine Schüler waren sich dessen bewußt, daß sie eine alte Tra­ dition wiederbelebten, nicht nur in der allgemeinen Li­ nie ihres Denkens, sondern sogar in vielen der Symbole und Begriffe, die hier erscheinen. Freilich ist das weni­ ger überraschend, als es wohl den Anschein hat. Ent­ wickeln sich doch die Vorstellungen beider, der alten Gnostiker und der modernen Frankisten, innerhalb der biblischen Bilderwelt und innerhalb eines Rah­ mens, dessen Wertordnungen beide in derselben Rich­ tung pervertieren. Die Frankisten glaubten wie ihr Vorgänger, daß Esau und Bileam dem guten Gott dien­ ten, sie verwandelten die Schlange im Garten von Eden in ein Symbol der Gnosis, der Erlösung und göttlichen Weisheit, die die Menschen aus der Herrschaft des bö­ sen Demiurgen zur Freiheit führt, indem sie sie lehrt, die Gesetze und Institutionen zu mißachten. Auch sie 185

waren überzeugt, daß das Gesetz des guten und in die­ ser Welt verborgenen Gottes, das den Vollzug »anstö­ ßiger«, d. h. antinomistischer Akte zur Pflicht machte, im direkten Gegensatz zum Gesetze Mosis steht, das in weiten Stücken einem zornigen und unberechenbaren Schöpfergott niederen Ranges zuzuschreiben sei. So verwandt die Strukturen dieser beiden Erscheinungen, der nihilistischen Gnosis und des Frankismus, sich dar­ stellen, bleibt es doppelt denkwürdig, daß der Mythos in der frankistischen Gestalt eine so extreme Form nicht auf dem Boden der Krise der antiken Religion, sondern gerade im Anbruch der neuen Zeit erhalten hat und seine besondere Wirkung dann in jüdischen Gruppen entfaltete, die am Übergang zur Aufklärung standen. Frank selber dürfte die Konsequenzen aus seinen Leh­ ren auch in der Praxis weitgehend verwirklicht haben, wie wir aus den ausführlichen Aufzeichnungen, nicht nur des genannten Manuskriptes, sondern auch der Handschrift einer »Chronik aus dem Leben des Herrn« entnehmen können, welche eine der führenden franki­ stischen Familien dem Historiker Alexander Kraushar zu benutzen erlaubte und die seitdem verschollen ist. Wie weit auch seine Anhänger ihm in der Praxis gefolgt sind, ist vor allem für die Zeit nach seinem Tode recht zweifelhaft. Entscheidend bleibt jedenfalls die Tatsa­ che, daß ein solcher Mythos überhaupt innerhalb des rabbinischen Judentums, wenn auch im Aufstand ge­ gen seine Gesetze und seine Bilderwelt entstehen konnte, und daß eine beträchtliche Zahl von in dieser Welt der Tradition verwurzelten Juden darin einen Weg zur »politischen und geistigen Befreiung« sehen konnte. Denn dies war die Formel, mit der ein gebilde­ ter Frankist in Prag am Ende des 18. Jahrhunderts sei­ nem Sohn die Ziele der Sekte umschrieb, als er ihn nach

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erlangter Volljährigkeit (nach jüdischem Gesetz mit vollendetem 13. Lebensjahr) in ihre Lehren einzuweihen begann. Die meisten Anhänger Franks gingen nämlich seinen Weg gar nicht bis zu Ende, obwohl sie die dunkle Bilderwelt des Meisters übernahmen. Nur ein Teil nahm den Weg zur Taufe, vor allem in Ostgali­ zien; die anderen blieben, auch wenn sie vom Weg zu Esau, von der Religion Edoms und der Gnosis Edoms sprachen, im Verband des Judentums und verhielten sich, soweit es ihnen angemessen schien, nach außen hin den Vorschriften des jüdischen Gesetzes gemäß, obwohl sie innerlich mit ihm zerfallen waren. Das gilt vor allem für die Anhänger Franks in Westgalizien und anderen Teilen Polens, in Mähren, Böhmen und Deutschland, wo es z. B. in Breslau, Dresden, Berlin und Hamburg Anhänger der Sekte gab. Wir sind mit ihren Vorstellungen durch einige Hand­ schriften von beträchtlichem Umfang vertraut, die in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts von zwei hoch­ gebildeten Frankisten im Prager Ghetto in einer Mi­ schung von Hochdeutsch, Jiddisch und Hebräisch ge­ schrieben wurden und sich in Jerusalem befinden. Der Antinomismus wird nur in versteckten und doch deut­ lichen Formulierungen vorausgesetzt oder gerechtfer­ tigt; die Wildheit der authentischen Worte Franks lebt nur noch in Zitaten daraus, die sie reichlich anführen. Was sie aber selber vorbringen, stellt einen Übergang der revolutionären Bilderwelt in die der Aufklärung dar. Radikale Mystik und radikale Aufklärung bis zum Jakobinismus hin bilden in den Vorstellungen dieser Gruppe ein höchst sonderbares und einzigartiges, da­ bei mit beträchtlicher Beredsamkeit vorgebrachtes Amalgam. Isaak Luria, Sabbatai Zwi und Jakob Frank stellen mit Moses Mendelssohn, Immanuel Kant und 187

den ersten radikalen Verfechtern der völligen Emanzi­ pation des weiblichen Geschlechts die Autoritäten und Quellen dar, auf die sich ihre Briefe, Vorträge und Er­ klärungen alter jüdischer Texte unterschiedslos stüt­ zen. Aus dem Nihilismus ist, in merkwürdiger Mause­ rung, eine Vorhut der jüdischen Aufklärung entstan­ den, die aber noch immer mit mystischen Akzenten spricht. Diese Verbindung von ursprünglichem Nihi­ lismus und Aufklärung, die orthodoxe Gemüter dop­ pelt erregt haben muß, war schon frühen Beobachtern der Sekte klar. 1771 schrieb Gottfried Selig in einer deutschen Zeitschrift über die im Judentum verbliebe­ nen Anhänger Franks: »Sie halten sich sonderlich in Polen auf und werden von den übrigen Juden aufs hef­ tigste verfolgt, weil sie einen großen Hang zur Freigei­ sterei haben, und weder die Bibel als ein göttliches Buch noch den Gehorsam gegen die Obrigkeit als eine Parteipflicht erkennen wollen.« So stellen die Franki­ sten die radikalste Form einer volkstümlichen jüdi­ schen Häresie dar, in der die geistige und gesellschaftli­ che Krise des Judentums in seinen alten Formen zwi­ schen 1750 und 1800 zu vehementem Ausdruck gelangt ist. Die zentrale Figur der Bewegung ist eine finstere und in vieler Beziehung abstoßende, despotische Per­ sönlichkeit, die ihre wilden Triebe auslebt und hypostasiert. Die Anhänger dieser Bewegung aber waren echte Gläubige, die in den Verheißungen einer anarchi­ stischen Utopie eine Erlösung fanden, die ihnen das rabbinische Judentum versagte.

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Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum I Das Judentum, wie es sich in den letzten zweitausend Jahren in festen historischen Gestalten konstituiert hat, ist in der Religionsgeschichte mit Recht als eine klassi­ sche Repräsentation einer traditionalistischen Reli­ gionsform bekannt. Es ist für uns hier völlig gleichgül­ tig, ob das ein Vorzug oder ein Nachteil ist. Wir wollen hier ja nicht werten, sondern verstehen. Und was im Haushalt des Judentums Tradition bedeutet hat und in hohem Maße noch fortdauernd bedeutet, verdient in der Tat in eminentem Maße unsere Aufmerksamkeit, gerade wo wir uns anschicken, die Funktion des Schöp­ ferischen und Spontanen gegenüber der des Rezeptiven im Haushalt der Menschheit zu diskutieren. Denn was den Menschen führt und was ihn etwa zum Führer sei­ nes Lebenswerkes machen kann, ist ja offenkundig von den Vorstellungen abhängig, die er sich über seine Stel­ lung in der Welt oder im Ganzen seines Lebensbezuges macht. So ist die Diskussion des Sinnes von Tradition einer der erleuchtendsten Aspekte, unter denen das Thema unserer Tagung betrachtet werden kann. Be­ hauptet doch Tradition innerhalb jeder menschlichen Gruppe einen durchaus zentralen Platz, so wie es auch das schöpferische Moment, das in jede Tradition hin­ einspielt, in der lebendigen Wechselwirkung des Ge­ benden und Empfangenden zu sehen gilt. Wollen wir doch verstehen, wie das Rezeptive und das Spontane, das neu in den Strom der Tradition Einfließende, sich in der Weitergabe des Besitzes einer jeden Generation an die nächste verbinden.

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Es ist vielleicht angebracht, am Anfang dieser Ausfüh­ rungen, sozusagen um ihr Klima zu bezeichnen, eine kleine Geschichte zu erzählen, die der Talmud nicht ganz ohne humoristisches Augenblinzeln von Moses und Rabbi Akiba erzählt. Dabei ist nötig zu wissen, daß Akiba aus einem unwissenden Viehhirten zum größten Schriftgelehrten seiner Generation wurde, der als Mär­ tyrer der Hadrianischen Verfolgung sein Leben dahin­ gab. In der Geschichte des Judentums bildet er einen der bedeutendsten Vertreter der Auffassung von Tradi­ tion, über deren geistige Grundlagen und Implikatio­ nen wir uns hier Klarheit zu verschaffen suchen. Er ist es, der mehr als jeder andere einzelne große Lehrer im Judentum dazu geholfen hat, die Kristallisation des rabbinischen Judentums zu einem religiösen System von schier unverwüstlicher Lebenskraft herbeizufüh­ ren. Hundert Jahre nach seinem Tod wird folgendes er­ zählt: »Als Moses in die Höhe stieg [um die Tora zu empfan­ gen], traf er den Heiligen, gelobt sei er, dasitzen und Kränze [oder Kronen] für die Buchstaben winden. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, wer hält Dich zu­ rück? [Das heißt: Warum begnügst Du Dich nicht mit den Buchstaben, wie sie sind, so daß Du zu ihnen noch Kronen, das heißt Häkchen, die sich auf gewissen Buchstaben der Torarollen befinden, zufügst?] Er er­ widerte ihm: Es gibt einen Mann, der nach vielen Gene­ rationen sein wird, namens Akiba ben Josef; er wird dereinst über jedes Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da ging er und setzte sich hinter die achte Reihe [der Schü­ ler Akibas]. Er verstand aber nicht, was vorgetragen wurde. Da verließ ihn seine Kraft [das heißt, er geriet in 190

Bestürzung, weil er den Vorträgen über die von ihm selbst gegebene Tora nicht zu folgen vermochte]. Als jener zu einer Sache gelangte, bei der seine Schüler ihn fragten, woher er das wisse, sagte er zu ihnen: Es ist eine Lehre, die dem Moses am Sinai überliefert wurde. Da beruhigte sich sein Sinn. Er kehrte um und trat vor den Heiligen, gelobt sei er, und sprach vor ihm: Herr der Welt, Du hast einen solchen Mann und verleihst die Tora durch mich?! Er erwiderte: Schweige, so ist es in meinem Plan. Hierauf sprach er vor ihm: Herr der Welt, Du hast mir seine Tora-Kunde gezeigt, zeige mir auch seinen Lohn. Er sprach: Wende dich um. Da wandte er sich um und sah, wie man sein Fleisch auf der Fleischbank wog [sein Fleisch wurde von den Foltern der Henker zerrissen]. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt: Das ist die Tora, und das ist ihr Lohn? Er erwi­ derte: Schweige, so ist es in meinem Plan.«1 Diese Geschichte, der es nicht an Großartigkeit fehlt, enthält in nuce viel von den Fragestellungen, die uns hier beschäftigen werden. Wenn wir das Problem der Tradition betrachten wollen, müssen wir natürlich zwischen der historischen Frage, wie es zur Bildung ei­ ner mit religiöser Dignität ausgestatteten Tradition überhaupt gekommen ist, und der anderen Frage, wie diese Tradition verstanden wurde, wenn sie als religiö­ ses Phänomen einmal ergriffen wurde, unterscheiden. Wie stets bei der Verfestigung von religiösen Systemen wurde natürlich^ als das Phänomen der Tradition ein­ mal anerkannt war, von den Gläubigen die historische Fragestellung verworfen. Für den Historiker bleibt sie fundamental. Wenn er den Sinn verstehen will, der in den Annahmen der Gläubigen steckt, ist er deswegen 1 Menachoth 29 b.

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nicht an die fiktiven Behauptungen gebunden, die de­ ren Entstehung betreffen oder, wenn man will, verne­ beln. So ist die Tradition als ein besonderer Aspekt der Offenbarung historisch ein Produkt des Prozesses, in dem sich das rabbinische Judentum zwischen dem vier­ ten oder dritten vorchristlichen Jahrhundert und dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert gebildet hat. Ur­ sprünglich betrifft in den Religionen die Annahme ei­ ner göttlichen Offenbarung natürlich eine konkrete Mitteilung eines positiven sachlichen und aussprechba­ ren Inhalts. Nie ist es den Trägern solcher Offenbarung in den Sinn gekommen, den bestimmten Charakter und fest umrissenen Inhalt der ihnen zuteil gewordenen Mitteilung zu bestreiten oder einzuschränken. Wo sol­ che Offenbarung, wie im Judentum, in einer heiligen Schrift niedergelegt und als solche anerkannt wird, da stellt sie ursprünglich eine solche konkrete Mitteilung und solchen sachlichen Inhalt dar und nichts sonst. Aber in dem Maße, in dem sich die Autorität solcher Offenbarung und ihres Niederschlags in heiligen Schriften durchsetzt, tritt freilich eine wesentliche Ver­ änderung ein. Einmal erneuern sich die historischen Umstände und verlangen Anwendung der als autorita­ tiv erkannten Mitteilung auf immer wechselnde Ver­ hältnisse. Zum andern aber erweitert das spontane Ele­ ment der menschlichen Produktivität, die sich dieser Mitteilung bemächtigt, ihre ursprünglichen Grenzen. So entsteht »Tradition« im Sinne eines Verständnisses von der Wirksamkeit des Wortes in jedem konkreten Verhältnis, in das eine so konstituierte Gesellschaft tritt. Es beginnt jener Prozeß, in dem nicht nur die Frage wichtig wird, wie die Offenbarung als konkrete Mitteilung bewahrt und von Geschlecht zu Geschlecht überliefert werden kann - an sich schon ein fast unmög192

liches Unternehmen sondern mit immer steigender Gewalt die Frage sich erhebt, ob und wie diese Offen­ barung angewandt werden kann. Damit aber ist schon das spontane Element in die sich bildende Tradition eingebrochen. Es kann sein, daß im Verlauf dieser er­ neuten Produktivität der Bereich der Schrift selber sich erweitert, daß neue schriftliche Kommunikationen ne­ ben die alten treten und so eine Art Niemandsland zwi­ schen dem, was zur ursprünglichen Offenbarung und zur hinzutretenden Tradition gehört, geschaffen wird. Das ist zum Beispiel im Judentum geschehen, als neben die ursprünglich allein Offenbarungscharakter bean­ spruchende Tora andere Schriften des biblischen Ka­ nons traten, die zuerst durchaus und nachdrücklich in den Bereich der Tradition einbezogen wurden und als Niederschlag der Tradition galten. Später freilich ver­ schob sich oft genug die Grenzziehung, und der Kanon als solcher tritt als heilige Schrift der Tradition gegen­ über, in der nun ihrerseits solche Prozesse der Diffe­ renzierung zwischen schriftlichem und mündlichem Niederschlag wiederholt werden. Ausgezeichnet hat Molitor diese Problematik der schriftlichen und mündlichen Überlieferung darge­ stellt: »Die Schrift fixiert die in immerwährendem Fluß begriffene Zeit und stellt in festen und unvergänglichen Zügen das flüchtig verhallende Wort als eine beständige Gegenwart dar; sie ist in dieser Hinsicht das vorzüg­ lichste und sicherste Mittel aller Überlieferung. Wenn zwar auch die Schrift, ihrer Treue und größeren Zuver­ lässigkeit halber (indem bei ihr Entstellung weniger möglich ist), vor der mündlichen Überlieferung aller­ dings den Vorzug verdient, so ist doch jede schriftliche Fassung nur ein abgezogenes allgemeines Bild der Wirklichkeit, das aller concreten Bestimmtheit und in­ 193

dividuellen Spezifikation, wie sie das Leben darbietet, gänzlich ermangelt und daher jeder Art von Mißdeu­ tung unterworfen ist. Das mündlich ausgesprochene Wort, so wie die Übung und das Leben, müssen sonach die beständigen Begleiter und Dolmetscher des ge­ schriebenen Wortes sein, indem dasselbe sonst im Gemüte ein toter, abstracter Begriff bleibt, dem es an aller Lebendigkeit und concretem Gehalte gebricht. In der neueren Zeit, wo die Reflexion das ganze Leben zu verschlingen droht, wo man Alles auf eine tote, ab­ strakte Begriffswissenschaft zurückgeführt und den Menschen durch die Theorie allein erziehen zu können geglaubt hat, ist freilich jenes alte, in der Natur der Sa­ che liegende Wechselverhältnis zwischen Schrift und Wort, zwischen Theorie und Praxis gänzlich verrückt worden; denn indem man alles Praktische in die Theo­ rie und alles mündlich Vererbte in die Schrift gefaßt und dem Leben nichts mehr übrig gelassen hat, ist da­ mit die wahre Theorie samt der echten Praxis im Leben verloren gegangen. Allein in der alten Welt, wo der Mensch noch in weit einfacheren, naturgemäßen Bezie­ hungen stand, wurde auch jenes naturgemäße Verhält­ nis der Schrift zum Wort, der Theorie zur Ausübung weit richtiger beobachtet.«2 Der hier ins Auge gefaßte Prozeß hat im Judentum in der Zeit des zweiten Tempels stattgefunden, wobei es für unsere Betrachtung nichts verschlägt, ob die Tora als offenbartes Gesetz in uralter Zeit oder erst später promulgiert wurde. Aber in der ungeheuren Gärung, die mit den veränderten Umständen, vor allem mit dem Einbruch der hellenischen Welt, die ursprünglich theokratische Gemeinde, die die Tora anerkannte, ergriff 2 F. J. Molitor, Philosophie der Geschichte oder Über die Tradition, Bd. I, zweite Auflage (1857), S. 4.

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und in der sich das Judentum als historisches Phäno­ men in der Auseinandersetzung mit manchen anderen, zum Teil sehr lebendigen Gruppen des jüdischen Vol­ kes bildete, tritt nun die Tradition immer nachdrückli­ cher als neuer religiöser Wert und als Kategorie des reli­ giösen Denkens auf. Sie wird das Medium, in dem sich schöpferische Kräfte niederschlagen. An die Seite der schriftlichen Tora tritt die Tradition, die etwa vom i. nachchristlichen Jahrhundert an als »mündliche Tora« bezeichnet wird. Diese Tradition ist nicht einfach die Summe dessen, was die Gemeinschaft als kulturelles Gut besitzt und den Kommenden überliefert. Sie ist eine spezifische Auswahl aus diesem Besitz, die heraus­ gehoben und mit religiöser Autorität umkleidet wird. Sie erklärt bestimmte Dinge, Sätze oder Einsichten als Tora und setzt sie damit in Verbindung mit der Offen­ barung. Damit wird der ursprüngliche Sinn der Offen­ barung als eines einmaligen, positiv gegebenen und fest umzirkelten Aussagebereichs in Frage gestellt, und es beginnt eine ebenso fruchtbare wie unabsehbare Ent­ wicklung, die für die religiöse Problematik des Begriffs der Tradition höchst aufschlußreich ist. Zuerst scheint es, als ob die beiden, die schriftliche und die mündliche Tora, nebeneinander stehen, als ob zwei verschiedene Quellen der Autorität in der Offenbarung selber gegeben sind: eine, die sich schriftlich nieder­ schlagen konnte, und eine, die nur mündlich im leben­ digen Worte fortgepflanzt werden konnte oder durfte. Aber dabei blieb es nicht, wie wir bald sehen werden. Diese mündliche Tora ist es, von der es nun am Anfang der Sprüche der Väter in der Mischna heißt: »Moses empfing die Tora vom Sinai her und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Pro­ pheten, und die Propheten überlieferten sie den Män­ 195

nern der Großen Synagoge.« Die Große Synagoge war eine Gruppe, welche während langer Zeit, unter der persischen Herrschaft, die Angelegenheiten der aus dem Exil zurückgekehrten Gemeinde geleitet haben soll. In Wirklichkeit dürfte diese in der jüdischen Ge­ schichte nebelhafte Gruppe eine historische Konstruk­ tion sein, die von viel späteren Generationen aus den letzten biblischen Berichten über die Ordnung der Dinge in Judäa in den Büchern Esra und Nehemia her­ ausgesponnen wurde. Ob der dogmatische Begriff der mündlichen Tora auf die Zeit, die für diese Gruppe an­ genommen wurde, zurückgeht, wissen wir nicht, wenn auch der Begriff eines »Zauns um die Tora«, das heißt von Vorsichtsmaßregeln, die die Einhaltung der Tora sichern sollen, auf sie zurückgeführt wird. Jedenfalls ist die Rede von der mündlichen Tora schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert geläufig. Der Inhalt und Umfang dieses so wichtigen Begriffs schwankt und hat mit fortschreitender Konsolidierung des rabbinischen Judentums eine Erweiterung durch­ gemacht. Zuerst betraf diese als Tora auftretende Tra­ dition nur Sätze oder Bestimmungen, die in der schrift­ lichen, jedermann zugänglichen Tora nicht enthalten waren, wobei es nichts ausmachte, ob Moses diese jetzt schriftlich vorliegende Tora selber mündlich erhalten und später aufgezeichnet oder, sozusagen, aus dem prä­ existentiellen himmlischen Exemplar diktiert bekam beide Auffassungen sind in der rabbinischen und apo­ kryphen Literatur belegt. So liefen im Lauf der Genera­ tionen viele Sätze um, die als »Halacha an Moses vom Sinai her« bezeichnet wurden.3 Bald aber erweiterte sich der Bereich der Anwendung des Begriffs. Alles, 3 Vgl. die Zusammenstellung dieser Sätze bei Wilhelm Bacher, Tradition und Tradenten, Leipzig 1914, S. 33-46.

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was von den Schriftgelehrten besprochen wurde, was in den Lehrhäusern überliefert wurde - Gesetzliches, Historisches, Ethisches, Homiletisches -, wurde in den fruchtbaren Bereich der Tradition eingepflanzt, die nun ein ungemein lebendiges geistiges Phänomen wurde. Ich sprach soeben von »Schriftgelehrten« - und damit kommen wir auf den springenden Punkt für das Ver­ ständnis des Verhältnisses der neuen, mündlichen zur rezipierten, schriftlichen Tora. Es beginnt die Bemü­ hung um das immer genauere Verständnis der Schrift, das sie zum Gegenstand der Forschung, des sich exege­ tisch in ihre Implikationen Einbohrens (hebräisch: Midrasch) macht. Die mündliche Tora läuft nicht mehr einfach parallel neben der schriftlichen einher, sondern es wird unternommen, sie aus der Schrift herauszulesen und zu deduzieren. Die Entfaltung der in der Offenba­ rung gegebenen oder mitgegebenen Wahrheiten, Aus­ sagen und Sachverhalte wird das Anliegen der mündli­ chen Tora, die damit einen neuen Typus des religiösen Menschen herausstellt, der in der Religionsgeschichte nicht ohne Grund ebensoviel Bewunderung wie Ab­ lehnung und Hohn hervorgerufen hat. Der Schriftge­ lehrte ist es, der die Offenbarung nicht mehr als etwas Einmaliges, fest Umrissenes, sondern als etwas unend­ lich Fruchtbares ergreift, das aufgegraben und umge­ graben werden will: »Wende sie um und um, denn alles ist in ihr.« So ist die Leistung der Schriftgelehrten in der Aufstellung einer Tradition, die doch in der Tora selber gründet und aus ihr hervorwächst, ein Musterfall der Spontaneität in der Rezeptivität. Weil sie sich als Ge­ führte wissen, sind sie Führer. Sie sind es, die aus der re­ ligiösen Tradition etwas ganz Neues schaffen, das sel­ ber religiöse Dignität beansprucht, nämlich den Kom­ 197

mentar. Daß die Offenbarung des Kommentars bedarf, um verstanden und im richtigen Verständnis ange­ wandt werden zu können, ist die keineswegs selbstver­ ständliche religiöse These, die dem Phänomen der Schriftgelehrtheit und der von ihr inaugurierten Tradi­ tion im Judentum zugrunde liegt. Daß diese innere Ge­ setzlichkeit in der Entwicklung des Begriffs der Offen­ barung sich dann auch in anderen Religionen findet, die die Autorität einer Offenbarung anerkennen, zeigt, daß der Vorgang, um den es sich hier handelt, von allgemei­ ner Bedeutung für die Phänomenologie der Religionen ist. Daß er im Judentum mit so besonderer Schärfe und Konsequenz auftrat und von dessen Trägern durch­ dacht wurde, macht die Betrachtung dieser Problema­ tik besonders klärend und weitführend. Die Bemühungen der Schriftgelehrten um die Einbe­ ziehung aller Lebensbereiche in die nun hochkom­ mende, im Midrasch gründende Tradition zerfallen nach der Auffassung der jüdischen Quellen in zwei Ge­ biete, Halacha und Aggada. Halacha bedeutet dabei wörtlich Norm oder Regel, nach der man sich richtet, das heißt eine Aussage über die Verhaltungsweise im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen der Tora oder ih­ rer Anwendungen, wie sie von der Tradition festge­ stellt wurden. Aggada ist wörtlich »Aussage«, nämlich Aussage der Schrift, die den Schriftgelehrten, die in ihr forschen, etwas sagt, was über den ersten Eindruck des Wortlauts hinausgeht.4 Im genauen Sinne sind damit Aussagen gemeint, die den nichtgesetzlichen Teil der Tora betreffen und bei denen, da sie keinen Bereich der Anwendung des Gesetzes im konkreten Leben betra­ fen, eine viel größere Freiheit der Exegese statthatte. In 4 Über diesen Sinn des Terminus vgl. W. Bacher, Die Aggada der Tanaiten, 2. Aufl., Bd. I, S. 450-475.

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der Tat ist die Anerkennung der aggadischen Elemente der rabbinischen Tradition keineswegs ohne Schwie­ rigkeiten vor sich gegangen, ein Prozeß, auf dessen Ein­ zelheiten in diesem Zusammenhang nicht eingegangen zu werden braucht. Tradition im Sinne mündlicher Tora ist nun also etwas, in dem alles behandelt wird, was das Leben des Juden im Lichte der Offenbarung betrifft, ob es sich dabei nun um normative, halachische Verhältnisse handelte oder solche, die dem Umkreis der Aggada, der freien Entwicklung der Lebensverhält­ nisse und ihrer Begründung in den Urkunden der Of­ fenbarung angehörten. Natürlich drängen sich dem Religionshistoriker die starken Parallelen zum katholischen Begriff der Tradi­ tion auf, der ja ebenfalls mündliche Tradition aus Got­ tes Mund kennt - verba divina non scripta -, in seinen helleren und dunkleren Aspekten. Auch hier herrscht die Meinung vor, daß Gegenwart und Vergangenheit vor Gott in der Tradition lebendig verbunden werden. »Wer die Tradition verwirft, der sei verflucht«, wie ein Anathematismus des VII. Konzils lautet. Wobei natür­ lich diese Tradition der Kirche eine an die christliche Offenbarung anschließende ist, wie die der Rabbiner an die sinaitische. Das Phänomen als solches bleibt struk­ turell dasselbe. Mit dem Midrasch, der zuerst frei und später nach fe­ sten Grundsätzen für die halachische, und wesentlich freier für die aggadische, Exegese die Schrift kommen­ tierte und die Meinungen der Schriftgelehrten, die sich bald in Schulen differenzierten, als die Entfaltung des in ihr implicite Gegebenen vortrug, setzt ein schöpferi­ scher Prozeß ein, der die Tradition durchdringt und verwandelt. Es sind nicht mehr nur ängstlich gehütete Sätze alter Provenienz, sondern die Forschungen der 199

Gelehrten selber in der Schrift, die den Anspruch erhe­ ben, Tradition zu sein. Der Wunsch nach historischer Kontinuität, wie sie im Wesen des Traditionellen liegt, nach Verbindung mit der Autorität des Ursprungs der Offenbarung setzt sich dabei auch in historischen Kon­ struktionen durch, über deren fiktiven Charakter kein Zweifel möglich ist und die dennoch dem gläubigen Be­ wußtsein gleichsam als Krücken einer äußeren Beglau­ bigung akzeptabel oder plausibel schienen, obwohl diese Beglaubigung in Wirklichkeit in einer ganz ande­ ren Sphäre, nämlich jener veränderten Auffassung von der Natur der Offenbarung und deren unendlicher Fruchtbarkeit, lag. Besonders merkwürdig ist in dieser historischen Konstruktion, wie sie jener oben zitierte Satz aus den Sprüchen der Väter gibt, die Metamor­ phose der Propheten zu Traditionsträgern, ein sehr charakteristischer, wenn auch für unsere heutige Auf­ fassung reichlich paradoxer Vorgang. Ursprünglich waren damit die letzten Propheten Chaggai, Sacharja und Maleachi gemeint, denen in der Anschauung von der ununterbrochenen Traditionskette eine besondere Wichtigkeit zukommt5, weil die letzten Propheten zu­ gleich, nicht so ganz ohne Grund, als die ersten Schrift­ gelehrten und »Männer der Großen Synagoge« be­ trachtet wurden. Dann aber werden auch die alten Pro­ pheten als Mittelglieder der Tradition, die sonst ganz unsichtbar verlaufen wäre, eingesetzt. Diese Extrapolation historischer Traditionsträger der mündlichen Tora über den Bereich der Schriftgelehrten selber hinaus führt zu der Ausbildung der Anschauung, wie sie dann im talmudischen Schrifttum in vielen küh­ nen Formulierungen vertreten wird: daß im Grunde 5 Vgl. Bacher, Tradition und Tradenten, S. 27-31.

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der gesamte Inhalt der mündlichen Tora, die von der Tradition der Schriftgelehrten erarbeitet wird, densel­ ben Ursprung hat wie die schriftliche und daß sie also im Grunde immer bekannt gewesen sei, wie das jener zitierte Satz besagt. Hinter der fiktiven Konstruktion, deren Details ohne Interesse für uns sind, steht aber eine religiöse Anschauung, die in der Tat ebenso inter­ essant wie folgenreich war. Es ist dies die bestimmte Anschauung vom Charakter der Offenbarung, die den Kommentar als heilige Tradition über ihren Sinn in sich schließt. Damit aber war eine Bahn betreten, die mit ei­ nem hohen Maß immanenter Logik zur Aufstellung mystischer Thesen über den Charakter der Offenba­ rung ebensosehr wie über den der Tradition führen mußte. Auf dieser Ebene tritt uns sogleich die bedeutende Spannung entgegen, die zwischen dem realen Vorgang der Traditionsbildung und der Deutung dieses Vor­ gangs im religiösen Bewußtsein der Schriftgelehrten selbst besteht. Ich meine die Spannung zwischen der blühenden Produktion der Schulen, in denen die Schrift erforscht und es mit ihr immer genauer genom­ men wird, also einer durchaus spontanen Leistung je­ ner Geschlechter, die nun ihrerseits, soweit sie weiter­ gegeben wird, die Autorität der großen Lehrer und der Tradition erhält, und jenem Anspruch, den das Dogma vom Offenbarungscharakter der mündlichen Tora zu erzwingen schien. Dieser Anspruch lief darauf hinaus, daß all dies irgendwie in der Offenbarung selber steckte - und mehr: daß es nicht nur in ihr mitgegeben sei, son­ dern in einer zeitlosen Sphäre der Offenbarung, in der sozusagen alle Geschlechter versammelt waren, dem Moses als dem ersten und umfassendsten Empfänger der Tora schon expliziert worden sein müsse. Die Lei­ 201

stung jeder Generation in ihrem Beitrag zur Tradition wird in die ewige Gegenwart der Offenbarung am Sinai zurückprojiziert. Das ist natürlich ein Vorgang, der schon nichts mehr mit der Auffassung der Offenbarung zu tun hat, von der wir hier ausgegangen sind, nämlich der als einer eindeutigen und in sich klaren und ver­ ständlichen Mitteilung. Nach dieser neuen Auffassung der Offenbarung schließt sie nun schon alles in sich, was je legitim über ihren Sinn vorgebracht werden kann. Die offenbare Absurdität des Anspruchs verrät eine desto ernster zu nehmende Voraussetzung religiö­ ser Natur, die daher auch vor extravaganten Formulie­ rungen nicht zurückschreckte. In den vierzig Tagen, die Moses nach Exodus 34:28 auf dem Sinai verbrachte, lernte er die Tora in allen ihren Implikationen: Rabbi Josua ben Levi [ein palästinensischer Lehrer des dritten Jahrhunderts] hat gesagt: »Schrift, Mischna, Talmud und Aggada, ja sogar was ein scharfsinniger Schüler dereinst vor seinem Lehrer vortragen wird, ist bereits dem Moses auf dem Sinai gesagt worden« - sogar die Fragen, die solch scharfsinniger Schüler seinen Lehrer fragen wird.6 Solche Sätze bedeuten in unserem Zusam­ menhang viel. Sie verabsolutieren den Begriff der Tra­ dition, in der sich zwar in der historischen Zeit der Sinn der Offenbarung auseinanderlegt, aber nur, weil in ei­ nem zeitlosen Substrat schon alles, was erkannt werden kann, vorweggenommen ist. Damit kommen wir auf eine Annahme über die Natur der Wahrheit, die für das rabbinische Judentum, wie vielleicht für jede traditio­ nelle Religionsverfassung, charakteristisch ist: die Wahrheit ist ein für allemal gegeben und festgelegt. Im Grunde braucht sie nur überliefert zu werden. Die Ori­ 6 Midrasch Tanchuma, ed. Buber, II, Bl. 6oa, 58b.

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ginalität des Forschenden hat ein doppeltes Gesicht. Er entwickelt und erklärt in seiner Spontaneität das, was vom Sinai her überliefert ist; sei es, daß es stets bekannt war, sei es, daß es in Vergessenheit geraten und wieder aufgestellt werden muß. Die Anstrengung des Wahr­ heit Suchenden besteht nicht darin, sich etwas auszu­ denken, sondern vielmehr darin, sich in die Kontinuität der Tradition des göttlichen Wortes einzuschalten und das, was ihm von dorther zukommt, in seiner Bezie­ hung auf sein Zeitalter zu entfalten. Einer der klassi­ schen Autoren der chassidischen Literatur, Efraim aus Sedylkov, sagt: »Bis die Weisen [die Schriftgelehrten] sie erforschen, heißt die Tora nicht vollständig, son­ dern bildet nur eine Hälfte, aber durch ihre Forschun­ gen wird die Tora zu einem vollständigen Buch. Denn die Tora wird in jeder Generation nach den Bedürfnis­ sen eben dieser Generation erforscht [gedeutet], und Gott erleuchtet die Augen der Weisen der betreffenden Generation, [so daß sie] in seiner Tora [das ihr] Ent­ sprechende wahrnehmen.«7 Mit anderen Worten: nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahr­ heit entwickelt werden kann. Für die Art der Produkti­ vität, die wir in der jüdischen Literatur antreffen, ist dies in der Tat ein überaus wichtigerSatz. Die Wahrheit muß an einem Text entfaltet werden, in dem sie vorge­ geben ist. In welcher Art dies Vorgegebensein zu den­ ken ist, darüber werden wir noch zu handeln haben. Jedenfalls ist sie dort herauszuholen. So wurde der Kommentar die charakteristische Ausdrucksform des jüdischen Denkens über die Wahrheit, dessen, was man rabbinischen Genius nennen könnte. Die systemati7 Degel Machneh Efrajim, 1808, Bl. ja.

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sehen Mitteilungen und Versuche sind auch im Juden­ tum unter dem Einfluß des griechischen Denkens ent­ standen. Sein eigenstes Leben ist aber da gegeben, wo heilige Texte kommentiert wurden, so weit immer für den kritischen Leser von heute diese Kommentare und ihre Ideen vom Texte selber abliegen mögen. Dabei kontrastiert die Demut vor dem Text, die in der An­ nahme ihren Grund hat, daß alles schon dort steckt, freilich aufs seltsamste mit der Anmaßung, die Wahr­ heit den alten Texten aufzwingen zu wollen. Der Kom­ mentator, der also im genauesten Sinne der Schrift-Ge­ lehrte ist, hat immer etwas von beiden Haltungen. Zum Verständnis des Kommentars: Ein Blick auf eine Seite des babylonischen Talmud vermittelt, wie Rosen­ zweig einmal gesagt hat, den wahren Charakter ihres Lehrgesprächs über die Jahrhunderte hinweg: eine Zeile Text in der Mitte der großen Folioseite, die rechts und links von Kommentaren aus allen Zeiten überrandet ist. Die Tradition als lebendige Macht bringt in ihrer Ent­ faltung aber auch ein weiteres Problem zutage. Was ur­ sprünglich als widerspruchslos, einheitlich und in sich geschlossen gedacht war, wird bunt, mannigfaltig und widerspruchsreich. Es ist gerade der Reichtum an Wi­ derspruch der lautwerdenden Meinungen, der von der Tradition umfaßt und in unbefangenster Weise bejaht wird. Der Möglichkeiten, die Tora zu interpretieren, waren viele, und der Anspruch der Tradition war es gerade, alle auszuschöpfen.8 Sie bewahrt die wider8 Von R. Meir heißt es im Traktat Erubin 13 b: »Er erklärte das Unreine als rein und begründete es, und ebenso das Reine als unrein und begründete es« (näm­ lich um die Schriftgelehrten zu zwingen, die Probleme vor der Entscheidung auf das genaueste zu durchdenken). Von seinem Schüler Symmachos heißt es dort, daß er über jeden unreinen Gegenstand 48 Gründe der Unreinheit und über jeden reinen Gegenstand 48 Gründe der Reinheit sagte. An derselben

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sprüchlichen Meinungen mit einem Ernst und einer Unerschrockenheit, die erstaunlich ist, gleichsam als ob man nie wissen könne, wo eine einmal verworfene Mei­ nung doch noch zum Grundstein eines ganz neuen Ge­ bäudes werden könne. In der jüdischen Tradition spie­ len die Meinungen der Schulen Hillels und Schammais, zweier kurz vor Jesus lebender Lehrer, eine große Rolle. Ihre gegensätzlichen Auffassungen in theoreti­ schen und praktischen Problemen werden vom Tal­ mud mit großer Genauigkeit kodifiziert, obwohl die Regel gilt, daß in der Anwendung des Gesetzes nach der Auffassung der Schule Hillels zu entscheiden sei. Aber die Sorgfalt, mit der die verworfene Meinung re­ gistriert wird, steht in nichts vor der zurück, mit der die siegreiche dargestellt wird. Die Talmudisten haben keine abschließende These über die Einheit dieser Wi­ dersprüche, über das dialektische Verhältnis innerhalb der Tradition aufgestellt. Erst einer der spätesten Kab­ balisten hat dann die seitdem oft wiederholte, kühne und auf den ersten Blick überraschende These aufge­ stellt, daß in der messianischen Zeit die Halacha nach der jetzt verworfenen Ansicht der Schule Schammais entschieden werden würde, daß die in einem bestimm­ ten Stand der Welt unakzeptable Auffassung vom Sinn und der Anwendung der Tora in Wirklichkeit einen messianischen Stand antizipiert, in dem sie ihren legiti­ men Ort hat, und damit gerade die Einheit der Lehre, die all dies umfaßt, besiegelt wird.’ So betrifft die Tradition denn die Realisierung, den Stelle verzeichnet der Talmud höchst nüchtern sogar die für ein frommes Ge­ müt besonders beunruhigende Überlieferung, daß in Jabne ein scharfsinniger Schüler war, der 150 Gründe aufzuführen vermochte, warum das Kriechtier rein sei - das doch in der Tora ausdrücklich und unzweideutig verboten ist! 9 Diese These scheint zuerst von Moses Graf in Prag aufgestellt worden zu sein; vgl. dessen Wa-jakhel Mosche, Dessau 1699, Bl. 45b und 54a.

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Vollzug des göttlichen Auftrags, der in der Offenba­ rung gesetzt ist, sie verlangt Anwendung, Ausführung und Entscheidung; zugleich ist sie in der Tat »ein wirk­ liches Wachsen und Entfalten von innen heraus«. Sie bildet einen lebendigen Organismus, dessen religiöse Autorität mit so großem Nachdruck behauptet wurde, wie er innerhalb dieser Denkweise nur möglich war. Nichts bekundet diese Autorität, die Autorität des Kommentars über den Autor, triumphaler als jene Ge­ schichte vom Ofen des Achnai, die der Talmud erzählt. R. Elieser ben Hyrkanos und die Schriftgelehrten strit­ ten nämlich darüber, ob dieser Ofen, der eine beson­ dere Bauart hatte, der Unreinheit im Sinne der Tora fä­ hig sei oder nicht. Schließlich erklärten sie ihn, entge­ gen der Meinung des R. Elieser, mit Mehrheit als der Verunreinigung fähig. Dazu sagt nun der talmudische Bericht, der eine der berühmtesten Stellen der jüdi­ schen Literatur bildet: »An jenem Tage machte R. Elie­ ser alle Einwendungen der Welt; man nahm sie aber von ihm nicht an. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha [die richtige Entscheidung] ist wie ich [das heißt meiner Meinung entspricht], so mag das dieser Johannisbrot ­ baum beweisen. Da rückte der Johannisbrotbaum hun­ dert Ellen von seinem Orte fort; manche sagen: vier­ hundert Ellen. Sie erwiderten: Man bringt keinen Be­ weis von einem Johannisbrotbaum. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha wie ich ist, so mag dies dieser Was­ serarm beweisen. Da trat der Wasserarm zurück. Sie er­ widerten: Man bringt keinen Beweis von einem Was­ serarm. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist wie ich, so mögen dies die Wände des Lehrhauses beweisen. Da neigten sich die Wände des Lehrhauses und drohten einzustürzen. Da schrie sie Rabbi Josua an und sprach zu ihnen: Wenn die Gelehrten einander in der Halacha 206

bekämpfen, was geht dies euch an! Sie stürzten hierauf nicht ein, der Ehre des Rabbi Josua wegen, und richte­ ten sich auch nicht gerade auf, der Ehre des Rabbi Elie­ ser wegen; sie stehen noch jetzt geneigt. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist wie ich, so mögen sie es aus dem Himmel beweisen. Da erscholl eine Stimme vom Himmel und sprach: Was habt ihr gegen Rabbi Elieser? Die Halacha ist stets wie er. Da stand Rabbi Josua auf und sprach [Deuteronomium 30:12]: Sie ist nicht im Himmel. Was heißt: Sie ist nicht im Himmel? R. Jirmeja erwiderte: Die Tora ist bereits vom Berge Sinai her verliehen worden [und befindet sich also nicht mehr im Himmel]. Wir achten auf keine himmlische Stimme, denn bereits am Berge Sinai hast Du in die Tora geschrieben [Exodus 23:2]: Nach der Mehrheit ist zu entscheiden. R. Nathan traf den Propheten Elias und fragte ihn, was der Heilige, gelobt sei er, in dieser Stunde getan habe. Er erwiderte: Er schmunzelte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kin­ der haben mich besiegt.«10 Freilich bleibt die Frage: Behält bei solcher Auffassung der Tradition sie ihre Frische, oder erstarrt sie in Alexandrinismus und verliert ihre organische Wachstums­ kraft, wenn sie überfordert wird? An welchem Punkte lauert hier der Verfall, in dem sie abstirbt? So dringlich diese Frage ist, so schwer ist es, eine Antwort darauf zu geben. Solange die Beziehung des religiösen Bewußt­ seins zur Offenbarung lebendig ist, besteht von innen her für die Tradition keine Gefahr. Erst mit ihrem Erlö­ schen erlischt auch die Tradition als lebendige Macht. Für den Betrachter von außen sieht es freilich ganz an­ ders aus. Jeder, der solche Tradition in irgendeiner reli10 Baba Mezi'a, Bl. 59b.

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giösen Gesellschaft studiert, weiß um diese Antino­ mie. Für die spätere Christenheit waren zum Beispiel die Schriftgelehrten, die noch den Kirchenvätern als Hüter kostbarer Tradition erschienen, etwas Unbe­ greifliches und eher Gespenstisches, und das zu einer Zeit, wo das Leben der Tradition von innen mächtig rauschte. Allmacht und Ohnmacht der Tradition wohnen eng beieinander, und alles liegt im Auge des Beschauers.

II Im Judentum wird die Tradition das reflektive Mo­ ment, das sich zwischen das Absolutum des göttlichen Wortes, welches die Offenbarung ist, und dessen Emp­ fänger stellt. Sie setzt damit ein Fragezeichen hinter die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit in der Beziehung zum Göttlichen, als welche sie ja eben in der Offenba­ rung ergriffen wird. Anders gesagt: Kann das göttliche Wort uns unvermittelt treffen, und kann es unvermit­ telt vollzogen werden? Erfordert es im Sinn der hier dargelegten Annahmen, wie sie die jüdische Tradition gemacht hat, nicht eben seine Vermittlung im Medium dieser Tradition, um überhaupt erfahrbar und damit auch vollziehbar zu werden? Für das rabbinische Ju­ dentum lautet die Antwort auf diese Frage: Ja. Jede reli­ giöse Erfahrung nach der Offenbarung ist eine vermit­ telte. Sie ist die Erfahrung der Stimme Gottes, aber nicht die Erfahrung Gottes. Die Rede von der Stimme Gottes aber ist Anthropomorphismus - ein Faktum, um das die Theologen sich nur allzu gerne herumge­ drückt haben. Damit aber sind wir bei den Fragestel­ lungen angelangt, die im Judentum nur in der mysti-

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sehen Doktrin der Kabbalisten durchdacht worden sind. Die Kabbalisten, die ja nichts weniger als Häretiker wa­ ren, sondern nur um eine Schicht tiefer in den Sinn der jüdischen Begriffe einzudringen suchten als ihre Vor­ gänger, haben den Schritt von der Tradition derTalmudisten zur mystischen Tradition gemacht. Um aber die­ sen mystischen Begriff von Tradition zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns den Be­ griff der Kabbalisten von der Tora als Offenbarung und als Wort Gottes zu vergegenwärtigen suchen. Die Be­ mühungen der Kabbalisten, das Innere der Tora zu er­ schließen, die Schrift sozusagen zu dechiffrieren, wo­ mit sie zugleich auch zu einem neuen Begriff von Tradi­ tion gelangt sind - bedeutet ja das hebräische Wort Kabbala eben »Empfangen der Tradition« -, gehen ge­ wiß weit über das hinaus, was im exoterischen Juden­ tum über diese Fragen gedacht worden ist, und doch bleibt ihr Denken spezifisch jüdisch, nur daß sie gewis­ sermaßen die letzten Konsequenzen aus den Annah­ men der Talmudisten über Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien gezogen haben. Die erste Fragestellung, die sich für die Kabbalisten in diesem Zusammenhang erhob, betraf die Frage nach der Natur der Tora, die als »schriftliche Tora« gilt. Was eigentlich kann Gott offenbaren, und worin besteht das sogenannte Wort Gottes, das den Empfängern der Of­ fenbarung zukommt? Ihre Antwort lautet: nichts an­ deres als sich selbst, wo er Sprache und Stimme wird. Dieser Punkt aber, an dem die göttliche Kraft sich in ei­ nem Ausdruck, sei er auch noch so innerlich und ver­ borgen, niederschlägt, ist der Name Gottes. Er ist das, was in Schrift und Offenbarung, unter welchen Hiero­ glyphen immer, zum Ausdruck gelangt, zur Sprache 209

kommt. Er ist in jeder sogenannten Mitteilung, welche die Offenbarung dem Geschöpfe macht, in verschlüs­ selter Form enthalten. »Denn die Heilige Schrift, als das große Mysterium der Offenbarung Gottes, welches alles in allem enthält, ist eine Hieroglyphe von unendli­ chen Hieroglyphen, eine ewige Quelle von Geheimnis­ sen, die nie zu erschöpfen, die unaufhörlich neu und herrlich hervorquillt.«11 Jene geheimen Signaturen [Ri­ sch umim], die Gott in die Dinge gelegt hat, sind freilich im selben Maße Verhüllungen seiner Offenbarung wie Offenbarung seiner Verhüllung. Und die Schrift dieser Signaturen ist von dem, was wir als Tora, als offenbarte Schrift, ansehen, nur durch die unbedingte und unab­ gelenkte Konzentration unterschieden, mit der diese Signaturen in der letzteren versammelt sind. Die Spra­ che, die in den Dingen als ihr schöpferisches Prinzip lebt, ist dieselbe, nur daß sie, hier auf ihre eigentliche Essenz konzentriert, nicht (oder doch nur hauchdünn) von dem kreatürlichen Sein, in dem sie sich darstellt, verdeckt wird. So ist also die Offenbarung eine solche des Namens oder der Namen Gottes, die etwa die ver­ schiedenen Modi seines tätigen Seins sind. Die Sprache Gottes nämlich hat keine Grammatik. Sie besteht nur aus Namen. Die ältesten Kabbalisten, so etwaNachmanides, geben an, daß sie diese Auffassung über die Kon­ stitution der Tora als Tradition empfangen hätten, wo­ bei es offenkundig ist, daß es sich dabei ursprünglich um eine Tradition magischen Charakters handelte, die nun in eine mystische transponiert wurde. Die schöpferische Kraft, die im Namen Gottes, der das eigentliche Wort ist, das Gott von sich aussendet, sol­ cherart versammelt ward, ist weit größer als jeder menschliche Ausdruck, jedes geschöpfliche Wort fas11 Molitor, a.a.O., S. 47.

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sen könnte. Sie geht niemals in das endliche mensch­ liche Wort ganz ein. Sie stellt ein Absolutum dar, das, in sich selber ruhend - man darf genausogut sagen: in sich selbt bewegt seine Strahlen durch alles sendet, was in allen Welten nach Ausdruck und Gestalt strebt, und ge­ wiß durch alle Sprachen. Die Tora ist also eine Textur (hebräisch ‘arigd) aus den Namen Gottes und, wie es dann schon bei den frühesten spanischen Kabbalisten heißt, aus dem einen großen, absoluten Namen Gottes, der die letzte Signatur aller Dinge ist. Sie stellt eine ge­ heimnisvolle Einheit dar, die keineswegs in erster Linie bezweckt, einen spezifischen Sinn zu übermitteln, et­ was zu »bedeuten«, vielmehr die Kraft der Gottheit sel­ ber zum Ausdruck zu bringen, die in diesem »Namen« konzentriert ist. Mit einem rationalen Verständnis der möglichen sozialen Funktion eines Namens, der ja als solcher überhaupt nicht aussprechbar ist, hat diese Auffassung noch nichts zu tun. Die Tora ist aus diesem Namen aufgebaut, wie ein Baum aus seiner Wurzel her­ vorwächst oder, um ein anderes beliebtes Bild der Kab­ balisten zu benutzen, wie ein Gebäude in kunstvollen Verflechtungen der Bausteine, die letzten Endes doch auf ein einziges Grundmaterial zurückgehen, errichtet wird. Das ist die These, die in den klassischen Schriften der Kabbala in allen möglichen Formen wiederholt wird: »Die ganze Tora ist nichts als der große Name Gottes.« In ihr ist, wie etwa Josef Gikatilla genauer aus­ geführt hat, das lebendige Gewebe, das aus dem Tetragrammaton aufgebaut ist, als eine unendlich subtile Verflechtung der Permutationen und Kombinationen seiner Konsonanten aufgefaßt, die ihrerseits wieder weiteren solchen Prozessen der Kombination unter­ worfen wurden und so ad infinitum, bis sie schließlich für uns in der Form der hebräischen Sätze der Tora er211

scheinen. Das besagt aber: die Worte, die wir in der schriftlichen Tora lesen, die das vernehmbare »Wort Gottes« ausmachen und eine verständliche Mitteilung enthalten, sind in Wirklichkeit schon Vermittlungen, in denen sich das für uns Unbegreifliche, das absolute Wort, darstellt. Dieses Wort teilt sich ursprünglich in seiner unendlichen Fülle mit, aber diese Mitteilung und das ist der springende Punkt - ist unverständlich! Sie ist keine Kommunikation, die der Verständigung dient. Erst als Vermitteltes ist solche Mitteilung, die ei­ gentlich nur Ausdruck des Wesens war, auch Kommu­ nikation. Diese streng mystische Auffassung von der Natur der Offenbarung ist für jede Auseinandersetzung über die Tradition grundlegend. Aus ihr fließen gewichtige Fol­ gerungen. Eine davon ist so radikal, daß sie nur unter symbolischen Verhüllungen vorgetragen wurde. Sie lief auf die Behauptung hinaus, daß es schriftliche Tora im Sinne einer unmittelbaren Offenbarung des göttli­ chen Wortes als solchem gar nicht gibt. Diese nämlich wäre in der Sophia Gottes beschlossen, wo sie eine UrTora bildet, in der dies »Wort« noch völlig unentfaltet in einer Seinsweise ruht, bei der keine Differenzierung der einzelnen Elemente in Laute oder Buchstaben statt­ findet. Die Sphäre, auf der diese Ur-Tora, Tora kelula, sich aber zur sogenannten schriftlichen Tora auseinan­ derlegt, in der es Signaturen (die Formen der Konso­ nanten) oder Töne und Aussprache gibt, ist selber schon Deutung. Es wurde sogar ein altes Wort des Midrasch, wonach die präexistente Tora vor Gott mit schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben gewe­ sen sei, esoterisch dahin gedeutet, das weiße Feuer sei die schriftliche Tora, in der die Form der Buchstaben noch gar nicht hervortritt, vielmehr solche Form erst 212

durch die Kraft des schwarzen Feuers erhielte, welches die mündliche Tora ist. Das schwarze Feuer sei wie die Tinte auf dem Pergament der Tora-Rolle. Damit wäre also impliziert, daß, was wir auf Erden schriftliche Tora nennen, selber schon durch das Medium der mündli­ chen Tora gegangen ist und darin eine sinnliche Form angenommen hat. Nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift, die selbst schon eine Spezifi­ kation ist, sondern die mystische Weiße der Buchsta­ ben auf dem Pergament der Rolle, auf dem wir über­ haupt nichts sehen, ist die eigentliche schriftliche Tora!12 Schriftliche Tora wäre demnach ein rein mysti­ scher Begriff, der nur für Propheten faßbar wäre, die in diese Schicht eindringen können. Alles aber, was wir von der Offenbarung haben, sei mündliche Tradition, die sich entfaltet. Wenn dieser Gedanke aber nur selten angedeutet wurde, so ist eine andere Folgerung aus dem Prinzip der Tora als des Namens Gottes allgemein anerkannt und für unsere Diskussion in der Tat zentral. Ich meine die These von der unendlichen Sinnesfülle des göttli­ chen Wortes, wie immer wir dieses auch definieren mö­ gen. Auch das schon in Signaturen eingegangene, strenggenommen also schon vermittelte Wort hat noch den Charakter des Absoluten. Wenn es aber ein Wort Gottes gibt, so muß es ja vom menschlichen Worte gänzlich verschieden sein. Es ist umgreifend, allumfas­ send und kann nicht wie das letztere auf einen spezifi­ schen Sinnzusammenhang allein bezogen werden. Mit 12 Vgl. in meinem Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 70-72, aus einem Isaak dem Blinden zugeschriebenen und vielleicht in der Tat authentischen Kommentar zum Midrasch Konen. Ich habe dort, S. 49-116, eingehend über die Auffassungen der Kabbalisten über den mystischen Sinn der Tora und beson­ ders über deren Auffassung als Namen Gottes gehandelt und verweise auf die dort gegebenen Quellennachweise.

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anderen Worten: es ist unendlich deutbar, ja es ist das Deutbare schlechthin. Damit sind wir natürlich von den ursprünglichen historischen Annahmen über die Offenbarung als spezifische und positive Mitteilung, von denen wir bei unseren Betrachtungen ausgingen, sehr weit entfernt. Eine ganz andere Perspektive eröff­ net sich hier, für die jene Annahmen nur ein exoterisches Gewand ihrer tiefer dringenden Einsicht bilde­ ten. Hier ist die Offenbarung, die keinen spezifischen Sinn hat, das unendlich reichen Sinn Verleihende im Wort. Selber bedeutungslos, ist sie das Deutbare schlechthin. Für die mystische Theologie ist dies ein entscheidendes Kriterium der Offenbarung. In jedem Worte leuchten nun unendlich viele Lichter. Das Ur­ licht der Tora, das in den heiligen Buchstaben scheint, bricht sich in den unendlichen Facetten des »Sinns«. Die Kabbalisten benutzen in diesem Zusammenhang stets die Rede von den »siebzig Gesichtern der Tora«, wobei die Zahl Siebzig natürlich für die unerschöpfliche Tota­ lität und Sinnfülle des göttlichen Wortes steht. Damit aber sind wir bei dem Problem der Tradition, wie es sich für die Kabbalisten stellte, angelangt. Ge­ rade wenn jene Bestimmungen der Offenbarung als des Absoluten, Bedeutunggebenden, aber selbst Bedeu­ tungslosen zutreffen, so gilt eben von ihr, daß sie erst in der kontinuierlichen Beziehung auf die Zeit, in der Tra­ dition sich auseinanderlegt, ihren unendlichen Sinn, der im Einmaligen der Offenbarung nicht ergriffen werden kann, entfaltet. Theologen haben vom Worte Gottes als dem »absolut Konkreten« gesprochen. Das absolut Konkrete ist aber - und in der Dialektik dieses Sachverhaltes gründet die kabbalistische Idee von der Tradition - das Unvollziehbare schlechthin, und ge­ rade seine Absolutheit bedingt seine unendliche Spie214

gelung in den Möglichkeiten des Vollzugs. Erst in den Spiegelungen, in denen es sich reflektiert, wird es an­ wendbar und damit der menschlichen Tat als Konkre­ tes auch ergreifbar. Eine unmittelbare, undialektische Anwendung des göttlichen Wortes gibt es nicht. Wenn es sie gäbe, so wäre sie zerstörend. Das sogenannte Konkrete, von dem heutzutage so viel geschwärmt wird und um dessen Glorifizierung eine ganze philoso­ phische Schule sich plagt, ist also, von diesem Stand­ punkt aus, ein durch vielfache Brechungen Gegange­ nes, ein Vermitteltes und Reflektiertes. Die Tradition vom Worte Gottes, die für die Kabbalisten die Basis je­ der möglichen Tat ist, die diesen Namen verdient, macht es in der Zeit anwendbar. Sie wandelt sich selber mit der Zeit, in der immer neue Facetten des Sinnes auf­ leuchten und ihren Weg erleuchten, und sie ist, ihrem mystischen Sinne nach, eben deshalb mündliche Tora, weil jede Verfestigung im Schriftlichen gerade das un­ endlich Bewegte, dauernd Fortschreitende und sich Entfaltende in ihr behindern und zerstören würde, weil sie es versteinern ließe. Daß die mündliche Lehre dann doch, um sie vor Vergessen zu schützen, aufgeschrie­ ben und sogar kodifiziert wurde, war also nicht nur eine rettende, sondern in einem tieferen Sinne zugleich eine unheilvolle Aktion. So geboten sie durch die histo­ rischen Umstände des Exils war, so problematisch war sie für das lebendige Wachstum und den Fortbestand der Tradition in ihrem ursprünglichen Sinn. So ist es kein Wunder, daß es ursprünglich, dem talmudischen Bericht nach13, verboten war, sie aufzuschreiben, und kein Wunder, daß von großen Kabbalisten, zum Bei­ spiel von Nathan Adler in Frankfurt, berichtet wird, 13 Gittin, 60b.

daß er nichts geschrieben habe, weil, da die Überliefe­ rung in ihm und seinen Schülern vor dem Vergessen ge­ schützt sei, das Verbot, sie niederzuschreiben, auf ihn Anwendung fände. Hier liegt nun auch die Auffassung der Tradition als ei­ nes Vorgangs, der die Produktivität in der Rezeption hervorruft, klar zutage. Die talmudischen Schriften kennen zwei Typen von Tradenten. Der eine wird von Männern gebildet, die in den Lehrhäusern zur Verfü­ gung standen und die den Text aller alten Traditionen der Schulen auswendig zu reproduzieren imstande wa­ ren, reine Rezeptakel, in denen sie aufbewahrt wird, ohne daß sie irgend etwas von ihrer eigenen Forschung hinzufügen. Diese Männer, durch die die Tradition hindurchgeht, ohne bereichert zu werden, sind aber nur ein Notbehelf, sozusagen ein mündliches Buch. Der wirkliche Schriftgelehrte ist der, der mit der Tradi­ tion forschend verbunden ist. Für das Bewußtsein der Geschlechter sind nur die Männer des zweiten Typus wahre Träger der Tradition, die eben lebendiges Schaf­ fen im Vernehmen der Offenbarung ist. Gerade da sie das Lebendige des Wortes vernimmt, empfängt und entfaltet, ist die Tradition die Macht, in der Widersprü­ che und Spannungen keine destruktive, sondern viel­ mehr anregende und aufbauende Bedeutung haben. Es ist für den, der in der Tradition steht, also leicht, die or­ ganische Einheit dieser Widersprüche zu erfassen, ge­ rade weil sie ein dialektisches Verhältnis darstellt, in dem das Wort der Offenbarung entwickelt wird. Sie wäre das nicht und könnte das nicht leisten, wäre sie widerspruchsfrei. Der Schriftgelehrte und Kommentator erfüllt also eine Aufgabe, die ihm gestellt ist: an seinem Punkte, da wo er steht, die Tora zu konkretisieren, sie hic et nunc an216

wendbar zu machen und darüber hinaus diese seine spezifische Form der Konkretisation überlieferbar zu gestalten. Die spätere Kabbala stellte den Satz auf, der weiteste Verbreitung gewann, daß jedem einzelnen Ju­ den die Tora ein besonderes, nur ihm allein bestimmtes und erfaßbares Gesicht zuwendet, daß er also seine Be­ stimmung nur dann eigentlich realisiert, wenn er dies nur ihm zugewandte Gesicht wahrnimmt und in die Überlieferung hineinnimmt. Die »Kette der Überliefe­ rung« reißt nicht ab, denn sie ist die Übersetzung ins Menschliche und Ergreifbare des unausschöpfbaren Wortes Gottes und die Übertragung der Stimme, die in unendlichem Klangreichtum vom Sinai her erklingt. Der Musiker, der in einer Symphonie mitspielt, hat sie nicht komponiert, und doch ist er in einem eminenten Maße an ihrer Produktion beteiligt. Dies gilt freilich nur im Sinne derer, die eine metaphysische Gleichzei­ tigkeit aller Tradition annehmen. Für die, denen die Tradition die Schöpfung der Historie selber ist, in de­ ren Zeit sich, wie wir sagten, die Offenbarung reflek­ tiert, stellt die Tradition also legitimerweise die höchste Schöpfung des Judentums dar, das sich im genauen Verstände erst in ihr konstituiert. Für die Kabbalisten war diese Stimme das beständige Medium, das für den Bestand der Tradition grundle­ gend blieb. Der Einmaligkeit der Offenbarung - und gerade in dem hier analysierten Sinn - steht die Kontiniität der Stimme gegenüber, auf die jeder Träger der 1 radition zurückgreift, wie die Texte, die ich nun zur näheren Erläuterung des hier Gesagten vorlegen will, immer wieder betonen. In ihnen handelt es sich darum, d ;n exoterischen Begriff von der Tradition, wie ihn die Talmudisten entwickelt haben, mit dem mystischen Begriff, wie er durch die Annahme der Kabbalisten 217

über das Wesen der Offenbarung bedingt war, zu verei­ nigen. Diese Stücke, die ich aus zwei der bedeutendsten Werke der späteren kabbalistischen Literatur ent­ nehme, scheinen mir für unsere Betrachtung von er­ heblicher Bedeutung. Die ausführlichste Diskussion über das Wesen der Tra­ dition in dieser Literatur befindet sich in dem 1531 ver­ faßten Werke ‘Abhodath ha-Kodesch des Me'ir ben Gabbai, der in der Türkei schrieb.14 Ihm war es darum zu tun, nachzuweisen, daß es sich bei der Tradition nicht um eine profane Leistung des menschlichen Denkens und Ermessens handelt, sondern daß sie eben »mündliche Lehre« und Rückgriff auf die Stimme in dem Sinne darstellt, der oben entwickelt wurde. Zu­ gleich suchte er die Frage zu beantworten, wie es mög­ lich, ja notwendig sei, daß in der Tradition so verschie­ dene Auffassungen über den Vollzug der Tora vorge­ tragen werden, wo doch die in sich vollkommene Tora die Offenbarung des göttlichen Willens sei. Aus seinen sehr eingehenden Ausführungen zitiere ich hier: »Die höchste Weisheit [die Sophia Gottes, die die zweite Sefira ist] enthält als Grund aller Emanation, die aus dem verborgenen Eden hervorquillt, die wahre Quelle, aus der die schriftliche und die mündliche Tora emanieren und [in die Form der himmlischen Buchstaben und Si­ gnaturen] eingeprägt werden. Dieser Quell wird nie­ mals unterbrochen, vielmehr sprudelt er in ständiger Produktion. Würde er auch nur einen Augenblick un­ terbrochen, so würden alle Kreaturen in ihr Nichtsein zurücksinken, denn dies Sprudeln ist die Ursache da­ für, daß Gottes großer Name in seiner Glorie [wie sie von dieser seiner Emanation dargestellt wird] in seiner 14 Abhodath ha-Kodesch, Lemberg 18 5 7, Teil I, Kap. 21 und 22, sowie Teil HI, Kap. 20-24.

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Einheit erscheint. Auf diesem Quell beruht der Bestand aller Kreaturen, und von ihm heißt es [Psalm 36:10]: Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens. Und dies ist ein Leben, das kein Maß und Ende hat und bei dem kein Tod und Vergehen stattfindet. Da nun die Natur des Ursprungs sich auch in dem erhält, was aus ihm ausge­ formt wird, folgt notwendigerweise für die Tora, die von dort ausgeht, daß in ihr niemals eine Unterbre­ chung stattfindet, sondern ihr Quell vielmehr immer sprudelt, um so auf den Ursprung hinzuzeigen, aus dem sie ausgeformt [wörtlich: ausgehauen] ist. Und dies lernen wir aus der Bezeichnung Gottes im Gebet als dessen, der >die Tora gibt< [im Präsens]. Denn jene große Stimme, mit der er sie gegeben hat, ist nicht abge­ brochen. Nachdem er uns nämlich seine heiligen Worte gegeben hat und vernehmen ließ, die der Inbegriff der ganzen Tora sind, hat er nicht aufgehört, uns deren De­ tails durch seinen Propheten, den Vertrauten seines Hauses [das heißt Moses], vernehmen zu lassen. Darauf zielte Onkelos, als er den hebräischen Text von Deute­ ronomium 5:19 über die Stimme Gottes bei der Offen­ barung [die dem Wortsinn nach eher umgekehrt ver­ standen werden konnte] mit >eine große Stimme, die nicht abbrachZaun der Ein­ heit, und darauf bezieht sich der Psalmenvers >Dies ist das Tor zu GottGib uns unseren Anteil an Dei­ ner Toradie Tora gegeben hat< [in der Vergangenheit], 15 Chagiga, 15 b.

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zugleich aber auch [in jeder Gegenwart] als der be­ zeichnet werden kann, der >die Tora gibtRabbi Abba sagte im Namen des Rabbi Samuel: Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels. Jene sagten, die Halacha ist nach uns zu entscheiden, und diese sag­ ten, die Halacha ist nach uns zu entscheiden. Da ging eine göttliche Stimme hervor und sagte: Die einen und die andern sind Worte des lebendigen Gottes, die Hala­ cha jedoch ist nach der Schule Hillels zu entscheiden.« Rabbi Jomtob ben Abraham aus Sevilla hat darüber in seinen Erläuterungen geschrieben, daß die Rabbinen Frankreichs die Frage aufgeworfen hätten: Wie ist es möglich, daß beide Worte des lebendigen Gottes sind, wo doch der eine verbietet, was der andere erlaubt? Ihre Antwort war, daß, als Moses zur Höhe aufstieg, um die Tora in Empfang zu nehmen, man ihm für jedes Problem 49 Gründe für ein Verbot und 49 Gründe für eine Erlaubnis gezeigt habe. Er habe Gott darüber be­ fragt und die Antwort erhalten, daß dies den Weisen Is17 Baba Bathra, 16 a.

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raels in jeder Generation anheimgestellt ist und die Ent­ scheidung ihnen überlassen bleibt. Und dies - sagt der Gelehrte aus Sevilla - ist der talmudischen Erklärung nach richtig; der Kabbala nach gibt es aber einen be­ sonderen Grund bei der Sache. Mir scheint aber, daß der Ausspruch des Talmuds: diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes, prima facie nur berechtigt ist, wo es möglich ist, die Worte beider Parteien zugleich gelten zu lassen. Das trifft zum Beispiel auf die Stelle im Talmud zu, wo es in Gittin [Bl. 6 b] über die Untreue des Kebsweibs in Gibea [Richter 19:2] heißt: >Als einst R. Ebjathar den Propheten Elias traf und ihn fragte, womit der Heilige, gelobt sei er, sich befasse, erwiderte dieser: Mit der Geschichte vom Kebsweib zu Gibea [über die Ebjathar und sein Kollege Jonathan verschie­ dene Meinungen geäußert hatten]. Und was sagt er hierzu? [- fragte der Rabbi den Elias]. Mein Sohn Eb­ jathar sagt so, und mein Sohn Jonathan sagt so. Sprach der Rabbi: Gibt es denn etwa bei Gott einen Zweifel? Elias erwiderte: Diese und jene sind Worte des lebendi­ gen Gottes.< Es ist nämlich möglich, die Worte beider gelten zu lassen. Wo es sich aber darum handelt, daß der eine etwas verbietet, was der andere erlaubt, ist es ja unmöglich, die Worte beider gelten zu lassen. Fällt doch die Entscheidung nach der Seite des einen aus, und wir lassen die Worte seines Diskussionspartners nicht gelten. Wenn aber auch diese als Worte des leben­ digen Gottes angesehen werden, wie kann ein Wort von seinen Worten hinfällig werden? So kann der Sinn sich nicht bei den Worten der französischen Rabbinen beruhigen, die für diesen Fall nicht ausreichen. Wohl aber kann er sich bei dem Grund und Geheimnis beru­ higen, das nach der kabbalistischen Tradition hierbei stattfindet, wie das der Rabbi aus Sevilla angedeutet

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hat. Und über den Vers [Ekklesiastikus 12:11)] >Die Worte der Weisen sind wie Stacheln, und wie einge­ pflanzte Nägel die Gesammelten; sie sind von einem Hirten gegebem, heißt es im Traktat Chagiga [Bl. 3 b]: >Die Gesammelten, das sind die Schriftgelehrten, die in Versammlungen sitzen und sich mit der Tora befassen; die einen erklären als unrein, und die anderen erklären als rein; die einen verbieten, und die anderen erlauben; die einen erklären als unbrauchbar, und die anderen er­ klären als brauchbar. Vielleicht sagt jemand: Wenn dem so ist, wie kann ich demnach das Gesetz studieren? Darum sagt die Schrift weiter: Sie sind von einem Hir­ ten gegeben; ein Gott hat sie gegeben, ein Walter [Mo­ ses] hat sie gesagt, aus dem Munde des Herrn allen Tuns, gelobt sei er, wie es heißt [Exodus 20:1]: Und Gott sprach all diese Worte. Und auch du mache dein Ohr wie einen Trichter und verschaffe dir ein verstän­ diges Herz, um die Worte der als unrein Erklärenden und die Worte der als rein Erklärenden, die Worte der Verbietenden und die Worte der Erlaubenden, die Worte der als unbrauchbar Erklärenden und die Worte der als brauchbar Erklärenden zu verstehen.< So haben wir denn hier das Zeugnis, daß alle Differenzen der Meinungen und Ansichten, die einander widerspre­ chen, von einem Gott gegeben und von einem Walter gesagt sind. Dies scheint dem menschlichen Verstand ganz fern zu liegen, und es ist seiner Konstitution ver­ sagt, es zu erfassen, wenn ihm nicht der gebahnte Weg Gottes, der Weg, auf dem das Licht der Kabbala wohnt, eine Hilfe gibt.«18 Echte Tradition also, wie alles Schöpferische, ist der jü­ dischen Auffassung keine Leistung der menschlichen 18 Vgl. Jesaja Horowitz, Sehne Luchoth ha-Brith, Amsterdam 1698, Bl. 25 b/26a.

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Produktivität allein. Sie kommt aus einem Urgrund, und es trifft auf sie zu, was Vegh einmal von Max Sche­ ier zitiert hat: »Der Künstler ist nur Mutter des Kunst­ werks, der Vater ist Gott.« Die Tradition ist eine der großen Leistungen, in der die Beziehung des mensch­ lichen Lebens auf seine Grundlagen realisiert wird. Sie ist die lebendige Berührung, in der der Mensch die ur­ alte Wahrheit ergreift und über alle Geschlechter hin in der Zwiesprache des Gebens und Nehmens sich mit ihr verbindet.

Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930

Die Fragestellungen, die sich bei einem so weit ge­ spannten Thema wie dem der deutschen Juden in der Generation vor und während des Ersten Weltkrieges ergeben, sind so vielfältig und ineinander verschachtelt, daß ich mich zu einer Auswahl entschließen muß. So halte ich es für fruchtbar, wenn ich über Dinge, Zu­ stände und Erfahrungen spreche, die ein Mensch mei­ ner Generation machen konnte. Solche Erfahrungen betrafen ja nicht nur meine eigene Altersstufe in den verschiedenen Kreisen, mit denen ich natürlicherweise in Berührung kam, sondern auch die ältere Generation, mit der wir es zu tun bekamen. Und wenn jemand an der Sache der Juden Anteil, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen begann - was ja in meinem Fall zutrifft-, so traten zu dieser Art von Erfahrungen auch die so man­ nigfaltigen literarischen Erfahrungen hinzu, die im Le­ ben eines jungen Menschen keine geringere Rolle ge­ spielt haben als die anderen. All dies ist nun nicht genau meßbar, und die Auswer­ tung, die qualitative Analyse dieser Situation und Erfah­ rungen bleibt notwendigerweise höchst selektiv, vom Blickpunkt des Betrachters bestimmt und von starken, vielleicht zu starken Gefühlsreaktionen gefärbt. Auch die beste Kenntnis und Erinnerung, von der Auswahl der unübersehbaren Literatur zu diesem Thema ganz zu schweigen, wird in jedem Einzelfall eine andere Re­ sultante aus den widersprüchlichen Eindrücken erge­ ben. Es dürfte auch angebracht sein zu bemerken, daß bei einer quantitativen Analyse einigermaßen meßbarer 229

Verhältnisse überraschende Ergebnisse auftreten kön­ nen. Eine solche Analyse wird natürlich von der Stati­ stik geliefert. Aber das entscheidende und unschätz­ bare Werk über die »Entwicklung der jüdischen Bevöl­ kerung in Deutschland zwischen 1800 und 1945« von Bruno Blau, das 1950 in New York abgeschlossen wurde und turmhoch über allen anderen Publikationen auf diesem Gebiete steht, ist bis heute, 25 Jahre später, unveröffentlicht geblieben und nur als Typoskript zu­ gänglich. Soweit es um meßbare Größen in der wissen­ schaftlichen Literatur geht, hätte ich also gerne zugun­ sten dieses Standardwerks auf viele Schriften verzich­ tet. Dennoch sind für unsere Betrachtung einige statisti­ sche Angaben relevant, von denen ich wenigstens ei­ nige, die mich persönlich betroffen haben, anführen möchte. In der Zeit vor 1914 gab es im damaligen Deutschland etwa 620000 Juden, die sich als solche deklarierten. Die Zahl der Juden unter den Dissidenten (Menschen, die sich als religionslos erklärten) ist nicht erfaßbar; man geht aber kaum fehl, wenn man sie zah­ lenmäßig als sehr gering betrachtet - sie wuchs in den 20er Jahren stärker an. Wesentlich höher lag die Zahl der Getauften, und wenn man die Kinder oder gar En­ kel von getauften Familien heranzieht, so wäre diese Kategorie nach den in dieser Hinsicht halbwegs zutref­ fenden Statistiken der Nazis auf über 100000 Men­ schen zu beziffern. Diese hatten zwar mit dem Juden­ tum offiziell und in ihrem Leben völlig gebrochen, wurden aber von der Umwelt noch immer weitgehend als Juden betrachtet, meistens zu ihrem beträchtlichen Mißvergnügen. In dieser Zeit blieben dem Judentum etwa ein Viertel der Kinder aus Mischehen, die ihm in den vorangegangenen zwei Generationen so gut wie 230

vollständig verlorengegangen waren, erhalten. Aus­ tritte aus dem Judentum und Taufen sind für unsere Be­ trachtung insofern relevant, als sie ein Zeichen für be­ wußte, unterPreisgabe alles Jüdischen erfolgende Voll­ assimilation darstellen, die zwar von allen versucht, aber keineswegs von allen erreicht wurde. Ein wichtiger Faktor ist ferner die Konzentration von mehr als der Hälfte aller Juden in den zehn Großstäd­ ten des Reichs mit über einer halben Million Einwoh­ nern, wobei, von Berlin mit seinen etwa 200000 Juden abgesehen, die Ziffern immer noch erstaunlich gering blieben. Frankfurt am Main, mit der vielleicht berühm­ testen jüdischen Gemeinde Deutschlands, hat niemals mehr als 30000 Juden gezählt - und das im Jahre 1925, als sie 7% der Einwohnerschaft bildeten, während sie 1875 mit 12000 noch 11% darstellten. Die meisten an­ deren Juden saßen in Mittelstädten, und nur eine Mino­ rität lebte in Kleinstädten und Dörfern, in denen ur­ sprünglich das Gros der Juden in Deutschland angesie­ delt war. Immerhin ist es bemerkenswert, daß um 1930 in Württemberg und Bayern noch etwa 30% der Juden in Kleinstädten und Dörfern wohnten. Dabei spielte freilich die prozentual gesehen beträchtliche Stärke der Auswanderung aus Süddeutschland, vor allem in die Vereinigten Staaten, eine Rolle. Erst 1861 wurde in Bayern der sogenannte Matrikelzwang aufgehoben, durch den - von bestimmten Ausnahmen für er­ wünschte Berufe abgesehen - nur der älteste Sohn jeder jüdischen Familie wohnberechtigt war, so daß alle an­ deren Kinder mehr oder weniger zur Auswanderung gezwungen waren. Mehr als die Hälfte der bayerischen Juden ist in dieser Zeit ausgewandert. In den meisten Orten Süddeutschlands konnte eine wirkliche Assimi­ lation erst nach 1860 beginnen, während dieser Prozeß 231

in den großstädtischen Zentren Norddeutschlands eine oder sogar zwei Generationen früher einsetzte. Die Existenz eines ländlichen Judentums stellte in der So­ zialpsychologie der deutschen Juden einen wichtigen Faktor dar. Ich habe das noch deutlich zu spüren be­ kommen, als ich 1920 in München studierte. Soweit wir über präzise Statistiken verfügen, zeigt sich die außer­ ordentliche Stärke dieser Verlagerung aus den Dörfern und Kleinstädten in die Großstädte: in Preußen zum Beispiel waren 1867 noch 70% der Juden in der ersten Kategorie; 60 Jahre später waren es nur noch etwa 15%. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Zahl der im Ausland geborenen oder in der ersten Ge­ neration von diesen abstammenden Juden. Diese Ziffer war zwar lange nicht so hoch, wie die antisemitische Propaganda behauptete, sie war aber erheblich. Sie lag bei etwa 15% vor dem Ersten Weltkrieg und stieg bis 1930 auf 20%, vielleicht auch auf 25% an, was zu erbit­ terten Kämpfen um das Wahlrecht der sogenannten Ostjuden in den jüdischen Gemeindegremien geführt hat. In Berlin waren die Ziffern sogar noch höher. Um 1930 waren fast ein Drittel der Angehörigen der jüdi­ schen Gemeinde im Ausland geboren oder aus den im Vertrag von Versailles abgetretenen Gebieten nach Berlin gekommen oder besaßen auf andere Weise eine ausländische Staatsangehörigkeit. Der Extremfall war Sachsen, wo zwei Drittel der Juden aus dem Ausland stammten. Diese Bemerkungen weisen auf die Verschiedenheit bzw. Uneinheitlichkeit der deutschen Juden hin. Dazu kommt die Differenzierung in der Stellung zur jüdi­ schen Religion und Überlieferung, die für eine Betrach­ tung der sozialen Psychologie dieser Gruppen be­ trächtliche Bedeutung hat. Schätzungsweise betrug in 232

der uns beschäftigenden Periode der Anteil der geset­ zestreuen Juden, d. h. derjenigen, die sich in ihrer Le­ bensführung mehr oder weniger der jüdischen Tradi­ tion konform verhielten, 20% der Gesamtzahl der Juden in Deutschland. Die übrigen Juden hatten diese Tradition in ihrem persönlichen Leben ganz oder doch überwiegend abgeschafft. Gewisse Residuen dieser Tradition erhielten sich in verschiedenen Graden, be­ sonders soweit sie das Familienleben betrafen. Eine nicht geringe Zahl von Familien führte einen koscheren Haushalt nur, weil sie Rücksicht auf Verwandte, be­ sonders aus der älteren Generation, nahmen, die sonst in ihrem Haus nicht gegessen hätten. Aber die ein ge­ setzestreues Leben wirklich bestimmenden Faktoren, die strikte Einhaltung des Sabbat, der Speisegesetze innerhalb und außerhalb des Hauses sowie der Ein­ schränkungen im sexuellen Bereich durch die Bestim­ mungen über das rituelle Tauchbad der Frauen, wur­ den von einer im jüdischen Leben zwar durchaus sicht­ baren, aber zahlenmäßig nur sehr kleinen Minorität befolgt. Als letzte statistische Angabe wäre die für diese Periode charakteristische Berufsstatistik der deutschen Juden von Interesse. Im Jahre 1907 waren von 100 Erwerbstä­ tigen etwas über 50% im Handel und 21% in der Indu­ strie tätig, dagegen damals immer noch nur etwa 7% in den freien Berufen, 1,5% in der Landwirtschaft, Tier­ zucht und Gärtnerei; fast 20% erklärten sich als Ren­ tiers oder machten keine Berufsangabe - ein erstaunlich hoher Prozentsatz, zu dem man wohl die mit Finanzge­ schäften, lies: Wucher, sich Befassenden zählen muß, die sich scheuten, ihre Geschäfte klar zu bezeichnen. In den folgenden 20 Jahren verschob sich die Beteiligung der Juden an den freien Berufen zweifellos beträchtlich 233

nach oben. Orthodoxe Juden waren fast ausschließlich in ganz wenigen Branchen tätig, nämlich im Textilge­ werbe, im Metallhandel (der großenteils in jüdischen Händen lag), im Vieh- und Getreidehandel, im privaten Geldgeschäft und in freien Berufen, etwa als Arzte und Anwälte. Diese Bemerkungen zeigen, wie differenziert eine Be­ trachtung der sozialen Psychologie der deutschen Ju­ den vorgehen muß. Natürlich entspricht das soziale Verhalten der Juden nicht genau ihrer Berufsschich­ tung. Ihr Verhältnis zur Umwelt und zu sich selber weist auch innerhalb der einzelnen Schichten große Unterschiede auf. Es ist im Jahre 1976 gar nicht leicht, sich in diese verschiedenen Haltungen einfühlend zu versenken oder sie zu beurteilen. Dabei spielt ein Mo­ ment eine Rolle, dessen Bedeutung für die Fragen, um die es hier geht, gar nicht hoch genug eingeschätzt wer­ den kann. Ich meine damit die für uns heute nahezu un­ faßbare, zu der allgemein anerkannten Kritikfähigkeit der Juden im Gegensatz stehende Neigung ihrer Mehr­ heit zur Selbsttäuschung über ihre Lage, ja zum Selbst­ betrug. Es ist dieser Punkt, der den heutigen Leser der damaligen Publizistik und Literatur so ratlos läßt und der auch in der Analyse unserer eigenen Erinnerung, bei allen Versuchen der Erklärung, einen Rest von Un­ auflöslichem zurückläßt. Von welchen Schichten reden wir - wenn wir von der sozialen Psychologie der deutschen Juden sprechen -, die ja mit den vorhin genannten, von der Differenzie­ rung der Statistik erfaßten keineswegs identisch sind? Ich würde etwa zwischen folgenden Schichten unter­ scheiden: 1. Die ihrem Bewußtsein nach total »eingedeutschten«, an der Grenze oder jenseits der Grenze des Jüdischen 234

lebenden, getauften Juden oder Halbjuden und die mit Vorliebe in Mischehe lebenden, allem Jüdischen völlig entfremdeten Gruppen, die in der Literatur über diese Fragen einen ganz außerhalb aller Proportionen ste­ henden Platz einnehmen. Dazu gehören auch am inne­ ren Rande solche total assimilierten Juden, die aus ir­ gendeinem Ehrgefühl vor der Taufe zurückschreckten und Juden blieben. Das war eine kleine Randschicht, die sich etwa in der Organisation der sogenannten »nationaldeutschen Juden« zusammenfand. Für diese Gruppen stellte das Judentum überhaupt kein Problem mehr dar. Sie betrachteten sich als Deutsche schlecht­ hin, die an dem jüdischen Erbe weder teilzunehmen brauchten noch ihm gegenüber irgendwelche Ver­ pflichtungen hatten. Von ihrem Gesichtspunkt aus wa­ ren alle Probleme zwischen den Juden und den Deut­ schen gelöst. Sie suchten ihren Umgang so gut wie voll­ ständig in einer Schicht gleichen Charakters oder von Deutschen, die sie im selben Geiste aufzunehmen be­ reit waren. Ihre Ahnungslosigkeit in allem Jüdischen war total. In einigen markanten Fällen machten sie sich antisemitische Einstellungen und Argumentationen zu eigen. Als klassisches Dokument dieser letzteren Art darf man wohl die Autobiographie des berühmten Pa­ thologen Lubarsch bezeichnen, die ihre kopfschütteln­ den Leser fast ausschließlich unter Juden fand: an ihr war die vor keiner Konsequenz zurückschreckende Entschiedenheit zur bewußten Selbstauslöschung zu studieren. Uber ihn lief das berühmte Witzwort seines Kollegen Czerny um: »Der Kollege Lubarsch hat die große Armee Jehovas verlassen - aber mit dem Recht zum Tragen der Uniform.« Ohne bei diesem jüdischen Antisemitismus zu berücksichtigen, daß es sich dabei um perverse Grenzfälle handelt, hat Golo Mann in sei235

ner 1966 gehaltenen Brüsseler Rede über Deutsche und Juden die erstaunliche Leistung vollbracht, gerade diese Schicht als für das deutsche Judentum repräsenta­ tiv vorzustellen und zu glorifizieren. Daß es sich dabei um eine zahlenmäßig kleine Gruppe handelte, von der nur wenige Mitglieder auch nur äußerlich in der jüdi­ schen Gemeinschaft verblieben waren; daß es sich da­ bei um Juden handelte, die als solche verschwinden wollten, und daß dabei das Problem der assimilations­ unwilligen Juden überhaupt nicht ins Blickfeld trat, nahm Golo Mann nicht zur Kenntnis. Selbstverständlich spielte auch in dieser Gruppe das jü­ dische Element im Unterbewußten eine Rolle, und vielleicht, weil es bewußt unterdrückt wurde, eine um so größere. Die Psychoanalytiker der verschiedensten Schulen haben dafür reichliche und überzeugende Bei­ spiele gebracht, um den unbewußten Konflikt heraus­ zuarbeiten, der sich zwischen ihrem jüdischen Erbe, manchmal noch ihrer jüdischen Kindheit und ihren späteren bewußten Willensentscheidungen abspiel­ te. 2. Am Übergang zu jener Hauptschicht, die meiner Meinung nach das eigentliche Interesse für unsere Be­ trachtung darstellt, steht die Schicht der reichen Juden: denn sicher besteht eine ausgesprochene Differenz zwischen der Hautevolee der deutschen Juden und dem großen anderen Teil. Vor allem war die Hautevolee im höchsten Grade sichtbar. Ihre Reaktionen konnten da­ her, wenn auch keineswegs mit Recht, von außen be­ trachtet als charakteristisch für die deutschen Juden überhaupt genommen werden. Diese Schicht über­ schneidet sich mit der vorerwähnten insofern, als sie, mit nur wenigen Ausnahmen, vollständig assimiliert war und sich zu einem beträchtlichen Teil auf dem Weg 236

zur Taufe befand sowie ihre jüdischen Bindungen weit­ gehend auf ein Minimum reduziert hatte. Es war die erwähnte Sicherheit dieser Gruppe, die den fundamen­ talen Irrtum erleichtert hat, sie als typisch für das deutsche Judentum anzusehen. Ihr Reichtum war gro­ ßenteils jüngeren und jüngsten Datums, denn der über­ wiegende Teil der wohlhabenden oder sehr reichen Fa­ milien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war längst zur Schicht der vollassimilierten Juden überge­ gangen. Das machte diese Gruppe besonders verwund­ bar, da sie weitgehend die Züge der nouveaux riches zeigte. Gesellschaftliche Ostentation und Ambition, ein deutliches Bestreben nach Verkehr mit nichtjüdi­ schen Teilen der Hautevolee und der nichtjüdischen tragenden Kultur- und Intelligenzschicht gab ihr Auf­ trieb und erregte in nicht geringem Maße das Interesse anderer Schichten, unter Nichtjuden noch mehr als un­ ter Juden. Dieses Interesse war oft genug skeptischer, ironischer und halb oder dreiviertel feindseliger Natur, wie sich das in der zeitgenössischen Literatur seit 1880 nur allzu deutlich widerspiegelt, was von den Betroffe­ nen aber in seltsamer Blindheit nicht zur Kenntnis ge­ nommen oder mit einem Achselzucken herunterge­ spielt wurde. Im allgemeinen den gemäßigten Liberalen politisch verbunden und sie finanziell unterstützend, hielten sie auf streng patriotische Erziehung ihrer Kin­ der. Sie gerieten aber mit den eigentlich herrschen­ den Kräften, mindestens in Preußen, an einem Punkt in stetigen Konflikt. Das war die in Norddeutschland so gut wie vollständig durchgeführte Weigerung, unge­ taufte Juden zu Reserveoffizieren zu machen; ein im Grunde lächerlicher Punkt, der für den gesellschaftli­ chen Ehrgeiz gerade dieser Schicht etwas wie ein Test­ fall war, an dem sie immer wieder scheiterten; eines der 237

verbreitetsten Motive zur Taufe und eine ständige Glanznummer liberaler Beschwerden ihrer politischen Freunde im Parlament, die übrigens von niemandem außer den Juden ernst genommen wurde. Eine geringe Anzahl religiös-orthodoxer Familien, etwa zwanzig bis dreißig, die ihrem Reichtum nach zu dieser Schicht ge­ hörten, und eine etwa ebenso große Zahl von Familien, die ohne starke religiöse Bindung doch eine betont jü­ dische Haltung einnahmen, machte die sozialen Sprünge dieser Gruppe nicht mit und erzog ihre Kinder noch immer zur aktiven Teilnahme am jüdischen Le­ ben. Der Rest - ich habe mehrere solche Familien und ihre Kinder in meiner eigenen Generation gekannt wollte von nichts etwas wissen. Sie hielten sich im allge­ meinen, von philanthropischen Aktivitäten abgesehen, von jeder direkten jüdischen Stellungnahme zurück, außer wenn es um Proteste gegen den Zionismus ging, mit denen sie plötzlich unmäßig in Erscheinung tra­ ten. 3. Die zahlenmäßig weitaus stärkste Gruppe war der li­ berale jüdische Mittelstand, das mittlere und kleine Bürgertum, dessen jüdische Physiognomie besondere Aufmerksamkeit verdient. In dieser Schicht war, so­ weit es das Bewußtsein der einzelnen betraf, die Sub­ stanz des Judentums - seine religiösen Gehalte, die Pra­ xis und die Gebräuche der Überlieferung - weitgehend verlorengegangen, ohne doch gänzlich aufgegeben worden zu sein. Die Schattierungen im Religiösen reichten von betont jüdischer Religiosität im Sinne der liberalen jüdischen Theologie, also eines Festhaltens am monotheistischen Gottesglauben und an der pro­ phetischen Ethik ziemlich puritanischer Färbung - je­ doch unter Aufgabe des jüdischen Rituals - bis zur reli­ giösen Indifferenz. Vereinzelte Stücke des Rituals wur-

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den weitgehend praktiziert, wie die Einhaltung der ho­ hen jüdischen Feiertage, die Feier des Freitagabends und des Sederabends, der Synagogenbesuch der Frauen an denjenigen Feiertagen, an denen ein »Seelengedächt­ nis« zur Erinnerung an die verstorbenen Eltern oder Kinder stattfand. Auch die Bar-Mitzvah-Feier beim Eintritt der Söhne ins 14. Lebensjahr wurde in einem überwiegenden Teil dieser Gruppe beibehalten. Reli­ gionsunterricht nach dem vom staatlichen Gesetz vor­ geschriebenen Ende des 14. Jahres fand hier nur noch in seltenen Fällen statt. Die Kinder wurden zum Besuch der Synagoge entweder gar nicht mehr oder nur wäh­ rend der Monate, die der Bar-Mitzvah vorangingen, angehalten. Ich selber entstamme dieser Schicht, zu der auch so gut wie alle mit uns näher oder ferner verwand­ ten Familien gehörten, wobei es einige wenige reiche und noch weniger arme Verwandte gab. Alle Freundin­ nen meiner Mutter gehörten derselben jüdischen Schicht an. Die Bildung und Lektüre lagen ausschließ­ lich im deutschen Kulturbereich, und ein Ausbruch aus ihm, besonders gar ins Jüdische zurück, begegnete in den meisten Fällen stärksten Widerständen. Die Assimilation ging sehr weit. Es wurde immer wie­ der betont, wenn auch in verschiedenen Nuancen, daß man dem deutschen Volk zugehöre und darin nichts weiter als eine Konfession bilde, wie andere auch. Das war um so paradoxer, als ja gerade das religiöse Mo­ ment, das angeblich den einzigen Unterscheidungs­ punkt bildete, in den meisten Fällen gar nicht vorhan­ den war und auf die Lebensführung ohne Einfluß blieb. Die überwiegende Anzahl der Familien, die etwa in Berlin diese Schicht bildeten, stammte aus Schlesien, Posen und Westpreußen; unsere Großeltern waren in den meisten Fällen noch dort aufgewachsen. Da die 239

große Majorität dieser Judenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den jüdischen Lebensformen noch sehr stark verbunden war, brachten die älteren Genera­ tionen noch einen nicht geringen Fundus von - wenn auch äußerlich gewordener - jüdischer Tradition mit. Die schon wohlhabendere Schicht blieb größtenteils zurück; was nach Berlin kam, waren beträchtliche Teile der sehr kinderreichen ärmeren und kleinbürgerlichen Familien. Die wirkliche Lage in dieser Schicht wird heute in weitem Maße ganz falsch beurteilt. Dies hängt mit dem von der Literatur oft verschwiegenen manife­ sten Widerspruch zwischen der Ideologie, welche die Assimilation verkündete oder als vollzogen behaup­ tete, und dem Verhalten in den wichtigen Lebenslagen sowie der psychologischen Realität zusammen. Da ich aus einer solchen Familiengruppe stamme, habe ich diese Widersprüche mit besonderer Deutlichkeit und Intensität erfahren. Ich möchte das näher an vier Punk­ ten erläutern. Sie betreffen die Einhaltung jüdischer Le­ bensformen, den Verkehr mit Nichtjuden, die Ambi­ tionen in bezug auf Kontakte oder Karrieren und schließlich die Stellung zur Taufe und Mischehe. Wenn ich von meiner eigenen Erfahrung und der mei­ ner Jugendfreunde ausgehen darf, so lagen diese Wider­ sprüche zwischen den bewußten, in häuslichen Dis­ kussionen verteidigten allgemeinen Sätzen und den un­ eingestandenen, großenteils auch direkt verleugneten Gefühlshaltungen. Was die Haltung zum Religionsge­ setz, zur Halacha, betrifft, so stand die Ideologie im Einklang mit der realen Liquidierung der orthodoxen Theologie und Praxis. Am Neujahrstag und Versöh­ nungstag waren die Synagogen überfüllt, und wir Kin­ der wurden noch großenteils in spezielle Jugendgottes­ dienste geschickt. Die von Zitaten der Propheten und 240

Sätzen aus Talmud und Midrasch, den sogenannten »Worten unserer Weisen«, strotzenden Reden der Rabbiner wurden als Leistungen erbaulicher Virtuosi­ tät, um nicht zu sagen Akrobatik, geschätzt oder verur­ teilt. Aus den Reden folgte, kurz gesagt, nichts. Die Predigt war zu einem Ornament geworden, nicht weni­ ger als die Lewandowskysche Synagogenmusik, der weitaus erfolgreichste Exportartikel des deutschen Ju­ dentums. Von diesen Dingen war in meinem eigenen Familienkreis so gut wie nichts zurückgeblieben. Meine Großeltern gingen noch an den Feiertagen zur Synagoge, meine Eltern so gut wie gar nicht mehr, mein Vater - freilich schon auf dem äußersten Flügel der Entfremdung von jüdischer Praxis stehend - ging sogar am Versöhnungstag ins Geschäft. Wenn aber nach dem Tod meiner Großeltern die Familie, das heißt auch die Onkel und Tanten, sich Freitag abends versammelte, wurde noch immer das Freitagabendgebet über dem Wein und dem Brot gesungen. Wie wenig das mit wirk­ licher Achtung vor der Tradition zu tun hatte, zeigte die Gewohnheit meines Vaters an, sich nach der Mahl­ zeit eine Zigarre an der Sabbatkerze anzuzünden und darüber einen Mock-Segensspruch »baure pri tobakko« zu sprechen, was mich später, als ich mit dem jüdischen Ritual vertrauter wurde, sehr schockierte. Eine formende Bedeutung hatte das Ritual in diesem Kreise nicht mehr. Wurde, wie noch weithin üblich, am Versöhnungstag gefastet, so geschah es aus einem Ge­ fühl der Pietät und bei nicht wenigen auch aus einem nur halbbewußten Gefühl der Solidarität mit den ande­ ren Juden. Dieses Solidaritätsgefühl spielte zweifellos eine viel größere Rolle, als zugegeben wurde, und kam nicht nur bei Gelegenheit politisch oder menschlich er­ schütternder Ereignisse, wie etwa dem Beilis-Prozeß 241

von 1913, zum Ausdruck. Das war auch die Schicht, die mehr als alle anderen im »Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« ihre eigentliche Re­ präsentation sah. Die stramm antizionistische Haltung und die Art von Patriotismus und deutschem Staatsbe­ wußtsein, die dort zum Ausdruck kamen, entsprachen im Deklarativen und in der politischen Stellungnahme ihrem Selbstverständnis. In vielen Familien war der Pa­ triotismus allerdings um einige Töne gedämpfter. Ein wichtiger, in der Literatur oft heruntergespielter Faktor war die gesellschaftliche Stellung gegenüber Nichtjuden. Zweifellos hat es hier große Unterschiede gegeben, und wenn ich an die vielen Autobiographien bekannter deutscher Juden denke, die ich gelesen habe und die für Außenstehende das Bild dieser Gruppe weithin bestimmen, so könnte ich zu dem Ergebnis kommen, daß ein lebhafter Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden auch im gesellschaftlichen Leben über etwaige geschäftliche Beziehungen hinaus existierte. Meine eigene Erfahrung und die Berichte meiner Freunde, die aus derselben Schicht stammten, stimmen mit diesem Bild in keiner Weise überein. Eines Tages begann mir aufzufallen, daß in unser Haus ausschließ­ lich Juden zu Besuch und freundschaftlichem Verkehr kamen und daß meine Eltern ausschließlich zu Juden zu Besuch gingen. Die Ausnahmen beschränkten sich auf formelle Anlässe, bei denen Berufskollegen meines Vaters aus dem typographischen Gewerbe - wir waren eine Buchdruckerfamilie -, aus der Krankenkasse, in der er ehrenamtlich tätig war, oder einem Verein, dem er angehörte, zu Gratulationen erschienen. Und auch dies geschah fast durchweg ohne Begleitung ihrer Ehe­ frauen. Mein Vater war in seiner Jugend in der Berliner Turnerschaft sehr aktiv, also in einer für das Kleinbür­ 242

gertum der liberalen Periode durchaus repräsentativen Organisation. Auch mehrere seiner Brüder und andere Verwandte gehörten ihr an. Mit dem Aufkommen und Uberhandnehmen antisemi­ tischer Tendenzen in der Turnerschaft, vor allem seit den 1890er Jahren, zog er sich auf eine passive Mitglied­ schaft zurück, während einer seiner Brüder in den er­ sten Jahren des 20. Jahrhunderts den ersten jüdischen Turnverein in Berlin mit begründete. Ich entsinne mich des 50. Geburtstags meines Vaters, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Es kamen einige Vorstandsmitglieder der Berliner Turnerschaft, um meinem Vater, der seit 30 Jahren ihrer Organisation angehörte, höflich die Hand zu drücken. Es kamen verschiedene Kollegen, mit de­ nen er in den genannten Berufsgremien zusammensaß. Zwei davon hatten ihre Frauen mitgebracht. Als ich mich erkundigte, sagte mir mein Vater, daß ein gesell­ schaftlicher Gegenbesuch in den betreffenden Familien nicht willkommen geheißen würde. Dabei war mein Vater ein lebhafter, witziger und höflicher Mensch, der in seinem Berufsstand beliebt und angesehen war. Diese relativ weitgehende, wenn auch in häuslichen Diskussionen oft geleugnete soziale Abschließung der Juden war in Handel und Gewerbe besonders stark, während in den freien Berufen eher eine gesellschaftli­ che Öffnung zu nichtjüdischen Kollegen bestand. So grotesk es klingen mag, bildeten die Tanzstunden oft ein Kriterium für die sozialen Kontakte. Es gab viele Tanzkurse für Jugendliche, die, wie sich schnell zeigte, überwiegend oder fast ausschließlich von jüdischen Jünglingen und Mädchen besucht wurden. Meine Cou­ sinen und Großcousinen erzählten mir - und eine von ihnen war ein ausnehmend schönes Mädchen aus rei­ cher Familie-, daß sie in der Tanzstunde ausschließlich 243

Partner aus jüdischen Familien hätten, was den Eltern auch gar nicht unwillkommen wäre. So weit ging also der Widerspruch zwischen der Ideologie der Auflö­ sung ins Deutsche und der gefühlsmäßigen Neigung vieler, unter sich zu bleiben. Das spiegelt sich auch bei der Wahl des Berufs oder der Karriere wider. Der breiten jüdischen Bürgerschicht unterhalb der Hautevolee lagen soziale Ambitionen, die mit gesuchten und nachdrücklich verfolgten Kon­ takten zu Nichtjuden zusammenhingen, noch immer fern. Ironie und Selbsthohn über die Oberschicht, die sich den Nichtjuden angliederte oder aufdrängte, wa­ ren an der Tagesordnung. Der wachsende Antisemitis­ mus großer bürgerlicher Schichten traf mit einem noch immer sehr wirksamen, wenn auch unbewußten jüdi­ schen Gefühl zusammen, das mit Religion gar nichts mehr zu tun hatte, obwohl die ausschließlich religiöse Differenz zu Nichtjuden so gern betont wurde. Diese jüdische Gefühlskomponente näher zu bestimmen, mit anderen Worten, sie ins Bewußtsein zu heben, versag­ ten sich die meisten. Nicht weniger widerspruchsvoll war die Stellung dieser Schicht zur Taufe und zur Mischehe. Die weit überwiegende Zahl der Taufen fand in dieser Epoche entweder in der untersten, ärmsten Schicht, die sich davon ökonomische Vorteile ver­ sprach, oder in der obersten statt, die sich davon end­ gültige gesellschaftliche Emanzipation erhoffte. Es war eine Emanzipation nicht des Jüdischen, sondern vom Jüdischen, die damit beendet sein sollte. Natürlich gab es Taufen aus Überzeugung, die einer echten religiösen Motivation und nicht einer sozialen entsprangen, aber sie waren sehr selten, was auch in der psychologischen Reaktion der meisten jüdischen Gesellschaftsschichten zum Ausdruck kam. Das Erstaunliche in dem breiten 244

jüdischen Bürgertum war, daß bei aller Assimilations­ bereitschaft die Taufe unbedingt negativ bewertet und abgelehnt wurde. Dies hatte seinen Grund in den er­ wähnten sozialen Zusammenhängen, die sie überflüs­ sig, unwürdig und unattraktiv erscheinen ließ. In dem weiten Kreis meiner eigenen Familie gab es zwischen 1870 und 1933 keinen einzigen Fall von Taufe. Da­ mit hängt auch die auffallend unsichere Stellung so vieler Juden zu Heinrich Heine zusammen, der der überwiegenden Zahl der Nichtjuden als ein typischer Repräsentant der jüdischen Assimilation erschien. Von der Bewunderung Heines, wie ich sie in meiner Jugend gerade in jüdischen Familien so oft gefunden habe, reichte die Bewertung bis zur entschiedenen Ableh­ nung, die weniger sein Schrifttum als seine Charakter­ losigkeit betraf. Der höhnische, leichtfertige und durchaus unwahre Satz Heines, den ich in meiner Ju­ gend beliebig oft und keineswegs in zustimmendem Sinne gehört habe, die Taufe sei das »Entreebillet zur europäischen Kultur« - ein Satz, den Heines eigene Biographie selber Lügen straft -, zeigt in einem Epi­ gramm, warum Heines Stellung nicht nur unter Nicht­ juden, sondern weithin auch unter den Juden selber so zweideutig blieb. Wenn ich hier von Emanzipation spreche, so ist es nicht überflüssig, zu betonen, daß damit der Begriff im Sinne des Sprachgebrauchs des 19. und frühen 20. Jahrhun­ derts verwendet wird. Emanzipation bedeutet hier also die Erlangung der gleichen bürgerlichen und politi­ schen Rechte, weiterhin eventuell auch der gesell­ schaftlichen Rechte, die bis dahin einem bestimmten, wohl definierten Teil der Bevölkerung vorenthalten waren. Die Erlangung dieser Rechte stellt den Prozeß oder die Vollendung solcher Emanzipation dar. Dar245

unter ist nicht der jetzt modische Sprachgebrauch des Wortes im Sinne einer revolutionären Veränderung des Bewußtseins bestimmter Schichten oder Gruppen in­ nerhalb der Menschheit zu verstehen. Dieser psycholo­ gisch-soziologisch moderne Sprachgebrauch ist für die hier zur Diskussion stehende Epoche ohne Bedeu­ tungAuch die Mischehe war in dieser breiten Schicht damals ein keineswegs häufiges Phänomen, wenn auch eher verbreitet als die Taufe. Die Stellung zur Mischehe war sehr zwiespältig und oft gänzlich irrational. Mein Va­ ter, der ein ausgesprochener Anhänger der Assimila­ tion war, lehnte Mischehen im eigenen Familien- oder Bekanntenkreis ab. Seiner Theorie nach hätte er sie be­ grüßen müssen; als aber mein Bruder eine Nichtjüdin heiratete, hat er nach einer einmaligen kurzen Begeg­ nung nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt. Meine Mutter dagegen, in deren Elternhaus noch eine Art jü­ discher »Milieufrömmigkeit« geherrscht hatte und die ihr Judentum ohne tiefere Bewußtheit eher als eine Ge­ fühlstatsache denn als eine biologische Tatsache hin­ nahm, war Mischehen gegenüber gleichgültig. Weder die Heirat meines Bruders noch die ihrer eigenen Schwester, einer der ersten in Berlin zugelassenen Ärz­ tinnen, störte sie im geringsten. Sonst gab es in unserem weiteren Familienkreis in der Generation meiner El­ tern nur eine einzige Mischehe, und die beiden Töchter, die ihr entsprangen, wußten ihr Leben lang nicht recht, was sie eigentlich waren. In der Nachkriegsgeneration stieg die Zahl der Mischehen in Deutschland und Österreich außerordentlich an; in nicht wenigen Ge­ genden gab es bis zu 50% Mischehen. Dieses Faktum der relativ weitgehenden sozialen Ab­ schließung, sei es von außen her, sei es durch den sozia246

len und psychologischen Zusammenhang der Juden selber bedingt, wird in der reichen Literatur sowohl belletristischer wie biographischer Tendenz oft unter ganz unschuldig klingenden Sätzen versteckt. Wenn ein Autor sorgfältig über die »Synthese eines weitherzi­ gen Judentums mit liberalem Humanismus unter den Breslauer Juden« in dieser Periode schreibt, so kommt doch bald in einem Nebensatz heraus, daß das gesell­ schaftliche Leben sich zumeist »unter den Angehörigen gleicher Konfession abspielte«. Wer Literatur über das Prager und Wiener Judentum dieser Zeit studiert, die ja besonders reichhaltig und nicht selten höchst auf­ schlußreich ist, kann dasselbe Phänomen registrieren. Sigmund Freud spricht 1908 davon, daß wir, nämlich die jüdisch-bürgerlichen Familien, alle neurotisch ge­ worden seien, weil wir etwas Besseres werden wollten, als wir unserer Herkunft nach zu werden fähig gewesen seien. Soziale Faktoren wurden als psychogen erklärt, um ihren Einfluß zu verschleiern. Die schon erwähnte Blindheit der Juden für ihre eigene Lage wurde, jedenfalls in der Literatur, nur in seltenen Fällen überwunden, so etwa von Richard Beer-Hofmann, Schnitzler, Jakob Wassermann, Ludwig Jakobowsky und vor allem von Kafka. Im allgemeinen muß man sagen, daß gerade die von Juden geschriebene Lite­ ratur dieser Jahre nach Möglichkeit zur Vernebelung der wirklichen Lage beizutragen suchte, Hermann Co­ hens jüdische Schriften sind bis in den Ersten Weltkrieg hinein in nicht wenigen Stücken unheimliche, aber auch ergreifende Exempel dieser Blindheit oder Ver­ blendung. Natürlich hatten die Juden einigen Grund zu solcher Verblendung. Es gab damals noch wirklichen Liberalismus, der vom theoretischen Ansatz her gerade die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft 247

bejahte und der zum Widerstand gegen die widrigen Winde, die schon zu wehen begannen, wie geschaffen schien. Dazu muß man auch das keineswegs unwich­ tige Faktum erwähnen, daß die Juden mit den antisemi­ tischen Schichten zwar gar nicht wenig geschäftliche, aber so gut wie keinerlei gesellschaftliche Berührung hatten. Ihre Hoffnungen und ihre Bereitschaft gedie­ hen wie in einem Treibhaus. Ich habe sehr wenige Ju­ den getroffen, die bereit waren, antisemitische Litera­ tur zu lesen. Mein Vater erklärte mich für meschugge, weil ich von 1912 an den »Hammer«, die radikal-anti­ semitische Zeitschrift von Theodor Fritsch, ziemlich regelmäßig und sorgfältig las. Natürlich wußte man, daß es etwa Badeorte wie Bansin, Borkum und andere gab, in denen Juden unerwünscht waren, oder Hotels wie den Nassauerhof am Hauptbahnhof von Frank­ furt, auf dessen Prospekten und Speisekarten »Juden unerwünscht« stand. Aber das waren doch noch seltene Fälle, von denen man keine Kenntnis zu nehmen brauchte. Und gerade die eben gezeichnete Schicht des jüdischen Bürgertums, der es fernlag, sich aufzudrän­ gen, und die vom Optimismus des Glaubens an den si­ cheren Fortschritt durchdrungen war, glaubte, daß es sich dabei um unwichtige Randphänomene handele. Selbstverständlich spielte diese illusionäre Einstellung auch bei den Diskussionen über den Zionismus eine große Rolle. In vielen Familien gab es in dieser Zeit, sehr selten in der älteren Generation, aber öfter in der Jugend, auch in diesem Kreis gelegentlich einen Zioni­ sten. Als ich mich 1911 für den Zionismus zu interessie­ ren und 1912 Hebräisch zu studieren begann, gab es in unserem weiteren Familienkreis, in dem einer meiner Onkel und dessen Frau Zionisten waren, zuerst halb ironische und nicht ganz ernst gemeinte Auseinander248

Setzungen. Als aber das Maß meines Engagements für die Sache deutlich wurde, nahmen diese bald, beson­ ders von 1914 an, recht böse und bittere Formen an. Der Grund war klar. Das Deutschtum der deutschen Juden in Frage zu stellen - und gerade das taten viele meiner Generation zwischen 1910und 1920-galt nicht als Beitrag zu einer rein theoretischen Diskussion, son­ dern als persönliche Provokation und zerstörerischer Angriff auf etwas Unantastbares. Freilich waren die Zionisten in Deutschland keineswegs eine einheitliche Gruppe, wie ich bald bemerkte, als ich mit Gleichge­ sinnten zusammenkam. Es gab da eine nicht geringe Zahl von Kindern aus ostjüdischen Familien, bei denen die deutsch-jüdische Ideologie noch keine besondere Bedeutung gewonnen und teilweise noch kaum Wur­ zeln geschlagen hatte: sie standen daher dem Anschluß ihrer Kinder an den Zionismus eher mit Sympathie ge­ genüber. Ein anderer Teil kam aus religiös konservati­ ven und orthodoxen Gruppen, obwohl gerade dort, wenn auch weniger aus nationalen Gründen einer hitzi­ gen Verteidigung der Zugehörigkeit zum deutschen Volk als vielmehr aus religiösen Gründen, der Zionis­ mus abgelehnt wurde, weil dieser angeblich den Mes­ sianismus vorwegzunehmen sich erdreistete. In assimi­ lierten Bürgerfamilien gab es nur seltene Fälle, in denen es aufgrund besonders bitterer Erfahrungen mit Anti­ semiten nicht zu starken Spannungen kam. Die Stellung zum Ersten Weltkrieg bildete eine gründ­ liche Scheidelinie. Die meisten Zionisten, obwohl sie die Theorien der allmählichen Auflösung ins Deutsche oder einer Synthese mit dem Deutschtum ablehnten und ihre eigene Identität als Juden auch für die Zukunft bejahten, verhielten sich nicht anders als die übrigen Schichten der Juden. Teils wurden sie von der patrioti-

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sehen Begeisterung mitgerissen und stellten sich frei­ willig zum Kriegsdienst, teils betrachteten sie es als Verpflichtung purer Loyalität, das Ihre beizutragen. Obwohl nicht lange vor Ausbruch des Krieges eine wü­ ste, öffentlich ausgetragene Polemik zwischen Zioni­ sten und Antizionisten stattgefunden hatte, die durch eine in den großen Zeitungen als Riesenannonce veröf­ fentlichte Erklärung jüdischer Notabein, Geheimräte, Kommerzienräte, Professoren, Autoren und weiterer angesehener Leute hervorgerufen worden war und den Vorwurf mangelnder Anhänglichkeit der Zionisten ans deutsche Vaterland enthielt, glich der Krieg diese schweren Spannungen aus. Es war eine kleine Minder­ heit, die dem Krieg gänzlich ablehnend gegenüber­ stand, nicht aus pazifistischen oder humanitären Erwä­ gungen, wie sie ja auch bei einer Minderheit der deut­ schen Intelligenz eine Rolle spielten, sondern gerade aus ihrer jüdischen Haltung heraus. Ich erinnere mich lebhaft an die leidenschaftlichen Diskussionen, in die wir damals nicht nur im Familienkreis, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten und privaten Zusam­ menkünften verwickelt wurden. Andererseits ist es ein Faktum, daß gerade der Krieg der Sache des Zionismus in meiner Generation einen starken Auftrieb gab. Dies äußerte sich statistisch etwa in der ungewöhnlich ho­ hen Zahl von 20000 Wählern, die sich 1922 an den Wahlen zum Delegiertentag der zionistischen Vereini­ gung Deutschlands beteiligten. Die sozialen und psychologischen Reaktionen auf die Erfahrungen des Krieges waren durchaus verschieden. Oft gab es in denselben Familien nebeneinander Juden, die sich nun als völlig deutsch legitimiert fühlten, ja, zu eher nationalistischen Tendenzen neigten, Anhänger sozialistischer und später kommunistischer Richtun-

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gen neben Zionisten und einer immer noch sehr großen Zahl von Juden, die vor allem in Ruhe gelassen werden und von solchen Auseinandersetzungen verschont bleiben wollten. Ich habe das alles in meiner eigenen Familie erlebt. Vor 1914 war der Anteil von Juden an der sozialistischen Bewegung erstaunlich gering, wenn auch einige führende Köpfe der sozialdemokratischen Partei aus jüdischen Kreisen kamen. Im Jahr 1920 hatte sich das geändert, aber die überwiegend bürgerliche Einstellung der Juden blieb trotzdem bis in die Hitlerjahre hinein erhalten. Sozialistische Tendenzen dran­ gen auch tief in die zionistische Jugend ein, was um so natürlicher war, als die sich eröffnende Chance zu ei­ nem Neuaufbau einer freien jüdischen Gesellschaft im Lande Israel gerade für diejenigen, die zum persönli­ chen Einsatz für diese Arbeit entschlossen waren, eine unmittelbare »Verwirklichung« auch im Sinne soziali­ stischer Überzeugungen zu versprechen schien. Und »Verwirklichung« war damals bei den Zionisten eine große Losung. Die Zionisten bejahten zwar ihre jüdische Identität, das Band zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft als Mitglieder des jüdischen Volkes, aber ihre Kennt­ nisse der jüdischen Dinge war im großen und ganzen ebenso gering, wie ihre Gefühlsverbundenheit stark war. Wer sich etwa für die Substanz des Jüdischen und für jüdische Literatur interessierte, konnte wenig bei ihnen lernen. In dieser Hinsicht gab es fast nur noch bei den Orthodoxen etwas zu holen, und auch das nur in Maßen. Denn zwar konnte man in solchen Häusern lernen, wie jüdisches Leben im Rahmen der Tradition aussah, aber von wirklichem Wissen auf jüdischem Ge­ biet waren sehr große Teile auch der Orthodoxen und Konservativen weit entfernt. Ihre hebräischen Kennt­

nisse waren, milde gesagt, schwach, aber wenigstens gab es unter ihnen, und nur unter ihnen, Männer, die noch »lernen« konnten. Zu ihnen mußten diejenigen gehen, die zu ihren eigenen Quellen zurückfinden und ins jüdische Schrifttum eindringen wollten. Mit ihnen war für junge Zionisten eine Verständigung leichter möglich als mit den anderen Schichten, von denen ich hier gesprochen habe, weil ihre Stellung zum Phäno­ men der Assimilation, das sonst ein so heißes Eisen bei Diskussionen bildete, im großen und ganzen reserviert war. Menschen von tiefer religiöser Überzeugung wa­ ren auch in diesem Kreis seltener anzutreffen als Men­ schen von profundem Wissen. Weit verbreitet war hier eine Art ruhiger Gelassenheit, die nicht selten an Weis­ heit grenzte. Bei solchen Männern suchten meine Freunde und ich den Weg, auch wenn wir ihre Lebens­ ordnung im Sinne der Halacha nicht übernehmen konnten. Es ist nur fair zu sagen, daß wir eine kleine, sehr kleine Gruppe waren, die sowohl ihrer seelischen Haltung nach als auch mit zunehmenden jüdischen Kenntnissen in sehr scharfe, ja extreme Kritik am deut­ schen Judentum, wie es sich uns darbot, getrieben wurde. Solche kleinen Gruppen gab es an verschiede­ nen Orten des deutschsprachigen Judentums. Ich kam mit ihnen nicht nur in Berlin, wo ich jahrelang in einer solchen Gruppe aktiv war, sondern auch in Leipzig, Jena, Heidelberg und München zusammen, später auch mit solchen, die ähnliches in Prag, Brünn und Wien durchgemacht hatten. Uns allen war die Grundüber­ zeugung gemeinsam, daß die überwiegende Majorität unserer jüdischen Umgebung in einem Vakuum und schwieriger noch und für uns aufregender - in einer Selbsttäuschung lebte, in der sie ihre Wünsche für Rea­ lität hielt und ihre Augen bewußt an einem Trugbild

der deutsch-jüdischen Harmonie weidete, dem nichts entsprach. In der Rückschau bin ich überzeugter, als ich es in mei­ ner von Leidenschaften des Protestes erfüllten Jugend sein konnte, daß bei vielen dieser Menschen Illusion und Utopie ineinanderflossen und das vielleicht antizipatorische Glücksgefühl weckten, zu Hause zu sein. Hierin lag auch wirklich Echtes, nämlich das Echte, das wir der Utopie zuerkennen müssen. Ich hege nicht we­ nige Zweifel im Blick auf das Maß der Echtheit dieses Gefühls; daß es bestand, möchte ich nicht leugnen. Je hinreißender der Traum, desto schrecklicher war das Erwachen. Ohne eine Würdigung dieser Mischung von echtem Glücksverlangen und Selbstbetrug kann man dem deutschen Judentum dieser Zeit nicht gerecht wer­ den. Die Erkenntnis des Scheincharakters dieser Utopie nahm in den letzten Jahren vor Hitler einen besonders starken Aufschwung, wie nicht nur die Geschichte vie­ ler Nachkommen aus den vorerwähnten Gruppen und Randschichten, sondern auch die in erstaunlich kurzer Zeit erfolgende totale Wandlung ganzer assimilatori­ scher Gruppen zum Zionismus erweist. Dafür liefert die Geschichte der verschiedenen Organisationen der jüdischen Jugendbewegung zwischen 1923 und 1933 markante Beispiele, wie etwa die Wendung der soge­ nannten neutralen jüdischen Jugendvereine oder die ei­ nes Großteils der vorher antizionistischen »Kamera­ den«. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Entwick­ lung der Stellung der jüdischen Intellektuellen zu. De­ ren größter Teil war führend in der assimilatorischen und antizionistischen Schicht. Zum Teil verhielten sie sich jüdischen Anliegen gegenüber gänzlich indifferent *13

und verlegten ihre Aktivitäten auf das allgemeine poli­ tische und kulturpolitische Gebiet; soweit sie noch jü­ dische Interessen hatten, wirkten sie als ideologische Verfechter der fortschreitenden Assimilation. Es hat unter ihnen auch nicht an Männern und Frauen gefehlt, die als die eigentliche Mission des Judentums mit nicht geringer Emphase gerade die Selbstaufgabe zugunsten der Menschheit empfahlen. Die Verwirkli­ chung des Judentums bestehe in dessen Verschwinden, in der Assimilation, in der sich der Stolz auf das jüdi­ sche Erbe im Verzicht darauf herrlich dokumentiere. Das waren Vorstellungen, wie sie schon in dieser Peri­ ode und bis in die Hitlerzeit hinein von einer so stolzen Jüdin wie Margarete Susman entwickelt worden waren, obwohl das Perverse dieser Ideen zutage lag. Aber die sozialistischen Vorstellungen von der Lösung der Ju­ denfrage auf dem Wege der Lösung der sozialen Frage lagen, soweit sie am Anfang dieses Jahrhunderts vorge­ tragen wurden, ungefähr in der gleichen Richtung, nur wurde dort die Forderung oder Prophezeiung der Auf­ lösung alles Jüdischen unverstellt und ohne Aufwand an subtilen Paradoxien verkündet. Daß viele Intellektuelle unter den Gelehrten, Schrift­ stellern, Publizisten und Künstlern ihr Judentum als eine zufällige, gleichgültige und in nicht seltenen Fällen auch zu verleugnende Sache empfanden, ist wohl be­ kannt. Solche Gefühle waren hier stärker artikuliert (und daher in der nichtjüdischen Umgebung sichtba­ rer) als in der bürgerlichen Schicht, wo sie keineswegs fehlten, aber weniger auffielen. Meinen eigenen Erfah­ rungen nach würde ich sagen, daß in dieser breiten Schicht Intellektuelle angesehen und geschätzt wurden, die ihr Judentum nicht unter den Scheffel stellten, son­ dern eher mit einem gewissen Aplomb unterstrichen. 254

Autoren wie Rudolf Borchardt, Weininger oder Tu­ cholsky, um nur drei sehr weit voneinander entfernte bedeutende Repräsentanten der ersten Gattung zu nen­ nen, wurden in der Schicht des Bürgertums, von der wir hier sprechen, kaum gelesen, während Figuren wie Alfred Kerr, Lion Feuchtwanger und sogar, für den heutigen Betrachter fast unfaßbar, Emil Ludwig im jü­ dischen und nichtjüdischen Bürgertum gleicherweise außerordentlich erfolgreich waren. Die Haltung der jüdischen Bürgerschicht zur jüdischen Geschichte ist durch den Widerspruch gekennzeichnet, der hier herrschte und von dem ich viele Beispiele erlebt habe, nämlich durch den Widerspruch zwischen dem Wunsch, die eigene Geschichte nach Möglichkeit zu vergessen, und der Scheu weiter Schichten, die nicht so weit gehen wollten, sondern vielmehr in dem Bewußt­ sein lebten, von einer ganz anderen Vergangenheit als der deutschen mitgeprägt zu sein. Freilich herrschte da­ bei ein Geschichtsbild, das den liberalen und aufkläre­ rischen Humanismus in die eigene Geschichte hinein­ zuinterpretieren versuchte und in dem daher der Stolz auf die intellektuelle Bildung der Vorväter ebenso wie auf ihre Leiden eine zentrale Stelle behauptete. Diesem Geschichtsbild fehlten viele wichtige Züge, aber seine außerordentliche Wirksamkeit in dieser Generation läßt sich nicht abstreiten. Sentimentalität traf sich hier mit einem Bewußtsein historischer Dignität, deren Konglomerat in vielen Familien lebendig blieb. Die »Vereine für jüdische Geschichte und Literatur«, deren Vorträge in dieser Zeit in vielen jüdischen Gemeinden einen bescheidenen, aber nicht ganz unerheblichen Zu­ lauf hatten, erreichten ein Publikum, das für dieses Ge­ schichtsbild empfänglich war. Es ist durchaus kein Wunder, daß diese Schichten in Männern wie Moritz *55

Lazarus, Hermann Cohen und später Franz Rosen­ zweig, deren wichtigste Schriften ihnen so gut wie un­ verständlich sein mußten, dennoch ihre »gebildeten« Sprecher sahen. Dabei klaffte oft ein Abgrund zwi­ schen den Formen oder Formeln der deutsch-jüdischen Assimilation und dem teilweise unbewußt gewordenen jüdischen Gefühl. Dieses Gefühl war in den literarisch untalentierten Schichten dumpfer und untergründiger als bei den Talenten, die sie als repräsentativ für sich selbst empfanden - vielleicht gerade, weil sie in der jü­ dischen und der nichtjüdischen Bourgeoisie mit glei­ chem Eifer gelesen wurden. Ausgezeichnete Exempel dafür würde ich in Georg Hermann, Jakob Wasser­ mann und Arthur Schnitzler erkennen, wobei freilich der »Weg ins Freie« von Arthur Schnitzler schon eine tiefgreifende und die Herzen seinerzeit nicht wenig aufwühlende Darstellung der Problematik der jüdi­ schen Situation war. Ganz unrepräsentativ dagegen waren für diesen Kreis Autoren wie Walter Rathenau, dessen tiefes Ressentiment ihn für die jüdischen Bürger weit mehr ungenießbar machte als die in seinen Schrif­ ten vorgetragenen Anschauungen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verteilten sich die Gewichte jüdi­ scher Repräsentation oft ganz anders, was für eine un­ befangene Diskussion der sozialpsychologischen Rea­ lität der hier betrachteten Periode zu vielen Fehlurtei­ len und Entstellungen führen sollte. Ein Wort sollte ferner über die »Theologie« der assimi­ lierten jüdischen Kreise gesagt sein. Dabei braucht von den Orthodoxen in diesem Zusammenhang nicht die Rede zu sein; sie hielten sich an Moses Maimonides und an Samson Raphael Hirsch, soweit sie sich nicht einfach an das Ritual als solches hielten, ohne sich über dessen theologische Implikationen und Begründungen viele zj6

Gedanken zu machen. Immerhin bleibt bemerkens­ wert, daß in diesen Kreisen damals eine allem Kabbali­ stischen schärfstens abgewandte Haltung herrschte, während andererseits superstitiöse Elemente des Volksbrauchs und auf kabbalistische Ideen zurückge­ hende Rituale noch immer nachwirkten, besonders stark bei den »Landjuden« in Hessen und Franken. Bei den anderen Juden waren in dieser Zeit die Vorstellun­ gen der Offenbarung, der unbedingten Verbindlichkeit des Gesetzes, der Auferstehung der Toten, ja auch die von der Unsterblichkeit der Seele verschwunden. Was blieb? Ich würde sagen: zwei Ideen, beide in vernebel­ ter Form, aber beide verbunden mit einem Anspruch auf eine sogenannte »Mission« der Juden in der Welt, von der noch in dieser Zeit - ein ziemlich wirksames Erbe der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts sehr viel die Rede war, und dies sogar außerhalb der Synagoge, des Religionsunterrichtes oder der jüdischen Publizistik. Bei Gesprächen in Familien, bei Fragen der Kinder an ihre Eltern kam dies immer noch oft genug in einem positiven Sinn zur Sprache. Ich meine damit ein­ mal den Monotheismus und dessen Verbreitung, wobei vom Christentum im allgemeinen mit dem ziemlich zeremoniös verwendeten Begriff der »Tochterreligion« gesprochen wurde. Zweifellos spielten auf dieser Ebene noch immer starke antichristliche Gefühle mit. Die zweite dieser Ideen, die in weitgehend säkularisierter Gestalt noch immer offen oder verhohlen eine Rolle spielte, war der Messianismus. Er fiel in den weitesten Kreisen der jüdischen Bourgeoisie, vergeistigt ausge­ drückt, mit der Vorstellung einer sich immer mehr voll­ endenden Humanität, einem unendlichen Fortschritt zum Glück zusammen. Viele Juden in den Kreisen, in denen ich aufwuchs, dachten noch immer - um mit

Heinrich Heine zu sprechen, der diese Vorstellung et­ was zynischer formulierte die »Mission der Juden« sei mit der Ankunft des »weltlichen Heilands«, nämlich des unbeschränkten technischen Fortschritts, beendet. Es ist aber wahr, daß etwas vom messianischen Pathos gerade bei Juden in säkularisierten Formen fortlebte. Das galt ebenso für die nicht ganz ernstzunehmende Phraseologie des Reformjudentums und die Religion der Kommerzienräte wie für die jüdischen Sozialisten. Gerade in deren Kreisen begann die Gleichsetzung von Revolution mit säkularisiertem Messianismus, wobei der theologische Begriff natürlich verschwand, die Sa­ che selber aber noch immer eine große Bedeutung hatte, wenn es um die Bestimmung und den Inhalt einer Menschheit und ihrer Humanität ging, die durch die Revolution hindurchgegangen war. In der Generation, die dem Ersten, und vielleicht noch mehr in der, die dem Zweiten Weltkrieg folgte, haben diese Aspekte dann eine besonders zentrale Bedeutung gewonnen. Wie es an den Grenzen der jüdischen Assimilation viele Intellektuelle gab, die sich den Fragen des Judentums völlig entzogen oder eine dem Jüdischen gegenüber kritische und oft genug abfällige Haltung einnahmen, so gab es am anderen Pol des jüdischen Spannungsfel­ des eine kleine, aber durchaus vernehmbare Gruppe, die sich dem Jüdischen überhaupt oder in einem seiner Aspekte leidenschaftlich zuwandte und zum größten Teil bei den Zionisten endete. Dazu gehörten Men­ schen des verschiedensten Niveaus von Martin Buber, Arnold Zweig und, wohl am tiefsten, Franz Kafka, bis zu dem Journalisten Moritz Goldstein, der 1912 jene bittere Kontroverse in der Zeitschrift »Der Kunstwart« auslöste, die an einen besonders wunden Punkt der jü­ dischen Stellung in Deutschland rührte. Er stellte sich

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nämlich die Frage, was man von dem Faktum zu halten habe, daß der deutsche Kulturbesitz jener Generation zu einem sehr großen Teil von Juden verwaltet würde, denen die überwiegende Majorität des deutschen Vol­ kes die Berechtigung dazu abspreche. Die unerwartete Offenheit, mit der hier ein Jude, der sich nichts vorma­ chen wollte, ein Tabu durchbrach, das sonst nur in bös­ artiger Tendenz von den Antisemiten verletzt wurde, beleuchtete blitzartig die sozialpsychologische Span­ nung, die hier wirksam war. Und noch bezeichnender war vielleicht die erbitterte Reaktion gerade der mei­ sten jüdischen Teilnehmer an dieser Diskussion, die die These selber bestritten, die Fragestellung für unerlaubt erklärten und die aufgerissenen Grenzen mit Macht wieder zu verwischen suchten. Aber in der kleinen Gruppe, die ich hier ins Auge fasse, gab es auch Men­ schen, die nach manchen Wandlungen bei der jüdi­ schen Orthodoxie endeten. Ein orthodoxer Jude mei­ ner Generation, Uriel Birnbaum, hat in deutschen Ver­ sen verkündet, daß »Einstein, Marx, Spinoza, Herzl und Freud das Volk Gottes mit Schmach beladen ha­ ben« - jawohl, mit Schmach. Auch das hat es in der gro­ ßen Stadt Wien gegeben. Umgekehrt gehört es zu den erstaunlichsten Zügen der Intellektuellen in dieser Ge­ neration, daß ihnen das Judentum oft so wenig bedeu­ tet hat, daß sie es aus ihrem Bewußtsein auszuschließen suchten und oft genug mit tiefem Ressentiment be­ trachteten - meistens stumm, seltener, dann freilich um so vehementer, artikuliert. Dieses Ressentiment ent­ sprach zwar nicht dem politischen, wohl aber dem me­ taphysischen Antisemitismus. Weisheit war einer der schönsten und ergreifendsten Züge großer Sprecher der jüdischen Überlieferung. Nur selten kann man sie jedoch bei der Hauptgruppe

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der jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts fin­ den, wie etwa bei Moritz Heimann und in der nächsten Generation hie und da bei Ernst Bloch. Sosehr es jenem Uriel Birnbaum an Weisheit mangelte, obwohl er die Worte unserer Weisen stets im Munde führte, so wenig Weisheit kann man auf der anderen Seite jenem Ludwig Marcuse nachsagen, der sich für einen Philosophen hielt und von dem die denkwürdige Frage stammt, ob nicht die Zähigkeit, mit der die Juden, »die immerhin den zähesten Irrtum, den Monotheismus, in die Welt gesetzt haben«, an ihm festhielten, eher ein Beweis ge­ gen diese These sei als einer für sie. Es ist heute leichter zu erkennen als früher, daß es im seelischen Haushalt der assimilierten deutschen Juden etwas konfus zuging und daß dieses Durcheinander verursacht wurde von jener Neigung zur Integration in eine andere gesell­ schaftliche und traditionsbestimmte Gruppe - bei gleichzeitiger Flucht vor dem eigenen Selbst. Man darf aber nicht vergessen, daß die Analyse der deutsch-jüdischen Autoren, und schon gar nicht die der sogenannten Avantgarde, für die soziale Psycholo­ gie nur selten wirklich charakteristisch ist. Weder im Guten noch im Bösen spiegeln sie die wirkliche Lage wider, und gerade in den Autoren, die jetzt am meisten zitiert werden, hätten sich die Juden des deutschen Sprachraums am seltensten wiedererkannt. Der Vater von Kafka, hätte er den berühmten Brief seines Sohnes an ihn zu lesen bekommen, würde ihn nicht verstanden haben. Der Vater von Buber schrieb seinem Sohn, er möchte doch weniger verstiegene jüdische Sachen schreiben; und wenn man Kleines mit Großem verglei­ chen darf, so ist es sehr vielen von uns mit unseren Fa­ milien ähnlich gegangen. Unsere Eltern, wenn ich zu­ sammenfassen darf, glaubten zu wissen, was sie woll260

ten, aber sie täuschten sich dabei weniger über ihre Umgebung, über die viele von ihnen kaum Illusionen hatten, als über sich selbst. Manche werden sagen, sie konnten den Preis für die Erreichung ihres Zieles nicht aufbringen; manche werden eher sagen, sie wollten es nicht, obwohl sie es sich einredeten. Aber diese Selbst­ widersprüche und Abgründe in ihnen waren die Ursa­ che dafür, daß sie Unklarheit und Verschwommenheit der Klarheit vorgezogen haben und wenig für jene üb­ rig hatten, die in diese Situation hineinleuchten woll­ ten.

Drei Typen jüdischer Frömmigkeit I

Ich möchte mit einer Erzählung aus dem Talmud be­ ginnen.

»Rabbi öffnete seine Speicher in den Jahren der Hun­ gersnot und sprach: Es mögen die Schrift-, Mischna-, Talmud-, Halakha- und Agadakundigen eintreten, Leute aus dem gemeinen Volk aber sollen nicht eintre­ ten. Da drang Rabbi Jonathan ben Amram vor und trat ein, indem er zu ihm sprach: Meister, speise mich. Jener fragte: Hast du die Schrift gelesen? - Nein. - Hast du die Mischna gelernt? - Nein. - Wenn dem so ist, wor­ aufhin soll ich dich speisen? - Speise mich gleich einem Hund oder einem Raben. Als er fort war, saß Rabbi und grämte sich, indem er sprach: Wehe mir, daß ich mein Brot einem Menschen aus dem gemeinen Volk verabreicht habe! Da sprach R. Simon ben Rabbi zu ihm: Vielleicht ist es dein Schüler, Jonathan ben Am­ ram, der aus der Ehre der Gesetzeskunde keinen Vor­ teil ziehen will? Sie forschten nach und es stellte sich heraus. Darauf sprach Rabbi: Es mag jeder eintreten.«1 Man kann eine Religion und ihre besondere Welt von vielen Gesichtspunkten aus ansehen. Man kann ihre Theologie und ihr Dogma beschreiben und analysie­ ren, das heißt ihre Lehre von Gott und der Schöpfung und von der Stellung des Menschen in diesem System. Man kann auch ihr Ritual und ihre Lebensordnung be­ schreiben; besonders von der Liturgie und dem Leben, 1 b. Baba Bathra 8a.

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das sich in ihr reflektiert, ließe sich sagen, daß sie oft ei­ nen getreuen Spiegel des geistigen Lebens einer Reli­ gion bildet. Einige der besten Werke über Judentum und Christentum haben die besondere Farbe des Le­ bens solcher Gruppen herausgearbeitet, indem sie die Liturgie einer genauen Untersuchung unterzogen. Aber das ist es nicht, was ich hier zu tun gedenke. Ich möchte über die Grundhaltungen sprechen, über die idealen Menschentypen, wie sie sich in der Geschichte des rabbinischen Judentums entwickelt haben, und ich möchte die Spannungen diskutieren, die zwischen ihnen entstehen können. Die Grundspannung in der religiösen jüdischen Gesellschaft ist jene zwischen rationalen und emotionalen Faktoren, rationalen und irrationalen Kräften. Die Idealtypen, die in dieser Gesellschaft geformt werden, reflektieren notwendi­ gerweise eine solche Spannung. Oder anders ausgedrückt: wie haben die Juden sich selbst gesehen? Was waren die Idealtypen jüdischer Frömmigkeit, die das Judentum in seinen klassischen Formen in den letzten zweitausend Jahren ausgebildet hat? Solche Menschentypen verkörpern eine Skala mehr oder weniger unabhängiger höchster Werte, die anderen als nachahmungswertes Exempel oder über­ haupt als erstrebenswert vorgestellt wurden. Wo wir solche idealen Höchstwerte im menschlichen Leben realisiert finden, gewinnen wir einen Einblick in die Be­ deutung, die lebendiges Judentum für seine Anhänger hatte. Ich glaube, es kann keinem Zweifel unterliegen, wel­ ches diese Typen des idealen Juden sind. Ich spreche, um die entsprechenden hebräischen Begriffe zu ver­ wenden, vom talmid chacham, dem rabbinischen Ge­ lehrten, oder, wie man im Deutschen gern sagte, dem 263

»Schriftgelehrten«; vom zaddik, dem »Gerechten«, und vom chassid, einem schwer zu übersetzenden Be­ griff, dessen Bedeutung uns aber sehr klarwerden wird. Alle haben wir einen mehr oder weniger klaren Begriff von diesen Worten, doch wollen wir sie einigermaßen genauer betrachten, um ihre Bedeutung zu erfassen. Ich möchte im voraus betonen, daß ich hier nicht die bi­ blische Religion bespreche, sondern das Judentum in seinen talmudischen und rabbinischen Formen, denen jüdische Philosophie und jüdische Mystik weitere Di­ mensionen verliehen haben, ohne sie in ihrer Grund­ substanz zu verändern. Aus diesem Grunde spreche ich in diesem Zusammen­ hang nicht vom Propheten als einem der Idealtypen. Die Gabe des Propheten wird vom Judentum nicht als eine Eigenschaft gesehen, die man sich erwerben kann, die als ein Endziel religiösen Strebens verstanden wird. Der Prophet ist ein Mann, den Gott für eine Sendung zu Seinem Volk auserwählt hat, wobei seine persönli­ che Vorbereitung auf eine solche Sendung (oder deren Fehlen) nicht ins Gewicht fällt. Weder können Schüler auf ein solches Ziel hin erzogen werden, noch kann man sich selbst in dieser Richtung vervollkommnen. Prophetie steht jenseits der Person, ist nicht vorauszu­ sehen, und auch kein Stand, der durch eine bestimmte Geisteshaltung aufrechterhalten werden kann oder ad libitum erreichtbar ist. Es mag eingewandt werden, daß man zu biblischen Zeiten Prophetenschulen hatte, doch stehen diese in keiner Beziehung zum Judentum als historischem Phänomen, wie es sich nach dem baby­ lonischen Exil kristallisierte. Spätere Philosophen des Judentums wie Maimonides haben in der Prophetie tat­ sächlich einen höchsten Stand geistiger Entwicklung gesehen, der aber zu unserer Zeit und am gegebenen

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Ort nicht angestrebt werden kann. Er gehörte der Ver­ gangenheit an, in die schöpferischen Perioden der Of­ fenbarung, oder, in anderen Worten: die Prophetie ge­ hörte zur biblischen Theologie, nicht aber zu den kon­ kreten Erfordernissen im Rahmen unserer jeweiligen oder heutigen jüdischen Existenz. Als erstes habe ich die Gestalt des talmid chacham ge­ nannt, den Schriftgelehrten oder, um den überaus be­ scheidenen Begriff wörtlich zu übersetzen: den »Schü­ ler eines Weisen«. Wie ist dieser Begriff zu verstehen? In erster Linie handelt es sich hier um einen intellektu­ ellen Wert sowie einen Wert des Kontemplativen. Hier findet keine wesentliche Beziehung zu einer emotionel­ len Werteskala statt. Was wird von dem Gelehrten er­ wartet? Geistige Anstrengung und Konzentration. Er studiert die Schrift und die Tradition und beherrscht alle Wege und Mittel, durch die sich diese beiden Sphä­ ren - oder besser: diese Quellen religiösen Lebens im Judentum - verbinden lassen. Hier lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten. Das Judentum besitzt wie andere Offenbarungsreligionen einen Kanon, eine offi­ zielle Sammlung heiliger Schriften, und die Heilige Schrift enthält die Wahrheit über das menschliche Le­ ben. Die Grundvoraussetzung einer religiösen Verfas­ sung, die auf Offenbarung und Tradition gründet, wie es das geschichtliche Judentum zweifellos tut, kann auf eine einfache und doch weitreichende Formel gebracht werden. Die Wahrheit ist seit Anbeginn und für alle Zeit vorgegeben und offenbar. Sie braucht nicht ent­ deckt zu werden, sie ist bereits niedergelegt. Die große Aufgabe besteht in ihrer Überlieferung und dem Auf­ finden ihrer Bedeutung für alle folgenden Generatio­ nen. Der moderne Mensch neigt zu einer hohen Wertschät265

zung der Originalität. Es muß jedoch betont werden, daß die großen Religionen in der Originalität niemals einen hohen Wert gesehen haben. Sie glauben nicht, daß die Wahrheit noch zu entdecken sei: sie liegt vor uns, in der Offenbarung, für jedermann deutlich sichtbar. Hier erleben wir den entscheidenden Zu­ sammenstoß zwischen dem modernen und dem tradi­ tionellen Geist, da sie Originalität und Wahrheitsent­ deckung so verschieden beurteilen. Freilich, selbst im Rahmen der Tradition ist der Originalität noch ein enormer Spielraum gelassen - nur daß sich diese Ori­ ginalität nicht als solche versteht. Sie verbirgt sich vielmehr hinter dem schlichten Begriff des Kommen­ tars, als gelte es, das in der Offenbarung vielleicht nur in allgemeinen Linien Niedergelegte zu deuten und zu entfalten. Die Tradition des rabbinischen Judentums stellt eine Methode dar, den Sinn der Schrift zu erforschen. Im­ mer wieder, und oft auf eine sehr zugespitzte und para­ doxale Weise, hat die Tradition diesen Punkt unterstri­ chen: was immer ein tiefgebildeter und echter Schrift­ gelehrter über ihre Bedeutung und über ihren Sinn in einer bestimmten Zeit aussagen kann, war irgendwo in der Schrift selbst verborgen und gehört der Offenba­ rung in ihrem weiteren Sinne an, der auch jenen Teil umfaßt, der im Judentum die mündliche Lehre, torah scheb’alpeh, genannt wird. Ich möchte das anhand ei­ ner berühmten Geschichte illustrieren, die im Talmud über Rabbi Akiba aus dem zweiten Jahrhundert erzählt wird, das heißt über einen Mann, der stets als die voll­ endete Verkörperung des talmid chacham angesehen wurde und der mehr als jeder andere große Lehrer des Judentums zur Kristallisierung der rabbinischen Tradi­ tion zu einem System von außerordentlicher Lebens266

kraft beigetragen hat. Hinter der Einfachheit dieser Er­ zählung stecken doch auch Tiefe und ein Anflug von Ironie. »Als Moses in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, ge­ priesen sei er, dasitzen und Krönchen für die Buchsta­ ben winden. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, wer hält dich zurück? (D. h. fehlt etwa etwas in der Tora, die du geben willst, daß diese Krönchen über den Buch­ staben nötig sind?) Er erwiderte: Es ist ein Mann, der am Ende von vielen Generationen sein wird, namens Akiba ben Joseph, der dereinst über jedes dieser Häk­ chen Haufen über Haufen von Lehren vortragen wird. Da sprach jener von ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Dreh dich um. Da kehrte er um und setzte sich hinter die achte Reihe. Er verstand aber ihre Diskussion nicht und wurde darüber bestürzt. Alsdann gelangte Akiba zu einem Gegenstand, und seine Schü­ ler fragten ihn, woher er dies wisse; da erwiderte er ih­ nen: es ist eine dem Moses am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde er beruhigt. Hierauf kehrte er um, trat vor den Heiligen, gepriesen sei er, und sprach vor ihm: Herr der Welt, du hast einen solchen Mann und gibst die Tora durch mich! Er erwiderte: Schweig, so kam es mir in den Sinn.«2 Der wahre talmid chacham, wie ihn die Tradition ver­ steht, kann nicht etwas vollständig Neues sagen, son­ dern nur längst Bekanntes, das sich in den Quellen der Offenbarung findet. Seine besondere Aufgabe in der Welt des Judentums ist somit eine doppelte. In erster Linie arbeitet er die Implikationen der Tora heraus, ge­ winnt volle Herrschaft über die Kunst, den heiligen 2 b. Menachoth 29b.

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Text zu lesen und zu interpretieren. In zweiter Linie kann er seine Interpretation auch den sich wandelnden Bedürfnissen der Gemeinde anpassen. Damit sind wir bei einem weiteren Punkt: der wahre Weise, der so be­ scheiden nur als »Schüler der Weisen« bezeichnet wird, ist der Lehrer seiner Gemeinde. Sein Wesen ist nicht das eines Propheten; was ihn auszeichnet, sind seine Nüchternheit und seine Rationalität, die es ihm ermög­ lichen, die überkommenen und traditionellen Werte zu erhellen. Die Klarheit seines Geistes macht ihn zu ei­ nem Lehrer, der diese Werte der nächsten Generation übermittelt. Es ist nicht Selbstlob, wenn er sich bei sei­ nem wahren Namen nennt. Wir würden es seltsam fin­ den, wenn jemand von sich behauptete, er sei ein zaddik oder ein chassid, und dieses Selbstzeugnis würde sich in unseren Augen selbst disqualifizieren. Doch der Talmud sagt: kommst du an einen fremden Ort, wo man dich nicht kennt, so darfst du sagen: ich bin ein Schüler der Weisen. Die Nüchternheit, die ich erwähnt habe, und die Zurückhaltung, mit der dieser Typus be­ schrieben wird, läßt sich an dem höchsten Lob ablesen, das man während langer Generationen des europäi­ schen Judentums einem Menschen mit dem täuschend einfachen Satz spenden konnte: »Er kann lernen.« Eine bescheidenere Formel zum Ausdruck höchster Wert­ schätzung läßt sich kaum finden. Das kleine Wort »ler­ nen« bekommt in diesem Sprachgebrauch gewaltige Bedeutung; es bedeutet nicht nur »studieren«, sondern es impliziert vollständige Meisterschaft in der intellek­ tuellen Tradition des Talmudgelehrten. Von wem das gesagt werden kann, der ist zugleich auch der Lehrer seiner Generation. Der Schriftgelehrte, wie ich ihn hier zu beschreiben versuchte, stellte gleichzeitig ein Ziel der Erziehung 268

dar, ich würde sagen, das höchste Erziehungsziel, das die Juden in den letzten zweitausend Jahren ihrer Ge­ schichte gekannt haben. Daß dieser jüdische Idealtypus über eine so lange Zeit und während einer so wechsel­ vollen Geschichte eine ungebrochene Macht ausüben konnte, zeugt meiner Meinung nach von der außeror­ dentlichen Vitalität, die in seine Ausbildung eingegan­ gen ist. Hier war ein Ideal, zu dem man Menschen er­ ziehen kann, und es war möglich, Institutionen zu ent­ wickeln, in denen es erreicht werden konnte. Es ist ein Ideal, das bindend wurde für Juden in der ganzen Welt, sei es im Jemen oder in Rußland, in Babylonien oder in Frankreich. Noch heute ist die Macht dieses Ideals weitgehend ungebrochen, obwohl während der letzten Generationen die Ideale des jüdischen Lebens sehr ge­ litten haben und wir die Zeugen revolutionärer Verän­ derungen geworden sind, die in Israel und in der Dia­ spora an den Grundlagen rütteln, auf denen dieses Le­ ben aufbaute. Doch darf gesagt werden, daß die Zahl der Schüler, die in Israel die Jeschiwa besuchen - jene Institution, die der Hervorbringung dieses Idealtypus dient - nicht weit unter der Zahl der Studenten an den weltlichen Institutionen höherer Bildung liegt. Zu­ gleich ist es ein bedeutsames Indiz für die Tiefe der Krise in unserer Zeit, daß diese Institutionen weitge­ hend die zentrale soziale Funktion eingebüßt haben, die ihnen ihre ruhmreiche Stellung in unserer Ge­ schichte eingetragen hat. Der talmid chacham hielt eine zentrale Stellung in der jüdischen Gemeinde, er besaß Autorität in der Welt der Tradition, doch wich er nie­ mals seiner Verantwortung aus, den Geist der alten Tora in seiner eigenen Zeit zu verwirklichen. Es ist die­ ses Ausweichen, diese Flucht vor der Verantwortung, das einen angesichts des Zusammenstoßes der Ideale, 269

den wir heute in Israel erleben, besonders beunruhigen muß. Ich habe betont, daß die Gestalt des talmid chacham eine tiefe rationale Bedeutung hatte, doch ihre Aura strahlte in der jüdischen Gesellschaft auch weit über ra­ tionale Grenzen hinaus. Der Ruhm der Namen der großen Repräsentanten dieses Typus verbreitete sich überall und machte diese Gestalten Millionen von Menschen geläufig. Der »Gaon« von Wilna oder Rabbi Izchak Elchanan, der Rabbi von Kowno, um nur zwei hervorragende Beispiele zu nennen, waren solche Repräsentanten des talmid chacham im polnischen Ju­ dentum. Es hat seit den ersten Tagen des Christentums nicht an Kontroversen über den Wert dieses Phänomens ge­ fehlt. Es bot Angriffsflächen, lud, möchte man sagen, geradezu zum Angriff ein - von einem mehr emotiona­ len Standpunkt aus und von Seiten derer, die das Zen­ trum der Religion und des religiösen Lebens in mehr emotionalen Sphären suchten. Es ist nicht meine Sache, in dieser Diskussion Partei zu ergreifen. Ich wollte nur das Verständnis der Struktur des Aufbaus und der Bedeutung dieses Typus erleichtern, der dem jüdi­ schen Volk jene besondere Schicht von Intellektuel­ len gegeben hat, für die es gepriesen oder verdammt wurde.

II

Die Besprechung der beiden anderen Idealtypen, zaddik und chassid, führt in eine andere Sphäre. Die Werte, die sich mit dem »Schüler der Weisen«, dem Schriftge­ lehrten, verbinden, gehören wie gesagt in den Bereich 270

des kontemplativen Lebens. Der Gelehrte tritt ein in die Welt der Tora, die für ihn der Weg zu einer rein spi­ rituellen Existenz ist. Er studiert Handlungen, aber er ist nicht an ihren aktiven Eigenschaften interessiert; er verwandelt sie in Objekte der Kontemplation, der in­ tellektuellen Konzentration und der besonnenen Durchdringung. Der zaddik und der chassid dagegen weisen sich nicht durch ihr intellektuelles Vermögen aus, sondern in der aktiven Erfüllung ihrer religiösen Pflichten. Sie sind, um es kurz zu sagen, Ideale eines ak­ tiven Lebens. Natürlich schließen sich diese Typen nicht gegenseitig aus. Ein Gelehrter kann sehr wohl zu­ gleich ein zaddik oder ein chassid sein und umgekehrt. Zur Rechtfertigung dieser Namen muß er an deren ei­ genen Werteskalen gemessen werden. Während der talmid chacham einen intellektuellen Wert in seiner Voll­ endung darstellt, verkörpert der zaddik oder der chas­ sid Werte, die wir ethisch nennen würden, die Werte der Tat. Im allgemeinen Sprachgebrauch und in einigen Teilen der älteren rabbinischen Quellen lassen sich keine ein­ deutigen Grenzlinien zwischen den beiden Begriffen ziehen. Es besteht eine Tendenz, den zaddikim eine ungemeine große Zahl von Tugenden zuzusprechen, wo­ bei die Begriffe sehr oft austauschbar werden. Die gro­ ßen Gestalten der biblischen Literatur werden von der Tradition fast immer als zaddikim gekennzeichnet, doch andererseits beginnt der Talmud eine außeror­ dentliche Erzählung über eine besondere religiöse Lei­ stung oder ein Wunder, das einem Frommen wider­ fuhr, meist mit den Worten: ma’asseh bechassid echad, »man erzählt von einem chassid...« Doch kann mit Si­ cherheit gesagt werden, daß sich im religiösen Bewußt­ sein des Judentums, wie es sich seit der Zeit des Talmud 271

entwickelte und im Mittelalter kristallisierte, der Un­ terschied zwischen diesen beiden Typen und ihren be­ sonderen Merkmalen immer deutlicher herausschälte. Insbesondere haben wir eine sehr große Literatur über das ethische Verhalten und die moralischen Ideale im rabbinischen Judentum, eine Literatur, die sich weit über tausend Jahre erstreckte und sich in erster Linie gar nicht an den Gelehrten, sondern gerade an den in jüdischen Dingen mittelmäßig oder wenig Gebildeten wandte. Diese Literatur, mehr noch als die halachische oder talmudische, die nicht allen verständlich war, trug die Botschaft des Judentums weitesten Kreisen zu. In diesen Quellen, doch auch in vielen anderen Doku­ menten des zeitgenössischen jüdischen Lebens, wird die Unterscheidung der beiden Typen sehr deutlich. Mitunter bilden sie noch die beiden Teile einer For­ mel (wie in dem Teil des täglichen Schmoneh-EsrehGebetes, das mit den Worten beginnt: al hachassidim we’al hazadikkim), doch werden sie nicht als Synony­ me verstanden, sondern als wesentlich verschiedene Begriffe. Der Begriff zaddik kommt aus der Gerichtssprache. Ein zaddik ist ein Mann, der vor Gericht stand und »nicht schuldig« befunden wurde. In diesem sehr nüch­ ternen Sinn hat der Begriff Eingang in die jüdische Ethik gefunden. Der zaddik ist der Jude, der versucht, nach den Geboten des Gesetzes zu leben. Jeder, der vor Gottes Gericht bestehen würde, weil er zumindest mehr als die Hälfte Seiner Gesetze eingehalten hat, würde in den Augen Gottes ein zaddik sein. Wenn sich die Waagschale um ein Geringes zu seinen Gunsten senkt, gehört er zu den zaddikim. Wir Sterbliche kön­ nen freilich nicht wissen, wie die Waagschalen Gottes ausschlagen werden. In den Augen seiner Mitmenschen 272

ist jeder ein zaddik, der sich nach bestem Wissen und Gewissen um die Einhaltung der Gesetze bemüht. Für ihn haben alle Gebote und Pflichten ein gleiches Ge­ wicht; er achtet alle in gleicher Weise, ohne einen be­ sonderen Teil vorzuziehen. Um das zu erreichen, be­ darf er keiner besonderen Gnade. Jeder ist verpflichtet, nach seiner besten Fähigkeit zu handeln, und jeder ist mit genügend Kraft und Urteilsvermögen ausgestattet, um einen erfolgreichen Versuch zu unternehmen. Es mag ihm nicht völlig gelingen, denn es gibt viele Fallen und Gefahren auf dem Wege des Menschen. Aber der zaddik verliert das Ziel nicht aus den Augen; er mag »sieben Male straucheln«, aber das wird ihn nicht auf seinem Weg aufhalten, und stets wird er seine Kräfte zwischen den mannigfaltigen Aufgaben zu verteilen su­ chen, die zu erfüllen er aufgerufen wird. Er bringt har­ monische Ordnung in sein Leben, zumindest bemüht er sich um sie, und seine Mühen tragen Früchte. Diese Ordnung ist die Ordnung der Tora, ein umfassendes Ideal der Harmonie in den Taten und Handlungen des Menschen, das keinen Platz läßt für Extravaganz. Der zaddik, wie der Talmud sagt, soll kein Mann des Wor­ tes sein, sondern ein Mann der Tat. Er mag ein großer Gelehrter sein in dem oben beschriebenen Sinne, doch selbst wer keine intellektuellen Leistungen aufzuwei­ sen hat, kann ein zaddik sein. Und selbst wenn er seine Aufgabe vollständig erfüllt und dabei in vorbildlicher Weise erfolgreich ist, bleibt er doch nur ein zaddik und nichts weiter. Doch das ist sehr viel im Sinne der jüdi­ schen Ethik. Der zaddik, um es etwas zugespitzt zu formulieren, ist das Ideal des gewöhnlichen Juden, und wenn er dieses Ideal erreicht, so ist er doch immer nur die Verkörperung des gewöhnlichen Juden in seiner höchsten Vollendung. Hier haben wir den Kernpunkt,

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den die Tradition unserer reichen Moralliteratur immer wieder betont. Im moralischen Bereich enthält das Ideal des zaddik je­ doch ein Element, das sich auch im Ideal des Gelehrten findet. Es ist dies die Nüchternheit des Ideals, dem je­ der Gefühlsüberschwang fehlt. Der Gerechte vollzieht seine Handlungen in völliger Ausgeglichenheit, eine tiefe Ruhe und Gelassenheit erfüllt ihn, wie intensiv auch sein Drang sein mag, das göttliche Gebot zu erfül­ len. Nie verliert er seine Selbstkontrolle. So ist es zu verstehen, daß die jüdische Tradition in der Gerechtig­ keit, der Eigenschaft des zaddik, etwas Erlernbares sieht, ein Ziel, auf das Erziehung und Übung hinführen können. Die klassischen Handbücher jüdischer Ethik beschreiben eine solche Ausbildung, die in den Stand des zaddik erheben kann, und keines von ihnen in prä­ gnanterer Form als der berühmte Traktat des italieni­ schen Dichters und Mystikers Moses Chaim Luzzatto, Messillat Jescharim (Der Weg der Aufrechten, 1740), zweifellos eines der edelsten Dokumente der hebräi­ schen Literatur. Der Verfasser versucht, die beiden Ideale des talmid chacham und des zaddik miteinander zu verbinden, und führt den Anfänger schrittweise an dieses doppelte Ziel heran, das in der Reichweite menschlicher Vernunft und Willensanstrengung liegt. Oder, um es in den Worten eines anderen Moralisten, Bachja ben Ascher, zu sagen, der fünfhundert Jahre vor Luzzatto lebte: »Das Grundprinzip der Tora und seine Formulie­ rung liegt in dem Gebot, daß der Mensch seine Leiden­ schaften und seine Naturtriebe brechen sollte, um sie der Herrschaft der vernünftigen Seele zu unter­ werfen. Wem es gelingt, seine Vernunft zum Herr­ scher über seine Triebe zu machen, wer das Tier in 274

seinem Wesen unterwirft, den nennt man zaddik.«? Diese ausgeglichene und abwägende Funktion des zaddik, der durch seine Handlungen die Gerechtigkeit för­ dern will, wird allgemein anerkannt und besonders von den Mystikern des Judentums stark hervorgehoben. Vor ungefähr siebenhundert Jahren drückte Josef Gikatilla, einer der großen Kabbalisten, diesen Gedanken in folgenden Worten aus: »Deshalb nennt man die zaddikim Gerechte, weil sie alles in der Welt, in der inneren wie in der äußeren Welt, an seinen rechten Ort stellen, und nichts überschreitet seine Grenzen, und deshalb nennt man sie Gerechte.«4 Diese Definition dominiert weite Bereiche der jüdi­ schen Ethik, besonders der kabbalistischen und chassi­ dischen Ethik. Der zaddik stellt alles an seinen rechten Ort. Das scheint ein sehr einfacher Satz zu sein, doch sollte diese Einfachheit nicht über seine messianische Implikation und die in ihm verborgene utopische Ge­ walt hinwegtäuschen. Denn im Sinne des Judentums ist eine Welt, in der alles an seinem rechten Orte steht, gleichbedeutend mit einer messianischen Welt, einer erlösten Welt. Die Idee des Gerechten ist so mit der messianischen Idee verbunden. Der zaddik, der alles in seine ausgeglichene Ordnung bringt und es den Dingen ermöglicht, in dieser Welt ungestört und ungeteilt ne­ beneinander zu bestehen, führt die Offenbarung der göttlichen Einheit in der harmonischen Einheit der Welt herbei. Die Unordnung in der Welt ist der Grund der Ungerechtigkeit, das Anstößige und Verwerfliche ist mit der Unordnung verbunden. Deshalb ist der Ge­ rechte, dem die Tora Anleitung und Gebot der Ord­ nung ist, darum bemüht, die Welt in Ordnung zu brin3 Kad Ha-Kemacht ed. von Ch. Breit, 1892, Bd. II, Bl. 10a. 4 Gikatilla, Scha’arei Zedek, 178$, Bl. 16a.

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gen und in Ordnung zu erhalten. Seine Taten enthalten einen messianischen Funken.

III Die Erörterung des zaddik hat zum Ideal des Durch­ schnittsjuden geführt, man möchte sagen, zum Ideal des ba’albayit, des Familienvaters und des Bürgers in der Gemeinde. Er prüft seine Schritte, wägt seine Handlungen ab, bedenkt die Forderungen, die an ihn gestellt werden, und in Zusammenarbeit mit anderen seiner Art schafft er so die jüdische Gemeinde in ihrer höchsten Form. Selbstverständlich wird auch er Versu­ chungen widerstehen müssen, muß sich würdig erwei­ sen und große Schwierigkeiten überwinden, aber nichts Außergewöhnliches wird von ihm verlangt. Der chas­ sid, den ich jetzt besprechen will, bildet in der Tat ei­ nen sehr verschiedenen Typus, steht dem zaddik in der Welt menschlicher Werte geradezu polar gegenüber. In der ethischen Literatur des Judentums und anderen Stellen, wo die Begriffe mit einer gewissen Genauigkeit und Sinn für Unterscheidung verwendet werden, nimmt der zaddik eine eindeutig geringere Position ein als der chassid. Während der zaddik das Ideal der Norm bildet, ist der chassid das Ideal der Ausnahme. Er ist der radikale Jude, der seiner geistigen Berufung bis zum Extrem folgt. Der Extremismus dieser Gruppen hat sich im Laufe der Zeit wohl in seiner Erscheinungsart, nicht aber seinem Wesen nach geändert. Im Gegensatz zum zaddik tut der chassid nicht, was von ihm verlangt wird, sondern geht darüber hinaus. Er ist niemals zu­ frieden, den Mittelweg zu gehen, er prüft niemals seine Schritte. Er ist der Enthusiast, dessen Radikalismus 276

und absolute Bindung durch keinerlei »bürgerliche« Erwägungen abgeschwächt werden. Die Zurückhal­ tung, die das Verhalten des zaddik bestimmt, ist seinem Wesen fremd. Er tut alles in der Inspiration spontanen Überschwangs und seelischer Begeisterung. Das hebräische Wort chassid ist nicht leicht zu überset­ zen. In ihm verbinden sich die Begriffe der Nächsten­ liebe, der menschlichen Güte und der Gnade. Wenn wir von Gottes chessed im Gegensatz zu Seiner Gerech­ tigkeit und Strenge sprechen, so meinen wir Seine gren­ zenlose Großzügigkeit, die überschwengliche und spontane Natur Seines Wohlwollens und Seiner Gnade. Die herkömmliche Übersetzung des Wortes chassid, Frommer, gibt die wahre Bedeutung des Wor­ tes nicht wieder. Wenn der Psalmist Gott als chassid be­ zeichnet, meint er natürlich nicht Seine Frömmigkeit, sondern jene anderen, eben beschriebenen Eigenschaf­ ten. Und auch der menschliche chassid repräsentiert in seiner eigenen begrenzten Sphäre diese Grundeigen­ schaften, auf die er sein moralisches Wesen gründet. Er vergrößert die Zahl der Verbote, indem er sich gewisse Dinge verwehrt, die vom Gesetz her erlaubt sind, und er vergrößert die Zahl der Gebote, indem er weit mehr tut, als das Gesetz es verlangt. Er fordert nichts von an­ deren, alles von sich selbst. In der Mischna, in den »Sprüchen der Väter«, findet sich eine berühmte Defi­ nition der vier Eigenschaften des Menschen: »Vier Gesinnungen gibt es bei den Menschen: meines ist mein und deines ist dein - durchschnittliche Gesin­ nung; manche sagen, die Gesinnung von Sodom; mei­ nes ist dein und deines ist mein - ein Mensch aus dem gemeinen Volk; meines ist dein und deines ist dein - ein Chassid; meines ist mein und deines ist mein - ein Bö­ sewicht.«

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Der zaddik folgt einem Gesetz, das für alle verbindlich ist, der chassid dagegen folgt einem Gesetz, das nur ihn bindet. Dadurch gewinnt seine Gestalt oft eine extrava­ gante Dimension, und der Radikalismus seiner Taten ruft nicht selten Gegnerschaft und Opposition hervor. Sein Wesen enthält Elemente des Nonkonformisten und manchmal sogar des heiligen Anarchismus. Gewiß unterwirft er sich in seinem äußeren Verhalten dem be­ stehenden Gesetz in all seiner Strenge, doch über­ schreitet er es in seinem geistigen Eifer. In der rabbinischen Literatur bezeichnet der Begriff chassid niemals nur eine Geisteshaltung, er schließt immer auch den praktischen Aspekt einer seelischen Haltung ein. Die alte Formel im Talmud bringt die beiden Begriffe be­ zeichnenderweise zusammen, chassidim we’anschei ma’asseh, chassidim und Männer der Tat. Dieses radikale Element ist stets spürbar, wenn die gro­ ßen Autoritäten des Judentums vom chassid und von seiner Natur, der chassidut, sprechen. Maimonides er­ klärt5, wer jede mizwah oder jedes Gebot in gleicher Weise beobachte, sei ein zaddik, wer jedoch eine be­ sondere mizwah heraushebe, um sie mit besonderem Eifer zu befolgen, und so den Mittelweg verlasse, sei ein chassid. Hier wird ein besonderes emotionelles Ele­ ment deutlich, das das Wesen des chassid ausmacht. Die Stärke der Emotion, mit der er sich der Erfüllung der Pflichten widmet, die er übernommen hat, macht ihn zu einem Enthusiasten. Immer wieder hören wir von chassidim, die eines der 613 Gebote zu ihrer Lebensauf­ gabe gemacht haben. Sie führen es aus bis in das kleinste Detail. Wenn sie gleichzeitig Gelehrte sind, so arbeiten sie alle Verzweigungen des Gebotes aus und intellek5 Maimonides in seinem Kommentar zur Mischna, Tr. Avoth V §7.

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tualisieren ihren Enthusiasmus. Sind sie ungebildet und trotz eines berühmten Ausspruchs in der Mischna kann auch ein Mann ohne jede Bildung ein chassid sein suchen sie das möglichst größte Anwendungs­ feld für die mizwah, für die sie leben. Unter ihnen fin­ den sich Spezialisten für Krankheit und für Nächsten­ liebe, für Gottesfurcht und für menschliche Güte. Mit der chassidut wählt das Individuum einen leidvol­ len Lebensweg. Es wird sogar gesagt, daß ein besonde­ rer Engel ihn auf diesem Leidensweg führt, damit er die Leiden, denen er sich damit aussetzt, ertragen kann. Wir finden Elemente der Selbstverleugnung und der Askese in dieser Gestalt, und das erklärt meines Erach­ tens eine Erscheinung von höchster Wichtigkeit in der jüdischen Geschichte. Neben aller Wertschätzung des chassidischen Typus läßt sich ihm gegenüber nämlich Zurückhaltung und sogar ein gewisses Mißtrauen be­ merken. Diese Reserve findet ihren Ausdruck in der Tatsache, daß sich mehr als fünfzehnhundert Jahre keine chassidische Gruppe hat organisieren dürfen. Das ist um so auffälliger, da sich sowohl für das sephardi­ sche als auch für das aschkenasische Judentum eine reichhaltige Literatur nachweisen läßt, die den chassi­ dischen Typ als höchst wertvoll propagiert. Eines der berühmtesten Werke der hebräischen Litera­ tur des Mittelalters ist ein ziemlich umfangreiches Buch des Titels Sefer Chassidim (Das Buch der Chassidim).6 Es wurde während des zwölften und dreizehnten Jahr­ hunderts in Deutschland geschrieben und war das zen­ trale Dokument einer religiösen Bewegung, die sich die »Deutschen Chassidim« nannte. Hier wurden die Tu­ genden und Eigenschaften des wahren chassid lobend 6 Siehe mein Werk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Kap. 3, S. 90-91.

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hervorgehoben: der Verzicht auf profane Vergnügun­ gen, die Überwindung der Versuchungen des täglichen Lebens, Unempfindlichkeit gegen Beleidigung und furchtloses Ertragen jeder Schande, stetes Handeln, ohne auf den Normen der strikten Gerechtigkeit zu be­ stehen, und anderes mehr. Obwohl es immer eine Ten­ denz gegeben hat, diesen Eigenschaften einen höchsten Wert beizumessen, ist der chassid doch immer eine au­ ßergewöhnliche und unkonventionelle Erscheinung geblieben, ein durchaus individualistisches und seltsa­ mes Phänomen in seinem Milieu. Es findet sich kein Hinweis auf Möglichkeiten, solche Menschen in einem gemeinsamen Rahmen zu organisieren, es wird ganz im Gegenteil vorausgesetzt, daß jeder chassid nur im Rah­ men der allgemeinen jüdischen Gemeinde tätig sei, ohne den Aufbau einer eigenen Gemeinde anzustreben. Deshalb finden wir solche chassidim überall verstreut, an großen und kleinen Orten, doch zeigt sich deutlich, daß die rabbinische Autorität sich um ihre Integration in die jüdische Gemeinde bemühte und separatistische Tendenzen unterdrückte. Das steht in deutlichem Gegensatz zu ähnlichen Ten­ denzen im Christentum: christlicher Radikalismus hat einen Ausdruck in der Disziplin des Klosterlebens ge­ funden, wo vieles von dem, was wir chassidisches Ver­ halten nennen würden, gepredigt und ausgeübt wurde. Das Judentum hat eine solche Separatorganisation der Männer des Geistes stets abgelehnt. Es widersetzte sich der Entstehung einer gesonderten Klasse, der die Erfül­ lung der Religionspflicht im täglichen Leben oblag, während sich die anderen mehr schlecht als recht über Wasser hielten. Das Judentum ist durch eine große Nüchternheit gekennzeichnet, die trotz aller intellek­ tueller und emotioneller Bindung an religiöse Forde-

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rungen eine Graduierung der religiösen Gesellschaft verhinderte, wie sie für das mittelalterliche Christen­ tum kennzeichnend war. Ganz im Gegenteil versuchte es, die auseinanderstrebenden Elemente in einer einzi­ gen Gemeinde zusammenzuhalten und jedem der drei Idealtypen, dem Gelehrten, dem zaddik und dem chas­ sid, eine organische Funktion in diesem Rahmen zu ge­ ben. Ich habe gesagt, daß die chassidim vereinzelte Fi­ guren waren. Ich möchte das anhand einer sehr authen­ tischen Quelle illustrieren. Wir besitzen Listen der Märtyrer, die in vielen Teilen Deutschlands während der Verfolgungen des zwölften und dreizehnten Jahr­ hunderts umgekommen sind. Viele Gemeinden haben ihre Namen aufgezeichnet, um sie dem Gedächtnis der folgenden Generationen zu bewahren. An den Hohen Feiertagen wurden sie während des Jiskor, der Ge­ dächtnisfeier für die Toten, verlesen. Viele dieser Listen sind uns erhalten geblieben und wurden von den Histo­ rikern veröffentlicht. Sie enthalten die Namen dieser Männer und Frauen, sind aber sehr sparsam in der Er­ wähnung von Ehrentiteln. Sie teilen mit, daß dieser oder jener ein Gelehrter oder ein Rabbiner war, und in den meisten Gemeinden gab es einige dieses Titels. Aber nur in sehr wenigen Fällen, und dort vermutlich als Ausdruck höchster Wertschätzung, ist dem Namen eines Mannes oder einer Frau das Wort chassid oder chassida beigefügt. Keiner dieser chassidim ist gleich­ zeitig als Gelehrter gekennzeichnet - und das zu einer Zeit, als die Ideale des deutschen Chassidismus in die­ sen Gemeinden weit verbreitet waren.7 7 Das trifft oft sogar für spätere Perioden zu. Isaak Markon (Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Bd. 79, 1939» ohne Seitenangabe) hat festgestellt, wie selten die Verwendung des Begriffes chassid in Aufzeich­ nungen der Gemeinden noch zwischen 1650-1750 war.

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Ob einer ein chassid ist oder nicht, hängt wesentlich von seiner Begabung und von seinem Charakter ab. Man hat diese Eigenschaft oder man hat sie nicht. Wenn man sie hat, so kann man sie entwickeln. Doch niemand kann zum chassid erzogen werden, so wie jeder zu ei­ nem zaddik erzogen werden könnte. Bei Rabbi Chaim Vital, einem der größten Kabbalisten von Safed im sechzehnten Jahrhundert, findet sich die folgende In­ terpretation, die die höhere Stellung des chassid deut­ lich zum Ausdruck bringt: »Wer gewissenhaft die 613 Gebote der Tora einhält, wer seine vernunftbegabte Seele zur Vollendung ent­ wickelt, seine guten Eigenschaften aber noch nicht zu seiner eigentlichen Natur gemacht hat und immer noch um sie gegen seine bösen Triebe zu kämpfen hat, dieser wird ein vollkommener zaddik genannt. Doch wenn seine guten Eigenschaften ein integraler Bestandteil sei­ ner Natur geworden sind, wenn sie ihm so natürlich ge­ worden sind, daß er die Tora in lebendiger Freude ein­ halten kann, ohne seine bösen Triebe erst bekämpfen zu müssen, weil sein Körper gereinigt ist, als sei das Gute seine Natur, seitdem er seiner Mutter Leib verlas­ sen hat - dieser ist tatsächlich ein vollkommener chas­ sid. «8 Selbst das berühmte Handbuch der Moraltheologie von Chaim Luzzatto, das ich oben erwähnt habe, hebt bei der Besprechung des chassid im Gegensatz zum zaddik hervor, daß hier sein Ratschlag und seine Ana­ lyse keinen wirklichen Einfluß ausüben können. Seiner Meinung nach liegt das Hauptkriterium in der Übertra­ gung besonderer göttlicher Gnade, in einem besonde­ ren Funken, der das Streben nach den Eigenschaften ei8 Vital, Scha’arei Keduscha I, §3. Seine Quelle war Maimonides, Schmona Perakim, Kap. 6.

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nes chassid sinnvoll macht. Er polemisiert gegen den re­ ligiösen und billigen Gebrauch des Begriffes, den er ab­ schätzend bezeichnet als »Praktiken, die leer sind und sich gegen den gesunden Menschenverstand und gegen das vernünftige Urteilsvermögen richten: ständiges Geweine, ewige Verbeugungen und seltsame Mortifikationen des Fleisches, wie Tauchbäder in eiskaltem Wasser oder Rollen im Schnee. Doch nicht das ist es, worin sich die chassidut ausdrückt.«’ Abgesehen von Luzzattos eigener Vorstellung von einem chassid, die sich im wesentlichen mit der herkömmlichen Vorstel­ lung von einem Heiligen deckt, kann es keinen Zweifel geben, daß er und seine Zeitgenossen an einen damals sehr deutlich in Erscheinung tretenden Typus dachten, wenn sie von chassidim oder chassidut sprachen. Eine bestimmte Verhaltensweise war den chassidim gemein und hob sie gegenüber der jüdischen Gesellschaft ein­ deutig und sichtbar als Radikale ab, obwohl es eine ganze Zahl unsichtbarer, doch nicht weniger eindeuti­ ger Radikaler gegeben haben mag. Diese Verhaltens­ weise blieb wesentlich gleich in der Türkei wie in Ita­ lien, in Holland wie in Polen. Ich habe versucht, drei Typen zu skizzieren, die uns in der Zusammenschau ein Bild von dem moralischen Ideal des Judentums geben. Im Laufe der Geschichte haben sich die verschiedensten Zusammensetzungen und Veränderungen geltend gemacht. Es könnten insbesondere viele Beispiele für die ungenaue Ver­ wendung der Begriffe zaddik und chassid angeführt werden. Doch keines dieser Beispiele würde seltsamer anmuten als die Metamorphose, die der Begriff des chas­ sid in jener Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts 9 Messilat Jescharim, Kap. 18.

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durchmachte, die in Podolien und Wolhynien ihren Anfang nahm und ihren Mittelpunkt in der Gestalt des Israel Ba’al Schern Tov (gest. 1760) fand. In vieler Hin­ sicht haben wir hier eine Illustration mancher Punkte, die ich hervorgehoben habe, besonders was die Organi­ sation von Menschen des chassidischen Typus betrifft. Denn nur als Organisation, in der Menschen verschie­ dener Art sich um eine Zentralfigur von wirklich chas­ sidischem Charakter gruppieren, konnte sich der Chas­ sidismus im Rahmen des rabbinischen Judentums er­ halten. Hätten sich die Führer zusammengeschlossen in einer Körperschaft, die ausschließlich aus Menschen ihrer eigenen Art bestand, so wäre die Bewegung unter dem Druck des altmodischen rabbinischen Judentums zusammengebrochen, dessen Widerstand sowieso nicht ausbleiben konnte. Wir würden nicht von einer spezifischen Welt des Chassidismus sprechen, wie man ihn im Zusammenhang mit dieser Bewegung versteht, deren Gewicht zum Teil auch in unserer Zeit noch spürbar ist, wenn es ihm nicht gelungen wäre, die Ge­ stalt des jüdischen Heiligen als radikalen Juden in ein organisches jüdisches Sozialgefüge einzugliedern. Jedoch fand hier eine kuriose Begriffsmetamorphose statt. Niemals wäre es früheren Generationen in den Sinn gekommen, in der Literatur oder im wirklichen Leben Leute als chassidim zu bezeichnen, die chassidim bewundern. Doch gerade das ist es, was hier passierte. Jene, die die Vertreter des chassidischen Ideals verehr­ ten, nannten sich chassidim, eine einigermaßen para­ doxe, wenn nicht geradezu skandalöse Verwendung des Begriffes - und die wirklichen chassidim, die das Ideal in ihrem Leben verwirklichten, wurden fortan zaddikim genannt. Dieser Bedeutungswandel in der Terminologie ist sicherlich sehr verwirrend und gibt zu

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denken. Ein zaddik in diesem neuen chassidischen Sinne hat nichts mit dem ursprünglichen Sinn des Wortes zu tun, den ich hier anzuführen versuchte, son­ dern bedeutet soviel wie »Über-chassid«. Hier können die historischen Gründe und Entwicklungen nicht auf­ gezeigt werden, die zu diesem Wandel geführt haben. Ich habe nur versucht, die Grundbedeutung dieser drei Typen herauszuarbeiten und die Phänomene jenseits aller Semantik zu beschreiben. Zum Abschluß möchte ich von einer volkstümlichen Tradition im Judentum sprechen, in der die ursprüngli­ che Gestalt des chassid einen Höhepunkt erreicht hat. Es handelt sich um das Konzept der sogenannten ver­ borgenen zaddikim, das seit der Zeit der chassidischen Bewegung einen Ehrenplatz im jüdischen Volksmund einnimmt. Seine Wurzeln gehen sehr weit zurück. Der berühmte Lehrer Rabbi Schimon bin Jochai aus dem zweiten Jahrhundert soll den Satz gesagt haben: »Nie fehlen in der Welt dreißig zaddikim wie Abraham.« Sie schützen die Welt, wie es Abraham in seiner Zeit getan hat. Später sagte ein anderer Talmudlehrer, daß die Welt in jeder Generation nicht weniger als sechsund­ dreißig Gerechte hat, denen es gewährt ist, das Antlitz Gottes zu schauen. Das ist die Quelle der Volkslegende von den sechsunddreißig verborgenen zaddikim, im Jiddischen als Lamed wownikim bekannt, nach der hebräischen Bezeichnung für die Zahl sechsunddreißig. Auf ihnen und auf ihrem Verdienst ruht die Welt.10 Es gibt zwei Kategorien von zaddikim, die einen, die verborgen bleiben, und die anderen, die sich ihren Mit­ menschen offenbaren und sozusagen vor den Augen der Öffentlichkeit wirken. Die ersten nennt man ni10 Vgl. meinen Aufsatz über dieses Konzept der Verborgenen Zaddikim in ]udaica it 1963, S. 216-225.

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starim, »Verborgene«, die letzteren mefursamim, »Be­ rühmte«. Die verborgenen zaddikim gehören einer höheren Ordnung an, denn ihnen blieb die Versuchung der Ei­ telkeit erspart, die fast unlösbar mit einer öffentlichen Karriere verbunden ist.11 Einige nehmen es sogar auf sich, in der Öffentlichkeit einen Eindruck zu erwecken, der im scharfen Gegensatz zu ihrer wirklichen verbor­ genen Natur steht. Es kann sogar sein, daß sie sich ihrer Natur nicht bewußt sind und insgeheim ihre guten Ta­ ten vollbringen, ohne zu wissen, daß sie zu den Erwähl­ ten gehören. Sie bleiben nicht nur der Menschheit, son­ dern auch sich selbst verborgen. Der Volksmund des östlichen Judentums ist nicht müde geworden, diese Aspekte und besonders ihre paradoxalen Seiten auszu­ spinnen. Nach der Legende ist einer der sechsunddrei­ ßig Gerechten der Messias: er würde sich offenbaren, wenn seine Generation der Erlösung würdig wäre. Wird er vorher erkannt, muß er sterben. Man kann nie wissen, wer diese höchsten Träger der moralischen Werte sind. Einer von ihnen - und das ist die letzte Mo­ ral, auf die diese Idee hindeutet - könnte dein Nachbar sein.

11 Das sagt Benjamin von Zalositz, Torei Sahaw, 1816, Bl. 34 b, und Amtachat Benjamin, Bl. 78 c.

Nachweise Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesge­ schichte. Wissenschaftskolleg, Jahrbuch 1981/82, Berlin 1983, S. 281-289.

Alchemie und Kabbala. Eranos-Jahrbuch 46, 1977, S. 1-96.

Der Nihilismus als religiöses Phänomen. Eranos-Jahrbuch 43, 1974, S. 1-50.

Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien. Schö­ lern, Uber einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 90-120. Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930. Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, hrsg. von Rudolf von Thadden, Göttingen 1978, S. 256-277.

Drei Typen jüdischer Frömmigkeit. Ariel, Berichte zur Kunst und Bildung in Israel, Jerusalem 1973, Nr. 17, S. 5-25.

Unter Gershom Scholems Büchern erlangten die drei Judaica betitelten Bände wohl die weiteste Verbreitung. Die Herausgabe eines vierten Bandes, die Scholem plante, wurde durch seinen Tod im Februari982 ver­ hindert; der Verlag legte diesen Band postum vor. Scholem, der den größten Teil seiner Arbeit der Erschließung eines fast vergessenen For­ schungsbereichs, der jüdischen Mystik, widmete, sah seine historischen und philologischen Untersuchungen stets im Zusammenhang »mit der auf die Wiedergeburt des jüdischen Volkes als eines lebendigen Ganzen gerichteten Bewegung, durch die auch eine neue Sicht der jüdischen Geschichte möglich wurde«. Davon zeugt auch dieser Band, der Aufsätze und Vorträge über die Kabbala mit solchen ver­ einigt, die aktuellen Fragen des jüdischen Lebens gelten.

»Lebendiges Judentum habe ich in durchaus keiner anderen Gestalt kennen gelernt als in Dir«: dieser sehr private Satz, den Walter Benjamin 1930 an den Freund Schölern schrieb, hat unterdessen in gewissem Maß öffentliche Bedeutung gewonnen. Wenn es heute, nach der Ermordung der Juden, für eine nachgeborene Generation von Deutschen möglich ist, lebendiges Judentum kennen­ zulernen, dann ist das vorab Schölern zu danken. Er, der in drei Sprachen schrieb, hat zahl­ reiche Bücher in der deutschen verfaßt; sie alle handeln von einem Judentum, das sich nirgends lebendiger erweist, als wo es einem Vergangenen wie der Geschichte der jüdi­ schen Mystik gewidmet ist.

(ISBN 3-$18-0183 1-0)

Umschlag: Willy Fleckhaus Umschlag geschützt: DBGM i 827016

Nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann.