Joseph Roth unterwegs in Europa [1. ed.] 9783770565665, 9783846765661


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German Pages XVI, 171 [188] Year 2021

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Joseph Roth unterwegs in Europa
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Inhalt
Joseph Roth: Europäer
Teil I Desiderate in den Editionen
Das Werk, das Leben Joseph Roths. Kennen wir schon alles?
Judaika und jüdische Identität in Joseph Roths Werk vor dem Hintergrund der editionsphilologischen Debatten
Teil II Mobilität und Identität
Joseph Roth: Ein Jude auf Wanderschaft
Trostlose Geschichte(n) – Beichte, Märchen und Legende beim späten Joseph Roth
Roth versus Mussolini. Über Joseph Roths Expedition in die Geschichte im historischen Roman Die Hundert Tage von 1936
Teil III Phänomene der Moderne
Joseph Roth und der Film
(De-)Formationen des Körpers in den Berliner Feuilletons Joseph Roths
Joseph Roths literarische Grandhotels. Hotel Savoy und Hotelwelt als Nicht-Orte der Gastlichkeit
Teil IV Biographische Einsichten: Freundschaften
Joseph Roth in den Augen seines Freundes Soma Morgenstern
Fragmente einer Freundschaft. Joseph Roth und Helene Szajnocha-Schenk
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Joseph Roth unterwegs in Europa [1. ed.]
 9783770565665, 9783846765661

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Joseph Roth unterwegs in Europa

Artur Pełka, Christian Poik (Hg.)

Joseph Roth unterwegs in Europa

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Łódź und des Österreichischen Kulturforums Warschau

Umschlagabbildung: Postkarte Łódź: Hotel Savoy, Edition G. A. Restel (1912–1916), Polnische Nationalbibliothek

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6566-5 (hardback) ISBN 978-3-8467-6566-1 (e-book)

Inhalt Joseph Roth: Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

teil i Desiderate in den Editionen 1

Das Werk, das Leben Joseph Roths. Kennen wir schon alles?  . . . . 3 Heinz Lunzer

2

Judaika und jüdische Identität in Joseph Roths Werk vor dem Hintergrund der editionsphilologischen Debatten . . . . . . . . . . . . . . 21 Armin Eidherr

teil ii Mobilität und Identität 3

Joseph Roth: Ein Jude auf Wanderschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Iris Hermann

4

Trostlose Geschichte(n) – Beichte, Märchen und Legende beim späten Joseph Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Hans Richard Brittnacher

5

Roth versus Mussolini. Über Joseph Roths Expedition in die Geschichte im historischen Roman Die Hundert Tage von 1936 . . . . 71 Aneta Jachimowicz

teil iii Phänomene der Moderne 6

Joseph Roth und der Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Rainer-Joachim Siegel

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Inhalt

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(De-)Formationen des Körpers in den Berliner Feuilletons Joseph Roths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Katarzyna Jaśtal

8

Joseph Roths literarische Grandhotels. Hotel Savoy und Hotelwelt als Nicht-Orte der Gastlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Bastian Lasse

teil iv Biographische Einsichten: Freundschaften 9

Joseph Roth in den Augen seines Freundes Soma Morgenstern  . . . 131 Maria Kłańska

10

Fragmente einer Freundschaft. Joseph Roth und Helene Szajnocha-Schenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Victoria Lunzer-Talos Autor*innen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Joseph Roth: Europäer Joseph Roth war Europäer. Er bewegte sich hier, er lebte hier, er wirkte hier, war zuhause in Wien, Berlin und Paris, wuchs in Galizien auf, unternahm Reisen durch Polen, Jugoslawien, Albanien, Italien und Russland. Seine Feuilletons sind ebenso wie seine Prosatexte von dieser regen Bewegungstätigkeit beeinflusst. Die Beiträge in diesem Sammelband nehmen Roths Werk in einer entsprechenden Vielfältigkeit wahr und beleuchten verschiedenste Einflüsse seines Schreibens, die Phänomene, die ihn interessierten, die Verbindungen, die er pflegte, und die Wege, die er ging. Der Titel dieses Sammelbandes Joseph Roth unterwegs in Europa wiederum reflektiert diese von ständiger Bewegung geprägte Biographie Joseph Roths und deren Einfluss auf sein Werk. Zugleich will der Titel auf ein von der Biographie gelöstes Œuvre hinweisen,1 in welchem Aspekte des Transnationalen, des Nomadischen oder des sogenannten ‚Heimatlosen‘ bedeutsam sind, auf Texte, die zwischen und in Grenz- und Übergangsregionen situiert sind, die Europas Zentren genauso wie seine Peripherien in den Blick nehmen – und dies außerdem aus beiden Richtungen. Im Fall von Roth handelt es sich schließlich um ein Werk des Liminalen, in dem die Grenze ein Hindernis darstellt, das überschritten werden muss und das auch überschritten wird. Die Idee von Roth als Europäer sowie Grenzgänger und -überschreiter in seinen Texten ist in der Roth-Forschung sowohl etabliert als auch aktuell. Erst 2020 erschien Der verirrte Kosmopolit, ein Sammelband mit ähnlicher Schlagrichtung und in thematischer Nähe zum vorliegenden. Jener setzt sich allerdings geographisch eng gefasster mit Joseph Roth in den Niederlanden und Belgien auseinander und trägt damit einigen Facetten des Werkes sowie der Biographie Roths Rechnung, die bisher weniger genau in den Fokus genommen wurden.2 Mit einer räumlich breiter angelegten Blickrichtung werden in den Beiträgen vorliegenden Sammelbands Schlaglichter auf mannigfaltige Verbindungslinien zwischen Joseph Roths Werk (einschließlich 1 Auf die reflexartige und oft verkürzte Verquickung von Biographie und Werk, die die Texte und Themen „als Spiegelungen der kulturellen Identität des Autors nehmen und etwa die vielbesprochene Heimatlosigkeit der Roth’schen Figuren auf die mutmaßliche Befindlichkeit Joseph Roths selbst rückblenden“ weist Telse Hartmann hin und plädiert dafür, Begriffe der Heimat, der Identität aber auch der Kultur in der Roth-Lektüre klar zu definieren, um (teilweise vorschnelle) früh etablierte Lesarten zu hinterfragen. Telse Hartmann: Zwischen Lokalisierung und Deplazierung. Zur diskursiven Neuverhandlung kultureller Identitäten in den Kulturwissenschaften. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur H. 50 (1999), S. 17–40. 2 Benjamin Biebuyck, Petra Campe, Els Snick (Hg.): Der verirrte Kosmopolit. Joseph Roth in den Niederlanden und Belgien. Bielefeld: Aisthesis 2020.

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seiner Biographie) und Phänomenen der europäischen Moderne sowie der politischen Realität und damit einhergehenden Fragen zur Identität geworfen – außerdem auf Probleme der Editionspraxis sowie Vorschläge für Revisionen, auf Roths Mitgefühl und Einfühlen in seinem Schreiben und neue Erkenntnisse aus der Biographie.

Zur Aktualität von Roths Texten im Europa der Krise

Das Gros von Roths Schaffen fällt zwischen die beiden Weltkriege, in eine Zeit, in der, so scheint es Zeitgenoss*innen wie Nachgeborenen, alle oder fast alle gewohnten Bezugssysteme ins Wanken und in weiterer Folge in Konflikt geraten. Geopolitisch und herrschaftsstrukturell verschiebt sich mit dem gleichzeitigen Zusammenbruch mehrerer Monarchien (Österreich-Ungarn, Deutsches Kaiserreich, Russisches Kaiserreich usw.) und der damit verbundenen Entstehung neuer Demokratien und anderer nicht-monarchischer Staatsformen die hegemoniale Ordnung Europas, werden außerdem geschlechtsspezifische Strukturen be- und hinterfragt, umkämpft und reinstalliert3 – und auch in dem, was im Sinne eines spezifischen Kulturbegriffs „als die Welt der sog. Hochkultur“4 gilt, ergeben sich nachhaltige Transformationen. Roths Schaffen fällt also in eine Zeit der Krise. Allzu leicht ließe sich behaupten, das zeitliche Zusammentreffen der Veröffentlichung dieses Sammelbandes mit der sogenannten ‚Corona-Krise‘ sei kein Zufall; immerhin erscheint die Krise geradezu als raison d’être des Europäischen, sofern es sich als ‚westlich‘ begreift und sich der globalen Krisen als eigenen ermächtigt – und so reiht sie sich nahtlos an die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ an, der seit 2008 die (oder eben: eine) ‚Finanzkrise‘ voranging, deren Vorläufer wiederum eine globale Krise des Terrorismus um und nach 3 So ergibt sich als eine der Folgen des Ersten Weltkrieges, dass „[i]m Bereich der Geschlechterwahrnehmungen […] an die Stelle des Emanzipationsmodells zunehmend die Vorstellung einer Krise der Männlichkeit getreten [ist], die sich für die Zeitgenossen als spektakuläre ‚Verweiblichung‘ der Männer oder auch des gesamten Zeitalters darstellte.“ Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator? In: Politik und Zeitgeschichte 29/30 (2004), S. 30–38, hier S. 35. 4 Wolfgang Müller-Funk nennt, um dem Kulturbegriff beizukommen, einem „der komplexesten und darüber hinaus auswucherndsten Begriffe“, mindestens vier Konnotationen, u.a. eben eine, die sich auf die sogenannte Hochkultur bezieht und hier von Bedeutung ist. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie (= Kultur – Herrschaft – Differenz, 1). Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 14–32, hier S. 17.

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den Terroranschlägen vom 11. September 2001 war. Die Chronologie ließe sich weiterverfolgen bis zu jener ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘, dem Ersten Weltkrieg – und weit darüber hinaus. Oder, wie Florian Kläger und Martina Wagner-Egelhaaf zu Beginn des von ihnen herausgegebenen Sammelbands mit dem absichtlich ironisch-apologetisch gewählten, auf einen Text Yoko Tawadas anspielenden Titel Europa gibt es doch …5 über Krisendiskurse im Blick der Literatur formulieren: „Wer davon spricht, dass Europa in der Krise steckt, macht sich keiner Originalität verdächtig.“6 Denn Europa, so stellen sie fest, konstituiert sich diskursiv durch Selbstkritik und in der kritischen Frage nach dem Verlust und der (Wieder- oder Er-)Findung seiner selbst. Demzufolge muss Europa, wie jede Krise, erzählt werden und daher stehen die drei Begriffe Europa, Krise und Erzählung in einem wechselseitigen Verhältnis: „Europa produziert Krisen und Erzählungen, und es ist Produkt beider.“7 Europäische Identitätskrisen sind demnach die Grundlage dieser Identität, die einer permanenten Verhandlung bedarf, einer Verhandlung, die besonders dann, wenn konkrete Krisen ausgemacht, benannt und letztendlich eben erzählt werden, virulent wird. Indem nämlich diese Momente die Fragilität genauso wie die Kontingenz dessen offenbaren, was Europa bedeuten soll, eröffnen sie nicht einfach Räume des Verhandelns, sie führen geradezu in diese Räume. Denn sie setzen einen Drang zur Lösung und zum Umgang mit einer Krise in Gang, der von der Offenheit und Unschärfe der Europa-Idee(n) zu profitieren versucht. Gerade die Auseinandersetzung mit der scheinbar zeitlosen europäischen Krise macht Roths Werk aus: kennzeichnet es als ‚europäisch‘. Genau dies bedingt auch die andauernde Aktualität seines Werkes. Roth schrieb sich in jene weiterhin wirksamen und produktiven Diskurse ein, die fortwährend von Krise sprechen und danach fragen, was Europa eigentlich sei.

Desiderate in den Editionen

Mit einem Vorschlag zur Revision der vorliegenden Werk- und Briefausgaben merkt Heinz Lunzer im ersten Beitrag begründete Zweifel an der Vollständigkeit, der editorischen Genauigkeit und der formalen Gestaltung 5 Vgl. Yoko Tawada: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. In: Dies.: Talisman. Tübingen: konkursbuch 1996, S. 45–51. 6 Florian Kläger, Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Europa gibt es doch … Krisendiskurse im Blick der Literatur. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 7. 7 Ebd., S. 10.

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der Joseph-Roth-Editionen an. Er erinnert in seinem Beitrag Das Werk, das Leben Joseph Roths. Kennen wir schon alles? an Texte, die mittlerweile, also in den rund 30 Jahren seit Veröffentlichung der letzten Gesamtausgabe, aufgefunden wurden, und zeigt vor allem auf, wie fehlerhaft die momentan vorhandenen Ausgaben sind. Durch einen Vergleich der publizierten Texte mit den Originalhandschriften macht er etwa deutlich, dass gravierende Fehler in der Übertragung bis heute unrevidiert die Lesart nachhaltig beeinflussen können; dass außerdem die spezifische Syntax und Zeichensetzung Joseph Roths zugunsten einer (nicht unbedingt nachvollziehbaren) Glättung bzw. Normierung des Sprachmaterials ignoriert und damit verdrängt wurde; dass eine Kommentierung zuletzt gar nicht oder nur in bescheidenem Maß vorgenommen wurde, was die wissenschaftliche Arbeit erheblich und keinesfalls notwendigerweise erschwert. Sein Plädoyer für eine neue Edition der Schriften Roths, deren mögliche Machart er klar und detailliert darlegt, unterstreicht Lunzer beispielhaft anhand persönlich gefärbter Quellen zum letzten WienAufenthalt Roths im Frühjahr 1938. Weder genaue Gründe für den Aufenthalt noch diesbezügliche Daten seien aus jetziger Sicht aufgrund mangelnder, fehlerhafter oder schwer nachzuvollziehender kritisch kommentierter Gesamtausgaben eindeutig festzumachen. Ein ähnliches Ziel verfolgt Armin Eidherr, der in Judaika und jüdische Identität in Joseph Roths Werk vor dem Hintergrund der editionsphilologischen Debatten die Notwendigkeit einer exakten Neuedition von Roths Texten festmacht. Sein Beitrag zeigt anhand unterschiedlicher Beispiele die Unbedachtheit bisheriger Werkausgaben in Bezug auf jüdisch-mystische Idiosynkrasien in Roths Textproduktion, die Eidherr exemplarisch sowohl durch kürzere wie auch ausführlichere Interpretationen belegt. Er will damit offensichtlich machen, wie (teils massive) Eingriffe aufgrund vermeintlicher orthographischer Fehler Lesarten untergraben, die auf Aspekte jüdischer Identität verweisen und diese sichtbar machen könnten. Viel zu leichtfertig wären scheuklappenartig Verbesserungen angebracht worden, da den Verlagen bestimmte Textpassagen ohne ausreichendes judaistisches Hintergrundwissen unverständlich erschienen. Hierdurch werde der Interpretationsspielraum nachhaltig verengt und um wesentliche Komponenten vermindert. Das Plädoyer für eine neue historisch-kritische Ausgabe, die Roths Anspielungen auf jüdische Mystik, Traditionen und Diskurse Rechnung trägt, ergänzt den Vorschlag Heinz Lunzers und eröffnet eine Perspektive auf ein weiteres, innovatives Kapitel der Roth-Forschung, welches sich mit einer solchen Edition schreiben ließe.

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Mobilität und Identität

Mit seinen Texten Juden auf Wanderschaft (1927)8 und Hiob (1930)9 setzte Joseph Roth dem jüdischen Leben in Osteuropa, dem Leben im Schtetl ein Denkmal, bevor es gemeinsam mit der Vielzahl seiner Proponent*innen der irreversiblen Vernichtung des nationalsozialistischen Terrors zum Opfer fiel. Iris Hermann betont in ihrem Beitrag, dass Roth in beiden Texten keine westeuropäische Perspektive einnehme, sondern umgekehrt aus der Perspektive des sogenannten ‚Ostens‘ und seiner Bewohner*innen nach Westen schaue. Diese sieht sie mit einem mitfühlenden und liebevollen Blick verbunden, der sich eindeutig auf die Seite der Beobachteten stelle und der immer auch Kritik am Westen und an denjenigen Jüdinnen und Juden im Westen einschließe, die auf herablassende Weise von der ‚Rückständigkeit‘ ihrer Glaubensbrüder und -schwestern sprechen. Die Verfasserin betont beim Essay Juden auf Wanderschaft das Motiv des „wandernden Juden“, ein Motiv, das die Identifikation mit dem Leid der verfolgten und vertriebenen Jüdinnen und Juden ermögliche und auf die Biographie sowie die rege Reisetätigkeit Roths verweise, die mit seinem Schaffen eng verzahnt sei. Zuletzt beschäftigt sich ihr Beitrag mit intertextuellen Verbindungen, die sich zwischen Roths Texten und Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend (2012)10 aufspüren ließen: Schauplatz von Erpenbecks Roman ist Brody, die Geburtsstadt Roths. Über 80 Jahre nach Hiob schreibt Erpenbeck einen Familienroman, als welcher auch Hiob gelesen werden könnte, ein Text, der die ostjüdische Vergangenheit ins Zentrum stelle und dessen Figuren in ihrem Leid genauso wie in ihrem Mitleid an das Erzählen Roths anknüpften. Auf dieses Mitleid und Einfühlungsvermögen kommt auch Hans Richard Brittnacher in seinem Text zu sprechen, der sich mit den späteren Erzählungen Roths und deren Formen auseinandersetzt. Roth scheine sich in antiquierte Genres zu flüchten, in elementare Formen, die das Erzählen und dessen Kraft wider dem literarischen Zeitgeist hochhalten und der krisenhaften Gegenwart Momente der Versöhnung entgegenbringen sollten: in die Beichte (Beichte eines Mörders, 1936)11, das Märchen (Die Geschichte von der 1002. Nacht, 8

Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Das journalistische Werk 1924– 1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 827–902. 9 Joseph Roth: Hiob. In: Ders.: Werke Bd. 5. Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 1–136. 10 Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. München: Albrecht Knaus 2012. 11 Joseph Roth: Beichte eines Mörders. In: Ders.: Werke. Bd. 6: Romane und Erzählungen 1936– 1940. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 1–126.

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1939)12 oder die Legende (Die Legende vom Heiligen Trinker, 1939)13. Die Titel aber trügen; die Texte würden ausnehmend ambivalent codiert erscheinen, indem sie aus ihren formellen Beschreibungen ausbrächen: Die Beichte sei so wenig eine Beichte wie die Legende eine Legende oder das Märchen ein Märchen. Indem Brittnacher veranschaulicht, wie sich die Texte avantgardistischer Elemente bedienen (düsterer Orte der Liminalität etwa) und für jeden einzelnen von ihnen darlegt, wie sie ihre titelgebenden Formen unterlaufen, kommt er dem widersprüchlichen Optimismus des Roth’schen Spätwerks auf die Spur. Die angenommene Sinnlosigkeit der Gegenwart spiegle sich in diesem wieder, die Resignation vor der in Europa hereinbrechenden Katastrophe, zur gleichen Zeit aber schrecke der Autor nicht vor dem Versuch zurück, jenen Trost im Erzählen zu suchen, von dem er wisse, dass er nicht mehr aufzufinden sei. Roths Empathie und sein Bekenntnis zur Menschlichkeit, welches der Autor allen Umständen zum Trotz (nicht nur) in seinen späteren Texten zu erkennen gibt, beschäftigt auch Aneta Jachimowicz in Bezug auf den Roman Die Hundert Tage (1936).14 Sie kontextualisiert diesen und setzt ihn in Bezug zur Napoleon-Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im Allgemeinen und zu Benito Mussolinis (und Giovacchino Forzanos) historischem NapoleonDrama Campo di maggio (1930)15 im Speziellen. Der Text des italienischen Diktators zeitigte hohe Popularität unter den Zeitgenoss*innen (auf dieses Phänomen kommt auch Rainer-Joachim Siegel in seinem Beitrag zu Joseph Roth und dem Film zu sprechen), was in starkem Kontrast zu Roths Roman stünde. Wie Jachimowicz darlegt, verbindet beide Texte die Sympathie mit der historischen Figur Napoleons. Diesen Affinitäten liege jedoch Unterschiedliches zugrunde. Während bei Roth eine empathische Haltung gegenüber dem Menschen Napoleon zum Vorschein trete, die den französischen Kaiser in betont humanistischer Manier mit Schwächen und zur Reue befähigt zeige, weise Mussolini im historischen Rückgriff auf eine erhoffte Zukunft starker und erfolgreicher Führerfiguren hin. Die Roth’sche Napoleondarstellung stünde damit nicht in einem so scharfem Widerspruch zu jener Mussolinis, wie ihn die Zeitgenoss*innen von Roth erwartet hätten. Die menschliche, einfühlende Herangehensweise konterkariere nicht die faschistische, da sie nicht

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Joseph Roth: Die Geschichte von der 1002. Nacht. In: Ders.: Werke, Bd. 6, S. 347–514. Joseph Roth. Die Legende vom heiligen Trinker. In: Ders.: Werke, Bd. 6, S. 515–543. Joseph Roth: Die Hundert Tage. In: Ders.: Werke. Bd. 5, S. 677–848. Benito Mussolini, Giovacchino Forzano: Hundert Tage (Campo di Maggio). Drei Akte. Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay 1933.

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ausreichend allegorisch, nicht dezidiert antifaschistisch ausgefallen sei, was für das potentielle Lesepublikum Roths irritierend gewesen sei. Joseph Roth blieb Zeit seines Wirkens als Schreibender – das machen die letzten drei besprochenen Beiträge offensichtlich – einer Idee des Mitgefühls und dem Versuch verhaftet, mit tröstenden Erzählungen gegen die herannahenden Katastrophen anzuschreiben.

Phänomene der europäischen Moderne

In seinem Beitrag stellt Rainer-Joachim Siegel die Verbindungslinien zwischen dem Werk Joseph Roths und dem Medium Film vor. Roth habe als aufmerksamer Zeitgenosse die Möglichkeiten erahnt, die sich durch dieses Medium eröffneten und sich auf unterschiedliche Arten mit diesem auseinandergesetzt. Siegel geht dabei auf drei Themenfelder ein: auf Roths feuilletonistische Beschäftigung mit dem Film, Filmschaffenden, Filmhandlungen und dem Kino; auf seine Versuche, selbst teilzuhaben am Filmgeschäft; und zuletzt auf Roths Auseinandersetzung mit dem Medium in seiner Prosa. Der Beitrag kommt so zu einem chronologischen Narrativ der wechselhaften Beziehung zwischen Joseph Roth und dem Film. Von einer distanzierteren, weil satirisch-entfremdeten Perspektive, die mehr das Publikum als die Handlung in den Fokus nimmt, erwärme Roth sich in der Folge für das Medium, das für ihn (nicht ausschließlich, aber doch auch finanzielle) Möglichkeiten zu bieten scheine. Im Spätwerk komme es jedoch zu einer differenzierteren, kritischeren und geradezu ablehnenden Einstellung beim Autor, der in der Filmwelt eine Scheinwelt zu entdecken meinte, die Sittenlosigkeit und Unmoral befördere. Dass dennoch viele seiner Texte zu Filmstoffen wurden, begründet Siegel u.a. mit der Schreibweise Roths, der er eine filmische Dimension attestiert. Roths Kritik an modernen, d.h. zeitgenössischen Phänomenen erschöpfte sich nicht im Medialen. Sein Blick richtet sich auch auf die Stadt und auf den menschlichen Körper in ihr, ein Thema, das Katarzyna Jaśtal in ihrem Beitrag interessiert und das sie als zentralen Gegenstand der Literatur der 1920er und 30er Jahre beschreibt. Sie arbeitet darin die Bezüge Roths zu Max Picards Text Das Menschengesicht (1929)16 heraus und geht auf die Idee der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes ein, dessen Auflösung Picard beobachte, beschreibe und betrauere. Roth stehe in den feuilletonistischen Texten, die im Fokus der Betrachtung liegen, im Kontext eines zeitgenössischen Diskurses der Klage über die Fragmentierung und Verwertung des menschlichen Körpers, 16

Max Picard: Das Menschengesicht. Erlenbach-Zürich: Verlag Eugen Rentsch 1947.

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insbesondere des weiblichen. Auch den männlichen Körper nehme der Autor in den Blick, die Betrachtungs- und Beschreibungsweise seien allerdings geschlechtsspezifisch unterschiedlich angelegt. Zwar arbeite Roth anhand prototypischer Oppositionen von Natur und Kultur, dem Vergangenen und der Gegenwart, dennoch stelle er sich damit nicht in den Dienst reaktionärer Gegenwartskritik. Vielmehr sei es das Mitgefühl, das ihn antrieb, also jene Fähigkeit zur Empathie, die auch in anderen Beiträgen dieses Sammelbands eine gewichtige Rolle einnimmt. Einem anderen Phänomen und Topos der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und dessen literarischer Verarbeitung bei Joseph Roth widmet sich Bastian Lasse in seinem Beitrag: dem Ort des Hotels. Ihn beschäftigt dabei zunächst die Frage der Gastlichkeit im Kontext einer Theorie der Begegnung, die er in unterschiedlichen Ausprägungen bei Jacques Derrida, Hans Dieter Bahr und Albrecht Koschorke ausgestaltet findet, so etwa in der Differenzierung von limitierter oder absoluter Gastlichkeit bei Derrida. Damit zusammenhängend erweise sich der Ort der Gastlichkeit als Stätte der Bewirtung und der Begegnung genauso als zentrales Thema in der Forschung wie überhaupt Fragen nach der Notwendigkeit dieses Ortes für eine Möglichkeit dieser Gastlichkeit. Diese theoretisch dichten Vorüberlegungen verquickt Lasse in der Folge mit Roths Artikelserie Hotelwelt (1929)17 und seinem Roman Hotel Savoy (1924)18. Das Hotel macht er bei Roth als neuartigen Mischort zwischen einem (patriarchalen) Zuhause und Nicht-Ort nach Marc Augé aus und geht der räumlichen Ambivalenz, dem Verhältnis von Gastgeber und Gast, den Möglichkeiten der Begegnung und Ankunft und dem besonderen Zwischenstatus des Hotels in den Texten Joseph Roths nach. Alle drei Beiträge dieses Themenkomplexes zeigen auf, dass Joseph Roth ein Schriftsteller war, der es nicht nur verstand, sich in (und zwischen) den Metropolen und der Provinz des Kontinents zu bewegen, sondern der auch innerhalb der zeitgenössischen literarischen Diskurse frei umherzog und beide Räume – geographische wie literarische – sein Zuhause nannte.

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Joseph Roth: Hotelwelt. In: Ders.: Werke. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 3–31. Joseph Roth: Hotel Savoy. In: Ders.: Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 147–242.

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Biographische Einsichten: Freundschaften

Den Abschluss des Bandes bieten zwei Auseinandersetzungen mit Fragen des Biographischen, die über neue Erkenntnisse informieren. Maria Kłańska nimmt die Freundschaft Roths mit Soma Morgenstern in den Blick und stützt sich dabei wesentlich auf Morgensterns biographische Behandlung dieser Beziehung in seinem Buch über Joseph Roths Flucht und Ende (posthum 1994).19 Die Verfasserin geht auf eine Verbindung ein, die über einen langen Zeitraum hinweg und über viele Etappen im Leben Roths Bestand hatte, mit Tiefen und Höhen und ständiger Bewegung. So wie in Morgensterns Buch ein maßgeblicher Fokus auf Roth als Schreibender gelegt wird, zielt Kłańskas Beitrag besonders auf diesen Aspekt ab und legt offen, wie sehr Morgensterns Erinnerungen nicht nur vom freundschaftlichen Verhältnis, sondern auch von beider Beruf als Autoren geprägt sei. Der Text wird so nicht allein als Freundschaftsbuch, sondern auch als eigene Autobiographie verstanden, dessen Subjektivität ein hybrides Werk hervorgebracht hätte, das zum Verständnis beider Biographien, beider Schaffensprozesse, beider Werke beitrüge und den Verbindungslinien dieser zueinander gerecht werde. Von einer anderen zentralen Bezugsperson im Leben Joseph Roths handelt der Beitrag von Victoria Lunzer-Talos. Sie betrachtet die freundschaftliche und intellektuelle Beziehung Roths zu Helene von Szajnocha-Schenk, die sich schon von seiner Jugend an über viele Jahre hinweg erstreckte. LunzerTalos streicht hervor, welche bedeutsame Rolle die ältere Frau als gute Freundin, als Mentorin und nicht zuletzt als wohlgesonnene Kritikerin seiner Textentwürfe und Texte gespielt habe und wie entscheidend diese Verbindung für den quer durch Europa wandernden Autor gewesen sei. Häufig habe sie in Briefen als eine der ersten Personen von Roths Ideen und Projekten erfahren, darüber hinaus habe der Autor ihre Meinung hoch geschätzt, auch in privaten Angelegenheiten. In beiden Beiträgen wird Roths Fähigkeit ersichtlich, andere Menschen, die er schätzte, um deren Einschätzung hinsichtlich seines Schreibens zu bitten. Damit verbinden die Beiträgerinnen die Biographie des Autors mit der mehrfach angesprochenen Fähigkeit zur Empathie und dem konsequenten Festhalten an wichtigen Freundschaften über seine rege und intensive Reisetätigkeit hinweg. Christian Poik 19

Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. Hg. und mit einem Nachwort von Ingolt Schulte. Lüneburg: zu Klampen 1994.

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Joseph Roth: Europäer

* Für die Finanzierung des Bandes sei dem Österreichischen Kulturforum in Warschau und vor allem dem Institut für Germanistik sowie dem Dekanat der Philologischen Fakultät an der Universität Łódź gedankt. Besonderer Dank gebührt den Autor*innen der Beiträge. Artur Pełka und Christian Poik, Februar 2021

teil i Desiderate in den Editionen

Das Werk, das Leben Joseph Roths. Kennen wir schon alles? Heinz Lunzer 1.

Der Plan einer neuen Edition der Schriften Roths

Ist es noch nicht genug an Schriften Roths, publiziert in einer zuletzt sechsbändigen Werk-Ausgabe (1989–1991)1 samt einem Ergänzungsband (Unter dem Bülowbogen, 1994)2 und in vier Briefbänden (19703, die beiden Bände mit der Korrespondenz mit den holländischen Exilverlagen4 und die Korrespondenz mit Stefan Zweig5)? Nein, es ist nicht genug, und zwar aus folgenden Gründen: Die sechsbändige Werk-Ausgabe und die Brief-Sammlung (1970) sind: – unvollständig, – fehlerhaft transkribiert,

1 Joseph Roth: Werke 1. Das journalistische Werk 1915–1923. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989. Joseph Roth: Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990. Joseph Roth: Werke 3. Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991. Joseph Roth: Werke 4. Romane und Erzählungen 1916–1929. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989. Joseph Roth: Werke 5. Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990. Joseph Roth: Werke 6. Romane und Erzählungen 1936–1940. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991. 2 Joseph Roth: Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit. Hg. von Rainer-Joachim Siegel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. 3 Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970. 4 Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936–1939. Hg. von Theo Bijvoet, Madeleine Rietra. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991; Geschäft ist Geschäft. Seien Sie mir privat nicht böse. Ich brauche Geld. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und den Exilverlagen Allert de Lange und Querido 1933–1939. Hg. von Madeleine Rietra in Verbindung mit Rainer-Joachim Siegel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005. 5 „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“. Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927– 1938. Hg. von Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel. Mit einem Nachwort von Heinz Lunzer. Göttingen: Wallstein 2011 32019.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_002

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Heinz Lunzer

– sprachlich und formal normiert (die spezifische und absichtsvolle Zeichensetzung Roths ist durch eine jeweils damals aktuelle ersetzt), – vom erhaltenen Material zu jedem erzählenden Werk wird zwar im Anhang berichtet (Handschriften und Typoskripte, wichtige Zeugnisse für Roths Arbeitsweise und Ideenwelt, Drucke); in der Textdarstellung findet dieses Wissen jedoch (mit einer unbefriedigenden Ausnahme) keinen Raum, – die Werk-Ausgabe ist nicht kommentiert, die alte Brief-Sammlung von 1970 nur in bescheidenem Maß. Die anderen drei einzelnen Brief-Ausgaben sind formal wesentlich moderner gestaltet und gut kommentiert. Es ist jedoch eine sehr große Zahl von bisher nicht publizierten Briefen bekannt, sodass eine Gesamtschau aller Briefe in einer chronologischen Folge viele neue Erkenntnisse ermöglichen wird. Die Trennung von erzählenden Schriften (die in unzähligen Nachdrucken von zumeist jenen Textvorlagen, die die sechsbändige Werkausgabe enthält, verbreitet sind) und journalistischen Arbeiten (die nur in wenigen Auswahlen nachgedruckt wurden) und Briefen bringt nicht nur ein Ungleichgewicht in der Zugänglichkeit des Gesamtwerks mit sich. Auch wenn es in vielen Werkausgaben üblich ist, eine solche Trennung zwischen verschiedenen WerkEbenen des Schreibens und der Werk- und Lebensebene – Briefe Schreiben und biografische Fakten – durchzuführen, so ist diese Praxis fast immer künstlich; sie trennt statt dass sie Zusammengehöriges zusammenführt. Das deutlichste Zeichen einer mangelhaften Ausgabe sind Fehler. Es folgen einige Beispiele für irrige Lesungen, manchmal nur von einzelnen Buchstaben, die zu sinnentstellenden Passagen führen – in denen manchmal Inkohärentes steht, manchmal aber geradezu das Gegenteil dessen, was gemeint ist. Aus der Ausgabe Joseph Roth. Briefe 1911–1939, verglichen mit den Originalen: Joseph Roth. Briefe 1911–1939, S. 128 (Roth an Benno Reifenberg, 1928): „Sie selbst werden von Dr Bermann überpoliert werden.“ Richtig ist: „Sie selbst werden von Dr Bermann interpelliert werden.“ (befragt, aufgefordert) Ebd., S. 160 (Roth an Hedy Pompan, 1930): „Ich mache mir viel Arbeit“ Richtig ist: „Ich mache Dir viel Arbeit“ Ebd., S. 192 (Roth an F. T. Gubler, 1931): „für die Öffentlichkeit sich zu arrangieren!“ Richtig ist: „für die Öffentlichkeit sich zu enragieren!“ (aufzuregen)

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Ebd., S. 193 (Roth an die Schwiegereltern): „Es ist kaum zu übersehn: dieser Schmerz hat mich alt gemacht“ Richtig ist: „Es ist kaum zu überleben: dieser Schmerz hat mich alt gemacht“ Ebd., S. 231 (Roth an Stefan Zweig, 1932): „Ach, sagen Sie doch, daß Sie es verziehen.“ Richtig ist: „Ach, sagen Sie doch, daß Sie es verstehen.“

Aus der Ausgabe Joseph Roth. Werke, 1989–1991, verglichen mit den Erstdrucken: Joseph Roth. Werke, Bd. 1, S. 40 (im Text Barrikaden, 1919): „der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht“ Richtig ist: „[…] des Wieners ausmacht“ Ebd., S. 105 (im Text Der Anschluß Deutsch-Westungarns, 1919): „die rein sozialistische Regelung“ Richtig ist: „die rein sozialistische Regierung“ Ebd., S. 157 (im Text Abschied von der Schaffnerin, 1919): „Ihre Kappe war ein Käppi und saß schief auf dem Hinterhaupt, weil ein paar frivole Löckchen gerade Lust hatten, sich die Fahrscheine anzusehen.“ Richtig ist: „[…] weil ein paar frivole Löckchen gerade Lust hatten, sich die Fahrgäste anzusehen.“ Ebd., S. 515ff. (im Text Rehabilitierung des deutschen Frühlings, 1921): „Und ich beklage das Los der deutschen Dichter tief inniglich: Ihrer Werke bemächtigen sich Handel und Industrie, und ihr Gesang wird zur patentierten Schuhmarke“ Richtig ist: „[…] zur patentierten Schutzmarke“ Ebd.: „Diese Verquickung von Majestät und Schnürsenkeln, diese Pathetik im Liftboy, diese Lyrik im Biergläsergeschirr, dieser Handel mit Frühling und Sehnsucht haben den Glauben der Geschmacksnerven an die Echtheit menschlichen Naturgefühls so tief verletzt, daß er zu Skepsis und Ironie wurde.“ Richtig ist: „[…] im Biergläsergeklirr, […] den Glauben der Geschmacksmenschen […]“ Ebd., S. 945f. (im Text Ahnenfabrik G.m.b.H., 1921): „Die Geschlechter ‚derer von‘ errichten sich Denkmäler aere perennis, mit unerhörter Fruchtbarkeit sind ihre Legenden gesegnet“ Richtig ist: „[…] mit unerhörter Fruchtbarkeit sind ihre Lenden gesegnet“ Joseph Roth. Werke, Bd. 2, S. 84ff. (im Text Dialog über das Wochenereignis, 1924): „Wer seine Gedanken austauschen kann, fängt an, sich zu prügeln.“ Richtig ist: „Wer keine […]“

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Heinz Lunzer Ebd., S. 145f. (im Text Altenhilfe der Jugend, 1924): „Toller, Wersel, Whitman“ Richtig ist: „Toller, Werfel, Whitman“ Ebd., S. 346f. (im Text Fünf-Uhr-Tee mit Hexametern, 1925): „Es ist das Epos eines Herrn G. Bresin, es heißt ‚Josephs Träume‘, gemeint ist der biblische Joseph. Der Verfasser sieht deutliche Analogien zwischen der Zeit der Wirrnis im biblischen Ägypten und unserer deutschen Gegenwart und preist die Literatur Josephs mit dem deutlichen Hinweis: ‚Seht, so was brauchte man in Deutschland!‘“ Richtig ist: „[…] und preist die Diktatur Josephs […]“ Ebd., S. 358ff. (im Text Der Herr aus dem Publikum, 1925): „Vielleicht soll sich ein Zauberer täglich mit Geistern unterhalten, mit denen man, wie ich annehme, nicht deutsch, sondern wahrscheinlich irdisch reden muß.“ Richtig ist: „[…] indisch reden muß.“ Ebd., S. 383ff. (im Text Ein düsteres Kapitel, 1925): „Leider sind Gefängniswärter keine Richter.“ Richtig ist: „Leider sind Gefängniswärter keine Dichter.“ Ebd., S. 597 (im Text Gespenster in Moskau, 1926): die alte vorrevolutionäre Gesellschaft wird u.a. charakterisiert durch „Speiseschränke mit Nippessachen; und romantische Erotik.“ Richtig ist: „Speiseschränke mit Nippessachen; und romantische Exotik.“ Joseph Roth. Werke, Bd. 3, S. 3ff. (im Text Hotelpersonal. Ankunft im Hotel, 1929): „Ich stelle mir vor, daß er die Launen der Kessel genau kennt und die Fähigkeiten der Küche“ Richtig ist: „[…] Fähigkeiten der Köche“ Ebd., S. 193ff. (im Text Das Vaterhaus, 1930): „und gestützt von den soliden Balken der Autorität, wölbte sich sein Dach schimmernd über der heranwachsenden Nachkommenschaft.“ Richtig ist: „[…] sein Dach schirmend über […]“ Ebd., S. 718ff. (im Text An Tschuppiks Grab, 1937): „Und nachsichtig, ja leichtsinnig oft, wie er sich der Frivolität und der Nichtzugehörigkeit gegenüber zeigte, blieb er hart“ Richtig ist: „Und nachsichtig, ja, leichtsinnig oft, wie er sich der Frivolität und der Nichtsnutzigkeit gegenüber zeigte, blieb er hart,“ Ebd., S. 742ff. (im Text Grillparzer. Ein Portrait, 1937): „Zugleich widersprach er auch der in seinem Lande höheren Orts so beliebten Auffassung von dem unbequemen, lebensfreudigen Untertan.“ Richtig ist: „Zugleich widersprach er auch der in seinem Lande höheren Orts so beliebten Auffassung von dem bequemen, lebensfreudigen Untertan.“

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Ebd., S. 788ff. (im Text Der Mythos von der deutschen Seele, 1938): „Das Blut, das rot aus der Wunde strömt, bekommt also eine distanzierende violette Tönung gleichsam, und das Opfer wie der Mörder sehen beide so aus, als warteten sie nur auf das Niedergehen des Vorhangs, um sich hinter den Kulissen gegenseitig freundschaftlich den Schmerz, die Wunde und den Hals abzuschminken.“ Richtig ist: „[…] distanzierende, violette Tönung […] den Schmerz, die Wunde und den Hass abzuschminken.“ Joseph Roth. Werke, Bd. 4, S. 411 (im Text Die Flucht ohne Ende, 1927): „Er saß in dem Büro eines neubegründeten Instituts, dessen Aufgabe es war, einige kleine Völker des Kaukasus mit einem neuen Alphabet, mit Fibeln, mit primitiven Zeitungen zu versehen, neue rationale Kulturen zu schaffen.“ Richtig ist: „[…] neue nationale Kulturen […]“ Joseph Roth. Werke, Bd. 5, S. 134 (im Text Hiob, 1930): „Unter diesem Himmel war es Mendel recht, zu glauben, daß Jonas sich einmal wieder einfinden würde und Mirjam […]“ Richtig ist: „Unter diesem Himmel war es Mendel leicht, zu glauben, daß Jonas sich einmal wieder einfinden würde und Mirjam […]“

Gelegentlich sind Zeilen oder Worte der Vorlage ausgelassen, wie zum Beispiel: Ebd., S. 757 (im Text Sentimentale Reportage, 1927): „Wenn der Hund zwar noch ein Halsband, aber keine Marke mehr besaß, so war anzunehmen, daß ihn sein Herr nicht verloren, sondern verlassen hatte. Ich nahm es jedenfalls an, daß der Herr den Hund gekauft hatte – in der Meinung, es sei ein Fox.“ Richtig ist: „[…] Ich nahm es jedenfalls an, weil ich nicht glaube, daß der Mensch gut ist. Ich nahm an, daß der Herr den Hund gekauft hatte – in der Meinung, es sei ein Fox.“ Joseph Roth. Werke, Bd. 5, S. 94 (im Text Hiob, 1930): „Deborah reißt sich die Haare aus.“ Richtig ist: „Deborah reißt sich sachte die Haare aus.“

Fast durchgehend wurde Roths eigenwillige Beistrichsetzung ignoriert bzw. normiert, obwohl sie nicht der Willkür, sondern (manchmal altertümlichen) Regeln folgt, die sich an Hervorhebung etwa beim laut Lesen eines Textes, für eine Pause oder zur Betonung des Folgenden, orientieren. Einige wenige Beispiele: Joseph Roth. Werke, Bd. 4, S. 294 (im Text Die Rebellion, 1927): „[…] trat Frau Katharina ein, und als hätte ihn plötzlich etwas auf seinem Sitz gestochen, sprang der Mann in die Höhe.“ Richtig ist: „[…] trat Frau Katharina ein und, als hätte ihn plötzlich etwas auf seinem Sitz gestochen, sprang der Mann in die Höhe.“

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Heinz Lunzer Joseph Roth. Werke, Bd. 5, S. 213 (im Text Radetzkymarsch, 1932): „Er nahm die Brille ab und putzte sie lange.“ Richtig ist: „Er nahm die Brille ab und putzte sie, lange.“ Ebd., S. 216: „Er wußte es ganz genau auswendig.“ Richtig ist: „Er wußte es ganz genau, auswendig.“

Wie findet man solche Fehler? In unserem Fall war es so: Zuerst haben wir begonnen, eine neue Edition von Briefen und Dokumenten zusammenzustellen. Da sich die Dokumente vielfach aufs publizierte Werk beziehen, braucht es eine verlässliche Textgrundlage – und die Skepsis am Text, angespornt durch Zufallstreffer und bereits vorhandene Kritik anderer, führt rasch zur Einsicht, dass die publizierten Texte nicht verlässlich vorliegen. Schließlich bestärkt der allerdings arbeitsaufwendige Vergleich des Publizierten mit den Erstdrucken in Zeitungen und Zeitschriften wie in Büchern, Handschriften und Typoskripten den Eindruck, dass man die Werkausgabe und ihre Derivate nicht als sichere Textgrundlage verwenden kann. (Übrigens gilt die Skepsis am Text gleichermaßen beim Einarbeiten von Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchdrucken, schon da ist allerhand Textentstellendes passiert.) Dazu kommen die Informationen zum Werk, zur Arbeitsweise des Autors, die in den erhaltenen Handschriften und Typoskripten stecken – zumeist überraschende, interessante Aspekte. Diese bereiten die Herausgeber*innen für die Leser*innen auf; sie gehören zum Werk und zur Werkgeschichte und dürfen in einer neuen Edition nicht fehlen; sie sollen aber nicht wie so oft im Anhang dämmern, sondern im Darstellungsbereich des Texts figurieren. Diese Fakten, zusammen mit Überlegungen zur formalen Darstellung der Texte in ihren Zusammenhängen, führen zum Konzept einer neuen Edition aller Schriften Roths, nach wohl überlegten und erprobten sprachlichen und formalen Gesichtspunkten. Neu (gegenüber traditionellen Editionsmodellen) sind vor allem diese Grundsätze: – ein möglichst enges Nebeneinander der Texte Roths (der journalistischen Arbeiten und der Prosa) und der Briefe und begleitenden Dokumente, – in chronologischer Reihe, – das Prinzip, die Handschriften, Typoskripte, Korrekturfahnen, Erstdrucke und Nachdrucke zu Lebzeiten exakt wiederzugeben, ohne irgendwelche Modernisierungen oder Veränderungen, – sie alle mit dem Referenztext (in der Regel der Erstdruck) vergleichend nebeneinander darzustellen, – kommentiert in Zusammenhang mit Leben und Zeit des Autors und – angenehm lesbar und verständlich für die Leser*innen.

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Ein Werk ,zeitgleich‘ und parallel nach Jahren und Arbeitsbereichen (also handlichen Einheiten) zum Lesen aufzubereiten bedeutet: jeweils Bände für ein Kalenderjahr von Werk und Leben Roths in folgenden Inhaltsgruppen herzustellen: – Briefe, Notizen und andere Dokumente, – Schreiben für die Zeitung und Zeitschriften und – Prosa, die zumeist für die Publikation in Buchform geschrieben wurde. (Eine Ausnahme wird das jugendliche lyrische Werk bilden.) Die Herausgeber*innen haben eine Form des Drucks entwickelt, die sowohl hohe Lesbarkeit wie eine zeitgemäße Methode des Kommentierens enthält, nämlich prinzipiell auf jeder Seite: – eine breite Textspalte, die den Referenztext (zumeist den der Erstpublikation) enthält, – eine (meist) schmälere Kommentarspalte, die editorische Hinweise und den Kommentar enthält; und, sofern vorhanden, Varianten von Vorstufen des Texts (Handschriften Roths, Typoskripte, Abdrucke von Romanen in Zeitungen und Zeitschriften) sowie Varianten von Nachdrucken, die bis zum Tod des Autors 1939 erschienen sind. In der Regel genügen dafür eine Text- und eine Kommentarspalte pro Seite; im Ausnahmefall (wie beim Roman Die Geschichte von der 1002. Nacht) braucht es bis zu vier Spalten, also eine Doppelseite, um die jeweils mehreren voneinander stark abweichenden Typoskripte, Probedrucke und den Text des Erstdrucks als Buch, samt Kommentar, darzustellen. Für alle Arten von Text-Varianten wird Farbdruck verwendet, um sie nebeneinander und leicht lesbar sowie leicht vergleichbar darzustellen. Durch diese Anordnung wird ein ungemein spannender Einblick in die Arbeitsweise des Autors eröffnet: Sie ist oft durch sprachliches Feilen, Präzisieren, inhaltliches Reduzieren aufs Wesentliche und Wegstreichen von blumigem oder ablenkendem Ballast gekennzeichnet. Alle Texte werden anhand der Originale (Handschriften, Briefe, Typoskripte, Zeitungs- Zeitschriften- und Buchdrucke) in ihrem exakten Wortlaut überprüft und so ohne jede Normalisierung oder Modernisierung wiedergegeben. Auf diese Weise sind zum ersten Mal Roths sprachliche und grammatikalische Eigenheiten, insbesondere seine individuelle Schreibweise mancher Wörter und die Zeichensetzung, erlebbar. (Roths individuelle Regeln beachteten u.a. die Akzentuierung und die Pausen, wie sie etwa beim lauten Lesen des Textes hilfreich sind, mit großer Stringenz.) Die Varianten werden also nicht (wie zumeist in kritischen Ausgaben) in den Anhang versetzt; hier stehen sie unmittelbar neben der entsprechenden Stelle des Referenztextes. Die Varianten sind in Farben wiedergegeben, es wird bei Handschriften sogar nach

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Bleistift und Tinte unterschieden, da sie oft auf ein Hintereinander der Niederschrift bzw. Korrektur hinweisen. Die Gliederung der Edition nach Jahren soll sowohl handliche Bucheinheiten ergeben wie auch die zahlreichen Querverbindungen zwischen den im Wesentlichen drei Arten des Schreibens (Briefe, Journalistisches, Erzählendes) gut erkennbar machen. Es wird das parallele Lesen leicht gemacht: von Briefen und anderen Lebensdokumenten, von Texten, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind und von Romanen und anderen Texten in Buchform (oder Texten, die Roth für die Publikation in einem Buch konzipiert oder zusammengestellt hat). Es werden also keine zeitlosen Wälzer „Sämtliche Werke“ produziert, sondern große und kleine Arbeiten Roths in genau die Zeit situiert, in der / aus der heraus sie geschrieben wurden. Jeder Roman, jedes von Roth geplante Projekt soll in einer eigenen Bindeeinheit vorgelegt werden. Ebenso die Bände „Briefe und andere Dokumente“ und „Schreiben für die Zeitung“. In intensiven Jahren können sie 200 bis 300 Seiten Umfang erreichen; in anderen Jahren deutlich weniger; je nachdem, wieviel Roth geschrieben / publiziert hat und was (an Vorstufen und Nachdrucken zu Lebzeiten Roths) davon erhalten ist. Wir gehen ganz bewusst vom artifiziellen Aspekt der üblichen Ausgaben ab, die den Entstehungsprozess und die biografischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ganz oder weitgehend ausklammern. Roth-Leser*innen werden sich freuen, einen ganz neu erlebbaren Roth zu finden, was Texte wie auch biografische und andere Informationen betrifft; mehr Material, besser verstehbar und in seinen Gegebenheiten durchschaubar. Die Internationale Joseph Roth Gesellschaft in Wien hat zu ihrem zehnjährigen Bestand für die Jahre 2018 und 2019 je zwei Hefte der Schriftenreihe herausgebracht, die gemeinsam einen Blick in eine von den Herausgeber*innen (Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos, Helen Chambers, Madeleine Rietra, Rainer-Joachim Siegel, über Jahre ausgewiesene Roth-Forscher*innen) vorgeschlagene zukünftige Edition aller Schriften Roths erlauben. Beispielhaft für den Zeitraum der Monate Juni bis Oktober 1927 enthalten die vier Hefte auf jeweils etwa 40 Seiten, großteils leserfreundlich in Farbe gedruckt, in komplettem und anhand der Originale kontrolliertem exakten Wortlaut, alle Versionen der Texte, inklusive Vorstadien und Nachdrucken. Die Hefte der Schriftenreihe werden ausschließlich für Mitglieder der IJRG produziert; sie sind nicht im Buchhandel erhältlich.

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Zum Umgang mit biografischen Angaben zu Roth

Man muss für die erste Runde von Grundlagenforschung, die David Bronsen in den 1960er und 1970er Jahren durchgeführt hat, sehr dankbar sein, weil er eine große Zahl von Aussagen von Zeitzeug*innen gesammelt hat, die uns zahlreiche Details zu Roths Leben erzählen (ein gleicher grundlegender Dank gilt Hermann Kesten, Klaus Westermann und Fritz Hackert für ihre wichtigen Schritte bei der Auffindung und Zusammenstellung von Werken, Briefen und Publikationen Roths). Es sollte uns aber bewusst sein, dass das alles kein Endergebnis, sondern Vorarbeit für erneute Forschung, für weitergehende Überlegungen, für noch präzisere Erstellung der Werktexte, der Angaben zur ihrer Entstehung, der Fakten zum Leben Roths sein muss – also einer nächsten Runde der Grundlagenforschung zu diesem Autor. Im Bereich der Biographie liefern die Aussagen von Dokumenten und Zeitzeugen viele Informationen und Hinweise die vorsichtig eingeschätzt, kombiniert und gegeneinander abgewogen werden müssen. Der Weg von individuellem Erinnern zu allgemeiner Glaubwürdigkeit und abgesicherten Fakten ist nicht immer geradlinig oder einfach zu finden. Hier folgen die Faktensammlung und Überlegungen zu einem Beispiel aus der Biografie Roths, das besonders viele Gerüchte und eine größere Zahl von Fragezeichen aufgeworfen hat – und der Versuch, die Ereignisse vorsichtig einzuschätzen. 3.

Ein Beispiel: Die letzte Reise Roths nach Wien im Jahr 1938

Die Quellenlage, wie sie primär David Bronsen erforscht und dargestellt hat,6 ist diffizil: Die Erinnerungen der Zeitgenossen differieren und geben Ungenaues in Sachen Dauer des Aufenthalts und Motivationen zur Reise. So sehr man Bronsens Recherchen in Befragungen von Personen, die sich an Roth erinnerten, schätzen muss, so vorsichtig sind sie zu evaluieren und miteinander oder mit stichhaltigen Angaben zu vergleichen. Natürlich bleibt die Bewertung einzelner Aussagen immer dem Interpreten als Aufgabe – zu vereinfachen oder eine Zeugenaussage als genau und erschöpfend zu nehmen, erweist sich oft als voreilig.7 Eine historische Begebenheit ist selten lückenlos und logisch zu rekonstruieren. Also muss man 6 David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974. 7 So geschehen z.B.  in  Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003, S. 1277. Der Verfasser konstruiert ein Treffen Musils mit Roth im Februar 1938, obwohl Musil

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als Biograph*in, Kommentator*in oder Herausgeber*in Hypothesen und Analogien zu Hilfe nehmen, um Wahrscheinlichkeiten herauszufiltern; mag man als Leser*in entscheiden, was einem oder einer plausibel erscheint. 3.1 Der Zeitrahmen Februar 1938, Österreich, in Stichworten Nach fünf Jahren immer drohender werdender, immer radikaler artikulierter Annexionsgelüste des nationalsozialistischen Deutschland, seit dem abortiven Putschversuch vom Juli 1934 in friedlich scheinenden Schritten, wie dem Abkommen vom 11. Juli 1936, nach verstärkten nationalistischen Appellen seitens der seit Februar 1934 entwickelten ständestaatlichen Diktatur in Österreich, nach ausdauernden aber nicht sehr effizienten Versuchen der Monarchisten, in Österreich den Wunsch einer Rückkehr des Kaiserhauses zu verankern, wurde am 12. Februar 1938 in einem Gespräch in Berchtesgaden von Reichskanzler Adolf Hitler dem österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg u.a. eine sofortige, dem Dritten Reich entgegenkommende Regierungsumbildung aufgezwungen und eine Erweiterung der Aktionsfreiheit der Nationalsozialisten in Österreich ermöglicht; bei Nichtbefolgung drohte Hitler mit dem Einmarsch, was allerdings nicht publik gemacht wurde. Die österreichische Regierung stellte ganz im Gegenteil das Gespräch als erfolgreiche Fortsetzung des Juliabkommens von 1936 dar. Schuschnigg versuchte am 24. Februar 1938 in einer vom Rundfunk auch auf öffentlichen Plätzen und in Theatern übertragenen Rede den österreichischen Patriotismus zu stärken, ohne eine historische, sprachliche und ethnologische Nähe zu den deutschen Nachbarn in Abrede zu stellen. In den Tagen nach Schuschniggs Rede gab es große patriotische Begeisterung und sogar Bekundungen seitens der seit 1934 verbotenen Sozialdemokraten, mit ihm zum Wohl Österreichs bereit zum Kooperieren zu sein. Am 9. März kündigte Schuschnigg eine Volksabstimmung für ein freies und unabhängiges Österreich an, die am 13. März stattfinden sollte. Otto Habsburg hingegen hatte schon in einem Brief vom 17. Februar 1938 vorgeschlagen, Schuschnigg möge, sobald er glaube, dem Druck „von deutscher oder betont-nationaler Seite nicht mehr widerstehen zu können“, ihm „das Amt eines Kanzlers zu übergeben“; er deutete an, vor einem militärischen Widerstand gegen einen Einmarsch deutscher Truppen nicht zurückschrecken zu wollen. Schuschnigg lehnte am 2. März ab.8

in dieser Zeit in Berlin war, basierend auf falsch interpretierten Erinnerungen Soma Morgensterns, die sich (ungenau) auf das Jahr 1937 beziehen. 8 Diese Korrespondenz blieb vorerst geheim; sie wurde erst in der Nummer vom 1.02.1939 in der legitimistischen Zeitschrift Die Österreichische Post (Paris, S. 3f.) veröffentlicht.

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Die österreichischen Legitimisten hielten im Februar 1938 mehrere Treffen ab. Sie befürworteten zwar die Rede Schuschniggs vom 24. Februar, wiesen jedoch auf die offenen Probleme hin. Diese vorsichtig formulierte Resolution konnte erst am 3. März publiziert werden.9 (Der Ständestaat wachte genau über die Zeitungen.) Es folgten diverse Ultimata Deutschlands, denen sich Österreich schließlich am Abend des 11. März beugte. Bundeskanzler und Minister für Landesverteidigung Schuschnigg tat es mit der Begründung, dass auf keiner Seite deutsches Blut fließe. Am Morgen des 12. März 1938 besetzten deutsche Truppen die Grenzübergänge zu Österreich und der Einmarsch begann. 3.2 Was also wissen wir über Roths Reise nach Wien im Februar 1938? Vorab das amtliche Dokument, mit einer Aussagekraft hoher Glaubwürdigkeit: Roths Meldezettel (der Bronsen nicht bekannt war).10 Darin ist verzeichnet: – die Ankunft Roths mit 25. Februar 1938, – seine Abreise mit 2. März 1938 – und als Unterkunft das Hotel Atlanta, (1090) Währingerstraße 33. Der Name des Autors ist voll (allerdings wie so oft in Österreich mit „Josef Roth“) genannt. Was die Abfahrt von Paris und den Informationsstand Roths betrifft, gibt sein Brief an Pierre Bertaux vom 24. Februar 1938 interessante Details: [Paris, Gare de l’Est] Paris-Est Buffet-Bar Lieber Freund, 1.) vor der Abfahrt: in Österreich wahrscheinlich Belagerungszustand, damit Innenpolitik ganz in Händen Skubls bleibt. 2.) Jesuitisch – typisch: Hälfte der Österreicher Nazis, die freigelassen waren, schon wieder eingesperrt. 3.) Für Frankreich meine Ratschläge: a.) mit Rußland; b.) mit Tschechoslowakei offen zu erklärendes militärisches Bündnis; c.) Eintreten für Österreich, offen d.) Pyrenäen. Herzlichst, mein Zug geht Ihr alter Joseph Roth Bitte noch: Ce Soir sagen, daß ich aus Wien schreibe!11 9 Die Legitimisten zur Kanzlerrede. In: Neue Freie Presse (Wien), Nr. 26393A, Abendblatt vom 3.03.1938, S. 8. 10 Meldezettelarchiv der Polizei im Wiener Stadt- und Landesarchiv. 11 J. Roth: Briefe 1911–1939, S. 520, Anm. S. 613f.

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Was Roth ihm, unmittelbar vor seiner Abfahrt von Paris nach Wien, über die Lage in Österreich mitteilte, stammte nicht aus Zeitungen (die bräuchte er für den politisch versierten jungen Freund nicht abzuschreiben), sondern aus mündlichen Berichten von „informierten Kreisen“, gemischt mit Roths eigenen Überlegungen. Dem Berchtesgadener Abkommen folgend wurde am 16. Februar 1938 der Nationalsozialist Arthur Seyß-Inquart Bundesminister des Innern und des Sicherheitswesens; Michael Skubl (seit 1934 Polizeipräsident und seit 20. März 1937 Staatssekretär für Sicherheitswesen) sollte entmachtet werden; was Roth zufolge bereits konterkariert werde. Diese Information Roths ist aber nicht zu verifizieren. Der Brief enthält neben verschiedenen Andeutungen (in der bei Kesten publizierten Form – wir kennen leider von allen Bertaux-Briefen die Originale nicht) zumindest eine unrichtige Information: Roth schrieb wohl nicht für den kommunistischen Ce Soir aus Wien. Die telefonischen Berichte stammen zwar von einem namentlich nicht genannten Sonderberichterstatter (zumeist von Paul Nizan zusammengefasst und kommentiert);12 Roth hätte aber wohl nicht für ein deklariert kommunistisches Blatt gearbeitet.13 Ob er für eine andere französische Zeitung schrieb, ist uns (noch) nicht bekannt. (Paris-Soir war es auch nicht: Spezialkorrespondent war Léon Herman.) Das Datum der Abfahrt in Paris passt zum Ankunftstag am Meldezettel. 3.3 Eine bisher nicht publizierte zeitgenössische Quelle Roth schreibt am 27. Februar 1938 aus Wien einer Jugendfreundin, Grete Freund, die mittlerweile nach Paris emigriert ist und im Sekretariat der Zeitschrift Das Neue Tage-Buch arbeitet, und immer öfter auch für Roth privat, dass er ihre Eltern in Wien aufgesucht habe, und dass er voraussichtlich am Mittwoch (dem 2. März 1938) wieder in Paris sein werde (die Ankunft war wohl erst am 3. März).14 Diese Daten stimmen ungefähr mit den Angaben des Meldezettels überein. Demgegenüber geben verschiedene Erinnerungen weitere Einzelheiten, aber unterschiedliche Zeitrahmen:

12 Erst über den ,Anschluss‘ berichtete die Star-Reporterin Andrée Viollis selbst aus Österreich. 13 Vgl. allerdings Roths Teilnahme an der kommunistischen Veranstaltung „L’Autriche vivante“ am 5. April 1938; vgl. Heinz Lunzer: Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939. Wien: Zirkular 22008, S. 136ff. 14 Bundesarchiv Berlin, R/8046/4 Das Neue Tage-Buch 1933–1940, Blatt  34; Hs.; 1 Bl., 2  S. Zum Datum: Poststempel der Aufgabe: Wien 27. II 38, 18h.

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Roths Schwägerin Hedy Pompan / Davis erinnert sich ungenau.15 Roth sei „[k]napp vor dem Anschluss“ nach Wien gekommen und „[e]r blieb 2-3 Tage und ging drei Tage vor dem Anschluss fort.“ Beide Angaben im Interview mit David Bronsen vom 8. Mai 1961 entsprechen nicht den Daten des Meldezettels. Von Stefan Fingal stammt die Information, dass Roth mit Michael Skubl, dem Leiter der Bundespolizeidirektion Wien und Staatssekretär, gesprochen habe: Wir sahen uns durch Zufall. Ich sah ihn in einem Kaffee in der Spiegelgasse mit einer Dame. Das war die Schwester von Friedel Roth. Wir sprachen von dem [drohenden] Putsch. Er gab mir noch eine Empfehlung an General Sommer16, die ich aber nie benützt habe und wohl auch nie benützen hätte können. Es war, ich glaube mich genau zu erinnern, der Freitag vor der Volksabstimmung. Zu dieser Stunde war er ganz auf Optimismus eingestellt. Später, in Paris, erzählte er mir er sei am selben Abend zu Skubl gerufen worden, der ihm dringend geraten habe, Wien zu verlassen. Roth erzählte mir, er hätte damals die Absicht gehabt, in Särgen (die angeblich Leichen nach Österreich bringen sollten), Waffen einzuschmuggeln, aber diese Kateridee stammte nicht von ihm! Sie war ihm wahrscheinlich von Naziprovokatören suggeriert worden. J.R. hat sich nie zu dieser Idee bekannt. Dagegen ist es sehr gut möglich, dass er in dem Versuch, Otto im letzten Augenblick einzusetzen, eine Rolle spielte. Roth war auf Schuschnigg nicht gut zu sprechen. Man darf da nicht vergessen, dass Roth damals noch im Liebesfrühling zu Otto stand. Mir sagte er, er sei von Schuschnigg beinahe abgeschoben worden. Das war vielleicht übertrieben, aber ich kann mir denken, dass man in diesem Augenblick der Fieberhitze politische Dilettanten lieber ausserhalb der bedrohten Grenzen sah. Genaueres über den „Roth-Putsch“ kann wohl nur Schuschnigg wissen.17

Als Termin eines Treffens mit Roth wäre Freitag, der 11. März 1938 zu spät im Vergleich mit dem Meldezettel. Zu Treffen Roths mit Skubl und Schuschnigg gibt es durch diese keine Bestätigung.18 Auch Franz Theodor Csokor erinnert sich, amüsiert übertreibend, mit Roth gesprochen zu haben; er habe ihm und anderen zur raschen Ausreise geraten.19 15 D.  Bronsen: Joseph Roth, S.  505; vgl. Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Handschriftensammlung, Joseph Roth / David Bronsen, Mappe 18/2.5, S. 3, Text danach in: H. Lunzer: Joseph Roth im Exil, S. 131. 16 General Emil Samuel Sommer war Leiter des Verbands Legitimistische jüdische Frontkämpfer und stand Otto Habsburg nahe. 17 Stefan Fingal an Senta Zeidler, Brief vom 8.10.1954, S. 1 verso. Sammlung Senta Lughofer, Linz. Bronsens Notizen von seinen Gesprächen mit Fingal erwähnen den Besuch Roths in Wien nur kursorisch. 18 Vgl. D. Bronsen: Joseph Roth, S. 505. 19 Franz Theodor Csokor: Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933–1950. München, Wien: Langen Müller, S. 160.

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Csokors Erinnerungen sind (wie auch seine z.T.  erinnerte  Korrespondenz) ungenau. Er habe Roth im Hotel Bristol getroffen. Das im Meldezettel genannte Hotel Atlanta war auch für das diskrete Auftreten (das für den Zusammenhang schon ein gutes Argument ist, wenn man allein in Betracht zieht, wie viele Nazis in Wien herumgelaufen sind, die den Juden und deklarierten Gegner der NS erkennen hätten können) wesentlich geeigneter als das zweitteuerste Hotel der Stadt im Zentrum. Und Soma Morgenstern erinnerte sich so:20 Roth sei ein paar Tage nach dem Treffen Schuschnigg-Hitler in Berchtesgaden am 12. Februar 1938 in Wien aufgetaucht; Roth habe den Freund nur diskret sehen wollen, nicht in einem der sonst frequentierten Kaffeehäuser. Er sei hier „inkognito“, in geheimer Mission, bestellt von Graf Heinrich DegenfeldSchonburg, einem Sekretär Otto Habsburgs. Eine als Treffpunkt genannte Mainl- (oder auch: Meinl-)Stube haben wir bis dato nicht identifizieren können. Klaus Dohrn erwähnt mehrfach, aber wenig genau Roths Mitarbeit an der Zeitschrift Der Christliche Ständestaat und seine Aufenthalte in Wien in den dreißiger Jahren. In einem Brief an Senta Zeidler vom 23. Juni 1954 und in einem Gespräch mit David Bronsen am 20. Juni 1961 berichtete er pauschal von Roths Aversionen gegen Schuschnigg. Auch wenn er sie mit dem Versuch einer Beeinflussung des Kanzlers durch Roth im Februar 1938 in Zusammenhang brachte, erscheint mir der Quellenwert der Schilderung allgemein, den Kanzler betreffend, stimmig, aber nicht spezifisch für diesen Aufenthalt.21 Mit den sicheren Quellen sind somit die Eckdaten des Aufenthalts belegt. Die individuellen Erinnerungen heben Verschiedenes hervor. Roths Diskretion lässt zum eigentlichen Zweck der Reise Geheimnisvolles vermuten; aber bisher sind keine eindeutigen Dokumente dazu aufgetaucht. Daher folgen nun einige Fakten zu Roths Leben aus dieser Zeit, die manches Phantastische oder Unwahrscheinliche abzuwägen ermöglichen. 3.4 Überlegungen zu dieser Informationslage Roth hat seit längerem22 die Ansicht vertreten, dass die Legitimisten in Österreich bei der Abwehr der deutschen Infiltrations- und Annexionspläne mehr erreichen würden als Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und erst recht als Kurt Schuschnigg. 20 Soma Morgenstern. Joseph Roths Flucht und Ende. Hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg: zu Klampen 1994, S. 185f. 21 Klaus Dohrn an Senta Zeidler, Brief vom 23.06.1954 und im Gespräch mit David Bronsen am 20. Juni 1961. In: H. Lunzer: Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939, S. 149f. 22 Zuerst in einem Brief an Zweig vom 28.04.1933, vgl. „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, S. 101f.

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Roth unterhielt eine Korrespondenz mit Friedrich Wiesner, der ein wichtiger Exponent der Legitimisten war. Er rühmte sich einer Nähe zum Thronprätendenten Otto Habsburg. Aber für diesen war er keine Person, die er zu seinem persönlichen oder einem Emissär seiner Pläne machen würde. (Roth bekam zwei Dankschreiben für Zeitschriftenaufsätze von Sekretären Habsburgs „in dessen Auftrag“, eines davon von Degenfeld). Viel über die Beziehung Roth – Otto Habsburg ist Legende, um nicht zu sagen: fast alles; sehr wenig ist belegt. Roth kannte etliche Legitimisten, nicht nur Adelige, manche wohl auch persönlich. Roth machte sich bei den Legitimisten nicht nur zum Liebkind – er kritisierte z.B., dass sie viel zu zögerlich agierten. Roth galt nicht als prominente öffentliche Person unter den Legitimisten, schon gar nicht in ihrer Wirkung nach außen. Schuschniggs Rede vom 24. Februar 1938 wurde in Österreich pflichtgemäß bejubelt, so als hätte man eine Heldentat gegen Hitler vollbracht. Auch die ausländische Presse, mit Ausnahme Deutschlands, hat die Rede positiv eingestuft. Tatsächlich war sie reich an nichtssagenden, unengagierten, diplomatischen, deutschtümelnden Sprüchen.23 Auch die obersten Gremien der Legitimisten haben ein Treffen in Wien abgehalten, und zwar am 26. Februar 1938, also kurz nach Schuschniggs Rede. Ein betont nüchterner Bericht darüber erschien erst fünf Tage später auf der letzten Seite des Abendblatts der Neuen Freien Presse (die Presse war offenbar gehalten, möglichst wenig über Legitimistisches zu melden); natürlich ohne Erwähnung einzelner Namen. Der Standpunkt der Legitimisten (zusammengeschlossen im „Eisernen Ring“) klang alarmiert, wie der Brief Habsburgs, der bereits am 17. Februar 1938, also kurz nach dem Bekanntwerden des Berchtesgadener Abkommens, geschrieben worden war. Sie erwarteten eine Entscheidung in ihrer Sache, allerdings abhängig von außen und nicht aus eigenem, alleinigem Aktionswillen. Man kann annehmen, dass Roth von diesem Vorschlag Habsburgs und insgesamt der Zuspitzung der Lage (wie viele Insider) genau informiert war. Also, vielleicht zahlten Legitimisten Roth die Reise und den Aufenthalt in einem bescheidenen Hotel? – zählten ihn aber eher nicht zu den Hauptakteuren. Andererseits gab es keine dringenden familiären oder geschäftlichen Gründe für eine Reise Roths nach Wien. Roth verfügte 1938 keineswegs über das Geld, auf eigene Kosten nach Wien zu fahren. Ein im Brief an Pierre Bertaux angedeuteter Auftrag, für eine 23 Vgl. Neue Freie Presse (Wien) Nr. 26387 M, Morgenblatt vom 25.02.1938, S. 1ff.

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Zeitung aus dem krisengeschüttelten Österreich zu berichten, hat sich nicht verifizieren lassen. Dass Roth die Reise als eine konspirative Sache deklarierte, entspräche dem großteils geheimen Auftreten der leitenden Monarchisten und der gebotenen Diskretion zur Sache. (Es gab Redner und Agitatoren der Legitimisten, die bei der Bevölkerung populär wirkten, welche Roth kannte. Aber sie waren nicht aus dem Hochadel.) Immerhin hatten Gespräche der Art, wie sie die Legitimisten nun intern führten, einen Staatsstreich zum Inhalt. Dass Roth von der Unterwanderung der österreichischen Polizei durch Nationalsozialisten wusste, kann angenommen werden; in der Lage verhält man sich als erklärter, sich häufig öffentlich äußernder Gegner derselben, und als Jude, unauffällig, wenn man glaubt, auf politischer Mission zu sein. Roth hat Politiker, Diplomaten und Journalisten in Wien persönlich gekannt – eine berufliche Notwendigkeit und ein Bedürfnis Roths, der ein Mann ungemein vielseitiger Vernetzungen war; allerdings ist das speziell für diese hektische Zeit wie 1938 kaum überprüfbar. Es liegen nur zwei Publikationen Roths vor, die im Zusammenhang zu den Ereignissen der Tage Ende Februar 1938 stehen. Eine war bereits am 22. Jänner 1938 in Das Neue Tage-Buch (Paris und Amsterdam) erschienenen, als Dreimal Oesterreich. Bemerkungen zum Buch des österreichischen Bundeskanzlers von Schuschnigg veröffentlicht (das Buch, das ihm Anlass bot, war noch 1937 erschienen). In den ersten beiden Abschnitten des Aufsatzes skizziert Roth präzise seine eigenen Vorstellungen von der besonderen und durchaus eigenständigen Rolle Österreichs im gegenwärtigen europäischen Gefüge und besonders abgrenzend zu dem, was Deutschland symbolisiere. Im dritten Teil hebt Roth die Subtilität der Wortwahl und der Begriffe in Schuschniggs Buch hervor, die jene Eigenständigkeit des „österreichischen Deutschen“ gegenüber dem „deutschen Deutschen“ manifestierten. Nun schrieb Roth einen Artikel über Schuschniggs Rede vom 24. Februar 1938, mit dem Titel Victoria Victis! Zur Rede des Bundeskanzlers, der in der relativ offiziellen Zeitschrift Der Christliche Ständestaat, und zwar in der letzten vor dem ‚Anschluss‘ in Österreich verbreiteten Nummer vom 6. März 1938 erschien.24 Roth muss diesen Beitrag noch in Wien verfasst haben; für eine Zusendung aus Paris nach seiner Rückkehr wäre redaktionell nicht mehr genügend Zeit vorhanden gewesen. Roth preist die technische Errungenschaft der Rundfunkübertragung einer solchen Ansprache, wie sie technisch in Österreich offenbar zum ersten Mal 24

Joseph Roth: Victoria Victis! Zur Rede des Bundeskanzlers. In: Der Christliche Ständestaat (Wien), Jg. 5, Nr. 9 vom 6.03.1938, S. 175f.

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in großem Stil und mit besonderer Bedeutung für eine Mobilisierung der Bevölkerung durchgeführt worden war.25 Aber auch als die Besonderheit, dass sich der Redner primär an ein Publikum wendet, das ihm nicht gegenüber steht und das ihm nicht spontane Reaktionen erkennbar machen kann. Roth stellt sich aber auch skeptisch gegen die Technik auf, gegen „das seelenlose Instrument“, das „den Redner nur absorbiert“.26 Er kontrastiert dies zu den menschlichen ,Laut-Sprechern‘, also Schreihälsen, die weniger durch Inhalte, als durch Lautstärke überzeugen wollen, wie die nationalsozialistischen Redner es taten. Roth gibt vor, die Qualität der Rede des Bundeskanzlers zu loben, der früher nicht immer frei von phrasenhaftem Reden gewesen wäre. Er führte sie darauf zurück, dass ein gläubiger Mensch „mit der Ehrfurcht vor dem Wort“27 gesprochen habe. Auf die Tatsache, wie weit der Bundeskanzler in seiner Rede jene Prononciertheit wieder verwischt hat, die das Erstaunliche seines Buchs Dreimal Oesterreich ausgemacht hatte, und wie weit die Rede Liebdienerei am Deutschtum enthielt, geht Roth nicht ein. Klar, dass Roth die Gelegenheit zu so einem Artikel, wohl halbwegs gut bezahlt, nicht ausschlug; aber an der Schwäche von Roths Argumenten und daran, wie er sich windet und eilig schlecht schreibt, ist zu erkennen, dass Schuschniggs Bemühen des Schönredens vergeblich gewesen sei, er in Roths Augen schon gegen die Nationalsozialisten verloren habe.28 Die Frage, ob der Titel des Berichts (der kein prominentes Zitat ist) von Roth stammt, muss offen bleiben. Es erstaunt die Verwendung der lateinischen Phrase „Victoria Victis“ / „Sieg der Besiegten“, die eine Nähe zum verzweifelten Auftrumpfen gegenüber einem stärkeren Gegner assoziieren lässt, eher als die Botschaft „den Gegner in die Schranken gewiesen“. Logischerweise nahm Roth den parallelen Ausruf in seinem ersten Artikel auf, der nach der Besetzung Österreichs am 12. März 1938 in einer französischen Zeitung erschien: den Ausruf „Vae victis“ / „Wehe den Besiegten“, den laut Livius allerdings der Sieger rief, nicht die Besiegten.29 Es ist kaum nötig zu sagen, dass der Artikel in Der Christliche Ständestaat nicht Anlass für Roths Reise nach Wien gewesen sein kann. Das zu gewärtigende 25 Roth ignorierte damit die zahlreichen Rundfunkreden der nationalsozialistischen Größen in Deutschland seit 1933. 26 J. Roth: Victoria Victis!, S. 175. 27 Ebd., S. 176. 28 Roth hat nach dem ,Anschluss‘ durchaus auch wieder gute und scharf pointierte Texte verfasst. 29 Le romancier autrichien Joseph Roth nous écrit. In: Temps Présent (Paris), Jg. 2, Nr. 20 vom 18.03.1938, S. 3 und S. 7 (vgl. Joseph Roth. Unter dem Bülowbogen, S. 310ff.); Livius, Ab urbe condita, 5,48.

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Honorar dafür stand wohl in keinem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand der Reise. Der Artikel war also ein vielleicht vorab vereinbarter, aber Nebenaspekt (und natürlich, wie auch schon das Lob für Schuschniggs Buch, bloßes Lippenbekenntnis). Roth hätte also, von seinem Intellekt aus, sehr wohl die Rolle eines diskreten Stimmungsmachers bei Beamten und Politikern einnehmen können: die eines „Vertrauten“ des Thronprätendenten, zwar die eines Außenseiters der Legitimisten, deren Aktionen er aber aufgrund der nun aktuellst gewordenen Position gegen den Nationalsozialismus vehement unterstützte, die Rolle eines prominenten Autors und Polemikers gegen den Nationalsozialismus (wenn auch sein persönliches Auftreten immer wieder durch Alkoholeinfluss beeinträchtigt war). Und das kann durchaus als seine Absicht angenommen werden. Doch der Text über Schuschniggs Rede allein zeigt eher Schwäche und Hoffnungslosigkeit. Daher fasse ich nach aktuellem Wissensstand so zusammen: Roth war nicht gut geeignet für jede Form eines Sprechers oder gewichtigen Emissärs Habsburgs, schon einmal da er keine Stellung innerhalb der legitimistischmonarchistischen Bewegung innehatte. Mit dem zeitlichen Abstand zwischen Brief und Antwort an Habsburg (zwei Wochen) wollte Schuschnigg zeigen, was er von der Initiative hielt. Schuschnigg sah wohl keinen Anlass, Roth zu empfangen. Die Reise hat wohl niemand ,angeordnet‘, man hat ihn bestenfalls ,eingeladen‘ – aber Roth konnte sich immer gut ins Spiel bringen, und so könnte es, besonders in dieser Ausnahmesituation, einmal ein Versuch quia absurdum gewesen sein, dass man ihm diese Reise zahlte. Freilich hat Roth im Stil eines treuen Untertanen des Monarchen nicht ungern Worte der Befehlsuntergebenheit angewendet, aus übertriebener Höflichkeit, aus soldatischem Formalismus, aus Wichtigtuerei.

Judaika und jüdische Identität in Joseph Roths Werk vor dem Hintergrund der editionsphilologischen Debatten Armin Eidherr

Einleitung

Das Lesen von Literatur sei, hört und liest man seit einiger Zeit häufig, ein gutes Mittel, Entschleunigung zu erreichen. Dies lasse sich durch Fokussierungen etwa auf Räume, Zeitangaben, Farben, Speisen, Kleidung usf. intensivieren. Und außerdem komme in einer medien-überfluteten Welt dazu noch ein die Fantasie, Vorstellungskraft und (sogar!) das Denken fördernder KognitivEffekt, wie im Zusammenhang mit dem Erscheinen des neuen Buches Das Literatur Quiz der Wiener Germanisten Maximilian Hauptmann und Stefan Kutzenberger letzterer in den Salzburger Nachrichten vom Dienstag, dem 1. Oktober 2019, im Artikel Was Bücher einfach besser können meint: In einem Roman bleibt zwangsläufig vieles unausgesprochen […]. Wer liest, muss […] Leerstellen ausfüllen und sich selbst einen Reim auf manche Dinge machen. Der Leser wird damit ein aktiver Teilnehmer am Geschehen. Es ist ein großer Unterschied, ob ich selbst an einer Entwicklung von Bedeutung beteiligt bin oder ob ich etwas Vorgegebenes [wie im Fall von Fernsehserien oder Filmen; Anm. AE] auf mich einprasseln lasse. […] In [heutigen; Anm. AE] Zeiten […] zeigt Literatur, dass die Welt eben nicht so einfach erklärbar, sondern vielstimmig und komplex ist. Sie kann damit ein Gegenmittel zu Populismus und Manipulierbarkeit sein.1

Natürlich trifft das alles – und wir erklären uns mit all dem übrigens einverstanden – auch und besonders auf das Joseph-Roth’sche Œuvre zu und macht dadurch mit seinen enormen Wert aus. Aber – und das trifft auch * Getreue Wiedergabe des nur in den Fußnoten ergänzten Manuskripts des Vortrags, der in Łódź bei der Tagung „Joseph Roth unterwegs in Europa“ (17.–18. Oktober 2019) am Institut für Germanistik an der Universität Łódź; Abteilung für deutschsprachige Medien und österreichische Kultur, gehalten wurde. Mein Dank gilt Artur Pełka für die Organisation der Tagung und die Betreuung während derselben, Joanna Jabłkowska und Heinz Lunzer für die Vorstellung und anregenden Diskussionen und Ernestine Baig vom Österreichischen Kulturforum Warschau für die organisatorische Unterstützung. 1 Stefan Kutzenberger: Was Bücher einfach besser können. In: Salzburger Nachrichten vom 1.10.2019, S. 19.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_003

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auf dieses Œuvre zu – oft und mehr & mehr verblassen – meist mit der verlaufenden Zeit und dem Historisch-Werden – die Voraussetzungen, die „Vielstimmigkeit“ und „Komplexität“ überhaupt zu erkennen und also die Fähigkeit „Leerstellen auszufüllen“. Die Welt, in der man Entschleunigung findet, will erarbeitet sein. Und dazu kann eine gute Edition große Hilfestellungen bieten. Bei Joseph Roth gilt dies besonders – neben anderen etwa historischen, kulturgeschichtlichen, geopolitischen, werkgeschichtlichen und ähnlichen Inhalten und Voraussetzungen – hinsichtlich der Vertrautheit mit etwas, das generalisierend „Jüdisches Substrat“ genannt werden könnte und das Claudio Magris so auf den Punkt gebracht hat: [V]or allem aber das jüdische Element [gibt] diesen Werken eine tiefreligiöse Note, die nie zum billigen Mystizismus wird, sondern das konkrete Geschehen durchdringt. Joseph Roths habsburgischer Mythos ist jüdisch-slawisch: In der Tat ist die leidgeprüfte, ruhelose und prophetische Menschheit seiner geglücktesten Gestalten semitisch, und semitisch ist auch ihr Erleben des Bösen. Dieser Semitismus ist, das muss hinzugefügt werden, von religiöser und östlicher Prägung, ganz zum Unterschied vom [sic!] skeptischen, kapitalistischen jüdischen Geist Wiens.2

In manchen Einzelheiten ließe sich diese Aussage hinterfragen, ja sogar widerlegen (etwa hinsichtlich des „kapitalistischen jüdischen Geists“ von Wiens), im Kern aber stimmt es, dass er zum großen Beschreiber und Dichter der östlichen Länder, besonders der Juden Galiziens und Wolhyniens [wurde]: Essays wie Juden auf Wanderschaft (1927), Romane wie Hiob und Tarabas (1934) und Erzählungen wie Der Leviathan ([1938/]1940) beschwören das tragische Wanderleben der erniedrigten und beleidigten Juden, die in ihrer dumpfen Resignation und ihrer biblischen Leidenskraft und Widerstandsfähigkeit dennoch ausdauernd und unbesiegbar bleiben.3

Immer zu bedenken ist dabei (und zwar in allen aufgeführten Aspekten), was im Katalog Joseph Roth 1894–1939. Ausstellung im Jüdischen Museum Wien im Zusammenhang mit Roths Artikel Der Segen des ewigen Juden4 bemerkt wird:

2 Claudio Magris: Joseph Roth. [Aus: Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Zsolnay 2000] In: Daniel Keel und Daniel Kampa (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk. Zürich: Diogenes 2010, S. 299–312, hier S. 307. 3 Ebd., S. 300. 4 Erschienen am 30.08.1934 in Die Wahrheit (Prag).

Judaika und jüdische Identität

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Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass eine Rückkehr zu diesem „ursprünglichen“ Judentum von Roth keineswegs intendiert war, auch in seinem Sinne nicht intendiert sein konnte, da er es für irreversibel verloren hielt. Beschwört er es, hat diese Beschwörung den Charakter einer Elegie, oder einer Philippika. Wie schon in den „Juden auf Wanderschaft“ setzt Roth den Standard dieser ostjüdisch-frommen Geisteswelt als (nahezu) absoluten moralischen Wert – und daher als Folie, vor der er den Verfall der Werte aufzeigen kann.5

Gerade auch wegen dieser zuletzt festgestellten Bedeutung ist die Beachtung und Berücksichtigung dieses Werk-Aspekts editionsphilologisch in vielfacher Hinsicht von großer Wichtigkeit. Das lässt sich – hinsichtlich der moralischen Werte-Folie – an vielen, oft schnell überlesenen Beispielen zeigen. 1.

Neue editionsphilologische Kritik

Zu allererst sind jedoch einige Bemerkungen zur editorischen Situation nötig: In den letzten zehn, zwanzig Jahren sind in diversen Verlagen – bei Manesse, Reclam oder Gollenstein – Joseph-Roth-Texte erschienen, deren Neu-Ausgabe mit einer oft heftigen aber berechtigten Kritik an der Editionspraxis der sechsbändigen Ausgabe der Werke (bei Kiepenheuer & Witsch; herausgegeben von Klaus Westermann und Fritz Hackert; 1989–1991) sowie den Vorgängerausgaben von Hermann Kesten von 1956 bzw. 1975–1976 einhergeht und begründet wird. Das ist – und vergessen wir nicht, dass es bis heute keine, wissenschaftlichen Mindestansprüchen genügende, historisch-kritische kommentierte Ausgabe der Werke Roths mit zumindest minimalem wissenschaftlichen Apparat gibt, in welche die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse eingearbeitet sind – das also ist tatsächlich ein höchst interessantes, ja ungeheuerliches Thema, das hier zu erwähnen ist, leider aber nicht im Zentrum stehen kann. Nur ein kurzes Zitat aus der vorbildlichen Gollenstein-Ausgabe der Briefe aus Deutschland möge hier die generelle Problematik veranschaulichen: Diese stilistische Sensibilität Roths bedenkend, wird man sich die Frage stellen dürfen, was Roth wohl zu der Ausgabe seiner Werke gesagt hätte, die zwischen 1989 und 1991 in sechs Bänden bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist und

5 Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos (Hg.): Joseph Roth 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien 7.Okober 1994 bis 12. Februar 1995. Wien: Zirkular; Sondernummer 42, Oktober 1994, S. 156.

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Armin Eidherr vom Verlag als „maßgeblich“ bezeichnet wird.6 [… Hier folgen zahlreiche Beispiele von oft ans Sinnlose grenzenden Eingriffen; Anm. AE.] Doch nicht nur Rechtschreibung und Zeichensetzung werden angeglichen, man greift auch in den Text ein, glaubt vielleicht, ihn zu verbessern. [… Wieder folgen Beispiele von teils stark sinnverändernden Eingriffen; Anm. AE.] Zu den Eingriffen gesellen sich die Druckfehler der Werkausgabe […] und Lesefehler, […] Passagen fehlen ganz.7

Das Fazit nach dem Vorführen der „editorischen Überlegungen“ von Hackert zu den Briefen lautet: Das allerdings hört sich wie eine philologische Bankrotterklärung an. Die erste Werkausgabe Roths von 1956 war (zeitbedingt) keine verlässliche Edition. Die zweite, umfangreichere, von 1975/76 ebenfalls nicht. Die jetzt vorliegende dritte setzt – bei allen Zuwächsen in der Quantität – diese Tradition leider fort.8

Sie verzeichnet auch in keinem Apparat etwa die Korrekturen „offensichtlicher Druckfehler“. Anhand solcher Verzeichnisse lässt sich dann oft sehen, dass diese „Fehler“ nur in den Augen der Editoren bestanden, weil beispielsweise kein hundertprozentiges Sprachgefühl vorlag.9 Eng im Zusammenhang mit dem eben Gesagten möchte ich zum eigentlichen Thema kommen – mich eben darauf konzentrieren, wo und wie und dass die editionsphilologische Dimension engstens mit der jüdischen Thematik bei Roth, mit der jüdischen Spur, dem jüdischen Substrat – oder wie immer man es nennen will – zu tun hat bzw. haben muss.

6 Diese Selbsteinschätzung des Verlags wird von vielen Lesern und Leserinnen unhinterfragt übernommen, wie ich aus eigener Erfahrung erlebe. Einige Male schon ist es geschehen, dass ich jemanden auf eine der neueren Ausgaben, die den bestehenden Werk-Ausgaben etwa wegen der Textgenauigkeit, den Kommentaren, dem beigegebenen ergänzenden Material, den Nachworten usf. vorzuziehen sind, hingewiesen und folgende Antwort erhalten habe: „Ich habe schon die sechsbändige – und die ist ja die maßgebliche.“ 7 Ralph Schock: Nachwort. In: Joseph Roth: Briefe aus Deutschland. Mit unveröffentlichten Materialien und einem Nachwort hg. von Ralph Schock. Merzig: Gollenstein 32008, S. 131–179, hier S. 141–147. 8 Ebd., S. 148. 9 So etwa bei fast allen „Verbesserungen“ der jüngsten Ausgabe von Stefan Zweigs Schachnovelle bei Reclam (Stefan Zweig: Schachnovelle. Kommentierte Ausgabe. Hg. von Klemens Renoldner. Stuttgart: Reclam 2013) oder bei der Werkausgabe von Soma Morgenstern im Lüneburger Verlag Dietrich zu Klampen (1994–2001), wo eine große Zahl an „verbessernden“ Eingriffen in den Text unter anderem ein als fehlerhaft missgedeutetes österreichisches Deutsch betrifft. In beiden Fällen aber lässt sich das immerhin im Apparat der editorischen Anmerkungen nachverfolgen.

Judaika und jüdische Identität

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Judaika und jüdische Identität – und der Zusammenhang mit der Editionsphilologie

Schon seit dem frühen Roman Hotel Savoy von 1924 bilden die „jüdischen Thematiken“ (Diasporik, Minderheitendasein, Ethik usf.) das Rückgrat von Joseph Roths Werk, dieses wie ein roter Faden durchziehend. Sie bilden darüber hinaus ein Netz von Querverweisen, deren Aufzeigung für die Deutung und das Verständnis der essentiellen Bedeutung unverzichtbar ist, und den Parameter, an dem sich das Menschliche ermisst. Da, nebenbei gesagt, die Habsburgermonarchie dieses Element (wie auch immer!) zu integrieren verstand, war sie für Roth das beste aller möglichen Imperien. Und vor diesem Hintergrund allein ist seine diesbezügliche Verbundenheit mit ihr und seine Arbeit am Habsburgischen Mythos zu betrachten.10 Konstanze Fliedl zeigt für die Legende vom heiligen Trinker mit dem Beispiel von Andreas’, des Trinkers, Traum, den er in der „Nacht des Donnerstags auf Freitag“ träumt, wie denn Dinge für Fehler gehalten werden, die es möglicherweise nicht sind und nur aus Unkenntnis dafür gehalten werden. Dabei taucht die Heilige Therese auf, die ihn bittet: „Verzeih, Vater, aber tu mir den Gefallen und komm’ morgen Sonntag zu mir in die St. [Sainte] Marie des Batignolles.“11 Seit 1976 ist dieser Irrtum – als Versehen des Autors – in den Werkausgaben denn auch stillschweigend richtiggestellt: „Komm übermorgen, Sonntag, zu mir“, verlangt nun, kalendarisch genau, die kleine Heilige. Die Frage stellt sich, ob diese Berichtigung auch dem Text gerecht wird: Es könnte durchaus sein, dass zur exakten erzählerischen Chronologie ein rivalisierendes Zeitsystem eingeführt werden sollte, das nichts als Fehlerhaftigkeit – und Irrelevanz bedeuten könnte: In der biblischen Diktion, die mitunter auch in der Erzählsprache der Legende vernehmbar ist, sind tausend Jahre vor Gott „wie ein Tag“ (Ps. 90,4).12 Im Erzählkontext sind wir, wie an dieser Stelle von Roth überhäufig betont wird, im Bereich von „Traum“ und „Wunder“, wie auch in den jüdischen, besonders den chassidischen Legenden, in denen für den Heiligen – zumeist den Zaddik, den Rebben (etwa den Baal Schem Tov in der Legendensammlung Schivche ha-Bescht / Schivche Baal-schém-tov) – die Gesetze von Zeit und 10 11 12

Vgl. dazu auch Jörg Fauser: Hommage für Joseph Roth. In: D. Keel, D. Kampa (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk, S. 370–381, hier S. 377. Joseph Roth: Die Legende von heiligen Trinker. Hg. von Konstanze Fliedl. Stuttgart: Reclam 2010, S. 23. Konstanze Fliedl: Nachwort. In: ebd., S. 52–68, hier S. 57f.

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Raum aufgehoben werden können; ähnlich wie in Roths Legende vom heiligen Trinker, für die Konstanze Fliedl konstatiert: [D]ie Legende [simuliert] stabile Zeit- und Raumkoordinaten, um sie durch „Irrtümer“ und Ungenauigkeiten wieder ins Schwanken zu bringen – in jedes Schwanken, das mehrmals und nachdrücklich die Figur des Andreas, des „Schwankenden“ schlechthin (S. 5), charakterisiert. Es schwankt aber nicht nur seine personale Wahrnehmung, die gesamte erzählerische Welt fasst festen Boden immer nur, um ihn wieder zu verlieren.13

In den jüdischen, den chassidischen Legenden wird oft ein augenblicklichschnelles Überspringen von Zeit oder Wegstrecken des „Heiligen“ geschildert, was seinen Nachhall etwa auch in Kafkas Ein Landarzt hat.14 Der Terminus technicus dafür ist „Kfizeß-haDerech“, was wörtlich „Wegsprung“ heißt („Kfizeß-haSman“ wäre der „Zeitsprung“) und eben die übernatürliche Fähigkeit, sich in einem Augenblick an einen fernen Ort zu begeben meint. Also liegt tatsächlich ein legendenhaftes – speziell auch ein jüdisch-legendenhaftes – Motiv vor. Die Traumszene ließe sich dabei noch einfacher deuten, denn aus jüdischer Sicht beginnt ein Tag ja nicht erst um null Uhr, sondern am Abend des vorhergehenden Tages. Findet der Traum des Trinkers also am Freitag – vielleicht im Morgengrauen – statt, dann ist – in einer Art christlich-jüdischen Vorstellung von Zeit – „heute“ schon der Beginn des Samstages, des Sabbaths, und „morgen“ eben der des Sonntags. Oder noch einfacher: vielleicht findet der Traum am Samstag statt! Wie auch immer: Eingriffe von der Art, wie sie in allen bisherigen Gesammelten Werken vorgenommen wurden, um etwa ein Geschehen zu „rationalisieren“, tun dies auch! Und zwar auf Kosten einer legendisierenden Dimension – und so auch der Literarizität. In der Reclam-Ausgabe des zu den bedeutendsten Romanen Roths und unbedingt auch zur Weltliteratur zu rechnenden Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters (1937), der auch die im ganzen Spektrum in der judischen Minderheit sich spiegelnde Notwendigkeit des „Gleichgewichts“ und der „Redlichkeit“15 in jeder Gesellschaft thematisiert, ist unter den wenigen 13 14

Ebd., S. 59. Vergl. Saul Friedländer: Franz Kafka. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. München: Beck 2013, S. 148–173 und hier besonders S. 156f. 15 Vgl. durchgehend: Daniel Hoffmann: Retranslationen in die jüdische Welt. Eine jüdische Lektüre von Joseph Roths „Das falsche Gewicht“. In: Rafael Arnold, Carl Winter (Hg.): Jüdische Übersetzer als Akteure interkultureller Transformationen. Heidelberg: Carl Winter 2019, S. 215–230.

Judaika und jüdische Identität

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vorgenommenen Korrekturen von „Druckversehen“ angeführt, dass auf Seite 52 das in Zeile  4 zweimal vorkommende Wort „Paragraph“ von „Pharagraph“ mit Ph aus der Erstausgabe zweimal eben zu „Paragraph“ (ohne Ph am Wortanfang) korrigiert wurde. Das ist wohl auch würdig und recht so. Ich möchte in Joseph Roths Prosa keine Finnegans-Wake-artigen Wortspielereien vermuten; aber dennoch könnte hier eine solche vorliegen und schlüssig erklärt werden. Der ganze Absatz umfasst nur sechs Zeilen und handelt von der Gefahr und Unberechenbarkeit bei Änderungen in der Gesetzgebung, der Bürokratie, der Verwaltung: Und kennt er [gemeint ist Leibusch Jadlowker] auch alle Gesetze und alle Sitten und Gebräuche und Charakteranlagen der Beamten: es kann ein Augenblick kommen, da steht plötzlich ein unbekannter P[h]aragraph auf, und, wenn es nicht auf den P[h]aragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte Leidenschaft in einem Beamten. Beamte sind auch Menschen.16

Ein sonderbarer Fehler, der, gut vorstellbar, auf das Manuskript Joseph Roths, der natürlich bestens wusste, wie „Paragraph“ zu schreiben ist, zurückgehen kann. Im Judentum, besonders aber im Ostjudentum, wurde ein Herrschaftswechsel – wenn etwa ein neuer auf den alten Zaren folgte – mit Argwohn betrachtet, eine Verschlechterung der eigenen Lage wurde befürchtet, und dabei bezog man sich sprichwörtlich auf „einen neuen Pharao“, zurückgreifend auf den Wechsel vom „guten“ Pharao Josephs zum „schlechten“ Pharao Moses, wie er in Exodus 1,6–14 geschildert wird: I, 6Als nun Joseph gestorben war und alle seine Brüder und alle, die zu der Zeit gelebt hatten, 7wuchsen die Kinder Israels und zeugten Kinder und mehrten sich […]. 8Da kam ein neuer Pharao auf in Ägypten, der wusste nichts von Joseph 9und sprach zu seinem Volk: Siehe, das Volk Israel ist mehr und stärker als wir. 10Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, […] 11und man setzte Fronvögte über sie, die sie mit Zwangsarbeit bedrücken sollten. Und sie bauten dem Pharao die Städte Pithom und Ramses als Vorratsstädte.

Der Pharao stiftet die Hebammen an, die neugeborenen hebräischen Söhne zu töten: 17Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte […] 21und weil die Hebammen Gott fürchteten, 16

Joseph Roth: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. Hg. von Jürgen Pelzer. Stuttgart: Reclam 2013, S. 52. Auflistung der Korrekturen auf S. 145f.

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Armin Eidherr segnete er ihre Häuser. 22Da gebot der Pharao seinem ganzen Volk und sprach: „Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil, aber alle Töchter lasst leben.“17

Dieser Volks-Archetypus, der traumatisch erlebte, die Lage verschlechternde Machtwechsel, personifiziert als neuer, böser Pharao, kann also auch seinen Ausdruck – und seine negativen Auswirkungen! – finden in der abstrakteren Form eines neuen Gesetzes, die modern-bürokratische Erscheinungsform des unglücksbringenden Pharao aus dem Buch Exodus: „da steht plötzlich ein unbekannter Pharagraph auf“ entspricht dem biblischen „Da kam ein neuer Pharao auf in Ägypten, der wusste nichts von Joseph“ (man könnte fortfahren: „von Joseph Roth und seinem guten alten Pharao bzw. Kaiser Franz Joseph I.“). Sehen wir uns jetzt aber etwas näher an, das die Hebammen hatten und an dem sie als etwas festhielten, das für sie eine über allem stehende religiöse Pflicht, eine höhere moralische Kategorie darstellte als der „Befehl des Pharaos“: Furcht vor Gott zu haben! Das Missachten, das Vernachlässigen der fundamentalen Pflichten und Werte kommt bei Roth häufig vor und signalisiert ein erstes Herandämmern des moralischen Niedergangs oder der Korruption: Wie in Der Leviathan (1938) Nissen Piczeniks Schuldig-Werden präludiert wird von kleinen, für sich genommen lässlichen Nachlässigkeiten wie – noch in seinem Schtetl – dem Vergessen auf die beiden Abendgebete („Heute hatte er zum ersten Mal beide versäumt. Vom Himmel glitzerten ihm die Sterne vorwurfsvoll entgegen, er wagte nicht seinen Blick zu heben.“18), später – schon in Odessa – sogar auf „die Gebote seiner Religion“19 und generell auf „die Pflichten eines gewöhnlichen Juden aus Progrody“20, so präludiert und signalisiert in dem wieder mehr in den Fokus der Beachtung zu rückenden Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (1934) eine scheinbar nebensächlich hingesagte Bemerkung die ganzen folgenden Verstrickungen in Schuld, ungerechtes Handeln und Irrsinn: Tarabas, dem

17 Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen. Revidierter Text. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1981, S. 74f. 18 Joseph Roth: Der Leviathan. Novelle. Hg. von Konstanze Fliedl. Stuttgart: Reclam 2010, S. 21. Diese Gebete müssten auch in einem Kommentar kurz zitiert und zusammen mit der „Sünde“ ihrer Vernachlässigung erklärt werden; ebenfalls Dinge wie der Umstand, weshalb die gemischten Korallen sogar als schlechter, schädlicher als die rein-falschen angesehen werden, was auf eine Übertragung des jüdischen Mischgewebe-Verbotes („Schatnes“; vgl. Lev.  19,19) von der Kleidung auf andere Materialien zurückgeführt werden könnte. 19 Ebd., S. 31. 20 Ebd., S. 32.

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„Katholiken“21, versinkt in New York, wohin er aus Osteuropa abgetaucht ist, im „nächtlichen Brunnen“ seines Herzens, „die Furcht vor Gott.“22 Das Fehlen bzw. Verlorengehen derselben als Grundlage für ein zentrales menschliches ethisches Konzept deutet auf die später begangenen Fehler hin. (Fünf Seiten nach der Erwähnung dieses Abhandengekommenseins der „Furcht vor Gott“ erscheint auch das Wort „Sünde“, allerdings im Zusammenhang mit dem Begehren, das Tarabas für Maria empfindet.23) Wir sind durch die Geschichte mit den Hebammen schon auf diesen Begriff vorbereitet; er gehört aber zu den vielen, für den oberflächlichen Blick Unscheinbaren, die zum Repertoire der „absoluten moralischen Werte“ gehören. Wer zur Gottes-Liebe nicht ganz fähig ist, sollte zumindest von Gottes-Furcht geleitet werden. Wer diese verliert, kann, wie Tarabas, zu wahren, für alle Menschen verwerflichen Freveln verleitet werden. Es ist interessant, dass im Zusammenhang mit der Geschichte des karikaturhaft geschilderten, melancholisch-dämlich-lüsternen Schahs in Roths Geschichte von der 1002. Nacht (1939) die „Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt“ ausdrücklich im Zusammenhang mit dem mohammedanischen Kapitän des Schahs erwähnt wird – als eine Kategorie, die den gläubigen Menschen des Orients selbstverständlich ist: „Gläubig war der Kapitan, und Allah fürchtete er.“ So heißt es, betonend, nochmals.24 Um die Wichtigkeit dieses Begriffes zu verdeutlichen, zitiere ich etwas ausführlicher einige Ausschnitte (in meiner Übersetzung) aus einer religiösen Enzyklopädie des Judentums: jireh [ jireß-haschém, -schomaim]: In der jüdischen Religion wird „Furcht vor Gott“ als eine Stufe niedriger als die Gottes-Liebe betrachtet. Aber auch auf die Gottes-Furcht wird besonders Acht gelegt. Im Pentateuch und generell im Tanach [= AT] wird die Verpflichtung, Gott zu fürchten, oft hervorgehoben: Im  5. Buch Mose heißt es: „Gott deinen Herrn sollst du fürchten“, im 3. Buch Mose 19,32 „und sollst dich fürchten vor deinem Gott.“ Dasselbe findet man noch 21

Joseph Roth: Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde. In: Joseph Roth: Werke. Bd. 5.: Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 479–628, hier S. 489. 22 Ebd., S 491. Einen Anteil daran bzw. tiefe Eingewurzeltheit dieses Gefühls hat jeder Mensch; oft erweist es sich – wie zum Beispiel bei Anselm Eibenschütz in Das falsche Gewicht (vergl. dort, S. 54: „Er selbst stammte von Juden ab.“) – als das, was im Jiddischen „doss píntele jid“ bezeichnet wird: „Das Pünktchen / Fünkchen Jude“, was heißt: das Wesen oder der Kern, der in einem Juden bleibt, wie weit er sich auch vom Judentum entfernt. 23 Vgl. J. Roth: Tarabas, S. 496. 24 Joseph Roth: Die Geschichte von der 1002. Nacht. In: Joseph Roth: Romane 4. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 131–297, hier S. 138f.

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Armin Eidherr an anderen Stellen des Pentateuchs. Auch in anderen biblischen Büchern wird die G.-Furcht sehr gelobt, Hiob 27 sagt: „Die Furcht vor Gott ist des Menschen Weisheit.“ In der Mischna Avoth 1 [das sind die bekannten „Sprüche der Väter“; Anm. AE] heißt es […]: „Es sei auf euch die Furcht vor dem Himmel, das heißt: vor Gott“. In Avoth 3 wird gesagt: „Wenn es keine Furcht vor Gott gibt, gibt es keine Weisheit / Gelehrsamkeit.“ Im selben Abschnitt von Avoth wird auch das „Furchthaben vor dem Sündigen“ gerühmt. In Berachoth  33 sagt der Talmud: „Alles ist in den Händen / in der Macht Gottes außer der Furcht vor Gott, bei der nur der Mensch selbst wählen kann, ob er sie haben soll oder nicht.“ Die späteren jüdischen Ethiker und Philosophen haben einen Unterschied in der „Furcht“ selbst eingeführt – nämlich: zwischen „Furcht vor der Strafe“ (für eine begangene Sünde), und das ist auf einer niedrigen Stufe, und „Furcht vor der Majestät“ vor der Erhabenheit von Gott, - das ist eigentlich „Ehrfurcht“. – In der jüdischen Religion gibt es andere Pflichten von Furcht: Im 3. Buch Mose 19 wird gesagt: „Jeder soll fürchten seinen Vater und seine Mutter.“ Im Talmud, Pessachim  22, heißt es, dass Rabbi Akiba gepredigt habe: „den Herrn, deinen Gott, sollst du fürchten, einschließlich die Talmudgelehrten“, und die Mischna Avoth 4 sagt: „Die Furcht vor deinem Rabbi soll so viel Wichtigkeit haben wie die Furcht vor Gott.“ Aber „Ahoveß HaSchem“, die ‚Liebe zu Gott’, ist eines der höchsten Ideale in der jüdischen Religion, dass man nämlich Gott weniger aus Furcht vor der Strafe dienen soll, sondern aus Liebe zu Ihm. Der Vers im 5. Buch Mose 6 „und du sollst lieben deinen Gott mit deinem ganzen Herzen und mit all deiner Seele“ wurde für so wichtig erachtet, dass er angenommen wurde als Hauptteil des Schma-Israel-Gebetes.25

Zurück zu Tarabas. Hier bedingt das Verlorengehen dieser „Furcht“ Empa­ thielosigkeit, diese das Nicht-Verstehen26 des Anderen und schließlich ein Nicht-Anders-Sein-Lassen, das durch Missverstehen dieses Anderen zu einer Gewalttat, dem Ausreißen des Bartes, führt.27 Ich habe hier schon vorgegriffen in der Systematik der editionsphilologischen Aspekte – und ein kommentierend-interpretierendes Beispiel etwas breit ausgeführt, breche an dieser Stelle jedoch ab und gebe nur noch in aller Kürze einen Überblick über diese Systematik, wie sie in einer ausgearbeiteten – ganz editions-praktisch angelegten – zukünftigen Darstellung dargelegt werden soll.

25 Simkha Pyetrushka: Yidishe Folksentsiklopedye. Bd. 2. New York: Gilead Press 1949, S. 110f. 26 Konkret wird dies auch auf der Ebene des sprachlichen Verstehens, genauer: des Kommunikationshindernisses thematisiert: Tarabas spricht nur die Landessprache und versteht das Jiddische des Juden nicht (vgl. etwa J. Roth: Tarabas, S. 582–584). Letztlich ist es diese Kommunikationsunfähigkeit, die zur Gewalttat führt. 27 J. Roth: Tarabas, S. 583f.

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3.

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Vier Kategorien und Beispiele

3.1 Situationen Die Briefe aus Deutschland wären ein Beispiel für die unauffällige, fast beiläufige Erwähnung von Begegnungen mit dem „Jüdischen“, mit jüdischen Gewährsleuten und Situationen, die erst aus einer jüdischen Perspektive eine für die historische Lage relevante Analyse offenbaren. Die dabei offenbar werdende Tendenz einer „jüdischen Spur“ zur An- bzw. Ausgleichung könnte positiv gesehen werden als Aufgehen und Sesshaftwerden in einer (scheinbar) zivilisierten mitteleuropäischen Gesellschaft; negativ jedoch als Verschwinden oder bisweilen Verstecken, als assimilatorisches Sich-Auflösen in eben diese Gesellschaft, von der man ein völlig gleichberechtigter Teil zu werden bzw. schon zu sein vermeint.28 Diese Ambivalenzen in der Wahrnehmung werden oft erst deutlich, wenn in editorischen Querverweisen auf entsprechende intratextuelle ergänzende oder Parallel-Stellen in den Juden auf Wanderschaft oder in Aufsätzen wie Der Segen des ewigen Juden, Der Fluch des ewigen Juden, Der Segen des ewigen Juden am Ziel oder Die Sendung des Judentums (allesamt erschienen 1934),29 wo das Wandern als Auftrag Gottes gedeutet wird, oder auf intertextuelle (zum Beispiel das biblische Handlungsmuster im Hiob) hingewiesen wird. 3.2 Stilistisches und Orthographisches und „Verbesserungen“ Das oben erwähnte Beispiel vom neuen „Pharagraphen“, stilistische Besonderheiten, wie die im Jiddischen (etwa bei Isaak Leib Perez) häufig anzutreffenden Ellipsen oder der „vitale“ Einsatz der Satzzeichen, für deren Verwendung streng grammatische Regeln nachrangig sind, und andere sprachliche „Eigenheiten“ dürfen nicht geglättet, verbessert, vereindeutlicht30 oder durch „vervollständigende“ Eingriffe ergänzt werden. Das stellt nicht nur einen Eingriff in Roths „sprachliche Dynamik“ (die oft vom Jiddischen her zu verstehen 28 Vgl. dazu weiter: D. Hoffmann: Retranslationen in die jüdische Welt, S. 217. 29 In: Joseph Roth: Werke. Bd.  3: Journalistische Arbeiten 1929–1939. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 527–532, 533f., 536–538, 539–540. 30 Vgl. etwa J. Roth: Das falsche Gewicht, S. 80; dort könnte beispielsweise in Kapitel XXIV, 2. Absatz, eine bewusste Zweideutigkeit intendiert sein, denn die direkte Rede ist im Original nicht zuordenbar; in der Bearbeitung (vgl. J.  Roth: Das falsche Gewicht. In: Romane 3. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 189) antwortet Eibenschütz; im Original könnte es auch Kapturak – nach einem gedachten Kopfnicken oder einer anderen bejahenden Geste Eibenschütz’ – sein, der spricht. Außerdem wird in diesem kurzen Absatz in der Bearbeitung der elliptische Satz „Er geradewegs an den Tisch des Eichmeisters.“ „vervollständigt“ (und damit entdynamisiert): „Er geht geradewegs an den Tisch des Eichmeisters.“

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ist) bzw. eine Störung derselben dar, sondern in eine gerade das „Jüdische“ charakterisierende Stilistik. In diesem Zusammenhang stehende Passagen versuchen eine Dynamik, das Gestische des Jüdischen wiederzugeben, das dabei bisweilen explizit nicht geschildert aber durch jene als gemeint und vorhanden begreifbar wird und durch editorische Kommentierung erkennbar zu machen ist. Hierbei ist mit aller Deutlichkeit zu betonen, dass all dies bei Roth stets mit den Mitteln des Hochdeutschen geschieht, das heißt, dass dieses Substrat mittels eines „korrekten“ Deutsch und nicht einer wie auch immer gearteten Imitation des Jiddischen transportiert wird, sodass, wo etwa ein jiddisches vermutet werden kann, dies eben nicht durch jargonisierende Stilmittel („Jiddeln“, „Annäherung an ein dialektales Sprechen“ u.ä.) geschieht, sondern wie eine sehr gute Übersetzung aus dem Jiddischen ins Deutsche.31 3.3 Worte und Wendungen Im nächsten Punkt (IV. Judaika) geht es um ,eindeutig‘ jüdische Begriffe, während hier vor allem solche gemeint sind, die sich unscheinbar hinter ,ganz normalen‘, schnell zu überlesenden verbergen – wie etwa die Tarabas abhanden gekommene „Furcht Gottes“. Solche Begriffe werden in ihrer philosophischen, religiösen oder moralischen Dimension erst erkannt, wenn sie in eine jüdische Begrifflichkeit übersetzt werden.32 Durch solche ,Rückübersetzungen‘ lässt sich in einem editorischen Kommentar oft zu einem mehr oder minder verborgenen, universalen ‚Sinn‘ vorstoßen. Dennoch ist diese Theorie einer intrinsischen Übersetzung mit Vorsicht zu behandeln, da die Gefahr gegeben ist, auf kabbalistische Pfade ins ,Unendliche‘ zu ver-führen. 3.4 Judaika Die Kenntnis der Welt und des Weltverständnisses sowie thematische Entlehnungen aus chassidischen Legenden, jiddischen Erzählungen usf. machen bisweilen scheinbare Schlampigkeiten und Unlogischkeiten wie die Frage nach dem „Morgen“ oder „Übermorgen“ des Sonntags in der Legende vom heiligen Trinker verständlich. 31 Es zeichnet besonders die epische Verfilmung von Hiob durch Michael Kehlmann (Deutschland, Österreich – NDR und ORF – 1978) aus, der diese sprachliche Haltung Roths perfekt versteht und umsetzt, indem er – anders als in dieser Hinsicht unerträgliche Filme wie Zug des Lebens (Radu Mihaileanu: Train de vie. Frankreich, Belgien, Israel, Rumänien, Niederlande – Noé Productions – 1998) – alles vermeidet, was eine vulgärlinguale Figuren-Zeichnung betrifft. 32 Vergl. D. Hoffmann: Retranslationen in die jüdische Welt, S. 225.

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Der editorische Kommentar hat hier Andeutungen des Autors (für sich etwa zur Selbstvergewisserung oder für die Lesenden) nachzuspüren und Versuche der Erklärung von Spezifika zu liefern. Die Judaika können manifest erscheinen, wenn etwa der „Tallit“ (der mit Schaufäden versehene Gebetmantel) erwähnt wird. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Verwendung falscher Begriffe, wenn in den Juden auf Wanderschaft etwa der „Batlen“ genannt, jedoch der „Badchen“ gemeint ist: ersterer ist ein „Müßiggänger (meist ein frommer Jude, der sich ständig in der Synagoge zum Studieren aufhält)“, zweiterer wäre der eigentlich gemeinte „Lustigmacher, Komödiant, Spaßmacher auf Hochzeiten“.33 Die Kenntnisse der Judaika sind bei Joseph Roth nicht immer vertieft, wie auch Soma Morgenstern andeutet, als in einem Gespräch zwischen ihm, Stefan Zweig und Joseph Roth das Wort „Genisa“ [Beerdigung von Büchern] erwähnt wird.34 – Aus diesem Tatbestand ergeben sich natürlich Fragestellungen wie folgende: „Was sagt das aus über den Autor und sein Verhältnis zur geschilderten Welt?“ Auch verdeckt (für ,Kenner*innen‘ erkennbar) können die Judaika vorkommen; bisweilen finden sie sich sogar in tatsächlich feinsinnig und kabbalistisch anmutenden Verschlüsselungen, etwa wenn im 36. Kapitel von Das falsche Gewicht Eibenschütz den eben von ihm gestraften Mendel Singer als das anerkennt, als was er in seinem Dorf bei den Einwohnern gilt: „Es war der Ruf eines Gelehrten und eines Gerechten“35, also als Lamed-Vov, als einen der 36, im Verborgenen lebenden Gerechten, die den Fortbestand der Welt garantieren.36 Zwei Gerechtigkeitskonzepte stehen sich, verkörpert durch 33

Vgl. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. In: Joseph Roth: Werke. Bd. 2: Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 827–902, hier S. 853: „Den seltsamsten Beruf hat der ostjüdische Batlen, ein Spaßmacher, ein Narr, ein Philosoph, ein Geschichtenerzähler. In jeder kleinen Stadt lebt mindestens ein Batlen. Er erheitert die Gäste bei Hochzeiten und Kindstaufen, er schläft im Bethaus, ersinnt Geschichten, hört zu, wenn die Männer disputieren, und zerbricht sich den Kopf über unnütze Dinge. Man nimmt ihn nicht ernst.“ Aus diesem Zitat und den ihm folgenden Zeilen ergibt sich nicht nur, dass Roth hier den Typus des Badchen mit dem des Batlen (unabsichtlich) zu verschmelzen scheint, sondern dass er ihm auch Aufgaben, wie bei christlichen „Kindstaufen“ aufzutreten, zuteilt, die dieser sicher nicht wahrgenommen hat (bestimmt jedoch meint Roth hier die jüdische „Beschneidungsfeier“…). 34 Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. [Aus: Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Lüneburg: zu Klampen 1994.] In: D. Keel und D. Kampa (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk, S. 104–158, hier S. 151f. 35 J. Roth: Das falsche Gewicht, S. 120. 36 Vergl. auch ebd., S. 124. Dazu D. Hoffmann: Retranslationen in die jüdische Welt, S. 226.

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den gesetzestreuen Eibenschütz und den demütig-frommen Mendel Singer, gegenüber. 4.

Conclusio

Literatur ermöglicht Weltaneignung, beziehungsweise – wie auch im Falle der Literatur Joseph Roths – Erweiterung der Welt-Kenntnis und des WeltBewusstseins. In einem großen Teil seines Werkes trifft man – bisweilen fast beiläufig – auf „Jüdisches“, dessen Thematisierung bei ihm zentral auch als ein ins Allgemeine gerücktes Beispiel für die Conditio Humana unter oft nichtglücklichen Vorbedingungen und als Positionsbestimmung für sich selbst – den Autor, die Leser*innen – zu verstehen ist; und genau aus diesem Grunde ist eine angemessene Edition gefragt, die dabei hilft, eine in die Ferne rückende Welt erarbeit- und verinnerlichbar zu machen! Dies nun gehört zu den vordringlichen Aufgaben der Roth-Philologie in der Germanistik, der Jüdischen Kulturgeschichte oder der Vergleichenden Literaturwissenschaft bzw. in der erforderlichen Zusammenarbeit der Disziplinen. Die editorische Sorgfalt beginnt dabei, von den Manuskripten oder vor allem von den Erstdrucken auszugehen, nicht nur Vorsicht bei Verbesserungen walten zu lassen, sondern solche nur in eineindeutigen Fällen vorzunehmen und auf jeden Fall in einem Apparat zu dokumentieren. Und schließlich (und das gehört besonders auch zu ‚unserem‘ Thema) müssen alle als nicht (mehr) gewusst vermutete Inhalte, Bedeutungen sowie scheinbare ‚Ungewöhnlichkeiten‘ erklärt und hierbei einer lectio difficilior nicht ausgewichen werden.37 Wir haben recht eigentlich nichts Neues im Hinblick auf das Thema „Joseph Roth und das Judentum“ beigetragen, vielleicht aber einige Betrachtund Beachtungen der editionsphilologischen Aspekte und Konsequenzen 37 Vorbild für eine künftige (nötige!) wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtausgabe sind die von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos in der Schriftenreihe der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft, Wien, herausgegeben Editions-Beispiele (alle: Wien: Internationale Joseph Roth Gesellschaft): Joseph Roth Edition  1) Heft  9 (2018): 1927. Prosa. Flucht ohne Ende, 2) Heft 10 (2018): 1928. Prosa. Zipper und sein Vater, 3) Heft 11 (2019): 1927. Schreiben für die Zeitung, 4) Heft 12 (2019): 1927. Briefe und andere Dokumente. Neben den Texten (schwarz = Erstdruck oder Referenztext) gibt es eine Spalte mit verschiedenfarbigem Variantenapparat (z.B.: Rot = mit Bleistift geschrieben, Violett = mit Tinte geschrieben, Ocker = eine Schrift durch die andere korrigiert, Grün = Vorabdruck, Blau = Typoskript etc.) und den Kommentaren (Schwarz); letzteren könnte man eine weitere Farbe (Dunkelgrau, Dunkelgelb?) hinzufügen, mit der die explizit das „jüdische Substrat“ betreffenden Kommentare wiedergegeben werden.

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ins Gedächtnis gerufen, was alles editorische Sorgfalt in den Bereichen der Sprache und der mit ihr erzeugten „Stimmung der Beschreibung“, der Worte, der Themen und Personenkonstellationen, der historischen Hintergründe, dem für Außenstehende fehlerhaft Scheinenden, der Autor- und Erzählerkommentare etc. verdient.

teil ii Mobilität und Identität

Joseph Roth: Ein Jude auf Wanderschaft Iris Hermann „Roths Werk ist in keinem Kapitel daheim; es ist auf der Wanderschaft.“1

Joseph Roth war Jude ostgalizischer Herkunft: 1894 wurde er im ostgalizischen Brody geboren. Er war das, was man einen Vielschreiber nennt; in den sechs Jahren im Exil schrieb er zwölf Romane und 160 längere Zeitungsartikel und Essays. Kurz bevor das Schtetl von den Nazischergen unwiderruflich zerstört wurde, setzte er ihm ein liebevolles Denkmal. Wie er sein ostjüdisches Erbe zum Thema macht, davon soll hier die Rede sein. In einem zweiten Teil wird ein Blick auf Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend geworfen, der in Brody seinen Ausgangspunkt nimmt und sich erneut in einem Roman mit dem Ostjudentum auseinandersetzt, auch wenn nicht das gesamte Buch davon handelt. Roths Geburtsstadt Brody war eine Stadt, in der viele Anhänger des Chassidismus lebten, aber auch ein wichtiges Zentrum der Haskala,2 der jüdischen Aufklärung. In Brody verbrachte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens, danach aber wurde er zum Reisenden, der keine Heimat mehr hatte. Roth war ein assimilierter Jude, zugehörig fühlte er sich dem deutschösterreichischen Sprachraum. In vielen seiner Romane sind jüdische Figuren zumindest Nebenfiguren, oftmals sogar Hauptfiguren, wie spätestens ein Blick auf den 1930 erschienenen Roman Hiob zeigt. In die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg fielen Roths Anfänge als Journalist in Wien. Zum Starjournalist wurde er dann aber erst in Berlin, wo er fünf Jahre lebte und schrieb.3 Im Vergleich zu Wien blieb ihm Berlin jedoch fremd. Produktiv war er dennoch ohnegleichen, fast 600 Artikel fielen in die Berliner Zeit. Er schrieb – wie auch später – viele Glossen, Blicke auf den Berliner Alltag, aber auch Buch-, 1 Wendelin Schmidt-Dengler: Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten. In: Helen Chambers (Hg.): Co-existent contradictions: Joseph Roth in Retrospect. Papers of the 1989 Joseph Roth Symposium at Leeds University to commemorate the 50th anniversary of his death. Riverside, California: Ariadne Press 1991, S. 15–34, hier S. 32. 2 Zur Haskala und zum Ostjudentum bei Joseph Roth s. Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. (Mannheimer Beiträge zur Sprachund Literaturwissenschaft, 54) Tübingen: Narr Francke Attempto 2002. 3 Zu Joseph Roths Berliner Jahren vgl. Bienert, Michael (Hg.): Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger. Köln: Kiepenheuer & Witsch, KiWiTaschenbuch 1996.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_004

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Film- und Ausstellungsrezensionen. Eine besondere Aufgabe führte ihn nach Polen, er berichtete dort über den polnisch-russischen Krieg, und genau diese Textsorte, die Reisereportage (auch wenn dies streng genommen eine Art Kriegsberichterstattung sein sollte), das genaue Beobachten der Fremde, ist es, was dem Journalisten Roth zum Charakteristikum wurde. Die nächste Station seiner Tätigkeit war Paris, wo er unbedingt länger bleiben wollte, es folgte 1924 ein Aufenthalt in Galizien, 1926 dann eine Reise nach Russland im Auftrag der Frankfurter Zeitung. Andreas Kilcher hat darauf hingewiesen, dass gerade diese Reise nach Russland einen bedeutenden Wendepunkt in Roths Schreiben bewirkte. Roth begann nun, sein journalistisches und sein schriftstellerisches Schreiben intensiver zu verbinden, es entstand so eine Literatur, die man mit Kilcher „Ethnoliteratur“ nennen könnte, ein Schreiben, das nicht aus westeuropäischer Perspektive auf das Fremde, in diesem Falle vor allem auf das Ostjüdische blickte, sondern, im Gegenteil, die westeuropäischen Standards relativierten sich aus der Sicht von Osteuropa aus gesehen. Andreas Kilcher schreibt über Roths Reise in die Sowjetunion und die veränderte Reiseberichterstattung, die er von dort mitbringt: Es ist eine zentrale These Roths, dass es nicht darum gehen kann, den Osten – insbesondere auch den Osten der Juden – aus westeuropäischer Perspektive zu messen und damit symbolisch zu kolonisieren, sondern umgekehrt, den Westen durch den Osten zu relativieren, ja zu irritieren und damit den Osten zu seinem Recht kommen zu lassen. Diese Wende hat auch eine entscheidende Konsequenz für die literarische Methodik der Ethnografie: Sie ist das Geburtsmoment nicht nur des Reisejournalisten, sondern auch des Schriftstellers – mit einem Wort: der Ethnoliteratur.4

Ihren Höhepunkt erlebte die journalistische Karriere Roths, als er Redakteur der angesehenen Frankfurter Zeitung wurde. Zu ihr hatte er ein kompliziertes Verhältnis, aber selbst nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion brach das Verhältnis zu ihr nie ganz ab. 1932 erschien sein vielleicht berühmtester Roman, der Radetzkymarsch, ein Abgesang auf die k.u.k.-Monarchie, im Fokus der Niedergang der Trottas. Auch das wurde eine ,Spezialität‘ Roths, der Blick auf das, was bald nicht mehr sein würde, das Beschwören dessen, was schon dem Verschwinden anheimgegeben war. Parallel zu seinen zahlreichen journalistischen Texten schrieb Roth kontinuierlich an seinen Romanen, den drei ersten (und durchaus auch auf lange Sicht schon erfolgreichen: Das 4 Andreas Kilcher: Die Kalte Ordnung und der Eros des Erzählens Joseph Roths „exotische Juden“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 89, Heft 2, Juni 2015, S. 265–293, hier S. 274f.

Ein Jude auf Wanderschaft

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Spinnennetz, Hotel Savoy und Die Rebellion). Wilhelm von Sternburg schreibt über die Romanerstlinge: Seine drei ersten Romane spiegeln die sozialen und gesellschaftlichen Dramen der Weimarer Republik wider, erzählen von Menschen, die der Krieg aus der Bahn geworfen hat, die geistig und gesellschaftlich heimatlos geworden sind. […] Sein politischer Scharfblick und seine Außenseiterposition als Jude und Reisender ohne Heimatland lassen ihn die Bedrohungen der Wiener und der Weimarer Republik früher erkennen als viele seiner Zeitgenossen. […] Etwas zugespitzt lassen sich diese drei Frühromane als eine Weimarer Trilogie sehen, in der ein kluger, dem Humanismus verpflichteter Beobachter aus den verschiedensten gesellschaftlichen Perspektiven heraus prophetisch auf Entwicklungen hinweist, die für Europa schließlich zu einem schrecklichen Erwachen führen werden.5

Im Folgenden sollen zwei Texte Roths besprochen werden: Der Essay Juden auf Wanderschaft, der die von Andreas Kilcher benannte veränderte Perspektive des empathischen Reiseschriftstellers einnimmt und das Ostjudentum und ebenso aber auch die jüdischen Gemeinden in westeuropäischen Ländern in den Blick nimmt, zudem der Roman Hiob, der wie kein anderer deutschsprachiger Roman dem ostjüdischen Schtetl ein Denkmal gesetzt hat. 1.

Joseph Roth und das ostjüdische Judentum in Juden auf Wanderschaft

1927 bis 1929/30 arbeitete Roth an diesen beiden Texten, die ich an dieser Stelle analysieren möchte, weil sie es sind, die die jüdische Thematik in besonderer Weise widerspiegeln. 1927 erschien in der Reihe „Berichte aus der Wirklichkeit“ des Berliner Verlags Die Schmiede der Essay Juden auf Wanderschaft, weite Teile schrieb Roth davon in Paris, aber, er bereitete sich sozusagen auch mit diesem Essay auf seine Russlandreise vor. Der Essay ist ein sehr heterogener Text, er trägt zudem deutlich autobiographische Züge, die sich womöglich Roths Militärzeit in Brody verdanken. Juden auf Wanderschaft ist halb Tatsachenbericht, vor allem aber auch sehr deutlich literarisch bearbeitet, das heißt er operiert erzählend und nicht nur berichtend.6 Im Vorwort lesen wir:

5 Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, KiWiTaschenbuch 2009, hier S. 291 und 307. 6 Vgl. A: Kilcher: Die Kalte Ordnung, S. 284.

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Iris Hermann Dieses Buch verzichtet auf den Beifall und die Zustimmung, aber auch auf den Widerspruch und sogar die Kritik derjenigen, welche die Ostjuden missachteten, verachten, hassen und verfolgen. Es wendet sich nicht an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, dass sie bei Lift und Klosett aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorzubringen. Dieses Buch verzichtet auf die ,objektiven‘ Leser, die mit einem billigen und sauren Wohlwollen von den schwanken Türmen westlicher Zivilisation auf den nahen Osten hinabschielen und auf seine Bewohner; aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation bedauern und aus Furcht vor Ansteckung arme Emigranten in Baracken einsperren, wo die Lösung eines sozialen Problems dem Massentod überlassen bleibt. […] Dieses Buch ist nicht für Leser geschrieben, die es dem Autor übelnehmen würden, daß er den Gegenstand seiner Darstellung mit Liebe behandelt, statt mit „wissenschaftlicher Sachlichkeit“, die man auch Langeweile nennt.7

Roths Essay besteht aus zwei sehr verschiedenen Teilen. Im ersten Teil behandelt er das jüdische Leben in den kleinen ostgalizischen Städtchen, den Schtetln. Ein liebevoller Blick fällt auf seine oftmals bitterarmen Bewohner*innen, ihre Überlebensstrategien, ihren Glauben, ihre Kultur, ihr jiddisches Theater und ihren Gesang. In einer Rezension zu Juden auf Wanderschaft lesen wir: Ich entsinne mich keines Werkes, das von den endlosen Wanderungen der Ostjuden in alle Länder der Erde berichtet, obgleich dieses Problem längst ein umschrienes [sic] Problem ist. Roth erzählt und berichtet. Er spricht mutig und seine Furchtlosigkeit leuchtet. Er erzählt wie ein Dichter und seine Sprache bezaubert. Er verteidigt die Ostjuden, ohne die anzugreifen, die sie befeinden. Dieses Buch ist das Musterbeispiel einer großen modernen Reportage. Hier ist der Stoff geformt, der gebracht wird, aber nicht aufgelöst. Der Verfasser tritt hinter seine Mitteilungen zurück, nachdem er sie niederschrieb, wie er sie erlebte.8

Kilcher schreibt: „Nicht die kalte Ordnung wissenschaftlicher Sachlichkeit soll nach Roth die Beschreibung der Ostjuden leiten, sondern Passion.“9 Passion erscheint mir gerade in seiner Doppeldeutigkeit genau der richtige Begriff, um Roths Perspektive zu kennzeichnen: Es handelt sich tatsächlich um eine Liebe zum Ostjudentum, die eine Leidenschaft im Wortsinn mit einschließt, das heißt das Wissen darum, gerade auch vom Leid der Ostjuden und -jüdinnen 7 Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 22008, S. 5. 8 Bernard von Brentano: Frankfurter Zeitung, Jg.  71, Nr.  413, 2. Morgenblatt von Sonntag, 5.06.1927, S. 6, Literaturblatt. Zitiert nach: Joseph Roth: 1927. Briefe und andere Dokumente. Einige Monate als Beispiel für eine neue Joseph Roth Edition. Hg. von Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos, in Zusammenarbeit mit Helen Chambers, Madeleine Rietra und RainerJoachim Siegel, Wien: Schriftenreihe der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft, Heft 12, 2019, S. 11. 9 A. Kilcher: Die Kalte Ordnung, S. 285.

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zu künden. Damit nimmt Roth einen ganz anderen Standpunkt ein als etwa Theodor Lessing in seinen Eindrücken aus Galizien (freilich schon 1909)10 oder auch noch Alfred Döblin in seiner Reise in Polen (1925/26).11 Zwar bemüht sich auch Döblin um das Verstehen des Ostjüdischen, aber es bleibt ihm fremd und so sehr er sich bemüht, ist sein Standpunkt der des von außen Schauenden, obgleich auch Döblin hier auf der Suche nach seinem jüdischen Erbe war. Zurück zu Roth: Auffällig ist, dass wir nur wenige konkrete Ortsangaben finden, alles ist vielmehr exemplarisch gestaltet und nicht unbedingt konkret benannt, so dass man es allein auch nur räumlich nachvollziehen könnte. Das betrifft auch die Legenden, die in diesem vielgestaltigen Essay erzählt werden, in deren Zentrum die Tätigkeiten von Wunderrabbis stehen. Wo etwa Roth schildert, wie er einen Wunderrabbi aufsucht, es ihm schließlich gelingt, zu ihm vorgelassen zu werden, da geschieht kurioserweise fast nichts, außer dass ihm der Rabbi alles Gute wünscht. Unspektakulärer hätte diese ersehnte Begegnung mit dem legendenumwobenen Wunderrabbi nicht verlaufen können. Die auch sprachlich schönsten Stellen im Essay sind jene, in denen der assimilierte Jude Roth die jüdischen Feierlichkeiten etwa zu Jom Kippur beschreibt und ihm an diesen Ritualen zwar nicht etwa der religiöse Gehalt imponiert, wohl aber die Art und Weise, wie dieser in Szene gesetzt wird als ekstatische Angelegenheit: Alle sind sündig, und alle beten. Es kommt ein Taumel über sie, sie schwanken, sie rasen, sie flüstern, sie tun sich weh, sie singen, rufen, weinen, schwere Tränen rinnen über die alten Bärte, und der Hunger ist verschwunden vor dem Schmerz der Seele und der Ewigkeit der Melodien, die das entrückte Ohr vernimmt.12

Die so positive und mitfühlende Schilderung der ostjüdischen Bevölkerung schließt die harsche Kritik an jenen Westjuden und -jüdinnen mit ein, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, auf ihre ostjüdischen Brüder und Schwestern herabzusehen und ihr Leben in erster Linie als rückständig aufzufassen. Es war dieser Aspekt, der Ernst Toller an Juden auf Wanderschaft wichtig war, er schreibt Mitte Juni 1927 an Roth: Sie haben ein wundervolles Buch geschrieben, das mich in seinem Wissen, seiner gedanklichen Schönheit gepackt, in seiner Brüderlichkeit ergriffen hat. Hier ist endlich ein Werk, das über die von Antisemiten und feigen Westjuden 10 Theodor Lessing: Eindrücke aus Galizien [1909]. Hannover: hohesufer 2014. 11 Alfred Döblin: Reise in Polen. Mit einem Nachwort von Marion Brandt. Frankfurt a.M.: Fischer 2016. 12 J. Roth: Juden auf Wanderschaft, S. 40.

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Iris Hermann gleichverleumdeten Menschen Klarheit (und Ahnung um ihre Tiefe) gibt und helfen wird, den Schwindel, den der „Europäer“ mit dem Begriff „Ostjude“ treibt, zu zerstören.13

Einem solch emphatischen Plädoyer für die Ostjuden und -jüdinnen liegt eine sich bei Roth immer deutlicher abzeichnende Fortschrittskritik zugrunde, die sich auch in anderen Werken zeigt. Keiner Utopie hängt Roth an, auch keinem Glauben an die Religion, auch der jüdischen nicht in einem orthodoxen Sinne. Roth ist ein Zweifelnder in jeder Hinsicht und wenn er hier etwas in den Mittelpunkt stellt, dann den verzweifelten Überlebenskampf der Ostjuden und -jüdinnen. In einem zweiten Teil von Juden auf Wanderschaft zeigt Joseph Roth das jüdische Leben von Ostjuden und -jüdinnen, die in den Westen gezogen sind: In die Wiener Leopoldstadt, nach Paris, Berlin, und solchen, die nach Amerika und Russland ausgewandert sind. Jeder Ort wird genau beleuchtet, über das Gastland Frankreich heißt es mehr als schmeichelhaft: Die Ostjuden leben in Paris fast wie Gott in Frankreich. […] Sie haben es schon aus äußeren Gründen in Paris leicht. Ihre Physiognomie verrät sie nicht. Ihre Lebhaftigkeit fällt nicht auf. Ihr Witz begegnet dem französischen auf halbem Weg. Paris ist eine wirkliche Weltstadt. Wien ist einmal eine gewesen.14

Roths Blick auf die Juden und Jüdinnen in der Sowjetunion hingegen macht deutlich, dass sich aus seiner Sicht vieles positiv verändert hat. Roth wollte wohl nicht sehen, dass sich der Antisemitismus unter den Bolschewisten keineswegs verabschiedet hatte. 1937 erschien das Buch in Wien noch einmal neu. Roth schrieb dafür noch ein Nachwort, in dem er sich dann aber wesentlich pessimistischer äußerte: 1. Der Zionismus ist nur eine Teillösung der Judenfrage. 2. Zu vollkommener Gleichberechtigung und jener Würde, die äußere Freiheit verleiht, können die Juden erst dann gelangen, wenn ihre „Wirtsvölker“ zu innerer Freiheit gelangt sind und zu jener Würde, die das Verständnis für das Leid gewährt. 3. Es ist – ohne ein Wunder Gottes – kaum anzunehmen, daß die „Wirtsvölker“ zu dieser Freiheit und dieser Würde heimfinden. Den gläubigen Juden bleibt der himmlische Trost. Den andern das „vae victis“.15

13 Ernst Toller in einem Brief an Joseph Roth, zit. nach J. Roth: 1927, S. 14. 14 J. Roth: Juden auf Wanderschaft, S. 75. 15 Ebd., S. 123f.

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Das ist nur der letzte Teil des Nachworts, das zu den eindrucksvollsten und sprachmächtigsten Dokumenten seiner Zeit zählt, beklagt es doch unhintergehbar ernst und prophetisch das Leid der Juden und Jüdinnen unter den Nazis, ohne dass die allzu konkret benannt werden müssen, was das Ganze noch weitreichender gestaltet: Als aber dann der Büttel zur Macht kam, der Hausmeister die herrschaftliche Wohnung okkupierte, alle Kettenhunde sich losrissen, sah der deutsche Jude, daß er heimatloser und schutzloser war als noch vor einigen Jahren sein Vetter aus Lodz. Er war hochmütig geworden. Er hatte den Gott seiner Väter verloren und einen Götzen, den zivilisatorischen Patriotismus, gewonnen. Ihn aber hatte Gott nicht vergessen. Und er schickte ihn auf die Wanderung: ein Leid, das den Juden gemäß ist – und allen andern auch.16

Das Motiv des wandernden Juden und Jüdinnen durchzieht erwartungsgemäß den Essay, es ist damit in erster Linie die erzwungene Wanderung gemeint, das Vertriebenwerden aus der Sicherheit eines gefestigten Lebens. Dennoch hat Roths Ahasver auch Charakteristika von der Umtriebigkeit des Reiseschriftstellers erhalten, die unglaubliche Fähigkeit nämlich, auch im größten Leid noch einen Ausweg zu finden, nicht stehenzubleiben, sondern sich metaphorisch gesprochen auf eine Wanderung zu begeben. Dies alles gipfelt jedoch in der schrecklichen Einsicht, die den ganzen Essay überschattet und die dem entspricht, was über die Juden hereinbricht als unermessliche Verfolgung: „Es gibt keinen Rat, keinen Trost, keine Hoffnung“.17 2.

Joseph Roth: Hiob

Diese Perspektive, die Roth hier als „Verständnis für das Leid“ formuliert, ist in dem Roman Hiob der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Ein Hiob ist der Lehrer Mendel Singer, die Hauptfigur des Romans. Er lebt mit seiner Frau Deborah, den älteren Söhnen Jonas und Schemarjah, der Tochter Mirjam und dem behinderten Nachkömmling Menuchim in einem Schtetl unmittelbar an der Grenze zwischen Österreich und Russland. Als die älteren Söhne zum Militär eingezogen werden, ist Mendel verzweifelt. Jonas geht aber ganz zufrieden zum Heer, Schemarjah entzieht sich jedoch dem Militärdienst durch die Auswanderung nach Amerika. Auch um Mirjam macht sich Mendel Sorgen, weil sie sich mit Kosaken „einlässt“. Daraufhin beschließt auch Mendel, mit 16 17

Ebd., S. 110f. Ebd., S. 119.

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Mirjam und Deborah nach Amerika zu gehen, während Menuchim zurückbleibt. Scheint sich zunächst alles dort zum Guten zu wenden – Sam alias Schemarjah wird ein erfolgreicher Geschäftsmann –, wendet sich jedoch alsbald das Blatt: Deborah stirbt, dann auch Schemarjah als amerikanischer Soldat. Vom Soldaten Jonas und von Menuchim kommen keine oder kaum noch Nachrichten. Mirjam wird wahnsinnig. Mendel ist allein, hadert mit seinem Schicksal und lässt die Gebetsriemen verstauben. Der Roman endet mit einer wunderbaren erneuten Wende. Menuchim, der inzwischen geheilt18 und ein berühmter Musiker geworden ist, kommt nach New York und findet dort seinen Vater Mendel wieder. Man kann Hiob als Familiensaga lesen und merkt aber schnell, wie exemplarisch, wie biblisch-mythisiert das Geschehen um den gepeinigten Mendel aufzufassen ist.19 Nicht nur das Hauptmotiv des Hiob ist hier verarbeitet worden, sondern auch Anspielungen auf Joseph und die Behandlung durch seine Brüder (Menuchim wird fast von seinen Brüdern ertränkt). Deborah, Hiobs Frau, verweist womöglich auf die Richterin Deborah, die mit ihrem General Barak die Kanaaniter schlägt. Nicht zuletzt erinnert an die

18 Andreas Kilcher liest den Roman Hiob vor allem als Heilungsgeschichte und verbindet den Essay Juden auf Wanderschaft und diesen Roman vor allem über die Erzählung des Besuches beim Wunderrabbi, die in beiden Texten vorkommt. Menuchim, den Deborah zum chassidischen Wunderheiler bringt, wird dadurch geheilt: „Auf den chassidischen Wunderrabbi setzten nicht nur die Roths, sondern – um wieder auf die ethnoliterarische Imagination zurückzukommen – im Hiob-Roman auch Mendel Singers Frau Deborah, die mit dem kleinen ,Krüppel‘ zu einem ,Heiligen‘ fährt. Es ist auffallend, dass ihr Besuch beim Wunderrabbi im Roman strukturell analog zum Besuch Roths in Juden auf Wanderschaft beschrieben ist: der mühevolle Weg zum Rabbi, das Warten im Vorzimmer, das außerordentliche Zugelassenwerden, die äußere Erscheinung des Rabbi und das Gespräch mit ihm. Während jedoch die Szene im Essay realistisch von Außen beschrieben wird, wird sie im Erzählvollzug des Romans auf die innere und performative Ebene der Magie erhoben: Der Wunderrabbi erscheint nicht nur als ein kluger und herzlicher Mann, er kann tatsächlich Wunder vollbringen. Im Roman erscheint der Wunderrabbi somit – ethnografisch gesehen – analog zum Rabbiner-Fakir der Juden auf Wanderschaft. Das zeigt schon die Beschreibung seiner Gestalt: Durch seine schiere physische Präsenz vermag der Rabbi, ein Zaddik im Sinn des Chassidismus, als Mittler Gottes seine heilenden Kräfte herabzuziehen: Die ,knochigen‘ Finger, die schon im Essay so beschrieben sind, werden zu ,Instrumenten des Segens‘. […]. Der Höhepunkt der Audienz beim Wunderrabbi ist ein heilender Akt, dem auch hier die ethnografische Hauptaufmerksamkeit gilt. Die Wundergabe des Rabbi beweist sich in Roths ethnoliterarischem Narrativ dramaturgisch an genau dieser Stelle: Er tritt als allwissender Seher auf.“ A. Kilcher: Die Kalte Ordnung, S. 292. 19 Zur Mythisierung bei Joseph Roth vgl. Stefan Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph Roth. In: Literatur und Kritik Nr. 243/244 (1990), 137–143.

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Geschichte des Mose, dass auch Menuchim in einen Korb gelegt wird, wenn seine Eltern aus dem Haus gehen. Ludwig Marcuse schreibt in seiner Rezension zu Hiob die folgenden Sätze: Er [gemeint ist Joseph Roth] notiert nicht die Fieberkurven der europäischen Gesellschaft – er notiert nur das Schicksal einer unscheinbaren russischjüdischen Familie. Aber er schreibt in diesen Lebenslauf, der nicht in die Historie eingehen wird, die ehernen, zeitlosen Gesetze des Menschen, die regieren über den Gesetzen der Wirtschaft  … Roth fragt nicht und antwortet nicht. Er beschreibt das Leben, wo es Legende ist […]. Und dieses Buch ist eines der stärksten Bücher, die er geschrieben hat – weil es die kühle Distanz seiner geistigen Optik verringert durch eine Wärme, die neu bei ihm ist.20

Aus der Sicht von heute hat das Buch, das seine Figuren auf der Basis einer Mitleidsästhetik21 imaginiert, einen besonderen Wert. Nur wenige Jahre später ist die Welt, die Roth so einfühlsam beschreibt, von den Nationalsozialisten unwiederbringlich zerstört worden. Roth hingegen war einer der schärfsten Kritiker der Nazis. Als er im Dezember 1934 zusammen mit anderen Autoren gefragt wurde, was man als Dichter gegen das Naziregime tun könne, antwortete er im Pariser Tageblatt22 mit einer leidenschaftlichen Philippika. Dieser Artikel ist nicht nur aufgrund seines vehementen Engagements gegen die Nazis lesenswert, sondern auch deshalb, weil Roth dort grundlegende Einsichten zum Beruf des Dichters formuliert. Er schreibt dort: Es gibt kein wahrhaft wertvolles Talent ohne die folgenden Eigenschaften:  1. Mitgefühl für die unterdrückten Menschen  2. Liebe zum Guten  3. Hass gegen das Böse. Die Aufgabe des Dichters in unserer Zeit ist der unerbittliche Kampf gegen Deutschland, denn dieses ist die wahre Heimat des Bösen in dieser Zeit, die Filiale der Hölle, der Aufenthaltsort des Antichrist.23

20 Zit. nach W. von Sternburg: Joseph Roth, S. 377. 21 Damit ist eher weniger an eine Mitleidsästhetik im Sinne Lessings gedacht, sondern an modernere Varianten wie sie etwa bei Fritz Breithaupt, Martha Nussbaum, Hilge Landweer und Claudia Breger in einem breiten kulturwissenschaftlichen und philosophischen Kontext zu finden sind. 22 Zur deutschsprachigen Exilpresse in Frankreich s. Liselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945. Bd.  4: Die Zeitungen des deutschen Exils in Europa in Einzeldarstellungen. München: Hanser 1990. Das Pariser Tageblatt (auch der 1934er Jahrgang) befindet sich online zugänglich in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt. Weitere politische Essays von Joseph Roth finden sich in: Die Filiale der Hölle auf Erden. Schriften aus der Emigration. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2003. 23 Pariser Tageblatt vom 12.12.1934.

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Die enorme Courage, gegen das Unrecht einzutreten, bleibt vorbildhaft, ebenso wie die Einsicht sehr nachdenkenswert ist, das eigene Schreiben auf die Basis des Mitgefühls zu stellen. Für Roth stellte sich diese Frage in sehr existentieller Weise. Auch praktisch hat Roth diese Forderung in seinem Leben eingelöst, indem er sich in seinen letzten Lebensjahren für exilierte, vertriebene Schriftsteller und Schriftstellerinnen einsetzte.24 Joseph Roth erinnert an das ostjüdische Schtetl, für das sein Heimatort Brody exemplarisch ist, indem er mit einem hollywoodartigen Schluss von einer ostjüdischen Familie und deren Auswanderung nach Amerika erzählt. Die Familie von Mendel Singer kommt um und Teile von ihr überleben doch. Dem Ostjudentum ist hier ein Denkmal gesetzt, in der deutschsprachigen Literatur wüssten wir wesentlich weniger vom Schtetl, wenn Joseph Roth sich nicht von seinem sachlichen Stil abgewendet und der Familiensaga zugewendet hätte. Ritchie Robertson hat über den Roman und seine Wende am Schluss die Ansicht vertreten, dass der Schluss des Romans mitnichten ironisch gemeint sei. Er schreibt: The upheat ending of the book is not ironized; it is far more deeply undermined than that. The fairy-tale aura surrounding Menuchim’s reappearance conveys how impossible such a miracle is in reality. It confirms the wisdom of the Wunderrabbi but shows how thoroughly the modern world has lost contact with his wisdom. It provides a perfunctory disguise for a message of despair.25

Dass das Thema mit Joseph Roth behandelt und dann dem Vergessen anheimgegeben wurde, das ist jedoch glücklicherweise nicht der Fall. Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman Aller Tage Abend die Roth’sche Perspektive noch einmal aufgenommen.

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Von einer Ästhetik der Marginalität spricht in diesem Zusammenhang Daniel Romuald Bitouh in seiner postkolonialen Perspektive auf das Werk Joseph Roths: Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth. Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außenkolonialismus. Tübingen: Narr Attempto 2016. 25 Ritchie Robertson: Hiob and Ghetto fiction. In: H. Chambers: Co-existent contradictions, S. 185–200, hier S. 200.

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Jenny Erpenbecks Erinnern an das Ostjudentum in Aller Tage Abend26

Aller Tage Abend umspannt nahezu ein ganzes Jahrhundert. Er ist, wie auch der Roman Heimsuchung27, ein gelungenes Beispiel dafür, wie Geschichtsschreibung im Roman sich entfalten kann. Das große Geschichtspanorama bietet den Rahmen und die Bühne, verblasst aber bewusst in der Absicht, Geschichte fokussiert in der Lebensgeschichte einzelner Figuren aufscheinen zu lassen. Das Exemplarische des Schicksals der Figuren sorgt dann dennoch dafür, dass diese Geschichte nicht beliebig erscheint und abgekoppelt wird von den großen Zeitläufen, sondern – im Gegenteil – die politische Geschichte wird belebt und greifbar durch die Perspektive auf eine einzelne Familie. Genau dieses Vorgehen erklärt aber auch die Faszination Erpenbecks für Joseph Roths Hiob. Das Buch hat sich für das erste Kapitel Brody als Schauplatz gewählt, Schlüsselszene ist ein Pogrom, das von Erpenbeck in einer solchen Drastik erzählt wird, dass man als Leser*in sich von der Schilderung heimgesucht fühlen können. Jenny Erpenbeck ist jedoch nicht die Erste, die mit mehr als deutlichen Worten Pogromszenen ausmalt: Else Lasker-Schüler etwa hat nicht minder deutliche Worte in ihrem Text Arthur Aronymus gefunden, dort werden etwa Kinderleiber aufgespießt.28 Erpenbecks Roman stellt sich also offensichtlich in diese Tradition. Kommentiert wird das Geschehen mit Bibelzitaten: Der Großvater der Protagonistin, das Pogromopfer, wird mit Lot verglichen, als seine Hilfeschreie erscheinen die Psalmworte aus Psalm  39: „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen, denn ich bin Gast bei dir.“ Dieser Großvater wird vom Mob des Dorfes auf grausamste Art und Weise ermordet, sein Tod aber fortan als Familiengeheimnis verschwiegen. Die Enkelin erfährt genauso wenig wie deren Mutter etwas davon; für sie ist der Vater bzw. Großvater fortgegangen und hat die Familie freiwillig verlassen. Auf dieser Schlüsselszene ist die gesamte Struktur des Romans aufgebaut: Fünf Todesarten der weiblichen Hauptfigur werden ausgemalt (ihr Säuglingstod in Brody, ihr erweiterter Selbstmord in Wien, ihr Erfrieren im sibirischen 26 Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. München: Knaus 2012. 27 Jenny Erpenbeck: Heimsuchung. Köln: Eichborn 2008. 28 Vgl. die Pogromschilderungen in Else Lasker-Schüler: Arthur Aronymus und seine Väter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

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Straflager, ihr Treppensturz in Berlin, schlussendlich ihr altersbedingter Tod im Altenheim) und jede dieser Todesarten wird in einem Kapitel durchgespielt, so als könne eine Todesart die andere ersetzen, so als sei jeder Tod eine Heimsuchung, die zumindest fiktiv wieder rückgängig gemacht wird. Der Roman ist der Versuch, einen literarischen Einspruch gegen die Unerbittlichkeit des Todes vorzubringen, ihm, dem Tod, das letzte Wort zu nehmen, indem er erzählend wieder aufgehoben wird. In Intermezzi, die auf jedes Kapitel folgen, wird im Irrealis die Todesszene mit einer mitunter klitzekleinen narrativen Stellschraube verdreht. Der Zufall eines kleinen, unbedeutend erscheinenden Ereignisses reicht aus, um den zuvor ausgemalten Tod zu verhindern, danach folgt ein weiteres Kapitel mit einer weiteren Todesart. „Alles hätte aber auch anders kommen können“29, kommentiert der Roman sein eigenes Vorgehen. Erst ganz am Ende ist der Tod nicht mehr aufzuhalten, als der natürlich erscheinende Alterstod eintritt. Jenny Erpenbeck hat ihren Roman einer strengen Versuchsanordnung unterworfen, jede Lebensphase wird wie in einem Labor auf ihr Ende hin beschrieben, aber, und das ist das Besondere an ihm und macht das erste Lesen nicht immer leicht, jedoch reizvoll, sie wechselt von Abschnitt zu Abschnitt die Perspektive, so als schwenke eine Kamera hin und her und lasse uns die angeschaute Figur näher betrachten. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen: Die Figuren werden im Romangeschehen beobachtet, es wird geschaut, wie sie agieren, mit ihrem Körper und mit den Gesten des Körpers. 4.

Gesten und Rituale in Aller Tage Abend

Der Säugling, der in Brody am frühen Kindstod stirbt, wird so betrauert, wie das jüdische Gesetz es vorsieht, aber bei genauem Hinsehen fehlen einige der gängigen Rituale, so erfolgt z.B.  kein  Einreißen der Kleidung: „Sie hatte alle Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, aus dem Haus gebracht und ausgeschüttet, hatte den Spiegel im Flur mit einem Laken verhängt, hatte die Fenster des Zimmers, in dem das Kind lag, zur Nacht hin geöffnet, und sich dann neben die Wiege gesetzt.“30 Dann sitzt die Mutter sieben Tage Schiwa, die jüdische Totenwache, auf dem Fußbänkchen, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte. Im Roman reflektiert die Mutter des Säuglings, welche Funktionen die Begräbnisrituale haben können, wenn es heißt: „Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein 29 J. Erpenbeck: Aller Tage Abend, S. 199. 30 Ebd., S. 13.

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Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt. Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, kein Gott.“31 Damit wird deutlich, dass die jüdischen Traditionen zumindest einen Halt in der Hinsicht geben können, dass sie vorgeben, was Angemessenes zu tun ist, und das wird im gesamten Roman so bleiben. Das Judentum bleibt präsent in Form von eingeschobenen, leitmotivartig wiederkehrenden Zitaten aus der hebräischen Bibel, aber, so scheint es, es waltet kein Gott, kein Schicksal, sondern die Todesarten und ihre Zurücknahme zeigen eines sehr deutlich, dass es der Zufall ist, der über Eintreten oder Ausbleiben des Todes bestimmt. Es gibt keinen Trost für den frühen Tod des Kindes in Brody, vielmehr wird die Vermutung geäußert, es gäbe nach dem Leben „einfach nur nichts“32. Der Roman stellt sich dieser ganzen Trostlosigkeit und erzählt davon, wie man den Tod und die Trauer aushalten kann, wenn es keinen Gott gibt, der dem Tod einen Sinn verleiht, sei er nun jüdisch oder christlich. Jenny Erpenbeck hat für die Trauer Gesten gefunden, die ihre Figuren leitmotivisch vollführen, so als ginge es darum, die Trauer wie auf einer Bühne sichtbar zu machen. Die auffälligste Sprache des Körpers in der Trauer ist das Weinen, das unauffällig, aber sichtbar erfolgt als ein leises Tropfen der Tränen auf den Tisch: „Der Vater hört erst nur ein gleichmäßiges Tropfen und sieht dann, wie sich in der Teetasse seines Sohnes Ringe bilden, immer wenn wieder eine neue Träne von dessen Nasenspitze in den Tee hinein fällt.“33 Am Ende bricht das Weinen los wie ein Strom: Viele Morgende wird er in dieser Frühe, die ganz allein ihm gehört, aufstehen und in die Küche gehen, und dort wird er so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.34

Jenny Erpenbeck knüpft in ihrem das gesamte 20. Jahrhundert umspannenden Roman an Joseph Roths ostjüdische Familiensaga an und erzählt allegorisch, wie in Brody gestorben und getrauert wird und aus dem Boden der Vernichtung dennoch neues Leben hervorgeht. Die Brücken, die aus der Vernichtung herausführen, sind die Trauerrituale des Judentums und die Empathiefähigkeit, mit denen sie ihre Figuren ebenso ausstattet wie Joseph Roth seine Figuren im Roman Hiob. Diese Verknüpfung mit dem Werk Joseph 31 32 33 34

Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S. 238. Ebd., S. 283.

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Roths ist bemerkenswert. Auch in der Gegenwartsliteratur ist das Ostjudentum immer noch ein Thema. Joseph Roths erzählendes und essayistisches Werk hat dafür den Maßstab gesetzt, dem Jenny Erpenbeck gefolgt ist. Exemplarisch hat sie am Judentum und seiner ostjüdischen Variante untersucht, wie die Rituale der Religion in größter Verzweiflung (hier ist es der Tod eines neugeborenen Kindes) vielleicht nicht trösten, aber Orientierung geben können: Was ist zu tun, wenn die Verzweiflung, das Leid am größten ist? Das ostjüdische Brody war der Ort, der sicher nicht zufällig als Schauplatz des Ausgangskapitels gewählt wurde. So hat Jenny Erpenbeck auch Joseph Roth ein Denkmal gesetzt, der das Ostjudentum verzweifelt geliebt und von ihm (fast) unnachahmlich erzählt hat.

Trostlose Geschichte(n) – Beichte, Märchen und Legende beim späten Joseph Roth Hans Richard Brittnacher 1.

Erzählung und Roman

1933, als sich der Himmel über Europa zunehmend verfinstert, hat Joseph Roth, so bereitwillig seine Prosa sonst unerwartete Wendungen nimmt, alle Hoffnungen aufgegeben: „Machen Sie sich keine Illusionen“, schreibt er dem Freund Stefan Zweig: „Die Hölle regiert.“1 Dem Autor, der dem Journalismus literarischen Glanz, der Neuen Sachlichkeit poetischen Zauber erschrieben hat, ist im Exil endgültig das Vertrauen in den Optimismus der Avantgarden, erst recht der Glauben an die interventionistische Kraft der Literatur abhanden gekommen – nicht aber, so scheint es, das Vertrauen in die Literatur, Rat zu wissen und erzählend Trost spenden zu können. Die Nähe zu elementaren Formen des Erzählens, zur vertraulichen Mitteilung in der Beichte, zum unbekümmerten Erzählen in den ‚Einfachen Formen‘ Märchen und Legende scheinen noch am Vorabend der Apokalypse Roths ungetrübte Hoffnung auf die versöhnende und tröstliche Kraft des Erzählens zu belegen.2 Seine Präferenz für das Erzählen, nicht für die komplexere, reflektierte und polyphone Prosa des modernen Romans, rückt Joseph Roth in die Nähe eines der großen literaturtheoretischen Paradigmen des beginnenden 20. Jahrhunderts. In seinem Aufsatz Der Erzähler (1936) hat Walter Benjamin einer Vergangenheit gedacht, in der das Erzählen noch geholfen hat, weil seine Urheber, die Erzähler – in ihren archaischen Vertretern als „seßhafter Ackerbauer“ oder als „handeltreibender Seemann“3 – in Situationen der Krise zuverlässig Rat wussten. Mit der Metapher „keusche Gedrungenheit“4 hat Benjamin die kunstvolle Weise schlichten Erzählens charakterisiert, die sich von aller aufdringlichen Psychologie fernhält, die dem Roman, so die Diagnose von 1 An Stefan Zweig, 30.02.1933. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 249. 2 André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen: Niemeyer 51982. 3 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 438–465, hier S, 440. 4 Ebd., S. 446.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_005

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Benjamins großem Antipoden, Georg Lukács’ Theorie des Romans (1920), die Freude am Erzählen ausgetrieben hat. Lukács’ geschichtsphilosophischer Versuch bescheinigt dem eigenen Zeitalter „vollendete Sündhaftigkeit“,5 seinen Subjekten die Erfahrung „transzendentaler Obdachlosigkeit“,6 seiner Literatur eine von Reflexivität zersetzte Sicht auf eine fraglich gewordene Welt. Dank der Dignität der Form, der Komplexität moderner Erzähltechniken, darf der Roman immer noch für sich in Anspruch nehmen, Abbild seiner Zeit zu sein, aber jetzt ist es die „Epopöe einer gottverlassenen Welt“7 der Moderne, deren nicht länger mehr heroische Protagonisten, sondern zutiefst passive Helden der „Niedertracht des äußeren Lebens“8 nur noch mit Ausweichmanövern begegnen können. Joseph Roths letzte Werke, Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht (1936), Die Geschichte von der 1002. Nacht (1939) und Die Legende vom heiligen Trinker (1939) hingegen greifen zurück auf prototypische Formen des Erzählens, also auf eine anachronistische, fast obsolete Form der Literatur, die dem modernen literarischen Urteil längst fraglich geworden war. Im Spätwerk Roths aber soll das Erzählen, so scheint es, einmal noch, ein letztes Mal, seine ganze versöhnliche Kraft ausspielen: im Angesicht des Untergangs ein agonaler Versuch poetischer Selbstvergewisserung, der vom Erzählen nicht lassen mag. Andererseits aber ist es vielleicht an der Zeit, Joseph Roths vermeintlich affirmatives Verhältnis zum naiven Erzählen wie erst recht die vermeintlich ablehnende Haltung gegenüber der Avantgarde zu überprüfen. Verführt vom altmodischen Charme seiner Erzählungen geht es dem Leser oder der Leserin oft wie dem Rittmeister Taittinger in Roths Geschichte von der 1002 Nacht, den im Heurigenlokal „eine große Trauer und eine starke Heiterkeit zugleich“ (G 455)9 überkommen. Diese tief bewegende Erfahrung der Ambivalenz teilt mit ihm in der gleichen Erzählung die Bordellwirtin Josefine Matzner, wenn sie „die schrecklichen und gütigen Schauer der Traurigkeit fühlte“ (G 414). Der doppelte emotionale Angriff auf den Leser oder die Leserin macht den unwiderstehlichen Zauber von Roths Prosa aus, seiner Romane, die eigentlich eher Erzählungen sind, und seiner Erzählungen, deren Tonfall oft eher an Legenden und Märchen erinnert. Wegen der extensiven ambivalenten 5 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1974, S. 37. 6 Ebd., S. 32. 7 Ebd., S. 77. 8 Ebd., S. 90. 9 Joseph Roth: Die Geschichte von der 1002. Nacht. In: J.  Roth: Werke. Bd.  6: Romane und Erzählungen 1936–1940. Hg. von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 347–514. Nach dieser Ausgabe zitiere ich parenthetisch im Text mit Seitenzahl und vorangestelltem G.

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emotionalen Codierung von Roths Prosa neigen wir dazu, die Nähe seiner Romane und Erzählungen zur Avantgarde zu übersehen – aber in den Schauplätzen seiner Erzählungen, in den Bordellen, Hinterzimmern und Spelunken, den Dunkelzonen der Zivilisation, sind noch jene Räume präsent, die auch die Avantgarde bevorzugt aufsuchte, weil sie Räume der Gefahr, des Kontakts mit dem Realen waren. Was für Ernest Hemingway, Scott Fitzgerald oder Bert Brecht der Boxring oder die Stierkampfarena waren, sind für Joseph Roth Grenzschenken, Freudenhäuser, Hotels und die Brücken, unter denen seine Helden sich schlafen legen. Die von der Realität kontaminierten Kontaktzonen des Realen werden bei Roth zum Schauplatz mythischer Geschichten. 2.

Beichte ohne Reue

In Beichte eines Mörders gesteht Semjon, ein Geheimpolizist der zaristischen Ochrana im Tari-Bari, einem schummrigen Bistro für russische Emigranten nach der Oktoberrevolution, seinen Zuhörern seine Verbrechen. Als „unser Mörder“ (B 7)10, wie ihn die Stammgäste des Lokals fast liebevoll nennen, bekennt, wie er sich unter der angenommenen Identität des Fürsten Krapotkin die Liebe der Tänzerin Lutetia erschlichen hat, kommt es zum allseits betroffenen Schweigen seiner Zuhörer: „lange, lange Ewigkeiten schienen vergangen seit dem Augenblick, seit Golubtschik seine Erzählung begonnen hatte“ (B 72), formuliert der Erzähler seinen Eindruck der lastenden Stille, „Ewigkeiten, sage ich, nicht Stunden.“ (B 72) Tari-Bari, was wörtlich so viel wie Geschwätz bedeutet und gewiss nicht zufällig phonetisch an charivari, misstönende Musik, an Katzengejammer, erinnert, ist geradezu mustergültig das, was Foucault eine Heterotopie nannte, ein Phantasma mitten in der Wirklichkeit, ein Widerlager.11 Dieser eigengesetzliche Raum vermag sogar, die Zeit zu entmachten – ihr Symbol hat die außer Kurs gesetzte Zeit in der Uhr des Restaurants gefunden: „Eine blecherne Uhr hing an der Wand. Manchmal stand sie, manchmal ging sie falsch; sie schien die Zeit nicht anzuzeigen, sondern verhöhnen zu wollen.“ (B 3) Die stillstehende Zeit verwandelt auch den Raum in einen mythischen Ort: Unversehens war er „aller seiner Raumgesetze ledig; und es war, als befänden wir uns nicht auf der festen Erde, sondern auf den ewig schwankenden Wassern des ewigen Meeres.“ (B 72) Mit 10

Joseph Roth: Beichte eines Mörders. In: J. Roth, Werke, Bd. 6, S. 1–126. Nach dieser Ausgabe zitiere ich im Text mit bloßer Seitenzahl und vorangestelltem B. 11 Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopischer Körper. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

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diesen Worten ist zugleich eine charakteristische Weise mythischen Erzählens angesprochen, deren vorrangiges Ziel in der Verwandlung geschichtlicher Ereignisse in natürliche Zustände besteht.12 Der Verzicht auf eine Analyse der Verhältnisse zugunsten ihrer mythischen Stilisierung markiert das Risiko eines Erzählens, das nach Benjamins Befund den aus den Erfahrungen des Lebens geborgenen Ratschluss weiterzugeben weiß: hier in die resignative Einsicht, vor dem unausdenkbaren Schrecken der Gegenwart in die Vorstellung von der Naturförmigkeit des Gezeitenwechselns zu flüchten, „auf den ewig schwankenden Wassern des ewigen Meeres.“ Zum mythischen Erzählen gehört, dass es auch dem Zufälligen Bedeutung verleiht: [E]s schien uns, als bewegten sie [die Zeiger der Uhr] sich nicht deshalb nicht, weil das Uhrwerk stillstand, sondern als blieben sie unbeweglich aus einer Art Bosheit und wie um uns zu beweisen, daß die Geschichte, die uns Golubtschik zu erzählen im Begriff war, eine ewig gültige, trostlose Geschichte sei, unabhängig von Zeit und Raum, von Tag und Nacht. (B 72)

Mit dem Verweis auf die unbeweglichen Uhrzeiger erinnert der Erzähler an die eigenartige Differenz des Zeiterlebens, für die Henri Bergson zwischen temps und durée unterschieden hat.13 Während temps das von der Uhr bestätigte Ablaufen der mechanischen Zeit meint, unabhängig von jedem Erleben, bezieht sich durée auf die subjektive Zeiterfahrung. Alles was an Besonderem erfahren wird, Liebe und Verluste, Beglückendes oder Trauriges, geschieht in der durée und verändert für den Erlebenden den Fluss der Zeit: Sie steigt vertikal an, sie zerfasert und dauert in der Horizontalen, ist mal Plötzlichkeit, mal lastende Ewigkeit, aber niemals jener gleichmäßige Ablauf, mit dem sich die Zeiger der Uhr bewegen. Es mag am sympathetischen Empfinden des Erzählers liegen, ein Exilant auch er, dass er den beiden Zeitformen einen nationalen Index zuordnet, demzufolge die Russen mit der durée leben, während der Westen sich dem Zeitmaß des temps gebeugt hat: Ja, es war, als demonstrierten die Emigranten bewußt gegen die berechnende, alles berechnende und so sehr berechnete Gesinnung des europäischen Westens, und als wären sie bemüht, nicht nur echte Russen zu bleiben, sondern auch ‚echte Russen‘ zu spielen, den Vorstellungen zu entsprechen, die sich der europäische Westen von den Russen gemacht hat. (B 3) 12 13

Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957]. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp 2010. Henri Bergson: Zeit und Freiheit: Versuch über das dem Bewusstsein unmittelbar Gegebene (1889). Aus dem Französischen von Margarete Drewsen. Hamburg: Meiner 2016.

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Wiewohl explizit als Beichte bezeichnet – der ursprüngliche Titel lautete noch Der Stammgast – ist der Roman Die Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht, der 1936 ohne weitere Gattungsbezeichnung im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erschien, nichts weniger als das, was er zu sein vorgibt: Denn in der Beichte, zumal in der exemplarischen Gestalt der Ohrenbeichte in der katholischen Kirche, wendet sich ein reuiger Sünder an einen Priester und vertraut diesem, dem Stellvertreter Gottes, unter Ausschluss der Öffentlichkeit seine Missetaten an und bittet um Vergebung, die ihm in der Regel – gegen eine Sühneleistung, zumeist in Form von Gebeten – gewährt wird. Der Sünder verlässt den Beichtstuhl wieder im Stande der Unschuld. Roths Roman ist schon in seiner personalen Konstellation komplexer als das dialogische Szenario der Beichte: Ein Erzähler berichtet von einem sonderbaren russischen Exilanten, der ihm und weiteren Zuhörern seine Lebensgeschichte anvertraut. Es gibt also einen namenlos bleibenden Erzähler, einen weiteren Erzähler, Golubtschik, und den Helden dieser Erzählung, den erzählten Golubtschik. Auf der Seite der Zuhörer gibt es die russischen Exilanten im Pariser Bistro und die Leser*innen, die der Nachschrift des namenlosen Erzählers folgen. Dass die Öffentlichkeit, sei es auch eine kleine wie im Bistro, zum Adressaten der Beichte gewählt wird, ist seit Rousseaus Les Confessions (1782/89), einer Modernisierung der Confessiones (397–401) des Augustinus, ein geläufiges Verfahren modernen Erzählens, das sich als authentisch ausgibt, indem es die Zeitgenoss*innen zu Zeug*innen anruft. Während Golubtschik seine Sünden bekennt und seinen Zuhörer*innen in immer wieder neuen Apostrophen immer näher rückt, geht der Erzähler auf Distanz zum erzählten Golubtschik – er scheint seinen Ausführungen zunehmend weniger zu glauben. Bei der Einschätzung der Aufrichtigkeit von Golubtschiks Beichte mag es hilfreich sein, sich eines Aperçus aus Nietzsches Aufzeichnungen in Jenseits von Gut und Böse zu erinnern. Dort heißt es: „,Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“14 Auch vor den Selbstrechtfertigungen des Beichtkindes, von dem Joseph Roth erzählt, geht die Wahrheit in die Knie: Die Anleihen beim mythischen Erzählen, die ihm immer dann zu Hilfe kommen, wenn es darum geht, seine persönliche Verantwortung zu leugnen, machen ihn seinem Zuhörer oder Zuhörerin verdächtig. Als illegitimer Sohn des reichen Fürsten Krapotkin in Wolhynien geboren, will der junge Semjon, der den Namen Golubtschik, also „Täubchen“, nach seinem legitimen Vater, einem Förster, trägt, in Odessa vor seinem leiblichen 14

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München, Wien: Hanser 1980, Bd. 4, S. 565–760, hier S. 625.

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Vater seinen Anspruch geltend machen: „Mein Recht als Ihr Sohn.“15 Als ein anderer von Kropotkins unehelichen Söhnen, der es aber geschafft hat, zum Günstling des Fürsten aufzusteigen, die Szene betritt, wird Semjon vom Fürsten mit einer Schmuckdose abgespeist. Der leicht zu kränkende Golubtschick, der mit geradezu paranoidem Eifer hinter jeder Wendung der Ereignisse die missgünstigen Absichten eines vorbestimmten Schicksals vermutet, trifft kurz darauf, noch im Zustand der Empörung, auf den Teufel. Er heißt Jenö Lakatos, kommt aus Budapest und sät Zwietracht im Herzen Golubtschiks: „Das Ziel meines Lebens bestand [nun] darin […] den tückischen Jungen [den Halbbruder und Rivalen, HRB] zu vernichten.“ (B 35) Jenö Lakatos, in weißem Anzug, parfümiert, mit gelbem Rohrstöckchen und tänzelnden Schritten, die das teuflische Hinken überspielen wollen,16 wird in Zukunft noch oft den Weg Golubtschiks kreuzen: Der Teufel als Stutzer, als schäbiger Schmeichler, ist unschwer als das alter ego Golubtschiks zu erkennen, der diesem nur zu dem rät, was er insgeheim begehrt, aber nicht laut zu äußern wagt. Wann immer Golubtschik wie der Herakles der Mythologie an einem Scheideweg steht, erscheint der infernalische Freund und weiß Rat – der fällt bei seinem rachsüchtigen Zuhörer zwar auf fruchtbaren Boden, aber in ungeschickte Hände: Nachdem Golubtschiks erste Intrige gegen den Fürsten Kropotkin und dessen Sohn scheitert, verdingt er sich bei der gefürchteten Ochrana.17 Ausgestattet mit den weitreichenden Möglichkeiten eines Spitzels der Geheimpolizei setzt er seinen Rachefeldzug gegen seinen Rivalen fort, aber statt diesem zu schaden, kostet seine Intrige den braven Thorastudenten Komorow die Freiheit. Zur Überwachung eines Modeschöpfers und seiner Mannequins 15 Den Wunsch nach Legitimierung untersucht aus rechtsphilosophischer und strafrechtlicher Perspektive der Beitrag von Eva Maria Maier: „Gerechtigkeit, meine Freunde, gibt es nur in der Hölle! …“ Das Verbrechen zwischen fehlender Rechtsstaatlichkeit und schuldhafter Verstrickung. In: Johann Georg Lughofer (Hg.): Im Prisma. Joseph Roths Romane. Wien, St. Augustin: Ed. Art Science 2009, S. 344–360. 16 Das Motiv des Hinkefußes zählt auch in Roths Essay Der Antichrist zu den „überlieferten Attributen“ des Teufels. Joseph Roth: Der Antichrist. In: Ders.: Werke. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiebenheuer & Witsch 1991, S.  563–668, hier S.  565. Dass der Teufel Ungar ist, zeigt Roths Aversion gegen die Ungarn, denen er die Hauptschuld für den Zusammenbruch des Habsburgerreiches zuschreibt. 17 Zur Nähe von Roths Text zu zeitgleich erschienen Agentenromanen (von Joseph Conrad und Rudyard Kipling) und zur tatsächlichen Bedeutung und Funktion der Ochrana, die Roth nicht wirklich interessierte, vgl. Wolfgang Krieger: „Man ist nicht umsonst bei der russischen Geheimpolizei gewesen.“ Joseph Roths Roman Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht. In: J. G. Lughofer: Im Prisma, S. 335–343.

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abgestellt, verliebt er sich in das Modell Anne Leclaire, die sich Lutetia nennt. Die kapriziöse Lutetia macht Schulden, also nutzt Golubtschik seine Stellung in der Ochrana zu einer weiteren Infamie: Er besorgt der schönen Jüdin Channa Lea Rifkin, deren Bruder anarchistischer Konspiration verdächtig ist, gefälschte Dokumente, die zur Verhaftung Channas beim Grenzübertritt führen. Die Bezahlung, mit der er Lutetias Schulden begleichen kann, nennt er selbst einen „Judaslohn“ (B 113). Bald muss er jedoch feststellen, dass Lutetia längst mit seinem Erzfeind, dem Halbbruder, liiert ist: [I]n jener Stunde, in der ich Krapotkin und Lutetia erblickte, loderte das Böse, dem ich offenbar von Geburt an schon zubestimmt war und das bis jetzt nur sachte in mir geschwelt hatte, als ein offener, großer Brand empor. Mein Untergang war gewiß. (B 62)

Aber zuvor muss das in flagrantri ertappte Liebespaar sterben: Kurzerhand erschlägt Semjon die untreue Geliebte und den verhassten Rivalen – das ist der vom Titel namhaft gemachte Mord, den er Jahre später im Tari-Bari beichtet. Aber die Schuld daran und an jedem Verrat, den er vor und während seiner geheimdienstlichen Karriere beging, trägt für ihn der ewige Mythos, die Vorsehung, die ihn dem Bösen ‚von Geburt an zubestimmt‘ hat, ein rachsüchtiges Schicksal, der Teufel aus Ungarn oder die ‚Zigeunerdirnen‘, die ihn verführt haben – aber niemals er selbst, der sich „immer noch sozusagen für einen ‚guten Menschen‘ hält“ (B 63), der „gewissermaßen ein verbrieftes Recht darauf [habe], böse zu sein“ (B 64). Golubtschiks selbstgefällige Überzeugung seiner grundsätzlichen Unschuld ist insofern richtig, als ihm nichts gelingt: Nicht einmal der Mord, den er gebeichtet hat, denn seine Opfer haben überlebt, Krapotkin geistig behindert und Lutetia, das reizende Mannequin von einst, ein „Wesen, zusammengesetzt aus Wachs und Porzellan“ (B 82f.), hat sich in eine Xantippe verwandelt, eine „ältliche, dürre Frau“ (B 122), die Golubtschik, ihren alkoholisierten Lebensgefährten, Zanksucht im Herzen, allabendlich in der Kneipe zur Rede stellt. Vordergründig, auf der Ebene der sprachlichen Formeln, folgt der Text durchaus den Gattungsvorgaben der Beichte: Immer wieder bezichtigt sich der Beichtende in der Rolle des zerknirschten Büßers schwerster Vergehen – „ich war schon mitten in der Hölle, ja ich war ein hart gesottener Knecht der Hölle“ (B 75f.) – immer wieder wendet er sich mit Verständnis und Mitleid heischenden Apostrophen an seine Zuhörer als verständige Richter seiner Schuld: „Ihr seht, meine Freunde, wie der Teufel arbeitet […].“ (B 25) Selten vergisst er, auf Jugend und Unerfahrenheit als mildernde Umstände hinzuweisen: „Ich war, wie Ihr seht, jung, dumm, elend und jämmerlich damals.“ (B 78)

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Golubtschiks Beichtton ist jedoch, wie Alexander Stillmark bemerkt hat, „ohne jede Gravität, sondern eher von einer flüssigen Geschwätzigkeit, die den finsteren Sachverhalt seines üblen Gewerbes ironisch überspielt.“18 Wegen der fehlenden contritio, der aufrichtigen Reue, kann von Beichte keine Rede sein: Golubtschik bekennt seine Sünden nicht, wie es der Katechismus vorsieht, „in Demut und Reue“, sondern er rechtfertigt seine Taten durch Hinweise auf den dunklen Willen Gottes: „Es war Gott nicht wohlgefällig, aber sein unerforschter Ratschluss hatte es mir ja vorgezeichnet“ (B 10). An anderer Stelle verweist er auf die Umstände, auf seine Verführungen durch ,Zigeuner-Dirnen‘, auf die Einflüsterungen des Teufels, oder weil ihn „das Schicksal dazu verurteilt“ (B 63) habe. Golubtschik verlässt nicht geläutert, von seinen Sünden losgesprochen, den Ort der Beichte, sondern als ein unverbesserlicher Sünder, ein selbstgerechter Täter, der sich als Opfer wähnt, sei es eines intriganten Geschicks, sei es einer zum Guten untauglichen menschlichen Grundverfassung: So grausam […] ist die menschliche Natur. Selbst dann noch, wenn wir eingesehen haben, daß wir schlecht gewesen waren, bleiben wir schlecht, Menschen sind wir, Menschen! Schlecht und gut! Gut und schlecht! (B 53)

Die Beichte, so befremdlich das religiöse Ritual der Zerknirschung auch dem atheistisch Denkenden anmuten mag, ist überzeugt von der Verantwortung des Sünders für seine Taten. Auch wenn er den Einflüsterungen des Teufels erlegen ist, stempelt ihn – das zeigt den psychologischen Scharfsinn der Religion – der fehlende Widerstand zum verantwortlichen Sünder. Golubtschik kennt zwar die juristische Dimension der Schuld, nicht aber die religiöse und schon gar nicht die Zermürbung des Gewissens – das unterscheidet seine Beichte nachdrücklich von denen Dostojewskis. Vor allem aber hat der Begriff der Beichte seine Berechtigung verloren, weil Golubtschik die Taten, deren er sich eher rühmt, als dass er sich ihrer bezichtigt, nicht einmal begangen hat. Er gibt vor, Herr seiner Taten zu sein, wenn auch ein zu ihnen genötigter Täter. Tatsächlich aber ist er ein Stümper, Treibgut des Lebens, wie sein Autor Angehöriger einer lost generation, die zwischen das Getriebe eines Zeiten- und Gesellschaftswechsels geraten ist und dessen Anmaßung auf Subjektivität, auf Täterschaft, auf Urheberschaft, auf „agency“, wie heute die Sozialwissenschaft dieses Vermögen bezeichnet, darin zermahlen wird. Vaterlos aufgewachsen, in den Auflösungserscheinungen des in Agonie liegenden zaristischen Russlands im Geheimdienst missbraucht, 18

Alexander Stillmark: Die Literarische Beichte. Joseph Roth und Dostojewskij. In: Ders. (Hg.): Joseph Roth. Der Sieg über die Zeit. Londoner Symposium. Stuttgart: Heinz 1996, S. 62–78, hier S. 71.

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dann in den Wirren des revolutionären Umbruchs überlebend, nach Paris strafversetzt, eine schillernde, von der Hand in den Mund und von moralischen Improvisationen lebende Existenz im Exil, ist das Schicksal Golubtschiks paradigmatisch für das der vielen Entwurzelten und Deterritorialisierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die gewiss Anlass zur Klage oder Anklage hatten, aber kaum zur Reue über von ihnen selbst und exklusiv zu verantwortende Taten. Sie haben Unrecht erlitten, nicht verübt. Das entschuldigt Golubtschik nicht – auch wenn er zu den Getriebenen, den Deterritorialisierten in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre gehört, bleibt er eine zwielichtige Figur. Dass er sich keine Gelegenheit entgehen lässt, sein mea culpa auf der Brust anderer zu schlagen, sich immerzu als Werkzeug höherer Mächte bezeichnet, seine Taten den Einflüsterungen des Teufels oder eines tückischen Schicksals anlastet oder den Eifersuchtsmord als Variante des mythischen Bruderzwists ausgibt, bestreitet ihm sowohl die moralische Integrität wie auch das Ausmaß der prätendierten Schuld, die durch eine Beichte angemessen zu bekennen wäre. 3.

Märchen ohne Happy End

Sowenig es Roth in der Beichte eines Mörders um eine Beichte ging, so wenig geht es ihm in Die Geschichte von der 1002. Nacht, zwischen 1935 und 1937 entstanden und posthum 1939 erschienen, um die Tradition des orientalischen Märchens, auf die der Titel so unmissverständlich anspielt. Der implizierte Gattungsbegriff Märchen erinnert auch hier an eine gekaperte literarische Tradition, die nach allen Regeln der Kunst zugleich bedient und dekonstruiert wird. Die 1002. Nacht erzählt nicht vom Weiterleben Scheherzades nach der Hochzeit mit dem Sultan, sondern steht am Beginn der sozialen und menschlichen Amorphisierung eines hochrangigen Offiziers von Adel. Der Rittmeister Taittinger, „auf unbestimmte Zeit detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur sogenannten ‚speziellen Verwendung‘“ (G 358) hat sich eine Nacht, weil er die begehrte Gräfin Helene nicht verführen konnte, mit dem ‚süßen Mädel‘ Mizzi Schinagl ‚getröstet‘, deren Unglück es ist, „wie eine Zwillingsschwester der Gräfin W“ (G 378) auszusehen.19 Als auch der Schah 19 Zu diesem vor allem von Arthur Schnitzler popularisierten Frauentyp vgl. die Ausführungen von Rolf-Peter Janz: „Für den jungen Herrn der Stadt, dem die Maitresse zu kostspielig oder auch zu langweilig ist, der durch eine Prostituierte seine Gesundheit gefährdet sieht, dem die Beziehung zur verheirateten Frau zu riskant ist, der aber seinerseits die standesgemäße junge Dame (noch) nicht heiraten kann oder will, empfiehlt

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von Persien, der sich zu einem Freundschaftsbesuch in Wien aufhält, von den Reizen der Gräfin W entzückt ist, will er mit ihr, wie zuhause mit seinen Odalisken, eine Liebesnacht verbringen: „Der mächtige Herr von Persien, der Herr der dreihundertfünfundsechzig Frauen […] war nicht gewohnt, ein Begehren, geschweige denn eine Begierde zu unterdrücken.“ (G 374) Dem Wunsch will der Hof, geschweige denn der Ehemann, nicht willfahren, aber andererseits kam es in Wien, dem Herzen Mitteleuropas, „auch nicht in Betracht, dem hohen Gast einen Wunsch zu verweigern.“ (G 375) Sedlacek, einer der „Geheimen von der Spezial-Abteilung“ (G 178) rät, den als weltmännisch geltenden Rittmeister Taittinger mit der Lösung der delikaten Angelegenheit zu betrauen. Die Lösung scheint für den einfältigen Taittinger in seiner „munteren Herzlosigkeit“ (G 450) auf der Hand zu liegen: Auch der Schah soll, freilich ohne es zu wissen, mit einer Geliebten zweiter Wahl, dem ‚süßen Mädel‘ Mizzi, die mittlerweile als Prostituierte in der Vorstadt arbeitet, abgefunden werden. Als der Schah am nächsten Morgen statt im orientalischen Harem im tristen Bordell der Frau Matzinger erwacht, beginnt eine Serie von Desillusionierungen: „Es war, die Wahrheit zu sagen: die Enttäuschung seines Lebens. Er hatte sich eine Art großartiger Feier vorgestellt, und es war nur ein kleines Fest gewesen.“ (G 385) Was beim Schah mit der Weisheit Ovids von der unvermeidlichen postcoitalen tristesse beginnt, endet in einer dauerhaften europäischen Melancholie, die ihn zuletzt sogar seinen Hofeunuchen beneiden lässt. Aber großmütig, wie es seinem orientalischen Herzen entspricht, lässt er Mizzi für das Geschenk der Nacht mit drei Perlenketten von erheblichem Wert abfinden. Die Liebschaft mit dem Rittmeister hingegen hat für Mizzi weit fatalere Folgen: Nicht nur einen unehelichen Sohn, für den Taittinger die Geliebte mit einer Pfaidlerei abfindet, sondern auch seine konsequente soziale Deklassierung, die eng mit dem Abstieg der Mizzi Schinagl verbunden ist. Durch die Perlenketten plötzlich zu Reichtum gelangt, wird das ‚leichte Mädchen‘ Opfer schwerer Jungs, tückischer Kupplerinnen, misstrauischer Geheimpolizisten und ihrer eigenen Arglosigkeit. Taittinger hat man, da der Hof in Wien peinliche Kompromittierungen befürchtet, auf einen bedeutungslosen Außenposten in einer schlesischen Garnison abkommandiert: „Die Frauen freuten ihn nicht mehr, der Dienst langweilte ihn, die Kameraden liebte er nicht, der Oberst war fad. Die Stadt war fad, das Leben war noch schlimmer als fad.“ (G 388) Bei seiner Rückkehr nach Wien findet er die einstige Geliebte sich das süße Mädel als Geliebte.“ Rolf-Peter Janz, Klaus Laermann: Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stuttgart: Metzler 1977, S. 44.

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im Gefängnis wieder. Sie hat, dem Rat falscher Freundinnen und geriebener Betrüger vertrauend, Gulden um Gulden, Schilling um Schilling verloren und wurde schließlich wegen Betrugs verurteilt. Zuletzt bleibt ihr, die im Volksmund als das „,Kebsweib‘ des persischen Kaisers“ (G 480) gilt, als letzter Trost nur noch die Beteiligung an einem Karussell auf dem Prater und die Hoffnung auf den Kauf eines Wachsfigurenkabinetts. Die dafür erforderlichen Mittel kann Taittinger, dessen Gut von einem gewissenlosen Verwalter herabgewirtschaftet wurde, mit dem Verkauf seiner geliebten Pferde noch aufbringen, aber seine Hoffnung, wieder in die Armee zurückkehren zu können, zerschlägt sich, da sein Ruf heillos beschädigt ist: „In seinem ganzen Leben gab es eine einzige peinliche Affäre. Seit vielen Jahren würgte sie ihn, ein ekelhafter, harter Bissen, den man nicht verschlucken kann und auch nicht wieder ausspucken.“ (G 445) Märchenhaft an Roths Roman ist durchaus der schlichte Ton der Darstellung, auch die Fülle unerwarteter und wunderbarer Ereignisse folgt den Vorgaben des Märchens, doch steht hier das Unerwartete nicht auf der Seite des Helden, sondern wendet sich gegen ihn.20 Die Fee des Märchens, deren Zauberstab dem Helden in der Not beschafft, was er zu seiner Rettung benötigt, ist hier der Nemesis des Mythos gewichen, die dem Baron Taittinger keinen Ausweg lässt und ihn zu Tode hetzt: „Sein Leben war darauf ausgerichtet, kein Schicksal zu haben. Nun erledigt es ihn.“21 Zuletzt bleibt Taittinger, verschuldet und zum Gespött der Klatschpresse geworden, nichts anderes, als sich sang- und klanglos zu erschießen. Ihm wird, wie so vielen anderen von Roths Helden, die seine Erzählkunst zuvor unserer besonderen Aufmerksamkeit empfohlen hat, kein besonderer Tod zuteil, nur ein schäbiges Sterben, die letzte Handlung eines Menschen, nach dem, sowenig wie nach dem armen Eibenschütz im Eichmeister, kein Hahn mehr krähen wird. Die Frage nach dem Motiv für seinen Selbstmord beantwortet der Oberstleutnant Kalergi, der seinen Freund gut kennt, durchaus zutreffend: „Halt so! […] Ich glaub’, er hat sich verirrt im Leben. Derlei gibt’s manchmal. Man verirrt sich halt.“ (G 283) Das letzte Wort im Roman hat der Wachspuppenbildner Tino Percoli, der auf dem Prater das Panoptikum betreibt, das Mizzi erwerben will. Er beschreibt das Interesse seiner Besucher mit Worten, die der menschlichen Schaulust kein gutes Zeugnis ausstellen, andererseits aber vielleicht ein Schlüssel für die zunehmende Bitterkeit des Erzählers Roth sind:

20 21

Zum Märchen vgl. A. Jolles: Einfache Formen, S. 218–248. Reinhard Baumgart: Totentanz und Tingeltangel. Über Joseph Roths „Die Geschichte von der 1002. Nacht“ (1939). In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen. Bd. 3: 1933–1945. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 224–230, hier S. 217.

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Hans Richard Brittnacher Ich könnte vielleicht Puppen herstellen, die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefühl, Sittlichkeit haben. Aber nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriositäten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie! (G 170)

Vor diesem Hintergrund muss es schwerfallen, den Optimismus des orientalischen Märchens, sein Vertrauen in die Macht der Erzählung und seinen jede Geschlechterspannung sedierenden Trost einer traditionellen patriarchalischen Ordnung aufrechtzuerhalten. Dem Optimismus des Märchens, in dem Versprechen gehalten, Wünsche erfüllt, die Tugend belohnt und Hoffnungen erfüllt werden, steht in dem Text Joseph Roths die desillusionierende Einsicht vom umfassenden Betrug des Lebens an den Menschen gegenüber, ein Betrug, der die Figuren aus allen ihren bisherigen Lebenszusammenhängen reißt und sie nimmermehr glücklich werden lässt.22 Die Figuren von Roths Roman nehmen gewiss nicht durch ihre Integrität für sich ein – sie sind weder so schön noch so gut oder beherzt wie die Helden des Märchens, an die sie nicht einmal mehr von ferne erinnern. Nur der Titel weist der Erzählung das Kolorit des Märchens zu, das sie aber auf jeder Seite konsequent eindunkelt, bis zuletzt der Optimismus des Märchens ebenso konsequent aufgebraucht ist. 4.

Legenden ohne Heilige

Von terminologischer Unbekümmertheit zehrt auch Joseph Roths letzte Erzählung, die in ihrem Titel eine weitere ‚einfache Form‘ namhaft macht: Die Legende vom heiligen Trinker, wenige Wochen vor Roths Tod entstanden, noch im Kreise der Freunde vorgelesen und Friederike Zweig, der Lebensgefährtin des treuen Freundes Stefan Zweig gewidmet, erschien nach Vorabdruck in Zeitungen wieder im holländischen Verlag Allert de Lange, der die Erzählung, um die Gattungsinsinuation des Titels zu forcieren, wie ein kostbares Gebetbuch drucken ließ. Schon die paradoxe Titelformulierung vom „heiligen Trinker“ lässt vermuten, dass die Gattungsvorgaben der Legende entkräftet werden. André Jolles hat in seinem Grundlagenwerk über Einfache Formen die Legende als eine noch nicht literarisch reflektierte Vorform der Heiligenvita beschrieben, die Lebensgeschichte eines Menschen, der sich der imitatio dei so verpflichtet fühlt, dass er sein ganzes Leben gottgefällig zu leben und 22 Vgl. Irmgard Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und „Die Geschichte von der 1002. Nacht“ im historischen Kontext. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997, S. 142.

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zu handeln versucht, sogar ein Martyrium in Kauf nimmt und durch Zeichen des Himmels, etwa durch Wunder schon zu Lebzeiten oder später an seinem Grab, für sein gottesfürchtiges Leben und Wirken belohnt wird.23 Das erinnert von fern noch an Roths Tarabas (1934), aber während dieser nach exzessiver Gewalttätigkeit doch noch zum unermüdlichen Büßer wird, bleibt der Held von Roths letzter Erzählung ein Clochard, zum Büßen so unfähig wie zu Akten großherziger Güte – er ist ein Herumtreiber, ein bestenfalls einfältiger Narr, in der Sprache der Theologie ein homo stultus,24 ein schlichter Sünder, der eine Frau verführte, den betrogenen Ehemann erschlägt und eine milde Strafe von nur zwei Jahren – die französische Justiz bestätigt hier ihren Ruf, bei Verbrechen mit ‚galantem‘ Hintergrund nachsichtig zu urteilen – im Gefängnis verbüßte. Seit seiner Freilassung lebt er, erleichtert durch Alkoholgenuss, in den Tag hinein und dem Tod entgegen, „zu jenem langsamen Untergang entschlossen, zu dem Trinker immer bereit sind.“ (L 528)25 Ihm tritt eines Tages, unerwartet wie ein Bote aus dem Jenseits oder aus den Kulissen des Theaters,26 „ein Herr gesetzten Alters“ (L 515) entgegen, bietet ihm eine Spende von 200 Francs an, die der Empfänger jedoch nur annehmen will, wenn er seine Schuld begleichen darf. Der „ältere Herr“, durch die Lektüre der „Geschichte der kleinen heiligen Theresie von Lisieux“ (L 516) – eine Legende also –, Christ geworden, bietet ihm die Möglichkeit einer ungewöhnlichen Rückzahlung an: Sobald Sie also die armseligen zweihundert Francs haben […], gehen Sie bitte in die Ste Marie des Batignolles und hinterlegen Sie dort zu Händen des Priesters, der die Messe gerade gelesen hat, dieses Geld. Wenn Sie es überhaupt jemandem schulden, so ist es die kleine heilige Therese. (L 516)

Andreas ist erfreut über diese Möglichkeit. „,Ich sehe‘, sagte da der Verwahrloste, ,daß sie mich und meine Ehrenhaftigkeit vollkommen begriffen haben. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich mein Wort halten werde. Aber ich kann nur sonntags in die Messe gehen.‘“ (L 516f.)

23 Zur Legende vgl. A. Jolles: Einfache Formen, S. 23–61. 24 Zur Tradition des echten Toren zumal im Kontext der Ostkirche vgl. Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III,1: Im Raum der Metaphysik. Einsiedeln: Johannes 1965, S. 494. 25 Joseph Roth: Die Legende vom heiligen Trinker. In: J. Roth: Werke, Bd. 6, S. 515–543. Nach dieser Ausgabe zitiere ich im Text mit Seitenzahl und vorangestelltem L. 26 Lothar Pikulik erinnert an den ‚vermummten Herrn‘ aus Wedekinds Frühlings Erwachen, der gleichsam aus den Kulissen des Theaters seinem Schützling Moritz Stiefel zur Hilfe kommt. Vgl. Lothar Pikulik: Joseph Roths Traum von Wiedergeburt und Tod. Über „Die Legende vom heiligen Trinker“. In: Euphorion 83 (1989), S. 214–225, hier S. 217.

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Dreimal versucht der Clochard, seine Schuld einzulösen, aber immer wieder vertrinkt er das Geld, versäumt er die Gelegenheit. Durch Zufälle, die dem naiven Helden als Wunder erscheinen, kommt er zwar wieder zu Geld, scheitert aber erneut bei der Rückzahlung und wird nach einem Herzanfall von ratlosen Kellnern in der Kapelle der heiligen Thérèse niedergelegt, „weil Priester doch etwas von Sterben und Tod verstehen, wie die ungläubigen Kellner trotzdem glaubten.“ (L 543) Andreas stirbt, ohne sein Versprechen erfüllt zu haben. Mit einem Stoßseufzer endet die Legende: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“ (L 543) Bei diesem Herumtreiber von einem Heiligen, bei seinen Taten von gottwohlgefälligen Handlungen zu sprechen, scheint selbst bei weitherziger Auslegung des religiösen Kontextes abwegig.27 Wir wissen von Paulus, von Augustinus, auch von Roths Tarabas, dass sie große Sünder waren, aber sie büßten durch Mildtätigkeit, Glaubenseifer und Askese. Aber was tut Andreas mit dem Wundergeld? Hermann Kesten, einer der ersten Rezensenten hat unmissverständlich geurteilt: „Er verfrißt, versäuft, verhurt es. Er fährt im Taxi, geht ins Kino, in den Tanzsaal und wieder und wieder zu den Mädchen.“28 Nicht nur das Leben des Clochards revoziert das Legendenschema, erst recht sein Sterben widerruft in seiner lakonischen Drastik alle Erwartungen, die sich an das glorreiche Hinscheiden eines Heiligen heften lassen – und reiht sich ein in die Reihe profaner, fast kaltschnäuzig beschriebener Tode von Roths Helden: Er „fällt […] um wie ein Sack.“ (L 543) Nicht nur deshalb verfehlen Lektüren, die in der Erzählung Bestätigungen oder Modifikatio­ nen des Legendenschemas sehen wollen, deren bitteren Subtext.29 Auch die 27 Zur Deutung der Erzählung als einer modernen Legende vgl. Esther Steinmann: Von der Würde des Unscheinbaren. Sinnerfahrung bei Joseph Roth. Tübingen. Niemeyer 1984, S. 109–123; Dies.: „… ein Mann von Ehre, wenn auch ohne Adresse“. Zum Ehrbegriff in Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“. In: Michael Nüchtern (Hg.): Die Schwere des Glücks und die Größe der Wunder. Joseph Roth und seine Welt. Karlsruhe: Verlag evangelischer Presseverband Baden 1994, S. 65–95. Steinmanns Einschätzung, bei der Beichte handele es sich um eine „sakramentale Erzählung“, ist freilich nicht nachvollziehbar. 28 Hermann Kesten: Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“. In: Berliner Hefte für geistiges Leben 4 (1949), S. 531–541, hier S. 534. 29 Auf einen chassidischen Subtext, dem Legendenschema noch verwandt, verweist Hans Otto Horch: „Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben… .“ Zum Verhältnis von Katholizismus und Judentum bei Joseph Roth. In: Frank-Rutger Hausmann, Ludwig Jäger, Bernd Witte (Hg.): Literatur und Gesellschaft. Festschrift für Theo Buck zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr 1990, S.  211–224. Wenn auch nicht mehr im strengen Sinne eines Heiligenlebens, aber doch als eine Erzählung des Wiedergewinns verlorener Integrität liest L.  Pikulik, Joseph Roths Traum, den Text. Für Thomas Keller wird Andreas durch verausgabende Transgressionen heilig: Thomas Keller: Joseph Roth und Bronislaw Malinowski. Heilige und Argonauten. Gabe und Verausgabung in einer interkulturellen Literaturwissenschaft. In:

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vielberufenen Wunder, die Andreas begegnen, und die der Erzähler etwas zurückhaltender als Zufälle bezeichnet, entbehren der religiösen Aura – es sind Almosen. Sie reduzieren das metaphysisch Ungeheure des Wunders auf sein profanes materielles Äquivalent. Deshalb bewirken sie auch keine seelische Läuterung, wie das Gattungsschema von der Wandlung des Saulus in den Paulus erwarten lässt, vielmehr führen sie, indem sie den Beschenkten mit den zum Trinken nötigen finanziellen Ressourcen versehen, immer weiter in den Abgrund des Alkoholismus.30 Dass Andreas das Geld wirklich zurückerstatten will, wie er immer wieder beteuert, ist wenig glaubhaft – an Gelegenheiten dazu fehlt es nie, aber zur Rückzahlung kommt es nicht. Im Gegenteil verweist der immer wieder erwähnte Griff des Helden nach dem Geld in der Brusttasche nur auf das Bedürfnis, sich des unerwarteten Besitzes zu versichern.31 Auch die Großzügigkeit des Andreas, der die Prostituierte Gabby und den alten Kumpel Woitech zum Trinken einlädt, drücken nicht das Desinteresse des Heiligen an irdischen Besitztümern aus, sondern entsprechen eher der Gleichgültigkeit des Alkoholikers. Wieso er, der arbeitslose Clochard, wenn er religiös ist und an Wunder glaubt, nur am Sonntag den Gottesdienst zur Rückerstattung des Geldes aufsuchen kann, wie er seinem Gönner versichert, ist wenig einsichtig. Wenn er ihm beteuert: „Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich mein Wort halten werde“ (L 517), sind Zweifel an seinen guten Absichten erlaubt. Die verschrobene pleonastische Beteuerung unterstellt, ein zweites Versprechen könne das erste, gleichermaßen wertlose, validieren.32 Andreas ist ein Mann, wie Hermann Kesten pointiert festgestellt hat, „der ständig auf seine Ehre pocht und stets sein Wort bricht.“33 Wenn es Andreas nach dem Empfang der Geldspende oder nach dem unerwarteten Ersatz des Verlustes dazu treibt, sich zu waschen – ausdrücklich verwendet der Text den archaisierenden Terminus der „Waschung“ (L 518) – liegt eine religiöse Deutung dieses profanen Vorgangs als Taufe oder rituelle Reinigung nahe, zumal er sich dem eisernen Muster ‚einfacher Formen‘ entsprechend dreimal wiederholt: von einem ersten flüchtigen Gerhard Neumann (Hg.): Lesbarkeit der Kultur: Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München: Fink 2000, S. 167–184. 30 Vgl. dazu und zum Folgenden die vorzügliche Interpretation von Achim Küpper: „Mein Wort ist noch lange kein Bekenntnis“: Zur Gesinnungslosigkeit bei Joseph Roth. Eine Interpretation der Legende vom heiligen Trinker. In: Colloquia Germanica 39 (2006), S. 339–365, hier S. 345. 31 Beispielsweise J. Roth: Beichte, S. 518, S. 529. Vgl. dazu A. Küpper: Mein Wort, S. 342. 32 Vgl. A. Küpper: Mein Wort, S. 343. 33 H. Kesten: Joseph Roths Legende, S. 533.

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Benetzen der Hände über das Waschen von Händen und Gesicht bis zum Vollbad. Der unerwartet Beschenkte will sich, so legt das Initiationsschema des Heiligen nahe, der Gnade Gottes wert erweisen, die äußerliche Säuberung symbolisiert eine innere Reinigung, die Absicht, als gleichsam Neugeborener und Gewandelter in den nächsten Lebensabschnitt zu treten. Aber auch hier legen tückische Konnotationen eine Travestie des Vorgangs nahe, denn die Waschung der Hände spielt auf die notorische Selbstrechtfertigung des Pilatus an und das Vollbad erfolgt im Bordell. Die Lust an der Reinigung, beim ersten Mal noch scheu, beim zweiten Mal „beinahe fröhlich“ (L 529), wird im Bordell, dem genius loci entsprechend, „geradezu mit Wollust“ (L 534) vollzogen. Die libidinöse Codierung eines kultisch bedeutsamen Reinigungsvorgangs erweist sich als dessen Profanierung: Der vermeintlich vom Sünder zum Heiligen geläuterte Held ist in Wahrheit ein sozial Gestrauchelter, dem der plötzliche Reichtum den flüchtigen Traum vom sozialem Aufstieg erlaubt. Er bewegt sich von Unten nach oben, von seinem Schlafplatz unter der Brücke die Treppe hinauf erst ins Tari-Bari – wo er vielleicht der Beichte eines russischen Geheimpolizisten lauscht –, dann in eine „bessere Taverne“ (L 518), dann in ein „bürgerliches Bistro“ (L 519), schließlich in „ein kleines Hotel“ (L 522) und endlich in ein luxuriöses „Hotelzimmer“ (L 533). Er reinigt sich nicht, um gottgefällig zu sein, sondern um der Erwartung sozialer Manierlichkeit zu entsprechen. Das verdeutlicht auch seine mit dem unerwarteten ‚Reichtum‘ erworbene neue hochmütige Gesinnung gegenüber den vormaligen „Unheilsgenossen“ (L 529), die ihm nun des Mitleids nicht länger mehr wert erscheinen: „verkommen, wie er sie auf einmal selbst im stillen nannte.“ (L 518) Wie sehr es der Legende um eine Travestie religiösen Denkens und Erzählens geht, wird in einer Szene deutlich, in der Andreas in einem Kino sitzt und einen Film sieht, in dem sich ein Mann „durch eine erbarmungslose, sonnverbrannte Wüste“ (B 530) kämpft – das lässt an den Auszug der Kinder Israels und ihr fast vierzigjähriges Irren durch die Wüste denken und erklärt vielleicht, warum „Andreas im Begriffe [war], den Helden sympathisch und sich selbst verwandt zu fühlen.“ (L 531) Aber die „unerwartete glückliche Wendung“ (L 531), die den Helden rettet, zeigt den Triumph Hollywoods über die jüdische Verfolgungserfahrung und das diasporische Selbstverständnis des Judentums. Das Happy End bedeutet eben auch den Geltungsverlust der überlieferten literarischen oder mythischen Schemata. Diese Entwertung des religiösen Topos vom irdischen Leid gilt auch für Andreas. Zwar wird er, anders als der Held des Films, nicht gerettet, sondern stirbt einen vielleicht „leichten und […] schönen“ (L 543), aber er stirbt einen literarisch nicht länger stilisierbaren Tod.

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Die Darstellung des Andreas’ als „Schwankenden“ (L 517, passim) betrifft nicht die moralische Unzuverlässigkeit eines unsicheren Kantonisten, sondern ruft die grundstürzende Pervertierung einer Zeit in Erinnerung, in der alles, was einstmals noch Wert besaß, Ehre, moralischer Anstand, Solidarität, Hilfsbereitschaft etc. seine Geltung verloren hat, in der, wer auf diese Werte vertraute, seinen festen Stand eingebüßt hat, hilflos und haltlos, eben ‚schwankend‘ geworden, wie Pikulik festgestellt hat: „Wenn er schwankend herannaht […], dann nicht nur, weil er getrunken hat, sondern weil er keinen Halt in der Welt besitzt.“34 Ihm sind, wie so vielen entwurzelten Menschen seiner Epoche, die Voraussetzungen zu jener Ehre, auf die er sich immer beruft, längst abhanden gekommen.35 Auch Andreas ist wie Semjon Treibgut, ein Gelegenheitsarbeiter ohne Aufenthaltserlaubnis, mit „ungültigen Papieren“ (L 528), ist wie Taittinger ein haltloser, oberflächlicher Charakter. Für den Helden der Legende, „unser[en] Andreas“ (L 519, 531, 538, 541, passim), den schwankenden Streuner auf den Boulevards des nächtlichen Paris und unter den Brücken der Seine, hat Roth das gleiche Possessivpronomen gebraucht wie für den Spitzel und Exilanten im Tari-Bari: „unseren Mörder“ (B 7), das in beiden Fällen den Leser oder die Leserin in die joviale Anteilnahme des Autors an seinem Helden integrieren soll. Eine im kollektiven Imaginären beheimatete Erzählform, die Legende, und ihr moralischer Imperativ, der uns auf Solidarität mit dem Schicksal des vorbildlichen Helden verpflichtet, zeigt uns den Verlust einer Welt an, in der diese Arten des Erzählens noch Geltung besessen hatten. 5.

Der Zerfall des Erzählens

Die mit fast systematischer narrativer Energie betriebene Erosion prototypischer Formen des Erzählens, der Beichte, des Märchens, der Legende, rufen einen literarischen Thesaurus auf, der an Helden erinnert, die anachronistisch sind, und an Werte, die verbraucht sind. Der literarische Tonfall der ,Einfachen Formen‘ ist angesichts der Wirklichkeit bedeutungslos geworden. Es geht Roth nicht um die Demaskierung bürgerlicher Bigotterie oder gar um einen zynischen Kommentar zum Versuch eines Außenseiters, wieder in der Gesellschaft, die ihn verstoßen hat, Fuß zu fassen, wie dem Franz Biberkopf in 34 L. Pikulik: Joseph Roths Traum, S. 353. 35 Vgl. Eugenio Spedicato: Joseph Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ (1939) und Ermanno Olmis gleichnamige Verfilmung (1988). In: Weimarer Beiträge 56 (2010) 2, S. 270–283, hier S. 279.

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Döblins Alexanderplatz, sondern um eine literarische Reaktion auf ein soziales Desaster, das die bewährten Kategorien literarischer Darstellung fundamental außer Kraft gesetzt hat und zur Herausforderung an die Fähigkeit wird, Leiden und Dulden ästhetisch oder literarisch neu zu codieren. Die Beichte ist keine Beichte, sondern die Selbstrechtfertigung eines windigen, charakterlosen Spitzels, das Märchen der 1002. Nacht ist kein Märchen, sondern eine traurige Parabel über Selbstbetrug und vorenthaltenes Lebensglück, die Legende ist keine Legende, sondern eine kleine Geschichte von den vielen Lebenslügen eines alkoholkranken Clochards. Beichte, Märchen, Legenden sind elementare ,Einfache Formen‘, die ein Erzählen nahelegen, das zu einem Schluss kommt, das allem einen Platz zuweist, das im Arrangement des Erlebten auch dem Unglück noch einen Sinn abzugewinnen vermag. In Roths narrativen Experimenten werden sie als Zeichenwelten der Vergangenheit ausgestellt und zerfallen unter dem Druck der sich etablierenden neuen Verhältnisse.36 Roths letzte Werke kommen zu dem Schluss, dass die bedeutungsgenerierenden und trostspendenden Verfahren der literarischen Tradition ausgespielt haben. Wer weiter in ihren Parametern schreibt, der kann nicht nur nicht mehr helfen, dem ist auch nicht zu helfen. Das erklärt vielleicht eine doppelte Intention des Seufzers am Ende der Legende: nicht nur als Erleichterung über das undramatische Sterben seines Helden, sondern auch als Stoß- und Abschiedsseufzer eines von der Macht der Literatur maßlos Enttäuschten. Was bleibt, ist die Stimmung der Erzählungen, ein Einblick in eine Kultur, die noch Frömmigkeit, Reue, und Traurigkeit zu gestalten verstand. Sie hat ihre Zeit hinter sich, weil die Hölle regiert – unserer kulturellen Erinnerung aber ist sie unersetzlich.

36 Markus May verdeutlicht an Deleuzes Proust-Interpretation die Desillusionierung literarischer Zeichensysteme, die Großformen des Erzählens durchaus intakt lassen. Vgl. Markus May: Joseph Roth und die Zeichen. In: Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher (Hg.): Joseph Roth – zur Modernität des melancholischen Blicks. Bern, Boston: De Gruyter 2012, S. 241–256.

Roth versus Mussolini. Über Joseph Roths Expedition in die Geschichte im historischen Roman Die Hundert Tage von 1936 Aneta Jachimowicz Die Bestandsaufnahme von Golo Mann, der in seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts konstatierte, dass der Napoleon-Mythos in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere Folgen als in Frankreich selbst gehabt habe,1 erscheint nicht unberechtigt, wenn man auch berücksichtigt, dass Napoleon in der deutschsprachigen Literatur als eine Schlüsselfigur funktionierte, mit deren Hilfe weniger die napoleonische Vergangenheit, sondern vielmehr die deutsche Gegenwart thematisiert wurde. Wie Barbara Beßlich, die Heidelberger Kennerin der deutschsprachigen Napoleon-Literatur feststellt, ging es in diesen Texten vorrangig um ein nationales und kulturelles Selbstporträt, um das spannungsreiche Verhältnis zur historischen Größe, um messianische Hoffnungen, um den Bezug zu veränderten Begriffen von Politik, Staat, Macht, Charisma, Krieg und Erfolg, um den Mythos vom starken Mann und um das Genie, das sich selbst erschafft […].2

Allgemein sind in der Zwischenkriegszeit mehr als ein Dutzend historischer Romane – Dramen und Lyrik nicht eingerechnet – in deutscher Sprache entstanden, in denen Napoleon Bonaparte als Hauptfigur agiert, oder deren Handlung während der Napoleonischen Kriege spielt und Napoleon mehr oder weniger im Zentrum des Geschehens steht.3 Sieht man sich die nach Erscheinungsjahren geordneten Napoleon-Romane und längeren Erzählungen von 1932 bis 1937 an, so ist erkennbar, dass die meisten im Jahre 1936 herausgebracht wurden, also in dem Jahr, in dem auch der Napoleon-Roman und gleichzeitig der einzige unbestritten historische Roman Joseph Roths unter dem Titel Die Hundert Tage erschien. Es drängt sich die Frage nach diesem 1 Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 64. 2 Barbara Beßlich: Zwischen Abwehr und Anverwandlung. Der deutsche Napoleon Mythos im 19. und 20. Jahrhundert. In: Willi Jung, Françoise Rétif, Catherine Robert (Hg.): Napoléon Bonaparte oder der entfesselte Prometheus / Napoléon Bonaparte ou Promothée déchaîné. Göttingen: V&R unipress, S. 121–136, hier S. 121 und 122. 3 Nach der digitalen Datenbank der Universität Innsbruck, erstellt im Rahmen des Projektes Historischer Roman, https://www.uibk.ac.at/germanistik/histrom/ (Stand: 1.07.2020).

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_006

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zweifelsohne gestiegenen Interesse für die Bonaparte-Figur in der Mitte der 1930er Jahre auf, einem Interesse, dass auch für Joseph Roth prägend zu sein scheint. Es wäre keine zu überholte These, zu sagen, dass Roths Die Hundert Tage eine Antwort auf Mussolinis Theaterstück Campo di Maggio ist – eine These, die zum Ausgangspunkt dieses Beitrages wird, die aber nicht wegen der – meines Wissens – fehlenden Aussagen Roths über Mussolinis Werk biographisch belegt werden kann. Das Stück des italienischen Diktators wurde am 30. Dezember 1930 in Rom uraufgeführt und ist auf Deutsch 1933 im Zsolnay Verlag unter dem Titel Hundert Tage erschienen. Es beschreibt genauso wie der Roman von Roth die berühmten hundert Tage von 1815, die Zeit zwischen Napoleons Rückkehr aus seinem Exil auf Elba und seiner Verbannung nach St. Helena nach der Niederlage in der Schlacht bei Waterloo. Mussolinis Stück hat in Europa Furore gemacht und großes Aufsehen erregt: Durch den Namen des Duces gewann das Stück zunehmend an Popularität, obwohl ihm dieser als Koautor ausschließlich die Grundlinien gegeben hatte. Der erste Autor und Formgeber war der Dramatiker, Librettist, Theater- und Opernregisseur Giovacchino Forzano. Hundert Tage wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, in verschiedenen europäischen Städten aufgeführt und von der Kritik und dem Publikum als „theatralisches Ereignis“4 der Theatersaisons 1931–1934 aufgenommen. Das Stück wurde 1931 in Budapest und Paris, 1932 in Weimar und London, 1932 und 1934 in Berlin und 1933 in Warschau – wo es anlässlich der Erstaufführung des Stücks im Nationaltheater zu stürmischen antifaschistischen Kundgebungen und Straßendemonstrationen kam5 – auf die Bühne gebracht. Die Aufführung des Dramas im Wiener Burgtheater wurde 1934, also zur Zeit der Regierung der Vaterländischen Front, von den österreichischen Blättern als einer der „sensationellsten Erfolge“6 des österreichischen Nationaltheaters gepriesen. Die Inszenierung des unter dem Einfluss von Austrofaschisten stehenden Burgtheaters gefiel den italienischen Machthabern dermaßen, dass sie das gesamte Ensemble des Burgtheaters nach Italien zu einer Aufführung einluden. Zur Berühmtheit des Mussolini-Stücks in Deutschland und Österreich trugen aber vor allem die ,neuen Medien‘ bei. Der Wiener Rundfunk sendete es 1933 in bearbeiteter Version als Radiostück.7 1934 – zur Zeit, als Joseph Roth 4 Vgl. Die Stunde vom 2.06.1933, S. 6. 5 Davon berichtet fast die ganze Wiener Presse, z.B.  Die  Rote Fahne am 19.04.1932, S.  8, Das Kleine Blatt am 19.04.1933, S. 6, Neue Freie Presse am 18.04.1932, S. 3. 6 Vgl. Neues Wiener Journal vom 10.04.1934, S. 11. 7 Vgl. Kleine Volks-Zeitung vom 26.04.1933, S. 6.

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an seinem Napoleon-Roman zu arbeiten begann – entstand nach der Vorlage von Mussolinis Stück der deutsch-italienische Film von Franz Wenzler, uraufgeführt in Hamburg im März 1935. Die Hauptrolle spielte der bereits als Napoleon-Darsteller anerkannte Werner Krauß – ein Schauspieler, der einige Jahre später im antisemitischen Hetzfilm Jud Süß mitspielte. Krauß galt für seine Zeitgenoss*innen als der deutsche Napoleon-Darsteller par excellence,8 da er den französischen Kaiser seit dem Ende der 1920er Jahre auf der Bühne in verschiedenen Inszenierungen wiederholt verkörperte. Ihm widmete Geza Herczeg ihre Übersetzung von Mussolinis Hundert Tage aus dem Italienischen ins Deutsche9 und er wurde auf der Umschlagseite der deutschen Ausgabe als Napoleon abgebildet. Von all diesen Erfolgen berichtete ausführlich die Wiener Presse, vor allem die Boulevardzeitung Die Stunde, die dem Mussolini-Stück und dem Hauptdarsteller Werner Krauß eine Aura der öffentlichen Sensation verlieh. Es ist deswegen kaum denkbar, dass Joseph Roth von dieser deutsch-österreichischen Euphorie rund um das Stück nichts wusste, auch wenn er sich ab Ende Januar 1933 nicht mehr in Deutschland oder Österreich, sondern im französischen Exil befand. Roth fühlte sich in seiner späten Schaffensphase, die oft als legitimistisch, konservativ, katholisch und monarchistisch bezeichnet wird, vom franzö­ sischen Kaiser angezogen und beabsichtigte mit seinem Roman – so der Autor in einem Brief an Blanche Gidon – Napoleon zu „verändern“ und zu zeigen, dass „ein Gott […] wieder zu einem Menschen“ wird: Ich möchte aus ihm einen Bescheidenen als einen Großen machen. Das ist offensichtlich die Strafe Gottes, das erste Mal in der Geschichte. Napoleon erniedrigt: das ist das Symbol einer menschlichen absolut irdischen Seele, die sich erniedrigt und sich gleichzeitig erhebt.10

Der Gewalttätige und Mächtige findet also erst in der Niederlage zu sich selbst und wird von der Humanitätsidee erfüllt – dieses alte und gut bewährte Thema von Roth sollte auch zur Grundidee dieses Romans werden. Der Roman erschien 8 Vgl. Fabian Tietke: Napoleon im Theater der Diktatoren. Campo di maggio und Hundert Tage von 1935 nach dem Stück von Benito Mussolini und Giovacchino Forzano. In: Filmblatt 53 (2013/14), S. 3–17. 9 Auf der Widmungsseite der ersten Auflage steht: „Die deutsche Übersetzung widme ich dankbar Werner Krauss G.H.“ 10 Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. und eingeleitet von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 394f. Der Brief wurde auf Französisch geschrieben. Hier in der Übersetzung ins Deutsche nach Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S. 440–441.

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1936 im Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam. Doch schon der Umschlag der ersten Ausgabe, auf dem Napoleon in triumphierend-siegreicher Haltung auf einem Schlachtfeld abgebildet wird, zeigt, dass die Absicht des Verlegers alles andere war, als das Buch als eine Bekehrungsgeschichte zu verkaufen. Was die beiden Napoleon-Figuren und die jeweilige Betrachtungsweise des historischen Geschehens von Roth und Mussolini verbindet, ist die Identifikation der Autoren mit – wie es Roth in demselben Brief schrieb – „diesem armen Napoleon“11. Mussolini empfindet gegenüber seinem gefallenen Bonaparte ebenfalls großes Mitgefühl. Der faschistischen Vorstellung eines Diktators folgend, gestaltet er ihn als einen überragenden Staatsmann, der aber daran untergeht, dass er der republikanischen Partei im Parlament zu viel Einfluss gewährt und dem liberalen Volk zu viel Macht einräumt. Die Abgeordneten werden als Müßiggänger, Verräter und Dummköpfe dargestellt, eine „Orgie von Menschen […], die sich an Worten besaufen“12. Napoleon dagegen ist ein Mensch der Tat, dem nicht das Debattieren, sondern das Handeln wichtig ist: „Alles ist verloren, wenn man, anstatt zu handeln, sich jetzt mit Reden aufhält.“13 „Während jene Herren debattieren, arbeiten wir!“14 Dieser Drang zur Tat einer Führerfigur ist eines der wichtigsten Themen der antirepublikanischen Literatur der Zwischenkriegszeit, mit dem man das angebliche ‚verderbenbringende‘ parlamentarische System brandmarkte. Mit dieser literarischen Evokation der historischen Figur legitimiert Mussolini offensichtlich seine eigene Diktatur, den Kampf gegen den Liberalismus und die Ausschaltung der Opposition. Wenn sein Napoleon sagt: „Europa bekämpft mich bloß deshalb, weil ich ein mächtiges Frankreich haben will“,15 so spricht Mussolini weniger über die Feinde Napoleons als vielmehr über die seiner Diktatur gegenüber kritisch eingestellten Kräfte. Das Stück sagt dementsprechend viel mehr über die Gegenwart seines Autors aus als über Napoleon und die Gründe seiner Niederlage. Es hatte auch eine volksbildende Funktion. Obwohl Napoleon verraten untergehen muss, gilt er für seine Nachfolger – und als solcher hat sich der italienische Führer gesehen – als Versprechen, die krisenhafte politische Situation durch die Umwandlung des parlamentarischen Systems in einen autoritären Staat zu verbessern. Diesen einzig richtigen Weg schlagen nun – so die für die Zeitgenoss*innen erkennbare Botschaft des Textes – die neuen antidemokratischen Führer ein. 11 Ebd., S. 440. 12 Benito Mussolini, Giovacchino Forzano: Hundert Tage (Campo di Maggio). Drei Akte. Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay 1933, S. 107. 13 Ebd., S. 91. 14 Ebd., S. 99. 15 Ebd., S. 95.

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Es verwundert nicht, dass diese Art von Ideologisierung der NapoleonFigur und der Darstellung des Historischen als sinnstiftende Dimension mit kontinuierlichem Verlauf, als Fortschritt und Entwicklung, Gegenpositionen hervorrief. Für Roth war aber die Arbeit an einer solchen literarischen Antithese kein einfaches Unterfangen, denn in der Figur des französischen Kaisers bündeln sich alle politischen Wunschvorstellungen des späten Roth mit ihren Widersprüchen und Konflikten. Roth selbst erkennt die Schwierigkeit der Arbeit am Stoff und die Euphorie schlägt bald in Verzweiflung um, die er in einem Brief an René Schickele folgendermaßen formuliert: [I]ch bin ekelhaft bedrängt, sogar beängstigt von meiner dummen Arbeit. Das ist das erste und letzte Mal, dass ich etwas „Historisches“ mache. Der Schlag soll es treffen. Der Antichrist persönlich hat mich dazu verführt. Es ist unwürdig, einfach unwürdig, festgelegte Ereignisse noch einmal formen zu wollen – und respektlos. Es ist was Gottloses drin – ich weiß nur nicht genau, was?16

Die zeitgenössischen Leser*innen erwarten von dem Roman entweder die Schilderung historischer Ereignisse oder eine im historischen Gewand verkleidete Hitler-Kritik. Roth lieferte ihnen dagegen seine „Bekehrungslegende“17 von einem Diktator, der angesichts seiner Niederlage in Visionen durch Christus zum Machtverzicht, zum wahren Glauben und zur Menschlichkeit gebracht wird. Die parabelhafte Zukunftsvision von Hitler, der letztendlich scheitern muss, sich aber angesichts seines Unterganges zu Gott bekehrt, Reue zeigt und dadurch als Mensch und Führer erhoben wird, war eine Vision, die sowohl für die im Exil als auch in Deutschland und Österreich lebende liberale Leser*innenschaft nur schwer akzeptabel war. Die legitimistische Überzeugung einerseits, andererseits der Wille des Exilanten Roth, einen antifaschistischen Roman zu schreiben, wahrscheinlich auch der Zeitdruck mögen dazu geführt haben, dass Roth seinem Napoleon eine widersprüchliche Gestalt gegeben hat, die beim zeitgenössischen Leser oder der Leserin Dissonanzen erweckte. In Roths Napoleon findet man die diktatorischen Züge der zeitgenössischen europäischen Usurpatoren, die in der völkischen Literatur dieser Zeit propagiert werden und die Roth bloßzustellen versucht, aber an diesem Versuch scheitert. Gleichzeitig schafft er auch eine nostalgische Inkarnation des Kaisers Franz Joseph I., die man aus dem Roman Radetzkymarsch kennt, selbst eine Parallele zum sterbenden Kanzler Dollfuß, dem Roth zu derselben Zeit in der Zeitschrift Der Christliche Ständestaat vom 18. August 1935 16 J. Roth: Briefe 1911–1939, S. 412. 17 Fritz Hackert: Joseph Roth. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 1994, S. 363–378, hier S. 375.

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nachtrauert, indem er dem von seinen Nazi-Mördern umringten Dollfuß ebenfalls eine religiöse Vision, diesmal der Heiligen Mutter Gottes, zuschreibt.18 Als eindeutige Anti-Hitler-Parabel kann der Roman also nicht gelesen werden, dafür wird das Bekenntnis zu der gefallenen Größe, das im Fortgang des Geschehens immer intensiver zum Ausdruck kommt, zu stark ausgearbeitet.19 Dafür ist das Mitgefühl dem Kaiser gegenüber, das der Roman bei Leser*innen erweckt, zu stark. Zu stark ist auch die Ambivalenz, mit der Roth persönlich den französischen Kaiser wahrnimmt und zu stark erinnert er an Mussolinis Napoleon-Figur, der nicht an seinen Fehlern scheitert, sondern weil er von seinen Ministern – vor allem dem Polizeiminister Fouché – verraten wird. (Interessanterweise arbeitete auch Roth in seinem Roman die Fouché-Episode aus, der dieselbe Funktion beigemessen wurde). Dem Roman kommt man jedoch näher, wenn man anstatt der Gemeinsamkeiten die Unterschiede zu Hitler und den zeitgenössischen völkischen Evokationen des Heldentums betont. In seinem Essay über Grillparzer bezeichnet Roth Bonaparte sowohl als „den einzigen genialen Emporkömmling in der Geschichte“ als auch als den historischen Vorläufer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts.20 Während aber der Aufstieg dieses Diktators in den Anfangsszenen des Romans fragwürdig erscheint,21 da er die legitime Herrschaft der Bourbonen bricht (symbolisch dafür ist u.a. die Szene, in der Napoleon das königliche Kruzifix niederreißt und dadurch Gott und der göttlichen Ordnung widersteht), so legitim erscheint Bonapartes Macht in dem 18 19

Ebd., S. 375. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Bedürfnis nach Geschichte. In: Ders.: Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Hg. von Klaus Amann, Hubert Lengauer, Karl Wagner (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 7). Wien: Böhlau 2002, S. 92–110, hier S. 99. 20 Roth umschreibt auch die Sentenz Grillparzers „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität!“, die bei Roth nun „von Erasmus durch Luther, Friedrich, Napoleon, Bismarck zu den heutigen europäischen Diktaturen“ heißt. Joseph Roth: Grillparzer [1937]. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, Bd. 3, S. 391–400, hier S. 394 und 398. 21 „Er wuchtete auf dem Lande und fast auf der ganzen Welt. Man kannte ihn gut im Lande und überall auf Erden. Seine Würde war eine andere, als die der geborenen Könige: er besaß die Würde der Gewalt. Seine Krone hatte er erworben und erobert und nicht geerbt. Er stammte aus einem unbekannten Geschlecht. Und selbst seinen namenlosen Vorfahren verlieh er noch Ruhm. Er schenkte Glanz seinen Ahnen, statt ihn von ihnen zu empfangen, wie die geborenen Kaiser und Könige. Also ward er allen Namenlosen ebenso verwandt, wie den Trägern altererbter Würden. Indem er sich selbst erhob, adelte, krönte, erhob er alle Namenlosen im gemeinen Volk, und also liebte es ihn.“ Joseph Roth: Die Hundert Tage. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, Bd. 2, S. 641–806, hier S. 644.

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Moment, als er diese Macht verliert.22 Erkennbar wird das in der Szene, in der Napoleon den Engländern übergeben und von seinen Soldaten mit dem Ausruf „Es lebe der Kaiser!“ verabschiedet wird. Diese Szene ist dermaßen übertrieben sentimental und rührend, dass dem oder der Leser*in nichts anderes übrig bleibt, als sich entweder mit dem gefallenen Kaiser zu identifizieren, oder dem Text gegenüber misstrauisch zu werden, so stark erinnert er an die völkischen, den Heroenkult propagierenden Romane dieser Zeit (bei Mussolini ist die Abschiedsszene mit derselben Dosis von Rührung beladen): Dies ist das letzte Mal, dachte der Kaiser – daß ich diesen Ruf höre. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch gehofft, er spiele, wie in der Nacht, vor dem Spiegel; er sei nicht der Kaiser Napoleon selbst, sondern ein Komödiant, der ihn darstelle. Aber die Matrosen, die da gerufen hatten: „Es lebe der Kaiser!“ – sie hatten nicht gespielt. Ach! Es war keine Szene! Er war der Kaiser, der wirklich dahinging, um zu sterben, und die Matrosen riefen aus voller Brust: „Es lebe der Kaiser!“ Da er nun an Bord des „Bellerophon“ trat, fühlte er, daß ihm die Tränen kamen. Er durfte sie aber nicht sehen lassen. Der Kaiser Napoleon durfte nicht weinen. […] Nun sah er die Küste Frankreichs […]. „Zurück!“ – sagte er ganz leise – und wußte dabei, daß er niemandem mehr befehlen dürfe.23

Die Zeitgenoss*innen warfen dem Roman kompositorische Inkonsequenz vor, man schrieb, ihm fehle die Einheit und es sei als Kunstwerk missglückt. Im austrofaschistischen Österreich nahmen die Tageszeitungen von dem Buch keine Notiz, ausgenommen das linksliberale Blatt Der Tag, das den Roman ankündigt, die „große Kraft künstlerischer Gestaltung“24 Roths lobt und einen längeren Abschnitt publiziert. Die fehlende Präsenz der Exilautor*innen in der österreichischen, vor allem bürgerlichen Presse, war aber zu dieser Zeit die Regel.25 Die deutsche sozialdemokratische Zeitung Neue Vorwärts kritisierte, dass die Figur Napoleons „ein zufälliges Gefäß [ist], in das Roth seine Botschaft an alle gießt“.26 Die Biographen Roths David Bronsen und Wilhelm von Sternburg äußern sich nicht weniger kritisch: Der erste attestiert dem Roman „Mattheit“ und „geringe Überzeugungskraft“,27 und der zweite wirft Roth vor, 22 23 24 25

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Vgl. W. Schmidt-Dengler: Bedürfnis nach Geschichte, S. 99. J. Roth: Die Hundert Tage, S. 794. Der Tag vom 17.11.1935, S. 5. Zu der fehlenden Präsenz der Exilautor*innen in der österreichischen Presse am Beispiel der Neuen Freien Presse vgl. Aneta Jachimowicz: Die Neue Freie Presse und die österreichischen Autoren und Autorinnen im Exil (1933–1938). In: Marcin Gołaszewski, Leonore Krenzlin, Anna Wilk (Hg.): Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration. Literarische Widerstandspotentiale und Wirkungschancen ihrer Werke. Berlin: Quintus 2019, S. 273–283. Zit. nach W. v. Sternburg: Joseph Roth, S. 444. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 570.

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einen „katholischen“ Napoleon-Roman in einer Zeit geschrieben zu haben, in der Hitlerdeutschland mit dem Vatikan ein Konkordat geschlossen und der Nationalsozialismus im deutschen Katholizismus Akzeptanz gefunden hat.28 Einige Literaturwissenschaftler sind überzeugt davon, dass es Roth gelungen ist, Napoleon von seinem Mythos zu befreien und ihn als Erniedrigten und Kleinen zu zeigen, die anderen dagegen, dass Roth diesen Mythos nur zementiere.29 Legt man aber die biographische Lesart und religiöse Intention des Romans zur Seite, so zeigt sich, dass Die Hundert Tage viele Themen der Moderne anspricht und dadurch differenzierter zu betrachten ist. Thematisiert wird beispielsweise die nach dem Ersten Weltkrieg typische Zeiterfahrung als ereignisloses Beharren einerseits, andererseits als eine Haltung der Erwartung auf Taten und Ereignisse.30 Der Roman bricht auch auf moderne Art und Weise mit dem Vertrauen in die Sinnstiftungsfunktion des historischen Geschehens, verabschiedet das historische Zeitparadigma der dialektisch aufgebauten Linearität und Kontinuität – eine Tendenz, die man als „Krise des Historismus“ bezeichnet – und zeigt die Geschichte nicht als Fortschritt und sinnvolle Entwicklung, sondern als Konglomerat von Zufällen, die als Schicksal wahrgenommen werden. Die Entscheidungen des Kaisers sind entweder reine Zufallssache oder impulsiv begründet. Napoleon ernennt zum Beispiel erneut Fouché zum Minister, obwohl er ahnt, dass Fouché ein Verräter ist, was sich dadurch erklären lässt, dass Fouché zufällig erscheint, als Napoleon das Kruzifix vom Alter gefegt hatte und es nun zerbrochen auf dem Boden liegt. Das verlegene Schweigen, das zwischen den beiden herrscht, wird von Napoleon gebrochen, indem er den eigenen Verräter zum Minister macht. Die Geschichte erweist sich also nicht als ein von den Großen der Welt überdachter Prozess, sondern als eine Folge von Zufällen. Roths Napoleon erkennt die Zufälligkeit des Geschichtsverlaufs, indem er angesichts seines Unterganges sagt: „Das Schicksal hat wahrhaftig billige Einfälle, wie ein billiger Dichter.“31 Der Mann, der bislang „auf dem Lande und fast auf der ganzen Welt“32 herrschte, wird sich letztendlich dessen bewusst, dass 28 Zit. nach W. v. Sternburg: Joseph Roth, S. 445. 29 Vgl. Wolf  R.  Marchand: Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe. Untersuchungen zur politisch-weltanschaulichen Entwicklung Roths und ihrer Auswirkung auf sein Werk. Bonn: Bouvier 1974, S. 303. 30 Vgl. Bastian Schlüter: Der Kaiser und das Meer. Ereignis und Dauer im Spätwerk Joseph Roths. In: Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin, Boston: de Gruyter 2012, S. 41–53. 31 J. Roth: Die Hundert Tage, S. 784. 32 Ebd., S. 644.

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nicht er – wie es in Mussolinis Stück der Fall war – die Weltgeschichte schreibt und nicht er der Schmied seines Schicksals ist, sondern dass sein Werdegang eine Summe von Zufällen und er nur eine Marionette des Schicksals ist. Nicht ohne Grund endet der Roman mit einer Szene, in der eine den Kaiser verkörpernde Puppe von der rebellierenden Masse von Menschen zerrissen und zertreten wird. Damit spricht Roth auch das zu dieser Zeit breit diskutierte Phänomen der Masse an. Dass die Masse das Individuum gefährdet und das Ich dort vom Untergang bedroht ist, wo die Masse handelt, war bekanntlich einer der Dauerbrenner der modernen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg. Der Ich-Zerfall oder die Krise des Ichs manifestieren sich auch in der Darstellung des Kaisers als ein mediales Konstrukt. Napoleon ist nämlich in den übergroßen Bildern von sich selbst gefangen und kann nicht mehr souverän agieren. Er erscheint als ein misslungenes Abbild der in ganz Frankreich millionenfach verbreiteten Bildnisse des Kaisers der Franzosen, wirkt demnach beinahe wie Walter Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Über die für Napoleon typische Haltung mit verschränkten Händen wird gesagt: Man kannte und liebte diese seine Haltung. Vielhundertmal hatte er sie vor dem Spiegel probiert. Vieltausendmal hatte man ihn so gemalt und gezeichnet. Diese Bilder hingen in vieltausend Stuben, in Frankreich und in allen Ländern der Welt, in Rußland und in Ägypten.33 Er wusste, dass die einfachen Menschen sein schwarzes, glattes Haar liebten und die glatte Locke, die ihm eigenwillig und doch gefügig in die Stirne fiel. […] Er zwang sein Tier und sich selbst zu der monumentalen Unbeweglichkeit, deren Wirkung und Gewalt er seit Jahren kannte.34

Der Kaiser steht „als sein eigenes Denkmal“35 mit verschränkten Händen. Er ahmt also seine eigene Kopie nach. Das Abbild ist von seinem Urbild nicht mehr zu unterscheiden und die Abgrenzung zwischen dem Original und seiner Kopie ist abhandengekommen: „In diesem Augenblick sah sich der Kaiser selbst ebenso, wie ihn seine Anbeter sahen, auf viel tausend Bildern, auf den Tellern, auf den Messern, an den Wänden der Stuben, schon eine Sage und noch lebendig.“36 Damit greift der Roman Roths offensichtlich auf einen der wichtigsten Diskurse der modernen Literatur und Kunst zurück und zwar auf die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Diese Szene hat aber noch 33 34 35 36

Ebd., S. 654. Ebd., S. 661. Eine ähnliche Funktion haben die Szenen, in denen sich Napoleon im Spiegel beschaut, und seine Mienen, die er von seinen Abbildungen kennt, nachahmt und übt. Ebd., S. 654. Ebd., S. 662.

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eine zusätzliche Bedeutung. Hier zeigt sich Napoleon als Abhängiger von seinem populistischen Erfolg und wird zum Gefangenen des eigenen Mythos, der ein Konstrukt der Propaganda und der Massenbegeisterung ist. Am besten wird diese blinde Gefolgschaft in der Lebensgeschichte der Wäscherin des Kaisers, Angelina Petri, sichtbar, deren Schicksal dem Napoleons gegenübergestellt wird. Angelina ist die Vertreterin des Volkes, grenzenlos und bis zu ihrem Tod dem Kaiser, der von ihrer Existenz keine Ahnung hat, ergeben. Aus ihrer Perspektive wird der Mythos Napoleons gezeichnet. In Angelinas beinahe erotischem Verhältnis zu Napoleon manifestiert sich die Massenund Herrschaftspsychologie und es wird ein „verzerrtes Abbild des Nationalsozialismus“37 gezeichnet. Das Verhältnis Napoleons zum Volk ist eines der zentralen und interes­ santesten Themen des Romans. Roth missbilligt nicht die Ergebenheit des Volkes dem Kaiser gegenüber. Da Napoleon selbst vom Volk kommt, gleicht er seinen Untertanen, und wenn er sich selbst erhebt, erhebt er gleichzeitig das gemeine Volk. Roth stellt also Napoleon als eine Hybris der Göttlichkeit und Menschlichkeit heraus, an der sich das Volk berauscht: Erschreckt, besiegt und im Zaum gehalten hatte er eine geraume Zeit die Großen der Erde, und deshalb hielten ihn die Kleinen für ihren Rächer und anerkannten ihn als ihren Herrn. Sie liebten ihn, weil er ihresgleichen zu sein schien – und weil er dennoch größer war als sie. Ihnen war er ein Beispiel.38

Dagegen werden von Roth im Verhältnis Napoleons zum Volk einerseits die Mechanismen der Instrumentalisierung problematisiert, andererseits die Narration der völkischen Literatur – hiermit auch des Stücks Mussolinis – in Frage gestellt, in denen Napoleon und die anderen Großen der Geschichte als Erlöser des Volkes gezeichnet werden. Vom Kaiser wird nämlich gesagt: „Er traute den Menschen nicht, bevor sie nicht bereit waren, für ihn zu sterben: also machte er aus ihnen Soldaten. Damit er ihrer Liebe sicher sei, lehrte er sie, ihm zu gehorchen. Damit er ihrer sicher sei, mußten sie sterben.“39 Dieser instrumentale Umgang mit den Untertanen, auf den Roth hier eingeht, ist im Stück Mussolinis nicht denkbar. Sein Napoleon gilt als Vater und Erlöser des 37

Vgl. Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2007, S. 410. 38 J. Roth: Die Hundert Tage, S. 644. „[W]o er sich schwach erwies, sahen die Menschen, daß er ihresgleichen sei, und sie liebten ihn, weil sie sich ihm verwandt fühlten.“ (ebd., S. 645); „Man konnte ihn nur hassen lieben, fürchten, anbeten, als wäre er ein Gott. Und er war ein Mensch.“ (ebd., S. 644). 39 Ebd., S. 645.

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Volkes, der aber auf seinem Erlösungsweg von den Außenkräften gestört und seiner nächsten Umgebung verraten wird. In dem Roman Die Hundert Tage, der voreilig für eindeutig regressiv und antimodern gehaltenen wurde, präsentiert sich Roth in seiner gedanklichen Ambivalenz, einerseits als melancholischer Nostalgiker der untergegangenen Monarchie, andererseits als ein vom Humanitätsgedanken geprägter Kom­ mentator des Zeitgeschehens; einerseits als scharfsinniger Diagnostiker der Überheblichkeit der zeitgenössischen göttlichen Herrschaftsinszenierung, andererseits als Schwärmer der vom Volk stammenden gerechten Herrschaft einer Führerfigur. Den Roman kann man als Antwort auf das Stück Mussolinis Hundert Tage, das zur Zeit der Entstehung des Romans von Roth in Europa großes Aufsehen erregte, betrachten, obwohl nicht nachzuweisen ist, ob Roth das Drama Mussolinis tatsächlich kannte. Diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen, allein aus dem Grunde, dass Roth in seiner katholischen Spätphase mit Dollfuß sympathisierte. Doch trotz einiger Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Texten, wie z.B. die Sentimentalität, mit der der Untergang des Kaisers oder sein Scheitern als Vater gezeichnet werden (sowohl bei Mussolini als auch bei Roth wird hervorgehoben, dass Napoleon das Wiedersehen mit dem Sohn versagt bleibt und er nicht nur als Herrscher, sondern auch als Vater untergehen muss), präsentiert sich der Roman Roths als Versuch, die Figur Napoleons als die eines großen Mannes, der Weltgeschichte macht und auf dem Heroen-Sockel steht, zu relativieren und ihn mit seinen Schwächen und Stärken in seiner Menschlichkeit zu zeigen. Erst nach der Niederlage kehrt der Kaiser in die durch den Machtdrang zerstörte natürliche Ordnung zurück, was die sowohl politische als auch geistige Botschaft dieses an der Schwelle zwischen Modernität und Konservatismus stehenden Romans ist.

teil iii Phänomene der Moderne

Joseph Roth und der Film Rainer-Joachim Siegel Will man über das Thema Joseph Roth und der Film sprechen, so bieten sich meines Erachtens drei Themenkreise an. Da wären zum einen seine journalistischen Arbeiten zum Thema Film und Kino, dann seine späten Versuche, selbst in das Filmgeschäft einzusteigen sowie zuletzt die Darstellung dieses Mediums in seiner Prosa und in seinem Werk Der Antichrist. Hier möchte ich insbesondere auf die ersten beiden Themen eingehen. Anlass für meine Beschäftigung mit dem Thema war ein von Helmut Peschina geplanter Band mit Texten von Joseph Roth zu Film und Kino, der bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen sollte, wie andere von ihm herausgegebene Sammlungen von Roth-Schriften.1 Ich arbeite seit Jahrzehnten an einer Bibliographie des Schaffens von Joseph Roth. Das Ergebnis dieser Bemühungen legte die Cicero Presse 1995 vor.2 Vollständigkeit ist wohl nie zu erreichen und ich fand auch im letzten Vierteljahrhundert weitere Beiträge zu diesem Thema in Zeitungen bzw. Zeitschriften. Damit erhöhte sich die Anzahl der Beiträge zum Thema auf 99, wovon mehr als ein Drittel noch nicht in der letzten Werkausgabe 1989–1991 bzw. in der von mir 1994 bei Kiepenheuer & Wisch herausgegebenen Sammlung Unter dem Bülowbogen3 enthalten war. Dazu kamen Roths Versuche, selbst in das Filmgeschäft einzusteigen, zwei Treatments und ein Exposé. Diese Sammlung konnten wir dann kommentiert im Wallstein Verlag 2014 unter dem Titel Drei Sensationen und zwei Katastrophen4 herausgeben. Zumindest zwei Beiträge von Roth zum Thema Film und Filmindustrie in Periodika waren zur Zeit der Entstehung des Bandes Drei Sensationen und zwei Katastrophen noch nicht wiederentdeckt. An dieser Stelle sei Heinz Lunzer 1 Joseph Roth: Kaffeehaus-Frühling. Ein Wien-Lesebuch. Hg. und mit einem Vorwort von Helmut Peschina. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001 (= KiWi, 607); Joseph Roth: Die Filiale der Hölle auf Erden. Schriften aus der Emigration. Hg. und mit einem Vorwort von Helmut Peschina: Köln: Kiepenheuer& Witsch 2003 (= KiWi, 753); Joseph Roth: Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag. Ein Leben in Selbstzeugnissen. Hg. und mit einem Vorwort von Helmut Peschina. Köln: Kiepenheuer& Witsch 2006 (= KiWi, 903). 2 Joseph Roth-Bibliographie. Bearbeitet von Rainer-Joachim Siegel. Morsum/Sylt: Cicero Presse 1995. 3 Joseph Roth: Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit. Hg. von Rainer-Joachim Siegel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. 4 Joseph Roth: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hg. und kommentiert von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein 2014.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_007

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für den Hinweis auf diese Beiträge gedankt. Während der eine Beitrag über ein Gartenfest der Sascha-Filmfabrik5 berichtet und nur zur Vollständigkeit genannt wird, scheint mir der zweite Beitrag sehr aussagekräftig. Roth besuchte eine Pressevoraufführung des Films J’accuse [Ich klage an] von Abel Gance und berichtete darüber in Der Neue Tag am 3. Oktober 1919: Der Beweis scheint erbracht zu sein, daß künstlerische Wirkungen auch durch den Film erbracht werden können. Der übliche Kitsch einer hausbackenen Sentimentalität ist selten, Kleinigkeiten, überaus differenzierte Regieeinheiten erzeugen im Zuschauer Eindrücke von monumentaler Wucht. Die „Spannung“ selbst hat literarisches Niveau. […] Es ist vorauszusehen, dass dieser Film viel beitragen wird zum Abbau des Völkerhasses. Das wäre die erste monumentale segensreiche Wirkung des Kinos seit seinem Bestande.6

Roth lobt zu Recht einen Film, der ein Klassiker des pazifistischen Kinos wurde. Dieses frühe positive Urteil über einen Film und vor allem die Möglichkeiten des Films überhaupt sei vorangesetzt, weil man bei einer Annäherung an das Thema immer wieder auf das ambivalente Verhältnis Roths zu diesem Medium stoßen wird, was hier nicht unerwähnt bleiben darf. So schreibt Roth am 14. Juni 1934 an Stefan Zweig: Der Film ist keine zeitliche Erscheinung allein. Er mag die Menschen selig machen, auch der Teufel macht sie zuweilen selig. Es ist meine unerschütterliche Überzeugung, daß sich im quasi lebendigen Schatten der Teufel offenbart. Der Schatten, der selbst agiert und sogar spricht, ist der wahre Satan. Mit dem Kino beginnt das 20. Jahrhundert, das ist: das Vorspiel zum Untergang der Welt. Bitte, unterschätzen Sie das nicht. Aeroplan, Radio sind nichts dagegen: daß man den Schatten vom Menschen gelöst hat. Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, wichtiger als die russische Revolution.7

Die Wirkungsmöglichkeit des Kinos war Roth die ganze Zeit bewusst. Schon im chronologisch ersten Artikel, der uns bekannt ist, schreibt Roth unter dem Titel Film im Freistaat, erschienen in Die Filmwelt am 21. März 1919: „Die Wirkung des Kinos auf das Volk, die ja bei weitem unmittelbar und stärker ist als die Wirkung von Zeitungen, wurde von den Vertretern des alten Regimes voll gewertet und richtig eingeschätzt.“8 5 Joseph Roth: Das Gartenfest der Sascha-Filmfabrik. In: Der Neue Tag (Wien) Jg. 1, Nr. 106 vom 8.07.1919. 6 Joseph Roth: „J’accuse“ im Film. In: Der Neue Tag (Wien) Jg. 1, Nr. 191 vom 3.10.1919. 7 „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“. Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927– 1938. Hg. von Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel. Mit einem Nachwort von Heinz Lunzer. Göttingen: Wallstein 2011, S. 166. 8 Joseph Roth: Film im Freistaat. In: Die Filmwelt (Wien) Jg. 1, Heft 5 vom 21.03.1919

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Auch in dem letzten Beitrag über das Medium ist ihm bewusst, welche Rolle Filme im Kampf um den Erhalt Österreichs spielen werden bzw. hätten spielen können. Anschluß im Film erscheint in Das Neue Tage-Buch, Paris und Amsterdam, am 23. Februar 1935 anlässlich des abgeschlossenen deutschösterreichischen Filmverkehrsabkommen, das, so Roth, „zu verheerenden politischen Folgen für ein Land führen [kann], das den Kampf um seine Unabhängigkeit mit allen Mitteln führen muss, unter Umständen auch mit den Mitteln des Films.“ Und weiter führt er aus: Nach dem Vertrag aber […] kann praktisch in Österreich kein österreichischpatriotischer Film mehr gedreht werden, der, zum Beispiel, Preußen oder das Neu-Heidentum des Nationalsozialismus angreift. […] Auf Grund dieses Filmabkommens werden die Deutschen jährlich mit Dutzenden Propagandafilmen Österreich überschwemmen, die gewiss nicht formal gegen die österreichischen Zensur-Gesetze verstoßen, aber das Dritte Reich als Paradies schildern werden, dem sich durch Plebiszit anzuschließen höchste Zeit für die armen Österreicher wäre. […] Weiss die österreichische Regierung nicht, welch ein wichtiges Propagandamittel sie aus den Händen gibt, wenn sie sich von der deutschen Reichsfilmkammer Gesetze für die österreichische Produktion diktieren läßt?9

Betrachten wir nun die knapp hundert Artikel, die in etwa 15 verschiedenen Zeitungen10 bzw. Zeitschriften in den 16 Jahren zwischen diesen beiden Beiträgen erschienen. Man stößt auf eine Vielfalt von Formen, in denen sich Roth zu dem neuen Medium äußert. Davon lässt sich nur eine kleine Anzahl dem Genre Filmkritik zuordnen. Roth schreibt selbst in einem Beitrag zu einer „Filmumfrage“ in der Neuen Zürcher Zeitung im Juli 1934, in der er einen Charly Chaplin-Film lobt: „Aber ich urteile weder als ,Filmfachmann‘, noch als ständiger Besucher des Kinos. Betrachte ich Filme, so ist es mir unmöglich, vom Stofflichen, vom ,Sujet‘ abzusehen.“11 Ebenso wenig verteilen sich die Beiträge gleichmäßig über diese Jahre. 80 der Texte werden in den Jahren 1919 bis 1925 veröffentlicht. Dafür lassen sich sicher zwei Hauptursachen vermuten. Einerseits möchte Roth ja schriftstellerisch arbeiten und betrachtet seine journalistische Arbeit schon einmal als notwendiges Übel. Andererseits dürften die Sparten in den großen Zeitungen auch verteilt gewesen sein. So hat die Frankfurter Zeitung in Siegfried Kracauer einen Fachmann für dieses Medium. Eine Ausnahme bleibt

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Joseph Roth: Anschluß im Film. In: Das Neue Tage-Buch (Paris und Amsterdam) Jg. 3, Nr. 8 vom 23.02.1935. 10 Drei Sensationen und zwei Katastrophen, S. 208–210. 11 Joseph Roth: (Eine Filmrundfrage). In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 1271 vom 15.07.1934.

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auch da anzumerken. Joseph Roth bespricht den Film Unter den Dächern von Paris12 in der Zeitung nach Kracauer13 ein zweites Mal, ebenso positiv. Und er ließ keinen Film uneingeschränkt gelten. So setzt er sich am Anfang oft satirisch mit dem Thema auseinander, wenn er Filmtypen beschreibt, so die Filmschaffenden (z.B.  Der  Regisseur14) oder auch die Rollenfächer („Der [Ermordete] lebt gewöhnlich nur bis zu seiner Ermordung und kommt daher meistens nur im ersten Akt vor. Nach seiner Ermordung hat er die Aufgabe, seinem Mörder in Visionen zu erscheinen.“15) In Mein Kinodrama16 persifliert er die oft kitschigen Handlungen. In einem Großteil der Produktion sieht er offenbar ein Theater „zweiten und dritten Ranges“.17 Roth formuliert am 11. April  1920 in seinem Beitrag Scheinwelt in Wiener Woche wie folgt: Das Verborgene aufzudecken, Geheimnisse zu entschleiern, das Unsichtbare darzustellen – das ist die Aufgabe des Films. Das Wachstum einer Pflanze, die Weltordnung eines Ameisenhaufens, der Liebesroman eines Schmetterlings, aber auch die Wunderwelt der Technik, der märchenumsponnene Meeresgrund, Dramatisierung der Volkssage – warum sollte das nicht Kino und Publikum auf ein höheres Niveau heben?18

Beeindruckend ist für ihn zum Beispiel ein Vorfilm über das Leben einer Spinne. Und so schreibt er in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Argiope, die Tigerspinne am 10. April 1924 nach einer ausführlichen Inhaltsangabe: „Diesen Roman sah ich im Kino. Dann gab es noch das Schicksal einer Prinzessin. Aber, obwohl sie ein Mensch war, wie ich, ging sie mir gar nichts an. Mich ging Argiope so nahe an, als wäre ich selbst eine Spinne.“19 Schon in dem Beitrag Zwei Monumentalfilme im Berliner Börsen-Courier vom 9. Dezember 1921 beeindruckt Roth keineswegs der Hauptfilm, sondern das Beiprogramm: 12 Joseph Roth: Ehre den Dächern von Paris! In: Frankfurter Zeitung Jg.  75, Nr.  805 vom 28.10.1930. 13 Siegfried Kracauer: Neue Tonfilme. Einige grundsätzliche Bemerkungen. In: Frankfurter Zeitung. Jg.75, Nr. 608–610 vom 17.08.1930. 14 Joseph Roth: Der Regisseur. In: Die Filmwelt (Wien) Jg. 1, Nr. 10 vom 30.05.1919. 15 Joseph Roth: Die Typen des Detektivdramas. In: Die Filmwelt (Wien) Jg.  1, Nr.  7 vom 18.04.1919. 16 Joseph Roth: Mein Kinodrama. In: Die Filmwelt (Wien) Jg. 1, Nr. 18 vom 19.09.1919. 17 Joseph Roth: Scheinwelt. In: Wiener Woche (Wien) Nr. 14 vom 11.4.1920. 18 Ebd. 19 Joseph Roth: Argiope, die Tigerspinne. In: Frankfurter Zeitung Jg. 68, Nr. 273 vom 10.04.1924.

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Ich ging in ein Kino, um die Abenteurerin von Monte Carlo zu sehen. […] Mir aber geschah es, daß mich die Abenteurerin von Monte Carlo gänzlich unberührt ließ. Ich kam nämlich mitten in die Meßterwoche und sah einen Arbeitslosenmarkt in Amerika. Auf eine Art von Bretterpostament traten hundert und mehr Arbeitslose einzeln hintereinander. Sie boten sich an. Um ihren Wert zu beweisen, zogen sie sich die Röcke aus und ließen fremde Hände über Muskeln, Brust, Bäuche und Oberschenkel tasten. Es war ein Monumentalfilm. […] Keine Filmregie der Welt kann mit dem photographischen Apparat der Meßtergesellschaft konkurrieren, wenn der liebe Gott einen kleinen Ausschnitt aus seinen Monumentaltragödien vor die Linse rückt.20

Immer wieder ist für Roth die Wirkung des Films auf das Publikum wichtiger als der gezeigte Film, dessen Inhalt oft nur knapp skizziert wird. Fasziniert und mit Grausen beschreibt Roth satirisch überzeichnet eine Wechselwirkung zwischen Film und Publikum in dem Beitrag Praterkino in Der Neue Tag vom 4. April 1920.21 Es wird eine Abenteuer-Serie Das rote Aß gezeigt. Für ihn verschmelzen Publikum, Darsteller und Kinopersonal. In dem Beitrag Knigge im Film in der Wiener Zeitschrift Die Filmwelt vom 16. Mai 1919 berichtet er über ein kleines mährisches Städtchen und wundert sich zuerst über das weltstädtische Gehabe auf dem Rathausplatz, im Café usw.: Bis mich ein regnerischer Sonntagnachmittag in’s Kino und damit auf die Lösung des Rätsels brachte. […] Und ich verstand den erzieherischen Einfluß des Kino’s auf die Jugend dieser Kleinstadt. Plötzlich war ich sehend geworden: […] In tausenden solcher abseits liegenden Städtchen mag wohl das Kino die Rolle einer Erziehungsanstalt spielen.22

Lassen Sie mich diesen Abschnitt, der nur einige Streiflichter bringen kann, mit der Erwähnung von Roths Beitrag über den Tonfilm Der letzte Mann von Friedrich Murnau, erschienen in der Frankfurter Zeitung am 8. Januar 1925, beenden. Es ist eine der wenigen Filmrezensionen, in denen er filmspezifisch urteilt, Termini der Filmtechnik verwendet und mit Begeisterung auf das Drehbuch eingeht und dessen Autor, Carl Mayer, ausdrücklich lobt. Er schreibt: Aber es wäre schwer zu entscheiden: ob das dichterische Element den Erfolg verursacht oder die filmischen Vollkommenheiten. Wäre der ironische KonzessionsSchluß nicht angehängt worden, so hätte es sich vielleicht jetzt entschieden, ob das Publikum wirklich reine Dichtungen im Film sehen will. So ist die Entscheidung wieder aufgeschoben. Gute Filme will es jedenfalls sehen. Und 20 Joseph Roth: Zwei Monumentalfilme. In: Berliner Börsen-Courier Jg.  54, Nr.  574 vom 9.12.1921. 21 Joseph Roth: Praterkino. In: Der Neue Tag (Wien) Jg. 2, Nr. 94 vom 4.04.1920. 22 Joseph Roth: Knigge im Film. In: Die Filmwelt (Wien) Jg. 1, Nr. 9 vom 16.05.1919.

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Rainer-Joachim Siegel Der letzte Mann ist, abgesehen von der Frage: Dichtung oder vergewaltigte Dichtung ‒ einer der besten Filme nicht nur Deutschlands, sondern der Welt.23

Roths erster großer literarischer Erfolg, sein Roman Hiob, wurde über den amerikanischen Verlag Viking Press als Filmstoff verkauft und kam unter dem Titel Sins of Man 1936 in die Kinos.24 Roth hatte offensichtlich keine Einwände gegen die Verfilmung seiner Werke, wie man der Verlagskorrespondenz mit seinen Exilverlagen entnehmen kann. Nach dem Erscheinen seines Romans Die Hundert Tage schreibt er bedauernd am 18. Oktober 1935 an Stefan Zweig: „Filmisch ist mir Mussolini zuvorgekommen. Man verfilmt nicht hintereinander den gleichen Stoff in zwei Jahren!“25 1935 wurde der Film Hundert Tage nach einem Schauspiel von Benito Mussolini und Giovacchino Forzano unter der Regie von Franz Wenzler produziert, in dem der gleiche Stoff wie in Roths Roman verarbeitet war. Auch der Verlag Allert de Lange versuchte intensiv die Filmrechte an den im Verlag verlegten Werken von Roth zu verkaufen, letztlich auch im eigenen Interesse. Der Verlag hatte ja mit Vorschüssen sehr viel in Roth investiert. Die Bemühungen des Verlegers Fritz Landauer in den Jahren 1934 bis 1937 sind zumindest teilweise im Archiv des Verlages, das sich jetzt im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenes in Amsterdam befindet, dokumentiert, ebenso Briefe von und an Filmfirmen, Vermittlern und Schauspielern wie Peter Lorre.26 Weitere Versuche, Roth zu Einnahmen durch die Vergabe von Filmrechten zu verhelfen, unternahm 1937 die Salonnière Betty Stern, die auch mit Marlene Dietrich befreundet war. Roth hatte Betty Stern laut seiner eigenhändigen Widmung zu ihrem „14. Geburtstag“, also vermutlich im August  1935, ein Manuskript seiner Erzählung Stationschef Fallmerayer geschenkt. Am 6. April 1937 schrieb Betty Stern an Roth: „Sie haben mir einmal zum Geburtstag eine handgeschriebene Novelle geschenkt, – sie war mein Heiligtum, denn sie

23 Joseph Roth: Der letzte Mann. In: Frankfurter Zeitung Jg. 69, Nr. 20 vom 8.01.1925. Dazu möchte ich an dieser Stelle auf weiterführende Literatur verweisen: Thomas Düllö: Möglichkeiten in Reich der Schatten. Der Filmkritiker Joseph Roth. In: FilmExil (Berlin) 5 (1994), S. 11–33. 24 Auch hier möchte ich auf weiterführende Literatur verweisen: Francessco Burzacca: Mendel Singer Goes to Hollywood. On the 1936 Film Adaptation of Joseph Roth’s “Hiob”. In: Studi germanici (Rom) 11 (2017), S. 105–134. 25 „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, S. 253f. 26 Vgl. IISG Amsterdam, Archiv des Allert de Lange-Verlages, Mappe 94.

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dürften wissen, wie ich Sie verehre u. liebe. Ich habe sie Marlene [Dietrich] geschenkt, damit Sie sie vielleicht von Ihnen kaufen soll (das Scenario)…“27 Dieses Manuskript mit Widmung fand sich nach 1990 im Nachlass von Marlene Dietrich und wurde wegen des bis dato unbekannten Schlusskapitels in den bereits genannten Band Unter dem Bülowbogen aufgenommen. Die Erzählung erschien bereits 1933 in Novellen deutscher Dichter der Gegenwart, herausgegeben von Hermann Kesten, bei Allert de Lange mit einem anderen Schluss. Diese Version war offensichtlich die Grundlage für die Verfilmung von 1976. In einem weiteren undatierten Brief bietet Betty Stern an, Filmstoffe an den Schauspieler Conrad Veidt zu vermitteln bzw. Universal und Columbia Pictures anzubieten.28 Joseph Roth selbst bittet Das Neue Tage-Buch im Mai 1938 mitzuteilen, „daß die Gerüchte über die Verfilmung seines Romans ,Radetzkymarsch‘ unrichtig sind. Joseph Roth hat bis heute die Verfilmungsrechte dieses Buches nicht vergeben.“29 In einem undatierten Brief an Graf Franz von Treuberg, der sich im LBI, NY, befindet, schreibt Roth: „Sie werden dafür sorgen dass der Film im österreichischen Geist gedreht wird. In den Fragen der Uniformen habe ich Recht Einspruch zu erheben.“30 Auch Bemühungen von Berthold Viertel, Fritz Landshoff und Barthold Fles, Werke von Roth bei einer Filmgesellschaft unterzubringen, blieben ohne Erfolg. Es kam zu Lebzeiten von Roth zu keiner weiteren Verfilmung eines seiner vorliegenden Stoffe. Von Stefan Zweig wurde er immer wieder ermuntert, selbst Filmsujets zu entwickeln. So schreibt Roth am 2. April 1936 aus Amsterdam an Zweig: „Ich dachte, Sie könnten mir etwelche Filmbeziehungen verschaffen, oder raten.“31 Worauf Zweig vier Tage später antwortet: „Und schmieren Sie außerdem ohne Rücksicht auf Stil und Kunst ein paar Filmsujets hin, damit man irgendeine Grundlage hat für mögliche Verhandlungen. Berthold kämpft hier seit zwei Jahren für Ihren Radetzkymarsch und hofft ihn doch über kurz oder lang einmal durchzusetzen …“32 Offenbar hat sich Roth 1938, vielleicht ausgelöst durch eine Begegnung mit Leo Mittler, einem Wiener Drehbuchautor, Theater- und Filmregisseur, zu einer gemeinsamen Arbeit an zwei Filmentwürfen entschlossen. Entstanden 27 Der Brief befindet sich im Leo Baeck Institute, New York. https://archive.org/stream/ josephbornstein_05_reel05#page/n56/mode/1up/search/Stern (Stand: 30.09.2020). 28 Ebd. 29 Das Neue Tage-Buch (Paris und Amsterdam) Jg. 6, Nr. 21 vom 21.05.1938, S. 503. 30 Vgl. Anmerkung 24, S. 153. 31 „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, S. 305. 32 Ebd., S. 306.

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sind zwei so genannte Treatments, die in der Filmbranche als Vorstufe zum Drehbuch verfasst werden. In der Regel werden darin auf etwa 20 Seiten einzelne Charaktere, Schauplätze und die Handlung eines geplanten Filmes vorgestellt und wichtige Szenen samt Dialogen beschrieben. Zuerst entstand das Treatment Kinder des Bösen. Die Entstehungszeit, etwa Juni 1938, lässt sich durch zwei Zeitungsmeldungen belegen.33 Den Inhalt möchte ich nur ganz kurz beschreiben. Die Handlung beginnt am Tage des Attentats von Sarajevo. Im Stück stirbt auch der Adjutant des Thronfolgers. Dessen Sohn wiederum begegnet im Krieg der Schwester eines der Attentäter. Natürlich verliebt sich das Paar, erst einmal ohne diesen Hintergrund zu ahnen. Beide sollen die Rachegelüste ihrer Familien befriedigen, aber am Ende gelingt letztlich eine Versöhnung, mehr oder weniger glücklich, denn inzwischen sind drei Fassungen des Treatments bekannt. Neben des Typoskripts aus dem Nachlass des Filmagenten Paul Kohner in der Stiftung Deutsche Kinemathek und eines Typoskripts im Leo Baeck Institute in New York fand sich nach Erscheinen unseres Bandes ein weiteres im Nachlass von Elisabeth Frank, in zweiter Ehe mit Leo Mittler verheiratet. Es ist eine Übersetzung in das Englische unter dem Titel The Enchanted Flight [Der verzauberte Flug], vorgeblich ebenfalls von Leo Mittler und Joseph Roth. Da überlebt der Held und das Paar schreitet lächelnd zum Altar. Dieser Nachlass befindet sich in der Monacencia in München. Das zweite Treatment, Der letzte Karneval von Wien, entstand später, vermutlich erst nach dem Abschluss des Romans Die Kapuzinergruft im August 1938. Nach einem Vorspiel im Jahr 1925 setzt die Haupthandlung zu Beginn des Jahres 1938 ein und endet in den Tagen des ,Anschlusses‘. Ein Liebespaar darf nicht fehlen, aber in kurzen Szenen und aus verschiedenen Perspektiven wird die Stimmung vor dem ,Anschluss‘ atmosphärisch eingefangen. Bemerkenswert erscheint, dass Roth den restaurativen, monarchistischen Kräften keine Chancen mehr einräumt und die Vertreter dieser Richtung Selbstmord begehen lässt. Auch von diesem Treatment sind zwei unterschiedliche Fassungen bekannt. Eine im Nachlass des Theateragenten Edmond Pauker im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, eine weitere im Nachlass des Filmagenten Paul Kohner in der Stiftung Deutsche Kinemathek. Beide Treatments können durchaus als praktikable Vorlage für eine Verfilmung angesehen werden und lassen sich in gängige Filmsujets der Zwischenkriegszeit einordnen. Qualitative Unterschiede der beiden Treatments sind nicht zu übersehen. In Der letzte Karneval von Wien sind die einzelnen

33 Vgl. Pariser Tageszeitung Jg.  3, Nr.  701 vom 2.06.1938 bzw. PEM’s Privat-Berichte vom 8.06.1938.

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Dialogpassagen bereits präziser ausgearbeitet, wodurch die Charakteristik der Personen besser gezeichnet ist. Auch wenn diese Treatments sicher als literarische Texte keinen bedeutenden Platz im Werk von Roth einnehmen, so zeigen sie doch die intensive Beschäftigung mit dem Film. Ebenso wenig bedeutet die Tatsache, dass die Entwürfe nicht verwirklicht wurden, eine verlässliche Aussage über die Qualität. In den Agenturen häuften sich solche Filmentwürfe. Allein im Bestand der Agentur von Paul Kohner, der an die Deutsche Kinemathek in Berlin ging, befanden sich an die tausend Sujets. Darüber hinaus schrieb Joseph Roth allein noch einen dritten Entwurf, ohne Titel, und hier nach den ersten Worten „Die Eiffel …“ benannt. Es entstand ein Exposé, die Vorstufe eines Treatments, das die Grundidee und einen kurzen Handlungsabriss eines geplanten Films skizziert. In dem Stück werden Juden als auch der greise Pfarrer durch antisemitische Hetze aus einem Dorf in der Eiffel vertrieben. Sie geraten auf ein portugiesisches Schiff, das Monate auf den Meeren der Welt herumirrt. Zwar werden sie nach einer unbemerkten Landung in einem südamerikanischen Land durch einen Pfarrer gerettet. Dann aber fällt die Gruppe, Juden und Christen, einem von „Nazipropagandisten“ ausgelösten Pogrom zum Opfer. Zu dieser Arbeit könnte Joseph Roth sowohl durch seine Zusammenarbeit mit Leo Mittler, der zur gleichen Zeit mit Friedrich Wolf an einem Stück (Das Schiff auf der Donau) arbeitete, als auch durch seine journalistischen Arbeiten angeregt worden sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit entstand das Exposé Anfang 1939, also zu der Zeit, in der Roth sich in seiner Artikelserie SchwarzGelbes Tagebuch in Die Österreichische Post mit dem Schicksal von Emigranten auf dem Dampfer „Königstein“ befasste.34 Dieses Manuskript hat Joseph Roth offenbar nie weitergegeben. Es fand sich in seinem „Pariser Nachlass“, der heute im Leo Baeck Institute verwahrt wird. * Zum oben letztgenannten Thema, der Darstellung dieses Mediums in seiner Prosa, möchte ich nur anmerken, dass die Welt des Films und des Kinos in seinen Romanen oft als Sinnbild der Bedrohung und Verführung steht, gleichsam eine potenzierte Theaterwelt, in der Unmoral und Sittenlosigkeit herrschen. Dies zeigt sich vor allem in dem Roman Zipper und sein Vater (1928). Arnold Zippers Frau Erna geht zum Film, eine Welt über die Roth im Roman 34 Joseph Roth: Schwarz-gelbes Tagebuch. In: Die Österreichische Post (Wien) Jg. 4, Nr. 941 vom 11.03.1939.

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Rainer-Joachim Siegel

schreibt: „Reisende in Lampenschirmen rasten in den Ateliers herum, brüllten Mechaniker an und nannten sich Beleuchtungskünstler […] Statistinnen opferten ihre Jungfernschaft für das vage Versprechen eines Hilfsregisseurs dritter Klasse, aus ihnen eine ,Diva‘ zu machen.“35 Bei Roth sind es besonders die Frauen, die der Glitzerwelt des Films verfallen. Auch in seinem Roman Die Kapuzinergruft fühlt sich die Frau Franz Ferdinand Trottas, Elisabeth, zum Film berufen und Trotta resümiert: „Mein Kind hat keine Mutter mehr. Die Mutter meines Kindes war in Hollywood, eine Schauspielerin.“36 Am Rande sei bemerkt, dass Roth am 26. November 1935 an Stefan Zweig schreibt: „Ich habe für mich 200 francs wöchentlich bis zum 23. XII. Ich erleide unwahrscheinliche ägyptische Plagen, wenn die Frau nicht ins Kino gehn kann.“37 Auf Der Antichrist möchte ich hier auch nicht weiter eingehen. In dem erwähnten Beitrag Knigge im Film38 betrachtete Roth den Film noch als ‚modernen Knigge‘, nun sieht er darin einzig die Verführung zum Bösen. Gehindert hat ihn dies wie geschildert zumindest nicht, dort nach Verdienst Ausschau zu halten. Abschließend möchte ich noch kurz auf die Verfilmungen der Stoffe von Joseph Roth nach seinem Ableben hinweisen. Bisher entstanden in den Jahren 1962 bis 1994 sechzehn Filme nach seinen literarischen Vorlagen.39 Drei der Stoffe (Die Rebellion, Die Legende vom heiligen Trinker und Radetzkymarsch) 35 Joseph Roth: Zipper und sein Vater. München: Kurt Wolff 1928, S. 166ff. 36 Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. Roman. Bilthoven: De Gemeenschap 1938, S. 218. 37 „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“, S. 272. 38 Vgl. Anmerkung 22. 39 Wolfgang Staudte: Die Rebellion. Deutschland, 1962. Franz Josef Wild: Die Legende vom heiligen Trinker. Deutschland, 1963. Michael Kehlmann: Radetzkymarsch. Deutschland, Österreich, 1964. Peter Beauvais: Die Geschichte von der 1002. Nacht. Deutschland, 1969. Wilm ten Haaf: Beichte eines Mörders. Deutschland, 1969. Johannes Schaaf: Trotta [Die Kapuzinergruft]. Deutschland, 1971. Bernhard Wicki: Das falsche Gewicht. Deutschland, 1971. Walter Davy: Stationschef Fallmerayer. Deutschland, Österreich, 1976. Michael Kehlmann: Hiob. Österreich, 1978. Dagmar Damek: Geschichte einer Liebe [April]. Deutschland, 1978. Michael Kehlmann: Tarabas. Deutschland, Österreich, 1982. Michael Kehlmann: Flucht ohne Ende. Deutschland, Österreich, Schweiz, 1985. Ermanno Olmi: Die Legende vom heiligen Trinker. Italien, Frankreich, 1988. Bernhard Wicki: Das Spinnennetz. Deutschland, 1989. Michael Haneke: Die Rebellion. Österreich, 1993. Axel Corti, Gernot Roll: Radetzkymarsch. Deutschland, Frankreich, Österreich, 1994.

Joseph Roth und der Film

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wurden zweimal verfilmt. Somit wurden dreizehn Stoffe verfilmt, zwölf davon erschienen als Einzelausgaben. Bedenkt man, dass 12 von 19 in Einzelausgaben mit (meiner Ansicht nach verfilmbaren) Stoffen sowie eine Novelle filmisch umgesetzt wurden, so kann man sicher von einem postumen Erfolg sprechen, der nicht zuletzt seiner filmischen Schreibweise geschuldet ist.40

40 Dazu: Thomas Koebner: Filmische Schreibweise bei Joseph Roth. In: Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin: De Gruyter 2012, S. 227–240.

(De-)Formationen des Körpers in den Berliner Feuilletons Joseph Roths Katarzyna Jaśtal 1.

Feuilleton und die Kunst der Physiognomik

In der Einleitung zu dem Band Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918–1933 stellt Hans Ulrich Gumbrecht fest, dass die Menschen des im Buch anvisierten Zeitraums „mehr von ihrem Körper besessen waren als irgendeine Generation vor oder nach ihnen in der westlichen Kultur“.1 Über die besondere Rolle des Körpers für die Texte der Kultur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entschieden vielfache Modernisierungsprozesse, nicht zuletzt das an Relevanz gewinnende Großstadtleben, neue Massenbewegungen und die als Folge der industriellen Fließbandproduktion entstandene Arbeitsphysiologie, die am prekären Konzept der strukturellen Kopplung des Körpers an die Maschine fortschrieb. Während die genannten Erscheinungen eine Neuordnung des Körperverständnisses begründeten,2 lieferte die Entwicklung der neuen Medien – der Fotografie und des Films – wichtige Anstöße zur Befragung der Darstellungsmodi und Inszenierungsmöglichkeiten des Körpers sowohl in den bildenden Künsten und Literatur als auch in dem zwischen Literatur und Berichterstattung angesiedelten Bereich der publizistischen „kleinen Formen“, zu dessen wichtigsten Exponenten Joseph Roth gerechnet wird. Die publizistischen Texte Roths, denen er seine Bekanntheit unter den Zeitgenoss*innen verdankte, waren nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten und sind – wenn auch unvollständig – vor allem dank editorischer Bemühungen Klaus Westermanns,3 der sie als „stilistisch wie inhaltlich eigenständige und unabhängige Leistungen anerkannte“,4 wieder bekannt geworden. 1 Hans Ulrich Gumbrecht: Vorwort: Protokoll einer Rettung. In: Michael Cowan, Kai Marcel Sicks (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper und Kunst in den Massenmedien 1918–1933. Bielefeld: transcript 2005, S. 9–12, hier S. 9. 2 Vgl. Iulia Dondorici: Den Körper schreiben – Poetiken des Körpers in der Prosa der rumänischen Moderne. Berlin: Frank & Timme 2017, S. 13. 3 Vgl. Irmgard Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen: das Feuilleton der zwanziger Jahre und „Die Geschichte von 1002. Nacht“ im historischen Kontext. Berlin: Erich Schmidt 1997, S. 17. 4 „Es wäre falsch“ – schreibt Westermann im oben zitierten Kontext – „sie als Fingerübungen und Stilschule für die großen erzählenden Schriften zu betrachten oder sie als zweitklassig

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_008

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Der beträchtliche Umfang der drei einschlägigen Bände der Werkausgabe5 verwundert nicht, denn die journalistische Tätigkeit Roths war vielfältig und intensiv. Sie begann mit der Mitarbeit an einer Frontzeitung. Nach dem 1. Weltkrieg schrieb der Autor Berichte und Feuilletons für die Wiener Zeitschriften Der Abend, Der Friede und Der neue Tag, bis er 1920 nach Berlin ging, wo er u.a. für Vorwärts, Berliner Börsencourier und letztendlich für die international renommierte Frankfurter Zeitung als Feuilletonist arbeitete. Während der Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen verfasste er über 1300 publizistische Texte.6 Die zeitgenössische Popularität Roths als Journalist blieb nicht zuletzt den hohen ästhetischen Ansprüchen des Autors geschuldet, der sein journalistisches Selbstverständnis in dem vielzitierten Brief an den für die Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung zuständigen Benno Reifenberg folgendermaßen formulierte: Man kann Feuilletons nicht mit der linken Hand schreiben. Man darf nicht nebenbei Feuilletons schreiben. Es ist eine arge Unterschätzung des ganzen Fachs. Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig, wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. […] Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit. Man möge doch endlich aufhören, zu glauben, daß ein noch so kluger Aufsatz über die Lage in Locarno den Leser fesselt und den Abonnenten gewinnt. […] Mich liest man mit Interesse. […] Aber der Verlag glaubt, der Roth ist ein nebensächlicher Plauderer, den sich eine große Zeitung gerade noch leisten kann. Es ist sachlich falsch. Ich mache keine „witzigen Glossen“. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung. Ich bin ein Journalist, kein Berichterstatter, ich bin ein Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.7

Mit der Deklaration geht Roth implizit auf die traditionelle Kritik des Feuilletons als eines genre mineur ein, indem er auf die u.a. von Karl Kraus einzustufen.“ Klaus Westermann: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915–1939. Bonn: Bouvier 1987, S. 7. 5 Westermann edierte die journalistischen Arbeiten Roths im Rahmen der Gesamtausgabe der Werke, die er mit Fritz Hackert vorbereitete. Es sind: Joseph Roth: Werke. Bd.  1: Das journalistische Werk 1915–1923. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989; Joseph Roth: Werke. Bd.  2: Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990; Joseph Roth: Werke. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991. 6 K. Westermann: Joseph Roth, Journalist, S. 7. 7 Joseph Roth: Brief an Bruno Reifenberg vom 22.04.1926. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S.  87f. Zu Roths Verteidigung des Genre „Feuilleton“ gegen bürgerliche und antibürgerliche Kritik vgl. Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen: Max Niemeyer 1998, S. 28–30.

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unter dem Stichwort „Feuilletonismus“ bemängelten Charakteristika der Belanglosigkeit, mangelnden Seriosität, Oberflächlichkeit der Darstellung und stilistischen Freizügigkeit verweist.8 Vor dieser Folie wehrt sich der Autor gegen die Abwertung seiner Beiträge als eine Nebensächlichkeit und besteht auf dem Eigenwert der publizistischen Tätigkeit, die nicht nach dem Maßstab der faktenorientierten Berichterstattung gemessen werden dürfe. Roth unterstreicht seine Selbstdefinition als ein mit literarischen Mitteln arbeitender Chronist der Zeitgeschichte9 mit einer Körpermetapher, indem er die Beschreibung des „Gesichts der Zeit“ als sein Hauptanliegen identifiziert. Mit dem bereits in seinem frühen Texten bekundeten Interesse am Antlitz der Zeit10 definierte sich Roth nicht als Porträtzeichner, der mit den aufgezeichneten Details das Äußere der Porträtierten abzubilden versucht, sondern als „Physiognomiker“, womit er auf einen Modus des Erkennens, Deutens und Beschreibens verwies, bei dem die Erfassung der visuellen Merkmale der (Körper-)Oberfläche die inneren Zusammenhänge erklären lässt. Mit dieser Präferenz schrieb er sich in die u.a. von Helmuth Lethen und Claudia Schmölders11 für die Zwischenkriegszeit beschriebene Konjunktur der physiognomischen Lehre ein, die sowohl als eine kompensatorische Antwort auf die In-Frage-Stellung des Individuums durch die Anonymität des Großstadtlebens, das Phänomen der Masse und die Konfrontation mit den im Krieg versehrten und entstellten Körpern und Gesichtern als auch als ein Resultat der Begegnung mit den neuen Medien und der damit einhergehenden Aufwertung des Visuellen gedeutet wird. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wird der Gegenstandsbereich der Physiognomik zweifach definiert: Zum einen wird das 8 Vgl. Hildegard Kernmayer: Zur Frage: Was ist ein Feuilleton? In: Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.): Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur. Bielefeld: transcript 2017, S. 51–66, hier S. 59. 9 Vgl. die treffende Interpretation der Stelle bei Elke Rautenstrauch: Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik: Zur Kulturkritik in den Kurzessays von Joseph Roth, Bernard von Brentano und Siegfried Krakauer. Bielefeld: transcript 2016, S. 20: „Einerseits erstellte das Feuilleton die Zeitdiagnosen, andererseits versuchte es mittels poetischer Figurationen gestaltend Einfluss auf kulturelle Entwicklungen zu nehmen.“ 10 Der Titel des mit „Josephus“ unterschriebenen Feuilletons für Der Neue Tag vom 1.01.1920. Hier nach: J. Roth: Werke. Bd. 1: Das journalistische Werk 1915–1923. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 213–215, hier S. 213. 11 Vgl. Helmuth Lethen: Neusachliche Physiognomik. Gegen der Schrecken der ungewissen Zeichen. In: Der Deutschunterricht, 50 Jg. (1997), Heft 2, S. 6–19. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin: de Gruyter 2007, hier S. 32–33. Vgl. auch Martin Blankenburg: Der Seele auf den Leib gerückt. Die Physiognomik im Streit der Fakultäten. In: Claudia Schmölders, Sander  L.  Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln: DuMont 2000, S. 280–301, hier 282f.

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seit der Antike entwickelte Modell der Körperlektüre fortgesetzt, die anhand der in diversen Regelbüchern erfassten Zeichen der (Körper-)Oberfläche, insbesondere der Merkmale des Gesichts, auf den Charakter bzw. das Temperament eines Menschen schließt. Zum anderen funktioniert die „Physiognomie“ als kulturelles Deutungsschema, bei dem aufgrund von „Oberflächenerscheinungen“, z.B. den materiellen Spezifika einer Stadt, Landschaft oder Epoche, auf ihren geistigen, kulturellen, gesellschaftlichen bzw. politischen „Charakter“ geschlossen wird.12 Die Funktionalisierung der Physiognomik gilt als ein Merkmal, das Roths Werk seit der frühen Prosa prägte und erst in den 1930er Jahren nachließ.13 Dabei wird allerdings vor allem die Affinität des Autors zu der PhysiognomikStrömung erfasst, die auf die Beschreibung des individuellen Charakters abzielte. Die Arbeit von Elke Rautenstrauch, die der „Physiognomik des urbanen Raumes“ in Roths Publizistik nachgeht, konzentriert sich auf ausgewählte Architekturessays und stellt sie mit den publizistischen Großstadtvermessungen Bernard von Brentanos und Siegfried Krakauers zusammen.14 Diese Perspektive möchte der vorliegende Beitrag ergänzen, indem er sich der Frage zuwendet, welche Rolle in den an der Erfassung der urbanen Charakteristika der Epoche orientierten publizistischen Texten Roths einem der zentralen Themen der Zeit – dem Körper – zufällt.15 Da es angesichts des 12

Die keineswegs homogene kulturphysiognomische Strömung schloss ideologisch unvereinbare Positionen ein. Ihren Ort fanden darin sowohl die am Bestreben zur Erfassung der gesellschaftlichen Strukturen orientierte „materialistische Physiognomik“ der Gegenwart Walter Benjamins als auch das historisch orientierte kulturmorphologische Projekt Oswald Spenglers: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Vgl. Daniela Bohde: Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft: Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre. Berlin: Akademie Verlag 2012, S. 29–32. 13 Auf die Bedeutung des physiognomischen Diskurses für Joseph Roth verwies zuerst die Arbeit von Fritz Hackert: Kulturpessimismus und Erzählform. Studien zum Leben und Werk. Bern 1967 (Diss.). Hier folge ich Ulrike Steierwald: Leiden an der Geschichte – zur Geschichtsauffassung der Moderne in den Texten Joseph Roths. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994, S. 126–129. 14 E. Rautenstrauch: Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, S. 21. 15 Entsprechend der in Zusammenhang des spatial turn der Kulturwissenschaften formulierten These der Dominanz des Räumlichen bei Roth (vgl. Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: C.H.  Beck 1989, S.  51–67; Wiebke Amthor, Hans  R.  Brittnacher: Wunder der Zeichen. Zur Einführung in diesen Band. In: W.  Amthor, H.  R.  Brittnacher [Hg.]: Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin: de Gruyter 2012, S. 1–16, hier S. 4.) nimmt in der Roth-Forschung die Thematik des Raumes eine dominante Stelle ein. Dem Thema des Körpers kommt viel weniger Aufmerksamkeit zu. Eine Ausnahmestellung in dieser Hinsicht nehmen die Publikationen von John Hughes und Irmgard Wirtz ein. Während Hughes unter Rückgriff auf Foucault und Theweleit die von Roth thematisierten Disziplinierungsmechanismen des männlichen Körpers untersucht

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Umfangs des journalistischen Werkkorpus des Autors und der Heterogenität der Einzelsujets unmöglich erscheint, diese Fragestellung ganzheitlich zu erfassen, entschied ich mich, sie im Rahmen einer textnahen Lektüre von zwei thematisch affinen Feuilletons anzugehen, die Roth dem in der Zwischenkriegszeit virulenten Thema der Werbung und der Metropole Berlin widmete. Das erste, Mensch aus Pappkarton, am 10. Februar 1924 in Vorwärts publiziert, thematisiert den männlichen, das zweite, Konfektionserotik, veröffentlicht am 17. April 1930 im Literarischen Anzeigeblatt, den weiblichen Körper. Als einen wichtigen Referenztext möchte ich die bisher in der RothForschung selten berücksichtigte Publikation Das Menschengesicht (1929) des konservativen Schweizer Kulturphilosophen Max Picard nennen und somit auf einen Bestseller verweisen, der in den 1930er Jahren nicht nur Siegfried Krakauer und Karl Wolfskehl,16 sondern auch Joseph Roth begeisterte. In seiner Buchbesprechung freute er sich ausdrücklich, darin „nicht ein Gefundenes, sondern ein Wiedergefundenes, lange Vermißtes“17 begrüßen zu können. Seine journalistischen Texte, wie u.a. das Feuilleton Der Mensch aus Pappkarton antizipieren tatsächlich Picards Konzepte. Als Rezensent hob Roth insbesondere seine Affinität zur Hauptidee Picards hervor, der auf den theologischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit zurückgriff, um sich mit diesem metaphysisch begründeten Anspruch auf die Würde des Menschen als Gottes Abbild in die Debatte über das Verschwinden des Subjekts in der Moderne einzuschreiben. Die Charakteristika der Gegenwart, d.i. das „Eilige, Provisorische, Verschwindende“18 vernichten die „Monumentalität“19 des Gesichts bei den Zeitgenoss*innen, meint Picard. So erstarren die authentischen Gesichter, in denen sich einst das Bild Gottes in (vgl. John Hughes: Facing Modernity. Fragmentation, Culture and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920’s. London: Maney Publishing 2006, S.  62–92), berücksichtigt Wirtz vor allem Roths Körpermetaphern. Vgl. I.  Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S.  95–97. Einen aufschlussreichen Beitrag in dem genannten Zusammenhang schrieb Isabela dos Santos: Zur „Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens in Weibliche“ und zu anderen weiblichen Erscheinungen bei Joseph Roth. In: Mira Miladinovic Zalaznik, Johann Georg Lughofer (Hg.): Joseph Roth: Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist. Berlin, Boston: de Gruyter 2011, S. 129–142. Das Hauptanliegen der Autorin ist die Relativierung von stereotypisierten Meinungen der Forscher über die Frauen in Roths Werk. Bei dieser Gelegenheit setzt sie sich kenntnisreich mit dem Hygiene- und Sportdiskurs der Weimarer Republik auseinander. 16 Claudia Schmölders: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biografie. München: C.H. Beck 2000, S. 99. 17 Joseph Roth: Das Menschengesicht. In: J. Roth: Werke, Bd. 3, S. 146–148, hier S. 147. 18 Max Picard: Das Menschengesicht. Erlenbach, Zürich: Verlag Eugen Rentsch 1947, S. 147. 19 Ebd.

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einer jeweilig individuellen Ausprägung widerspiegelte, zu uniformen Masken. Picard extrapoliert seine Thesen punktuell auf den gesamten Körper, als er mit einer für seine Ausführungen charakteristischen „homiletischen Emphase“20 die Phänomene der Atomisierung und Fragmentierung der modernen Gesellschaft kritisiert, die die zeitgenössische Wahrnehmung des Gesichts und des Körpers unheilvoll steuern: In den Epochen, wo der Mensch zerteilt und zerstreut bleiben will – […] scheut sich der Mensch, das Menschengesicht zu beachten. Man will nicht an das ganze Wesen erinnert werden, man will sich nicht ganz haben, man will zerteilt sein und sich nicht stören lassen in der Zerteiltheit […].21

Dass Roth während seines Aufenthalts in Berlin, der Stadt der „phy­ siognomielosen Herdenmenschen“22 mit Picard die Überzeugung von der Notwendigkeit der Besinnung auf das Individuum teilte, dank der dieses „wiederhergestellt erscheint in seinen ursprünglichen Maßen und gedeutet in seinen Zielen“23 und seine Feuilletons als ein Medium betrachtete, in dem dieses möglich wird, soll im Folgenden gezeigt werden. 2.

Entstellung und Verschwinden des Leibs im Feuilleton Der Mensch aus Pappkarton

Das Feuilleton Der Mensch aus Pappkarton bezieht sich auf eine Variante der Werbung, bei der sich ein als „mobiler Werbeträger“ bezeichneter Mensch mit jeweils einem verstärkten Plakat auf der Brust und auf dem Rücken durch stark frequentierte Gebiete bewegt.24 Roths Text beginnt mit den Worten:

20 Claudia Schmölders erfasst adäquat den Stil der kulturpessimistisch orientierten physiognomischen Arbeiten Picards, indem sie von einem „eigentümlichen Amalgam, einer Art panoptischer Homiletik am menschlichen Körper entlang“ spricht. Dieser Stil kennzeichnet übrigens auch die Ausführungen eines anderen bekannten „Physiognomikers“ der hier anvisierten Zeit, des mit Picard befreundeten Kulturphilosophen Rudolf Kassners. Vgl. C. Schmölders: Hitlers Gesicht, S. 64. 21 M. Picard: Das Menschengesicht, S. 11. 22 J.  Roth: Berliner Bilderbuch. In: Joseph Roth: Werke: Bd.  2: Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 92–129, hier S. 119. 23 Vgl. J. Roth: Das Menschengesicht, S. 148. 24 Vgl. Eintrag „Sandwich-Man“ https://de.wikipedia.org/wiki/Sandwich-Man (Stand: 30.06.2020). Im vorliegenden Text wird die von Roth gebrauchte Schreibweise „Sandwichman“ verwendet.

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Ein Mensch aus Pappkarton ging durch die Straßen. Seine Schultern, sein Rücken, seine Brust und sein Unterleib waren aus Pappe. Nur seine Füße sah man. Statt des Kopfes saß auf dem papiernen Oberkörper des Menschen ein Würfel aus hartem Papier. Die Vorderseite dieses Würfels bildete sozusagen das Angesicht des Menschen. Es war ein sehr primitives Angesicht: zwei viereckige Löcher stellten die Augen dazu, die dreieckige Öffnung vermittelte den Eindruck einer Nase. Er ging mit langsamen Schritten, in einem mechanischen Gleichmaß. Er hatte keinen Mund und keine Ohren. Er hatte es offenbar nicht nötig zu essen und zu hören. Seine Aufgabe war: gehen, gehen, gehen.25

Abb. 7.1 Ein Sandwich-Man von heute: Werbung für Torture Museum Amsterdam.26

Im Zentrum des Feuilletons steht ein nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus hartem Pappkarton bestehender Körper, dessen Form in geometrische Figuren 25 Joseph Roth: Der Mensch aus Pappkarton. In: J. Roth: Werke, Bd. 2, S.46–48, hier S. 46. 26 Für die Erlaubnis, das Bild abzudrucken danke ich Lionell Schuring, der das Konzept zusammen mit Theo Korf 2006 für Advertising Agency Y&R erarbeitet hat. https:// themuseumwow.wordpress.com/2012/02/13/the-torture-museum-guerrilla-marketingsandwich-man-amsterdam/ (Stand: 30.6.2020).

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eingezeichnet wurde. Die Stelle des Kopfes nimmt ein Würfel ein. Seine quadratische Seitenfläche funktioniert als ein „primitives“ Gesicht. An Stelle der Augen sind zwei Vierecke zu sehen, während ein Dreieck die Nase vertritt. Werden in der definierten Physiognomie die Organe des Seh- und Geruchsinns zumindest angedeutet, so sind die Organe, die der Lebenserhaltung durch Nahrungsaufnahme und dem Austausch mit der Umwelt durch Erfassen der Rede und Selbstausdruck dienen, nicht vorhanden. Nur zwei „in zerrissenen Stiefeln steckende[n] Füße“27 verraten, dass es sich um einen lebendigen Menschen handelt, der für ein Prestigeobjekt der Oberschicht, wie es ein Auto in den ersten Jahren nach dem 1. Weltkrieg darstellte, wirbt. Der reduzierte, deformierte und fragmentierte Leib erscheint nicht nur desensibilisiert, sondern auch dehumanisiert. Der merkwürdige Zwitterstatus der Erscheinung wird akzentuiert durch die Bezeichnungen „wandernde Litfaßsäule“28, „das lebendige Plakat“29 und den Kommentar: „und wie er so regelmäßig Schritt für Schritt auf den Asphalt trat, war es, als würde er von einem Räderwerk betrieben“30. Der Text stellt den grotesken Charakter des Leibs heraus, indem er auf eine unheimliche Vermischung des realiter Unvereinbaren, d.i. der Elemente des Organischen und Anorganischen, des Belebten und Unbelebten, ferner: der anthropo-und technomorphen Formen verweist.31 Roth exponiert stark die Fremdbestimmung dieses Körpers, als er auf den Inhalt der einschlägigen Werbung mit den Worten verweist: Als wäre der papierne Leib ein Witz über seine eigene Tätigkeit und als würde sich die Haut aus Pappendeckel einen höhnischen Spott […] erlauben, war sie an der Vorder- und an der Rückseite bemalt, gewissermaßen tätowiert: Die Tätowierung bestand aus einem großen, fast die ganze Vorderseite einnehmenden Automobil und der Überschrift: „Fix-Fix, das schnellste Auto der Welt“.32

Die Bezeichnung der bebilderten Werbeinschrift als einer Form der Tätowierung erfüllt drei Funktionen: Erstens verstärkt sie die Kohärenz des literarischen Bildes, zweitens deutet sie die Instrumentalisierung des anvisierten Körpers als eines Kommunikationsmediums an und drittens verweist sie auf den Grad seiner Vereinnahmung. Bei diesem letzteren Kontext 27 28 29 30 31

J. Roth: Der Mensch aus Pappkarton, S. 46. Ebd., S. 47. Ebd. Ebd. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in der Malerei und Dichtung. Oldenburg, Hamburg: Gerhard Stalling Verlag 1957, S. 96–98. 32 J. Roth: Der Mensch aus Pappkarton, S. 46f.

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erscheint es aufschlussreich zu wissen, dass zu den primären Funktionen der Tätowierung die Eigentumsmarkierung eines Sklaven gehörte.33 Die Suggestion der Permanenz der fremden Einschreibung in den Kartonkörper lässt folgende grundsätzliche Frage des Autors berechtigt erscheinen: Konnte einer, der kein Gesicht mehr besaß, keinen Körper, und dem man nur die Füße belassen hatte, weil sie augenblicklich von der Fix-Fix-Fabrik gebraucht worden waren, ein Herz besitzen, das müde wurde und den Takt verlangsamte? Widersprach es nicht den Interessen der Firma? Wenn es gelungen war, ein Ebenbild Gottes so zu verwandeln, daß Gott selbst, wenn er es zufällig erblickte, glauben mußte, er hätte eine Fix-Fix-Reklame auf seinem ewigen Antlitz – gelang es nicht auch, diesem angestellten Wesen einen unermüdlichen Mechanismus statt des menschlichen Herzens einzusetzen?34

Der (auf den ersten Blick nicht unironische) metaphysische Bezug auf die Schöpfungsgeschichte scheint die von Picard geäußerte These vorwegzunehmen, der zufolge die moderne urbane Kultur mit ihren Erscheinungen ein Ort des entwürdigenden Gesichts- und somit auch des Subjektverlustes darstellt. Der sprechende Name der Automobilfabrik Fix-Fix ist fiktiv. Es lässt sich nicht entscheiden, ob das von Roth entworfene Bild des fragmentierten und geometrisierten Körpers von einem realen Entwurf der zeitgenössischen Entwicklungen der Kunstszene inspiriert war: um 1920, also zur Zeit der Entstehung des Feuilletons war Berlin ein Zentrum des Kubismus.35 Roths Figuration entspricht auf jeden Fall den Prinzipien der zielgruppenspezifisch und vom Charakter eines Produkts abgeleiteten Werbegestaltung in der Weimarer Republik: Gab sich die damalige Zigarettenwerbung gediegen und die Alkoholwerbung oft altdeutsch und rustikal aus, so bot sich die

33 Vgl. Michael Zeuske: Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen: Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum. Berlin, Boston: de Gruyter 2015, S. 71. 34 J. Roth: Der Mensch aus Pappkarton, S. 47. 35 Die Abstraktion, Geometrisierung des menschlichen Körpers durch Kostüme und die Orientierung seiner Bewegungen an Maschinen spielte eine wichtige Rolle im futuristischen Theater in Europa. Enrico Prampolini veröffentlichte das Manifesto dell’arte meccanica 1923. Ivo Pannaggi und Vinicio Paladini 1922 brachten in Rom einen Ballo meccanico futurista zur Aufführung. Derartige Experimente situierten sich in Deutschland im Kontext des Bauhaustheaters. Zu nennen wären hier insbesondere Das triadische Ballett (Uraufführung 1922) Oskar Schlemmers und Das mechanische Ballett (Uraufführung 1923) Kurt Schmidts. Vgl. Dorothea Krimm: Musikalisches Theater in Europa des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 2014 (Diss.). Für den Hinweis auf den breiteren theatergeschichtlichen Kontext sei Prof. Artur Pełka herzlich gedankt.

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Automobilwerbung meist futuristisch dar.36 In Bezug auf die Figurendarstellung weist die letztere Ästhetik eine Affinität zu geometrischen Formen auf. Aufschlussreich erscheint, dass Roth am Ende des Textes die im Verschwinden des lebendigen Körpers mündende Transformation des Menschen zur Maschine zurücknimmt, indem er schreibt: [G]elang es nicht auch, diesem angestellten Wesen einen unermüdlichen Mechanismus statt des menschlichen Herzens einzusetzen? Nein, es gelang nicht! Denn am Nachmittag, um die zweite Stunde, sah ich das Wunderbare: Der Mann blieb stehen, legte zuerst seinen vorderen Teil ab und dann seinen Rücken, dann köpfte er sich selbst, stellte sein eigenes Ich vor sich auf den mit Recht so genannten „Bürgersteig“ und setzte sich als ein ganz anderer, als ein gewöhnlicher, zweibeiniger Mensch auf eine Schwelle. Niemand wunderte sich darüber, daß ein Mensch aus hartem Papier wieder einer aus Fleisch und Blut wurde.37

Das Bedrohliche des ersten Textteils wird somit partiell zurückgenommen: Trotz der Signale, die zunächst auf Permanenz der Deformation und Dehumanisierung deuten, erweist sich die Vereinnahmung des Subjekts für die Werbung vorübergehend, denn der „mobile Werbeträger“ wird als eine liminale Figur markiert. Mit dem Seitenblick auf die Schwelle, auf der sich der unterbezahlte Sandwichman38 vorübergehend ausruhen und „zu sich“ kommen darf, wird allerdings das nochmalige Umkippen der Verhältnisse und die baldige Rückkehr des Körpers zum fremdbestimmten grotesken Zustand angedeutet. Relevant erscheint dabei, dass der „Gefühlssozialist“39 Roth den Körper als Pappkarton als ein steifes Kostüm bezeichnet, das nach dem Ende des Arbeitstages demontiert und abgelegt werden darf. Damit wird die Entfremdung der Figur als ein temporäres Zugeständnis an die ökonomische Notwendigkeit markiert.

36 Alexander Schug: „Deutsche Kultur“ und Werbung Studien zur Geschichte der Wirtschaftswerbung von 1918 bis 1945 (Diss.) abrufbar unter: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:kobv:11-100110941, S. 272. (Stand: 30.06.2020). 37 J. Roth: Der Mensch aus Pappkarton, S. 47f. 38 Den Namen „Sandwichman“ erklärt Roth folgendermaßen „Man errät leicht, daß der Mensch, von dem ich erzähle, einer jener Männer war, die den unlogischen und mit ihren Einnahmen in Widerspruch stehenden Namen ‚Sandwichman‘ führen.“ Ebd. 39 Den unscharfen Begriff des „Gefühlssozialismus“ entnehme ich der Arbeit Westermanns. Vgl. K. Westermann: Joseph Roth, Journalist, S. 108.

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3.

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Sex sells – Fragmentierung und Sexualisierung des Körpers als Ware – Konfektionserotik

Einen weiteren Aspekt der deformierenden Vereinnahmung des menschlichen Körpers durch die Werbung veranschaulicht das Feuilleton Konfektionserotik, in dem Erotik, das Phänomen der seriellen Produktion und Kommerz zusammengeführt werden. Den Titel erläutert Roth folgendermaßen: Die Konfektionserotik besteht in dem mißverstandenen Zweck verschiedener Gliedmaßen und Körperteile des menschlichen beziehungsweise des weiblichen Körpers. Die Brust ist für Büstenhalter da, die Beine für Seidenstrümpfe, die Lippen für Schminkstifte, die Wangen für Schminke und Puder, das Haar für bestimmte Frisuren […], die Zähne für Zahnpulver und so weiter. Ursprünglich war es anders. In alten Zeiten waren die oben angeführten Gegenstände für die oben angeführten Körperteile da. Aber in dem Maß, in dem sich allmählich die Natur der Industrie auszuliefern begann, […] fingen die sogenannten „Schönheitsmittel“ an, sich die Schönheit zu unterjochen, unter dem Vorwand, diese „zur Geltung zu bringen“.40

Obwohl in der Werbung der Weimarer Republik auch der männliche Körper erotisiert wurde, erfolgte dies seltener als im Falle des weiblichen Körpers.41 Der für die Werbebranche bis heute typischen geschlechtsspezifischen Stereotypisierung trägt Roths Feuilleton bereits 1930 Rechnung. Aufgebaut auf der Oppositionsreihe einst/jetzt, Natur/Industrie, Wahrheit/Illusion führt sein Text die Strategie der Fragmentierung des weiblichen Körpers vor, die der Autor als ein Kennzeichen der Werbung festlegt. Der weibliche Leib funktioniere darin nicht als eine Ganzheit, sondern als eine Reihe von erotisch besetzten verselbständigten Körperteilen. Diesem fragmentierenden Darbietungsprinzip entspricht auch die im Feuilleton vorgenommene Aufzählung. Die Einbindung des Körpers in den kommerziellen Umlauf resultiere laut Roth nicht nur in seiner Fragmentierung, sondern auch in der grotesken Umkehrung der „naturgegebenen“ Zuordnung zwischen einem Körperteil und dem entsprechenden Teil der Bekleidung bzw. dem entsprechenden Hygiene- bzw. Schönheitspflegemittel. Die paradoxe Logik des Werbebetriebs führt zu Fremdbestimmung des Körpers:

40

41

Joseph Roth: Konfektionserotik. In: J. Roth: Werke, Bd 3, S. 205–208, hier S. 205. Die von Roth vorgenommene ironische Unterscheidung zwischen dem „menschlichen beziehungsweise dem weiblichen Körper“ trägt heute offensichtlich nicht mehr zu jenem komischen Effekt bei, auf den sie 1930 wohl abzielte. A. Schug: „Deutsche Kultur“, S. 23.

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Katarzyna Jaśtal Und der Trick der Reklame, der darin besteht, die erotische Wirkung einer Wade aus Wachs in den Dienst der Propaganda für die Fabrikate des Hauses zu stellen, ertötet allmählich den Reiz einer lebendigen Wade. Die Häufigkeit amputierter Frauenbeine in den Schaufenstern schafft allmählich die Anlage zu einer optischen Täuschung, der zufolge ein lebendiges Bein mit einem wächsernen verwechselt werden kann. Eine Firma zum Beispiel, die Strümpfe erzeugt, hat gelegentlich die Gewohnheit, die Beine lebendiger, authentischer, mit Namen und Wohnort genannter Damen für die Inserate in den Zeitungen zu photographieren. Wir sagen absichtlich: die Beine. Das Gesicht kam nur der Authentizität halber auf die Platte mit.42

In dem 1930 veröffentlichten Feuilleton operiert Roth mit jener Gegenüberstellung von Original und Kopie im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit, die 1938 für seinen Leviathan konstitutiv werden sollte. Die anschauliche Darstellung verdankt ihre Komik der Hyperbolisierung und einer paradoxen Assoziation, die den Autor das erotisierte Motiv des Frauenbeines in den drastischen Zusammenhang des „Ertötens“ und der Amputation bringen lässt. Bedenkt man Roths Beiträge über die Körperversehrungen des Ersten Weltkrieges, die er u.a. in einem seiner wohl bewegendsten Texte, dem am 31. August  1920 in der Neuen Berliner Zeitung unter dem Titel erschienenen Fratze der Großen Zeit als eine mögliche Folie der zitierten Passage reflektierte, wird das Prekäre des genannten Zusammenhangs für den Autor und die zeitgenössischen Leser*innen besonders deutlich.43 Dem Verschwinden des Körpers und des Subjekts arbeitet der Beitrag des Autors entgegen, indem er auf die mitzudenkenden verschwundenen übrigen Teile des Leibs und das verlorengegangene Gesicht verweist, womit die verschwundene Ganzheit implizit aufgerufen wird. Roth behauptet, dass selbst dieses gelegentlich aufgerufene Gesicht dem ökonomischen Kalkül dienen soll: Gewinnt die Werbung damit an Authentizität, so kann sie mehr Käufer locken.44 Roths Unbehagen an der Werbung bezieht sich nicht nur auf die erotisierenden Bilder, sondern auch auf ebensolche Wortpraxis, macht er doch seine Leser*innen auf die schwüle Lexik der Vermarktungsstrategien aufmerksam, die den Eindruck erwecken möchten, dass eine Dame die „blendende, 42 J. Roth: Konfektionserotik, S. 206. 43 Vgl. Joseph Roth: Die Fratze der Großen Zeit. In: J.  Roth: Werke, Bd.  1, S.  351–352. Das Feuilleton widmet sich „Menschen, die Gott nach seinem Ebenbilde schuf und die dann der Krieg nach seinem Ebenbild umarbeitete“. Ebd., S. 351. 44 „Eine lebendige, dokumentarisch bestätigte Persönlichkeit hat also, um jener inserierten Photographie zu glauben – und die inserierte Photographie ist die einzige öffentliche Manifestation der im Übrigen privaten Persönlichkeit –, keinen anderen öffentlichen Zweck als: eine bestimmte Art von Strümpfen zu tragen und zu zeigen.“ J.  Roth: Konfektionserotik, S. 206.

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verführerische, geheimnisvolle Pracht ihrer Brüste“45 einer bestimmten Creme zu verdanken hat, während ihr „holdes Lächeln“ mit dem sie „die Männerherzen betört“46 der Wirkung einer Zahnpasta geschuldet bleibt.47 In einer Passage, die seine Hierarchie besonders deutlich artikuliert, schreibt Roth: Wenn aber private Menschen nur zu dem Zweck in die allerweiteste Öffentlichkeit treten, um die Qualitäten einer Ware zu bezeugen, ihren Körper als Propagandamittel für diese Ware verwenden, so wird das angepriesene Objekt wichtiger als der Körper, mächtiger, ebenso wie es wichtiger ist als das leblose Wachs.48

Um die Macht und die Wichtigkeit des Körpers zu verteidigen, richtet der Autor seine überaus aktuell klingende Anklage gegen „,die Versachlichungʽ des weiblichen Körpers, d.i. die einzige ,Schamlosigkeit, die es gibtʽ“.49 Als deutlich frustrierter Anwalt einer „beinahe vergessenen Erotik ohne Propagandawirkung“50 verschreibt sich Roth ausdrücklich der Aufgabe der Verteidigung des menschlichen Leibs vor dessen Instrumentalisierung als einer profitträchtigen sexuellen Ware. 4.

Schluss

Mit ihren Körperfigurationen transzendieren Roths Feuilletons die referentiellen Funktionen des Aufzeichnens und Kommentierens von Fakten. Der literarische Gestus, mit dem der Schriftsteller seine Texte vorwärts bringt, zielt auf groteske Deformation, Potenzierung und ironische Überspitzung. Die vom Autor verwendeten Selektions- und Konstruktionsmechanismen haben die Aufgabe, den Leser*innen durch präzise konstruierte literarische Figurationen einen aussagekräftigen Zugang zur Erschließung von sozialen Mechanismen zu verschaffen. Im Rahmen seiner physiognomischen Betrachtungen über die 45 Ebd., S. 207f. 46 Ebd., S. 208. 47 Roths Urteil über die Werbung ähnelt in vielerlei Hinsicht jenem von McLuhan. Insbesondere zwei Texte McLuhans würden sich hier als Vergleich bieten: Marshall McLuhan: Korsettierte Erfolgskurven. In: McLuhan: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Essay von Rainer Höltschl. Amsterdam: Verlag der Kunst 1996, S.  197 und M.  McLuhan: Die mechanische Braut. In: Ders.: Die mechanische Braut, S.  132–136. Für den Hinweis auf McLuhans Texte danke ich herzlich Prof. Gudrun Heidemann. 48 J. Roth: Konfektionserotik, S. 206. 49 Ebd., S. 207. 50 Ebd., S. 208.

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Instrumentalisierung der weiblichen und männlichen Körper in der Werbung beweist Roth mit literarischen Mitteln das Verschwinden des Körpers und somit auch der Individualität in der modernen Gesellschaft. Diese These ließe sich auch anhand weiterer Feuilletons illustrieren, vor allem anhand jener, in denen Roth die Versehrungen der männlichen Körper durch den Krieg thematisiert und jener, die sich dem Phänomen der Modellierung von idealen Körpern im Sport widmen. Daran, dass diese Texte stilistisch wie inhaltlich eigenständige und unabhängige Leistungen darstellen, die ihre Aktualität nicht verloren haben, hoffe ich dank dem Blick auf die hier analysierten Feuilletons zu erinnern.

Joseph Roths literarische Grandhotels. Hotel Savoy und Hotelwelt als Nicht-Orte der Gastlichkeit Bastian Lasse „[E]s gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann.“ Joseph Roth: Hotelwelt „Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.“ Marc Augé: Orte und Nicht-Orte

1.

Einladung

Imaginarien des Hotels reichen in den 1920er Jahren von Vicki Baums Erfolgsroman Menschen im Hotel über Siegfried Kracauers Feuilletons bis hin zu literarischen Texten namhafter Autoren wie Arthur Schnitzler, Thomas Mann und Stefan Zweig. Die Forschung hat das Hotel als einen etablierten Topos der Literatur der Zwischenkriegszeit herausgestellt:1 „As an alternative or counter project to the bourgeois home, the hotel becomes the residence of choice for the ‚transcendental homeless’”.2 Im Gegensatz zur transzendentalen Heimatlosigkeit schreibt sich Joseph Roth in diesen Diskurs ein, indem er dem Erzähler aus seiner Artikelserie Hotelwelt die Einkehr ins Hotel zu einer Heimkehr werden lässt.3 Der Hotelgast stilisiert sich als pater familias, der „[w]ie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind“ ins Hotel einzieht.4 Der Wechsel in der Modalität des Ankommens übereignet dem Hotel Qualitäten des Vaterhauses und anders als in den Hotelhallen Kracauers, in denen 1 Bettina Matthias: The Hotel as Setting in Early Twentieth-Century German and Austrian Literature: Checking in to Tell a Story. Rochester: Boydell & Brewer 2006; Marc Katz: The Hotel Kracauer. In: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 11 (1999), Heft 2, S. 134–152, hier S. 137. 2 Bettina Matthias: A Home Away from Home? The Hotel as Space of Emancipation in Early Twentieth-Century Austrian Bourgeois Literature. In: German Studies Review 27 (2004), Heft 2, S. 325–340, hier S. 326. 3 Joseph Roth: Hotelwelt. In: Joseph Roth: Werke. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 3–31, hier S. 3. 4 Ebd., S. 3.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_009

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Hotelgäste „hinter der peripheren Gleichheit gesellschaftlicher Larven verschwinden“5 und die „Isoliertheit anonymer Atome“6 annehmen, antizipiert die Erzählinstanz hier noch eine Begegnung. Gleichsam wird die Heimkehr als Zeremoniell bezeichnet, womit ein „förmliches“ Element insofern aufscheint, als dass auf eine Dimension sinnentleerter, rein repetitiver Interaktion angespielt wird. Zu welchem Zweck wird also die „häusliche Phantasmagorie“ (domestic phantasmagoria)7 aufgerufen, die nach der Meinung einiger Interpreten der Hotelliteratur dazu dient, der „kapitalistische[n] Grundgleichung, die dem Gast-Sein zugrunde liegt, durch […] Strategien des Heimischen und Familiären zu begegnen”?8 Das Zuhause ist die räumliche Grundkonstante einer gastlichen Theorie der Begegnung. Eine solche Theorie versucht sich in einer axiomatischen Beschreibung der Beziehung zwischen Gast und Gastgeber und beinhaltet die Idee einer „absoluten Gastfreundschaft“ (Derrida),9 die den Ankommenden als Anderen anerkennt. Im patriarchalen Herrschaftsraum werden die Gesetze der Gastfreundschaft jedoch vom „Familiendespot“ angeeignet. In diesem „phallogozentrische[n] Modell“ nutzt der „Vater“ seine Macht als Gastgeber zur Unterwerfung des Ankommenden, womit einer enthierarchisierten Begegnung unter der Schirmherrschaft absoluter Gastlichkeit die Existenzgrundlage entzogen wird.10 Das Hotel, wenn es denn als ‚Heim‘ die grundlegende Möglichkeit einer Begegnung noch ermöglicht, könnte in Roths Erzählwelten eine Befreiung von der Erblast der patriarchalen Usurpation der Gastlichkeit bedeuten. Stellte sich jedoch jener transitorische Ort auch bei Roth als durchkapitalisierter Raum dar, so wäre diese Hotelwelt möglicherweise als Präfiguration der Nicht-Orte der Übermoderne zu verstehen. Es ist nicht zufällig eine ‚gastliche‘ Metapher, in der Marc Augé beschreibt, wie die Nicht-Orte, und dazu zählt er die Hotels, die Begegnung unterbinden 5 6 7 8 9

10

Siegfried Kracauer: Die Hotelhalle. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 157–170, hier S. 166. Ebd., S. 167. M. Katz: The Hotel Kracauer, S. 148. Bettina Matthias: „Transzendental heimatlos“. Zum kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. In: Arcadia 40 (2005), Heft 1, S. 117–138, hier S. 127–128. Derridas Begrifflichkeit wird im Folgenden konfiguriert. Anstelle von Gastfreundschaft wird hier von Gastlichkeit gesprochen. Für die Problematik des Begriffes „Gastfreundschaft“ vgl. Meinolf Schumacher: Gast, Wirt und Wirtin. Konstellationen von Gastlichkeit in der Literatur des Mittelalters. In: Peter Friedrich, Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Heidelberg: Synchron Verlag 2009, S. 105–116, hier S. 107. Vgl. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Mit einer „Einladung“ von Anne Dufour­ mantelle. Wien: Passagen-Verlag 2015, S. 106.

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und in der Förderung solipsistischer Kommunikation mit Texten Einsamkeit produzieren.11 Die Kategorie der Begegnung im Kontext einer Theorie der Gastlichkeit macht Roths Texte demnach anschlussfähig für einen Diskurs, der temporale Exklusivität für sich beansprucht, obwohl dessen genealogische Vorformen bereits mit der Hotelliteratur assoziiert werden konnten.12 Machen wir uns auf die Suche nach den Relationen zwischen Gast, Gastgeber und Hotel in Roths literarischen Grandhotels, um die Beschaffenheit dieses „Mischorts“ genauer zu bestimmen.13 Dafür wollen wir zunächst begründen, wie Gastlichkeit Begegnung konzeptualisiert. Im Anschluss wird gezeigt, dass die gastliche Begegnung (literatur-)historisch betrachtet eng an den anthropologischen Ort des Zuhauses gebunden ist. Deren Umzug in die Roth’schen Grandhotels der 1920er eröffnet die oben angedeuteten Ambivalenzen eines Mischorts zwischen idealer Gastlichkeit und Präfiguration der Übermoderne. 2.

Gastlichkeit als eine Theorie der Begegnung

Gastlichkeit ist für Derrida eine Theorie der Begegnung mit dem Ankommenden, die zwischen zwei Polen changiert. Auf der einen Seite steht das Ideal einer bedingungslosen Aufnahme des Anderen in einem herrschaftsfreien Raum, der keine vorgängige Subjektivierung verlangt. Auf der anderen Seite findet sich die konkrete Ausgestaltung dieses Ideals, die sich vornehmlich als einhegender Empfang eines Fremden, der die eigene Ordnung bedroht, darstellt. Konkret gelebte Gastlichkeit kann demnach lediglich derjenige beanspruchen, der als Fremder identifiziert wird. Gastlichkeit wird als ‚Rechtsverhältnis‘ so auf vorgängig subjektivierte Individuen beschränkt. Der absolut Andere wird nach Derrida nicht so behandelt wie ein Gast.14 Diesem limitierenden Gastrecht steht die Idee einer absoluten Gastlichkeit gegenüber, die das Zuhause dem unbekannten Anderen öffnet und diesen aufnimmt.15 Die absolute 11

Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 130–131. 12 Augé verbindet das Auftreten der Nicht-Orte mit dem Anbruch der Übermoderne. Es ist bereits argumentiert worden, dass das Konzept historisiert werden kann. Vgl. Miriam Kanne: Provisorische und Transiträume: Raumerfahrung ‚Nicht-Ort‘. In: Dies. (Hg.): Provisorische und Transiträume. Berlin: Lit-Verlag 2013, S. 7–35, hier S. 24 und Imke Wiebke Heuer: Nicht-Ort Hotel – Hochstapler im Rausch der Verwandlung. In: ebd., S. 63–90, hier S. 63–70. 13 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd.  4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 228. 14 Vgl. J. Derrida: Gastfreundschaft, S. 25f. 15 Vgl. ebd., S. 27.

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Gastlichkeit erinnert an die archaische Praxis der xenía.16 Diese Konfiguration der Gastlichkeit, die jeden Ankommenden aufnimmt, ohne ihn nach seinem Namen zu fragen, eröffnet für Hans Dieter Bahr die Möglichkeit der Aufhebung von Differenzierungen und einer bedingungslosen Aufnahme des Gasts. Bahr schreibt: „In der Aussage ,Ich bin Gast‘ ist der Gast der ungegebene Dritte, ohne den die Differenz als Voraussetzung einer Selbstbestimmung undenkbar bliebe.“17 Nach Albrecht Koschorke stellen sich „Effekte des Dritten“ ein, wenn in einem binären System die Unterscheidung als solche zum Gegenstand wird. Ein Drittes ist hier der konstituierende Mechanismus binärer Codierungen, der die Positionen zuweist, aber die Stelle des Dritten unbesetzt lässt.18 In jeder binären Differenz lässt sich demnach ein PositionsDreieck ermitteln. Diese sind nach Koschorke unruhige Formationen, da die Positionskonstellationen umdeutbar sind.19 In diesem Kontext wird verstehbar, was Bahr meint, wenn er schreibt, „daß ein Gastgeber auch am eigenen Platz zum Gast seiner Gäste und umgekehrt ein Gast am Platz des anderen zu dessen Gastgeber wird […].“20 Bahr reflektiert in dieser Aussage die grundsätzliche Möglichkeit eines Rollentausches von Gast und Gastgeber, mithin die Aufhebung der Differenz von ‚eigen‘ und ‚fremd‘, die über die Relation von Gast und Gastgeber festgeschrieben werden soll. Der Gast kann demnach als eigentümliche Kippfigur beschrieben werden. Auf der einen Seite ermöglicht der Gast die diskursive Trennung von Eigenem und Fremdem und schafft dadurch erst die Grundbedingung einer Begegnung. Auf der anderen Seite präkarisiert er die Eindeutigkeit der Differenz, da über den möglichen Rollentausch die Grenzmarkierung durchbrochen werden kann. Diese Eigenschaft des Gastes, nicht auf gängigen Dichotomien zu basieren, nennt Bahr die Transversalität des Gastes.21 Damit verweist eine Theorie der Gastlichkeit für Bahr immer auf eine allgemeine Idee der Menschlichkeit.22 Diese Idee drückt Derrida, der ja zwischen absoluter und bedingter Gastlichkeit unterscheidet, als antinomisches Verhältnis aus. Während absolute Gastlichkeit einerseits als 16

Vgl. für den Begriff der xenía Evi Fountoulakis: Die Unruhe des Gastes. Zu einer Schwellenfigur in der Moderne. Freiburg: Rombach Verlag 2014, S. 157. 17 Hans-Dieter Bahr: Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig: Reclam 1994, S. 42. 18 Vgl. Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9–35, hier S. 11. 19 Vgl. ebd., S. 18. 20 H.-D. Bahr: Die Sprache des Gastes, S. 33. 21 Vgl. E. Fountoulakis: Unruhe, S. 14. 22 Vgl. ebd., S. 35.

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Regulativ über den bedingten Gesetzen der Gastlichkeit steht, wird sie andererseits durch diese Gesetze konkret gemacht, aber auch limitiert. Demnach stehen ein absolutes Gesetz und bedingte Gesetze der Gastlichkeit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis.23 3.

Gastlichkeit und anthropologische Orte

Die Szene der Gastlichkeit wird prototypisch als eine ikonische Einheit begrif­ fen, welche die idealtypische Vorstellung einer anthropologischen Grund­ situation des Empfangens darstellt.24 Diese Einheit lässt sich mit Ralf Simon als ein temporales Handlungsschema beschreiben, das die folgenden Kompo­ nenten umfasst: Anklopfen → Türöffnen → Blickkontakt → Begrüßung → Gast tritt über die Schwelle → Gast „gibt“ sich, indem er sich identifiziert und gegebenenfalls ein Gastgeschenk überreicht (die Gabe) → Gast wird bewirtet → Gast erzählt sein Herkommen.25

Die Begriffe „Anklopfen“, „Türöffnen“ und „Schwelle“ implizieren einen Gegenstand, der in der Theorie zur Gastlichkeit zumeist implizit bleibt und als gegeben gesetzt wird: das Zuhause. Folgen wir Simon, so lässt sich formulieren, dass ohne den anthropologischen Ort des Hauses keine Szene der Gastlichkeit ablaufen könnte. Das Zuhause scheint also ein Grundelement der ikonischen Einheit von Gastlichkeit zu sein. Betrachten wir eine der frühesten Gasterzählungen, die Geschichte von Philemon und Baucis aus Ovids Metamorphosen, so verstärkt sich dieser Eindruck:26

23 Vgl. J. Derrida: Gastfreundschaft, S. 60–63. 24 Ralf Simon: Ikononarratologie. In: Alexander Honold, Ralf Simon (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild. München: Fink 2010, S. 301–329, hier S. 322. 25 Ralf Simon: Erzähltheorie, Gastsemantik, Philosophie der Zeit (McTaggart). Ein Essay zu den Eigenzeiten der Erzählung mit Hinweisen zu Kleist, Raabe und Arno Schmidt. Hannover: Wehrhahn 2015, S. 11. 26 Für einen Überblick über die europäische Tradition von Gastnarrativen und eine Einordnung des Philemon-und-Baucis-Stoffes vgl. Peter Friedrich: Göttliche Einkehr. Rache und das Haus des Gastes von Ovid bis Goethe und Kleist. In: Thomas Ernst, Georg Mein (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. Eine Festschrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag. München: Fink 2016, S. 349–373.

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Bastian Lasse Jupiter kam hierher, wie ein Sterblicher, und mit dem Vater / Sein stabtragender Sohn Merkurius, ohne Gefieder. / Tausend Wohnungen nahn sie, um Obdach bittend und Ruhe; / Tausend Wohnungen sperret das Schloß: Ein Häuschen empfängt sie […].27

Es ist auffällig, dass in dieser Szene gar nicht von Gastgebern die Rede ist. In einer synekdochischen Verschiebung, die das Zuhause als die empfangende Instanz einsetzt, wird das Haus zum zentralen Element der gastlichen Szene: Es sind die „Wohnungen“, die den Göttern den Einlass verweigern und es ist schließlich ein „Häuschen“, das Obdach anbietet. Erst in einem zweiten Schritt treten die der Geschichte ihren Namen gebenden Gastgeber Philemon und Baucis auf. Die zentrale Stellung, die der Wohnung hier eingeräumt wird, wird im Verlauf der Geschichte noch ausgebaut. Als Lohn für die gewährte Bewirtung verwandeln die Götter die Hütte der Gastgeber in einen prachtvollen Tempel, während sie die ungastlichen Häuser in einer Sintflut vernichten: Sieh! die veraltete Hütte, zu klein auch zweien Bewohnern, / Wandelt zum Tempel sich um: für die Gaffeln ragt ein Gesäul auf: / Rötlich schimmert das Stroh, und wie Gold erscheinet der Giebel, / Bunt getrieben die Pfort’, und gedeckt der Boden mit Marmor.28

Die Stätte ihrer Bewirtung wird also zu einem prunkvollen Monument der Gastlichkeit erhoben. Die Bedeutung des Gebäudes wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sich Philemon und Baucis erbitten, den Tempel pflegen zu dürfen.29 Die Gastgeber stellen sich in den Dienst eines Gebäudes und scheinen in Relation zum Zuhause so eine sekundäre Funktion zu übernehmen. Letztlich verschwinden die Gastgeber Philemon und Baucis gänzlich. Nach der die Geschichte beschließenden Metamorphose überdauern die zwei Alten als Bäume, und der Tempel wird nicht mehr erwähnt.30 Somit scheint hier das von Derrida bestimmte Wechselverhältnis von konkreter und absoluter Gastlichkeit versinnbildlicht: in dem Moment, in dem die Möglichkeit gelebter Gastlichkeit durch das Verschwinden der Gastgeber entzogen wird, verliert sich auch die Existenz der monumental manifestierten Gastlichkeit, die ja zu Ehren der abstrakten Idee in die Existenz gehoben worden ist. Die prominente Rolle, die der anthropologische Ort ‚Zuhause‘ in der Szene der Gastlichkeit 27 28 29 30

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Mit den Radierungen von Pablo Picasso und einem Nachwort von Bernhard Kytzler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 207. Ebd., S. 209. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 210.

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einnimmt, wird genau so deutlich wie deren antinomische Struktur.31 „Der Grundriß des Hauses“, schreibt Augé, entspricht einer „Gesamtheit von Möglichkeiten, Vorschriften und Verboten, deren Inhalt sowohl räumlich wie sozial konnotiert ist.“32 Das Zuhause gewinnt durch diese Gesamtheit seine Identität und vermag es, die unter einem Dach existierenden „singuläre[n] Elemente“ in einer bestimmten Relation zueinander zu positionieren.33 Wie alle anthropologischen Orte ist das Zuhause nach Marc Augé also identisch, relational und historisch.34 Hans-Dieter Bahr geht in seiner Reflexion über den Begriff der Gastlichkeit davon aus, dass ältere Begriffe wie der der Gastung oder der Gasterei noch keine Ansässigkeit impliziert haben. Für den Begriff der Gastlichkeit ist ein Ort jedoch elementar: „So gelangt die Wortbildung ,Gast-lich-keit‘ zur Bezeichnung einer ausgezeichneten Erscheinungsweise der Aufnahme und Behandlung von Gästen seitens derer, die bereits einen Platz besetzt halten.“35 Bahr argumentiert, dass durch die Bildung von menschlichen Gemeinschaften ein universales Gast-Sein des Menschen beschnitten wird und man den Gast nur noch als „jemandes Gast – als Gast einer Person, einer Gemeinde oder Institution oder eines staatlich verfaßten Landes – ansah, ihn also nur durch ein reziprok rechtlich anerkanntes Austauschverhältnis bestimmte.“36 „Jemandes Gast“ an einem besetzten Platz zu sein bedeutet, bei jemandem zuhause zu Gast zu sein. Für Derrida kann es keine Gastlichkeit ohne das Zuhause-Sein geben. Erst das Zuhause, welches das Selbst den Gästen öffnen oder vor diesen verschlossen halten kann, ermöglicht das „Gastfreundschaftsvermögen“.37 Für das Projekt einer absoluten Gastlichkeit ist das Zuhause für Derrida unbedingt notwendig: Die absolute Gastfreundschaft erfordert, daß ich mein Zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe (donne lieu), daß ich ihn kommen lasse, ihn

31 Peter Friedrich geht davon aus, dass die räumlichen Dispositionen im Verhältnis zur zentralen Thematik der „Gastfreiheit“ nur eine zweitrangige Rolle spielen. Vgl. P. Friedrich: Göttliche Einkehr, S. 362f. 32 M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 64–65. 33 Ebd., S. 66. 34 Vgl. ebd., S. 64. 35 H.-D. Bahr: Die Sprache des Gastes, S. 142. 36 Vgl. ebd., S. 244. 37 J. Derrida: Gastfreundschaft, S. 45.

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Bastian Lasse ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse […].38

Zentral für Derridas Denken ist demnach der lieu, der Ort. Dieser Ort ist das Zuhause und folglich lässt sich auch mit Derrida der anthropologische Ort im Sinne Augés als ein räumliches Dispositiv der Theorie der Gastlichkeit beschreiben. Im Zeitraum zwischen 1810 und 1930 werden literarische Gäste zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Institutionen und das Gastmotiv wird verlagert.39 Der Gast verschwindet aus dem anthropologischen Ort des Hauses und zieht ein in den öffentlichen Raum des Hotels. Neben den anthropologischen Ort tritt also nun ein anderer Platz, der als räumliches Dispositiv von Gastlichkeit fungiert. Eine feuilletonistische Beschreibung, welche die Konsequenzen eines ‚Tapetenwechsels‘ der Gastlichkeit für solch eine Theorie der Begegnung auslotet, liefert Joseph Roth mit seiner Artikelserie Hotelwelt. Für Peter Friedrich konstruiert Roth hier einen „atopischen Idealort“, in dem das Hotelzimmer zu einer gastlich-offenen Heimat wird und im Gegensatz zum Vaterhaus steht. Es geht Roth um eine Form der Gastlichkeit, die in der vom Vater befreiten Bleibe eine Statt findet.40 Wie wir jedoch eingangs bereits gesehen haben, unterstreicht Roth nicht etwa eine utopische Absenz, sondern die Präsenz eines neuartigen Mischorts. 4.

Tapetenwechsel – Vom Ort zum Nicht-Ort der Gastlichkeit?

Hotelwelt erhält einen Rahmen durch die Artikel Ankunft im Hotel und Abschied vom Hotel.41 Der Mittelteil der Artikelserie behandelt die räumliche Struktur des Hotels. Anhand wichtiger Funktionsträger im Hotelbetrieb, dem Portier, dem Kellner, dem Koch, dem Dienstmädchen und dem Hoteldirektor, wird das Hotel als Mischort kenntlich gemacht. Bereits die Einkehr des Erzählers verdeutlicht in nuce, zwischen welchen Zuständen der räumliche Status des Hotels fluktuiert:

38 Ebd., S. 27. 39 Vgl. E. Fountoulakis: Die Unruhe des Gastes, S. 149–151. 40 Vgl. Peter Friedrich: Ortlose Heimat – Gäste, Gastgeber und Gasträume bei Joseph Roth. In: Ders., Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Heidelberg: Synchron-Verlag 2009, S. 157–185, hier S. 166–168. 41 J. Roth: Hotelwelt, S. 3–6 und S. 28–31.

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Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier – und es gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann.42

Der patriarchale Raum des Hauses wird durch den Vergleich auf das Hotel übertragen und der Ich-Erzähler zieht somit in der Rolle des Hausherrn in das Hotel ein. Dementsprechend wohnen wir keiner „förmlichen Einkehr“, sondern einer „Heimkehr“ bei. Demgegenüber evoziert das Hotelzimmer beim Ich-Erzähler den Zustand des auf sich Zurückgeworfen-Seins, welchen Augé als charakteristisch für die Nicht-Orte anführt: „Ich liebe das ,Unpersönliche‘ dieses Zimmers […] dermaßen, daß ich einsam bin und nicht vereinsamt, allein und nicht verlassen, abgesondert und nicht getrennt“.43 Das Hotel erhält so einen bemerkenswerten Zwischenstatus: auf der einen Seite scheint es noch in den Kategorien des patriarchalen Hauses wahrgenommen zu werden, auf der anderen Seite trägt es Merkmale, die sich mit Augé den Nicht-Orten zurechnen lassen. Roths Konstruktion dieses Zwischenstatus soll im Folgenden näher konturiert werden. Zunächst wendet sich der Erzähler dem alten Hauskellner zu, der den Lesenden wie ein Schutzgeist des Hauses, gleich den aus der römischen Antike bekannten Laren, präsentiert wird. In der Figuration des Kellners erscheint somit ein Charakteristikum des gastlichen Hauses: „[S]o könnte man glauben, der Kellner wäre ein Standbild, ein Hausgott des Hotels und des Fremdenverkehrs, und man könnte ohne eine kleine Verbeugung keineswegs an ihm vorbeigehen“.44 Der Kellner wird zu einer lebendigen Reminiszenz an eine alte Form der Gastlichkeit, die gleich einer aussterbenden Sprache nur noch einer kleinen Gruppe als „Muttersprache“ zur Verfügung steht: „Die Gäste und der Alte: sie sprechen alle die Muttersprache ihrer vergangenen Epoche.“45 Die symbolische Repräsentation der Gastlichkeit des Hauses ist demnach mit den Semen „Alter“, „Mythologie“ und „Untergang“ konnotiert. Durch diese Kombination erscheint die mit dem Haus verbundene Gastlichkeit als präsent, ist aber gleichsam von der modernen Welt des Hotels entrückt. Neben der symbolischen Referenz begegnet den Lesenden ein distinktes Merkmal der häuslichen Gastlichkeit: das „Gastfreundschaftsvermögen“, welches in seiner selektierenden Funktion durch den Portier in das Hotel integriert wird.46 42 43 44 45 46

Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 10.

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Auf der anderen Seite begegnet uns bereits die scheinbar ohne menschliche Hand arbeitende Funktionalität des ‚Nicht-Orts‘ Hotel, besonders in den Figuren des Kochs, der unsichtbar in der „Unterwelt“47 des Hotels agiert, und des Zimmermädchens. Die Arbeitsweise der Zimmermädchen betreffend referiert der Erzähler: „Die Hausordnung verbietet eine Veränderung der von den Gästen auf den Schreibtischen hinterlassenen Unordnung. Gesäubert aber müssen sie werden! Jeder Zettel muß in seiner Lage verharren.“48 Das Zimmermädchen erweist sich so als besonders bedeutsam für die Funktionalität des Hotels. Es ist demnach nicht zufällig, dass durch diese Figur das Vaterhaus scharf vom Hotel abgegrenzt wird: „Sie gewöhnte sich an ihren Beruf, weil er nicht die Eintönigkeit einer Dienstbotenexistenz hatte, nichts von dem faulen Glanz einer patriarchalischen Hausordnung, sondern etwas von der kalten, klaren Sachlichkeit eines Geschäfts […].“49 Dienst- und Zimmermädchen werden als zwei Figurationen einer Rolle polarisierend gegenübergestellt. Dabei erhält das Umfeld des patriarchalen Hauses das Attribut des „faulen Glanz[es]“. Damit verweist Roth einerseits auf den Nimbus dieser Raumordnung – oder in den Worten Roths „Hausordnung“ – und die daraus resultierende nostalgische Verklärung. Andererseits ist jedoch der Impetus dieser Evokation klar auf eine Dekonstruktion hin ausgerichtet. Der Glanz wird als Oberflächenphänomen gekennzeichnet, der den ‚eigentlichen‘ Zustand der Fäulnis nur überdeckt. Der ‚Kern‘ dieser „Hausordnung“ ist „faul“ und sie wird damit als obsolete Formation ausgezeichnet. Die Antithese wird weiter verstärkt durch die sprachliche Nuancierung zwischen „Beruf“ und „Existenz“. Der „Beruf“ ist eingebettet in die transparente Tauschökonomie der Geschäftswelt und erhält darum „etwas von der kalten, klaren Sachlichkeit“ dieser Sphäre. Dahingegen erscheint die patriarchale Konfiguration als anachronistisch. Im Gegensatz zur „Eintönigkeit einer Dienstbotenexistenz“ – und die Gravität des Begriffes „Existenz“ darf hier durchaus als Verweis auf einen Mechanismus der Subjektivierung im Gefüge des anthropologischen Orts verstanden werden – bietet die Berufung in die Hotelwelt eine Befreiung von der vereinnahmenden Identifizierung. Die ganze räumliche Ambivalenz des Hotels kulminiert letztlich in der Figur des Hoteldirektors. „Obwohl er ein durchaus mondäner Hoteldirektor ist, spricht das Personal nicht anders von ihm als vom ,Patron‘.“50 Der Hoteldirektor figuriert als pater familias und verdeutlicht dadurch, dass die 47 48 49 50

Ebd., S. 15. Ebd., S. 22. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24.

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Hotelwelt gedanklich noch immer in einem patriarchalen Modell strukturiert ist. De facto ist sie aber bereits in den anonymen Strukturen eines Nicht-Orts organisiert und es bedarf lediglich der Repräsentation als patriarchales Haus, um in ihrer Abstraktheit intelligibel zu sein: Es mag den armen Menschen […] sehr mühsam sein, sich eine Aktiengesellschaft als Brotgeber vorzustellen, einem abstrakten Begriff […] zu dienen und den Mann, der sie aufnimmt und entläßt, der ihnen das befiehlt und jenes verwehrt, ebenfalls nur für den Angestellten einer geheimnisvollen Aktiengesellschaft zu halten.51

Das Hotel, das sich aus den patriarchalen Strukturen gelöst hat, aber noch in denselben repräsentiert wird, bietet dem Erzähler den Raum, einen Ankunftsort für den absolut Anderen in einem ironisch-kontrafaktischen Modus zu imaginieren. Überdies scheint dieser Platz nur in der Abfolge stetiger Abreisen antizipiert werden zu können. Die Ankunft wird mithin ad infinitum vertagt: Ich werde heute schon meine Abreise dem Portier ankündigen. Oh, nicht etwa, weil es hier eine Vorschrift erforderte! In diesem Hotel gibt es keine „Avisos“ in den Zimmern, keinen „Auszug aus den Polizeiverordnungen, betreffend das Gastgewerbe aus dem Jahr 1891“ […]. Wenn ich heute schon dem Portier meine Abreise ankündige, so geschieht es, […] weil ich heute schon hören will, wie er sagt: „Ach, schon wieder?!“.52

Die Meldepflicht für Hotelwirte, also die Verpflichtung, ankommende Gäste zu erfassen, nimmt die Subjektivierung vor, der sich der Erzähler eigentlich entziehen möchte. Wie die Nicht-Orte der Übermoderne begrenzt das Hotel seinen Zugang restriktiv: Nur wer im Sinn des Staates eine Identität besitzt, erhält Zutritt. Strukturell bedingt kann es im Hotel also keinen Fremden geben, der ein absolut Anderer ist.53 Die Grundsituation der Gastlichkeit ist damit aufgehoben. Daraus erklärt sich, dass einzig der Transit, der Wechsel zwischen stetigem „kommen und gehen“, dafür sorgt, dass sich der Erzähler „heimisch“ fühlt.54 Pointiert formuliert lässt sich mithin festhalten, dass das hier beschriebene Hotel wie ein Nicht-Ort die Fremde und das Fremde ‚am Platz‘ nivelliert und damit auch die Grundsituation zerstört, in der eine Begeg­ nung im Rahmen der Gastlichkeit stattfinden könnte. Die ideal vorgestellte Aufnahme ohne Aviso, sieht man von der rein rechtlichen Unmöglichkeit 51 52 53 54

Ebd. Ebd., S. 28. Vgl. M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 118–121. J. Roth: Hotelwelt, S. 28.

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einmal ab, ist gekennzeichnet von der Abwesenheit der Begegnung. Der Rahmen der Artikelserie verdeutlicht dies auch am Erzähler selbst. Der Moment der „echten Ankunft“55 ist vergleichbar mit dem Aufeinandertreffen von Gast und Gastgeber an der Türschwelle und so gibt das Aufeinandertreffen von Ich-Erzähler und Empfangschef einen guten Eindruck davon, inwiefern es bei diesem Ereignis noch um eine Begegnung geht. Der Gast ist für den Empfangschef lediglich ein berechenbares Phänomen, dem sich nur kurz zugewendet werden muss: „Sein Interesse gilt mir ganz, wie das des Astronomen dem Kometen in der ersten Stunde des Wiedererscheinens am Horizont.“56 Das Interesse ist dabei rein kommerzieller Natur, wie der Erzähler lakonisch konstatiert: „[D]ie Versicherung: ,Sie sehen erfreulich gut aus!‘ bezieht sich weniger auf den Zustand meiner Gesundheit als auf den scheinbaren meiner Zahlungsfähigkeit.“57 In den Augen des Empfangschefs ist der Ich-Erzähler offenbar ein Kunde, der aufgrund seiner Berechenbarkeit und Liquidität ökonomisch verwertbar ist und dem allein um dieser Qualitäten willen Aufmerksamkeit zu schenken ist. Die Subjektivierung als Kunde ist vergleichbar mit der Produktion von Norm-Identitäten am Nicht-Ort,58 weil die Subjektpositionen jeweils durch ein kapitalistisch motiviertes Vertragsverhältnis verbürgt sind. Gegenüber der Figur des Gastes, deren Subjektivität als transversal bezeichnet wird, ist die Figur des Kunden an Komplexität deutlich reduziert. Die ökonomisch begründete Normidentität ist im Gegensatz zur Gast-Rolle festgelegt. Der Gast erlaubt als tertium datur erst die Unterscheidung von Eigenem und Anderem und begründet so die Möglichkeit einer Begegnung. Der Verlust respektive die Ersetzung des Gastes durch den Kunden unterbindet demnach jede Begegnung im Hotel, was diesem wiederum Qualitäten des Nicht-Orts zueignet. Der Ich-Erzähler selbst ist weniger an seinem Gegenüber als am Hotel selbst interessiert: „Mein Interesse hinwiederum gilt allem, was das Hotel betrifft, als hätte ich wirklich einmal Anteile zu erben.“59 Diese Aussage lässt sich fast als Parodie auf die unruhigen Dreieckskonstellation der Gastlichkeit und die damit verbundenen Inversionen lesen. Es gibt hier keinen Gastgeber mehr, der durch die symbolische Übertragung seines Heims einen Rollentausch initiiert und so wird auch der Ich-Erzähler niemals zum Anteilseigner werden können. Der Rahmen, den das Hotel für das Aufeinandertreffen von Gast und Gastgeber 55 56 57 58 59

Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Vgl. M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 110. J. Roth: Hotelwelt, S. 5.

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bereithält, scheint sich allein auf ökonomische Verhältnisse auszurichten. Eine Theorie der Begegnung ist auch hier nicht mehr im Fokus des Interesses. Der Abschied vom Hotel verdeutlicht noch einmal die keine Begegnung mehr antizipierende Zentrierung des Subjekts auf sich selbst: „Ich möchte kommen und gehen, kommen und gehen. Es ist schön zu wissen, daß hier ein Hotel auf mich wartet.“60 Der Ich-Erzähler konstruiert im Rahmen dieses Reisens ohne Begegnung eine Kausalrelation zwischen Fremd-Sein und Heimisch-Sein. Fremd-Sein bedeutet in diesem Kontext, nicht als Gast in der patriarchalen Hausordnung eines Gastgebers aufgegangen zu sein, aber sich gleichzeitig heimisch zu fühlen, indem man im Modus des Hausherrn im Hotel einziehen kann. So kann der Ich-Erzähler den paradoxen Satz hervorbringen: „Ich bin fremd in dieser Stadt. Deshalb war ich hier so heimisch.“61 Die Idee, die Roth an das räumlich als Nicht-Ort strukturierte aber symbolisch als Vaterhaus repräsentierte Hotel knüpft, ist ein Platz, der eine von patriarchalen Machtverhältnissen bereinigte Gastlichkeit verspricht. Die gezeigte Realität entspricht jedoch einer rein kommerziellen Gastlichkeit, die das Problem der Begegnung mit dem Anderen latent werden lässt. Roths Artikelserie verweist auf drei virtuelle Abwesenheiten: das Verschwinden des Gastes. Das Verschwinden des Gastgebers. Das Verschwinden der Fremde und des Fremden. Diese drei zentralen Verluste machen in der Theorie der Gastlichkeit eine Begegnung strukturell unmöglich, wodurch das Hotel zu einem Nicht-Ort avant la lettre avanciert. Die Unmöglichkeit der Begegnung bedingt nämlich die Vereinsamung, die das Subjekt für Augé erst am Nicht-Ort der Supermoderne erfahren würde. Die bei Roth aufscheinenden Verluste und ihre Konsequenzen führen uns bereits zu einer „einsamen Individualität“.62 Augés Aussage, der Nicht-Ort beherberge keinerlei organische Gesellschaft, muss demnach vermutlich auf die Roth’schen Hotels übertragen werden. Begeben wir uns, den Spuren der „einsamen Individualität“ folgend, abschließend noch in das Hotel Savoy, um der Theorie eine weitere literarische Konfiguration an die Seite zu stellen. Betrachten wir zunächst den Gastgeber in Joseph Roths Roman Hotel Savoy. Eine Begegnung wird durch die Unterscheidung zwischen Gast und Gastgeber ermöglicht. Der Platz, an den Gabriel Dan, der Protagonist des Romans, hier gelangt, hat aber keinen Gastgeber. Das Individuum interagiert über Texte oder Repräsentanten mit abstrakten Personen. Es wird Gast, indem

60 Ebd., S. 28. 61 Ebd., S. 30. 62 M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 138.

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ein Vertragsverhältnis mit einer abstrakten Entität eingegangen wird:63 „Die geehrten Gäste werden höfl. ersucht, in bar zu zahlen. […] Hochachtungsvoll Kaleguropulos, Hotelwirt“.64 Ohne Gastgeber kann es aber auch niemanden mehr geben, der den Gast „gibt“. Dementsprechend abstrahiert Gabriel Dan den Hotelwirt so weit von einer realen Person, dass er den Namen als rein grammatikalisches Phänomen wahrnehmen kann.65 Die in dieser Konstellation auftretende Abwesenheit eines realen Gastgebers entspricht damit genau der von Augé beschriebenen Kommunikationssituation am Nicht-Ort.66 Auch wenn sich der Gastgeber im Verlauf der Geschichte als nur scheinbar abwesend erweist,67 lässt sich argumentieren, dass dessen Position unbesetzt bleibt. Kaleguropulos sei ein „Geschöpf der Dämmerung“ und ein „Herr der Fledermäuse“.68 Genauso wie Ignatz, der Gabriel Dan als personifizierter Tod erscheint,69 wird er also symbolisch mit der Welt der Untoten in Verbindung gebracht. Die Anspielung auf Graf Dracula verdeutlicht dabei, dass dieses ‚Wesen‘ seine Gäste aus einem ungastlichen Grund empfängt. So entfaltet der Hotelwirt auch ein explizites Bedrohungspotential: „[I]ch hätte gern den Zettel des Kaleguropulos, der höhnisch an der Tür hing, abgerissen, und ich ging furchtsam ins Bett und ließ die ganze Nacht die Lampen brennen.“70 Wenig zufällig scheint ebenso der Name „Ignatz“ ausgewählt zu sein. Der Name kann als Verweis auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Ignaz Denner gelesen werden. In diesem Nachtstück inszeniert Hoffmann eine gastliche Geiselnahme. Der Revierjäger Andres wird mehrmals von dem Teufelsbündner Ignaz Denner heimgesucht. Denner, der in einem alchimistischen Verfahren das Blut von Kindern zur Gewinnung einer verjüngenden Arznei benutzt, versucht sich durch List und Gewalt der Kinder des Andres zu bemächtigen. Dafür besetzt er das gastlich offene Haus und usurpiert sukzessive die Rolle des Hausherrn. Ignaz Denner verkörpert demnach eine Figur der Ungastlichkeit, welche die variablen Positionskonstellationen von Gast und Gastgeber

63 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. dazu auch Silvia Ulrich: Hotels in der Literatur als Nicht-Orte. Körperliche Verortungen an drei Beispielen aus dem 20. Jahrhundert. In: Miriam Kanne (Hg.): Provisorische und Transiträume. Berlin: Lit-Verlag 2013, S. 91–106, hier S. 97–98. Joseph Roth: Hotel Savoy. München: dtv 2014, S. 28. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 113. Vgl. J. Roth: Hotel Savoy, S. 126. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 44. Ebd., S. 49.

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ausnutzt, um seinem todbringenden Geschäft nachzugehen.71 Die Doppelfigur Ignatz/Kaleguropulos wird folglich durch die Namensvetternschaft und die Blutmetaphorik, die in der Anspielung auf den „Herr[en] der Fledermäuse“ aufscheint, symbolisch mit einer Figur verknüpft, die für eine Perversion des gastlichen Prinzips steht. Die unterschwellige Bedrohung, die von dem Hotelwirt auszugehen scheint, manifestiert sich im intertextuellen Verweisspiel als Verlust der gastlichen Konstellation. Wechseln wir nun die Perspektive vom Gastgeber auf den Gast und sein Verhältnis zum Hotel Savoy. Gabriel Dan etabliert ein metonymisches Verhältnis zwischen der kapitalistischen Welt und dem Hotel:72 Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drin in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen.73

Hier begegnet uns zunächst eine Argumentationsfigur, die schon im Kontext von Hotelwelt eine wichtige Rolle gespielt hat: die Gegenüberstellung von ‚Tiefe‘ und ‚Oberflächlichkeit‘, welche die Verhüllung menschlichen Elends in den hyperbolischen Metaphern des Wohlstands aufzudecken sucht. Roths Text entkoppelt ausgehend von der Hotelarchitektur die Stratifizierung der Gesellschaft von einer ‚klassischen‘ räumlichen Repräsentation, in der ‚oben‘ im Gegensatz zu ‚unten‘ positiv konnotiert ist. In „Gottesnähe“ zu logieren, heißt im Hotel Savoy in seinem Elend so weit vorangeschritten sein, dass man bereits „begraben in luftigen Gräbern“ liegt. Als euphemistisch bezeichnete letzte Heimstatt ist das Grab eine pervertierte Version von Gastlichkeit, wenn die säkularisierte Welt sich vom Gedanken einer Heimkehr in den Schoß Gottes befreit hat. Genau diese Abkehr von einer ‚höheren‘ Ordnung artikuliert Gabriel Dan, der als ein Teil der Heimkehrer-Massen nach den Schrecken des 1. Weltkrieges als Sprachrohr einer generationalen Empfindung gesehen werden kann, in der seinen inneren Monolog beschließenden Frage: „Wie hoch kann man noch fallen? In den Himmel, in endliche Seligkeit?“74 Die Schichten von Gräbern, die sich über den Zimmern der Reichen als ‚Hotel‘ auftürmen, 71 Vgl. E. T. A. Hoffmann: Ignaz Denner. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820. Frankfurt a.M.: DKV 1985, S. 50–109. 72 B.  Matthias: Checking in to tell a story, S.  132: “The hotel stands as a symbol of social injustice and the impenetrable division of social classes in post-First World War society”. 73 Vgl. J. Roth: Hotel Savoy, S. 30. 74 Ebd.

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symbolisieren die verhinderte Aufnahme in einer Raumordnung, die keine höhere spirituelle Begegnung mehr kennt. Es gibt aber außer für diejenigen, „die unten saßen“, auch in der eigentlichen Welt keinen Raum der Aufnahme mehr. Das Logis im Hotel wird erkauft durch die Einwilligung in eine graduelle Übereignung des Selbst an einen Gläubiger, hier den Liftknaben Ignatz, der die Verpfändung von Hab und Gut wie in der Szene mit der Gästin Stasia als die de facto Inbesitznahme des Leibs interpretiert: „Ignatz […] legt die Kette vierfach um den Koffer. Er hat dabei ein wollüstiges Gesicht, als fesselte er Stasia und nicht ihr Gepäck“.75 Die Raumordnung des Hotels führt also die Raumordnung der Welt vor: Während die „Satten“ fest mit der materiellen Welt verbunden sind und eine Einkehr erkaufen können, führt Armut nur noch in „luftige Gräber“. Überdies gewinnt die Beschreibung der Stadt, die innerhalb der Diegese den ‚Welt-Raum‘ des Hotels darstellt, eine herausragende Bedeutung für die Charakterisierung des Hotels. Als Welt-Gäste erhalten alle mit der Stadt verbundenen Menschengruppen gleichsam eine Bedeutung für die Bestimmung dessen, was den Gast auszeichnet. „Die Stadt“ ist ein Kollektivbegriff, der die Bewohner in ihrer Individualität verschwinden lässt. Diese Tendenz der Entindividualisierung wird noch gesteigert, indem die Stadt in ihrer ‚tatsächlichen‘, uniformen Gestalt enthüllt wird: „Die Stadt bekommt an solchen Regentagen erst ihr wirkliches Gesicht. Der Regen ist ihre Uniform. Es ist eine Stadt des Regens und der Trostlosigkeit“.76 Die Regenmetaphorik verbindet die Stadt überdies mit der Gruppe der Heimkehrer, die sich als amorphe und graue Masse darstellt: Mitten durch den schrägen, dünnen Regen gehen sie, Rußland, das große, schüttet sie aus. Sie nehmen kein Ende. Sie kommen […] in grauen Kleidern, den Staub zerwanderter Jahre auf Gesichtern und Füßen. Es ist, als hingen sie mit dem Regen zusammen. Grau wie er sind sie und beständig wie er.77

Der Konnex aus „Stadt“, „Uniform“ und „Heimkehrern“ bildet in seiner kumulativen Struktur demnach eine hyperbolische Illustration der Entindividualisierung. Dieser Verlust jeglicher Individualität wird auch in der Innenwelt des Hotels gespiegelt: „Es gab in den drei höheren Stockwerken des Hotel Savoy überhaupt keine Namen. Alle hießen nach den Zimmernummern.“78 Die umfassende Egalisierung erinnert an zwei Charakteristika 75 76 77 78

Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 117. Ebd., S. 40.

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des Nicht-Orts: die Produktion von Norm-Identitäten, hier erscheinend als Nicht-Identität, und die Auflösung von Fremdheit, hier über die „Ver-Massung“, die sich am prägnantesten in der Aufhebung nationaler Differenzen spiegelt: „Die Heimkehrer hören zu, und dann singen sie Lieder, jeder sein Heimatslied, und alle klingen gleich.“79 Die Konsequenz aus dem Verlust der Gäste, die sich in der Norm-Identität einer amorphen Masse präsentieren, reflektiert Roth in einer Anspielung an die Bibel: „Es war eine gottverdammte Stadt. Es roch, als wäre hier der Pechund Schwefelregen niedergegangen, nicht über Sodom und Gomorra.“80 Sodom und Gomorra werden von Gott zerstört, weil die Stadtbewohner das Gastrecht missachten. Indem der Erzähler die göttliche Strafe für dieses Vergehen auf die von ihm beschriebene Stadt überträgt, wird das Fehlen von Gastlichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Das Hotel Savoy erscheint in Roths Roman entsprechend als ein Nicht-Ort der Gastlichkeit, der in der Negation des Gastes, des Gastgebers und der Fremde alle Voraussetzungen der Gastlichkeit tilgt. 5.

Abschied

Joseph Roths Artikelserie Hotelwelt zeigt, dass das Hotel dem Ideal der absoluten Gastlichkeit nur im Imaginären der Erzählinstanz eine neue Stätte bietet. Roth illustriert, dass die ‚Erblast‘ der patriarchalen Raumordnung für eine gastliche Theorie der Begegnung auch dann noch als Problem virulent ist, wenn das räumliche Dispositiv des anthropologischen Orts abgelöst wird durch dasjenige des Hotels. In gewisser Weise zeigt sich, dass der kapitalistisch geordnete Raum der Hotelwelt die gastliche Geiselnahme des pater familias noch verschärft, indem die abstrakten Vertragsverhältnisse und ökonomischen Interessen den ‚Gast‘ auf eine nicht-transversale Subjektposition reduzieren. An die Stelle des Ideals absoluter Gastlichkeit tritt eine scheinbare Bewegungsfreiheit, die den Transitär zum Solitär macht, ihn aber nicht aus den Banden der „Identität […] des Passes“81 befreit. Der Roman Hotel Savoy zeigt noch deutlicher, wie der Gast in einer Norm-Identität aufgelöst wird. Darüber hinaus wird der Gastgeber zu einer anonymen Instanz, die ein Prinzip der Ungastlichkeit symbolisiert. Roths literarische Grandhotels verabschieden mithin den Gast, den Gastgeber und die Fremde. Der Verlust dieser Grundaxiome 79 Ebd., S. 76. 80 Ebd., S. 75. 81 M. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 119.

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jeder gastlichen Theorie der Begegnung macht eine Hotel-Welt ungastlich. Wie im biblischen Sodom scheitert hier die Begegnung, wie bei Philemon und Baucis entschwindet Gastlichkeit mit der Ausradierung bestimmter Elemente der Gleichung. Die Verbindung zu Augés Nicht-Orten der Supermoderne liegt also vornehmlich in der Präfiguration der ‚Einsamkeit‘, die im Gefolge einer vom Kapitalismus entwerteten Kultur der Gastlichkeit auftritt. „Ich möchte kommen und gehen, kommen und gehen“,82 sagt der Roth’sche Erzähler. Ob das Heimisch-Sein in der ständigen Bewegung des Kommens und Gehens eine „dritte Natur“ anbietet, welche die Ruinen des Kapitalismus bewohnbar macht, wäre eine bedenkenswerte Frage.83

82 J. Roth: Hotelwelt, S. 28. 83 Anna Lowenhaupt Tsing: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton: Princeton University Press 2015, S. viii.

teil iv Biographische Einsichten: Freundschaften

Joseph Roth in den Augen seines Freundes Soma Morgenstern Maria Kłańska Auf den ersten Blick gehört solch ein Thema vielleicht nicht unbedingt zum Themenkomplex Joseph Roth unterwegs in Europa. Aber Joseph Roth war, wie ihn Otto Forst de Battaglia genannt hat, ein Nomade, ein Wanderer sogar zwischen drei Welten,1 zu denen seine Wahlheimat Frankreich gehörte, wo er als Exilant zwischen 1933 und seinem Tode im Mai 1939 lebte. Sein Freund, Soma Morgenstern, dessen Erinnerungsbuch Joseph Roths Flucht und Ende meine besondere Aufmerksamkeit in diesem Beitrag gelten wird, schrieb über Roth: Er war ein freiwilliger Flüchtling von Anbeginn. Vielleicht weil sein Vater einer war, war es in seinem Blut. Er flüchtete erst von seiner Familie. Der Krieg trieb ihn von seinem Studium weg, zu dem er nicht zurückkehrte. Wien verließ er, weil er hier keine Chance für sein Fortkommen sah. Wie ich es ihm später nachmachte, als auch ich nach Berlin übersiedelte. Hernach begann er mit dem Reisen. Er gehörte aber nicht zu den reisenden Schriftstellern, die es in exotische Länder trieb, von denen Karl Kraus behauptete, ihr Talent beginne ungefähr in Bukarest. Roth trieb es zum Reisen, weil ihm das Irgendwo, ja das Nirgendwo, lieber war als das Zuhause.2

Der verdiente deutsche Herausgeber Soma Morgensterns, Ingolf Schulte, fand sogar eine Aussage Roths aus dem Jahre 1929 für die Beilage der Frankfurter Zeitung, Für die Frau, wo der Schriftsteller als Antwort auf die Frage Warum reise ich gern erklärte, er habe nach der Heimkehr aus dem Großen Krieg festgestellt, dass die Heimat „eng und arm, verworren und verwirrend“ und er zu Hause fremd geworden sei. Das Fazit dieser Antwort hieß: „also begann ich wieder zu reisen“.3 Sein Leben war somit eine Flucht nach vorne. Die letzte 1 Vgl. Otto Forst de Battaglia: Wanderer zwischen drei Welten. In: David Bronsen (Hg.): Joseph Roth und die Tradition. Darmstadt: Agora 1975, S. 77–86. Ursprünglich in: Frankfurter Hefte Jg. 7 (1952), Heft 6, S. 441–445. 2 Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen, Hg. und mit einem Nachwort von Ingolt Schulte. Lüneburg: zu Klampen 1994, S. 239–240. Im Folgenden unter der Sigle „SM, JR“ und der Seitenangabe angeführt. 3 Joseph Roth: Warum reise ich gern. In: Frankfurter Zeitung, Beilage Für die Frau, Jg. 4, Nr. 7, Juni 1929, S. 4. Angeführt nach: Ingolf Schulte: Soma Morgenstern – der Autor als Überlebender. In: S. Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende, S. 301–325, hier S. 322.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_010

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Etappe dieser Flucht war Frankreich, dessen Niederlage im Krieg gegen Nazideutschland er nicht mehr erlebte, sonst hätte er weiter fliehen müssen. Daher benannte Soma Morgenstern sein Manuskript mit Erinnerungen an den verstorbenen Freund Joseph Roths Flucht und Ende. Wie es aus seinen Tagebuchaufzeichnungen aus Paris aus dem Jahre 1950 ersichtlich ist, sollte dieses Buch zuerst Der Tod in Paris heißen.4 Dann veränderte der Autor jedoch seine Konzeption dahingehend, dass der Schwerpunkt nicht allein auf dem Tod und den letzten Lebensmonaten Roths liegen sollte, sondern auch auf seinem Leben als einer Flucht, die zwangsläufig in einen Tod als Folge des Alkoholismus mündete, und ihrer ganzen Bekanntschaft. Der Titel spielt offensichtlich auf Joseph Roths Roman Flucht ohne Ende an, dessen Protagonist, Franz Tunda, der als ein Sprachrohr des Autors fungiert, aus der russischen Gefangenschaft flieht, in der Taiga lebt, in die Wirren der Oktoberrevolution gerät und zuerst in eine deutsche Kleinstadt, wo sein Bruder lebt, zurückkehrt und dann auf der Suche nach seiner ehemaligen Geliebten nach Paris kommt. Der Roman schildert das Schicksal der verlorenen jungen Generation nach dem Ersten Weltkrieg, so heißt es als Pointe: [D]a stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt [genauso alt, wie Roth damals war! M.K.], gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.5

Morgenstern, der wie Roth aus Ostgalizien stammte, allerdings aus einem Dorf (aus Budzanow), wie er selbst gerne betonte, fühlte sich ebenfalls in der Nachkriegswelt nach 1918 fremd und überflüssig, daher konnte er sich genauso gut wie Roth in diese Befindlichkeit einfühlen. Auch er war wie Roth von dem Gefühl der Heimatlosigkeit befallen. Allerdings hatte er, Morgenstern, der aus einer intakten frommen chassidischen Familie stammte, einen Rückhalt in seinen Angehörigen, in dem Gottesglauben, der zwar bei ihm keineswegs orthodox war, aber tief und innig, und in seiner ‚Jüdischkeit‘, als Anhänglichkeit an der jüdischen Tradition und der Abstammungsgemeinschaft verstanden. Bei Roth war diese Beziehung zum Judentum eher ambivalent. Zwar hat auch Morgenstern ähnlich wie Roth in den Gymnasialjahren eine jugendliche 4 Soma Morgenstern: Kritiken, Berichte, Tagebücher. Hg. und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte. Lüneburg: zu Klampen 2001, S. 680. 5 Joseph Roth: Flucht ohne Ende. In: Ders.: Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln, Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 496.

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Glaubenskrise durchgemacht, aber nach dem Tode seines geliebten Vaters kehrte er allmählich wieder zum Glauben zurück. Roth hatte das Brodyer Gymnasium in einer der letzten Klassen mit Deutsch als Unterrichtssprache durchgemacht und strebte die deutsche Assimilation an, während Morgenstern, der ein polnisches Gymnasium in Tarnopol absolvierte, eine klare jüdische Identität besaß. Die beiden hatten sich, so Morgenstern, schon früh in Lemberg, 1910 bzw. 1911 bei einer „Landeskonferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens“ (SM, JR, 7) zufällig kennengelernt, bei der Roth gar kein Delegierter war, sondern mit seiner schon damals vorhandenen journalistischen Neugierde „hineinschnupperte“. Wie Heinz und Victoria Lunzer in ihrem zusammen mit Silvia Asmus, der Leiterin des Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, herausgegebenen Band So wurde ihnen die Flucht zur Heimat über die Freundschaft und die Parallelen im Leben Roths und Morgensterns berichten, lässt sich weder solch eine Landeskonferenz (vielleicht meinte Morgenstern den Abituriententag der „Hasmonäa“ 1909) noch der Anteil Roths an solch einer Veranstaltung belegen.6 Das Autorenehepaar Lunzer vermutet, dass sie sich in Lemberg 1913 an der Universität kennenlernten, wo beide kurzzeitig studierten. Morgenstern war vier Jahre älter als Roth, da er aber nach den Widerständen des Vaters erst spät das weltliche Gymnasium besuchen durfte, maturierte er erst ein Jahr vor Roth. Den Erinnerungen Morgensterns zufolge begegneten sie sich dann in Wien wieder, wo beide das Studium fortsetzten, nachdem Morgenstern infolge des Kriegsausbruchs 1914 aus Galizien geflohen war. Auch wenn das Gedächtnis des Chronisten, der diese Erinnerungen erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts niederschrieb, trügen sollte, Tatsache ist wohl, was Morgenstern schreibt, dass sie nicht gleich Freunde wurden. Ihr nächstes Treffen fiel laut Morgenstern in das Jahr 1916, als der ältere Morgenstern schon Fähnrich war und eine Offiziersschule in Temesvar absolviert hatte (SM, JR, 26), während Roth noch studierte,7 aber voller patriotischen Eifers war. Wie immer sehr selbstsicher auftretend, bewog er Morgenstern zum Kauf einer Offizierskappe mit goldener Schnur, die jenem noch nicht zustand, was Morgenstern eine Militärstrafe einbrachte. Schon diese erste Episode eines kleinen Malheurs des Älteren, für das Roth der Auslöser war, kann einen Hinweis auf den weiteren Verlauf ihrer Freundschaft darstellen. Martin Pollack, der den 1994

6 Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: So wurde ihnen die Flucht zur Heimat. Soma Morgenstern und Joseph Roth. Eine Freundschaft. Hg. von Sylvia Asmus. Bonn: Weidle Verlag 2012, S. 39. 7 Vgl. auch ebd., S. 40.

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bei zu Klampen erschienenen Band unter der Redaktion Schultes rezensierte, betitelte seine zweiseitige Rezension zu Recht Schwierige Freundschaft.8 Laut Morgenstern, der zu Anfang gerne mit Roth wegen dessen deutscher Muttersprache verkehrte, die er sich selbst offensichtlich noch vollkommener aneignen musste, da er aus einem jiddischsprachigen Haus kam und in Galizien mehr mit Polnisch und Ukrainisch zu tun hatte, kamen sich die beiden jungen Leute bei einem Spaziergang im Prater näher, wo Roth Morgensterns körperliche Überlegenheit erkannte, und dann nach 1914 in Lemberg während eines Gesprächs über ihre Väter. Roth hat ja bekanntlich seinen Vater nie gekannt, weil dieser noch vor seiner Geburt verschollen war, während Morgenstern seinen Vater, an dem er sehr hing, mit ca. 18 Jahren verloren hat. Roth beneidete ihn wahrscheinlich um die Erinnerungen an diesen Vater und wunderte sich, dass der Kommilitone trotz seiner Vorliebe für Literatur Jura studierte, um das seinem Vater gegebene Versprechen zu halten (SM, JR, 15 und 21). Nach dem Kriege fanden sich die beiden bald wieder in Wien ein.9 Während Morgenstern 1921 zum Dr. juris promovierte, wandte sich Joseph Roth dem Journalismus zu und ging schon 1921 nach Berlin, woran das oben angeführte Zitat Morgensterns anknüpft. Dieser wusste, dass Wien, das nach 1918 zur Hauptstadt des zusammengeschrumpften Staates herabgesunken und provinziell geworden war, ihm keine Entfaltungsmöglichkeiten bieten würde. Von Berlin aus optierte er, seine Vergangenheit zum Teil retuschierend, um die österreichische Staatsbürgerschaft, die er auch bekam,10 während Morgenstern bis 1929 polnischer Staatsbürger blieb. Roth wirkte seit 1919 als Journalist und schrieb seit 1923 Romane. Auch wenn der Ruhm erst 1930 mit Hiob kam, war er dadurch allgemein bekannt. Seit 1924 schrieb er für die Frankfurter Zeitung, wurde zu ihrem Star und Reisereporter.11 Morgenstern kam 1926 nach Berlin nach und lebte nach den ersten eher misslungenen literarischen Versuchen ebenfalls von der Feder als Journalist, der sich allerdings als Theater-, Literaturund, dieses ohne besondere fachliche Vorbereitung, Musikkritiker betätigte. 1928–1934 engagierte ihn die Frankfurter Zeitung als Kulturkorrespondenten in Wien, was ihn zufriedenstellte, da er an dieser Stadt hing. Roth lebte seit seinem Auftrag von der Frankfurter Zeitung 1925 am liebsten in Frankreich, 8 Martin Pollack: Schwierige Freundschaft. In: Literatur und Kritik Nr.  289/290, November 1994, S. 84–85. 9 H. Lunzer, V. Lunzer-Talos: So wurde ihnen die Flucht zur Heimat, S. 40. 10 Vgl. Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien 7.Okober 1994 bis 12. Februar 1995. Wien: Zirkular, Sondernummer 42, Oktober 1994, S. 64–67. 11 H. Lunzer, V. Lunzer-Talos: So wurde ihnen die Flucht zur Heimat, S. 42.

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obwohl er bis 1933 noch mit diesem Blatt verbunden war und für es reiste. Er widmete aber immer mehr Zeit seinen Büchern. Seit 1933 lebte er als Emigrant größtenteils in Paris, versuchte den Flüchtlingen aus dem Nazireich zu helfen, schrieb engagierte Aufsätze gegen den Nationalsozialismus und weitere Romane, zum Höhepunkt seines Schaffens wurde allerdings der etwas frühere Radetzkymarsch (1932). Morgenstern kam nach dem Februaraufstand in Wien 1934 kurzfristig nach Paris, da er Angst vor einer Verhaftung hatte, kehrte dann aber nach Wien zurück und verlor infolge eines Streites mit Roth bis 1937 den Kontakt zu diesem. Er schrieb 1934–1935 am ersten Teil seiner Romantrilogie Funken im Abgrund: Der Sohn des verlorenen Sohnes, wo er die Problematik des traditionellen Ostjudentums und des westlichen Assimilantentums literarisch mit einem breiten epischen Atem erfasste. Erst 1937 versöhnten sich die beiden Freunde, die sich wegen einer literarischen Kleinigkeit zerstritten hatten, auf die ich noch kommen möchte, dank der großzügigen Vermittlung Stefan Zweigs, der eigens nach Wien gereist sein soll (SM, JR, 142). Morgenstern blieb in Wien, wo seine Frau und sein Sohn Dan lebten. Erst am 13. März 1938 reiste er angesichts direkter Lebensgefahr seitens der Nazis nach Paris. Dort lebte er zusammen mit Joseph Roth und einigen deutschen Emigranten im armseligen kleinen Hotel de la Poste und betreute den berühmten, aber dem Alkohol verfallenen Freund bis an sein Lebensende. Nach Roths Tod schrieb der Schweizer Journalist Fred Bérencer in der Pariser Tageszeitung vom 3. Juni 1939 in seinem Nachruf, Soma Morgenstern sei der „Getreueste der Getreuen“ um Joseph Roth gewesen.12 Morgenstern wurde als „feindlicher Ausländer“ 1939 in Frankreich interniert, dann nochmals nach dem Einmarsch der Deutschen 1940. Damals war sein Leben ernstlich gefährdet, aber ihm gelang die Flucht aus dem KZ und dann auf mühseligem Wege über Spanien und Marokko in die USA, wo er 1941 ankam und bis zu seinem Tode im Jahre 1976 in New York lebte. Nach einer anfänglichen Schreibblockade und dem Schock durch die Schoah und die Ermordung seiner Nächsten begann er wieder Deutsch zu schreiben, zuerst mit dem Roman Die Blutsäule, einem monumentalen Denkmal für die Ermordeten. Die meisten seiner Werke erschienen aber erst posthum, vor allem dank der unermüdlichen Initiative Ingolf Schultes, der 1994–2001 seine gesammelten Werke im Lüneburger Verlag zu Klampen herausbrachte. Morgenstern überlebte also den jüngeren Freund um 37 Jahre. Wie Soma Morgenstern in seinem Pariser Tagebuch von dem ersten und einzigen Aufenthalt in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1950 12 Angeführt nach: Raphaela Kitzmantel: Eine Überfülle an Gegenwart. Soma Morgenstern. Biografie. Wien: Czernin 2005, S. 74.

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berichtet, hatte er schon direkt nach dem Tode Roths Aufzeichnungen über ihre gemeinsame Zeit in Paris gemacht, aber: „Die Gestapo war schon am dritten Tage nach ihrem Einzug in Paris in dem Hotelchen und hat alle meine Manuskripte, Tagebücher u.s.w. beschlagnahmt.“13 Oft habe er dann über Roth sowie über seinen anderen prominenten Freund, den Komponisten Alban Berg, schreiben wollen, aber er konnte sich dazu nicht überwinden. Erst der kurze Aufenthalt in Paris im Juli 1950 und die Übernachtung im Hotel de la Poste, wo er noch das Manuskript eines anerkennenden Aufsatzes Roths über seinen Sohn des verlorenen Sohnes und seine alten Sachen in einem alten Koffer fand und wo der gegenwärtige Bewohner des Roth’schen Zimmers ihm einen Weinfleck zeigte, den der österreichische Schriftsteller auf der Bettdecke hinterließ, berührte ihn so, dass er die Arbeit wiederaufnahm. Nichtsdestoweniger hat er sein umfassendes Manuskript erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verfasst und als ein einigermaßen druckreifes Konvolut hinterlassen.14 Cornelia Weidner, die Autorin einer Morgenstern-Dissertation unter dem Titel Ein Leben mit Freunden, informiert, dass Morgenstern seine Autobiographie eben unter solch einem Titel verfassen und neben den diktierten Erinnerungen über die Kindheit und Pubertät in Ostgalizien Bücher über Alban Berg, Joseph Roth und Texte über andere Freunde veröffentlichen wollte, zumal er viele berühmte Zeitgenossen des Wiener und Berliner Kulturlebens kannte und mit einigen befreundet war. Dazu ist er nicht gekommen. Die beiden halbwegs fertigen Texte über Roth und Berg, die laut Weidner zwischen einer Biographie, Autobiographie und Memoiren schwanken, ordnet sie gattungsmäßig als Arbeiten eines Chronisten ein, zumal der Bericht über Roth einigermaßen chronologisch erfolgt und oft mit Zeitangaben versehen ist.15 Allerdings erfahren wir aus der Notiz des Herausgebers Schulte,16 dass einiges in dem Konvolut mit Überschriften falsch eingeordnet war und dass er zum Teil die logisch-chronologische Reihenfolge des Berichts wiederherstellen musste. Zwei Fragmente aus dem Konvolut waren schon früher veröffentlicht worden, über die von dem Autor organisierte Begegnung Roths mit Musil um das Jahr 192817 und umfangreichere Fragmente für den Band Joseph Roth und

13 S. Morgenstern: Kritiken, Berichte, Tagebücher, S. 678. Kursivierung von dem Verfasser. 14 Vgl. Ingolf Schulte: Editorische Notiz. In: SM, JR, S. 327–328. 15 Vgl. Cornelia Weidner: Ein Leben mit Freunden. Soma Morgensterns autobiographische Schriften. Lüneburg: zu Klampen 2004, S. 64–66, 116–138. 16 Vgl. ebd. 17 Soma Morgenstern: Dichten, denken, berichten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.04.1974, Beilage Bilder und Zeiten, angeführt nach I. Schulte: Editorische Notiz, S. 328.

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die Tradition von David Bronsen, dem ersten, faszinierten Roth-Biographen.18 Auch interviewte Bronsen den damals noch lebenden Morgenstern für seine große Biographie Joseph Roth (1974).19 Außerdem ist im autobiographischen Roman Morgensterns Flucht in Frankreich über seine Internierungen und Flucht aus dem KZ gelegentlich die Rede von Joseph Roth. Weidner bemerkt, dass etwa zwei Drittel der 26 Kapitel von Joseph Roths Flucht und Ende den gemeinsamen Jahren im Exil gewidmet sind, und von diesen 18 Kapiteln 14 die letzte Lebensetappe Roths thematisieren, von März 1938 bis Mai 1939, die die beiden als Hotelnachbarn in Paris verbrachten.20 Es ist eine Zeit des physischen Verfalls Roths infolge seines Alkoholismus, seiner Krankheiten, seines Siechtums. Morgenstern hat in dieser Zeit seinen berühmteren Freund betreut und wie er nur konnte vom Alkoholkonsum abzubringen versucht. Dies konnte allerdings nicht gelingen, die Abhängigkeit war schon zu stark. Wie abstoßend der tägliche Umgang mit einem schweren Alkoholiker und seine körperliche Betreuung sein mussten, das kann man ahnen. In einer Notiz aus dem Jahre 1950 in dem Pariser Tagebuch erinnert sich Morgenstern: Dann weinte ich eine lange Zeit in dem elenden Zimmerchen, das nur 5 Stufen trennten von dem womöglich noch mehr elenden Zimmerchen, wo ich J. Roth, den todkranken, schon oft zu Bett halb getragen und den armen Schwerbetrunkenen entkleidet habe.21

Zweimal hat sich Roth den von Stefan Zweig großzügig bezahlten Entwöhnungskuren unterworfen, ohne Erfolg, vielleicht haben diejenigen Recht, die in seinem Verhalten einen bewussten langsamen Selbstmord angesichts der politischen und persönlichen Lage sehen. In Bezug auf Roths tödliche Verzweiflung macht der Biograph neben den allgemein bekannten Sorgen um die psychisch erkrankte Frau und dann um seine damalige Lebensgefährtin Andrea Manga Bell und ihren Nachwuchs auf die finanzielle Verwicklung Roths aufmerksam, der selbst einen kostspieligen Haushalt führte und grenzenlos zur Hilfe für andere bereit war und sich somit in Schulden und unsauberen mehrmaligen Verkaufstransaktionen seiner oft noch nicht geschriebenen Werke an mehrere Verlage zugleich verwickelte. Die Tatsachen waren zwar schon seit 18

Soma Morgenstern: Joseph Roth im Gespräch. In: David Bronsen (Hg.): Joseph Roth und die Tradition, S. 39–73. 19 Vgl. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Morgenstern wird darin ca. 30mal erwähnt. 20 Vgl. C. Weidner: Ein Leben mit Freunden, S. 130. 21 S. Morgenstern: Kritiken, Berichte, Tagebücher, S. 679.

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Bronsens Erkundungen bekannt, aber der Freund betont sehr persönlich, wie stark das fehlende Geld und die Schulden bei den Verlagen zur Verzweiflung und dem Gefühl der Ausweglosigkeit Roths beitrugen. Der Biograph meint allerdings im Nachhinein, zig Jahre nach Roths Tod, dass er und all diejenigen, die den Romancier von der Trunksucht abzuhalten suchten, nicht unbedingt Recht gehabt hatten. Er berichtet, dass es ihm einmal gelungen sei, mit seinen Drohungen den Freund für einen Monat vom Trinken abzubringen und dass Roths nahezu greisenhaftes Äußeres dadurch wieder zu dem eines Mannes in den Vierzigern wurde. Aber Roth habe sich in dieser Zeit verständlicherweise unglücklich gefühlt und nicht schreiben können, was ihm wichtiger als das Leben schien. Der Biograph führt die Aussage seines Freundes an, die wahrscheinlich sinngemäß so klang: „Die Qual war zu groß. Du hast’s ja gesehn: in vier Wochen habe ich keine Zeile geschrieben. Ich hab ja gewußt, daß es so kommen wird. Schreiben muß ich! Das wirst du doch zugeben!“ (SM, JR, 255) So schreibt der Autor in seinem Nachwort aus der Perspektive der inzwischen verflossenen Jahre, daß alle seine guten Freunde, die ihn [Roth – M.K.] in seinen letzten Jahren von seinem Dämon abbringen wollten, gar so recht nicht hatten. Was wäre aus Roth geworden ohne Alkohol? So fragte ich mich. Er hätte länger gelebt, das gewiß. Aber wäre er das geworden, was er wollte? Ich glaube es nicht. (SM, JR, 297)

Und die letzten Sätze des Erinnerungsbuches klingen in einem ähnlichen Fazit aus, dass man Roth unter den gegebenen Umständen gar nicht wünschen sollte, er hätte länger gelebt: Sein Dämon hat ihm das Leben verkürzt. Aber was hätte er noch erlebt? Er hätte noch leicht den Krieg erleben können, wenn er in bessere Spitalbehandlung gekommen wäre. Der Kriegsausbruch wäre für ihn ein Triumph gewesen. Aber bald wäre er, wie wir Österreicher alle, ins Konzentrationslager gekommen. Er hätte das keine acht Tage überlebt. Schon die Tatsache, daß sein geliebtes Frankreich uns Emigranten in ein Lager steckte, hätte seinem Leben ein Ende gemacht. In Paris. (SM, JR, 297–298)

Morgenstern berichtet in Joseph Roths Flucht und Ende, dass er zuerst in seinen Erinnerungen ein warnendes Exempel hatte geben wollen, wie ein bedeutender Künstler an seiner Alkoholsucht zugrunde geht. Dann hätte er allerdings Malcolm Lowrys autobiographischen Roman Under the Volcano (1947) gelesen, eine autothematische Studie eines Alkoholikers und Schriftstellers, und mit Erleichterung festgestellt, dass er dadurch von seiner didaktischen Absicht befreit sei (SM, JR, 294–295).

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Zwischen Morgenstern und Roth gab es oft weltanschauliche Differenzen. Wie Cornelia Weidner zu Recht bemerkt, erscheint Roth in den Erinnerungen des Freundes oft zynisch und sarkastisch, dieser hat sich auch selbst gern im betrunkenen Zustand zu einem Bösewicht stilisiert.22 Aber auch Morgenstern war sarkastisch, unnachgiebig, witzig und scharfsinnig. Die frühe jüdische religiöse Bildung hat ihn auch zur Diskussionsfreudigkeit sozialisiert. Mir scheint, dass Wolfgang Müller-Funk in seinem brillanten Aufsatz aus dem Jahre 2009 Mit einem „e“. Zwischen Diaspora und Assimilation, der Roth sehr treffend als einen Bewohner des hybriden kulturellen „dritten Raumes“ darstellt, Soma Morgenstern doch Unrecht tut, wenn er feststellt: Soma Morgensterns bei aller Sympathie und Nähe vollzogene Abgrenzung von Roth hat damit zu tun, dass Roth sich weigert, die jüdische Karte zu spielen und sich zur eindeutigen Identität zu bekennen. Um dieses Skandalon zu meiden, greift Morgenstern in seinem Roth-Buch zu psychologisierenden Erklärungsmustern: diese reichen vom fehlenden Vater, der schwachen Mutter und der nicht gegebenen Über-Ich-Identifikation über dessen Alkoholismus bis zu seiner Heimatlosigkeit. Aus diesem Psychogramm eines labilen Menschen erklärt sich für den Freund dessen „Assimilationitis.“23

Abgesehen davon, dass Roth selbst seine Vaterlosigkeit als eine starke Determinante seines Lebens betonte und dass aus Morgensterns Buch nirgendwo hervorgeht, Roths Mutter sei eine schwache Persönlichkeit gewesen, verwechselt wohl der Wiener Gelehrte die persönliche, biographischethische Ebene der schwierigen Freundschaft, die im Text rekonstruiert wird, mit der Einschätzung der jüdischen Thematik in Roths Texten, gegen deren Behandlung Morgenstern nichts einzuwenden hatte. Die Stelle im biographischen Buch, wo der Erzähler und gleichzeitig Freund mit Roth ins Hadern kommt, ist diejenige, wo Soma ihm vorhält, im Laufe der Mythenbildung um seine Herkunft sich als Sohn eines österreichischen nichtjüdischen Offiziers darzustellen. Das hatte er übrigens schon bei der Optierung um die österreichische Staatsbürgerschaft 1921 getan, was der Freund allerdings nicht wusste, da ihm entgangen war, dass Roth schon damals

22 C. Weidner: Ein Leben unter Freunden, S. 127–128. 23 Wolfgang Müller-Funk: Mit einem „e“. Zwischen Diaspora und Assimilation. Ein Streit unter Freunden: Joseph Roth und Soma Morgenstern. In: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2009, S. 367–398, das Zitat auf S. 396.

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den einschlägigen Pass besaß (SM, JR, 145–146).24 Freilich ging Morgenstern, der mehr links und demokratisch eingestellt war als der späte Roth, dessen Monarchismus und besonders der seines Erachtens gespielte Katholizismus auf die Nerven, aber zu einem Streit, ja einem Zornausbruch von Seiten des Freundes kam es gerade beim Anhören dieser Erzählung. Um die Wut Morgensterns zu verstehen, muss man seine weltanschauliche Geradlinigkeit und seine ‚Jüdischkeit‘, insbesondere seine Pietät den Eltern gegenüber beachten. Er wollte Roth ohrfeigen und nahm ihm zur Strafe jene von seiner frommen Mutter geschenkten Tefilim, die Gebetsriemen, weg. Denn die lügnerische Behauptung Roths bedeutete ja eine Bloßstellung seiner frommen jüdischen ‚Mame‘, die ja als eine von ihrem Mann verlassene ‚Agune‘ ein vorbildliches Witwenleben einer orthodoxen Jüdin führte. Das zeigt Morgenstern klar genug in seinen Erinnerungen (SM, JR, 217–220). Die unterschiedliche Beziehung zum Zionismus, die Müller-Funk zum Ausgangspunkt seines Aufsatzes macht, war für die Betroffenen nicht so wichtig, da die beiden darin eine Möglichkeit sahen, wenigstens einen Teil der Diasporajuden zu retten, wobei Morgenstern eben auf die Funktion des künftigen jüdischen Staates spekulierte, auch die Religiösen zu retten, während der Zionismus Roth unangenehm wie jeder andere Nationalismus war. Aber keiner von ihnen sah im Zionismus die generelle Lösung der Judenfrage. Der Streit, der zwischen den Freunden 1934 entstand und zu einer dreijährigen Pause in ihren Beziehungen führte, war aber nicht weltanschaulicher Natur, sondern mit ihrem Beruf und seiner Ethik verbunden. Morgenstern beschuldigte Roth des Vertrauensbruchs und gewissermaßen eines Plagiats, indem er behauptete, dass Roth den Namen seines Gastwirts Kristianpoller aus seinem Roman Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (1934) aus dem Manuskript Morgensterns ersten Romans Der Sohn des verlorenen Sohnes übernommen hatte, wo eine der wichtigsten Figuren, der Gutsverwalter, Jankel Christjampoller heißt (SM, JR, 118–119). Roth konnte allerdings nachweisen, dass er einen Schulkameraden hatte, der so hieß. Roth fügte jedoch hinzu, dass er von seinem polnischen Freund Józef Wittlin ebenfalls eines Plagiats aus dessen Werk beschuldigt wurde. Das war eine ernstere Angelegenheit, denn Roth ließ sich in seiner Szene der Kriegserklärung eindeutig durch die Szene des Kronrats im Roman Das Salz der Erde seines Freundes inspirieren, der gerade damals in deutscher Übersetzung Bermans, welche Roth zu korrigieren versprach, erscheinen sollte. Hinzu schrieb er an Morgenstern, diesen tief verletzend: „daß er – Roth! – wie ein Fluß sei, der, wie es in der Natur eingerichtet 24

Vgl. auch H. Lunzer, V. Lunzer-Talos, So wurde ihnen die Flucht zur Heimat, S. 66. Allerdings musste Roth tatsächlich 1928 diesen Pass irgendwie erneuern oder bestätigen lassen.

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ist, von den Nebenströmen bereichert wird! Und man solle ihn in Ruh lassen!“ (SM, JR, 123) Das war natürlich kränkend für Morgenstern, der erst auf sein Romandebüt wartete, aber zu Recht das Selbstbewusstsein eines Schriftstellers hatte, um nicht als „Nebenstrom“ Roths bezeichnet zu werden. Heute, wo wir aus der Intertextualitätslehre den Begriff des intertextuellen Raumes kennen, wäre diese Metapher vielleicht weniger verletzend, aber damals war es schmerzend. Genauso war es für Wittlin, von dem tatsächlich etwas entlehnt wurde. Morgenstern war ähnlich wie Roth in seinen Urteilen souverän und hartnäckig. Wie er in seinen Erinnerungen schreibt, reichte vielleicht weniger die Tatsache der Übernahme des Namens seines Helden, an die er trotz der Erklärungen Roths glaubte, als vielmehr die geringschätzige Antwort Roths, um die alte Freundschaft zu beenden und sie erst nach drei Jahren nach der Vermittlung Zweigs wieder aufleben zu lassen. Manche Interpreten machen darauf aufmerksam, dass Morgenstern sich dem produktiveren, erfolgreicheren und wohl doch auch begabteren Roth gegenüber benachteiligt fühlte. Das wissen wir auch über Wittlin aus dessen Nachlassnotizen, und die beiden Freundschaften kann man als vergleichbar einschätzen, allerdings hat im Falle Morgensterns das Exil keine so schweren Folgen wie bei Wittlin auf das weitere Romanschaffen gehabt.25 Er rekonstruierte im Exil den zweiten Teil seiner Trilogie Funken im Abgrund und verfasste ihren dritten Teil, schrieb seinen autobiographischen Roman über die Flucht aus Audierne Flucht in Frankreich, den Requiem-Roman für die Opfer der Schoah Die Blutsäule, und noch einen weiteren Roman26. Es erschien zu seinen Lebzeiten allerdings der kleinere Teil dieses Oeuvres. Der nichtfiktive, essayistische und memoirenhafte Teil der Texte der beiden ist durchaus vergleichbar. Man könnte also wie bei jedem künstlerischen oder überhaupt schöpferischen Beruf die Frage stellen, inwiefern die Einschätzung Roths als Autor von Morgensterns Selbstgefühl abhängig war. Das lässt sich freilich nicht beantworten. Einerseits stellt Morgenstern in seinen Erinnerungen Roth neben Musil und den Radetzkymarsch neben den so unterschiedlichen Mann ohne Eigenschaften. Den gemeinsamen Nenner sieht er zwar in der Thematik, aber doch ist es eine wertende Geste. Der Biograph schreibt: „Denn beide waren 25 Wittlin gab nur noch ein kleines Fragment des zweiten Teiles des Romans Das Salz der Erde, unter dem Titel Der gesunde Tod heraus, während Morgenstern ja noch noch drei Romane verfasste und einen rekonstruierte. Die Essayistik Wittlins, insbesondere Mój Lwów [Mein Lemberg] und Orfeusz w piekle XX wieku [Orpheus in der Hölle des 20. Jahrhunderts] sind aber auf jeden Fall bedeutend. 26 Der Tod ist ein Flop.

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sie als Schriftsteller Österreicher, eine Gattung, die in Österreich auf diesem Niveau nicht oft zu finden ist. Denn die meisten sind regional.“ (SM, JR, 81) Andererseits behauptete er immer wieder, Roth sei zwar ein großer Schilderer, aber kein großer Erzähler, mit Ausnahme des ersten, in Russland spielenden Teils seines Hiob (SM, JR, 77). Aber auch der Radetzkymarsch hat ihm sehr gut gefallen, was er im Gespräch mit Musil auf die gemeinsame Zuneigung der beiden Galizianer zum alten Kaiser zurückführte (SM, JR, 82). Zu Recht nennt Morgenstern Roth, der keine poetologischen Theorien und keine ‚poetae docti‘ leiden konnte, einen „naiven“ Künstler im Sinne Schillers (SM, JR, 79). Andererseits betonte Morgenstern immer wieder, dass er Roth mehr als Feuilletonisten, als begnadeten Journalisten denn als Romancier schätzte. Selbst im Fazit seines Erinnerungsbuches bringt er diese Einschätzung zum Ausdruck: Joseph Roth ist kein geborener Erzähler. Er ist ein geborener Schilderer. Und einer von der bedeutendsten Art. Seine wahren Kunstwerke sind die Feuilletons, die er für die Frankfurter Zeitung geschrieben hat. Hoffentlich hat man alles gesammelt und veröffentlicht, was [von Roth – M.K.] in der Frankfurter Zeitung zu finden ist. Dort gibt es viele kleine Kunstwerke […]. (SM, JR, 298)

Sicher hat der Freund recht in der sehr positiven Beurteilung des journalistischen Werkes Roths, das inzwischen gottlob dank Klaus Westermann und Fritz Hackert tatsächlich in drei Bänden vorliegt.27 Doch die Nachwelt liebt auch das erzählerische Werk Roths, selbst wenn man seinen ungleichen Wert feststellen muss. Die Kenner sind allerdings genauso von der ostjüdischen Welt der Romantrilogie Morgensterns Funken im Abgrund angetan. Zum Schluss könnte man noch überlegen, was für einen Wert das autobiographisch-biographische Werk Joseph Roths Flucht und Ende für die Roth-Forschung und für die ‚gewöhnlichen Leser*innen‘ besitzt. Offensichtlich ist, dass Morgenstern sein Leben mit Joseph Roth wahrheitsgetreu fixieren wollte, insbesondere seine letzte, intensivste Etappe sowie den direkt von dem Krankenhaus verschuldeten frühen Tod des Schriftstellers. Sein Gedächtnis könnte ihn aber in manchen Episoden trügen. Dabei würde ich nicht wie Cornelia Weidner beanstanden, dass Morgenstern Dialoge wiedergibt, an deren Wortlaut er sich ja kaum erinnern dürfte.28 Auch wenn dies der Fall sein sollte, gibt er sie sicherlich im Sinne der Meinungen der Beteiligten wieder, außerdem weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich manche wichtigen Worte, 27 28

Joseph Roth: Werke 1–3: Das journalistische Werk. Hg. von Klaus Westermann. Köln Kiepenheuer & Witsch 1989–1991. Vgl. C. Weidner: Ein Leben mit Freunden, S. 123.

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die man an mich gerichtet hat, auch nach 30–40 Jahren in ihrem Wortlaut behalten habe. Aber das Gedächtnis ist ja wählerisch und zum Teil trügerisch. Man muss auch berücksichtigen, dass der Text nicht von Morgenstern selbst, sondern erst aus dem Nachlass zum Druck freigegeben wurde, vielleicht hätte er darin noch etwas ändern wollen. Nichtsdestoweniger sind die Aufzeichnungen Morgensterns einerseits, wie es Weidner richtig einschätzt, ein Zeitdokument, eine Zeitchronik aus dem Leben österreichischer Emigranten in Paris vor der Schoah.29 In Bezug auf das Thema Joseph Roth unterwegs in Europa thematisieren sie die letzte Etappe dieses rastlosen Lebens. Und andererseits ist es eine sehr persönlich engagierte, emotionelle, größtenteils positiv, aber doch ambivalent geprägte Biographie Roths, geschrieben von einem ihm freundschaftlich verbundenen Zeitgenossen und Berufskollegen. Bestimmt war Morgenstern zuweilen neidisch auf das größere Talent und den Schriftstellerruhm Roths, was er beides selbst vermisste. Er konnte sich bei seinem Scharfsinn und seiner Neigung zur Ironie ab und zu einen Seitenhieb gegen Roth nicht verkneifen. Doch er pflegte den Schweralkolholiker treu bis zum Tode, obwohl er an seine eigene Flucht hätte denken sollen. Und das Erinnerungsbuch ist trotz allem eine Hommage an Roth in der Zeit, in der dieser noch nicht wiederentdeckt wurde. Nur hatte der in die USA geflüchtete Autor wohl keine Kraft mehr, es zur Veröffentlichung vorzubereiten. Das Buch sollte im Sinne Morgensterns auch ein Beitrag zu seiner eigenen Autobiographie werden, somit ist auch der selbstthematische Aspekt nicht ohne Bedeutung, was die Subjektivität des Werkes sicherlich steigert. Es ist eine hybride Gattung geworden, die vielerlei Aspekte und Facetten beleuchtet. Man kann, wie das Ehepaar Lunzer es z.B.  in  So wurde ihnen die Flucht zur Heimat tut, dokumentarisch vorgehen und vieles verifizieren. Das ist sicherlich ein sehr wichtiger Beitrag zur Roth- und Morgenstern-Forschung. Aber die zahlreichen Liebhaber Roths sind Morgenstern dankbar für diese ergreifende Studie über den letzten Lebensabschnitt, den körperlichen Verfall und den Tod des Schriftstellers, die vieles an Roths Vita, aber auch sein Werk besser verstehen lässt.

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Vgl. ebd., S. 117 und 138.

Fragmente einer Freundschaft. Joseph Roth und Helene Szajnocha-Schenk Victoria Lunzer-Talos Die Zahl der bisher gefundenen Dokumente entspricht so gar nicht der Bedeutung der Bekanntschaft – wie oft muß man ein solches Missverhältnis beklagen. Im Folgenden soll die Beziehung ausgelotet werden, in der Hoffnung, doch noch mehr an Quellenmaterial zu finden. Immerhin geht es um nicht weniger als einen wichtigen Teil von Roths Bildungsweg. 1.

Roths Startbedingungen: Einzelgänger und begabter ehrgeiziger Vorzugsschüler

Joseph Roth wuchs in beengten, nicht wohlhabenden Verhältnissen auf: ohne Vater, etliche Jahre im Haus seines Großvaters Jechiel Grübel (1838 bis 1907), dessen Haushalt seine verheiratete, aber verlassene Mutter Maria1 führte. Eingeschränkt waren Mutter und Sohn auch finanziell. Da Roths Vater von einer Reise nicht zurückgekehrt war, als gestorben oder verschollen galt, trug Sigmund Grübel (auch Zygmunt, recte Schulim Grübel, 1866 bis vermutlich 1942), der in Lemberg wohnhafte, älteste Sohn des Großvaters, zum Unterhalt seiner Schwester und ihres Sohnes maßgeblich bei. Die Ungewissheit über den Ehemann bzw. Vater war ein schlimmer sozialer Makel, an dem Roths Mutter schwer trug. Um ihren Sohn vom Gerede über seinen verschwundenen Vater abzuschirmen, unterband die Mutter außerfamiliäre Kontakte weitgehend und behinderte so auch mögliche Freundschaften mit Mitschüler*innen, oder hielt sie auf einem Minimum.2 Daher blieb Roth seine Schulzeit in Brody hindurch auch sozial eingeschränkt: Denn Kontakt gab es vor allem mit Sigmund Grübel und seiner Familie, mit seinen Brüdern, mit Cousins und Cousinen, die auch in Lemberg lebten. Roth besuchte die in Lemberg wohnenden Verwandten meist in den Ferien und 1 Marya Roth (1872? bis 1922), in der Familie „Mania“, wie sie in einer Widmung an die Geschwister unterschrieb. Vgl. Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien. Wien: Zirkular 1994, S. 43. 2 Vgl. die Erinnerungen Moses Wassers in David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 97f.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846765661_011

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wechselte Briefe. Besonders mit der etwa gleichaltrigen Cousine Paula, Onkel Sigmunds jüngerer Tochter, blieb er sein Leben lang verbunden. Sie schätzte ihn schon als jungen Verfasser von Gedichten hoch.3 Laut der familiären Überlieferung war es der Großvater selbst, der als Vornamen für den Enkel die Vornamen seines Vaters „Moische Jossif“ auswählte und die Geburt seines Enkels, mit diesen Vornamen in deutscher Form, „Moses Joseph“, bei der Matrikelstelle der jüdischen Gemeinde anmeldete.4 Wieweit der betont strenge Mann dem heranwachsenden Enkel Interesse und Zuwendung zu widmen vermochte, ist unsicher. Die geistige Autorität des Großvaters und sein strikt orthodoxer Lebensstil prägten den Haushalt und wirkten auf das Kind wohl prägend, aber auch einschüchternd.5 Der Großvater bestand offenbar nicht auf einem vorbereitenden ChederUnterricht, sondern bestimmte zur Einschulung den Besuch der qualitativ hochstehenden, von der Kultusgemeinde betriebenen modernen, seriöse religiöse jüdische Erziehung sowie aktuelle Stoffe, wie Betriebsführung garantierenden „Deutsch-israelitischen Knaben- und Mädchenhauptschule“.6 Als 1904 die Entscheidung anstand, an welcher Schule Roths Ausbildung fortgesetzt werden sollte, war die Zustimmung des Großvaters notwendig. Dass Joseph Roth gut lernte, aber die polnische Sprache nicht praktizierte, deren Anteil am Unterricht der Hauptschule aber zunahm, war wohl ein sehr gewichtiges Argument, nicht zuletzt für Jechiel Grübel, dessen Haushalt deutschsprachig war, für das anspruchsvolle „Kronprinz Rudolf-Gymnasium“ mit Deutsch als hauptsächlicher Unterrichtssprache.7 Roth besuchte also das 3 Pauline Grübel (1897 bis 1942); Roths Lieblingscousine lebte in Lemberg, besuchte Roth aber öfters auf Geschäftsreisen. Sie kam nach Roths Tod nach Frankreich, um seine Werke zu retten (sie hatte u.a. die frühen lyrischen Texte aufgehoben), wurde gefangen genommen und deportiert. 4 Dazu war Jechiel Grübel als Haushaltungsvorstand auch rechtlich verpflichtet: Die jeweiligen Religionsgemeinschaften nahmen in Österreich-Ungarn und dann in Österreich bis 1938 die Funktion von Standesämtern wahr. 5 Jechiel Grübel studierte, so berichtete Fred Grubel, noch im Alter Arabisch, um die religionsphilosophischen Schriften des Maimonides im Original lesen zu können. Vgl. Fred Grubel: Jewish Life in the Old Austrian Emperor’s Empire That Vanished (1790–1908). (Privatdruck) Riverdale 1998, S. 10. 6 Damit wird die Angabe in Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 und 2009, S. 30 präzisiert: Die ‚Gemeinde‘-Schule der Kultusgemeinde wurde viele Jahre von der Baron-Hirsch Stiftung mit Subventionen unterstützt. 7 Mit  15. Februar 1907 wurde das Gesetz von 1867 betreffend die „Unterrichtsprachen von Volks- und Mittelschulen“ nach langen Verhandlungen dahingehend geändert, dass binnen 8 Jahren die Unterrichtssprache am Brodyer Gymnasium auf Polnisch umzustellen war. Joseph Roth schloss also mit der Matura im Frühjahr 1913 den vorletzten deutsch gehaltenen

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Brodyer Gymnasium ab Herbst 1904. Auf der schulischen Ebene, der einzigen offenbar, wo Roth Initiativen und Entfaltung möglich waren, machten ihn seine Intelligenz, seine Lernerfolge und sein Ehrgeiz zu einem der Vorzugsschüler seiner Klasse. Die Beibehaltung der deutschen Unterrichtssprache erwies sich für Roth als günstig, war es doch die Sprache, die er am besten beherrschte. Sie ermöglichte ihm freies Formulieren in Fragen und Antworten. Ermutigt durch seine Professoren entwickelte sich Roths außerordentliches schriftstellerisches Talent deutschsprachig und stach schon am Gymnasium hervor. Ehrgeizig und fleißig nahm Roth am deutschsprachigen Literaturkreis teil. Zwei seiner Beiträge wurden im Jahresbericht der Schule hervorgehoben: jener über „Die Lyrik des XIXen Jahrhunderts“ und dieser über „Das Nibelungenlied“.8 Roth bestand im Frühjahr 1913 die Matura mit Auszeichnung. Im Sinn seiner Berufswünsche begann er im Herbst 1913 ein Studium der Germanistik an der Universität Lemberg, dabei wohl erneut vom Onkel unterstützt. Für das nächste Semester, Sommersemester 1914, wechselte er nach Wien, wo er weiter Germanistik und Philosophie inskribierte. Somit hat Joseph Roth seine Jugend in Brody und seine Schulausbildung mit Erfolg abgeschlossen. Als „zu Hause“ empfand er Brody im Rückblick wohl nicht; hingegen blieb ihm die Stadt mit ihren Besonderheiten, mit den Erinnerungen an Personen wie auch an Geschichten, die ihm erzählt wurden, als immenser Fundus von Manifestationen ostjüdischen Lebens und Denkens. Als solche bevölkerten sie viele seiner Romane und Erzählungen. Nicht zuletzt finden sich in Roths Werken viele der Familienamen seiner Schulkollegen wieder. Gelegentlich – wenn auch selten – kam Roth noch nach Lemberg. Nochmals nach Brody zu kommen vermied er in späteren Lebensjahren. Die warme freundschaftliche Beziehung mit Cousine Paula hingegen blieb bestehen, brieflich sowie durch ihre Besuche zu ihm. 2.

Erste Universitätsjahre

Roths erstes Studiensemester – Herbst/Winter 1913/14 an der Universität Lemberg – lief insofern unter für ihn günstigen Bedingungen ab, als für Jahrgang ab. Die Jahresberichte des Gymnasiums wurden bereits 1908 polnisch betitelt und überwiegend polnisch verfasst. 8 Erwähnungen im Schulbericht für 1912/13, d. i.: XXXV Sprawozdanie dyrekcyi C.K. Gimnazyum Im. Rudolfa w Brodach: za rok szkolny 1912/13. W Brodach 1913. Nakładem C. K. Gimnazyum w Brodach.

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Lehrveranstaltungen im Fach Germanistik Deutsch als Unterrichtssprache von der grundsätzlich polnischsprachigen Universität zugelassen war.9 Als ao. Professor hatte 1912 ein jüngerer Germanist, der Sprachforscher Dr. Viktor Dollmayr (1878–1964), den Lehrstuhl übernommen. Ob Roth zu Semesterschluss 1914 Prüfungen ablegte, ist nicht nachweisbar. Statt eine Fortsetzung seiner Studien in Lemberg vorzubereiten, strebte er wohl einen Wechsel nach Wien an, wo er ein literaturaffines Lehrprogramm erwartete. Zudem wollte er wohl der engen familiären Aufsicht entkommen, und nicht zuletzt versuchen, sich in der Hauptstadt als Autor zu etablieren. Für das nächste Semester, Sommersemester 1914, wechselte Roth an die Universität Wien, wo er weiter Germanistik und Philosophie inskribierte. Der lernerfahrene Vorzugsschüler Roth fand sich im Studium an der Wiener Universität gut zu Recht. Er schloss sich dem 1912 als Nachfolger Jakob Minors berufenen Professor Walther Brecht (1876 bis 1950) an: einem Lehrer mit geistesgeschichtlicher Tendenz, der Literatur auch in kulturhistorischen Zusammenhängen zu vermitteln verstand und die Literatur der Gegenwart in seinen Lehrstoff einschloss. Etliche Seiten aus einer Mitschrift oder rekapitulierenden Darstellung von Brechts Vorlesung „Geschichte des deutschen Romans im 18. Jahrhundert“ (Mai 1915) haben sich erhalten. Sie zeugen von Roths Interesse und Verständnis für die Materie und für den modernen Vortrag des Professors.10 Auf der sozialen Ebene allerdings, d.h. im Umgang mit Studienkollegen, drückte sich Roths offenbare Unsicherheit in übertrumpfendem Gehabe aus. Im Bewusstsein, als galizischer Jude Spott und Missachtung ausgesetzt zu sein, trat Roth mit den Allüren eines demonstrativ ‚deutschen‘ Studenten auf. Er kleidete sich betont gepflegt und legte sich, zur Demonstration affirmativen / kämpferischen Deutschtums ein Monokel zu – wie sie ostentativ von hohen preußischen Militärs wie Hans von Seeckt getragen wurden. Dieses Verhalten führte gewiss zu Abwehr und Abneigung seitens anderer Studierenden. Einer von ihnen, der Roths Benehmen – besonders das Anstarren der Anwesenden durch das Monokel – auf sich bezog, empfand eine Aufforderung zum Duell seinerseits als naheliegende Reaktion darauf. Sehr viel später – in einem Rückblick auf das Zusammentreffen mit dem späteren Freund, beschrieb er seinen ersten Eindruck von Joseph Roth: Roth fiel mir auf. Er war sehr dünn, gepflegt, gut gekleidet. Sein blondes Haar trug er in der Mitte gescheitelt, es war immer mit Pomade glatt gekämmt. Er kam mir wie der klassische Typ eines Wiener Dandy aus Beamtenkreisen vor, ein 9 10

https://en.wikipedia.org/wiki/University_of_Lviv (Stand: 28.5.2020). Vgl. Roths Nationale. In: H. Lunzer, V. Lunzer-Talos: Joseph Roth. 1894–1939. Ein Katalog, S. 48. Ebd., S. 61f.

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sogenanntes „Gigerl“. In seinen schönen blauen Augen, die oft ironisch blickten, trug er ein Monokel. Dieses Monokel reizte mich. Es ist heute schwer zu sagen, ob Roth das Monokel deshalb trug, um die Welt, die ihm damals schön und zauberhaft erschien, noch besser zu sehen, oder ob er sich dieser Liebe zur Welt schämte und mit dem Monokel, das seinem Gesicht einen strengen Ausdruck gab, die Begeisterung in seinen Augen verbergen wollte. Auf jeden Fall wirkte sein spitzes Gesicht durch das Monokel leicht arrogant.11

Polnische Kommilitonen klärten Wittlin auf, dass der anscheinend ‚deutsche‘ Gegner eigentlich ein deutschsprachiger Lyriker, ein Dichter sei, und ein ‚Lieblingsschüler‘ Professor Brechts. Zudem sei er Absolvent des angesehenen Gymnasiums in Brody. Aus den negativen Emotionen zwischen Roth und Wittlin wurde eine enge Freundschaft, auf literarischer wie weltanschaulicher Ebene. Die Freunde trafen einander an der Universität wie auch außerhalb der Vorlesungen, tauschten eigene Texte aus und besuchten, pazifistisch gestimmt, literarische / kulturelle Veranstaltungen, unter anderen die Vortragsabende von Karl Kraus. Was die beiden Freunde veranlasste, sich schließlich, freiwillig, am 28. August 191612 zur k.u.k. Armee zu melden, erklärt Wittlin in seiner Gedenkrede an Roth. Es handelte sich um eine kluge Strategie zur Milderung des nächsten Abschnitts einer bald drohenden Einberufung. Und da Wittlin glücklicherweise Beziehungen hatte, gelang das Manöver. Wittlin berichtete: Da wir beide aus derselben äußersten Ecke der Monarchie stammten, wurden wir Angehörige desselben Infanterieregiments Nr. 80. Dieses Regiment kämpfte an der italienischen Front, seine Ersatztruppe befand sich damals in der Ortschaft Rima-Szombat in Ungarn. […] Doch wir wollten nicht in unserem ‚eigenen‘ Regiment dienen. Wir hatten viele Freunde und Kommilitonen im Wiener  21. Feldjäger-Bataillon, dessen Einjährigen-Schule sich in Wien, in der Paulusschule, im Bezirk III. befand. Außerdem lag uns auch an der Fortsetzung unseres Universitätsstudiums in der Freizeit. Aus diesem Grunde ersuchten wir meinen Onkel, der seit Jahren als Oberst-Arzt in Wien stationiert war, er möchte uns die Aufnahme in das sehr exklusive 21. Feldjäger-Bataillon erleichtern.13

Im Klartext ermöglichte die Zugehörigkeit zu diesem Wiener Korps (Bataillon) Roth wie Wittlin für die Dauer der Ausbildung den weiteren Aufenthalt in Wien statt am Ausbildungsort des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 80, in Złoczów im Kriegsgebiet Galizien oder in Nevesinje in der Herzegowina. Mit Hilfe des 11 Józef Wittlin: Erinnerungen an Joseph Roth. In: Hermann Linden (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk. Ein Gedächtnisbuch. Hagen: Gustav Kiepenheuer 1949, S. 48–58, hier S. 49ff. 12 Vgl. D. Bronsen: Joseph Roth, S. 161. 13 J. Wittlin: Erinnerungen, S. 53.

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Onkels gelang den beiden Freunden der Eintritt in das elitäre Bataillon. Am 28. August 1916 rückten Roth und Wittlin zur Ausbildung in die Wiener RennwegKaserne ein. Allerdings wurden Roth und Wittlin nach einigen Monaten dabei ertappt, miteinander polnisch statt deutsch zu sprechen, was die Regimentssprache war. Daher wurden sie strafweise getrennt und versetzt. Wittlin wurde in das Feldjäger-Bataillon Nr.  18 im besetzten Kraśnik versetzt,14 erkrankte jedoch an Scharlach „noch vor dem Marschbefehl“15 und wurde für die Dauer des Krieges nicht am Schlachtfeld eingesetzt. Roth blieb zunächst in Wien, kam dann zu einer Truppenzeitung. Bronsen erhielt nach eigener Aussage eine Auskunft des ‚Österreichischen Kriegsarchivs‘. Der Text lautete, so Bronsen: „Josef Roth [fand] im Jahre 1917 als Einjährig-Freiwilliger im Bereich der 32. Infanterietruppendivision im Pressedienst Verwendung. Die  32. ITD unterstand zu dieser Zeit der Heeresgruppe Böhm-Ermolli im Raume Lemberg.“16 In dieser Zeit hielt Roth sich mehrfach in Wien und Lemberg auf. Nach der Einstellung der Truppenzeitung im August  1917 ist über seine nächste Verwendung nichts bekannt, doch scheint Roth nicht oder nicht dauernd in unmittelbare Kämpfe verwickelt gewesen zu sein. Am 24. August 1917 schrieb Roth an Cousine Paula, er werde in den nächsten Tagen nach Lemberg gehen, auch um Onkel Sigmund, der eine baldige Rückkehr aus Baden bei Wien, wo sich die Familie seit der Flucht aus der Kampfzone aufhielt, erwägte, über die Zustände in der Stadt und um das Haus zu berichten. Seinerseits werde er nach Einstellung der Zeitung eventuell in Lemberg die Personalsammelstelle aufsuchen.17 3.

Zum Leben von Helene Szajnocha

Wer war diese Frau, die diese zwei etwa dreißig Jahre jüngeren Dichter und Schriftsteller so begeisterte, beriet und inspirierte? Helena Szajnochowa kam als Baronesse von Schenk zur Welt, als Tochter von Josef Eduard Freiherrn von Schenk (1813 bis 1891), eines hohen, geadelten Justizbeamten der kaiserlichen österreichischen Regierung, der zuletzt Präsident des 14 15

Ebd., S. 57. Ein „Hurenbataillon“ mit schlechtestem Ruf. Vgl. Martin Pollack: Ein Charlie Chaplin des ersten Weltkriegs. Nachwort. In: Joseph Wittlin: Das Salz der Erde. Aus dem Polnischen von Iyzdor Berman. Frankfurt a.M.: Fischer 2014, S. 260–269, hier S. 261. 16 D. Bronsen: Joseph Roth, S. 169. Die Zeitschrift nennt keine Redakteure; sie publizierte ein Gedicht von Roth, vgl. H. Lunzer, V. Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk, S. 65. 17 Joseph Roth an Paula Grübel vom 24.08.1917. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 35f.

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Oberlandesgerichts in Lemberg gewesen und schließlich Mitglied des Herrenhauses geworden war. Helene bekam eine entsprechend gepflegte Erziehung in den Hauptsprachen des Landes, plus obligatem elegantem Französisch, sowie mit den ihren Kreisen entsprechenden Umgangsformen. Im April 1884 heiratete sie den aufstrebenden Geologen Doz. Dr. Władysław Szajnocha, Angehörigen der Jagiellonen-Universität Krakau und der Akademie der Wissenschaften ebendort. Die Ehe war offenbar nicht glücklich – sie endete mit einer Trennung in den 1890er Jahren. Helene deklarierte sich als ‚geschieden“, worunter wohl die katholische „Scheidung von Tisch und Bett“ zu verstehen ist. In Władysławs Dokumenten scheint weiterhin auf, dass er verheiratet sei. Frau Helene ihrerseits nannte sich in ihren Berufs- bzw. Beschäftigungsangaben stets Szajnocha oder ‚von Szajnocha‘, entsprechend dem österreichischen Umgang-mit Familiennamen. Dass sie Geld verdienen mußte weist wohl auf das Fehlen familiären Vermögens hin – und ihr Ehemann kam seinerseits aus bescheidenen Verhältnissen.18 Frau Szajnocha war stark gehbehindert – weshalb ist unbekannt. Sie arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete begabte Mädchen und Buben aus ihrem Bekanntenkreis in Literatur, Kultur und in französischer Sprache (und Literatur) – wohl weil sie das Geld brauchte, aber auch aus Freude am Kontakt mit jungen Menschen, der Basis einiger lebenslanger Freundschaften wurde. Alle Schüler und Schülerinnen berichten, wie sehr ihre Methode etwas Besonderes war: Frau Szajnocha ließ sie die Texte, die sie mit ihnen besprechen wollte, zunächst laut vorlesen. Das galt für alle Sprachen, in denen sie lehren wollte, deutsch, französisch und wohl polnisch auch, wenn sich das ergab. Diese Stufe des Text-Kennenlernens ermöglichte ihr als behutsamer Lehrerin kleine Korrekturen der Aussprache bei Fremdsprachen, Akzentuierung des Textes und damit das Verständnis des Textes zu zeigen bzw. zu diskutieren. Und nicht zuletzt weiteres Wissen über die Thematik, über den Autor anzufügen, und im Gespräch mit den Schüler*innen deren Denken anzuregen.19 Józef Wittlin war auch einer ihrer Schüler gewesen (wohl in seinen Lemberger Gymnasium-Jahren), und ihr Bewunderer geblieben, worin er sich mit Joseph Roth traf. Gerne schilderte er einer Roth-Dissertantin die ungewöhnliche Weise, wie man Frau Szajnocha besuchen konnte:

18 Sein Vater Karol Szajnocha konnte trotz der sehr erfolgreichen Werke zur Geschichte Polens keine Reserven aufbauen – er erblindete in seinen letzten Lebensjahren und starb, als sein Sohn Władysław erst 11 Jahre alt war. 19 Artur Lilien-Brzozdowiecki: Thoughts of a Polish Jew. To Kasieńka from Grandpa. Hg. von Sergey Kravtsov. Boston: Academic Studies Press 2016, S. 66–69.

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Victoria Lunzer-Talos Viele Jahre lebte sie im selben Hause in Lemberg, Hoffmana  7, I.  Stock, wie die Familie Grübel, die die zweite Wohnung auf demselben Stock bewohnte. Frau von S. war fast immer bettlägerig, und da sie einsam, als Lehrerin der Französischen Sprache und Literatur lebte, hatte sie bei ihrem Bette eine elektr. Glockeninstallation, so, dass, wenn jemand an ihre Türe klingelte, sie direkt in die Wohnung der Grübel’s signalisieren konnte, dass ein Besucher an der Tür stehe. Meistens war es Frl. Paula Grübel, die mit ihrem Schlüssel die Tür zur Wohnung [der] Frau von S. öffnete. Paula Grübel war Roth’s mit am meisten geliebte verwandte Cousine. Es ist also möglich, dass Roth durch sie mit Frau von S. bekannt wurde.20

Bald nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August  1914 flohen nicht nur Roths Mutter und Tante von Brody nach Wien, sondern auch die Familie Sigmund Grübels von Lemberg nach Baden bei Wien. Zugleich mit Ihnen floh auch Frau Szajnocha nach Wien, wo ihr Bruder wohnte, ein hoher Justizbeamter (Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes). In die Jahre des ersten Weltkriegs datieren bereits Roths ersten Erfolge als Schriftsteller: Seine Gedichte und Erzählungen erscheinen in der Österreichischen Illustrierten Zeitung, in der Arbeiter-Zeitung und im Prager Tagblatt. Man kann annehmen, dass Roth die Anwesenheit Frau Szajnochas in Wien nützte, um seine Texte mit ihr – auch kritisch – zu besprechen, und bei ihr Französisch zu lernen.21 Sie begleitet von nun an seine Werke mit warmem Interesse und ernster Kritik. Sie ist in Kontakt mit Familie Grübel in Baden, besonders mit Cousine Paula, der Roth in seinen Briefen jeweils auch Grüße an „Frau v. Szajnocha“ aufträgt. Wie hoch Roth die Wirksamkeit des Unterrichts Frau Szajnochas schätzte, finden wir in seinem Brief vom 24. August 1917 an Cousine Paula: „Deine Mitteilungen über die Lektüre mit Frau Szajnocha freuten mich sehr, übrigens scheint sich der Einfluß dieser Lektüre in Deinem Briefe stark geltend gemacht zu haben. Ich grüße die Dame bestens und lasse mich ihr empfehlen.“22

20 Józef Wittlin: Brief an Senta Zeidler vom 5.12.1952. Der Brief enthält Auskünfte und Hinweise auf Fragen, die Senta Zeidler ihm und anderen Freunden während der Arbeit an ihrer geplanten Dissertation stellte. Diese von vielen Befragten als hervorragend erwartete Arbeit scheiterte daran, dass damals einer weiblichen Studentin offenbar kein Stipendium für die USA, wo Roths Nachlass liegt, zugebilligt wurde. Ich danke Frau Senta Lughofer sehr herzlich für die Erlaubnis, aus ihrem Material zitieren zu dürfen. 21 Es ist nicht bekannt, wann der Unterricht in Französischer Sprache und in Literatur begann; sehr wahrscheinlich, dass er schon zu Roths Aufenthalten während der Ferien in Lemberg stattfand, also in den späteren Jahren des Gymnasiums. 22 J. Roth: Briefe, S. 25, 38 und 39.

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Noch vor Kriegsende, im Herbst 1918 sahen Roth und Wittlin einander in Lemberg unerwartet wieder – bei Helene Szajnocha-Schenk. Wittlin erinnerte sich: Wir trafen uns erst im Herbst 1918 wieder – in Lemberg, kurz vor dem Zusammenbruch Österreichs. Dieses überraschende Zusammentreffen fand bei unserer gemeinsamen Freundin statt, einer alten und kränklichen Dame, die wir beide unsere Mutter nannten. Roth besuchte sie öfter in Lemberg, bald von Deutschland aus oder von Frankreich. Manch eine wichtige Entscheidung für sein Leben und für sein literarisches Schaffen faßte er am Krankenbett dieser Greisin, deren Geist jung und frisch war wie der Esprit der französischen Damen im Zeitalter der Aufklärung.23

Nach Wien kehrte Roth „aus dem Felde“ am 14. Dezember 1918 zurück; als Beruf gibt er am Meldezettel „Journalist“ an.24 4.

Roths journalistische Karriere beginnt

1919 nahm Roth in Wien seine journalistische Tätigkeit rasch auf: Er musste Geld verdienen, an eine Fortsetzung des Studiums war nicht zu denken. Er hatte das Glück, dass die Redaktion der Zeitung Der neue Tag sein Talent erkennt, viele seiner Texte druckt und ihn bald auch mit Reportagen beauftragt. Bei Einstellung des Blattes im Frühjahr 1920 gilt er als versierter Journalist und Sprachmeister. In der Folge schrieb er sowohl in Wien wie in Berlin, wohin er 1920 wechselte, für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. Mit Cousine Paula blieb Roth in Verbindung, durch sie auch mit Frau Szajnocha, der er zudem auch direkt schrieb. Von beiden Korrespondenzen sind nur Bruchstücke erhalten.25 Im März 1922 hatte Joseph Roth in Wien Friederike Reichler geheiratet, ein jüdisches Mädchen aus einer einfachen galizischen Familie. Zurück mit ihr in Berlin läuft das hektische Leben des jungen Journalisten weiter wie zuvor. Seine junge Frau bleibt sich oft selbst überlassen – dies zeigt sehr deutlich ein Brief Friedl Roths an Paula Grübel vom 28. Dezember 1921:

23 J. Wittlin: Erinnerungen, S. 57. 24 Meldezettel von diesem Datum. In: Meldearchiv, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 25 Ebenso bleibt Wittlin in Kontakt mit ihr. Als er 1924 heiratet wird ein Hochzeitsfoto auf dem Balkon von Frau Szajnocha aufgenommen; vgl. H.  Lunzer, V.  Lunzer-Talos: Joseph Roth, S. 168.

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Victoria Lunzer-Talos Muh26 ist im Theater und mir ist so bang, daß ich’s im Bett nicht länger aushielt, und aufstand, um Dir zu schreiben. Er hat keine Zeit. Er arbeitet sehr fleißig an seinem Roman, von dem Du von Frau Szajnocha ja inzwischen gehört haben wirst. […] Wie geht es Frau Szajnocha? […] 12h ist schon und Muh’ noch nicht da, was sagst Du dazu? Schrecklich!!!!27

Der Brief macht nicht nur die zentrale Position Frau Szajnochas für Roth sichtbar, sondern auch das Vertrauen Friedls in Paula deutlich. Ein Brief Friedls vom 14. Juli 1924 bestätigt eine Stabilisierung von Friedls Selbstgefühl: Sie bittet Paula, „Grüße an Frau Szajnocha von uns Beiden“, sowie Glückwünsche zur Hochzeit an Freund Wittlin weiterzugeben.28 Tags darauf bestätigt Roth seine Absicht, nach Lemberg zu kommen. Seine wesentliche Bitte an Paula ist, jene Menschen von seinem Kommen zu verständigen, auf deren Wiedersehen er Wert legt: „Benachrichtige Frau v. Szajnocha, Wittlin, Mayen!“29 Und Roth schließt mit den Worten: „Meine Bücher30 bringe ich mit. Freue mich sehr auf ein allgemeines Wiedersehn, Wiederhören.“ Rund um den Text des Briefs sieht man ein Panorama der Lemberger Familie und Freunde, in treffenden Skizzen gezeichnet von einem fröhlichen, übermütigen Joseph Roth.31 Helene Szajnocha ihrerseits hat das junge Paar, Friedl und Joseph Roth, sicher liebevoll und eingehend beobachtet und mit warmen Worten bedacht und sich über die Werke und ihren Erfolg gefreut. Am Ende dieses Besuchs in Lemberg schenkt Frau Szajnocha Roth und Friedl das schöne Photo, das sie in ihrem Zimmer, mit ihren Bildern und Büchern zeigt, versehen mit der Widmung: „Den lieben Rothkindern in treuer Freundschaft HSzajnocha Schenk / Lemberg, 3.8.24.“32 Ein Jahr später, im Sommer und Herbst 1926, erfüllte sich die Sehnsucht, die Frau Szajnocha in Roth gepflanzt hatte: Er konnte für die Frankfurter Zeitung nach Paris fahren und war hingerissen von Land und Leuten, von Paris und ganz besonders von Südfrankreich. Bald war Roth sicher, dass er von nun an vorrangig in Paris würde leben wollen. Roths Wunschprojekt, die kulturelle 26 27 28 29 30

„Muh“ bzw. „Mu“ ist ein Spitzname Roths in der Familie. J. Roth: Briefe, S. 38. Ebd., S. 42. Ebd., S. 42ff. Józef Mayen (1896 bis 1978), Journalist, für Theater und Film tätig. Hotel Savoy war soeben als Fortsetzungsroman erschienen, Die Rebellion kam im Herbst dran; als Bücher kamen sie im November 1924 heraus. Roth brachte wohl Typoskripte mit. 31 J. Roth: Briefe, S. 43. 32 Helene Szajnocha-Schenk in ihrer Wohnung in Lemberg (Hs. Widmung auf der Rückseite). Leo Baeck Institute, New York, Joseph Roth Collection, AR. 1764, 1/21, 107. Vgl. H. Lunzer, V. Lunzer-Talos: Joseph Roth, S. 38.

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Vertretung der Frankfurter Zeitung in Paris anvertraut zu bekommen, realisierte sich aber nicht. In den kommenden Jahren oft und länger in Paris sein zu können ging nunmehr auf Roths eigene Rechnung. Es wurde eine Art Nullsummenspiel: Um ruhig schreiben zu können, brauchte Roth die französische Atmosphäre. Die – guten – Einnahmen aus dem Verkauf seiner Bücher flossen in Roths Aufenthalte. Immer in Hotels lebend, immer auf Reisen, immer in Geldnot, Roth mit neuen Romanprojekten beschäftigt; man führte ein ruheloses Leben. Allerdings klagte Roth in seinen Briefen öfters, dass seine Frau krank sei – warnende Zeichen der geringeren Belastbarkeit Friedls, die mehr Erholung, weniger Unstetigkeit nötig hätte. Selten ergibt sich ein eigenes Erlebnis für Friedl, wie im Herbst 1926 ein Aufenthalt in Abbazia mit Paula Grübel und einer zweiten Freundin, während Roth ein halbes Jahr lang die Sowjetunion bereiste. Roth erholte sich nach der anstrengenden (allein unternommenen) Albanien-Fahrt im Frühjahr 1927 in Paris. Im Sommer fuhr er mit seiner Frau nach Südfrankreich (Marseille, Toulon, Nizza), Grenoble, dann in die französische Schweiz. Zwar ist Friedl mit ihrem Mann zusammen, aber dieser ist angespannt; er schrieb wie öfters zwei Romane gleichzeitig (Zipper und sein Vater und Flucht ohne Ende). 5.

Die erhaltenen Korrespondenzstücke

Am 13. September 1927 richtete Frau Szajnocha einen langen (nicht zur Gänze erhaltenen) Brief an ihre „Rothkinder“.33 Sie dankte für die mehrfache Post von dieser Fahrt – die Anzahl mag ein leises Krisenzeichen gewesen sein – und trug gleich die Bitte Wittlins vor: Ob Roth ihm helfen könne, für die Frankfurter Zeitung zu schreiben; er brauche dringend Geld. Liebe Rothkinder beide, jetzt erreicht Euch der Brief schon ganz bestimmt, das gibt mir erst den richtigen Impuls zum Schreiben. Vor Allem Dank für Alles, – Telegr. Karte mit Friedl u. Mu aus Nizza u. – hauptsächlich – Brief aus Montreux. Auf letzteren komme ich noch zurück, jetzt will ich mich zum eines Auftrages des Józio Wittlin entledigen, was leider nicht ohne historische Weitschweifigkeit gehen wird.34

33 Leo Baeck Institute, New York, Joseph Bornstein Collection,  V.4.a. corr. S-Z; Brieffragment, Handschrift, 2 Bl., 8 S.; und folgende Seiten. 34 Ebd.

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Klar und direkt sprach Frau Szajnocha das heikle Thema von Roths Alkoholismus und die in Mitleidenschaft gezogene Leber an: 15/9. Ihre Leber? Was ist eigentlich mit ihr? Haben Sie od. werden Sie einen Arzt konsultieren, was ja schliesslich sein muss? | Schreiben Sie, bitte, darüber genau! Auch über den Kurt-Wolff-Roman. Wann er erscheint u. welcher es ist; ich bin konfus geworden, weil Friedl u. Sie von verschiedenen Entwürfen geschrieben haben. Ich sehne mich nicht nur nach Ihnen, – das ist ja ein chronischer Zustand, – aber auch danach, Sie wieder einmal länger als 10 Minuten zu lesen. Froh werde ich sein, wenn Sie sich wirklich von bedrückendem Kleinbürgerthum freischreiben u. auch aus den jüdischen Themen herauskommen. Ich kann mir nicht denken, d[a]ss letztere auf die Dauer das grosse Publikum interessieren; auch möchte ich nicht, d[a]ss aus Ihnen ein Spezialist wird. Sie sind es nicht, – „ein paar Tage in Deauville“35 genügen um das zu beweisen. Thun Sie Ihr Möglichstes um bald zu kommen! […] Hier warteten zwei kleine, aber dringende Uebersetzungen. Sie trugen mir 70 zł. u. die tröstliche Ueberzeugung, d[a]ss mitunter Universitätsprofessoren noch blöder sind, als ich. Wie gern würde ich den französischen Herausgebern dieser „wissenschaftlichen“ | Abhandlungen an d {am} Rand des Manuskripts schreiben: „Cher Monsieur, ce n’est pas ma faute. Je sais que c’est idiot.“ – Sonst das alte Getriebe. Am 1/10 fangen die Lektionen an; ohne Begeisterung meinerseits. – Mayen dürfte heute od. morgen aus Wien nach Berlin abreisen, wo er bei Galen36 arbeiten soll. Wenn Sie ihn sehen, sein Sie nicht zu kritisch puncto Film u. östliche Film-Verhältnisse. Sein Vater hat nicht genug Geld um ihn nach Hollywood zu schicken – mehr als Wien, wird ihm Berlin an fachlicher Ausbildung gewiss bieten. Wenn er nur um Himmelswillen schon einmal anfangen könnte zu verdienen! Wie man Alles gewöhnt, so scheint er sich auch immer leichter damit abzufinden, d[a]ss er mit Frau u Kind von der Arbeit seines Vaters lebt. Fela, das arme Tschaperl, war 6 Wochen allein mit dem Kind auf dem Land u. | sitzt nun wieder bei ihrer sehr unangenehmen Mutter. – Mayen schreibt ganz flotte u. gute, wenn auch nicht bedeutende Feuilletons für die „Chwila“ u. den „Świat kaliny“ u. wäre, wie mir scheint, ein ganz brauchbarer Journalist. À propos Zeitung: wissen Sie, d[a]ss ich zum ersten Male seit meinen ganz jungen Jahren einen Roman in der Zeitung ganz regelmässig u. mit Passion lese – nämlich Arnold Zweig „Alle gegen Einen“? /: Der Titel ist sinnlos :/ Er hat prächtige Figuren u. famose Szenen, – wie hat sich der Mensch seit den hyperästhetischen „Novellen um Claudia“ entwickelt! Ich nehme Ihren grossen Brief zur Hand – u. möchte reden!!! Schreiben ist für mich kein Ausdrucksmittel u. Unterstreichen u. in üppigster Interpunktion schwelgen, – kein Ersatz für das Gestikulieren. Besagten Brief habe ich bei Grübel’s theilweise vorgeleg{s}en u. ohne zu stocken, | Uebergänge geschaffen, {ganze} Abschnitte improvisiert. – Sie hätten gestaunt, was Sie schreiben! Die Hundegeschichte, – ganz kurz berührt u. Ihre ganze Samariter-Thätigkeit verschwiegen – entlockte dennoch Herrn Grübel den 35 Ein paar Tage in Deauville erschien in der Frankfurter Zeitung am 28. August 1927. 36 Henrik Galeen (1881 bis 1949), Drehbuchautor, Regisseur.

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halblauten Ausruf: „Meschugge“. Dafür aber zum Schluss: „Er schreibt glänzend!“ Roth mit Szajnocha Feigenkaffee u. noch glänzend. – Aber, Mu, einander’ Mal gönnen Sie einem kranken Thier kurzweg die Wohlthat des schmerzlosen Todes. Ich habe nicht viele Thaten in meinem Leben, an die ich mit solcher Befriedigung denken würde, wie an die Vergiftung meiner Miksa, Ihrer guten Bekannten. Das Sektionsprotokoll war eine Litanei von Krankheiten, – ungefähr, als hätte die Katze mich vertilgen u. sezieren lassen – u. todt war sie in 5 Sekunden. Das ist doch beneidenswerth. – Friedl, – herzlichen Dank für das gemüthliche MarseilleBilderl |37

Hier bricht der erhaltene, sprunghafte Text ab. Erstaunlich ist der Wechsel von Mitteilungen aus dem Bekanntenkreis zu dem Frau Szajnocha seit den ersten Arbeiten Roths beschäftigenden Glauben an dessen Fähigkeit, ‚große‘ Literatur zu schreiben. In ihrem Französisch-Unterricht hatte sie mit Roth auch die großen Romanciers behandelt und deren Qualitäten analysiert. Auf diese Stufe, hoffte und erwartete sie, sollte er sich entwickeln. In ihrem Brief von 1930 kam sie auf ihre Überzeugung zurück, dass Roth sich zu ‚großen Themen‘ werde entwickeln können. Im Herbst 1927 ließ Roth Friedl wieder allein in Paris zurück, während er sich in Deutschland aufhielt, um mit Verlagen zu verhandeln und für die Zeitung Berichte aus dem Saargebiet zu schreiben. Sie erscheinen ab November in der Frankfurter Zeitung unter dem Pseudonym „Cuneus“. Der zweite Brief von Frau Szajnocha war nur an Friedl gerichtet, die sie in Paris alleine wußte. Er datiert vom 14. Dezember 1927. Das warme, mütterliche Du gibt den Ton für den ganzen Brief, der versucht, Friedl zu beruhigen und aufzubauen. Liebes, erwachsenes Friedl, Alle Tage will ich Dir schreiben u. immer kommt Etwas dazwischen. Aber heute muss es gelingen, denn Du sollst bald erfahren, was mir Wittlin schreibt, – d[a]ss Deine freundliche Vermittlung sehr guten Erfolg hatte u. Wittlin sehr entzückt ist von Ehrenburg. Er war bei Witt[lin] zu Besuch, hat viel von Euch erzählt, scheint ebenso unpraktisch u. naiv zu sein wie Witt[lin] selbst. Denke nur, die Beiden, Witt. u. Ehr., gehen gemeinsam einen sehr berühmten Wunder-Rabbi unweit von Warschau aufsuchen, bekommen natürlich nur seinen Hofstaat zu sehen u. ihn nicht (das ist nicht leicht); beobachten eine Menge | Interessantes unter den massenhaften Pilgern – werden aber nahezu verprügelt, weil sie ganz

37 Leo Baeck Institute, New York, Joseph Bornstein Collection,  V.4.a. corr. S-Z; Brieffragment, Handschrift, 2 Bl., 8 S.; und folgende Seiten.

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Victoria Lunzer-Talos unschuldig, gerade an einem Samstag, als Juden unter den Juden, mit dem Auto angefahren kommen!38

Nach dem großen Lob, wie erfolgreich Friedl Ilja Ehrenburgs Termine mit Wittlin koordiniert habe, betonte sie, wie sehr Friedls Brief und die Photos sie gefreut haben. Und wie hart es sie, Szajnocha, treffe, dass Friedl und Roth um Weihnachten nicht zu ihr kommen würden. Bitter klagt sie, dass man nicht alles, was man besprechen möchte, in einem Brief schreiben könne. Friedl, wissend dass Roths aktuelle Beiträge in der Frankfurter Zeitung unter Pseudonym erscheinen, hat offenbar gefragt, ob Frau Szajnocha das erkannt habe. Triumphierend antwortete diese: Ob ich Cuneus erkannt habe! – Paula war noch nicht da u. ich wusste nichts von Mu’s Erlebnissen im Saargebiet – u. doch „hatte ich ihn“ nach den ersten paar Sätzen. Die Briefe sind sehr gut u. von dem nach dem Grubenbesuch war ich direkt entzückt u. habe auch sofort an Mu geschrieben.39

Frau Szajnocha erzählte Friedl noch Neues über Mayens Beruf und Familie, fragte dann vorsichtig nach Friedls vermuteter Isolation: „Mach’ nicht wieder eine so lange Pause, – wenn Du schon nicht kommst u. schreibe, was Du machst, ob Du irgend einen Verkehr hast? – Kommt Mu zu Weihnachten nach Paris?“40 Spätestens 1928 wurde Friedls Erkrankung unübersehbar. In der Hoffnung, der warme Süden würde Friedl wohltun, brachte Roth sie im Jänner 1928 nach Saint-Raphaël, reiste aber rasch wieder ab und ließ sie allein zurück. Anfang März 1928 fuhr Friedl allein aus Südfrankreich nach Frankfurt, und tauchte unerwartet in einem extrem beunruhigenden Zustand bei Reifenberg auf: also bei Roths Freund, der auch sein Chef in der Frankfurter Zeitung war. Damit begann das jahrelange Auf- und Ab in Friedls Gesundheitszustand: Konsultationen, Kuren, widersprüchlichste Ratschläge, enorme Depressionen angesichts der Hilflosigkeit gegenüber der unheilbar scheinenden Krankheit. Anfangs wagte Roth eine Reise mit Friedl, in der Hoffnung, dass Abwechslung und gute Gespräche mit vertrauten Personen helfen würden. Sie fuhren in den Tessin, über Wien nach Lemberg, um mit Frau Szajnocha und Paula Grübel 38 Leo Baeck Institute, New York, Joseph Bornstein Collection,  V.4.a. corr. S-Z; Brieffragment, Handschrift, 1 Bl., 4 S.; und folgende Seite. 39 Ebd. 40 Ebd.

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zu sprechen, bei der Friedl wohl auch wohnte, da Roth die Reise mit einem Auftrag zu Berichten aus Polen für die Frankfurter Zeitung verband. Der Aufenthalt in Polen dauerte von Mai bis Juli 1928. In allen Briefen gab Roth Szajnochas Adresse als Absender an. Danach hielt sich Roth in Wien auf, um mühselige Wege für einen neuen Reisepass zu erledigen. Hier half der Freund Soma Morgenstern, Friedl zu beaufsichtigen. Als weitere Sorge tauchte auf, dass Frau Szajnocha nicht in Lemberg würde bleiben können und Roth empfand, sie zu sich nehmen zu müssen. Er vertraute seine Sorgen Reifenberg an. Am 30. Juli 1928 schreibt er ihm aus Wien: Ich befinde mich in kritischen Situationen. Erstens muß ich bald meine alte Freundin Frau Szajnocha zu mir holen. Das heißt: daß ich ein Haus gründen muß. Sie kann aus vielen Gründen nicht in Polen bleiben – und ich bin ihr einziger materieller Halt. Zweitens muß ich für meine Frau eine Regelung treffen. Wo? Womit? Wieso? Wie soll ich die beiden Frauen unterbringen? 3.) Muß ich selbst ein neues Leben beginnen. Es ist wieder einmal die Zeit, in der ich meine Existenz vollkommen umändern muß. Wegfahren, ein Jahr frei und allein sein – ich will nach Amerika, wenn nicht nach Sibirien.41

Frau Szajnocha konnte später ihre Probleme lösen. Roths Suchen nach großen Reisereportagen weit weg blieben erfolglos. Die journalistische Arbeit steuerte auf eine Krise zu, das Romane Schreiben ging nicht mehr so rasch von statten wie früher. Allerdings wurden die Romane deutlich erfolgreicher. Am  13. September  1928 schrieb Frau Szajnocha einen problemhaltigen Brief. Die näheren Umstände ließ sie zum Teil im Unklaren, die dramatische Hauptaussage aber ist klar: Sie werde wohl ihre Räume bei Grübels verlassen müssen. Ihr – getrennt lebender – Mann war am 1. August gestorben, Amtswege stünden ihr daher bevor, und der Bezug der Witwenpension versprach zu dauern. Trotzdem setzte sie den Versuch, Roth wiederzusehen, an den Anfang ihres Briefes: Sie werde nach Wien fahren müssen, und verlangte geradezu, für diese Tage ein Treffen anzusetzen. Rothkinder liebe, seit dem 3/9 zu Hause, furchtbar müde u. doch noch eine Wienreise für Ende Sept. od. Anfangs Okt. planend (Wiedersehen, – nicht wahr?) sende ich ein eiliges Lebenszeichen, nur um eines hervorzurufen. Schreibt doch, Kinder, es ist so ungemüthlich nichts von Euch zu wissen! Meine weiche Füllfeder ist in der Reperatur u. ich kratze mühsam u. nervös mit einer, wie man sagt englischen, die aber teuflisch widerspänstig ist. Ich hätte so viel zu sagen u. habe 41 J. Roth: Briefe, S. 136.

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Victoria Lunzer-Talos so wenig Zeit, d[a]ss ich mich darauf beschränke, Euch diese Meldung meiner Rückkehr zu senden […].42

Ihre Gedanken gelten auch in dieser Situation Roths Werken. Sie berichtet Roth vom Erfolg seines Romans Flucht ohne Ende bei der älteren wie jüngeren Generation ihrer Familie. Eine ihrer Nichten habe betont, „Das Wichtigste [an Roths Buch] ist das Beobachtete“, und „d[a]ss ,es sich heute nicht mehr darum handelt – zu ‚dichten‘ […]“. Da konnte Frau Szajnocha nicht anders als widersprechen, und schrieb: „Und Sie sind doch ein Dichter, – füge ich hinzu. Ich weiss es u. finde es übrigens auch schon im ,Zipper‘ u. in so manchem Artikel.“43 Sie lobte aus Roths Artikelserie über Polen den Beitrag Deutsche Minderheit als ein „diplomatisches Kunststück, versöhnlich u. gut.“44 Leider könne sie die Atmosphäre in der Hoffmana nicht so bezeichnen, die sie summarisch mit „Mein Haus ist eine blöde Hölle“ umschreibt. Ihre Überlegung, innerhalb Lembergs umzuziehen, wird klar. Selbst mit Paula gäbe es Spannungen: „Ich sehe sie wenig u. sperre mich überhaupt ein, so viel ich kann.“ Ebenso mit ihrem älteren Bruder, den sie um Vermittlung in Sachen Friedl bitten wollte. Den belastenden Aufwand an Amtswegen und Korrespondenzen quittierte Helene Szajnocha mit schwarzem Humor: „Noch Geschäftsbriefe in Massen, – wenn man zwei harte Eier erbt, erbt man Arbeit u. Mühe.“ Und im Schlusssatz nochmals die Bitte um Kontakt: „Alles Herzliche für Euch beide. Ich sehne mich ganz entsetzlich nach Nachrichten. / Eure / H.  Schenk.“45 Roth konnte ihre Bitte nach einem Gespräch nicht erfüllen, denn er war bereits in Italien, um für die Frankfurter Zeitung zu berichten. Aus den folgenden eineinhalb Jahren sind keine Briefe bekannt, die es aber von beiden Seiten gewiss gegeben hat. Das bezeugt ein Brief vom 7. August 1930. Er ist das längste der erhaltenen Schreiben, hat zum Hauptthema: eine optimale Behandlung für Friedl zu finden. Das mindestens genauso wichtige Zweitthema ist Helene Szajnochas Zuneigung und ihr Mitgefühl für Roth in dieser schweren Lage, und auch ihr Glaube an Roths Künstlertum, an sein künstlerisches Potential. Sie empfahl (wie schon früher) die Nervenärztin Frau Dr. Lichtenstern heranzuziehen. Diese habe nicht nur lange Praxis an der Nervenheilanstalt 42 Leo Baeck Institute, New York, Joseph Bornstein Collection,  V.4.a. corr. S-Z; Handschrift, 1 Bl., 2 S.; und folgende Seite. 43 Ebd. 44 Ebd. Deutsche Minderheit – Roths Aufsatz erschien in der Frankfurter Zeitung vom 9.09.1928. 45 Ebd.

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Rosenhügel, sondern ein enormes Wissen. Mit ihrer Hilfe könne man hoffentlich die nächsten Schritte optimal festlegen. Und Frau Szajnocha stützt Roths Hoffnungen: Auch sie glaube nicht an die Unheilbarkeit von Friedls Krankheit, aber es brauche viel Zeit und Ruhe. Ich hätte nie gedacht, d[a]ss man sich über so tieftraurige Briefe so freuen kann, wie ich über die Ihrigen u. schon gar nicht, wenn man Alles Leid mitleidet u. aus jedem Wort einen ganzen, schweren Inhalt ausschöpft. Dass ich Sie verstehe, ist mir fast, als hätte ich Etwas gethan u. hilft mir hinweg über das Schmerzliche, – nichts thun zu können. […] Und nun zu Ihnen, liebes Kind, zum | zu dem Schmerz u – verzeihen Sie mir das grosse Wort – zu der Läuterung, von denen ich am wenigsten sagen kann, weil ich zu stark fühle. Reden ist {wäre} hier Mangel an Achtung vor Ihren inneren Erlebnissen. Ich will ganz aufrichtig sein; – halten Sie mich nicht für herzlos! Neben der Sorge um Sie u. Ihre Gesundheit, neben der Traurigkeit, Sie traurig zu wissen, jubelt Etwas in mir darüber, d[a]ss nun der ganze Roth als Künstler sprechen wird. Alles was Sie bisher geschrieben haben, war schön u. machte doch oft den Eindruck von Verschwendung; vollendete Form angewandt an zu kleine Dinge. Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen Burckhardt zitierte. „Er (Petrarca) hätte Kathedralen bauen können u. zog es vor, Tabatieren zu ziselieren.“ Sie thaten es nicht freiwillig u. jetzt können Sie es gar nicht mehr thun, – Gott gebe, dass sie es nicht müssen u. dann | bin ich ruhig um Ihre Bücher. Theuer bezahlen Sie die Rückkehr zu sich selbst u die Entdeckung der eigenen Tiefen. Sie sind vom Schicksal durchgeackert. – „Hiob“ wird schön sein, von jener Grösse, die nur das Echte u. s{S}chlichte besitzt, u. er, nur er, kann Ihnen Trost bringen. – Ich bin in Ketten, in diesen Ketten, die bezeichnender Weise aus ineinander greifenden Nullen bestehen. Hätte ich jetzt ein paar Hundert Złoty zur Verfügung, – ich würde sofort nach Wien fahren, um Sie zu sehen. Und zwar mit dem bestimmten Zweck, Ihre Gewissensbisse mit Ihnen durchzusprechen. Alles, was Sie thaten, kam aus Ihrem besten Willen. Sie haben schwere Opfer gebracht, – die nicht finanziellen waren die G{g}rössten, – u. wenn Sie irgendwie gefehlt haben, – wem wäre das in Ihrem jahrelangen Zusammenl{s}ein mit der oft räthselhaften, armen Friedl nicht geschehen? – Doch das lässt sich nicht schriftlich behandeln. | […] | Und nun leben Sie wohl, liebes Kind; – Gott schütze Sie. Ich weiss nicht wie man für Jemand betet u. aufzählt, was man für ihn erbitten will. Gott weiss es ja u. versteht die S{s}tumme Bitte, die in jedem Gedanken an Sie liegt. Und ich habe Vertrauen zu Gott. Alles Herzliche u. nochmals Dank für Ihren Brief Ihre alte HSchk.46

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Winterthur, Stadtarchiv, Sammlung Gubler, FTG 4/2, Handschrift, 3 Bl., 10 S. Roth sandte diesen Brief an F. T. Gubler weiter, vielleicht, weil er ihm von ihr erzählt und Gubler ein freundliches Interesse gefasst hatte (vgl. Gubler an Roth vom 20.05.1930).

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Leider kennen wir Frau Szajnochas Reaktionen auf Roths Hiob und Radetzkymarsch, seine wirklichen literarischen Erfolge, nicht. An Korrespondenz ist nur noch eine Art einseitiger Abschiedsbrief vom 2. September 1933 erhalten, mit einer neuen Adresse (Lemberg, Kalecza 20A. Villa Zaświecie47) im Briefkopf. Lieber Freund, Konnte ich Ihnen nicht zum 2/948 schreiben, so thue ich es eben am 2ten u. wünsche Ihnen von Herzen Alles, was Sie sich wünschen u. noch Einiges dazu. Da ich mich u. mein Gedächtniss nicht besser machen will, als wir sind, setze ich gleich hinzu, d[a]ss Paula gesprächsweise Ihren Geburtstag erwähnt hat u. da finde ich den Anlass, Ihnen zu sagen, d[a]ss ich wohl Daten vergesse, aber Menschen nicht. Wir sind gründlich ausser Kontakt | gerathen, so gründlich, d[a]ss sich das schriftlich nicht gut machen lässt. Mündlich ?! – Wenig Aussicht. Sie kommen nicht u. ich gehe in beschleunigtem Tempo dem Jenseits entgegen, was nur eine Meldung wäre u. keine Klage, wenn diese letzte Lebensetappe nicht so viel physisches Leiden mit sich bringen würde. Man kriegt die ewige Ruhe nicht umsonst. Meinen Bruder Ernst49 habe ich im August nach 8 monatlicher Pause bei mir gesehen. Auch er ist sehr hinfällig. Alle Tage wird telephonisch gesprochen u. da macht er noch so manchen guten Witz[.] Es würde mich herzlich freuen, zu erleben, | d[a]ss sich die beiden Joseph’s, die sich um des Kaisers – (Franz Joseph I –) Bart zerzankt haben, {sich} brüderlich die Hand reichen. Ich bin sicher, d[a]ss aller Zorn verraucht ist. /: Von Wittlin kann ich das mit aller Bestimmtheit sagen u. sage es trotzdem er mich nicht darum gebeten hat :/ Alle Revisionen u Diskussionen sind unnöthig. Uebrigens bin ich bescheiden (!) u. will mich mit dem Versprechen begnügen, d[a]ss die beiden Joseph’s einander kondolieren, wenn ich gestorben bin u. mich in friedlicher Eintracht betrauern, wobei ich auf die Eintracht mehr Gewicht lege, als auf die Trauer. Ich ziehe ein heiteres Mein-Gedenken vor. Ich stelle Ihnen keine Fragen, lieber Freund. | Wenn Sie wollen, können Sie auch ungefragt antworten. Meine Invaliden-Existenz ist in schmerzfreien Momenten nichts weniger, als traurig. Die hiesige Umgebung nett u. gut, herzig, heiter u. klug, – sonst auch genügend Besuche u. Bücher. Leben Sie wohl, dans toute la force du terme u. sein Sie herzlich gegrüsst von der alten H v Szajnocha Schenk.50

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Es ist nicht bekannt, wann Helene Szajnocha in diese Künstlervilla eingezogen ist. Roths Geburtstag. Ernst Georg von Schenk (1863 bis 1941). Leo Baeck Institute, New York, Joseph Bornstein Collection,  V.4.a. corr. S-Z; Handschrift, 1 Bl., 4 S.; und folgende Seiten.

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Klar und direkt, aber jeden vorwurfsvollen Ton vermeidend, kam Frau Szajnocha zur Feststellung, man sei schon zu fern voneinander – auch sie selbst sei daran schuld. Frau Szajnochas kulturelles Ambiente ist in der Tat bemerkenswert; Zaświecie war eine große traditionsreiche Villa für Künstler, deren Heim und Arbeitsort. Die bekannte Malerin Aniela Wolska-Pawlikowska (Tochter der Gründerin des Hauses) war vielleicht auch die Vermittlerin der Wohnung. 1934 hat sie ein Porträt Frau Szajnochas gemalt, sie dabei zwar bettlägerig dargestellt, aber lebhaft und interessiert.51 Wider Erwarten kam Roth doch noch einmal nach Polen, während einer Lesereise, auf Einladung des polnischen PEN-Clubs, im Winter 1936/1937. Und nun wollte und konnte er Frau Szajnocha besuchen, mehrmals. Seiner damaligen Lebensgefährtin Irmgard Keun hatte er schon vor der Abreise, voller Vorfreude, versichert: „Die mußt du kennenlernen, – eine edle Dame“52. Roth traf bei ihr auch Józef Mayen.53 Das Jahr 1939 brachte erste Veränderungen in der Villa. Nach dem Tod des Hausherrn Jan Gwalbert Pawlikowski leerte sich das große Haus – einzig Frau Szajnocha, die Mieterin einer kleinen separaten Wohnung im Gebäude war, blieb darin wohnen. Sie wohnte noch da im Juli 1940, als Beata Obertyńska, die Erbin der Villa, vom Geheimdienst verhaftet wurde.54 Wann Frau Szajnocha Zaświecie verließ, wo und wie sie die Kriegsjahre verbrachte, ist mir unbekannt. Ob sie, wie Wiener Nachfahren mit Gewissheit sagen, auch Opfer der Deportationen 1944/45 der polnischen Bevölkerung aus Lemberg in polnisches Gebiet wurde, ließ sich nicht nachweisen.55 Sicher ist, dass Helene Szajnocha am 9. Juli 1946 starb, bei den Dominikanern in Tarnobrzeg, und damit Roth um sieben Jahre überlebte. Sie wurde am Cmentarz Parafialny in Tarnobrzeg, in Grab 3200, bestattet. Ihre frühere Lemberger Schülerin, Dr. Olga Lilien (1903–1996), die die Kriegsjahre in und um Tarnobrzeg überlebt hatte und dort geblieben war, bestimmte, in Helena

51 Fotografie in Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien, Handschriftensammlung, Slg. Roth/Bronsen, Fotografien 22-2-13. 52 Vgl. D. Bronsen: Joseph Roth, S. 391. 53 Józef Mayen an David Bronsen, Brief vom 19.10.1972, S. 1, In: ebd., 10/94/18.2.20, berichtet kurz dass er mit Roth 1937 in Lemberg mehrmals zusammentraf, meist bei Frau Szajnocha-Schenk. 54 Vgl. Stefania Fulla Horak: Niewidzialni. Osobiste świadectwo 1938–1956. Kraków: Wydawnictwo AA 2020. 55 Mitteilung Mag. Günther Stromenger, Wien.

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Szajnochas Grab bestattet zu werden, sodass nun beider Namen auf einem Stein stehen.56 * Herzlichen Dank allen Personen und Institutionen, die bei meinen Recherchen geholfen haben, insbesondere: Marta Jakubowski-Pisarek (Bratkowice), Harry Joelson (Winterthur), Maria Kłańska (Kraków), Sergey Kravtsov (Jerusalem), Senta Lughofer (Linz und Baden bei Wien), Heinz Lunzer (Wien), Artur Stromenger, Maria Enzersdorf, Günther Stromenger (Wien), Jola Strycharz (Tarnobrzeg).

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Mitteilung Mag. Jola Strycharz, Tarnobrzeg.

Autor*innen Hans Richard Brittnacher Dr. phil.; lehrte als apl. Prof. bis 2018 an der Freien Universität Berlin; Promotion zu: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994). Habilitation über: Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle (Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001). Arbeitsschwerpunkte: Intermedialität des Phantastischen, die Imago des ‚Zigeuners‘ in der Literatur und den Künsten, Literatur- und Kulturgeschichte des Goethezeitalters und des Fin de siècle. Publikationen in Auswahl: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Kunst und Literatur. Göttingen: Wallstein 2012; Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Hg. von Wiebke Amthor und Hans R. Brittnacher. Berlin, Boston: De Gruyter 2012; Experiment – Risiko – Selbstentwurf. Kleists Radikale Poetik. Hg. von Hans R. Brittnacher und Irmela von der Lühe. Göttingen: Wallstein 2013; Phantastik. Ein intermediales Handbuch. Hg. von Hans  R.  Brittnacher und Markus May. Stuttgart: Metzler 2013; Enttäuschung und Engagement. Zur ästhetischen Radikalität Georg Büchners. Hg. von Hans  R.  Brittnacher und Irmela von der Lühe. Bielefeld: Aisthesis 2014; Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten. Maritime Schreibweisen der Gefährdung und des Untergangs. Hg. von Hans R. Brittnacher und Achim Küpper. Göttingen: Wallstein 2018. Armin Eidherr Dr. phil. – Assoz. Professor für Jiddistik und Deutsch-Jüdische Literatur an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Promotion über Probleme bei der Übersetzung aus dem Jiddischen, Habilitation über die Thematisierung von Sprache und Diaspora in der Jiddischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Salzburg: Frühjahr 2010). Arbeitsgebiete: Deutsch-jüdische Literatur und Exilliteratur, Jiddistik (jiddische Sprache, Literatur und Kultur), Jüdische Kulturgeschichte, moderne sefardische Dichtung, deutschsprachige Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Arno Schmidt. Ausgewählte Veröffentlichungen in Buchform: Pferde in der Weltliteratur. Anthologie. Hg. und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Zürich: Manesse 2002; Armin Eidherr, Karl Müller (Hg.): Jiddische Kultur in Österreich. Wien: Verlag der TKG 2003; Armin Eidherr, Gerhard Langer, Karl Müller (Hg.): Diaspora – Exil als Krisenerfahrung: Jüdische Bilanzen und Perspektiven. Klagenfurt: Drava Verlag 2006; Schreyer, Isaac: Der Tag des Einsamen. Gedichte und Nachdichtungen. Hg. und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Aachen: Rimbaud 2011 (= Bukowiner Literaturlandschaft,

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Autor * innen

Bd.  60); Armin Eidherr: Sonnenuntergang auf eisig-blauen Wegen. Zur Thema­tisierung von Diaspora und Sprache in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Astrid Starck-Adler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012 (= Poetik, Exegese und Narrative, Bd.  001) [= Buchfassung der Habilitation]; Chilufim 15. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte. Sonderheft „Übersetzung und Jüdische Kulturgeschichte“. Hg. von Armin Eidherr. Wien: Phoibos Verlag 2013; Armin Eidherr, Gregor Thuswaldner, Jens Zimmermann (Hg.): Symphilologus. Bd.  1: Making Sacrifices. Visions of Sacrifice in European and American Cultures. / Opfer bringen. Opfervorstellungen in europäischen und amerikanischen Kulturen. Wien: new academic press 2016; Victor Wittner: Sprung auf die Straße. Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Aachen: Rimbaud 2018 (= Bukowiner Literaturlandschaft, Bd.  90); Susanne Plietzsch, Armin Edherr. (Hg.): Durchblicke. Horizonte jüdischer Kulturgeschichte. Berlin: Neofelis-Verlag 2018 (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd.  13); Armin Edherr (Hg.): Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser 2017/18. Dillenburg: Edition M & N 2020. Iris Hermann Dr. phil. – Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der OttoFriedrich-Universität Bamberg. Promotion über das Prosawerk Else LaskerSchülers, Habilitation über die Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse (Heidelberg: Winter 2006). Arbeitsgebiete: Wechselbeziehungen Literatur und Körper, jüdisch-deutschsprachige Literatur, komparatistische Perspektiven der deutschen Literatur, Gegenwartsliteratur, Literatur und Mythos. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Mit einer Frage beginnt die Nacht“. Gedichte und Prosaminiaturen Ilse Aichingers aus den 1950er Jahren. In: Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hg.): Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Bd. 6: Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen. München: Edition Text + Kritik 2010, S. 161–177; Formen der Figur in der Lyrik: Lyrisches Ich und lyrisches Du. In: Rainer Leschke, Henriette Heidbrink (Hg.): Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien. Konstanz: UVK 2010, S. 109–132; Zur Kategorie der Empathie im literarischen Text: Überlegungen zu Maxim Billers Roman „Die Tochter“. In: Sprache und Literatur. 41.2/2010, S.  96–111; Elemente einer Sehphilosophie in Wilhelm Genazinos Essay „Der gedehnte Blick“. In: Andrea Bartl, Friedhelm Marx (Hg.): Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Göttingen: Wallstein 2011, S. 165–178; Zur Ästhetik von Schmerzerfahrungen – Schmerz in literarischen Texten. In: Rainer-M. E. Jacobi, Bernhard Marx (Hg.): Schmerz als Grenzerfahrung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011, S. 167– 188; Sammelband: Fährmann sein. Robert Schindels Poetik des Übersetzen. Göttingen: Wallstein 2012.

Autor * innen

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Aneta Jachimowicz Dr. habil. – Leiterin des Lehrstuhls für Literatur und Kultur des deutschen Sprachraumes an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn. Promotion über die Postmoderne in der Trilogie der Entgeisterung von Robert Menasse, Habilitation über den historischen Roman der Ersten Republik Österreich. Arbeitsgebiete: österreichische Literatur von vom 20. bis zum 21. Jahrhundert, kulturwissenschaftliche Implikationen, Literatur der Postmoderne, österreichische Literatur und Kultur der Ersten Republik, historische Romane. Ausgewählte Veröffentlichungen: Das schwierige Ganze. Postmoderne und die „Trilogie der Entgeisterung“ von Robert Menasse. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2007; Der historische Roman der Ersten Republik in ideologiekritischer Sicht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. Herausgeberschaften: Aneta Jachimowicz, Alina Kuzborska, Dirk Steinhoff (Hg.): Imaginationen des Endes. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2015; Aneta Jachimowicz, Tomasz Żurawlew (Hg.): Geisteskultur – zwischen Ästhetik und Poetik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016; Aneta Jachimowicz, Tomasz Żurawlew (Hg.): Spotkanie z kulturą duchową. Studia interdyscyplinarne. Wrocław: Atut; Aneta Jachimowicz (Hg.): Gegen den Kanon. Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2017; Alina Kuzborska, Aneta Jachimowicz (Hg.): Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. Katarzyna Jaśtal Dr. habil. – Professorin am Institut der Germanistik an der JagiellonenUniversität Krakau. Promotion über die Kindheitserinnerungen an die Habsburger Monarchie im Werk von Elias Canetti, Manès Sperber und Gregor von Rezzori. Habilitation über die Körperkonstruktionen im Frühwerk Heinrich Heines (Kraków 2010). Arbeitsgebiete: deutsche und österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Wechselwirkungen der Literatur und der Naturwissenschaften, Wechselwirkungen der Literatur und der Bildungsdiskurse, Kulturpraxen des Sammelns sowie Briefkultur des 19. Jahrhunderts. Ausgewählte Veröffentlichungen: Körperkonstruktionen in der frühen Prosa Heinrich Heines. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego 2010; Niemcy: naród i ciało [Deutschland: Volk und Körper]. Kraków: Księgarnia Akademicka 2015; Körper und Geschlecht der deutschen Sprache im sprachnationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts. In: Wolfgang Brylla, Cezary Lipiński (Hg.): Im Clash der Identitäten. Nationalismen im literatur-und kulturgeschichtlichen Diskurs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 93–104.

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Maria Kłańska Prof. Dr. phil. habil., Leiterin des Lehrstuhls Deutsche Literatur am Germanistischen Institut der Jagellonen-Universität Krakau. Promotion über den Odysseusmythos in deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts, Habilitation Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa zwischen 1846 und 1914 (Kraków: Wydawnictwo UJ 1985; 2., veränderte Auflage, Böhlau 1991); Professur: Aus dem Schtelt in die Welt 1772–1938 (Wien: Böhlau 1994). Arbeitsgebiete: österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Galizien und Bukowina in deutschsprachiger Literatur, Ostjudentum, Nachleben der Antike und der Bibel in der modernen Literatur, norwegische Literatur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Między pamięcią a wyobraźnią. Uniwersum poezji Rose Ausländer [Zwischen der Erinnerung und Einbildungskraft. Universum der Dichtung Rose Ausländers]. Wrocław: ATUT 2015; Der Erste Weltkrieg in der Lyrik und Essaystik Józef Wittlins. In: Karsten Dahlmanns, Matthias Freise, Grzegorz Kowal (Hg.): Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg. Studien. Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 2020, S. 339–352; Zwischen München, Paris und Aulestad. Albert Langen und Björnstjerne Björnson in den Erinnerungen ihres Sohnes und Enkels B.A. Björnson-Langen. In: Ewa Data-Bukowska, Marta Rey-Radlińska (Hg.): Filologiskt smörgåsbord. Nordisk gjenklang. Kraków: Wydawnictwo UJ 2020, S. 79–93; Zwei Parallelaktionen – Robert Menasse versus Robert Musil. In: Tomasz Szybisty, Joanna Godlewicz-Adamiec (Hg.): Literatura a polityka. Literatur und Politik. Serie: Literatura – konteksty, Bd.  5. KrakówWarszawa: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego 2020, S. 29–47; Franz Theodor Csokors ,Eichmann-Drama‘ „Das Zeichen an der Wand“. In: Sieglinde Klettenhammer, Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Entwicklungen der Dramatik und Formen des Theaters in Österreich seit den 1960er Jahren. Innsbruck: Universitätsverlag 2020, S. 19–26. Bastian Lasse M.A. – PhD Candidate am Department of Germanic Languages and Literatures der Harvard University. Bachelorarbeit über Weiblichkeitskonstruktionen in Frieda von Bülows Roman Tropenkoller, Masterarbeit über Narrative der Heimkehr in Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan. Arbeitsgebiete: Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Narratologie, Gender Studies, Postcolonial Studies, Theorie des Vergessens. Ausgewählte Veröffentlichungen: Heinrich Brode alias Tippu Tip. Hans Christoph Buchs Sansibar Blues als kritische Relektüre von Heinrich Brodes Biographie über Tippu Tip. In: Acta Germanica 45 (2017), S. 59–73; ,Pioniergeist‘ im Worte. Weiblichkeitskonstruktion bei Frieda von Bülow. In: Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft 14 (2018), S.  39–52; Gespenstischer Doppelgänger. Deviante Männlichkeit bei

Autor * innen

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Viktor Fehleysen und Kornelius van der Mook. In:  Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 61 (2020), S. 31–52. Heinz Lunzer Dr. phil. – Leiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien und des Literaturhauses in Wien 1979 und 1991 bis 2008. Obmann der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft. Einer der Herausgeber*innen der geplanten Joseph Roth Edition. Promotion über Hofmannsthals politische Tätigkeit in den Jahren 1914 bis 1917 (Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1981. [= Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd.  380]). Arbeitsgebiete: Öststerreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausgewählte Veröffentlichungen: Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, abgehalten vom 3. bis 6. Juni 1975 in Wien. Hg. von Helene Maimann, Heinz Lunzer. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1977; Franz Kafka 1883–1924. Ein Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, zusammengestellt von Heinz Lunzer. Wien 1983 (Zirkular, Sondernummer  3); Joseph Roth. 1894–1939. Katalog einer Ausstellung, gemeinsam veranstaltet vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten und von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien, zusammengestellt von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichischen Literatur 1989 (Zirkular, Sondernummer 17) sowie zahlreiche andere Ausstellungskataloge zu Literatur und Bildender Kunst in Österreich; Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. (2., veränderte Auflage 2009); Joseph Roth. 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien. 7. Oktober 1994 bis 12. Februar 1995. Wien 1994 (Zirkular, Sondernummer 42); Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Abroad in Austria. Travellers’ Impressions from Five Centuries. Wien: Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 1997; Heinz Lunzer, Hermann Böhm (Hg.): „Was wir umbringen“. „Die Fackel“ von Karl Kraus. Wien: Mandelbaum 1999 (2., veränderte Auflage 2006); Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Peter Altenberg. Extracte des Lebens. Einem Schriftsteller auf der Spur. Katalog des Jüdischen Museums Wien. Salzburg, Wien: Residenz 2003; Heinz Lunzer: Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur 2008; Sylvia Asmus, Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: So wurde ihnen die Flucht zur Heimat. Soma Morgenstern und Joseph Roth. Eine Freundschaft. Bonn: Weidle 2012; Stéphane Pesnel, Erika Tunner, Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos (Hg.): Joseph Roth – Städtebilder. Zur Poetik, Philologie und Interpretation von

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Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren. Berlin: Frank & Timme 2016 und zahlreiche unselbständige Publikationen zu Joseph Roth. Victoria Lunzer-Talos Dr. phil. – Leiterin der Fachbibliothek für Kunstgeschichte an der Universitätsbibliothek der Universität Wien bis 2004. Eine der Herausgeber*innen der geplanten Joseph Roth Edition. Promotion über: Die Forschung zur Kunst der Brüder van Eyck im 19. Jahrhundert (Entwicklung der Kriterien kunsthistorischer Bewertungen) 1983. Ausgewählte Veröffentlichungen: Manès Sperber: 1905–1984. Eine Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek. Kuratorin und Katalog. Wien: Österr. Nationalbibliothek 1987; Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 (2., veränderte Auflage 2009); Joseph Roth. 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien. 7. Oktober 1994 bis 12. Februar 1995. Wien 1994 (Zirkular, Sondernummer 42); Heinz Lunzer, Victoria LunzerTalos: Abroad in Austria. Travellers’ Impressions from Five Centuries.. Wien: Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 1997; Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Peter Altenberg. Extracte des Lebens. Einem Schriftsteller auf der Spur. Katalog des Jüdischen Museums Wien. Salzburg, Wien: Residenz 2003; Sylvia Asmus, Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: So wurde ihnen die Flucht zur Heimat. Soma Morgenstern und Joseph Roth. Eine Freundschaft. Bonn: Weidle 2012; Weit von den „leuchtenden Kristallen“. Bedingungen jüdischen Lebens in Ostgalizien: Zu Manès Sperbers Kindheitserinnerungen. In: Stéphane Moses (Hg.): Manès Sperber als Europäer. Berlin: Ed. Hentrich 1996, S. 138–161; Der Segen des ewigen Juden. Assimilation und Exil. In: Johann Georg Lughofer (Hg.): Joseph Roth: europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist. Berlin u.a.: De Gruyter 2011, S. 23–38; Jüdisches Leben auf dem Land: Soma Morgensterns Jugend in Ostgalizien. In: Jacques Lajarrige (Hg.): Soma Morgenstern – Von Galizien ins amerikanische Exil. Berlin: Frank & Timme 2015, S. 19–71; Roth contra Sieburg – Wer wird Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris? In: Odysseen des Humanen. Festschrift für Prof. Dr. Maria Klanska zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2016, S. 469–486; L‘entourage de Roth dans les derniers mois de l’exil parisien. In: Europe, revue littéraire mensuelle (Paris) novembre-décembre 2019, S. 135–149. Artur Pełka Dr. habil. – Professor am Institut für Germanistik der Universität Łódź, Leiter der Abteilung für Deutschsprachige Medien und Österreichische

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Kultur. Germanist und Theaterwissenschaftler, Humboldt-Stipendiat. 2017 Habilitation an der Universität Łódź mit der Studie Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels Deutschsprachige Theatertexte zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama (Bielefeld: Transcript 2016). Dissertation über den Körperdiskurs in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Werner Schwab (Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2005). Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, gender- und queer-studies. Letztens erschienen: Antigones Nachkommen. Reduktion und Potenzierung. In: Silke Felber, Wera Hippesroither (Hg.): Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart (= Forum Modernes Theater, Bd.  57). Tübingen: Narr 2020, S.  139–154; Queeres Rom literarisch. Homosexuelle Topographien in Texten von Hubert Fichte, Wolfgang Koeppen und Josef Winkler. In: Joanna Jabłkowska, Karolina Sidowska (Hg.): Et in Arcadia ego. Rom als Erinnerungsort in europäischen Kulturen. Berlin u.a.: Lang 2020, S. 143–161; Zum Politikum der Kleidung. In: Stefan Neuhaus, Immanuel Nover (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin, Boston: De Gruyter 2019, S. 127–138. Christian Poik Mag., Lehramtsstudium Deutsch und Geschichte sowie Deutsche Philologie (BA) an der Universität Wien. Magisterarbeit: Das Europabild in den frühen Romanen Joseph Roths (1923–1929). Seit Oktober 2019 ÖAD-Lektor am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Rainer-Joachim Siegel Diplom-Mathematiker, lebt in Leipzig, beschäftigt sich mit Literaturgeschichte, vor allem mit Leben und Werk Joseph Roths. Aktives Mitglied der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft, mit der er an der Edition aller Schriften Roths mitarbeitet. Herausgeber einer Sammlung von Roths neu aufgefundenen Texten: Joseph Roth: Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 sowie zusammen mit Madeleine Rietra: Jede Freundschaft mit mir ist verderblich. Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Göttingen: Wallstein 2011. Verfasser von der maßgeblichen Joseph Roth-Bibliographie. Morsum/Sylt: Cicero Presse 1995. Letztens erschien der zusammen mit Helmut Peschina herausgegebene und kommentierte Band: Joseph Roth: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Göttingen: Wallstein 2014.